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German Pages 217 Year 1999
50 Jahre Bundesrepublik Deutschland
SCHRIFTENREIHE DER G E S E L L S C H A F T FÜR
DEUTSCHLANDFORSCHUNG
B A N D 72
50 Jahre Bundesrepublik Deutschland
Herausgegeben von Eckhard Jesse und Konrad Low
Duncker & Humblot • Berlin
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme 50 Jahre Bundesrepublik Deutschland / hrsg. von Eckhard Jesse und Konrad Low. - Berlin : Duncker und Humblot, 1999 (Schriftenreihe der Gesellschaft für Deutschlandforschung ; Bd. 72) ISBN 3-428-09960-5
Alle Rechte vorbehalten © 1999 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0935-5774 ISBN 3-428-09960-5 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706©
INHALTSVERZEICHNIS Einleitung
Eckhard Jesse Deutschland zwischen Teilung und Einheit. Von 1945 über 1949, 1969, 1982, 1989/90 bis zu 1999
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Alexander Gallus Die Nationalneutralisten 1945 bis 1990. Deutschlandpolitische Außenseiter zwischen drittem Weg und Westorientierung
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Konrad Löw Mentalitätswandel des Grundgesetzes 1949: 1933, 1919, 1999
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Roland Sturm Der Föderalismus im Wandel. Kontinuitätslinien und Reformbedarf
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Everhard Holtmann Vom „klassischen" zum „politischen Bürokraten"? Einstellungen und Einstellungswandel im öffentlichen Dienst in Deutschland seit 1945 Karl-Rudolf Körte 50 Jahre Kanzlerdemokratie. Problematisierung und Anwendung eines Begriffs am Beispiel der Kanzlerschaft Helmut Kohls
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Ludger Helms Entwicklungslinien der Verfassungsgerichtsbarkeit in der parlamentarischen Demokratie der Bundesrepublik Deutschland
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Inhaltsverzeichnis
Ralf Altenhof Die Entwicklung der streitbaren Demokratie. Über die Krise einer Konzeption
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Uwe Backes 50 Jahre politischer Extremismus in Deutschland
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Auswahlbibliographie
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Verfasser und Herausgeber
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EINLEITUNG Die Bundesrepublik Deutschland wird 1999 fünfzig Jahre alt. Das ist für ein Gemeinwesen im allgemeinen nicht viel, doch für Deutschland, das in der Vergangenheit durch tiefe Brüche gekennzeichnet ist, fällt dieser Befund in zweierlei Hinsicht bemerkenswert aus. Erstens: Im Jahre 1871 kam die deutsche Einheit „von oben" zustande. Das Deutsche Kaiserreich bestand immerhin 47 Jahre, bis die „Novemberrevolution" 1918 zur Abdankung des Kaisers führte. Die erste deutsche Demokratie, die Weimarer Republik, dauerte nur 14 Jahre. Der Nationalsozialismus blies ihr das Lebenslicht aus. Das Dritte Reich, das sich eine Lebenszeit von 1000 Jahren zumaß, versank 12 Jahre nach der „Machtergreifung" in Schutt und Asche. Der totalen Niederlage folgte zwischen 1945 und 1949 in Deutschland ein Kondominium der Alliierten. In dessen Folge entstanden zwei Staaten - im Westen die (demokratische) Bundesrepublik Deutschland, im Osten die (undemokratische) Deutsche Demokratische Republik. Zweitens: Das System, das sich aufgrund vermeintlicher historischer Gesetzmäßigkeiten Ewigkeitswert zusprach, kollabierte 1989 (der Fall der Mauer am 9. November 1989 war Ursache und Folge des Zusammenbruchs zugleich). Ein Jahr später trat die inzwischen in der Tat demokratische Deutsche Demokratische Republik der Bundesrepublik Deutschland bei, jenem System, das sich zunächst als Provisorium verstanden hatte. Damit ist Deutschland wieder geeint - friedlich, ohne Blutvergießen und mit Zustimmung seiner Nachbarn. Die Fachgruppe Politik hat die 50. Wiederkehr der Bundesrepublik Deutschland, der zweiten deutschen Demokratie, zum Anlaß genommen, wichtige Entwicklungslinien der Geschichte und der politischen Ordnung nachzuzeichnen. Selbstverständlich konnten nur einige (repräsentative) Bereiche exemplarisch herausgegriffen werden. Die nachfolgenden Beiträge sind - in der Regel - die überarbeiteten Vorträge des zehnten Symposiums der Gesellschaft für Deutschlandforschung (Fachgruppe Politik). Es fand am 5. und 6. November 1998 an der Technischen Universität Chemnitz statt. Alle Beiträge wollen Kontinuität und Wandel einfangen. Der Chemnitzer Politikwissenschaftler und Mitherausgeber des Bandes, Eckhard Jesse, zeichnet die Geschichte Deutschlands zwischen Spaltung und Einheit nach. Sie ist die Geschichte überraschender, so wahrlich nicht vorhergesehener Wendungen. 1949 wurde die Teilung Deutschlands nur als vorüberge-
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Eckhard Jesse und Konrad Löw
hend angesehen. Zehn Jahre danach, kurz nach dem Berlin-Ultimatum Chruschtschows, konnte sich niemand vorstellen, ein weiteres Dezenium später werde die DDR von der Regierung der Bundesrepublik Deutschland als eigener Staat anerkannt, wie dies Willy Brandt in seiner Regierungserklärung 1969 aussprach. Hingegen reichte ein Jahrzehnt danach - auf dem Höhepunkt des neuen Kalten Krieges (Einmarsch der Sowjetunion in Afghanistan; Nachrüstungsbeschluß der NATO) - die Phantasie bei keinem aus, um sich vorzustellen, daß die Berliner Mauer 1989 wie ein Kartenhaus einstürzen würde. Damals, auf dem Höhepunkt deutscher „Verbrüderung", wäre wohl niemand auf den Gedanken gekommen, 1999 werde von fast allen die „innere Einheit" der Deutschen angemahnt. Der Chemnitzer Politikwissenschaftler und Zeithistoriker Alexander Gallus befaßt sich mit deutschlandpolitischen Außenseitern zwischen 1945 und 1990: mit den sogenannten Nationalneutralisten, die eine Wiedervereinigung Deutschlands außerhalb von NATO und Warschauer Pakt unter neutralen Vorzeichen anstrebten. Dabei legt er einen Schwerpunkt auf deren zwei „Boomphasen", zwischen 1945 und 1955 einerseits, auf die achtziger Jahre andererseits. Für beide Zeiträume untersucht er insbesondere die Frage, welche Nationalneutralisten einen über die Gegnerschaft zur außenpolitischen Westbindung hinausgehenden dritten Weg in der Tradition des deutschen Eigenweges verfolgten. Am Ende begründet Gallus die These, daß im Scheitern des neutralistischen Ansatzes seine größte Bedeutung begründet liegt, denn sein Mißerfolg signalisierte den radikalen Bruch der Bundesrepublik mit dem ant i westlichen „Sonderweg", ja mit der deutschen Geschichte selbst. Der Bayreuther Politikwissenschaftler und Mitherausgeber des Bandes, Konrad Löw, analysiert den Mentalitätswandel des Grundgesetzes. Völkerrechtlich wie staatsrechtlich betrachtet ist der Staat des Grundgesetzes mit dem Deutschen Kaiserreich des Jahres 1871 identisch, trotz der Revolutionen und fundamentalen Umbrüche, insbesondere 1918/19 und 1933. Löw vergleicht die Kernaussagen des Grundgesetzes mit dem „Verfassungsrecht" des Dritten Reiches und der Weimarer Verfassung. Dabei zeigt sich, daß die Verfassung des Jahres 1949 nicht nur - was selbstverständlich ist - den Geist des NS-Staates negiert, sondern auch gegenüber Weimar ganz andere Fundamente legt. Haben diese neuen Fundamente bis heute Bestand? Löw sieht Anlaß zu Besorgnis. Der Erlanger Politikwissenschaftler Roland Sturm zeichnet Kontinuität und Wandel des Föderalismus nach. Dieser habe sich prinzipiell bewährt, gleichwohl gäbe es Probleme. Sturm setzt einen Schwerpunkt auf die Auseinandersetzung mit den Reform Vorschlägen. Diese zielen u. a. auf eine Verringerung der Zahl der Länder, eine Änderung des Finanzausgleichs, die Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern sowie auf die Rolle der Länder im vereinten Europa. Sturm kommt zu einem differenzierten Urteil: Eine grundlegende Reform
Einleitung
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des Föderalismus wäre zwar vonnöten, steht aber aufgrund der nötigen Verfassungsänderungen kaum zu erwarten. Der an der Universität Halle lehrende Politikwissenschaftler Everhard Holtmann informiert über den Einstellungswandel im öffentlichen Dienst in Deutschland seit 1945. Für ihn vollzogen sich der Umbruch und die Modernisierung des öffentlichen Dienstes nach 1945 und im Gefolge der deutschen Einigung auf drei Ebenen: derjenigen der (formalen) Institutionen, des Personals und der Einstellungen. Letztere werden unter dem Begriff der „Verwaltungskultur" zusammengefaßt. Die Verwaltungskultur in der Bundesrepublik hat vor 1990 zwei Phasen durchmessen: Einer Phase der „Restauration" traditionellen Amtsverständnisses zu Beginn der fünfziger Jahre folgte zu Beginn der siebziger Jahre eine Umschichtung der bürokratieinternen, dienstbezogenen Einstellungen - weg vom Habitus des „klassischen Bürokraten" und hin zum Habitus des „politischen Bürokraten". Mit diesen beiden Begriffen wird eine inzwischen gebräuchliche - Typisierung David Putnams aufgenommen. Während der „klassische" Bürokrat dem unpolitisch-überpersönlichen, regelgehorsamen Verhaltensmuster verhaftet bleibt, ist der „politische Bürokrat" aufgeschlossener für das Anerkennen öffentlicher Kontrolle seiner Tätigkeit. Beide Verhaltensmuster haben sich in der Umbruchsphase 1989/90 im Osten Deutschlands beim Neuaufbau der öffentlichen Verwaltung in spezifischer Weise miteinander vermischt. Der z. Zt. in Köln lehrende Politikwissenschaftler Karl-Rudolf Körte widmet sich der Kanzlerdemokratie insbesondere zur Zeit von Helmut Kohl. Der Begriff „Kanzlerdemokratie" umschreibt Machtfulle und Führungsanspruch der deutschen Bundeskanzler. Doch wie die Kanzler die Richtlinienkompetenz jeweils ausfüllten, hing vom konkreten Regierungsstil und der Machtkonstellation ab. Die Ära Kohl bietet reichhaltiges Anschauungsmaterial dafür, wie sich das konkrete Regierungshandeln entfaltete. Modernes Regieren stellt auch die politischen Kernakteure vor veränderte Anforderungen. Die Multiplikation von Entscheidungsarenen auf der nationalen wie auf der internationalen Ebene schafft Verflechtungen in einem Ausmaße, das politische Führung zunehmend erschwert. Trotz dieser Veränderungen bleibt politische Steuerung durch den Regierungschef in hohem Maße erhalten. Dies verweist darauf, daß das Muster von Personalisierung und Agieren in Personalnetzwerken einen Führungsstil kennzeichnet, der auch für zukünftige Kanzlerschaften mehr an Bedeutung gewinnen könnte. Der Beitrag von Ludger Helms, dem jetzt in Berlin lehrenden Politikwissenschaftler, ist den wesentlichen Merkmalen und Entwicklungslinien der Verfassungsgerichtsbarkeit gewidmet. Dabei wird insbesondere auf die Herausbildung der modernen Verfassungsgerichtsbarkeit in Deutschland und auf die unterschiedlichen Komponenten institutionellen Wandels des Bundesverfassungsge-
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Eckhard Jesse und Konrad Low
richts abgehoben. Während das Kompetenzprofil des Gerichts in den vergangenen Jahrzehnten bemerkenswert stabil geblieben ist, hat sich das institutionelle Entscheidungsverfahren (etwa in Form des Kammersystems oder des Instituts der „abweichenden Voten") ebenso wie das Sozialprofil der Mitglieder des Gerichts nachhaltig verändert. Erscheint es insgesamt als unangemessen, das Bundesverfassungsgericht als „Gegenregierung" zu klassifizieren, so lassen sich Anzeichen einer problematischen „Justizialisierung von Politik" kaum ernsthaft bestreiten. Als zentrale Prägefaktoren der künftigen Stellung des Bundesverfassungsgerichts werden drei Aspekte hervorgehoben: der Kompetenzverlust des Bundesverfassungsgerichts durch den Europäischen Gerichtshof, die Stärkung des Systems der Verfassungsgerichtsbarkeit in den Ländern und ein möglicher Wandel der politisch-kulturellen Grundlagen der Verfassungsgerichtsbarkeit. Ralf Altenhof, Politikwissenschaftler an der TU Chemnitz, setzt sich mit der Konzeption der streitbaren Demokratie auseinander. In den ersten beiden Jahrzehnten der Bundesrepublik hätte diese typisch deutsche Einrichtung des Demokratieschutzes noch einen sehr viel höheren Stellenwert gehabt. Infolge der Studentenbewegung und des Einzugs einer im Kern linksextremistischen Partei in den Bundestag und in sämtliche ostdeutsche Parlamente nach der Wiedervereinigung sei es zu einem Bruch gekommen. Der zuvor gültige antiextremistische Konsens schwinde immer mehr zugunsten einer Verbindung von Antifaschismus (gegen rechts) und Wertrelativismus (gegen links). Die Konzeption der streitbaren Demokratie befinde sich in der Krise. Der jetzt am Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung tätige Politikwissenschaftler Uwe Backes analysiert den politischen Extremismus - ein Thema, das in Deutschland - einem Land mit einer doppelten diktatorischen Vergangenheit - besondere Aufmerksamkeit findet. Der Autor beschränkt sich dabei auf Parteien, die den politischen Willensbildungsprozeß zu beeinflussen suchten und dabei nicht gänzlich erfolglos waren. Das Fazit von Backes überrascht nicht: Der zweite Versuch der Demokratiegründung ist geglückt. Niemals bestand die Gefahr eines Systemsturzes durch antidemokratische Parteien. Allerdings seien durch die deutsche Einheit neue Herausforderungen eingetreten. Die aus der SED hervorgegangene PDS, die sich im Osten Deutschlands zu etablieren vermochte, fordere nicht die innere Einheit. Die Auswahlbibliographie soll dem interessierten Leser weitere Anregungen geben. Sie konzentriert sich auf neuere Literatur und setzt einen Schwerpunkt bei den Themen, die in diesem Sammelband zur Sprache kommen.
Chemnitz/Bayreuth, im Januar 1999
Eckhard Jesse/Konrad Löw
Eckhard Jesse
DEUTSCHLAND ZWISCHEN TEILUNG UND EINHEIT VON 1945 ÜBER 1949, 1969, 1982, 1989/90 BIS ZU 1999 1. Einleitung Die Geschichte der deutschen Einheit nach 1945 ist in mannigfacher Hinsicht eine Geschichte der Paradoxien. 1 Intentionen und Auswirkungen klafften vielfältig auseinander. Was gewollt wurde, trat nicht ein; was eintrat, war so nicht gewollt. Diese Diskrepanz ist kennzeichnend für mehrere Phasen der Deutschlandpolitik nach 1945. Im Vordergrund soll die Frage nach der verschlungenen Geschichte der deutschen Einheit stehen. Welche Politik suchte sie herbeizuführen, welche Politik suchte sie zu verhindern? Ist etwa die folgende These richtig? „Die Geschichte der deutschen Teilung seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges bis zum Sommer des Jahres 1989 erscheint rückblickend wie eine stetig abfallende Kurve. Im Laufe von über vierzig Jahren Trennung ging die Selbstverständlichkeit, mit der zu Beginn die Wiedervereinigung Deutschlands befürwortet worden war, Schritt um Schritt verloren, bis es in weiten Kreisen der öffentlichen, veröffentlichten und politischen Meinung als geradezu abwegig galt, die Teilung abzulehnen und die Wiedervereinigung überhaupt noch zu wollen." 2 Dieser Beitrag behandelt weniger bestimmte Konzeptionen etwa von Publizisten, analysiert vielmehr konkrete politische Schritte - sei es in Richtung Wiedervereinigung, sei es in Richtung Teilung. Es geht um verschiedene Einschnitte - angefangen bei der Kapitulation der deutschen Wehrmacht im Jahre 1945 (Kapitel 2), fortgesetzt bei der Gründung der beiden deutschen Staaten 1949 (Kapitel 3), der verstärkten Kontaktaufnahme zwischen ihnen zur Zeit der sozial-liberalen Koalition in der Bundesrepublik Deutschland (Kapitel 4) und der folgenden christlich-liberalen Koalition, die in vielfältiger Hinsicht die Deutschlandpolitik ihrer Vorgängerin weiterführte (Kapitel 5). Die „Wende" in der DDR im Herbst 1989 wollte die DDR „nur" demokratisieren, doch war innerhalb eines Jahres deren Ende besiegelt (Kapitel 6). Allerdings hat der for-
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Vgl. dazu das ausgezeichnete Werk von Timothy Garton Ash, Im Namen Europas. Deutschland und der geteilte Kontinent, München/Wien 1993. 2 Sören Roos, Das Wiedervereinigungsgebot des Grundgesetzes in der deutschen Kritik zwischen 1982 und 1989, Berlin 1996, S. 352.
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Eckhard Jesse
melle Akt der deutschen Einheit noch keineswegs den Prozeß der „inneren Einheit" abgeschlossen. Insofern ist es nötig, unter diesem Begriff auch die neunziger Jahre einzubeziehen (Kapitel 7). Mit einer vorschnellen Wertung der Begriffe „Teilung" als negativ und „Einheit" als positiv ist Vorsicht geboten. Denn eine Einheit unter einem kommunistischen System kann schwerlich als begrüßenswert hingestellt werden. Und: Nur für einen politischen Narr firmiert das vereinigte Deutschland der Jahre 1933 bis 1945 als Vorbild. Auch ein schillernder „dritter Weg" 3 , also eine Einheit Deutschlands unter neutralen Vorzeichen, muß angesichts vielfacher Risiken wahrlich nicht als anstrebenswert gelten. Einheit um jeden Preis verbot sich, sie durfte nicht zu Lasten der Freiheit gehen. 2. 1945-1949: Der Weg zur Gründung der beiden deutschen Staaten Nach der bedingungslosen Kapitulation der deutschen Wehrmacht im Mai 1945 war Deutschland ein Spielball der Siegermächte. Hitler wollte Deutschland in seinem „Tausendjährigen Reich" zu den höchsten Höhen fuhren, und tatsächlich führte er es nach zwölf Jahren in den tiefsten Abgrund. Es war politisch handlungsunfähig geworden, ein „Kondominium der Alliierten". 4 Die oberste Regierungsgewalt in ganz Deutschland übernahmen die vier Siegermächte USA, Sowjetunion, Großbritannien und Frankreich. Die vier alliierten Oberbefehlshaber bildeten den Alliierten Kontrollrat, der seine Entscheidungen einstimmig treffen sollte. Auf der Potsdamer Konferenz waren sich die „großen Drei" (Truman, Stalin, zunächst Churchill, später Attlee) darin einig, daß trotz grundsätzlich unterschiedlicher Vorstellungen Deutschland als Einheit erhalten bleiben sollte, auch wenn eine zentrale Regierung zunächst nicht vorgesehen war. Das Zweckbündnis zwischen den Alliierten zerbrach angesichts der machtpolitischen und ideologischen Unterschiede bald. Zwar machten die Westzonen in vieler Hinsicht den ersten Schritt zur Teilung (z.B. Bildung der Bizone zum 1. Januar 1947), doch hatte die SBZ bereits zuvor vollendete Tatsachen geschaffen, wie sich z.B. an der Zwangsvereinigung von Kommunisten und Sozialdemokraten bereits im April 1946 zeigte. Erwiesen sich die Westalliierten - insbesondere die Amerikaner, aber auch die Briten 5 , am wenigsten die Fran3 Vgl. dazu Alexander Gallus, National neutral ismus im Westen Deutschlands von 1945 bis zur Wiedervereinigung 1990, Phil. Diss., TU Chemnitz 1998; siehe auch den Beitrag von Gallus in diesem Band. 4 So Theodor Eschenburg, Jahre der Besatzung 1945-1949. Mit einem einleitenden Essay von Eberhard Jäckel, Stuttgart/Wiesbaden 1983, S. 21-60. 5 Vgl. Heinrich Maetzke, Der Union-Jack in Berlin. Das britische Foreign Office, die SBZ und die Formulierung britischer Deutschland-Politik 1945/47, Konstanz 1996.
Deutschland zwischen Teilung und Einheit
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zosen6 - relativ schnell als „befreundeter Feind" 7 , so entpuppte sich die Sowjetunion als Kolonialmacht, die ihrer Zone mit Hilfe deutscher Kommunisten ein fremdes System aufzuzwingen suchte.8 Dem steht nicht der Befund entgegen, daß die sowjetische Strategie keineswegs linear - sie zielte nicht von vornherein auf Spaltung - angelegt war. Als die Westallierten erkannten, daß eine Verständigung mit der Sowjetunion nicht mehr in Frage kam, arbeiteten sie entschlossen auf die Gründung eines demokratischen deutschen Staates hin und ließen sich davon auch durch massiven sowjetischen Druck - etwa in der Blockade der drei Westsektoren von Berlin - nicht abbringen. Die Entwicklung zur Spaltung Deutschlands muß angesichts der gegensätzlichen Interessen als folgerichtig und wohl unaufhaltsam angesehen werden. Die Auffassung, die Teilung sei beiderseitigen Fehlwahrnehmungen geschuldet9, läßt sich so nicht aufrechterhalten. Allerdings: Sie ist damit keine direkte Folge des Zweiten Weltkrieges, sondern eine des Kalten Krieges. Sollte der Ost-WestKonflikt aus welchen Gründen auch immer an Bedeutung verlieren, konnte sich die Frage der deutschen Einheit neu stellen. Anfangs sahen viele die Teilung nur als vorübergehend an, später schien sie unveränderlich zu sein. 10 1949 war das Jahr der doppelten Staatsgründung 11: Am 23. Mai wurde die Bundesrepublik Deutschland ins Leben gerufen, am 7. Oktober die Deutsche Demokratische Republik. Lief die Entwicklung im einen System demokratisch legitimiert ab (dem Parlamentarischen Rat gehörten auch zwei Mitglieder der KPD an), so wurde im anderen alles von „oben gesteuert" (in dem „Deutschen Volkskongreß" ebenso wie in dem „Deutschen Volksrat"). Weil die Gründung des deutschen Weststaats auf Vorläufigkeit angelegt war, hieß die Verfassung in der Bundesrepublik Deutschland „Grundgesetz" und die verfassungsgebende Versammlung „Parlamentarischer Rat". Deswegen kam 6 Vgl. Dietmar Hüser, Frankreichs „doppelte Deutschlandpolitik". Dynamik aus der Defensive Planen, Entscheiden, Umsetzen in gesellschaftlichen und wirtschaftlichen innen- und außenpolitischen Krisenzeiten 1944-1950, Berlin 1996. 7 So Klaus-Dietmar Henke, Der freundliche Feind: Amerikaner und Deutsche 1944/45, in: Heinrich Oberreuter/Jürgen Weber (Hrsg.), Freundliche Feinde? Die Alliierten und die Demokratiegründung in Deutschland, München/Landsberg am Lech 1996, S. 41-50. Siehe auch ders., Die amerikanische Besetzung Deutschlands, München 1995. 8 Vgl. Norman M. Naimark, Die Russen in Deutschland. Die sowjetische Besatzungszone 1945-1949, Berlin 1997; Stefan Creutzberger, Die sowjetische Besatzungsmacht und das politische System der SBZ, Weimar u.a. 1996. 9 Diese Position wird etwa von Wilfried Loth vertreten, der sie noch zuspitzt - und zwar in dem Sinne, die Sowjetunion habe ein westlich-demokratisches System in der DDR angestrebt. Vgl. ders., „Stalins ungeliebtes Kind". Warum Moskau die DDR nicht wollte, Berlin 1994. 10 Vgl. Peter März, Rahmenbedingungen deutscher Staatlichkeit 1945 bis 1990, in: Ders. (Hrsg.), 40 Jahre Zweistaatlichkeit in Deutschland. Eine Bilanz, München 1999, S. 17-46. 11 Vgl. Jürgen Weber (Hrsg.), Das Jahr 1949 in der deutschen Geschichte. Die doppelte Staatsgründung, München 1997.
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auch eine Abstimmung über die Verfassung nicht in Frage. In der Präambel des Grundgesetzes war eigens vom Ziel der Wiedervereinigung der Deutschen in Freiheit die Rede. Was Fritz Reuter, Mitglied des Parlamentarischen Rates, Heinz Renner, seinem kommunistischen Kollegen, prophezeite, ist in Erfüllung gegangen: „Sie können sicher sein, Herr Abgeordneter Renner, an dem Tage, an dem Sie in der Ostzone den dort vorhandenen Parteien die Möglichkeit geben, frei und selbständig ihr organisatorisches Gefüge aufzubauen und über ihre eigenen Angelegenheiten ohne Einmischung von Ihnen oder ihrer Auftraggeber zu entscheiden, [...] an dem Tage ist das Provisorium von Bonn in ein Definitivum des ganzen deutschen Volkes verwandelt worden." 12 3. 1949-1969: Rhetorische Einheitsforderungen undfaktische Auseinanderentwicklung Die Bundesrepublik Deutschland erkannte von Anfang an die DDR nicht an, lehnte folglich alle Gespräche mit dem „Pankower Regime" ab, weil die von der SED geführte Regierung sich nicht auf das Votum der Bevölkerung stützen konnte und der Bajonette der Sowjetunion bedurfte. Für die politisch Verantwortlichen lag der Schlüssel zur Wiedervereinigung in Moskau. Deshalb nahm die Bundesregierung auch diplomatische Beziehungen zur Sowjetunion im Jahre 1955 auf. Die danach verankerte „Hallstein-Doktrin" legte fest, daß die Bundesrepublik die Anerkennung der DDR durch andere Staaten als unfreundlichen Akt ansehen und ihrerseits die Beziehungen abbrechen werde. Die Politik Adenauers zielte darauf, die Bundesrepublik Deutschland an der Seite des Westens zu halten, 13 wollte er doch eine „Schaukelpolitik" um jeden Preis vermeiden. Seine „Politik der Stärke" war darauf gerichtet, die Sowjetunion mitsamt der DDR in die Knie zu zwingen. Kritiker sahen in der engen Westbindung eine Schwächung deutschlandpolitischer Zielsetzungen. Jedenfalls war die Wiedervereinigung in weite Ferne gerückt. Noch im März 1952 hatte die Sowjetunion dem Westen den Vorschlag eines neutralisierten Gesamtdeutschland unterbreitet. Ein Notenaustausch zwischen der Sowjetunion und den Westmächten, die die Ernsthaftigkeit des Vorschlags nicht ausloteten, verlief im Sande. Die Forschung geht mehrheitlich davon aus, daß die Initiative der So12
Zitiert nach Roos (Anm. 2), S. 59. Zur unterschiedlichen Interpretation dieser Politik vgl. einerseits Christoph Kleßmann/Bernd Stöver, Die Deutschlandpolitik der Bundesregierung Adenauer und die politisch-parlamentarische Diskussion in dieser Zeit und andererseits: Rudolf Morsey, Die Deutschlandpolitik der Bundesregierungen Adenauer und die politisch-parlamentarische Diskussion 1949-1963, jeweils in: Materialien der Enquete-Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland" (12. Wahlperiode des Deutschen Bundestages), hrsg. vom Deutschen Bundestag, Bd. V/2, Frankfurt a.M./Baden-Baden 1995, S. 1612-1635, S. 1822-1865. Ausführlicher ders., Die Deutschlandpolitik Adenauers. Alte Thesen und neue Fakten, Opladen 1991. 13
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wjetunion nicht ernst gemeint war und nur dazu diente, die Westintegration der Bundesrepublik zu hintertreiben. 14 Unabhängig davon: Mit guten Gründen läßt sich die Auffassung vertreten, daß eine Neutralisierung Deutschlands mit zu großen Risiken behaftet gewesen sei. Im Jahr 1955 wurde die Bundesrepublik in die NATO und die DDR in den Warschauer Pakt aufgenommen. Die (freiwillige) Westintegration der einen und die (unfreiwillige) Ostintegration der anderen Seite ließ die beiden deutschen Staaten weiter auseinanderdriften. Jetzt gab die DDR ihre Wiedervereingungsrhetorik auf, ging von der Existenz zweier deutscher Staaten aus und trat in der Folge mit Konfoderationsplänen an die Öffentlichkeit. Hingegen hatte die Wiedervereinigung für die Bundesrepublik, die auf den bisherigen Rechtspositionen bestand, weiterhin Priorität - jedenfalls nach außen hin. Die sowjetische Deutschlandpolitik, der die DDR folgte, ließ keine Bereitschaft zur deutschen Einheit in Freiheit erkennen. 15 Der Bau der Mauer am 13. August 1961 stellte ein Armutszeugnis für die DDR dar. Fast drei Millionen Menschen hatten bis dahin mit den „Füßen abgestimmt". Zugleich, und das ist die Kehrseite, verdeutlicht diese Abriegelung, daß die Politik Adenauers nicht aufgegangen war, das kommunistische System in die Knie zu zwingen. Die Stabilisierung der DDR war eine Folge des Mauerbaus. Allmählich setzte eine flexiblere Politik in der Bundesrepublik ein, ohne daß aber Kontakte zur DDR aufgenommen wurden. Sie war wesentlich auch eine Reaktion auf den Wandel zumal der amerikanischen Deutschlandpolitik. Der Ost-West-Konflikt ließ in seiner Schärfe nach (paradoxerweise nicht zuletzt wegen des „atomaren Patts"), und Entspannungstendenzen machten sich breit. Hingegen blieb der „Sonderkonflikt" 16 zwischen der Bundesrepublik und der DDR in der bisherigen Form erhalten. Die Westmächte schienen nicht länger gewillt zu sein, Fortschritte in der Entspannungs- und Abrüstungspolitik von Fortschritten in der Wiedervereinigungspolitik abhängig zu machen. Insofern sah sich die Bundesrepublik in der Nach-Adenauer-Ära zu Konzessionen bemüßigt (z.B. Lockerung der „HallsteinDoktrin"). 17 Gleichwohl: Der Alleinvertretungsanspruch wurde trotz unter-
14 Vgl. Manfred Kittel, Zur Genesis einer Legende. Die Diskussion um die Stalin-Noten in der Bundesrepublik 1952-1958, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 41 (1993), S. 355-390. 15 Das ist die Kernthese nicht nur des - quellengestützten - Werkes von Gerhard Wettig, Bereitschaft zu Einheit in Freiheit? Die sowjetische Deutschland-Politik 1945-1955, München 1999. 16 Vgl. Richard Löwenthal, Vom Kalten Krieg zur Ostpolitik, in: Ders./Hans-Peter Schwarz (Hrsg.), Die zweite Republik. 25 Jahre Bundesrepublik Deutschland - eine Bilanz, Stuttgart 1974, S. 604-699. 17 Für Peter Siebenmorgen gehörte bereits Adenauer zu den Entspannungspolitikern. Vgl. ders., Gezeitenwechsel. Aufbruch zur Entspannungspolitik, Bonn 1990.
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schiedlicher Akzentsetzungen weder von der Regierung Erhards noch von der Kiesingers zur Zeit der Großen Koalition aufgegeben. 18 4. 1969-1982: Überwindung des Status quo durch seine vorherige Anerkennung? Die „Ursprünge der 'neuen Ostpolitik' Willy Brandts" 19 reichen bis Anfang der sechziger Jahre zurück. Willy Brandt und andere wie sein Berater Egon Bahr erkannten: Um die Mauer durchlässiger zu machen, war es notwendig, ihre Existenz zunächst hinzunehmen. Egon Bahrs berühmte Formulierung aus der Tutzinger Rede 1963 vom „Wandel durch Annäherung" löste heftige Reaktionen aus: Die Bundesrepublik solle sich annähern, damit sich die DDR wandeln könne. Die Paradoxie wurde mit der folgenden Überlegung Bahrs auf den Punkt gebracht: „Überwindung des Status quo, indem der Status quo zunächst nicht verändert werden soll." 20 Der Beginn der sozial-liberalen Regierung im Herbst 1969 mit der Kanzlerschaft Brandts leitete in der Deutschlandpolitik einen Wandel ein: Willy Brandt bot in seiner Regierungserklärung der DDR Verhandlungen auf Regierungsebene an. Zwar wandte er sich gegen eine völkerrechtliche Anerkennung der DDR, akzeptierte die DDR aber als zweiten deutschen Staat. „Die Regierung Brandt/Scheel hatte die staatliche Teilung bestätigt, um die Trennung der Menschen zu mildern." 21 Für die Bundesregierung gab es damit zwei deutsche Staaten, jedoch nur eine deutsche Nation. 22 Dieser Umstand wiederum führte zu einem Wandel auf Seiten der DDR, die große Ängste vor einer sozialdemokratischen Infiltration hegte. Eine Abgrenzungspolitik setzte ein: Von nun an bestand fiir die DDR Deutschland nicht nur aus zwei Staaten, sondern auch aus zwei Nationen. Die Verfassungsrevision des Jahres 1974 beseitigte alle Anklänge an die Einheit der Nation, nachdem bereits die Verfassung von 1968 die „bürgerliche" Verfassung 18 Vgl. dazu beispielsweise Werner Link, Die Deutschland-Politik der Bundesregierungen Erhard und der Großen Koalition (sowie die dazu geführte Diskusssion in Parlament und Öffentlichkeit), in: Materialien der Enquete-Kommission (Anm. 13), Band V/1, S. 1672-1743 19 So Manfred Görtemaker, Die Ursprünge der 'neuen Ostpolitik' Willy Brandts, in: Arnd Bauernkämper/Martin Sabrow/Bernd Stöver (Hrsg.), Doppelte Zeitgeschichte. Deutsch-deutsche Beziehungen 1945-1990, Bonn 1998, S. 44-57. 20 Zitiert nach ebd., S. 53. Zum Konzept von Egon Bahr insgesamt: Andreas Vogtmeier, Egon Bahr und die deutsche Frage. Zur Entwicklung der sozialdemokratischen Ost- und Deutschlandpolitik vom Kriegsende bis zur Vereinigung, Bonn 1996. 21 Peter Bender, Episode oder Epoche? Zur Geschichte des geteilten Deutschland, München 1996, S. 188. 22 Zur unterschiedlichen Interpretation dieser Politik vgl. die beiden Darstellungen: Wilhelm Bleek/Rainer Bovermann, Die Deutschlandpolitik der SPD/FDP-Koalition 1969-1982 und Jens Hacker, Die Deutschland-Politik der SPD-FDP-Koalition 1969-1982, jeweils in: Materialien der Enquete-Kommission (Anm. 13), S. 1141-1187, S. 1489-1542.
Deutschland zwischen Teilung und Einheit
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von 1949 ersetzt hatte. Gleichwohl besteht Anlaß für die folgende Paradoxie: In der DDR, wo es nicht gewünscht war, nahmen die Menschen Anteil am Leben in der Bundesrepublik; hingegen zeigten die Westdeutschen weniger Interesse an den Ostdeutschen, obwohl die offizielle Politik dies zu fördern suchte. Der im Dezember 1972 abgeschlossene „Vertrag über die Grundlagen der Beziehungen zwischen beiden deutschen Staaten" (Grundlagenvertrag) regelte die Beziehungen der beiden deutschen Staaten und verwies in der Präambel auf die unterschiedlichen Positionen in der „nationalen Frage". Sein Abschluß war die Voraussetzung für die Aufnahme der beiden deutschen Staaten in die UNO. Gleichwohl war es von einem „Gegeneinander" zu einem „Miteinander" noch weit. Immerhin ließ in der DDR die Hetze gegen die „Bonner Ultras" nach, kam es in der Folge zu zahlreichen Vereinbarungen (z.B. bei der Familienzusammenführung). Insgesamt brachte die Anerkennung für die DDR nicht nur Vorteile, sondern auch Risiken. Dies gilt etwa für die Folgen der KSZE-Schlußakte von 1975, die die DDR ebenso unterschrieb wie die Bundesrepublik. Kritiker der von der parlamentarischen Opposition abgelehnten Ost- und Deutschlandpolitik bemängelten, auf diese Weise werde eine Wiedervereinigung Deutschlands endgültig zunichte gemacht. Für ihre Anhänger ist diese neue Politik gen Ost dagegen eine logische Konsequenz der Politik Adenauers gen Westen gewesen. Zur Staatsräson der Bundesrepublik Deutschland gehöre nicht nur die Westbindung, sondern auch die Ostverbindung. 23 Die deutsch-deutsche „Normalisierung" wurde im Westen nicht nur mit Zustimmung, sondern auch mit Argwohn gesehen.24 In dem Maße, in dem sich die weltpolitischen Rahmenbedingungen Ende der siebziger, Anfang der achtziger Jahre im Zuge der Diskussion über die „Nachrüstung" verschlechterten, trübte sich auch das deutsch-deutsche Verhältnis. Eine Art „Sonderkonsens" ließ sich nicht erreichen. Die vier „Geraer Forderungen" von Erich Honecker im Oktober 1980 (Anerkennung der DDR-Staatsbürgerschaft; Umwandlung der Ständigen Vertretungen in Botschaften; Festlegung des Grenzverlaufs in der Mitte der Elbe; Auflösung der Zentralen Erfassungsstelle in Salzgitter) - eine Reaktion auf die Zuspitzung der als prekär empfundenen Lage - wurden weder von der sozialdemokratisch noch von der christdemokratisch geführten Bundesregierung akzeptiert.
23 Vgl. Werner Link, Die außenpolitische Staatsräson der Bundesrepubik Deutschland. Überlegungen zur innerstaatlichen Struktur und Perzeption des internationalen Bedingungsfeldes, in: Manfred Funke/Hans-Adolf Jacobsen/Hans-Helmuth Knütter/Hans-Peter Schwarz (Hrsg.), Demokratie und Diktatur. Geist und Gestalt politischer Herrschaft in Deutschland und Europa. Festschrift für Karl Dietrich Bracher, Düsseldorf 1987, S. 400-416; ders., Westbindung und Ostverbindungen. Die außenpolitische Staatsräson der Bundesrepublik Deutschland, in: März (Anm. 10), S. 195-212. 24 Vgl. u.a. Stephan Fuchs, Dreiecksverhältnisse sind immer kompliziert. Kissinger, Bahr und die Ostpolitik, Hamburg 1999.
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Eckhard Jesse 5. 1982-1989: Rhetorischer Wandel, faktische Kontinuität
Sowohl Anhänger als auch Gegner der neuen Bundesregierung erwarteten in der Deutschlandpolitik von ihr eine Wende. Doch diese blieb aus, die Politik der Vorgängerin wurde nach dem Vollzug der „Nachrüstung" mehr oder weniger fortgesetzt. 25 Auf diese Weise ließ sich das deutsch-deutsche Verhältnis weiter entspannen, zumal die DDR einen Milliardenkredit erhielt, dessen Zustandekommen ausgerechnet Franz Josef Strauß, der im Osten als Ausgeburt des Kalten Krieges fungierte, eingefädelt hatte. Die Vertragspolitik machte in den achtziger Jahren große Fortschritte (z.B. Abschluß eines deutsch-deutschen Kulturabkommens im Jahre 1985). 26 Setzte die Union mit gewissen Akzentuierungen die Deutschlandpolitik der von den Sozialdemokraten geführten Regierung fort, so gingen diese in der Opposition deutlich darüber hinaus. Sie trieben eine Art „Nebenaußenpolitik" und ließen sich als Opposition darauf ein, mit der SED Abkommen zu schließen. Aus den Reihen von Sozialdemokraten war gelegentlich zu hören, daß die Wiedervereinigung nicht nur unrealistisch, sondern auch wenig wünschenswert sei. 27 Allerdings war diese Position innerhalb der Sozialdemokratie nicht mehrheitsfähig. Insofern ist der Regierungswechsel in der Bundesrepublik Deutschland im Jahre 1982 auf den ersten Blick keine Zäsur. Jedoch: Die Einheit der Nation wurde stärker als von der Vorgängerregierung betont. So war durchaus eine Akzentverschiebung spürbar. Gesprochen wurde nicht mehr von den „deutschdeutschen Beziehungen" und den „zwei deutschen Staaten", sondern von den „innerdeutschen Beziehungen" und den „zwei Staaten in Deutschland". Und: Häufiger wurde die mangelnde Legitimität der DDR zur Sprache gebracht. Wolfgang Jäger bringt die Deutschlandpolitik jener Zeit auf folgende paradox anmutende Formel: „Der stabilisierenden Wirkung der operativen Deutschlandpolitik wird die destabilisierende Legitimitätsverweigerung entgegengesetzt."28
25 Zur unterschiedlichen Sichtweise vgl. die Beiträge von Wolfgang Jäger, Die Deutschlandpolitik der Bundesregierungen der CDU/CSU-FDP-Koalition (Kohl-Genscher), die Diskussion in den Parteien und in der Öffentlichkeit 1982-1989 und Heinrich Potthoff, Die Deutschlandpolitik der Bundesregierungen der CDU/CSU-FDP-Koalition), die Diskussion in den Parteien und in der Öffentlichkeit 1982-1989Jeweils in: Materialien der Enquete-Kommission (Anm. 13), Bd. V/2, S. 1572-1611, Bd. V/3, S. 2065-2113. 26 Vgl. beispielsweise Ernst Martin, Deutschlandpolitik der 80er Jahre, Bonn 1986; Matthias Zimmer, Nationales Interesse und Staatsräson. Zur Deutschlandpolitik der Regierung Kohl 19821989, Paderborn u.a. 1992. 27 Zur Kritik vgl. Jens Hacker, Deutsche Irrtümer. Schönfärber und Helfershelfer der SEDDiktatur im Westen, 3. Aufl., Frankfurt a.M./Berlin 1994. 28 Jäger (Anm. 25), S. 1579.
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Der Reiseverkehr nahm in den achtziger Jahren beträchtlich zu, und zwar nicht nur von West nach Ost. Auf diese Weise wuchs die Kommunikation, wurden neue Bindungen geknüpft und alte aufrechterhalten. Die DDR schob in den achtziger Jahren immer mehr Ausreisewillige in den Westen ab - in der Annahme, ein Unruhepotential loszuwerden. Diese Hoffnung trog. Übersiedler pflegten Kontakte zu ihren Angehörigen und Freunden. Wer im Westen war, wenn auch nur zeitweilig, verglich das Bild, das er gewonnen hatte, mit den Verhältnissen in der DDR. Unmut wuchs: Die Schere im Lebenstandard zwischen Ost und West ging weiter auseinander. Der Besuch Erich Honeckers in der Bundesrepublik im Jahre 1987 - er erwiderte damit den Besuch Helmut Schmidts in der DDR 1981 - erfüllte zwar den Wunsch des SED-Chefs nach den protokollarischen Ehren; jedoch ließ Bundeskanzler Kohl keinen Zweifel an der Ablehnung der auf Abgrenzung bedachten deutschlandpolitischen Vorstellungen der DDR-Führung aufkommen. Kritiker werfen den Politikern aller Parteien inzwischen vor, bei ihren Gesprächen mit der politischen Führung der DDR vielfach zu weit gegangen zu sein. Offenkundig war niemand so recht an einer Destabilisierung der DDR interessiert 29, wenngleich, und das ist die Paradoxie, eine solche die Folge der vermehrten Kontakte gewesen ist. Was der Deutschland-Forscher Wilhelm Bruns 1989 zu Papier gebracht hatte, gehörte zum damaligen politischen Konsens: „Die politische Konstellation in Europa läßt nur einen Ansatz zu, der von der Existenz zweier deutscher Staaten ausgeht und mit den beiden deutschen Staaten eine Europäische Friedensordnung anstrebt. Zur politischen Konstellation gehört, daß kein Staat in Europa die Bundesrepublik bei einer Politik unterstützte, die den Status quo verändern wollte." 30 Jedenfalls wurde die Bundesrepublik Deutschland von dem Umbruch in der DDR ebenso überrascht wie die dortige politische Führung. Der Kommunismus - nicht nur in der DDR - erwies sich als ein „gescheitertes Experiment" 31 .
29 Vgl. aus unterschiedlicher Sicht: Detlef Nakath/Gerd-Rüdiger Stephan, Von Hubertusstock nach Bonn. Eine dokumentierte Geschichte der deutsch-deutschen Beziehungen auf höchster Ebene 1980-1987, Berlin 1995; Jens Hacker, Kontinuitäten und Diskontinuitäten in den innerdeutschen Beziehungen der siebziger und achtziger Jahre - Positionen, in: März (Anm. 10), S. 241-284; Heinrich Potthoff, Die „Koalition der Vernunft". Deutschlandpolitik in den 80er Jahren, München 1995; ders., Bonn und Ost-Berlin 1969-1982. Dialog auf höchster Ebene und vertrauliche Kanäle. Darstellung und Dokumente, Bonn 1997; die wohl beste Studie stammt von Garton Ash (Anm. 1). 30 Wilhelm Bruns, Von der Deutschland-Politik zur DDR-Politik? Prämissen - Probleme - Perspektiven, Opladen 1989, S. 219 f. 31 Vgl. Zbigniew Brzezinski, Das gescheiterte Experiment. Der Untergang des kommunistischen Systems, Wien 1989.
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Eckhard Jesse 6. 1989/90: „ Wende*' in der DDR und Ende der DDR
Der Zusammenbruch des kommunistischen Systems war ein Zusammenbruch der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, die das Zepter vier Jahrzehnte in der Hand hatte und vor dem Umsturz jeden ernsthaften Erneuerungsprozeß unterließ. Der Sozialismus in den „Farben der DDR" - er vermochte es entgegen der Propaganda nicht, die Massen zu ergreifen. In dem Moment, in dem sich die Möglichkeit bot, wurde der Befund einer fehlenden DDR-Identität gewahr. Die Massenflucht im Sommer 1989 insbesondere über Ungarn führte zu Massenprotesten im Land. Man ahnte: Die Sowjetunion unter Gorbatschow wird nicht mehr intervenieren wie 1953. Der Sturz Erich Honeckers brachte keine Beruhigung. Das diktatorische System mit dem Staatssicherheitsdienst erwies sich als immer brüchiger und war ohne Stabilitätsreserven, zumal es nicht auf Hilfe von außen hoffen konnte. Es bildeten sich Gruppierungen, die sich nicht als Sprachrohr der SED verstanden. 32 Sie stellten wohl deren Herrschaftsmonopol in Frage, jedoch nicht die Existenz der DDR. Die Inselstadt Berlin spielte „in den siebziger und achtziger Jahren eine Doppelrolle: Sie entzweite die deutschen Staaten und verband sie. Ohne West-Berlin war ein zweistaatliches Deutschland auch auf Dauer vorstellbar, aber die Stadt existierte, und niemand, der die Teilung als Lösung der deutschen Frage ansah, wußte wohin mit ihr. Berlin war wirklich, was seine Sprecher pathetisch verkündeten, eine Klammer zwischen den Teilen und ein Mahnmal für die Einheit." 33 Die Berliner Mauer fiel aus demselben Grund, aus dem sie gebaut wurde: um die DDR zu retten. Doch diesmal stand die Intention in einem krassen Gegensatz zu den Auswirkungen. Nach dem Fall der Mauer 34 schlug die Demonstrationsbewegung in der DDR um: Aus der Parole „Wir sind das Volk" wurde binnen kurzem: „Wir sind ein Volk". Dieser Dynamik konnte sich niemand erfolgreich entgegensetzten. Ein u.a. von Bürgerrechtlern initiierter Aufruf „Für unser Land" vom 26. November 1989 entfaltete keine sonderliche Anziehungskraft. 35 Hingegen weckte Helmut Kohls Zehn-Punkte-Plan große Hoffnung in der DDR, auch wenn präzise Zeitangaben mit Blick auf die konföderativen Strukturen nicht genannt wurden. „Wie ein wiedervereinigtes Deutschland schließlich aussehen wird, das weiß heute niemand. Daß aber die Einheit kommen wird, wenn die Menschen in 32 Vgl. zusammenfassend Ehrhart Neubert, Geschichte der Opposition in der DDR 1949-1989, 2. Aufl., Berlin 1998. 33 Bender (Anm. 21), S. 195. 34 Zu den Hintergründen vgl. Hans-Hermann Hertle, Der Fall der Mauer, Berlin 1996. 35 Der Aufruf findet sich abgedruckt u.a. bei Charles Schüddekopf (Hrsg.), „Wir sind das Volk". Flugschriften, Aufrufe und Texte einer deutschen Revolution, Hamburg 1990, S. 240 f.
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Deutschland sie wollen, dessen bin ich sicher." 36 Selbst der Ministerpräsident Modrow trat die Flucht nach vorn an und machte sich die Wendung aus der seit Jahren nicht mehr gesungenen DDR-Nationalhymne zu eigen: „Für Deutschland einig Vaterland". 37 Die innen- und außenpolitischen Prozesse38 auf dem Weg zur deutschen Einheit überschlugen sich und waren zugleich in eine größere Tektonik eingebettet. Sie verliefen weitaus weniger geradlingig, als es der nachfolgende Abriß zeigt. Eine Verlangsamung des Eingungsprozesses wäre weder möglich noch angesichts der innen- und außenpolitischen Risiken überhaupt wünschenswert gewesen. Zunächst zur Innenpolitik 39 : Am 1. Dezember 1989 wurde von der Volkskammer der Passus in Art. 1 der DDR-Verfassung gestrichen, der die „Führung der Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei" verankert hatte; am 7. Dezember 1989 wurde der Zentrale „Runde Tisch" ins Leben gerufen. An ihm trafen sich die Repräsentanten der „alten" und der „neuen" Kräfte. Dieses Gremium erleichterte den Übergang von einem diktatorischen zu einem demokratischen System.40 Die inzwischen mehr gewendete als gewandelte SED kam nicht umhin, demokratischen Wahlen zuzustimmen. Der Wahlausgang der ersten demokratischen Volkskammerwahl begünstigte den schnellen Weg zur Einheit. Mit der „Allianz für Deutschland" (CDU, DSU, Demokratischer Aufbruch) lag diejenige Kraft, die am entschiedensten auf eine schnelle deutsche Einheit gesetzt hatte, klar vor der neu ins Leben gerufenen SPD (48,1 Prozent gegenüber 21,9 Prozent). Das Bündnis 90, hinter dem drei Bürgerbewegungen standen (Neues Forum, Demokratie Jetzt, Initiative Frieden und Menschenrechte), kam nur auf 2,9 Prozent, die „Grünen" erzielten gemeinsam mit dem „Unabhängigen Frauenverband" lediglich 2,0 Prozent. Die isolierte PDS erreichte immerhin noch 16,4 Prozent der Stimmen. Die Einheit Deutschlands 36 Der Zehn-Punkte-Plan ist u.a. abgedruckt bei Volker Gransow/Konrad H. Jarausch (Hrsg.), Die deutsche Vereinigung. Dokumente zu Bürgerbewegungen, Annäherung und Beitritt, Köln 1991, S. 101-104 (Zitat: 102). 37 Zu der Konzeption vgl. Hans Modrow, Aufbruch und Ende, Hamburg 1991, S. 186-188. 38 Vgl. neuerdings die beiden aus den Akten gearbeiteten einschlägigen Studien: Wolfgang Jäger, Die Überwindung der Teilung. Der innerdeutsche Prozeß der Vereinigung 1989/90, Stuttgart 1998; Werner Weidenfeld, Außenpolitik für die deutsche Einheit. Die Entscheidungsjahre 1989/90, Stuttgart 1998. 39 Vgl. u.a. Karl-Rudolf Körte, Deutschlandpolitik in Helmut Kohls Kanzlerschaft. Regierungsstil und Entscheidungen 1982 - 1989, Stuttgart 1998; Dieter Grosser, Das Wagnis der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion, Stuttgart 1998; Jürgen Gros, Entscheidung ohne Alternativen? Die Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik im deutschen Vereinigungsprozeß 1989/90, München 1994; Eckhard Jesse/Armin Mitter (Hrsg.), Die Gestaltung der deutschen Einheit. Geschichte - Politik Gesellschaft, Bonn 1992; Wolfgang Schäuble, Der Vertrag. Wie ich über die deutsche Einheit verhandelte, Stuttgart 1991. 40 Vgl. Uwe Thaysen, Der Runde Tisch. Oder: Wo blieb das Volk? Der Weg der DDR in die Demokratie, Opladen 1990.
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konnte die Partei, mit der keiner zusammenarbeiten wollte, in der Folge nicht verhindern. Bereits vor der Volkskammerwahl war von den Regierungsparteien das Angebot einer Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion in Aussicht gestellt worden. Die Schaffung einer solchen Union war dann auch das vordringliche Ziel der beiden deutschen Regierungen. Ein entsprechender Staatsvertrag - der „Vertrag über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik" - trat am 1. Juli 1990 in Kraft. Damit war die D M zum alleinigen Zahlungsmittel in der DDR geworden. Diesem Vertrag folgte am 31. August 1990 der Einigungsvertrag, der „Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über die Herstellung der Einheit Deutschlands". Am 23. August 1990 hatte die Volkskammer den Beitritt der DDR mit Wirkung vom 3. Oktober 1990 erklärt. Der 3. Oktober löste damit den 17. Juni als Tag der deutschen Einheit ab. Bereits vorher - am 3. August 1990 - war ein Wahlvertrag unterzeichnet worden. So stand nichts mehr im Wege, daß die für den 2. Dezember vorgesehenen Bundestagswahlen zugleich die ersten gesamtdeutschen Wahlen werden konnten. Wer auf Lücken und Schwächen in den Verträgen verweist, sollte sich der Tatsache bewußt sein, daß die Verhandlungspartner unter Druck und in Eile ihre Entscheidungen zu treffen hatten.41 Viele Intellektuelle - im Osten wie im Westen Deutschlands standen dem Prozeß der deutschen Einigung reserviert gegenüber. 42 Dieses Urteil gilt nicht für Bundeskanzler Kohl, der zwar in mancher Hinsicht aufgrund der Entwicklung in der DDR auch reagieren mußte, aber insgesamt erfolgreich die divergierenden Interessenströme zu kanalisieren suchte, zumal ihm die Deutschlandpolitik besonders am Herzen lag. 43 Diese innenpolitischen Schritte fanden ihre Ergänzung im außenpolitischen Bereich 44 , womit die Verflochtenheit beider Stränge nicht zu übersehen ist. Wie sich die Bundesregierung nicht dem Drängen der DDR-Bevölkerung entziehen konnte, sah die internationale Staatenwelt, was diese wollte: Einheit in Frieden und Freiheit. Anfangs schien es so, als sollte die Sowjetunion auf ihrer Vorstellung beharren: Ein vereinigtes Deutschland müsse neutral sein. Allerdings reizte Gorbatschow diese Forderung nicht aus und rückte später von ihr ab. Frankreich 41 Vgl. dazu etwa die Schilderung bei einem der an vorderster Stelle Beteiligten: Schäuble (Anm. 39). 42 Vgl. Jäger (Anm. 38), S. 356-368 („Exkurs: Die Intellektuellen und die Wiedervereinigung"). 43 Vgl. dazu umfassend Körte (Anm. 39). 44 Vgl. Philip Zelikow/Condoleezza Rice, Sternstunde der Diplomatie. Die deutsche Einheit und das Ende der Spaltung Europas, Berlin 1997; Richard Kiessler/Frank Elbe (Hrsg.), Der diplomatische Weg zur deutschen Einheit. Mit einem Vorwort von Hans-Dietrich Genscher, Frankfurt a.M. 1996; Rafael Biermann, Zwischen Kreml und Kanzleramt. Wie Moskau mit der deutschen Einheit rang, Paderborn u.a. 1997; Horst Teltschik, 329 Tage. Innenansichten der Einigung, Berlin 1991.
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und Großbritannien mußten ebenso bald ihre Vorbehalte gegenüber der deutschen Einheit aufgeben. Im Februar 1990 vereinbarten die Außenminister der USA, der Sowjetunion, Großbritanniens und Frankreichs sowie der beiden deutschen Staaten „Zwei plus Vier"-Konferenzen zur Regelung der äußeren Aspekte der deutschen Einheit. Auf der ersten „Zwei plus Vier"-Außenministerkonferenz am 5. Mai 1990 wurde der Wille der Deutschen zur Einheit anerkannt. Die Forderung der Sowjetunion, die äußeren Aspekte der deutschen Einheit von den inneren zu entkoppeln, stieß auf Ablehnung bei den anderen Teilnehmern. Nachdem der Bundeskanzler bei einem Treffen mit Gorbatschow im Juli 1990 im Kaukasus dessen Zugeständnis erreicht hatte, daß das vereingte Deutschland seine Bündniszugehörigkeit frei wählen dürfe, stand einer Einigung nichts Wesentliches mehr im Wege. Am 12. September wurde auf der „Zwei plus Vier"-Außenministerkonferenz der „Vertrag über die abschließende Regelung in bezug auf Deutschland" unterzeichnet. Die Souveränität Deutschlands war erreicht. War die Entwicklung in der DDR maßgeblich durch das Rumoren in osteuropäischen Staaten entfacht worden, so beschleunigte der Zusammenbruch des Kommunismus in der DDR auch das Ende osteuropäischer Diktaturen. Dieser Domino-Effekt ließ sich nicht mehr stoppen. Heute sagt fast jeder, daß „es" so kommen mußte, wie es gekommen ist. Aber tatsächlich hätte die Entwicklung 1989/90 anders verlaufen können. Antworten auf diese und weitere Fragen legen einen solchen Befund nahe. Was wäre gewesen, wenn sich „Hardliner" in der SED durchgesetzt und die Demonstrationen mit Gewalt aufgelöst hätten? Welche Konsequenzen hätte ein Sturz Gorbatschows - 1989 oder 1990 - für die deutsche Frage gehabt? Wäre bei Angriffen auf die sowjetische Besatzungsmacht diese passiv geblieben? Und wie hätten sich die Deutschen in Ost und West bei einem frühzeitigen Neutralitätsangebot der Sowjetunion verhalten? „Das Erfolgsrezept der Vereinigung lag letztlich in einer Verbindung einzelner Faktoren: günstige Rahmenbedingungen, staatsmännisches und diplomatisches Geschick und schließlich auch eine beachtliche Prise 'glücklichen Zufalls'." 45 7. Seit 1990: Innere Einheit? Die wirtschaftlichen Unterschiede zwischen den alten und den neuen Bundesländern (mit höherer Arbeitslosigkeit und niedrigerem Lebensstandard) bestehen in abgeschwächter Form zehn Jahre nach dem Zusammenbruch der SED weiter. Auch Unterschiede im Bereich der politischen Kultur halten an. 46 Be45
Weidenfeld (Anm. 38), S. 641. Vgl. beispielsweise Dieter Fuchs/Edeltraud Roller/Bernhard Weßels, Akzeptanz der Demokratie des vereinigten Deutschland. Oder: Wann ist ein Unterschied ein Unterschied?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, B 51/97, S. 3-12. 46
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sonders die Umstrukturierungen im sozialen Bereich bedeuteten für viele Bürger in den neuen Bundesländern einen tiefen Einschnitt. Der plötzliche Zusammenschluß zweier gegensätzlicher Gesellschaftsordnungen konnte nicht ohne Probleme vonstatten gehen. Als kritikwürdig gilt vielfach der im „Einigungsvertrag" vereinbarte Grundsatz „Rückgabe vor Entschädigung", der zu neuem Unrecht geführt habe. In der Öffentlichkeit ist mehr über die „Kosten der Einheit" als über ihren Nutzen gesprochen worden. Mit dem Vollzug der deutschen Einheit ist noch nicht das erreicht, was gemeinhin als „innere Einheit" gilt. Dieser Begriff ist jedoch schillernd. Mit ihm läßt sich mannigfacher Mißbrauch treiben. Ein Beispiel: Die Aufforderung von Politikern wie Kurt Biedenkopf und Angela Merkel an ostdeutsche Wahlleute aus den Reihen der SPD, bei der Bundespräsidentenwahl die aus dem Osten stammende Kandidatin der Union, Dagmar Schipanski, zu wählen, damit ein „Brückenschlag zwischen Ost und West" 47 erreicht wird, beruht auf einem taktischen Kalkül. Für das Votum bei der Bundespräsidentenwahl sind parteipolitische Gesichtspunkte ausschlaggebend, nicht regionale. Der folgende Befund liegt daher auf der Hand: Wer als Ostdeutscher seine Stimme nicht der Kandidatin aus den neuen Bundesländern gibt, muß kein Gegner der „inneren Einheit" sein. Es ist auffallend, daß viele derer, die niemals für die „äußere Einheit" eingetreten sind, nun schnell dabei sind, die fehlende „innere Einheit" anzumahnen. Dieser Begriff kann leicht zur Delegitimierung des demokratischen Verfassungsstaates gebraucht werden - etwa durch Hinweis auf die Diskrepanz von Theorie und Praxis. „Deshalb ist es höchste Zeit, den Begriff der inneren Einheit aus seiner permanenten Verquickung mit Forderungen der Tagespolitik zu lösen. Sonst droht er zu einer Waffe zu werden, mit der jedes politische Problem in Deutschland in eine Infragestellung der Legitimitätsgrundlagen der Bundesrepublik umfunktioniert werden könnte." 48 Allerdings: Wer eine Vereinigungsbilanz zieht, kommt nicht um den Befund herum, daß sich in einem Punkt ein spezifisches Ost-West-Schema zeigt. In den neuen Bundesländern findet die PDS beträchtliche Unterstützung, in den alten kann davon nicht die Rede sein. Was kaum jemand erwartet hatte, wurde Wirklichkeit. Die PDS vermochte ihren Abwärtstrend von 1990 zu stoppen, auch wenn sich ihr Mitgliederrückgang weiter fortsetzt. Hatte sie zur Zeit der deutschen Einheit 300.000 Mitglieder, so waren es Ende 1998 noch 95.000. Damit ist sie in den neuen Bundesländern gleichwohl die bei weitem mitgliederstärkste
47 Vgl. etwa die Meldung: pca., Biedenkopf: Ostdeutsche sollen Schipanski wählen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 23. März 1999. 48 Hans-Joachim Veen, Innere Einheit - aber wo liegt sie? Eine Bestandsaufnahme im siebten Jahr nach der Wiedervereinigung Deutschlands, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, B 40-41/97, S. 28.
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Partei. Ist die Annahme so verkehrt, daß es sich bei den Mitgliedern um den „harten Kern" Überzeugter handelt? Bei der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl 1990 erzielte die PDS bundesweit 2,4 Prozent der Stimmen. Im Wahlgebiet West kam sie auf 0,3 Prozent, im Wahlgebiet Ost auf 11,1 Prozent. In den Deutschen Bundestag gelangte sie lediglich deshalb, weil bei dieser Bundestagswahl - entsprechend einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts - die Fünfprozenthürde gesondert für das Wahlgebiet Ost und für das Wahlgebiet West galt. 49 Die von Gregor Gysi bis 1993 und seither von Lothar Bisky geführte Partei zog 1994 mit 4,4 Prozent (19,8 im Wahlgebiet Ost, 1,0 Prozent im Wahlgebiet West) wegen der Grundmandatsklausel in den Deutschen Bundestag (die PDS erreichte vier Direktmandate) und 1998 mit 5,1 Prozent (21,6 Prozent im Wahlgebiet Ost, 1,2 Prozent im Wahlgebiet West). Damit besitzt die PDS auf Bundesebene erstmals den Fraktionsstatus. Wie diese Zahlen belegen, ist sie weithin eine Ostpartei geblieben.50 Die „dritte Kraft" stellt in allen Landesparlamenten der neuen Bundesländer und in Berlin Abgeordnete. Wie läßt sich dieser Erfolg erklären? Da ist zum einen der harte Kern jener, die der Partei aus Prinzip treu die Stange halten. Bei einem Systemwechsel von einer Diktatur zu einem demokratischen Verfassungsstaat gibt es immer eine Reihe von Personen, die sich dem früheren System verbunden fühlen - sei es aus politischer Überzeugung, sei es wegen der Privilegien, die sie verloren haben. In diesem Fall sind es Personen, für die der Kommunismus „an sich" gut war; nur die Praxis habe ihn allmählich „deformiert". Dieses Milieu werden die „etablierten" Parteien in absehbarer Zeit kaum für sich gewinnen können. Hier herrscht Bunkermentalität vor. Man schottet sich gegen westliche Einflüsse ab. Subjektiv enttäuscht über das „neue System", gehören gleichwohl viele von ihnen zu den objektiven Vereinigungsgewinnern mit einem sicheren Arbeitsplatz (z.B. Lehrer). In diesem Sinne ist die PDS die Partei der Besserverdienenden. Der ideologische Faktor gilt für solche Wähler als entscheidend. Aber es gibt auch die Gruppe derjenigen Ostdeutschen, die aus Enttäuschung und Protest über den bisherigen Verlauf der Wiedervereinigung für die PDS votieren, weil der Glaube vorherrscht, diese Partei vertrete spezifisch ostdeutsche Interessen. Die einen konnten aufgrund vielfältiger Umstrukturierungen wirtschaftlich nicht Fuß fassen und führen dies auf das „Plattmachen" des Westens zurück, die
49 Vgl. Eckhard Jesse, Die institutionellen Rahmenbedingungen der Bundestagswahl vom 2. Dezember 1990, in: Hans-Dieter Klingemann/Max Kaase (Hrsg.), Wahlen und Wähler. Analysen aus Anlaß der Bundestagswahl 1990, Opladen 1994, S. 15-41. 50 Zur PDS vgl. Patrick Moreau/Jürgen P. Lang, Linksextremismus. Eine unterschätzte Gefahr, Bonn 1996; eine andere Akzentsetzung findet sich bei Gero Neugebauer/Richard Stöss, Die PDS. Geschichte - Organisation - Wähler - Konkurrenten, Opladen 1996.
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anderen empfinden sich als „Menschen zweiter Klasse", als „fremd im eigenen Land". Die PDS profitiert nicht zuletzt von einem Umstand, den die SED erst verursacht hat: Weil das kommunistische System so bankrott war, ist die Notwendigkeit der Erneuerung derart tief. Es handelt sich überwiegend nicht um „Anschlußopfer", wie die PDS meint, sondern faktisch um Opfer der SED-Politik. Die demokratischen Parteien haben es ihrerseits nicht genügend verstanden, den Bürgern in den neuen Bundesländern plausibel zu machen, daß weniger sie für das als unzureichend empfundene Tempo des Aufschwungs verantwortlich sind. Zudem hat westliche Arroganz das Selbstwertgefühl vieler Ostdeutscher verletzt. Auch waren Fehler in dem abrupten Einigungsprozeß geradezu unvermeidlich. Verbreitete Unzufriedenheit kommt der PDS zugute, die bei ihren Vorstellungen so gut wie keine Rücksicht auf Wähler im Westen nehmen muß. Ost-Wähler nehmen „Versprechungen" von Politikern stärker für bare Münze und sind dann entsprechend enttäuscht, wenn sie nicht in Erfüllung gehen. Vom Staat wird zuviel erwartet. „Wählerbeschimpfungen" fruchten nichts. Was weiter hilft, ist eine klare Auseinandersetzung mit der Strategie jener Partei, die soziale Demagogie mit sozialer Gerechtigkeit verwechselt und Populismus mit demokratischer Lebendigkeit. Sie betreibt nur eine halbherzige Vergangenheitsbewältigung, spricht von „Siegerjustiz", distanziert sich nicht ausreichend von leninistischen Politikkonzepten, zeigt ein unklares Verhältnis zur Gewalt, duldet in ihren Reihen offen linksextremistische Strömungen (neben der „Kommunistischen Plattform" etwa das „Marxistische Forum" und die „Arbeitsgemeinschaft Junge Genossinnen") und versteht sich nach wie vor als „Systemopposition", wie es Helmut Holter, PDS-Vorsitzender in Mecklenburg-Vorpommern, immer wieder ausgedrückt hat. 51 Die PDS verficht einen „dritten Weg" zwischen Kapitalismus und realexisterendem Sozialismus", ohne klar sagen zu können, was mit diesem Weg gemeint ist. Das Programm der PDS ist nicht das Programm einer Partei, die sich als Gralshüter des demokratischen Verfassungsstaates begreift. Allerdings will auch die PDS nicht die Einheit rückgängig machen. Das ist ein Zeichen dafür, daß sie, so sehr manche schimpfen, „angenommen" ist. Die Unterschiede in der politischen Kultur im Osten gegenüber dem Westen zeigen sich nicht nur in einem hohen Anteil für die PDS, sondern auch darin, daß die SPD geneigt ist, mit der PDS zu kooperieren: In Sachsen-Anhalt läßt sie sich seit 1994 von ihr tolerieren, in Mecklenburg-Vorpommern ist sie mit ihr 1998 sogar eine Koalition eingegangen. Dabei betont die große demokratische Partei eigens, daß eine Zusammenarbeit mit der PDS im Bund nicht in Frage 51 Vgl. die Belege im Verfassungsschutzbericht 1998, Bonn 1999, S. 125, S. 225 (hektographierte Fassung).
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kommt. Insbesondere jene Kräfte innerhalb der Opposition, die in der ersten Reihe der Opposition 1989 gestanden haben (z.B. Martin Gutzeit, Stephan Hilsberg, Markus Meckel, Richard Schröder), wehren sich gegen diese Aufwertung der PDS. Die Auffassungen gehen weit darüber auseinander, ob die (einstigen) Bürgerrechtler, die eine entschiedene „Vergangenheitsbewältigung" einklagen und heute in unterschiedlichen politischen Gruppierungen beheimatet sind, zur „inneren Einheit" beitragen oder sie hinauszögern. Die erste Position lautet, daß nur eine klare Auseinandersetzung mit der kommunistischen Diktatur die Voraussetzungen dafür schaffe, daß Deutschland zusammenwachsen könne. 52 Die zweite meint, innere Einheit entstehe am ehesten durch Versöhnung auch mit jenen Kräften, die am „alten System" festgehalten haben. 8. Zusammenfassung Die Geschichte Deutschlands zwischen Spaltung und Einheit ist die Geschichte überraschender Wendungen. 1949 wurde die Teilung Deutschlands nur als vorübergehend angesehen. Zehn Jahre danach, kurz nach dem BerlinUltimatum Chruschtschows, konnte sich niemand vorstellen, ein weiteres Jahrzehnt später werde die DDR von der Regierung der Bundesrepublik Deutschland als eigener Staat anerkannt. Hingegen reichte 1979 - auf dem Höhepunkt des neuen Kalten Krieges (Einmarsch der Sowjetunion in Afghanistan; Nachrüstungsbeschluß der NATO) - die Phantasie bei keinem aus, um sich auszumalen, daß die Berliner Mauer 1989 wie ein Kartenhaus einstürzt. Damals, auf dem Höhepunkt deutscher „Verbrüderung", wäre wohl niemand auf den Gedanken gekommen, ein Jahrzehnt später werde von fast allen die „innere Einheit" der Deutschen angemahnt. Es ist eine Paradoxie: In den fünfziger Jahren wurde viel von Wiedervereinigung gesprochen, doch die Praxis entfernte sich immer mehr von diesem Ziel; in den achtziger Jahren war davon überhaupt nicht die Rede, aber binnen kurzem war sie vollzogen - unter westlich-demokratischen Vorzeichen, nicht unter denen eines dritten Weges. Um auf das Eingangszitat von Sören Roos zurückzukommen: Gewiß gab es in der öffentlichen Meinung häufig Stimmen, die nichts mehr von einem wiedervereinigten Deutschland wissen wollten. Aber in der praktischen Politik spielten sie nur eine untergeordnete Rolle. Angesichts der klaren Rechtspositionen wäre dies auch gar nicht möglich gewesen. So hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil zum Grundlagenvertrag am 31. Juli 1973 die Verfassungsorgane auf das Ziel der staatlichen Einheit festgelegt. 52
In diesem Sinne u.a.: Ehrhart Neubert/Günter Rinsche (Hrsg.), Der Demokratie Zukunft geben. Bürgerrechtlerkongreß der Konrad-Adenauer-Stiftung in Leipzig, Freiburg/Brsg. 1998.
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Die „Briefe zur deutschen Einheit" in Zusammenhang mit den Ostverträgen erinnerten an das Wiedervereinigungsgebot des Grundgesetzes. Gelegentliche Äußerungen von Politikern, die Präambel des Grundgesetzes zu ändern, waren zu keiner Zeit mehrheitsfähig. Insgesamt wurde von der Bevölkerung in der Bundesrepublik Deutschland das Ziel der deutschen Einheit nicht in Frage gestellt, auch wenn die Einstellungsmuster stark von spezifischen Konstellationen abhingen.53 Wie sah die praktische Politik aus? Soviel steht fest: Weder verhinderte die Politik Adenauers noch die der sozial-liberalen Koalition die deutsche Einheit. Kritiker werfen sowohl Adenauer als auch den Protagonisten der sozialliberalen Deutschlandpolitik vor, die deutsche Einheit nicht angestrebt zu haben: Adenauer wollte die Bundesrepublik in das westliche Bündnis führen, die sozial-liberale Koalition eine Entspannungspolitik in die Wege leiten. Spekulieren muß man jedoch bei der Frage, inwiefern die „Vorgeschichte" den Prozeß der deutschen Einheit geprägt hat. Manche Positionen stehen sich schroff gegenüber: So wird die These vertreten, daß die eine wie die andere Politik notwendig war, um die Wiedervereinigung - unabhängig davon, ob sie von der Regierung Adenauers und der Regierung der sozial-liberalen Koalition angestrebt worden ist - auf die politische Tagesordnung zu bringen: Durch die Westpolitik wurde Vertrauen im Westen aufgebaut, das ihr später zugute gekommen ist; die Ostpolitik baute Vorurteile im Osten ab und stärkte das Zusammengehörigkeitsgefühl der Deutschen. Die gegenteilige Position lautet: Die Westintegrationspolitik Adenauers habe die deutsche Einheit ebenso hinausgezögert wie die auf Stabilität ausgerichtete Deutschlandpolitik unter Willy Brandt. Schließlich gibt es Autoren, die wohl der Politik Adenauers eine wegweisende Bedeutung für die spätere Wiedervereinigung zuschreiben, nicht hingegen der Brandts. Vice versa gilt dieser Befund ebenso. Noch komplizierter wird es, wer eine Differenzierung zwischen Intention und Auswirkung vornimmt. Schließlich läßt sich die These anführen, daß weder die Deutschlandpolitik zur Zeit Adenauers noch zur Zeit Brandts einen relevanten Einfluß auf den Zusammenbruch des Kommunismus - und damit auf die deutsche Einheit - gehabt hat. „Die Vereinigung war voraussehbar" - so betitelte der frühere amerikanische Botschafter Vernon A. Walters ein Buch zur deutschen Einigung. 54 Es gehören keine übersinnlichen Kräfte für die Prophezeiung, daß ein Buchtitel mit der Überschrift „Das Scheitern der Vereinigung war voraussehbar" im umgekehrten Fall nicht gefehlt hätte. Das Wünschenswerte ist noch kein Maßstab für das Wahrscheinliche. 53 Vgl. Manuela Glaab, Deutschlandpolitik in der öffentlichen Meinung. Einstellungen und Regierungspolitik in der Bundesrepublik Deutschland 1949 bis 1990, Opladen 1999. 54 Vgl. Vernon A. Walters, Die Vereinigung war voraussehbar. Hinter den Kulissen eines entscheidenden Jahres. Die Aufzeichnungen des amerikanischen Botschafters, Berlin 1994.
Alexander
Gallus
DIE NATIONALNEUTRALISTEN 1945 BIS 1990 DEUTSCHLANDPOLITISCHE AUSSENSEITER ZWISCHEN DRITTEM WEG UND WESTORIENTIERUNG L Einleitung Am 12. September 1990 unterzeichneten in Moskau die Außenminister der vier Siegermächte des Zweiten Weltkrieges, Hans-Dietrich Genscher für die Bundesrepublik Deutschland und Lothar de Maiztere für die DDR, den „Vertrag über die abschließende Regelung in bezug auf Deutschland".1 Darin wurde Deutschland die „volle Souveränität über seine inneren und äußeren Angelegenheiten" sowie das Recht zugebilligt, „Bündnissen mit allen sich daraus ergebenden Rechten und Pflichten anzugehören". Der NATO-Mitgliedschaft Gesamtdeutschlands stand somit nichts mehr im Wege. Der komplizierte Zwei-plus-Vier-Prozeß signalisierte aber nicht nur das definitive Ende einer möglichen Blockfreiheit oder Neutralität für Deutschland, sondern unterstrich auch nochmals besonders kräftig die Bedeutung der Neutralisierung als ein alternatives Konzept zur Westintegration. Im Jahr 1990 konnte man die Begriffe Neutralität und Blockfreiheit häufig auf dem diplomatischen Parkett vernehmen.2 Aus den „Erinnerungen" Hans-Dietrich Genschers springt einem geradezu eine Neutralitätsphobie entgegen, die schlagartig verdeutlicht, welch große Rolle diese Idee noch während der außenpolitischen Verhandlungen über den Status Deutschlands im Jahre 1990 gespielt hatte: „In zahlreichen Gesprächen stellte ich mit Besorgnis fest, daß in Deutschland die Alternative 'Einheit oder NATO' diskutiert wurde, zumal vielen unwahrscheinlich schien,
1 Abgedruckt in: BGBl. II, 1990, S. 1317, vom 13. Oktober 1990. Der Vertrag trat nach dem 15. März 1991 in Kraft, als er in der Sowjetunion als letztem der fünf beteiligten Länder ratifiziert wurde. 2 Vgl. dazu als eindrucksvolles Zeugnis: Dokumente zur Deutschlandpolitik. Deutsche Einheit. Sonderedition aus den Akten des Bundeskanzleramtes 1989/90, hrsg. vom Bundesministerium des Innern unter Mitwirkung des Bundesarchivs, bearbeitet von Hanns Jürgen Küsters und Daniel Hofmann, München 1998; auch Stefan Fröhlich, Die NATO und Deutschland. Zur Ausgangssituation 1955 und 35 Jahre danach, in: Beiträge zur Konfliktforschung 20 (1990), H. 3, S. 77-97.
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daß die Sowjetunion einer NATO-Mitgliedschaft Deutschlands zustimmen würde." 3 Bundeskanzler Helmut Kohl führt in seiner Schilderung des bündnispolitischen Einigungsprozesses ebenso deutlich vor Augen, wie akut das Thema der Neutralität hätte werden können, zumal er nicht nur bei der Sowjetspitze, sondern auch bei der deutschen Linken und der Bevölkerung überhaupt eine erhebliche Bereitschaft zu einem solchen Schritt ausmachte.4 Hätte Gorbatschow schon frühzeitig nach dem Fall der Mauer das Angebot einer raschen Wiedervereinigung gegen NATO-Austritt und Neutralität unterbreitet, weiß Kohl, so hätte ein solcher Vorschlag in der Öffentlichkeit beider deutscher Staaten auf breite Zustimmung stoßen und somit die Position von Bundesregierung und Westalliierten schwächen können.5 Tatsächlich hofften nicht nur eingefleischte Nationalneutralisten, daß nun ihre Vorstellungen und Pläne endlich verwirklicht würden. 6 Auch in der bundesdeutschen Bevölkerung traf die Idee eines neutralen Landes grundsätzlich auf Zustimmung. In den Jahren 1980 bis 1990 begrüßten jeweils rund 50 Prozent der Bundesbürger die Wiedervereinigung unter neutralem Vorzeichen, insofern der bündnisfreie Status international garantiert und demokratische Wahlen gewährleistet wären. 7 Doch aus politischer Überzeugung haben sich die bundesdeutschen und westlichen, insbesondere die amerikanischen Staatsmänner ge-
3 Hans-Dietrich Genscher, Erinnerungen, Berlin 1995, S. 710; vgl. als deutlichen Beleg für die sowjetische Position: „Für militärische Neutralität". Gorbatschows Deutschland-Experte Valentin Falin über die deutsche Einheit, in: Der Spiegel vom 19. Februar 1990, S. 168-172; auch ausführlich: Valentin Falin, Konflikte im Kreml. Zur Vorgeschichte der deutschen Einheit und Auflösung der Sowjetunion, München 1997; zum Verständnis des Alt-Stalinisten vgl. ders., Politische Erinnerungen, München 1993. 4 Bundeskanzler Kohl sagte in einem Telephongespräch mit dem französischen Staatspräsidenten François Mitterand am 5. März 1990, „daß die gleichen Leute, die sich 1983 gegen die Stationierung der Pershing II eingesetzt hätten, heute versuchten, eine Politik der Neutralität für ein vereintes Deutschland durchzusetzen. Er wolle hier nur Lafontaine nennen." Abgedruckt in: Dokumente zur Deutschlandpolitik (Anm. 2), S. 911, vgl. ähnlich auch S. 933f.; zum schwankenden sicherheitspolitischen Meinungsklima bei der Bevölkerung und in den Parteien 1989/90 vgl. Rafael Biermann, Zwischen Kreml und Kanzleramt. Wie Moskau mit der Einheit rang, Paderborn 1997, S. 481-486. 3
Vgl. Helmut Kohl, Ich wollte Deutschlands Einheit. Dargestellt von Kai Diekmann und Ralf Georg Reuth, Berlin 1996. 6 Vgl. besonders Wolfgang Venohr (Hrsg.), Ein Deutschland wird es sein, Erlangen u. a. 1990; Rolf Stolz, Der deutsche Komplex. Alternativen zur Selbstverleugnung, Erlangen u.a. 1990; Theodor Schweisfurth, Fahrplan für ein neues Deutschland, Erlangen u. a. 1990; Günter Kießling, Nato, Oder, Elbe. Modell für ein europäisches Sicherheitssystem, Erlangen u. a. 1990. 7
Vgl. neuerdings Manuela Glaab, Deutschlandpolitik in der öffentlichen Meinung. Einstellungen und Regierungspolitik in der Bundesrepublik Deutschland 1949 bis 1990, Opladen 1999, S. 170-193.
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gen diesen - bei den Westdeutschen (und Ostdeutschen8) keineswegs von vornherein unpopulären - Weg entschieden. Gleichwohl gab es auch im westlichen Ausland vereinzelt Befürworter einer Neutralisierung Deutschlands. Peter Johnson etwa, langjähriger Attaché der britischen Botschaft in Bonn und Deutschlandkenner, hielt die Schaffung eines blockfreien Deutschland für den richtigen und besten Schritt zur Friedenssicherung in Europa nach den Umbrüchen der Jahre 1989/90. „[...] neutrality, rather than the continuance of super-power confrontation, is the key to peace in Europe." 9 Die deutsche Neutralisierung, meinte Johnson, könnte auf weitere Staaten übergreifen und am Ende sogar die Blöcke vollkommen hinfällig machen. Die Diskussion um eine Neutralisierung Deutschlands im Jahre 1990 beleuchtete noch einmal blitzartig die Frontlinie, die zwischen der von Adenauer begründeten Westbindungspolitik und der Politik einer gesamtdeutschen Neutralität verlief. Zugleich markierte sie mit der schnellen Wiedervereinigung einen Schlußpunkt. Nur Phantasten unter den Nationalneutralisten traten nach dem 3. Oktober 1990 für die deutsche Neutralität ein, 10 nachdem die deutsche Einheit dem Thema Nationalneutralismus ein realhistorisches Ende gesetzt hatte. Wie das Jahr 1990 zeigte, konnte - nicht: mußte - Adenauers antineutralistisches Konzept, die von ihm eingeleitete Politik der strikten Westbindung zur Wiedervereinigung führen. Denn schließlich wichen die Regierungen der Bundesrepublik Deutschland nach der Adenauer-Ära niemals wirklich vom Kurs der konsequenten Westintegration ab. Daran änderte auch die „neue Ostpolitik", die sich seit Mitte/Ende der sechziger Jahre Bahn brach, im Kern nichts. Die außenpolitische Staatsräson der Bundesrepublik lautete seither: „Westbindung plus Ostverbindungen", 11 ohne daß ein grundlegender Wandel vollzogen wurde. Westintegration und Wiedervereinigung ließen sich miteinander in Einklang bringen. Man könnte das Jahr 1990 demnach als einen späten deutschlandpoliti-
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Zu ihrer Haltung liegen nur wenige Umfragedaten vor. Peter Johnson, A New Face For Neutrality?, in: Contemporary Review 256 (1990), S. 231. Ähnlich argumentierte einige Jahre zuvor bereits der amerikanische Politikwissenschaftler Norman Birnbaum, A Neutral, Unified Germany Could Help, in: Herald Tribüne vom 3./4. Dezember 1983. 10 Vgl. Eckhard Jesse, Der „dritte Weg" vor und nach der Wiedervereinigung, in: Rainer Zitelmann u.a. (Hrsg.), Westbindung. Chancen und Risiken für Deutschland, Berlin/Frankfurt am Main 1993, S. 215-241. 11 Werner Link, Außen- und Deutschlandpolitik in der Ära Brandt 1969-1974, in: Karl Dietrich Bracher/Wolfgang Jäger/ders., Republik im Wandel 1969-1974. Die Ära Brandt (Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, Band 5/1), Stuttgart 1986, S. 276; vgl. zum hohen Maß an Kontinuität in der bundesdeutschen Außen- und Deutschlandpolitik auch Klaus Hildebrand, Die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland 1949-1989, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 45 (1994), S. 611-625. 9
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sehen Sieg der Adenauerschen Strategie und den „Realisten als Visionär" 12 bezeichnen. Unvermeidlich drängt sich dann die Frage auf, gegen wen, über wen er gesiegt hat. Welche deutschlandpolitischen Alternativen boten sich an, waren zwischen 1945 und 1990 in der Diskussion, die sich letztlich zwar nicht durchsetzten, aber zum Verständnis der deutschen Frage in diesem Zeitraum beitragen und das Bild der deutschen Teilungsgeschichte vervollständigen? Neben der Politik der Westintegration gab es nur zwei grundsätzliche Alternativentwürfe: eine - wenig relevante - Ostbindungspolitik (Einigung Deutschlands unter östlichem Vorzeichen) und den Kurs einer Neutralisierung. Allein die zweite Variante war zu verschiedenen Zeiten der bundesdeutschen Geschichte ernsthaft in der Diskussion. Um von vornherein zwei Einschränkungen zu machen: Erstens kann es nicht Aufgabe dieser Studie sein, die umstrittene Frage der Adenauerschen Deutschlandpolitik zu klären. 13 Zweitens ist hier ebensowenig der Ort, die These zu diskutieren, ob die deutsche Einheit mit Hilfe nationalneutralistischer Konzepte früher zu erreichen gewesen wäre. Solche Fragen und Überlegungen beruhen auf kontrafaktischen Annahmen über „ungeschehene Geschichte"14, die nicht auf der Basis eines kritischen Quellenstudiums zu beantworten sind. In diesem Punkt halte ich es mit A. J. P. Taylor, der in seinem Buch „The Trouble Makers" die „Dissenters" in der britischen Außenpolitik zwischen 1792 und 1939 behandelt. Der Oxforder Historiker beabsichtigte nicht, die Politik der Nonkonformisten nachträglich als den besseren Weg hinzustellen, und diese Prämisse gilt in gleicher Weise für die Behandlung der deutschen „Dissenters": „ I am certainly not going to waste my time arguing that the Dissenters were right and conventional foreign policy wrong. [...] I am not concerned to suggest that
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Klaus Gotto, Der Realist als Visionär. Die Wiedervereinigungspolitik Konrad Adenauers, in: Die Politische Meinung 35 (1990), H. 249, S. 6-13. 13 Vgl. folgende Überblicke über den Gang der Diskussion Rudolf Morsey, Die Deutschlandpolitik Adenauers. Alte Thesen und neue Fakten, Opladen 1991; ders., Die Deutschlandpolitik Konrad Adenauers, in: Historisch Politische Mitteilungen 1 (1994), S. 1-14; Gerd Langguth, Konrad Adenauer: „Vater" der Wiedervereinigung oder „Spalter" Deutschlands?, in: Ders. (Hrsg.), „Macht bedeutet Verantwortung". Adenauers Weichenstellungen für die heutige Politik, Köln 1994, S. 75-93; Henning Köhler, Adenauer. Eine politische Biographie, Berlin 1994, S. 11-22. 14 Alexander Demandt, Ungeschehene Geschichte. Ein Traktat über die Frage: Was wäre geschehen, wenn...?, 2. Aufl., Göttingen 1986; vgl. auch ders., Geschehene und ungeschehene Geschichte. Historische Perspektiven zur deutschen Frage, in: Die Politische Meinung 30 (1985), H. 220, S. 14-23; Gerd Tellenbach, „Ungeschehene Geschichte" und ihre heuristische Funktion, in: Historische Zeitschrift 258 (1994), S. 297-316; sowie Niall Ferguson (Hrsg.), Virtual History. Alternatives and Counterfactuals, London 1997.
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things w o u l d have been better i f the advice o f the Dissenters had been taken. O n the other hand, the fact that it was not followed does not prove them w r o n g . " 1 5 Andere Fragen stehen statt dessen i m Mittelpunkt, vorrangig die nach den unterschiedlichen Spielarten des nationalen Neutralismus während der einzelnen Phasen der bundesdeutschen Nachkriegsgeschichte. Zur Einordnung der verschiedenen Neutralisten soll insbesondere die Frage beantwortet werden, ob und inwiefern sie einerseits einen ideologisch-gesellschaftspolitischen dritten W e g 1 6 beschreiten,
ja
sogar
den
„nicht-liberalen,
nicht-kapitalistischen,
nicht-
demokratischen" 1 7 deutschen Eigenweg 1 8 fortsetzen wollten, oder sich andererseits - abgesehen von ihrer Gegnerschaft zur außenpolitisch-militärischen Westbindung - dem Westen, seiner politischen K u l t u r und dem politischen System der Bundesrepublik verpflichtet fühlten. Ausgerichtet an dieser Problematik w i r d ein Überblick über die Vielzahl an neutralistischen Gruppierungen und Einzelkämpfern von 1945 bis zur Wiedervereinigung 1990 präsentiert. A b schließend werden Ursachen für ihren Mißerfolg erörtert und die These begründet, daß die Geschichte des Nationalneutralismus die Geschichte seines Scheiterns war und in dieser Tatsache seine größte Bedeutung liegt. 1 9
15 Alan J. P. Taylor, The Trouble Makers. Dissent Over Foreign Policy 1792-1939, London 1957, S. 17. 16 Einen Überblick über Begriff und Phänomen liefern: Helmut L. Müller, Der „dritte Weg" als deutsche Gesellschaftsidee, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 27/1984, S. 27-38; Eckhard Jesse, Artikel „Dritter Weg", in: Werner Weidenfeld/Karl-Rudolf Körte (Hrsg.), Handwörterbuch zur deutschen Einheit, Frankfurt am Main-New York 1992, S. 252-259. 17 Rudolf Vierhaus, Die Ideologie eines deutschen Weges der politischen und sozialen Entwicklung, in: Rudolf von Thadden (Hrsg.), Die Krise des Liberalismus zwischen den Weltkriegen, Göttingen 1978, S. 109. 18 Der Begriff des „Sonderwegs" wird zur Einordnung, Bewertung der deutschen Geschichte abgelehnt, weil er von der fälschlichen Annahme eines „Normalwegs" in der europäischen Geschichte ausgeht. Vgl. Klaus Hildebrand, Der deutsche Eigenweg. Über das Problem der Normalität in der modernen Geschichte Deutschlands und Europas, in: Manfred Funke u.a. (Hrsg.), Demokratie und Diktatur. Geist und Gestalt politischer Herrschaft in Deutschland und Europa. Festschrift für K. D. Bracher, Düsseldorf 1987, S. 15-34; David Blackbourn/Geoff Eley, The Peculiarities of German History. Bourgeois Society and Politics in Nineteenth-Century Germany, Oxford-New York 1984; vgl. auch Bernd Faulenbach, Überwindung des „deutschen Sonderweges"? Zur politischen Kultur der Deutschen seit dem Zweiten Weltkrieg, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 51/1998, S. 11-23; sowie Lutz Niethammer, The German Sonderweg After Unification, in: Reinhard Alter/Peter Monteath (Hrsg.), Rewriting the German Past. History and Identity in the New Germany, New Jersey 1997, S. 129-151. 19 Dieser Aufsatz stützt sich auf die detaillierte Studie des Autors: Alexander Gallus, Nationalneutralismus im Westen Deutschlands von 1945 bis zur Wiedervereinigung 1990, Phil. Dissertation, TU Chemnitz 1998 (voraussichtliche Publikation 1999). Dort finden sich ausführliche Quellen- und Literaturhinweise, auf die hier weitgehend verzichtet wird.
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Alexander Gallus 2. Spielarten des Nationalneutralismus
Auf die Frage, wer die Neutralisten der deutschen Nachkriegsgeschichte bis zur Wiedervereinigung waren, läßt sich in einem Satz nur die sehr unbefriedigende Antwort finden: Es waren jene Personen, Gruppen und Parteien, die den Kurs der außenpolitischen Westbindung ablehnten, weil dieser in ihren Augen die deutsche Einheit verhinderte, und statt dessen eine Wiedervereinigung Deutschlands außerhalb der Militärbündnisse von NATO und Warschauer Pakt anstrebten. Darin lag ihr Minimalkonsens, ihre grundlegende Gemeinsamkeit begründet. Schon darüber jedoch, welches Gesamtdeutschland sie meinten und zusammenführen wollten, herrschte Uneinigkeit. Verstanden einige darunter die Vereinigung der Westzonen mit der Ostzone, der Bundesrepublik mit der DDR, so andere die Restituierung des Deutschen Reiches in den Grenzen von 1937. Ebensowenig besaßen die Verfechter der Blockfreiheit einen gemeinsamen Begriff der Neutralität: Die wenigsten verstanden darunter eine strikte Kategorie des Völkerrechts, die meisten dagegen eher ein grobes außenpolitisches Verhaltensmuster, ohne sich Gedanken über die völkerrechtlich genau geregelten primären Pflichten des neutralen Staates im Kriegsfalle und die sekundären Pflichten oder Vorwirkungen in Friedenszeiten gemacht zu haben.20 Einigen schwebte die bewaffnete, anderen die unbewaffnete, manchen die garantierte mal von den Siegermächten des Zweiten Weltkriegs, mal von den Vereinten Nationen - oder die in ein europäisches Sicherheitssystem eingeflochtene Blockfreiheit vor. Auch in ihrer Haltung zum Westen variierten die verschiedenen Nationalneutralisten, was im ersten Moment verblüffend erscheinen mag, handelt es sich bei ihnen doch im allgemeinen um die Gegner der Westbindung schlechthin. Gerade an diesem Punkt ist es wichtig, den Begriff des Westens näher zu beleuchten und die verschiedenen Dimensionen der Westorientierung voneinander zu trennen. Schließlich gilt es, neben der außen- und sicherheitspolitischen Ausrichtung die Haltung der Neutralitätsanhänger zur staatlich-politischen Grundordnung, ihre wirtschaftlichen, kulturellen und gesellschaftlichen Vorstellungen näher auszuleuchten. Dann wird schnell klar, daß es zu einfach wäre, die Nationalneutralisten pauschal als Antiwestler zu bezeichnen, wie es häufig in der zeitgenössischen Publizistik, aber auch in der wissenschaftlichen Literatur geschehen ist. Zweifellos schlug ein Teil der Neutralisten gedanklich einen gesellschaftspolitischen, ideologisch gepflasterten dritten Weg ein. Eine Reihe 20 Zu den primären Pflichten zählen die Enthaltungs-, Verhinderungs-, Duldungs- und Unparteilichkeitspflicht, zu den sekundären das Aggressions-, Bündnis-, Stützpunktverbot sowie das Rüstungsgebot. Vgl. Dieter S. Lutz, Politische und militärische Modelle der Sicherheit, in: Wolfgang Heisenberg/ders. (Hrsg.), Sicherheitspolitik kontrovers. Auf dem Weg in die neunziger Jahre, Baden-Baden 1987, S. 561-591; auch Ulrike Pieper, Neutralität von Staaten, Frankfurt am Main 1997.
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von ihnen stand in der Tradition des deutschen Eigenwegs, der über die außenpolitische Positionierung zwischen Ost und West als mitteleuropäisches Kernland hinausging. Ihre Konzepte drangen etwa auf einen Mittelweg zwischen Kommunismus und Kapitalismus, zwischen der Sowjetunion und den Vereinigten Staaten, zwischen Plan- und Marktwirtschaft, zwischen „westlicher Zivilisation" und „deutscher Kultur", zwischen der „inneren Freiheit" des deutschgermanischen und der „äußeren Freiheit" des westlich-liberalen Menschen. Ihre Leitbilder konnten in einer Rätedemokratie oder „aristokratischen Demokratie", im deutschen Sozialismus oder Solidarismus bestehen. Das Verhältnis der deutschen Neutralisten zum Westen in seinen diversen Dimensionen zu beschreiben, stellt eine wichtige Möglichkeit der Klassifizierung dar. Grob lassen sich zwei Haupttypen ausmachen: •
Erstens die sich gegenüber westlichen Werten verpflichtet fühlenden Neutralisten, die in der Neutralität einzig ein Mittel zu einem eng umrissenen Zweck erkannten - zur Erlangung der deutschen Einheit. Sie wollten für das vereinigte und neutrale Deutschland ein System gleich oder ähnlich der Bundesrepublik - beruhend auf denselben freiheitlichen und demokratischen Prinzipien. Sicherheitspolitische Überlegungen dominierten bei ihnen. Sie waren Dritte-Wegs-Gegner.
•
Zweitens diejenigen, die eine grundlegend neue Gesellschaftsform, die sich sowohl vom westlichen Kapitalismus als auch vom östlichen Kommunismus abheben sollte, anvisierten. Für sie stellte die Neutralität nicht nur das geeignete Mittel zur Wiedervereinigung des Landes dar, sondern auch oder sogar: ausschließlich - die außenpolitische Rahmenbedingung für ihre revolutionären oder zumindest reformerischen innen- und ordnungspolitischen Maximen. Gesellschaftspolitisch-ideologische Überlegungen dominierten bei ihnen. Sie waren Dritte-Wegs-Befürworter.
Bei den Letztgenannten ist gleichwohl zwischen demokratischen und antidemokratischen Tendenzen zu unterscheiden, denn manche unter ihnen waren darum bemüht, westliches Demokratieverständnis, ein rechtsstaatliches Fundament und eine kontrollierte Marktwirtschaft mit Elementen einer sozialistischen Eigentums-, Planungs-, Verteilungs- und Selbstverwaltungsordnung zu verbinden. Neutralitätsneigung und Westorientierung bildeten demnach keinesfalls von vornherein einen Gegensatz. Zumindest als geistiges Modell, in der Theorie, war außenpolitische Neutralität mit westlichen Wertvorstellungen vereinbar, wenngleich bezweifelt werden darf, ob eine solche Kombination während des Ost-West-Konflikts, der sich gerade dadurch auszeichnete, daß er nicht nur Züge einer machtpolitischen, sondern auch einer wertbestimmten Auseinandersetzung trug, realisierbar und wünschenswert war. Der britische Historiker Timothy Garton Ash zum Beispiel *
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schloß eine derartige Verknüpfung nach seinem „Verständnis vom Wesen des Westens" zur Zeit des Kalten Krieges aus. Denn dies umfaßte nach der Neuordnung von Jalta in seinen Augen stets „gemeinsame Waffen ebenso wie gemeinsame Werte", also „Pershing-Raketen und Poppers offene Gesellschaften, Kant, aber auch Cruise Missiles". 21 Der neutralistischem Denken zugeneigte, im Jahr 1991 aus dem Leben geschiedene Bochumer Politikwissenschaftler Bernard Willms sah das ganz ähnlich, nur daß hinter seinem Urteil die entgegengesetzte Absicht stand, er einen anderen Schluß daraus zog. Ihm zufolge genügte bloße Neutralität nicht als „Grundlage einer Gegenposition": „Sie ist zwar im Sinne des Friedens plausibel zu machen, aber das ist die Abschreckung auch. Wenn Neutralität an der Oberfläche des strategischen Auseinanderrückens bleibt, werden diejenigen einen schweren Stand haben, die [...] die ideologische Äquidistanz weit von sich weisen müssen und sich der westlichen Wertewelt weiter zurechnen. Denn dann sind sie notwendig dem Vorwurf ausgesetzt, zwar die Werte zu wollen, aber aus der Front ihrer Verteidiger auszuscheren." Eine Position der weltanschaulichen Äquistanz, eines weitergehenden dritten Weges sei deshalb unverzichtbar, wolle man nicht „letztlich auf der politischen und der Denkebene der Ost-WestKonfrontation" verharren. 22 Willms' Kritik richtete sich damals konkret gegen die Widersacher allein einer außenpolitischen Westbindung in den achtziger Jahren wie Günter Kießling oder Wolfgang Seiffert; doch betraf sie im Grunde all jene unter den neutralistischen Dritte-Wegs-Gegnern, die nicht von vornherein auf dem politischen Parkett ausrutschen wollten und genügend Realitätssinn besaßen, um zu wissen, daß sie zu diesem Zweck dreierlei zu beweisen hatten: erstens, daß ihre Politik keinen gesellschaftspolitischen dritten Weg, schon gar keinen „Ostabmarsch" bedeutete; zweitens, daß sie nicht die Freundschaftsbande mit den westlichen Demokratien zu lockern beabsichtigten; drittens schließlich, daß ihre nationalen Bestrebungen nicht mit dem aggressiven Nationalismus zusammenfielen, der in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts der deutschen Geschichte so verhängnisvoll seinen Stempel aufgedrückt hat. Im folgenden gilt es, das breite Spektrum der Nationalneutralisten, zeitlich und nach Befürwortern sowie Gegnern eines gesellschaftspolitischen dritten Wegs unterteilt, durchdringbar zu machen. Dabei liegt ein Schwerpunkt auf den zwei „Blütezeiten" des Nationalneutralismus: die erste zwischen 1945 und dem NATO-Beitritt der Bundesrepublik 1955, in der das Thema deutlich mehr di21
Timothy Garton Ash, Im Namen Europas. Deutschland und der geteilte Kontinent, München 1993, S. 147. 22 Bernard Willms/Paul Kleinewefers, Erneuerung aus der Mitte. Prag - Wien - Berlin. Diesseits von Ost und West, Herford 1988, S. 337f.
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plomatische Relevanz besaß als in der zweiten, die mit dem Streit um die Nachrüstung ab Ende der siebziger Jahre einsetzte und nie mehr als eine Standortdebatte zur deutschen Frage in engen publizistischen Bahnen markierte. In den sechziger und siebziger Jahren gab es zwar auch neutralistische Bestrebungen, aber sie nahmen im Vergleich zu den beiden hauptsächlichen Zeiträumen der Betrachtung eine marginale Position im politischen Geschehen ein, einmal davon abgesehen, daß die neutralistischen Konzeptionen mit der Propagierung einer Politik des Interessenausgleichs am Rande zum Entstehen der „neuen Ostpolitik" beigetragen haben mochten. Randständigkeit kennzeichnete den Nationalneutralismus freilich insgesamt. Allerdings hieße es, diese politische Erscheinungsform der bundesdeutschen Geschichte zu unterschätzen, täte man es als Steckenpferd einiger sektiererischer Gruppen ab. Diesen Eindruck vermittelte indes Rainer Dohses zu Beginn der siebziger Jahre entstandene, bislang bedeutendste Studie über Neutralitätsbestrebungen im ersten Jahrzehnt nach Kriegsende. 23 Sie konzentrierte sich nahezu ausschließlich auf die im Deutschen Kongreß am Anfang der fünfziger Jahre versammelten Gruppierungen, blendete dagegen die Neutralitätsdiskussion in den großen im Bundestag vertretenen Parteien, in der meinungsbildenden Publizistik, im militärischen Bereich, im (ehemaligen) diplomatischen Korps und am rechten Rand weitgehend aus. 3. Zeit der Solisten - 40er und 50er Jahre 3.1 Dritte-Wegs-Gegner Für Manfred Overesch kennzeichnete es alle Neutralisten in den fünfziger Jahren, daß sie Adenauers Prioritätenskala - Freiheit, Sicherheit, Souveränität, Wiedervereinigung - auf den Kopf stellten und der Erlangung der deutschen Einheit absoluten Vorrang einräumten. 24 Wie fragwürdig diese Aussage ist, wie wenig nur die einfachen Rangfolgen „Einheit vor Freiheit" oder „Freiheit vor Einheit", geeignet sind, die deutschlandpolitischen Opponenten des ersten Kanzlers angemessen zu charakterisieren, verdeutlicht ein näherer Blick auf ihre zur Regierungspolitik alternativen Vorstellungen. 25 23
Vgl. Rainer Dohse, Der Dritte Weg. Neutralitätsbestrebungen in Westdeutschland zwischen 1945 und 1955, Hamburg 1974. 24 Vgl. Manfred Overesch, Ein neutralisiertes Gesamtdeutschland? Konzeptionen deutscher Außenpolitik zu Beginn der fünfziger Jahre, in: Franz Knipping/Klaus-Jürgen Müller (Hrsg.), Aus der Ohnmacht zur Bündnismacht. Das Machtproblem in der Bundesrepublik Deutschland 19451960, Paderborn 1995, S. 43-56. 25
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Vgl. Rainer Zitelmann, Adenauers Gegner. Streiter für die Einheit, Erlangen u. a. 1991, S.
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Unter den neutralistischen Kritikern in den großen Parteien dominierten die Gegner eines dritten Weges. Sie waren zumindest zeitweise davon überzeugt, daß ein außenpolitischer und militärischer Status der Neutralität die Einheit in Freiheit gewährleisten würde. Dies galt für Kurt Schumacher und die SPD bis 1960, für Karl Georg Pfleiderer und den von ihm beeinflußten Thomas Dehler wie auch für Gustav W. Heinemann, der von der CDU über die Gesamtdeutsche Volkspartei in die SPD wechselte. Die Haltung des ersten SPD-Vorsitzenden nach 1945 zur Neutralität ist in der zeithistorischen Forschung umstritten. Die einen halten ihn für einen strikten Antineutralisten, so Christian Hacke noch 1997: Erst nach seinem Tod im Jahr 1952 seien die Sozialdemokraten „in Richtung Neutralismus" umgeschwenkt, auf einen Kurs, den „Schumacher selbst scharf abgelehnt hatte". 26 Für Schumacher-Biograph Peter Merseburger hingegen bildete die militärische Neutralität einen festen Bestandteil im Denken des sozialdemokratischen Parteiführers. 27 Kurt Schumachers gleich wechselhaften wie widersprüchlichen Aussagen provozierten geradezu derart kontroverse Urteile. Aus nationalen Motiven, aus gesamtdeutscher Verantwortung befürwortete er für die längste Zeit seines Wirkens die militärische Neutralität, allein als Mittel zum Zweck verstanden, die Einheit zu erringen. Nur zwischen dem Ausbruch des Korea-Krieges im Sommer 1950 und Herbst 1951 plädierte er für eine Offensivstrategie. Der Westen sollte so stark aufrüsten, daß der Sowjetunion seine Überlegenheit klar würde. Eine präventive Friedensregelung hätte dann die deutsche Einheit zur Folge, die für Schumacher das Reich in den Grenzen von 1937 zu umfassen hatte. Sein besonderes Engagement in diesem Zeitraum gegen jegliche Neutralisierung, seine stets heftigen Attacken gegen Formen der politischen Neutralität, gegen Dritte-Wegs-Verfechter trugen zur Verwirrung bei. Deutschland hatte für Schumacher in jeder Hinsicht Bestandteil des Westens zu sein, nur nicht militärisch. Trotz aller Schwankungen, trotz der kapitalismuskritischen Einstellung des Sozialdemokraten war er insgesamt ein Vertreter eines prowestlichen, national-pragmatisch motivierten Neutralismus. Wie bei vielen Neutralisten war auch bei ihm der Wille, die Einheit herbeizuführen, größer als der Sinn für die Realitäten, ließen sich sein kompromißloser Antikommunismus und seine Mißachtung sowjetischer Sicherheitsinteressen doch nur schwer mit dem neutralistischen Ansatz in Einklang bringen. 26 Christian Hacke, Die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland. Weltmacht wider Willen?, 3. Aufl., Berlin 1997, S. 47; vgl. ähnlich auch: Jens Hacker, Die deutsche Frage aus der Sicht der SPD, in: Dieter Blumenwitz/Gottfried Zieger (Hrsg.), Die deutsche Frage im Spiegel der Parteien, Köln 1989, S. 39-65. 27 Vgl. Peter Merseburger, Der schwierige Deutsche. Kurt Schumacher. Eine Biographie, Stuttgart 1995; auch Heinrich August Winkler, Kurt Schumacher und die nationale Frage, in: Nach-Denken. Über Kurt Schumacher und seine Politik, hrsg. von der Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, Berlin 1996, S. 41-52.
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Hierin unterschied sich der FDP-Politiker Karl Georg Pfleiderer von Schumacher. Anfang der fünfziger Jahre formulierte er eine deutschlandpolitische Alternative, die sich auch der Vorsitzende der Freien Demokraten Thomas Dehler zunehmend zu eigen machte. Wie bei Schumacher war die prowestliche Haltung der beiden Liberalen unbestritten. Gleichwohl berücksichtigte Pfleiderer das sowjetische Sicherheitsbedürfnis in seinen Überlegungen und stellte Gedanken darüber an, inwieweit wirtschaftliche Kooperation und Hilfe einen Anreiz für die Sowjetunion bieten könnten, der deutschen Einheit zuzustimmen. Deutschland sollte, so Pfleiderers sicherheitspolitischer Ansatz, aus den Paktsystemen gelöst, nur mit Brückenköpfen der Vereinigten Staaten respektive der Sowjetunion an Oder-Neiße-Linie und am Rhein versehen, die Einheit von Bundesrepublik und DDR erlangen. Die Frage der Ostgebiete bezeichnete er als ein zunächst nicht vorrangiges, später zu lösendes Sonderproblem. Pfleiderer und - mit Verzögerung - auch Dehler vertraten, wenngleich sie den Begriff stets weit von sich wiesen, eine Form der bewaffneten, garantierten Neutralität, die national motiviert war. Gustav W. Heinemann steuerte ab 1950 ebenfalls den Kurs einer gesamtdeutschen Neutralität, ohne freilich die Bezeichnung „Neutralist" für sich zu akzeptieren. Plädierte er für ein nicht oder defensiv bewaffnetes bündnisloses Gesamtdeutschland, dann sprach er anstelle von Neutralität von „Ausklammerung". Die Sicherheit Deutschlands wäre in dieser Konstellation nicht bedroht, weil das Interesse der Vereinigten Staaten wie der Sowjetunion an dem Land im Zentrum Mitteleuropas zu groß war, als daß sie den Übergriff der jeweils anderen Macht hingenommen hätten - unabhängig von der Bündniszugehörigkeit Deutschlands. Seine Skepsis gegenüber dem Begriff der Neutralität rührte daher, daß auch hinter einer Politik der bloß sicherheitspolitischen Neutralität rasch ein wertgebundener dritter Weg vermutet wurde, den es für Heinemann als Verfechter des westlichen Demokratiemodells nicht geben konnte. Sein Neutralismus war von Einheitsstreben angetrieben, verbunden mit einem christlich geprägten Friedenswunsch. Als Pazifist, ein Etikett, das ihm Adenauer gerne anhing, verstand er sich nicht. Die Oder-Neiße-Grenze hielt er schon deshalb im Falle der Einheit für akzeptabel, weil dem sowjetischen Sicherheitsbedürfnis, das zu beachten er großen Wert legte, andernfalls nicht entsprochen würde. Mit der Hinnahme der Oder-Neiße-Grenze konnte unter den Neutralisten schon sehr frühzeitig eine erstaunlich große Zahl leben, um nicht von vornherein die Chance zur Wiedervereinigung mit Zustimmung der Sowjetunion zu verhindern. Das galt für die Publizisten Rudolf Augstein vom „Spiegel" und Paul Sethe von der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung" ebenso wie für den wohl bekanntesten Neutralisten des ersten deutschen Nachkriegsjahrzehnts Ulrich Noack. Dieser Umstand belegt, wie wenig diese Vertreter einer außenpoliti-
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sehen Blockfreiheit von einem aggressiven Nationalismus getrieben waren. Für Augstein war das Leid der unter der Diktatur lebenden Ostdeutschen ausschlaggebend, sich als einer der vehementesten Gegner Adenauers in seinem Magazin für die mäßig bewaffnete, von den Großmächten garantierte Neutralität Gesamtdeutschlands einzusetzen. Als einer der ersten drang er auf den Dialog mit dem Osten, ob nun mit der Sowjetunion oder ihren „Puppen" in der DDR, wie er Pieck, Grotewohl und Ulbricht zu bezeichnen pflegte. Im Innern ein Antikommunist, fühlte Augstein sich gegen jede Schaukelpolitik gefeit, weil es unmöglich sei, zwischen Freiheit und Unfreiheit zu schwanken. Den humanitären Gesichtspunkt betonend, gehörte er zu den Nationalneutralisten, die sich schnell mit der „neuen Ostpolitik" anfreundeten. Auch Paul Sethe nahm gewissermaßen ein Element der späteren Ostpolitik vorweg, als er zu bedenken gab, daß man die Einheit wahrscheinlich nur in Teilschritten erlangen könne, zum Beispiel über die Zwischenetappe einer Konföderation - ein Thema, das in den achtziger Jahren wieder zu besonderer Prominenz gelangte. Der sicherheitspolitische Preis für die deutsche Einheit hatte nach Sethe in der bewaffneten, von den Vier Mächten garantierten Neutralität zu bestehen. Als zusätzlichen Anreiz hielt er die Beibehaltung der sogenannten sozialen Errungenschaften der DDR für diskussionswürdig. An der rechtsstaatlichen Ordnung nach westlichem Muster durfte für ihn jedoch nicht gerührt werden. Auch unterstrich er die Bedeutung der USA als Sicherheitsfaktor für Europa - unabhängig davon, ob die deutsche Einheit vollendet würde oder nicht. Der Chefredakteur der „Zeit" Richard Tüngel unterschied sich in mehrfacher Hinsicht von seinen Kollegen Augstein und Sethe. Erstens trat er im wesentlichen 1947, vor Gründung der zwei deutschen Teilstaaten, für eine vage definierte Form der bewaffneten Neutralität unter UNO-Kontrolle ein, nach 1948/49 jedoch nur noch sporadisch. Spätestens ab 1955 war er endgültig in das Lager der Anhänger von Adenauers Politik der Westbindung übergewechselt. Zweitens stand für ihn das Reich in den Grenzen von 1937 nicht zur Disposition, und drittens - damit zusammenhängend - weigerte sich der kompromißlose Antikommunist, die sowjetischen Sicherheitsinteressen ernsthaft zu beachten. Insofern besaßen Sethe und Augstein mehr Gespür für die tatsächlichen Gegebenheiten, waren ihre Maximen weniger widersprüchlich. Ulrich Noack kann ebenfalls zu den Dritte-Wegs-Gegnern unter den Neutralisten gezählt werden. Anders als die bisher vorgestellten Publizisten und Politiker propagierte der in Würzburg lehrende Historker vor dem von ihm gegründeten Nauheimer Kreis eine Form der international garantierten unbewaffneten Neutralität - als Beginn einer neuen weltweiten Friedensordnung. Sein Neutralitätsdenken beruhte auf pazifistischem Friedenswillen kombiniert mit geopolitischem Denken. Ein tieferes Verständnis für die vom Kalten Krieg geschaffenen
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internationalen Rahmenbedingungen fehlte ihm indes; sein Modell mehrerer Friedenszonen entwarf er - so mochte es scheinen - unabhängig davon. Charakteristisch für seine naive Weltsicht war die Äußerung: „Sollte wirklich der dritte Weltkrieg kommen, dann machen wir uns klein und lassen über uns hinwegschießen, denn diesmal wird aus einem Erdteil in den anderen ins Zentrum der Macht geschossen werden." 28 Als ein Idealist im ideologischen Zeitalter stand Noack auf verlorenem Posten. Was für ihn selbst galt, traf nur in eingeschränkter Weise auf den Nauheimer Kreis insgesamt zu. Denn die dort geführten Gespräche waren keineswegs einseitig ausgerichtet, keine Propagierung unerschütterlicher Ideen für ein neutrales Deutschland. Argumente für und wider eine Neutralisierung wurden diskutiert, wie auch bei den Treffen der Heidelberger Aktionsgruppe zur Demokratie und zum freien Sozialismus um den Soziologen Alfred Weber oder der Gesellschaft für die Wiedervereinigung Deutschlands um den ehemaligen deutschen Botschafter in Moskau Rudolf Nadolny und den einstigen Vorsitzenden der OstCDU Andreas Hermes. Die Bedeutung derartiger Gesprächszirkel bestand nicht so sehr in ihrem - äußerst geringen - politischen Einfluß oder in der Formulierung klarer Neutralitätsmodelle, sondern vielmehr darin, daß sie in komprimierter und zum Teil zugespitzter Form Prozesse der deutschlandpolitischen Meinungsbildung widerspiegelten, als sich zumindest die öffentliche Meinung kurz nach Kriegsende noch im „flüssigen Aggregatzustand" befand - so ein Begriff von Ferdinand Tönnies. 29 3.2 Dritte-Wegs-Befürworter Sind solche Diskussionsforen wegen ihres heterogenen Charakters nur schwer einer der beiden aufgestellten Kategorien zuzuordnen, so kann man Jakob Kaiser und sein Brückedenken zu den demokratischen Dritte-WegsNeutralisten rechnen. Er selbst mißbilligte freilich wie die bereits vorgestellten Politiker die Kennzeichnung als Neutralist für sich, konnte darunter doch allzu rasch „Gesinnungsneutralität" verstanden werden, wie sein Mitarbeiter Wilhelm Wolfgang Schütz einmal herausstrich. 30 Kaisers „christlicher Sozialismus" sah eine rechtstaatliche Ordnung und Demokratie nach westlichem Vorbild vor. Ein Vertreter des dritten Weges war Kaiser aber deshalb, weil ihm eine planvolle Lenkung der Wirtschaft, ein Kompromiß aus kapitalistischer und sozialistischer
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Zitiert bei Wilhelm Cornides, Die Neutralitätslehre des Nauheimer Kreises und der geistige Hintergrund des West-Ost-Gespräches in Deutschland, in: Europa-Archiv 5 (1950), S. 3075. 29 Ferdinand Tönnies, Kritik der öffentlichen Meinung, Berlin 1922, S. 137f. 30 Wilhelm Wolfgang Schütz, Neutralität oder Unabhängigkeit?, in: Politische Bildung 1952/53, H. 3, S. 63.
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Gesellschaftsstruktur vorschwebte. Innenpolitisch strebte er eine Synthese aus sozialistischen, christlichen und freiheitlichen Elementen an, außenpolitisch eine Synthese zwischen Ost und West. Sein Ziel war es nicht, allein Deutschland - in den Grenzen von 1937 - wiederzuvereinigen und dem Ost-WestKonflikt zu entziehen; vielmehr sollte es in der Rolle des „ehrlichen Maklers" für Ausgleich und Kooperation zwischen den östlichen und westlichen Bürgerkriegsparteien sorgen. Offensiv und unbehindert konnte Kaiser seine Ideen nur bis 1947 vortragen: Danach wurde er von der SED als Vorsitzender der OstCDU entmachtet und ab 1949 als Minister für Gesamtdeutsche Fragen von Adenauer in der damals jungen, aber schon voll aufgeblühten Kanzlerdemokratie gezähmt. Den verschiedenen neutralistischen Zirkeln begegnete Kaiser mit Ablehnung, ja er befehdete sie; umgekehrt war der Minister diesen verhaßt, folglich alles andere als ein Kooperationspartner auf Regierungsebene. Ein Politiker wie Kaiser - das galt auch für Dehler - unterlag stärker als sektiererische Verbände oder lockere Gesprächskreise dem Druck der Partei, der Linie der Fraktion und des Kanzlers, den Zwängen der realen Politik und den Interessen der Alliierten. Es ist nicht gewiß, ob der Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen die Zeitschrift „Der R u f um Hans Werner Richter und Alfred Andersch, die ähnliche Ideen wie er vertrat, überhaupt zur Kenntnis nahm. Ihr Leitbegriff lautete zwar nicht Sozialismus aus christlicher Verantwortung, sondern sozialistischer Humanismus. Sie wollten aber ebenfalls eine sozialistische Wirtschaftsordnung, eher nach dem Vorbild eines verschärften Keynesianismus wie im England der Labour-Regierung als nach sowjetischem Modell, mit einer demokratischen Staatsform kombinieren. Wie für den CDU-Mann hatte die Freiheit und die Wahrung der Menschenwürde und individuellen Freiheit stets Vorrang vor gesellschaftspolitischen Veränderungen, sollte beides zu irgendeinem Zeitpunkt einmal in Gegensatz zueinander geraten. Der Neutralitätsbegriff der Gruppe um den „Ruf' und später um die Zeitschrift „Neues Europa/Deutsche Stimme" war insgesamt diffus, blieb auf einer geistigen Ebene angesiedelt, drückte sich in vagen Parolen aus, etwa in der Forderung, ein friedenstiftendes „machtpolitisches Niemandsland"31 zu schaffen. Zählten Kaiser und der „Ruf-Zirkel zum demokratischen Spektrum der Dritte-Wegs-Befürworter, so galt das nicht für die Hauptakteure des Deutschen Kongresses mit Ausnahme Noacks und - das versteht sich von selbst - für die rechtsextremen Gruppierungen. Die weit links anzusiedelnden Hamburger Oppositionellen Sozialdemokraten um den einstigen schleswig-holsteinischen Landwirtschaftsminister Erich Arp und den Schriftsteller Heinrich Christian Meier machten aus ihrer Verachtung für die Institutionen des soeben geschaffe31
Hans Werner Richter, Deutsche Opposition, in: Neues Europa 14/1948, S. 12.
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nen westdeutschen Staates kein Geheimnis. Sie betrachteten das „westbegeisterte Besitzbürgertum" 32 als ihren inneren und die Vereinigten Staaten als ihren äußeren Hauptfeind, hoben den Gegensatz von oberflächlicher „westlicher Zivilisation" und tiefgründiger „deutscher Kultur" hervor. Auf den ersten Blick entsprang ihr Eintreten für eine Form der unbewaffneten, garantierten Neutralität einer Mischung aus nationalen und pazifistischen Motiven, auf den zweiten hingegen in mindestens gleichem Maße ihrem Dritte-Wegs-Streben. Dies traf ähnlich auf die rechtsaußen im politischen Spektrum angesiedelten Vereinigungen wie Theodor Köglers Freiheitsbund und Wolf Schenkes Dritte Front zu. Kögler strebte einen dritten Weg in jeder gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Frage an. Außenpolitisch trat er für die unbewaffnete Neutralität Deutschlands ein, worunter er den Zusammenschluß von Bundesrepublik und DDR verstand, innenpolitisch für eine sogenannte „aristokratische Demokratie", die auf - der westlichen Parteiendemokratie zuwiderlaufenden - rätesozialistischen Vorstellungen beruhen sollte. Kögler und seine wenigen Mitstreiter im Freiheitsbund, im übrigen fast ausschließlich ehemalige Nationalsozialisten, betrachteten sich als Kämpfer für „eine aktive, wir möchten sagen, eine aggressive Neutralität, die uns nach innen und außen widerstandsfähig macht gegen eine totalitäre Überrumpelung von Osten und gegen die totalitäre Einsickerung von Westen".33 Als der erfolglos gebliebene Freiheitsbund 1953 aufgelöst wurde, schlossen sich die meisten seiner Mitglieder Wolf Schenkes Dritter Front an. Schenke schimpfte die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion, ohne zu differenzieren, Menschheits- und Kulturfeinde. Um Deutschland vor dem Dritten Weltkrieg zu bewahren, plädierte er für die „Entkolonialisierung" dieses seines Erachtens in beiden Teilen „besetzten" und unterdrückten Landes. Gegenüber der bundesdeutschen Ordnung äußerte er tiefe Skepsis. Bemerkenswert war, wie lautstark und aggressiv alle drei Gruppierungen ihre Forderungen vortrugen. Kennzeichnete Selbstüberschätzung schon Politiker wie Schumacher oder Kaiser, so genügte dieser Ausdruck zur Charakterisierung der Kreise um Arp, Meier, Kögler und Schenke nicht. Der Graben zwischen ihrer in Wirklichkeit unwichtigen, wirkungslosen Existenz und dem Anspruch einer weltverändernden Politik war so groß, daß hier am besten wohl ein „letzter unfrisierter Gedanke" des polni-
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Erich Arp, Die Stellung der Marxisten in der Sozialdemokratie, [Hamburg] 30. Oktober 1948 (hektographiert), S. 11. 33 Theodor Kögler, Die Politik der deutschen Neutralität und der „Dritten Front". Erläuterungen zur Herausgabe des Neutralitäts-Ausweises, Hamburg, Weihnachten 1950 (60 S. Maschinenschrift), S. 35f., in: Parteienarchiv des (ehemaligen) Zentral instituts für sozialwissenschaftliche Forschung der FU Berlin (ZI6), Akte Neutralismus: Kögler, Freiheitsbund (unverzeichnet).
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sehen Schriftstellers und Satirikers Stanislaw Jerzy Lee paßt: „Größenwahnsinn: Kinderkrankheit der Zwerge". 34 Sie schafften nicht einmal eine kleine Einigung ihrer Gruppen im Deutschen Kongreß, wollten aber Deutschland wiedervereinigen, womöglich den Weltfrieden retten oder eine „dritte Kraft" im Herzen des Kontinents etablieren, um die herum sich eine gesamteuropäische Einigung, nach Wunsch des chinaerprobten Schenke sogar ein europäisch-asiatischer Zusammenschluß vollziehen sollte. Auf dem Deutschen Kongreß entpuppte sich der gemeinsame, verbindende Neutralitätsgedanke letztlich als Chimäre. Statt Zusammenarbeit und Handlung war allerorten Streit und Lähmung: Zu sehr gingen die Vorstellungen der Teilnehmer darüber auseinander, ob die Neutralität bewaffnet oder unbewaffnet sein und wie die gesellschaftlich-politische Neuordnung aussehen sollte. Noch wichtiger für das Scheitern waren aber Links-Rechts-Gegensätze und - wie bei Sektierern so häufig - persönliche Eitelkeiten der verschiedenen Selbstdarsteller. Bei der Untersuchung des Rechtsextremismus in den fünfziger Jahren zeigte sich wie bei den Protagonisten des Deutschen Kongresses die mangelnde Bindekraft der neutralistischen Idee. Nach dem Schwenk der Deutschen Reichspartei ab 1953/54 hin zu einem außenpolitischen dritten Weg verkündete die „Nationale Rundschau" bereits die große Verknüpfung aller neutralistischen Kräfte, vor allem der im norddeutschen Raum starken DRP mit August Haußleiters Deutscher Gemeinschaft, die regionale Schwerpunkte in Bayern und Baden-Württemberg besaß. Die Kooperationsverhandlungen scheiterten allerdings letztlich an Haußleiters Widerstand, an seiner Selbstbezogenheit und Machtgier, aber auch an gegensätzlichen Auffassungen in innen- und gesellschaftspolitischer Hinsicht zwischen den beiden Parteien. Mißfallen mußte Haußleiter, der mit den Begriffen Volk und Gemeinschaft argumentierte und sich selbst in die Tradition der Konservativen Revolution einreihte, daß die DRP die Bedeutung des „preußischen" Staates betonte und eine Rückkehr zum Bismarck-Reich forderte. Beide Gruppen verfolgten zwar einen dritten Weg, doch sollte sich dieser sehr unterschiedlich gestalten. Standen auf der einen Seite die Begriffe „Volk" und „Gemeinschaft" im Mittelpunkt, so auf der anderen „Reich" und „Staat". Persönliche Momente und Divergenzen fern außenpolitischer Fragen überlagerten ein weiteres Mal die gemeinsame neutralistische Ausrichtung. 35
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Stanislaw Jerzy Lee, Alle unfrisierten Gedanken, hrsg. von Karl Dedecius, München 1982, S. 149. 35 Trotz dieser Konflikte erscheint Richard Stöss' (vgl. zum Beispiel dessen Studie: Die Deutsche Gemeinschaft/Aktionsgemeinschaft Unabhängiger Deutscher im Parteiensystem der Bundesrepublik, Opladen 1980) Unterscheidung des Rechtsextremismus in einen Alten und Neuen Nationalismus zumindest in einer Hinsicht als fragwürdig. Er zählt die DRP zur Alten Rechten; der Nationalneutralismus kennzeichne hingegen die Neue Rechte, in den fünfziger Jahren vor allem
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Gerade für das rechte und bürgerliche Spektrum sowie für soldatische Verbände interessierte sich der Osten, insbesondere die SED, bis mit dem KPDVerbot von 1956 die Infiltration von linken Gruppen wie der 1960 ins Leben gerufenen Deutschen Friedens-Union größere Bedeutung erlangte. Im Laufe der fünfziger Jahre wurde der Begriff der Neutralität geradezu zu einem Synonym für Osthörigkeit und -Steuerung. Allenthalben warnten die Bundesregierung, große Teile der Presse und selbst manche Neutralisten, die sich nicht als solche verstanden, vor neuen „trojanischen Pferden" des Ostens. Dabei erwies sich eine Vielzahl von Vorwürfen im Lichte der nun einsehbaren DDR-Quellen, aber auch einzelner Berichte westdeutscher Verfassungsschützer, 36 als unbegründet. Die mit großem Einsatz betriebene Instrumentalisierung Noacks etwa scheiterte. Tatsächlich besaß die SED vorwiegend in drei Bereichen Einfluß: auf sektiererische soldatische Vereinigungen wie den Führungsring ehemaliger Soldaten, Zeitungen und Zeitschriften wie die „Deutsche National-Zeitung", das „Militärpolitische Forum" oder die „Rheinisch-Westfälischen Nachrichten" sowie auf Joseph Wirths Bund der Deutschen. Der eitle ehemalige Reichskanzler sehnte sich zurück nach der Beachtung, die ihm in den Jahren des Vertrags von Rapallo zu Beginn der zwanziger Jahre zuteil geworden war. Die DDRMachthaber nutzten sein persönliches Geltungsbedürfnis. Wirth verlor jegliche Handlungsfreiheit und wurde zur Marionette. Selbst seine bekannte Schrift „Die Reise hinter den Eisernen Vorhang" 37 entstand im Büro von Franz Dahlem unter eifriger Mitarbeit Otto Grotewohls. Ihn als Pionier der späteren Entspannungspolitik zu bezeichnen, so die Freiburger Historiker Georg Herbstritt und Ulrike Hörster-Philipps, 38 erscheint vor diesem Hintergrund mehr als fragwürdig. Die
durch die DG repräsentiert. Dem ist entgegenzuhalten, daß tatsächlich alle rechtsextremen Gruppen in dieser Frühzeit einen antiwestlichen dritten Weg verfolgten. Somit sind die vorgeschlagenen Kategorien nicht gänzlich trennscharf. Vgl. auch Uwe Backes/Eckhard Jesse, Politischer Extremismus in der Bundesrepublik Deutschland, 4. Aufl., Bonn 1996, S. 74f. 36 Es ist eine andere, nicht zu klärende Frage, wie sehr der Verfassungsschutz (Bundesamt und Landesämter) selbst an den verschiedenen Gruppen über V-Männer mitgewirkt, diese zum Teil „gesteuert" oder sogar initiiert hat - freilich nicht, um den Extremismus zu stärken, sondern um ihn durch Zersplitterung zu schwächen. Man könnte dies als eine „divide-et-impera"-Taktik bezeichnen. 37 Joseph Wirth, Die Reise hinter den Eisernen Vorhang. Der gemeinsame Weg der Deutschen zur Einheit - oder zum Krieg, Freiburg i. Br. 1952. 38 Vgl. Georg Herbstritt, Ein Weg der Verständigung? Die umstrittene Deutschland- und Ostpolitik des Reichskanzlers a. D. Dr. Joseph Wirth in der Zeit des Kalten Krieges (1945/511955), Frankfurt am Main 1993; Ulrike Hörster-Philipps, Joseph Wirth (1879-1956), Paderborn 1998; überzeugender im Urteil: Heinrich Küppers, Joseph Wirth. Parlamentarier, Minister und Kanzler der Weimarer Republik, Stuttgart 1997 sowie Michael Lemke, Die infiltrierte Sammlung. Ziele, Methoden und Instrumente der SED zur Formierung einer bürgerlichen Opposition in der Bundesrepublik 1949-1957, in: Tilman Mayer (Hrsg.), „Macht das Tor auf*. Jakob-Kaiser-Studien, Berlin 1996, S. 171-234.
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Ostinfiltration blieb letzten Endes ohne Erfolg, spielte im Lager der Nationalneutralisten keine entscheidende Rolle. Je mehr Neutralisten untersucht werden, desto deutlicher zeichnet sich ab, daß der deutsche Neutralismus keine - einheitliche, geschlossene - Bewegung bildete, sondern eine Vielzahl von - diffusen - Bestrebungen, die teils nicht einmal Notiz voneinander nahmen, teils vergeblich eine Vereinigung anstrebten. Zur Herausbildung einer Neutralitätsbewegung kam es nicht, weil sich das gemeinsame nationalneutralistische Fundament als wenig tragfähig erwies: Voneinander abweichende Konzepte eines dritten Wegs, unterschiedliches Politikverständnis und persönliche Gegensätze ließen es immer wieder einbrechen. Ein großes harmonierendes Orchester der Neutralisten bildete sich nicht einmal ansatzweise. Die vierziger und fünfziger Jahre waren eine Zeit der Solisten. 4. Zeit der Schrumpfung und Sammlung - 60er und 70er Jahre 4.1 Dritte-Wegs-Gegner In den sechziger und siebziger Jahren ging die Zahl der neutralistischen Gruppierungen zwar deutlich zurück, gleichzeitig aber war es nicht nur eine Zeit der Schrumpfung, sondern auch der Sammlung, in der Neutralisten unterschiedlicher Couleur in der Aktionsgemeinschaft Unabhängiger Deutscher Haußleiters und der Deutschen Friedens-Union zusammenfanden oder in der „Neuen Politik" Schenkes publizierten, ohne freilich stärkere Wirkung zu entwickeln. Insgesamt waren die sechziger und siebziger Jahre - verglichen mit den Fünfzigern und Achtzigern - eine neutralismusarme Zeit. Andererseits ließe sich behaupten, neutralistisches Denken habe erstmals Einzug in die Regierungspolitik gehalten, wenn man Egon Bahrs sicherheitsund deutschlandpolitische Maximen als neutralistisch klassifiziert. Unter dieser Prämisse war Bahr einer der wenigen eindeutigen Dritte-Wegs-Gegner unter den Neutralisten während der sechziger und siebziger Jahre. Schon seine Vorbilder Kaiser und Schumacher sprechen zumindest gegen eine grundsätzliche Ablehnung der Neutralität durch den Architekten der Ostpolitik, auch wenn er selbst die Bezeichnung „Neutralist" für sich aufs Entschiedenste ablehnte. Bahrs deutschland- und sicherheitspolitischen Leitsätze glichen Konzepten der garantierten Neutralität als erste Stufe zu einer neuen gesamteuropäischen Sicherheitsordnung. Es ist zwar richtig, und so argumentiert Bahr zumeist, daß er kein Vertreter einer völkerrechtlich strikt geregelten ständigen Neutralität nach Schweizer Muster war, schlösse diese in der Tat eine Verflechtung in kollektive Sicherheitsstrukturen aus. Würde man das Verständnis vom Neutralismus aber derart
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eng fassen, dann wäre das Thema des Nationalneutralismus klein und überschaubar, könnte eine Vielzahl von Ideen und Vorschlägen, die bislang als neutralistisch eingestuft worden sind, nicht länger unter diesem Begriff firmieren. Zwischen Bahrs Selbstbild und der Wirklichkeit besteht nach meiner Analyse eine Kluft. Für ihn, ein Freund des Paradoxen, erscheint daher die Bezeichnung „neutralistischer Neutralitätsgegner" zutreffend; wie im übrigen für so manchen der (relativ) einflußreichen hier vorgestellten Politiker der fünfziger Jahre, die sich anders als die meisten Sektierer eine Zuordnung ihres Engagements zum Neutralismus verbaten und statt dessen Umschreibungen bevorzugten. Angesichts der vielfältigen Ausprägungen des Phänomens war diese Scheu nachvollziehbar. 4.2 Dritte-Wegs-Befürworter Nicht zuletzt wegen der angedeuteten Verwandtschaft zu neutralistischen Ideen wurde die „neue Ostpolitik" in der Aktionsgemeinschaft Unabhängiger Deutscher und in der „Neuen Politik" zumindest anfangs sehr wohlwollend beurteilt. Die 1965 gegründete A U D setzte sich aus drei neutralistischen Gruppierungen, der DRP-Absplitterung Deutsche Freiheits-Partei, der Vereinigung Deutsche Nationalversammlung und nicht zuletzt aus der Deutschen Gemeinschaft zusammen. Haußleiters DG dominierte den Kurs der Partei. Die A U D strebte ein schrittweise zu vereinigendes, nach dem Vorbild des Österreichischen Staatsvertrags neutralisiertes, zu rein defensiven Zwecken bewaffnetes Deutschland an. Doch wie schon die DG ließ es die A U D nicht bei ihrem neutralistischen Anliegen bewenden, sondern strebte eine gesellschaftlich-politische Neuordnung an und ging mit der bundesdeutschen Demokratie scharf ins Gericht, lief diese doch wegen ihrer - angeblich - „anonymen" und „bürokratischen" Strukturen den „(volks-)gemeinschaftlichen" Vorstellungen der A U D zuwider. Das galt in ähnlicher Weise für die „Neue Politik": Sie propagierte, wie Herausgeber Wolf Schenke 1960 schrieb, die „vollkommene Abkehr von nahezu allem, was heute gilt". 3 9 Nach den „Leitsätzen" der NP sollte der beabsichtigte dritte Weg neben der nationalen die sozial(istisch)e und „demokratische Befreiung" 40 umfassen. Wie bei Haußleiter war bei Schenke die Tradition der Konservativen Revolution und eines antiliberalen „deutschen Sozialismus" im Sinne Oswald Spenglers41 unübersehbar. Statt der viel geschmähten „Massendemo39 Wolf Schenke, Leitsätze einer neuen Politik (IV), in: Neue Politik, 5. Jg., Nr. 19 vom 7. Mai 1960, S. 10. 40 Ders., Zum Geleit, in: Neue Politik, 18. Jg., Nr. 4 vom April 1973, S. lf. 41 Vgl. Oswald Spengler, Preußentum und Sozialismus, München 1920; zur knappen zeithistorischen und ideengeschichtlichen Einordnung Axel Schildt, Konservatismus in
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kratie" erhofften sie eine „organisch gegliederte Volksordnung". 42 Den westlichen Individualismus mißbilligte Schenke ebenso wie den östlichen Kollektivismus. Es galt der Leitspruch: Gemeinwohl wiegt stärker als Gruppenwohl und dieses stärker als Einzelwohl. Wie bei Spengler sollte bei dieser Volksgemeinschaftsideologie der Einzelwille im Gesamtwillen aufgehen. Sowohl bei der AUD als auch bei der „Neuen Politik", insbesondere ihrem Spiritus Rector Wolf Schenke, blieb die Idee eines volksgemeinschaftlichen dritten Wegs zur gesellschaftlich-politischen Neuordnung Deutschlands aber gegenüber dem sicherheits- und deutschlandpolitischen Thema im Hintergrund anders als bei ihren Organisationen in den fünfziger Jahren, DG und Dritte Front. Ansonsten wäre es beiden Foren, A U D und „Neuer Politik", nicht möglich gewesen, ab Ende der sechziger Jahre ihre Fühler nach links auszustrecken und so - über die Propagierung des Umweltthemas neben der Friedens- und Deutschlandproblematik - Anfang der achtziger Jahre im grünen Spektrum anzugelangen und dort, stets Außenseiter bleibend, für ihre nationalneutralistische Politik zu werben. Die am Anfang der sechziger Jahre gegründete Deutsche Friedens-Union bemühte sich zunächst um den Zusammenschluß der linken Neutralisten. Einen nationalneutralistsichen Kurs steuerte sie aber nicht aus eigener Überzeugung, sondern nur solange er von der SED vorgeschrieben war. Die DFU stand gänzlich unter ihrem Einfluß. Als die DDR-Staatspartei Mitte der sechziger Jahre schrittweise von einer nationalen zu einer „antimonopolistischen" Taktik überwechselte, wandelte sich die DFU in gleicher Weise. Insofern war ihr zeitweiliger Nationalneutralismus taktischer Natur und vom Osten verordnet. Im Grunde gehörte sie nicht einmal zu den undemokratischen Dritte-Wegs-Verfechtern, sondern besaß eine proöstliche Ausrichtung mit der DDR als Vorbild. Wie A U D und „Neue Politik" suchte die DFU ab Ende der siebziger Jahre Anschluß an die Friedensbewegung, durch die sich die Neutralisten einen zweiten Frühling erhofften. Die sechziger und siebziger Jahre waren damit, wie erwähnt, eine Zeit der Schrumpfung und Sammlung.
Deutschland. Von den Anfängen im 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, München 1998, S. 157159. 42 Wolf Schenke, Leitsätze einer neuen Politik (II), in: Neue Politik, 5. Jg., Nr. 17 vom 23. April 1960, S. 11.
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5. Zeit des neuen Sonderwegs? - 80er Jahre 5.1 Dritte-Wegs-Gegner Während die Neutralisten der sechziger und siebziger Jahre im öffentlichen Bewußtsein fast unbemerkt blieben, fanden die Initiativen der achtziger Jahre große, ja übermäßige Aufmerksamkeit in publizistischen und intellektuellen Zirkeln. Der Paderborner Soziologe Arno Klönne warnte vor einem „Zurück zur Nation" 43 , der Berliner Historiker Arnulf Baring vor „unserem neuen Größenwahn" 44 und sein Bielefelder Kollege Hans-Ulrich Wehler vor einem „neue[n] Sonderweg eines neutralisierten Gesamtdeutschland zwischen den Blöcken" 45 . Selbst ein so besonnener Beobachter der Zeit wie Joachim C. Fest betrachtete es als die vermutlich „tiefste Zäsur in der Geschichte der Bundesrepublik, daß eine nennenswerte Gruppe in Parteien und Bevölkerung, akklamiert von einem einflußreichen Teil der Medien, sich nunmehr weniger durch die sowjetische als durch die westliche Führungsmacht bedroht sah und damit lange bestehende, prinzipielle Gemeinsamkeiten aufkündigte". 46 Auch im Ausland, insbesondere in den Vereinigten Staaten und in Frankreich, nahm die Zahl der Stimmen zu, die eine deutsche Emigration aus dem atlantischen Lager hin zu einer neutralistischen Position befürchteten. 47 Tatsächlich konnte man, zumal aus der Distanz, diesen Eindruck gewinnen, zum Beispiel angesichts des medienwirksam inszenierten Hamburger Evangelischen Kirchentags im Sommer 1981, auf dem Pastor Heinrich Albertz das Wort vom „besetzten Land" sprach, oder so mancher Titelgeschichte in „Spiegel" und „Stern". Die Beschwörer der - angeblichen - Neutralitätsgefahr zogen auch Daten der Meinungsforschung heran, um die Tendenz einer Abkopplung vom westlichen Lager zu belegen, ohne jedoch zu einer Tiefenanalyse vorzudringen, die auf einem breiten Satz diverser demoskopischer Fragen und langen Trendreihen 43 44
Arno Klönne, Zurück zur Nation? Kontroversen zu deutschen Fragen, Köln 1984. Arnulf Baring, Unser neuer Größenwahn. Deutschland zwischen Ost und West, Stuttgart
1988. 45 Hans-Urich Wehler, Wohlbehagen im Wolkenkuckkucksheim: Die Chimäre eines neutralisierten Gesamtdeutschland, in: Ders., Preußen ist wieder chic... Politik und Polemik in zwanzig Essays, Frankfurt am Main 1983, S. 52. 46 Joachim C. Fest, Die deutsche Frage: Das offene Dilemma, in: Wolfgang Jäger/Werner Link, Republik im Wandel 1974-1982. Die Ära Schmidt (Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, Band 5/II), Stuttgart 1987, S. 444. 47 Vgl. zum Beispiel: Fritz Stern, Deutschland und die USA. Enttäuschung und Ernüchterung, in: Ders., Der Traum vom Frieden und die Versuchung der Macht. Deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert, Berlin 1988, S. 216-242; Pierre Hassner, Was geht in Deutschland vor? Wiederbelebung der deutschen Frage durch Friedensbewegung und alternative Gruppe, in: EuropaArchiv 37 (1982), S. 517-527.
4 Jesse/Löw
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beruhen muß. Eine solche Untersuchung führt nämlich zu einem anderen Ergebnis: In den achtziger Jahren bestand ebensowenig wie in den fünfziger Jahren die Gefahr eines beliebigen Neutralismus, eines Schwankens zwischen Ost und West oder sogar eines Hanges zum Osten. Neutralismus um jeden Preis, zum Preis der Sicherheit und Freiheit, konnte es für die westdeutsche Bevölkerung zu keinem Zeitpunkt geben. Eine deutliche Mehrheit für ein neutrales wiedervereinigtes Deutschland war nur vorhanden, wenn Freiheit und Frieden/Sicherheit garantiert würden. Unter dieser Bedingung hätte die Mehrheit der Westdeutschen in den achtziger Jahren auf die militärische Westintegration verzichtet und einen außenpolitischen dritten Weg beschritten. Eine generelle Abwendung vom Westen lehnten sie stets ab. Für Neutralismus, verstanden als Austritt aus dem NATO-Bündnis, und nicht nur als vage Tendenz, sich aus Spannungen des Ost-West-Konflikts herauszuhalten, trat während der achtziger Jahre mit großer Mehrheit einzig die Anhängerschaft der Grünen ein. Nimmt man die Ergebnisse der fünfziger Jahre hinzu, in denen die SPD-Anhänger neutralistischem Denken näherstanden als diejenigen konservativer Parteien, so läßt sich die These aufstellen, daß es innerhalb der Bevölkerung - im Unterschied zu den vielen rechten neutralistischen Gruppierungen - im linken Spektrum eine stärkere Neigung zur Neutralität gab als im rechten. Die Westdeutschen standen alles in allem fest auf der Seite des Westens und hinter dem westlichen Verteidigungsbündnis. Der von der veröffentlichten Meinung zeitweilig vermittelte Eindruck einer „Akzeptanzkrise" traf nicht zu. Gleichwohl besaßen neutralistische Tendenzen dann einen gewissen Rückhalt, sobald die gesamtdeutsche Dimension mit ins Spiel gebracht wurde. Doch waren die im Meinungsbild der Bevölkerung stets nachweisbaren neutralistischen Sympathien schon deshalb nicht zu überschätzen, weil sie weniger eine Flucht aus dem Bündnis als vielmehr eine vage Stimmung widerspiegelten, die im Wunsch nach Frieden ebenso wie in dem nach der Wiedervereinigung begründet lag. Fests Befürchtung eines grundlegenden Mentalitätswandels in der Gesamtbevölkerung war demnach übertrieben. Doch wie stand es mit den Parteien, den Publizisten und Intellekuellen? Das neue Krisendenken (Identitätskrise, Angstkrise, Sinnkrise) zog mit dem NATO-Doppelbeschluß vom 12. Dezember 1979 - gewissermaßen ein Erwekkungserlebnis - Renationalisierungs- und Reideologisierungstendenzen nach sich. In einer Zeit, in der die Bundesrepublik schon als postnationale Demokratie erschien, zeigte sich, daß durch gewachsene Spannungen im Ost-WestKonflikt bereits überwunden geglaubte Traditionen wiederbelebt werden konnten, ohne allerdings über ein randständiges Phänomen hinauszuwachsen. Im Unterschied zu den fünfziger Jahren fand die Idee eines von Ost und West unabhängigen Deutschland in den großen Parteien kaum Widerhall, jedenfalls keine mächtigen Fürsprecher. Die CDU/CSU blieb die alte antineutralisti-
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sehe Kraft. In kaum einer deutschlandpolitischen Erklärung der Kohl-Regierung fehlte ein Bekenntnis zur Verbundenheit der Bundesrepublik mit dem Westen und seinen Organisationen sowie eine Verdammung eines deutschen „Sonderweges" in die Neutralität. Alternativkonzepte wie die des Bundestagsabgeordneten Bernhard Friedmann - Stichwort: „Einheit statt Raketen" 48 - wurden von der Partei schärfstens mißbilligt (von wenigen Ausnahmen abgesehen). In der FDP fand die Idee eines neutralen Deutschland ebenfalls kein Gehör, so auch nicht der Präsident des Gesamtdeutschen Instituts Detlef Kühn, der beklagte, daß es der deutschlandpolitischen Diskussion an dem Mut mangele, „den Status quo konsequent in Frage zu stellen". 49 Eine aktive Wiedervereinigungspolitik habe sich auf die Sowjetunion zu konzentrieren und über den sicherheitspolitischen, vielleicht auch wirtschaftlichen - Preis nachzudenken, den man für die Erreichung dieses Ziels zu zahlen bereit wäre. Zustimmung erhielt Kühn indes vom damaligen bayerischen FDP-Landesvorsitzenden Manfred Brunner, der sich selbst in die nationalliberale Tradition Thomas Dehlers einreihte und im Mai 1987 die Partei eindringlich ermahnte, auf einen eventuellen sowjetischen Wiedervereinigungsvorschlag vorbereitet zu sein und nicht wie 1952 - erneut eine Chance zu verpassen. Wie schon in den vorherigen Jahrzehnten zeigte sich innerhalb der SPD unter den etablierten Parteien die stärkste Neigung zu einer alternativen Sicherheitspolitik. Verfechter der sogenannten zweiten Ostpolitik wollten Deutschlands Rolle im westlichen Bündnis neu definiert wissen und größere Distanz gegenüber den USA wahren - Stichwort: „Angst vor den Freunden" 50 -, ohne jedoch gleichzeitig nationale Forderungen damit zu verknüpfen. Eine nationalneutralistische Politik auf oberer Parteiebene artikulierte sich nicht. Gleichwohl existierte eine solche Tendenz unterschwellig. Dies zeigte sich etwa daran, daß mehrere Bundestagsabgeordnete der SPD den Havemann-Brief unterzeichneten, der im Herbst 1981 öffentlichkeitswirksam für einen deutschlandpolitischen dritten Weg plädiert hatte. Das Konzept einer bewaffneten gesamtdeutschen Neutralität - über den Zwischenschritt der Konföderation - propagierte innerhalb der SPD offensiv der Heidelberger Völkerrechtler Theodor Schweisfurth. Im Grunde bot ihm die sozialdemokratische Partei dabei kein Forum, blieb er doch auf die Ebene seines Kreisverbands beschränkt; statt dessen beteiligte er sich maßgeblich an diversen parteiübergreifenden, überwiegend von links dominierten Initiativen und Aufrufen. 48 Bernhard Friedmann, Einheit statt Raketen. Thesen zur Wiedervereinigung als Sicherheitskonzept, Herford 1987. 49 Detlef Kühn, Für eine aktive Wiedervereinigungspolitik, in: Deutschland Archiv 20 (1987), S. 596. 50 Oskar Lafontaine, Angst vor den Freunden. Die Atomwaffenstrategie der Supermächte zerstört die Bündnisse, Reinbek bei Hamburg 1983.
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Anders als in den fünfziger Jahren fehlten die Befürworter eines nationalneutralistischen Kurses in den meinungsbildenden Medien. Allerdings widmeten sie dem Thema große Aufmerksamkeit, nahmen meist eine Warnerrolle ein, um auf die Gefahr einer Abkopplung vom westlichen Bündnis hinzuweisen. Noch mehr störte sich ein Großteil der Publizisten aber am Wiederaufleben der nationalen Frage. Ihre Kritik an den Nationalneutralisten befand sich in einer gewissen Schieflage. So beklagten sie zumeist nicht vorrangig, daß die Neutralität kein geeignetes Mittel sei, um die Einheit zu erlangen, sondern vielmehr das Ansinnen der Wiedervereinigung und den Wunsch nach Überwindung des Status quo an sich. Robert Leicht etwa bezweifelte im Jahr 1982 die Verträglichkeit eines deutschen Nationalstaates für Europa. Betrachte er die Geschichte, so müsse er zu der Einsicht gelangen, „daß die Deutschen ihre nationalstaatliche Chance gehabt - und verspielt haben". 51 Die Friedensbewegung und die neugegründete Partei Die Grünen bildeten Anfang der achtziger Jahre die Hochburg der Nationalneutralisten, wenn sie auch dort letztlich randständig blieben und die antinationalen Kräfte stets die Oberhand behielten. Für Schweisfurth kennzeichnete es die Nationalneutralisten der neuen Generation vor allem, die beiden in der Bevölkerung seines Erachtens vorhandenen „Grundströmungen", die „Friedens- und Sicherheitssehnsucht" einerseits, mit der „Einheitssehnsucht" andererseits zu verknüpfen. 52 Den Zusammenhang von Friedens- und nationaler Frage hoben auch Herbert Ammon und Peter Brandt, die beiden Vordenker der AG Berlin- und Deutschlandpolitik in der A L Berlin, bei ihrer Formulierung eines „linken Patriotismus" hervor. Zwar brachten sie die soziale Frage und gesellschaftliche Veränderungen ebenfalls mit ins Spiel, doch letztlich blieb der sozialemanzipatorische Ansatz, der auf einen dritten Weg hingeführt hätte, trotz ausdrücklicher Betonung im Hintergrund, der nationalemanzipatorische - gekoppelt mit sicherheits- und friedenspolitischen Aspekten - hingegen im Vordergrund. Brandt, Ammon und die Mitglieder der wesentlich von ihnen am Anfang der achtziger Jahre beeinflußten AG Berlin- und Deutschlandpolitik der Alternativen Liste sowie die Anhänger verschiedener linker Friedensvertraginitiativen sind schwer eindeutig den Dritte-Wegs-Kritikern zuzurechnen. Mit gewissem Recht könnte man sie auch zu den Dritte-Wegs-Verfechtern zählen. Günter Kießling und Wolfgang Seiffert - der eine zeitweise Stellvertreter des NATO-Oberbefehlshabers in Europa, der andere ehemals Professor für internationales Recht in Potsdam und RGW-Berater in Moskau - hatten hingegen nichts für gesellschaftpolitische Experimente übrig. Sie orientierten sich allein 51
Robert Leicht, Die neue Welle alter Träume. Das Wiedererwachen nationaler Erwartungen aus dem deutschen Drang nach dem Unmöglichen, in: Süddeutsche Zeitung vom 576. Juni 1982. 52 Theodor Schweisfurth, Das Ziel: Blockfreiheit - Ein Beitrag zur Friedensstrategie, in: Wolfgang Venohr (Hrsg.), Die deutsche Einheit kommt bestimmt, Bergisch-Gladbach 1982, S. 82.
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am Ziel der Wiedervereinigung und betrachteten die gesamtdeutsche Neutralität als ein adäquates, dem Frieden dienendes Konzept zur Erlangung der deutschen Einheit. Anders als in den fünfziger Jahren stand in den Achtzigern insgesamt das Sicherheitsproblem, gekoppelt mit der nationalen Frage, im Mittelpunkt, Vorstellungen eines gesellschaftspolitischen dritten Weges traten demgegenüber zurück. Offensichtlich hatte die neue Generation der Neutralisten aus den Mißerfolgen ihrer Vorgänger gelernt. Daran konnte auch die Tatsache nichts ändern, daß alte Vorkämpfer der Idee - gemeint sind vor allem August Haußleiter und Wolf Schenke - noch immer aktiv waren, inzwischen bei den Grünen und in deren Einzugsbereich. Schon bei ihren Projekten der A U D und der „Neuen Politik" hatte sich dieser Schwenk angedeutet. Symptomatisch für die Nationalneutralisten der achtziger Jahre, schreibt Helmut L. Müller, „ist durchgängig das Fehlen eines konkreten Entwurfes für eine 'dritte Form' des politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens. Die radikale Infragestellung des Status quo bleibt weitgehend auf die außenpolitische Orientierung beschränkt, während die Frage nach der politischen und gesellschaftlichen Struktur der an einem blockfreien Mitteleuropa beteiligten Staaten ausgeklammert wird." 5 3 5.2 Dritte-Wegs-BefÜrworter Wenn dies als grundsätzliche Tendenz auch richtig war, so fehlte der Typ des Dritte-Wegs-Neutralisten indes nicht „durchgängig", wie Müller meint. Im linken Spektrum läßt sich vor allem am Beispiel des ehemaligen grünen Bundesvorstandsmitglieds Rolf Stolz und seines Initiativkreises „LinkeDeutschland-Diskussion" zeigen, daß eine deutsche Neigung zu ideologischen Erklärungen wieder hervorbrach, die ihre Wurzel im deutschen Idealismus und in der Romantik 54 ebenso hat wie in der geopolitischen Lage des Landes zwischen Ost und West sowie der immerwährenden Suche nach Identität. Mit stark antiwestlich-antikapitalistisch-antiamerikanischer Spitze trat Stolz offensiv für die Beschreitung eines neuen Sonderwegs ein. Dieser sollte zwischen dem staatssozialistischen Modell in der Sowjetunion und DDR einerseits sowie dem kapitalistischen der westlichen Industriestaaten andererseits verlaufen. Stolz plädierte für eine rätesozialistische, basisdemokratische, ebenso antistaatliche wie antiparlamentarische Ordnung. Er wollte nicht 53
Müller (Anm. 16), S. 36. Vgl. zur Wiederbelebung derartiger Ideen und Traditionen nach 1945: Richard Löwenthal, Der romantische Rückfall. Wege und Irrwege einer rückwärts gewendeten Revolution, 2. Aufl., Stuttgart 1970; Stefan Brauburger, Politische Romantik, in: Werner Weidenfeld/Karl-Rudolf Körte (Anm. 16), S. 563-569. 34
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nur die Repräsentativverfassung ersetzen, sondern mit der Abschaffung der Gewaltenteilung auch ein Kernprinzip des modernen Rechtsstaats demontieren. Diese Thesen verbunden mit der Forderung nach einer ökologischen Revolution und der Stärkung der nationalen Identität wiesen eine beträchtliche Nähe zu nationalrevolutionären Ideen auf, wie sie sich in den Forderungen nach einer „fünffachen Revolution" (etwa im wesentlich von Henning Eichberg verfaßten „Nationalrevolutionären Programm" der Sache des Volkes von 1977) manifestierten: räte- und genossenschaftlicher Sozialismus, basisdemokratische statt parlamentarische Strukturen, ökologische Revolution, Stärkung der nationalen Identität, der kulturellen Eigenständigkeit, nicht zuletzt ein neuvereinigtes, unabhängiges, sozialistisches Deutschland. Der Vorwurf direkter Zusammenarbeit mit rechtsextremen und neu-rechten Kreisen gegenüber diesem sozialistischen Selbstbestimmungsneutralisten, wie Stolz sich selbst nannte, war indes wenig stichhaltig. Direkte Avancen, wie sie Wolfgang Strauß in der nationalrevolutionären Zeitschrift „Neue Zeit" Anfang 1985 unternahm, wies Stolz schärfstens zurück und verband damit eine deutliche politische Abgrenzung. Erteilte er hier der Zusammenarbeit zwischen linken und rechten Kräften eine deutliche Absage, so schienen die Grenzen nicht immer so klar gezogen. Verschiedene Friedensvertragsaktionen, der schon erwähnte Havemann-Brief, die an die Denkschrift „Friedensvertrag - Deutsche Konföderation - Europäisches Sicherheitssystem" 55 von Ammon/Schweisfurth aus den Jahren 1984/85 gekoppelte Unterschriftensammlung, diverse Aufrufe, die gemischte Autorenschaft der halb nationalrevolutionären, halb „alternativen" Zeitschrift „wir selbst" und mancher Sammelbände, allen voran der von Wolfgang Venohr herausgegebene „Die deutsche Einheit kommt bestimmt", 56 deuteten an, daß die Blockaden zwischen links und rechts zugunsten der nationalneutralistischen Gemeinsamkeit wenigstens kurzzeitig überwindbar schienen.57 Bei genauerer Sicht waren den Links-Rechts-Übergängen insbesondere in personeller Hinsicht enge Grenzen gesetzt: Nur sporadisch wirkten Linke an rechten, Rechte an linken Initiativen mit, wobei sich die „Mitwirkung" häufig auf eine Unterschrift beschränkte. Verblüffend war allerdings der hohe Grad an argumentativen Überschneidungen zwischen den von links und den von rechts 55 Vgl. Herbert Ammon/Theodor Schweisfurth, Friedensvertrag - Deutsche Konföderation Europäisches Sicherheitssystem. Denkschrift zur Verwirklichung einer europäischen Friedensordnung mit 50 Seiten Dokumenten, Starnberg 1985. 56 Venohr (Anm. 52). 57 Vgl. Eckhard Jesse, Der „dritte Weg" in der deutschen Frage. Über die Aktualität, Problematik und Randständigkeit einer deutschlandpolitischen Position, in: Deutschland Archiv 22 (1989), S. 543-559; ders., Neutralisierung Deutschlands - Königsweg oder Holzweg?, in: Außerschulische Bildung 2/1985, S. 63-66.
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dominierten Aktionen, die in ihren deutschland- und sicherheitspolitischen Denkfiguren einander ähnelten; dazu zählten zum Beispiel die Behauptungen, daß Teilung den Krieg, Einheit den Frieden bedeute und folgende Stufenfolge anzunehmen sei: Konföderation, Friedensvertrag, Einheit, europäisches Sicherheitssystem. Nur tendenziell neigten die Linken stärker zur Betonung friedenspolitischer, die Rechten zur Hervorhebung nationalpolitischer Aspekte. Eine grundsätzliche Differenz zwischen Pazifisten und Nationalisten ließ sich nicht ausmachen. Fälle der Zusammenarbeit, des Zusammenschlusses von linken und zur politischen Mitte zählenden mit rechtsextremistischen Neutralitätsanhängern gab es nicht. Die NPD, die spätestens 1982 ein nationalneutrales Programm vertrat, und die nationaldemokratische Abspaltung Vereinigung für Gesamtdeutsche Neutralität/Vereinigung Gesamtdeutsche Politik um Günter Philipp zum Beispiel blieben weitgehend unter sich, wobei Forderungen nach der Schaffung einer von rechts bis links reichenden deutschen Irredenta selbst bei Neonationalsozialisten zu vernehmen waren. Der plumpe Versuch, mit Hilfe des Neutralitätsthemas vom Potential der Friedensbewegung zu profitieren, war allzu leicht durchschaubar und scheiterte vollständig. Abgesehen von der - vordergründigen - neutralistischen Gemeinsamkeit waren die Unterschiede - etwa die Linken abstoßenden reichsnationalistischen, großdeutschen, „volksgemeinschaflichen" und fremdenfeindlichen Töne - zu gravierend, um auch nur eine kurzzeitige Kooperation zu ermöglichen. Wie in den fünfziger Jahren war der Nationalneutralismus nicht viel mehr als eine Chimäre, ein Schreckgespenst, kein Schreckbild, denn der Nationalneutralismus existierte als mächtige Idee und Kraft vor allem in den Köpfen derer, die in ihm eine Bedrohung erkannten. In Wirklichkeit stellte er kein tragfähiges politisches Konzept dar. Wolfgang Venohrs Absicht zum Beispiel, Mitte der achtziger Jahre eine „Gesamtdeutsche Neutralitäts-Partei" zu gründen, um das vermeintlich - große Potential der Befürworter in der Bevölkerung zu binden, geriet nie über die Ebene gedanklicher Sandkastenspiele hinaus. Letztlich konnte sich die nationalneutrale Position selbst dort, wo sie die besten, wenn auch schlechte Voraussetzungen für eine einflußreiche Politik hatte, nämlich bei den Grünen, die von 1983 an immerhin im Bundestag vertreten waren, ebenfalls nicht durchsetzen. Verstärkt ab 1983/84 verloren nationale Frage und Deutschlandpolitik mit dem Abflauen der Nachrüstungsdebatte bei der Partei ihre Schlüsselrolle. Das Umweltproblem und die übernationale Friedensdiskussion gerieten wieder in den Vordergrund. Die Ergebnisse für die letzte Phase zusammengenommen lassen es fragwürdig erscheinen, in den achtziger Jahren Züge eines neuen Sonderwegs zu erkennen - so damals die Histori-
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ker Wehler und Michael Stürmer, 58 verschiedene Politiker und Publizisten, die dem Thema übermäßige Aufmerksamkeit widmeten. Vielmehr zeigte sich, wie stabil prowestlich nicht nur die außenpolitische Bindung, sondern auch die politische Kultur des Landes inzwischen geworden war. Die achtziger Jahre waren damit im Kern mitnichten die Zeit eines neuen Sonderwegs. 6. Mißerfolg
und Bedeutung
Weshalb scheiterte der Nationalneutralismus in Deutschland zwischen 1945 und 1990? Die Antwort scheint auf der Hand zu liegen. Die weltpolitische Situation des Kalten Krieges war für eine neutralistische Konzeption ungeeignet und die Siegermächte hätten ein von Ost und West unabhängiges Deutschland nicht zugelassen, weil es ihren Interessen zuwiderlief und ihnen eine Zwischenposition für ein Land von der Größe und in der exponierten Lage Deutschlands mißfiel. Die deutsche Einheit war, wie der Erlangener Historiker Gregor Schöllgen betont, bis zum Fall der Mauer kein Thema der internationalen Politik: „Bis 1989 gab es in Sachen deutsche Einheit keinen Handlungsspielraum, weil es für eine Wiedervereinigung Deutschlands keine internationalen Rahmenbedingungen gab. Solche existierten lediglich für die Teilung." Die „bedingungslose Unterordnung der deutschen unter die westlichen Interessen" war demnach zwingend. 59 Insofern besaß der Nationalneutralismus, selbst wenn er eine mächtige Bewegung geworden wäre, nie wirklich eine Chance auf Umsetzung, weil er von falschen Prämissen ausging. Aber auch wer die damaligen Möglichkeiten für eine schnelle Wiedererlangung der Einheit als besser und den Handlungsspielraum einer selbständigen deutschen Politik als nicht so gering wie Schöllgen beurteilt, ihn für eine dynamische, veränderliche Größe hält, auf den eine willensstarke und taktisch kluge Politik einwirken, ihn erweitern oder vergrößern konnte, 60 muß zur Kenntnis 58
Es ist paradox, daß Wehler später im sogenannten „Historikerstreit" unter anderem Front gegen Stürmer bezog - wegen vermeintlich antiwestlicher Tendenzen. Hieran erwies sich exemplarisch der vielfach irrationale Charakter der „Argumentation" der damaligen Debatte, die im Kampf um politische Meinungsführerschaft und „kulturelle Hegemonie" Sachlichkeit vermissen ließ. Vgl. Hans-Ulrich Wehler, Entsorgung der deutschen Vergangenheit? Ein polemischer Essay zum „Historikerstreit", München 1988; Michael Stürmer, Deutsche Versuchung. Über Sonderwege, Sackgassen und die Sehnsucht nach Katastrophen, in: Die Politische Meinung 28 (1983), H. 206, S. 11-22. 39
Gregor Schöllgen, Die Macht des Mythos. Der Kalte Krieg, der Fall der Mauer und der Spielraum der deutschen Politik, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 30. Oktober 1997. 60 Vgl. zum Begriff des Handlungsspielraums Zitelmann (Anm. 25), S. 23-25; auch den Leserbrief von Wolfgang Venohr, Lange gescholtene Patrioten, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 13. November 1997. Darin wirft Venohr Schöllgen (Anm. 59) vor, einer Legende Vorschub zu leisten, denn: „Es existierten schon 'Spielräume'; aber es gab keine 'Handlungen' von westdeutscher Seite."
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nehmen, daß eine Reihe weiterer Gründe gegen die Behauptung sprechen, es habe für den nationalneutralistischen Ansatz tatsächlich gute Realisierungschancen gegeben. Wesentlich für das Scheitern der Neutralisten war, daß es ihnen mißlang, eine organisatorische Einheit zu bilden - mit einem gleich geschlossenen wie schlüssigen Konzept. Zu groß waren die Gegensätze zwischen Gegnern und Befürwortern eines weitergehenden dritten Weg. Auch innerhalb der einzelnen Gruppen bestanden erhebliche Differenzen, um dauerhaft und im Verbund für ein neutrales Gesamtdeutschland einzutreten. Die letztlich unüberbrückbaren Gräben zwischen Pragmatikern und Ideologen, Rechten und Linken, Extremisten und Demokraten, oft noch vertieft durch die Eitelkeiten der nicht wenigen Egozentriker unter den Neutralisten, schienen nur kurzzeitig überwindbar auf einzelnen Tagungen, bei Unterschriftsaktionen und ähnlichem, die am Ende aber stets ins Leere liefen. Die Neutralisten waren großenteils Einzelgänger und Nonkonformisten. Insgesamt fehlte dem Neutralismus die integrative Kraft, die über die Gegnerschaft zur militärischen Westbindung hinausgehenden politischen und weltanschaulichen Orientierungen dauerhaft zusammenzufassen oder zumindest erfolgreich zu überspielen. So blieb auch eine vom Neutralismus bewirkte Erosion der Abgrenzung gering. Selbst den politisch Ausgewiesensten unter den Neutralisten - auch hierin ist eine Ursache für die politische Wirkungsschwäche des Nationalneutralismus zu erkennen - mangelte es häufig an diplomatischer Zurückhaltung, politischer Bescheidenheit und taktischer Flexibilität. Sie mißachteten zum Teil die Interessen anderer Staaten; insbesondere besaßen sie ein oft nur ungenügendes Einfühlungsvermögen in die amerikanische Interessenlage, legten darauf keinen Wert. Ein weiterer Grund für den Mißerfolg lag darin, daß eine nicht unbeträchtliche Zahl von Neutralisten rückwärtsgewandt war und die Verhältnisse nach 1919 einfach auf die völlig neue Weltsituation nach 1949 übertrug. Sie verharrten in der außenpolitischen Tradition von Weimar. So versuchten zum Beispiel Sethe, Pfleiderer oder Schenke, mehrfach das Vertragspaket von Locarno und Berlin aus den Jahren 1925/26 als Verbindung von östlichem Neutralitätsmit westlichem Garantiepakt auf die Verhältnisse des Kalten Krieges zu übertragen. Mit diesem Schritt in die Geschichte des Deutschen Reiches nähern wir uns dem Anliegen, die Bedeutung des Scheiterns der Neutralisten näher zu beleuchten. Das Scheitern des Neutralismus dient als Indikator für den Erfolg der Westintegration und der bundesdeutschen Demokratie, die rasch eine eigene, neue Tradition begründet hat. Diese entwickelte sich zum Teil unabhängig von der Politik der Westalliierten, die - und nicht nur die Sowjetunion - bis in die
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fünfziger Jahre hinein, wie besonders der Kölner Historiker Andreas Hillgruber gezeigt hat, Neutralisierungspläne vorgebracht haben61 - entgegen Adenauers Wollen. Schon aus dieser Perspektive erschien der Erfolg der Westintegration alles andere als selbstverständlich und Waldemar Bessons Feststellung, mit dem Sieg Konrad Adenauers über Jakob Kaiser habe zugleich das neue weltpolitische System über die deutsche politische Tradition gesiegt, zu pointiert und voreilig. 62 Erst eine Gesamtschau des Nationalneutralismus läßt einen derart weitreichenden Schluß zu. Daß die Neutralisten keinerlei politische Kraft entwickeln konnten, spiegelt ex negativo besonders deutlich den Bruch mit der deutschen Geschichte nach 1945 wider. Bis dahin hatte von der Reichsgründung 1871 bis zum Untergang des Reiches 1945 ein dritter Weg, ein Eigenweg zwischen Ost und West die Außenpolitik bestimmt, wie ihn Klaus Hildebrand in seinem Werk „Das vergangene Reich" eindringlich beschrieben, ja zum Leitthema gemacht hat: „Weder Norden noch Süden, weder Luther noch den Papst, weder Habsburg noch Frankreich, weder Autokratie noch Parlamentarismus, weder Rußland noch England, weder Kapitalismus noch Kommunismus, weder Amerika noch die Sowjetunion zu wählen, all das gehörte zur Tradition des deutschen Strebens nach Neutralität, die ihre Fundamente in der Geschichte hat und die von Preußen, danach von Deutschland als für die Erhaltung seiner Unabhängigkeit notwendig angesehen wurde." 63 Gerade die Rechte vor 1945, insbesondere die Richtung um die Konservativen Revolutionäre, in deren Tradition eine Reihe von Nationalneutralisten stand - teilweise sogar noch unmittelbar wie August Haußleiter und Otto Straßer -, lehnte die „westliche Zivilisation" ab, neigte außenpolitisch zu einer „Schaukelpolitik" oder besaß sogar eine proöstliche Disposition. Daß sich dies nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs grundlegend gewandelt hat, daß die Nationalneutralisten (aus dem bürgerlich-rechten Lager) politisch chancenlos waren, deutet hin auf und ist zugleich Indikator für eine tiefgreifende Westwendung des deutschen Konservatismus; eines Konservatismus, der sich zunehmend von ideologisch aufgeladenen antiliberalen und ständischen Wunschbildern verabschiedete. 64 Den Nationalneutralismus zu erörtern, trägt dazu bei, die markante Diskon61
Vgl. Andreas Hillgruber, Alliierte Pläne für eine „Neutralisierung" Deutschlands 1945-1955, Opladen 1987. 62 Vgl. Waldemar Besson, Die Außenpolitik der Bundesrepublik. Erfahrungen und Maßstäbe, München 1970, S. 39. 63 Klaus Hildebrand, Das vergangene Reich. Deutsche Außenpolitik von Bismarck bis Hitler 1871-1945, Stuttgart 1995, S. 861. 64 Vgl. die programmatische Schrift von Hans Mühlenfeld, Politik ohne Wunschbilder. Die konservative Aufgabe unserer Zeit, München 1952. Bei der Herausbildung eines „demokratischen Konservatismus" nach dem Zweiten Weltkrieg bot die Integration in die westliche Staatengemeinschaft (EWG und NATO) den Rahmen, innerhalb dessen sich die Hinwendung zur
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tinuität der Bundesrepublik im Verlauf der deutschen Geschichte65 deutlich herauszuarbeiten. Nur vor diesem Hintergrund lassen sich auch die scharfen Angriffe gegen die Neutralisten nach 1945 verstehen. Sie galten gewissermaßen als „personalisierter deutscher Sonderweg". Sie zu bekämpfen diente somit der Bundesrepublik dazu, sich gegen diese Negativfolie abzugrenzen. Kurt Sontheimer hat einmal gesagt: „Man bricht dem deutschen politischen Bewußtsein nach 1945 das Rückgrat, wenn man die Sonderwegsthese eliminiert." 66 Sie wurde - und als ein Teil von ihr der Nationalneutralismus - zur Abgrenzung vom neuen liberalen Selbstbewußtsein benötigt. Die mitnichten von vornherein zu erwartende Erfolglosigkeit der Nationalneutralisten, die viel stärker als Adenauer und seine Erben in der Tradition der deutschen Geschichte standen, bestätigt Hans-Peter Schwarz' These, daß die „eigentliche Zäsur in der neuesten Geschichte Deutschlands und Europas [...] die Geschichte der Bundesrepublik selbst" 67 sei. Zwei Weltkriege, das Dritte Reich als Übersteigerung des deutschen Nationalismus, die verhängnisvolle Politik des Nationalsozialismus, soziale Umwälzungen, die neue Weltsituation des Kalten Krieges hatten den Boden für die Westbindung der Bundesrepublik bereitet und damit für eine Politik, die in der Weimarer Republik nur von Außenseitern vertreten worden war. 68 Daß sich kein Revisionismus wie nach dem Versailler Frieden herausbildete, war keineswegs selbstverständlich, denn „außenpolitische Kompatibilität und innenpolitischer Konsens" waren, wie Christian Hacke zu Recht betont, „für die alte Bundesrepublik von besonders komplexer Problematik, weil in dem geteilten Land ein permanenter geistiger Spannungszustand zwischen Staatsräson nach Westen und nationalem Interesse, das nach Osten drängt, ausgependelt werden mußte". 69 Doch hielt sich der Streit in Grenzen, und es entwickelten sich die Verfechter eines außenpolitischen dritten Weges rascher als anzunehmen war - in
parlamentarischen Demokratie und zu liberalen Werten erst vollziehen konnte. Diesen Zusammenhang betont nachdrücklich Schildt (Anm. 41), S. 211-214, 231-234; vgl. auch Faulenbach (Anm. 18). 65 Vgl. Lothar Gall, Die Bundesrepublik in der Kontinuität der deutschen Geschichte, in: Historische Zeitschrift 239 (1984), S. 603-613. 66 Kurt Sontheimer, in: Deutscher Sonderweg - Mythos oder Realität? Kolloquien des Instituts für Zeitgeschichte, München-Wien 1982, S. 32. 67 Hans-Peter Schwarz, Segmentäre Zäsuren 1949-1989. Eine Außenpolitik ohne gleitende Übergänge, in: Martin Broszat (Hrsg.), Zäsuren nach 1945. Essays zur Periodisierung der deutschen Nachkriegsgeschichte, München 1990, S. 18; vgl. auch ders., Der Ort der Bundesrepublik in der deutschen Geschichte, Opladen 1996. 68 Vgl. Peter Gay, Die Republik der Außenseiter. Geist und Kultur in der Weimarer Zeit 1918 bis 1933,2. Aufl., Frankfurt am Main 1987. 69 Hacke (Anm. 26), S. 57.
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völliger Verkehrung der bisherigen Tradition - zu den neuen Außenseitern. Das war ihr Verhängnis, das ihre Bedeutung. 7. Ausblick Mit der Wiedervereinigung unter westlichem Vorzeichen wurde das Kapitel des Nationalneutralismus geschlossen. Gleichwohl weichen einige Unbeirrbare nicht von ihrer Überzeugung ab, daß ein vom - nach der Auflösung des Warschauer Paktes im Juli 1991 - einzig verbliebenen Verteidigungsbündnis unabhängiges Deutschland zu bevorzugen sei. Wolfgang Venohr zum Beispiel trat im Jahr 1991 für die Entfernung der NATO aus Europa bis spätestens 1999 ein. Er wünschte sich die „Wiederherstellung der historischen 'Pentarchie' Europas", die auf der „Zusammenarbeit der fünf europäischen VerantwortungsGroßmächte" Deutschland, Frankreich, Italien, Großbritannien und „Großrußland" beruhen sollte. 70 Ebenso propagierten nach 1990 auch rechtsextreme und nationalrevolutionäre Kräfte das Ausscheiden Deutschlands aus der NATO. Die NPD geißelte EG/EU und NATO 1993 als „Instrumente der internationalen Disziplinierung und Fremdbestimmung der Deutschen".71 Besonders lautstark wetterte Rolf Stolz, 1990 bis 1998 stellvertretender Vorsitzender des von Alfred Mechtersheimer geleiteten Friedenskomitees 2000, noch im Jahr 1997 gegen die Einbindung Deutschlands in europäische und atlantische Strukturen. Analog zum „Versailler Diktat" kritisierte er das „Diktat der Zwei-plus-vier-Verträge" von 1990, „die Deutschland auf unabsehbare Zeit den amerikanischen Besatzungstruppen und anderen Okkupanten ausliefern und es an den amerikanisch dominierten NATO-Block ketten sollen". 72 Gegenüber dem Status der deutschen Teilung habe sich der Zustand nochmals verschlechtert. Stolz diffamierte die politische Ordnung der Bundesrepublik und die europäische Integration: Heute sei „das staatlich vereinigte Restdeutschland von seinen eigenen Herrschern, von einer Allparteienkoalition aus Landesverrätern und Polit-Profiteuren, zur Liquidation zugunsten der schon bei ihrer Gründung bankrotten Brüsseler Schwindelfirma 'EUROPA AG' freigegeben. In ihrem grenzenlosen Haß gegen das deutsche Volk, gegen seine Geschichte, seine Kultur und seine Sprache", trieb Stolz seinen Wortfeldzug auf die Spitze, „streben diese Leute ein freiwilliges Super-Versailles an, die Endlösung für die deutsche Nation, die Auslöschung Deutschlands durch Beseitigung der teils durch 70
Wolfgang Venohr, Europa braucht eine neue Statur, in: Junge Freiheit vom April 1991, S. 7. Zitiert nach: Verfassungsschutzbericht 1993, hrsg. vom Bundesminister des Innern, Bonn 1994, S. 132. 72 Rolf Stolz, 1967 bis heute: Blicke zurück auf einige Bewegungen, in: Claus-M. Wolfschlag (Hrsg.), Bye-Bye '68... Renegaten der Linken, APO-Abweichler und allerlei Querdenker berichten, Graz-Stuttgart 1998, S. 217. 71
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Zuwanderer ersetzten, teils zu mulitkulturellen und multifunktionalen EuroZombies umfunktionierten Ex-Deutschen."73 In ihrer Radikalität befinden sich Venohr, Stolz und wenige andere jedoch auf einsamem Posten. Eine vom Verfasser durchgeführte Befragung unter verschiedenen Nationalneutralisten der achtziger Jahre zu den Themen der Westbindung und Neutralität ergab insgesamt ein Abrücken von den alten Vorstellungen nach dem Vollzug der deutschen Einheit. 74 Die Befragten beurteilten die außenpolitische Westbindung grundsätzlich positiv, solange damit eine Öffnung nach Osten, insbesondere nach Ostmitteleuropa, verbunden sei. Einen gesellschaftspolitischen dritten Weg formulierte niemand unter ihnen. Das Thema des nationalen Neutralismus im engeren Sinne über das Jahr 1990 hinaus fortzuschreiben, erscheint mithin als eine wenig fruchtbare Aufgabe. Das dahinter stehende weitere Problem, das Spannungsfeld von Integration und Nation, bleibt indes ein wichtiges Thema bei der Positionierung der deutschen Außenpolitik nach der Wiedervereinigung. Der „latente Konflikt um die Alternative 'Primat der Nation oder Primat der Westintegration', der sich bis 1990 in der Auseinandersetzung zwischen strikten Anhängern der Westbindung einerseits und 'Neutralisten' andererseits manifestierte", werde fortexistieren, „wenngleich sich die Themen, an denen er sich entzünden wird, nach der Wiedervereinigung verändert haben". 75 Dies schrieb der Berliner Zeithistoriker Rainer Zitelmann in dem von ihm im Jahr 1993 mitherausgegebenen Sammelband „Westbindung", der Chancen und Risiken dieser Maxime ausloten wollte. Das Kompendium deutete in manchem seiner Beiträge an, welche neuen Themen gemeint waren: in erster Linie die Diskussion um die Maastrichter Verträge und die Europäische Politische Union. Die Herausgeber warnten vor der Schaffung eines europäischen Bundesstaates als einer „Utopie einer Totalwestintegration" 76 . Gleichzeitig ließen sie eine skeptische Haltung gegenüber der NATO durchblicken und ihre Hoffnung auf eine Renaissance des geopolitischen Denkens.77
73 74 75
Ebd. Zum Fragebogen und zu den einzelnen Antworten vgl. den Ausblick, in: Gallus (Anm. 19). Rainer Zitelmann, Neutralitätsbestrebungen und Westbindung, in: Zitelmann (Anm. 10), S.
189. 76
Michael Großheim/Karlheinz Weißmann/Rainer Zitelmann, Einleitung, Wir Deutschen und der Westen, in: Ebd., S. 15. Großheim trat während der achtziger Jahre innerhalb der Kieler Grünen für einen nationalneutralistischen Kurs ein. 77 Vgl. Karl-Eckhard Hahn, Westbindung und Interessenlage. Über die Renaissance der Geopolitik, in: Heimo Schwilk/Ulrich Schacht (Hrsg.), Die selbstbewußte Nation. „Anschwellender Bocksgesang" und weitere Beiträge zu einer deutschen Debatte, Berlin-Frankfurt am Main 1994, S. 327-344.
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Auch der „Architekt der Ostpolitik" Egon Bahr ist weiterhin ein Kritiker der Pax Americana. In seiner Streitschrift „Deutsche Interessen" macht er kein Geheimnis aus seinem Wunsch, ein sicherheitspolitisch eigenständiges Europa zwischen den Vereinigten Staaten und Rußland zu schaffen. Dabei liegt ihm von seinem sicherheitspolitischen Standpunkt aus der Osten näher als die atlantische Weltmacht; schließlich sei die „geopolitische Realität [...] unverändert: Der Raum zwischen Lissabon und Wladiwostok muß als Einheit betrachtet werden, soweit es um Sicherheit geht." Die USA sollten so rasch als möglich aus Europa verbannt werden, denn, so heißt es, Europa benötige „Amerika nicht mehr zu seinem Schutz vor einem Gegner, den es nicht mehr gibt". Die NATO sei als „Kind des Kalten Krieges", als Zweckbündnis von den Ereignissen überholt worden. „Sie sollte die alte Bundesrepublik schützen, bis die Einheit erlangt sein würde. Für uns hat das Bündnis erreicht, wozu es gebraucht und gedacht war." Sobald sich aus dem OSZE-Prozeß eine tragfähige europäische Sicherheitsstruktur am Himmel abzuzeichnen beginne, müsse das Ende der NATO in Europa eingeläutet werden. 78 In neogaullistisch-neutralistischer Manier weist Bahr damit auf die auch von anderer Seite (und mit anderer Intention) beklagte außenpolitische Orientierungslosigkeit der Deutschen hin. 79 Die skeptische Haltung gegenüber dem deutschen Nationalstaat und der Definierung nationaler Interessen, das fehlende Verständnis des Zusammenhangs von Verantwortung und Machtpolitik, das alles sei eine schwere Hypothek für die deutsche Außenpolitik nach der Einheit. 80 Deutschland hat den antiwestlichen Sonderweg des Deutschen Reiches zwar erfolgreich überwunden, dafür aber noch mit dem antinationalen der alten Bundesrepublik zu kämpfen. Nach Christian Hacke ist der „Verweis auf die große außenpolitische Tradition der Bundesrepublik [...] zwar lobenswert und richtig", doch sei dies allein nicht mehr ausreichend und werde es zwingend, Traditionslinien neu zu bewerten. 81
78
Egon Bahr, Deutsche Interessen. Streitschrift zu Macht, Sicherheit und Außenpolitik, München 1998, S. 43, 49, 70, 103. 79 Vgl. Hans-Peter Schwarz, Die Zentralmacht Europas. Deutschlands Rückkehr auf die Weltbühne, Berlin 1994; Arnulf Baring (Hrsg.), Germany's New Position in Europe. Problems and Perspectives, Oxford 1994; Karl Kaiser/Hanns W. Maull (Hrsg.), Deutschlands neue Außenpolitik, Band 1: Grundlagen, 2. Aufl., München 1995; Gottfried Niedhart: Deutsche Außenpolitik: Vom Teilstaat mit begrenzter Souveränität zum postmodernen Nationalstaat, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 1-2/1997, S. 15-23. 80 Vgl. Gregor Schöllgen, Angst vor der Macht. Die Deutschen und ihre Außenpolitik, BerlinFrankfurt am Main 1992. 81
Hacke (Anm. 26), S. 537.
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Setzt nun der Streit um die Traditionen ein, 82 der nach 1945 gar nicht erst richtig ausbrach, weil die Besatzungsmächte, besonders aber Konrad Adenauer ihn nicht zuließen? Es stellt sich die Frage, ob diese Debatte, nachdem das wiedervereinigte Deutschland seine volle Souveränität erlangt hat, nachgeholt oder neu entfacht wird. Ob neutralistische Ideen im weitesten Sinne bei der Neudefinierung der deutschen Außenpolitik, der nationalen Interessen von Nutzen sein werden, ist stark zu bezweifeln, noch mehr, daß sie nun zur Anwendung kämen. Denn bei nüchterner Betrachtung ist Deutschland eben nicht einfach in die klassische Mitteleuropalage zurückgekehrt, weil es sich selbst und seine westlichen, zunehmend auch seine unmittelbaren östlichen Nachbarn inzwischen zu „postklassischen" Nationalstaaten83 entwickelt haben, die sich von der klassischen souveränen Form darin unterscheiden, daß sie fest in supranationale Organisationen eingebunden sind. Trotz dieser beruhigenden Gegebenheiten wäre eine Diskussion über die außenpolitischen Grundlagen der „Berliner Republik" zu wünschen, nicht zuletzt als Vergewisserung darüber, ob und weshalb von der „Normalität der deutschen Außergewöhnlichkeit" (Norman Rieh) nicht mehr die Rede sein kann.
82
Vgl. den „klassischen" Aufsatz von Waldemar Besson, Der Streit der Traditionen, in: Karl Kaiser/Roger Morgan (Hrsg.), Strukturwandlungen der Außenpolitik in Großbritannien und der Bundesrepublik, München 1970, S. 94-109. 83
Vgl. Heinrich August Winkler, Abschied von den Sonderwegen. Die Deutschen vor und nach der Wiedervereinigung, in: Ders., Streitfragen der deutschen Geschichte. Essays zum 19. und 20. Jahrhundert, München 1997, S. 123-147.
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MENTALITÄTSWANDEL DES GRUNDGESETZES 1949: 1933, 1919, 1999 /. Einleitung Das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland ist am 23. Mai 1949 in Kraft getreten. Obgleich gemäß der inzwischen wohl durchaus herrschenden Fortbestandstheorie das Deutsche Reich des Jahres 1871 nie untergegangen ist, vielmehr in der Bundesrepublik Deutschland fortlebt, gab es vor dem 23. Mai 1949 keine noch gültige, gelebte, effektive Verfassung für Deutschland. Die Vorgängerin des Grundgesetzes war die Weimarer Verfassung vom 12. August 1919, deren amtliche Bezeichnung „Die Verfassung des Deutschen Reiches" lautet. Nach Hitlers Machtantritt am 30. Januar 1933 wurde sie rasch obsolet, ohne ausdrückliche Aufhebung und ohne Ersatz durch eine neue. Die Weimarer Verfassung trat an die Stelle der Reichsverfassung des Jahres 1871, mit der das Kaiserreich gegründet und konstitutionalisiert worden war. Sie galt bis Ende 1918, bis zur Abdankung des Kaisers und seiner Flucht in die Niederlande, also 47 Jahre. Die Weimarer Verfassung brachte es auf nur 14 Jahre. Das „Tausendjährige Reich" zerfiel bereits nach 12 Jahren. Im Leben des Staates, der 1871 gegründet wurde und den wir der Einfachheit halber Deutschland nennen, war also die Ära „Bundesrepublik Deutschland" die längste, hat das Grundgesetz alle seine Vorgängerinnen an Alter bereits jetzt übertroffen. Es ist gegenwärtig nicht angefochten, so daß ihm - was die Gültigkeitsdauer anlangt - ein besonderer Platz in der deutschen Geschichte sicher ist. Vor genau 50 Jahren, als der Parlamentarische Rat in Bonn das Grundgesetz erarbeitete, hingen schwere Wolken am politischen Himmel. Die deutsche Hauptstadt Berlin durfte weder ganz noch mit ihren Westsektoren Hauptstadt jenes Deutschlands sein, das sich räumlich auf die Trizone beschränken mußte. Die großen politischen Fragen jener Tage lauteten: Wird Westberlin dem Blokkadedruck der Sowjetunion standhalten oder eine weitere Beute Stalins werden? Wird es je zur Wiedervereinigung Deutschlands in Frieden und Freiheit kommen, oder wird auch Westdeutschland von Stalin kassiert, in ein Protektorat wie Polen, Ungarn, die Tschechoslowakei umgewandelt? Nicht der Drang, sprachschöpferisch tätig zu werden, war ursächlich dafür, daß die neue Verfassung den Namen „Grundgesetz" erhielt. „Grundgesetz" 5 Jesse/Löw
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sollte bewußt machen, daß unter den obwaltenden Umständen wichtige Voraussetzungen für das Tätigwerden einer verfassunggebenden Versammlung noch nicht vorlagen. Die Bonner Republik trug somit den Stempel des Provisoriums und hat dennoch, wie erwähnt, aus den verschiedensten Gründen eine überlegene Beständigkeit bewiesen. Im folgenden soll untersucht werden, ob und wie sich der Geist der Verfassung in den letzten 80 Jahren gewandelt hat. Als Ausgangspunkt wird das Inkrafttreten des Grundgesetzes vor 50 Jahren gewählt, unbestritten ein Neubeginn. Daher werden zunächst diese Neuerungen herausgestellt (2.). Wenn das Grundgesetz die „Verfassung des Dritten Reiches" in den wesentlichen Punkten negiert, liegt die Annahme nahe, das Grundgesetz habe die Weimarer Gegebenheiten restauriert (3.). Das Grundgesetz gilt, trotz zahlreicher Änderungen, auch heute noch. Ist der „Geist" derselbe geblieben (4.)? 2. Das Grundgesetz als Antiverfassung
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Wohin man Ende 1948, Anfang 1949 in Deutschland blickte, fast überall waren die Spuren des vor drei Jahren zu Ende gegangenen infernalischen Krieges zu entdecken: Millionen Krüppel, Millionen Flüchtlinge. Die Städte weitgehend zerstört, die meisten großen Brücken gesprengt. In den hageren Gesichtern der Mitglieder des Parlamentarischen Rates spiegelten sich die Nachwirkungen des überstandenen Unheils. Die meisten von ihnen waren Verfolgte des NSRegimes, die einen mehr, die anderen weniger. Sie waren sich einig in ihrem Urteil, daß die NS-Herrschaft das dunkelste Kapitel in der eintausendjährigen deutschen Geschichte bilde. Nichts von dem, was in den zwölf Jahren HitlerHerrschaft auf rechtspolitischem Gebiet geschaffen oder verändert wurde, verdiene es, konserviert zu werden, den Neuanfang zu überdauern. Die Verfassung des Dritten Reiches, wenn man überhaupt von einer solchen sprechen kann - im unspezifischen Sinne hat jede juristische Person eine Verfassung -, bestand aus einer Reihe von Gesetzen und Verordnungen. Chronologisch geordnet sind die wichtigsten: 1.
Die „Verordnung zum Schutz von Volk und Staat" vom 28. Februar 1933 (Reichstagsbrandverordnung). Durch sie wurden alle wichtigen Grundrechte suspendiert und ein permanenter Ausnahmezustand begründet.
2.
Das „Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich" (Ermächtigungsgesetz) vom 23. März 1933. Es gab der Reichsregierung die Befugnis, Reichsgesetze, auch solche verfassungsändernden Inhalts, ohne Mitwirkung des Reichstags zu erlassen.
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3.
Die Gleichschaltungsgesetze vom 31. März und 7. April 1933. Durch sie stellte Hitler die Gleichmäßigkeit der Staatsführung in Reich und Ländern sicher.
4.
Das NSDAP-Gesetz vom 14. Juli 1933. Parteipolitische Tätigkeit außerhalb der NSDAP wurde unter schwere Strafe gestellt. Alle anderen Parteien waren entweder schon verboten oder hatten sich selbst aufgelöst.
5.
Das Neuaufbaugesetz vom 30. Januar 1934. Es zerstörte die Eigenstaatlichkeit der Länder und verwandelte sie in Verwaltungsbezirke des Reiches.
6.
Das Staatsoberhauptgesetz vom 1. August 1934. Am 2. August verstarb Reichspräsident von Hindenburg. Das Gesetz sah vor, daß von nun an das Amt des Reichspräsidenten mit dem des Reichskanzlers vereinigt ist.
7.
Bemerkenswert schließlich ein „Gesetz des Großdeutschen Reichstags vom 26. April 1942". Schon der einleitende Satz verdient eine wörtliche Wiedergabe: „Der Großdeutsche Reichstag hat in seiner Sitzung vom 24. April 1942 [...], die vom Führer in seiner Rede in Anspruch genommenen Rechte einmütig durch nachfolgenden Beschluß bestätigt". Dann folgt ein „Führer"-Zitat, nämlich: „Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß der Führer in der gegenwärtigen Zeit des Krieges, in der das deutsche Volk in einem Kampf um Sein oder Nicht-Sein steht, das von ihm in Anspruch genommene Recht besitzen muß, alles zu tun, was zur Erringung des Sieges dient oder dazu beiträgt. Der Führer muß daher - ohne an bestehende Rechtsvorschriften gebunden zu sein - in seiner Eigenschaft als Führer der Nation, als Oberster Befehlshaber der Wehrmacht, als Regierungschef und oberster Inhaber der vollziehenden Gewalt, als oberster Gerichtsherr und als Führer der Partei jederzeit in der Lage sein, nötigenfalls jeden Deutschen [...] mit allen ihm geeignet erscheinenden Mitteln zur Erfüllung seiner Pflichten anzuhalten und bei Verletzung dieser Pflichten nach gewissenhafter Prüfung ohne Rücksicht auf sogenannte wohlerworbene Rechte mit der ihm gebührenden Sühne zu belegen [...]."
8.
Die Rechte, die sich „der Führer" selbst anmaßte, werden formal abgesegnet, wobei es noch, um das Faß der Absurditäten voll zu machen, abschließend heißt: „Im Auftrag des Führers wird dieser Beschluß hiermit verkündet."1
Ungeschriebene Verfassungsgrundsätze lauteten: Der Führer ist Amtsinhaber auf Lebenszeit. Er schuldet niemandem Rechenschaft, niemandem ist es erlaubt, ihn zu kritisieren.
1
5*
Reichsgesetzblatt Teil I, 27. April 1942, S. 247.
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Es ist eine Selbstverständlichkeit, daß das Grundgesetz alle diese Verfassungsgrundsätze des Dritten Reiches Punkt für Punkt entschieden negiert. Auch wenn der Bundeskanzler zugleich Mitglied des Bundestages sein kann, der Bundespräsident darf weder der Bundesregierung noch dem Parlament angehören. Entsprechendes gilt für die Richter, die sich im Fall ihrer Wahl in den Ruhestand versetzen lassen müssen. Das Amt des Bundespräsidenten endet nach fünf Jahren, das des Kanzlers und seiner Minister sowie aller Parlamentarier nach vier Jahren, das der Richter des Bundesverfassungsgerichts nach zwölf Jahren. Personalunionen sind also unter der Geltung des Grundgesetzes nur sehr beschränkt zulässig. Alle wichtigen politischen Ämter sind Ämter auf Zeit. Die Möglichkeit einer Wiederwahl ist unterschiedlich geregelt. Die Gesetzgebung ist Sache der fünf obersten Staatsorgane, insbesondere des Bundestages und des Bundesrates, nicht einer einzelnen Person. Der Verfassunggeber ist an Art. 79 GG gebunden und über dessen Absatz 3 an die in den Art. 1 und 20 niedergelegten Grundsätze, der Gesetzgeber an die Verfassung, alle anderen Staatsorgane an Gesetz und Recht, wie es in Art. 20 Abs. 3 ausdrücklich heißt. Verletzt der Bundespräsident seine Pflichten, so kann er vor dem Bundesverfassungsgericht angeklagt werden. Entsprechendes gilt für die anderen Staatsorgane, über deren verfassungskonformes Verhalten das Bundesverfassungsgericht wacht. Die Volksvertretung kann den Kanzler jederzeit durch ein konstruktives Mißtrauensvotum stürzen. Alle Staatsorgane sind ständig Gegenstand der Kritik in allen Massenmedien. Die föderalistische Ordnung ist einer der obersten Verfassungsgrundsätze. 3. Ein Neubeginn auch mit Blick auf Weimar Die 1919 in Weimar geschaffene politische Ordnung hat Hitler in allen wesentlichen Punkten negiert. Doch die Negation des NS-Systems durch das Grundgesetz hat nicht zur Wiederbelebung der Weimarer Verfassung geführt, wenn wir von Art. 140 GG absehen, demgemäß die Art. 136, 137, 138, 139 und 141 der Weimarer Verfassung Bestandteile des Grundgesetzes sind. Sie regeln das Verhältnis des Staates zu den Kirchen. Nicht nur der Parlamentarische Rat, sondern die gesamte demokratische Öffentlichkeit im In- und Ausland warf die Frage auf, wie es möglich war, daß die junge Republik so rasch in eine Diktatur abgleiten konnte. Welchen Anteil hatte daran der Verfassungstext und der Geist der Verfassung? Das Bundesverfassungsgericht nennt den Staat des Grundgesetzes eine „streitbare, wehrhafte Demokratie", gestaltet „aus der bitteren Erfahrung mit
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dem Schicksal der Weimarer Demokratie" 2 . Als die Weimarer Verfassung zur Verabschiedung anstand, waren die führenden Persönlichkeiten der ersten deutschen Republik der Ansicht, nun seien die Deutschen das „freieste Volk der Erde" 3 in der „demokratischsten Demokratie der Welt". 4 Knapp 14 Jahre später: Totale Unfreiheit in einer totalitären Monokratie. Eine der Hauptursachen war wohl der aus Wertneutralität geborene Relativismus. So antwortete der sozialdemokratische Reichsinnenminister David auf die Frage der monarchistischen Rechtsparteien nach ihrem Recht auf Umgestaltung: Die Verfassung „gibt ihnen die Möglichkeit, auf legalem Wege die Umgestaltung in ihrem Sinne zu erreichen, vorausgesetzt, daß sie die erforderliche Mehrheit des Volkes für ihre Anschauungen gewinnen. Damit entfällt jede Notwendigkeit politischer Gewaltmethoden [...] Die Bahn ist frei für jede gesetzlich-friedliche Entwicklung. Das ist der Hauptwert einer echten Demokratie." 5 Mit bemerkenswerter Offenheit hatte Adolf Hitler rechtzeitig seine revolutionären Absichten kundgetan, so als Zeuge vor dem Leipziger Reichsgericht (1930): „Die Verfassung schreibt nur den Boden des Kampfes vor, nicht aber das Ziel [...] Wir werden dann allerdings, wenn wir die verfassungsmäßigen Rechte besitzen, den Staat in die Form gießen, die wir als die richtige ansehen."6 Fünf Jahre später konnte Hitler triumphieren: „Ich habe die Demokratie durch ihren eigenen Wahnsinn besiegt! Uns aber kann kein Demokrat beseitigen. Wir haben die Voraussetzungen vernichtet für den Wiederbeginn eines solchen Spiels für die nächsten Jahrhunderte." 7 Aber jene, die aus den unheilschwangeren Ankündigungen wirksame Schlußfolgerungen ziehen wollten, fanden kein Gehör. Erst die leidvollen Erfahrungen führten zu mehrheitsfähigen neuen Einsichten. Dementsprechend äußerte der Abgeordnete Carlo Schmid (SPD) im Parlamentarischen Rat am 8. September 1948: Es solle sich künftig Jener nicht auf die Grundrechte berufen dürfen, der von ihnen Gebrauch machen will zum Kampf gegen die Demokratie und die freiheitliche Grundordnung". 8 Die vom Parlamentarischen Rat geschaffene wehrhafte Demokratie verbietet Vereinigungen, die sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung richten (Art. 9 2
BVerfGE 39, 368 f. So Reichstagspräsident Fehrenbach in seinem Schlußwort nach der dritten Lesung der Weimarer Verfassung. Nach Gothard Jasper, Der Schutz der Republik - Studien zur staatlichen Sicherung der Demokratie in der Weimarer Republik 1922 - 1930, Tübingen 1963, S. 10. 4 So Reichsinnenminister David in seinem Schlußwort nach der dritten Lesung der Weimarer Verfassung. Nach Jasper (Anm. 3), ebd. 5 Ebd. 6 Ebd. 7 Völkischer Beobachter 26. Februar 1935. 8 Parlamentarischer Rat, Stenographischer Bericht über die Plenarsitzungen, Bonn 1948/49, S. 56. 3
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Abs. 2), gestattet zum Schutze der freiheitlich-demokratischen Grundordnung die Einschränkung des Post- und Fernmeldegeheimnisses (Art. 10 Abs. 2), billigt die Einschränkung der Freizügigkeit zum Schutze der freiheitlichen demokratischen Grundordnung (Art. 11 Abs. 2), sieht die Verwirkung wichtiger Grundrechte vor, falls sie zum Kampf gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung mißbraucht werden (Art. 18), legalisiert unter engen Voraussetzungen ein Widerstandsrecht (Art. 20 Abs. 4), erklärt jene Parteien für verfassungswidrig, die darauf ausgehen, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen, (Art. 21 Abs. 2) und dergleichen mehr. Doch das essentiell Originäre steckt in der Präambel und in den ersten Artikeln. Der neue Geist begegnet uns schon in den Nachkriegsverfassungen der Länder, so insbesondere der Verfassung des Landes Württemberg-Baden vom 24. November 1946. Ihre Präambel hat folgenden Wortlaut: „In einer Zeit großer äußerer und innerer Not hat das Volk von Württemberg und Baden im Vertrauen auf Gott sich diese Verfassung gegeben als ein Bekenntnis zu der Würde und zu den ewigen Rechten des Menschen als einen Ausdruck des Willens zu Einheit, Gerechtigkeit, Frieden und Freiheit." Der erste Absatz des ersten Artikels knüpft an das Vorwort an: „Der Mensch ist berufen, in der ihn umgebenden Gemeinschaft seine Gaben in Freiheit und in der Erfüllung des ewigen Sittengesetzes zu seinem und der anderen Wohl zu entfalten." Diese Töne waren gänzlich neu. Begriffe wie „Gott", „Würde", „ewige Rechte des Menschen", „Sittengesetz" suchen wir in allen früheren Verfassungen Deutschlands, sowohl des Gesamtstaates als auch der Länder, vergebens. Ausgelöst wurden die Neuerungen durch die Barbarei des NS-Regimes, höchstwahrscheinlich aber auch durch jene kirchlichen Verlautbarungen, die schon während der NS-Ära die Ursachen dieser Exzesse aufzeigten und in Kreisen des Widerstandes von Hand zu Hand gingen. In seinem Osterhirtenbrief vom 26. März 1934 schrieb der Bischof von Münster: „Es greift die Fundamente der Religion und der gesamten Kultur an, wer den Gottesglauben in der Menschheit zersetzt und zerstört. Das tun aber jene, die von der Sittlichkeit erklären, sie gälte nur insoweit für ein Volk, als sie die Rasse fordere. Offensichtlich wird dadurch die Rasse über die Sittlichkeit gestellt. Was wird nun die Folge sein, wenn man das sittliche Naturgesetz, das alle Menschen ohne Unterschied der Rassen und Klassen verpflichtet, zerstört [...]: Anstelle der Sittengebote [...] tritt die brutale Gewalt, die jedes Recht mit Füßen tritt." 9 Als Gott im Verfassungstext respektvoll der Ehrenplatz eingeräumt wurde, mag manches Mitglied des Parlamentarischen Rates an Dostojewskis Aperçu gedacht haben, daß, wenn Gott nicht existiert, alles erlaubt sei. 9 Nach Joachim Kuropka, Frömmigkeit und Freiheit, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 22. März 1996, S. 14.
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Das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland setzte den neuen Verfassungsweg ohne Einschränkungen und Vorbehalte fort. „Im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen [...] hat sich das deutsche Volk kraft seiner verfassunggebenden Gewalt dieses Grundgesetz gegeben" - heißt es in der Präambel. Und Art. 1 Abs. 1 ergänzt: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt." Der zweite Absatz des ersten Artikels nennt eine der wichtigsten Konsequenzen: „Das deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten [...]." Art. 2 Abs. 1 verdient gleichfalls besondere Erwähnung, da das in ihm angesprochene Sittengesetz mit der Verpflichtung, die Menschenwürde zu achten und zu schützen, und mit dem Bekenntnis zu den Menschenrechten korrespondiert: „Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt." Dies alles beweist einen fundamentalen Mentalitätswandel des Grundgesetzes nicht nur gegenüber dem Geist des Dritten Reiches, sondern auch gegenüber der Weimarer Republik. 4. Der stille Verfassungswandel In den knapp 50 Jahren seit Inkrafttreten des Grundgesetzes gab es nicht weniger als 44 Gesetze zu seiner Änderung, im Schnitt also fast jährlich ein Änderungsgesetz. Wer daraus schlußfolgert, das Grundgesetz mit den ursprünglich 146 Artikeln sei zwischenzeitlich nahezu auf den Kopf gestellt worden, irrt. Die obersten Grundsätze blieben unberührt, mußten unberührt bleiben, wie es Art. 79 Abs. 3 festlegt: „Eine Änderung dieses Grundgesetzes, durch welche die Gliederung des Bundes in Länder, die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung oder die in den Artikeln 1 und 20 niedergelegten Grundsätze berührt werden, ist unzulässig." Der Satz von der Würde bildet nach wie vor die Grundlage der Verfassung, benennt ihre oberste Aufgabe. Auch das Bekenntnis zu den Menschenrechten war nie offen angefochten. Darüber hinaus beginnt das Grundgesetz nach wie vor mit der Advocatio dei, die mit dem Sittengesetz als Grenze der Handlungsfreiheit korrespondiert. So drängt sich die Schlußfolgerung auf, daß im Kern alles beim Alten geblieben sei. Doch wer so argumentiert, verkennt, daß es im Recht, auch im Verfassungsrecht, einen stillen Wandel geben kann und stets auch gibt. Der Richter des Bundesverfassungsgerichts Paul Kirchhof schildert die Grundlagen unserer vom Bundesverfassungsgericht gewarteten Ordnung geradezu idyllisch: „Das Grundgesetz verdeutlicht einen Kern unverrückbaren Rechts in ausdrücklichen Regelungen. Es beginnt mit der Gewährleistung der Menschenwürde, in der Wert und Würde zusammenklingen, nimmt sodann
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universale - also in der Kulturgemeinschaft aller Völker geltende - Menschenrechte auf, erklärt bestimmte Grundregeln zu unverbrüchlichem, selbst einer Verfassungsänderung nicht zugänglichem Recht und endet mit einer Vorschrift, die auch für eine etwaige Nachfolgeverfassung die Geltung von Freiheit und Demokratie voraussetzt. Diese Gebundenheit in gewachsener Rechtskultur öffnet richterliche Entscheide nicht der Subjektivität höchstpersönlichen Rechtsverständnisses, sondern verstetigt die Rechtsprechung und sichert ihre Unparteilichkeit. Gerade weil es nicht um die Interpretation von - stets mehrdeutigen - Wörtern geht, sondern um das Verstehen gewachsener Rechtsgedanken, ist die in ihren Wurzeln gebundene Rechtsprechung verläßlich und berechenbar. [...] Der Gesetzgeber hat das Recht zu erneuern, das Verfassungsgericht das Recht zu bewahren. Der Gesetzgeber ändert das Recht, das Gericht gewährleistet, daß dabei nicht die Bindung zu den Wurzeln verlorengeht." 10 Spricht Kirchhof nur für sich oder für die Mehrheit der Kollegen, gar für alle? Insofern werden von berufener Seite mit geradezu schrillen Tönen Zweifel angemeldet. In seinem Buch „ A m Ende der Demokratie - oder am Anfang?" bekundet der Kölner Staatsrechtler Josef Isensee seine Befürchtungen: „Das naive Vertrauen in den Richter, von dem bisher das Bundesverfassungsgericht hat zehren können, ist gestört. Jetzt wächst die Sensibilität für die Gefahren der Richtermacht, die weder dem Wählervolk noch einer staatlichen Instanz Rechenschaft schuldet. Richterwahlen können das Bild des Landes nachhaltiger verändern als Parlamentswahlen. Richtermacht ist nur erträglich, solange sie diszipliniert wird durch strikte Rechtsbindung, juristische Kompetenz, richterliches Amtsethos. Was aber, wenn durch einseitige Richterwahlen gerade nicht konstitutionell gesonnene Richter in das Amt gelangen? Wenn es künftig die Jakobiner in der Richterrobe sind, welche die Verfassung letztverbindlich interpretieren? Das Bundesverfassungsgericht als Wohlfahrtsausschuß." 11 Diese Befürchtungen Isensees werden genährt durch Äußerungen wie die folgende, die von einem ehemaligen richterlichen Verfassungshüter stammt: „Der Gesetzgeber ist der Verfassung unterworfen, und - das ist das Neue - seine Pflicht, die Verfassung zu beachten, ist lückenlos sanktioniert. Was aber ist die Verfassung? Darauf hat der Chief-Justice des US-Supreme Court, Charles Evans Hughes, die ebenso bündige wie richtige Antwort erteilt: The Constitution is what the judges say it is, oder - noch stärker zugespitzt - [...] The Supreme
10 Paul Kirchhof, Woran das Bundesverfassungsgericht gebunden ist, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 13. Mai 1995, S. 14. 11 Josef Isensee, Am Ende der Demokratie - oder am Anfang?, Berlin 1995, S. 47 f.
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Court is the Constitution. Damit ist, wie sich versteht, nicht eine Richterdiktatur beschrieben. Schon gar nicht wäre es zutreffend, daraus zu folgern, das Bundesverfassungsgericht sei ein oder verstünde sich als kollektiver Ersatzmonarch." 12 Nicht unerwähnt soll eine Bemerkung der Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts Jutta Limbach bleiben, die sie, wie es heißt, schmunzelnd machte: Verfassungen sollten „möglichst kurz und vage" sein, damit sie mit der Geschichte wachsen könnten.13 Tatsächlich werden aber die Ergänzungen immer länger - man denke nur an die Art. 12 a und 16 a GG -, offenbar weil der Verfassunggeber glaubt, nur auf diese Weise gegen die Interpretationsgefahren der Karlsruher Richter halbwegs abgesichert zu sein. Welche der eben zitierten divergierenden Betrachtungsweisen ist richtig? Hat sich das Gericht den Worten Kirchhofs gemäß als Bewahrer des Rechts bewährt, oder hat es einen weiteren Mentalitätswandel gerade dort herbeigeführt, wo 1949 die neue Mentalität ihren Ausdruck gefunden hatte? Während andere Teile der Präambel - so das Wiedervereinigungsgebot 14, die Eingliederung in die Völkerrechtsordnung der Staatengemeinschaft 15, das Bekenntnis zu einem vereinten Europa 16 - zur Stützung mehrerer hochbedeutsamer Entscheidungen herangezogen wurden, sahen die Richter offenbar nicht ein einziges Mal Veranlassung, den Gott, der uns am Beginn der Verfassung entgegentritt, in ihrer Rechtsprechung zu thematisieren. Dafür gibt es gute Gründe. Doch diese Gottvergessenheit hat in der Kruzifix-Entscheidung 17 eine Steigerung erfahren, die den Verfassungsboden verläßt. In seiner Abschiedsrede als Richter des Bundesverfassungsgerichts stellte der SPD-nahe Wolfgang Böckenförde fest: „[...] das Bundesverfassungsgericht - dies ist meine Überzeugung, die sich mir seit dem letzten Herbst aufgedrängt und, nicht zu meiner Freude, verfestigt hat -, das Bundesverfassungsgericht ist heute nicht mehr das, was es bis zum 10. August 1995 war." 18 An diesem Tag wurde der „Kruzifix-Beschluß" des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts veröffentlicht. Ernst Benda, Präsident dieses Gerichts von 1971 bis 1983, nennt den „Kruzifix-Beschluß"
12 Hans Klein, Eine verbindliche oder wohlklingende Verfassung?, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 14. April 1992, S. 9. 13 Nach Franziska Augstein, Dem Volk begegnet, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 25. September 1998, S. 41. 14
BVerfGE 5, 85; von da an in ständiger Rechtsprechung. BVerfGE 63, 370. 16 BVerfGE 73, 386. 17 BVerfGE 93, 1 ff. 18 Wolfgang Böckenförde, Dem Bundesverfassungsgericht droht der Kollaps, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 24. Mai 1996, S. 8. 15
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einen „schlimmen Mißgriff 4 . 1 9 Wohl jeder, der die Kruzifix-Stürmerei der Nationalsozialisten im Sommer 1941 erlebt hat, wird durch die Entscheidung des Gerichts: „Die Anbringung eines Kreuzes oder Kruzifixes in den Unterrichtsräumen einer staatlichen Pflichtschule [...] verstößt gegen Art. 4 Abs. 1 GG" an die Vorgänge von damals erinnert. Daß in Bayern Schulen in der Regel als christliche Gemeinschaftsschulen geführt werden, hat das Gericht nicht beanstandet. Das Kreuz ist das gemeinsame Symbol der christlichen Konfessionen, eine der Grundlagen der abendländischen Kultur. Die Menschwerdung Gottes, die das Kreuz dem Glaubenden verdeutlicht, liefert die beste Begründung für die Würde des Menschen. Der Satz von der Würde wird zwar häufig zur Urteilsbegründung seitens des Bundesverfassungsgerichts herangezogen, aber nicht mit jener Tragweite, die ihm kraft seiner Stellung an der Spitze der Verfassung, seines rechtsphilosophischen Gewichts und seines besonderen Schutzes durch die Ewigkeitsklausel zukommt. Manchen wir uns das Gesagte am Beispiel des Ehrenschutzes deutlich: Auf die massive öffentliche Kritik, die das Bundesverfassungsgericht in den letzten Jahren einstecken mußte, antwortete das Mitglied des Ersten Senats Dieter Grimm: „In einem System, das die Grundlagen seiner politischen und sozialen Ordnung in einer Verfassung niederlegt und zur Wahrung dieser Verfassung ein Verfassungsgericht einrichtet, ragen die politischen und gesellschaftlichen Konflikte unvermeidlich in die Verfassungsgerichtsbarkeit hinein. Anders als die Politik kann die Justiz ihnen aber nicht durch Nichtentscheidung ausweichen. Sie hat sie zu entscheiden [...] nicht nach den subjektiven Vorlieben der Richter oder den vermeintlichen Präferenzen in der Bevölkerung, sondern nach den Maßgaben der Verfassung. [...] Auf dem Spiel steht also nicht weniger als die Verbindlichkeit des Rechts. Diese ist aber die Grundlage staatlicher Herrschaft und politischer Gestaltung überhaupt, jedenfalls im Rechtsstaat."20 Wer wollte Grimm da widersprechen? Die Kritiker aber fragen, was zu tun sei, wenn das Gericht selbst ihre allgemeingültige Belehrung mißachtet, offenbar gegen Wortlaut und Geist der Verfassung verstößt. Art. 1 verpflichtet ausdrücklich alle Staatsgewalt, also auch die Gerichte, insbesondere den Hüter der Verfassung, das Bundesverfassungsgericht, die Würde des Menschen zu achten und zu schützen. Geschieht das wirklich, wenn gerade dieses Gericht alle Strafgerichte dazu zwingt, den Vorwurf „Mörder", adressiert an alle Soldaten, damit auch an jene, die uns 1945 befreit haben, auch an jene, die seit dieser Zeit unse19
Ernst Benda, Kritik ja - aber bitte im Detail, in: Rheinischer Merkur vom 25. August 1995,
S.3. 20
Dieter Grimm, Unter dem Gesetz, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 18. August 1995.
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re freiheitliche Ordnung geschützt haben, nicht strafrechtlich zu ahnden?21 Würde und Ehre hängen eng miteinander zusammen. Vielen Menschen war und ist ihre Ehre wertvoller als ihr Leben, das der Ehre wegen im Duell aufs Spiel gesetzt wurde. Das Grundgesetz hat die Meinungsfreiheit nicht an die Spitze des Grundrechtskatalogs gestellt, ihr vielmehr in Art. 5 Abs. 2 klare Grenzen gezogen, und zwar, um deren Bedeutung wegen, geradezu pleonastisch: Das Recht findet seine Schranken in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze, den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend und in dem Recht der persönlichen Ehre, bei Licht betrachtet ohnehin Bestandteil der allgemeinen Gesetze. Das Gericht setzt sich ständig über den klaren Wortlaut hinweg und hat den Ehrenschutz weitgehend abgeschafft. So sehen es alle Strafrichter, deren Entscheidungen durch das Bundesverfassungsgericht aufgehoben worden sind, und zahlreiche namhafte Rechtsgelehrte. Am Ende seiner Untersuchung „Ehrenschutz und Meinungsfreiheit" resümiert Martin Kriele, der Kölner Emeritus für Rechtsphilosophie: „Alle Gerechtigkeit beginnt mit der Wahrnehmung der Wirklichkeit. Zur Wirklichkeit gehört in diesem Zusammenhang das menschliche Schicksal der ehrlos Gemachten: ihr buchstäbliches Gekränktsein, ihre Vereinsamung, ihre Bitterkeit, ihre Ängste, ihre Verzweiflung, ihre Tränen, ihre durchwachten Nächte und Selbstmordgedanken. [...] Zur Wirklichkeit gehört der dadurch herbeigeführte Qualitätsverlust unserer Demokratie. Zu ihr gehören Gleichschaltung und Banalisierung des geistigen Lebens in der Bundesrepublik - alles Folgen der weitgehenden Abschaffung des Ehrenschutzes durch den Ersten Senat des Bundesverfassungsgerichts." 22 Für den Konstanzer Arbeitsrechtler Bernd Rüthers zeigen sich die Folgen dieser schleichenden Verfassungsänderung in vielen Lebensbereichen: „Der öffentliche Meinungskampf in Deutschland nimmt, vielleicht teilweise als Konsequenz dieser Rechtsprechung - nicht nur unter Politikern, sondern auch von hohen Funktionsträgern mancher Leitmedien und politischer Magazine praktiziert - bisweilen die Rüpelhaftigkeit von Catcher-Turnieren an. Gelegentlich wird jetzt das Bundesverfassungsgericht selbst in geschickt und bissig formulierten Vergleichsfiktionen mit seinen eigenen Beurteilungsmaßstäben konfrontiert". 23 Er denkt dabei vielleicht an Formulierungen wie „Mords-Richter" 24 , adressiert von einem bekannten Rechtsgelehrten an die rot gewandeten Hüter der Verfassung, nämlich von Rupert Scholz. Walter Schmitt Glaeser, Ordinarius für Staatsrecht in Bayreuth, stellt nüchtern fest: „Im politischen Bereich, zumal 21
BVerfGE 93, 266 ff. Martin Kriele, Ehrenschutz und Meinungsfreiheit, in: Neue Juristische Wochenschrift 47 (1994), S. 1905. 22
23 Bernd Rüthers, Sprache und Recht, in: Hanns-Martin-Schleyer-Stiftung (Hrsg.), Hanns Martin Schleyer Preis 1994/1995, Köln 1995, S. 63. 24
Rupert Scholz, Mords-Richter, in: Die Welt vom 21. Oktober 1989, S. 2.
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wenn es sich um eine Wahlkampfsituation handelt, findet Ehrenschutz nicht mehr statt. Besonders gilt dies für politische Führungskräfte." 25 Wenn Verfassungsrichter Grimm demgegenüber auf die besondere Bedeutung der Meinungsfreiheit hinweist, die ihren Sinn nicht allein aus der Sicherung einer staatsfreien Privatsphäre ziehe, sondern zugleich Voraussetzung einer demokratischen Staatsordnung sei 26 , so wird ihm im Grundsätzlichen niemand widersprechen. Doch diese Grundsätze können es nie und nimmer rechtfertigen, daß jene, die ihre staatsbürgerliche Pflicht erfüllen, mit dem denkbar härtesten Unwerturteil beschimpft werden, eben als Mörder. Dieser Vorwurf trifft nicht nur sie, sondern auch ihre Angehörigen, die für die Wehrpflicht verantwortlichen Politiker, letztlich unseren Staat selbst, der demnach zum Morden anstiftet, Mord befiehlt, als Mörder abqualifiziert werden kann. Was die „Menschenrechte" des Art. 1 Abs. 2 anlangt, so wird man in den Entscheidungen des Obersten Verfassungsgerichts kaum fündig. Eine Ausnahme bildet die Meinungsfreiheit, die in ständiger Rechtsprechung als Menschenrecht ausgegeben wird. 27 Auch mit Blick auf das Erziehungsrecht der Eltern ist davon gelegentlich die Rede.28 Diese spärliche Ausbeute wäre unzulänglich skizziert, würde der Hinweis auf eine der neueren Entscheidungen fehlen. Die Beschwerdeführer waren Mitglieder des Nationalen Verteidigungsrates der DDR, vom Landgericht Berlin wegen der Tötung von Flüchtenden verurteilt. Zu ihrer Verteidigung beriefen sie sich auf den Staatswillen der DDR als Rechtfertigungsgrund. Als letzte Instanz angegangen, besann sich das Bundesverfassungsgericht der Menschenrechte: „Diese besondere Vertrauensgrundlage [des Bürgers] gegenüber einem rechtsstaatlich verfaßten Gemeinwesen entfällt, wenn der andere Staat für den Bereich schwersten kriminellen Unrechts zwar Straftatbestände normiert, aber die Strafbarkeit gleichwohl durch Rechtfertigungsgründe für Teilbereiche ausgeschlossen hatte, indem er über die geschriebenen Normen hinaus zu solchem Unrecht aufforderte, es begünstigte und so die in der Völkerrechtsgemeinschaft allgemein anerkannten Menschenrechte in schwerwiegender Weise mißachtete. In dieser ganz besonderen Situation untersagt das Gebot materieller Gerechtigkeit, das auch die Achtung der völkerrechtlich anerkannten Menschenrechte aufnimmt, die Anwendung eines solchen Rechtfertigungsgrundes." 29 Freilich, treffender wäre die Formulierung, daß hier gar kein Rechtfertigungsgrund gegeben sei.
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Walter Schmitt Glaeser, Private Gewalt im politischen Meinungskampf, Berlin 1992, S. 112. Dieter Grimm, Die Meinungsfreiheit in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, in: Neue Juristische Wochenschrift 48 (1995), S. 1698. 27 BVerfGE 5, 205; 7, 208; 12, 74 usw. 28 BVerfGE 74, 124. 29 BVerfGE 95, 133. 26
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Bleibt schließlich noch das Sittengesetz als Gegenstand der Betrachtung. Wir haben gehört, warum es Eingang ins Grundgesetz gefunden hat. Manch namhafte Verfassungsinterpreten sind der Auffassung, „das in dem schweren Ausdruck 'Sittengesetz' liegende Pathos des Grundgesetzes" sei „auf die ethische Normallinie zurückzuschrauben" 30, „von jeder Transzendenz freizuhalten". 31 Diese Auslegung verwirft das Verständnis des Sittengesetzes als eines vorgegebenen ewigen Gesetzes und nähert sich jener Betrachtungsweise, wonach „Sittengesetz" als zeit- und anschauungsbedingtes Gesetz, als Inbegriff der kraft Tradition, sozialer Anerkennung und tatsächlicher Befolgung geltenden sittlichen Normen, zu deuten sei. 32 Der Intention des Parlamentarischen Rates, der das Grundgesetz erarbeitet hat, wird diese Auslegung nicht gerecht. Als Bedenken gegen die Aufnahme des Sittengesetzes in den Verfassungstext geäußert wurden, entgegnete der Abgeordnete v. Mangoldt (CDU): „In den Rechtsnormen selbst könne ihr sittlicher Gehalt nur selten richtig zum Ausdruck gebracht werden, und da bei einem Hinweis auf die verfassungsmäßige Ordnung einer positivistischen Auslegung Vorschub geleistet würde, sei ohne Hinweis auf das 'ethische Grundgesetz' nicht auszukommen."33 Offenbar hat er damit überzeugt. Maßgebend für die Tätigkeit des Bundesverfassungsgerichts ist das Grundgesetz mit seinen 146 Artikeln nebst Ergänzungen. Allein die wichtigeren Entscheidungen füllen bereits 95 Bände. So kommt es, daß einzelne Artikel immer wieder einen Urteilsspruch stützen, z.B. Art. 103 Abs. 1 GG, wonach jedermann Anspruch auf rechtliches Gehör hat. Es gibt kaum einen Band, in dem nicht die Verweigerung des rechtlichen Gehörs geprüft wird. Auch Art. 2 Abs. 1, wonach jeder ein Recht auf die freie Entfaltung der Persönlichkeit hat, findet in der Rechtsprechung des Gerichts häufig Beachtung. Umso mehr muß es überraschen, daß von der Schranke dieses Rechts, dem Sittengesetz, so gut wie nicht die Rede ist. Nur ein einziges Mal, im 6. Band, in einer Entscheidung, die vor 40 Jahren gefällt wurde, spielt das Sittengesetz eine Rolle. 34 Von da ab bleibt diese grundgesetzliche Limitierung freier Betätigung unbeachtet, wird geradezu beiseite geschoben, ja zum Laufsteg umfunktioniert, indem das Gericht den „ethischen Standard" des Grundgesetzes deutet als „Offenheit gegenüber dem Pluralismus weltanschaulich-religiöser Anschauungen angesichts eines Menschenbildes, das von der Würde des Menschen und der freien Entfaltung der Persönlichkeit in Selbstbestimmung und Eigenverantwortung bestimmt ist" 35 . 30
So Dürig in Maunz/Dürig, Grundgesetzkommentar, Art. 2 Abs. 1 Rdnr. 16. Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, III 2, S. 356. 32 Siehe Günter Erbel, Das Sittengesetz als Schranke der Grundrechte, Berlin 1971, S. 31 ff. bzw. S. 50 ff. 33 v. Mangoldt/Klein/Starck, Das Bonner Grundgesetz, Bd. 1, Art. 2 Abs. 1 Rdnr. 25. 34 BVerfGE 6, 434 f. 35 BVerfGE 41,50. 31
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Die Worte „freie Entfaltung der Persönlichkeit" sind dem Art. 2 Abs. 1 entnommen; die dort genannten Schranken, insbesondere das „Sittengesetz", werden jedoch durch „Selbstbestimmung und Eigenverantwortung" ersetzt und so geradezu in ihr Gegenteil verkehrt. Andernfalls wäre, um nur ein Beispiel zu nennen, der Ehrenschutz besser gewährleistet. Das Ausblenden des heteronomen Sittengesetzes, seine Substitution durch autonome Selbstbestimmung kommt einer Verfassungsänderung gleich, zu der kaum der Verfassunggeber, sicherlich nicht das Gericht befugt ist. Entsprechendes gilt für „Eigenverantwortung" anstelle von „Verantwortung vor Gott und den Menschen". Hier wird doch die Verankerung gelöst, auf die es, wie eingangs betont, den Mitgliedern der verfassunggebenden Versammlungen der Nachkriegsära ganz besonders ankam und die im Grundgesetz an vorderster Stelle durch das Bekenntnis zu Gott, zur unantastbaren Menschenwürde, zu den unverletzlichen, unveräußerlichen Menschenrechten und eben auch zum Sittengesetz seinen Ausdruck gefunden hat. Dürfen die Richter, die einen feierlichen Eid auf die Verfassung geschworen haben, die Verankerung der Verfassung, die „Bindung zu den Wurzeln" (Kirchhof s.o.) durchtrennen, weil an ihr der Zweifel nagt? Daß sie damit dem Wertewandel in der Gesellschaft, dem Zeitgeist folgt, liegt auf der Hand. 36 Aber darf auf diese Weise das Kapital verspielt werden, das wir aus der Lehre der Geschichte gewonnen haben? Steht der Geist der ersten Stunde, der Wortlaut der Verfassung zur Disposition? Die Vergleiche haben gezeigt, daß sich das Grundgesetz als Antiverfassung gegenüber den Gegebenheiten während der NS-Diktatur bewährt hat. Doch das grundlegend Neue des Jahres 1949 wurde nicht ausgebaut, vielmehr insbesondere durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in wesentlichen Teilen zurückgenommen. Das gibt zu Besorgnis Anlaß. 5. Zusammenfassung Im Verlaufe der letzten 50 Jahre hat sich ein grundlegender Wandel vollzogen. Die Menschen, die unsere Verfassungen schufen, standen unter dem Eindruck der furchtbaren Kriegserlebnisse. Tränen und Trümmer hatten jede Hybris begraben. Skrupel und Zweifel wucherten. Die Mitglieder der verfassunggebenden Versammlungen besannen sich auf die alte Lehre, daß Menschen längst nicht alles dürfen, was sie können, auch wenn sie es in der Politik noch so weit gebracht haben. Nie wieder! - war gleichsam ihre Parole. Und sie taten ihr Möglichstes, um die gute Absicht in die Tat umzusetzen.
36 Siehe Olaf Winkel, Wertewandel und Politikwandel, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, B 52-53/96, S. 3 ff.
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Die Erfahrungen jener Generation sind nicht die Erfahrungen der nachfolgenden Generationen. So nimmt es nicht wunder, daß ein neuer Geist Einzug gehalten hat, der sich emanzipiert vom Vermächtnis der Alten, vom Sittengesetz, von den Vorkehrungen, die das Nie-Wieder gewährleisten sollten. Der Mensch ist aufs neue zum höchsten Wesen für den Menschen geworden. Dabei liefern uns die Massenmedien täglich aus allen Erdteilen Texte und Bilder ins Haus, die beweisen, daß Menschen aller Rassen und Nationen zu den blutigsten Exzessen fähig sind. Vor 100 Jahren durften die Deutschen glauben, der Rechtsstaat verhindere auf Dauer jegliche Barbarei. Was dann geschah, kam für alle völlig überraschend. Ein zweites Mal werden wir diesen Schuldminderungsgrund nicht zu unseren Gunsten geltend machen können. Wer auf dem Boden des Grundgesetzes steht, kann nicht gleichzeitig sein rechtsphilosophisches Fundament absprengen. Die folgenden Sätze des Verfassungsrichters Paul Kirchhof treffen voll ins Schwarze. Jeder, der sich dem Geist der ersten Stunden verpflichtet fühlt, muß täglich darum ringen, daß unsere Wirklichkeit ihren hehren Grundsätzen entspricht: „Die Verfassung ist das Gedächtnis dieser kulturgebundenen Demokratie. Sie enthält das Versprechen der Rechtsgemeinschaft, das politische Handeln nach den Einsichten überlieferter Werte, politischer Erfahrung und erprobter Rechtspraxis in einem rechtlichen Rahmen zu binden. [...] Das Grundgesetz verdeutlicht einen Kern unverrückbaren Rechts in ausdrücklichen Regelungen [...] Diese Gebundenheit des Verfassungsrechts in seinen kulturellen Wurzeln begründet auch die Autorität und die Bindung des Verfassungsgerichts. Dieses Gericht hat ein Verfassungsrecht zu wahren, das in der Kontinuität dieser Rechtsentwicklung steht." 37 Die Richter sind an den Eid zu erinnern, den sie bei Amtsantritt geschworen und mit dem sie versichert haben, daß sie „das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland getreulich wahren" werden. Das Grundgesetz verpflichtet sie nicht - trotz des Wortes „Gott" in der Präambel - zu einem religiösen Bekenntnis. Derlei wäre unvereinbar mit der Glaubensfreiheit. Aber es verpflichtet sie ganz offenbar, sich das Bekenntnis zu den Menschenrechten zu eigen zu machen. Das klingt wie eine Zumutung und mag auch von manchen als solche empfunden werden. Doch niemand ist gehalten, dieses hohe Amt anzunehmen. Wer es aber annimmt und sich gleichwohl von diesem Bekenntnis dispensiert, steht nicht auf dem Boden des Grundgesetzes, wonach, wie es ausdrücklich heißt, die Menschenrechte die „Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt" bilden. Das besonnene, aufrichtige Bekenntnis zu den, wie es heißt, „unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten" führt auch zur Bejahung des Sittengesetzes, dessen Befolgung die 37
Kirchhof (Anm. 10).
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Menschenrechte gewährleistet. Wer jedoch das Sittengesetz negiert, dem ist letztlich im Rahmen seines Vermögens alles erlaubt. So dachten und handelten insbesondere jene Männer, die die Annalen unseres zur Neige gehenden Jahrhunderts mit Blut beschrieben haben.
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DER FÖDERALISMUS IM WANDEL KONTINUITÄTSLINIEN UND REFORMBEDARF 1. Einleitung Der deutsche Föderalismus mobilisiert heute mehr Aufmerksamkeit als je zuvor in seiner Nachkriegsgeschichte. Politiker aller Parteien, ja selbst Vertreter der Wirtschaft, schlagen eine breite Palette von Reformmaßnahmen vor. Einige der Vorschläge zielen auf eine Verringerung der Zahl der Länder, andere beschäftigen sich mit der Reform des Finanzausgleichs. Unzufriedenheit besteht auch hinsichtlich der gegenwärtigen Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern und nicht zuletzt im Hinblick auf die heutige und zukünftige Rolle der Länder in der europäischen Politik. Im Jahr 1998 mahnte sogar die OECD 1 eine Reform des deutschen Föderalismus an, damit die deutsche Wirtschaft endlich von den im Föderalismus prinzipiell möglichen Flexibilitätsvorteilen profitieren könne. Heißt das, daß eine Fundamentalreform des deutschen Föderalismus unweigerlich bevorsteht? Die Antwort ist Ja und Nein. Ja, weil die Krisenerscheinungen des deutschen Föderalismus eigentlich keinen Reformaufschub dulden, soll der Föderalismus nicht zu einem formalen Ornament der deutschen Verfasssung verkommen. Nein, weil die politische Durchsetzung einer weitgehenden Föderalismusreform an der Notwendigkeit verfassungsändernder Mehrheiten in Bundesrat und Bundestag scheitern dürfte. Eine solche vorzeitige Schlußfolgerung bedarf der Begründung. Im folgenden sollen deshalb die umstrittenen Merkmale des heutigen Föderalismus in ihrem historischen Enstehungsprozeß und im Hinblick auf ihre heutige Bedeutung genauer untersucht werden. Nach fünfzig Jahren ist zu erwarten, daß die ursprüngliche Gestalt des Föderalismus bei aller institutionellen Kontinuität einen die gesellschaftlichen Veränderungen reflektierenden Wandlungsprozeß durchlaufen hat. Es überrascht aber schon, wenn dem Föderalismus heute weitgehend unwidersprochen öffentlich nachgesagt werden kann, er sei „weithin degeneriert zu einem Pseudozentralismus zweiter Ebene".2 Ist diese These von 1 2
Vgl. OECD, Wirtschaftsberichte Deutschland, Paris 1998, S. 110. Robert Leicht, Stoiber hat recht, in: Die Zeit vom 5. Dezember 1997.
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der Anpassung des Föderalismus durch Selbstaufgabe zutreffend? Worauf gründen sich die Argumente der Föderalismuskritiker, und welche Reformideen wurden in der Nachkriegsgeschichte des deutschen Föderalismus entwickelt? Der erste zur Beantwortung dieser Fragen zu behandelnde Themenkomplex beschäftigt sich mit dem Wandel des Selbstverständnisses des deutschen Föderalismus. Es folgen Überlegungen zu dessen institutioneller Ausgestaltung, sowohl im Hinblick auf die Frage der Länderneugliederung sowie der Reform der Finanzverfassung als auch im Hinblick auf die Aufgabenverteilung zwischen Bund und Ländern und die Rolle des Bundesrates. Nicht vergessen werden darf, daß heute kein Aspekt deutscher Staatlichkeit mehr ohne seine europäische Dimension bzw. in Abgrenzung von dieser diskutiert werden kann. Dies gilt auch für den deutschen Föderalismus, wie zu zeigen sein wird, in hohem Maße. 2. Das Selbstverständnis
des deutschen Föderalismus im Wandel
Die Neugründung der Länder ging der Gründung der Bundesrepublik Deutschland voraus. Diese Tatsache, in Verbindung mit einer Reihe honoriger historischer Traditionslinien, vor allem aber die Wünsche und Absichten der westlichen Siegermächte schlossen 1949 für den zu gründenden Weststaat die Option einer unitarischen Staatsform aus. In Ostdeutschland überlebten die Länder den von der Sowjetunion unterstützten Zentralismus allerdings nur bis 1952. Dann mußten sie den 14 DDR-Bezirken weichen. 2.1 Dualer oder kooperativer Föderalismus? Der westdeutsche Föderalismus war von Beginn an ein „verwässerter" Föderalismus, so zumindest seine frühen 3, aber auch seine heutigen Kritiker. 4 „Verwässert" erscheint er diesen deshalb, weil sie ihn am Maßstab des dualen Föderalismus messen, der aber in Reinformat auch in der Schweiz und den USA eher ein historisches als ein Gegenwartsphänomen ist.5 Dualer Föderalismus meint mehr als nur eine klare Trennung von Kompetenzen zwischen der föderalen und der subnationalen Ebene und eine Vollausstattung mit unabhängigen Regierungsinstitutionen auf beiden Ebenen. Dualer Föderalismus bedeutet auch, daß in einem Staat die erste und wichtigste Loyalität des Bürgers seiner Gemeinde und seiner Region bzw. seinem Land/Kanton gilt. Dieser Glaube ist fester Be3
Vgl. Konrad Hesse, Der unitarische Bundesstaat, Karlsruhe 1962. Vgl. Heidrun Abromeit, Der verkappte Einheitsstaat, Opladen 1992. 5 Vgl. z.B. David B. Walker, The Advent of an Ambiguous Federalism and the Emergence of New Federalism III, in: Public Administration Review 56 (1996), S. 271-280. 4
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standteil der nationalen politischen Kultur. Ein so verfaßter Föderalismus „toleriert" nationale Interventionen in regionale Politik, aber er vertraut nicht auf sie, um regionale und soziale Entwicklung zu garantieren. In diesem Zusammenhang ist die Frage nach dem Grad der für den dualen Föderalismus notwendigen Vielfalt der Lebensbedingungen in den Ländern zweitrangig. Vielfalt ist die Regel und jede politische Initiative, die daran geht, diese zu reduzieren, bedarf der Rechtfertigung. Die Bundesrepublik hat nie versucht, einen solchen dualen Föderalismus zu verwirklichen, nicht zuletzt, weil ihr hierzu alle Voraussetzungen fehlten. Wie konnten 1949 kantonale Loyalitäten zur Grundlage des politischen Prozesses gemacht werden, wenn die meisten neuen Länder gerade mal Bindestrich-Identitäten hatten? Und wie sollten Bund und Länder getrennte Politik betreiben, wenn die Verfassung ein hohes Maß an Kooperation vorsah? In übertrieben funktionaler Sichtweise wurde die Verfassung gelegentlich sogar so interpretiert, daß der Bund vor allem für die Gesetzgebung und die Länder mit ihrem Verwaltungsapparat in erster Linie für die Ausführung der Gesetze da seien.6 Das war natürlich nicht einmal die halbe Wahrheit. Aber wo die Länder bei der Bundesgesetzgebung mitwirkten, wie im Bundesrat, verfolgte die institutionelle Ausrichtung das Ziel der Kooperation, nicht der Separation der nationalen und subnationalen Entscheidungsträger. Aber selbst da wo niemand die Länder zwingen konnte zu kooperieren, zogen diese die bürokratisch organisierte Nivellierung und die Kooperation, z.B. auf dem Wege der Selbstkoordinierung, dem Wettbewerb untereinander vor. Bereits 1948 entstand in diesem Geiste, z.B. die in der ZEIT als „Sumpfblüte des 'kooperativen Föderalismus',, 7 geschmähte Kultusministerkonferenz. Und heute gibt es über 1.000 Arbeitsgruppen, die Länderpolitiken oft bis ins kleinste Detail koordinieren. Wenn also weder der Schutz der Vielfalt der Länderpolitiken noch der Schutz der Eigenheiten regionaler Kultur das wichtigste Anliegen des Nachkriegsföderalismus war, was war dann seine Rolle? Die Antwort ist, zu helfen, die demokratische Ordnung zu sichern, die der Nationalsozialismus mit einer zentralistischen Diktatur beseitigt hatte. Die horizontale Gewaltenteilung sollte durch die mit dem Föderalismus mögliche vertikale Gewaltenteilung bestärkt und ergänzt werden. Der Föderalismus im Nachkriegsdeutschland wurde also nicht konzipiert als ein Prinzip der Organisation der Gesellschaft, sondern des Staates. Aus der Sicht des dualen Föderalismus gibt es zwei Probleme mit dieser Grundsatzentscheidung. Das eine ist, daß nicht der kantonalen Ebene Priorität bei der Föderalismusbegründung gegeben wird, sondern der demokratiesichern-
6 Vgl. Heinz Laufer/Ursula Münch, Das föderative System der Bundesrepublik Deutschland, 7. Aufl., München 1997, S. 103. 7 Leicht (Anm. 1).
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den Funktion des Föderalismus für die nationale Ebene. Das andere Problem ist, daß die Gefahr bestand, daß nach der festen Etablierung einer demokratischen Ordnung in Deutschland die demokratiesichernde Funktion der vertikalen Gewaltenteilung in Vergessenheit geraten könnte. Letzteres geschah tatsächlich. Diese Beobachtung ist keine Kritik. Wer sollte kritisieren, daß es gelang, die demokratische Ordnung in Deutschland auf eine verläßliche Basis zu stellen? Die Beobachtung hilft uns aber zu verstehen, wieso es der Großen Koalition Ende der sechziger Jahre so leicht fiel, den Föderalismus zentralstaatlich zu überwölben, um ihre wirtschafts- und sozialpolitischen Reformen keynesianischer Prägung durchzusetzen. Und bereits in den beiden Jahrzehnten zuvor regte sich kaum effizienter Widerstand gegen den Zugriff des Bundes auf die Gegenstände der konkurrierenden Gesetzgebung, den Art. 72 GG zur Herstellung der Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse bzw. zur Wahrung der Rechts- und Wirtschaftseinheit. Der Unterschied zwischen der Zeit vor und der Zeit nach der Großen Koalition ist vielleicht, daß zuvor die Unitarisierung des Föderalismus als quasi in der Natur der Sache liegende Gegebenheit hingenommen wurde, während die Große Koalition die Unitarisierung zur Tugend erhob. Daß aus diesem Geist auch von Länderpolitikern bis heute Politik gemacht wird, machte der ehemalige nordrhein-westfälische Ministerpräsident Johannes Rau in einer Rede zum „Föderalismus in der Berliner Republik" deutlich. Rau argumentierte: „Man schließt keinen Bund, um dann vor allem miteinander zu konkurrieren, sondern zunächst um in bestimmten Bereichen ein gewisses Maß an Gemeinsamkeit und Einheitlichkeit zu erreichen oder zu bewahren". 8 2.2 Die Krise der Politikverflechtung Mit den Verfassungsänderungen der späten sechziger Jahre und der sie begleitenden Gesetzgebung wurde die Politikverflechtung zur Regel in der deutschen Politik. Die Politikverflechtung machte aus dem Föderalismus einen Entscheidungsmodus: „In einem solchen System ist die Realisierung politischer Forderungen schwierig; sie erfordert ein hohes Maß an Hartnäckigkeit und an politischer, bürokratischer und taktischer Kompetenz, aber sie ist nicht von vornherein unmöglich. Hier werden politische Forderungen nicht abgewiesen; sie werden abgearbeitet". 9 Ins Rampenlicht rückten nun die politischen Akteure, die Exekutiven der Länder und des Bundes, die das Föderalismus-Spiel als Verhandlungsmodell nutzten. Das Publikum, die Wähler, sahen diesem Spiel
8 Johannes Rau, Wir sind keine Ländereien, die dem Bund gehören, in: Frankfurter Rundschau vom 23. Mai 1998. 9
Fritz W. Scharpf u.a., Politikverflechtung, Kronberg/Ts. 1976, S. 20.
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relativ ungerührt zu, denn es erfüllte ja den von der Politik vorgegebenen Zweck. Mit der Politikverflechtung konnten die Koordinierungsinstrumente geschaffen werden, die eine keynesianische Konjunktur- und Finanzpolitik erforderte. Der Keynesianismus verschob zudem das Augenmerk der Wähler auf individuelle Zugewinne, z.B. in der Sozialpolitik. Hier galt es die Gleichheit aller Bürger zu sichern, regionale Vielfalt erschien eher als eine obsolete Erscheinung, die es zu überwinden galt. Modernisierung wurde durch die Intervention des Zentralstaates garantiert, der im Notfall den einzelnen Ländern auf die Sprünge helfen sollte. Der Erfolg der Unitarisierung des deutschen Föderalismus wurde durch die politische Rolle erleichtert, die die Parteien in Deutschland spielen. Die deutschen Parteien sind zwar föderal in ihrem Aufbau, aber de facto eben nationale Parteien und keine regionalen Parteienbünde. Landesparteien definieren ihre politischen Programme nicht unabhängig von den nationalen Parteizentralen. Entsprechend leicht fällt es den Parteien, ihre Landesorganisationen bzw. die von ihnen gestellten Landesregierungen auf ihre Parteilinie einzuschwören. Folgerichtig wurden Landtagswahlen häufig als Bundestagswahlen im Kleinformat bzw. als Testwahlen für die Bundespolitik verstanden. Landesinteressen und Parteiinteressen sind schwer zu trennen. Wilhelm Hennis 10 hat eine Radikalkur zum Schutz der Länderinteressen vor den Parteien vorgeschlagen, nämlich den verfassungsmäßigen Zwang zu Allparteienkoalitionen in den Ländern. Praktische politische Bedeutung hat dieser aber nicht einmal nach der deutschen Einheit erlangt, die von Hennis zum Anlaß genommen wurde, seinen Vorschlag mit dem Ziel der Konservierung genuin ostdeutscher Interessenwahrnehmung zu wiederholen. Parteipolitische Gräben zwischen Bund und Ländern wurden effektiv nur von der Großen Koalition zeitweise eingeebnet, allerdings, wie erwähnt, gerade nicht mit positiven Folgen für die Vielfalt im Föderalismus. Man sollte auch die Tatsache nicht unterschätzen, daß die Politikverflechtung aus der Sicht der Länderexekutiven durchaus rational zu sein schien. Der Prozeß der politischen Zentralisierung im Rahmen der Politikverflechtung produzierte nicht nur Verlierer auf der Länderseite, sondern auch Gewinner. Verlierer waren eindeutig die Länderparlamente. Ihre Eigenverantwortlichkeit wurde eingeschränkt. Der baden-württembergische Wirtschaftsminister Walter Döring 11 sieht die Rolle der Landtage gar auf Landkreisqualität gesunken. Gewinner der 10 Vgl. Wilhelm Hennis, Die Chance einer ganz anderen Republik, in: Ders. (Hrsg.), Auf dem Weg in den Parteienstaat, Stuttgart 1998, S. 105. 11 Vgl. Walter Döring, Wie die Krise des Föderalismus überwunden werden kann, hrsg. vom Landesverband der FDP in Baden-Württemberg, Stuttgart 1998, S. 3.
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Politikverflechtung waren die Landesregierungen, die im Bundesrat der Entmachtung ihrer Landtage zustimmten. Was die Landtage an Autonomie verloren, gewannen die Landesregierungen als Beteiligungsrechte an der Bundesgesetzgebung hinzu. Die Politikverflechtung stärkte die Macht der politischen Exekutiven aller Regierungsebenen. Die wichtigsten Entscheidungen werden nun hinter den verschlossenen Türen ihrer Verhandlungsgremien von Beamten vorbereitet und oft auch getroffen. Hier gefundene politische Kompromisse haben eine Reihe von Vorteilen für politische Entscheidungsträger. Kritik kann auf diesem „Verschiebebahnhof für Verantwortung" 12 , wie Thomas Ellwein dies nannte, immer an andere Verhandlungspartner weiter verwiesen werden. Für erfolgreiche und populäre Politik ist aber plötzlich jeder Beteiligte die entscheidende Person gewesen. Parlamente sind mit dem Argument zu zähmen, daß Teilkritik an Kompromissen nicht möglich ist, denn sonst beschädige dies den fein ausgewogenen Interessenausgleich. Zeitraubende Neuverhandlungen mit ungewissem Ausgang wären die Folgen. Die Politikverflechtung wird nach Ansicht des Leiters der Hessischen Staatskanzlei, Hans Joachim Suchan, auch gefördert durch „die Präferenz der Landesministerialverwaltungen für die Mitwirkung der Länder an der Bundesgesetzgebung und gegen die Bewahrung autonomer Gesetzgebungsspielräume der Länder" 13 , die ihre Ursache im Entlastungsinteresse der Länderbürokraten hat. Föderaler Vielfalt entgegen wirkt nach Suchan auf der Ebene bürokratischen Entscheidens die Zusammenarbeit der Fachverwaltungen des Bundes und der Länder, denen es nicht plausibel erscheint, daß das, was in einem Land „sachangemessen" ist, in einem anderen plötzlich unangemessen sein soll. Die Frage ist legitim, ob diese Art der verhandelten Demokratie, die durch die Politikverflechtung gefördert wird, wirklich kritisch in Frage gestellt werden sollte. Verteidiger des Status quo haben argumentiert, daß die erforderlichen Konsensbildungsprozesse die adäquate Form des föderalen Interessenausgleichs in einer konsensorientierten Demokratie wie der deutschen seien. Ist es nicht so, daß gerade die Konfliktvermeidungsfähigkeit der deutschen Demokratie auch international Bewunderer fand? 14 Verteidiger des Status quo halten deshalb auch die Forderung nach mehr Wettbewerb und größerer Vielfalt im deutschen Föderalismus etwa nach ameri-
12
Thomas Ellwein/Jens Joachim Hesse, Das Regierungssystem der Bundesrepublik Deutschland, 6. Aufl., Opladen 1987, S. 88. 13 Hans Joachim Suchan, Warum der Bundesrat zu mächtig geworden ist, in: Frankfurter Rundschau vom 27. Juli 1998. 14
Vgl. Will Hutton, The State We're In, London 1996, S. 262 ff.
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kanischem oder Schweizer Vorbild für abwegig.15 Reformen sollten eher darauf zielen, die bestehenden Verhandlungssysteme zu optimieren. Der Status quo ist aus ihrer Sicht „als ein notwendiges Merkmal des deutschen Föderalismus zu interpretieren. [...] Dementsprechend gilt es insgesamt, die verschiedenen, strukturrelevanten Ausprägungen nicht gegeneinander auszuspielen. Im Rahmen eines zeitlichen Kontinuums treten aufgrund dynamischer politischer und institutioneller Prozesse und sich verschiebender Akteurskonstellationen bestimmte Ausprägungen besonders deutlich mit ins Zentrum von Entscheidungsprozessen. Insgesamt geht es darum, diese verschiedenen Ausprägungen, ihre Funktionen und ihre Wirkungsweise analytisch fruchtbar zu machen und sie zudem als politisch und institutionell notwendige und gewollte Formen auch des deutschen Föderalismus aufzufassen". 16 Das Problem der intelligenten Verteidigung des Status quo der Politikverflechtung ist aber, daß diese die Voraussetzungen des Erfolgs der Politikverflechtung nicht mitreflektiert. Dieser Erfolg hatte mindestens drei Voraussetzungen, die in den neunziger Jahren in fortschreitendem Maße an Bedeutung verloren haben. Es ist deshalb nicht erstaunlich, daß heute in den Augen vieler Beobachter und Politiker die Politikverflechtung keine Zukunft mehr hat. Die drei Voraussetzungen für den früheren Erfolg der Politikverflechtung waren: a)
wirtschaftlicher Erfolg. Nur der wirtschaftliche Erfolg konnte die Ressourcen zur Verfügung stellen, die die reibungslose Konsensbildung im System der Politikverflechtung ermöglichen. Ausreichende Ressourcen sind nötig, um an alle Verhandlungspartner Zugewinne verteilen zu können, auch wenn sich diese letztlich als Ergebnis des Verhandlungsprozesses ungleich verteilen mögen. Fehlen ausreichende Ressourcen wird aus dem Distributions- ein Redistributionsprozeß, der Gewinner und Verlierer hervorbringt. In dieser Situation ist für die reicheren Länder die Versuchung groß, sich von dem Verhandlungsprozeß loszusagen, weil sie viel weniger als die anderen Länder auf die Ländersolidarität angewiesen sind. Auch aus der Sicht des Bundes ist in Zeiten knapper Kassen mehr Länderautonomie nicht von Übel. Sie bietet dem Bund die Chance, sich von kostenträchtigen Politikfeldern unter dem Vorzeichen der Stärkung der Rolle der Länder zu befreien. 17 Die Infragestellung des Modells der Politikverflechtung ist deshalb nicht der Versuch, am Reißbrett den dualen Föderalismus für Deutschland
15 Vgl. Wolfgang Luthardt, Europäischer Integrationsprozeß, deutscher Föderalismus und Verhandlungsprozesse in einem Mehrebenensystem: Beteiligungsföderalismus als Zukunftsmodell, in: Staatswissenschaften und Staatspraxis 7 (1996), S. 309. 16
Ebd., S. 310 f. Vgl. Thomas Kreuder, Gestörtes Gleichgewicht: Die Gefährdung der politischen Autonomie von Ländern und Gemeinden durch Kostenverlagerungen, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, B 24/97, S. 31-36. 17
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zu übernehmen, sondern logische Folge der gleichen Interessenpolitik der Akteure, die sie zu anderen Zeiten dazu veranlaßte, sich für Strukturen der Politikverflechtung stark zu machen. b)
eine Konzentration wirtschaftspolitischer Steuerung auf nationale Märkte. Die Präferenz der reicheren Länder für mehr Autonomie speist sich auch aus der Tatsache, daß auf dem Europäischen Binnenmarkt mit einer gemeinsamen Währung in wirtschaftlicher Hinsicht nationale Grenzen bedeutungslos geworden sind. Jedes Land steht nun, was seine wirtschaftliche Zukunft betrifft, im Wettbewerb mit anderen europäischen Regionen. Ziel für jede Landesregierung wird es, auch in Konkurrenz mit anderen Ländern, die produktiven Potentiale des eigenen Landes optimal zu entwickeln und zu nutzen. Ein deutsches Verhandlungssystem, wie es beispielsweise die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur" darstellt, ist dabei eher hinderlich. Die „Regionalisierung" ökonomischer Strategien (auch im Zeichen der Globalisierung) wird heute als Rahmenbedingung für föderale Ordnungen anerkannt. 18
c)
relative soziale und wirtschaftliche Homogenität. „Nur bei gesellschaftlicher Homogenität", so Schultze, „führt die Politikverflechtung kurzfristig zu Konfliktdämpfung, Problementlastung und politischer Integration". 19 In den achtziger und neunziger Jahren mit dem Aufkommen der Grünen und den Konsequenzen der deutschen Einheit für das Parteiensystem verminderte sich der parteipolitische Einfluß auf das politische Verhalten der Landesregierungen und damit die Unitarisierungstendenz des Systems der Politikverflechtung. Länderinteressen wurden wichtiger. Neben parteipolitische Konflikte zwischen den Ländern traten unter anderem Konflikte zwischen reichen Ländern auf der einen Seite und armen Ländern (gelegentlich mit Unterstützung des Bundes) auf der anderen oder zwischen Ost und West.20
Zusammenfassend läßt sich also sagen, daß das Wegbrechen dreier Voraussetzungen eines funktionierenden Systems der Politikverflechtung dazu geführt hat, dem Gedanken der „Modernisierung" des deutschen Föderalismus und damit dem Alternativmodell des „Wettbewerbsföderalismus" den Weg zu bereiten. Aus theoretischer und vergleichender Sicht ist die Idee der „states as
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Vgl. Keith Boeckelman, Federal Systems in the Global Economy: Research Issues, in: Publius: The Journal of Federalism 26 (1996) 1, S. 6 ff. "Rainer-Olaf Schultze, Statt Subsidiarität und Entscheidungsautonomie - Politikverflechtung und kein Ende: Der deutsche Föderalismus nach der Vereinigung, in: Staatswissenschaften und Staatspraxis 4 (1993), S. 231. 20 Vgl. Roland Sturm, The Changing Territorial Balance, in: Gordon Smith u.a. (Hrsg.), Developments in German Politics, Basingstoke/London 1992, S. 121.
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laboratories" 21 nicht neu. Es wäre weltfremd zu leugnen, daß eine größere Autonomie der Länder kurzfristig vor allem im Interesse der wohlhabenderen Länder liegt. Aber hier soll auch argumentiert werden, daß mittel- und langfristig alle Länder von mehr Wettbewerb profitieren würden, ganz abgesehen davon, daß nur eine größere Länderautonomie die Entscheidungsprozesse im Föderalismus aus der „Politikverflechtungsfalle" 22 führen kann. 2.3 Wettbewerbsföderalismus als Alternative? Für den Wettbewerbsföderalismus wurde eine wahrlich atemberaubende Vielfalt von Argumenten mobilisiert. Zunächst sind da die Ideen, die aus der Volkswirtschaftslehre geborgt wurden. Zum einen gibt es die generelle Vermutung, daß der Wettbewerb an sich in jeder Lebenslage die beste Art und Weise sei, Sozialbeziehungen zu organisieren. Zum anderen wird auf das Prinzip der „fiskalischen Äquivalenz" 23 verwiesen. Dies wird so verstanden, daß eine Korrespondenzbeziehung zwischen den Einnahmen und Ausgaben der einzelnen Länder bestehen müsse, um für den Bürger die Transparenz zwischen der Wahrnehmung von Staatsaufgaben und deren Kosten herzustellen und ihm informierte Entscheidungen zugunsten der einen oder anderen Partei bei Wahlen zu ermöglichen. Zum zweiten wird die katholische Soziallehre und insbesondere das Subsidiaritätsprinzip bemüht (das dort auch enthaltene Solidaritätsgebot wird freilich weniger betont). Mit Subsidiarität ist gemeint, daß politische Aufgaben zunächst von der kleinsten politischen Einheit zu erledigen sind. Nur wenn diese sich selbst außerstande erklärt, bestimmte Aufgaben adäquat zu erledigen, soll die nächsthöhere politische Ebene unterstützend eingreifen. Die Länder sehen darin eine Aufforderung, ihre eigene politische Position zu stärken. Eine Auffassung, die ganz praktisch Unterstützung durch die EU findet, da die Kommission aus pragmatischen Gründen auch am Nationalstaat vorbei den Kontakt zu den Regionen sucht, um einige ihrer wichtigen Politiken effizienter konzipieren und durchführen zu können. Drittens schließlich erlebt das alte demokratietheoretische Argument der vertikalen Gewaltenteilung eine Renaissance. Föderalismus wird gesehen als „Heilmittel" gegen das Phänomen der „Politikverdrossenheit". Die Länder ver21 Vgl. Roland Sturm, The States as Laboratories, in: Franz Gress u.a. (Hrsg.), The American Federal System. Federal Balance in Comparative Perspective, Frankfurt am Main 1994, S. 141-145. 22 Vgl. Fritz W. Scharpf, Die Politikverflechtungsfalle, in: Politische Vierteljahresschrift 26 (1985), S. 323-356. 23 Vgl. Mancur Olson, The Principle of 'Fiscal Equivalence'. The Division of Responsibilities between Different Levels of Government, in: American Economic Review 59 (1969), S. 479-487.
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körpern in dieser Sichtweise eine Ebene relativ unmittelbarer Partizipationsmöglichkeiten der Bürger. Hier besteht auch ein leicht organisierbarer Zugang zu den gewählten Volksvertretern. Der deutsche Föderalismus hat zwar den Wettbewerb als Organisationsprinzip nicht zuletzt wegen dieser allgemeinen Erwägungen als Alternative zu dem vorherrschenden System der Politikverflechtung akzeptiert, dennoch ist er weit von einschneidenden Reformschritten entfernt. Zum einen mag dies an der Tatsache liegen, daß die fünf reicheren Länder, von denen der bisherige Reformimpetus im wesentlichen ausging, also Baden-Württemberg, Bayern, Hamburg, Hessen und Nordrhein-Westfalen, gegenüber den elf ärmeren in der Minderzahl sind. Gravierender ist aber, daß der Umbau des deutschen Föderalismus zum Wettbewerbsföderalismus eine Bereitschaft zum radikalen Umbruch erfordert. Um die gegenwärtige Logik des Föderalismus zu durchbrechen, der die Länderregierungen in einem System des Beteiligungsföderalismus auf Bundesebene privilegiert, wäre dem Gedanken der Beteiligung der einer eigenverantwortlichen Gestaltung gegenüberzustellen. Um einen solchen Gestaltungsföderalismus zu begründen bedarf es a)
der Länderneugliederung
b)
einer Reform der Finanzverfassung
c)
einer Neuverteilung der Staatsaufgaben und
d)
einer Begrenzung des Einflusses der Länderregierungen auf die Bundespolitik, v.a. ihrer Rolle bei der Gesetzgebung im Bundesrat.
Diese Forderungen sind logisch miteinander verknüpft. Ihre politische Bedeutung hat in den letzten Jahren deutlich an Gewicht gewonnen.24 Im folgenden sollen diese Vorschläge im einzelnen näher betrachtet werden. 3. Länderneugliederung Seit der deutschen Einheit bestehen 16 Länder. Nur die Hälfte dieser Länder war seit 1949 durchgängig in ihren jetzigen Grenzen Bestandteil der Bundesre-
24 Hier nur der Hinweis auf einige wichtige Diskussionsbeiträge: Erwin Teufel, Rede des Vorsitzenden der Ministerpräsidentenkonferenz der Länder beim Festakt „50 Jahre RittersturzKonferenz" am 9. Juli 1998 in Koblenz (Staatsministerium Baden-Württemberg: Presseexemplar); Döring (Anm. 11); Edmund Stoiber, Föderaler Wettbewerb. Deutschlands Stärke - Bayerns Chance, Regierungserklärung des Bayerischen Ministerpräsidenten vom 4. Februar 1998 im Bayerischen Landtag, München 1998 (Presseexemplar) und Friedrich- Naumann-Stiftung, Wider die Erstarrung in unserem Staat - für eine Erneuerung des Föderalismus, Königswinter 1998.
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publik Deutschland. 1952 entstand aus den Nachkriegsländern Württemberg-Hohenzollern, Baden und Württemberg-Baden der Südweststaat „Baden-Württemberg". Erst 1957 wurde das Saarland Teil der Bundesrepublik, und erst 1990 traten ihr die fünf ostdeutschen Länder bei. Im gleichen Jahr endete der Viermächtestatus für Berlin. Der Versuch einer Länderfusion Berlin-Brandenburg, für den der Art. 118a GG analog zur Regelung für den Südweststaat ein abgekürztes Verfahren vorsah, scheiterte im Mai 1996 an der Mehrheit der Brandenburger (62,7%). 25 Welche Gründe auch immer dieser gescheiterte Versuch einer Länderneugliederung gehabt haben mag (und das Argument scheint nicht unberechtigt, daß die Entscheidung weniger mit dem deutschen Föderalismus als mit den Folgen der deutschen Einheit zu tun hatte), fest steht, daß sie den Dominoeffekt verhinderte, den Neugliederungsbefürworter sich von der Länderfusion versprachen. Die Einrichtung von Ländern mit entsprechender Größe, mit mindestens 10 Millionen Einwohnern und ausreichender Wirtschaftskraft, die mit den anderen Ländern und den Regionen Europas konkurrieren können, ist jedoch eine Voraussetzung für einen funktionierenden Wettbewerbsföderalismus. In Deutschland hat es immer mindestens zwei unterschiedliche Ansätze der Länderneugliederungspolitik gegeben. Der eine ist der technokratische. In seinem Geist erarbeitete beispielsweise die Ernst-Kommission 1973 zum Teil unter Rückgriff auf Art. 29 GG Kriterien für eine Länderneugliederung. Diese waren a) keine Landesgrenze sollte Stadt- oder Wirtschaftsregionen durchschneiden; b) alle Länder sollten nach Größe und Leistungsfähigkeit zur Erfüllung ihrer Aufgaben geeignet sein; c) die politischen Mehrheitsverhältnisse sollten nicht gravierend verändert werden und d) der Länderfinanzausgleich wird um die Hälfte reduziert. Solche Reformbemühungen wurden aber durch eine andere Herangehensweise an die Problemstellung bisher gestoppt. Auch Politiker und Parlamente, die Kriterien wie den oben genannten generell zustimmen können, zögern, wenn deren Anwendung zur Abschaffung ihrer eigenen Länder führt. Es ist wirklich bemerkenswert, daß in den Parlamenten in Berlin und Potsdam Mehrheiten für eine Länderneugliederung gefunden werden konnten. Hoffnung besteht vielleicht auch im Hinblick auf die schon lange diskutierte „Nordstaat"-Gründung, zumal hier ausgeprägte Kooperationsbeziehungen unterhalb der Schwelle der Länderneugliederung entwickelt wurden. 26 Das Modell dieser Kooperationsbeziehungen dient nun auch der Beziehung Berlin-Brandenburg als Vorbild. Aber welche Initiativen sind vom Saarland (Bevölkerung 1 Million) 25
Vgl. Peter Lutz, Wege zur Neugliederung des Bundesgebietes nach dem Scheitern der Länderfusion Berlin-Brandenburg, in: Staatswissenschaften und Staatspraxis 7 (1996) 2, S. 137-161. 26 Vgl. Fritz W. ScharpffArthur Benz, Kooperation als Alternative zur Neugliederung? Zusammenarbeit zwischen den norddeutschen Ländern, Baden-Baden 1991.
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oder von den sozusagen gerade aufgebauten ostdeutschen Ländern (Bevölkerung zwischen 1,9 und 4,9 Millionen) zu erwarten? Selbst wenn die Länderneugliederung die volle Unterstützung der Politik finden würde, ist ihr Schicksal im Hinblick auf die erforderlichen Volksabstimmungen ungewiß. Die Länder sind im Bewußtsein der Bevölkerung keine „Kunstgebilde" der Nachkriegszeit mehr. Sie bieten Identifikation und Heimat und dies inzwischen so sehr, daß sich mit ihnen Imagekampagnen und Wahlkämpfe unterstützen lassen (z.B. „Wir in Nordrhein-Westfalen"). Das Ergebnis von Referenden zur Länderneugliederung ist schwierig vorherzusagen, und im Augenblick scheint der Status quo gute Chancen zu haben. Der FDP-Wirtschaftsminister Baden-Württembergs, Walter Döring 27 , hat deshalb vorgeschlagen, das Referendum zur Länderneugliederung bundesweit abzuhalten. Doch hierfür wäre eine Änderung des Art. 29 GG erforderlich, der wiederum der Bundesrat mit Zwei-Drittel-Mehrheit zustimmen müßte. Vielleicht ist es realistischer, die Länderneugliederung mit einer Reform der Finanzverfassung anzugehen. In einem Szenario, in dem die ärmeren, und dies heißt in der Regel die kleineren, Länder ohne Finanzhilfen des Bundes und der anderen Länder auskommen müssen, wäre auch bei der Bevölkerung der „Leidensdruck" groß genug, um Mehrheiten für eine Länderneugliederung zu erzeugen. „Zumindest die 'Kosten der Kleinheit',,, so wurde gefordert, sollten im Falle des Erhalts [der bisherigen Länder] aber von den Einwohnern selbst getragen werden. Nur wenn Nutznießer und Kostenträger der Kleinheit zusammenfallen, kann sich zeigen, ob die Kleinheit den Bürgern ihre Kosten auch Wert ist". 28 Aber dies sind alles andere als Patentlösungen. Auch die Finanzverfassung ist nicht im Handstreich zu reformieren. 4. Reform der Finanzverfassung Auf die Frage, wer soll die Länder finanzieren, mag ein Außenstehender spontan antworten, sie selbst. Das ist jedoch schon technisch unmöglich, weil zwei Drittel des deutschen Steueraufkommens aus Gemeinschaftssteuern stammt (also Mehrwertsteuer sowie Einkommen- und Körperschaftsteuer). Die Länder erhalten 50% des Aufkommens aus der Einkommen- und Körperschaftsteuer und gegenwärtig 49,5% der Mehrwertsteuer. Es kann natürlich gefragt werden, ob - etwa wie dies in der Schweiz der Fall ist - es im Föderalismus nicht sinnvoller wäre, zu einem steuerlichen Trennsystem überzugehen. Dies hätte den Vorteil, daß der Bürger Steuererhöhungen beispielsweise automatisch mit der Art der Aufgabenerledigung seiner Landesregierung in Zusam27 28
Vgl. Döring (Anm. 11). Lutz (Anm. 25), S. 159.
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menhang bringen und entsprechend politisch reagieren könnte. Bayern und Baden- Württemberg 29 haben entsprechend getrennte Ländereinkommensteuern oder zumindest die Möglichkeit variabler Einkommensteuersätze vorgeschlagen. Für die Föderalismusdebatte von größerer Bedeutung ist aber im Augenblick ein anderer Teilaspekt der deutschen Finanzverfassung, nämlich der Finanzausgleich. Nach den gegenwärtigen Regeln müssen im horizontalen Finanzausgleich die wohlhabenderen Länder dafür Sorge tragen, daß das Einkommen der ärmeren auf mindestens 95% des Durchschnittseinkommens aller Länder angehoben wird. Bayern mußte beispielsweise 1997 67% seiner überdurchschnittlichen Einnahmen abgeben. Das mag an sich schon für die Geberländer ärgerlich sein. Gerade zu absurd ist aber, daß nach dem vertikalen Finanzausgleich, also der Übertragung der Bundesergänzungszuweisungen, die Reihenfolge der Finanzkraft der Länder häufig auf den Kopf gestellt wird. Die Finanzminister der reicheren Länder sehen hier Diskussionsbedarf, die ärmeren gehen so weit, den Dialog zu verweigern. Auch milde Kompromißvorschläge Bayerns und Baden-Württembergs mit langen Übergangsfristen schufen kein Verhandlungsklima. 1998 riefen deshalb Bayern und Baden-Württemberg gemeinsam und Hessen im Alleingang das Bundesverfassungsgericht an, das nun die Frage klären soll, ob, wie es Art. 107 (2) GG formuliert, durch den Finanzausgleich „die unterschiedliche Finanzkraft der Länder angemessen ausgeglichen wird". In dem von Bayern und Baden-Württemberg bestellten Rechtsgutachten heißt es dazu: „Ebenso wie das Grundgesetz die unterschiedliche Leistungsfähigkeit einzelner Steuerpflichtiger akzeptiert, akzeptiert es auf bundesstaatlicher Ebene, daß Entwicklungsdifferenzen von den einzelnen Ländern auf eigene Kosten getragen werden müssen. Ebenso wie es der Grundsatz der hälftigen Teilung verbietet, über diese Grenze hinaus Steuern zu Umverteilungszwecken zu erheben, ist es mit den Grundlagen der bundesstaatlichen Ordnung des Grundgesetzes unvereinbar - und damit zugleich i.S.d. Art. 107 Abs. 2 S. 1 GG nicht 'angemessen' - wenn die Früchte wirtschaftspolitischer Initiativen und spezifischer Leistung einzelner Länder im Wege des Finanzausgleichs zu mehr als 50% abgeschöpft und umverteilt werden". 30 Natürlich haben die ärmeren Länder den Verdacht, die reicheren wollten sich aus der föderalen Solidarität stehlen. Die ostdeutschen Finanzminister waren sich einig, daß es „im Interesse der neuen Länder liegen (sollte), in der öffent-
29 Vgl. Positionspapier des Landes Baden-Württemberg und des Freistaates Bayern, Stärkung der Eigenverantwortung der Länder - Reform der Finanzverfassung, Neu-Ulm 1998 (Presseexemplar). 30 Hans-Wolfgang Arndt, Finanzausgleich und Verfassungsrecht, Mannheim 1997, S. 25.
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lichkeit die Tatsache ins Bewußtsein zu rücken, daß die Leistungen für die neuen Länder zwar noch immer hoch, aber beträchtlich rückläufig sind bzw. hinter den Erwartungen zurückbleiben". 31 Der Bund könnte durchaus mit stärkeren Asymmetrien unter den Ländern leben, nicht aber um den Preis erhöhter eigener Transferleistungen an die ärmeren Länder. Aus ökonomischer Sicht steht fest, daß das gegenwärtige System des Finanzausgleichs die falschen Anreize bietet. Warum sollte ein armes Land solide Haushaltspolitik betreiben, wenn der Zugriff auf die Kassen der reichen Länder garantiert ist, und warum sollten reiche Länder sich um erfolgreiche Budgetpolitik bemühen, wenn dieser Erfolg zum größten Teil ohnehin anderen zugute kommt? In der Zukunft hat das Finanzgebaren einzelner Länder auch Folgen für die Einhaltung der fiskalischen Finanzkriterien, denen die Bundesrepublik im Vertrag von Maastricht zugestimmt hat. Neuverschuldungsobergrenzen müssen sowohl für die Länder als auch für den Bund bestimmt werden. Dies könnte, wie Vesper argumentiert hat, den Unmut einzelner Länder über das Finanzgebaren anderer neu schüren: „In jedem Fall ist hier enormes Konfliktpotential angelegt, vor allem, weil trotz des Finanzausgleichs die finanzielle Situation von Ländern und Gemeinden in Deutschland nicht nur angespannt, sondern auch recht unterschiedlich ist. Deshalb liegt die Frage nahe, ob eine neuerliche Reform des Finanzausgleichs notwendig ist". 32 Vielleicht ist es aber auch so, daß die Diskussion über die Finanzverfassung das Pferd von hinten aufzäumt. Sollte man nicht zuerst Einigkeit über die Aufgaben der Länder erzielen, bevor man deren Finanzierung diskutiert? 5. Die Reföderalisierung
der Staatsaufgaben
Die ernsthafte Diskussion einer Reföderalisierung der Staatsaufgaben begann bereits Anfang der achtziger Jahre. 33 Im Kontext der Kritik der Politikverflechtung wurde vor allem die in den sechziger Jahren ausgebaute Bund-LänderZusammenarbeit auf den Prüfstand gestellt. Die auch hier nicht immer ungeteilte Länderautonomie ist heute auf die Felder Verwaltung, regionale Wirtschaftsentwicklung, Gesundheitsversorgung, Polizei, Schulwesen, Kultur und Medien begrenzt. Die relative Autonomie politischen Entscheidens der Länder
31
Sechs-Thesen-Papier der ostdeutschen Finanzminister vom 29. März/1. April 1996, S. 45. Dieter Vesper, Maastricht und die Konsequenzen für den Finanzausgleich in Deutschland, in: WSI Mitteilungen 50 (1997), S. 377. 32
33
Vgl. Helmut Klatt, Reform und Perspektiven des Föderalismus in der Bundesrepublik Deutschland. Stärkung der Länder als Modernisierungskonzept, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, B 28/86, S. 3-21.
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in diesen Politikfeldern ist aber von Entscheidungen auf europäischer Ebene ständig bedroht. Um die Autonomie der Länder zu sichern, wäre eine Grundgesetzänderung erforderlich. 34 Diese müßte ein Ende der Ko-finanzierung öffentlicher Aufgaben im Stile der Gemeinschaftsaufgaben (Art. 91a, b oder 104 GG) ebenso umfassen, wie ein Ende der Rahmengesetzgebung (Art. 75 GG). Auch über eine Reihe von Gegenständen der konkurrierenden Gesetzgebung, für die der Bund heute Regelungskompetenz in Anspruch nimmt, wäre zu reden. Ganz abgesehen von Details, bleibt ohnehin fraglich, ob die Konstruktion der konkurrierenden Gesetzgebung eine sinnvolle ist. Die Länder haben Zweifel, ob der Bund sich den Zugriff zu Materien der Gesetzgebung in der Vergangenheit nicht zu leicht gemacht hat. Im Prozeß der Verfassungsreform nach der deutschen Einheit wurde zwar in Art. 72 GG mit dem Ersetzen des Ziels der „Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse" durch das Ziel „gleichwertiger Lebensverhältnisse" die Hürde für den Zugriff des Bundes etwas erhöht und die Bedürfnisklausel durch die Erfordernisklausel ersetzt. Dennoch bleibt Art. 72 GG weit interpretierbar und damit zahnlos gegenüber Zumutungen des Bundes an die Länder. Ein Reformkonzept könnte das Instrument sein, das die Länder der Europäischen Union zur Wahrung ihrer Kompetenzen vorgeschlagen haben: das Führen von Subsidiaritätslisten, die minutiös die Aufgaben der einzelnen politischen Ebenen auflisten. 35 So etwas ähnliches könnte in das Grundgesetz aufgenommen werden. Eine einfachere und radikalere Lösung wäre allerdings, in der Verfassung nur die Aufgaben des Bundes genau zu benennen, die konkurrierende Gesetzgebung zu streichen und den Ländern die Allzuständigkeit für die restlichen Staatsaufgaben zuzuweisen. Das würde auch den Bundesrat in ein neues Licht rücken. Ursprünglich gab es im Grundgesetz 13 Bestimmungen, für die die Zustimmung der Länder erforderlich war. Deren Zahl hat sich heute mehr als verdreifacht. Fast Zwei-Drittel der Gesetzgebung brauchen die Zustimmung der Mehrheit des Bundesrates. Das Bundesverfassungsgericht hat zu dieser starken Stellung des Bundesrates noch dadurch beigetragen, daß es erklärt hat, daß ein Gesetz insgesamt zustimmungspflichtig ist, wenn auch nur eine Bestimmung des Gesetzes zustimmungspflichtig ist. Eine klare Trennung der Aufgaben des Bundes und der Länder würde den Bundesrat entlasten, insbesondere wenn der materielle Teil der Gesetze von den die Verwaltung betreffenden Vorschriften immer getrennt bliebe. Die Zahl der 34
Vgl. Wilfried Erbguth, Erosion der Ländereigenstaatlichkeit, in: Jörn Ipsen u.a. (Hrsg.), Verfassungsrecht im Wandel, Köln 1995, S. 568 f. 35 Vgl. z.B. Wolfgang Fischer, Forderungen der Länder zur Regierungskonferenz 1996/97, in: Franz H. Borkenhagen (Hrsg.), Europapolitik der deutschen Länder, Opladen 1998, S. 9-27.
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zustimmungspflichtigen Gesetze und damit die Möglichkeit der Blockade der Bundesgesetzgebung im Bundesrat würde sich drastisch verringern. Die Bundesregierung könnte effizienter und schneller handeln. Für den Wähler wären die politischen Verantwortlichkeiten klarer erkennbar, da nun der Zwang zur informellen großen Koalition im Bundesrat entfiele, den eine Oppositionsmehrheit dort in vielen entscheidenden Fragen notwendig macht. 36 Gesetzgebung strandete in der Vergangenheit im Bundesrat meist nicht wegen des notwendigen Schutzes von Länderinteressen, sondern aus parteipolitischen Gründen. Dies zeigt die erhöhte Zahl der verhinderten Bundesgesetze in Zeiten, in denen die Opposition eine Bundesratsmehrheit hat. Diese parteipolitische Motivation des Verhaltens der Länder im Bundesrat wird in Gestalt der Bundesratsklauseln in den Koalitionsverträgen auf Länderebene bereits antizipiert. 37 Die Reföderalisierung könnte dem tatsächlichen oder angeblichen „Mißbrauch" des Bundesrates als parteipolitisches Blockadeinstrument den Boden entziehen. Solcher Rat ist allerdings wohlfeil, weil er theoretisch einzuleuchten mag. Es mangelt ihm aber an Strategien zu seiner praktischen Umsetzung. Hier sollen nur zwei der auftretenden Probleme erwähnt werden. Das erste hat damit zu tun, daß die Politikverflechtung die Länderexekutiven in der Bundespolitik nicht zuletzt durch ihre Rolle bei der Gesetzgebung im Bundesrat stärker gemacht hat als je geplant. „Die Nutznießer des Systems", so Verfassungsrichter Dieter Grimm, „müßten also der Beschneidung ihres eigenen Einflusses zustimmen". 38 Werden die Landesregierungen zu einem weitgehenden „Rückzug" aus der Bundespolitik bereit sein als Preis für ein größeres Maß regionaler Selbstbestimmung? Die Tendenz der Entwicklung scheint eher gegenläufig zu sein. Mit dem neuen Art. 23 GG haben sich die Länderexekutiven ihre Art der Mitsprache auf die europäische Ebene „verlängern" lassen. Mit dem bisher dadurch Erreichten bleiben sie aber unzufrieden. Sie fordern weitere Mitsprache- und Mitentscheidungsrechte, wie beispielsweise den Zugang zum Ausschuß der Ständigen Vertreter der nationalen Regierungen (COREPER). 39 Streng genommen widersprechen solche Bestrebungen Forderungen nach einer größeren Länderautonomie,
36
Vgl. Gerhard Lehmbruch, Parteienwettbewerb im Bundesstaat, 2. Aufl., Opladen 1998; Roland Sturm, Party Competition and the Federal System: the Lehmbruch Hypothesis Revisited, in: Charlie Jeffeiy (Hrsg.), Recasting German Federalism: The Legacies of Unification, London / New York 1999, S. 197-216. 37
Vgl. Sabine Kropp/Roland Sturm, Koalitionen und Koalitionsvereinbarungen, Opladen 1998. Dieter Grimm, Blockade kann nötig sein, in: Die Zeit vom 10. Oktober 1997. 39 Vgl. Hendrik Escher, Ländermitwirkung und der Ausschuß der Ständigen Vertreter (AStV), in: Borkenhagen (Anm. 35), S. 51-68. 38
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denn sie laufen auf eine Verstärkung der Politikverflechtung hinaus. Aus Ländersicht verständlich sind sie nur solange, wie eine saubere Kompetenzabgrenzung der verschiedenen Ebenen der Politik in Europa noch aussteht. Das zweite Problem, das sich mit einer größeren Selbstbestimmung der Länder über ihre eigenen Angelegenheiten verbindet, ist ein politisch-kulturelles. Im Sinne des Wettbewerbsföderalismus wäre eine größere Autonomie der politischen Ebenen auch zur Herstellung größerer Vielfalt politischer Lösungen zu nutzen. Bayern hat z.B. vorgeschlagen, die Beiträge zur Sozialversicherung (für Arbeitslosigkeits- und Krankenversicherung) regional zu variieren und die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte zu regionalisieren. 40 Der deutsche Föderalismus würde durch eine größere Variationsbreite von Politiken noch deutlicher asymmetrisch, als er es bereits in Anfängen nach der deutschen Einheit wurde. 41 Es bestehen allerdings in Umfragen bestätigte berechtigte Zweifel, ob die deutsche Bevölkerung sich mit einer neuen regionalen Vielfalt des Föderalismus tatsächlich anfreunden kann oder möchte. Schon heute werden bittere Klagen laut, wenn beim Umzug der Eltern von einem Bundesland zum anderen sich für die Kinder Aspekte des schulischen Alltags verändern. Wettbewerbsföderalismus erfordert auch einen Lernprozeß in der Bevölkerung. Föderale Vielfalt müßte von ihr gewünscht und positiv beurteilt werden. Gestaltungsmöglichkeiten müßten einen höheren Stellenwert als Empfängermentalität erhalten. 42 Das Problem, daß Bürger Chancen politischer Beteiligung weit weniger enthusiastisch ergreifen, als sie sich dem Konsum staatlicher Leistungen widmen, ist allerdings komplex und nicht alleine im Rahmen einer Föderalismusreform zu lösen. Positive Erfahrungen mit dem Wettbewerbsföderalismus können aber unter Umständen positive Mobilisierungseffekte erzielen und einen Meinungsumschwung bewirken, aber es sollte nicht vergessen werden, daß Vielfalt auch bedeutet, daß ein Bundesland nicht in allen Bereichen besser dasteht als ein anderes. 6. Ausblick Der Föderalismus der Nachkriegszeit wurde nicht zuletzt als Absicherung geschaffen gegen einen Zentralismus, der mit Diktaturen identifiziert wurde. In
40
Vgl. Stoiber (Anm. 24), S. 30 ff. Vgl. Roland Sturm, The Constitution under Pressure. Emerging Asymmetrical Federalism in Germany?, paper, IPSA Congress, Berlin 1994, abgedruckt in: Bob AgranofF (Hrsg.), Asymmetrical Federalism, Baden-Baden (in Vorher.). 42 Vgl. Rainer-Olaf Schultze, Wieviel Asymmetrie verträgt der Föderalismus?, in: Dirk Berg-Schlosser u.a. (Hrsg.), Politikwissenschaftliche Spiegelungen. Festschrift für Theo Stammen, Opladen 1998, S. 213 f. 41
7 Jesse/Löw
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der politischen Praxis entwickelte sich der Föderalismus aber rasch in ein Mehrebenenverhandlungssystem, das weniger eine demokratische Wächterrolle wahrnahm, als der Verbesserung der politischen Leistungsfähigkeit der Institutionen des neuen Staates diente. Ende der sechziger Jahre wurde das System der Bund-Länder- und der Länder-Zusammenarbeit durch seine Formalisierung und Institutionalisierung in Gesetzen und Entscheidungsprozeduren „verfeinert", aber auch zementiert. Die Exekutiven auf allen politischen Ebenen stärkten ihre Macht zuungunsten der Parlamente. Die Kompromiß- und Konsensbildungsfähigkeit von Regierungsvertretern, nicht zuletzt im Bundesrat, wurde zur neuen Meßlatte für den Erfolg der föderalen Ordnung. Erfolge des Exekutivföderalismus, der aus der Perspektive der Länder auch Beteiligungsföderalismus bedeutete, nämlich die verstärkte Beteiligung der Länderregierungen im Bundesrat an Gesetzgebung und Verwaltung, waren aber nicht voraussetzungslos. Mit der allmählichen Verschlechterung der ökonomischen Rahmenbedingungen des Regierens nach der Ölkrise 1973/74, die spätestens seit den neunziger Jahren immer deutlicher die Finanzkraft des Staates schwächte, und durch den Verlust eines Teils der ökonomischen und sozialen Homogenität des Landes nach der deutschen Einheit wurde es immer schwieriger, Verhandlungsprozesse mit Hilfe der Verteilung neuer Mittel an alle Verhandlungspartner erfolgreich zu Ende zu bringen. Vor allem den reicheren Ländern, aber nicht nur diesen, scheint die Perspektive des auf Bundesebene (heute auch unter Einbeziehung der europäischen Ebene) organisierten Verteilungskampfes um Mittel, auch angesichts zusätzlich möglicher parteipolitisch motivierter Politikblockaden, keine verlockende Zukunftsperspektive. Damit wurde es möglich, mit dem Wettbewerbsföderalismus eine Spielart des Föderalismus zur Diskussion zu stellen, die die Handlungsautonomie der Länder verstärkt und den Zwang zur Verhandlungslösung politischer Probleme auf weniger Politikfelder begrenzt. Eine Reform des Föderalismus ist auf der politischen Tagesordnung. Wenn Einzelheiten einer solchen Reform zur Sprache kommen, wie die Länderneugliederung, die Reform der Finanzverfassung oder eine Neuaufteilung der Aufgaben von Bund und Ländern, scheint es aber unverändert eine Mehrheit für den Status quo zu geben. Und es ist unwahrscheinlich, daß, wie einige der einschneidendere Reformen befürwortenden Länder hoffen mögen, das Bundesverfassungsgericht den Gordischen Knoten durchhauen wird. Zuviele Interessen werden von den geplanten Reformen negativ berührt. Die Reformer sind in der undankbaren Position argumentieren zu müssen, daß sie keineswegs die föderale Solidarität aufzukündigen beabsichti-
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gen. Hinzukommt, daß die auf der Verschränkung der Exekutiven beruhende Mehrebenenregierung bis hinauf zur europäischen Ebene fest etabliert scheint.43 Die Negativkoalition der Reformgegner hat, selbst wenn sie nicht anerkennen möchte, daß die Ergebnisse der Politikverflechtung suboptimal sind, gemessen an der eigentlichen Leistungsfähigkeit des deutschen Föderalismus, aber auf mindestens zwei Fragen keine Antworten. Wie sollen die Verhandlungen über die Zukunft des Finanzausgleichs, die vor dem Jahr 2005 erneut anstehen, erfolgreich zu einem Abschluß gebracht werden, wenn die Geberländer Zweifel an den Grundprinzipien der bisherigen Regeln haben? Vor allem aber, wie soll der ökonomischen Herausforderung des regionalen europäischen, ja weltweiten Wettbewerbs begegnet werden 44 , wenn die einzelnen Länder den Verhandlungsund Entscheidungszwängen der nationalen Politikverflechtung ausgeliefert bleiben? Es bestehen darüber hinaus erhebliche Zweifel, ob das gegenwärtige föderale Verhandlungssystem und die mit ihm verbundene stetige Suche nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner den ärmeren Ländern tatsächlich mehr hilft als größere Flexibilität, Autonomie und Eigenverantwortung. Dies räumte auch der sächsische Ministerpräsident Kurt Biedenkopf wiederholt ein. 45 Solange die Länder nur auf kurze Frist planen, bleibt aber die Versuchung groß, alle Kraft in die Wahrung des Beteiligungsföderalismus auf deutscher und europäischer Ebene zu stecken, selbst auf die Gefahr hin, daß die Bürger diesen als gigantische Verschwörung der „politischen Klasse" mißverstehen und Föderalismus mit Problemverwaltung gleichzusetzen beginnen. Eine solche Denaturierung hat der deutsche Föderalismus, der in der Nachkriegszeit als demokratiesichernde Kraft konzipiert wurde, nicht verdient.
43
Vgl. Roland Sturm, Multi-level Politics of Regional Development in Germany, in: European Planning Studies 6 (1998), S. 525-536. 44 Vgl. Richard Deeg, Economic Globalization and the Shifting Boundaries of German Federalism, in: Publius: The Journal of Federalism 26 (1996) 1, S. 27-52. 45 Vgl. Zeit-Interview vom 15. Januar 1998; Spiegel-Interview vom 31. August 1998.
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Everhard Holtmann
VOM „KLASSISCHEN" ZUM „POLITISCHEN BÜROKRATEN"? EINSTELLUNGEN UND EINSTELLUNGSWANDEL IM ÖFFENTLICHEN DIENST IN DEUTSCHLAND SEIT 1945 /. Einleitung Eine Transformation politischer Systeme bzw. Regime umschließt auf der politisch-administrativen Systemebene drei Dimensionen des Wechsels bzw. Wandels: erstens den Umbruch der Institutionen, d.h. einerseits der formalen Einrichtungen und Organisationen, aber andererseits auch der grundlegenden handlungsleitenden Normen und Leitbilder (Dimension der „Polity"); zweitens den Austausch bzw. die Umgruppierung von Personal (Dimension des Elitenwechels und der „Elitenzirkulation"); drittens schließlich Veränderungen in den Einstellungen der im Amt bleibenden und neu eingestellten Akteure (Dimension der politischen Kultur), wobei ein solcher Einstellungswandel infolge der gleichzeitig veränderten institutionellen Vorgaben und personellen Erneuerung in Ausmaß und Richtung wesentlich beeinflußt wird. Von dem zweifachen Umbruch während der Wende-Zeiten 1945 und 1990 waren, außer der Institution und dem Personalkörper des öffentlichen Dienstes (das Berufsbeamtentum im hergebrachten Sinne überdauerte in der DDR überhaupt nicht), naturgemäß auch dessen Amtsgedanke und Selbstverständnis in unterschiedlicher Weise tangiert. System- bzw. Regimewechsel erhalten durch kurzfristig wirksam werdende Eingriffe in bestehende Strukturen ihr spezifisches Gepräge. Insofern kommt den Wende-Daten des 8. Mai 1945 und des 9. November 1989 sowie des 3. Oktober 1990 durchaus eine Schlüsselrolle zu. Andererseits erschöpft sich das Neuerungspotential derartiger „Null-Stunden" nicht in der symbolischen und tatsächlichen Signalwirkung revolutionärer Kurzzeit-Effekte. Dem einschneidenden Wechsel folgen in der Regel Prozesse des Wandels, die wesentlich länger dauern. Zwar werden durch den förmlichen Akt des Systemwechsels entscheidende Weichenstellungen vorgenommen. Aber erst danach setzen Entwicklungen ein, welche die eingeleiteten Wandlungen in „Struktur" und „Kultur" der betreffenden Staats- und Gesellschaftsordnung allmählich und schrittweise voranbringen und allmählich festigen können. Die Variable „Kultur", also das verfügbare Institutionenwissen und vorhandene Deutungsmuster, hat für
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Everhard Holtmann
diesen Wandlungsprozeß eine besondere Bedeutung. Soweit aus der Zeit der alten Ordnung ein Wissens- und Deutungsvorrat überdauert und gemeinsam mit dem beseitigten politischen System nicht gänzlich moralisch diskreditiert ist, bietet er gerade für die unsicheren und instabilen Übergangszeiten zwischen den Systemen mitunter eine wichtige Orientierungshilfe. A u f diese Weise gehen reanimierte Elemente kultureller Tradition mit solchen der Erneuerung neue Bindungen und Mischungsverhältnisse ein, die den Reformprozeß verlangsamen oder auch unterlaufen können, aus denen sich aber auch ein den Reformprogrammen angepaßter, eigener „Geist der Institution" entwickeln kann. Von solchen Langzeiteffekten, Übergangsphasen und Mischungsverhältnissen zwischen Elementen der Tradition und der Reform dürfen wir auch für die Entwicklung des öffentlichen Dienstes und seiner Verwaltungskultur in Deutschland seit 1945 und dann seit 1990 ausgehen.1 Dafür, daß dabei der hergebrachte Bestand an institutioneller und personeller Ausstattung eine beträchtliche und den proklamierten Modernisierungszielen zum Teil zuwiderlaufende Beharrungskraft entfaltet hat, ist gerade der öffentliche Dienst, und insbesondere für die frühen Nachkriegsjahre, ein markantes Beispiel. Politischer Systemwechsel und institutioneller Umbruch finden generell eben nicht unter Laborbedingungen eines am Reißbrett planbaren revolutionären Feldversuchs statt. Die in die erneuerten Institutionen übernommenen Akteure lernen in vielen kleinen Schritten situativer Anpassung mit der Einrichtung umzugehen. Dabei können „bewährte Grundsätze" durchaus rehabilitiert werden, vorausgesetzt, sie sind für praktische Problemlösungen hilfreich und mit den neuen Systemzielen kompatibel. So stellte sich auch im Sektor des öffentlichen Dienstes die Ausgangslage in der Transformationsperiode dar: Zwar lagen 1945 wie 1990 demokratische Leitbilder als konzeptionelle „Blaupausen" vor. Aber das praktische Gebot, in 1 Vgl. hierzu u.a. Hans-Ulrich Derlien, Soziale Herkunft und Parteibindung der Beamtenschaft, in: Hans-Georg Wehling (Hrsg.), Verwaltung und Politik in der Bundesrepublik, Stuttgart u.a. 1986; Thomas Ellwein, Perioden und Probleme der deutschen Verwaltungsgeschichte, in: Verwaltungs-Archiv 87(1996); Curt Garner, Der öffentliche Dienst in den 50er Jahren: Politische Weichenstellungen und ihre sozial geschichtlichen Folgen, in: Axel Schildt/Arnold Sywottek (Hrsg.), Modernisierung im Wiederaufbau, 2. Aufl., Bonn 1998; Everhard Holtmann, Demokratische Erneuerung und nachholende Modernisierung. Deutsche Wendezeiten 1945 und 1989 im Vergleich, in: Gotthard Jasper (Hrsg.), 1945 - 1995. Anfänge und Erfahrungen, Erlangen 1998; Ulrich Reusch, Deutsches Berufsbeamtentum und britische Besatzung. Planung und Politik 1943 - 1947, Stuttgart 1985; ferner den Überblick bei Everhard Holtmann, Die öffentliche Verwaltung, in: Oscar W.Gabriel/ders. (Hrsg.), Handbuch Politisches System der Bundesrepublik Deutschland, 2. Aufl., München/Wien 1998. - Zu Begriff und Analysekonzept von Verwaltungskultur vgl. Werner Jann, Staatliche Programme und 'Verwaltungskultur\ Opladen 1983; Roland Sturm, Verwaltungskultur, in: PVS-Sonderheft 18/1987; Frans van Waarden, Verwaltungskultur, in: Landeszentrale für politische Bildung BadenWürttemberg (Hrsg.), Länderprofile. Politische Kulturen im In- und Ausland, Stuttgart u.a. 1991.
Vom „klassischen" zum „politischen Bürokraten"?
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den laufenden und „geordneten" Geschäften der öffentlichen Verwaltung keinen Stillstand zuzulassen, gab beide Male das Tempo, die Reichweite und die Tiefenwirkung der sektoralen Demokratisierung in hohem Maße vor. Eher stärker noch als in normalen Zeiten, ist in Umbruchsphasen, dem bekannten Diktum Max Webers zufolge, politische Herrschaft im Alltag unvermeidlich und primär Verwaltung. Beide Male erwiesen sich bereits eingearbeitete Fachbedienstete als unabkömmlich. Solche Traditionsüberhänge bildeten den einen Pol der Entwicklungsachse. Den anderen Pol bildeten die erneuerten bzw. neu geschaffenen behördlichen Institutionen und die mit diesen neu vorgegebenen Leitbilder, Rollenmuster und Handlungsweisen. Zwischen diesen beiden Polen ist nach 1945 und wiederum seit 1990, durch das praktische Amtshandeln der personell ausgetauschten oder umgesetzten administrativen „Ernennungselite" 2, das Verhältnis von Tradition und Moderne im deutschen öffentlichen Dienst neu bestimmt worden. Hier wie in anderen Sektoren staatlicher Tätigkeit bedeutet das Erforschen demokratischer politischer Transformation zu ergründen, inwieweit Elemente von Kontinuität und Diskontinuität nebeneinander existieren und eventuell einander ablösen. Dies soll im folgenden auf der Einstellungsebene für die den beiden jüngsten Regimewechseln in Deutschland (1945 und 1990) folgenden Zeitphasen nachgezeichnet werden. 2. Verhältnis von Verwaltungsstruktur
und Verwaltungskultur
Öffentliche Verwaltung ist, wie oben erwähnt, eine unverzichtbare Voraussetzung und ein Kernelement des Regierens. Damit fiel ihr für das Projekt demokratischer Neuordnung 1945 wie 1990 automatisch eine Schlüsselstellung zu. In Deutschland ist der öffentliche Dienst kraft Verfassung und Beamtenrecht seit jeher auf eine besondere Loyalität gegenüber dem Dienstgeber verpflichtet. Diese in den sog. hergebrachten Grundsätzen des Berufsbeamtentums 3 enthaltene spezielle „Amtstreuepflicht" macht es freilich nicht gegenstandslos, berufsbezogene Einstellungen der öffentlich Bediensteten gesondert zu untersuchen. Denn es wäre naiv anzunehmen, daß diese offizielle Loyalitätsverpflichtung ausreicht, um Einstellungen auszuschalten, die von dem strengen Institutionenreglement abweichen. Gegen eine derartige formalistische Sichtweise sprechen einmal theoretische Überlegungen und zum anderen auch konkrete historische und aktuelle Erfah2
Zum Begriff vgl. Hans-Ulrich Derlien, Personelle Transformation in Ostdeutschland, in: Klaus Lüder (Hrsg.), öffentliche Verwaltung der Zukunft, Berlin 1998, S. 186. 3 Vgl. hierzu Thomas Ellwein/Ralf Zoll, Berufsbeamtentum - Anspruch und Wirklichkeit. Zur Entwicklung und Problematik des öffentlichen Dienstes, Düsseldorf 1973, S. 76 ff.
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rungen. Zwar üben Institutionen grundsätzlich immer sowohl strukturverändernde als auch Einstellungen und Verhalten prägende Wirkungen aus. Im Geltungsbereich öffentlicher Verwaltung werden solche institutionellen Orientierungsleistungen übernommen durch formale Vorschriften und von informalen Regelungen. Zumal letztere bewahren einen bürokratischen „comment" und „esprit du corps" a u f , also ein sogenanntes Beamtenethos4. Tradiert werden damit aber auch praktische Erfahrungen, die im Verwaltungsvollzug gemacht und im institutionellen Gedächtnis abgespeichert werden. Dennoch ist es nur bedingt zulässig, vom bloßen Vorhandensein einer Institution auf eindeutig bestimmbare und stabile, latente Einstellungen und manifeste Verhaltensweisen derer zu schließen, die dieser Institution angehören bzw. in ihr arbeiten. Denn erstens kann sich mit der Struktur der bürokratischen Institution auch deren Leitbild ändern - zum Beispiel dann, wenn diese Institution in neue Aufgabenfelder hineinwächst, wenn die Kriterien ihrer Rekrutierung wechseln oder wenn sie mit neuen Anforderungen und Erwartungen aus der Gesellschaft konfrontiert wird. Zweitens weist der Personalkörper öffentlicher Verwaltungen stets ein gewisses Maß an Fluktuation (durch Einstellung und altersbedingtes Ausscheiden) und vertikaler wie horizontaler Mobilität (durch Beförderung und Versetzung) auf. Schon dieser ganz persönliche Dienstweg der Bediensteten durch die Institution geht häufig mit Veränderungen in der individuellen Berufseinstellung einher. Kommt es gar, drittens, im Gefolge politischer Systemwechsel zu umfassenden Austauschprozessen, die Schübe von erzwungenen bzw. freiwilligen Entlassungen, Umsetzungen und Neueinstellungen nach sich ziehen, gerät auch die Einstellungsebene umso heftiger in Bewegung. Alte bürokratische Handlungsgewohnheiten geraten dann abrupt unter verstärkten Legitimationszwang, und neue beginnen, teilweise vorsichtig sondierend und zögerlich, sich erst auszubilden. Solche Übergangsphasen bürokratischer Neuorientierung lassen sich sowohl für 1945 als auch für 1990 annehmen, wenn auch die Rahmenbedingungen der Verwaltungstransformation insoweit unterschiedlich waren, als im westlichen Nachkriegsdeutschland sich mit den neuen demokratischen Leitbildern ein hohes Maß an institutioneller und (verwaltungs)rechtlicher Kontinuität verband und andererseits im Zuge des Verwaltungsumbaus in den neuen Bundesländern nach der deutschen Einigung 1990 ein umfassender „Institutionentransfer" (Gerhard Lehmbruch) erfolgt ist. Viertens schließlich stoßen wir in der öffentlichen Verwaltung auf eine fortwährende Inkongruenz von Handlungsnorm und Handlungen, die manchmal im Grenzbereich des Legalen liegt, aber jedenfalls funktional notwendig ist: Gesetzesrecht und auch Verwaltungsvorschriften geben im allgemeinen generelle Regeln vor. Diese Normen lassen Raum für 4 Zum Begriff Niklas Luhmann/Renate Mayntz, Personal im öffentlichen Dienst. Eintritt und Karrieren, Baden-Baden 1973, S. 335 ff.
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einen dem jeweiligen Einzelfall angemessenen Verwaltungsvollzug. Solche behördlichen Ermessensspielräume sind mit dem Rechtsstaatsgedanken vereinbar. Im materiellen Rechtsstaat des Grundgesetzes erhalten sie insofern eine mehr als formale Qualität, als sie die Verwaltung grundsätzlich auf eine soziale Disparitäten ausgleichende, fürsorgliche Handlungsorientierung verpflichten 5. Auch hier legen die institutionell verankerten, generalisierenden Handlungsvorgaben die individuellen Einschätzungen und konkreten Verhaltensweisen des Verwaltungspersonals also nicht von vornherein für jeden Einzelfall eindeutig fest. Anders gesagt: Es kommt zu Varianten im bürokratischen Regelverständnis, mitunter auch zu „abweichenden" Auslegungen. Im Hinblick auf die demokratische Transformation der Verwaltungskultur nach 1945 und seit 1990 ist von besonderem Interesse, wie die Verwaltungsbediensteten - Altgediente, Neulinge und Nachrückende - von den Möglichkeiten flexibler Anpassung, welche die institutionell erneuerte Verwaltung ihnen bot, Gebrauch gemacht haben. 3. Tradition und Reform in der bundesdeutschen öffentlichen Verwaltung nach 1945 Nach der Besetzung Deutschlands hatten die westlichen Allierten die politische Säuberung und demokratische Neuordnung der deutschen öffentlichen Verwaltung im Sinne eines der Gesellschaft verpflichteten und von dieser kontrollierten „nonpolitical civil service" unverzüglich eingeleitet, und sie wurden dabei zumindest von Teilen der neuen westdeutschen politischen Positionseliten aktiv unterstützt. Gleichwohl werden die bleibenden strukturverändernden Auswirkungen der institutionellen Reformmaßnahmen der unmittelbaren Nachkriegsjahre in der wissenschaftlichen Literatur überwiegend gering veranschlagt. Zu groß seien das Beharrungsvermögen und die restaurierende Findigkeit der strukturkonservativen Kräfte gewesen. Zeitig hätten deutsche Verwaltung und Politik ein „exkulpatorisch-restauratives Bündnis" 6 geschmiedet, dem es gelungen sei, die eingeleiteten Reformschritte auf der Personal- und teilweise auch auf der Institutionenebene bis Anfang der 50er Jahre rückgängig zu machen. Den Schlußpunkt dieser reformfeindlichen Rückentwicklung setzte demnach das Bundesbeamtengesetz vom Juli 1953. Als Gründe für die erfolgreiche Wende nach rückwärts werden unter anderem strukturpolitische Weichenstellungen der frühen 50er Jahre genannt: die 5 Vgl. Gabriel/Holtmann (Anm. 1), S. 300, mit Bezug auf Ernst Benda und Ernst Wolfgang Böckenförde. 6 So Michael Ruck, Beharrung im Wandel. Neuere Forschungen zur deutschen Verwaltung im 20. Jahrhundert (II), in: Neue Politische Literatur 43 (1998), S. 78; dort auch weitere BelegVerweise; vgl. auch Garner (Anm. 1), S. 759 f.
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rechtsförmige Anerkenntnis von hergebrachten Personalstrukturen und Rechtsverhältnissen in eben dem Bundesbeamtengesetz von 1950 bzw. 1953; die Rekrutierung des Personals für Leitungsfunktionen in den neuen Bundesbehörden aus dem alten (und zum Teil nationalsozialistisch belasteten) Beamtenreservoir; die Wiedereingliederung eines großen Teils der aus dem Dienst Entfernten durch das sog. 131er Gesetz (Ausführungsgesetz zu Artikel 131 des Grundgesetzes) von Mai 1951; die Verdrängung vieler Frauen, die während des Krieges eingestellt worden waren. 7 Andererseits wird die Unvermeidbarkeit 8 dieser Strukturentscheidungen hervorgehoben. Von Beginn an sei die Kooperationsbereitschaft der überkommenen Verwaltungsfachleute für das im Aufbau begriffene demokratische System unabweisbar gewesen. In der Lähmungskrise von 1945 sei, so urteilt Carl Böhret, die auf der Basis des herkömmlichen Verwaltungsrechts tätige Verwaltung die einzige kontinuierlich handlungsfähige Einrichtung gewesen, und ihre traditionellen Handlungsweisen hätten sich deshalb als „durchaus brauchbar" erwiesen. 9 Nicht zuletzt das Juristenmonopol, bekanntlich ein Kennzeichen der traditionellen deutschen Beamtenelite, habe anscheinend, fügte Hans-Ulrich Derlien jüngstens hinzu, die zum Krisenmanagement erforderliche professionelle Qualität gesichert 10; weil, so ließe sich erläuternd hinzufügen, ein Mindestmaß an Rechtskunde und Erfahrungen mit der Anwendung von Recht zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung unabweisbar ist. Umgekehrt habe das 1945 geschlossene und hernach gesetzlich besiegelte Bündnis mit den hergebrachten Kräften und Grundsätzen des deutschen Berufsbeamtentums die Loyalität dieser Berufsgruppe gegenüber der neuen demokratischen Ordnung früh befestigt. Anders als zu Zeiten der Weimarer Republik nahm das Gros der westdeutschen Staatsdiener von einer obrigkeitlichen Staatsidee, die sich vom Demokratieprinzip abkoppelte, dauerhaft Abschied und erkannte hinfort den politischen Primat demokratisch legitimierter Parlamentsregierungen vorbehaltlos an. Jener fatale „Hang zu passiver Resistenz" (Theodor Eschenburg), mit welcher ein großer Teil der höheren Beamtenränge seine innere Distanz gegenüber der Weimarer Demokratie praktiziert hatte, ist jedenfalls in dem bundesdeutschen Verwaltungsalltag der 50er und 60er Jahre nicht neuerlich aufgelebt. 11 Die zweifelsfrei loyale Dienstbereitschaft gegenüber dem demokratischen Verfassungsstaat und seinen politischen Organen stellt indes lediglich eine erste Stufe der Integration und Positionsbestimmung des öffentlichen Dienstes im 7
Ebd., S. 760. Vgl. ferner Ellwein/Zoll (Anm. 3), S. 67 ff. So die Formulierung ebd., S. 67. 9 Carl Böhret, öffentliche Verwaltung in der Demokratie, in: Ders., Politik und Verwaltung. Beiträge zur Verwaltungspolitologie, Opladen 1983, S. 11. 10 Derlien (Anm. 2), S. 184. 11 Vgl. Ruck (Anm. 6), S. 90. 8
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demokratischen System dar. Der nächste Schritt, der im Prozeß der Entwicklung einer modernen demokratischen Verwaltungskultur erfolgen muß, bemißt sich daran, inwieweit die Verwaltungsbediensteten, über eine am klassischen Gewaltenteilungs-Modell ausgerichtete, schon damals realitätsferne reine Vollzugs-Perspektive hinaus, die längst nachgewiesenen politischen Dimensionen ihres Berufs (Programmplanung, Steuerung, 'intelligente' Implementation usf.) nicht nur für sich selbst wahrnehmen, sondern in diesem politischen Rollenverständnis auch aufnahmebereit für Interessenlagen und Bedarfsanmeldungen der Gesellschaft sind. 12 Darüber, ab wann dieser Wandel hin zu einem solchermaßen politisierten Amtsgedanken im Selbstverständnis des öffentlichen Dienstes der deutschen Nachkriegsdemokratie einzusetzen beginnt, macht die einschlägige Literatur keine eindeutigen Aussagen. Dies ist nicht überraschend. Wohl lassen sich bedeutsame Strukturentscheidungen und Strukturveränderungen zuverlässig datieren, die einen Wandel im bürokratischen Selbstverständnis ausgelöst bzw. beschleunigt haben dürften. Anstöße zu einem solchen Wandel gingen seit dem Eintritt der Bundesrepublik in die 50er Jahre vor allem von folgenden Faktoren aus: von der abermaligen Expansion der Leistungsverwaltung und der Erweiterung des Katalogs öffentlicher Aufgaben, was die Vergrößerung und Ausdifferenzierung des Verwaltungsapparats nach sich zog; von den erweiterten Patronage-Möglichkeiten politischer Parteien; vom umfassenden, altersbedingten Generationenwechsel von Kriegs- und Vorkriegs- zu Nachkriegs-Beamtenjahrgängen in der zweiten Hälfte der 60er Jahre; vom gesellschaftlichen Wertewandel hin zu postmaterialistischen Wertepräferenzen, der in derselben Zeitspanne einsetzt.13 Die Binnenwirkungen dieser Faktoren für die öffentliche Verwaltung seien kurz erläutert. In dem Maße, wie der Sozialstaat des Grundgesetzes, von der Wohnungsbaugesetzgebung (1951) über die dynamische Rentenformel (1957) bis zur Lohnfortzahlung für Arbeiter im Krankheitsfall (1970) deutlicher Konturen gewann, weiteten sich einzelne Zweige der Leistungsverwaltung aus. Damit einher ging eine interne Umschichtung großen Stils zu Lasten der bis dahin dominierenden Statusgruppe der Beamten. Arbeiter und Angestellte stellen seither das Gros der neu Eingestellten. Diese aber brachten, wie Curt Garner feststellt, ein anderes Selbstverständnis mit als die „standesbewußten Staatsdiener früherer Zeiten" und stammten häufig aus anderen sozialen, nämlich nicht-
12 Zu den politischen Dimensionen von Verwaltung vgl. Rolf-Richard Grauhan, Modelle politischer Verwaltungsführung, in: Politische Vierteljahresschrift 10 (1969), S. 269 ff., ferner Hubert Treiber, Bürokraten als Politiker - Parlamentarier als Bürokraten, in: Ders., Vollzugskosten des Rechtsstaates und andere Studien zum Recht, Baden-Baden 1989, S. 107 ff. 13 Vgl. Garner (Anm. 1), S. 787 und Ruck (Anm. 6), S. 83,90 f.
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bürgerlichen Schichten.14 Andererseits etablierte sich der demokratische Parteienstaat, mit der Folge, daß leitende Verwaltungspositionen auf Bundes-, Landes« und kommunaler Ebene seit der Frühzeit der Bundesrepublik in vormals unbekanntem Ausmaß nach parteipolitischen Kriterien besetzt worden sind. Diese der Machtlogik des Parteienwettbewerbs folgende Änderung der Elitenrekrutierung, die bis heute immer wieder harsche Kritiker findet 15 , aber als ein Element der Demokratisierung des öffentlichen Dienstes gleichwohl historisch überfällig war 16 , hat die Anerkennung des Politischen als Teil des bürokratischen Amtsverständnisses beschleunigt. Noch weiter zurückgedrängt wurde das traditionelle Leitbild eines politikfernen Beamtentums, als nach der Mitte der 60er Jahre „die große Kohorte der um 1900 Geborenen binnen kurzer Zeit ausschied".17 Jüngere Bedienstete rückten nach, die in der Nachkriegszeit sozialisiert worden waren. In der Literatur wird den Auswirkungen dieses natürlichen Generationeneffekts auf die Verwaltungskultur höheres Gewicht zugemessen als dem durch den Bonner Machtwechsel von 1969 ausgelösten politisch induzierten Personalwechsel.18 Indes fehlen für die Bundesrepublik für die Periode bis zum Ende der 60er Jahre empirische Untersuchungen, die mit den Methoden der Umfrage den vermutlich schon in den 50er Jahren einsetzenden Wandel der Verwaltungskultur abbilden. Die ersten auf statistischer Basis erstellten Studien zu Einstellungen im öffentlichen Dienst erscheinen in den frühen 70er Jahren. In der wissenschaftlichen Rezeption stehen daher bisweilen die Zeitspannen, in welchen diese Pionierstudien ihre Erhebungen durchgeführt haben, für den eigentlichen Beginn der Umbruchsphase der deutschen Verwaltungskultur selbst. 4. Das „ Rückholen " tradierter Verhaltensmuster als Teil der Erneuerung der Verwaltung Die Neuordnung des öffentlichen Dienstes im Kontext der politischen Regimewechsel von 1945/49 und 1989/90 fand unter voneinander erheblich abweichenden Rahmenbedingungen statt, weist aber auch deutliche Parallelen auf. Es wäre allzu vereinfachend, in der Nachfolge der älteren strukturfunktionalistischen Sichtweise beide Umbruchs-Zäsuren als Anfangs- und 14
Garner (Anm. 1), S. 787. Zu den „eher positiven Begleiterscheinungen der rituell beklagten Parteipolitisierung der bundesdeutschen Verwaltungselite" vgl. Ruck (Anm. 6), S. 83. 16 Vgl. Holtmann, Erneuerung (Anm. 1). 17 Ruck (Anm. 6), S. 87. 18 Vgl. Hans-Ulrich Derlien, Regierungswechsel, Regimewechsel und Zusammensetzung der politisch-administrativen Elite, in: Bernhard Blanke/Hellmut Wollmann (Hrsg.), Die alte Bundesrepublik. Kontinuität und Wandel, Opladen 1991, S. 258 ff. 13
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(vorläufigen) Endpunkt eines linear aufsteigenden Innovationsprozesses zu betrachten, der mit Gründung der Bundesrepublik unter dem Vorzeichen einer „Restauration" des Beamtentums seinen Anfang genommen, der erst Ende der 60er Jahre die zeitgerechten Reformen in Organisationsaufbau, Personalstruktur und im Amtsverständnis auf einmal wenigstens teilweise nachgeholt und der dann die konsolidierten Erträge dieses Strukturwandels im Zuge des 1990 eingeleiteten Institutionentransfers auf die neugeordnete öffentliche Verwaltung der ostdeutschen Länder übertragen hat. Es wäre andererseits ebenso irrig anzunehmen, der öffentliche Dienst sei erst Ende der 60er Jahre schlagartig in seine eigentliche innere Reformphase eingetreten. Ein dritter Vorbehalt gilt hinsichtlich der Erklärungskraft der häufig verwendeten Kategorien des „klassischen" und des „politischen Bürokraten". Als Indikator für den Wandel zu modernen bürokratischen Berufsbildern ist die empirisch erstmals anfangs der 70er Jahre nachgewiesene, fortschreitende Ablösung von Einstellungsmerkmalen und Rollenbildern, die dem „klassischen" Typus zugeordnet werden, durch solche, die dem Typus des „politischen Bürokraten" entsprechen, sehr gut brauchbar. Nur sollte das als „klassisches" Bürokratentum typisierte herkömmliche Berufsverständnis nicht in Gänze als ein Synonym für Rückständigkeit ausgegeben werden. Die demokratische Erneuerung der öffentlichen Verwaltungen ist nach beiden Regimewechseln, 1945 wie 1989, nämlich auch dadurch abgestützt worden, daß mit der betonten Selbstausrichtung der Bediensteten am Legalitätsgrundsatz ein Kernelement des traditionellen Berufsverständnisses fortgeführt bzw. zurückgeholt worden ist. Diese Sicht auf den Prozeß zweimaliger Neuordnung der öffentlichen Verwaltung in Deutschland wird im folgenden in fünf Schritten entwickelt. Zunächst lege ich dar, daß der „unpolitische" Habitus, mit welcher die Beamtenschaft in die Weimarer Republik und die NS-Diktatur eingetreten war, unterschiedliche Facettierungen aufwies. Sodann begründe ich meine Annahme, daß die Reaktivierung der betont-legalen Seiten dieses herkömmlichen Habitus sowohl nach 1945 als auch in den Wende-Jahren nach 1989 eine geräuschlose Selbstanpassung des Verwaltungspersonals, und zwar gerade der aus dem alten System übernommenen Bediensteten, an die Normen und Zielsetzungen demokratischer Verwaltung ermöglicht hat. Nachdem, drittens, die bekannten Idealtypen des „klassischen" und des „politischen Bürokraten" nochmals knapp umrissen worden sind, stelle ich in einem vierten Schritt die Befunde der in den 70er Jahren erschienenen empirischen Untersuchungen über den Stand und die Perspektiven des Wandels bürokratischer Einstellungen vor. Abschließend gehe ich kurz ein auf jüngere Forschungsergebnisse, die den aktuellen Entwicklungsstand der Verwaltungskultur in der neugeordneten Verwaltung Ostdeutschlands erhellen.
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Everhard Holtmann 5. Das „unpolitische" Amtsverständnis: Vordemokratische und demokratieverträgliche Ausprägungen
Die „unpolitische" Deutung des Amtes gehört seit jeher zum Traditionsbestand deutschen Berufsbeamtentums. Von überzeugten Demokraten ist dieses Amtsverständnis immer wieder heftig kritisiert worden, weil es, um Gustav Radbruchs berühmte Formulierung aus der Weimarer Republik aufzunehmen, eine „Lebenslüge des Obrigkeitsstaates" in dessen Verwaltungsorganen einwurzelte, die an den Behördengeist in der neuen republikanischen Ordnung nahezu ungebrochen weitergegeben worden ist. In der Tat sind im historischen Rückblick die vordemokratischen Züge in der hergebrachten „unpolitischen" Amtsauffassung unübersehbar. Da im Deutschen Reich bis 1918 die staatliche Exekutive, Regierung wie Verwaltung, der Auftrags- und Kontrollbefugnis demokratisch gewählter Parlamente entzogen blieb, festigte sich innerhalb des Beamtenstabs ein Amtsverständnis, das auf einer hegelianisch begründeten Trennung von Staat und Gesellschaft beruhte. In diesem Verständnis fiel dem Staat, als einer Art Lord-Siegelbewahrer der sittlichen Idee des Gemeinwohls, und folglich auch seinen hauptamtlichen Staatsdienern die Aufgabe zu, die in Partikularinteressen zerspaltene bürgerliche Gesellschaft zu lenken, was hieß, sie den „wahrhaft allgemeinen Zwecken zu unterwerfen" 19. Daraus folgerte der Staatslehrer Lorenz von Stein, daß die Richtschnur des Verwaltungshandelns das am gemeinen Wohl ausgerichtete Einwirken auf die Gesellschaft sei. 20 Nach dieser Anschauung, welche die bürokratische Doktrin des Obrigkeitsstaates prägte, war der Staat selbst-souverän. Er erhielt seine Legitimation, autoritativ zu entscheiden, aus sich selbst und nicht kraft Auftrag gewählter Parlamente, die den souveränen Volkswillen repräsentierten. Politik, zumal 'gute" Politik, gehörte deshalb in den Bereich der Staatswillensbildung, die gegen das Zugriffsrecht der parlamentarisch vertretenen Volkswillensbildung abgeschirmt blieb. 21 Dem Staat wurde eine Qualität zugeschrieben, die unabhängig vom Formenwechsel politischer Systeme Bestand hat. Solche überpositive Staatsqualität fand ihren konkreten Ausdruck im positiven Gesetzesrecht. Dem Staat an sich, als einem abstrakten Autoritätsprinzip, galt mithin die erste Loyalitätspflicht seiner Beamten.
19
Lorenz von Stein, Die Gesellschaftslehre. Erste Abtheilung: Der Begriff der Gesellschaft und die Lehre von den Gesellschaftsklassen, Stuttgart/Augsburg 1856, S. 31 ff. 20 Ebd. 21 Zum integralen Verhältnis von Volks- und Staatswillensbildung in demokratischen Verfassungsstaaten vgl. Dieter Grimm, Die politischen Parteien, in: Ernst Benda/Werner Maihofer/ Hans-Jochen Vogel (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Berlin/New York 1983, S. 317 ff.
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Politik war demnach Sache des Staates, aber nicht seiner Verwaltung. Dieses „unpolitische" bürokratische Grundverständnis konnte drei unterschiedliche Schattierungen annehmen. Zuvörderst galt das Gebot, sich der amtierenden Staatsleitung gegenüber, welche die legitime politische Führung darstellt, loyal zu verhalten. Fragwürdig war dieses Selbstverständnis nicht, insoweit es den Primat der Politik anerkannte und die eigene, verwaltende Tätigkeit als den verlängerten Arm der gestaltenden gouvernementalen Organmacht definierte. Ein solches, der (partei)politischen Selbstbeschränkung verpflichtetes Amtshandeln bleibt, wie Dieter Grimm zutreffend anmerkt, „als Funktionsbedingung auch der Parteiendemokratie unverändert gültig" 22 . Der Verzicht der Verwaltungsbediensteten darauf, persönliche politische Ambitionen und Beweggründe in das Amtshandeln einfließen zu lassen, lag übrigens auch den Reformkonzepten eines „nonpolitical civil service" zugrunde, wie sie nach 1945 von den US-amerikanischen und britischen Besatzungsmächten vertreten worden sind. 23 Dieses instrumenteile „unpolitische" Dienstverständnis konnte jedoch historisch dort in ein der Demokratie abträgliches umschlagen, wo es in einen positivistisch befangenen Legalismus einmündete, der sich dem bloßen Formprinzip des Gesetzes unterwarf und nicht mehr danach fragte, ob das formal geltende Gesetzesrecht in einer demokratisch und rechtsstaatlich legitimen Weise zustande gekommen war. Aus solcher Sicht war bürokratischer Regelgehorsam scheinbar entpolitisiert. Über diese Brücke fand das Gros des deutschen öffentlichen Dienstes zu seiner Anpassungshaltung an den nationalsozialistischen Diktaturstaat 24, der seinen Unrechtscharakter, wie Thomas Ellwein hervorgehoben hat, gerade im Bereich des Verwaltungsrechts hinter dem Schirm fortgeltender Rechtsnormen verhüllte. 25 Eine zweite Variante des hergebrachten „unpolitischen" Beamtengeistes speiste sich aus einer mit der etatistischen Fixierung eng verwandten DistanzHaltung gegenüber gesellschaftlicher Einflußnahme. Daß organisierte gesellschaftliche Interessen via Parteien und Verbände die Inhalte des Staatswillens und dessen administrative Umsetzung zu beeinflussen suchen, galt der überwiegenden Mehrheit der Beamtenschaft lange Zeit als Ausdruck einer der Verwaltung wesensfremden Politisierung. Drittens konnte das Selbstverständnis einer 22
Ebd, S. 361 f. Vgl. Holtmann, Erneuerung (Anm. 1), S. 42 ff.; ferner Curt Garner, Schlußfolgerungen aus der Vergangenheit? Die Auseinandersetzungen um die Zukunft des deutschen Berufsbeamtentums nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, in: Hans-Erich Volkmann (Hrsg.), Ende des Dritten Reiches - Ende des Zweiten Weltkriegs, München/Zürich 1995, S. 607 ff. 23
24
Vgl. Ruck (Anm. 6), S. 67 u.ö. Thomas Ellwein, Zu den Eigentümlichkeiten deutscher Verwaltungsstaatlichkeit, in: Wolfgang Seibel/Arthur Benz (Hrsg.), Regierungssystem und Verwaltungspolitik, Opladen 1995, S. 255. 25
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„unpolitischen" Verwaltung auch bedeuten, sich gegenüber den Zumutungen einer diktatorischen und scheinlegal operierenden Staatsgewalt auf das Leitbild einer streng rechtsformtreuen, unpersönlich-neutralen Gesetzesanwendung zurückzuziehen. Diese Variante eines „unpolitischen" Amtsverständnisses ist von der jüngeren Geschichtsforschung aufgegriffen und im Hinblick darauf untersucht worden, inwieweit es unter dem Nationalsozialismus von öffentlich Bediensteten genutzt worden ist, um dem Regime durch stille Obstruktion im Namen der Legalität die Gefolgschaft zu verweigern. Wie die Forschungsergebnisse zeigen, sind derlei Praktiken eines aus politisch motivierter Resistenz geübten Dienstes nach Vorschrift bzw. Verschleppens behördlicher Maßnahmen nur in wenigen Einzelfällen nachweisbar und filr das Beamtentum im Dritten Reich nicht verhaltenstypisch gewesen.26 6. Die Politisierung des „ unpolitischen " Amtsgedankens in der Phase der westdeutschen Demokratiegründung nach 1945 Im Übergang in die westdeutsche Demokratiegründung nach 1945 hat das „unpolitische" Amtsverständnis eine bemerkenswerte Beharrungskraft gezeigt. Während dieses Anknüpfen an tradierte Einstellungsmuster - auch hierfür fehlen übrigens verläßliche empirische Daten - aus der Sicht der späten 60er Jahre überwiegend als ein Zeichen erfolgreicher „Restauration" gedeutet wurde, urteilt die jüngere zeitgeschichtliche und verwaltungspolitologische Literatur differenzierter. Verwiesen wird darauf, daß die öffentliche Verwaltung sich in der schwierigen Übergangszeit zwischen den Systemen vornehmlich deshalb als eine wichtige Stütze der politischen Neuordnung erwiesen habe, weil sie sich auf ihre „unpolitischen" Prinzipien einer überparteilich regelnden und rechtlich streng korrekt handelnden Ordnungs-, Eingriffs- und Leistungseinrichtung zurückbesonnen habe. In der Lähmungskrise der ersten Nachkriegsjahre bewährten sich gerade diese überkommenen Grundsätze öffentlicher Verwaltung. 27 Nicht jede Ausprägung des facettenreich „unpolitischen" Amtsgedankens, welcher den Systemwechsel von 1945 überdauerte, war folglich „reaktionär" oder „restaurativ". Die Rückbesinnung auf unbedingten Regelgehorsam, nunmehr aber gebunden an eine rechtsstaatliche Rechtsidee, war eine pragmatisch unerläßliche, aber auch normativ gebotene Voraussetzung für das Gelingen des zweiten deutschen Demokratieprojekts. Die nachhaltige Institutionalisierung des Rechtsstaates bedurfte einer bürokratischen Handlungsorientierung, die an diesen Strang ihrer „unpolitischen" Tradition anknüpfte. Aber mehr noch: Für jene große Mehrheit der Bediensteten, die nach einem standardisierten Verfahren 26 27
Mit Verweis auf einschlägige Fallstudien Ruck (Anm. 6), S. 67 ff. Vgl. Böhret (Anm. 9), S. 11.
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politischer Säuberung in die erneuerten Behörden übernommen oder später wieder eingegliedert wurden, war ein penibles Befolgen formaler Regeln und betonte Vorschriftentreue auch ein Mittel, in der „neuen Zeit" nicht anzuecken. Sich eng an den „Buchstaben des Gesetzes" zu halten, ermöglichte eine größere Verhaltenssicherheit im Dienst. So gesehen, war die Besinnung auf die „unpolitische" Tugendlehre des Berufsbeamtentums so etwas wie eine persönliche Versicherungs-Police zur Weiterbeschäftigung im öffentlichen Dienst. Da, wie ich annehme, viele Einzelne gleichzeitig im Dienst so handelten, erweiterte sich der individuell praktizierte Legalitätsvorrang zu einer stabilen institutionellen Größe. Vermutlich hat sich diese behördeninterne defensive Orientierung an einem strikten Legalismus im Zuge des Umbaues der ostdeutschen Verwaltung nach der Wende von 1989/90 in vergleichbarer Weise wiederholt. Aber auch dies läßt sich, mangels einschlägiger Untersuchungen, empirisch nicht belegen. Wenn sich der „unpolitische" Habitus in der Gründerzeit der Bundesrepublik als ein diskretes Hilfsmittel zur Sicherung der Weiterbeschäftigung etablierte, so wurde dieser Habitus durch die alsbald einsetzende Institutionalisierung des materiellen Rechtsstaates mit dem Verfassungsziel der sozial verpflichteten Demokratie substantiell aufgefüllt. Seither sind die Treue zum legalen Formprinzip und eine inhaltlich an das ausgleichende Gerechtigkeitsgebot gebundene Verwaltungspraxis unlösbar miteinander verknüpft. Durch eine Gesetzgebung, die den Verfassungsauftrag der Artikel 20 und 28 GG umsetzt, und durch eine fortlaufende Rechtsprechung, welche das Sozialstaatspostulat auslegt, wird das „unpolitische" Verhaltensmuster der gesetzeskonform handelnden Verwaltung in doppelter Weise inhaltlich präzisiert und letztlich auch politisch angereichert: einmal durch die generellen Bindungswirkungen von Gesetz und Richterrecht sowie zum anderen dadurch, daß für das pflichtgemäße Ermessen der Verwaltung im Einzelfall die Richtung deutlicher vorgegeben wird. 28 Auch die anderen beiden beschriebenen Varianten des überkommenen „unpolitischen" Verwaltungsdenkens haben den Systemumbruch von 1945 nicht lange unverändert überdauert. Die obrigkeitliche Vorstellung einer extrapolitisch tätigen Verwaltung, die sich jedweder in der Regierungsmacht verkörperten Politik fügsam unterordnet, ließ sich im Grunde reibungslos auf die neuen Verhältnisse übertragen, indem das in seinen „wohlerworbenen Rechten" bestätigte Behördenpersonal die Autorität der nunmehr demokratisch legitimierten Regierungen in Bund und Ländern ohne innere Vorbehalte anerkannte. Dies war der Unterschied zur Weimarer Republik. Die innere Abkehr vom Staat der Republik, die seinerzeit aus latenten antidemokratischen Ressentiments in der Beamtenschaft gespeist wurde und die nach außen hin reklamierte „unpolitische" Dienstauffassung permanent in ihr Gegenteil verkehrt hatte, war mit dem
28
Vgl. hierzu BVerfGE 1, S. 97, und BVerfGE 22, S. 180,204.
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Fall des Dritten Reiches untergegangen. Übrig blieb jenes Maß an angemessen „unpolitischer" Professionalität, das gebraucht wird, um die politischen Präferenzentscheidungen demokratisch gewählter, wechselnder Regierungen und Parlamentsmehrheiten loyal umzusetzen. Schließlich dürften auch von der Überzeugung, die Verwaltung müsse gegenüber konfligierenden gesellschaftlichen Interessen und gegenüber dem Parteienwettbewerb abgeschottet werden (also unserer dritten „unpolitischen" Variante), schon in der Frühzeit der Bundesrepublik mehr und mehr Angehörige des öffentlichen Dienstes abgerückt sein. Dieser Eiristellungswandel ist auf den verschiedenen staatlichen Ebenen möglicherweise mit unterschiedlichen Änderungsgeschwindigkeiten verlaufen. Aber er hat alle diese Ebenen, von der Ministerial- bis zur Kommunalverwaltung, beizeiten erfaßt. Hierzu haben externe und interne Faktoren gleichermaßen beigetragen. Einesteils haben die politischen Parteien bzw. parteipolitisch gebildeten Mehrheiten in Gemeinderäten und Kreistagen von den Möglichkeiten personalpolitischer Steuerung auf der kommunalen Leitungsebene, die nicht nur demokratisch legitim, sondern auch funktional notwendig sind 29 , systematisch Gebrauch gemacht, nachdem die kommunale Selbstverwaltung flächendeckend wieder eingeführt worden war. Aber auch dort, wo in den gehobenen und höheren Rängen der Verwaltung direkte Parteibindungen nicht existierten, wurde der eigene Beruf zunehmend in seinen politischen Dimensionen wahrgenommen und akzeptiert. Schon in den 50er Jahren hatte die öffentliche Verwaltung ja längst Aufgaben der Problemerkennung und Thematisierung, der Vorauswahl von Lösungsalternativen und der Programmformulierung übernommen, die von der politikwissenschaftlichen Theorie erst wesentlich später als typische Funktionen einer in Politik eingebundenen Administration herausgearbeitet worden sind. Und schon damals dürfte auch die Herausbildung von autonomen Policy-Netzwerken, die sich vom hierarchischen Staat emanzipieren und auf die Selbstregelungsfähigkeiten korporativer Akteure setzen, begonnen und die Beziehungen zur staatlichen Fachverwaltung zumindest sektoral verändert haben. Dann aber spricht wenig für die Annahme, die Bediensteten, die in dieser politisch planenden, gestaltenden und kooperierenden Verwaltung tätig waren, hätten am Bild einer „unpolitischen" Verwaltung weiterhin unverbrüchlich festgehalten.
29 Vgl. hierzu Everhard Holtmann, Parteien in der lokalen Politik, in: Roland Roth/Hellmut Wollmann (Hrsg.), Kommunalpolitik, 3. Aufl., Opladen 1999, S. 222 ff.
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7. Die Ablösung des „ klassischen " durch den „politischen Bürokraten " ein Entwicklungssprung der späten 60er Jahre? Um die Jahrzehntwende von den 60er zu den 70er Jahren wurden die Einstellungen im westdeutschen öffentlichen Dienst erstmals empirisch untersucht. Der Zeitpunkt ist kein Zufall. Innerhalb der Politikwissenschaft differenzierte sich jetzt eine zugleich theoriegeleitete und praxisbezogene Verwaltungspolitologie aus. So wurden einesteils die Strukturen und Handlungsmuster einer politischen bzw. „planenden Verwaltung" (Fritz Scharpf) analysiert und in theoretische Erklärungsmodelle eingebracht. Andererseits wurden, in strukturkritischer Absicht, Fragen aufgeworfen nach den spezifischen Modernisierungsdefiziten und -potentialen der öffentlichen Verwaltung, der zu dieser Zeit das Image einer vorwiegend konservativ geprägten und der Reorganisation bedürftigen Einrichtung anhaftete. Berührungspunkte dieses Zweigs der Verwaltungsforschung mit der praktischen Politik ergaben sich, als das Konzept einer ressortübergreifenden Politikplanung, die sich der Instrumente der Verwaltung bediente, zeitweise in die Reform vorhaben der 1969 erstmals gewählten sozialliberalen Regierung Eingang fand. Darüber hinaus war das gestiegene Forschungsinteresse an der Modernitätsfähigkeit öffentlicher Verwaltung Teil der allgemeinen Diskussion über die Demokratisierung von Staat und Gesellschaft der Bundesrepublik. Seither erscheint „politische Verwaltung" als ein normales Funktionselement komplexer Staatlichkeit. Zeitlich parallel erfolgte der erwähnte, doppelte Generationenwechsel innerhalb der Ministerialverwaltung des Bundes, altersbedingt und als Folge des Bonner Machtwechsels. Auch dieser Vorgang lenkte das sozialwissenschaftliche Forschungsinteresse auf die Einstellungen der Angehörigen des öffentlichen Dienstes. Die im anglo-amerikanischen Raum etwa zur gleichen Zeit beginnende Erforschung des Wertewandels in westlichen Industriegesellschaften stellte mit Robert Putnams Studien die Untersuchung der bundesdeutschen Verwaltungskultur in einen international vergleichenden Rahmen. Es überrascht daher nicht sonderlich, daß an der Bürokratieforschung interessierte Sozialwissenschaftler wie Niklas Luhmann, Renate Mayntz, Ralf Zoll und Thomas Ellwein, die zu dieser Zeit die Systembezüge einer politischen Verwaltung zu Zwecken der Theoriebildung analysierten, auch deren subjektive Seiten im Amtsverständnis des öffentlichen Dienstes empirisch überprüften. Diese frühen empirischen Studien aus der ersten Hälfte der 70er Jahre gehen ausnahmslos von der Hypothese eines Einstellungswandels aus, einer Wendung von traditionellen zu modernen bürokratischen Leitbildern. Robert Putnam hat diesen Einstellungswandel in der idealtypischen Entgegensetzung von „klassischen" und „politischen Bürokraten" am klarsten klassifiziert. Putnam zufolge legt der Bedienstete, der den klassischen Typus verkörpert, betont Wert auf s*
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Distanz gegenüber organisierten Interessen im Rahmen seiner dienstlichen Tätigkeit. Dienstaufgaben können demnach rein sachlich bearbeitet werden. Dieses Mißtrauen gegenüber den Institutionen politischer Macht, also Parlamenten, Parteien, Interessengruppen und Verbänden, teilt der politische Bürokrat nicht mehr. Für diesen ist das Gemeinwohl nicht eine dem Interessenkonflikt entrückte, immer schon vorweg bestimmte Größe, sondern ein in der Zeit veränderbares Ergebnis gesellschaftlicher Konsensfmdung. Voneinander abweichende Auffassungen von Gemeinwohl sind für ihn gleichermaßen legal. Der politische Bürokrat erkennt daher den Einfluß konkurrierender Gruppeninteressen auf den Staatswillen, und folglich auf die öffentliche Verwaltung, als grundsätzlich legitim an. 30 Der Typus des „klassischen Bürokraten" nimmt erkennbar die von Max Weber um die Jahrhundertwende für den bürokratischen Betrieb herausgearbeitete Verhaltensgestalt auf. 31 Im unparteiisch-korrekten Gesetzesgehorsam kam für Weber die besondere Rationalität der modernen Bürokratie am klarsten zum Ausdruck. Demgegenüber ist der politische Bürokrat stärker programm- und problemorientiert. Eine informelle Zusammenarbeit mit Politikern wird als selbstverständlich betrachtet. Der politische Bürokrat lernt schnell, mit den Modi des Aushandelns und der Kompromißfindung, auch im Austausch mit externen Akteuren, umzugehen.32 Ohne wie Putnam eine förmliche Typisierung vorzunehmen, haben sich die im Jahr 1973 erschienenen Untersuchungen von Ellwein/Zoll und Luhmann/Mayntz an ähnlichen Kontrastbildern orientiert. Es lag ja auch generell nahe, als analytischen Bezugspunkt die in Putnams Typus des klassischen Bürokraten verdichteten Züge eines traditionellen Amtsverständnisses auszuwählen 33 , weil sich die von Max Weber idealtypisch figurierten BürokratieMerkmale mit den im Grundgesetz verankerten hergebrachten Grundsätzen des deutschen Berufsbeamtentums weithin deckten. Daß sich, daran gemessen, die Einstellungen im öffentlichen Dienst zu Beginn der 70er Jahre verändert hatten, wurde in den Studien übereinstimmend bestätigt. Aus der Überlegung heraus, daß infolge der Personalvermehrung der öffentliche Dienst kein exklusives Berufsfeld mehr darstelle, gingen Thomas Ellwein und Ralf Zoll von der Annahme aus, daß sich Beamte und Angestellte in ihren Einstellungen und Verhaltensweisen generell nicht mehr klar unterschieden. Unterschiede wurden allenfalls im engeren Bereich der politischen Einstellungen erwartet. Insbeson30
Vgl. Robert D. Putnam, Die politischen Einstellungen der Ministerialbeamten in Westeuropa - Ein vorläufiger Bericht, in: Politische Vierteljahresschrift 17 (1976), S. 25 f. 31 Vgl. Günther Schmid/Hubert Treiber, Bürokratie und Politik, München 1975, S. 190 f.; ferner Hubert Treiber (Anm. 12), S. 136. 32 33
Ebd. So explizit Luhmann/Mayntz (Anm. 4), S. 335.
Vom „klassischen" zum „politischen Bürokraten"?
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dere Beamte, so eine weitere Annahme, würden sich aufgrund der noch nachwirkenden, traditionell konservativen Gesinnung dieses Berufsstandes durch eine unpolitische Grundhaltung und größere Distanz zur Politik von Angestellten abheben.34 Diese Annahmen wurden nicht bestätigt, und zwar auch nicht hinsichtlich der politischen Einstellungen. Wenn überhaupt Einstellungsunterschiede zwischen Beamten und Angestellten auftraten, dann waren solche Differenzen nicht im Status der Befragten, sondern durch Alter, Geschlecht und Bildungsgrad begründet. 35 Diese Tendenzen einer signifikanten Angleichung der Statusgruppen des öffentlichen Dienstes wurden durch die Personalstudie von Niklas Luhmann und Renate Mayntz erhärtet. Luhmann und Mayntz überprüften sechs Einstellungsvariablen, nämlich Publikumsbezogenheit, Aufgeschlossenheit für öffentliche Kontrolle, unpolitische Gesetzesanwendung, Bindung an Interessengruppen, Priorität des Dienstes gegenüber privaten Bedürfnissen und politische Neutralität. Auch hier lautete die Annahme, daß das Beamtenethos in diesen Punkten „insbesondere mit dem Status als Beamter oder Angestellter variieren könnte" 36 . Die Befunde waren in Teilen überraschend. So wurde die Frage, ob der Bedienstete auf Bedürfnisse und Probleme seiner Klienten eingehen solle, „erstaunlich eindeutig" (86%) bejaht. Eine klare Mehrheit (56%) mochte den Bürgern auch die Kontrolle des Verwaltungshandelns zugestehen. Die Frage, ob sich der Bedienstete auf einen sachgemäßen und gerechten Gesetzesvollzug beschränken solle, fand immerhin noch bei 42% der Befragten Zustimmung (50% verneinten dies). Luhmann und Mayntz interpretierten dies nicht als das Nachwirken der traditionellen Auffassung vom Amtshandeln als Herrschaft des Gesetzes; vielmehr deute solch' Legalismus eher hin auf „ein Abschieben von Politik in zentralisierte Entscheidungen". Eine Bindung an Interessengruppen, im Sinne ihrer Wahrnehmung als Teil der „politisch relevanten Umwelt", wurde von beinahe gleich großen Gruppen befürwortet (43%) oder abgelehnt (45%). 37 Stärker einstellungsprägend als Statusunterschiede oder auch Veränderungen im Aufgabenzuschnitt war die Generationszugehörigkeit. Häufiger und intensiver als jüngere sahen ältere Bedienstete „ihr Verhältnis zur Politik durch den Vorgang der Gesetzgebung gefiltert und ihre eigene Tätigkeit demgemäß vorwiegend als Gesetzesanwendung". Die Nachwuchskräfte waren für Tätigkeitskontrollen seitens des Publikums aufgeschlossener und gegenüber Interessengruppen deutlich weniger befangen. Insgesamt gewannen Luhmann/Mayntz den Eindruck, „daß das Berufsethos des öffentlichen Dienstes sich bei abnehmender 34 35 36 37
Ellwein/Zoll (Anm. 3), S. 157. Ebd., S. 157-163. - Allerdings war das Berufsverständnis nicht Gegenstand der Befragung. Luhmann/Mayntz (Anm. 4), S. 337. Ebd., S. 337 ff.
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Gesetzesorientierung mehr an den Beziehungen zum Publikum und an den Beziehungen zur Politik orientieren wird". Die schon ausgeprägte Publikumsorientierung begänne sich „in eine Orientierung an konsolidierten Interessengruppen umzufärben". 38 Das Erscheinungsbild einer bürokratischen Funktionselite, die dabei war, sich auf den gesellschaftlichen Wandel und die politischen Implikationen des eigenen Berufes flexibel einzustellen, wurde durch Putnams 1970/71 durchgeführte Untersuchung der Einstellungen der Ministerialbürokratie bestätigt. Gemäß der von ihm eingeführten idealtypischen Unterscheidung nach „klassischen" und „politischen" Bürokraten, die in seinen eigenen Worten sozusagen „entgegengesetzte Handlungssyndrome" abbildeten, kam Putnam zu dem Schluß, daß das Gros der höheren deutschen Beamtenschaft dem Typus des politischen Bürokraten entspreche. An der Schwelle der 70er Jahre kennzeichne die Verwaltungselite der Bundesrepublik „eine überdurchschnittliche Aufgeschlossenheit gegenüber den politischen Anforderungen einer Demokratie". 39 So stimme allenfalls jede(r) siebte Bedienstete der Aussage zu, daß weder Parteien noch Parlamente, sondern eigentlich die Ministerialbürokratie der Garant einer vernünftigen und zufriedenstellenden Politik in diesem Lande sei. Und nur etwa jede(r) fünfte bejahte die Aussage, daß das Gemeinwohl durch den permanenten Konflikt organisierter Interessengruppen ernsthaft gefährdet sei. 40 Auch Putnam ordnete diese Momentaufnahme von bürokratischen Einstellungen als Ausdruck eines im Gange befindlichen Einstellungswandels ein, und auch er sah die Ursache in der substantiellen Verjüngung, also in einem altersbedingten Generationenwechsel. Je jünger ein Beamter sei, so prognostizierte Putnam, desto weniger werde er die Charakterzüge eines „klassischen Bürokraten" an den Tag legen, und zwar ungeachtet seiner persönlichen Parteipräferenzen. Daher sei eine „Umkehrung des historischen Trends hin zu einer im weitesten Sinne 'politischen' Bürokratie sehr unwahrscheinlich" 41 . 8. Das bürokratische Rollenverständnis in der erneuerten ostdeutschen Verwaltung nach der „ Wende " Doch hat sich dieser von Putnam so apostrophierte „historische Trend" auch mit ungebrochener Dynamik in den Umbau der ostdeutschen öffentlichen Verwaltung nach 1989/90 hinein verlängert? - Für diese Annahme spricht vordergründig, daß mit dem Institutionentransfer auch die Leitbilder, Regelwerke und 38 39 40 41
Ebd., S. 338-352. Putnam (Anm. 30), S. 25,49. Ebd., S. 37, mit weiteren Einzeldaten zum „politischen Toleranzindex". Ebd., S. 50 f.
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Handlungsmuster der westdeutsch vorgeprägten Administration en bloc ostwärts verlagert worden sind. Überdies sind bekanntlich, da sich die mangelnde professionelle Qualität der alten politisierten DDR-Bürokratie als ein Strukturproblem erwies, zugleich aber im Westen ein „externes Elitenreservoir" 42 zur Verfügung stand, im Zuge des Personalaustauschs zahlreiche Bedienstete insbesondere für leitende Positionen in Westdeutschland rekrutiert worden. Dennoch führte diese zweite Systemtransformation in der jüngeren deutschen Geschichte innerhalb der Bürokratie zu einer zumindest vorübergehenden Renaissance traditioneller Rollenbilder, die an die Verhaltensgestalt des „klassischen Bürokraten" anknüpfen und an vergleichbare Vorgänge in der Phase 1945/49 erinnern. Im Rahmen einer Untersuchung über Rollenmuster und Einstellungen in den Magistratsverwaltungen Ost- und Westberlins, die bereits Ende 1990 durchgeführt wurde, haben befragte Ostberliner Bedienstete beispielsweise der Aussage, „ein leitender Beamter sollte seine Tätigkeit darauf beschränken, die Gesetze präzise anzuwenden", überwiegend beigepflichtet. 43 Die erkennbar stärkere Identifikation mit der Berufsrolle des „Rechtsanwenders" drückt Eckard Schröter zufolge „vermutlich sowohl eine demonstrative Abkehr von der mangelhaften Rechtsbindung des DDR-Verwaltungswesens als auch eine überhöhte Hoffnung auf die Steuerungskapazitäten des Rechts" aus.44 Bemerkenswerterweise sind solche nach ostdeutscher und westdeutscher Herkunft identifizierbaren Einstellungsunterschiede nur wenige Jahre später offenbar weitgehend eingeebnet. Nach den Daten, die bei einer Erhebung 1994/95 auf der Führungsebene der Ministerialverwaltungen von Brandenburg und Sachsen ermittelt worden sind, unterscheiden sich die Fallgruppen der aus Ost- bzw. Westdeutschland kommenden Ministerialbeamten im Hinblick auf ihre Anforderungen an politisches Gespür, Loyalität, Professionalität, Innovationskraft, Fachverstand und Gesetzesvollzugspflichten eines leitenden Beamten überhaupt nicht oder nur minimal. 45 Nur bei einzelnen Rollenbildern ergeben sich unterschiedliche Nuancen: Aus Westdeutschland gekommene Führungskräfte sehen sich, wie Horst Damskis herausgearbeitet hat, stärker in der Rolle des „Initiators". Ostdeutsche Spitzenbeamte können sich hingegen eher mit der
42
Derlien (Anm. 2), S. 184, 188. Christoph Reichard/Eckard Schröter, Berliner Verwaltungseliten. Rollenverhalten und Einstellungen von Führungskräften in der (Ost- und West-)Berliner Verwaltung, in: Wolfgang Seibel/Arthur Benz/Heinrich Mäding (Hrsg.), Verwaltungsreform und Verwaltungspolitik im Prozeß der deutschen Einigung, Baden-Baden 1993, S. 213. 44 Eckard Schröter, Was trennt Bürokraten in einer vereinigten Bürokratie? Einstellungen und Werthaltungen (Ost- und West-)Berliner Verwaltungsfilhrungskräfte, in: Gert-Joachim Glaeßner (Hrsg.), Der lange Weg zur Einheit, Berlin 1993, S. 265. 43
43 Vgl. Gert-Joachim Glaeßner u.a., Datenreport zum Projekt Verwaltungskultur in den neuen Bundesländern, Berlin 1995, S. 16 f.
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Rolle des „Fürsprechers" gesellschaftlicher Anliegen identifizieren. Alle Befragten verstehen sich, so Damskis, ganz überwiegend „als policy-engagierte und den politischen Rollenfunktionen aufgeschlossene Verwaltungsakteure". Doch auch das traditionelle Rollenbild des „Rechtsanwenders" findet mehrheitlich Zustimmung. 46 Zusammenfassend läßt sich mithin feststellen: Die Angleichung an das Rollenverständnis einer politisch planenden, steuernden und kooperierenden öffentlichen Verwaltung ist in Ostdeutschland bemerkenswert schnell vollzogen worden. Für die Übergangsphasen beider historischer Regimewechsel, 1945/49 wie 1989/90, läßt sich indes eine - temporäre - Rückorientierung auf das traditionelle Rollenmuster des regeltreuen „Rechtsanwenders" nachweisen. Insoweit erweist sich die in der sozialwissenschaftlichen Bürokratieforschung übliche idealtypische Unterscheidung nach dem „klassischen" und dem „politischen Bürokraten" als heuristisch hilfreich. Wenn dabei jedoch der klassische Amtsgedanke pauschal als rückschrittlich-unpolitisch abqualifiziert wird, verzeichnet dies die Wirklichkeit. Denn ein demokratietreues Legalitätsdenken hat den Prozeß der Institutionen-Neubildung beide Male nicht unerheblich abgestützt. Erst recht läßt sich das Amts- und Rollenverständnis der aus West- und OstKontingenten zusammengesetzten ostdeutschen Verwaltung nach 1989/90 mit dem vereinfachenden bipolaren Muster „klassisch"/"politisch" nicht angemessen erfassen. Das tatsächliche gegenwärtige Amtsverständnis ist offenbar viel differenzierter, nämlich aus einem set von „klassischen" und „politischen" Komponenten zusammengefügt. In diese Kombination sind besondere ostdeutsche Erfahrungslagen erkennbar mit eingegangen. Inwieweit sich im Zuge künftiger Verwaltungsreformen, wie etwa der Einführung sog. neuer Steuerungsmodelle auf kommunaler Ebene, die Einstellungs-Koordinaten abermals verschieben, ist allerdings eine noch offene Frage.
46
Horst Damskis, Politikstile und regionale Verwaltungskulturen in Ostdeutschland. Politikund Rollenverständnis leitender Ministerialbeamter, Leverkusen 1997, S. 105 ff.; vgl. auch ders., Verwaltungselite und Verwaltungskultur in den Bundesländern Brandenburg und Sachsen, in: Andreas Eisen/Hellmut Wollmann (Hrsg.), Institutionenbildung in Ostdeutschland, Opladen 1996, S. 115 ff.
Karl-Rudolf
Körte
50 JAHRE KANZLERDEMOKRATIE PROBLEMATISIERUNG UND ANWENDUNG EINES BEGRIFFS AM BEISPIEL DER KANZLERSCHAFT HELMUT KOHLS 1. Einleitung Zu den Spezifika des deutschen parlamentarischen Regierungssystems gehört die herausgehobene Stellung des Bundeskanzlers. Als einziges Regierungsmitglied wird er vom Bundestag gewählt oder durch Wahl eines neuen Bundeskanzlers gestürzt.1 Auf seinen Vorschlag werden die Bundesminister vom Bundespräsidenten ernannt, beziehungsweise entlassen. Drei Prinzipien charakterisieren Arbeitsweise und Stellung der Bundesregierung: Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers (Kanzlerprinzip), Mehrheitsentscheidungen des Kabinetts (Kollegialprinzip) und schließlich die Verantwortlichkeit des Ministers für sein Ressort (Ressortprinzip). 2 Den verfassungsmäßigen Rahmen dafür bietet Artikel 65 des Grundgesetzes. Kombiniert sind hier Kollegialsystem und Einzelführung. Die Machtkonzentration beim Bundeskanzler und die spezifischen Ausprägungen durch Adenauer haben dem Regierungssystem der Bundesrepublik Deutschland die Bezeichnung der Kanzlerdemokratie eingebracht. Im folgenden (Kapitel 2) wird nun anhand der Kanzlerschaft Kohls nachgezeichnet, welche Kriterien zusätzlich berücksichtigt werden müssen, um das tatsächliche Regierungshandeln des Kanzlers im verfassungspolitisch definierten Kräftefeld zu analysieren. Modellhaft werden dabei Typen von Führungsstilen herausgearbeitet. Das Koordinationszentrum und die wichtigste Organisationsressource zur Integration der Handlungsebenen bildete das Kanzleramt (Kapitel 3). Die Varianten der Kohlschen Regierungspraxis, deren spezifische Leistung im stillen Integrieren und Moderieren bestand, sind Gegenstand von Kapitel 4. Die Korridore politischen Handelns verengen sich zunehmend durch Globalisierung, Mediatisierung und bürokratische Politik. War nun das „System Kohl" eine Antwort auf diese neuen Herausforderungen (Kapitel 5)?
1
Einzelheiten dazu bei Eckhard Jesse, Die Demokratie der Bundesrepublik Deutschland. Eine Einführung in das politische System, 8. Aufl., Baden-Baden 1997. 2 Klassisch dazu Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die Organisationsgewalt im Bereich der Bundesregierung, Berlin 1964.
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In ihren verschiedenen Ausprägungen erweist sich die deutsche Kanzlerdemokratie auch nach 50 Jahren noch als eine effektive Regierungsform, die Gewähr bietet für politische Stabilität und gleichzeitig den Amtsinhabern ermöglicht, flexibel auf die neuen Erwartungen an die politische Führung zu reagieren. 2. Kanzlerdemokratie
als Regierungsform
Die Richtlinienkompetenz gehört zu den herausragenden Regierungsinstrumenten des Grundgesetzes. Sie umschreibt die Machtfülle und den Führungsanspruch dieses Amtes. Doch wie der Bundeskanzler die Richtlinienkompetenz ausfüllt, hängt von seiner konkreten und individuellen Führungsleistung ab, die man als Regierungsstil bezeichnen kann. Der eigentliche Kern dieser Führungsleistung ist weder durch die Verfassungsnormen noch durch die Geschäftsordnung zu erfassen. „Wer führt, setzt Ziele, bestimmt die Mittel und setzt sie ein." 3 Längst ist man dazu übergegangen, unabhängig vom jeweiligen Bundeskanzler, stärker die strukturellen Fragen der Regierbarkeit zu betrachten. Schlagworte wie Parteiendemokratie, Mediendemokratie, Koalitionsdemokratie, Koordinationsdemokratie deuten auf den Gegenpol der Kanzlerdemokratie: 4 die Eingebundenheit des Bundeskanzlers, der meist hinter den Kulissen koordiniert, integriert und moderiert. Es regiert schließlich derjenige als Amtsinhaber oder gar als Staatsmann5, der die Entscheidungsmöglichkeiten kennt und unter ihnen bewußt auswählt.6 Hinzu kommt, daß das Ausmaß informeller Entscheidungen gewachsen ist, wobei die regelmäßigen Koalitionsrunden zum „quasistaatlichen Entscheidungsorgan" 7 geworden sind. Dies entsprach einer Handhabung, die sich bereits bei Adenauer herausbildete. Dennoch muß fehlende Transparenz von Entscheidungsfindung und Fragmentierung von Entscheidungsprozessen kein Zeichen von Führungsschwäche sein, zumal der jeweilige Bundeskanzler gerade auch in den sogenannten Grauzonen der Partei - im Vorfeld von Gremiensitzungen - geschickt die Entschei3
Joachim Jens Hesse/Thomas Ell wein, Das Regierungssystem der Bundesrepublik Deutschland, Opladen 1992, S. 265. 4 Überblick bei Karlheinz Niclauß, Kanzlerdemokratie. Bonner Regierungspraxis von Konrad Adenauer bis Helmut Kohl, in: Hans-Hermann Hartwich/Göttrik Wewer (Hrsg.), Regieren in der Bundesrepublik Deutschland, Opladen 1990, Bd. 1, S. 133-144; Axel Murswieck, Die Bundesrepublik Deutschland. Kanzlerdemokratie, Koordinationsdemokratie oder was sonst?, in: Ebd., S. 151-169. 5
Dazu Guy Kirsch/Klaus Mackscheidt, Staatsmann, Demagoge, Amtsinhaber, Göttingen 1985. Vgl. Thomas Ellwein, Koordination in der öffentlichen Verwaltung, in: Ders. u.a. (Hrsg.), Jahrbuch zur Staats- und Verwaltungswissenschaft 1991, S. 121 ff. 7 So Waldemar Schreckenberger, Veränderungen im parlamentarischen Regierungssystem, in: Karl Dietrich Bracher u.a. (Hrsg.), Staat und Parteien, Berlin 1992, S. 152. 6
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düngen in seine Richtung vorgeben kann, soweit er Macht innerhalb der Regierungspartei besitzt. Vermeintliche Führungsschwäche oder Führungsstärke eines Kanzlers werden allzu oft vom Bild der Adenauerzeit bestimmt. Waren nicht schon immer öffentlichkeitswirksame Demonstrationen von Führungsstärke eher Anzeichen von Führungsschwäche, wie beispielsweise die Abstimmungen über die Vertrauensfrage im Deutschen Bundestag oder das Pochen auf die Richtlinienkompetenz im Bundeskabinett? Solange man die Richtlinienkompetenz besitzt, muß man sich nicht auf sie berufen: „Ihr unbestrittener Besitz erweist sich gerade darin, daß man auf lautes Reden verzichten kann. Wer führen will, braucht das nicht eigens zu versichern - er führt und schweigt."8 Greifen die klassischen Kriterien der Regierungslehre bei der Analyse des Regierungsstils von Kohl oder Schröder? Denn Regieren heißt doch wohl zunehmend nicht primär Machtbesitz, sondern eher machtbewußte Führung. Der Begriff orientiert sich an der spezifischen Regierungstechnik des ersten Bundeskanzlers der Bonner Republik, Konrad Adenauer, wie sie Wilhelm Hennis geradezu paradigmatisch nachwies.9 Aus größerem zeitgeschichtlichen Abstand entstanden zudem weitere Arbeiten, die die durch den Begriff suggerierte starke Stellung des Kanzlers differenzierten. 10 Bilanzen zur Kanzlerdemokratie Adenauers legten einige Politikwissenschaftler Ende der achtziger Jahre vor. 11 Kontroversen über die angemessenen Kriterien bei der Beurteilung von Regierungstechniken entwickelten sich. Dabei rückten immer deutlicher die Sonderbedingungen, die den ersten Bundeskanzler Adenauer zu seinem spezifischen Regierungsstil veranlaßten, in den Blickpunkt. Vor allem Wolfgang Jäger hat herausgearbeitet, wie seiner Meinung nach aus der Kanzlerdemokratie mittlerweile eine Koordinationsdemokratie geworden ist. 12 Ein kooperativer und moderierender Führungsstil, der heute stärker die Koalitionspartner in der Parteiendemokratie berücksichtigen muß und hinter den Kulissen wirkt, fordert Koordinationskompetenz als Führungsleistung. Was dem Regierungschef schließlich an Kanzlermacht abhanden gekommen ist, kann er durch seine Rolle als Parteiführer, wenn er sie inne hat, kompensieren. Darin lag ein Großteil der Schwierigkeiten auch für Bundeskanzler Schmidt begründet. Für Gerhard
8
Konrad Adam, Kohl und die geistig-moralische Wende, in: Reinhard Appel (Hrsg.), Helmut Kohl im Spiegel seiner Macht, Bonn 1990, S. 30. 9 Vgl. Wilhelm Hennis, Richtlinienkompetenz und Regierungstechnik, in: Ders., Politik als praktische Wissenschaft, München 1968, S. 161 ff. 10 Vgl. Karl Dietrich Bracher, Die Kanzlerdemokratie, in: Richard Löwenthal/Hans-Peter Schwarz (Hrsg.), Die zweite Republik, Stuttgart 1974. 11 Vgl. Jost Küpper, Die Kanzlerdemokratie. Voraussetzungen, Strukturen und Änderungen des Regierungsstils in der Ära Adenauer, Frankfurt a.M. 1985. 12 Zuletzt Wolfgang Jäger, Wer regiert die Deutschen? Innenansichten der Parteiendemokratie, Zürich/Osnabrück 1994.
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Schröder muß sich erst noch herausstellen, wie er die fehlenden Machtressourcen der Parteiführung kompensieren wird. Regierungsstile - oft auch als Führungsstile bezeichnet - werden zudem häufig mit der persönlichen Befähigung des Akteurs gleichgesetzt. Die personalen Qualitäten des jeweiligen Amtsinhabers rücken dabei ins Zentrum des Interesses. Die akteursbezogenen Untersuchungen gerade im Umfeld des deutschen Einigungsprozesses vermitteln den Eindruck, daß die „Bonapartisierung der Politik" (Peter Lösche) voranschreitet. Gerade die Analysen der Vergleichenden Regierungslehre von Jean Blondel 13 oder Robert Elgie 14 zeigen jedoch, daß personale Faktoren durch politisch-institutionelle sowie zeitbedingt-strukturelle Ansätze ergänzt werden müssen. Nur in diesem Dreiklang kann auch gewichtet werden, was system- und was personenbedingt am Führungsstil der jeweiligen Kanzler ist. Um zu verstehen, zu welchen konkreten Ausformungen der Kanzlerdemokratie es in 50 Jahren gekommen ist, soll modellhaft die Regierungszeit von Kanzler Helmut Kohl analysiert werden. An diesem 16jährigen Beispiel wird deutlich, noch dazu wenn man es auf ein Politikfeld begrenzt, welcher Entscheidungsspielraum für die Kanzlerschaften gegeben ist. Helmut Kohls Führungsstil 15 als Bundeskanzler konstituierte sich bei der Regierungsübernahme 1982. Unabhängig von Zeitläuften und Politikfeldern blieb er dem persönlich geprägten und personenzentrierten Stil seiner Herrschaftspraxis treu. Er hielt an der Kunst des Machterhalts - als die dominierende abhängige Variable - durch Konzentration auf Partei und Koalition fest. Helmut Kohl erwies sich bereits bei seiner Regierungsübernahme 1982/83 als ein Enkel Adenauers. 16 Das betraf nicht nur die Langfrist-Visionen, sondern auch Aspekte des machtbewußten Führungsstils. Frühzeitig schaltete Kohl potentielle Mitkonkurrenten wie FranzJosef Strauß, Walther Leisler Kiep, Ernst Albrecht aus oder band sie in die Re-
13
Vgl. Jean Blondel, Political Leadership. Towards a General Analysis, London 1987. Vgl. Robert Elgie, Political Leadership in Liberal Democracies, Houndsmills 1995. 15 Vgl. generell Blondel, (Anm. 13); Axel Murswieck, Führungsstile in der Politik in vergleichender Perspektive, in: Hans-Hermann Hartwich/Göttrik Wewer (Hrsg.), Regieren in der Bundesrepublik, Bd. II, Opladen 1991, S. 81-95; zur Anwendung vgl. Oran R. Young, Political Leadership and Regime Formation: On the Development of Institutions in International Society, in: International Organization 44 (1991), S. 281-308. Nachfolgend bezieht sich der Führungsstil sowohl auf das konkrete Regierungshandeln (Entscheidungsstruktur und Verhandlungsstrategie) als auch auf persönliche Faktoren (informelle Verhaltenskomponenten). 16 Zum zeitgeschichtlichen Hintergrund vgl. Wolfgang Jäger, Die Wende 1982. Schuldzuweisungen für das Ende der sozial-liberalen Koalition, in: Die politische Meinung 33 (1988), S. 63-68, und ders., Die Innenpolitik der sozial-liberalen Koalition 1974-1982, in: Ders./Werner Link, Republik im Wandel 1974-1982, Stuttgart/Mannheim 1987, S. 9-272. Zu Adenauers Machtpraktiken zu Beginn seiner Ära vgl. Daniel Koerfer, Kampf ums Kanzleramt. Erhard und Adenauer, 2. Aufl., Stuttgart 1988. 14
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gierungsdisziplin ein (Gerhard Stoltenberg, Heiner Geißler). Kohl zeigte sich relativ unbeeindruckt vom selbstbewußten CSU-Vorsitzenden Strauß, was auch die zügigen Koalitionsverhandlungen bewiesen. Mit Hans-Dietrich Genscher konnte Kohl den CSU-Vorsitzenden in seinem Wirkungsfeld relativieren. Kohl war Motor des „Wende"-Geschehens. Mit Hartnäckigkeit hatte er sich durchgesetzt, Strauß, den Antipoden im eigenen Lager, von der Regierungsbank ferngehalten und ihn auf das Ziel des Neuwahltermins erst im Frühjahr 1983 verpflichtet. Mit ausgeprägtem Gespür für Gefährdungen der Alleinherrschaft hatte Kohl den Bayern ausmanövriert. Kohls Kampf ums Kanzleramt galt primär der Konsolidierung der Finanz- und Haushaltspolitik sowie der Durchsetzung des NATO-Doppelbeschlusses. Diese klare Programmatik, in der auch Einschnitte im sozialen Netz mit angekündigt und soziale Disziplin eingefordert wurde, bestimmten den Regierungswechsel. Zeitnot drängte die Koalitionäre zu raschen Antworten auf die ökonomische Krise. Ein Regierungsprogramm der ersten hundert Tage lag jedoch nicht in den Schubladen.17 Zwischen Amtsübernahme im Kanzleramt und der ersten Regierungserklärung lagen genau zehn Tage. Kohls Mannschaft war nicht darauf vorbereitet, schon im Herbst 1982 ins Kanzleramt einzuziehen. Von einem überlegt vorbereiteten Zugriff auf die Bonner Machtzentrale konnte zu diesem Zeitpunkt nicht gesprochen werden. Dennoch wurde modellhaft in den ersten Tagen Kohls Führungsstil als Kanzler sichtbar: a)
Hierarchieunabhängige Integration von loyalen Machtakteuren in einem Kommunikationsrahmen, wobei es sich um dienstliche Berater, externe Ratgeber sowie Machtakteuren mit Außenbezug zur Partei, den Medien, der Wirtschaft handelte. Dadurch sicherte sich Kohl nicht nur einen Informationsvorsprung vor den amtlichen Kanälen des Regierungsapparates, sondern auch seine Unabhängigkeit gegenüber den Vereinnahmungsversuchen von Partei und Administration.
b)
Moderation der Konflikte im Vorfeld der Entscheidungsgremien - auch durch Einbindung wichtiger Strömungen aus den Unionsparteien, der FDP und den Koalitionsfraktionen - bei gleichzeitiger Vermeidung von persönlich vertretenen, inhaltlich konkreten Festlegungen.
c)
Machtabsicherung seiner Richtlinienkompetenz durch die unbestreitbare Herrschaft über die CDU, die Kohl vom Wahlsieg 1983 ab systematisch vorantrieb und seinem spezifischen Modell von einer Kanzlerdemokratie im Parteienstaat entsprach.
17 Der Entscheidungshintergrund dazu bei Karl-Rudolf Körte, Deutschlandpolitik in Helmut Kohls Kanzlerschaft. Regierungsstil und Entscheidungen 1982-1989, Stuttgart 1998.
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Auf der analytischen Ebene müssen bei der Untersuchung von „leadership"Ausprägungen immer die Hauptvariablen „personality", „institutions" und „environment" 18 gleichberechtigt berücksichtigt werden. Ein umfassendes Bild ergibt sich aus dem Rückgriff auf Methoden der Zeitgeschichte. Der Anspruch auf eine historiographisch ergiebige Analyse des Regierungshandelns und des Führungsstils läßt sich nur mit quellenkritischer Aktenbearbeitung und Gesprächen mit den politischen Akteuren und Zeitzeugen einlösen.19 Denn der Führungsstil ergibt sich nicht nur aus dem Persönlichkeitsprofil des Kanzlers Kohl. Vielmehr müssen auch die Entscheidungs- und Verhandlungsprozesse selbst berücksichtigt werden. Erst dann wird der Einfluß des Kanzlers auf die konkrete Politikgestaltung sichtbar. Um die informellen Kraftfelder Kohlscher Informations- und Entscheidungsprozeduren im einzelnen und mit einiger Aussicht auf paradigmatische Aussagekraft zu beurteilen, war es ratsam, sich auf ein Politikfeld mit einiger Bedeutung zu konzentrieren. Dabei ist das Beispiel der Deutschlandpolitik der achtziger Jahre ein besonders lohnendes Politikfeld 20 , da deutsch-deutsche Politik über die operative Schaltstelle des Kanzleramtes abgewickelt wurde und immer auf den Kanzler zentriert war. Wie erkämpfte sich Kohl auf diesem Feld seinen Führungsanspruch und welchen unverwechselbaren Führungsstil prägte er dabei? 3. Der Kanzler und sein Chefmanager Deutschlandpolitik war zu jeder Zeit institutionell vorgegebene Chefsache. Kohl mußte sich hier keinen Führungsanspruch erkämpfen. Die Zahl der Akteure und vermeintlichen Mitgestalter in diesem exekutiven Feld des Regierungshandelns war nie groß. Die Richtlinienkompetenz des Kanzlers erstreckte sich auch auf wichtige operative Details. 21 Normativ und operativ gestaltete das 18
So Fred I. Greenstein, Nine Presidents in Search for a Modern Presidency, in: Ders. (Hrsg..), Leadership in the Modern Presidency, Cambridge u.a. 1988, S. 296-352. 19 Trotz der langen Amtsdauer von Kohl konnte man bisher noch nicht auf eine größere Studie zum Regierungshandeln zurückgreifen. Alle umfassenden zeitgeschichtlichen Arbeiten brechen mit dem Ende der Amtszeit Helmut Schmidts ab, so z.B. Wolfgang Jäger/Wolfgang Link, Republik im Wandel 1974-1982, Stuttgart/Mannheim 1987. Da sich die Bundesregierung zu einer vorzeitigen Freigabe der Regierungsakten seit 1982 gegenüber dem Autor bereit erklärte, kann die Studie (Anm. 17) den Anspruch erheben, erstmals Innenansichten der Herrschaftspraxis aus der Kanzlerschaft Kohls zu präsentieren und damit den Blick hinter die Kulissen freizugeben. 20 Überblick bei Matthias Zimmer, Nationales Interesse und Staatsräson. Zur Deutschlandpolitik der Regierung Kohl 1982-1989, Paderborn 1992; Kurt Plück, Der schwarz-rot-goldene Faden. Vier Jahrzehnte erlebter Deutschlandpolitik, Bonn 1996; Gesamtüberblick bei Werner Weidenfeld/Karl-Rudolf Körte (Hrsg.), Handbuch zur deutschen Einheit, Neuausgabe, Frankfurt a.M. 1996. 21 Zur Einordnung vgl. Peter Haungs, Kanzlerdemokratie in der Bundesrepublik Deutschland von Adenauer bis Kohl, in: Zeitschrift für Politik 34 (1986), S. 44-46.
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Kanzleramt monopolartig die Beziehungen zur DDR. 2 2 Bundeskanzler Kohl wollte daran bei Amtsübernahme nichts ändern. Das ausgeprägte Maß an hierarchischer Autorität der Regierungszentrale gegenüber den Ressorts blieb deutschlandpolitisch unangetastet. Dennoch mußte Kohl auch jede deutschlandpolitische Entscheidung in den Mehrheitsfraktionen und in seiner Partei absichern. 23 Das politische Gewicht und die Konfliktfähigkeit des Innerdeutschen Ministeriums - als zuständiges Fachressort - waren zu gering, als daß sich daraus Probleme in der Koordinierung der Deutschlandpolitik ergeben hätten. Anders als der Außenminister entstammten die Innerdeutschen Minister zudem der Kanzlerpartei. Aus dem Hader der Ressortegoismen zwischen Kanzleramt und Auswärtigem Amt, Innerdeutschem Ministerium und Ständiger Vertretung hielt Kohl sich heraus. Er ließ sich von keiner Seite vereinnahmen. Das Auswärtige Amt war aufgrund seines Anspruchs und der Koalitionsarithmetik mächtig. Wegen des besonderen völkerrechtlichen Status des zweiten deutschen Staates war es allerdings relativ machtlos gegenüber den deutschlandpolitischen Steuerungsinitiativen und Entscheidungsvorgaben des Kanzleramtes. Kohl ließ Genscher auf der Chefebene über die normativen Grundsätze seiner Deutschlandpolitik informieren (Berichte zur Lage der Nation und Regierungserklärungen). International sicherten der Außenminister und die vom Kanzleramt aus geleitete Bonner Viererrunde (Botschafter der drei westlichen Verbündeten und ein Bonner Vertreter) 24 die Interpretation der Deutschlandpolitik ab. Die Viererrunde diente besonders in den ersten Jahren von Kohls Kanzlerschaft als ein wichtiger deutschlandpolitischer Abstimmungsmechanismus zwischen der Bundesregierung und den Drei Mächten. Durch gewachsene eigene außenpolitische Erfahrungen und persönliche Verbindungen konnte Kohl in den späteren Jahren auf direktem Wege sowie im Telefonat mit anderen Regierungschefs die Bündnispartner über seine Entscheidungen informieren und die Notwendigkeit des formellen diplomatischen Abstimmungsmechanismus relativieren. Auch das schränkte den deutschlandpolitischen Einfluß Genschers ein. Mit der Person Horst Teltschiks als außenpolitischem Abteilungsleiter im Kanzleramt signalisierte Kohl gegenüber Genscher von Beginn an außenpolitisches Eigenprofil. 25 "Überblick bei Günther Schmid, Entscheidung in Bonn. Die Entstehung der Ost- und Deutschlandpolitik 1969/70, Köln 1980. 23 Zum personellen Netzwerk der Kanzler-Entscheidungen vgl. Körte (Anm. 17), S. 23-66. 24 Vgl. Hildegard Bedarff, Die Viererrunde. Zum Bedeutungswandel multilateraler Koordinationsgremien zwischen den westlichen Siegermächten und der Bundesrepublik Deutschland, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 21 (1991), S. 555-567. 25 Zum Dauerkonflikt: Peter M. Wagner, Erfolg der Bonner Komplementärdiplomatie, in: Elke Bruck/ders. (Hrsg.), Wege zum „2+4"-Vertrag. Die äußeren Aspekte der deutschen Einheit, München 1996; auch ders., Außenpolitik in der „Koalitionsdemokratie", in: Internationale Politik 53 (1998), S. 31-36.
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Erstmals in der deutschen Geschichte dieser Funktion wurde es nicht mehr von einem Berufsdiplomaten ausgefüllt. Die machtpolitische Schwäche des Auswärtigen Amtes unter Klaus Kinkel (1992-1998) wird auch dadurch dokumentiert, daß Kohl nach Teltschiks Weggang (1991) wieder bewußt einen außenpolitischen Abteilungsleiter aus dem Auswärtigen Amt zuließ. Der Ausbau des Kanzleramtes als Regierungszentrale 26 erfolgte erst mit Wolfgang Schäubles Amtsantritt (15. November 1984) als neuer Chef des Kanzleramtes und Bundesminister für besondere Aufgaben. Er koordinierte und zentralisierte alle Entscheidungs- und Informationsabläufe. Schäuble und später auch Rudolf Seiters wurden zu den entscheidenden Figuren des organisatorischen Ablaufs in der Bundesregierung. Sie waren die engsten Berater des Kanzlers. Auf die Deutschlandpolitik hatte das unmittelbar Auswirkungen: Schäuble brachte im Gegensatz zu Phillipp Jenninger (Staatsminister 19821984) mehr politisches Gewicht mit ein. Als Bundesminister besaß Schäuble, anders als sein Vorgänger, gegenüber seinen Ministerkollegen schon vom Status her ein höheres Durchsetzungspotential. Das Bundeskanzleramt erwachte aus seinem deutschlandpolitischen „Dornröschenschlaf 427 . Erst unter Schäuble übernahm es - deutlich erkennbar für alle anderen Ressorts - die Funktion, die ihm formal ohnehin zufiel. Schäuble straffte die Zuständigkeitsabgrenzungen zwischen Innerdeutschem Ministerium, Auswärtigem Amt, Ständiger Vertretung und dem Arbeitsstab Deutschlandpolitik - einer besonderen Organisationseinheit des Kanzleramtes innerhalb der außenpolitischen Abteilung mit Beamten, die weitgehend aus dem Auswärtigem Amt kamen.28 Das Kanzleramt blieb nicht nur operatives Zentrum, sondern wurde als solches auch fortan akzeptiert. Die Konflikte, die aus Ressortegoismen folgten, waren im Grunde Nachhutgefechte. Schäuble koordinierte und führte auch die Verhandlungen auf dem geheimen Sonderkanal mit der DDR. Er relativierte dadurch alle anderen Kontakte, die Alexander Schalck-Golodkowski auch weiterhin mit Strauß auf der Südschiene unterhielt. Zu Jenningers Amtszeiten als Staatsminister im Kanzleramt verhandelte auch der Ständige Vertreter der Bundesrepublik Deutschland in Ost-Berlin noch mit Schalck. Schäuble monopolisierte die Kontakte. Für ihn hatten seine Vertrauensstellung gegenüber dem Kanzler und die Dominanz in der Regierungszentrale den großen Vorteil, keine zeitaufwendigen doppelten Rückkoppelungen mit Schalck und mit der eigenen Regierung organisieren zu 26 Grundsätzlich Ferdinand Müller-Rommel/Gabriele Pieper, Das Bundeskanzleramt als Regierungszentrale, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, B. 21-22/91, S. 3-13 und Phyllis Berry, The Organization and Influence of the Chancellory during the Schmidt and Kohl Chancellorship, in: Governance 2 (1989), S. 339-355. 27 So Wolfgang Wagner, Der Regierungswechsel in Bonn, in: Europa-Archiv 38 (1983), S. 157164. 28 Dazu auch Klaus König, Vom Umgang mit Komplexität in Organisationen. Das Bundeskanzleramt, in: Der Staat 27 (1989), S. 49-70.
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müssen. Dadurch, daß Schäuble selbst den Part des Verhandlungsführers übernahm, fiel auf westdeutscher Seite eine zusätzliche Koordinierungsebene weg. Schäuble konnte die Regierungsposition unmittelbar selbst vertreten. Mit der Aufwertung des Chefs des Kanzleramtes zum Bundesminister und Chefoperateur der Deutschlandpolitik wurde Schäuble zum innerdeutschen Topmanager des Kanzlers. Seine Machtposition drückte sich weniger im situationsgerechten Beherrschen des bürokratischen Apparates oder dem angemessenen Umgang mit den Fachressorts aus, als vielmehr durch seine Nähe zum Kanzler. Schäuble war ein Teil des „Systems Kohl", und nur in diesem System hatte der Kanzleramtschef auch Maklermacht. 29 Sein täglicher direkter Zugang zu Kohl verschaffte ihm ein Informationsmonopol von politisch hohem Wert. Im informellen Gespräch zwischen Kanzler und Kanzleramtsminister lag die Quelle der politischen Entscheidungsfindung. Großen, unmittelbaren Einfluß auf den deutschlandpolitischen Entscheidungsprozeß erzielte der Bundeskanzler außerdem durch die Beauftragung enger Vertrauter mit der Führung wichtiger deutschlandpolitischer Missionen und Verhandlungen und seine hier gegebenen informellen Interventionsmöglichkeiten in einzelnen Verhandlungsphasen: Mal ließ er Strauß den Milliardenkredit einfädeln, mal testete Volker Rühe den Grad der inneren Erosion der DDR, mal sollte Ernst Albrecht mit Erich Honecker reden, um die ElbeSanierung voranzubringen. Kohl brauchte ein schlagkräftiges Kanzleramt als Koordinationsinstanz der Regierungsarbeit, weniger für eigene Beratungszwecke als zur Durchsetzung seines Führungsanspruchs. Die durch das Kanzleramt vorgegebene Organisations- und Personalprärogative hätte als Instrument zur Durchsetzung des Führungsanspruchs nicht ausgereicht. Zum einen dauerte es etwa bis Mitte der achtziger Jahre, bis Kohl durch gezielte Personalpolitik seine Vertrauensleute überall im Kanzleramt untergebracht hatte. Zum anderen hätte auch eine noch so effizient und loyal ausgerichtete Regierungszentrale nicht den Führungsanspruch ermöglicht, den der Kanzler durch seine parteipolitische Rückbindung erhielt. Der direkte Zugang Schäubles zum Bundeskanzler minderte insgesamt den Einfluß der deutschlandpolitischen Ministerialbürokratie sowohl aus dem Bereich des Kanzleramtes als auch aus den Ressorts. Grundsätzlich war zwischen zwei Entscheidungs- und Kommunikationsfeldern für den Kanzler zu trennen, nämlich dem der Administration und dem der
29 Vgl. auch Rainer Prätorius, Präsidenten im bürokratischen Umfeld. Grenzen des politischen Managements in den USA, in: Neue Politische Literatur 37 (1992), S. 249-259.
9 Jesse/Löw
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Politik. 30 Die Plazierung von politisch ausgewählten Leitungsbeamten und die informelle Handhabung von Kohls „politischer Familie" privilegierte Personen mit Sonderstatus gegenüber anderen, die, trotz formeller Legitimation, keinen direkten Zugang zum Kanzler hatten. Der Bundeskanzler machte sich durch die Etablierung informeller, institutionell nicht vorgesehener Gesprächsstrukturen unabhängig von den Amtsvorlagen, die er als nur eine von mehreren Quellen der Entscheidungsfindung benutzte. Statt der Vorlage der Administration bevorzugte er die persönliche Erörterung, das Gespräch, auch mit Mitarbeitern, die nicht oben in der politischen Hierarchie angesiedelt waren. Kohl war außerdem fixiert auf alternative Beratungsquellen, die außerhalb des Amtes lagen. Die deutschlandpolitischen Konfliktlinien im Kanzleramt verliefen zwischen der Redenschreibergruppe und dem Arbeitsstab Deutschlandpolitik. Dies betraf ausschließlich die normative Ebene der Deutschlandpolitik. Während die handverlesenen Redenschreiber Teil des Zentrums der Macht waren, folgte der Arbeitsstab den Regeln bürokratischer Politik. 31 Die Redenschreiber nutzten ihren Informations- und Vertrauensvorsprung zur Herrschaftsabsicherung von Kohls Kanzlerschaft. Hinter dem Kampf um Worte steckte nicht nur das programmatische Profil der Deutschlandpolitik, sondern in der spezifischen Wortwahl oder den signifikanten Auslassungen verbarg sich auch eine Momentaufnahme von Kohls jeweiliger Machtposition. Die Mitarbeiter des Arbeitsstabs Deutschlandpolitik besaßen eine doppelte Loyalität: gegenüber der Entsendebehörde (Auswärtiges Amt) und gegenüber dem Kanzleramt. Daraus resultierte häufig eine diplomatische Strategie der Konfliktvermeidung. In Vermerken und Redearrangements entschieden sie sich oft für eine politische Schonung der DDR mit unverbindlichen Formulierungen ohne Reizvokabular. Als operative Schaltstelle der Deutschlandpolitik war der Arbeitsstab im Kanzleramt für den jeweiligen deutschlandpolitischen Chefmanager unverzichtbar. Die gesamte Koordination der DDR-Kontakte, Verhandlungen, auch die auf dem Sonderkanal, wurden dort gesteuert. Ebensowenig wie Kohl eine Transparenz seiner persönlichen Informationsabläufe zuließ, betrieb er eine Rationalisierung der politischen Entscheidungsfindung. Für das Themenfeld Deutschlandpolitik kristallisierten sich keine fixen Entscheidungswege heraus. Am Entscheidungsmonopol des Kanzlers bestand jedoch zu keinem Zeitpunkt Zweifel. Das läßt zwei Aussagen zu, deren Wahrheitsgehalt vermutlich genau in der Schnittmenge liegt: 30
Vgl. Waldemar Schreckenberger, Der Regierungschef zwischen Politik und Administration, in: Peter Haungs u.a. (Hrsg.), Civitas. Widmungen für Bernhard Vogel zum 60. Geburtstag, Paderborn 1992, S. 603-614. 31
Mit all den Konsequenzen sind sie belegt bei Fritz W. Scharpf, Positive und negative Koordination in Verhandlungssystemen, in: Adrienne Heritier (Hrsg.), Policy-Analyse, Kritik und Analysen, Opladen 1993, S. 57-83.
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1.
Der Bundeskanzler entschied alleine und im bilateralen Dialog zusammen mit dem jeweiligen Chefmanager der Deutschlandpolitik (Jenninger/ Schäuble/Seiters).
2.
Deutschlandpolitische Entscheidungen entwickelten sich im Kräfteparallelogramm zwischen Parteiinteressen, Fraktionsrücksichtsnahmen, Koalitionansprüchen 32, Ressort- und Kabinettsprinzip, Demoskopie sowie dem Wettbewerb zwischen negativer und positiver Koordination, dem jede Form von bürokratischer Politik ausgesetzt ist.
Die Prozesse des deutschlandpolitischen Regierungshandelns der achtziger Jahre liefern zahlreiche Beispiele für beide Entscheidungsvarianten. Eine Erklärung dafür findet sich in Kohls Machtposition. Diese drückte sich nicht in der Art aus, wie er wichtige Entscheidungen traf, sondern wie er sie vorbereitete. Dem Kanzler kam es dabei weniger auf die Detailentscheidung an, obwohl er sich auch einer Reihe derartiger Einzelheiten persönlich widmete, wenn sie politische Brisanz enthielten. Wichtig war ihm vielmehr, daß er seine Aufmerksamkeit mehr auf den richtigen Impuls, den zeitgerechten Augenblick, die handelnden Personen und weniger auf die konkrete Entscheidung ausrichtete. Um dieses Grundmuster erfolgreich anzuwenden, war Kohl auf vielfältige, differenzierte Informationen aus seinem Frühwarnsystem angewiesen. Gleichzeitig mußte er in einer Frühphase koordinierend und moderierend die Entscheidungsvorbereitung vermitteln lassen. Kohl verkündete am Ende das jeweilige Ergebnis. Was sein Anteil an den letztlichen Entscheidungen war, ließ sich, von wenigen Ausnahmen abgesehen, nur unscharf erkennen. Das Ausmaß des persönlichen Anteils des Kanzlers an der Entscheidungsfindung im deutschlandpolitischen Bereich hing darüber hinaus nicht von der konkreten Thematik ab, sondern ausschließlich vom funktionalen Kontext: Wann wurde ein Thema in welchem Ausmaß so politisch, daß es Kohls volle Aufmerksamkeit beanspruchte? „Politisch" bedeutete in diesem Kontext immer in erster Linie Machtpolitik: Regieren als Kunst des Machterhalts und des Machtbewahrens, was mal die subtile Detailentscheidung (Sitzordnung beim Abendessen mit Honecker in Bonn 1987), mal die Einbindung politischer Konkurrenten (Strauß während des Milliardenkredits 1983), mal das generelle Richtunggeben (Kulturabkommen, Transit- und Swingvereinbarung), mal Textstilistik (Streit um Worte im Umfeld des Wiesbadener CDU-Parteitags 1988), oft aber auch bewußte Entscheidungsverweigerung (Umfeld der Oder-Neiße-Grenzdiskussionen) einschließen konnte. 33
32 Zum Kontext: Clay Clemens, The Chancellor as Manager. Helmut Kohl, the CDU and Governance in Germany, in: West European Politics 16 (1994), S. 28-51. 13
9»
Einzelbelege zu den geschilderten Beispielen finden sich in Körte (Anm. 17).
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Trotz formeller Zuständigkeit des Kabinetts für die Regierungsabkommen im Bereich der Deutschlandpolitik fielen die inhaltlichen Vorentscheidungen in informellen Gremien. 34 Neben der informellen Entscheidungspraxis im Kräfteparallelogramm avancierte von den regierungsinternen Koordinationsgremien eindeutig der Erweiterte Dreier-Kreis (Schäuble, Innerdeutscher Minister, Bundessenator für Berlin, Staatssekretär Auswärtiges Amt und Wirtschaftsministerium) zum zentralen deutschlandpolitischen Steuerungsorgan. Hier wurden nicht nur wichtige Koordinierungen, Akzentuierungen, Unterrichtungen und Sprachregelungen für die operative Deutschlandpolitik festgelegt, sondern auch zahlreiche Vorentscheidungen gefällt, die dann zur Kabinettsreife ausgearbeitet wurden. Jenninger, Schäuble und Seiters informierten dieses Gremium und nutzten es durchaus zur eigenen Willensbildung, doch konsultierten sie es nur in Ausnahmefällen. Von der Verhandlungsführung auf dem Sonderkanal erfuhr der Dreier-Kreis nur selektiv. Ort der Koordinierungsgespräche war seit 1984 das Kanzleramt. Nur in der ersten Phase seiner Regierungszeit saß der Kanzler persönlich regierungsinternen Koordinationsgremien vor. Ende 1984 beendete Kohl diese formelle Leitungsaufgabe und überließ sie danach Schäuble. Das Kanzleramt benutzte das Innerdeutsche Ministerium zunehmend als Serviceeinrichtung, die Dienstleistungen für die Berichte zur Lage der Nation erbrachte oder Sachstandspapiere zu detaillierten Themenfeldern der innerdeutschen Vertragsverhandlungen zusammenstellte. Oft mußte sich das im Prinzip zuständige Innerdeutsche Ministerium mühsam wichtige Informationen zu den innerdeutschen Verhandlungen aus dem Kanzleramt besorgen. Auf Referatsleiterebene wurde mit dem Kontaktausschuß ein neues Koordinierungsgremium geschaffen, das beim Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen angesiedelt war. Dies konnte zumindest als ein Teilerfolg des Innerdeutschen Ministeriums bei der Behauptung seiner Ressortbedeutung gewertet werden. Die regierungsinterne Koordination der Deutschlandpolitik war geprägt vom persönlichen Stil des zuständigen Staatsministers oder Bundesministers im Kanzleramt. Zwar lief die Organisation der formellen Abstimmungsmechanismen relativ unberührt vom Regierungswechsel weiter, doch die Entscheidungsstrukturen verlagerten sich seit dem Amtsantritt von Schäuble noch eindeutiger auf das Kanzleramt. Rainer Barzel hatte sich, seine Rolle als prominente Besetzung des Innerdeutschen Ministeriums antizipierend, um eine aktive Ausweitung der Zuständigkeiten bemüht. Sein Aktionismus der ersten Tage trachtete nach politischen Gesten mit hohem Symbolgehalt (z.B. Antrittsbesuch bei der 34
Dazu Waldemar Schreckenberger, Informelle Verfahren der Entscheidungsvorbereitung zwischen der Bundesregierung und den Mehrheitsfraktionen. Koalitionsgespräche und Koalitionsrunden, in: Zeitschrift für Parlamantsfragen 25 (1994), S. 329-346; auch Philip Manow, Informalisierung und Parteipolitisierung. Zum Wandel exekutiver Entscheidungsprozesse in der Bundesrepublik, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 27 (1996), S. 96-107.
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Ständigen Vertretung; Sitzordnung im Plenarsaal) für die innerdeutschen Beziehungen. Unter Heinrich Windelen und Dorothee Wilms sank dann der ohnehin begrenzte Einfluß des Ministeriums auf die Praxis des deutschlandpolitischen Regierungshandelns wieder ab. Die Bundestagsfraktion verfügte zwar über beträchtlichen Einfluß auf die Grundausrichtung von Kohls Deutschlandpolitik - besonders im Spektrum des inhaltlichen Grenzbereichs zwischen Deutschland- und Ostpolitik nicht aber über konkrete Mitwirkungsrechte im Entscheidungsprozeß. 35 Kohl und seine Chefmanager integrierten von Fall zu Fall gezielt einzelne Abgeordnete als wichtige Vertreter fraktionsinterner Gruppierungen in den Prozeß der Entscheidungsbildung. 4. Stilles Regieren: Integrieren und Moderieren als Führungsleistung Wer sich näher mit dem Regierungsstil des Kanzlers Kohl beschäftigt 36, erkennt, daß Kohl seinen einmal etablierten Regierungsstil kontinuierlich treu geblieben ist, sozusagen von „monumentaler Unbeirrbarkeit" (Hermann Rudolph). Geändert hat sich hingegen die Wahrnehmung seiner Kanzlerschaft. Die ausgleichende Moderation des Konflikts erscheint mal als moderne Unternehmerleistung, ein anderes Mal als Ausweis von Führungsschwäche. Viel ist von der vollkommenen Machtdurchdringung des „Systems Kohl" 3 7 die Rede gewesen. Unterstellt wurde dabei, daß der Bundeskanzler ausschließlich auf die Balance der Machtarchitektur achtete, bei vollkommener Vernachlässigung der programmatischen Dimension des Regierens. Diese Argumentation stimmt nur in Teilaspekten. Sicher war das „System Kohl" geprägt von der Kunst des Machterhalts. Die Prozesse der Machtbildung und Machtsicherung hatten für den Bundeskanzler zumeist einen höheren Stellenwert als die Durchsetzung deutschlandpolitischer Programmsätze. Das soll jedoch nicht bedeuten, daß die politische Macht für den Bundeskanzler ausschließlich zum Selbstzweck geriete. Zielvorgaben, für die er die Macht verwenden wollte, ließ er erarbeiten. Doch Rekorde in der Amtsdauer einer Kanzlerschaft sind ohne eine Ökonomie der Kräfteeinsatzes, die vor allem der Machterhaltung dient, nur schwer vor-
35 Grundsätzlich dazu Jürgen Gros, Politikgestaltung im Machtdreieck Partei, Fraktion, Regierung. Zum Verhältnis von CDU-Parteiführungsgremien, Unionsfraktion und Bundesregierung 1982-1989 an den Beispielen der Finanz-, Deutschland- und Umweltpolitik, Berlin 1998. 36 In vergleichender Perspektive dazu Ludger Helms, Das Amt des deutschen Bundeskanzlers in historisch und international vergleichender Perspektive, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 27 (1996), S. 697-711; dazu auch Clay Clemens/William E. Paterson (Hrsg.), The Kohl chancellorship, London 1998. 37 Beschrieben von Warnfried Dettling, Das Erbe Kohls, Frankfurt a. M. 1994.
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stellbar. Machterwerb und Machterhalt sind die Voraussetzungen und die Ziele der Politik. Demokratische Macht - und nur um die geht es dabei - ist viel schwerer zu erhalten als Macht durch Demagogie oder Gewalt. Dieses Eingeständnis wird oft verschmäht, weil man in Deutschland zur Dämonisierung der Macht neigt. 38 Aber wie erkämpfte sich Kohl diese Machtposition? Sein System mußte er sich erst aufbauen. Sein deutschlandpolitischer Führungsanspruch war zwar institutionell mit Einschränkungen vorgegeben. Doch seine machtpolitischen Herausforderer und Rivalen hatte Kohl keineswegs bereits zu Beginn seiner Amtszeit hinter sich gelassen. Weder Amtsbonus und Charisma noch deutschlandpolitische Reputation halfen ihm, seine Macht bis 1989 zu stabilisieren. Am Anfang stand nicht die machtvolle, zielbewußte und in hoher Staatskunst gefällte persönliche Entscheidung wie dann im Falle des Zehn-PunkteProgramms 39, sondern eher die deutschlandpolitische Machtbeschränkung durch Rivalen, die eine deutschlandpolitische Wende einforderten. Alles zentrierte sich auf die Person des Kanzlers. Er pflegte eine unorthodoxe, personenbezogene Arbeitsweise. Das war Teil seiner Herrschaftspraxis. Doch Kohl regierte vor allem vermittelt durch Personen seines Netzwerkes. Er begriff Politik gänzlich personal. Gremienarbeit ersetzte für Kohl nie den direkten Dialog, das Gespräch, kleine Arbeitszirkel oder das Telefonat. An den Schlüsselstellen der Deutschlandpolitik positionierte er nicht nur Personen, die sein besonderes Vertrauen besaßen und von deren persönlicher Loyalität er überzeugt war. Vielmehr bestand auch zwischen ihm und diesen Personen seiner „politischen Familie" eine Deckungsgleichheit im Koordinatensystem sonstiger politischer Themen, die im konkreten Fall von Prozessen der Entscheidungsfindung keiner permanenten Rücksprache über Einzelregelungen bedurfte. Das war perfekte Arbeitsteilung. Politik drückte sich somit zuallererst in geschickter Personalpolitik aus. Dabei wird nicht unterstellt, daß Kohl dies von Beginn seiner Kanzlerschaft an beherrschte. Es läßt sich nachweisen, wie er einige Jahre brauchte, um über Personalauswahl politische und administrative Richtungsentscheidungen zu treffen. Das personelle Arrangement der Akteure bestimmte immer der Kanzler. Dabei bevorzugte Kohl eine hierarchieunabhängige Auswahl. Das informelle Moment der persönlichen Nähe war wichtiger als administrative Zuständigkeiten. Der eigene Anteil des Kanzlers an Programmatik und Konzeption verschwimmt vor dem Hintergrund dieser extrem personalisierten Form des Regierungshandelns. Kohls innenpolitische Machtsicherung lief zuerst stets über sein parteipolitisches Mandat. Die parteipolitische Unterstützung blieb seine Machtressource. 38
So auch Uwe Thaysen, Helmut Kohl. Garant für Deutschlands Harmlosigkeit, in: Zeitschrift filr Parlamentsfragen 27 (1996), S. 733-742. 39 Zum internationalen Kontext: Werner Weidenfeld/Peter M. Wagner/Elke Bruck, Außenpolitik filr die deutsche Einheit. Die Entscheidungsjahre 1989/90, Stuttgart 1998.
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Auch deshalb erforderte die Beachtung deutschlandpolitischer Konfliktlinien und Kontroversen der eigenen Partei seine anhaltende Aufmerksamkeit. Weil für ihn Erwerb und Erhalt der Macht so dominant waren, mußte er die Basis dieses Machtpotentials immer im Auge behalten. Seine Stärke hing von der effektiven Steuerungsleistung des Parteiapparates ab. Regieren verstand er als Kunst des Machterhalts, was permanent unterstellte Wahlkampfkonstellationen bedeutete.40 Es läßt sich an Brennpunkten der deutschlandpolitischen Diskussionen sowie an Kohls Entscheidungsverhalten bei Vertragsverhandlungen nachweisen, wie der Kanzler sein Regieren zunächst an den Prozessen der Machtbildung und Machtsicherung ausrichtete und daran deutschlandpolitisches Regierungshandeln koppelte. Dieses Merkmal des „Systems Kohl" hatte mehrere Varianten. Es konnte sich im Festhalten an den deutschlandpolitischen Grundpositionen ebenso zeigen wie bei der Zurückhaltung in den Diskussionen über die polnische Westgrenze. Auch der Verzicht auf persönlich vertretene, eindeutige Zielvorgaben bei den Vertragsverhandlungen ließ sich so interpretieren. Unter dem Gesichtspunkt der Machtwahrung blieb der Kanzler damit erfolgreich, zumal er seine Macht für die Erreichung seiner „Visionen" instrumentalisierte. Kohl war Moderator, Koordinator, Amtsinhaber und Meister der leisen Töne in dem Maße, in dem es ihm gelang, koalitionspolitisch und innerparteilich sein Regierungshandeln abzusichern. Insofern folgte auch die Deutschlandpolitik den Zeichen, Zwängen und Strukturbedingungen der Koalitionsdemokratie. Dies setzte zwangsläufig alle Formen des stillen Regierens in Form informeller Abstimmungsmodalitäten auf allen Ebenen voraus. Gegenpositionen innerhalb des Regierungslagers hat Kohl nicht frontal bekämpft, sondern sie aufgenommen, gewürdigt und abgeschliffen. Zum Erfolgsrezept des stillen Regierens gehörte auch eine Art von Verflüssigung der Richtlinienkompetenz: Auswandern der Entscheidungen durch informelle Verfahren, gleichzeitig relative Offenheit des Kanzlers in Sachfragen. Auch das erklärt, warum es zum Erfolgsgeheimnis des „Systems Kohl" gehörte, keine explizite deutschlandpolitische Langfriststrategie zu verkünden, die über das hinausreichte, was den Leitlinien des Präambelgebots des Grundgesetzes entsprach. So drängte sich den Beobachtern häufig der Eindruck auf, daß der Politik des Dialogs, der Verhandlungen und schrittweisen Verbesserungen das Grand Design fehlte, unabhängig davon, ob dies eher zur staatlichen Vereinigung geführt hätte. Das stille Regieren war zudem auch Ausdruck seines von hohem Mißtrauen, übervorsichtigem Abwägen und der Scheu vor offenen Kampfsituationen geprägten Charakters. Kohl agierte vorsichtig, tastete den Handlungsspielraum ab, den ihm die Partei oder die Mehrheitsfraktionen ließen, und entschied, wenn seine Machtposition nicht mehr gefährdet erschien. Erst nachdem die Entscheidung austariert war, 40
Siehe auch dazu Karl-Rudolf Körte, Wahlen in der Bundesrepublik Deutschland, Bonn 1998.
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verkündete er sie. Kohl entwickelte zusammen mit Genscher einen feinen Sinn für den Bedarf der FDP, ihr Profilierungsfeld zu finden und in ihm Wähler zu konsolidieren. Der Streit zwischen Genscher und Strauß hatte etwas Rituelles, manchmal trug er sogar Merkmale eines koalitionsinternen Zwanges. Der Zwist der Bündnispartner versprach ein Stück Kenntlichkeit zum wechselseitigen Nutzen. Kohl ließ sich in diesen Streit nicht hineinziehen. Er sah darin eine Profilierungsfläche für politische Schlichter. Doch insgesamt schadeten diese Auseinandersetzungen dem Bild eines führungsstarken Kanzlers. Um das Räderwerk hinter den Kulissen am Laufen zu halten, bediente sich Kohl subtiler Mittel: Das Zusammenführen der Kontrahenten unter Einigungszwang; Zeitstrategien, durch Druck auf Terminplanung; Stellvertreter-Reden von Gesinnungsgefährten als Testballons für inhaltliche Positionierungen; rhetorische Mittel des Einerseits-andererseits; Entschärfung des Konfliktes im Wege von Vertagung, der Verlagerung in Gremien oder der Überbrückung des Disputs in Harmonieformeln. Häufig trug ihn ein Gefühl für den Minimalkonsens. Hier zeigte sich das eigentliche Metier des Helmut Kohl: Die Notwendigkeit und Aufgabe der Integration ganz unterschiedlicher Interessen und Temperamente, die Zusammenfassung von Ergebnissen. Wenn er als Schlichter des Konflikts auftreten konnte, bewies er Führungsstärke. Wenn es nichts mehr oder noch nichts zu schlichten gab, sah er sich mit dem Vorwurf der Führungsschwäche konfrontiert. Oft hing das stille Regieren vom angemessenen Timing ab: Seine Entscheidungen fielen zu einem Zeitpunkt, den er selbst bestimmte. Dabei ließ er sich oft vom Prinzip leiten: Nichts erhöht die Autorität mehr als Schweigen. Kohl entwickelte Prozeduren, mit denen es ihm gelang, wichtige Interessenlagen seiner Partei in Erfahrung zu bringen, ohne dabei auf öffentliche Auseinandersetzungen angewiesen zu sein. Dazu war ein ausgefeiltes Netzwerk an Informationszuträgern aus allen Ebenen der Partei erforderlich. Diese Zuträger arbeiteten als personifiziertes Frühwarnsystem des Kanzlers. Ihre Ergebnisse bildeten stets eine Entscheidungsgrundlage des Kanzlers, die er neben die der Administration setzte. So konnte er sich sein eigenes Bild von der jeweiligen Lage machen. Dieser Basiskontakt war Teil seines Systems, weil er es zum Erhalt seiner Macht brauchte. Es war überaus zeitaufwendig und bedurfte der permanenten Pflege. Deuteten die Signale auf parteiinternen Widerstand oder auch abgeschwächter auf dringenden politischen Regelungs- und Handlungsbedarf, versuchte er selbst auf die Einbindung der Widersacher hinzuwirken - oder er ließ seine Unterhändler Kompromisse vermitteln. Auf jeden Fall bedeutete jede alarmierende Meldung über die Kanäle des Frühwarnsystems genau die Gemengelage, an der ein sachlicher Routinevorgang politisch brisant wurde. Trotz der Etablierung des Frühwarnsystems lagen auch Beispiele vor, in denen
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das System versagte. 41 Es war keineswegs vollkommen, schon gar nicht im Blick auf die Analyse der Vorgänge in der DDR. 5. Moderne und zeitadäquate Kanzlerdemokratie? Jeder Kanzler prägt einen eigenen Führungsstil. Insofern kommt es durchaus auf die Person des Kanzlers an. Die persönliche Handschrift sowohl in der Verhandlungsführung als auch in machtpolitischen Organisationsfragen ist jeweils unverkennbar. Doch dieser Stil ist immer von den jeweiligen politischen Machtkonstellationen abhängig. Mit der möglichen Charakterisierung eines kooperativen Führungsstils Kohls gegenüber dem Koalitionspartner wird nicht deutlich, daß Kohl zeitgleich patriarchalisch das Kanzleramt lenkte. Für die personalen Komponenten des Führungsstils bleibt ein Korridor, der sich allerdings an den Rahmenbedingungen mit eigener Wirksamkeit zu orientieren hat. Die Veränderungen durch die Medien und die Kommunikationskultur zwangen jedem Kanzler einen Führungsstil auf. Dieser ist durch die Beachtung der Kategorien inszenatorischen Denkens gekennzeichnet, was Ähnlichkeiten im Führungsverhalten - unabhängig von der Parteifarbe - zur Konsequenz haben wird. Systembedingt muß jeder Kanzler darüber hinaus auf seine tägliche Integrationsleistung gegenüber der eigenen Partei-Machtbasis bauen. Die von diesem Muster abweichenden plebiszitären Versuche sowohl von Kanzler Helmut Schmidt als auch von Ludwig Erhard scheiterten gerade an der Ignoranz dieses Sachverhalts, trotz dokumentierter Führungsbereitschaft im und durch das Kanzleramt. Weitere systembedingte Auswirkungen auf den Führungsstil sind zu benennen: Wenn zutrifft, worauf die politischen Systemanalysen seit Jahren hinweisen, daß sich die funktionalen Bedingungen des Regierens in allen westlichen Industrieländern dramatisch gewandelt haben, dann kann das „System Kohl" durchaus auch als eine moderne, zeitgemäße Antwort auf diese neuen Herausforderungen angesehen werden. •
Wie reagiert eine Regierung schließlich auf die Globalisierung der Politik, die jedes politische System zum permanenten Anpassungsstreß verurteilt? 42
•
Wie begegnet ein Regierungschef den Folgen der Entgrenzung und Entparlamentarisierung von Politik in interdependenten Kontexten?
41
Vgl. Körte (Anm. 17), S. 376-394 und S. 438-478. Dazu auch Manfred G. Schmid, Machtwechsel in der Bundesrepublik (1949-1990), in: Bernhard Blanke/Hellmut Wollmann (Hrsg.), Die alte Bundesrepublik, Opladen 1991, S. 180-203; zum Spielraum für Führungsstil, insbes. S. 196 ff. 42
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•
Was hält der Amtsinhaber einer zunehmenden Bürokratisierung von Politik entgegen?
•
Was folgt aus den neuen Mitteln der jederzeit möglichen, unmittelbaren biund multilateralen Kommunikation?
Die Politikwissenschaft bietet Netzwerkhandeln der verantwortlichen Akteure und das Verhandeln in Mehrebenen-Verflechtungen als Auswege aus diesem Dilemma an.43 Nichts anderes spiegelt jedoch auch der machtgeleitete Koordinationsstil des Kanzlers Kohl wider. Seine Stärke lag nicht zufällig im effektiven Steuern der Partei, relativ unbeeindruckt von den Zwängen der bürokratischen Politik, den Amtshierarchien und Ressortwünschen. Er favorisierte das Regieren in Personalnetzwerken, bei denen sich die Verhandlungspartner aus den unterschiedlichen Entscheidungsarenen von Außeneinflüssen abschirmen. Das machte zwar anfällig für Entscheidungsblockaden, weil sich dabei häufig Kompetenzbereiche und Interessendefinitionen der Entscheidungsebenen nicht deckten. Aber es stärkte auch gleichzeitig die Machtposition des Moderators, weil er die Verhandlungspartner und die Regeln bestimmte. Er allein zog Nutzen aus der nur für ihn bestehenden Transparenz des Verfahrens. Scheinbare Unangreifbarkeit lebt vom Mythos der nicht vorhandenen Transparenz. Kohl hatte damit die Nichtsystematik zum System gemacht: Was bei Bundeskanzler Schmidt noch als Kleeblatt der Entscheidungsfindung erkennbar war, wuchs sich bei Kohl zum wuchernden Gestrüpp aus. Gegenüber der sich ausbreitenden neuen Hilflosigkeit - angesichts fehlender nationaler Lösungsinstanzen für die vielfältigen Probleme unserer Zeit - legitimierte Kohl durch Amtsdauer und Charisma den Wunsch nach politischer Stabilität mit all seinen Widersprüchlichkeiten: Jede Ankündigung von Veränderungen mußte in dem Versprechen münden, daß am Ende alles so bleiben wird wie bisher. Ruhe und Reform verkörperte Kohl zumindest bis Mitte der 90er Jahre gleichzeitig. Das ist der auch von Bundeskanzler Schröder nicht anders gesehene Spielraum in Deutschland für Führungsleistungen im Rahmen einer Politik mit Koalitionsregierungen, Proporzpluralismus und einer politischen Kultur des Konsens.44 Nicht zufällig wurden wenige Wochen nach der Regierungsübernahme durch Schröder und Fischer gerade die informellen Mechanismen der Koordination gestärkt und Anleihen beim „System Kohl" erkennbar. 45
43
Siehe dazu den Überblick bei Heritier (Anm. 31). Dazu auch Warnfried Dettling, Von Kohl zu Schäuble, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 41(1997), S. 1418-1422; außerdem Werner Weidenfeld/Karl-Rudolf Körte, Die Deutschen. Profil einer Nation, Stuttgart 1991. 44
45 Dazu Karl-Rudolf Körte, Unbefangen und gelassen. Über die außenpolitische Normalität der Berliner Republik, in: Internationale Politik 53 (1998), S. 3-12.
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6. Zusammenfassung Der Begriff „Kanzlerdemokratie" umschreibt Machtfülle und Führungsanspruch der deutschen Bundeskanzler. Doch wie die Kanzler die Richtlinienkompetenz jeweils ausfüllten, hing vom konkreten Regierungsstil und der Machtkonstellation ab. Die Ära Kohl bietet reichhaltiges Anschauungsmaterial, wie sich das konkrete Regierungshandeln entfaltet. Modernes Regieren stellt zweifellos auch die politische Kernakteure vor veränderte Anforderungen. Die Multiplikation von Entscheidungsarenen sowohl auf der nationalen als auch auf der internationalen Ebene schafft Verflechtungen in einem Ausmaße, das politische Führungen zunehmend erschwert. Daß trotz dieser Veränderungen politische Steuerung durch den Regierungschef in hohem Maße erhalten blieb, verweist darauf, daß das Muster von Personalisierung und Agieren in informellen Netzwerken einen Führungsstil kennzeichnet, der auch für zukünftige Kanzlerschaften immer mehr an Bedeutung gewinnen könnte.
Ludger Helms
ENTWICKLUNGSLINIEN DER VERFASSUNGSGERICHTSBARKEIT IN DER PARLAMENTARISCHEN DEMOKRATIE DER BUNDESREPUBLIK DEUTSCHLAND /. Einleitung Das ausgehende 20. Jahrhundert läßt sich mit Konrad Hesse als „ein Jahrhundert der Verfassungsgerichtsbarkeit" 1 bezeichnen. Verfassungsgerichtsbarkeit als theoretisches Konzept und spezifische Komponente der Gewaltenteilung meint „die Institutionalisierung der Idee, Vorrang, Bindungs- und Gestaltungskraft der Verfassung als höherer Norm gegenüber einfachen Gesetzen und gegenüber dem einfachen Gesetzgeber zu sichern". 2 Für die Bundesrepublik gilt mehr noch als für die meisten anderen westlichen Demokratien, daß die Verfassungsgerichtsbarkeit „eine Macht im Staat" ist, „die zur Stabilisierung der verfassungsmäßigen Ordnung Entscheidendes beiträgt" 3. Nach dem Urteil einiger Beobachter kommt die Idee der Verfassungsgerichtsbarkeit im politischen System der Bundesrepublik „in ihrer reinsten Form" 4 zum Tragen. Der Beitrag formuliert eine Zwischenbilanz nach 50 Jahren Grundgesetz, in der die großen Entwicklungslinien und wichtigsten Merkmale der Verfassungsgerichtsbarkeit in der Bundesrepublik herausgearbeitet werden sollen.5 Im Zen1 Ders., Deutsche Verfassungsgerichtsbarkeit an der Schwelle zum neuen Jahrhundert, in: Jürgen Schwarze (Hrsg.), Verfassungsrecht und Verfassungsgerichtsbarkeit im Zeichen Europas, Baden-Baden 1998, S. 169-181, 170. 2 Heinrich Oberreuter, Verfassungsgerichtsbarkeit, in: Dieter Nohlen (Hrsg.), Wörterbuch Staat und Politik, Neuausgabe 1995, Bonn 1996, S. 820-825, 820. Vgl. auch Christian Starck, Vorrang der Verfassung und Verfassungsgerichtsbarkeit, in: Christian Starck/Albrecht Weber (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit in Westeuropa, Teilband I: Berichte, Baden-Baden 1986, S. 11-39. 3
Willi Geiger, Bundesverfassungsgericht, in: Staatslexikon, Bd. 1, hrsg. von der GörresGesellschaft, 7. Aufl., Freiburg u.a. 1985, S. 1006-1011, 1011. 4 Heinz Laufer, Politische Kontrolle durch Richtermacht. Das Bundesverfassungsgericht als Kontrollorgan der Politik, in: Mehdi Tohidipur (Hrsg.), Verfassung, Verfassungsgerichtsbarkeit, Politik, Frankfurt a.M. 1976, S. 92-115,93. 5 In Übereinstimmung mit der Ausrichtung der übrigen Beiträge in diesem Band wird vor allem auf die politikwissenschaftliche Diskussion der Verfassungsgerichtsbarkeit in der
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trum steht dabei eine Beschäftigung mit dem Bundesverfassungsgericht als institutioneller Ausdruck der Verfassungsgerichtsbarkeit auf der Ebene des Bundes. Der Beitrag gliedert sich im einzelnen in folgende Teile: Im nächsten Abschnitt soll zunächst ein kurzer Blick auf die historischen Vorläufer des Bundesverfassungsgerichts in Deutschland und die Debatte über die Einrichtung einer Verfassungsgerichtsbarkeit im Parlamentarischen Rat geworfen werden (2.). Anschließend werden die wesentlichen institutionellen Aspekte der Gerichtsorganisation dargestellt und analysiert (3.). Darauf folgen eine Reihe stärker problemorientierter Erörterungen. In diesem Kontext ist insbesondere auf das in wiederkehrenden Abständen diskutierte Problem einer möglichen „Justizialisierung von Politik" einzugehen (4.). Ferner ist zu prüfen, inwieweit es im Spiegel der langjährigen Erfahrungen der Karlsruher Rechtsprechung betrachtet angemessen erscheint, das Bundesverfassungsgericht als eine „Gegenregierung" zu klassifizieren (5.). Ein weiterer Abschnitt ist den Ursachen und Ausprägungen der Krise des Bundesverfassungsgerichts in den neunziger Jahren gewidmet, welche von der Mehrheit relevanter Beobachter als ungewöhnlich weitreichender Einschnitt in der Geschichte des Gerichts gewertet wurde (6.). Im Schlußabschnitt werden die zukünftigen Perspektiven der Verfassungsgerichtsbarkeit in der Bundesrepublik zusammenfassend diskutiert (7.). 2. Historische Vorläufer und die Auseinandersetzung über das Bundesverfassungsgericht im Parlamentarischen Rat Das Bundesverfassungsgericht läßt sich mit Blick auf die deutsche Verfassungsgeschichte vor dem Zweiten Weltkrieg als das innovativste der insgesamt fünf Verfassungsorgane der Bundesrepublik bezeichnen, obwohl es lange vor deren Gründung Bestrebungen gab, eine so oder ähnlich beschaffene Institution in Deutschland zu etablieren. Die Errichtung eines Verfassungsgerichts, das von seiner außerordentlich großzügig beschaffenen Kompetenzfülle her im westlichen Ausland seinesgleichen sucht6, markierte gleichsam „die späte Erfüllung eines lang gehegten liberalen Traums des 19. Jahrhunderts." 7 Während der Zeit des Deutschen Bundes (1815-1866) scheiterte die Errichtung einer Institution Bundesrepublik abgehoben, ohne dabei auf die Herstellung der notwendigen Bezüge zur maßgeblichen rechtswissenschaftlichen Literatur zu verzichten. 6 Über vergleichbar weitreichende Kompetenzen verfügt in der Gruppe der größeren westeuropäischen Länder lediglich das - im übrigen nach deutschem Vorbild konstruierte spanische Verfassungsgericht. Vgl. Thomas Peter Knaak, Der Einfluß der deutschen Verfassungsgerichtsbarkeit auf das System der Verfassungsgerichtsbarkeit in Spanien, Diss. Hamburg 1995. 7
Erhard Blankenburg, Changes in Political Regimes and Continuity of the Rule of Law in Germany, in: Herbert Jacob et al., Courts, Law and Politics in Comparative Perspective, New Haven/London 1996, S. 249-314, 308.
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wie des Bundesverfassungsgerichts vor allem am Widerstand der süddeutschen Staaten. Die nie in Kraft getretene Frankfurter „Paulskirchenverfassung" schuf in Art. 126 das erste echte Verfassungsgericht Europas.8 Dieser Entwurf sah bereits die Institution der Verfassungsbeschwerde vor, verzichtete aber auf die Möglichkeit einer richterlichen Normenkontrolle. Die politischen Umstände bis zum Ende der Weimarer Republik konstituierten insgesamt ungünstige Bedingungen für die Schaffung einer starken Verfassungsgerichtsbarkeit in Deutschland. Nicht nur das Prinzip der Normenkontrolle stieß auf grundsätzlichen Widerspruch. Während des Bismarck-Reichs herrschte die Auffassung vor, daß auch Grundfragen der politischen Ordnung nicht von Richtern in Auseinandersetzung mit der Verfassung, sondern mit politischen Mitteln zu entscheiden seien. Folgerichtig wurde die Entscheidungskompetenz in bezug auf Streitigkeiten zwischen Bundesgliedern in die Hände des Bundesrates (als Träger der Souveränität des Reichs) gelegt.9 Auch die Kompetenzen des Weimarer Staatsgerichtshofes reichten nicht über den Bereich staatsrechtlicher Streitigkeiten hinaus.10 Die Normenkontrolle wurde dem Reichsgericht anvertraut. Als „pouvoir neutre" im parlamentarischen System von Weimar fungierte nicht der Staatsgerichtshof, sondern der Reichspräsident. Die Debatten über die Schaffung einer Verfassungsgerichtsbarkeit im sogenannten „Paulskirchenparlament" waren noch ganz am Vorbild des amerikanischen Supreme Court orientiert. Die vom Parlamentarischen Rat gewählte Konstruktion orientierte sich demgegenüber primär an dem von Hans Kelsen entwickelten „österreichischen Modell" moderner Verfassungsgerichtsbarkeit, in dem das Recht zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen und Verwaltungsakten in einer einzigen, speziell zu diesem Zwecke begründeten Institution konzentriert ist. 11 Die generelle Anlehnung an das österreichische Vorbild bedeutete jedoch keine vollständige Immunität gegenüber dem Einfluß des amerikanischen Modells, welcher sich bei der Formulierung speziellerer Verfahrensvorschriften - wie beispielsweise der Regel, nach der die abstrakte Normenkontrolle nur vom Gericht als Ganzes, nicht von jedem einzelnen Mitglied desselben, ausgeübt werden kann - durchsetzte. 12 8 Vgl. Klaus von Beyme, The Genesis of Constitutional Review in Parliamentary Systems, in: Christine Landfried (Hrsg.), Constitutional Review and Legislation. An International Comparison, Baden-Baden 1988, S. 21-38, 25f. 9 Vgl. Helmut Simon, Verfassungsgerichtsbarkeit, in: Ernst Benda/Werner Maihofer/HansJochen Vogel (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 2. Aufl., Berlin/New York 1994, S. 1637-1677, 1640f. 10 Vgl. Wolfgang Wehler, Der Staatsgerichtshof für das Deutsche Reich. Die politische Rolle der Verfassungsgerichtsbarkeit in der Zeit der Weimarer Republik, Diss. Bonn 1979. 11 Vgl. Alexander von Brünneck, Constitutional Review and Legislation in Western Democracies, in: Landfried (Anm. 8), S. 219-260,223. 12 Vgl. von Beyme (Anm. 8), S. 34
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Die Erfahrungen mit dem nazionalsozialistischen Unrechtsregime prägten das Problembewußtsein der deutschen Nachkriegselite im Zusammenhang mit der Aufgabe eines verfassungspolitischen Neubeginns maßgeblich. Gleichwohl war die Frage nach der Schaffimg wie insbesondere der konkreten Ausgestaltung einer starken Verfassungsgerichtsbarkeit im Parlamentarischen Rat zunächst deutlich stärker umstritten als die meisten Fragen bezüglich der Organisation des parlamentarischen Systems.13 Der interfraktionelle Konsens zu Beginn der Verhandlungen reichte über das gemeinsame Ziel der Errichtung eines Staatsgerichtshofes nach Weimarer Vorbild nicht hinaus. Nachdem sich das Konzept einer „wehrhaften Demokratie" als verfassungspolitische Präferenz der Mehrheit herauskristallisiert hatte, verlagerte sich die Auseinandersetzung auf die Frage nach der konkreten institutionellen Verantwortungszuweisung. Der Bundespräsident als potentieller „Hüter der Verfassung" schied aufgrund der problematischen Weimarer Erfahrungen sehr bald aus der Diskussion aus, ohne damit schon den Boden für eine Einigung über mögliche Alternativen zu schaffen. Von Adenauer und Teilen der CDU wurde zeitweilig eine Lösung favorisiert, nach der ein aus den Länderregierungen zusammengesetzter Bundesrat als zweite Kammer mit der Befugnis ausgestattet werden sollte, sämtliche Gesetzesbeschlüsse des Bundestages auf ihre Verfassungskonformität hin überprüfen und gegebenenfalls aufheben zu können. Der Vorschlag entsprang parteipolitischen Erwägungen (konkret der Dominanz der CDU in den damaligen Länderverwaltungen) und forderte, wenig überraschend, den Widerstand der übrigen Parteien im Parlamentarischen Rat heraus. Die Zuweisung der obersten Aufsicht über das Grundgesetz an eine spezielle, eigenständige Institution bildete schließlich einen mehrheitsfähigen Kompromiß über den grundsätzlichen Charakter der Verfassungsgerichtsbarkeit, wobei die besondere politische Brisanz des Auswahlverfahrens für die Mitglieder des Gerichts von allen Beteiligten klar gesehen wurde. 14 Es ging aber, wie zuletzt Lietzmann betont hat, nicht nur darum, eine einseitige parteipolitische Vereinnahmung des Gerichts zu verhindern. 15 Die Entscheidung zugunsten eines verfassungsgerichtlichen „Hüters der Verfassung" basierte vielmehr auf einer ganz bestimmten Vorstellung von dessen Stellung innerhalb des politischen Systems. Diese sah eine gebührende Distanz sowohl gegenüber den politischen Mehrheiten in Parlament und Regierung, den übrigen Gerichten, aber auch gegenüber der Bevölkerung selbst vor,
13 Vgl. zum folgenden Hans J. Lietzmann, „Reflexiver Konstitutionalismus" und Demokratie. Die moderne Gesellschaft überholt die Verfassungsrechtsprechung, in: Bernd Guggenberger/ Thomas Würtenberger (Hrsg.), Hüter der Verfassung oder Lenker der Politik? Das Bundesverfassungsgericht im Widerstreit, Baden-Baden 1998, S. 233-261,238. 14 Vgl. Karlheinz Niclauß, Der Weg zum Grundgesetz. Westdeutschland 1945-1949, Paderborn u.a. 1998, S. 237f. 15
Vgl. ders. (Anm. 13), S. 239f.
Demokratiegründung
in
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welche im Gegensatz zum Paulskirchen-Modell der Verfassungsgerichtsbarkeit zunächst kein Recht zur Verfassungsbeschwerde erhielt. 16 3. Das institutionelle
Profil des Bundesverfassungsgerichts
1951-1998
Der Parlamentarische Rat stellte zwar klar, daß es künftig ein Bundesverfassungsgericht geben solle, überließ die konkrete Ausgestaltung dieser Institution ebenso wie die genaue Definition der Aufgabenbereiche aber dem parlamentarischen Gesetzgeber. Dieser kam seinem Auftrag im Jahre 1951 mit der Verabschiedung des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes (BVerfGG) nach, durch welches das Bundesverfassungsgericht als Institution ins Leben gerufen wurde. Dem mehrfach geänderten BVerfGG wurde im Jahre 1975 zudem eine eigene Geschäftsordnung des Bundesverfassungsgerichts an die Seite gestellt, welche die interne Verfahrensorganisation des Gerichts detailliert regelt. Der Charakter des Bundesverfassungsgerichts als eines „Zwillingsgerichts" bestehend aus zwei Senaten mit exklusivem Zuständigkeitsbereich und eigenem Richterpersonal, von denen jeder „das Bundesverfassungsgericht" verkörpert bildet dessen im internationalen Vergleich auffallendstes institutionelles Merkmal. Die ursprünglich realisierte Arbeitsteilung zwischen beiden Senaten wies dem Ersten Senat eine sehr breit bemessene Entscheidungskompetenz zu, während der Zweite Senat sich ausschließlich den „politischen" Angelegenheiten, wie der abstrakten Normenkontrolle oder Organstreitigkeiten, zu widmen hatte. Wie einer der besten ausländischen Kenner der deutschen Verfassungsgerichtsbarkeit hervorgehoben hat, war diese organisatorische „Zweiteilung" gleichsam institutioneller Ausdruck der alten Auseinandersetzung zwischen denen, die das Gericht aus konventionell juristischer Perspektive sahen, und jenen, die dessen politischen Charakter betonten.17 Im Ergebnis führte die ursprüngliche Aufgabenverteilung zwischen beiden Senaten bald zu einer Überlastung des Ersten Senates, welche bereits 1956 die erste Novelle des BVerfGG notwendig machte.18 Im Zuge dieser Novelle wurde
16 Die Verfassungsbeschwerde wurde erst 1951 durch das BVerfGG eingeführt und 1969 in das Grundgesetz aufgenommen. Erstmals in Deutschland verwirklicht wurde der Gedanke einer Verfassungsbeschwerde für den Staatsbürger während der Zeit der Weimarer Republik in Bayern. Vgl. Simon (Anm. 9), S. 1640. 17 Vgl. Donald P. Kommers, The Constitutional Jurisprudence of the Fédéral Republic of Germany, 2. Aufl., Durham/London 1997, S. 17. 18 Der erste inoffizielle Gesetzentwurf für eine Novellierung des BVerfGG vom 23. September 1954 stammte bemerkenswerter Weise nicht aus dem Bundesjustizministerium, sondern vom Gericht selbst und war Ausdruck des als dringend empfundenen Reformbedarfs. Vgl. Richard Ley, Die Wahl der Mitglieder des Bundesverfassungsgerichtes. Eine Dokumentation anläßlich des 40jährigen Bestehens, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 22 (1991), S. 420-449.
10 Jesse/Löw
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ein Großteil der vormals beim Ersten Senat angesiedelten Zuständigkeiten auf den Zweiten Senat verlagert, welcher nun zusätzlich mit der Behandlung von sämtlichen Verfassungsbeschwerden und konkreten Normenkontrollfragen im Bereich des Bürgerlichen und des Strafrechts betraut wurde. Das Plenum, bestehend aus den Mitgliedern beider Senate, wurde autorisiert, im Bedarfsfalle Korrekturen an der gesetzlich festgeschriebenen Kompetenzverteilung der Senate vorzunehmen, um eine ungefähre Gleichbelastung zu gewährleisten. Darüber hinaus wurde die interne Struktur beider Senate reformiert, indem diesen die Möglichkeit eingeräumt wurde, dreiköpfige Gremien - die sogenannten Kammern - einzusetzen, um eingegangene Verfassungsbeschwerden einer Vorprüfung zu unterziehen. Das Kammersystem wurde 30 Jahre später maßgeblich dadurch aufgewertet, daß den Kammern bei Übereinstimmung zwischen allen drei Mitgliedern das Recht zugestanden wurde, letztverbindlich über eine Verfassungsbeschwerde zu entscheiden, sofern der Senat in einem vorausgehenden Urteil hierzu bereits speziellere Beurteilungsmaßstäbe geschaffen hat. In einer weiteren Reformmaßnahme in bezug auf die Kammern wurde diesen außerdem das Recht zugewiesen, Anträge auf konkrete Normenkontrolle ohne weiteres Entscheidungsverfahren zurückzuweisen, sofern diese nicht von einem der Landesverfassungsgerichtshöfe oder einem obersten Bundesgericht stammen. Das Kammersystem ist seit seiner Einrichtung wiederholte Male Gegenstand ernsthafter Anfechtungen gewesen, ohne daß es bislang zu einer restriktiven Revision der einschlägigen Bestimmungen gekommen wäre. 19 Wie eine jüngere empirische Studie zeigt, hat die Einführung des Kammersystems nicht nur einen positiven Einfluß auf die Arbeitslast der Senate gehabt, sondern das Gericht zugleich aktiver gemacht. Noch niemals in der Geschichte des Bundesverfassungsgerichts wurden mehr Verfassungsbeschwerden angenommen als in den neunziger Jahren. 20 In den annähernd fünf Jahrzehnten seit der Errichtung des Bundesverfassungsgerichts hat es eine Reihe weiterer erwähnenswerter institutioneller Reformen und Veränderungen gegeben: Einen ersten Kernbereich unterschiedlicher Reformen und unrealisierter Reformvorschläge bildet die Frage der Anzahl und Amtszeit von Richtern. Diese gehörte bereits im Vorfeld der Verabschiedung der ursprünglichen Fassung des BVerfGG 1951 zu den umstrittensten Punkten. Der ursprüngliche Regierungsentwurf des BVerfGG sah einen Spruchkörper mit insgesamt 24 Mitgliedern vor, welche nach einem Rotationssystem entscheiden sollten. Nach den Vorstellungen des Bundesrates sollten
19
Vgl. Kommers (Anm. 17), S. 19f. Vgl. Erhard Blankenburg, Die Verfassungsbeschwerde - Die Nebenbühne der Politik und Klagemauer von Bürgern, in: Kritische Justiz 31 (1998), S. 203-218, 212. 20
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dagegen zwölf Richter grundsätzlich als Plenum entscheiden.21 Der Gesetzgeber entschied sich bekanntlich für die Senatslösung mit einer anfänglichen Anzahl von 12 Richtern pro Senat. Doch schon im Rahmen der ersten Novelle des BVerfGG von 1956 wurde deren Anzahl - mit dem Verweis auf die Effektivität des Gerichts - auf zehn reduziert und sechs Jahre später noch einmal auf acht Richter pro Senat herabgesetzt. Die ursprünglich geltenden Lebenszeiternennungen der von höchsten Bundesgerichtshöfen stammenden Richter wurden 1961 abgeschafft. Im Gefolge einer Reihe weiterer kleinerer Reformen in diesem Bereich wurde die maximale Amtszeit von Richtern im Jahre 1970 schließlich auf 12 Jahre (ohne Möglichkeit der Wiederwahl) und deren Pensionierungsgrenze auf 68 Jahre festgelegt. Der Modus der Richterwahl hat die Gemüter noch stärker beschäftigt als die Frage nach der Anzahl und Amtszeit der Mitglieder des Gerichts. Das in den fünfziger Jahren etablierte Verfahren, nach dem die eine Hälfte der Richter vom Wahlmännerausschuß des Bundestages und die andere Hälfte vom Bundesrat jeweils mit Zweidrittelmehrheit gewählt wird 2 2 , hat sich, von unerheblichen Änderungen der Verfahrensregeln, seither als bemerkenswert stabil erwiesen. 23 Ungeachtet dessen ist die Diskussion über die Reform des formalen Wahlverfahrens nicht verstummt und hat in der jüngeren Vergangenheit im Zuge der Erweiterung des parlamentarisch repräsentierten Parteienspektrums sogar an Intensität gewonnen. Die Mehrzahl der Vorschläge ist auf die Einführung eines Verfahrens konzentriert, in dem die Nominierungsgewalt vom Wahlmännerausschuß auf das Plenum des Bundestages verlagert würde. 24 Mindestens ebensosehr wie das formale Nominierungsverfahren ist die Praxis der Richterauswahl zum Gegenstand einer interdisziplinären Debatte und Kritik erhoben worden. 25 Im Zentrum der öffentlichen Diskussion stand schon früh die Tatsache, daß die beiden Volksparteien CDU und SPD praktisch von Beginn an erfolgreich darum bemüht waren, ein parteipolitisch geprägtes Proporzsystem für die Besetzung von Richterstellen zu etablieren. Die große Mehrheit der Mitglieder des Bundesverfassungsgerichts waren bzw. sind Mitglieder 21
Vgl. Joachim Wieland, Das Bundesverfassungsgericht am Scheideweg, in: Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft 81 (1998), S. 171-192, 176. 22 Bis zur ersten Novelle des BVerfGG im Juli 1956 war die Wahl von Richtern durch den Wahlmännerausschuß des Bundestages an das Quorum von neun Mitgliedern desselben gebunden, was dem Erfordernis einer Dreiviertel-Mehrheit entsprach. Vgl. Ley (Anm. 18), S. 435f. 23 Vgl. Christian Pestalozza, Verfassungsprozeßrecht. Die Verfassungsgerichtsbarkeit des Bundes und der Länder mit einem Anhang zum Internationalen Rechtsschutz, 3. Aufl., München 1991, S. 43f. 24
Vgl. Sybille Koch, Die Wahl der Richter des BVerfG, in: Zeitschrift für Rechtspolitik 29 (1996), S. 41-44. 25 Vgl. Wilhelm Karl Geck, Wahl und Amtsrecht der Bundesverfassungsrichter, Baden-Baden 1986, S. 31f. 10*
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einer der beiden Parteien. Selbst wenn eine formale Parteimitgliedschaft im Einzelfall fehlte, waren es die Parteien, die als die für die Nominierung eines Kandidaten maßgeblichen Akteure auftraten. Während hin und wieder einmal ein Mitglied der FDP den Sprung in den Kreis der Verfassungsrichter schaffte, ist den Grünen wie der PDS die erfolgreiche Nominierung eines ihrer Kandidaten bislang verwehrt geblieben.26 Der tatsächliche Entscheidungsprozeß und die notwendigen Aushandlungsgeschäfte über einzelne Kandidaten läuft im übrigen auch kaum in den gesetzlich dazu bestellten Körperschaften, sondern in vorgeschalteten Gremien ab. Den Ausführungen Piepers zufolge findet die Vorabstimmung im Bundesrat üblicherweise im Rahmen einer ad-hoc-Kommission (gemäß § 15 der Geschäftsordnung des Bundesrates) statt, der die Justizminister der Länder angehören; Vorentscheidungen über die vom Wahlmännerausschuß des Bundestages zu wählenden Kandidaten werden in parteipolitischen Gremien getroffen, in denen fraktionelle Gruppen unter maßgeblichem Einfluß der Parteizentralen und eine abschließend zusammentretende interfraktionelle Kommission den Entscheidungsprozeß determinieren. 27 Der jüngeren einschlägigen Presseberichterstattung war hingegen zu entnehmen, daß auch die Entscheidungen über die vom Bundesrat zu wählenden Kandidaten in einer informellen, parteipolitisch geprägten „Findungskommission" getroffen werden. Dieser sollen zuletzt der thüringische Ministerpräsident Vogel, der saarländische Justizminister Walter und bis zu dessen Amtsniederlegung auch der ehemalige Ministerpräsident des Landes Nordrhein-Westfalen, Rau, angehört haben.28 Die Vereinbarungen in den „Findungskommissionen" sind für die Entscheidungen innerhalb der beiden offiziellen Wahlkörper de facto verbindlich. Eine Aussprache über nominierte Kandidaten im Bundestag oder Bundesrat gibt es nicht. Eine weitere wichtige institutionelle Reform betraf die Einführung sogenannter „abweichender Voten" im Zuge der Novelle des BVerfGG von 1970. Während dieser Aspekt bei den Beratungen über die Verfahrensregeln des Bundesverfassungsgerichts im Parlamentarischen Rat noch keine Rolle spielte, wurde die Festschreibung der Möglichkeit einer Veröffentlichung abweichender 26 Die Mehrheit der relevanten Beobachter geht davon aus, daß die Parteimitgliedschaft von Bewerbern bzw. deren spezifischer Nominierungshintergrund keinen entscheidenden Einfluß auf die spätere Spruchpraxis von Richtern hatte. Vgl. Peter Häberle, Die Verfassungsbeschwerde im System der bundesdeutschen Verfassungsgerichtsbarkeit, in: Jahrbuch des öffentlichen Rechts NF/Bd. 45 (1997), S. 89-135, 93. Diese Mehrheitsmeinung ist allerdings nicht unwidersprochen geblieben. Vgl. für einige Beispiele, bei denen die Parteizugehörigkeit von Richtern eine gewisse Rolle gespielt zu haben scheint, Christine Landfried, Constitutional Review and Legislation in the Federal Republic of Germany, in: Dies. (Anm. 8), S. 147-167, 148f. 27 Vgl. Stefan Ulrich Pieper, Verfassungsrichterwahlen: die Besetzung der Richterbank des Bundesverfassungsgerichts, und die Besetzung des Europäischen Gerichtshofes sowie des Europäischen Gerichtshofes filr Menschenrechte und des Internationalen Gerichtshofes mit deutschen Kandidaten, Berlin 1998, S. 27f. 28 Vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 3. Dezember 1998, S. 6.
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Meinungen von der SPD jedoch immerhin bereits bei den Beratungen über das BVerfGG im ersten Bundestag erfolglos verfochten. Die von der Union geführte Bundestagsmehrheit wies den Vorschlag seinerzeit mit dem Hinweis auf befürchtete Autoritätseinbußen des Gerichts zurück. 29 Erst als die Christdemokraten 1969 selbst in die Opposition gerieten, gaben sie ihren Widerstand gegen das Institut der „abweichenden Voten" auf. Es ist im übrigen kein Zufall, daß die Einführung des Sondervotums und die neue Amtszeitregelung für Mitglieder des Gerichts (Festsetzung der Amtszeit auf maximal 12 Jahre und Verbot der Wiederwahl) gleichzeitig vorgenommen wurden. Die Einführung des Sondervotums entsprang dem Wunsch nach mehr Transparenz und Offenheit des gerichtlichen Entscheidungsverfahrens; da hierdurch einzelne Mitglieder des Gerichts ungleich stärker individuell exponiert werden, zielte die neue Amtszeitregelung auf eine zusätzliche Absicherung der richterlichen Unabhängigkeit. 30 In der einschlägigen Literatur wird davon ausgegangen, daß die Bedeutung „abweichender Voten" in numerischer Hinsicht seit deren Einführung beständig abgenommen hat. 31 Nach einer Auszählung von Mahrenholz war der Anteil „abweichender Voten" an der Gesamtzahl gefällter Urteile am höchsten im Zeitraum 1971-80 (durchschnittlich 11,6 Prozent), er fiel dann in der Phase 1980-87 auf 6,4 Prozent. 32 Im Zeitraum 1988-97 stieg deren Anteil jedoch wieder geringfügig auf 6,6 Prozent an; sensationell hoch war der Anteil publizierter Minderheitsvoten im Jahre 1995, als jedes fünfte Urteil (sieben von 35) mit einem Minderheitsvotum versehen war. 33 Im Vergleich zu der Situation in den Vereinigten Staaten, dem „Ursprungsland" des Sondervotums, ist dieser Anteil als insgesamt sehr bescheiden zu bezeichnen. Die ungleich höhere Quote von „separate opinions" an Entscheidungen des Supreme Court 34 spiegelt nicht zuletzt die stark unterschiedlichen Rechts- und Rechtsprechungstraditionen beider Länder wider. Für die Bundesrepublik gilt, daß „die Richter des Bundesverfas-
29 Vgl. Hans Lietzmann, Das Bundesverfassungsgericht. Eine sozialwissenschaftliche Studie, Opladen 1985, S. 53f. 30 Vgl. Christian Rau, Selbst entwickelte Grenzen in der Rechtsprechung des United States Supreme Court und des Bundesverfassungsgerichts, Berlin 1996, S. 155f. 31 Vgl. Klaus Schiaich, Das Bundesverfassungsgericht. Stellung, Verfahren, Entscheidungen, 4. Aufl., München 1997, S. 41. 32 Vgl. Ernst Gottfried Mahrenholz, Das richterliche Sondervotum, in: Werner Hoppe u.a. (Hrsg.), Rechtsprechungslehre - 2. Internationales Symposium, Münster 1988, Köln u.a. 1992, S. 167-171, 168. 33 Berechnungen des Autors auf der Grundlage der veröffentlichten Entscheidungen des Gerichts (BVerfGE) bis einschließlich November 1997 bzw. Bd. 96 (1998). 34 Im Jahre 1995 etwa erhielten nur 37 Prozent aller Supreme Court Entscheidungen die volle Unterstützung sämtlicher Richter. Vgl. Lawrence Baum, The Supreme Court, 6. Aufl, Washington D.C. 1998, S. 139.
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sungsgerichts - entsprechend der Tradition deutscher Kollegialgerichte - den Entscheidungsprozeß in erster Linie als Kollegialaufgabe betrachten" 35 und der hierzulande weitaus üblichere Verzicht auf die Formulierung eines Sondervotums auch etwas mit dem Prinzip „institutioneller Loyalität" zu tun hat. 36 Politische Institutionen lassen sich jedoch nicht ohne das in ihnen wirkende Personal angemessen begreifen. 37 Diesbezügliche Veränderungen sind selten das Ergebnis expliziter formaler institutioneller Reformen, sondern ergeben sich zumeist langfristig und gleichsam beiläufig. Hierzu gehört im Hinblick auf das Bundesverfassungsgericht zunächst ein bemerkenswerter Wandel hinsichtlich des beruflichen Hintergrundes seiner Mitglieder. 38 Im Vergleich zu der „ersten Generation" von Richtern hat die durchschnittliche berufliche Erfahrung von Mitgliedern des Gerichts im Bereich von Wirtschaft bzw. Politik deutlich abgenommen, während der Anteil jener mit einem Karrierehintergrund im Justizwesen, in der Verwaltung bzw. der Hochschule gestiegen ist. Von den zu Beginn des Jahres 1999 amtierenden Richtern verfügte nur einer über berufliche Erfahrungen in der Wirtschaft (Richter Kühling), während drei weitere Mitglieder (Präsidentin Limbach, Richter Jentzsch und Richterin Hohmann-Dennhardt) auf im engeren Sinne politische Karrieren zurückblickten. 39 Alle übrigen Mitglieder hatten einen Karrierehintergrund im Justizwesen, in der Verwaltung oder im Hochschulbereich. 40 Darüber hinaus ist auf einen bemerkenswerten Wandel hinsichtlich der geschlechtsbezogenen Zusammensetzung der Richterschaft des Bundesverfassungsgerichts hinzuweisen. Die Tendenz zeigt in Richtung auf eine deutliche Erhöhung des Anteils weiblicher Mitglieder des Gerichts. Mit der Nominierung 33
Diskussionsbeitrag Millgramm, in: Hoppe (Anm. 32), S. 175. Vgl. Kommers (Anm. 17), S. 26. 37 Vgl. Ludger Helms, Introduction: Institutional Change and Adaptation in a Stable Democracy, in: ders. (Hrsg.), Institutions and Institutional Change in the Federal Republic of Germany, London 1999 (i.E.). 38 Vgl. Landfried (Anm. 26), S. 149. 39 Richter Kühling arbeite als Justiziar der Volkswagen-AG; Präsidentin Limbach war Justizsenatorin des Landes Berlin; Richter Jentzsch war Abgeordneter des Deutschen Bundestages, Oberbürgermeister der Stadt Wiesbaden, Mitglied des Hessischen Landtages und Justizminister des Landes Thüringen; Richterin Hohmann-Dennhardt war Dezernentin für Soziales, Jugend und Wohnungswesen im Magistrat der Stadt Frankfurt am Main und Ministerin für Wissenschaft und Kunst des Landes Hessen. Auskünfte des Bundesverfassungsgerichts an den Autor und eigene Recherchen. 36
40 Wiederum sind die Auswirkungen dieser Entwicklung umstritten. Nach Einschätzung von Landfried (Anm. 26), S. 164, sind die Veränderungen im Karriereprofil von Richtern für deren Spruchpraxis als (noch) maßgeblicher einzuschätzen als deren parteipolitischer Hintergrund, insofern das massive Übergewicht von ehemaligen Professoren der Rechtswissenschaft und Karrierebeamten aus dem Bereich der öffentlichen Verwaltung zur signifikanten Vernachlässigung von sozialen Faktoren bei der richterlichen Normenkontrolle führen könne.
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von zehn Richterinnen im Zeitraum 1951 bis 1998 fällt die Rate weiblicher Mitglieder an der Gesamtzahl von 82 Nominierungen insgesamt recht bescheiden aus. Jedoch hat sich die Berücksichtigung von Bewerberinnen in den letzten eineinhalb Jahrzehnten deutlich verstärkt. Von den 23 seit der zweiten Hälfte der achtziger Jahre berufenen Mitgliedern des Gerichts waren nicht weniger als sieben Frauen. Die Hälfte aller Richterinnen in der Geschichte des Bundesverfassungsgerichts wurde innerhalb der letzten zehn Jahre berufen. Im September 1994 wurde erstmals eine Frau zur Präsidentin des Gerichts gewählt. Es fällt ferner auf, daß die Repräsentation von Richterinnen sehr unterschiedlich auf die beiden Senate verteilt war. Acht der bis Ende 1998 berufenen zehn Richterinnen gehörten dem Ersten Senat an. Während das erste weibliche Mitglied des Verfassungsgerichts (Richterin Scheffler) bereits 1951 ihr Amt antrat, dauerte es weitere 35 Jahre, bis die erste Richterin in den Zweiten Senat gewählt wurde (Richterin Graßhoff). Ein letzter bemerkenswerter Aspekt bezieht sich auf die deutlich unterschiedlichen geschlechtsbezogenen Präferenzen der beiden zur Wahl der Mitglieder des Bundesverfassungsgerichts befugten Körperschaften: So wurden bis zur Mitte der achtziger Jahre sämtliche weiblichen Mitglieder durch den Bundesrat gewählt; Richterin Graßhoff war die erste Richterin, die ihre Wahl dem Wahlmännerausschuß des Bundestages verdankte. Gemessen an den Veränderungen des institutionellen und sozialen Profils des Gerichts ist dessen Kompetenzbereich seit seiner erstmaligen detaillierten gesetzlichen Fixierung 1951 bemerkenswert stabil geblieben. Die in Übereinstimmung mit den Wünschen des Gerichts vom Gesetzgeber vorgenommene Aufhebung der Möglichkeit, den Bundespräsidenten bzw. die Bundesregierung mit juristischen Fachgutachten zu versorgen und die nachträgliche Einführung der Verfassungsbeschwerde 1951 bilden die einzigen nennenswerten Reformen hinsichtlich des Kompetenzprofils des Gerichts. Das Bundesverfassungsgericht zählt zweifellos zu jenen politischen Kerninstitutionen der Bundesrepublik, die von den Wirkungen der deutschen Vereinigung in organisatorischer Hinsicht am wenigsten betroffen waren. 41 Die mit Rücksicht auf die abweichenden Ausbildungsgänge in der ehemaligen DDR vorgenommene behutsame Neuformulierung des beruflichen Anforderungsprofils für potentielle Mitglieder des Bundesverfassungsgerichts stellte die einzige erwähnenswerte Reform der institutionellen Grundlagen des Gerichts im Gefolge der deutschen Vereinigung dar. 42
41
Vgl. auch Nevil Johnson, The Federal Constitutional Court: Facing up to the Strains of Law and Politics in the New Germany, in: German Politics 3 (1994), S. 131-148, 137f. 42 Vgl. Friedrich Karl Fromme, Bundesverfassungsgericht, in: Werner Weidenfeid/Karl-Rudolf Körte (Hrsg.), Handbuch zur deutschen Einheit, Neuausgabe, Bonn 1996, S. 84-95, 84f.
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Ludger Helms 4. Justizialisierung
der Politik?
Es gehört heute zu den allgemein akzeptierten Einsichten der interdisziplinären Forschung über die Verfassungsgerichtsbarkeit in westlichen Demokratien, daß eine Institution w i e das Bundesverfassungsgericht nicht vollständig jenseits der Sphäre der Politik verbleiben kann. Das gilt zumindest in dem Sinne, daß seine Entscheidungen häufig einen unbestreitbar politischen Gehalt aufweisen. 4 3 Die These einer „Justizialisierung der P o l i t i k " in der Bundesrepublik reicht jedoch weiter. Ihre Vertreter argumentieren, daß das Bundesverfassungsgericht in zunehmendem Maße einen T e i l des politischen Entscheidungsverfahrens für sich beansprucht habe, welcher an sich dem parlamentarischen Gesetzgeber zusteht. Einzelne Autoren sprechen diesbezüglich von einem der „großen Probleme des modernen Verfassungsstaates des 20. Jahrhunderts" 4 4 . Die Festschreibung politischer Grundentscheidungen durch das Bundesverfassungsgericht begrenze die politischen Alternativen künftiger Generationen. 4 5 Obwohl es freilich richtig ist, daß das Bundesverfassungsgericht stets nur auf Antrag - der j e nach Verfahrensart unterschiedlichen berechtigten Antragsteller - tätig werden kann (dann jedoch auch muß), gibt es doch eine Reihe von M ö g lichkeiten, mittels derer das Gericht am politischen Entscheidungsverfahren A n t e i l nehmen kann. 4 6 Eine erste M ö g l i c h k e i t hierzu besteht in der N i c h t i g -
43 Vgl. statt vieler die Beiträge in Michael Piazzolo (Hrsg.), Das Bundesverfassungsgericht. Ein Gericht im Schnittpunkt von Recht und Politik, Mainz/München 1996. 44 Walter Schmitt Glaeser, Das Bundesverfassungsgericht als „Gegengewalt" zum verfassungsändernden Gesetzgeber? - Lehren aus dem Diäten-Streit 1995, in: Joachim Burmeister (Hrsg.), Verfassungsstaatlichkeit. Festschrift für Klaus Stern zum 65. Geburtstag, München 1997, S. 1183-1199,1198. 45 Christine Landfried, The Judicialisation of Politics in Germany, in: International Political Science Review 15 (1994), S. 113-124, 119. - Die These von der „Justizialisierung der Politik" zählt zweifelsohne zu den prominentesten Interpretationen der jüngeren interdisziplinären Forschung über die Formen und Wirkungen der modernen Verfassungsgerichtsbarkeit. Es ist jedoch notwendig darauf hinzuweisen, daß vereinzelt die Funktion des Bundesverfassungsgerichts als „Ersatzgesetzgeber" positiv bewertet und ausdrücklich angeregt wurde. So etwa bei Alexander von Brünneck, Verfassungsgerichtsbarkeit in den westlichen Demokratien, Baden-Baden 1992, S. 177f. Vgl. ebenso Bernd Guggenberger, der in einer offensiven Haltung des Gerichts das Verdienst einer „Verteidigung der Politik gegenüber dem Attentismus der Parteiendemokratie" erblickt und Eingriffe des Gerichts in die Sphäre des parlamentarischen Entscheidungssystems positiv als stellvertretende oder nachholende Politisierung" wertet; ders., Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und die institutionelle Balance des demokratischen Verfassungsstaats, in: Guggenberger/Würtenberger (Anm. 13), S. 202-232, 208 und 212 (Hervorhebungen im Original). 46 Vgl. Wolfgang Löwer, Zuständigkeiten und Verfahren des Bundesverfassungsgerichts, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II: Demokratische Willensbildung - Die Staatsorgane des Bundes, Heidelberg 1987, S. 737817, 801 f. Formalrechtlich besaß das Gericht bis zur Novelle des BVerfGG 1970 lediglich die Möglichkeit, eine beanstandete Norm entweder für mit der Verfassung vereinbar oder für nichtig
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keitserklärung von Gesetzen aus Gründen mangelnder Verfassungskonformität. Ähnlich weitreichend sind Entscheidungen, in denen das Gericht die Unvereinbarkeit eines Gesetzes mit dem Grundgesetz feststellt. 47 Darüber hinaus haben sich vor allem zwei weitere Entscheidungsvarianten des Gerichts als einflußreich erwiesen, bei denen von einer „Noch-Verfassungsmäßigkeit" eines Gesetzes ausgegangen wird. Nicht selten formuliert das Gericht im Anschluß an die rechtliche Prüfung eines Gesetzes eine „Appellentscheidung", durch die der Gesetzgeber explizit zu einer Gesetzeskorrektur aufgefordert wird, um einem „Umschlag" einer Maßnahme in die Verfassungswidrigkeit zuvorzukommen. Daneben verfügt das Gericht über die Möglichkeit, eine verbindliche verfassungskonforme Interpretation der geprüften Gesetzesmaterie festzuschreiben. Sehr häufig enthalten entsprechende Beschlüsse des Gerichts ganz konkrete Auflagen für die Implementation einer Maßnahme, durch die der Ermessensspielraum des Bundestages eingeschränkt wird. 48 Ein spektakuläres Beispiel dieser Praxis bildet das Urteil über den Grundlagenvertrag der Bundesrepublik mit der DDR 4 9 , in dem das Bundesverfassungsgericht erstmals darauf bestand, daß die Gesamtheit seiner Ausführungen rechtsverbindlichen Charakter besitze. 50 Ein Blick auf die quantitative Dimension der „Justizialisierung von Politik" in der Bundesrepublik scheint zumindest teilweise jenen Kritikern Recht zu geben, die vor einer weiteren Ausdehnung der Rolle des Gerichts im politischen Entscheidungsprozeß warnen. Mißt man das Ausmaß der „Justizialisierungstendenz" lediglich anhand der Anzahl oppositioneller Verfahrensanträge, so scheint es wenig Grund zur Besorgnis zu geben.51 Jedoch bildet dies nur einen kleinen Ausschnitt des weiter dimensionierten Problems. Einer Auszählung Landfrieds zufolge wurden seit Beginn der fünfziger Jahre immerhin fünf Probzw. ungültig zu erklären. Vgl. Martin Schulte, Appellentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, in: Hoppe (Anm. 32), S. 179-192, 180. 47 Während die für nichtig erklärte Norm revidiert werden muß, hat die Unvereinbarkeitserklärung eine Anwendungssperre zur Folge. Nichtigkeitserklärungen haben seit der 5. Wahlperiode des Bundestages abgenommen. Vgl. Klaus von Beyme, Der Gesetzgeber. Der Bundestag als Entscheidungszentrum, Opladen 1997, S. 301. 48 Helmuth Schulze-Fielitz spricht diesbezüglich von einem „verfassungsgerichtlichen Paternalismus"; ders., Das Bundesverfassungsgericht in der Krise des Zeitgeists. Zur Metadogmatik der Verfassungsinterpretation, in: Archiv des öffentlichen Rechts 122 (1997), S. 131,12. 49
BVerfGE 36,1. Vgl. Heinz Laufer, Verfassungsordnung und Verfassungsentwicklung, in: Franz Schneider (Hrsg.), Der Weg der Bundesrepublik von 1945 bis zur Gegenwart, München, S. 154-176, 167. 51 Von einem Mißbrauch des Bundesverfassungsgerichts als „Oppositionsinstrument" läßt sich in quantitativer Hinsicht nicht sprechen. Vgl. Klaus Stüwe, Der „Gang nach Karlsruhe" - Die Opposition im Bundestag als Antragstellerin vor dem Bundesverfassungsgericht, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 28 (1997), S. 545-557, 557. 50
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zent aller Bundesgesetze vom Bundesverfassungsgericht für nichtig erklärt, wobei die größte Anzahl von Gesetzen den Bereichen Sozialpolitik, Steuer- und Finanzpolitik sowie der Rechtspolitik entstammten.52 Differenziertere Bestandsaufnahmen zeigen zudem, daß die Einbindung des Gerichts im Bereich der hochpolitischen Entscheidungsverfahren ungleich stärker ist als auf dem Felde der Alltagsgesetzgebung. Nach von Beyme wurde das Bundesverfassungsgericht in nicht weniger als 40 Prozent der wichtigsten 100 als „Schlüsselentscheidungen" klassifizierten Gesetzesbeschlüsse des Bundestages angerufen. 53 Generell wird man sagen können, daß die Intensität der richterlichen Kontrolle am stärksten ausgeprägt ist im Bereich von legislativen Maßnahmen, die die Kerngehalte des Grundgesetzes, wie die Grundrechte oder die fundamentalen Organisationsprinzipien der staatlichen Ordnung, berühren. 54 Eine qualitative Bewertung des Ausmaßes von „Justizialisierung von Politik" bleibt freilich abhängig von normativen Prämissen bezüglich des demokratischen Entscheidungsprozesses.55 Was die empirische Dimension des Phänomens in der Bundesrepublik betrifft, so läßt sich die Existenz eines kritischen Potentials kaum bestreiten, wobei allerdings der deutsche Fall kaum einen Einzelfall in der Familie moderner westlicher Demokratien bildet. Einen im internationalen Vergleich als ungewöhnlich auffallenden Aktivismus wird man den Karlsruher Richtern kaum unterstellen wollen, auch wenn das Ausmaß der Beteiligung von Mitgliedern des Gerichts an der öffentlichen politischen Diskussion in der jüngeren Vergangenheit gelegentlich kritisiert worden ist. 56 Notwendig erscheint aber eine gebührende Berücksichtigung weiterer, externer Erklärungsfaktoren der „Justizialisierungstendenz". Der starken Stellung des Verfassungsgerichts in der legislativen Arena wird in Deutschland zum einen in besonderem Maße Vorschub geleistet durch eine stark legalistisch geprägte politische Kultur, die verfassungsgerichtliche Entscheidungen als Schlußpunkt hochpolitischer Auseinandersetzungen in aller Regel noch immer in höherem Maße zu akzeptieren geneigt ist als parlamentarische Mehrheitsentscheidungen. Hinzu kommt eine bemerkenswerte Bereitschaft der politischen Elite in Regierung und Parlament, eine Reihe von sozialen Herausforderungen solange unbeantwortet zu lassen, bis deren gebührende parlamentarische Behandlung vom
52
Vgl. Landfried (Anm. 45), S. 114. Vgl. von Beyme (Anm. 47), S. 302. 54 Vgl. Horst Säcker, Gesetzgebung durch das Bundesverfassungsgericht? Das Bundesverfassungsgericht und die Legislative, in: Piazzolo (Anm. 43), S. 189-225,207. 55 Vgl. Torbjörn Vallinder, The Judicialisiation of Politics - A World-wide Phenomenon: Introduction, in: International Political Science Review 15 (1994), S. 91-99. 56 Vgl. Otfried Höffe, Vernunft und Recht. Bausteine zu einem interkulturellen Rechtsdiskurs, Frankfurt a.M. 1996, S. 266f. 53
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Bundesverfassungsgericht ausdrücklich angemahnt wird. 57 In diesem Sinne hat das Gericht in der Geschichte der Bundesrepublik nicht nur als ein letzter Zufluchtsort für die im parlamentarischen Verfahren unterlegene Opposition (siehe unten) gedient, sondern zugleich im Dienste partiell entscheidungsschwacher Regierungen gestanden. Diese Tendenz hat sich nach Einschätzung vieler Beobachter in den letzten Jahren drastisch verstärkt. Damit allein hat es jedoch nicht sein Bewenden. Dem „Pflichtversäumnis" der politischen Elite hinsichtlich Entscheidungsbereitschaft und Führung „korrespondiert der Versuch, das Verfassungsgericht durch entsprechende Richterwahl näher an die Überlegungsweisen der Politik heranzuziehen und das Gericht als weniger juristischen Kontrolleur denn vielmehr politischen Mitakteur 'anschlußfähig' zu machen" 58 - eine Erscheinung, die nicht völlig zu Unrecht als „die gefährlichste institutionelle Fehlentwicklung der letzten Jahre" 59 charakterisiert wurde. 5. Das Bundesverfassungsgericht
als Gegenregierung?
Die These einer (unangemessen) starken Stellung des Bundesverfassungsgerichts im politischen Entscheidungsprozeß ist nicht notwendigerweise an spezielle Erwartungen hinsichtlich der politischen Richtung der Urteile des Gerichts gebunden. Gleichwohl hat die Behauptung, das Gericht tendiere dazu, die Position einer „Gegenregierung" einzunehmen, seit den frühen Jahren der Bundesrepublik immer wieder große Aufmerksamkeit und Unterstützung erfahren. 60 Im Zentrum der Auseinandersetzung über die Frage, ob die Erfahrungen mit der Karlsruher Spruchpraxis dazu berechtigten, das Gericht als „Gegenregierung" zu bezeichnen, haben wenig überraschend die Entscheidungen im Bereich von Verfahren der abstrakten Normenkontrolle gestanden. Obwohl es nicht diese, sondern vermutlich eher die Urteile im Gefolge von Verfassungsbeschwerden waren, die in den letzten Jahrzehnten einen Großteil der besonders folgenreichen „Kernentscheidungen" des Gerichts ausgemacht haben61, gilt die 37
Vgl. Wolfgang Knies, Auf dem Weg in den „verfassungsgerichtlichen Jurisdiktionsstaat"? Das Bundesverfassungsgericht und die gewaltenteilende Kompetenzordnung des Grundgesetzes, in: Burmeister (Anm. 44), S. 1155-1182, 1179; Landfried (Anm. 45), S. 116f. 58 Werner Patzelt, Deutsche Politik unter Reformdruck, in: Robert Hettlage/Karl Lenz (Hrsg.), Deutschland nach der Wende. Eine Zwischenbilanz, München 1995, S. 68-92, 82. 39 Ebd. 60 Dies gilt sowohl für den Bereich der Publizistik als auch für jenen der Politik. Vgl. Richard Häußler, Der Konflikt zwischen Bundesverfassungsgericht und politischer Führung. Ein Beitrag zur Geschichte und Rechtsstellung des Bundesverfassungsgerichts, Berlin 1994, S. 22ff; Michael Reissenberger, Wer bewacht die Wächter? Zur Diskussion um die Rolle des Verfassungsgerichts, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 15/97, S. 11-20, 12. 61 Ein prominentes Beispiel hierfür bildet etwa die „Numerus Clausus-Entscheidung" des Gerichts (BVerfGE 33, 303).
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abstrakte Normenkontrolle zu Recht als jene Verfahrensart, bei der das Gericht prinzipiell am stärksten gezwungen ist, sich politisch zu exponieren. 62 Die abstrakte Normenkontrolle steht zudem von allen Verfahrensarten - als politische Drohung 63 wie als konkrete Maßnahme - mit Abstand am häufigsten im Mittelpunkt der Auseinandersetzung zwischen Regierungsmehrheit und Opposition und gilt als Kernbestandteil der institutionellen Chancenstruktur der parlamentarischen Opposition in der Bundesrepublik. 64 Die jüngere empirische Forschung hat gezeigt65, daß abstrakte Normenkontrollverfahren in der übergroßen Mehrheit von der parlamentarischen Minderheit angestrengt wurden. Abgesehen von einem gemeinsamen Antrag der Regierungs- und Oppositionsfraktionen zur abstrakten Normenkontrolle von 1961, ein Gesetz aus den dreißiger Jahren der abstrakten Normenkontrolle zu unterziehen, kam es nicht vor 1985 zur ersten Einleitung eines abstrakten Normenkontrollverfahrens durch die. Mehrheitsfraktionen im Deutschen Bundestag. Ferner konnte gezeigt werden, daß ein überdurchschnittlich hoher Anteil an Verfahren der abstrakten Normenkontrolle, welche von Landesregierungen initiiert wurden, von solchen Regierungen stammten, die in parteipolitischer Hinsicht der parlamentarischen Opposition im Bundestag nahestanden (64 Prozent). Selbst wenn man davon ausgeht, daß es sich dabei nicht ausschließlich um „Stellvertreterklagen" der parlamentarischen Opposition handelte, so dürfte dies in mehreren Fällen der Fall gewesen sein. Aber auch Organstreit-Verfahren haben in der Praxis des Bonner Parlamentarismus primär Bedeutung als Kontrollinstrument der parlamentarischen Opposition erlangt. 60 Prozent der Organklagen aus der Mitte des Bundestages stammten von Gruppen bzw. Fraktionen der parlamentarischen Opposition (28 Prozent von einzelnen Abgeordneten und zwölf Prozent von Gruppen bzw. Fraktionen der Regierungskoalition). Von den durch Landesregierungen initiierten Verfahren im Bereich von BundLänder-Streitigkeiten gingen nicht weniger als 78 Prozent aller Verfahrens-
62
Vgl. Kommers (Anm. 17), S. 28. Berühmt geworden ist Landfrieds Wort von der „Antizipation verfassungsgerichtlicher Entscheidungen" auf Seiten der regierenden Mehrheit; vgl. Christine Landfried, Bundesverfassungsgericht und Gesetzgeber: Wirkungen der Verfassungsrechtsprechung auf parlamentarische Willensbildung und soziale Realität, Baden-Baden 1984, S. 84. Andere Beobachter haben diesbezüglich gar von einer „eingebauten Handlungsbremse" gesprochen; so Heidrun Abromeit, Volkssouveränität, Parlamentssouveränität, Verfassungssouveränität: Drei Realmodelle der Legitimation staatlichen Handelns, in: Politische Vierteljahresschrift 36 (1995), S. 49-66,60. 63
64 Vgl. Ludger Helms, Wettbewerb und Kooperation. Zum Verhältnis von Regierungsmehrheit und Opposition im parlamentarischen Gesetzgebungsverfahren in der Bundesrepublik Deutschland, Großbritannien und Österreich, Opladen 1997, S. 59f. 63 Vgl. für alle Zahlenangaben dieses Absatzes Stüwe (Anm. 51). Die Zahlen beziehen sich auf den Untersuchungszeitraum 1951 bis 1996.
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initiativen auf Landesregierungen zurück, die der parlamentarischen Opposition im Bundestag nahestanden. Während die empirischen Befunde hinsichtlich der Antragsteller von Verfahren abstrakter Normenkontrolle und Organstreit-Verfahren eindeutig ausfallen, hat die Frage nach der politischen Grundrichtung der Urteile des Gerichts für deutlich mehr Diskussion gesorgt. Unbestritten ist, daß es immer wieder aufsehenerregende Einzelentscheidungen gegeben hat, mit denen Mehrheitsbeschlüsse des parlamentarischen Gesetzgebers angefochten bzw. ganz oder teilweise aufgehoben wurden. 66 Gerade in den neunziger Jahren gab es wiederholt Anzeichen einer „antizyklischen Urteilspolitik" 67 des Karlsruher Gerichts. Historisch orientierte Bestandsaufnahmen zeichnen jedoch insgesamt ein anderes Bild. Nach einer Untersuchung von Wewer hat das Bundesverfassungsgericht im Verlaufe der Geschichte der Bundesrepublik eher dazu tendiert, die politischen Weichenstellungen der parlamentarischen Mehrheit durch seine Spruchpraxis zu unterstützen, anstelle die Position einer „Gegenregierung" einzunehmen.68 Dies wird damit erklärt, daß das Gericht versucht habe, sein hohes öffentliches Ansehen durch den Versuch zu befördern, sich möglichst geschmeidig in das politisch-soziale Kräftefeld der demokratischen Ordnung der Bundesrepublik einzufügen. Die auffallend oppositionell geprägte Haltung des Gerichts während der Zeit der sozial-liberalen Koalition wird in diesem Zusammenhang mit der sehr bescheidenen parlamentarischen Mehrheitsbasis und der dominanten Stellung der Opposition in den Ländern und im Bundesrat erklärt, welche beide das begrenzte öffentliche Mandat für sozial-liberalen Wandel angezeigt haben. Auch in jüngeren Arbeiten wurde nachdrücklich auf die Grenzen der These von der „Karlsruher Gegenregierung" hingewiesen.69 Von daher erscheint es unter Berücksichtigung der insgesamt starken Position des Gerichts im politischen Entscheidungsverfahren eher angemessen, dieses als „Parallelregierung" zu bezeichnen.70
66 Aus der jüngeren Vergangenheit sei etwa erinnert an das stark umstrittene Urteil zum Schwangerschaftsabbruch (BVerfGE 88, 203). 67 Guggenberger (Anm. 45), S. 208. 68 Vgl. Göttrik Wewer, Das Bundesverfassungsgericht - eine Gegenregierung? Argumente zur Revision einer überkommenen Denkfigur, in: Bernhard Blanke/Hellmut Wollmann (Hrsg.), Die alte Bundesrepublik. Kontinuität und Wandel (Leviathan Sonderheft 12/1991), Opladen 1991, S. 310-335. 69
Vgl. Martin Kutscha, Das Bundesverfassungsgericht und der Zeitgeist, in: Neue Justiz 50 (1996), S. 171-175. 70 So Hans-Ulrich Derlien, Institutionalising Democracy in Germany: From Weimar to Bonn and Berlin, in: Metin Heper/Ali Kazancigil/Bert A. Rockman (Hrsg.), Institutions and Democratic Statecraft, Boulder/Colorado 1997, S. 145-170, 160.
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Ludger Helms 6. Überlastung und Akzeptanzverlust - die Krise der neunziger Jahre
In den neunziger Jahren wurde das Bundesverfassungsgericht - neben dem Bundesrat - zum am heftigsten umstrittenen Verfassungsorgan der Bundesrepublik. Uneingeschränkt positive Bewertungen der deutschen Verfassungsgerichtsbarkeit wurden auf dem Höhepunkt der Krise beinahe nur noch von ausländischen Beobachtern formuliert. 71 Die Krise des Bundesverfassungsgerichts in den neunziger Jahren hat zumindest zwei unterschiedliche Gesichter. Zum einen hat das Gericht innerhalb des letzten Jahrzehnts einen Grad an Arbeitsüberlastung erreicht, der gänzlich unvergleichbar mit früheren Engpässen erscheint. Ähnliches gilt für das Ausmaß öffentlicher Kritik an den Urteilen des Gerichts in der Mitte der neunziger Jahre. Während letzteres Problem sich mehr oder minder verflüchtigt zu haben scheint, besteht die Überlastungssituation des Gerichts fort und dürfte nur durch grundlegende strukturelle Reformen zu beheben sein. In fast allen Verfahrensbereichen hat es signifikante Erhöhungen der Eingänge seit der deutschen Vereinigung gegeben72, obwohl ein unmittelbarer Zusammenhang nicht in jedem Bereich gleich stark ausgeprägt zu sein scheint. So wurden von den insgesamt 117 zwischen 1951 und 1996 gemachten Eingaben im Bereich der „Wahl- und Mandatsprüfung" mehr als 40 Prozent innerhalb des Zeitraums 1991-96 initiiert. Ähnliches gilt für den Bereich von BundLänder-Streitigkeiten; in diesem wurden 46 der seit den frühen fünfziger Jahren insgesamt 114 Eingaben zwischen 1990 und 1996 gemacht. Die dramatischsten Entwicklungen zeigen sich in der Kategorie der Verfassungsbeschwerden. In den gut drei Jahrzehnten zwischen 1951 und 1982 nahm das Gericht rund 51.000 Verfassungsbeschwerden entgegen; allein im Zeitraum 1983 bis 1996 gingen mehr als 56.000 Verfassungsbeschwerden in Karlsruhe ein. Interessanterweise kann der zahlenmäßige Anstieg von Verfassungsbeschwerden in den neunziger Jahren jedoch offenbar nur sehr bedingt mit dem Anwachsen der Bevölkerung im Zuge der deutschen Vereinigung erklärt werden. Wie Blankenburg gezeigt hat, ist der Gesamtanteil an Verfassungsbeschwerden von Bundesbürgern aus den neuen Ländern proportional geringer als jener aus den alten Bundesländern. 73
71
Vgl. etwa Kommers (Anm. 17); Gian Enrico Rusconi, Quäle 'democrazia costituzionale'? La corte federale nella politica tedesca e il problema della costituzione europea, in: Rivista Italiana di Scienza Politica 27 (1997), S. 272-306. 72
Bei sämtlichen Zahlenangaben in diesem Absatz handelt es sich um Berechnungen des Autors auf der Grundlage von Daten aus: Bundesministerium der Justiz (Hrsg.), Entlastung des Bundesverfassungsgerichts. Bericht der Kommission, Bonn 1998, S. 153. 73 Vgl. Blankenburg (Anm. 20), S. 207f.
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Die eklatante Arbeitsüberlastung des Bundesverfassungsgerichts in den neunziger Jahren hat nicht nur Anstoß zu zahlreichen wissenschaftlichen Reflexionen über die Zukunft des Gerichts gegeben74, sondern zugleich gerichtliche und politische Reaktionen nach sich gezogen. Der Europäische Gerichtshof ermahnte das Bundesverfassungsgericht (nach einem ersten negativ entschiedenen Klageverfahren aus dem Jahre 1996) 1997 wegen überlanger Verfahrensdauer, in der die Straßburger Richter eine Verletzung der Menschenrechte sahen.75 Bereits im Sommer 1996 setzte der Bundesjustizminister eine Expertenkommission zur Bestandsaufnahme und Erarbeitung von Reformvorschlägen des Gerichts ein, welche im Dezember 1997 ihren Abschlußbericht vorlegte. 76 In ihrem Bericht, der bis Ende 1998 noch zu keiner gesetzgeberischen Maßnahme geführt hatte, schlugen die Experten insbesondere ein stark am amerikanischen „writ of certiorari"-Prinzip orientiertes reformiertes Verfahren 77 - einer Annahme nach Ermessen durch den Senat - vor, welches das Gericht selbst bereits 1954 erwogen hatte.78 Eine Realisierung dieses Vorschlages hätte die gleichzeitige Abschaffung des bisherigen Prüfungsverfahrens durch die Kammern zur Folge. Andere, in der wissenschaftlichen Diskussion befindliche Reformvorschläge zur Entlastung des Gerichts - wie die Schaffung eines Dritten Senats oder die Einführung einer „political question"-Doktrin - fanden hingegen keine mehrheitliche Unterstützung der Kommissionsmitglieder. Das zweite Krisenphänomen der neunziger Jahre - die nach beinahe einmütiger Einschätzung von Beobachtern qualitativ völlig neuartige öffentliche Kritik an den Entscheidungen des Gerichts 79 - hat sich offensichtlich weitestgehend wieder verflüchtigt. Trotzdem lohnt ein Rückblick auf die Äußerungsformen und möglichen Ursachen der bislang tiefgreifendsten Akzeptanzkrise des Gerichts seit dessen Bestehen, da sich hierin die tieferen Zusammenhänge eines
74
Vgl. statt vieler Ernst-Wolfgang BöckenfÖrde, Die Überlastung des Bundesverfassungsgerichts, in: Zeitschrift für Rechtspolitik 29 (1996), S. 281-284. 75 Vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 30. Juni 1997, S. 5. 76 Vgl. Anm. 72. 77 Vgl. Joachim Wieland, Der Zugang des Bürgers zum Bundesverfassungsgericht und zum U.S. Supreme Court, in: Der Staat 29 (1990), S. 333-353, 344f. 78 Vgl. Hans-Justus Rinck, Die Vorprüfung der Verfassungsbeschwerde, in: Neue Juristische Wochenschrift 12 (1959), S. 169-216, 170. 79 Hierzu zählte bekanntlich das öffentliche Werben einzelner Politiker der „etablierten" Parteien für eine Mißachtung des Karlsruher Urteilsspruches im Zusammenhang mit der „Kruzifix"-Affäre. Einzelne Beobachter konstatierten mit Blick sowohl auf den politischen als auch auf den fachwissenschaftlichen Diskurs zu Recht eine Ausweitung der ausfrüherer Zeit bekannten Kritik an Einzelentscheidungen des Gerichts zu einer „generellen Institutionenschelte"; so Rainer Wahl, Quo Vadis - Bundesverfassungsgericht? Zur Lage von Verfassungsgerichtsbarkeit, Verfassung und Staatsdenken, in: GuggenbergerAVürtenberger (Anm. 45), S. 81120, 84.
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institutionalisierten Systems der Verfassungsgerichtsbarkeit und der politischen Kultur offenbaren. Die öffentliche Kritik am Bundesverfassungsgericht entzündete sich bekanntlich vor allem an Entscheidungen wie dem „Kruzifix"-Urteil 80 , dem „Sitzblockaden"-Urteil 81 und dem „Soldaten-Urteil 82 . Was diesen thematisch sehr unterschiedlichen Entscheidungen gemein ist, ist die starke Betonung, die die Karlsruher Richter auf das Prinzip der individuellen Freiheit legten. Wie Wassermann betont hat, muß diese Interpretation primär als Bestätigung - nicht als Bruch mit - der traditionellen Karlsruher Spruchpraxis angesehen werden. 83 Diese Traditionslinie läßt sich (in Konkretisierung auf die starke Betonung des Rechts auf freie Meinungsäußerung) zurückverfolgen bis zum berühmten LüthUrteil 84 aus den frühen fünfziger Jahren. Interessanterweise scheint diese Kontinuitätslinie aber in einem wachsenden Widerspruch zu den in der Bevölkerung dominanten Wertorientierungen zu stehen.85 Bull hat auf weitere Bereiche aufmerksam gemacht, in denen das Bundesverfassungsgericht seinem traditionellen Normenkodex - so vor allem hinsichtlich des vorherrschenden Demokratiebegriffs - verhaftet bleibe und damit eine wachsende Lücke zwischen Verfassungsrechtsprechung und dem „Zeitgeist" schaffe. 86 Während die dominante Entwicklungstendenz in Richtung Deregulierung, Kooperation und Verhandlung verlaufe, habe das Gericht in einer Reihe jüngerer Entscheidungen, so etwa bezüglich des Schleswig-Holsteinschen Mitbestimmungsgesetzes, das Hierarchieprinzip als maßgebliches Organisationsprinzip des modernen Staates und der öffentlichen Verwaltung nachdrücklich verteidigt. Die Bedeutung eines gespannten Verhältnisses zwischen dem „Zeitgeist" und der Karlsruher Spruchpraxis sollte nicht unterschätzt werden. Das Verhältnis zwischen Bürgern und Gericht wird die künftige Stellung des Bundesverfassungsgerichts im politischen System der Bundesrepublik über die vorübergehende Krise der Mitte der neunziger Jahre hinaus in entscheidendem Maße 80
BVerfGE 93, 1 BVerfGE 92, 1 82 BVerfGE 93,266 83 Rudolf Wassermann, Zur gegenwärtigen Krise des Bundesverfassungsgerichts, in: Recht und Politik 32(1996), S. 61-65, 62. 84 BVerfGE 7, 198. 85 Thomas Schäuble zufolge waren Mitte der neunziger Jahre mehr als zwei Drittel aller Deutschen der Ansicht, daß ihre demokratischen Grundüberzeugungen nicht mit denjenigen des Bundesverfassungsgerichts korrespondierten. Vgl. ders., Gewaltenteilung und Bundesverfassungsgericht, in: Recht und Politik 32 (1996), S. 66-70, 67. 86 Hans Peter Bull, Hierarchie als Verfassungsgebot? Zur Demokratietheorie des Bundesverfassungsgerichts, in: Thomas Greven/Herfried Münkler/Rainer Schmalz-Bruns (Hrsg.), Bürgersinn und Kritik. Festschrift für Udo Bermbach zum 60. Geburtstag, Baden-Baden 1998, S. 241-265. 81
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prägen. Während die starke institutionelle Position des Gerichts gegenüber den übrigen Verfassungsorganen durch das Grundgesetz deutlich markiert ist, muß sich das Gericht seine gesellschaftliche Akzeptanz stets aufs Neue erringen. 87 Das Streben nach einer gelungenen Kombination von juristischer Integrität des Gerichts einerseits und größtmöglicher Sensibilität gegenüber den bestehenden gesellschaftlichen Erwartungen an das Gericht andererseits bleibt eine der zentralen Herausforderungen der Verfassungsgerichtsbarkeit in der parlamentarischen Demokratie der Bundesrepublik. Dabei wäre es jedoch zu kurz gegriffen, die Verantwortung für die gesellschaftliche Verankerung des Gerichts nur in die Hände des letzteren legen zu wollen. Notwendig erscheint auch eine Weiterentwicklung der politischen Kultur, konkret in Richtung auf die Fähigkeit, Konflikte in stärkerem Maße als natürliche Bestandteile des demokratischen Prozesses zu begreifen. In der deutschen politischen Kultur herrscht noch immer eine „Sehnsucht nach Harmonie" 88 vor, die auch die grundlegenden Einstellungen der Bürger gegenüber den politischen Institutionen des Systems beeinflußt. Diese ist den sich wandelnden Anforderungen politischer Institutionen in einer immer stärker fragmentierten Gesellschaft wenig angemessen. Eine größere Gelassenheit im Umgang mit Konflikten und daraus erwachsender Institutionenkritik scheint geboten: „Wenn das BVerfG einerseits um der Aufrechterhaltung der Geltungskraft der Verfassung willen in politischen, rechtlichen und sozialen Grundfragen der Gegenwart zunehmend Stellung zu beziehen hat, andererseits die verfassungsrechtlichen Maßstäbe gröber und die Antworten auf diese Grundfragen aber immer umstrittener, heterogener und politisch konflikthafter werden, dann wird das BVerfG immer seltener abschließende, friedensstiftende, von den Vorinstanzen gleichsam übersehene Antworten finden können, die den Konsens aller oder doch der großen Mehrheit finden. ... Zumal unter den Bedingungen einer schnell vereinfachenden und verzerrenden Medienöffentlichkeit wird das BVerfG selbst als Institution zunehmend in die öffentliche Diskussion geraten und auf Dauer - wie alle anderen staatlichen Institutionen, die in politischen Konflikten und damit polarisierenden Diskussionen stehen - einen relativen Ansehensverlust erleiden, solange es nur seine Aufgaben wirklich wahrnimmt. ... Diese Entwicklung ist weniger eine Gefahr als eine
87 Wie Ernst Benda hierzu festgestellt hat, „Das Bundesverfassungsgericht hat - auch in seinem Ansehen in der Bevölkerung - hohe Autorität, aber wenig eigene Macht. Es lebt im Grunde von der Überzeugungskraft seiner Argumente, die es nur aus der Verfassung ableiten kann"; ders., Die Verfassungsgerichtsbarkeit der Bundesrepublik Deutschland, in: Starck/Weber (Anm. 2), S. 121148,141. 88 Claus Leggewie, Bloß kein Streit! Über deutsche Sehnsucht nach Harmonie und die anhaltenden Schwierigkeiten demokratischer Streitkultur, in: Ulrich Sarcinelli (Hrsg.), Demokratische Streitkultur. Theoretische Grundpositionen und Handlungsalternativen in Politikfeldern, Bonn 1990, S. 52-62.
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unvermeidliche Anpassung an die geänderten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen."89 7. Schlußbetrachtung: Perspektiven der Verfassungsgerichtsbarkeit in der parlamentarischen Demokratie der Bundesrepublik Deutschland Im langjährigen Zeitverlauf betrachtet zählt das Bundesverfassungsgericht hinsichtlich seiner Wertschätzung in der Bevölkerung eindeutig zu den erfolgreichsten staatlichen Institutionen in der Bundesrepublik Deutschland. Ungeachtet der alles in allem bescheidenen Reformen an der institutionellen Grundausstattung des Bundesverfassungsgerichts und dessen rechtlichem Kompetenzprofil während der letzten Jahrzehnte war und ist das System der Verfassungsgerichtsbarkeit in der parlamentarischen Demokratie der Bundesrepublik vielfältigen Herausforderungen ausgesetzt, die von ihrer Dynamik her in einem recht deutlichen Gegensatz zu der moderaten Reformpolitik des Gesetzgebers stehen. Diesbezüglich lassen sich zwei gegensätzliche Entwicklungsrichtungen unterscheiden. Zum einen generierte vor allem die deutsche Vereinigung spezifische Hintergrundbedingungen, wie die signifikante Zunahme der Zahl von Bürgern mit individuellen Rechtsansprüchen oder das ungleich komplexere föderative System der erweiterten Bundesrepublik, durch welche die Stellung des Bundesverfassungsgerichts innerhalb des politischen Systems potentiell aufgewertet wurde. 90 Das Ausmaß der Einbindung des Gerichts in den Prozeß und die unmittelbaren Folgen der Vereinigung der beiden deutschen Staaten (wie in Fragen der Bodenreform, der strafrechtlichen Verfolgung von DDR-Bediensteten oder des Wahlsystems) war in der Tat beachtlich.91 Auch scheinen eine Reihe älterer Faktoren - wie insbesondere die stark legalistisch geprägte politische Kultur welche die starke Stellung des Gerichts während der ersten fünf Jahrzehnte der Bundesrepublik nachhaltig begünstigt haben, keineswegs vollständig verschwunden zu sein, obwohl einzelne Autoren gerade hinsichtlich des Fortbestands der gesellschaftlichen Voraussetzungen einer stark autoritativ geprägten Verfassungsgerichtsbarkeit grundsätzliche Zweifel angemeldet haben.92 Einige Beobachter sehen die Stellung des Gerichts zudem indirekt aufgewertet durch 89
Schulze-Fielitz (Anm. 48), S. 25f.; vgl. auch Ulrich R. Haltern, Verfassungsgerichtsbarkeit, Demokratie und Mißtrauen. Das Bundesverfassungsgericht in einer Verfassungstheorie zwischen Populismus und Progressivismus, Berlin 1998, S. 410f. 90 Vgl. Matthias Hartwig, Die zukünftige Position des Bundesverfassungsgerichts im staatsrechtlichen Gefüge der Bundesrepublik Deutschland, in: Piazzolo (Anm. 43), S. 165-188, 166. 91 92
Vgl. Fromme (Anm. 42). Vgl. aus politikwissenschaftlicher Perspektive insbesondere Lietzmann (Anm. 13), S. 259.
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die sinkenden Unterstützungswerte der Bevölkerung für die politischen Parteien und die politische Klasse insgesamt.93 Gleichzeitig läßt sich allerdings eine gegenläufige Entwicklungstendenz konstatieren, die eher in Richtung einer mittel- bis langfristigen Schwächung der Position des Bundesverfassungsgerichts verläuft. In diesem Zusammenhang ist zuallererst auf die Wirkungen der europäischen Integration einschließlich der signifikanten Aufwertung der Institution des Europäischen Gerichtshofes hinzuweisen.94 In einem Entwicklungsstadium der europäischen Integration, in dem das Grundgesetz in zunehmendem Maße von gesamteuropäischen Normen überlagert wird, kann die Position des „Hüters des Grundgesetzes" nicht unberührt bleiben. Die wachsende Bedeutung von EU-Recht ist jedoch nicht der einzige in diesem Zusammenhang erwähnenswerte Faktor. Die Rolle des Bundesverfassungsgerichts wird darüber hinaus maßgeblich berührt von der Tendenz zur Stärkung der Landesverfassungsgerichtsbarkeit innerhalb der Bundesrepublik. Vor der deutschen Vereinigung gab es beispielsweise lediglich drei Verfassungsgerichtshöfe der Länder, die befugt waren, Verfassungsbeschwerden entgegenzunehmen. Nach der Vereinigung stieg die Anzahl der Verfasssungsgerichtshöfe in den Ländern auf 15, von denen zehn das Recht zur Behandlung von Verfassungsbeschwerden besitzen.95 Diese institutionelle Aufwertung der Landesverfassungsgerichtsbarkeit könnte durch eine offensivere Interpretation des beanspruchten Zuständigkeitsbereichs auf Seiten der Landesverfassungsgerichte untermauert werden. 96 Bei aller Komplexität und Gegenläufigkeit der Herausforderungen, mit denen sich das Bundesverfassungsgericht als zentraler Träger der Verfassungsgerichtsbarkeit in der Bundesrepublik konfrontiert sieht, sollte nicht übersehen werden, daß das Gericht selbst maßgeblichen Anteil an der Formulierung seiner Position gegenüber anderen politischen Akteuren und Institutionen hat. Von den drei potentiellen Strategien speziell auf dem Felde europäischer Angelegenhei-
93 Vgl. Hans Herbert von Arnim, Reformblockade der Politik? Ist unser Staat noch handlungsfähig?, in: Zeitschrift für Rechtspolitik 31 (1998), S. 138-147, 145. 94 Vgl. hierzu etwa Schiaich (Anm. 31), S. 237ff; Hans Heinrich Rupp, Ausschaltung des Bundesverfassungsgerichts durch den Amsterdamer Vertrag?, in: Juristen Zeitung 53 (1998), S. 213-217; Hans-Peter Folz, Demokratie und Integration. Der Konflikt zwischen Bundesverfassungsgericht und Europäischem Gerichtshof über die Kontrolle der Gemeinschaftskompetenzen, Berlin u.a. 1999. 95 Vgl. Kai Danter, Entlastung des Bundesverfassungsgerichts durch Regionalisierung von Kompetenzen zu den Landesverfassungsgerichten, in: Die öffentliche Verwaltung 51 (1998), S. 239-243, 240. 96 Vgl. Konrad Hesse, Verfassungsrechtsprechung im geschichtlichen Wandel, in: Juristen Zeitung 50 (1995), S. 265-273, 269.
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ten - einer bedingungslosen Unterordnung, intransigenter Beharrung auf traditionellen Geltungsansprüchen und abwägender Kooperationsbereitschaft scheint nur die letztere positive Impulse für die Zukunft zu bergen. 97 Die prinzipielle Bereitschaft zu einem solch kooperativ geprägten Selbstverständnis hat das Gericht bereits in seiner Maastricht-Entscheidung 98 erkennen lassen.99 Auch die Haltung des Gerichts in der Auseinandersetzung über die Europäische Währungsunion stand im Zeichen der Kooperation. 100 Ähnliches gilt für die Frage des künftigen Verhältnisses des Bundesverfasssungsgerichts zu den Verfassungsgerichten der Länder. Das Gericht hat in der jüngsten Vergangenheit in bemerkenswerter Weise dazu tendiert, sich der seit einiger Zeit zu beobachtenden Aufwertung der Landesverfassungsgerichtsbarkeit nicht in den Weg zu stellen. Im Oktober 1998 stärkten die Karlsruher Richter bewußt das Prinzip der Landesverfassungsgerichtsbarkeit, indem sie entschieden, daß Verstöße gegen das Verfassungsgebot der allgemeinen Wahl und das der gleichen Wahl künftig nicht mehr beim Bundesverfassungsgericht, sondern auf Länderebene zu monieren seien, sofern diese Verletzungen Landtags- oder Kommunalwahlen betreffen. 101 Am Vorabend des 21. Jahrhunderts sieht sich die deutsche Verfassungsgerichtsbarkeit mit einer Reihe sehr unterschiedlicher Herausforderungen konfrontiert, die ihr Wesen in den nächsten Jahrzehnten nachhaltig verändern werden: Die Internationalisierung der Verfassungsgerichtsbarkeit im europäischen Rahmen zählt ebenso dazu wie eine Tendenz zur Stärkung der Verfassungsgerichtsbarkeit auf der Ebene der Länder und ein allgemeiner gesellschaftlicher Modernisierungsprozeß. Letzterer birgt die vielleicht am schwersten abzuschätzenden Probleme bezüglich der künftigen Stellung des Bundesverfassungsgerichts in der parlamentarischen Demokratie der Bundesrepublik.
97 Vgl. Klaus Goetz, The Federal Constitutional Court, in: Gordon Smith/William Paterson/Stephen Padgett (Hrsg.), Developments in German Politics 2, London 1996, S. 96-116, 115. 98 BVerfGE 89, 155. 99 Vgl. Ralf Wittkowski, Das Maastricht-Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 12.10.1993 als „Solange IH"-Entscheidung?, in: Bayerische Verwaltungsblätter 40 (1998), S. 359-363; Konrad Hesse, Stufen der Entwicklung der deutschen Verfassungsgerichtsbarkeit, in: Jahrbuch des öffentlichen Rechts, NF/Bd. 46 (1998), S. 1-23,21. ,(K) Vgl. Rainer Arnold, L'union monétaire européenne et la Constitution allemande, in: Revue droit public et de la science politique en France et a étranger 3 (1998), S. 649-657, 654f. 101 Vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 7. Oktober 1998, S. 6.
Ralf Altenhof
DIE ENTWICKLUNG DER STREITBAREN DEMOKRATIE ÜBER DIE KRISE EINER KONZEPTION 1. Einleitung Ein Kritiker der streitbaren Demokratie könnte folgendermaßen vorgehen: ein Zitat eines der wenigen Befürworter dieser Konzeption aus jüngster Zeit an den Anfang stellen, um daraufhin zu betonen, derlei Ansichten würden heute immer noch vertreten, wobei man diese allenfalls für die Zeit Ende der vierziger, Anfang der fünfziger Jahre verbreitet glaubte. Ist die streitbare Demokratie also von gestern, womöglich von vorgestern? Oder war damals die Welt noch in Ordnung, bestand vor 50 Jahren ein Konsens, der längst verlorengegangen ist? Obgleich der Begriff als solcher weder im Parlamentarischen Rat fiel, noch im Grundgesetz auftaucht(e), bestand weitgehend Einvernehmlichkeit über die Notwendigkeit eines Demokratieschutzes. 1 Wie vollzog sich die Entwicklung der streitbaren Demokratie? Wo gab es Brüche, wo Kontinuität? Wie ist die momentane Situation der streitbaren Demokratie zu erklären? Kann man überhaupt noch von streitbarer Demokratie sprechen? Diese Fragen sollen beantwortet werden. Am Anfang steht ein Einblick in die Konzeption der streitbaren Demokratie, der die Charakteristika und deren Verankerung im Grundgesetz vor Augen führt (Kapitel 2). Dem Einblick folgt ein Rückblick auf die praktische Anwendung des Konzeptes (Kapitel 3). Ohne allzusehr ins Detail gehen zu können, wird es darauf ankommen, Knotenpunkte der Entwicklung herauszuarbeiten. Dem Rückblick folgt, wenn man so will, ein „Tiefenblick" (Kapitel 4). Dieser setzt sich mit den Gründen auseinander, weshalb sich die Lage der streitbaren Demokratie heute so darstellt. Dem „Tiefenblick" folgt ein Ausblick auf die streitbare Demokratie (Kapitel 5). Wer nach 50 Jahren Grundgesetz und Geschichte der Bundesrepublik Deutschland den Anspruch erhöbe, die Entwicklung der Verfassung wie des Landes für den gleichen Zeitraum prognostizieren zu wollen, könnte gleich eine 1 Vgl. Armin Scherb, Präventiver Demokratieschutz als Problem der Verfassungsgebung nach 1945, Frankfurt a.M. u.a. 1987; Karlheinz Niclauß, Der Weg zum Grundgesetz. Demokratiegründung in Westdeutschland 1945-1949, Paderborn u.a. 1998, S. 202-210.
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Münze werfen. Die Bezugsperiode kann allenfalls wenige Jahre umfassen, kaum eine Dekade.2 Eine Vorausschau dürfte nicht zuletzt in bezug auf den 1998 vollzogenen Regierungswechsel von besonderem Interesse sein. Dem Ausblick folgt schließlich ein Überblick: Die abschließenden Bemerkungen fassen die Ergebnisse der Untersuchung noch einmal pointiert zusammen (Kapitel 6). Wer von Einblick, Rückblick, „Tiefenblick", Ausblick und Überblick spricht, dem fällt unweigerlich auch die Metapher vom Durchblick ein. An einem klaren und deutlichen Urteil soll es deshalb im folgenden am wenigsten mangeln. 2. Einblick: Die Konzeption der streitbaren Demokratie Die Konzeption der streitbaren Demokratie erweist sich erstens als normativ fundiert, zweitens sollen die zugrundeliegenden Werte geschützt werden, und zwar drittens gegebenenfalls präventiv. 3 Konkret zeigt sich die Wertgebundenheit in Art. 79 Abs. 3 GG. Die sogenannte „Ewigkeitsklausel" oder „Verfassung in Kleinform" entzieht u.a. die in Art. 1 GG formulierte Orientierung an unveräußerlichen Menschenrechten wie die in Art. 20 GG beschriebenen obersten Verfassungsprinzipien - Demokratie, Bundes-, Sozial- und Rechtsstaat - der Disposition des Gesetzgebers. Damit zogen die Verfassungsväter und wenigen -mütter die Konsequenz aus dem Wertrelativismus der Weimarer Republik. Die Demokratie der Bundesrepublik setzt das Prinzip der Volkssouveränität nicht absolut, sondern versteht sich als demokratischer Verfassungsstaat. 4 Die Abwehrbereitschaft des Grundgesetzes war eine unmittelbare Reaktion auf die nationalsozialistische Machtergreifung wie auf die Erfahrungen mit der kommunistischen Diktatur in der Sowjetischen Besatzungszone. Mithin versteht sich der Demokratieschutz in der Bundesrepublik als ein antiextremistischer, gleichermaßen gegen rechts- und linksextremistische Bestrebungen gerichtet. Eine einseitig antikommunistische oder rein antifaschistische Vorgehensweise
2
Vgl. grundsätzlich zur (tatsächlichen oder vermeintlichen) Prognosefilhigkeit der Politikwissenschaft die Diskussion zwischen Jürgen Falter/Iring Fetscher/Wilhelm Hennis/Peter Graf Kielmansegg, Der wissenschaftliche und der philosophische Umgang mit Politik, in: Klaus von Beyme/Ernst-Otto Czempiel/Peter Graf Kielmansegg (Hrsg.), Funk Kolleg Politik, Bd. 1, Frankfurt a.M. 1987, S. 78-101. 3 Vgl. Eckhard Jesse, Der Verfassungsauftrag der abwehrbereiten Demokratie: Theorie und Praxis, in: Bundesministerium des Innern (Hrsg.), Wehrhafte Demokratie und Rechtsextremismus, Bonn 1992, S. 7-17; ders., Streitbare Demokratie in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Eine umstrittene Konzeption zwischen Kontinuität und Wandel, in: Konrad Löw (Hrsg.), Terror und Extremismus in Deutschland, Berlin 1994, S. 11-27. 4 Siehe etwa Peter Graf Kielmansegg, Das Experiment der Freiheit. Zur gegenwärtigen Lage des demokratischen Verfassungsstaates, Stuttgart 1988.
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wäre mit der deutschen Verfassung unvereinbar, 5 im übrigen ob der historischen Erfahrungen mit einer Rechts- sowie einer Linksdiktatur unverständlich. Eine bloß konstatierte Verteidigungsbereitschaft liefe ins Leere, wenn sie ihren Niederschlag nicht in handhabbaren Instrumenten fände. Deshalb hat der Verfassungsgeber die Möglichkeit des Vereinigungsverbots (Art. 9 Abs. 2 GG), des Parteiverbots (Art. 21 Abs. 2 GG) sowie der Verwirkung von Grundrechten (Art. 18 GG) geschaffen. Schließlich verlangt er von den Angehörigen des öffentlichen Dienstes Verfassungstreue (Art. 33 Abs. 4 GG), um nur die wichtigsten Vorkehrungen Revue passieren zu lassen. Der präventive Charakter des Demokratieschutzes, eine Reaktion auf die Legalitätstaktik der Nationalsozialisten, bedeutet, daß es nicht erst zu Gesetzesverletzungen kommen muß, bevor dem politischen Extremismus Einhalt geboten wird. Schon im Vorfeld legalen, aber verfassungsfeindlichen Verhaltens greift der Verfassungsschutz 6 ein. Dieser besitzt keinerlei exekutive Befugnisse, darf mithin auch keine Festnahmen tätigen. Er beobachtet den politischen Extremismus, zumeist anhand frei verfügbarer - sogenannter offener - Quellen. Darüber hinaus greift er auf das Arsenal geheimdienstlicher Tätigkeit zurück, etwa durch den Einsatz von V-Leuten. 3. Rückblick: Die streitbare Demokratie von 1949 bis 1999 In den fünfziger Jahren galt das Legalitätsprinzip, wenn dieses auch nicht strikt eingehalten wurde. Als die Bundesregierung 1950 einen Beschluß über die „Politische Betätigung von Angehörigen des öffentlichen Dienstes gegen die demokratische Grundordnung" faßte, listete sie 13 Organisationen auf, darunter die KPD und die SRP, deren Unterstützung als unvereinbar mit den Dienstpflichten angesehen wurde und „unnachsichtlich die sofortige Entlassung aus dem Bundesdienst" nach sich ziehen sollte. Das Innenministerium präzisierte in 5 Der aus marxistisch-leninistischer Warte gerne angeführte Verweis auf Art. 139 GG, welcher die Weitergeltung der Entnazifizierungsvorschriften bestimmt, überzeugt nicht. Dieser Artikel vermag schwerlich der Konzeption der streitbaren Demokratie zugerechnet werden. Obgleich längst obsolet, fand sich aus Gründen der politischen Opportunität noch niemand, der dessen Aufhebung betrieb. 6 Laut Art. 73 GG verfügt der Bund über die ausschließliche Gesetzgebung bei einer Zusammenarbeit von Bund und Ländern „zum Schutze der freiheitlichen demokratischen Grundordnung, des Bestandes und der Sicherheit des Bundes oder eines Landes (Verfassungsschutz)". Art. 87 GG ist die verfassungsrechtliche Grundlage zur Schaffung eines institutionalisierten Verfassungsschutzes in der Bundesrepublik: „Durch Bundesgesetz können [...] Zentralstellen [...] zur Sammlung von Unterlagen für Zwecke des Verfassungsschutzes [...] eingerichtet werden". Das Bundesverfassungsschutzgesetz, welches u.a. die Aufgaben der Verfassungsschutzbehörden regelt, ist abgedruckt in: Bundesministerium des Innern (Hrsg.), Verfassungsschutzbericht 1997, Bonn 1998, S. 201-217.
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seinem Erlaß, 7 daß bereits die Mitgliedschaft in einer der genannten Organisationen untersagt sei. Beschluß und Erlaß zur Treuepflicht des öffentlichen Dienstes stießen ebensowenig auf größeren Widerspruch wie die beiden Parteiverbote: 1952 der Sozialistischen Reichspartei und 1956 der Kommunistischen Partei Deutschlands.8 Wurden mit Blick auf das Verbot der neonationalsozialistischen SRP ohnehin keine Bedenken erhoben, richteten sich vereinzelte Einwände gegen das KPDUrteil in erster Linie gegen die Zweckmäßigkeit von Parteiverboten überhaupt. 9 An der Rechtmäßigkeit der Verbotsentscheidungen konnte im übrigen weder hier noch da ein Zweifel bestehen. Das Bundesverfassungsgericht hatte hohe Hürden für die Verfassungswidrigkeit einer Partei aufgestellt: Eine Partei ist demnach nicht bereits dann verfassungswidrig, wenn sie einzelne Bestimmungen des Grundgesetzes verwirft. Sie muß vielmehr die fundamentalen Werte der Verfassungsordnung ablehnen und dabei eine aktiv kämpferische Haltung an den Tag legen. Die Vereinsverbote spielten lange Zeit eine große Rolle im Arsenal der Schutzmaßnahmen. Insgesamt wurden etwa 350 Vereinigungsverbote ausgesprochen (bis zum Inkrafttreten des Vereinsgesetzes im Jahr 1964 allein 328). 10 Diese hohe Zahl läßt sich erstens auf die Orientierung am Legalitätsprinzip und zweitens auf Mehrfach verböte zurückführen, denn bis 1964 mußten verfassungswidrige Vereine auf allen Ebenen, auf denen sie aktiv waren (Bezirks-, Landes- und Bundesebene), gesondert für unzulässig erklärt werden. Seither sind länderübergreifende Vereine vom Bundesinnenministerium zu verbieten. In den ersten beiden Dekaden der Bundesrepublik folgte aus dem antitotalitären Grundkonsens wie selbstverständlich ein antiextremistischer. A u f dieser Basis funktionierte das Prinzip der streitbaren Demokratie gewissermaßen reibungslos. Dem konnte auch die Ablösung des Legalitäts- durch das Opportunitätsprinzip nichts anhaben. Beide sind mit der Konzeption der streitbaren Demokratie vereinbar. Gleichwohl war die Präferenz des Opportunitätsprinzips konsequent. Es trug dem gewandelten Demokratieverständnis in der Bundesre-
7 Beide Dokumente sind abgedruckt bei Erhard Denninger (Hrsg.), Freiheitliche demokratische Grundordnung. Materialien zum Staatsverständnis und zur Verfassungswirklichkeit in der Bundesrepublik, Bd. 2, Frankfurt a.M. 1977, S. 507-510. 8 Die Verbotsentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts gegen die SRP und die KPD sind auszugsweise abgedruckt ebd., Bd. 1, S. 112-154. 9 Vgl. Christian Bockemühl, 25 Jahre nach dem KPD-Urteil. Historische und aktuelle Überlegungen, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, B 46/81, S. 11. 10 Die bis 1964 verbotenen Vereine sind aufgelistet bei Uwe Backes/Eckhard Jesse, Politischer Extremismus in der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 3, Köln 1989, S. 248-252.
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publik Rechnung. Dem politischen Extremismus wird in einem demokratischen Verfassungsstaat keineswegs die Existenzberechtigung abgesprochen. Ein strikt praktiziertes Legalitätsprinzip hätte vielfach mit Kanonen auf Spatzen geschossen. Dagegen ermöglicht das Opportunitätsprinzip eine flexiblere Reaktion, ein Mehr an Liberalität, ohne daß damit zugleich ein Weniger an Sicherheit verbunden sein muß. Es trägt der Forderung nach Verhältnismäßigkeit der Mittel Rechnung und läßt mithin das Hauptziel - den Demokratieschutz - nicht aus den Augen. Während das Legalitätsprinzip stärker auf die administrative Variante der streitbaren Demokratie baut, hebt das Opportunitätsprinzip die Bedeutung der geistig-politischen Auseinandersetzung hervor. Letzteres bedingt zweierlei, abgesehen davon, daß Konsens darüber bestehen sollte, was und wer als extremistisch gilt, denn dies trifft auf jede Form des Demokratieschutzes zu. Die erste Prämisse lautet: Der politische Extremismus muß als das bezeichnet werden, was er in Wirklichkeit ist: verfassungsfeindlich und antidemokratisch. Zweitens muß es tatsächlich zu einer sachlichen, auf Effekthascherei verzichtenden, intellektuellen Maßstäben genügenden Beschäftigung mit dem politischen Extremismus kommen. Ansonsten läuft die Forderung nach einer geistig-politischen Auseinandersetzung ins Leere. Der Extremistenbeschluß 11 vom 28. Januar 1972 bildete - weniger um seiner selbst als um seiner Folgen willen - einen tiefen Einschnitt in der Geschichte der streitbaren Demokratie. 12 Er besagte, daß Bewerber für den öffentlichen Dienst die Gewähr bieten müßten, jederzeit für die freiheitliche demokratische Grundordnung einzutreten. Sofern jemand einer verfassungsfeindlichen Organisation angehöre, begründete dies hinreichende Zweifel an dem genannten Postulat, so daß dem Einstellungsantrag gemeinhin nicht Folge geleistet werden könne. Damit erinnerten die Ministerpräsidenten der Länder sowie Bundeskanzler Willy Brandt lediglich an die geltenden Beamtengesetze. Es gab darüber hinaus - und das war das Neue - eine Anfrage der Einstellungsbehörde an das zuständige Amt für Verfassungsschutz, die sogenannte Regelanfrage, ob gegen den Bewerber gerichtsverwertbare Erkenntnisse über verfassungsfeindliche Aktivitäten vorlägen. Der Verfassungsschutz machte daraufhin der einstellenden Behörde Mitteilung. Er bezog sich dabei aus-
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Der Extremistenbeschluß ist u.a. abgedruckt bei Denninger (Anm. 7), Bd. 2, S. 518 f. Vgl. mit unterschiedlicher Akzentsetzung Peter Frisch, Extremistenbeschluß. Eine Einführung in die Thematik mit Diskussionshinweisen, Argumentationskatalog, Darstellung extremistischer Gruppen und Dokumentation, Opladen 1975; Hans Koschnick (Hrsg.), Der Abschied vom Extremistenbeschluß, 2. Aufl., Bonn 1979; Wulf Schönbohm (Hrsg.), Verfassungsfeinde als Beamte? Die Kontroverse um die streitbare Demokratie, München/Wien 1979. 12
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schließlich auf vorliegende Informationen, nahm mithin eine Anfrage nicht zum Anlaß, um Nachforschungen erst anzustellen. Lagen Hinweise auf verfassungsfeindliches Verhalten vor, konnte der Bewerber in einem Anhörungsverfahren der einstellenden Behörde dazu Stellung nehmen und die Vorwürfe gegebenenfalls entkräften. Ansonsten stand ihm der Rechtsweg offen. Alles in allem wurden nach Schätzungen weniger als 1500 Bewerber für den öffentlichen Dienst aufgrund von Erkenntnissen über verfassungsfeindliche Aktivitäten abgewiesen - eine Quote von nicht einmal 0,1 Prozent. Diese Zahlen stehen in einem eklatanten Gegensatz zu großangelegten Kampagnen gegen „Berufsverbote". 13 Gesetzentwürfe von Sozialdemokraten und Liberalen einerseits sowie der Union andererseits - sie wollten den Komplex der Verfassungstreue im öffentlichen Dienst einheitlich regeln - scheiterten in den siebziger Jahren, da die Kontrahenten unterschiedliche Schwerpunkte setzten. Gegen Ende des Jahrzehnts wurde die Regelanfrage auf Bundesebene abgeschafft. In den Ländern hielt Bayern am längsten daran fest, und zwar bis 1991. Freilich ist in der Argumentation der Parteien auf Inkonsequenzen hinzuweisen. Die Union rekurrierte auf das Organisationsprinzip, orientierte sich also, vom Grundgesetz legitimiert, in erster Linie an der Mitgliedschaft in einer extremistischen Partei. Wenn allerdings - wie gezeigt14 - das Opportunitäts- das Legalitätsprinzip für den Bereich der streitbaren Demokratie zu Recht abgelöst hatte, so wäre es konsequent gewesen, dies auf den Komplex der Verfassungstreue im öffentlichen Dienst zu übertragen, sei es etwa durch Einführung von Abstufungen je nach zu besetzender Position in Kombination mit einer strikten Einzelfallprüfung. Die Union hielt gleichwohl weitgehend am Legalitätsprinzip fest, indem man bei den Bewerbern für den öffentlichen Dienst das Organisationsprinzip obenan stellte. Dieses ist gewissermaßen eine Spielart des Legalitätsprinzips wie die Einzelfallregelung eine Variante des Opportunitätsprinzips. Wenn nun im Rahmen der streitbaren Demokratie das Opportunitätsprinzip gilt, dann müßte auf der Ebene der konkreten Schutzmaßnahmen eine Einzelfallprüfung erfolgen; hingegen ist das Legalitätsprinzip ausschließlich mit einer strengen Anwendung des Organisationsprinzips kompatibel. Mischformen (Opportunitäts- und Organisationsprinzip sowie Legalitäts- und Einzelfallprinzip) schließen einander aus. Das Opportunitätsprinzip beinhaltet nämlich einen Ermessensspielraum, der durch die Anwendung des Organisationsprinzips konterkariert wird. Entsprechendes gilt für die Einzelfallprüfung und das Legali13
Vgl. Eckhard Jesse, Das Instrumentarium einer „streitbaren Demokratie" am Beispiel der Bundesrepublik Deutschland, in: Bundesministerium des Innern (Hrsg.), Abwehrbereite Demokratie und Verfassungsschutz, Bonn 1989, S. 66. 14 Vgl. die Ausführungen in diesem Kapitel.
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tätsprinzip. Wer auf ersterer beharrt, der nimmt eine Entscheidungsfreiheit für sich in Anspruch, die vom Legalitätsprinzip gar nicht gedeckt ist. Der im Sinne einer liberalen Handhabung anscheinend positiv beurteilte Sachverhalt - „Gerichtsverwertbare Erkenntnisse riefen nicht in jedem Fall Ablehnungen [vom öffentlichen Dienst] hervor" 15 - widerspricht dem Plädoyer für das Organisationsprinzip. Wer sich diesem verpflichtet weiß, muß folgerichtig den o.g. Sachverhalt in Frage stellen; wer den Sachverhalt hingegen gutheißt, kann folgerichtig nur ein Befürworter der Einzelfallregelung sein. Die Inkonsequenz der Union erwies sich auch in der Praxis, denn die CDU/CSU sprach sich bei einer Mitgliedschaft in einer extremistischen Partei nicht zwangsläufig für eine Ablehnung des Bewerbers für den öffentlichen Dienst aus. Das Organisationsprinzip fand mithin keine einheitliche Anwendung, sondern durchaus eine Erweiterung mittels Rückgriff auf die Einzelfallprüfung. Die Inkonsequenz der Sozialdemokraten war weniger theoretischer Natur, sondern praktischer Art. Sie plädierten zwar zunächst für eine Verbindung von Regelanfrage und Einzelfallprinzip, nahmen dann aber immer mehr davon Abstand, bis zur völligen Preisgabe der Regelanfrage. Wenn auch seit den achtziger Jahren die Ideologisierung des Themas deutlich abgenommen hat, eine Stärkung der streitbaren Demokratie ist damit nicht einhergangen. Die konservativ-liberale Bundesregierung verzichtete aaif die Wiedereinführung der Regelanfrage. Auch ansonsten übte sie sich im Einsatz der Demokratieschutz-Instrumente eher in Zurückhaltung. Die 1992 gestellten Anträge auf Verwirkung der Grundrechte von Thomas Dienel (DeutschNationale Partei) und Heinz Reisz (Gesinnungsgemeinschaft der Neuen Front) wurden 1996 vom Bundesverfassungsgericht ebenso abgelehnt wie die Anträge gegen Otto Ernst Remer (1952/60) und Gerhard Frey (1969/74). 4. „ TiefenblickDie
Gründe für die Lage der streitbaren Demokratie
Das Problem der streitbaren Demokratie in Deutschland besteht grundsätzlich weder in der Art und Weise, wie bzw. ob der präventive Charakter des Demokratieschutzes zum Tragen kommt, noch in einer womöglich mangelnden Verteidigungsbereitschaft. Auch daß die freiheitlich-demokratische Grundordnung der Disposition des Gesetzgebers entzogen ist, wird von niemandem ernsthaft zum Gegenstand der politischen Agenda gemacht. Gewiß, in Wissenschaft und Publizistik sind alle drei Kriterien der streitbaren Demokratie auf Kritik gestoßen. So wurde der sogenannten „fdGO" vorgehal-
15
Jesse (Anm. 13), S. 65.
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ten, sie habe der „Legitimation des militanten Antikommunismus" 16 gedient, oder Ulrich K. Preuß gab sie als „Superlegalität" 17 der Lächerlichkeit preis. Mitunter schlossen sich die Kritiken auch gegenseitig aus. Manche hielten der freiheitlich demokratischen Grundordnung vor, sie schränke jeglichen Handlungsspielraum ein und sei auf ein bestimmtes Demokratieverständnis fixiert; 18 andere meinten, es handle sich um eine mehr oder weniger beliebig ausfüllbare Generalklausel. 19 Die Vorverlagerung des Demokratieschutzes wird von jenen zurückgewiesen, die allein bei „strafrechtlich relevante[n] Tatbestände[n]"20 Abwehrmaßnahmen initiieren wollen, 21 wie die Abwehrbereitschaft bei den Vertretern eines Wertrelativismus, 22 die sich auf einen radikalen Pluralismus berufen, kein Verständnis findet. 23 Aber politisch virulent sind solche Kritiken noch nicht geworden. Auch wer für den Bereich der streitbaren Demokratie zwischen Verfassungstheorie und -Wirklichkeit eine weitgehende Deckung vermißt, hat zwar empirisch recht, muß aber nicht zwangsläufig in der Bewertung dieses Sachverhalts richtigliegen. So läßt sich durchaus ein Szenario entwerfen, welches die Instrumente der streitbaren Demokratie sehr restriktiv einsetzt, gleichwohl an der fundamentalen Bedeutung der Konzeption überhaupt keinen Zweifel aufkommen läßt. Ein solches Szenario basiert nämlich u.a. auf der Geltung des Opportunitätsgebots. Dies verkennen - zumeist konservative - Kritiker, die vom seltenen Einsatz der verfassungsrechtlichen Schutzvorkehrungen auf das Ende der streitbaren
16 G.B. [Gerhard Böhme], Zur juristischen Dogmatik der freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Einleitung, in: Denninger (Anm. 7), Bd. 1, S. 70. 17 Vgl. Ulrich K. Preuß, „Freiheitliche demokratische Grundordnung" als Superlegalität, in: Ebd., S. 445-456. 18 Vgl. z.B. Martin Greiffenhagen, Vom Obrigkeitsstaat zur Demokratie: Die politische Kultur in der Bundesrepublik Deutschland, in: Peter Reichel (Hrsg.), Politische Kultur in Westeuropa. Bürger und Staaten in der Europäischen Gemeinschaft, Bonn 1984, S. 67. 19
Siehe etwa Ernst Martin, Extremistenbeschluß und demokratische Verfassung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, B 50/73, S. 14. 20 Hans-Gerd Jaschke, Wertewandel in Politik und Gesellschaft - Ist die „streitbare Demokratie" noch zeitgemäß?, in: Bundesamt für Verfassungsschutz (Hrsg.), Verfassungsschutz in der Demokratie. Beiträge aus Wissenschaft und Praxis, Köln u.a. 1990, S. 254. 21 Diese Position wird auch von Claus Leggewie und Horst Meier geteilt; vgl. dies., Die Berliner Republik als Streitbare Demokratie? Vorgezogener Nachruf auf die freiheitliche demokratische Grundordnung, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 37 (1992), S. 603. 22 Vgl. ebd., S. 598-604. 23 Freilich haben Leggewie/Meier später ihre Position insofern relativiert, als sie den Neonationalsozialismus ausgenommen sehen möchten; vgl. dies., Republikschutz. Maßstäbe für die Verteidigung der Demokratie, Reinbek 1995.
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Demokratie schließen.24 Aus gutem Grund hat man, wie gesagt, von dem in den fünfziger Jahren vorherrschenden Legalitätsprinzip Abstand genommen und damit die Existenzberechtigung des politischen Extremismus in einem demokratischen Verfassungsstaat anerkannt. Diese liberale Kehrtwende trug gleichzeitig dem Rechtsgrundsatz der Verhältnismäßigkeit der Mittel Rechnung. Das Problem der streitbaren Demokratie erweist sich im antiextremistischen Grundkonsens, 25 der die Demokratie der Bundesrepublik in den ersten beiden Dekaden prägte, seither aber immer stärker bröckelte. Und das gilt für Wissenschaft und Publizistik wie für die Politik, wenn auch bei weitem nicht in gleichem Maße. Es ist bezeichnend, wie Erhard Denninger die antiextremistische Ausrichtung des Grundgesetzes interpretiert: „Die Abwehrhaltung gegen den Rechtsextremismus, vor allem gegen neonazistische Tendenzen, war aus der 'Bewältigung' der Vergangenheit und aus der Entstehung der Bundesrepublik ohnehin selbstverständlich. Die Streitbarkeit nach 'links' war durch die Koinzidenz von außen- bzw. sicherheitspolitischer und systemkritisch-ideologischer Bedrohung sowie durch Mauerbau und Todesstreifen geographisch wie psychisch klar verortet. Man wußte, wo der 'Feind' stand und wie er hieß". 26 Demnach ist die Abwehrbereitschaft gegen den Rechtsextremismus immer noch gleichsam „selbstverständlich", da der Schatten der deutschen Vergangenheit weiterhin über dem Land liegt und die Aufarbeitung der NS-Geschichte längst nicht als beendet erklärt werden kann. Anders sieht es, möchte man dem Verfasser Glauben schenken, offenkundig bei der Bekämpfung des Linksextremismus aus, die der Rechtswissenschaftler wundersamerweise nicht auf unabänderliche, sondern auf zeitbedingte Faktoren zurückführt, als sei mit dem Ende des SED-Regimes die Gefahr einer Linksdiktatur für alle Zeit gebannt. Sämtliche von Denninger ins Feld geführten Begründungselemente der Streitbarkeit gegen „links" sind inzwischen obsolet geworden, Mauer und Todesstreifen vielerorts kaum noch rekonstruierbar, die außen- und sicherheitspolitische wie die systemkritisch-ideologische Bedrohung seit fast einem Jahrzehnt nicht mehr akut.
24 Vgl. Friedrich Karl Fromme, Die streitbare Demokratie im Bonner Grundgesetz, in: Bundesministerium des Innern (Hrsg.), Verfassungsschutz und Rechtsstaat. Beiträge aus Wissenschaft und Praxis, Köln u.a. 1981, S. 198-218; Günther Willms, Das Staatsschutzkonzept des Grundgesetzes und seine Bewährung, Karlsruhe 1974. 25 Vgl. auch Eckhard Jesse, Antiextremistischer Konsens. Von der Weimarer Republik bis zur Gegenwart, in: Karl G. Kick/Stephan Weingarz/Ulrich Bartosch (Hrsg.), Wandel durch Beständigkeit. Studien zur deutschen und internationalen Politik. Jens Hacker zum 65. Geburtstag, Berlin 1998, S. 151-169. 26 Erhard Denninger, „Streitbare Demokratie" und Schutz der Verfassung, in: Ernst Benda/Werner Maihofer/Hans-Jochen Vogel (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 2. Aufl., Berlin/New York 1994, S. 676.
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Folgerichtig erweist sich auch die vielzitierte geistig-politische Auseinandersetzung bei näherem Hinsehen als Trugschluß. Daß der Demokratieschutz weniger repressiv ausgerichtet sein sollte, sondern seinen Schwerpunkt stärker im Bereich der geistig-politischen Auseinandersetzung suchen möge, ist nur auf den ersten Blick Konsens zwischen absoluten Gegnern (Claus Leggewie/Horst Meier), heftigen Kritikern (Hans-Gerd Jaschke) und entschiedenen Befürwortern der streitbaren Demokratie (Uwe Backes/Eckhard Jesse). Denn wenn die geistig-politische Auseinandersetzung zunächst einmal für jeden selbst gilt, dann erkennt man auf den zweiten Blick eine gewisse Schieflage: Kritiker wie Gegner der streitbaren Demokratie beschäftigen sich nahezu ausschließlich mit dem Rechtsextremismus, so daß der Linksextremismus weitgehend unbeachtet bleibt. Nur ein Spötter wird dies auf das mangelnde intellektuelle Niveau großer Teile des Rechtsextremismus zurückführen wollen. Tatsächlich tritt man der einen antidemokratischen Variante entschieden entgegen, während die andere als solche gar nicht wahrgenommen wird, mithin eine geistig-politische Auseinandersetzung gleichsam selbstverständlich unterbleibt. Dies ist umso bemerkenswerter, als Hans-Gerd Jaschke und Claus Leggewie/Horst Meier aus unterschiedlicher Warte starten. Indes Jaschke - mit Blick auf die notwendige Abwehrbereitschaft - sich als Befürworter der streitbaren Demokratie zu erkennen gibt 27 und darob von Leggewie und Meier gescholten wird, 28 lehnen diese die Konzeption der streitbaren Demokratie grundsätzlich ab. 29 Mögen sich Leggewie/Meier und Jaschke hierin zwar unterscheiden, ist jedoch beiden Sichtweisen ein gewisser antifaschistischer Einschlag gemeinsam. Was Hans-Gerd Jaschke betrifft, macht dieser daraus gar kein Hehl. Er differenziert zwischen einer „normativen" und einer „kritischen Position". Sehen wir einmal davon ab, daß sich Jaschke hier nicht unbedingt als Experte im Einmaleins der Begriffsbildung empfiehlt, schließt sich doch beides gegenseitig keineswegs aus, so daß die Kategorien weder in sich geschlossen noch nach außen eindeutig abgrenzbar sind. Wie dem auch sei: „Die normative Grundhaltung tendiert", jedenfalls nach Jaschke, „zu einer Überbewertung des Extremismus von links und zu einer Geringschätzung und unangemessenen Verharmlosung der Variante von rechts. Wenn von ihr die Rede ist, so zumeist in einer links und rechts gleichsetzenden Weise in der Tradition der Totalitarismustheorien. Kritische Positionen betonen demgegenüber die historisch begründete Brisanz des Extremismus von rechts, 27 28 29
Vgl. Jaschke (Anm 20), S. 241. Vgl. Leggewie/Meier (Anm. 21), S. 603. Vgl. dies. (Anm. 23).
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ihr Demokratiebegriff ist nicht beschränkt auf die Ebenen der freiheitlichen demokratischen Grundordnung, sondern in der Tradition der Aufklärung eher radikaldemokratisch und partizipationsorientiert". 30 Auch hier wäre einiges richtigzustellen. Um aber vom Kern der Sache nicht abzulenken, muß das unterbleiben. Wichtiger ist die Erkenntnis, daß für die „kritische Position" der Linksextremismus - in krassem Gegensatz zum Rechtsextremismus - offenkundig kaum einer Betrachtung wert erscheint. Einen Standort der Äquidistanz - gleichermaßen entfernt vom Rechts- wie vom Linksextremismus - mag ein solcher Verfechter schwerlich für sich in Anspruch nehmen. Wie sehen Leggewie und Meier das? Ihr „Vorgezogener Nachruf auf die freiheitliche demokratische Grundordnung" 31 aus dem Jahr 1992 war noch gänzlich wertrelativistisch gehalten. In der drei Jahre später publizierten Studie über den „Republikschutz" 32 votierten sie plötzlich für ein Ausnahmerecht gegen den Neonationalsozialismus. Zu gerne wüßte man, ob sich mittlerweile die Haltung Leggewies und Meiers erneut geändert hat oder demnächst eine Wandlung erfahren wird. Unabhängig von den beiden Autoren kann man sich die weitere Entwicklung leicht ausmalen: Das Ausnahmerecht würde früher oder später auf NPD, D V U und Republikaner ausgedehnt. Wenn, wie bereits ausgeführt, in den fünfziger und sechziger Jahren aus dem antitotalitären Grundkonsens wie selbstverständlich ein antiextremistischer folgte, so mag davon heute keine Rede mehr sein. Wer im Zuge der „Zeitenwende" (Lothar Rühl) 1989/90 ein Wiederaufleben des lange verfemten Totalitarismusbegriffs freudig begrüßte und der Hoffnung Ausdruck verlieh, dies werde der Extremismusforschung Auftrieb geben, sah sich bald eines Besseren belehrt. Die Zeitenwende in bezug auf den Totalitarismusbegriff vermochte eine Kehrtwende in bezug auf den Extremismusbegriff nicht zu forcieren, wiewohl dies doch lediglich die logische Konsequenz gewesen wäre. Ein Zusammenhang zwischen Antitotalitarismus und Antiextremismus, der in der Natur der Sache liegt, wird vielfach gar nicht wahrgenommen. Man kann dies an zwei Beispielen aus ganz unterschiedlichen Bereichen illustrieren. Wer das aktuelle Schriftenverzeichnis der Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung 33 zur Hand nimmt, dem wird eine breite Palette an Literatur zum Dritten Reich wie zur DDR gewahr, und zwar z.T. durchaus unter 30
Jaschke (Anm. 20), S. 232; siehe ebenfalls ders., Streitbare Demokratie und Innere Sicherheit. Grundlagen, Praxis und Kritik, Opladen 1991, S. 65-74. 31
Vgl. Leggewie/Meier (Anm. 21). Vgl. dies. (Anm. 23). 33 Vgl. Sächsische Landeszentrale für politische Bildung (Hrsg.), Schriftenverzeichnis 1/99, Dresden 1999. 32
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dem Blickwinkel des Totalitarismusansatzes. Dem fehlt aber eine Entsprechung auf dem Gebiet des Extremismus. 34 Die (wenigen) zum Thema angebotenen Publikationen widmen sich ausschließlich dem Rechtsextremismus, und zwar unter der bezeichnenden Überschrift „Extremismus". Daß so Schülern, Studenten und Lehrern eine Identität von Extremismus und Rechtsextremismus vorgegaukelt wird, dürfte kaum verwundern. Zwar mag man auch Indizien für eine stärker antiextremistische Ausrichtung anführen können, doch anscheinend handelt es sich dabei um die Ausnahmen, welche die Regel bestätigen.35 Hält die Politikwissenschaft ansonsten zu Recht große Stücke auf eine komparatistische Herangehensweise,36 kommt ein Vergleich zwischen Links- und Rechtsextremismus eher selten vor. 37 Hier ist eine Tendenz mit Händen zu greifen, die die Beschäftigung mit dem Rechtsextremismus für dringend geboten hält - wogegen grundsätzlich nichts einzuwenden wäre -, eine Auseinandersetzung mit dem Linksextremismus aber als inopportun oder gar als unangebracht ansieht. Der Antiextremismus geht darüber vollends verloren. Ein zweites Beispiel: Die Enquete-Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland" stellte den antitotalitären Konsens innerhalb des Gremiums im Abschlußbericht zur 12. Wahlperiode 38 heraus. In der anschließenden Legislaturperiode hätte es nahe gelegen, da man sich nun intensiver mit den Konsequenzen der deutschen Einheit beschäftigte, an die 12. Wahlperiode anzuknüpfen und die Bedeutung eines antiextremistischen Konsenses der demokratischen Parteien zu betonen: mit Blick auf die „Bewältigung" der SED-Diktatur wie das Zusammenwachsen des westlichen
34 Ähnliches gilt für die institutionelle Ebene. So wurde inzwischen in Dresden das HannahArendt-Institut für Totalitarismusforschung aufgebaut. Die Gründung einer entsprechenden Einrichtung für Extremismusforschung, die sich gleichermaßen mit Rechts- und Linksextremismus auseinandersetzte, steht hingegen kaum zu erwarten. 35 Es ist bezeichnend, daß sich in dem weitverbreiteten „Wörterbuch Staat und Politik" zwar ein Beitrag über rechtsextreme Parteien findet (vgl. Peter Wirkner/Jörg Ueltzhöffer, Art. Rechtsextreme Parteien, in: Dieter Nohlen (Hrsg.), Wörterbuch Staat und Politik, 3. Aufl., München 1995, S. 626-632), aber keiner über linksextreme Parteien. 36 Vgl. Dirk Berg-Schlosser/Ferdinand Müller-Rommel (Hrsg.), Vergleichende Politikwissenschaft. Ein einführendes Studienhandbuch, 2. Aufl., Opladen 1992; Klaus von Beyme, Der Vergleich in der Politikwissenschaft, München 1988. 37 Siehe etwa Uwe Backes, Links- und rechtsextreme Gewalt in Deutschland. Unterschiede und Gemeinsamkeiten; Armin Pfahl-Traughber, „Antiamerikanismus" und „Antiwestlertum" von links und rechts. Gemeinsamkeiten und Unterschiede im Spannungsfeld von Demokratie und Extremismus, jeweils in: Eckhard Jesse/Steffen Kailitz (Hrsg.), Prägekräfte des 20. Jahrhunderts. Demokratie, Extremismus, Totalitarismus, München 1997, S. 169-192; S. 193-217. 38 Vgl. Drs. 12/7820 vom 31. Mai 1994, Bericht der Enquete-Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland".
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und des östlichen Teils Deutschlands. Doch spielte diese Frage in der EnqueteKommission faktisch überhaupt keine Rolle. 39 Grundlegende Unterschiede in der Bekämpfung des politischen Extremismus zwischen Wissenschaft und Publizistik einerseits sowie der Politik andererseits schleifen sich ab. „Abwehrbereit ohne Vorbehalt der Richtung" 40 ist die Demokratie der Bundesrepublik spätestens seit den neunziger Jahren nicht mehr. Mit der PDS betrat gewissermaßen eine Partei das politische Parkett, die zur Probe aufs Exempel für die Geltung der streitbaren Demokratie wurde. Dabei lautet der paradoxe Befund folgendermaßen: Solange die DDR bestand, hätte eine Partei wie die PDS in der Bundesrepublik nicht reüssieren können. Erst das Ende der SED-Diktatur ermöglichte der SED-Nachfolgepartei, zu einem ernsthaften Faktor in der deutschen Politik zu werden, statt mit dem zweiten deutschen Staat im Orkus der Geschichte zu landen. Wenn man einmal von der unmittelbaren „Wendezeit" absieht, wird die Frage, ob es sich bei der PDS um eine extremistische Partei handelt, von den wenigsten beantwortet. 41 Längst ist der Umgang - insbesondere der SPD - mit der PDS taktisch bestimmt. Daß die Sozialdemokraten dadurch erpreßbar werden, scheint aus kurzfristigen machtpolitischen Erwägungen in den Hintergrund zu rücken. Es geht um die Rolle der PDS als Mehrheitsbeschaffer. Das Problem, welches sich darin offenbart, ist folgendes. Die Bestimmung des politischen Extremismus, die ansonsten auf der Basis qualitativer Kriterien erfolgt, 42 geschieht rein quantitativ und im Umkehrschluß: Da die Partei in den neuen Bundesländern inzwischen über 20 Prozent der Stimmen erhält, sehen viele darin einen Beleg für den demokratischen Charakter der SED-Nachfolger. In dieser Hinsicht bekommt der Ausspruch „Die Kleinen hängt man, die Großen läßt man laufen" ungeahnte Bestätigung. Daß das eine - die Unterstützung einer Partei in Wahlen - mit dem anderen der Kennzeichnung als extremistisch oder demokratisch - nichts zu tun hat, gerät so in den Hintergrund. Denn wie es kleine und große demokratische Par-
39 Vgl. Drs. 13/11000 vom 10. Juni 1998, Schlußbericht der Enquete-Kommission „Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozeß der deutschen Einheit". 40 So Rudolf Wassermann, Abwehrbereit ohne Vorbehalt der Richtung. Zur Sinnkrise des Verfassungsprinzips der streitbaren Demokratie, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 2. Juli 1991. 41 Vgl. etwa Gero Neugebauer/Richard Stöss, Die PDS. Geschichte, Organisation, Wähler, Konkurrenten, Opladen 1996. Die beiden Politikwissenschaftler erachten „die Frage der Verfassungsfeindlichkeit der PDS gegenwärtig für nachrangig"; ebd., S. 13. Die Gegenposition findet sich bei Patrick Moreau/Jürgen P. Lang, Linksextremismus. Eine unterschätzte Gefahr, Bonn 1996. 42 Vgl. Uwe Backes, Politischer Extremismus in demokratischen Verfassungsstaaten. Elemente einer normativen Rahmentheorie, Opladen 1989.
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teien gibt, sind entsprechende Vereinigungen im extremistischen Bereich anzutreffen. Wenn nun die Charakterisierung des politischen Extremismus unabhängig von seiner Größe geschieht, muß das ebenso für die Mechanismen des Demokratieschutzes gelten. Das ist kein Aufruf zur Ausgrenzung einer extremistischen Partei, aber eine klare und deutliche Abgrenzung des demokratischen Spektrums gegenüber dem Links- und Rechtsextremismus ist vonnöten - und zwar ohne Reflex auf dessen jeweilige politische Bedeutung. 5. Ausblick: Die weitere Entwicklung der streitbaren Demokratie Wer die Komödie verfolgte, wie die PDS seit 1991 in den alljährlich publizierten Verfassungsschutzberichten behandelt wurde, 43 der sollte sich über das kommende Trauerspiel nicht wundern: Es wird an Bundesinnenminister Otto Schily sein zu entscheiden, ob die SED-Nachfolge-Partei in den folgenden Verfassungsschutzberichten Erwähnung findet oder nicht. Vieles spricht - mittelfristig - für letzteres. 44 Mit Blick etwa auf die Kommunistische Plattform, die Arbeitsgemeinschaft Junge Genossinnen sowie das Marxistische Forum Druck auf die PDS ausüben zu wollen, wäre naiv. Sie gehören zur Strategie der SEDNachfolgepartei und bewahren ein Stück weit die Identität der PDS. Im übrigen, bliebe die PDS auf Dauer Beobachtungsobjekt, leistete die SPD gewissermaßen einen Offenbarungseid: Sie kennzeichnete eine Partei als verfassungsfeindlich, mit der sie auf Landesebene koaliert bzw. von der sie sich tolerieren läßt. Schließlich: Je häufiger die Zusammenarbeit zwischen SPD und PDS in den (ostdeutschen) Ländern zustande kommt und je enger sie wird, desto weniger mag es der SPD gelingen, glaubhaft zu machen, weshalb sie die SED-Nachfolger auf Bundesebene von der Macht fernhalten möchte. Die PDS dürfte alles daransetzen, diesem Ziel näherzukommen. Nicht minder gespannt darf man auf die nächsten Verfassungsschutzberichte Mecklenburg-Vorpommerns sein. Hier ergab sich zwar nicht der ursprünglich vorgesehene Fall, daß dem Innenministerium gleich ein PDS-Mann vorstand. Das Ressort wurde den Sozialdemokraten unterstellt. Angesichts der Versicherung des stellvertretenden Ministerpräsidenten und PDS-Landesvorsitzenden Helmut Holter, die Partei bleibe „Systemopposition", dürften freilich die SEDNachfolger zum einen die erste Opposition sein, die gleichzeitig in der Regierung sitzt, und zum anderen müßte der SPD-Innenminister folgerichtig den
43 Vgl. Bundesministerium des Innern (Hrsg.), Verfassungsschutzbericht[e] 1991-1997, Bonn 1992-1998. 44 Daß die PDS vorläufig Beobachtungsobjekt bleibt, sollte nicht überschätzt werden. Dies liegt in erster Linie an einer nur schrittweise einzuleitenden Umkehr, zumal nachrichtendienstliche Mittel ohnehin keine Anwendung finden.
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Koalitionspartner zum Beobachtungobjekt erklären. Daß letzteres ein frommer Wunsch ist, liegt auf der Hand. Die weitere Entwicklung deutete Harald Ringstorff nach seiner Wahl zum Ministerpräsidenten im Herbst 1998 bereits an. Er forderte die CDU auf, zusammen mit SPD und PDS den Rechtsextremismus im Lande in die Schranken zu verweisen. 45 Daß Casanova ein schlechter Haremswächter gewesen wäre, dürfte jedermann einleuchten. Daß man den Rechtsextremismus - vom Standpunkt des demokratischen Verfassungsstaates aus - nicht im Bündnis mit Linksextremisten bekämpfen sollte, ist anscheinend keine Selbstverständlichkeit mehr. Man stelle sich einmal vor, der baden-württembergische Regierungschef Erwin Teufel, der freilich eine Koalition mit den Republikanern weit von sich gewiesen hätte, wäre an die SPD herangetreten, um gemeinsam mit den Republikanern gegen linksextremistische Autonome in den Universitätsstädten vorzugehen. Eine mangelnde Abgrenzung nach rechts kann man der Union schwerlich vorhalten. Für die Sozialdemokraten - mit Blick nach links - kommt man zu einem anderen Resultat. Die SPD knüpft offenbar an Verbindungen zwischen demokratischen und extremistischen Linken aus den siebziger und achtziger Jahren an. 46 Was damals nicht politikmächtig werden konnte, sieht heute - unter gewandelten politischen Rahmenbedingungen - anders aus. Daß damit die SPD, die sich im übrigen um die deutsche Demokratie verdient gemacht hat, 47 eine der Grundlagen der Bundesrepublik zerstört - mit Extremisten darf es keine Kooperation geben -, wer wollte dem widersprechen? Die streitbare Demokratie in ihrer antiextremistischen Spielart wird im vereinten Europa weiter an Bedeutung verlieren, wenn sie überhaupt noch eine Rolle spielt. Das gilt im übrigen unabhängig davon, wer die deutsche Regierung stellt. Rot-Grün dürfte angesichts konträr gelagerter Interessen ohnehin kaum zum Fürsprecher taugen, und Schwarz-Gelb wird die Konzeption der streitbaren Demokratie gegebenenfalls als Verhandlungsmasse betrachten, um sie schließlich im Austauschverfahren einzulösen. Für weitere mögliche Konstellationen
43 Vgl. diw. [Dieter Wenz], SPD/PDS-Regierung in Schwerin vereidigt. Ringstorff zum Ministerpräsidenten gewählt. Acht Stimmen aus der Koalition fehlen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 4. November 1998. 46 Vgl. Wolfgang Rudzio, Die Erosion der Abgrenzung. Zum Verhältnis zwischen der demokratischen Linken und Kommunisten in der Bundesrepublik Deutschland, Opladen 1988. 47 Vgl. Dieter Groh/Peter Brandt, „Vaterlandslose Gesellen". Sozialdemokratie und Nation 1860-1990, München 1992; Peter Lösche/Franz Walter, Die SPD. Klassenpartei, Volkspartei, Quotenpartei. Zur Entwicklung der Sozialdemokratie von Weimar bis zur deutschen Vereinigung, Darmstadt 1992.
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(Rot-Gelb, Schwarz-Grün) mag auch nichts anderes gelten. Der spezifisch deutschen Tradition des Demokratieschutzes - trotz des liberalen, keineswegs einseitigen und ausgesprochen rechtsstaatlichen Verfahrens - läuten die Totenglokken. Jedoch sollte man dies nicht Europa in die Schuhe schieben. Dafür tragen die Deutschen selbst die Verantwortung. 6. Zusammenfassung Die streitbare Demokratie geriet cum grano salis von der Offensive in den fünfziger/sechziger Jahren in den siebziger und achtziger Jahren in die Defensive. Die liberal-konservative „Wende" 1982/83 brachte faktisch keine „Wende" für den Komplex der streitbaren Demokratie. Auch die „Wende" 1989/90 in Deutschland erwies sich in dieser Hinsicht als wenig erfolgreich. Seit den neunziger Jahren befindet sich die streitbare Demokratie vollends in der Krise. Eine Revitalisierung der Konzeption auf der Basis einer antiextremistischen Ausrichtung wäre vonnöten, steht aber kaum zu erwarten. Wer lediglich auf den Rechtsextremismus starrt, der fällt auf eine medial inszenierte Brutalität herein, die nichts so sehr braucht wie Öffentlichkeit. Dabei gerät der kaum minder gefährliche Linksextremismus vielfach gar nicht mehr ins Blickfeld, weil er - abgesehen von den „Autonomen" - subtilere Methoden anwendet und über ein intellektuell respektables Personal verfügt. In dieser Hinsicht ist der öffentliche Umgang mit dem politischen Extremismus auf dem Stand einer Medizin, die als Wunde grundsätzlich nur das anerkennt, was äußerlich sichtbar ist. Die Bedeutung einer antiextremistischen Grundeinstellung für den demokratischen Verfassungsstaat wird häufig unterschätzt: von der politischen Bildung über die praktische Politik bis hin zur Wissenschaft. Letztere, die es eigentlich am besten wissen müßte, trifft dieser Vorwurf am härtesten. Ist es um den Antiextremismus schlecht bestellt, noch ärger steht es um den Antikommunismus. Dieser firmiert vielfach als „borniert", „primitiv" oder „blind". Über den Antifaschismus liest man derlei kaum; allenfalls gilt er wenigen als „einäugig". Bekanntlich ist jedoch der Einäugige unter den Blinden König.
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50 JAHRE POLITISCHER EXTREMISMUS IN DEUTSCHLAND 1. Einleitung Runde Jahreszahlen sind stets Anlaß für Rückblicke, Ausblicke und Bestandsaufnahmen. Dies ist nicht nur hierzulande so. Daß der „politische Extremismus" zu einer Bilanz einlädt, wäre jedoch in Frankreich, Großbritannien oder den USA weniger selbstverständlich. Dies liegt weder daran, daß es dort keine Extremismen gäbe - ihre Existenz ist die geradezu zwangsläufige Folge freiheitlicher politischer Verhältnisse -, noch an der besonderen Stärke und Gefährlichkeit systemfeindlicher Kräfte im Deutschland der Gegenwart. Auch die Vereinigung des deutschen Weststaates mit den östlichen Ländern der untergegangenen kommunistischen DDR hat die politische Stabilität des demokratischen Verfassungsstaates - trotz aller gravierenden sozial-ökonomischen wie politisch-kulturellen Belastungen - nicht so sehr erschüttert, daß das größer gewordene Deutschland das atlantisch-westeuropäische „Normalmaß" an innerer Systemilloyalität überragen würde. 1 Die vergleichsweise hohe Aufmerksamkeit, die man politisch-extremistischen Strömungen in Deutschland zuwendet, erklärt sich - neben dem in Teilen des Auslandes fortbestehenden Mißtrauen 2 und dem medialen Sensations- und Unterhaltungswert der Phänomene - vor allem aus der leidvollen „totalitären Erfahrung" mit zwei Diktaturen in diesem Jahrhundert 3 und der berechtigten, wenn auch zuweilen übertriebenen - Besorgnis, die so schwer errungene freiheitliche Demokratie könne erneut dem Ansturm ihrer Feinde zum Opfer fallen. Die doppelte Diktaturerfahrung hat überdies dazu geführt, 1 Vgl. den Überblick bei: Eckhard Jesse, Formen des politischen Extremismus. Westliche Demokratien Europas im Vergleich, in: Ders./Steffen Kailitz (Hrsg.), Prägekräfte des 20. Jahrhunderts. Demokratie, Extremismus, Totalitarismus, Baden-Baden 1997, S. 127-168. 2 Alexander Gallus zitiert die Wall Street Jo«rmi/-Redakteurin Amity Shlaes, „sie könne über Deutschland kaum einen Artikel veröffentlichen, schriebe sie darin nicht von der akuten Gefahr eines neuen kommunistischen oder nationalsozialistischen Regimes." Ders., Für und wider eine „Erosion der Abgrenzung". Der politische Extremismus aus vergleichend-historischer Perspektive, in: Ralf Altenhof/Eckhard Jesse (Hrsg.), Das wiedervereinigte Deutschland. Zwischenbilanz und Perspektiven, München 1995, S. 69-98, hier S. 71. 3 Vgl. die Bilanz von: Karl Dietrich Bracher, Die totalitäre Erfahrung, München/Zürich 1987.
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daß man hierzulande die extremistische, an Ostberlin und Moskau orientierte Linke weniger milde, gutgläubig und leichtfertig betrachtet hat als weite Teile der französischen oder italienischen Öffentlichkeit. Allerdings ist die früher selbstverständliche Äquidistanz gegenüber den Extremismen von links und rechts auch in Deutschland ein wenig aus der Mode gekommen. In manchen akademischen Kreisen gilt es keineswegs als schicklich, von politischem Extremismus anders als vom Faschismus, Neonazismus und Rassismus zu sprechen.4 Daran hat der Untergang des „realen Sozialismus" erstaunlich wenig geändert. Wie die Wendungen „Systemfeindschaft" oder „Systemilloyalität" andeuten, ist mit „politischem Extremismus" die Gegnerschaft zum „System" der Bundesrepublik Deutschland gemeint. Dabei geht es natürlich nicht um den Status quo in seiner umfassenden, fluktuierenden Gestalt, sondern lediglich um jene grundlegenden Werte, Institutionen und Verfahrensregeln, deren Verlust zugleich den Untergang des demokratischen Verfassungsstaates bedeuten würde. Im Kern handelt es sich um drei miteinander verwobene Hauptstränge, die aus langwierigen historischen Erfahrungsprozessen im Ringen mit mannigfachen Formen autokratischer Herrschaft entstanden sind: 1. die Anerkennung der menschlichen Würde als Grundlage der Menschenrechte und staatlich garantierten Grundrechte, 2. die auf dem individuellen Freiheitsrecht basierende Legitimität einer Vielfalt von Meinungen, Anschauungen und Interessen und 3. deren institutionelle Sicherung durch ein ausgeklügeltes System der Kontrolle und Balancierung staatlicher Herrschaftsausübung. Politische Extremismen in ihren mannigfaltigen Formen gehen allesamt von Ideen und Leitbildern aus, die diese verfassungsrechtlich verbriefte, als gleichsam sakrosankt geltende Zone konstitutionell-demokratischer Freiheitssicherung verletzen. So unterschiedlich ihre Stoßrichtung auch sein mag: Sie alle stellen den politischen Pluralismus in Frage, zielen auf die autoritäre oder gar totalitäre Konzentration staatlicher Gewalt und entziehen - allmählich oder plötzlich - der Entfaltung individueller Freiheitsrechte den Boden. Das Spektrum politischer Extremismen ist weit gefächert. In ihren Zielen, Visionen und ideologischen Orientierungen weisen sie zum Teil schroffe Gegensätze auf. Doch konvergieren die Strukturen ihres Denkens (Absolutheitsanspruch, Dogmatismus, Ma-
4 Siehe nur die in ihrer Heftigkeit entlarvenden Abwehrreaktionen bei: Christoph Butterwegge, Rechtsextremismus, Rassismus und Gewalt. Erklärungsmodelle in der Diskussion, Darmstadt 1996, S. 64-78. Die „Unvergleichbarkeit" von Rechts und Links bildet auch ein zentrales Argument gegen das Totalitarismuskonzept. Vgl. vor allem: Wolfgang Wippermann, Totalitarismustheorien. Die Entwicklung der Diskussion von den Anfängen bis heute, Darmstadt 1997.
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nichäismus, Verschwörungstheorien etc.) in wesentlichen Punkten.5 Sie speisen sich aus geistigen Traditionen, deren Überwindung erst den historischen Weg zu konstitutionell-demokratischen Verfahrensregeln und Institutionen freigemacht hat. Der folgende Überblick konzentriert sich auf jene Formen des politischen Extremismus, die in parteiförmiger Gestalt Einfluß auf den politischen Prozeß zu gewinnen such(t)en und dabei nicht vollkommen erfolglos agier(t)en. Weder antidemokratische Einstellungspotentiale und rein intellektuelle Strömungen noch militante und terroristische Gruppierungen finden Berücksichtigung. Breiteren Raum nimmt die Charakterisierung der Ausgangslage von 1949 (Kapitel 2.) und die der Situation im vereinten Deutschland (Kapitel 4) ein. Die Entwicklung in der langen Zwischenzeit (Kapitel 3) sei hingegen nur knapp umrissen. 2. Ausgangslage 1949 Die zweite deutsche Demokratie ist das Produkt der traumatischen Erfahrung des Untergangs der Weimarer Republik und der Machtübernahme der nationalsozialistischen Bewegung. Von einer totalitären Erfahrung ist insofern zu sprechen, als die kommunistische Bewegung maßgeblichen Anteil am Kampf gegen die Republik hatte und der nationalsozialistischen Diktatur im sowjetisch besetzten Teil Deutschlands eine in ihren Herrschaftsstrukturen ähnliche mit marxistisch-leninistischer Prägung folgte. 6 Dominierte in den Verfassungsberatungen der Länder anfänglich noch die antifaschistische Perspektive, wurde diese im Laufe der Zeit durch eine antikommunistische ergänzt. 7 Die Mitglieder des Parlamentarischen Rates teilten weithin einen antiextremistischen Konsens. Sie sahen ihre vorrangige Aufgabe darin, das Ihre zu tun, um zu verhindern, daß
3 Vgl. zur theoretischen Fundierung des Extremismusbegriffs: Uwe Backes/Eckhard Jesse, Politischer Extremismus in der Bundesrepublik Deutschland, 4. Aufl., Bonn 1996, S. 40-47; Uwe Backes, Politischer Extremismus in demokratischen Verfassungsstaaten. Elemente einer normativen Rahmentheorie, Opladen 1989. 6 Zum Untergang der Weimarer Republik sei vor allem auf folgendes Standardwerk verwiesen: Karl Dietrich Bracher, Die Auflösung der Weimarer Republik. Eine Studie zum Problem des Machtverfalls in der Demokratie (1955), Nachdruck, Düsseldorf 1978. Zur Frage des Totalitarismus grundlegend: Juan J. Linz, Totalitarian and Authoritarian Regimes, in: Fred I. Greenstein/Nelson W. Polsby (Hrsg.), Handbook of Political Science, Bd. 3: Macropolitical Theory, Reading/Mass. 1975, S. 175-411. Zur DDR vgl. Eckhard Jesse, War die DDR totalitär?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung „Das Parlament", B 40/94, S. 1223 und die dort kritisch kommentierte Diskussion. 7 Vgl. die Untersuchung von: Armin Scherb, Präventiver Demokratieschutz als Problem der Verfassungsgebung nach 1945, Frankfurt a.M. u.a. 1987, S. 274-276.
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sich auch im westlichen Deutschland erneut Gewalt- und Willkürherrschaft ausbreiten könnten.8 Der Gedanke des Demokratieschutzes überlagerte in der Gründungsphase der zweiten deutschen Demokratie alle anderen Fragen. Insbesondere zogen die Väter und Mütter der Verfassung einige institutionelle Konsequenzen aus dem Scheitern der Weimarer Republik. 9 Die Verfassung erhielt eine nahezu uneingeschränkt repräsentative Anlage. Die doppelköpfige Exekutive wurde zugunsten eines rein parlamentarischen Systems aufgelöst, die Stellung der Regierung durch die Einführung des konstruktiven Mißtrauensvotums gestärkt. Der Grundrechtsschutz gewann insbesondere durch die Einrichtung des Bundesverfassungsgerichts hohe Bedeutung. Die Parteien wurden in ihrer Rolle als Mittler politischer Willensbildung eigens hervorgehoben. Föderalismus und Kommunalautonomie erfuhren nachhaltige Stärkung. Zwar hielt man am vielkritisierten Verhältniswahlrecht der Weimarer Zeit fest (allerdings ohne es verfassungsrechtlich zu fixieren), beschränkte es aber im Laufe der Jahre durch Sperrklauseln und personalisierende Elemente. Der Demokratieschutz gipfelte im Konzept der „streitbaren Demokratie", das grundlegende Werte und Spielregeln der Disposition des Gesetzgebers entzog und eine Reihe von Abwehrinstrumenten verfassungsrechtlich verankerte, die es erlauben sollten, den Freiraum extremistischer Kräfte bereits im Vorfeld gewaltförmigen Handelns wirksam zu begrenzen. 10 Trotz des Arsenals an Schutzmaßnahmen und der eher zuversichtlich stimmenden Ergebnisse der ersten Landtagswahlen in den westlichen Zonen erwartete man im In- und Ausland das Resultat der ersten Wahl zum Deutschen Bundestag im August 1949 mit großer Spannung. Würden sich die demokratischen Parteien durchsetzen, die Stimmengewinne der Extremismen von links und rechts in Grenzen halten? Käme eine stabile Regierung zustande? Als der später zum ersten Bundeskanzler gewählte CDU-Vorsitzende Konrad Adenauer von Journalisten nach dem Wahlergebnis und dem Abschneiden verfassungsfeindlicher Kräfte befragt wurde, konnte er die größten Befürchtungen der Pessimisten zerstreuen: „Anstatt sich über diese Extremisten den Kopf zu zerbrechen, sollte die Welt besser das Vertrauensvotum in den Vordergrund schieben, welches die drei großen demokratischen Parteien erhalten haben, die Wahlen waren eine Wiedergeburt der deutschen Demokratie. Sozialdemokraten, Freie Demokraten und Christlichdemokraten haben von den 402 Sitzen deren 322 erobert. Ist dies 8 Vgl. Friedrich Karl Fromme, Von der Weimarer Verfassung zum Bonner Grundgesetz. Die verfassungspolitischen Folgerungen des parlamentarischen Rates aus Weimarer Republik und nationalsozialistischer Diktatur, Tübingen 1960. 9 Vgl. im Überblick: Frank R. Pfetsch, Verfassungspolitische Innovationen 1945-1949. Am Anfang war der linksliberale Rechtsstaat, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 17 (1986), S. 5-25. 10 Vgl. zu diesem Konzept den Beitrag von Ralf Altenhof in diesem Band.
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nicht ein Zeichen der Gesundung? Ist diese Tatsache nicht mehr wert als die Resultate der Splitterparteien? Sobald der Pressestreit um diese Parteien abgeflaut ist, werden auch die Parteien von selbst verstummen." 11 In der Tendenz sollte sich diese Aussage in den folgenden Jahren bewahrheiten. Die großen demokratischen Parteien gewannen an Boden und etablierten sich zu festen Größen, während viele der kleineren, teils gemäßigte, teils extreme, von der Bildfläche verschwanden oder an den Rand gedrängt wurden. Die Furcht, Bonn könne Weimar werden, blieb dennoch lange Zeit lebendig12 - sie ist bis heute nicht ganz gewichen. Die Probleme, die die demokratische Konsolidierung im Nachkriegsdeutschland erschwerten, waren mannigfach. Über zehn Mio. Vertriebene und Flüchtlinge, ca. zwei Mio. nicht wieder eingestellte ehemalige Beamte, NSDAP-Angestellte und Berufssoldaten, 2,5 Mio. Kriegshinterbliebene, 1,5 Mio. Schwerkriegsbeschädigte mit ihren Angehörigen, zwei Mio. Spätheimkehrer, vier bis sechs Mio. Ausgebombte und 1,5 Mio. Arbeitslose (1950) 13 bildeten ein gewaltiges Rekrutierungsreservoir für rechtsoder linksextreme Bewegungen. Die politische Kultur war noch sehr von autoritären und obrigkeitsstaatlichen Traditionen geprägt. 57 Prozent der Bevölkerung vertraten im Oktober 1948 bespielsweise die Auffassung, der Nationalsozialismus sei „eine gute Idee, die schlecht ausgeführt wurde", 14 gewesen. Im November 1953 erklärten 13 Prozent der westdeutschen Bevölkerung, sie würden „es begrüßen", falls eine „neue Nationalsozialistische Partei versucht; an die Macht zu kommen". 15 Wenn angesichts der gravierenden Belastungen der demokratische Verfassungsstaat doch allmählich Wurzeln schlug, trugen viele Faktoren dazu bei: die politischen und ökonomischen Starthilfen der westlichen Besatzungsmächte, die wieder auflebenden demokratischen und liberalen Traditionen, die abschreckende Wirkung der totalitären Erfahrungen und ihrer katastrophalen materiellen wie immateriellen Folgen, Aufbauwille, Fleiß, Bescheidenheit und ökonomische Kompetenz der Bevölkerung, das Wirtschaftswunder mit wachsendem Wohlstand, die sozialstaatliche Abfederung der Marktwirtschaft und die Herausbildung einer mittelschichtenzentrierten Gesellschaft, die dadurch ermöglichte rasche Integration der Vertriebenen und Flücht11 Interview Adenauers mit der United Press, in: Keesing's Archiv der Gegenwart vom 17. August 1949, S. 2043. 12 Die Titelthese des vielzitierten Werkes von Allemann erschien vielen gewagt: Fritz René Allemann, Bonn ist nicht Weimar, Köln 1956. 13 Vgl. die Angaben bei: Alfred M. de Zayas, Die Anglo-Amerikaner und die Vertreibung der Deutschen. Vorgeschichte, Verlauf, Folgen, München 1980, S. 24; Manfred Jenke, Verschwörung von rechts? Ein Bericht über den Rechtsradikalismus in Deutschland nach 1945, Berlin 1961, S. 46 f. Jenke stützte sich auf Untersuchungen des Soziologen Helmut Schelsky. 14 Elisabeth Noelle/Erich Peter Neumann (Hrsg.), Jahrbuch der öffentlichen Meinung, 19471955, Allensbach am Bodensee 1956, S. 134. 15 Ebd., S. 276.
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linge, die integrierende Kraft gewachsener sozial-kultureller Milieus, die sich im großen und ganzen bewährenden politischen Institutionen, nicht zuletzt die Stabilisierung der prekären äußeren Sicherheitslage an der Frontlinie des OstWest-Konflikts durch die Einbindung der Bundesrepublik in das westliche Verteidigungsbündnis und in die entstehende Europäische Wirtschaftsgemeinschaft. Durch glückliche Weichenstellungen und Aufbauleistungen verstanden es die großen demokratischen Parteien, auch Wähler mit politisch extremen Neigungen in beachtlichem Maße an sich zu binden und systemfeindlichen Parteien das Wasser abzugraben. Im ersten Deutschen Bundestag gab es noch eine Fraktion und eine Gruppe mit offen verfassungsfeindlichem Charakter. Am rechten Flügel war es einem deutsch-nationalen, mit „braunen" Flecken überzogenen Listenbündnis gelungen, 1,8 Prozent der Stimmen zu erringen. Da in Niedersachsen 8,1 Prozent der Stimmen erzielt worden waren und die Überwindung der Fünfprozenthürde auf Landesebene genügte, zogen fünf Abgeordnete der „Deutschen Konservativen Partei-Deutschen Rechtspartei" (DKP-DRP) in den Deutschen Bundestag ein. 16 Nationalistische Abgeordnete mit zweifelhafter Systemloyalität gab es auch in der vor allem in Bayern beheimateten „Wirtschaftlichen Aufbauvereinigung" (WAV) sowie an den rechten Rändern von DP und FDP. 17 Später wurde unter variierenden Bezeichnungen auftretende Heimatvertriebenenlisten, die in süddeutschen Ländern mit national-neutralistischen Sektierern wie der „Deutschen Gemeinschaft" (DG) August Haußleiters Wahlverbindungen eingingen, zur zeitweiligen Heimstatt rechtsextremer Tendenzen.18 Am anderen Ende des politischen Spektrums war es der von Ostberlin und Moskau an der kurzen Leine geführten „Kommunistischen Partei Deutschlands" (KPD) gelungen, 5,7 Prozent der Stimmen zu erringen. Die Partei hatte bereits zuvor bei den Landtagswahlen beachtliche Erfolge errungen und den meisten Allparteienregierungen der ersten Nachkriegsjahre angehört. 19 Sie profitierte insbesondere von ihrem
16 Vgl. Horst W. Schmollinger, Die Deutsche Konservative Partei - Deutsche Rechtspartei, in: Richard Stöss (Hrsg.), Parteien-Handbuch. Die Parteien der Bundesrepublik Deutschland 19451980, Bd. 1, Opladen 1983, S. 982-1024. 17 Vgl. Heinz-Georg Marten, Die unterwanderte FDP. Politischer Liberalismus in Niedersachsen. Aufbau und Entwicklung der Freien Demokratischen Partei 1945-1955, Göttingen 1978; Horst W. Schmollinger, Die Deutsche Partei, in: Stöss (Anm. 16), S. 1025-1111; Hans Woller, Die Loritz-Partei. Geschichte, Struktur und Politik der Wirtschaftlichen AufbauVereinigung (WAV) 1945-1955, Stuttgart 1982. 18 Vgl. Richard Stöss, Vom Nationalismus zum Umweltschutz. Die Deutsche Gemeinschaft /Aktionsgemeinschaft Unabhängiger Deutscher im Parteiensystem der Bundesrepublik, Opladen 1980. 19 Vgl. Jens Ulrich Klocksin, Kommunisten im Parlament. Die KPD in Regierungen und Parlamenten der westdeutschen Besatzungszonen und der Bundesrepublik Deutschland, 19451956, 2. Aufl., Bonn 1994; Hans Kluth, Die KPD in der Bundesrepublik. Ihre politische Tätigkeit
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Widerstand gegen das NS-Regime 20 , wurde jedoch politisch umso mehr diskreditiert und isoliert, je deutlicher sich die diktatorische Politik der im April 1946 unter erheblichem Zwang zustandegekommenen „Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands" (SED) aus SPD und KPD im östlichen Deutschland manifestierte. 21 Ihr gesellschaftlicher Einfluß im Westen war bereits deutlich am Schwinden, als die Bundesregierung 1951 einen Parteienverbotsantrag gegen die KPD beim neukonstituierten Bundesverfassungsgericht stellte. Er endete erst nach langwierigem Verfahren 1956 mit dem Verbot der Partei. 22 Wenige Tage zuvor hatte die Bundesregierung gegen die nach der Bundestagswahl von 1949 entstandene „Sozialistische Reichspartei" (SRP) ein Parteiverbot beantragt. Sie wies deutliche neonationalsozialistische Tendenzen auf und wurde bereits 1952 verboten. 23 3. Entwicklungslinien
bis zur Vereinigung
Rechtsextremen Parteien ist es seit der zweiten Legislaturperiode nicht mehr gelungen, in den Deutschen Bundestag einzuziehen.24 Die erste wahlpolitische Mobilisationswelle, die der SRP, mit Spitzenergebnissen von 7,7 Prozent in Bremen und 11,0 Prozent in Niedersachsen endete mit dem Verbot der Partei. Die schon aufgrund dieses abschreckenden Beispiels moderater auftretende „Nationaldemokatische Partei Deutschlands" (NPD), die 1964 das Erbe der bei Wahlen erfolglosen „Deutschen Reichspartei" (DRP) angetreten hatte, zog in den Jahren 1966 bis 1968 zwar in zahlreiche Länderparlamente ein (Spitzenergebnis 1968 in Baden-Württemberg: 9,8 Prozent), scharte auf ihrem Höhepunkt ca. 25.000 Mitglieder um sich, scheiterte jedoch bei der Bundestagswahl von 1969 (mit 4,3 Prozent) knapp an der Fünfprozenthürde. Der Rechtsextremismus war in den ersten Nachkriegsjahrzehnten - mit seinem Organisationsnetz und
und Organisation 1945-1956, Köln/Opladen 1959; Dietrich Staritz, Kommunistische Partei Deutschlands, in: Stöss (Anm. 16), S. 1663-1809. 20 Vgl. Hermann Weber, Kommunistischer Widerstand gegen die Hitler-Diktatur, 1933-1939, Berlin 1988. 21 Vgl. Andreas Malycha, Auf dem Weg zur SED. Die Sozialdemokratie und die Bildung einer Einheitspartei in den Ländern der SBZ. Eine Quellenedition, Bonn 1996. 22
Vgl. BVerfGE 5, 85-593. Vgl. BVerfGE 2, 1-87. Zur SRP: Otto Büsch/Peter Furth, Rechtsradikalismus im Nachkriegsdeutschland. Studien über die „Sozialistische Reichspartei" (SRP), Berlin/Frankfurt a.M. 1957. 23
24 Vgl. auch zum folgenden den Überblick bei: Backes/Jesse (Anm. 5), S. 60-138 („Rechtsextremismus") und die dort angegebene Literatur.
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seinen publizistischen Organen - keine Quantité négligeable25, hielt sich aber auf einem wenig systemgefährdenden Niveau. Östliche Geheimdienste unternahmen immer wieder Versuche, die weithin subkulturell geprägte „Szene" anzustacheln, um die These vom revanchistischen und faschistischkapitalistischen Charakter des westlichen Deutschland zu erhärten. Dieses Vorgehen ließe sich von der antisemitischen Schmieraffäre 1959/60 bis zur neonationalsozialistischen Jugendszene der siebziger und achtziger Jahre nachzeichnen. Eine detaillierte Untersuchung steht noch aus.26 Indes bedurfte es nicht der Einflußnahme östlicher Agenten, um die militante rechtsextreme „Szene" zu stimulieren. Sie entstand vor dem Hintergrund des wahlpolitischen Scheiterns der NPD, orientierte sich an historischen Modellen wie den Freikorps und nationalsozialistischen Kampfbünden ebenso wie am zeitgenössischen Vorbild der linken Militanz. Ende der siebziger, Anfang der achtziger Jahre tauchten Aktivisten in den Untergrund ab und bildeten rechtsterroristische Zellen wie die HeppKexel-Gruppe, die mit antikapitalistischer Rhetorik der als „besetztes Land" geltenden Bundesrepublik den Kampf ansagte.27 Zu diesem Zeitpunkt hatte sich längst ein linker Terrorismus herausgebildet, das radikale Entwicklungsprodukt der in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre entstandenen, von anarchistischen und marxistischen Ideen inspirierten Studentenbewegung.28 Auf ihrem politischen Humus entstand eine Vielzahl trotzkistischer und maoistischer Kaderorganisationen, die jedoch, sofern sie bei Wahlen antraten, allesamt gänzlich erfolglos blieben. 29 Demgegenüber wußte die 1968 gegründete „Deutsche Kommunistische Partei" (DKP), die westdeutsche Statthalterin Ostberlins und Moskaus einen gewissen Einfluß zu gewinnen. Die von Regierungskreisen ermutigte „Neukonstituierung" einer kommunistischen Par-
25 Vgl. besonders Peter Dudek/Hans-Gerd Jaschke, Entstehung und Entwicklung des Rechtsextremismus in der Bundesrepublik. Zur Tradition einer besonderen politischen Kultur, 2 Bde., Opladen 1984. 26 Die Vermutung östlicher Agententätigkeit fand sich schon im offiziellen Bericht der Bundesregierung: The Anti-Semitic and Nazi Incidents from 25 December 1959 until 28 Januar 1960. White Paper of the Government of the Federal Republik of Germany, Bonn 1960. Später berichteten übergelaufene Agenten darüber. Vgl. nur John Barron, KGB, München 1974, S. 220222. 27
Vgl. im Überblick: Uwe Backes, Bleierne Jahre. Baader-Meinhof und danach, Erlangen/Bonn/Wien 1991. Siehe auch den materialreichen Band von: Bernhard Rabert, Linksund Rechtsterrorismus in der Bundesrepublik Deutschland von 1970 bis heute, Bonn 1995. 28 Vgl. vor allem: Stefan Aust, Der Baader-Meinhof-Komplex, Hamburg 1985; Hans Josef Horchern, Die verlorene Revolution. Terrorismus in Deutschland, Herford 1988; Butz Peters, RAF. Terrorismus in Deutschland, Taschenbuchausgabe, München 1993. Eine vergleichende Analyse unter Auswertung der internationalen Forschung bietet: Peter Waldmann, Terrorismus. Provokation der Macht, München 1998. 29 Vgl. die umfassende Bilanz bei: Gerd Langguth, Protestbewegung. Entwicklung Niedergang - Renaissance. Die Neue Linke seit 1968, Köln 1983.
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tei 30 befleißigte sich einer im Vergleich zur verbotenen KPD zurückhaltenden ideologisch-programmatischen Diktion, machte aber kein Hehl aus ihrer Verachtung für das kapitalistische System der „BRD" und aus ihrer Ergebenheit für die „Bruderparteien" jenseits des „antifaschistischen Schutzwalls". Ihr konstant schlechtes Abschneiden bei Wahlen stellte die Unattraktivität des „real existierenden Sozialismus" im anderen Teil Deutschlands schlagend unter Beweis. Doch gelang es ihr mit massiver ideeller und materieller Unterstützung durch die SED, in gewissen gesellschaftlichen Bereichen einen über ihre sonstige Bedeutungslosigkeit hinwegtäuschenden Einfluß zu gewinnen - vor allem an den Universitäten, in einigen Medien, am Rande „neuer sozialer Bewegungen" und in Einzelgewerkschaften des DGB. 31 Gegenüber der übrigen linksextremen „Szene" konnte sie sich dank ihrer Protektion als mit weitem Abstand dominierende Kraft behaupten. Das vom Verfassungsschutz stets betonte32, aber in der Öffentlichkeit oft angezweifelte Ausmaß der Abhängigkeit von den östlichen Bruderparteien trat mit dem Zusammenbruch der DDR ans helle Tageslicht. Noch für das Jahr 1990 hatte die SED der westlichen Bruderpartei in ihrem Finanzplan 67,9 Mio. D M zugedacht.33 Das Versiegen der üppig sprudelnden Quelle ließ die noch über ca. 38.000 Mitglieder verfügende Partei zusammenbrechen. Zu diesem Zeitpunkt war sie bereits durch den ideologischen Spagat zwischen dem reformorientierten Moskau und dem wandlungsfeindlichen Ostberlin in eine tiefe Krise geraten. Da viele der „Erneuerer" die Partei freiwillig oder unfreiwillig verlassen hatten, mutierte sie in der Folgezeit zu einer ultraorthodoxen Sekte.
30
Vgl. Wilhelm Mensing, Wir wollen unsere Kommunisten wieder haben ... Demokratische Starthilfen für die Gründung der DKP, Zürich/Osnabrück 1989. Siehe zur Entwicklung des Linksextremismus im Überblick: Backes/Jesse (Anm. 5), S. 138-220. 31 Vgl. nur Ossip K. Flechtheim/Wolfgang Rudzio/Fritz Vilmar/Manfred Wilke, Der Marsch der DKP durch die Institutionen, Frankfurt a.M. 1980; Gottfried Linn, Politischer Extremismus an den Hochschulen. Die Gruppierungen und ihre Aussagen, Bonn 1987; Axel Minrath, Friedenskampf. Die DKP und ihre Bündnispolitik in der Anti-Nachrüstungsbewegung, Köln 1986; Wolfgang Rudzio, Die Erosion der Abgrenzung. Zum Verhältnis zwischen der demokratischen Linken und Kommunisten in der Bundesrepublik Deutschland, Opladen 1988. 32 Vgl. z.B. Bundesminister des Innern, betrifft: Verfassungsschutz '82, Bonn 1983, S. 39: „Zur Finanzierung des aufwendigen Parteiapparates, der kostspieligen Veranstaltungen und Propagandamaterialien, der Wahlkämpfe und Kampagnen sowie der Unterstützung der Nebenorganisationen und der DKP-beeinflußten Vereinigungen waren Beträge in Millionenhöhe erforderlich. Für diese Aufwendungen dürften im Jahre 1982 mehr als 60 Millionen DM auf konspirative Art und Weise aus der DDR an die DKP geflossen sein." 33
Vgl. Peter Schütt, Die Musik bestimmt, wer bezahlt. Wie die SED die westdeutsche „Bruderpartei" DKP finanziell gesteuert hat, in: Deutschland Archiv 22 (1990), S. 1724. Siehe zur Situation der DKP 1989/90 auch die detaillierte Analyse von: Patrick Moreau, Der westdeutsche Kommunismus in der Krise - ideologische Auseinandersetzungen und Etappen des organisatorischen Verfalls, in: Uwe Backes/Eckhard Jesse (Hrsg.), Jahrbuch Extremismus & Demokratie, Bd. 2, Bonn 1990, S. 170-206.
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Uwe Backes 4. Situation im vereinten Deutschland
Die Entwicklung seit dem Sommer 1989, die in atemberaubender Geschwindigkeit zur Überwindung der Spaltung Deutschlands führte 34 , hat den demokratischen Verfassungsstaat befestigt, ihn aber auch vor neue Bewährungsproben gestellt. Die stabilisierenden und integrierenden Effekte der Vereinigung sind hoch zu veranschlagen. Die unnatürliche Teilung hatte bis dahin immer wieder nationalistischen Tendenzen Auftrieb verschafft. Ihnen wurde - wie u.a. die Entwicklung der 1983 gegründeten national-populistischen Partei „Die Republikaner" (REP) im Vereinigungsjahr bewies35 - Wind aus den Segeln genommen. Der Fall des SED-Regimes bedeutete das Ende einer linksextremen Diktatur, die bis dahin eine sympathisierende Subkultur im westlichen Deutschland mit ideeller und materieller Nahrung versorgt hatte. Die Bürgerrechtsbewegung, die das Ende des „vormundschaftlichen Sozialismus" herbeiführte 36, pflanzte Zivilcourage in die verödete politische Kultur des östlichen Deutschland ein und wirkt mit ihren Repräsentanten bis heute in den demokratischen Parteien als belebendes und bereicherndes Element. Die Übertragung eines in vierzig Jahren erprobten und bewährten Institutionengefüges auf das Territorium der Ex-DDR und die gewaltigen finanziellen Transferleistungen von West nach Ost, die nur aufgrund der außerordentlichen ökonomischen Leistungsfähigkeit des vielgeschmähten kapitalistischen Systems möglich waren, haben den Konsolidierungsprozeß des demokratischen Verfassungsstaates auf noch ungesichertem politisch-kulturellem Boden beschleunigt - ein Vergleich mit östlichen Nachbarstaaten führt dies mit aller Klarheit vor Augen. Die Überwindung der deutschen Teilung ging, vorbereitet von den Reformen Gorbatschows in Moskau, mit dem Ende der europäischen Teilung einher. Obwohl seither neue regionale Krisenherde und Gefahrenzonen entstanden sind, bedeutete das Ende der OstWest-Konfrontation für Deutschland einen beachtlichen Zugewinn an äußerer Sicherheit, was für die innere Stabilität und Integration günstige Voraussetzungen geschaffen hat. Die Bilanz der Vereinigungsfolgen weist aber auch eine Reihe von Faktoren auf, die die Stabilität der verfassungsstaatlichen Ordnung in Deutschland belasten. Im Landtag von Sachsen-Anhalt bündelt sich die Problemlage wie in einem Brennglas: Man muß schon in die Zeit der Weimarer Republik zurückge34 Siehe die Bilanz des Vereinigungsprozesses in folgendem Band: Werner Weidenfeld/KarlRudolf Körte (Hrsg.), Handbuch zur deutschen Einheit, Neuausgabe, Frankfurt a.M./New York 1996. 35 Dieter Roth, Die Republikaner. Schneller Aufstieg und tiefer Fall einer Protestpartei am rechten Rand, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung „Das Parlament", B 37-38/90, S. 27-39. 36 Siehe zu deren Entstehung und Entwicklung die umfassende Studie von: Ehrhart Neubert, Geschichte der Opposition in der DDR 1949-1989, Bonn 1997, S. 499-903.
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hen, um eine halbwegs vergleichbare Konstellation zu finden: Zwei Parteien, deren Systemloyalität zweifelhaft ist, haben bei den Wahlen vom April 1998 zusammen 32,5 Prozent der Zweitstimmen errungen (PDS: 19,6 Prozent, DVU: 12,9 Prozent) und teilen sich 41 von 116 Landtagsmandaten. Die extremen Flügelgruppen verfügen über eine Sperrminorität: Die größere der beiden systemloyalen Parteien läßt ihre nicht über eine absolute Mehrheit verfügende Regierung von der bedeutenderen der beiden Flügelparteien tolerieren. Das ganze wird als „Magdeburger Modell" zur Nachahmung empfohlen, von einigen Publizisten gar als zukunftsweisende Fortentwicklung des parlamentarischen Systems gepriesen. 37 Was die D V U des Münchener Verlegers nationalistischer Wochenzeitungen Gerhard Frey betrifft, so ist die Tatsache ihrer mangelnden Systemloyalität bei professionellen Beobachtern völlig unumstritten. 38 Seit Jahren wartet die 1971 gegründete, 1987 als Partei formierte Organisation mit rassistischen Parolen auf, schürt Fremdenfeindlichkeit, pflegt nationalistische Mythen und sucht in ihren Organen die NS-Epoche in ein helleres Licht zu rücken. Der DVU-Erfolg in Sachsen-Anhalt kam in dieser Höhe überraschend, da die Rechtsaußenparteien bis dahin in den neuen Ländern schlecht abgeschnitten hatten. Die unter ihrem Vorsitzenden Franz Schönhuber lange Zeit als aussichtsreichste Kraft rechts von der Union geltenden REP konnten auf dem Territorium der ehemaligen DDR kaum Fuß fassen und erreichten nur magere Ergebnisse. 39 Dagegen verbuchten sie - abgesehen von ihrem ersten Erfolg im Januar 1989 in Westberlin - ihre größten Erfolge in den beiden süddeutschen Ländern Bayern und BadenWürttemberg, innerhalb eines gefestigten parlamentarisch-demokratischen Umfeldes und in den wirtschaftlich prosperierendsten Regionen des westlichen Deutschlands.40
37 Vgl. Wolfgang Renzsch/Stefan Schieren, Große Koalition oder Minderheitsregierung: Sachsen-Anhalt als Zukunftsmodell des parlamentarischen Regierungssystems in den neuen Bundesländern?, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 28 (1997), S. 391 ff. 38 Verwiesen sei u.a. auf die aktuelle Bilanz von: Gerhard Hertel, Die DVU - Gefahr von Rechtsaußen, = aktuelle Analysen 12, hrsg. von der Hanns-Seidel-Stiftung, München 1998. Siehe auch die Studie von: Matthias Schmidt, Die Parlamentsarbeit rechtsextremer Parteien und mögliche Gegenstrategien. Eine Untersuchung am Beispiel der „Deutschen Volksunion" im Schleswig-Holsteinischen Landtag, Münster 1997, die weit über ihren engeren Gegenstandsbereich hinausgreift. 39 Vgl. zur Entwicklung der REP: Uwe Backes/Patrick Moreau, Die extreme Rechte in Deutschland. Geschichte - gegenwärtige Gefahren - Ursachen - Gegenmaßnahmen, 2. erw. Aufl., München 1994, S. 77-103; Eckhard Fascher, Die politischen Erfolgsaussichten der „Republikaner" in Deutschland, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 28 (1997), S. 21-29. 40 Allerdings überwiegend bei Bevölkerungsgruppen mit Schwierigkeiten im wirtschaftlichen Modernisierungsprozeß. Vgl. die auf breiter empirischer Grundlage ruhende Analyse von: Jürgen W. Falter, Wer wählt rechts? Die Wähler und Anhänger rechtsextremistischer Parteien im vereinigten Deutschland, München 1994.
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Indes waren die anfänglich vergleichsweise bescheidenen Resultate der nationalistischen und populistischen Parteien im östlichen Deutschland offenkundig auch darauf zurückzuführen, daß die SED-Nachfolgepartei in zunehmendem Maße die Protestpotentiale und Systemaversionen an sich zu binden vermochte. Daß diese Potentiale sich in so hohem Maße Bahn brachen, darf niemanden überraschen. Nur Illusionisten konnten glauben, daß sich die historisch einmalige, blitzartige Transformation des ökonomischen und politischen Systems in einem Land mit 40jähriger real-sozialistischer Herrschaft samt aller physischen und psychischen Belastungen für die ansässige Bevölkerung ohne größere Verwerfungen und Deprivationserscheinungen würde vollziehen können. Die Fluktuation von Protestpotentialen und Systemaversionen zwischen den extremen Flügeln erhellt schlaglichtartig die Splitting-Analyse des Statistischen Landesamtes von Sachsen-Anhalt anläßlich der Landtagswahl vom April 1998, basierend auf der repräsentativen Wahlstatistik: Knapp ein Viertel der DVUWähler hatte mit der Erststimme für die PDS gestimmt.41 Das Modell von Magdeburg bietet nicht nur in diesem Punkt ein Schulbeispiel für die oft zitierte Berührung der Extreme. Während allerdings die extremistische Natur der D V U von niemandem außer ihren Anhängern und Sympathisanten in Zweifel gezogen wird, hat die SED-Nachfolgepartei wohlwollende Kritiker gefunden, die ihre anfangs nahezu unbestrittene Systemfeindschaft umso heftiger mit Fragezeichen versahen, je mehr es der Partei - entgegen ursprünglicher Erwartungen - gelang, sich als drittstärkste Kraft in den Parteiensystemen der neuen Ländern zu etablieren 42 - als wäre die Beliebtheit beim Wähler ein untrüglicher Indikator für demokratische Legitimation. Manche Beobachter sind geneigt, der Partei diese Legitimation nicht gänzlich abzusprechen. Zu den prominenten Fürsprechern gehört Altbundespräsident Richard von Weizsäcker, der - mit Blick auf die Parallelisierung DVU-PDS - sagte: „Ich habe gar keine Erwartungen an Herrn Frey und an solche Leute. Die können sich demokratisch überhaupt nicht legitimieren. Ich habe - was die demokratische Legitimation angeht - aber sehr große Erwartungen an die PDS-Führung. Deswegen ist das mein Thema." 43
41
Statistisches Landesamt Sachsen-Anhalt, Wahl des Landtages von Sachsen-Anhalt am 26. April 1998. Ergebnisse der repräsentativen Wahlstatistik, Halle 1998, S. 27. 42 Diesen Etablierungsprozeß beschreiben aus unterschiedlicher Perspektive: Patrick Moreau u.a., Die PDS: Profil einer antidemokratischen Partei, = Sonderausgabe der Politischen Studien, hrsg. von der Hanns-Seidel-Stiftung, München 1998; Gero Neugebauer/Richard Stöss, Die PDS. Geschichte. Organisation. Wähler. Konkurrenten, Opladen 1996. 43 Zitiert nach: Wilhelm Knelangen/Johannes Varwick, Magdeburg ist nicht Weimar. Oder doch? Die Auseinandersetzung über den „richtigen" Umgang mit der PDS, in: Gegenwartskunde 47(1998), S. 213-221, hier S. 217.
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Eine Reihe von Publizisten und Wissenschaftlern teilt die „sehr großen Erwartungen" des Altbundespräsidenten in die PDS-Führung. Manfred Gerner hat die PDS-Positionselite im Parteivorstand und in den Parlamenten untersucht und kommt zu dem Ergebnis, die insgesamt 37 von ihm benannten Repräsentanten der Partei - mit Gregor Gysi, Lothar Bisky, André Brie und Dietmar Bartsch an der Spitze - seien zu 95 Prozent Akademiker, vor allem aus den Bereichen Wissenschaft, Medien und Kunst, hätten in der ehemaligen DDR überwiegend die Rolle des „systemkonformen Außenseiters" 44 gespielt, seien heute mehrheitlich reformorientiert, kurz: überzeugte Anhänger eines demokratischen Sozialismus. Wenn das so ist, fragt sich allerdings, warum die Partei bislang eine so halbherzige Vergangenheitsbewältigung betrieben hat 45 , warum sie gegenüber der von der Bundesregierung eingesetzten Unabhängigen Kommission mit nahezu allen Mitteln versuchte, ihr von der SED stammendes „Alt-Vermögen dauerhaft zu verschleiern und zu sichern" 46 , warum sie frühere Inoffizielle Mitarbeiter des MfS hofiert, als Interessenvertretung ehemaliger DDR-Spione auftritt 47 , sich für eine allgemeine Amnestierung von SED-Verbrechen einsetzt, den Opfern des SED-Regimes hingegen wenig Aufmerksamkeit zuwendet48, warum sie in ihrem Inneren offen linksextreme Strukturen duldet - nicht nur die vielgeschmähte „Kommunistische Plattform", sondern auch „revolutionäre" Stützpunkte ehemaliger K-Gruppen-Aktivisten, Anarchisten, Autonome, radikale „Junge Genossinnen" und ein „Marxistisches Forum" -, in ihrer Bündnispolitik keine Berührungsängste gegenüber leninistisch gebliebenen KPen des Auslandes zeigt und in der Ex-DDR mit all jenen Kräften zusammenarbeitet, die wie die PDS selbst „Ostalgie" verbreiten und das „kapitalistische System" der „BRD" außerparlamentarisch unter Druck setzen wollen. 49 Gerner nimmt den 44
Manfred Gerner, Widerspruch und Stagnation in der PDS. Zur Politikfähigkeit der SEDNachfolgepartei, in: Zeitschrift für Politik 45 (1998), S. 159-181, hier S. 178. 45 Vgl. Rudolf van Hüllen, „Geschichtsarbeit" unter Postkommunisten, in: Uwe Backes/Eckhard Jesse (Hrsg.), Jahrbuch Extremismus & Demokratie, Bd. 7, Baden-Baden 1995, S. 27-41; Armin Pfahl-Traughber, Vergangenheitsbewältigung ä la PDS, in: perspektiven ds 13 (1996), S. 162-167. 46 Bericht der Unabhängigen Kommission zur Überprüfung des Vermögens der Parteien und Massenorganisationen der DDR vom 24. August 1998, Deutscher Bundestag, 13. Wahlperiode, Drucksache 13/11353, S. 67. 47 Heftige Kritik der demokratischen Parteien löste die Ankündigung der PDS aus, den ehemaligen DDR-Spion Rainer Rupp („Topas") in der Bundestagsfraktion unter Vertrag zu nehmen. Vgl. „Heftige Kritik an PDS wegen 'Topas'", in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 31. Dez. 1998, S. 6. 48 Vgl. Stefan Berg, Vorwärts und vergessen, in: Der Spiegel vom 9. Nov. 1998; Alexander Wendt, Schluß mit dem Wühlen, in: Focus vom 30. Nov. 1998. 49 Vgl. die detaillierte Analyse von Moreau u.a. (FN 42); ders., Die Partei des Demokratischen Sozialismus; Hermann Gleumes/ders., Internationale Kooperationsansätze postkommunistischer Parteien, beide in: Ders./Marc Lazar/Gerhard Hirscher (Hrsg.), Der Kommunismus in Westeuropa. Niedergang oder Mutation?, Landsberg am Lech 1998, S. 242-332, 621-654.
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„reformistischen" Anspruch der PDS-Führung für bare Münze und charakterisiert sie als unglückliche Gefangene einer alternden Parteibasis, die zu 90 Prozent bereits das SED-Parteibuch besaß, zur Verklärung der DDR-Vergangenheit neigt und gar nicht in der Lage ist, das westliche System innerlich anzunehmen. Zu einem ähnlichen Ergebnis gelangt Christian von Ditfurth in seiner autobiographischen „Reise durch die PDS". 50 Das ehemalige DKP-Mitglied gehört zu den Unterzeichnern der „Erfurter Erklärung" vom Januar 1997, in der vor dem Schweriner Parteitag der PDS für ein breites Bündnis „für soziale Demokratie" zwischen Bündnisgrünen, SPD und PDS geworben wurde. 51 Er beschrieb seine Besuche bei der Parteibasis als einen wahrhaftigen Horrortrip auf der stalinistischen Geisterbahn, lobte aber die reformistische Orientierung der Parteiführung und bezeichnete es als Aufgabe der linken Demokraten, diese auf ihrem steinigen Weg zu unterstützen. Zunächst bleibt festzuhalten: Gerners und Ditfurths wohlwollende Analysen enthalten gewichtige Fakten und Argumente, die den Linksextremismus in der PDS belegen. Dessen beträchtlichen innerparteilichen Einfluß führen sie darauf zurück, daß sich seine Verfechter auf das Gros der Parteibasis von ca. 95.000 Mitgliedern (1998) stützen können. Intime Parteikenner wie die Politikwissenschaftler Patrick Moreau und Jürgen Lang versehen demgegenüber auch den „reformistischen" Anspruch der PDS-Führung um Gysi, Bisky, Brie und Bartsch mit dicken Fragezeichen. Sie enttarnen die PDS-Programmatik als Bestandteil einer mit populistischen und gramscistischen Elementen angereicherten Camouflage, die das leninistische Machteroberungskonzept durch die Strategie einer schleichenden Monopolisierung des kulturellen und politischen Raumes ersetze.52 Das im Vergleich zu Vertretern der Rechtsaußenparteien sympathische Erscheinungsbild der PDS-Führung mit ihrem begnadeten Medien-Kommunikator Gregor Gysi an der Spitze scheint manche zur Unterschätzung der von der ehemaligen SED ausgehenden Gefahren zu verführen. Um das Vertrauen in das „reformistische" Führungspersonal der PDS zu erschüttern, genügt ein Blick in die Kaderakten und MfS-Protokolle. Als Kostprobe mag ein Belobigungsbrief Erich Mielkes, verfaßt im Namen des Ministerrates der DDR und gerichtet an 50
Vgl. Christian von Ditfurth, Ostalgie oder linke Alternative. Meine Reise durch die PDS, Köln 1998. 51 Vgl. den Abdruck der Erklärung bei: Daniela Dahn u.a. (Hrsg.), Eigentum verpflichtet. Die Erfurter Erklärung, Heilbronn 1997, S. 173-177 und die Analyse von: Hermann Gleumes, Die Erfurter Erklärung - Ein Bündnisprojekt der PDS, in: Patrick Moreau u.a., Verdeckte Verführung. Die „Erfurter Erklärung" und die Bündnispolitik der PDS im Wahljahr 1998, hrsg. von den Landesverbänden der CDU in den neuen Bundesländern, Erfurt 1998, S. 22-31. 52 Vgl. Patrick Moreau/Jürgen Lang, Linksextremismus. Eine unterschätzte Gefahr, Bonn 1996, S. 187-216.
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André Brie, den Cheftheoretiker und Vorzeigereformer der Partei, genügen: „In Anerkennung langjähriger Zusammenarbeit mit dem Ministerium für Staatssicherheit, der dabei bewiesenen hohen Einsatzbereitschaft und Zuverlässigkeit sowie der Verdienste bei der Lösung von operativen Maßnahmen, zeichne ich zum Anlaß des 37. Jahrestages der Bildung des MfS aus: Genosse Dr. Andreas Brie mit der Verdienstmedaille der N V A in Bronze. Gez. Mielke General." Der Brief stammt vom 8. Februar 1987. Danach will Brie mit dem MfS gebrochen haben. Dem widerspricht jedoch ein Aktenvermerk der Bezirksverwaltung für Staatssicherheit Potsdam, Abteilung I I vom 27. Juli 1989. Dort heißt es: „Die im Zusammenhang mit dem I M 'Peter Scholz' [Deckname Bries] aufgetretenen Probleme im Zusammenhang einer Vortragsreise nach Dresden wurden aufgeklärt und Übereinstimmung gefunden, daß im Prinzip das Auftreten des I M 'Peter Scholz' in Dresden identisch ist mit seinem gesamtpolitischen Verhalten. An seiner Zuverlässigkeit und Ehrlichkeit dem MfS gegenüber bestehen keine Zweifel." 53 So könnte man beliebig fortfahren, wenn es darum geht, das politische Vorleben der „reformistischen" PDS-Führung anhand der in der „GauckBehörde" lagernden Aktenbestände zu durchforsten. 54 Gehen diejenigen Publizisten und Wissenschaftler, die den reformistischen Anspruch der PDS-Führung ernstnehmen, einer politischen Mimikry auf den Leim, die vor 1989 im Westen so manche Intellektuelle in so naiver wie gefährlicher Gutgläubigkeit dazu brachte, die DKP und die Diktatur der SED zu verharmlosen? Das Magdeburger Modell mitsamt seiner Metastasen scheint politisches Wunschdenken mit Blick auf die PDS zu nähren. Die 1994 von Ministerpräsident Höppner in Magedeburg gebildete, von der PDS tolerierte Minderheitsregierung stellt einen eklatanten Bruch jener ungeschriebenen Regel dar, die die großen Parteien über die Jahrzehnte hinweg beachtet hatten: Demokratische Parteien müssen untereinander koalitionsfähig sein, sich aber einer Zusammenarbeit mit nicht systemloyalen Parteien enthalten. Die Regierungsbildung in Magedeburg 1994 brach mit dem antitotalitären Gründerkonsens der zweiten deutschen Demokratie. Der Bruch setzte sich 1998 unter erschwerten Bedingungen fort: Ministerpräsident Höppner brachte die Koalitionsverhandlungen mit der CDU zum Scheitern, indem er dem potentiellen Partner ein volksfrontähnliches „antifaschistisches" Kampfbündnis mit der PDS zur Bedingung machte, um so - angeblich - die erstmals in den Landtag eingezogene rechtsextreme DVU in die Schranken zu weisen. Der Publizist Klaus Harpprecht, ein
53
Zitiert nach ebd., S. 442. Äußerst aufschlußreiche Informationen über Gregor Gysis Rolle als DDR-Rechtsanwalt und „Verteidiger" von Dissidenten enthält folgende Untersuchung: Clemens Vollnhals, Der Fall Havemann. Ein Lehrstück politischer Justiz, Berlin 1998. Siehe auch: Manfred Wilke, Die Diktaturkader André Brie, Gregor Gysi, Lothar Bisky und das MfS, in: Politische Studien 49 (1998), H. 360, S. 39-69. 54
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journalistischer Wegbegleiter Willy Brandts, sprach zurecht vom „Sündenfall von Magedeburg". 55 Der an der Humboldt-Universität lehrende Historiker Heinrich August Winkler, als langjähriges SPD-Mitglied ein scharfer Kritiker jeglicher Zusammenarbeit mit der PDS, umriß die weiteren Gefahren wie folgt: „In der Logik der Entwicklung läge es, auf die Tolerierung durch die PDS die Koalition mit ihr folgen zu lassen. Und da aller guten Dinge drei sind, wird sich eines Tages die Frage stellen, ob es auf Dauer bei zwei Parteien bleiben muß, die sich zum demokratischen Sozialismus bekennen. Doch die Fusion steht einstweilen noch nicht auf der Tagesordnung." 56 Lange vor dem von Winkler erwähnten dritten Schritt würde die SPD auseinanderbrechen, zumal die innerparteiliche Opposition beträchtlich ist. Aber der zweite Schritt ist in Schwerin bereits getan. PDS-Landesvorsitzender Helmut Holter wertete die Anfang November 1998 gebildete Koalition mit der SPD als einen „historischen Tag in der Geschichte der Bundesrepublik" 57 und als einen Meilenstein zur dauerhaften Etablierung seiner Partei. Nicht nur die PDS, auch Teile der SPD scheinen zu weiteren Schritten bereit. Der neue Bundesgeschäftsführer Schreiner sagte ganz im Sinne früherer Äußerungen seines Vorgängers Müntefering: „Man sollte mit der PDS umgehen wie mit einer ganz normalen Partei." 58 Die PDS ist ein ostdeutsches Phänomen, im Westen hat die Partei trotz vieler Anläufe nicht Fuß fassen können. Die Zahl ihrer Mitglieder liegt dort bei ca. 2.500 (1998). Im wesentlichen handelt es sich um ehemalige DKP-Aktivisten und K-Gruppen-Sektierer, die sich von den ostdeutschen Landesverbänden durch ihren größeren ideologischen Doktrinarismus unterscheiden. Doch könnte sich diese Situation schon bald ändern. Die Regierungsbeteiligung in Schwerin hat zur Salonfähigkeit der Partei beigetragen. Sie verfügt damit über eine Vertretung im Bundesrat. Die Überwindung der Fünfprozenthürde bei der Bundestagswahl vom September 1998 (5,1 Prozent, 36 Mandate) verlieh der Partei Rückenwind, mit dessen Hilfe sie ihre Position in den bisherigen Diasporagebieten festigen könnte. Der Wahlerfolg bescherte ihr beträchtliche materielle Mittel. 59 Der Fraktionsstatus der PDS im Deutschen Bundestag ist mit monatlichen Mittelzuweisungen in Höhe von nahezu einer Mio. D M verbunden. Die Partei stellt nun einen Parlamentsvizepräsidenten, ist Vollmitglied im Ältestenrat, verfügt über Ausschußvorsitzende und ist in allen Untersuchungsausschüs55 Klaus Harpprecht, Der Sündenfall von Magdeburg. Die SPD kann und darf die Vorgeschichte der PDS nicht vergessen. Warum versucht sie es?, in: Die Zeit vom 2. Juli 1998. 56 Heinrich August Winkler, Sonderweg nach Weimar. Der neue Kurs der SPD, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 16. Mai 1998. 37 „Das Spiel mit der 'deutschen Normalität'", in: Neue Zürcher Zeitung vom 4. Nov. 1998. 58 Zitiert nach: Günter Bannas, „... wie mit einer ganz normalen Partei". In wenigen Jahren hat sich die Einstellung der SPD-Führung zur PDS verwandelt, in: FAZ vom 5. Nov. 1998. 39 Vgl. „Mehr Posten, Prestige und Privilegien", in: Bonner Behörden Spiegel, November 1998.
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sen, Enquetekommissionen, im Vermittlungsausschuß und im Ausschuß für die Kontrolle der Geheimdienste vertreten. Hinzu kommen Ämter in der Parlamentarischen Versammlung des Europarates, im Kontrollausschuß beim Bundesausgleichsamt und im Kuratorium der Bundeszentrale für politische Bildung. Mit vermutlich ca. 17 Mio. D M wird die PDS-nahe Stiftung „Gesellschaftsanalyse und politische Bildung e.V." ab dem Frühsommer 1999 gefördert werden. Sie kann dann ihre ideologischen und bündnispolitischen Bemühungen erheblich steigern. Neben denen der PDS nehmen sich die Ergebnisse nationalistischer und rechtspopulistischer Parteien bescheiden aus. Immerhin sind die REP seit 1992 im Landtag von Baden-Württemberg vertreten, 1996 gelang der Partei mit 9,1 Prozent der Stimmen der abermalige Einzug in das Landesparlament (1992: 10,9 Prozent). Die D V U war in Bremen und Schleswig-Holstein bis 1995 bzw. 1996 eine Legislaturperiode lang in Fraktionsstärke vertreten, konnte sich aber auch aufgrund der Finanzskandale, der Querelen und Unfähigkeit ihrer Abgeordneten 60 - nicht etablieren. Dafür fehlen ihr die organisatorischen Voraussetzungen, handelt es sich doch um eine „Phantompartei", deren ca. 15.000 Mitglieder (Ende 1997)61 sich ganz überwiegend aus den Lesern der Frey-Presse zusammensetzen dürften. Selbst an ihren elektoralen Schwerpunkten entwickelt die DVU kein nennenswertes Parteileben. So hielt sie in Bremen weder 1987 noch 1991 öffentliche Wahlveranstaltungen ab und verfügte nicht einmal über ein Partei- oder Fraktionsbüro. 62 Die Münchener Parteizentrale steuerte alle wesentlichen Aktivitäten. Mit Postwurfsendungen und Wahlwerbung in den Wochenzeitungen erreichte sie ihre Klientel. Folgende Kuriosität verrät viel über ihre organisatorische Situation: Die Partei suchte vor der Landtagswahl in Schleswig-Holstein vom April 1992 per Inserat in der „Deutschen NationalZeitung" nach Kandidaten.63 Bei der Bundestagswahl vom September 1998 mußte man ganz auf die Aufstellung von Wahlkreiskandidaten verzichten. Der DVU-Landesverband von Sachsen-Anhalt umfaßte am Vorabend des Wahlerfolges vom April 1998 über kaum mehr als 30 (!) organisierte Anhänger; man-
60
Vgl. Jürgen Hoffmann/Norbert Lepszy, Die DVU in den Landesparlamenten: inkompetent, zerstritten, politikunfähig. Eine Bilanz rechtsextremer Politik nach zehn Jahren, in: Interne Studien Nr. 163, hrsg. von der Konrad-Adenauer-Stiftung/Bereich Forschung und Beratung, Sankt Augustin 1998. 61
Vgl. Bundesminister des Innern, Verfassungsschutzbericht 1997, Bonn 1998, S. 103. Vgl. Lothar Probst, Politische Mythen und symbolische Verständigung. Eine Lokalstudie über die rechtspopulistische DVU in Bremen, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 26 (1995), S. 512. 62
63
Vgl. Hoflmann/Lepszy (FN 60), S. 29.
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gels Wahlkreiskandidaten warb man lediglich mit einer landesweiten Liste um Zweitstimmen.64 Obwohl der Parteiapparat der REP leistungsfähiger ist als der der DVU, sind auch sie weit von einer bundesweiten Verankerung entfernt geblieben. Ihre mit Abstand stärksten Verbände befinden sich in den beiden Südstaaten Bayern und Baden-Württemberg, wo sie über etwa 40 Prozent ihrer ca. 15.500 Mitglieder (Ende 1997) verfügt. 65 In der ehemaligen DDR liegt die organisatorische Diaspora der Partei. Dort gelang es bei der Bundestagswahl vom September 1998 vielfach nicht, geeignete Direktkandidaten zu finden (bundesweit präsentierten die REP in ca. 90 Prozent der Wahlkreise Kandidaten). Selbst im Stammland Bayern (Ende 1997: 4.300 Mitglieder) konnte die Partei bei den Kommunalwahlen vom März 1996 nur in 60 Prozent der Landkreise und kreisfreien Städte Kandidaten aufstellen. Lediglich in drei Landkreisen sowie den kreisfreien Städten Rosenheim und Schweinfurt wurden mehr als fünf Prozent der Stimmen erreicht. Landesweit sank der Stimmenanteil von 5,3 (1990) auf 1,8 Prozent. 66 Abgesehen von Sachsen-Anhalt blieben bislang weitere Erfolge auch deswegen aus, weil das „nationale Lager" rechts von der Union zwar an in der Bevölkerung verbreitete Stereotypen und Ressentiments anknüpfen kann 67 , aber gesellschaftlich stigmatisiert ist, im Gegensatz zur PDS überwiegend negative Resonanz in den Medien erzeugt 68 und seine chronische Zerstrittenheit nicht überwinden kann. Ein Schulbeispiel wechselseitiger Neutralisierung boten die Bürgerschaftswahlen in Hamburg vom September 1997. Die D V U erzielte 4,9 Prozent der Stimmen, die REP erreichten 1,8 Prozent. Stimmengewinne der DVU korrespondierten „in vielen Stadtteilen mit Stimmenverlusten der REPU-
64
Vgl. Ministerium des Innern des Landes Sachsen-Anhalt, Verfassungsschutzbericht 1997, Magdeburg 1998, S. 40. Die durch das Zweistimmenverfahren ermöglichte Listenkandidatur ohne Präsentation von Wahlkreiskandidaten nimmt zum Anlaß für einen Wahlreformvorschlag: Dietrich Thränhardt, Die DVU: eine virtuelle Partei, durch manipuliertes Wahlrecht begünstigt - ein Plädoyer zur Wahlrechtsreform, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 29 (1998), S. 441-448. 65 Vgl. die Angaben in den Berichten der Ämter für Verfassungsschutz des Bundes und der Länder; Eckhard Fascher, Die politischen Erfolgsaussichten der „Republikaner" in Deutschland, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 28 (1997), S. 21-29. 66 Vgl. Kommunalwahlen in Bayern am 10. März 1996, Heft 506 der Beiträge zur Statistik Bayerns, hrsg. vom Bayerischen Landesamt für Statistik und Datenverarbeitung, München 1996, S. 1-20. 67 Vgl. Falter (FN 40), S. 149 f.; Ursula Hoffinann-Lange, Das rechte Einstellungspotential in der deutschen Jugend; Werner Bergmann/Rainer Erb, Rechtsextremismus und Antisemitismus, beide in: Jürgen W. Falter/Hans-Gerd Jaschke/Jürgen R. Winkler (Hrsg.), Rechtsextremismus. Ergebnisse und Perspektiven der Forschung, Opladen 1996, S. 121-137, 330-343. 68 Vgl. Harald Bergsdorf, Rechtsextreme Parteien in Deutschland und Frankreich: durch das Fernsehen bekämpft oder befördert?, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 29 (1998), S. 449-459.
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BLIKANER". 6 9 Die wechselnden Parteiführungen der REP sahen sich einem strategischen Dilemma gegenüber, das die Partei mehrfach vor die Zerreißprobe stellte: Paktierte man mit den originären Parteien des rechtsextremen Lagers (NPD, DVU), konnte man sich nicht glaubwürdig als „verfassungstreue Rechte" darstellen. Unterband man indes jegliche Kooperation, blieb eine Sammlung der „nationalen Kräfte" unmöglich. Der damalige Parteivorsitzende Schönhuber leitete 1994 mit einem überraschenden Bündnisangebot an Frey seine innerparteiliche Entmachtung ein. Nach einer Serie von Niederlagen ist ihm sein Nachfolger Rolf Schlierer im November 1998 gefolgt und hat sich mit Frey darauf verständigt, künftig eine „von Fall zu Fall unnötige Konkurrenz bei Wahlen" 70 zu vermeiden. Doch weder Frey noch Schlierer verfügen über jene charismatische Ausstrahlung, die erforderlich sein dürfte, um das „nationale Lager" zu einen. 5. Zusammenfassung Was aus der Perspektive von 1949 alles andere als eine Selbstverständlichkeit war, ist eingetreten: Der zweite Versuch der Etablierung des demokratischen Verfassungsstaates hat sich im westlichen Deutschland als erfolgreich erwiesen. Zu keinem Zeitpunkt war der Bestand des politischen Systems ernsthaft gefährdet. Auch die unverhoffte Überwindung der Spaltung Deutschlands und die schwierige Integration der aus der Konkursmasse der SED-Diktatur hervorgegangenen östlichen Länder, hat bisher keine existenzgefährdenden Stabilitätsprobleme hervorgerufen. Allerdings sind die Herausforderungen durch den parteipolitisch organisierten Extremismus deutlich gewachsen. Die umbenannte SED konnte sich, obwohl nur oberflächlich gewandelt, im östlichen Landesteil etablieren. Eine der großen demokratischen Parteien, die SPD, hat den antitotalitären Gründungskonsens der zweiten deutschen Demokratie gebrochen und die Erben der SED durch Zusammenarbeit auf Regierungsebene salonfähig gemacht. Eine Stärkung der gesellschaftlich isolierten, im großen und ganzen bislang nicht sehr erfolgreichen nationalistischen Parteien vom Schlage der DVU und REP könnte die unbeabsichtigte Folge sein. Die Wahrscheinlichkeit, daß von Magdeburg ein neuer „Sonderweg nach Weimar" 71 führt, erscheint dennoch gering. Die internationale Einbindung Deutschlands, seine erprobten politischen Institutionen, die gewachsene Bürgerkultur, das hohe Wohlstandsniveau, das noch immer sehr dicht geknüpfte soziale Netz und 69
Statistisches Landesamt der Freien und Hansestadt Hamburg (Hrsg.), Hamburg in Zahlen, Jg. 51, H. 9-10, Hamburg 1997, S. 273. 70 Dieter Stein, Interview: Rolf Schlierer rechtfertigt Gespräch mit DVU-Chef Frey, in: Junge Freiheit vom 27. Nov. 1998. 71 So Winkler (FN 56).
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das Instrumentarium der streitbaren Demokratie stellen den zentrifugalen Tendenzen große Integrationskraft entgegen. Sofern es gelingt, die innere Einheit zu vollenden - die PDS hebt neue Gräben aus, statt vorhandene zuzuschütten -, den antitotalitären Konsens zu erneuern, dürften auch aus einem möglichen Wiedererstarken nationalistischer Bewegungen so schnell keine akuten Gefahren für den Bestand des demokratischen Verfassungsstaates erwachsen.
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Auswahlbibliographie
Schwarz, Hans-Peter: Eine andere Republik?, in: Lothar Bossle (Hrsg.): Deutschland als Kulturstaat. Festschrift für Hans Filbinger zum 80. Geburtstag, Paderborn 1993, S. 199-207. Schwarz, Hans-Peter: Der Ort der Bundesrepublik in der deutschen Geschichte, Opladen 1996. Schweisfurth, Theodor: Fahrplan für ein neues Deutschland, Erlangen u. a. 1990. Sebaldt, Martin: Die Thematisierungsfunktion der Opposition. Die parlamentarische Minderheit des Deutschen Bundestags als innovative Kraft im politischen System der Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt a.M. u.a. 1992. Simon, Helmut: Verfassungsgerichtsbarkeit, in: Ernst Benda/Werner Maihofer/Hans-Jochen Vogel (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 2. Aufl., Berlin/New York 1994, S. 1637-1677. Sontheimer, Kurt: So war Deutschland nie. Anmerkungen zur politischen Kultur der Bundesrepublik, München 1999. Sontheimer, Kurt/Bleek, Wilhelm: Grundzüge des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland, Neuausgabe, München/Zürich 1997. Stammen, Theo u.a.: Grundwissen Politik, 3. Aufl., Bonn 1997. Stolz, Rolf: Der deutsche Komplex. Alternativen zur Selbstverleugnung, Erlangen u. a. 1990. Stöss, Richard (Hrsg.): Parteien-Handbuch. Die Parteien der Bundesrepublik Deutschland 1945 - 1980, 2 Bde., Opladen 1983/1984. Stöss, Richard: Rechtsextremismus und Wahlen in der Bundesrepublik, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, B 11/93, S. 50-61. Sturm, Roland: Multi-level Politics of Regional Development in Germany, in: European Planning Studies 6 (1998), S. 525-536. Stüwe, Klaus: Der „Gang nach Karlsruhe". Die Opposition im Bundestag als Antragstellerin vor dem Bundesverfassungsgericht, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 28 (1997), S. 545-557. Trautmann, Günter (Hrsg.): Die häßlichen Deutschen? Deutschland im Spiegel der westlichen und östlichen Nachbarn, Darmstadt 1991. Veen, Hans-Joachim/Gluchowski, Peter: Die Anhängerschaft der Parteien vor und nach der Einheit. Eine Langfristbetrachtung von 1953 bis 1993, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 25 (1994), S. 165-186.
Auswahlbibliographie Venohr, Wolfgang (Hrsg.): Die deutsche Einheit kommt bestimmt, BergischGladbach 1982. Venohr, Wolfgang (Hrsg.): Ein Deutschland wird es sein, Erlangen u. a. 1990. Weidenfeld, Werner: Zeiten Wechsel. Von Kohl zu Schröder. Die Lage, Stuttgart 1999. Weidenfeld, Werner/Korte, Karl-Rudolf (Hrsg.): Handbuch zur deutschen Einheit. 1949 - 1989 - 1999, Neuausgabe, Frankfurt a.M/New York 1999. Weidenfeld, Werner/Zimmermann, Hartmut (Hrsg.): Deutschland-Handbuch. Eine doppelte Bilanz 1949 - 1989, Bonn 1989. Westphalen, Raban Graf von (Hrsg.): Parlamentslehre. Das parlamentarische Regierungssystem im technischen Zeitalter, München/Wien 1993. Wieland, Joachim: Das Bundesverfassungsgericht am Scheideweg, in: Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft 81 (1998), S. 171-192. Zitelmann, Rainer: Adenauers Gegner. Streiter für die Einheit, Erlangen u. a. 1991. Zitelmann, Rainer: Wohin treibt unsere Republik?, Frankfurt a.M. 1994. Zitelmann, Rainer/Weißmann, Karlheinz/Großheim Michael (Hrsg.): Westbindung. Chancen und Risiken für Deutschland, Frankfurt a.M./Berlin 1993.
VERFASSER UND HERAUSGEBER Dr. Ralf Altenhof Technische Universität Chemnitz Fach Politikwissenschaft 09107 Chemnitz Priv.-Doz. Dr. Uwe Backes Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung Mommsenstraße 13 01062 Dresden Dr. Alexander Gallus Technische Universität Chemnitz Fach Politikwissenschaft 09107 Chemnitz Dr. Ludger Helms Humboldt-Universität zu Berlin Philosophische Fakultät I I I Institut für Politikwissenschaft 10099 Berlin Prof. Dr. Everhard Holtmann Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg Institut für Politikwissenschaft 06099 Halle Prof. Dr. Eckhard Jesse Technische Universität Chemnitz Fach Politikwissenschaft 09107 Chemnitz
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Verfasser und Herausgeber
Priv.-Doz. Dr. Karl-Rudolf Körte Universität Köln Fach Politikwissenschaft (Lehrstuhlvertreter) Gottfried-Keller-Str. 6 50931 Köln Prof. Dr. Konrad Löw Universität Bayreuth Fach Politikwissenschaft Geschwister-Scholl-Platz 3 95440 Bayreuth Prof. Dr. Roland Sturm Universität Erlangen-Nürnberg Fach Politikwissenschaft Kochstraße 4 91054 Erlangen