1929 – Feststellungen zu Architektur und Städtebau: Mit einem amerikanischen Prolog und einem brasilianischen Zusatz, gefolgt von "Pariser Klima" und "Moskauer Atmosphäre" 9783035602142, 9783764363574


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German Pages [268] Year 2000

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Table of contents :
INHALT
Vorwort 1960
Amerikanischer Prolog
Sich von jedem akademischen Geist frei machen
Die Technik als Grundlage des Lyrismus eröffnet eine neue Epoche der Architektur
Architektur überall - Städtebau überall
Eine Zelle im menschlichen Maßstab
Das Abenteuer der Wohnungseinrichtung
Der Plan des modernen Hauses
Ein Mensch = eine Zelle; Zellen = die Stadt
Ein Haus ein Palast
Der »Plan Voisin« von Paris
Die «Weltstadt» und Betrachtungen, die möglicherweise unbequem sind
Brasilianischer Zusatz
Anhang
Pariser Klima
Moskauer Atmosphäre
»SELBSTGESPRÄCH«
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1929 – Feststellungen zu Architektur und Städtebau: Mit einem amerikanischen Prolog und einem brasilianischen Zusatz, gefolgt von "Pariser Klima" und "Moskauer Atmosphäre"
 9783035602142, 9783764363574

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Bauwelt Fundamente 12

Herausgegeben von Ulrich Conrads und Peter Neitzke Beirat: Gerd Albers Hildegard Barz-Malfatti Elisabeth Blum Eduard Führ Thomas Sieverts Jörn Walter

Le Corbusier 1929 Feststellungen zu Architektur und Städtebau Mit einem amerikanischen Prolog und einem brasilianischen Zusatz gefolgt von »Pariser Klima« und »Moskauer Atmosphäre«

Bauverlag Gütersloh

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Berlin

Birkhäuser Basel

Bibliographische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliogra­ phie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbeson­ dere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf ande­ ren Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur aus­ zugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergü­ tungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechts.

Originalausgabe 1964 2. Auflage 1987 1., unveränderter Nachdruck2001 2., unveränderter Nachdruck2013 Der Vertrieb über den Buchhandel erfolgt ausschlielllich über den Birkhäuser Verlag.

©2001 Birkhäuser Verlag GmbH Ein Unternehmen von De Gruyter Postfach 44, CH-4009 Basel, Schweiz und Bauverlag BV GmbH, Gütersloh, Berlin

bau 11 11 verlag

©2001 Fondarion Le Corbusier, Paris Gedruckt auf säurefreiem Papier, hergestellt aus chlorfrei gebleichtem Zellstoff. TCF

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Printed in Germany ISBN: 978-3-7643-6357-4 9 8 7 6 5 4 32

www.birkhauser.com

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Vorwort 1960 Amerikanischer Prolog Sich von j edem akademischen Geist frei machen Die Technik als Grundlage des Lyrismus eröffnet eine neue Epoche der Architektur Architektur überall - Städtebau überall Eine Zelle im menschlichen Maßstab Das Abenteuer der Wohnungseinrichtung Der Plan des modemen Hauses Ein Mensch eine Zelle ; Zellen die Stadt Ein Haus - ein Palast Der » Plan Voisin « von Paris Die >>Weltstadt « - und Betrachtungen, die möglicherweise unbequem sind Brasilianischer Zusatz

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An h a n g Pariser Klima Moskauer Atmosphäre

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VORWORT Zur (französischen) Neuauflage 1g6o

Während einer Reihe von Jahren habe ich in der ganzen Welt Vorträge gehalten. Ich habe erfahren, wie unterschiedlich das Klima ist, wie verschieden die Rassen, wie verschieden die Kulturen - und wie verrückt verschieden voneinander die Menschen überall sind. Bedenken Sie für einen Augenblick folgendes: Die Männer wie auch die Frauen haben einen Kopf, zwei Augen, eine Nase, einen Mund, zwei Ohren usw. Zu Milliarden sind sie über die Erde verstreut -, und wenn zwei Männer oder zwei Frauen einander ganz und gar gleichen, so ist das so erstaunlich, daß man sie im Zirkus zur Schau stellt! Unser Problem ist dieses: Die Menschen bewohnen die Erde. Warum? Weshalb? Darauf werden andere antworten.Meine Aufgabe und das Ziel meines Forschens ist es zu versuchen, dem Menschen von heute aus dem Unglück und aus der Katastrophe

herauszuhelfen,

ihm Glück, tägliche Freude und Harmonie zu

schenken.Ganz besonders wird es sich darum drehen, daß die Harmonie zwischen dem Menschen und seiner Umwelt hergestellt bzw. wiederhergestellt wird -, zwischen einem biologischen Wesen (dem Menschen) und der Natur (der Um­ welt), diesem ungeheuren Gefäß, in dem alles enthalten ist: die Sonne, der Mond, die Sterne, das unbegreifliche Unbekannte, die Wellen, die runde Erde mit ihrer die Jahreszeiten bewirkenden geneigten Achse, Körpertemperatur, Blut­ kreislauf, Nervensystem, Atmungssystem, Verdauungssystem, Tag und Nacht, der Sonnentag von 24 Stunden mit seiner unaufhaltsamen, aber kaum wahr­ nehmbaren Veränderung usw. Eine Maschinenzivilisation hat sich tückisch und heimlich vor unserer Nase breit­ gemacht, ohne daß wir sie ganz verstehen können. Sie hat uns überwältigt und hält uns fest in einer Lage, über die sich heute streiten läßt. Es treten Symptome auf, die auf Gesundheitsstörungen, auf wirtschaftliche, soziale, religiöse Um­ wandlungen hindeuten. Eine Maschinenzivilisation hat begonnen. Die einen merken nichts von ihr, und die anderen unterwerfen sich ihr. Aber wo ist der Schnee vom vorigen Jahr? Was kümmert uns Rom bei diesem Abenteuer? Was bedeuten uns die sieben Regeln der Architektur? Was bedeuten uns die Titel, die Diplome, all die vielen »Marksteine«, die unseren Berufsweg kennzeichnen? Gold und Silber kommen bei unserem Tun in Umlauf, verdoppelt durch Ehr­ sucht, Stolz und Selbstgefälligkeit ... Die Erde ist rund und begrenzt. Das Atomzeitalter bringt die Strategie in Ver­ wirrung. Die Flugzeuge transportieren (genau das!) die Menschen seit zwanzig Jahren. Die Aktenmappe in der Hand, steigt man ins Flugzeug; in zehn,

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zwanzig Stunden wird man bei den Antipoden sein. Man wird bei der Ankunft den Herrn treffen, der auf dem laufenden ist, der zu diskutieren weiß, der Voll­ macht zu gültigen Verhandlungen hat. Immer wird der kriegerische Geist Hand in Hand gehen mit dem Geist des Wettbewerbs und des Sieges, wobei die Wahl bleibt zwischen dem Atomkrieg und dem Kampf auf der Ebene der Idee, der Technik, des Handels. Aber heute stellt sich uns dieses Problem: Die Erde wird vom Menschen schlecht bewohnt, und zum großen Teil wird sie sogar überhaupt nicht bewohnt. Un­ geheuer sind auf ihr erschienen: die Tentakelstädte, die Krebsgeschwüre unserer Ansiedlungen. Wer beschäftigt sich damit, wer beunruhigt sich darüber, wer kann hier klarsehen? Es gibt noch keine anwendbare Methode; es gibt noch keine genügend ausgebildeten Spezialisten. Die modernen Probleme sind so ge­ häuft, so eins vom anderen abhängig, so ineinandergreifend und solidarisch, daß es unmöglich ist, sie zu erfassen und zu bearbeiten : die Lösungen hängen eine von der anderen ab, sind miteinander verknüpft, nicht voneinander zu trennen . . . Aber die Elektrizität hat man gezähmt: der Mensch hat sich ihrer bemächtigt. 8

Also schon Mirakel und Wunder. Die Elektronik ist geboren - und damit die Möglichkeit, Roboter mit dem Prüfen und Anlegen von Akten, mit der Vor­ bereitung von Besprechungen, dem Varschlagen von Lösungen zu betrauen. Die Elektronik hat ihren Beitrag zum Kino, zur Tonaufnahme, zur Television, zum Radio usw. geleistet. Und mit Hilfe der Elektronik wird ein neues Gehirn in Aktion gesetzt werden, dessen Kapazität unvergleichlich ist und das es den­ jenigen, die eine Verantwortung tragen, ermöglichen wird, sich mit den Einzel­ heiten von Problemen vertraut zu machen, Lösungen anzubieten, unermüdlich Demonstrationen, Aufrufe, Vorschläge und Lösungen zu wiederholen - heute, morgen, in einem Monat, einem Jahr, innerhalb der Grenzen oder über die Grenzen hinaus. Und das in einer Zeit, die schon wieder greifbar geworden ist1• Die südamerikanischen Vorträge, die 1929 vor einem immer wieder neuen ZuDas >>Elektronen-Gedicht>gepackt>Platz da, bitte ! «

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» . . . Was den Einfluß von Le Corbusier angeht, so ist dieser ganz offensichtlich fundamental. Zu etwas Besonderem wird er in Frankreich dadurch, daß er sich weit mehr in Theorien und in der Städteplanung auswirkt als auf dem rein plastischen Gebiet der Architektur. Aber es scheint, als neige man heute dazu, von dem etwas barocken Charakter der JiVerke Le Corbusiers Abstand zu ge­ winnen, um zu ausgeglicheneren Realisationen zurückzukehren. Hierin erscheint mir diese Tendenz vernünftig: Wenn es auch gut ist, die Ansichten dieses großen Theoretikers zu verfolgen, so ist es doch zweifellos gefährlich, eine von einer so starken und - wenn ich das sagen darf - eigenwilligen Persönlichkeit geprägte Architektur zu imitieren . . . « Das ist Herr Zehrfuß, der hier seine Architekten­ kollegen warnt. Eine solche »Information « kostet nur die Mühe, sie zu Papier zu bringen! Eine Zeichnung, die den »Konstrukteuren « gewidmet ist, beschließt diese Ein­ führung: Ein neuer Abschnitt, der künftig einen ständigen, brüderlichen, gleich­ mäßigen Kontakt zwischen den beiden Berufen herbeiführen wird, deren Be­ stimmung es ist, die Maschinenzivilisation auszustatten und sie zu einer ganz neuen Herrlichkeit zu führen. Diese beiden Berufe sind der des Ingenieurs und der des A rchitekten. Die eine Gruppe befand sich in Bewegung; die andere schlief. Sie waren Rivalen. Die Aufgaben der » Konstrukteure> Rio de Janeiro « inszeniert. Mein Kopf ist noch voll von Amerika, und bis heute morgen (gestem habe ich mich eingeschifft) gab es kein Stückehen Europa in dieser ge­ waltigen Masse amerikanischer Sensationen und Schauspiele, die - wie von meinem Reiseplan und dem Crescendo der Jahreszeiten (erst der argentinische Frühling und dann der tropische Sommer von Rio) vorgeschrieben - einander folgten, sich auf- und übereinander zu einer Pyramide türmten, deren Spitze Rio bildete - diese Spitze noch wie überstrahlt von einem Feuerwerk . Argen­ tinien ist grün und fl ach, und sein Schicksal ist ungestüm. Säo Paulo erhebt sich in 8oo m Höhe auf einem hügligen Plateau, dessen Erde rot ist wie Kohlengut, und Stadt und Landschaft scheinen sich noch der unumschränkten Macht der Kaffeeplantagenbesitzer zu fügen, die ehemals über Sklaven herrschten und heute als Gouvemeure hart und wenig aktiv sind. Und Rio ist rot und rosa wie seine Erde, grün wie seine Pflanzenwelt, blau wie sein Meer ; leicht schaum­ bedeckt kräuseln sich die Wellen in den Strandbädem, deren immer mehr werden ; überall erheben sich Inseln und stoßen durch das Wasser, Steilhänge fallen zum Wasser hin ab, ansehnliche Hügel und hohe Berge ; Meeressand findet sich am Rand der Häuser und der Paläste ; das Herz ist erfüllt von un­ beschreiblichem Licht. Schön ist meine Pyramide aus den Trophäen Amerikas, gewaltig und erregend ! 15

...Wenn ich in zwölf Tagen zu Hause ankomme, dann wird die Place de la Madeleine auftauchen mit ihren Weihnachtsbäumen, ihrem von Regen über­ schwemmten Pflaster, über dem die Sonne um 10 Uhr auf- und um 4 Uhr unter­ geht : winterliche Dunkelheit, Landschaft des Purgatoriums. Und alles das, was für Paris charakteristisch ist : Schmutz, Ruß, baufällige Häuser. Aber auch dieser seltsame Niederschlag aller Elemente des Universums, der aus Paris die Lichter­ stadt macht. Wir wollen das für die geistige Ebene zugestehen, aber auf Reisen zeigt sich, daß andemorts das Licht ... Diese geistigen Werte von Paris haben mir geholfen, in Buenos Aires, Monte­ video, Sao Paulo und Rio das zu sagen, was ich zu sagen hatte »im Namen von . . . «. Die Reise wird zu einer Mission. Man überfällt mich mit Öffentlich­ keit - dann und wann (denn Gott weiß, daß ich mich zurückziehe wie eine Schnecke, sobald die gewaltige » Empfehlungsmaschinerie « der » Freunde unserer Freunde « in Tätigkeit tritt). In Buenos Aires bin ich Gast der » Kunstfreunde « und der Fakultät der Exakten Wissenschaften. Doch dann und wann kommen Autos, um mich mitzunehmen - Joumalisten, Blitzlicht -, und im Namen irgendeines Komitees besichtige ich alle möglichen Dinge, dann höre ich mir Vorträge an, denen ein Essen vorausgeht. Ich habe mich lange mit Herm Luis C antilo, dem Verwaltungschef von Buenos Aires, unterhalten, und zwar in einem Augenblick, in dem mich diese gigantische und grausamste Stadt, die man sich vorstellen kann, hinreichend zermalmt und zerdrückt hatte, um mich (in aller Bescheidenheit) vor ihrer Begrüßung zurückbeben zu lassen. An dieser Stelle des Rio de la Plata ist eine der wichtigsten Stationen der Welt im Ent­ stehen. In Brasilien werde ich bei der Gewerbekammer Sao Paulo empfangen, und der großherzige Redner, der seine Worte an mich richtet, verbreitet sich lange (und ich bin ganz gerührt) über den Eindruck, den hier seit 1920 » L'Esprit Nouveau «, unsere Zeitschrift über die zeitgenössische Aktivität, gemacht hat. Der zukünftige Präsident von Brasilien, Julio Prestes, kennt sich genau in der Chronologie unserer Bestrebungen aus ; am Vorabend seiner Machtergreifung beschäftigt er sich mit Plänen für die umfangreichen städtebaulichen Arbeiten, die man in Angriff nehmen muß ; er will versuchen, die neue Epoche, die er vorausahnt, mit Hilfe der Architektur zu manifestieren. In j eder der großen südamerikanischen Städte huldigen begeisterte Gruppen der neuen Idee. Überall gärt es. In Buenos Aires hatte mich die Südamerikanische Fluggesellschaft ein­ geladen, am Eröffnungsflug ihres neuen Zehnpersonenflugzeugs nach Asunci6n in Paraguay teilzunehmen. Der unentwegt lächelnde Kapitän Airnonacid (wie arabisch das klingt !), der übrigens von den lndianem des Nordens abstammt und mit den Guiraldes, einer Familie des » C arnpo «, verwandt ist, aus der der Dichter Ricardo Guiraldes hervorging (sein Hauptwerk : Dom Segunda Sombra), leitet die Gesellschaft und schickt j eden Tag die Flugzeuge, die eine Geschwindig­ keit von 180 km/h haben, nach Chile, über die Anden, nach Rio, Natal, Dakar und Paris, über Pampa, Urwald und Ozean. Die Größe dieses Landes Amerika ist geradezu für das Flugzeug bemessen. Mir scheint, daß hier das Fluglinien­ netz zum Hauptnervensystem werden wird. Seht euch nur die Karte an : so riesig

alles, und hier und dort eine Ortschaft, eine Stadt. Wir kennen zur Genüge die Prahlereien des Odysseus -, aber bei meinem Freund Alfredo Gonzales Garrafto in Buenos Aires habe ich die Geschichte der argentinischen Kolonisten gesehen, wie sie von diesen bewundernswürdigen Schilderern, den Lithographen der Mitte des 1 9. Jahrhunderts, dargestellt wird. Diese Odyssee in der Pampa hat vor noch nicht 1 00 Jahren stattgefunden. Auf den Weidegründen findet man noch Zeugen. In den argentinischen Familien leben noch Söhne j ener, die dabei waren. Es gibt sagenhafte Erscheinungen - Menschen, die sehr weit weg in einer prächtigen » Estanci a « (einer Niederlassung in der Pampa) wohnen, Grund­ besitzer - oder aber Einsame, deren Großartigkeit auf ihrer einstigen Verwegen­ heit, ihrer Ausdauer und ihrer Absonderung beruht. Aus einer Höhe von 1 200 m habe ich auf Kolonistenstädte, geradlinige Dörfer oder schachbrettartig angelegte Farmen - und auch noch auf » Vorpostenansiedlungen « hinuntergesehen. Eine Vorpostenansiedlung : das ist ein Haus, das von in regelmäßiger Rautenform angepflanzten Orangenbäumen umgeben ist; von hier aus laufen Pfade zur Viehtränke, zu den Äckern, zu den Herden. Ringsum weite Ebene. Wo gibt es einen Nachbarn ? Wo gibt es eine Möglichkeit, Lebensmittel zu besorgen ? Wo ist der Arzt ? Wo das j unge Mädchen, das man lieben möchte ? Wo der Postbote, der Briefe bringt ? Nichts. Nichts ist von anderen zu erhoffen -, man ist ganz auf sich selbst gestellt. Auf den Lithographien aus den Jahren 1 830- 1 840 habe ich die Odyssee der Ansiedler gesehen. Der Raddampfer schwimmt auf dem Rio. Kein Anlegeplatz; Spezialwagen fahren ins Wasser, den Ausladebooten ent­ gegen. Die Auswanderer sind mit ihrem ganzen Gepäck angekommen. Sie haben alles, aber auch alles endgültig hinter sich gelassen. Wieviel Tage wohl sind sie auf dem Meer gefahren ? W i r haben uns 14 Tage lang zwischen Himmel und Ozean befunden, ohne etwas anderes zu Gesicht zu bekommen; s i e haben wohl die fünffache Zeit gebraucht. Und j etzt dieses flache Ufer des Rio und Buenos Aires, das inmitten eines noch unerforschten Gebietes liegt. Überall sind feind­ li che Indianer, selbst vor den Toren der Stadt. Einige Pferde haben sie mitgenommen, Waffen und riesige Wagen, die die Vision der Hunnenhorden heraufbeschwören, die einst Europ a überfluteten . Wege ? Aber sie sind j a selbst die ersten Ansiedler ! Der argentinische Himmel ? Ja - der einzige große Trost. Ich habe diesen Himmel über der unendlichen Grasfläche, die an wenigen Stellen von Trauerweiden unterbrochen wird, ge­ sehen; er ist ohne Grenzen, tags leuchtet er in einem durchsichtigen blauen Licht, und nachts ist er übersät von unzähligen funkelnden Sternen. Er wölbt sich allerorten über dem Horizont. In Wirklichkeit ist die ganze Landschaft nur ein einziger gerader Strich : Horizont. Als ich im Album von Gonzales Garrafto blätterte, sagte ich zu meinem Freund : »Mit Ihnen als einem Menschen, der diese Geschichte in allen Einzelheiten kennt, dessen Väter und Vorväter an dem Abenteuer beteiligt waren, möchte ich ein Buch schreiben, das durch Ihre Beweis­ stücke illustriert werden müßte : Die wundersame Geschichte der argentinischen Ansiedler. « Vom Flugzeug aus habe ich Schauspiele gesehen, die man als kosmisch be17

zeichnen könnte. Welche Anregung zum Nachdenken, welch ein Sichzurück­ besinnen auf die fundamentalen Wahrheiten unserer Erde ! Von Buenos Aires aus haben wir das Delta des Paraiia überflogen, eines der größten Ströme der Welt; in diesem Delta wimmelt es von Kanälen, es ist dicht bepflanzt. Hier erntet man Obst, und man schützt die Früchte vor dem heftigen Luftstrom, der vom Rio kommt, indem man endlose Palisaden aus Pappeln errichtet, die kleine Gehege bilden. Eine Pappel braucht acht Jahre zum Wachsen, so erstaunlich gut ist dieser Lehmboden; dann hat sie einen Wert von acht Pesos, und das ist, so scheint es, ein Vermögen. Vom Flugzeug aus erinnert dieses Delta ungemein an die italienischen und französischen Renaissance-Kupferstiche in den Werken über Gartenbaukunst. D ann überqueren wir den Uruguay-Fluß; stundenlang sind wir stromaufwärts geflogen. Und dann schließlich kommt der Paraguay, der hier das Ende seines Laufs - im Zusammenfluß mit dem Paraiia - erreicht hat; strom­ aufwärts zieht er sich nach Norden in den brasilianischen Urwald, bis nahe zum Amazonas. Der Lauf dieser Flüsse in dem unendlichen flachen Land erläutert friedlich die unerbittliche Konsequenz der Physik : das Gesetz vom größten Neigungswinkel und später, dort, wo alles flach geworden ist, den Lehrsatz von der mäandrischen Linie. Ich sage » Lehrsatz « -, denn die Windung, die durch Erosion entsteht, ist ein zyklisch sich entwickelndes Phänomen, das unbedingt dem des schöpferischen Gedankens, dem der menschlichen Erfindungsgabe gleicht. Während ich aus luftiger Höhe den Verlauf der Windungen verfolge, erklären sich mir die Hindernisse, auf die die menschlichen Dinge stoßen, die Sackgassen, in die sie geraten, und die plötzliche Entwirrung verwickelter Situa­ tionen, die wie ein Wunder erscheint. Für meinen eigenen Gebrauch habe ich dieses Phänomen >> das Gesetz des Mäanders « getauft, und während meiner Vor­ träge in Sao Paulo und Rio hab' ich dieses wunderbare Symbol benutzt, als ich meine Vorschläge für städtebauliche oder architektonische Reformen unter­ breitete, um mich einem Publikum gegenüber, das ich unter den gegebenen Umständen für fähig hielt, mich der Aufschneiderei zu beschuldigen, auf die Natur berufen zu können. Vom Flugzeug aus begreift man noch viele andere·Dinge : Die Erde gleicht einem Spiegelei - sie ist eine kugelförmige flüssige Masse, umgeben von einer faltigen Hülle. Die Gebirgskette der Anden oder auch der Himalaya sind nichts anderes als Auffaltungen; einige der Falten sind zerrissen, und so entstanden diese kühnen Felsprofile, die uns den Eindruck des Erhabenen vermitteln. Wie das Spiegelei, so hat auch die Erde an ihrer Oberfläche Feuchtigkeit angesammelt; es ergibt sich eine ständige Funktion der Verdichtung und Verdunstung. Vom Flugzeug aus wollen wir zusehen, wie sich über den Ebenen von Uruguay die Wolken bilden, die die Häuser verdunkeln, eine reiche Ernte bewirken - oder die Weinstöcke verfaulen lassen; wir wollen den Zusammenprall der Wolken beobachten, der die Erscheinungen von Blitz und Donner hervorruft, die man als Götter fürchtete. Diese Stunde des Tagesanbruchs, gerade vor Sonnen­ aufgang, wenn es am kältesten ist : das ist der längste Zeitabschnitt seit Sonnen­ untergang; der Schläfer zieht seine Wolldecke über sich, und der Landstreicher 18

unter freiem Himmel kauert sich zusammen wie ein Embryo. Der Wasserdunst im Raum sinkt nieder und deckt als Tau die Erde. Und in diesem Augenblick taucht, wie aus der Kanone geschossen, die Sonne am Horizont empor. Seht, wie sie eilt ! Geradezu schwindelerregend. Man hat den Eindruck, als habe sie einen Anlauf genommen. Aber nein : diese beeindruckende Geschwindigkeit, die man an der Linie des Horizontes messen kann, ist ihre übliche Geschwindigkeit. Und im Anblick des Himmelsbogens denken wir : » Es wird für einen ganzen Tag ausreichen. >Die Neger werden Sie in diesen schrecklichen Vierteln um­ b ringen ; sie sind außerordentlich gefährlich, sie sind Wilde ; j ede Woche gibt es dort zwei oder drei Morde ! « Ich gab zur Antwort : >> Sie bringen nur den um, der an der Liebe zum Schurken wird - den, der sie zutiefst verletzt hat. Warum sollten sie mich ermorden - mich, der ich ihnen aufrichtiges Verständnis ent22

gegenbringe? ! Geht mir doch : mein Blick und mein Lächeln werden mir Schutz sein ! > menschlicher Häuser« denke, dann werde i ch zum Rousseau-Anhänger : >> Der Mensch ist gut. >Architektenhäuser> In dieser verabscheuun gswürdigsten aller Welten ist alles zum Schlimmsten ausgerichtet. > nackten Menschen > General der Großen Armee > Was, zum Teufel, tun hier die Griechen und die Pfaffen? ! Wir bef inden u ns im roten Land der Indianer, und diese Menschen hatten doch eine

Seele ! « Aus meinem Religionsunterricht ist mir ein Wort Jesu im Gedächtnis geblieben : » Wer aber ärgert dieser Geringsten Einen, die an mich glauben, dem wäre besser, daß ein Mühlstein an seinen Hals gehängt und er ersäuft würde im Meer, da es am tiefsten ist. « Sagt mir, ob euch nicht die Küche der großen internationalen Hotels, der Ge­ schmack der Brillat-Savarin-Soße und der schweren, fetten, mit Trüffeln gefüllten Leberpasteten in den Sinn bzw. auf die Zunge kommen, wenn ihr euch den gelbsüchtigen Werken der Ausstellung französischer Künstler gegenüberseht! Sagt mir, ob ihr Brillat-Savarin in den Säulenhallen von Chartres oder Vezelay wiederf indet? Das war vor der Zeit der Akademie, nicht w ahr? Und wie ist es mit den indianischen Masken im Museum von Rio? Sagt mir, ob noch ein Grund vorhanden ist, die Gärten mit » gestickten « Beeten zu verzieren, wenn der moderne Mensch so viel Gefühl einer weiten Rasenfläche und einem Baum gegenüber aufbringt, desse n lebendige Arabesken zu seinem Herzen sprechen? In Rio hab' ich eines Abends einen j ämmerlichen kleinen Park mit Rasenflächen gese hen, die in Quadrate mit abgerundeten Ecken ( » Täfelung a la Louis XVI . «) eingeteilt waren und an Stickereien aus dem Jahr 1 925 er­ innerten. » D as war ein Sportplatz - mitten in diesem hübschen Viertel, aber man hat einen Prunkgarten daraus gemacht ! « Ach - ich habe nur allzu deutlich die . akademische Mumie erkannt ! Seit nunmehr 22 Jahren höre ich im Volk - unter allen Teilen des Himmels die Klänge vollendeter Musik. Ich möchte zum Ausdruck brin gen, daß ich Bach, Beethoven, Mozart, Satie, Debussy, Strawinsky liebe. Das ist klassische Musik Musik, die im Geist eines Menschen entstand, der alles empfunden und bedacht, der gewählt und geschaffen hat. Architektur und Musik sind die instinktiven Manifestationen der menschlichen Würde. Durch sie bestätigt sich der Mensch : >> Ich existiere, ich bin ein Mathematiker, ich bin religiös. D as heißt : ich glaube an irgendein erhabenes Ideal hoch über mir, das ich möglicherweise erreichen kann . . . « Architektur und Musik sind sehr vertraute Schwestern : Materie und Geist ; Architektur ist in der Musik, und Musik ist in der Architektur. In beiden schlägt ein Herz, das danach strebt, sich zu sublimieren. » Sich sublimieren « - das ist ein ganz und gar individueller Akt. Man sublimiert sich nicht mit Hilfe von Gewändern - zum Beispiel de m Rock eines Generals der Großen Armee -, sondern durch etwas, das nichts und alles ist : durch Proportion. Die Proportion besteht aus einer Anzahl zueinander in Beziehung gebrachter Massen. D azu braucht man keinen Marmor, kein Geld, keine Stradi­ vari, und es ist nicht nötig, daß man ein G aruso ist. Als Josef ine B aker am 2 7 . November 1 929 in Sa o Paulo in ein em albernen Varietestück >>B aby « singt, legt sie so viel tiefes und dramatisches Gefühl in den Gesang, daß mir die Tränen kommen. In ihrer D ampferkaj üte nimmt sie eine kleine Gitarre ( ein Kinderspielzeug) , die man ihr reicht, und singt alle möglichen Negerlieder : »> ch bin ein kleiner schwarzer Vogel, der einen kle inen weißen Vogel sucht ; ich wünsche mir ein kleines Nest, in das wir beide schlüpfen können . . . « Oder : >> Du bist der Flügel

des Engels, der gekommen ist, du bist das Segel meines Bootes, ich kann nicht ohne dich sein ; du bist usw. usw. ; du bist das Gewebe des Tuchs, und ich lege alles, was du bist, in das Tuch und falte es zusamm en und nehme es mit mir ; ich kann ohne dich nicht sein . . « Sie durchreist die Welt. Ungeheure Massen lassen sich von ihr rühren. So hat die Masse also wirklich ein Herz ? Die Musik findet den Weg zu ihm. Der Mensch ist ein wundervolles Tier. Aber er muß sublimiert werden, er muß aus den abscheulichen Täuschungen herausgerissen werden, die sein Leben zu einer Hölle machen - ohne daß er den Grund zu erkennen und die Ursache zu nennen vermag. Und folgendes dachte ich im Urwald von San Martino - während einer zwölf­ stündigen D-Zug-Fahrt ins Innere Brasiliens : Man muß über Erkenntnisfähig­ keit verfügen - und zwar zu j eder Zeit. Ihr befindet euch im tropischen Brasilien, in der argentinischen Pampa, im indianischen Asunci6n usw. Man muß die naheliegende Trägheit überwinden und in der Lage sein, eine Sache an sich ganz genau zu erkennen und zu beurteilen - eine Sache, die genau auf ihre Umgebung abgestimmt ist und daher in keiner Weise anstößig sein kann. Wenn man von der sehr roten Erde und den Palmen absieht, befindet m an sich in der ewigen Landschaft, die überall ist : ob Steppe oder Pampa - beide sind nichts weiter als ausgedehnte Fl ächen ; Urwald oder französischer Hochwald - in beiden gibt es Ä ste und Zweige. Erfassen muß man die Dinge ! In der Menge von Sä.o Paulo die Neger, die Mulatten, die Indianer sehen ! Den Stil von Buenos Aires begreifen ! Wir wollen uns deutlich ausdrücken : Alles ist wie in den Büchem, wie in den Erzählungen unserer Kinderzeit : der U rwald, die Pampa. Aber die Erde ist im Sommer überall grün ; der Urwald is t wie jeder andere Wald ; allerdings gibt es Lianen ; man muß sie gesehen haben. Es gibt Jaguare ; unser Gefährte hat vor acht Tagen einen geschossen - aber man sieht nichts von ihnen ! vVir begeben uns zu dem Anstand, der - mitten im Wald aus B ambuszweigen und Laub­ werk errichtet ist. Eine Viertel stunde vergeht : nichts. Warum sollten die Tiere auch gerade dann kommen, wenn wir mit einem Schießgewehr hier stehen ? Am Abend hört man das wahnsinnige Geschrei der Papageien ; sie sind grün wie die Blätter : man sieht sie nicht ! Es gibt riesige Schlangen - hier auf den Fotos sind sie abgebildet ; im vergangeneu Monat wurde ein Mann der Plantage von ihnen getötet ; aber man sieht sie nicht. Der Teich ist voller Krokodile ; aber sie halten sich dicht am Grund. Hier auf dem Pfad sind Fährten von Hirschen und Wildschweinen zu sehen . Auf dem Weg liegt ein pl attgedrücktes Gürteltier. Der Wald steht schweigend und regungslos, dicht, undurchdringlich - vielleicht gar drohend. Aber wenn wir als Amateurangler an den französischen Ufern entlangschweifen ­ kommt dort etwa der Fisch zu uns geschwommen ? Im amerikanischen Wald gibt es alles, aber man sieht nichts. Man muß rasten, spähen, lauschen - einen Tag, zwei Tage lang : dann wird der Wald sprechen. Man hat niemals Zeit genug! So auch im Leben : Man muß zu erkennen verstehen ! .



In der nordamerikanischen Musik, die von den Negern stammt, gibt es eine sieg­ hafte » zeitgenössische« Lyrik. Im Hintergrund f indet man das Tamtam des Tschad, das volkstümliche Melodien aus den bayerischen Bergen, aus dem schwei­ zerischen Hochland mit baskischen Liedern usw. durcheinanderschüttelt. Der christliche Priester ist in Onkel Toms Hütte eingedrungen. Nun : in der gewal­ tigen Schmiede der Vereinigten Staaten, in der alles ganz f risch aus dem 20. Jahrhundert stammt, in der bislang die linkische Schüchternheit großer Jun­ gen den Ausdruck einer zeitgenössischen Lyrik zurückdämmte, habt ihr heute den einf achen und treuherzigen Neger, der diese Musik, die sich über den ganzen Erdball ergießt, gemacht hat. Der Tonf ilm erobert die Welt wie einst Attila. Einem Angriff, der so stürmisch und so voller Wirklichkeit ist, kann man nicht widerstehen. Ich erkenne in dieser Musik das Fundament eines Stils, der zum gef ühlsmäßigen Ausdruck der neuen Epoche werden kann. Wir müssen zugeben, daß hier die ältesten Traditionen der Menschheit zu f inden sind : Af rika, Europa, Amerika. Ich spüre hier eine Energie, die in der Lage sein wird, die Brillat­ Savarin-Methoden der akademischen Museen abzuschaffen - so, wie heute in der Architektur die Methoden der Steinzeit abgeschafft sind, die bis zu Hauss­ manns Zeiten überlief ert worden waren und mit denen Eiffel und Considere endgültig gebrochen haben. Das Blatt wendet sich. Neuentdeckung. Unverf älschte Musik. Die scholastischen Formen, die von den Musikinstituten in einem Gesetz­ buch zusammengef aßt sind, geben ihre kleinen Geräusche in den Konzertsälen und im Rundf unk zum besten (schnöder Vertrauensmißbrauch !). Das Radio spricht zur modernen Masse, und im vornehmen Rio - auch in der » Favella« der Neger - und in den trostlosen, traurigen Straßen von Buenos Aires schmeicheln sich der Seemann und die schöne Reisende auf dem Schnelldampf er, schmeichelt sich die Melodie des » Angelo Peccador« in unzählige Herzen. Die Gemütsbewegungen im Maschinenzeitalter sind anders als zur Zeit der schweren » wissenschaftlichen « Küche. Ganz anders ! Viel mehr aus dem Herzen kommend - die Augen schwimmen wieder in Tränen. Stets sich die Fähigkeit der Erkenntnis bewahren ; abwägen ; selber urteilen ; Zusammenhänge erf assen ; einen individuellen Eindruck gewi nnen ; danach trachten, ganz und gar uneigennützig zu sein, das eigene materielle Ich stets zurückzustellen : so gelangt man durch Meditation zur Resultante des Lebens. Ehe man sich dem Zwang eines in Verf all geratenen Zeitalters unterwirft, soll man lieber in stetiger Opf erbereitschaft leben, sich ins Abenteuer stürzen, seine Rolle spielen, allem gegenüber auf nahmebereit sein und sein Herz den anderen entgegenbringen. Die Geschichte Amerikas scheint mir ein gewaltiges Mittel des Ansporns zu sein - trotz ihrer Greuel, trotz ihrer grausamen Blutbäder, trotz ihrer im Namen Gottes verübten Zerstörungen. Das Studium der Geschichte, die sich so verschie­ denartig und lehrreich in schriftlichen Auf zeichnungen, so deutlich in der Archi­ tektur, so verf einert in der plastischen Kunst und in der Musik manif estiert, dünkt mich die solide Grundlage einer klugen Erziehung - vorausgesetzt, daß die Realitäten der heutigen Wissenschaften die rechte Nutzanwendung gestatten.

Übrigens führt die Unbeständigkeit der wissenschaftlichen Wahrheiten eines Tages zur Überlegung, zum Nachdenken darüber, »wozu das gut sei Bandeiros > L'Esprit Nouveau> Ich wollte, ich wäre König: dann ließe ich alle diej enigen köpfen, die sich erlaubten, heute ein griechisches Gesims zu entwerfen und zu konstruieren ! > dori­ schen «) und europ äischen (>>korinthischen «) Gasbrennern bis zu den Theatern, Parlamentsgebäuden, dem Palast der Nationen, der Ausstattung der Schnell­ dampfer und, bescheidener, der Einrichtung von Hotelzimmern. Man hat das alles häufig >> Louis XVI . « genannt, um es etwas aufzupolieren. 0 Gott - was für ein langes Leben hat doch dieser König, der laut Protokoll ordnungsgemäß enthauptet wurde ! Ich bin übrigens bereit, zuzugeben, daß der Stil >> Louis XVI . > Ein Gedankenaustausch mit Ihnen ist ein wahres Vergnügen. Wissen Sie, wir sind einander viel näher, als es scheinen könnte. Auch ich bin für Disziplin : An der Ecole des Beaux Arts beginne i ch damit, den Anfängern die >Bauregeln< beizubringen ; die Neuen lehre ich den dorischen Stil, denn das Dorische ist einfach. Dann, wenn sie wissen, wie man einen Zeichenstift hält, kommt das Ionische an die Reihe, das weitaus schwieriger ist, und zwar wegen der Voluten. Und schließlich, wenn sie soweit sind, lernen sie das Korinthische - denn darin sind alle Schwierigkeiten enthalten . Ich liebe die Disziplin ! . . . > Zwischen ­ den-Fenstern « (Pilaster oder Säulen) . Ich entvignolisiere mit Hilfe der Formd Architektur - das bedeutet heUe Fußböden. Zur Erklärung gebe ich eine Folge kleiner Zeichnungen, auf denen - durch die Jahrhunderte hindurch - die Geschichte der Architektur an Hand der Geschichte des Fensters erläutert wird. Ich habe schon weiter oben gesagt : Man will die Fußböden von Mauern tragen lassen, durch die man Fenster bricht, um das Innere des Hauses zu erhellen. Und diese unglückselige und in sich selbst widerspruchsvolle Notwendigkeit (Fußböden von Mauern tragen lassen, durch die man Öffnungen gebrochen hat !) kennzeichnet im Verlauf der Jahrhunderte die ganzen Bemühungen der Konstrukteure und ist bezeich­ nend für die Architektur. Hier haben wir das kleine antike Fenster (24) , dann das große offene pom­ pej anische Fenster ohne Rahmen, das hübsche romanische Fenster ; das gewal­ tige gotische Drängen hin zum Licht, das zum Spitzbogen führte mit seinen Eckpfeilern und seinem kühnen statischen System aus Säulen, Diensten, Strebe­ pfeilern, Gegenpfeilern usw. Und ich möchte hervorheben, daß man zur Zeit der gotischen Baukunst, als man in den engen Gassen die schmalen Fachwerk­ häuser baute, so viel Glasscheiben vorsah, wie man immer konnte, wobei man 6o

die Möglichkeiten des Materials Holz berücksichtigte. Diese Bauweise war so überzeugend, daß die geschickten Flamen in Gent und Leuwen und auf dem Goldenen Platz in Brüssel ihre Geb äude in Anlehnung an diese Tradition er­ richteten : wunderbare Glasfassaden mit Steinpfeilern, die wir heute noch be­ wundern. Dann kam die Renaissance mit steinernen Fensterkreuzen in einem Fenster, das man so groß wie möglich machte, um den glänzenden Prunk der in voller Blüte befindlichen heimischen Künste ins rechte Licht zu setzen. Und dann erscheint Ludwig XIV. , d er Sonnenkönig, der seine Schutzp atronin, die Sonne, zu sich lädt, auf daß sie seine höfische Pracht beleuchte. Und j etzt ist die Archi­ tektur der Steinbauten endgültig formuliert. Unter Ludwig XV. und unter Ludwig XVI . verniedlicht und vermenschlicht man die großen Taten des großen Königs. Man will behaglich und gemütlich leben. Die Architektur entwickelt sich nicht weiter. Das Fenster ist festgelegt - und basta. Unter Haussmann sodann, zur Zeit des Tagesanbruchs der » Schmiedemeister «, wird das Mietshaus zum >> Geschäft> vignolisierten « Ufer des Instituts verlassen. Wir schwimmen auf offener See ; wir wollen heute abend nicht auseinandergehen, ohne festgestellt zu haben, wo wir uns befinden. Zuerst die Architektur : Das Pfahlwerk trägt die ansehnlichen M assen des Hauses über der Erde hoch in der Luft. Die Ansicht des Hauses ist eine kategorische Ansicht. Es besteht keine Verbindung mit dem Erdboden. Sie begreifen, wie wichtig nun die Proportionen und die dem von den Pfählen getragenen Kubikmeter zugemessenen Dimen­ sionen werden. Der Schwerpunkt (32) der architektonischen Komposition ist auf eine erhöhte Ebene verlegt : hier haben wir nicht mehr den Schwerpunkt der alten Steinbauten, die mit dem Erdboden in einer gewissen optischen Ver­ bindung stehen (33) . Der Dachgarten ist ein neues Werkzeug für freundliche Zwecke ; die Bestimmung der Zimmer im lnnem des Hauses kann geändert werden ; es ist ein neuartiges \Vohlbefinden, das den Bewohner erwartet. Das Fensterband und schließlich die >> Glaswand « haben uns etwas gebracht, was in keiner Weise den Dingen der Ver-

1 Übrigens sind diese Parolen schon in einer verblüffenden Art von den Eisenkonstruk­ teuren des 1 9 . Jahrhunderts in Frankreich ausgesprochen worden, und Walter Gropius hat sie 1 9 1 4 in Köln wieder in die Sprache der modernen Architektur aufgenommen.

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gangenheit ähnelt. Mit der Glaswand ändert sich der Maßstab der Architektur. Die Kompositionsmittel sind so neu - um die Wahrheit zu sagen : sie scheinen so sehr auf Null reduziert, daß man sich erschreckt fragt : >> Aber wohin geht die Architektur ? > Goldenen Schnittes«, des Spiels der perpendikularen Diagonalen, der arithmetischen Verhältnisse, 1 , 2, 4, zwischen den horizontalen Streifen usw. So ist nun diese Fassade in allen ihren Teilen harmonisch ausgeglichen. Die Präzision hat etwas Endgültiges, Exaktes, Wahres, Unveränderliches, Bestän­ diges geschaffen : Das ist der architektonische Moment. Er beherrscht unseren Blick, meistert unseren Geist, befiehlt, fordert, bezwingt. Solcherart ist die Argu­ mentation der Architektur. Um Aufmerksamkeit zu erregen und den Raum mit Macht in Besitz zu nehmen, bedurfte es vor allem einer ersten Fläche von voll­ kommener Gestalt - dann aber eine Erhöhung dieser Fläche mittels einiger Vorsprünge - oder der Anordnung von Öffnungen, die eine Vor- und Rück­ wärtsbewegung in das Ganze bringen. Durch die Fensterausschnitte (die Fenster­ öffnungen sind eines der wesentlichen Elemente bei der Lektüre eines Bau­ werkes) ergibt sich ein Spiel von Sekundärflächen, die den Rhythmus, die Pausen und die Tempi der Architektur darstellen. Rhythmen, Pausen, Tempi der Architektur - außerhalb des Hauses und im Haus. Das Berufsethos verpflichtet uns, unsere ganze Sorgfalt dem Innern des Hauses zu widmen. Man tritt ein : man wird angerührt, erhält den ersten Eindruck. Wir sind beeindruckt von dieser Zimmergröße, die auf j ene andere folgt, von dieser Zimmerform, der j ene andere vorausging. Das ist Architektur ! Und je nachdem, wie ihr in ein Zimmer eintretet - das heißt, je nach d er Stelle, an der sich die Tür befindet -, wird der Eindruck ein anderer sein. D as ist Architektur ! Aber wie erhaltet ihr den architektonischen Eindruck? Durch die Wirkung der Beziehungen, die ihr wahrnehmt. Durch was werden diese Beziehungen be­ stimmt ? Durch Gegenstände, durch Flächen, die ihr seht - die ihr sehen könnt, weil sie beleuchtet sind. Und das Licht der Sonne wirkt auf das menschliche Wesen mit einer Kraft, die in der Gattung selbst ihre Wurzeln hat (56) . Ermeßt demnach die große Bedeutung der Stelle, an der ihr ein Fenster öffnet. Beachtet, auf welche Weise das Licht von den Zimmerwänden aufgefangen wird (57) . Diese Frage spielt wirklich in der Architektur eine große Rolle ; dies ist der Wirkpunkt der entscheidenden architektonischen Eindrücke. Ihr seht genau, daß es sich hier weder um Stile noch um Dekoration handelt. Denkt an die ersten Frühlingstage, wenn der Himmel von Wolken verhangen ist, die vom Wind gej agt werden ; ihr seid zu Hause ; eine Wolke verdeckt die Sonne : wie trauri g ist euch zumute ! Nun hat der Wind die Wolke vertrieben, und die Sonne scheint durchs Fenster : wie froh seid ihr ! Neu auftauchendes Gewölk hüllt euch in Schatten : wie sehnsüchtig denkt ihr an den Sommer, der nun bald kommt und lauter helle Tage bringt ! Beleuchtete Formen, spezifische Leuchtkraft, Raumfolgen - alles das wirkt auf unser Gefühl und verursacht physische und physiologische Reize, die von Gelehrten gemessen, beschrieben, klassifiziert und spezifiziert werden. Diese Horizontale oder diese Vertikale, diese harte Zickzacklinie oder diese sanfte Wellenlinie, diese geschlossene zentrische Form des Kreises, des Quadrats : alles 77

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das wirkt in die Tiefe und bestimmt unser Schaffen und unsere Empfindungen. Rhythmus (58), Mannigfaltigkeit oder Eintönigkeit, Zusammenhang oder Zu­ sammenhanglosigkeit, erfreuliche oder enttäuschende Oberraschungen, Heiter­ keit im Licht oder Frösteln im Schatten, die beruhigende Wirkung des hellen Zimmers oder die Beklemmung in einem Zimmer voll dunkler Ecken, Hoch­ stimmung oder Niedergeschlagenheit: hier habt ihr das Ergebnis der Dinge, die ich gezeichnet habe - der Dinge, die auf unser Gefühl einwirken durch eine Folge von Eindrücken, denen sich niemand entziehen kann. Ich möchte so gern, daß Sie die Allmacht der Linien schätzen lernen, auf daß Ihr Geist künftig frei sein möge von den kleinen dekorativen Dingen - auf daß Sie vor allem bei der Komposition Ihrer künftigen Architekturwerke die wahre Chro­ nologie und die Hierarchie berücksichtigen möchten, in der das Wesentliche vor­ herrscht. Und Sie sollen erkennen, daß dieses Wesentliche der Architektur in Ihre Wahl gestellt ist, daß es in der Gewalt Ihres Geistes liegt und nicht im Reichtum des Materials - des Marmors oder seltener Holzarten -, auch nicht im Ornament, das nur ganz zuletzt eine Rolle spielt, wenn schon alles gesagt ist ; das heißt: das Ornament dient keinem besonderen Zweck. Ich möchte, daß Sie etwas ganz Großartiges nachempfinden - etwas, wodurch der Mensch in hohen Augenblicken seine Meisterschaft offenbart hat ; ich nenne es » den Ort aller Maße «. Seht her : Ich bin in der Bretagne ; diese klare Linie ist die Grenze zwischen Meer und Himmel ; eine weite horizontale Ebene dehnt sich vor mir aus (59) . Dieser wunderbare Friede atmet Wonne. Hier zur Rechten sind einige Felsen. Die Win­ dungen des sandigen Strandes entzücken mich, sie stellen eine kaum wahrnehm­ bare Modulation der horizontalen Fläche dar. Etwas Besonderes taucht nun vor mir auf : ein vertikaler Fels, ein Granitstein, er sieht aus wie ein Menhir. Seine Vertikale bildet mit der Horizontalen des Meeres einen rechten Winkel . Kristal­ lisation - ein Merkpunkt in der Landschaft. Hier ist der Platz, an dem der Mensch stillsteht - denn hier ist vollkommene Symphonie, das Wunder der Verhältnisse -, Adel. D as Vertikale gibt dem Horizontalen Sinn. D as eine lebt aus dem andern. Hier habt ihr die Macht der Synthese. Ich überlege. Warum bin ich so erschüttert? Durch was ist diese Erregung unter ganz anderen Umständen und Bedingungen schon in mir entstanden ? Ich denke an den Parthenon und sein wunderbares Gesims, das so ungeheuer kraftvoll wirkt (60) . Und ich denke vergleichend - um einen Gegensatz zu zeigen - an Werke voller Empfindsamkeit, die aber gescheitert und nicht zu Ende geführt sind : z. B. an den Tour de Beurre in Rouen (6 1 ) , an diese blitzen­ den Kuppeln, an die so viel » verniedlichtes « Genie verschwendet wurde, das nie­ mals zur Vollendung gelangte - zu einer Vollendung, von der der Parthenon auf der Akropolis mit erzener Stimme kündet (62) . Nun zeichne ich mit zwei Strichen diesen » Ort aller Maße «, und nachdem ich in meinem Sinn alle möglichen menschlichen Werke miteinander verglichen habe, sage ich : >> Hier - das genügt. « Welche Bescheidenheit, welche Armut, welche sublimen Grenzen ! Hierin liegt Bo

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alles, hier ist der Schlüssel zu den Gedichten der Architektur. Ausdehnung und Höhe. Und das genügt (63) . Hab' ich mich verständlich gemacht? Ausdehung und Höhe ! Ich bin auf die Suche nach größeren architektonischen Wahrheiten gegangen. Ich stelle fest, daß das Werk, das wir errichten, nicht allein, nicht isoliert steht ; daß die Atmosphäre der Umgebung weitere Wände, Decken, Böden bildet ; daß die Harmonie, die mich vor dem Felsen in der Bretagne so plötzlich süllstehen ließ, überall und immer existiert - existieren kann. D as Werk ist nicht etwas aus sich allein Entstandenes : es gibt ein Außen. Und dieses Außen schließt mich in seine Gesamtheit ein wie in ein Zimmer. Die Harmonie entspringt in der Ferne - überall, aus allem. Wie weit weg sind wir von den » Stilen « und von der hübschen Zeichnung auf dem Papier ! Sie werden nun das gleiche Haus - dieses einfache rechtwinklige Prisma - in verschiedenen Umgehungen sehen : Wir befinden uns in einer Ebene, einer flachen, offenen Ebene. Können Sie sich vorstellen, wie die Landschaft mit mir dichtet (64) ? Wir sind auf den waldigen Hängen der Touraine. Das gleiche Haus ist hier ein ganz anderes (65) . Und hier wieder steht es in den zerklüfteten Bergen der Alpen (66) ! J edesmal entdeckt unser empfindsames Herz neue Schätze. Diese immanenten Realitäten machen die architektonische Atmosphäre aus, und sie sind dem, der zu sehen versteht und aus ihnen Nutzen ziehen will, immer gegenwärtig. Dieses selbe Haus - ein rechtwinkliges Prisma - ist hier (67) an der Kreuzung zweier Straßen dem Druck der es umgebenden Gebäude ausgesetzt. Und hier (68) steht es am Ende einer Pappelallee - umgeben von einem Hauch Feierlichkeit. Hier (69) am Ende einer kahlen Straße ; links und rechts eingefaßt von Gebüsch. Und hier taucht es in der Entfernung auf, plötzlich und unerwartet am Aus­ gang einer Straße: wie ein Mann, der da geht und dessen Bewegungen so deut­ lich sind wie die eines Schauspielers auf der Bühne ; eng gebunden· an den >> menschlichen Maßstab «, der die Fassade bestimmt (70) . *

Wir sind auf die Suche nach der Architektur gegangen und dabei auf das Ge­ biet des Einfachen geraten. Große Kunst gebraucht einfache Mittel - das wollen wir uns unermüdlich wiederholen. Die Geschichte zeigt uns die Neigung des Geistes zum Einfachen. Das Einfache ist das Ergebnis der Urteilskraft und der Auswahl ; es ist das Merkmal der Meisterschaft. Sobald man sich vom Komplizierten löst, findet man die Mittel, die den Zustand des Bewußtseins offenbaren. Ein geistiges System manifestiert sich im sichtbaren Spiel der Formen. Das ist wie eine Bestätigung. Eine Wande­ rung, die aus der Verwirrung in die Klarheit der Geometrie führt. Jetzt, in der

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Morgendämmerung der modernen Zeit, nachdem das Mittelalter überwunden ist und die Völker ihre sozialen und politischen Einrichtungen stabilisiert haben·, herrscht genügend Ruhe, um ein lebhaftes Verlangen nach geistiger Klarheit erwachen zu lassen. D as große Renaissancegesims besteht darauf, auf dem Hintergrund des Himmels das Spiel der auf den Erdboden gegründeten Pro­ portionen festzuhalten (7 1 ) ; man hat die schräge Linie des D aches verworfen (72) . Unter den Ludwigen und unter Napoleon wird die Absicht immer deut­ licher, die » Stätte der Beziehungen « sichtbar zu machen (73) . Das ist die klassische Periode - stark durch ihren intellektuellen Epikurismus ;

indem sie sich der Berichtigung der äußeren Merkmale der Architektur widmete, entfernte sie sich von der wachen gotischen Redlichkeit. Plan und Schnitt wur­ den verdorben ; man war auf dem Weg in eine Sackgasse. Wir sind nun hinein­ geraten : nämlich in den Akademismus. Der Stahlbeton bringt die Dachterrasse (74) mit dem Regenwasse�blauf zum Innern (und noch andere revolutionäre Dinge auf konstruktivem Gebiet) . Man kann in Wirklichkeit überhaupt kein Gesims mehr entwerfen : es ist zu etwas geworden, das zu leben aufgehört hat ; die Funktion des Gesimses existiert nicht mehr. Aber wir haben die klare und reine Linie des oberen Fassadenabschnitts, die durch das Blau des Himmels läuft. Und schließlich noch haben wir das nützliche Werkzeug des bildenden Künst­ lers : die Stützpfeiler. Ein wunderbares Mittel, um die »Stätte der Beziehungen «, den » Ort aller Maße « hoch in die Luft zu heben, sie mit allen ihren Konturen zu zeigen und auf diese Weise das schwebende Prisma so deutlich wie nie zuvor lesbar und meßbar zu machen. Das ist das Geschenk des Stahlbetons und des Eisens (75) . So ist das Einfache also nicht das Dürftige, sondern ein Erlesenes, eine Wahr­ nehmung, eine Kristallisation, die zum Gegenstand die Echtheit hat. Das Ein­ fache ist eine Konzentration. Nicht mehr eine rohe Anhäufung von Würfeln, ein unkontrolliertes Phänomen ­ sondern Synthese, ein Akt vollen Bewußtseins, ein geistiges Phänomen. Ein Wort noch in der Absicht, eine Begeisterung zu disziplinieren, die oft voller Phantasie ist - aber ziellos wie der tolle Galopp eine ungebärdigen Fohlens : Ich zeichne die Ansicht einer schönen Stadt, die wir auf unseren Studienreisen ge­ sehen haben (76) . Hier sehen Sie einen Dom, einen Wehr- oder Glockenturm, den viereckigen Palast des Podesta. Ich habe die Silhouette einer Stadt gezeich­ net. Welcher Maßlosigkeit und welcher Inkonsequenz müßten wir verfallen sein, um die Silhouette eines Hauses (häufig Mißhandlung der Mode !) nach der Silhouette einer Stadt zu bilden (77) ? Wenn ich - in einer Straße o der einer Stadt - die so mißhandelten Häuser mul­ tipliziere, ist das Ergebnis entsetzlich : Lärm, Zerfetztheit, Kakophonie (78) . Wo ist nun der Unterschied zwischen dem Ergebnis derartiger guter, aber undiszipli­ nierter Absichten und den Straßen, von denen Buenos Aires wimmelt (wie übrigens auch die Städte Europas) - diesen gräßlichen B asaren der Geschmack­ losigkeit, der Faulheit und der akademischen Arroganz (79) ?

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Wir wollen unseren Intellekt mit diesen unvermeidlichen Unterschieden erst dann belasten, wenn sich die Symphonie der Stadt vorbereitet. Die ungeheuren städtebaulichen und architektonischen Probleme der Zeit werden - was Höhe und Ausdehnung anbelangt - der Stadt neue Elemente in einem neuen Maßstab

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zuführen. Im Detail wird Einheitlichkeit herrschen ; im Ganzen wird Lebhaftig­ keit sein. *

Ich habe Raum rund um das Haus geschaffen ; ich h abe mit der Ausdehnung gerechnet und mit dem, was sich darüber erhebt : Distanz, Zeit, D auer, Volumen, Kadenz, Quantität : Städtebau und Architektur. Städtebau überall. Architektur überall. Vemunft und Leidenschaft, deren Syn­ these das inspirierte Werk ergibt. Die Vemunft sucht die Mittel. Die Leidenschaft führt uns auf den Weg. Aus der Ebene der Wohnmaschine - der Stadt und des Hauses - gelangt das architektonische Werk auf die Ebene der Empfindung. Wir fühlen uns ange­ rührt. Erlauben Sie mir, mit dem ersten Satz meines letzten Buches (» Ein Haus, ein Palast «) zu schließen : » Denn die Architektur ist unleugbar ein Ereignis, das eintritt, sobald der Geist, der damit beschäftigt ist, die D auerhaftigkeit des Werkes zu sichem und die For­ derungen der Bequemlichkeit zu erfüllen, sich emporgehoben fühlt in dem Ver­ langen, nicht nur zu dienen, sondem den Versuch zu untemehmen, die lyrischen Kräfte, die uns beleben und uns Freude schenken, zu manifestieren. «

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4· Vortrag : Donnerstag, 1 0 . Oktober 1 9 29, Fakultät der Exakten Wissenschaften

EINE Z E LLE IM M ENSCH LICH EN M ASZSTA B Das Problem, das in allen Ländern als das dringlichste auf der Tagesordnung steht, ist das der Konstruktion von Häusern, die zur Unterbringung der Massen, die das Maschinenzeitalter in den großen Städten zusammengedrängt hat, er­ forderlich sind. Unnötig, es zu beschreiben : wir haben die Tatsachen vor Augen ; das Problem der Menge ist gegeben. Und überdies ist äußerste Sp arsamkeit geboten - der Grund dafür ist bekannt. Allein die Architektur hat sich von den Methoden des Maschinenzeitalters fern­ gehalten. Erklärung dafür : der Unterricht an den Schulen wird von den Akade­ mien diktiert. Und diese kultivieren die Vergangenheit. Ein verzweifelt ver­ alteter Begriff der Architektur wird von der Regierung und ihren Diplomen offiziell einer Meinung aufgezwungen, die bis auf weiteres mit anderen Dingen beschäftigt ist als damit, die gängigen Glaubensbekenntnisse zu überprüfen. Diese Meinung akzeptiert - oder toleriert zumindest. Die Professionellen bauen ; eine Menge von Berufszweigen lebt davon ; ihre Handelskammern üben einen Druck auf Parlamente und Minister aus. Die Minister, gestützt auf die Institute (die geheiligte Autorität) , geben die großen öffentlichen Aufträge heraus, die und ihr wundert euch wirklich kein bißeben ? - das Aktenzeichen, die Norm, das Dogma der Architektur in den Bürgermeistereien und Präfekturen, in den Schu­ len - kurz : übera Ü festlegen. Der Teufelskreis ist wieder hermetisch geschlossen. Buddha versinkt in Kontemplation über seinen Nabel. Aber - Verzeihung - die Leute sind nicht untergebracht ! Denn mit einem sol­ chen architektonischen Dogma und mit solchen Bräuchen kann man keine Häuser zu einem Preis bauen, der den allgemeinen Wirtschaftsverhältnissen des Landes entspricht. Auch hier ist weiter nichts zu sagen . . . Die Volkswirtschaft antwortet den Instituten : >> Nein - ich habe keinen geheimen Luxusfonds für euch ! « Wir

haben die Nase in die Sackgasse gesteckt - wir müssen wieder hinaus. Und wenn nicht ? Revolution. Man kann doch auch eine Architektur-Revolution machen ! *

Es handelt sich in der Tat darum, die Menschen unterzubringen. Grundsätzlich also um Haushalte. Jemandem eine Wohnung bauen, heißt, ihm gewisse Ele­ mente von lebenswichtiger Bedeutung garantieren - ohne rechtlich begründete Beziehungen zu M. Vignola und der Renaissance, zu den Griechen oder den Normannen der Normandie. Garantiert werden müssen :

a) helle Fußböden, b) Abschluß als Schutz gegen Eindringlinge : Leute, Kälte, Wärme usw., c) schnellstes Erreichen der verschiedenen Gegenstände in der Wohnung, d) Auswahl der Haushaltsgegenstände unter Anpassung an unser Jahrhundert.

Diese verschiedenen El�mente bilden eine Gesamtheit von Geräten, die ich im J ahr 1 92 1 (Esprit Nouveau) » Wohnmaschine « getauft habe. Das ist ein Wort, mit dem ich nur flüchtiges Glück hatte und um dessentwillen man mich heute von beiden Seiten der Barrikaden angreift ; dabei handelt es sich um die Mit­ glieder der Akademie (>> oh, grauenvoll, mein lieber Kollege, grauenvoll und ab­ scheulich «), wohlverstanden. Und (schlecht verstanden, denn ich finde, daß die Anklage von Grund auf falsch ist) um die Avantgardisten (» dieser Mann, der in Lyrismus ertrinkt, hat die Wohnmaschine verraten «) . Aber wir wollen weiter­ gehen - das ist nicht so wichtig. Wenn der Ausdruck Aufsehen erregt hat, so deshalb, weil er den Begriff » Maschine« enthält, der offenbar in allen Geistem die Vorstellung von Betrieb, Leistung, Arbeit, Produktion erweckt. Und der Ausdruck »Wohnen « läßt an ethische Begriffe denken, an ein Dauemdes, an die Organisation der Existenz so daß ein vollkommener Mißklang entsteht. In dieser Welt - und in den verschiedenen Volksschichten - stimmt keiner von uns mit dem anderen im Hinblick auf eine höchst wichtige Frage der geistigen Richtung überein : die Frage nach dem Sinn des Lebens. Es ist unmöglich, diesen Gegenstand im Verlauf eines Vortrags, dessen Minuten abgezählt sind, zu behandeln. Aber dies ist das schönste aller Themen. Und ich habe es in zahlreichen meiner früheren Darlegungen berührt (und werde es auch in künftigen tun). Nach Abschluß meiner zehn Vorträge werden Sie meinen Gedankengang verfolgt und begriffen haben. Heute, auf der systematischen Suche nach einer Zelle im menschlichen Maßstab, werde ich einige Fälle analysieren ; und dabei wird sich eine Richtlinie ergeben. Zuvor einiges über das Leben an Bord eines Schnelldampfers : Während einer vierzehntägigen Reise von Bordeaux nach Buenos Aires bin ich vom Rest der Welt abgeschnitten : von meinem Friseur, meiner Waschfrau, meinem Bäcker, meinem Obsthändler und meinem Metzger. Ich habe meine Koffer ausgepackt 88

und mich in meinem Haus eingerichtet - ich bin in die Haut eines Mannes ge­ schlüpft, der ein kleines Haus gemietet hat. Hier ist mein Bett, das einem hohen Diwan ähnelt. Hier werde ich schlafen ; hier werde ich Siesta halten, während wir über die Wendekreise fahren. Es steht ein zweites Bett da, aber ich bin allein. Hier ist der Spiegelschrank (ein Möbelstück, das für die Leute ebenso » kanonisch« ist wie M. Vignola für die Akademien ; es ist ein ebensolcher Anachronismus. Aber diesmal mußte der Fabrikant des » Fau­ bourg « sich an festgelegte Abmessungen halten, denn wir schwimmen auf dem Wasser . . . und das Terrain ist teuer !). Dieser Schrank könnte wesentlich besser eingerichtet sein, aber er tut auch so gute Dienste. Gegenüber, zwischen den zwei Betten, steht der Sekretär (oder Frisiertisch - ganz nach Belieben) mit drei sehr kostbaren Schubfächern ; ein Plüschteppich - angenehm für die nackten Füße. (Überhaupt angenehm - so mit nackten Füßen !) Ich gehe durch eine kleine Tür : ein großer Waschtisch, ein schöner Wäscheschrank, Schubfächer für Toilette­ artikel, Spiegel, zahlreiche Haken, helles elektrisches Licht. Ich gehe durch eine zweite Tür : eine Badewanne, ein Waschbecken, ein WC, eine Dusche, Wasserabfluß direkt im Boden. Ich habe ein Telefon, das ich leicht vom Bett oder vom Sekretär aus erreichen kann. Das ist alles. Abmessungen : 3 X 3, 1 0 m für das Zimmer. Insgesamt : 5,25 X 3 m 1 5,75 Quadratmeter. Wir wollen uns diese Zahl merken. Es handelt sich dabei um » Luxusappartements «, in denen wichtige Leute be­ quem reisen. Ein Mensch fühlt sich glücklich, lebt ganz wie zu Hause, schläft, wäscht sich, schreibt, liest, empfängt seine Freunde - und das alles in einem Raum von 15 m2• J etzt werden Sie mich unterbrechen und mir sagen : » Nun - nun ! Und das Essen ? Die Küche ? Und die Köchin, der Kammerdiener, die Zofe ? « Darauf habe ich gewartet ! Jetzt sind Sie genau dort, wo ich Sie haben wollte. Das Essen? Darum kümmere ich mich nicht. Dafür sorgt der Küchenchef, der über Kühlschränke, Küchen, Koch- und Wasch- und sonstige Maschinen sowie über eine Menge Personal verfügt. Das Schiff hat 1 500 bis 2000 Einwohner. Wenn nun in der Küche 50 Leute beschäftigt sind, so beschäftigt mein eigener Haushalt 50/2ooo 1/4o Koch. Meine Damen und Herren - ich beschäftige 1/4o Koch, ich bin der Mann, der den Kniff herausgefunden hat, wie man es fertigbringt, nur 1/4o Koch zu engagieren ! Wie sehr wird auf diese Weise das Problem des Personalmangels gemildert ! Aber - Verzeihung - noch bin ich nicht fertig: Ich sorge mich nicht um meinen Koch, ich kümmere mich nicht um ihn, ich gebe ihm weder Aufträge noch Geld, um auf den Markt zu gehen. Aber ich kann Sie alle, wenn Sie einverstanden sind, nach dem Vortrag zu mir einladen, und Sie können Kaviar aus Moskau, argen­ tinischen Puchero oder Poulet de Bresse essen und Nährbier oder Münchener Bier trinken oder der »Witwe Cliquot« den Hals brechen. Das kann mich in gar keiner Weise erschüttern. Morgens um 7 Uhr weckt mich mein Kammerdiener, der außerordentlich höflich =

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und liebenswürdig ist ; er öffnet die Jalousien und die Fenster. Er bringt mir die Schokolade. Dann schreibe ich oder lese. Ich mache einen Rundgang. Mein Kammerdiener hat inzwischen das Zimmer, den Ankleideraum und das Bad in Ordnung gebracht. Am Nachmittag bringt er mir den Tee und die Schiffszeitung mit den neuesten Nachrichten. Für 1 9 Uhr hat er schon meinen Smoking bereit­ gelegt, und wenn ich nachts zurückkomme, ist das Bett zurechtgemacht und die Nachtlampe angezündet. Mein Gott - wie reibungslos läuft das Leben ab ! Und so versorgt mein Kammerdiener etwa 20 Passagiere. Ich habe also 1 12o Kammerdiener zu meiner Verfügung. D as senkt die Lebenshaltungskosten ! Unter diesen Umständen kann man auf Hausangestellte wirklich verzichten. Bis j etzt beschäftige ich nur 1/4o Koch und 1126 Kammerdiener, insgesamt also nur drei Vierzigste! eines Angestellten ! Ich kann nur immer wiederholen, daß sich die Lebenshaltungskosten dadurch beträchtlich senken. Ich wiederhole mir das so lange, bis ich wirklich über die Sache nachdenke und zuletzt das Ei des Kolum­ bus vor mir sehe. Wir gehen weiter auf Entdeckungsfahrt : » Jean, hier ist meine schmutzige Wäsche, lassen Sie sie für übermorgen waschen ; die Bügelfalten in meinen Hosen aber lassen Sie bitte aufbügeln, während ich zum Friseur gehe. « Usw., usw. Ich erlasse Ihnen den Rest - aber ich habe Zahlen zur Verfügung. Als Reisender, der von der Schiffahrtsgesellschaft mit Wohltaten überschüttet wird und in die Kategorie >>Luxuspassagier« gehört, bin ich im Besitz eines Raumes von 1 5 m2 . Ich beschäftige 3/4o Hausangestellte. Ich habe keine Sorgen. Ich kümmere mich nicht darum, ob Jean Zigaretten raucht oder Romane liest oder ob er Lust hat, ins Kino zu gehen. Um 2 Uhr morgens verlange ich telefo­ nisch nach Jean. >> Jean schläft, ich schicke Ihnen j emand anders. > Paul, seien Sie so lieb und . . . > prämaschinistischen « Zeitalters eingesperrt sind. So zeigt sich die Freiheit uns, die wir Sklaven sind ; di e Lösung ist in Reichweite. Wirtschaft, Soziologie, Politik, Städtebau und Architektur stoßen uns darauf. Aber ich erkläre euch, daß es Feierlich-Stumpfsinnige gibt (ich erhalte diese Be­ zeichnung aufrecht !), die sich über solche Vorschläge entrüsten. Dabei berufen sie sich, indem sie die Menschenrechte proklamieren, auf die Freiheit! Ich habe Ihnen gerade das Problem des Gemeinschaftsservice auseinandergesetzt. Eine Zelle im menschlichen Maßstab : 1 5 m2• Nehmen wir eine beliebig größere Fläche - sagen wir zehnmal so groß : 1 50 m2• Und dann werfen wir alles über Bord, was nichts bei uns zu suchen hat. Auf Grund einer veralteten oder verfälschten Vorstellung von den Existenz­ bedingungen geben wir den Häusern verkehrte Flächenmaße ; wir verdoppeln oder verfünffachen den Mietpreis. Zu dieser Belastung fügen wir noch die Not­ wendigkeit, Hausangestellte zu halten, und die damit verbundenen Unannehm­ lichkeiten. Halten wir uns denn auch zu Hause einen Bäcker, der uns das Brot, und einen Konditor, der uns den Kuchen bäckt? Dieses Beispiel steht für das, was ich zuvor angeführt habe. Wir haben nicht überlegt ; wir haben uns nicht angepaßt ; wir sind im akademischen Denken und in den Sitten der prämaschi­ nistischen Zeit steckengeblieben. Damit sind wir mitten im Problem des Gemeinschaftsservice. Seine exakte Lösung muß die Grundlage für modernen Städtebau und für das moderne Wohnh aus bilden. Für die Probleme der Architektur gibt es j etzt einen anderen Maßstab. Das Haus mit einer Fassade von 1 0, 20, 30 m, das von einem Privatmann erbaut wird, ist eine Anomalie, ist ein Anachronismus. Das heißt Geld zu ungünstigen Bedingungen anlegen (mag es auch nicht den Anschein haben) ; das hieße hart­ näckig darauf bestehen, eine unbrauchbare Werkzeugausrüstung zu vergrößern, die nach uns kaum einem mehr nützlich sein wird. Im Gegenteil, man wird für das Wohnhaus, das Büro, die Werkstatt, die Fabrik (architektonische Werke, die man auf den einfachen Nenner >> helle Fußböden > Plan Voisin «) , einen einzigen Protest gegen das farblose Programm der Ausstellung

(angewandte Kunst) darstellte und Lösungen für die bedrohliche Krise der großen Städte vorschlug. Hiernach trieben wir unsere Forschungsarbeiten voran, » ließen den Motor an«, fanden die Quintessenz der Lösung, übertrugen das Problem auf das Gebiet, von dem wir träumten : wir kamen zum Fertighaus. Und im Jahr 1 92 7 - nach dem Kampf um den Palast der Nationen - bat uns ein junger und aktiver Genfer Industrieller, Herr Wanner, ihm bei der industriellen Realisierung unserer Idee der » Zellen « behilflich zu sein ; er setzte alles mit viel Geduld und Sorgfalt ins Werk, um - endlich ! - etwas zustande zu bringen, was des Maschinenzeitalters würdig war. Die Idee braucht Zeit ; ihre Kämpfer brauchen Beharrlichkeit und Ausdauer : 1 907 bis 1 92 7 ! Übrigens hatte ich zur Zeit der ersten Verheerungen des Krieges i n Flandern im Jahr 1 9 1 4 eine Art hellsichtiger Vision in bezug auf das Problem des zeitgemäßen Wohnens. Es ging um folgendes : Der Krieg würde drei Monate dauern (denn die Kriegsmittel waren zu gewaltig, als daß das alles würde länger dauern können - so » hell « sahen die Regierungen !). Die Wiederaufbauarbeiten durften nicht länger als sechs Monate dauern. Und nachher würde das Leben wieder in rosigem Licht erscheinen ! D as, was ich mir zur Ausführung dieses Programmes vorstellte - in einer Zeit, in der (abgesehen von den prächtigen plastischen Erfindungen Frank Lloyd Wrights und den frischen Werken Auguste Perrets) die architektonische Ästhetik eine gefährliche Erneuerung der traditionellen B aumethoden anstrebte -, war ganz und gar neu, war eine » Gesamtansicht«, die die sozialen, industriellen und ästhetischen Gesichtspunkte berücksichtigte und die die Ihnen in dem Vortrag >> Die Technik als Grundlage des Lyrismus « nahegebrachten Prinzipien bereits vollständig enthielt. Ich muß Ihnen j edoch bekennen, daß mir die ganze Be­ deutung dieses Systems erst vor kurzem klar wurde - und zwar in dem Moment, in dem uns eine Menge von Problemen (Dörfer, Mietshäuser, Villen, der Palast der Nationen, der Zentrosojus in Moskau, die Weltstadt) im >> Streben nach einer architektonischen Einheit « (unter dem Titel >> Ein Haus - ein Palast «) zu einer einheitlichen Lösung geführt hat. Auch hier noch ein langer Weg : 1 9 1 4- 1 929. Hier die Lösung von 1 9 1 4 : die » Dorn-Ino «-Häuser. Ich studiere die berühmten alten flandrischen Häuser ; ich zeichne ihren Plan auf ; ich entdecke, daß es sich um Glashäuser handelt : aus dem 1 5., 1 6. , 1 7 . Jahrhundert (80) . Ich stelle mir folgendes vor : Eine Firma baut (ohne Schalung - mit Hilfe eines geeigneten Materials) das Skelett des Hauses : sechs Stützen, drei Deckenplatten und die Treppe. Abmessungen : 6 X 9 m. Standardstützen im Standardabstand von 4 m ; nach allen Seiten - auf auskragenden Trägern - ein Überstand von 4 : 4 1 m. War diese Fläche günstig? ( 8 1 ) Ich habe unzählige Kombinationen für das Innere dieser Tragskelette auf­ gezeichnet. Alles lag im Bereich des Möglichen (82). Ganz automatisch entwarf ich Fensterbänder oder Glaswände (83) - aber deren Bedeutung kam mir gar nicht zu Bewußtsein. So ergaben sich Aussichten für die Zukunft : wenn erst das Hausskelett von der =

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Firma hergestellt sein würde, könnte der Geschädigte mit Material aus seinem Trümmergrundstück das Haus selbst nach seinen eigenen Vorstellungen fertig­ bauen. Von einem Schwesterunternehmen der ersten Firma könnte er anein­ andersetzbare Fenster, Schrankteile, Schubfächer und Türen beziehen. Überall wären auf Grund allgemeingültiger Maße unzählige Kombinationen möglich. Und das wäre etwas ganz Neues : Man würde die Türen und die Fenster nicht in im Mauerwerk vorgesehene Offnungen einsetzen. Nein - man würde solche Türen, Fenster und Schränke einbauen, die auf Grund der Standard-Zimmerhöhe und der festgelegten Stützenabstände leicht anzubringen wären. Erst nachdem sie an Ort und Stelle wären, würde man die Mauem (das heißt: das Füllwerk) darum herumbauen. Schon damals also war der Plan des industriell hergestellten Fertighauses mit Standardskelett und nach Wunsch vorzusehender Inneneinrichtung vollkommen ausgearbeitet - der Plan, den wir heute endlich, nach 1 5 Jahren, ausführen wollen ! Das war mir zu j ener Zeit gar nicht richtig klargeworden, denn wir waren von anderen schwierigen Aufgaben in Anspruch genommen. Heute sind wir auf dem Weg. Im Jahre 1 928 bat uns Herr Loucheur, der Arbeitsminister, sein kleines Haus von 45 m2 zu entwerfen (Typ » Loi-Loucheur «) . 1 . Deckenträger : Eine » diplomatische « Zwischenmauer (siehe Vortrag Nr. 2) ; zwei eiserne Stützen je Haus, die durch die Konstruktion hindurchgehen und das Dach tragen. Der Dorfmaurer hatte zweimal zwei eiserne Konsolen eingemauert. 2. Außenwand : Eine Glaswand oder ein Fensterband. Ringsherum, wie eine Haut - wie eine >> Eidechsen«-Haut -, Zinkfolie, die das Regenwasser ebenso tadellos ablaufen läßt wie die Falze im Blech der Autokarosserie (85) . 3· Die Mauern und die Zwischenwände aus gepreßtem Stroh, aus Holzsp an­ oder Korkplatten ; Innenwände und Decke aus Sperrholz. Im Zentrum die sani­ tären Anlagen : Dusche, Waschraum, WC (Standard) . Alles andere nach Belieben mit Hilfe der Metall-Schrankkästen, von denen ich Ihnen ein andermal erzählen werde. Der Minister ist entzückt. Wir sind zu dem phantastischsten Preis gekommen, der zu erreichen war. Wir haben nur sehr teures Material verwandt: Stahl, Zink, Kork, Sperrholz ; die Fenster werden nach unserem Patent von Saint-Gobain für unsere Luxusvillen ausgeführt. Aber wir wollen uns keine Illusionen machen ! Die Arbeiter, über deren scharfen Verstand ich mich oft freue, werden sich vor unseren Häusern entsetzen ; sie werden sie als >> Schachteln « bezeichnen. Für den Augenblick realisieren wir diese >>billigen Häuser« vom Typ Loucheur, indem wir mehrere Skelette (86) für Aristokraten und Intellektuelle kombinieren. Aufenthalte sind nicht zu ver­ meiden : Seht euch diese Pyramide an, mit der ich das hierarchische System der Gesellschaftsordnung auszudrücken versuche ; hieran wird man trotz aller Revo­ lutionen nichts ändern (87) . Die Basis der Pyramide, das brave Volk, ist für den Moment in eine ausgeprägte Romantik verstrickt ; die Vorstellung des Volkes von Qualität stützt sich auf die Formen eines Luxus, der bei den Generationen vor 1 900 üblich war ; deshalb stellt man noch die riesigen Henri-11-Büfetts und die 94

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gewaltigen Spiegelschränke her. Diese Urweltungeheuer gehen nicht einmal durch die Türen unserer Häuser. Eine Zelle im menschlichen Maßstab wartet noch auf ihre Benutzer. Ehe ich das Blatt abreiße, merkt euch noch diesen Fortschritt : D as Haus wird in der Fabrik hergestellt, es ist standardisiert, industrialisiert, taylorisiert, es wird auf einem Waggon transportiert - ganz gleich, wohin ; Monteure stellen es auf. Unzählige kleine Kunden an unzähligen verschiedenen Orten können bedient werden. Die Stützpfeiler passen sich j eder Terrainform an. Im lnnem ist die Einrichtung beliebig und einem j eden selbst überlassen. Diese Methoden der Industrialisierung infolge der Standardisierung führen uns natürlich zum Wolkenkratzer : Seine Form wird durch das Aufeinandersetzen der 95

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Zellen im menschlichen Maßstab bestimmt. Der Erdboden bleibt frei. Später werden wir von Städtebau sprechen können (88) . *

Kehren wir zur Kartause von Ema und zu unseren »Wohneinheiten « - zwei Formen der » Zellen im menschlichen Maßstab « - zurück. Wenn Sie wüßten, wie glücklich ich bin, sagen zu können : » Meine revolutionären Ideen leben in der Geschichte - in j eder Epoche und in j edem Land. « (Die flandrischen Häuser, die siamesischen oder die vorgeschichtlichen Pfahlbauten, die Zelle eines Kartäuser­ mönchs.) Ich stelle mir eine Zelle vor, die im Schnitt wie folgt aussieht: Zwei Fußböden, zwei Geschosse. Im lnnenblock, auf der Rückseite, schneide ich eine Straße aus, die zu einer » Luftstraße « wird - das heißt, sie ist etwas anderes als die Chaussee zu ebener Erde. Diese » Luftstraßen « wiederholen sich, sie liegen im Abstand von 6 m übereinander ; es gibt also » Luftstraßen « in 6, 1 2, 1 8, 24 m Höhe über dem Erdboden (92 a). Ich ziehe die Bezeichnung » Straße« der Bezeichnung » Korridor« vor, um deutlich zu machen, daß es sich um einen horizontalen Verkehrsweg handelt, der vollständig unabhängig von den angrenzenden Villen ist, deren Türen sich auf ihn öffnen (90) . Diese Luftstraßen führen in als günstig erkannten Abständen zu einer Gruppe von Aufzügen, zu Rampen oder Treppen, die die Verbindung mit dem Boden der Stadt herstellen (92) . Hier ist auch der Zugang zum D achgarten, auf dem sich die Sonnenterrassen, das Schwimmbecken, die Sportplätze, die Spazierwege im Grün der Hängegärten befinden (9 1 ) . In einigen Städten, die eine verkehrsreiche Lage haben (davon werde ich noch sprechen), wird man an dieser Stelle eine Autobahn finden. Durch eine der Türen ist man in eine Wohnung gegangen. Die Einrichtung im lnnem steht im Belieben des Bewohners (freies Planen durch unabhängiges Haus-Skelett) . Für die vordere Fassade sieht man j edenfalls eine Glaswand vor. Geschickte Kombinationen gestatten doppelte Höhe, wobei man Salon und Eß­ zimmer übereinanderbaut. Von hier aus öffnet sich eine Tür zum Garten. Dieser Garten ist » aufgehängt «. Er ist nach drei Seiten geschlossen. Wir haben den Pavillon de l'Esprit Nouveau im Jahre 1 925 errichtet, um zu zeigen, wie wunderbar solch ein Garten ist. Ich will es genau ausdrücken : dieser Gartentyp scheint mir die modeme Möglichkeit des Luftschöpfens mitten im täglichen Leben darzustellen ; man kann trockenen Fußes einhergehen, ohne sich Rheumatismus zuzuziehen, man ist geschützt vor direkter Sonnenbestrahlung und vor Regen. Wir haben derartige Gärten für die Villa Garches und für die Villa Poissy angelegt - sie können als Musterbeispiele gelten. Ein zweckentsprechender Garten, der keine Pflege braucht. Dieser Garten zum Luftschöpfen wirkt, wenn man ihn mit den langen Reihen der Wohnungen multipliziert, wie ein richtiger Lufu> schwamm «. Jede Wohnung wird von der Nachbarwohnung durch einen Garten getrennt. Multiplizieren wir die Standardelemente der Zelle. Nach oben sehen wir die g8

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Glasflächen sich vertikal verbinden ; seitlich werden die Glaswände von Zellen mit starker architektonischer Ausdruckskraft begrenzt. Zeigen wir die Sache im Schnitt. Die grüne Kreide bezeichnet die Gärten, die rote den Block der Wohnungen, die gelbe die » Luftstraßen «, die - oberhalb der Chaussee - durch Stege miteinander verbunden sind, die senkrecht in die große Servicehalle führen. Noch tiefer liegen die Garagen, in denen jeder Bewohner seinen Wagen unterstellen kann (92, 92 a) . Auf dem gleichen Querschnitt finden wir einen anderen gelben Sektor: den Be­ trieb des Gemeinschaftsservices. Ich habe Ihnen von den angenehmen Einrich­ tungen des Schnelldampfers erzählt. Sie haben mich verstanden ! Die vertikalen Verbindungswege vom Gemeinschaftsservice zu den einzelnen Zellen zeichnen wir mit violetter Farbe ein. Ich will es nun gut sein lassen - aber merken Sie sich dies : Durch solche Bau­ werke erhält die Fassade ein neues Maß. Diese Glaswände, die von den großen Flächen der Gärten (6 m) belebt werden, stellen eine neue architektonische Er­ scheinung dar. Der Aspekt der Stadt ändert sich ; bei der Städteplanung wird man über Elemente von 6 m anstatt - wie heute üblich - über solche von 3 m verfügen. Wir wollen diese wichtige Tatsache im Auge behalten bis zu dem Augenblick, in dem ich Ihnen zeigen werde, wie man bei der Planung der großen Städte Geld sparen kann (anstatt es zu vergeuden), indem man den Boden aufwertet, und wie man den Schlüssel zur Lösung des Verkehrsproblems in großen Städten mit komplizierter Lage finden kann - und wie man schließ­ lich dadurch eine Synthese » Natur-Architektur« erreicht, die ebenso erhaben wie unerwartet ist. Ich glaube, wir haben j etzt doch wirklich festgestellt, daß das Bauhandwerk seine Methoden dem Geist des Maschinenzeitalters anpassen m�ß, indem es den kleinen Privatbau aufgibt. Das Haus darf nicht mehr nach Metern - es muß nach Kilometern gebaut werden. *

Die Verfolgung des wirtschaftlichen Ideals bei der Planung der » Zellen « führt uns über das einfache Gehäuse der menschlichen Schnecke hinaus. Diese Zellen müssen zu Millionen zusammenfügbar sein ; und dieses Muß führt uns zu über­ raschenden Lösungen. Auf » hellen Fußböden « leben und wirken, in » Gärten zum Luftschöpfen « atmen, in der freien Atmosphäre der Wohnungen mit ge­ meinschaftlichem Service wohnen, sich rasch und sicher auf den » Luftstraßen « bewegen ; das ist schon ein beträchtlicher Fortschritt, wenn man an den augen­ blicklichen Zustand der Dinge denkt. Das moderne Leben - im Büro und in der Fabrik - schwächt durch sitzende Lebensweise und Taylorisation, die die Bewegung einschränkt, den Organismus und das Nervensystem. Der Sport ist ganz plötzlich wichtig geworden. Aber er beschäftigt mehr die Gemüter als die Körper. Was bedeutet er in Wahrheit ? Die Antwort auf diese Frage ist entwaffnend : Unter » Sport« versteht man heute 50 ooo Blutarme, die sich unter den schlimmsten Bedingungen auf den Sport1 00

plätzen versammeln, um zuzuschauen, wie 22 starke Burschen Arme und Beine bewegen ; dafür sind die Sportplätze da . . . Und die Stadtväter sagen, wenn sie für einen Sportplatz gesorgt haben : » Jetzt haben wir dem Sport unseren Tribut gezollt. « Sport muß regelmäßig - täglich oder doch wenigstens zweimal wöchentlich - ge­ trieben werden. Wenn man nicht akute Realitäten unbeachtet lassen will, muß man den Sport am Fuß der Häuser möglich machen. übrigens werden wir beim Studium des modemen Städtebaus sehen, daß die gesunde Stadt ausgedehntere Verkehrsnetze braucht. Die modeme Technik läßt durch die Hochbauten oder durch den » Kilometerbau « das gesamte Terrain zu unserer Verfügung und ver­ mindert die Entfemungen, während sie die Bevölkerungsdichte zunehmen läßt. Neue - elastische und sinnvolle - Ideen werden gebraucht. Hier ist ein Beispiel, das mir sehr wertvoll ist, denn es vermittelt - vom sozialen Standpunkt aus musterhafte Realitäten : Ich zeichne das Viereck von 400 m2 , das im allgemeinen von den Städtebauem j eder Behausung der modemen Gartenstadt zugestanden wird (94) . Man verteilt die Parzellen längs der gewundenen oder geraden Straßen, und die kleinen Häuser bilden eine Menge roter Punkte. Ich nenne das eine » Splitter«-Parzellie­ rung (95), weil der Anblick ziemlich chaotisch ist ; die Vegetation rettet eines Tages alles, und wir beruhigen uns wieder. Die Stadtväter sind zufrieden : » Wir haben ein menschenfreundliches Werk getan «, meinen sie. Gewaltiger Irrtum, reine Illusion : man hat dem Arbeiter und seiner Frau ein Martyrium auferlegt. Ihr Garten ? Eine sehr schädliche zusätzliche häusliche Plage ; schädlich für den Körper, der dadurch deformiert wird. Die Bewegungen beim Gärtnem sind ungesunde Bewegungen; Gartenfrondienst, Verschleiß der Körperkräfte. » Sein Gärtchen bebauen ! « Es wird eine Menge darüber geschrieben - und es werden gute Geschäfte damit gemacht ! Ein Haufen Preislisten, die von Farbe triefen, und soviel Prospekte, soviel schöne Bücher und soviel schöne Vorträge - und alles das hält die Illusionen und das Rheuma am Leben ! Die menschliche Zelle muß also um den gemeinschaftlichen Service vergrößert werden, und der Sport muß zu einer der täglichen häuslichen Übungen werden. Hier haben Sie eine Lösung, die die schon mit der Luftstraße und dem » Garten zum Luftschöpfen « versehene Zelle vollendet : Ich nehme 50 m2 für die Zelle ( 2 Geschosse = 1 00 m2) und 50 m2 für den »hängenden Garten « (95). Ich setze eins auf das andere - bis zu einer Höhe von 30 m : Zellen und Gärten. Von den 300 zur Verfügung stehenden Quadratmetem nehmen wir 1 50 m2 für den Sport. Die 1 50 zu j eder Zelle gehörenden Quadratmeter werden zugunsten des Sports addiert (96), und wir lassen am Fuß der Häuser eine ununterbrochene Reihe von Spielplätzen sich entlangziehen. Der Arbeiter kommt nach Hause, er zieht seinen Sportanzug an ; vor dem Haus trifft er sich mit der Gruppe oder mit dem Sport­ lehrer ; seine Frau und seine Kinder machen es ebenso. Fußball, Tennis, Basket­ ball, Kinderspiele in bunter Folge auf dem Boulevard vor den Gartenzellen (97) . Genauso werden die restlichen 1 50 m2 >> addiert «, und zwar für den Gemüse101

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anbau. Ein Landwirt bewirtschaftet 1 00 oder 1 000 Parzellen, pflügt sie mit dem Traktor, düngt sie und gießt sie mit Hilfe von automatischen Wasserspreng­ anlagen. Und dieser Gemüseanbau lohnt sich. Der Arbeiter kann sich seine Radieschen oder Karotten ziehen, nachdem er etwas für seine Muskeln und seine Lungen - und gleichzeitig (und zwar dadurch !) unfehlbar etwas für seinen Optimismus getan hat (97 a) . *

Meine » Suche nach einer Zelle im menschlichen Maßstab « setzt voraus, daß man j edes existierende Haus und j eden existierenden Wohnkodex, alle Gewohnheiten und j ede Tradition vergißt. Das bedeutet, daß man in aller Ruhe die neuen Be­ dingungen erforscht, unter denen unser Leben sich abspielt. Man muß zu analy­ sieren wagen und zusammenzufügen verstehen. Man muß im Rücken den Halt der modernen Technik spüren und vor sich die schicksalhafte Entwicklung des Bauens erkennen, die auf vernünftige Methoden hinzielt. Es gilt die Sehnsucht im Herzen eines Menschen des Maschinenzeitalters zu stillen - nicht aber, einige Romantiker des » alten D aches « zu hätscheln, die, die Leier in der Hand - ohne sich über das Geschehende klarzuwerden -, dem Verfall der Rasse, dem Zu­ sammenbruch der Stadt, dem Einschlafen des Landes zuschauen.

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1 0 . Vortrag : Samstag, 1 9 . Oktober 1 929, » Amigos del Arte «

DAS A B E NTE U E R DER WO H NU N G S E I N R I C HTU N G Man wird den Plan des modernen Hauses nicht zweckmäßig erneuern können, ehe man die Frage der Einrichtung ganz klargestellt hat. Dies ist der gordische Knoten. Man muß ihn durchhauen, wenn die Verfolgung der modernen Idee einen Sinn haben soll. Wir werden darauf gestoßen : Das Maschinenzeitalter hat das >> prämaschinistische« Zeitalter abgelöst ; ein neuer Geist ist an die Stelle des alten getreten. *

Wir wollen einmal in einem Haus - in unserem eigenen zum Beispiel - den Versuch machen, das, was uns umgibt, einer Prüfung zu unterziehen ; wir wollen uns die Frage >>Wie ? « und >> Warum ? « stellen ; wir wollen die Bedeutung aller dieser Dinge zu verstehen trachten. Im allgemeinen werden wir uns einem verblüffenden Nonsens gegenübersehen. Wenn wir gewillt sind, wirklich nachzudenken, werden wir aus unseren Über­ legungen verwandelt, geläutert und - selbstverständlich - mit dem Entschluß hervorgehen, das Joch abzuschütteln und diese zahlreichen Zeugen des lächer­ lichen Abenteuers, in das man uns gestürzt hat, verschwinden zu lassen. Wir werden bestürzt sein und uns fragen : >> Wie war das nur möglich ? Wie hat sich das alles nur ohne mein Wissen so breitgemacht ? Ich bin doch um Gottes willen nicht verrückt . . . usw. usw. « Wir werden erregt und sehr bereit sein, zu handeln . . . Weit gefehlt ! Wir werden uns ganz ruhig wieder in den täglichen Trott begeben, uns dem Zwang der herrschenden Meinung beugen, uns von der alles besiegenden Macht der Ge­ wohnheit bremsen lassen. Nicht umsonst gehören wir einer geordneten Gesell­ schaft an : wir werden geleitet von dem Gedanken an die anderen Leute. 1 05

Reagieren ? Selbständig handeln und den ehrlichen Impulsen des Geistes und des Gefühls folgen - das ist eine sehr bedenkliche Sache ! Das ginge nur unter ganz besonderen Verhältnissen an. Hört : Eine neue Epoche hat begonnen - angeregt vom Neuen Geist. Die Stunde ist günstig. Wir wollen aufräumen. Und in dem leeren Raum, den wir geschaffen haben, wollen wir einen neuen Bau errichten, der angeregt ist vom N euen Geist. Heute sieht man klar ! *

Wovon handelt dieser Vortrag ? Von unserer Wohnungseinrichtung, von unseren Nippsachen, von unseren Kunstgegenständen. Gewohnheit, Mode und hundertjähriges Spießbürgertum haben die Grundlagen verfälscht. Wir befinden uns in einer gefährdeten und gefährdenden Situation. Überall Akademismus ! Neues Glück, wahre geistige Freuden warten auf uns. Wir müssen unseren freien Willen wiedergewinnen. Wir wollen einen häuslichen Herd gründen, an dem Männer wie Frauen Freude und Anregung finden. *

Die Frau ist uns zuvorgekommen. Sie hat die Reform ihrer Kleidung durch­ geführt. Das Dilemma, in dem sie sich befand, war dieses : Wenn sie sich weiter der Mode unterwarf, mußte sie auf die Segnungen der modemen Technik und auf das modeme Leben verzichten. Verzichten auch auf den Sport und - ganz materiell betrachtet - auf die Arbeit, die der Frau erlaubt, ihren Teil zur moder­ nen Aktivität beizutragen und ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Der Mode weiter folgen : das hätte bedeutet, daß sie nicht hätte Auto fahren, nicht in die Metro oder den Bus steigen und daß sie sich nicht hätte unbehindert in ihrem Büro oder in ihrem Laden bewegen können. Die Zeit für den täglichen Aufbau ihrer Toilette (Frisur, Stiefel, d as Zuknöpfen des Kleides) hätte sie von ihrem Schlaf opfem müssen. So hat also die Frau ihre Haare, ihre Röcke und ihre Ärmel kurzgeschnitten. Sie geht ohne Kopfbedeckung, mit bloßen Armen und unverhüllten Beinen. In fünf Minuten ist sie fertig angezogen. Und dabei ist sie schön ; sie betört uns mit i hrer Anmut, der die Damenschneider freie Entfaltung gestatten. Mut, Schwung, Erfindungsgabe, mit denen die Frau ihre Moderevolution durch­ geführt hat, sind ein Wunder der modemen Zeit. Dank dafür ! Und wir - die Männer? Eine peinliche Frage ! Im Frack wirken wir wie Generäle der Großen Armee - und dazu tragen wir steife Kragen ! Im Arbeitsanzug fühlen wir uns unbequem. Wir müssen ein ganzes Sammelsurium von Papieren und allen möglichen sonstigen Kleinkram bei uns tragen. Die Tasche sollte der Schlußstein der modemen Kleidung sein. Versuchen Sie nur, wirklich alles mit 1 06

sich zu führen, was Sie nötig haben : unweigerlich verderben Sie die Linie Ihres Anzugs ; Sie sind nicht mehr korrekt gekleidet. Man steht vor der Wahl, ob man ein arbeitender Mensch oder eine elegant gekleidete Persönlichkeit sein will. Der englische Anzug, den wir j etzt tragen, hatte die Lösung dieses wichtigen Problems schon immer realisiert. Er hat uns neutralisiert. Er hat einen neutralen Aspekt in die Stadt gebracht. Keine Straußenfedern ziehen mehr die Aufmerk­ samkeit auf sich - es gilt die allgemeine Erscheinung. Und das genügt. M. Wa­ leffe in Paris, der eine Abneigung gegen die Engländer hatte, rief zum Kreuzzug auf : Seidene Beinkleider und Seidenstrümpfe, Schnallenschuhe und Kniebänder, » französische« Eleganz - lateinischer Genius ! Zurschaustellung der Waden ! Die Sache ging schief - man lachte. lm Schnee von St. Moritz ist der moderne Mann in Ordnung. Und in Levallois­ Perret, dem Hauptquartier des Automobils, kann der Mechanikeranzug als » Vor­ läufer« gelten. Wir, die Büromenschen, sind von den Frauen um eine ganze Länge geschlagen. So hat sich also der Geist der Reform bis jetzt lediglich gezeigt; wirklich in Aktion treten muß er erst noch überall - auf allen Gebieten des Lebens. *

Was bedeutet eigentlich die Wohnungseinrichtung ? >> Sie ist für uns das Mittel, unsere soziale Stellung zur Schau zu stellen. >Wald >Ein H aus, ein Palast> Er bringt die

Lösung des Wohnproblems, und dadurch wird die Masse der Arbeiter ihre Lage so sehr verbessert sehen, daß sie keine Lust mehr haben wird, das Risiko der Revolution auf sich zu nehmen. « Der Vorsitzende des Arbeiterrats in Moskau beschloß im Juni dieses Jahres nach einer mehrstündigen Diskussion den B au unseres Zentrosaj us-Palastes auf Stütz­ pfeilern, um damit den Aufbau von Groß-Moskau einzuleiten. » Le Redressement Francais«, die Organisation für Wirtschaftsforschung der französischen Großindustrie, veröffentlichte in meinem N amen » Vers le Paris de l'Epoque machiniste « - und mit dieser Unterstützung drang die Idee in neue Kreise vor. Schließlich erklärte M. D aniel Serruys in seinem Vortrag über Paris, den er in diesem Frühj ahr im SaUe de Geographie hielt, vor einem Publikum, das sich aus Senatoren, Abgeordneten, Stadträten, Industriellen zusammensetzte, daß der >> Plan Voisin de Paris « die einzige Lösung sei, die energische Maßnahmen fordere, und daß allein weittragende Maßnahmen das drohende Unheil ver­ hüten könnten. In dem Au g enblick, in dem dieses Buch in Druck geht, legt mir Oberleutnant Vauthier das Manuskript eines Werkes vor, das er bei Berger-Levrault heraus­ geben wird : » DI E LUFTGEFAH R UND DIE ZUKUNFT VON PARIS> Leuten vom Fach « über das, was ich Ihnen hier auseinandergesetzt habe, eine gewisse Einhelligkeit herrsche. Aber glauben Sie das nur ja nicht ! Es herrschen die verschiedensten Meinungen, sie sind in alle Winde gesät. Ich habe mich bemüht, dem Problem auf den Grund zu gehen ; ich bin von der Architektur ausgegangen. Im allgemeinen neigen die Fachleute zu Lösungen, die mit Leichtigkeit direkt zu übersetzen sind : mit Hilfe von Bleistift, Tusche und Wasserfarben läßt sich die Zustimmung von Verwaltungs- und anderen Räten am ehesten erlangen. Man vergegenständlicht etwas - und fühlt sich der Verwirklichung gleich bedeutend näher. Ich gehöre zur Commission du Paris Nouveau, die von einer großen Pariser Tageszeitung gegründet wurde. Zum erstenmal wurde ich am 1 . Mai dieses Jahres eingeladen. Ich traf dort 20 ausgezeichnete Fachleute, die damit beschäftigt waren, das Proj ekt, zu dessen Healisierung sie sich zusammengefunden hatten, abzuschließen : die Route Triomphale. Mittelpunkt des Problems war Paris. D as in seinem Kern baufällige Paris, undurchdringlich für Fahrzeuge, ganz und gar verstopft, umgeben von einem ungeheuren ungeordneten, grausig ausein­ andergerissenen - oder besser : unorganischen, unorganisierten Vorortgebiet, ins Blaue hinein angeordnet. Ich zeichne ( 1 95) die städtebauliche Situation von Paris : die umeinanderliegen­ den Kreise, das tentakelförmige Vorortgebiet, die strahlenförmig angelegten Schienenstränge, die strahlenförmig angelegten Straßen, die in einen engen

Gürtel ringsum zusammengepreßten Vororte : ein außerordentlich konzentrischer Organismus ; strahlenförmige Lagerung ; unbedingt biologisch. Aber ach : alles liegt außerhalb des M aßstabs der modemen Zeit : Man kann sich nicht in einem Verkehrsstrom fortbewegen - bei diesem Verkehr verliert man seine Zeit. Das Leben der arbeitenden Menschheit h at den Weg zu einem Kalvarienberg ein­ geschlagen. Man müßte sanieren, ordnen, wiederbeleben, anpassen. Die Route Triomphale ? Man geht zum Obelisque de la Concorde, zum Are de Triomphe, man fährt durch Neuilly bis zum Denkmal der » Defense « ( alles das existiert, alles das wurde von Louis XVI . erbaut) . . . und von hier aus fährt man eine Strecke von 24 km bis Saint-Germain-en-Laye und tauft die Strecke » Route l8l

Triomphale «. Überflügelt das Wort den Städtebau? Wird Paris vor Paris flüchten ? Einer der bekanntesten unter meinen Kollegen, ein Mann, den ich als Konstrukteur immer wegen seines scharfen Verstandes geschätzt habe, stand mir gegenüber, legte die Hand flach mitten auf die Karte von Paris und rief aus : >> Man soll uns ein für allemal mit dem Zentrum von Paris in Frieden lassen ! Wir bauen die Route Triomphale. Und am Rande dieser Avenue wird Paris auf­ gebaut. Wir werden das Zentrum von Paris leeren ; wir machen daraus einen Garten für die Kindermädchen und werden uns dort amüsieren ! « Aufwertung, nicht wahr ? Ganz und gar sichere Operation, nicht wahr ? Paris und sein Stadtgebiet werden das ausgedehnte Radialsystem aufgeben und sich in gerader Linie ausrichten lassen . . . ? Ich weiß wohl, daß wir auf dieser ganz neuen Strecke von 24 km wunderbare Geb äude errichten könnten. Aber für welche Art von Menschen ? Wer würde sich wohl >> ringsherum « niederlassen ? Und j etzt stelle ich meinerseits die Frage : >> Woher nehmt ihr das Geld ? « Und diese andere Frage : das Zentrum, das ein kolossales virtuelles Vermögen in sich birgt - eben weil es zentral gelegen ist -, diese Frage wollen wir mit einer lässigen Handbewegung abtun ? Ich versuche, die Busstrecken, die Strecken der Metros und der Autos zu skizzieren, die das Pariser Gebiet mit der neuen Stadt verbinden sollen, und vergleiche sie mit den Strecken des existierenden Radialsystems : Bitte rechnen Sie sich das ver­ lorene Benzin und die verlorene Zeit pro Tag und pro Jahr aus ! Sobald die Route Triomphale fertig ist, werden die Autos nach Paris strömen ; schon bei der Porte-Maillot wird die Stauung beginnen : Die Avenue der Grande Armee - heute viel zu eng ; l'Etoile, das schönste Verkehrshindernis ( Illusion der Pläne) ; die Champs-Elysees - verstopft und für solche, die es eilig haben, heute nicht befahrbar ; der dicke Schlamm, der die Flut der Route Triomphale in sich einsaugt : die Place de la Goncorde ? Es ist j etzt gefährlich, dort zu fahren. Aus­ weichen ? Die Madeleine ? Die Abgeordnetenkammer ? Stauung ! Die Tuilerien ? Are du C arrousel - Stauung ; Palais du Louvre - Stauung ; Place des Pyramides ­ Stauung; Pont-Royal - Stauung ; Staint-Germain-l'Auxerrois - Stauung ; Hötel­ de-Ville - Stauung ! D as ganze historische Paris ist versperrt oder in eine Atmo­ sphäre der Hetze getaucht ! Fünfhundert Meter nördlich, im rechten Winkel zur Opera, parallel zur Route Triomphale, quer durch die verfallenen Viertel, die reif sind zum Abbruch, schlug 1 92 2- 1 9 25 der Plan Voisin den großen Ost-West-Durchbruch vor, der ohne Hindernis verlaufen sollte, in der Ferne beginnend, in die Ferne führend ­ mit einem Schlag Paris aus seiner Atemnot befreiend ; das Rückgrat der Stadt. Gigantische Aufwertung ( 1 96) . Und da man sich hieran zu halten scheint, gelangte man auf diese Weise nach Saint-Germain-en-Laye. Das Pariser Stadtgebiet und seine Bewohner, die kleinen Leute, sind krank und erwarten von uns das Heil. Werden wir ihnen nichts anderes zu bieten haben als die Route Triomph ale ? 182

Das war am 1 . Mai 1 929. Als ich unseren Ausschuß verließ, lagen die Boulevards verlassen - um 1 8 . 30 Uhr abends ; die Taxis waren, wie üblich, an diesem Tag verschwunden - bzw. diej enigen, die sich durch die bestehenden Sozialgesetze benachteiligt fühlten, taten dies feierlich kund. Man sah unzählige Polizisten. Die Stille war beängstigend. Ich dachte an unsere Route Triomphale. Die Abend­ blätter verkündeten, daß am Tag zuvor der Minister des lnnern, um eventuelle Unruhen zu verhindern, 3500 bekannte Kommunisten hatte festnehmen lassen ! Sich von j edem akademischen Geist freimachen . . . selbst bei der Benennung von Straßen ! *

Um in diesem Buch einen Ersatz zu bieten für die Lichtbilder, die hier natürlich nicht erscheinen, gebe ich nachstehend eine freie Beschreibung der Geschäftsstadt, wie sie im lntransigean t am 20. Mai 1 929 veröffentlicht wurde :

DIE STRASSE Nachstehend die freie Beschrei­ bung der genauen städtebaulichen und architektonischen Pläne : sta­ tistische Tatsachen, Materialfestig­ keit, Sozial- und Wirtschaftsorga­ nisation, vernünftige Bewertung des Grundeigentums. Bis auf den heutigen Tag gültige Definition : Eine S traße ; meistens schmale oder breite Bürgersteige. Senkrecht aufsteigende Haus­ wände : Dachluken und Blechrohre b ilden die gegen den H immel sich abzeichnende ge­ schmacklose Silhouette. Die Straße befindet sich in der Niederung, in ewigem Halb­ dunkel. Das Blau des Himmels ist ein sehr ferner Hoffnungsschimmer. Die Straße ist eine Rinne, eine tiefe Spalte, ein enger Gang. Man hat das Gefühl, als stoße m an sich an den Mauern zu beiden Seiten die Ellenbogen wund. Das H erz ist eingeengt und be­ klemmt - obgleich das alles schon seit 1 00 Jahren so ist. Die Straße ist voller Leute ; man muß auf seinen Weg aufp assen. Seit einigen Jahren ist sie voller Fahrzeuge : zwischen den beiden Trottoirrändern lauert tödliche Gefahr. Aber wir sind darauf gedrillt, dieser Todesart ins Auge zu sehen. Die Straße wird von 1 000 verschiedenen Häusern geform t : wir haben uns an die Schön­ heit des Häßlichen gewöhnt - das heißt, wir nehmen unser Unglück von der besten Seite. Die 1 000 H äuser sind schwarz - und was da so nachbarlich beieinandersteht, er­ gibt zusammengenommen eine Kakophonie ; das ist gräßlich, aber wir gehen daran vorbei. Wenn sie menschenleer sind - sonntags -, stellen diese Straßen ihre Scheußlich­ keit zur Schau. Zu anderen als solchen trostlosen Stund en drängeln sich hier M änner und Frauen, und die L äden blitzen n ur so ; in a llem glimmt das Drama der Stadt. Und wenn wir zu schauen verstehen, können wir uns in den Straßen köstlich amüsieren besser als im Th eater oder mit einem Roman : Gesichter und Begierden . *

Nichts von alledem erweckt in uns die Freude, die eine Auswirkung der Architektur ist ; nichts den Stolz, den die Ordnung hervorruft ; nichts den Unternehmungsgeist, der in weiten Räumen gedeiht . . . . aber Mitleid und Erbarmen erwachen beim Anblick der Umgebung. Und » Hard­ labour« unterdrückt alles. *

Die Straße kann das menschliche Drama über sich ergehen lassen. Sie kann im modernen Lichterglanz erstrahlen. Sie kann mit ihren bunten Werbeplakaten lachen. Sie ist die Straße des tausendj ährigen Fußgängers ; sie ist ein Überbleibsel der Jahr­ hunderte ; sie ist ein schlaffes, nicht mehr arbeitendes Organ. Die Straße verbraucht uns. Und zuletzt flößt sie uns Abscheu ein ! Warum existiert sie überhaupt noch ? *

Diese zwanzig Jahre des Automobils (und vieler anderer Dinge - denn seit 1 00 Jahren stürzt uns das Maschinenzeitalter in immer neue Abenteuer) haben uns vor große Ent­ scheidungen gestellt. Ein Kongreß des >> Neuen P aris > Straßenschlucht