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German Pages [223] Year 2013
Karsten Brüggemann, Mati Laur, Pärtel Piirimäe (Hg.) Die baltischen Kapitulationen von 1710
Q UELLEN UN D S T UDI EN ZU R BA LT IS CH EN GESCH ICH T E Herausgegeben im Auftrag der Baltischen Historischen Kommission von Karsten Brüggemann, Matthias Thumser und Ralph Tuchtenhagen Band 23
Karsten Brüggemann, Mati Laur, Pärtel Piirimäe (Hg.)
Die baltischen Kapitulationen von 1710 Kontext – Wirkungen – Interpretationen
2014 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des internationalen Forschungsprogramms „Nordic Spaces“ des „Riksbankens Jubileumsfonds“ (Project „Baltic regionalism“) und der Wissenschaftsförderung der Republik Estland (ETF 9164, SF0130038s09 SF0180006s11, SF0180040s08)
Karsten Brüggemann ist Professor für Estnische und Allgemeine Geschichte an der Universität Tallinn. Mati Laur ist Professor für Neuere Geschichte am Institut für Geschichte und Archäologie der Universität Tartu. Pärtel Piirimäe ist Dozent am Institut für Geschichte und Archäologie der Universität Tartu und Pro Futura Scientia Fellow am Swedish Collegium for Advanced Study.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://portal.dnb.de abrufbar. Umschlagabbildung: Kapitulation der Stadt Tallinn, 29.9.1710, Siegel und Unterschriften (Tallinner Stadtarchiv – TLA, f. 230, n. 1-I, s. 1210a) © 2014 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Druck und Bindung: Strauss, Mörlenbach Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in the EU ISBN 978-3-412-21009-0
Inhalt
Karsten Brüggemann, Mati Laur & Pärtel Piirimäe Einleitung.................................................................................................. 1 Jürgen von Ungern-Sternberg Europäische Kapitulationsurkunden: Genese und Rechtsinhalt ................ 17 Ralph Tuchtenhagen Die Kapitulationen von 1710 im Kontext der schwedischen Reichspolitik Ende des 17. Jahrhunderts .................................................. 43 Pärtel Piirimäe The Capitulations of 1710 in the Context of Peter the Great’s Foreign Propaganda ...................................................... 65 Andres Andresen Der Systemwechsel in der Kirchenleitung Estlands nach 1710 und seine Bedeutung für ein Paradigma der deutschbaltischen Geschichtsschreibung............................................................................... 87 Mati Laur Katharina II. und die Kapitulationen von 1710...................................... 119 Gert von Pistohlkors „Alte Ruinen“ (Julius Eckardt) oder Garanten einer zeitgemäßen praktischen Politik? Zur Interpretation der Livländischen Privilegien von 1710/21 vor der „Russifizierung“ (1841 bis 1885)........................... 129 Marju Luts-Sootak Die baltischen Kapitulationen von 1710 und die Gesetzbücher des 19. Jahrhunderts .............................................................................. 153
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Inhalt
Lars Björne Finnland 1809 – und die Entwicklung danach: Versuch einer kurzen Rechtsgeschichte .................................................. 183 Robert Schweitzer Vorbild oder Auslaufmodell? Die Bedeutung der Kapitulationen und der Autonomie der Ostseeprovinzen für die Autonomie Finnlands im Russischen Reich ........................................... 195
Über die Autorin und die Autoren......................................................... 207 Register.................................................................................................. 213
Karsten Brüggemann, Mati Laur & Pärtel Piirimäe
Einleitung Während des Großen Nordischen Krieges (1700–1721) besetzten russische Truppen im Laufe der Jahre von 1704 bis 1710 die schwedischen Ostseeprovinzen Estland und Livland. Um die Unterstützung des lokalen Adels und der städtischen Elite zu gewinnen, schloss die russische Militärführung im Namen Peters I. mit den schwedischen Garnisonen, den baltischen Ritterschaften und den größeren Städten von Liv- und Estland Kapitulationsverträge, welche den baltischen Ständen zahlreiche Vergünstigungen brachten. Tatsächlich gab Peter, als in Sommer 1710 bei Riga über die Kapitulationsbedingungen verhandelt wurde, seinem Oberbefehlshaber General Boris P. Šeremetev zu verstehen, dass er den Livländern alle Forderungen zugestehen könne, die sie stellen würden. Ganz Europa sollte demonstriert werden, dass die Bürgerschaft von Riga sowie der livländische Adel schon vor dem Friedensschluss den russischen Zaren als ihren Herrscher anerkannten. Die Stadt Riga konnte alle ihre grundlegenden Privilegien erhalten: ihr bisheriges Territorium sowie ihre politische und soziale Ordnung. Die Selbstverwaltung des Adels wurde nach den schwedischen Eingriffen wiederhergestellt und die Adeligen bekamen ihre Güter zurück, die während der Schwedenzeit reduziert worden waren1. Entsprechende Kapitulationsverträge wurden in der Folge auch mit der Estländischen Ritterschaft und den anderen größeren Städten vereinbart2. Aus der Sicht der Ritterschaften und Städte Est————————————
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Die Abfassung dieses Beitrags wurde ermöglicht durch die Wissenschaftsförderung der Republik Estland (Projekte SF0130038s09, SF0180006s11 & ETF 9164). Zigmantas KIAUPA / Ain MÄESALU / Ago PAJUR / Gvido STRAUBE, Geschichte des Baltikums, Tallinn 1999, S. 88 f.; vgl. die klassische Darstellung bei Reinhard WITTRAM, Peter I. Czar und Kaiser. Zur Geschichte Peters des Großen in seiner Zeit, Bd. 1, Göttingen 1964, S. 323–361; Klaus ZERNACK, Der große Nordische Krieg, in: Handbuch der Geschichte Russlands, Bd. 2: 1613–1856. Vom Randstaat zur Hegemonialmacht, 1. Halbbd. hg. v. DEMS., Stuttgart 1981, S. 246–296, hier S. 274–276. Friedrich BIENEMANN jun., Die Capitulation Dorpats 1704, in: Mitteilungen aus dem Gebiete der Geschichte Liv-, Ehst- und Kurlands 16 (1896), S. 607–630; Paul Baron OSTENSACKEN, Zur Kapitulation der estländischer Ritter- und Landschaft am 29. September 1710, Reval 1910, S. 17–25; Die Capitulationen der livländischen Ritter- und Landschaft
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und Livlands waren die Bedingungen dieser Kapitulationen wahrscheinlich das Höchste, was man zu diesem Zeitpunkt zu erreichen hoffte. Es ist aber nicht ausgeschlossen, so schreibt Ralph Tuchtenhagen in diesem Band, dass die baltischen Stände darauf spekulierten, mit den russischen Zugeständnissen von 1710 ein Präjudiz für die Zeit nach dem Krieg zu schaffen und die Stockholmer Regierung im Falle eines schwedischen Sieges dazu zu bringen, die Integrationsmaßnahmen wieder rückgängig zu machen oder wenigstens auf ein erträgliches Maß abzumildern. Solange der Ausgang des Krieges noch nicht entschieden war, wurde die Möglichkeit einer Rückkehr der baltischen Provinzen zu Schweden selbst von russischer Seite in Betracht gezogen, welche in einem Artikel der Kapitulation von Hark (estn. Harku) bei Reval (estn. Tallinn) für diesen Fall versprach, sich bei der schwedischen Krone für die Erhaltung der Privilegien einzusetzen3. Die Geschichte – bzw. der Friedensvertrag von Nystad – hat die baltischen Länder 1721 endgültig der russischen Oberherrschaft unterstellt. Vier Artikel dieses Friedensschlusses bestätigten den Inhalt der Kapitulationen. Der neunte Artikel gewährte es den adligen und nichtadligen Bewohnern Estlands, Livlands und Ösels, ebenso den Städten, Magistraten, Gilden und Zünften ihre Privilegien, Sitten und Rechte aus der schwedischen Regierungszeit zu erhalten und zu verteidigen. Artikel 10 deklarierte den Fortbestand des protestantischen Glaubens wie unter den Schweden. Artikel 11 verkündete die Rückgabe der in der Zeit der Reduktion verlorenen Gutshöfe an ihre ehemaligen Besitzer, und Artikel 12 erlaubte den Deutschen der Ostseeprovinzen, in den Dienst mit Russland verbündeter und befreundeter sowie neutraler Staaten einzutreten4. Livland und Estland wurden autonome Gouvernements des Russländischen Reichs. Am Ende des 17. Jahrhunderts waren Konglomeratstaaten, die sich aus Provinzen mit unterschiedlichem Rechtsstatus zusammensetzten, in Europa eher die Regel. In der nord- und osteuropäischen Nachbarschaft Russlands ————————————
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und der Stadt Riga vom 4. Juli 1710 nebst deren Confirmationen, hg. v. Carl SCHIRREN, Dorpat 1865. Alle Daten folgen dem Kalender alten Stils. Heinz von zur MÜHLEN, Das Ostbaltikum unter Herrschaft und Einfluß der Nachbarmächte (1561–1710/1795), in: Baltische Länder, hg. v. Gert von PISTOHLKORS, Berlin 1994 (Deutsche Geschichte im Osten Europas), S. 171–264, hier S. 241. Polnoe sobranie zakonov Rossijskoj Imperii s 1649 goda [Vollständige Gesetzessammlung des Russländischen Reichs seit 1649], Sanktpeterburg 1830, Bd. VII, No. 3819 (30.8.1721). Das Originaldokument ist zu finden in der Sammlung des Leibniz-Instituts für Europäische Geschichte Mainz „Europäische Friedenverträge der Vormoderne online“, http://www.ieg-friedensvertraege.de/treaty/1721_VIII_30_Friedensvertrag_von_Nystad/t72-1-de.html?h=1 (letzter Zugriff 24.10.2013).
Einleitung
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hatte sich der Absolutismus noch nicht durchgesetzt, weshalb ein Staat, der die Sonderstellung von Provinzen aufgrund von historischen oder rechtlichen Eigenheiten akzeptierte, für „normal“ bzw. „europäisch“ gelten konnte. Indem Peter I. den traditionellen rechtlichen Status und die Autonomie der Ostseeprovinzen anerkannte, konnte er sich von Schweden abheben, das seit den 1680er Jahren damit begonnen hatte, den Sonderstatus der Provinzen einzuschränken. So konnte die sich modernisierende schwedische Monarchie als tyrannisch dargestellt werden, während im Gegensatz dazu Peters Politik als rechtmäßig und zivilisiert erschien. Neben diesem breiteren ideologischen Hintergrund hatte Peter auch ganz konkrete pragmatische Gründe, die regionale Sonderstellung der Ostseeprovinzen zu bewahren. Das Russländische Reich öffnete mit der Unterwerfung der Ostseeprovinzen nicht nur ein „Fenster nach Europa“, sondern riss zugleich ein Stückchen von Europa an sich. Bei der unter Peter I. vorangetriebenen Europäisierung des Reiches hatten die baltischen Länder eine gewichtige Rolle zu spielen, verfügten sie doch über eine Einbindung in ein weites Kommunikationsnetz, über Verwaltungsstrukturen, die als Paradigma für Peters Umgestaltungen dienten. Ein weiterer Faktor waren die Deutschen der Provinzen, die mit ihrer administrativen Erfahrung bei den geplanten strukturellen Veränderungen der russischen Praxis mit einbezogen werden konnten. Deshalb lag es damals nicht in Peters Interesse, die baltischen Gebiete möglichst schnell zu „russifizieren“, d.h. sie administrativ in die Strukturen des Reiches zu integrieren, da im Gegenteil die alte lokale Ordnung aufrechterhalten werden sollte, nicht zuletzt eben um die Loyalität des Adels und der Stadtbevölkerung der neuen Herrschaft gegenüber zu sichern5. Insgesamt aber darf bei den im Frieden von Nystad bestätigten generösen Übergangsbedingungen die Werbung für ein neues, ‚europäischeres‘ Image Russlands nicht übersehen werden, wie auch Pärtel Piirimäe in diesem Band zeigt. Reinhard Wittram erkannte hierin Peters „planmäßige Prestigepolitik“6, auch wenn es zweifellos im russischen ———————————— 5
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Mati LAUR, Eesti ala valitsemine 18. sajandil (1710–1783) [Die Verwaltung des estnischen Gebietes im 18. Jahrhundert (1710–1783)], Tartu 2000, S. 246. WITTRAM, Peter I., Bd. 1 (wie Anm. 1), S. 348–354, Zitat S. 354. Vgl. Ralph TUCHTENHAGEN, Russische Herrschaftslegitimation und Bilder von den Beherrschten in den russländischen Ostseeprovinzen (Generalgouvernements St. Petersburg, Estland, Livland) im 18. Jahrhundert, in: Russland an der Ostsee: Imperiale Strategien der Macht und kulturelle Wahrnehmungsmuster (16. bis 20. Jahrhundert) / Russia on the Baltic: Imperial Strategies of Power and Cultural Patterns of Perception (16th – 20th Centuries), hg. v. Karsten BRÜGGEMANN / Bradley D. WOODWORTH, Wien, Köln, Weimar 2012 (Quellen und Studien zur baltischen Geschichte 22), S. 89–110.
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Herrschaftsbereich Tradition hatte, im Sinne des divide et impera auf die Eliten besiegter Staaten zuzugehen und sie in die multikonfessionelle und -ethnische Führung des Reiches zu kooptieren7. Die Toleranz der russischen Zentralmacht bezüglich der baltischen Autonomie erleichterte die Integration des lokalen deutschen Adels in den russischen Staat. Dessen Loyalität stand seither für mehr als anderthalb Jahrhunderte nicht mehr in Frage. Edgars Dunsdorfs merkte hierzu an, dass die schwedischen Herrscher von den baltischen Gutsbesitzern niemals als „unser König“ oder „unsere Königin“ bezeichnet worden waren, wohl aber nannte man die gekrönten Häupter in St. Petersburg „unsere Kaiserin“ oder „unser Kaiser“8. Ebenso verschwand im Laufe der Zeit auch russischerseits die zweifelnde und leicht fremdelnde Haltung gegenüber den Deutschen der Ostseeprovinzen. Zur Loyalität zum Hause Romanov, die der baltische Adel nicht müde wurde zu betonen, bestand indes tatsächlich keine Alternative – als Dank lebte er praktisch als Staat im Staate bis weit in das 19. Jahrhundert hinein. Er nutzte gleichzeitig die durch die Privilegien erhaltene umfangreiche Autonomie und die großen Möglichkeiten des zur europäischen Großmacht aufgestiegenen Russländischen Reichs. Naturgemäß blieb die Bewertung der in den Kapitulationen gewährten Privilegien in der Folge nicht unumstritten, als sich die Eliten des Russländischen Reiches seit der Mitte des 19. Jahrhunderts mehr und mehr der Problematik bewusst wurden, die die multiethnische Komposition ihres Imperiums in einer sich nationalisierenden Welt mit sich brachte – und das gerade in der Frage der Loyalität zum Herrscherhaus, in der das traditionelle Kriterium der ständischen Solidarität, auf das sich die Ritterschaften beriefen, zunehmend als unglaubwürdig wahrgenommen wurde im Vergleich zu den vermeintlich organischen Banden von Nationalität und gemeinsamem Glauben.9 In diesem veränderten Netz von Gemeinschaft vermittelnden Identitäten war lokale Autonomie, wie sie die Ostseeprovinzen genossen, nur noch insoweit akzeptiert, als die „organische Einheit“ des Staates nicht
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Andreas KAPPELER, Rußland als Vielvölkerreich. Entstehung – Geschichte – Zerfall, München 1991, S. 33 f. Edgars DUNSDORFS: Latvijas vēsture 1710–1800 [Lettische Geschichte 1710–1800], [Stockholm] 1973, S. 37. Vgl. hierzu Karsten BRÜGGEMANN, Imperiale und lokale Loyalitäten im Konflikt: Der Einzug Russlands in die Ostseeprovinzen in den 1840er Jahren, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 62 (2014) (im Druck).
Einleitung
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gefährdet erschien10. Eine nicht-russische und nicht-orthodoxe Region im strategisch wichtigen Vorfeld der Hauptstadt konnte so leicht zum Sicherheitsrisiko für das Imperium hochgespielt werden11. In diesem Konflikt um den regionalen Status berief sich die deutsche Seite auf den bindenden Vertragscharakter der Kapitulationen, während ihre Gegner sie als bloßes Dekret Peters I. verstanden, das von jedem folgenden Kaiser nur freiwillig bestätigt worden sei: So habe sich St. Petersburg jederzeit die Möglichkeit vorbehalten, die Autonomie der Provinzen auch wieder zu beschneiden. Schon in Jurij F. Samarins früher Abrechnung mit der Politik der Regierung an der Ostseeküste und der Rückwärtsgewandtheit der lokalen Stände, seinen Pis’ma iz Rigi (Briefe aus Riga) aus dem Jahre 1848, deutete sich eine derartige Verschiebung der Bewertung an. Für Samarin, den slawophil orientierten Intellektuellen, waren Peters Privilegien ein „Akt der freien Gnade“ des Herrschers, deren Bindung zwar für alle gelte, die dieser obersten Macht unterstünden, nicht aber für diese selbst: Sie seien „verpflichtend im Staat, aber nicht für den Staat“. Stets sei dieser Vorbehalt auch in den Bestätigungsformeln der Kaiser enthalten gewesen. Selbstverständlich bemühte Samarin hier das Privileg der Autokratie: Wenn die Regierung das Recht aufgebe, lokale Zustände nach ihrem Gutdünken im Sinne des allgemeinen Wohls zu verändern, würde sie gleichsam ihre eigene Prärogative in Frage stellen12. Wie Piirimäe in seinem Beitrag zeigt, waren derartige Gedanken womöglich schon in den Jahren vor dem Frieden von Nystad auf russischer Seite aktuell. Tatsächlich war schon 1710 in Peters Generalkonfirmation an die Livländische Ritterschaft der Vorbehalt festgehalten worden, die überkommenen „[s]tatuten, Ritterrechte, Immuniteten, Gerechtigkeiten, Freyheiten“ würden bestätigt „so weit sich dieselben auff jetzigen Herrschafft und Zeiten applicieren lassen“13. Daraus leitete sich nicht nur für Samarin das Recht je———————————— 10
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Paul BUSHKOVITCH, What Is Russia? Russian National Identity and the State, 1500– 1917, in: Culture, Nation and Identity: The Ukrainian-Russian Encounter (1600–1945), hg. v. Andreas KAPPELER u.a., Edmonton / Toronto 2003, S. 144–161, hier S. 157 f. Karsten BRÜGGEMANN, The Baltic Provinces and Russian Perceptions in Late Imperial Russia, in: Russland an der Ostsee (wie Anm. 6), S. 111–141. Jurij F. SAMARIN, Pis’ma iz Rigi [Briefe aus Riga], in: Sočinenija Ju. F. Samarina, hg. v. Dmitrij F. SAMARIN, t. 7: Pis’ma iz Rigi i Istorija Rigi, Moskva 1889, S. 1–160, hier S. 132. Russischer Text: „Eliko Onye Pri nynešnem Pravitelstve i vremenach vozmožno upotrebiti“. SCHIRREN, Capitulationen (wie Anm. 2), S. 47 f. (deutsche Version), 49 f. (russische Version). Der Text dieser Generalkonfirmation Peters vom 30.9.1710 lautet in der 35 Jahre vor Schirren zusammengestellten russischen Gesetzessammlung PSZ I, Bd. IV, S.
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des neuen Herrschers ab, die Zusagen zu kassieren. Seit dem Regierungsantritt Alexanders I. 1801 hatte sich bei der formellen Bestätigung der Privilegien ohnehin die Majestätsklausel durchgesetzt: „soweit sie mit den allgemeinen Verordnungen und Gesetzen Unseres Reiches übereinstimmen“14. Die exemplarisch vom Dorpater Historiker Carl Schirren Ende der 1860er Jahre vertretene Auffassung, die Privilegien seien ein Vertrag zweier gleichberechtigter Partner und hätten der baltischen Aristokratie sogar das Recht verliehen, dem Kaiser die Treue aufzukündigen15, hatte Samarin mit dem für ihn typischen Sarkasmus provoziert: Russland habe die Ostseeküste schließlich nicht von den livländischen Landräten oder Revaler Bürgermeistern erobert, sondern von Schweden. Ein Mitspracherecht über die Ausgestaltung der Rechte sei damit nie verbunden gewesen16. ————————————
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575–577, No. 2301, anders: Die Statuten, Adelsrechte, Immunitäten und Freiheiten würden bestätigt „soweit sie der gegenwärtigen Regierung und Zeit angemessen sind“ (eliko onyja k nynešnemu Pravitel’stvu i vremeni priličajutsja), „aber ohne Präjudiz und Schaden für Unserer und Unseres Staates Hoheit und Rechte“ (odnakož Naše i Našich Gosudarstv Vysočestvo i prava predostavljaja bez predosuždenia i vreda). Dt. Übersetzung nach Michael HALTZEL, Der Abbau der ständischen Selbstverwaltung in den Ostseeprovinzen Russlands. Ein Beitrag zur Geschichte der russischen Unifizierungspolitik 1855–1905, Marburg 1977 (Marburger Ostforschungen 37), S. 5. Vgl. LAUR, Eesti ala valitsemine (wie Anm. 5), S. 31. Die Bestätigungsformeln von Peters Nachfolgerinnen und Nachfolgern finden sich ebd., S. 203, Anm. 1371, und in der nüchternen Auseinandersetzung mit den Privilegien aus Sicht eines russischen Juristen: P. I. BELJAEV, Obšče-Imperskij zakon i mestnye ostzejskie uzakonenija [Das allgemein-imperiale Gesetz und die lokalen baltischen Gesetzgebungen], in: Žurnal Ministerstva Justicii 1898, Nr. 9, S. 121–167, hier S. 148 f. Reinhard WITTRAM, Baltische Geschichte. Die Ostseelande Livland, Estland, Kurland 1180–1918. Grundzüge und Durchblicke, München 1954, S. 133 f. Carl SCHIRREN, Livländische Antwort an Herrn Juri Samarin, Leipzig 1869, S. 135. Jurij F. SAMARIN, Okrainy Rossii. Serija pervaja, vyp. I. Russkoe Baltijskoe pomor’e v nastojaščuju minutu (kak vvedenie v pervuju seriju) [Grenzländer Russlands. Erste Serie, H. I. Die russische Ostseeküste im gegenwärtigen Augenblick (als Einführung in die erste Serie)], Praga 1868, S. 166. Die Debatte zwischen Schirren und Samarin hat die Forschung seit jeher in ihren Bann gezogen. Siehe z.B. Michael HALTZEL, Der Abbau der ständischen Selbstverwaltung in den Ostseeprovinzen Russlands. Ein Beitrag zur Geschichte der russischen Unifizierungspolitik 1855–1905, Marburg 1977 (Marburger Ostforschungen 37), S. 27–40; Andreas RENNER, Russischer Nationalismus und Öffentlichkeit im Zarenreich 1855–1875, Köln / Weimar / Wien 2000 (Beiträge zur Geschichte Osteuropas 31), S. 293–374; Olga MAJOROVA, „Die Schlüsselrolle der ‚deutschen Frage‘ in der russischen patriotischen Presse der 1860er Jahre, in: Deutsche und Deutschland aus russischer Sicht. 19./20. Jahrhundert: Von den Reformen Alexanders II. bis zum Ersten Weltkrieg, hrsg. von Dagmar HERRMANN, München 2006 (West-östliche Spiegelungen, Bd. 4), S. 81–101; Gert von PISTOHLKORS, Die Livländischen Privilegien: ihre Deutun-
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Diese differierenden Narrative von den Privilegien prallten schließlich auf einem symbolischen imperialen Schlachtfeld aufeinander, als aus Anlass des 200. Jubiläums des Anschlusses der Ostseeprovinzen an das Russländische Reich 1910 in den Hauptstädten der Gouvernements Estland und Livland, Reval und Riga, Denkmäler für Peter I. eingeweiht wurden. Dabei war die Figur Peters zwar unbestritten ehrungswürdig, schließlich war er die Hauptfigur der Jubiläumsfeierlichkeiten. Es blieb indes nicht aus, dass jede der an der Ehrung beteiligten ethnischen Gruppen ihre jeweils recht eigene Deutung der Ereignisse mit der Figur des Zaren in Verbindung brachte. Die Haltung der konservativen deutschen Eliten war dabei nur logisch: Sie sahen in ihm den Garanten ihrer Privilegien und als Friedensbringer. Der estländische Ritterschaftshauptmann Eduard von Dellingshausen meinte in dem Gegenstand, den die Revaler Statue des Zaren in ihrer Rechten trug, „eine Pergamentrolle – die Bestätigungsurkunde der Landesprivilegien!“ zu sehen. Allerdings handelte es sich dabei um ein Fernrohr, während Peter in seiner Linken eine Karte der Ostsee hielt.17 Im bürgerlichen Diskurs der städtischen Eliten stand neben dem Motiv des 200-jährigen Friedens unter russischer Herrschaft ein weiteres Bild im Mittelpunkt der Peter-Verehrung. Constantin Mettig (1851–1914) betonte in einer von der Rigaer Stadtverwaltung auf Russisch herausgegebenen Broschüre Petr Velikij v Rige (Peter der Große in Riga), dass Peter nicht nur den Ritterschaften, sondern auch den Städten ihre Privilegien bestätigt hatte. Das Reich habe mit dem Frieden von Nystad die lang begehrten baltischen Küstenländer erhalten, die „so wichtig für seine Umgestaltung und für die Einführung der europäischen Zivilisation“ gewesen seien. In der weitaus umfangreicheren deutschsprachigen Ausgabe „Erinnerungen an Peter den Großen in Riga“ kam zu der Markierung des baltischen Küstenlandes als „Brücke zum Verkehr mit dem Westen“ noch Peters Verdienst hinzu, „die Grundlage der evangelisch-deutschen Kultur zum Wohle der neugewonnenen Provinzen und des russischen Reiches“ gesichert zu haben. In der russischen Ausgabe ————————————
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gen, Umdeutungen und praktischen Umsetzungen in der neueren baltischen Geschichte, in: Reiche und Territorien in Ostmitteleuropa. Historische Beziehungen und politische Herrschaftslegitimation, hg. v. Dietmar WILLOWEIT / Hans LEMBERG, München 2006 (Völker, Staaten und Kulturen in Ostmitteleuropa 2), S. 285–309, sowie den Beitrag des zuletzt genannten Autors in diesem Band. Eduard Freiherr von DELLINGSHAUSEN, Im Dienste der Heimat! Erinnerungen, Stuttgart 1930, S. 157 (Hervorhebung im Original); Bradley D. WOODWORTH, Civil Society and Nationality in the Multiethnic Russian Empire: Tallinn/Reval 1860–1914, PhD Diss., Indiana University 2003, S. 323.
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beschränkte sich Mettig darauf, Peters Güte hervorzuheben und ihn dafür zu loben, dass er die Eigenarten der Region wohlwollend betrachtet und ihre besondere Kultur nach Möglichkeit gefördert habe. Das Luthertum blieb unerwähnt18. Die demonstrative Zuneigung der Deutschen Rigas und Revals zur Figur Peters während der Feierlichkeiten im Juli und September 1910 galt einem Idealbild russischer Herrschaft, welche die Ostseeprovinzen in ihrer Eigenart schätzt – und sie nach Möglichkeit in Ruhe lässt. Mettig ging aber noch einen Schritt weiter, indem er gerade auch den von Peter einst erhofften europäisierenden Einfluss der Region auf das Russische Reich als positiv für den Staat zu Beginn des 20. Jahrhunderts darstellte. Die Bevölkerungsmehrheit war sich weitaus weniger einig als die deutschen Eliten in der Frage, wie sie sich zum Jubiläumsjahr verhalten sollte. Die eigenen nationalen Aspirationen wurden faktisch von der Regierung behindert und Peter I. konnte in ihrem historischen Narrativ schon deshalb keine positive Rolle spielen, weil er die Vormacht der Ritterschaften sanktioniert hatte. Der estnisch dominierten Revaler Stadtregierung musste es kurz nach 1905 aber ein Anliegen sein, die eigene Loyalität dem Kaiser gegenüber zu beweisen. Auch dass aus Anlass des Jubiläums 1910 das mehrfach verschobene V. Lettische Sängerfest stattfand, sollte demonstrieren, dass man in der Person Peters einen Garanten für kulturelle Eigenständigkeit sehen wollte, auch wenn diese Version den konservativen Nationalisten „erhebliche Konstruktionsarbeit“ (Hirschhausen) abverlangte – schließlich hatte das 18. Jahrhundert eher die Abhängigkeit der Bauern von den Gutsherren verschärft.19 Konsens unter den Letten fand höchstens die Idee von Peter als westlich eingestelltem Reformator und Föderalist. Gegenüber all diesen Annäherungen an den großen Peter und seine historische Bedeutung für das Baltische Gebiet entsprachen beide Denkmäler in ihrer semiotischen Aussage der russischen Interpretation des Eroberers. Beide Denkmäler waren ein imperiales Projekt. Der zentralen Perspektive ging es um die Markierung der Region als legitimer imperialer ———————————— 18
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K[onstantin] METTIG, Petr Velikij v Rige. Pamjatnyj listok po povodu 200-letija prisoedinenija Rigi i Lifljandii k Rossii [Peter der Große in Riga. Erinnerungsblatt aus Anlass des 200. Jubiläums des Anschlusses Rigas und Livlands an Russland], Riga 1910, S. 13, 20; Constantin METTIG, Erinnerungen an Peter den Großen in Riga und an die Zeit der Belagerung. Zum Jubiläum der 200-jährigen Vereinigung Rigas mit Rußland, Riga 1910, S. 5. Ulrike von HIRSCHHAUSEN, Die Grenzen der Gemeinsamkeit. Deutsche, Letten, Russen und Juden in Riga 1860–1914, Göttingen 2006 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 172), S. 335–337.
Einleitung
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Besitz und um die Marginalisierung der möglicherweise abweichenden lokalen Interpretationen.20 Ebenfalls deutlich anders als etwa die deutschbaltische Geschichtsschreibung – zu ihr äußert sich ausführlich Gert von Pistohlkors in diesem Band – wurden die Kapitulationen von 1710 und die Angliederung der Ostseeprovinzen an das Russländischen Reich von der jungen estnischen und lettischen Historiografie nach 1920 beurteilt. Schon ihre Reaktion auf die PeterDenkmäler war 1910 ambivalent gewesen: […] Als nach dem Großen Nordischen Krieg die russische Staatsmacht an die Stelle der schwedischen trat, bedeutete dies in den Augen der estnisch-lettischen nationalen Historiker ein Ende aller Hoffnungen für die Landbevölkerung, insbesondere wegen der Verständigung des deutschen Adels und Bürgertums mit den russischen Eroberern. Die Historiografie hat den Beginn der „Russenzeit“ nachdrücklich als dunkelste Epoche im Leben des Bauernvolks geschildert, in der dessen rechtliche bzw. rechtlose Lage ihren Tiefstand erreicht habe: „Die Kapitulationsverträge von 1710 erstatteten den ehemaligen Besitzern bzw. ihren Erben die Güter zurück und öffneten ihrer Willkür gegenüber den Bauern Tür und Tor“, schrieb der Pastor Villem Reiman, dem eine der ersten Darstellungen estnischer Geschichte zu verdanken ist21. Kein Wunder, dass diese Auffassung auch Mitte des 20. Jahrhunderts noch virulent war: Die grundlegende Veränderung im Schicksal der Ostseeprovinzen durch den Nordischen Krieg stellt angesichts ihrer Nachwehen zweifellos einen der unglücklichsten Umbrüche dar, die die Geschichte kennt,
hieß es in einer deutlich von der Historiografie der 1930er Jahre geprägten estnischen Darstellung22, welche der lettische Historiker Uldis Ģērmanis im Exil nur bestätigen mochte: Der schwedische König war geschlagen, das Land von einer Ecke zur anderen mit russischen Truppen voll und auf den Straßen der Gutsherren wurde gefei-
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Vgl. Bradley D. WOODWORTH, An Ambigous Monument: Peter the Great’s Return to Tallinn in 1910, in: Problemy nacional’noj identifikacii, kul’turnye i političeskie svjazi Rossii so stranami Baltijskogo regiona v XVIII-XX vekach / Russia and the Baltic States: Political Relations, National Identity and Social Thought in XVIII-XX Centuries, ed. by Rut BJUTTNER / Vera DUBINA / Michail LEONOV, Samara 2001, S. 205–219. Villem REIMAN, Eesti ajalugu [Estnische Geschichte], Tallinn 1920, S. 106. M. OJAMAA / A. VARMAS / T. VARMAS, Eesti ajalugu [Estnische Geschichte], Stockholm 1946, S. 173.
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ert. […] Gerade das 18. Jahrhundert, und nicht etwa frühere Zeiten, war die düsterste Zeit in der Geschichte Livlands23.
Eine tiefgreifende Kurskorrektur in der Bewertung der Kapitulationen wurde hingegen von der sowjetischen Geschichtsforschung vorgenommen: Mit dem Sieg im Nordischen Krieg wurde die alte politische Verbindung aus der Zeit wiederhergestellt, als das estnische Volk zum Kiever Staat und zum Vielvölkerreich Russland gehört hatte. Die Wiedervereinigung mit Russland hatte die Gefahr abgewendet, dass Estland unter die Macht der preußischen Junker fiel24.
Der baltischen Autonomie kam im Rahmen dieser sowjetischen Einschätzung die Rolle eines „Keiles“ zu, „der der Annäherung der Esten an Russland Hindernisse in den Weg stellte“25. Dabei darf nicht übersehen werden, dass das sowjetische Narrativ zumindest in seiner antideutschen Tendenz den traditionellen nationalen Erzählungen der Esten und Letten, wie sie in den 1930er Jahren popularisiert worden waren, in nichts nachstand26. Für Vil’jam V. Pochlebkin war noch Mitte der 1960er Jahre klar, dass Peters Sieg im Großen Nordischen Krieg in erster Linie die historische Gerechtigkeit wiederherstellte, nachdem Russland „im Resultat der deutschen und schwedischen Aggression“ seinen Zugang zur Ostsee verloren hatte. 1721 war in dieser Sicht nicht nur „die Lösung der Ostseefrage“, sondern auch eine „historische Gesetzmäßigkeit“27. Es ist klar, dass die Erwähnung der Privilegien an die Deutschen der Ostseeprovinzen in dieser Konzeption nur fehl am Platze gewesen wäre. Seit der Wiederherstellung der Selbstständigkeit der baltischen Staaten 1991 hat sich jedoch auch die historische Bewertung des Übergangs von der schwedischen zur russischen Herrschaft verändert. Im Unterschied zur traditionellen Einteilung der „Zeiten“, die die Schweden- und Russenzeit deut———————————— 23
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Uldis ĢĒRMANIS, Latviešu tautas piedzīvojumi [Der Lebensweg des lettischen Volkes], Rīga 1991 (Orig. Stockholm 1954), S. 100. Gustav NAAN, Eesti NSV ajalugu [Geschichte der Estnischen SSR], Tallinn 1952, S. 104. Diese erste sowjetische Gesamtdarstellung der estnischen Geschichte gehörte Dank ihrer naiv-ungebildeten Herangehensweise schon in den 1960er Jahren zur verbotenen Literatur in der ESSR. Ebenda, S. 109. Zusammenfassend Jörg HACKMANN, Ethnos oder Region? Probleme der baltischen Historiographie im 20. Jahrhundert, in: Zeitschrift für Ostmitteleuropaforschung 50 (2001), S. 531–556, hier S. 542–549, 554 f. Vil’jam Vasil’evič POCHLEBKIN, Baltika i bor’ba za mir [Die Ostsee und der Kampf um den Frieden], Moskva 1966, S. 17.
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lich gegeneinander abgrenzte, vertreten die neueren Gesamtdarstellungen den Standpunkt, dass die Eingliederung der Ostseeprovinzen in das Russländische Reich keine prinzipielle Veränderung der Gesellschaftsordnung mit sich gebracht habe, die Region vielmehr die Verwaltungsstrukturen aus der schwedischen Zeit (Verwaltungsordnung, Gerichtssystem und Rechtstand) in Grundzügen konserviert hätten. Mithin könnte man von der „langen schwedischen Zeit“ sprechen, die sich in Estland und Livland auch nach dem Übergang unter russische Herrschaft fortsetzte28. *** Der vorliegende Sammelband dokumentiert die Tagung „Die Kapitulationen von 1710: Kontext, Wirkung, Interpretation“, die vom 23. bis 25. September 2010 in Tartu von der Baltischen Historischen Kommission, dem Institut für Geschichte und Archäologie der Universität Tartu, der Juristischen Fakultät der Universität Tartu sowie dem Historischen Institut der Universität Tallinn veranstaltet worden ist29. Die Drucklegung des Sammelbands wurde ermöglicht durch das internationale Forschungsprogramm Nordic Spaces, finanziert vom Riksbankens Jubileumsfond (Schweden). Für die Aufnahme dieses Werkes in die Reihe „Quellen und Studien zur baltischen Geschichte“ beim Böhlau-Verlag danken wir dem Vorstand der Baltischen Historischen Kommission recht herzlich. In gewohnter Sorgfalt wurde diese Publikation bei Böhlau von Johannes van Ooyen betreut, dem wir dafür genauso Dank schulden wie dem Tallinner Stadtarchiv, das uns das Titelbild zur Verfügung gestellt hat. Das Register stellte Artur Alajaan zusammen, ein Magistrand am Historischen Institut der Universität Tallinn. Einleitend geht J ü r g e n vo n U n g er n - S t e r n b e r g in seinen Ausführungen über Genese und Rechtsinhalt europäischer Kapitulationen auf die ursprüngliche Bedeutung des Begriffs ‚Kapitulation‘ ein: demnach handelt es sich um einen förmlichen Vertrag zwischen zwei Partnern. Kapitulationen ———————————— 28
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Eesti ajalugu [Estnische Geschichte], Bd. 4, hg. v. Sulev VAHTRE / Mati LAUR, Tartu 2003, S. 63; Mati LAUR, Die „Russenzeit“ und das Petersburger Imperium in der estnischen Geschichtsschreibung seit 1918, in: Vergangene Größe und Ohnmacht in Ostmitteleuropa: Repräsentationen imperialer Erfahrung in der Historiographie seit 1918, hg. v. Frank HADLER / Mathias MESENHÖLLER, Leipzig 2007, S. 301–311, hier S. 306. Vgl. Ralph TUCHTENHAGEN, Zentralstaat und Provinz im frühneuzeitlichen Nordosteuropa, Wiesbaden 2008 (Veröffentlichungen des Nordost-Instituts 5). Siehe den Konferenzbericht von Marju LUTS-SOOTAK, in: Forschungen zur baltischen Geschichte 6 (2011), S. 209–214.
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waren also grundsätzlich Verträge, die für beide Seiten vorteilhaft waren. Der wesentliche Inhalt einer Kapitulationsurkunde war, den jeweils gerade bestehenden Rechtszustand der kapitulierenden Stadt oder Landschaft zu beschrieben und seitens des Siegers für die Zukunft zu gewährleisten. Ungern-Sternberg betont auch, dass eine Kapitulation in ihrer Wirkung nur auf die Dauer des Krieges beschränkt sein konnte und es durchaus möglich war, dass ihr Inhalt durch den darauffolgenden Friedensschluss außer Kraft gesetzt wurde. Der Autor vergleicht die baltischen Kapitulationen mit anderen frühneuzeitlichen militärischen Kapitulationen in Europa bis in die Zeit, als die Französische Revolution und die moderne Staatsauffassung im Kontext der Durchsetzung der Idee allgemeiner Bürgerrechte der Tradition der ständisch-partikularistisch geprägten Kapitulationsverträge ein Ende bereiteten. Der Berliner Historiker R a lp h T uc h t e n h a g e n kommt in seiner Analyse der schwedischen Politik in den Ostseeprovinzen in den Jahren vor dem Krieg zu dem Schluss, dass es sich dabei nicht so sehr um eine Politik gegen die est- und livländischen Stände gegangen sei, sondern in erster Linie der Zusammenhalt des Reichsganzen im Zentrum der Aufmerksamkeit stand. Somit hätten das Überleben des schwedischen Herrschaftssystems und die Konsolidierung der territorialen Gewinne aus der Zeit zwischen 1561 und 1660 im Vordergrund gestanden. Die Reduktion könne in dieser Sicht auch so interpretiert werden, dass der baltische Adel zu einem über den traditionellen Staatsdienst hinausgehenden Beitrag für das gemeinsame Wohl des Reiches verpflichtet wurde. Diese Politik brachte zweifellos auch Erleichterungen der bäuerlichen Lasten mit sich, doch dürfe man nicht so weit gehen, von einem Versuch der Aufhebung der Leibeigenschaft zu sprechen. Durch die rechtliche und ökonomische Herabsetzung der privilegierten Stände überall im Reich sollte versucht werden, alle verfügbaren sozialen und ökonomischen Kräfte auf das Ziel der Konsolidierung des schwedischen politischen Systems und der Sicherheit des Reiches zu richten. Zudem sei Stockholm in Skåne und anderen südschwedischen Grenzprovinzen weit radikaler vorgegangen als in Est- und Livland. Im Beitrag von P ä r t e l P i i r i m ä e von der Universität Tartu geht es, wie bereits angedeutet, um Peters des Großen außenpolitische Ziele bei der Gewährung der Privilegien, d.h. um die ideologischen Absichten, die sich dahinter vermuten lassen. So war es erklärtes Ziel der Regierung, das Image des Staates als barbarisches Reich durch ein Bild zu ersetzen, in dem Russland als traditionell christliches Land erschien, auch wenn es ein wenig in seiner Entwicklung gegenüber Europa zurückgefallen war. Letzteres indes war nicht zuletzt deswegen der Fall, weil seine Feinde sich stets darum bemüht
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hätten, Russland von Europa zu isolieren. Unter Peters Regie würden die Russen allmählich zu einer zivilisierten Nation werden. Deswegen hätten Peter und seine Berater alles dafür getan, dass Russlands Einsatz im Krieg gegen Schweden die Kriterien des bellum iustum erfüllte. So seien die Privilegien in erster Linie eine gönnerhafte Geste gegenüber den Eliten der Ostseeprovinzen gewesen, vor deren Hintergrund die schwedische Politik als ungerecht und falsch erscheinen musste, hatte der König doch seine Pflicht gegenüber den Provinzen nicht erfüllt. Erst nach 1710 sei der Gedanke aufgekommen, dass die Privilegien die Rechte des Monarchen einschränken könnten. In diesem Zusammenhang sieht Piirimäe die erst bei Petr Šafirov 1716 vorgebrachten historischen Rechte Russlands auf Est- und Livland, die zugleich nicht nur schwedische, sondern auch polnische Ansprüche auf Livland abwehren sollten. A n d r e s A n dr e s e n hinterfragt in seinem Beitrag die aus der deutschbaltischen Geschichtsschreibung stammende Behauptung der Rechtskontinuität der ständischen Selbstverwaltungsordnung unter russischer Herrschaft. Der Autor zeigt, dass die Umgestaltung der Kirchenleitung im Gouvernement Estland nach den Kapitulationen von 1710 im deutlichen Widerspruch zu geltenden Rechtsakten – darunter die Kapitulationen selbst und das Kirchengesetz von 1686 – stand. Die lutherischen Geistlichen verloren ihre bisherige politische Rückendeckung in Form der direkten Unterstützung durch die staatliche Zentralmacht und wurden dem Stadtpatriziat untergeordnet. Auch die traditionelle deutschbaltische These der völligen Wiederherstellung der ritterschaftlichen Selbstverwaltung sei daher fragwürdig. Die baltische Politik der Kaiserin Katharina II., d.h. die Bestätigung der auf der Grundlage der Kapitulationen bestehenden Privilegien und die Tätigkeit der nach Moskau einberufenen Großen Gesetzgebenden Kommission behandelt M a t i L a u r in seinem Beitrag. Mit der Stärkung des Absolutismus während der Regierungszeit Katharinas nahm auch der Druck auf die baltische Autonomie zu. Der Konflikt zwischen dem Zentralstaat und den Ostseeprovinzen entwickelte sich Schritt für Schritt, indem Katharina begriff, dass die von ihr selbst bei ihrem Herrschaftsantritt bestätigten Privilegien sich auf viele der von ihr geplanten Maßnahmen hinderlich auswirken. Die Neuartigkeit der Politik Katharinas bestand Laur zufolge darin, dass die Kaiserin im Unterschied zu ihren Vorgängerinnen und Vorgängern vor allem von den Interessen des Reiches als einem Ganzen ausging. Daher band sie sowohl die Ostseegouvernements als auch andere autonome Regionen fester denn je an den Dienst am Imperium, ohne dabei den „ausländischen“ Provinzen irgendwelche Zugeständnisse zu machen.
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Die Trauer der deutschbaltischen Geschichtsschreibung darüber, dass der auf den Privilegien gründende baltische Landesstaat immer mehr an den Rand des politischen Geschehens gedrückt worden sei, behandelt G e r t v o n P i s to h l k or s auf der Grundlage der umfangreichen Quellensammlung des ehemaligen livländischen Landrats Reinhold Baron Stael von Holstein (1846–1907). Dabei geht es ihm gerade auch um die Reaktion der Livländischen Ritterschaft auf die Ära der „Großen Reformen“ unter Kaiser Alexander II. und um den Konflikt zwischen den Ultrakonservativen und ihrem ungebrochenen Reichspatriotismus und denjenigen, die als selbstbewusste Vertreter eines ständisch geprägten Regionalismus (Provinzialismus), der auf eine eigenständige Entwicklung abzielte, auftraten. Dabei sei der Einfluss der baltischen Presse als Forum bürgerlicher Aspirationen, die ständische Trennung nach innen unter den gebildeten Deutschen allmählich einzuebnen und einen deutschbaltischen Abwehrkampf gegen Ansprüche aus Russland zu akzentuieren, nicht zu überschätzen. Wesentlich für das sich wandelnde Verhältnis zwischen Zentrum und Peripherie wiederum seien nicht Handlungen der Reichsregierung gewesen, sondern die Entfaltung der russischen Öffentlichkeit. Zum Ende des Jahrhunderts hätten fähige Provinzialpolitiker in der Livländischen Ritterschaft den schwindenden Raum für eine erfolgreiche Gestaltung des Ausbaus des baltischen Regionalismus im Russländischen Reich durchaus wahrgenommen, doch keine Lösung für ihre Probleme gefunden. M a r j u L u t s - S oo t a k unterscheidet in ihrem Beitrag, der auf einer vergleichenden Analyse der Kapitulationen der Estländischen und der Livländischen Ritterschaft beruht, die behandelten Themen längerfristiger und tagespolitischer Bedeutung. Zu den letzteren, unmittelbar mit den Kriegshandlungen und der aktuellen Situation verbunden Themen, zählt nach Ansicht der Autorin auch die Forderung nach Restitution der von der schwedischen Regierung reduzierten Güter. Zu den so genannten Dauerthemen gehörten die prinzipiellen Punkte, die dem Sonderstatus der Ostseeprovinzen auch im Russländischen Reich eine feste Grundlage schaffen sollten, wie z.B. die Konfessionsfrage, das adlige Selbstverwaltungs- und Indigenatsrecht usw. Eine Dauerlösung wurde eher von einer umfassenden Kodifizierung des Provinzialrechts erwartet, doch wollte man der Konfirmationsformel zufolge dafür auf ruhigere Zeiten warten. Diese „ruhigeren Zeiten“ kamen indes erst im Jahre 1846, als die beiden ersten, kodifizierten Teile des Provinzialrechts der Ostseegouvernements in Kraft traten. Luts-Sootak bietet daher eine nähere Analyse, auf welche Weise die Forderungen der Unterwerfungsverträge
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aus dem Jahr 1710 ein neues Leben in der Gesetzesform des Provinzialrechts gewannen. Einen Überblick über die Hauptzüge der finnischen Rechtsgeschichte während der Zeit des Großfürstentums bietet L ar s B j ör ne . Auf dem Landtag von Porvoo im März 1809, als die finnischen Stände Alexander I. huldigten, versprach der Kaiser, die Religion und die Grundgesetze des Landes sowie die Standesprivilegien aufrechtzuerhalten – was durchaus an die Bedingungen der baltischen Kapitulationen von 1710 erinnerte. Tatsächlich gab es auch zwischen finnischen und russischen Rechtswissenschaftlern seit den 1880er Jahren einen „Rechtskampf“ vor allem um die Bedeutung des Landtags von Porvoo. Nach Ansicht des Autors konnte die russische Seite mit Recht darauf verweisen, dass sie weder Religion noch Privilegien gefährdet hätten, schließlich hätten nicht die in Porvoo gewährten Grundgesetze, sondern die sich allmählich herausbildende politische Praxis den eigentlichen Grund der Sonderstellung Finnlands dargestellt. Für die Rechtsentwicklung im Großfürstentum ist es bezeichnend, dass nachdem Kaiser Nikolaus I. seine Kodifikationspläne in Bezug auf Finnland aufgeben musste, die russische Gesetzgebung als Vorbild völlig ignoriert wurde. 1917 hatte Finnland eine Rechtsordnung, die im Wesentlichen nordisch, vor allem aber schwedisch beeinflusst war. Die Ostseeprovinzen hätten dagegen nie zum Vorbild getaugt, auch nicht im Jahre 1809. Genauer auf die Bedeutung der Kapitulationen und der Autonomie der Ostseeprovinzen für die Autonomie Finnlands geht R ob e r t S c h w e i tz e r in seinem Beitrag ein. Dabei betrachtet er zunächst das ebenfalls durch den Vertrag von Nystad angeschlossene Alte Finnland, das Gebiet um Wiborg (finn. Viipuri, russ. Vyborg) und Kexholm (finn. Käkisalmi, russ. früher Korela, heute Priozersk). Auch hier wurden die lutherische Religion der Bevölkerung und ihre angestammten Rechte respektiert, wovon die Zaren im Grundsatz nicht abgewichen seien. Später habe trotzdem das Alte Finnland in der innerfinnischen Diskussion als warnendes Beispiel dafür gedient, sich nicht auf eine einfache Provinzialautonomie einzulassen. Gerade die unterschiedliche Reaktion der finnischen und der baltischen Stände auf die Versuche einer Kodifikation des geltenden Rechts unter Nikolaus I. seit den 1830er Jahren zeigten indes, wie verschieden die Situation dies- und jenseits des Finnischen Meerbusens war: Während die Ostseeprovinzen aktiv daran mitwirkten, wurde es von den Finnen mit Erfolg hintertrieben. Finnland habe seither im Denken der baltischen Provinzen den Charakter eines Ideals gewonnen. Die Herausgeber hoffen, mit diesem Band nicht nur die Dokumentation einer anregend verlaufenden Tagung vorzulegen, sondern auch zu weiteren Diskussionen anzuregen. So wäre eine Einbettung der baltischen Kapitulati-
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onen in die übrigen Unterwerfungsverträge Peters I. sicher lohnenswert, wobei sich eine enge Zusammenarbeit zwischen Rechtshistorikern und Vertretern der Geschichtswissenschaft anböte30. Auch fehlt es an einer systematischen Auseinandersetzung mit der sich ändernden russischen Perspektive auf die Kapitulationen und ihre Folgen für die baltische Autonomie, zumal die russische Historiografie sich eher selten kompetent mit der Vergangenheit der imperialen Provinzen an der Ostseeküste beschäftigt31. Auch wenn das Jahr 1710 aus einleuchtenden Gründen für Esten und Letten heutzutage kein wesentlicher Erinnerungsort sein kann, war es doch ein historischer Einschnitt von einiger Bedeutung, welche in erster Linie in der deutschbaltischen Erzählung der eigenen Rolle beschworen wurde. Weitere Forschungsergebnisse wären sehr willkommen. Ob der Frieden von Nystad von 1721 zu geschichtspolitischen Aktivitäten im östlichen Ostseeraum anregt, die sich auch in der professionellen Geschichtsschreibung niederschlagen, wird die Zukunft zeigen.
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Siehe Marju LUTS-SOOTAK, 1710. aasta kapitulatsioonid ikka veel päevakorral? [Stehen die Kapitulationen von 1710 immer noch auf der Tagesordnung?], in: Tuna 2007, Nr. 1, S. 75–77. Ein Überblick bei Karsten BRÜGGEMANN, Russia and the Baltic Countries: Recent Russian-language literature (Review Essay), in: Kritika. Explorations in Russian and Eurasian History 10 (2009), S. 935–956.
Detlef Liebs zum 75. Geburtstag
JÜRGEN VON UNGERN-STERNBERG
Europäische Kapitulationsurkunden: Genese und Rechtsinhalt I. Im heutigen Sprachgebrauch verbinden wir mit dem Begriff der ‚Kapitulation‘ die Vorstellung einer demütigenden Unterwerfung unter einen fremden Willen, die Aufgabe der Selbstbestimmung zugunsten einer Fremdbestimmung. Gerade für uns Deutsche tritt hinzu die Erinnerung an die ‚bedingungslose Kapitulation‘, wie sie die Alliierten 1943 in Casablanca gefordert hatten und wie sie im Mai 1945 vollzogen worden ist. Mit der Berliner Erklärung vom 5. Juni 1945 übernahmen die Alliierten die oberste Regierungsgewalt in Deutschland. An die Stelle der deutschen Regierung trat der Alliierte Kontrollrat. Dabei ist es durchaus von Interesse für unsere Thematik, dass es nicht die Regierung des Großdeutschen Reiches war, die die Kapitulationen in Reims und Berlin-Karlshorst unterschrieben hat; es kapitulierte ausschließlich die Oberbefehlshaber der Wehrmacht und der Teilstreitkräfte vor den alliierten Streitkräften. Mit diesem Vorgang aber ist endgültig dem allgemeinen Bewusstsein entschwunden, dass eine ‚Kapitulation‘ ursprünglich schon begrifflich einen förmlichen Vertrag zwischen zwei Partnern bezeichnet hat. Capitulum wurde spätantik im kirchlichen und im juristischen Sprachgebrauch für den ‚Abschnitt‘, das ‚Kapitel‘, den Passus einer Schrift oder eines Gesetzes verwendet (so noch bei den karolingischen ‚Kapitularien‘). Das mittellateinische capitulare bedeutete demgemäß (Großer Meyer): über einen Vertrag (bzw. dessen Hauptpunkte) verhandeln. Die ‚Kapitulation‘ war dann das nach einzelnen Punkten gegliederte Ergebnis. Demgemäß können wir ‚Kapitulationen‘ in gänzlich unterschiedlichen Bereichen antreffen. Zu erinnern ist zunächst an die Wahlkapitulationen, durch die sich deutsche Könige, aber auch Bischöfe und Päpste, Herrscher des nordischen Unionskönigtums und Dogen in Venedig ihren Wahlgremi————————————
Als Vortrag auch gehalten vor der Rechtshistorischen Gesellschaft Freiburg i. Br. und dem Osteuropa Forum Basel.
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en verpflichten mussten1. In Spanien hingegen hat diese weit verbreitete Vertragsform vielfache Anwendung zwischen der Krone und privaten Unternehmern gefunden. So schloss Columbus am 17. April 1492 eine Kapitulation mit dem spanischen Königspaar, die seine Rechte als Entdecker regelte2. Auch die Abkommen von schweizerischen Kantonen mit auswärtigen Mächten über die Truppenwerbung konnten als Kapitulationsverträge bezeichnet werden, ebenso die Verträge außereuropäischer Staaten des Nahen und Fernen Ostens, die beginnend mit den Kapitulationen des Osmanischen Reiches seit dem 16. Jahrhundert vor allem im 19. Jahrhundert europäischen (Groß)-Mächten das Privileg der Konsulargerichtsbarkeit über ihre Staatsangehörigen zugestanden haben. Dies alles sei hier aber nur erwähnt. Wir werden uns im Folgenden ausschließlich auf den Bereich der Kapitulationen im Kriege beschränken. Hierfür weiß aber offensichtlich nicht nur das allgemeine Bewusstsein, sondern auch das moderne Völkerrecht nichts mehr vom ursprünglichen Wesen der Kapitulation als einer Vertragsform. So lesen wir im Wörterbuch des Völkerrechts: „Politische, territoriale, finanzielle und wirtschaftliche Klauseln [...] und alle anderen Vereinbarungen, die über die Dauer des Kriegszustands hinaus wirken sollen, gehören nicht in eine Kapitulation“3. Sie werden als nicht bindend erklärt: „Eine Kapitulation entfaltet Wirkungen nur während der Dauer des Krieges. [...] Mit Beendigung des Kriegszustandes wird sie gegenstandslos.“ Im weit verbreiteten Lehrbuch des Völkerrechts von Verdross erfahren wir zusätzlich: „Der Übergang der territorialen Souve-
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Ulrich SCHMIDT / Thomas RIIS / Marco POZZA, Wahlkapitulation, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 8, München 1997, Sp. 1914–1918; Gerd KLEINHEYER, Die kaiserlichen Wahlkapitulationen. Geschichte, Wesen und Funktion, Karlsruhe 1968; Hans-Jürgen BECKER, Wahlkapitulation und Gesetz, in: Gesetz und Vertrag, Bd. 1, hg. v. Okko BEHRENDS / Christian STARCK, Göttingen 2004 (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, Phil.-hist. Klasse. Folge 3, 262), S. 91–106. Zum Streit der spanischen Forschung über die Rechtsnatur dieser Kapitulation siehe Daniel DAMLER, Imperium Contrahens. Eine Vertragsgeschichte des spanischen Weltreichs in der Renaissance, Stuttgart 2008 (Historische Forschungen 27), S. 19 ff. E. BAUER, Kapitulation, in: Wörterbuch des Völkerrechts, Bd. 2, 2. Aufl., Berlin 1961, S. 192 ff.; vgl. Lassa Francis Lawrence OPPENHEIM / Hersh LAUTERPACHT, International Law. A Treatise, Bd. 2, 7. Aufl., London 1952, S. 543–546; The Manuel of the Law of Armed Conflict. UK Ministry of Defence, Oxford 2004, S. 268 f.; Leslie C. GREEN, The Contemporary Law of Armed Conflict, 3. Aufl., Manchester 2008, S. 116 ff. (S. 34 immerhin ein kurzer Blick auf mittelalterliche Kapitulationen).
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ränität bedarf nach allgemeinem Völkerrecht nicht der Zustimmung der betroffenen Bevölkerung“4. Dass man das früher ganz anders gesehen hat, werden wir im Folgenden erweisen. Auch da jedoch werden wir nur am Rande einen Blick auf die rein militärischen Kapitulationen von Truppenteilen oder kleineren Festungen werfen. Unser Interesse gilt den Kapitulationen, die Städte oder Provinzen mit dem Gegner abgeschlossen haben. Wie häufig das geschehen konnte, lehrt bereits ein Blick auf die Geschichte Freiburgs im 17. und 18. Jahrhundert. Nachdem der Besitz der Stadt während des Dreißigjährigen Krieges schon seit 1632 wiederholt zwischen Österreich und Schweden/Frankreich gewechselt hatte, kapitulierte 1644 eine französische Besatzung vor der Bayerischen Armee unter Mercy, die auf der Seite des Kaisers focht. Im Jahre 1677 erfolgte im Niederländischen Krieg die Kapitulation vor dem französischen Marschall Créqui, die dann infolge des Friedens von Nimwegen 1679 auch die französische Herrschaft bis zum Frieden von Rijswijk 1697 zur Folge hatte. Während des Spanischen Erbfolgekrieges 1713 und während des Österreichischen Erbfolgekrieges 1744 erzwangen französische Heere weitere Kapitulationen5. II. Gehen wir nunmehr medias in res. Am 28. September 1681 erschien unversehens ein französisches Heer vor den Toren der freien Reichsstadt Straßburg. Am 29. September verlangte dessen Oberbefehlshaber, der Marquis de Louvois, ultimativ bis zum nächsten Morgen um 7 Uhr die Übergabe der Stadt. Daraufhin entwarfen die Ratskonsulenten in der Nacht die Kapitulationsurkunde, mit deren endgültiger Fassung, geschrieben von dem Stadtsyndicus Johann Joachim Frantz, sich am 30. September vormittags eine Abordnung der Stadt zu Louvois begab. Dieser bewilligte am linken Rand des Textes, allerdings mit einigen Modifikationen, die in acht Artikeln niedergelegten Forderungen, denen noch zwei weitere Artikel mit Übergangs———————————— 4 5
Alfred VERDROSS, Völkerrecht, 5. Aufl., Wien 1964, S. 289. Beglaubigte Abschriften der Kapitulationsurkunden finden sich im Stadtarchiv Freiburg, C 1 Militaria 108, Nr. 1–5 (für Kopien danke ich dem Stadtarchiv; für die freundliche Vermittlung Detlef Liebs); dazu: Detlef VOGEL, Die Belagerungen Freiburgs i. Br. während des 17. und 18. Jahrhunderts, in: Stadt und Festung Freiburg, Bd. 2: Aufsätze zur Geschichte der Stadtbefestigung, hg. v. Hans SCHADEK / Ulrich ECKER, Freiburg i. Br. 1988, S. 41–73.
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bestimmungen hinzugefügt wurden. Am frühen Nachmittag wurde die Urkunde von beiden Seiten unterschrieben und mit einem kurzen Prätext seitens von Louvois an Ludwig XIV. abgeschickt. Dieser bestätigte am 3. Oktober in Vitry auf der vierten Seite des Blattes vollumfänglich die Abmachungen mit seiner Unterschrift und der des Ministers Colbert6. Die eng gedrängte Chronologie ist bereits ein wichtiger Hinweis darauf, dass beide Seiten bei der Kapitulation einem allseits bekannten Verfahren folgten. Die Kapitulierenden stellten schriftlich ihre Forderungen, die von dem Oberkommandierenden vor der Festung geprüft und – mit Einschränkungen im Detail – gebilligt, accordiert, wurden, weshalb sie auch als Accordationspunkte bezeichnet wurden. Der Kommandeur handelte in Vollmacht seines Souveräns, dessen spätere Bestätigung gleichwohl notwendig war. Aufschlussreich ist insbesondere der kurze Zeitraum, der in Straßburg für die Abfassung der acht Artikel zur Verfügung stand. Die Verfasser des Textes wussten offensichtlich ebenso wie Louvois, was bei Gelegenheit einer Kapitulation allgemein üblich war, zu fordern und zu bewilligen. Im Falle der baltischen Provinzen Schwedens zogen sich während des Nordischen Krieges die Ereignisse im Jahre 1710 über viele Monate hin. So konnte der russische Oberbefehlshaber Boris P. Šeremetev in seinem Mandat vom 31. Januar 1710 darauf verweisen, dass Schweden gar nicht mehr zu einer wirksamen Verteidigung seiner Lande in der Lage sei und damit auch jeden Anspruch auf deren Loyalität verwirkt habe: Wo eines grossen Herrn Schutz aufhöret, da cessiret auch der Gehorsam und die Treue der Unterthanen; weil dieses vinculum billig mutuum seyn muss7.
Die wesentliche Voraussetzung für jede Kapitulation, nämlich eine Zwangslage infolge des Ausbleibens rechtzeitiger Hilfe von außen, war also gegeben und die Folgezeit sollte das bestätigen. Gleichzeitig stellte Šeremetev nicht nur die Wahrung, sondern darüber hinaus die Wiederherstellung der von Schweden missachteten Privilegien und Rechtsverhältnisse in Aussicht. ———————————— 6
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Dietrich PFAEHLER, Die Kapitulation der Reichsstadt Straßburg, in: Der Fall der Reichsstadt Straßburg und seine Folgen, hg. v. Wilfried FORSTMANN / Eduard HAUG / Dietrich PFAEHLER / Gabriele THIEL, Neustadt a. d. Saale 1981, S. 31–39. Ein gutes Faksimile der Urkunde in: Ullsteins Weltgeschichte, Bd. 5, hg. v. Julius von PFLUGK-HARTTUNG, Berlin 1908, zwischen S. 168/169. Carl SCHIRREN, Die Capitulationen der livländischen Ritter- und Landschaft und der Stadt Riga vom 4. Juli 1710 nebst deren Confirmationen, Dorpat 1865, S. 30. Bei Schirren auch die im Folgenden genannten Dokumente. Zu den Ereignissen siehe Reinhard WITTRAM, Peter I. Czar und Kaiser. Zur Geschichte Peters des Großen in seiner Zeit, Bd. 1, Göttingen 1964, S. 331–355.
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Auf dieser Grundlage kapitulierten nach längerer Belagerung Rigas am 4. Juli 1710 in drei getrennten Verträgen die Garnison, die Stadt und die Livländische Ritterschaft. Alle drei Dokumente umfassen wesentlich mehr Punkte als die Kapitulation von Straßburg, sie folgen aber genau demselben Schema: Links stehen die Forderungen der Kapitulierenden, die rechts von Šeremetev zugestanden oder auch weiterer Beschlussfassung durch den Zaren unterworfen werden. Auch in diesem Falle kannten also beide Seiten das allgemein übliche Verfahren. Dementsprechend folgten bald darauf, am 30. September, die Generalkonfirmationen der Privilegien der Stadt Riga und der Livländischen Ritterschaft durch Peter I., die am 12. Oktober durch Regelungen der offen gebliebenen Accord-Punkte ergänzt wurden. Gegenüber der letzten noch verbliebenen Festung Schwedens, Reval (estn. Tallinn), wiederholte sich derselbe Ablauf8. In einem Universale Peters I. vom 16. August 1710 unterstrich dieser die fehlende Hilfe für die Stadt9 und machte gleichzeitig umfangreiche Zusagen: Insonderheit aber können wir nicht unterlaszen, einer Wohlgebohrner Ritterund Landschafft des Fürstenthumbs Ehstland, wie auch E. E. Rath und der gantzen Bürgerschafft der Stadt Reval unsere besondere Gunst und Gnade auch hierinnen zu declariren, dasz so balde nach Gottes Willen das Land unter unsere Devotion völlig gebracht ist, wier nicht allein ohne einige Innovation der im gantzen Lande und Städten biszherzu üblichen Evangelischen Religion, alle ihre alte Privilegia, Freyheiten, Rechte und Immuniteten, welche unter der schwedischen Regierung eine Zeit hero weltkündig violiret worden, nach ihrem wahren Sinn und Verstand heylig zu conserviren und zu halten gesinnet sind. Sondern wier geloben auch dieselben mit noch ampleren und herlichern, nach Gelegenheit zu vermehren10.
Durch die in Reval grassierende Pest geschwächt sahen sich die Garnison, die Stadt und die Estländische Ritterschaft genötigt, am 29. September in derselben Form wie zuvor in Riga vor dem Generalleutnant Rudolf Felix Bauer kampflos zu kapitulieren. Nicht die Kapitulationen, wohl aber die zugesagten Privilegien insgesamt wurden später von Peter I. am 1. bzw. 13. März 1712 durch eine Generalconfirmation bestätigt. Bei seinem ersten ———————————— 8
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Die Dokumente bei Eduard WINKELMANN, Die Capitulationen der estländischen Ritterschaft und der Stadt Reval vom Jahre 1710 nebst deren Confirmationen, Reval 1865. Dazu eindringlich auch das Begleitschreiben des Fürsten Menšikov vom 17. August 1710: WINKELMANN, Capitulationen (wie Anm. 8), S. 24 f. Ebenda, S. 23; Pis’ma i bumagi imperatora Petra Velikogo [Briefe und Papiere des Kaisers Peter des Großen], t. 10: 1710, Moskva 1956, S. 283 ff.
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Aufenthalt in Reval war zuvor dem Zaren eine Sammlung aller Privilegien der Ritterschaft überreicht worden. In einer vorläufigen Würdigung der Kapitulationen sind zwei Gesichtspunkte hervorzuheben. Zum einen der militärische. Eine Kapitulation verkürzte dem Sieger eine aufwendige Belagerung und ersparte dem Unterlegenen alle mit der Eroberung verbundenen Schrecken. Zu kapitulieren war durchaus ehrenhaft, eine Zwangslage vorausgesetzt, in der die Ressourcen in der Festung zur Neige gingen und von außen wirksame Hilfe nicht mehr zu erwarten war. Wann und in welcher Form die Kapitulation zu erfolgen hatte, musste jedem Offizier klar sein. Er konnte es auch in einem militärischen Handbuch nachlesen, etwa in Hannß Friedrich von Fleming „Der vollkommene teutsche Soldat“ von 172611. Dort waren die wichtigsten Punkte aufgeführt (S. 591 f.), die in einer Kapitulation zu regeln waren, wozu nicht nur militärische Angelegenheiten im engeren Sinne gehörten, sondern durchaus auch Regelungen im Interesse der Bürgerschaft, einschließlich der Beibehaltung der bisherigen Religion12. Eben dies lässt sich auch in den Kapitulationen der schwedischen Garnisonen in Riga und Reval feststellen. Im Falle von Straßburg, wo es keine eigentliche Garnison gegeben hat, noch mehr in dem der Städte Riga und Reval und der baltischen Ritterschaften hat jedoch der Inhalt der Kapitulationsurkunden wenig mit einer militärischen Übergabe zu tun. Diese ist nur der – wichtige! – Hintergrund für die jeweiligen Abkommen. Vereinbart wird in allen Fällen zuerst die ungehinderte Ausübung der evangelischen Religion – grundlegend im konfessionellen Zeitalter seit der Kirchentrennung im 16. Jahrhundert – und dann die Garantie der jeweiligen Rechtsordnung und der ständischen Verfassung. Dabei gibt es keine feste inhaltliche Reihenfolge. In bunter Folge wechseln allgemeine Zusicherungen für den Fortbestand der bisherigen Privilegien und Rechte mit konkreten Aufzählungen der Ämter und Gerichte und einer Vielzahl von einzelnen Regelungen auf Dauer oder auch nur für die augen———————————— 11
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Hannß Friedrich von FLEMING, Der vollkommene teutsche Soldat, welcher die gantze Kriegs-Wissenschafft, insonderheit was bey der Infanterie vorkommt, ordentlich und deutlich vorträgt [...], Leipzig 1726; vgl. Johann Heinrich ZEDLER, Großes Vollständiges Universal-Lexicon, Bd. 1, Halle-Leipzig 1732, S. 283, s.v. Accords-Puncte. Bemerkenswert ist die Einschränkung (S. 590), dass bei einer Kapitulation ein Proviantsvorrat für mindestens drei Tage noch vorhanden sein müsse. Die Kapitulation durfte also nicht im allerletzten Moment erfolgen. Dies erinnert an die römische Bestimmung, dass bei einer deditio der Sturmbock (aries) noch nicht an der Mauer angesetzt sein dürfe: Caesar, Bellum Gallicum II 32,1; dazu Werner DAHLHEIM, Struktur und Entwicklung des römischen Völkerrechts im dritten und zweiten Jahrhundert v. Chr., München 1968 (Vestigia 8), S. 9, Anm. 15.
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blickliche Situation. Im übrigen ist die unter hohem Zeitdruck entstandene Straßburger Kapitulation mit ihren acht Artikeln sehr viel konziser auf das Grundsätzliche beschränkt als die baltischen Kapitulationen, die 22 Artikel (Riga), 30 (und drei zusätzliche) Artikel (Livländische Ritterschaft), 33 (Reval) oder sogar 41 Artikel (Estländische Ritterschaft) umfassen. Anderes unterscheidet sich nach der jeweiligen Interessenlage. Während die Städte auf den Erhalt ihres Territoriums, der Befestigungen und ihrer Einkünfte bedacht sind, geht es den Ritterschaften vor allem um ihren Güterbesitz oder auch die Patronatsrechte bei der Besetzung der Pastorate. Straßburg und der Livländischen Ritterschaft ist die Sorge für ihre jeweilige Universität gemeinsam. Aber auch sehr spezielle Themen tauchen auf, wenn sich die Stadt Riga etwa um ihr Holz vor der Stadt sorgt oder die Estländische Ritterschaft um die Zufuhr von Salz. In allen baltischen Kapitulationen findet sich wiederum die Gewährleistung der deutschen Amtssprache, in sämtlichen finden sich auch Amnestiebestimmungen. Alle Kapitulationen legen großen Wert darauf, die Rechtsgrundlage des jeweiligen Status quo zu benennen. Straßburg bezieht sich auf den Westfälischen Frieden (1648), der durch den Frieden von Nimwegen (1678) bestätigt worden war, dazu für die Religion auf das in Osnabrück festgelegte Normaljahr 1624. Die Livländische Ritterschaft beruft sich auf das Privilegium Sigismundi Augusti von 1561, während Riga für seine Privilegien und Rechte den Livländischen Orden, die Bischöfe und die Könige von Polen und Schweden benennt. In Estland konnte man entsprechend Dänemark, den Orden und Schweden ins Feld führen. Aus alledem ist ersichtlich, dass der wesentliche Inhalt einer Kapitulationsurkunde war, den jeweils gerade bestehenden Rechtszustand der kapitulierenden Stadt oder Landschaft zu beschreiben und seitens des Siegers für die Zukunft zu gewährleisten. Dies wird insbesondere auch aus den Randnotizen der Oberbefehlshaber, sei es nun Louvois oder Šeremetev oder Bauer, ersichtlich, die genau darauf achteten, ob die einzelnen Punkte tatsächlich den Status quo repräsentierten, und gegebenenfalls diese einfach accordierten, falls jedoch die Kapitulierenden von ihnen gewünschte Änderungen einfügten, um nicht zu sagen: einschmuggelten, sofort Vorbehalte anbrachten13. In keinem Falle aber – und das ist zunächst ebenso überraschend wie für das Verständnis ihres rechtlichen Charakters grundlegend – änderte eine ———————————— 13
So versuchte etwa Straßburg, das Münster für die evangelische Seite zu gewinnen; die Estländische Ritterschaft das von Schweden eingeführte Königl. Burggericht zu beseitigen; Reval, seine Gerichtsbarkeit auch auf den Dombereich auszudehnen.
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Kapitulationsurkunde die bestehenden Rechtsverhältnisse auf Wunsch des Siegers. Zu einem besseren Verständnis dieses für uns merkwürdigen Befundes müssen wir uns nunmehr der Genese der Kapitulationen zuwenden. Wir tun dieses, indem wir uns zeitlich rückwärts bewegen. Wir wählen dieses Vorgehen, um zunächst aufzuzeigen, dass die Kapitulationen um 1700 bereits in einer langen Tradition standen, die wir möglichst weit zurückverfolgen wollen. An diesem Punkt angelangt wird die Frage nach ihrem Inhalt in einem breiteren Kontext erneut aufzunehmen sein. III. Verweilen wir noch einen Moment in den baltischen Landen, genauer noch hier in Dorpat (estn. Tartu). Da die Befestigung bereits sturmreif zerstört worden war, musste die Kapitulation der schwedischen Garnison unter Carl Gustaf Skytte gegenüber Šeremetev am 14. Juli 1704 unter hohem Zeitdruck erfolgen. Die Kapitulationsurkunde umfasste daher nur 11 Punkte, wobei die Privilegien der Stadt lediglich unter Punkt 8 summarisch genannt wurden. Im übrigen entspricht sie aber vollständig dem uns nunmehr schon bekannten Schema. Wichtig ist sie für uns aber vor allem deshalb, weil Peter I. selbst vor Dorpat anwesend war und den ersten Entwurf Skyttes eigenhändig am Rande kommentiert hat. Er kannte also genau die übliche Praxis14. Nun aber an die Westgrenze des Heiligen Römischen Reiches. Die Freigrafschaft Burgund (Franche-Comté) war nach dem Tode Karls des Kühnen 1476 mit dem burgundischen Erbe an die Habsburger gefallen, obwohl der französische König Ludwig XI. kurzfristig das Land unter sein Protektorat (garde) gebracht hatte15, seit 1556 an deren spanische Linie. In ihrer Mitte befand sich aber die Freie Reichsstadt Besançon, die zwar 1654 an Spanien abgetreten worden war, sich aber auch danach eine privilegierte Rechtsstel-
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Friedrich BIENEMANN, Die Capitulation Dorpats 1704, in: Mittheilungen aus dem Gebiete der Geschichte Liv-, Est- und Kurlands 16, Riga 1896, S. 607–630, bes. S. 618 f.; vgl. Margus LAIDRE, The Great Northern War and Estonia. The Trials of Dorpat 1700– 1708, Tallinn 2010, S. 143–148. Léonce de PIÉPAPE, Histoire de la réunion de la Franche-Comté à la France, Bd. 1, Paris / Besançon 1881, S. 103–107; der Beschluss der burgundischen Stände vom 18. Februar 1476, dem König die garde anzuvertrauen, S. 444–447.
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lung bewahren konnte16. Im Devolutionskrieg 1668 mussten Besançon und Dole, die Hauptstadt der Franche-Comté, vor dem französischen Heer kapitulieren17. Ludwig XIV. zog feierlich ein und ließ sich huldigen, nur um im gleichen Jahr im Frieden von Aachen die Franche-Comté an Spanien zurückzugeben. Wir haben hier also ein schönes Beispiel dafür vor uns, dass Kapitulationsurkunden durch den darauf folgenden Friedensschluss durchaus auch außer Kraft gesetzt werden konnten. Im bald darauf folgenden Niederländischen Krieg mussten sich beide Städte wiederum ergeben, Dole mit einer klassischen Kapitulationsurkunde vom 7. Juni 1674, wie wir sie bereits hinlänglich kennen, unterzeichnet vom französischen König persönlich18. Im Falle des bereits sturmreif geschossenen Besançon jedoch kürzte Ludwig XIV. das Verfahren ab, indem er am 15. Mai 1674 den Abgesandten der Stadt durch Louvois die – inhaltlich völlig der von 1668 mit allen Privilegien entsprechende – Kapitulationsurkunde schlicht diktieren ließ und dann unterschrieb19. Gerade daran wird aber deutlich, dass der König auf die Urkunde großen Wert legte. Er wollte Besançon nicht einfach erobern, sondern als Herrscher in der Stadt Zustimmung und einen Ansprechpartner haben. Durch Artikel XII des Friedens von Nimwegen mit Spanien wurde Frankreich im Besitz der Franche-Comté bestätigt. IV. Wenden wir uns wieder den baltischen Landen zu und blicken dabei zunächst nach Dorpat. Im Kriege des Zaren Aleksej gegen Polen und Schweden zog eine russische Armee unter Aleksej Trubeckoj im Jahre 1656 vor die Stadt. Nach mehrmonatiger Belagerung forderte Trubeckoj am 21. September den Gouverneur Lars Flemming und den Rat mit dem Hinweis auf de-
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Léonce de PIÉPAPE, Histoire de la réunion de la Franche-Comté à la France, Bd. 2, Paris / Besançon 1881, S. 201–207. Ebenda, S. 274–311; der Text der Kapitulation des Parlements in Dole ebd., S. 306, Anm. 2. Die Urkunde befindet sich in Dole, Archives Municipales, cote 19 (vermittelt durch Christian Windler, dem auch für weitere Hinweise zu danken ist). De PIÉPAPE, Franche-Comté, Bd. 2 (wie Anm. 16), S. 410–415; der Text der Urkunde: S. 503 f.; Darryl DEE, Expansion and Crisis in Louis XIV’s France. Franche-Comté and Absolute Monarchy, 1674–1715, Rochester, NY 2009, S. 38–41.
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ren desolate Lage zur Kapitulation auf20. Am 12. Oktober schloss dann Flemming gegen den Protest des Obrist-Lieutenants Wolmar von Ungern21 eine Generalkapitulation ab, die in Artikel 19 die Privilegien und Rechte der Stadt und ihre Religion gewährleistete. Am 14. Oktober leisteten Rat und Bürgerschaft den Treueeid auf den Zaren. Eine kurz darauf entworfene ausführliche Specialkapitulation der Stadt Dorpat ist möglicherweise von Trubeckoj nicht eigens unterzeichnet worden, dagegen empfahl er, sich direkt an den Zaren zu wenden22. Mit einer ausführlichen Instruktion vom 3. März 1657 versehen machte sich die Delegation auf den Weg nach Moskau. Sie verwies auf den Artikel 19 der Generalkapitulation, aber auch generell auf die Privilegien aus polnischer und schwedischer Zeit, insbesondere auch auf das von Königin Christina von Schweden 1646 bestätigte corpus privilegiorum. Dass diese in Moskau auch interessierten, ergibt sich aus einem Schreiben der Deputierten an den Rat vom 2. Mai 1657, wo von der Anforderung einer Übersetzung des schwedischen Privilegs ins Russische die Rede ist23. Dementsprechend hat dann auch das Privilegium des Zaren Aleksej vom Oktober 1657 die Privilegien Dorpats auf dem Stande der Zeit Königin Christinas bestätigt und auch in vielen einzelnen Punkten den Wünschen der Stadt entsprochen24. Es kann also festgestellt werden, dass schon in der Mitte des 17. Jahrhunderts in Russland die europäische Kapitulation in Form und Inhalt sehr genau bekannt war. Generell hat Norbert Angermann gezeigt, dass man russischerseits in den Jahren bis zum Frieden von Kardis mit Schweden (1661) bzw. bis zum Waffenstillstand von Andrusovo mit Polen (1667) sehr darum bemüht war, die erworbenen Gebiete in Livland verwaltungsmäßig zu organisieren25. ———————————— 20
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Friedrich BIENEMANN, Briefe und Aktenstücke zur Geschichte der Verteidigung und Kapitulation Dorpats 1656, in: Mittheilungen aus dem Gebiete der Geschichte Liv-, Estund Kurlands 16, Riga 1896, S. 515–605, hier S. 577 ff. Ebd., S. 579–584. Die beiden Texte bei BIENEMANN, Dorpat (wie Anm. 20), S. 586–592 mit S. 588 Anm. 2. BIENEMANN, Dorpat (wie Anm. 20), S. 601. Ibid., S. 603 ff. Auf dies Privileg weist auch WITTRAM, Peter I. (wie Anm. 7), S. 345, hin, will es aber ohne jede Begründung in eine Moskauer Tradition stellen. Zu dieser durchaus vorhandenen, aber sachlich nicht ganz entsprechenden Tradition siehe den nächsten Abschnitt. Norbert ANGERMANN, Die russische Herrschaft im östlichen und mittleren Livland 1654–1667, in: Aus der Geschichte Alt-Livlands. Festschrift für Heinz von zur Mühlen,
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Vierzig Jahre zuvor war der schwedische König Gustav II. Adolf bei der Belagerung des damals polnischen Riga nach allen Regeln der damaligen Verhandlungskunst verfahren. Nach seiner Landung vor der Stadt am 11. August 1621 hat er diese dreimal zur Übergabe aufgefordert, was zunächst mit Hinweis auf die Polen schuldige Treue abgelehnt wurde. Erst als er am 2. September darauf hinweisen konnte, dass das polnische Entsatzheer sich zurückgezogen habe, und gleichzeitig die bisherigen Privilegien und Freiheiten in Aussicht stellte, und als dann der Druck zu stark wurde, kam es seit dem 12. September zu Verhandlungen, die schließlich am 15. September zum Abschluss gebracht wurden. Am 16. September zog der König in Riga ein und bestätigte am 25. September die Sammlung der Rigischen Privilegien (corpus privilegiorum Gustavianum)26. V. Mit dem nunmehr zu behandelnden Privilegium Sigismundi Augusti und denen Eriks XIV. haben wir nicht Kapitulationen vor dem Sieger nach militärischen Niederlagen vor uns, wohl aber Unterwerfungsakte von Ständen unter einen neuen Herrscher aufgrund einer von dritter Seite verursachten militärischen Zwangslage. Der Krieg gegen den Zaren Ivan IV. seit 1558 hatte die Schwäche Alt-Livlands schonungslos offen gelegt. Während der letzte Ordensmeister, Gotthard Kettler, im Jahre 1561 für sich südlich der Düna (lett. Daugava) ein erbliches Herzogtum Kurland unter polnischer Oberhoheit erreichte27, unterwarf sich die Ritterschaft Livlands nach länge————————————
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hg. v. Bernhard JÄHNIG / Klaus MILITZER, Münster 2004 (Schriften der Baltischen Historischen Kommission 12), S. 351–367. Arend BUCHHOLTZ, Die Correspondenz König Gustav Adolfs mit der Stadt Riga um die Zeit der Belagerung von 1621, in: Mittheilungen aus dem Gebiete der Geschichte Liv-, Est- und Kurlands 14, Riga 1890, S. 389–409; Constantin METTIG, Geschichte der Stadt Riga, Riga 1897, S. 316–320. Die Verleihung von Kurland als Herzogtum an Kettler folgt dem überkommenen Lehensrecht und trägt einen ganz anderen Charakter als die hier betrachteten Kapitulationen; der Text der Pacta Subiectionis von 1561 in: Kurland. Vom polnisch-litauischen Lehnsherzogtum zur russischen Provinz. Dokumente zur Verfassungsgeschichte 1561–1795, hg. v. Erwin OBERLÄNDER / Volker KELLER, Paderborn 2008, S. 54–71. Das Gleiche gilt für die Belehnung Albrechts von Brandenburg mit dem Herzogtum Preußen 1525. Auch dabei handelte es sich um eine Herrschaftsanerkennung; die vorhandenen Privilegien mussten ausgeliefert werden und wurden im Nachhinein – unter Vorbehalt – bestätigt: Stephan und Heidrun DOLEZEL, Die Staatsverträge des Herzogtums Preußen. Teil I: Polen und
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ren Verhandlungen direkt Sigismund August als König von Polen und Großfürst von Litauen. Betrachten wir das Privilegium Sigismundi Augusti vom 28. November 1561, so finden wir zunächst den Verweis auf die unvermeidliche Notlage, die dazu zwingt, einen neuen Schutzherrn zu suchen. Es folgt das Gesuch der Abordnung des Adels um die Bestätigung ihrer Rechte, wobei es wörtlich heißt: [...] so haben sie Uns auch gewisse Hauptstücke oder Artikel (certa capita, seu articulos) schriftlich überreicht, und Uns um die Bestätigung, Billigung und Genehmigung derselben in allen ihren Punkten, Klauseln und Bedingungen angelegentlichst gebeten, welche Hauptstücke und Artikel wörtlich also lauten28.
Dementsprechend sind sämtliche folgende Artikel als Bitten der Ritterschaft formuliert, von der Gewährleistung der evangelischen Religion angefangen über die Besetzung der Ämter mit Einheimischen, die Schaffung eines Appellationsgerichtes in Riga, das wiederum mit einheimischen Richtern zu besetzen ist, bis zur Sicherung des noch als Lehen aufgefassten Güterbesitzes durch das Erbrecht zur gesamten Hand, das Jagd- und Waldnutzungsrecht und die Gerichtsbarkeit auf den Gütern. Sämtliche 27 Artikel hat der König am Schluss „als gerecht und billig [...] nach allen in ihrem Gesuche und in ihren Artikeln enthaltenen Klauseln, Punkten und Bedingungen, zu bestätigen, zu billigen und zu genehmigen für Recht gefunden“29. All dies entspricht in jeder Hinsicht dem uns nunmehr vertrauten Kapitulationsformular. Es zeigt sich, dass dieses durchaus auch in einem anderen Kontext, hier freilich durch den Wechsel in der Herrschaft nah verwandt, anwendbar gewesen ist.
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Litauen. Verträge und Belehnungsurkunden 1525–1657/58, Köln / Berlin 1971, S. 28 f. (Artikel 29 des Krakauer Friedens vom 8. April 1525); S. 54 ff. (Danziger Privilegienurkunde vom 26. Mai 1526). Allerdings wurden auch in diesem Fall die Bedingungen in langwierigen Verhandlungen festgelegt: Stephan DOLEZEL, Das preußisch-polnische Lehnsverhältnis unter Herzog Albrecht von Preußen (1525–1568), Diss. Bonn 1967, S. 15–31. Der Text des Privilegium Sigismundi Augusti nunmehr in: Kurland (wie Anm. 27), S. 72–93, hier S. 75. Eine nähere Untersuchung würde die vorhergehende Cautio Radzivilliana verdienen (bei Otto MÜLLER, Die Livländischen Landesprivilegien und deren Confirmationen, 2. Aufl., Leipzig 1870, S. 11 ff.). Im Vorfeld einer Kapitulation ist mir eine Cautio sonst nur bei der von Dorpat 1558, also gleichzeitig, begegnet. Kurland (wie Anm. 27), S. 91.
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Im Falle der Privilegien des schwedischen Königs Eriks XIV. für die Estländische Ritterschaft und die Stadt Reval vom 2. August 1561 ist der Sachverhalt insofern nicht so deutlich, als die einzelnen Punkte einseitig als Zusagen des Königs stilisiert sind30. Die Reversale der schwedischen Bevollmächtigten vom 4. bzw. 6. Juni zeigen aber die vorhergehenden Verhandlungen. Auch werden in den Privilegien ausdrücklich die Rechtsverhältnisse aus der dänischen und der Ordenszeit bestätigt31. Unmittelbar davor war allerdings auch der gefürchtete ‚Moskowiter‘ Ivan IV., der durch seinen Angriff die Kapitulationen der baltischen Stände vor Polen und Schweden ausgelöst hatte, durchaus im Rahmen der europäischen Tradition verfahren. Das von seinen Truppen unter Petr I. Šujskij belagerte Dorpat ergab sich am 18. Juli 1558, nachdem es zuvor Conditiones in 34 Punkten aufgestellt hatte, darunter auch den Erhalt der bisherigen Ratsverfassung. Durch ein Privileg vom 6. September 1558 bestätigte der Zar einer Gesandtschaft von Dorpat die Conditiones weitgehend32. Ivan IV. hatte freilich schon früher damit begonnen, im Südosten seines Reiches dieselbe Politik der Gewährung von Autonomie zu betreiben33. Bei ———————————— 30
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Die Privilegien und die Reversale bei WINKELMANN, Capitulationen (wie Anm. 8), S. 3– 18. Hinzuzufügen wäre noch, dass die Insel Ösel sich bereits 1559 König Friedrich II. von Dänemark unterwarf und von ihm ihre Privilegien bestätigt bekam. Die – verhältnismäßig – große Freiheit, mit der sich die baltischen Ritterschaften 1561 neue Oberherren suchen konnten, ist wohl im europäischen Kontext ungewöhnlich und aus dem Zusammenbruch der altlivländischen Ordnung zu erklären: Es gab keinen bisherigen ‚Oberherrn‘, am ehesten noch das Heilige Römische Reich, das aber in diesem Raum praktisch nicht handlungsfähig war (zur Rücksichtsnahme Rigas bis 1582 siehe Anm. 63). Daraus resultierte ein bemerkenswertes Selbstgefühl, das bereits die Livländische Ritterschaft 1601/02 angesichts der Schwierigkeiten mit den polnischen Königen veranlasste, sich aufgrund eines Privilegs des späteren Karl IX. an Schweden anzuschließen: MÜLLER, Die Livländischen Landesprivilegien (wie Anm. 28), S. 36–39, 58 f. Im Grunde hat dieses Selbstgefühl bis zum Ende der alten Ordnung in Liv- und Estland im Jahre 1917 gewirkt. Norbert ANGERMANN, Dorpat/Tartu als Handelszentrum in der Zeit des Livländischen Krieges (1558–1582), in: Lebendige Sozialgeschichte. Gedenkschrift für Peter Borowsky, hg. v. Rainer HERING / Rainer NICOLAYSEN, Wiesbaden 2003, S. 543–550, bes. S. 544 f. Durchaus vergleichbar war Angermann zufolge die Behandlung von Narva 1558 (S. 545 Anm. 11) und Hapsal 1576 (S. 549 f.); auch Reval wurde 1558 ein Kapitulationsangebot gemacht. Zu Dorpat 1558 siehe auch die Chronik von Johannes RENNER, Livländische Historien 1556–1561, hg. v. Peter KARSTEDT, Lübeck 1953, S. 33. Andreas KAPPELER, Russlands erste Nationalitäten. Das Zarenreich und die Völker der Mittleren Wolga vom 16. bis 19. Jahrhundert, Köln / Wien 1982 (Beiträge zur Geschichte Osteuropas 14), S. 97–101, 120–129 (S. 126 f. ein vergleichender Blick auf Livland), 193–198. Prinzipiell hat bereits WITTRAM, Peter I. (wie Anm. 7), S. 345, diese Tradition
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der Belagerung von Kazan’ 1552 soll er nach der „Historie vom Zartum Kasan“ dem dortigen Chan angeboten haben, ihn bei freiwilliger Übergabe als Herrscher zu belassen, und: [...] ihr werdet mir liebe Freunde und treue Diener sein, und ich werde euch ein großes Privileg geben: nach eurem Belieben zu leben nach eurer Freiheit und nach euren Bräuchen. Euer Gesetz und euren Glauben werde ich euch nicht nehmen, ich werde euch nicht aus euren Landen irgendwohin über mein Land verstreuen, das, was ihr fürchtet. Ich werde bei euch nur zwei oder drei meiner Woiwoden zurücklassen, selber aber werde ich davonziehen34.
Da das Kapitulationsangebot abgelehnt wurde, ist Kazan’ schließlich erobert worden. Die Angliederung von Astrachan’ im Jahre 1556 indes „sollte für die vormoderne russische ‚Nationalitätenpolitik‘ beispielhaft bleiben. Sie basierte auf der Zusammenarbeit mit den loyalen nichtrussischen Eliten und der weitgehenden Garantie des Status quo“35. Ihre Fortsetzung fand sie etwa bei der Angliederung der Ukraine36 und bei der Eroberung von Smolensk im Jahre 1654. Ob Ivan IV. schon im Jahre 1552 in Kenntnis der europäischen Tradition handelte und welche Bedeutung die Differenzen zwischen dem Verfahren im Westen und im Südosten hatten – einseitige Gewährung durch den ————————————
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mit Verweis auf Janis ZUTIS, Ostzejskij vopros v XVIII v. [Die baltische Frage im 18. Jh.], Riga 1946, S. 76, anerkannt. Er zieht aber daraus keine Konsequenzen für seine Interpretation der Privilegien von 1710. Nicht ohne Bedeutung ist vielleicht auch, dass sich der Aufstieg Moskaus in Abhängigkeit von der Goldenen Horde vollzogen hatte, man also dort eine derartige Autonomie aus eigener Erfahrung kannte. Historie vom Zartum Kasan (Kasaner Chronist), übersetzt, eingeleitet und erklärt von Frank KÄMPFER, Graz 1969, S. 198 (Kapitel 60); vgl. Frank KÄMPFER, Die Eroberung von Kasan 1552 als Gegenstand der zeitgenössischen russischen Historiographie, Berlin 1969, S. 9–24 (zum Quellenwert der Historie); S. 81 ff. (zu den Friedensangeboten Ivans IV., die auch in anderen Quellen berichtet werden) (freundlicher Hinweis von Jörn Happel). Andreas KAPPELER, Russland als Vielvölkerreich, München 2008, S. 33. Fast mit denselben Worten kommentiert Kappeler die Kapitulationen von 1710 (S. 69). In dieser allgemeinen Formulierung ist das durchaus richtig, aber der westeuropäische Kontext bleibt dabei doch sehr unterbelichtet; vgl. auch Gert von PISTOHLKORS, Ursprung und Entwicklung ethnischer Minderheiten in der baltischen Region im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert, in: Staatliche Einheit und nationale Vielfalt im Baltikum. Festschrift für Prof. Dr. Michael Garleff zum 65. Geburtstag, hg. v. DEMS. / Matthias WEBER, München 2005 (Schriften des Bundesinstituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa 26), S. 13–34, bes. S. 13–16. Zu dieser siehe auch Georg von RAUCH, Russland: Staatliche Einheit und nationale Vielfalt. Föderalistische Kräfte und Ideen in der russischen Geschichte, München 1953, S. 25–30.
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Sieger gegenüber dem zweiseitig stilisierten Kapitulationsformular –, bedarf weiterer Untersuchung. Im Moment ist die Kapitulation Dorpats im Jahre 1558 das früheste mir bekannte, dabei aber bereits voll ausgebildete Beispiel einer Kapitulation. Ebenso klar ist aber, dass weder Šujskij noch die Bürger von Dorpat das Formular erfunden haben können; ganz abgesehen davon, dass sich möglicherweise Ivan IV. bereits sechs Jahre früher vor Kazan’ davon inspirieren ließ. Zu suchen ist also nach früheren Anwendungsfällen im mittel- oder westeuropäischen Raum. Vielleicht ist das aber gar nicht das entscheidende Problem, da in der Sache das Kapitulationsformular längst vorbereitet gewesen ist. Kapitulationen unter beiderseits ausgehandelten Bedingungen sind nämlich quer durch ganz Europa spätestens seit dem 15. Jahrhundert üblich geworden, in der Schweiz37 genauso wie in Italien38 oder Spanien. Dabei ist besonders bemerkenswert, dass in der in den letzten Monaten des Jahres 1491 ausgehandelten und am 2. Januar 1492 besiegelten Kapitulationsurkunde der Katholischen Könige für Granada sogar die freie Ausübung des muslimischen Glaubens gewährt wurde39. In vieler Hinsicht könnte man auch die Schutzverträge (droit de garde / de protection) vergleichen, die die Städte und Bistümer des Heiligen Römischen Reiches Toul und Verdun schon seit dem hohen Mittelalter unter dem Druck der Herzogtümer Bar und Lothringen, mehr noch des benachbarten Frankreich, eingegangen sind. Toul schloss einen solchen erstmals im Jahre 1300 mit Philipp IV. von
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Vgl. etwa die Kapitulationsurkunde der habsburgischen Stadt Aarau vor den Eidgenossen am 20. April 1415, in: Georg BONER, Von der Stadtgründung bis zum Ende der Berner Zeit, in: Geschichte der Stadt Aarau, hg. v. Alfred LÜTHI u.a., Aarau / Frankfurt a.M. 1978, S. 142 f. Zur Bedeutung der Kapitulationen kleinerer Gemeinwesen bei der Staatsbildung von Venedig und Mailand siehe Antonio MENNITI IPPOLITO, Le dedizioni e lo stato regionale. Osservazioni sul caso veneto, in: Archivio Veneto, 127/162 (1986), S. 5–30 (freundlicher Hinweis von Sven Tjarks); Giorgio CHITTOLINI, Models of Government ‘from Below’ in Fifteenth-Century Lombardy. The ‘Capitoli di Dedizione’ to Francesco Sforza, 1447– 1450, in: Empowering Interactions. Political Cultures and the Emergence of the State in Europe 1300–1900, hg. v. Wim BLOCKMANS / André HOLENSTEIN / John MATHIEU, Farnham 2009, S. 51–63 (weitere Literatur zum europäischen Kontext in Anm. 4, S. 52). Der Text der Kapitulation und ihre Bestätigung in: Miguel GARRIDO ATIENZA, Las Capitulaciones para la entrega de Granada, Granada 1910, S. 269–303 (Nachdruck mit Vorwort von José Enrique LÓPEZ DE COCA CASTAÑER, Granada 1992); vgl. David COLEMAN, Creating Christian Granada. Society and Religious Culture in an Old-World Frontier City, 1492–1600, Ithaca / London 2003, S. 36 ff.
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Frankreich ab40. Verdun hatte bereits einen garde-Vertrag mit Bar, bevor es im Jahre 1315 unter Ludwig X. in die garde de France kam. Seine Rechte wurden ihm dabei ausdrücklich zugesichert. Das lässt die Frage wichtiger werden, aus welchem Kontext heraus sich das Kapitulationsformular gebildet hat. Damit begeben wir uns freilich auf ein weites Feld, in dem wir einstweilen nur einige Landmarken zur Orientierung aufrichten können. VI. Erinnern wir uns nochmals an die baltischen Kapitulationen mit Sigismund August bzw. Erik XIV., die – wenn auch unter dem militärischen Druck Russlands – nicht mit einem Sieger ausgehandelt worden sind. Vergleichbare Fälle lassen sich finden, so der Anschluss des vom Osmanischen Reich bedrohten Siebenbürgens an die Habsburger Monarchie, der in mehreren Etappen zwischen 1687 und 1692 aufgrund eines Unterwerfungsvertrags zustande gekommen ist41. Wir ersehen daraus, dass dieses Vertragsschema ganz allgemein beim Wechsel einer Stadt oder einer Landschaft aus einem Herrschaftsbereich in einen anderen zugrunde gelegt werden konnte. Dabei ging es immer darum, den bestehenden Rechtszustand vom neuen Landesherrn garantieren zu lassen. Aber nicht nur im Falle eines Herrschaftswechsels zwischen zwei Ländern war zwischen dem zukünftigen Landesherrn und den Ständen manches auszuhandeln und kam es zu Verträgen, die den Kapitulationen im Formular weitgehend entsprechen. In aller Kürze soll das an zwei weiteren Fällen aus dem Mittelalter betrachtet werden. Sie zeigen uns, in wie vielen Kontexten die Bestätigung der Privilegien der Stände ihren sinnvollen Platz hatte. Im Jahre 1355 starb Herzog Johann III. von Brabant. Seine Nachfolge sollte seine älteste Tochter Johanna antreten, die mit Wenzeslaus von Luxemburg verheiratet war. Die Stände von Brabant stimmten dem erst zu, als ———————————— 40
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Zu diesen Verträgen: LE MARQUIS DE PIMODAN, La réunion de Toul à la France, Paris 1885, S. xxix-xxxii; der Text von 1300: S. 413–416. Grundsätzlich: Gaston ZELLER, La réunion de Metz à la France, Bd. 1, Straßburg 1926, S. 21–70; Rainer BABEL, Deutschland und Frankreich im Zeichen der habsburgischen Universalmonarchie 1500–1648, Darmstadt 2005, S. 166–176; demnächst ist von ihm dazu eine größere Monographie zu erwarten. Rolf KUTSCHERA, Landtag und Gubernium in Siebenbürgen 1688–1869, Köln / Wien 1985 (Studia Transylvanica 11), S. 1 ff. (freundlicher Hinweis von Daniel Zikeli).
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Johanna und Wenzeslaus in der Joyeuse Entrée vom 3. Januar 1356 die bisherigen Privilegien, insbesondere die Charta von Kortemberg und die Wallonische Charta, zusagten und darüber hinaus (im Hinblick auf die jüngeren Schwestern) vor allem die Unteilbarkeit der Länder42. Hier waren also nicht Krieg oder Kriegsgefahr die Ursache der Bemühungen der Stände, aber immerhin ein bevorstehender Dynastiewechsel, also ein friedlicher Herrschaftsübergang. Die Joyeuse Entrée musste in der Folgezeit von jedem neuen Herrscher bestätigt werden, und noch die Reformversuche Josephs II. in den mittlerweile österreichisch gewordenen Niederlanden hatten die Brabanter Revolution (1789–1790) zur Folge. Wie an den späteren Bestätigungen deutlich wird, war die Joyeuse Entrée kein einmaliges Ereignis. Sie war auch nicht auf Brabant beschränkt. Der französische König beschwor in jeder Stadt seines Königreichs beim erstmaligen Besuch das dortige Recht43. Ebenso verhielten sich die deutschen Kaiser vor Metz von Friedrich III. bis Karl V., im Jahre 1442 Friedrich III. auch vor Besançon. Ihnen wurden jeweils vor der Stadt feierlich die Schlüssel der Stadt überreicht – eine symbolische Form der Kapitulation! –, worauf sie diese mit höflichen Worten und der eidlichen Verpflichtung auf die Stadtrechte sogleich zurückgaben44. Nach der Sizilianischen Vesper 1282 nutzte Peter III. von Aragon die Gelegenheit, Karl I. von Anjou aus Sizilien zu vertreiben. Das notwendige Geld für seinen Feldzug wollte er durch hohe Steuern in Aragon auftreiben. Dagegen revoltierten dessen Stände und erlangten 1283 das Generalprivilegium von Saragossa, das 1287 durch die Unionsprivilegien Alfons III. noch erweitert wurde. ———————————— 42
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Der Text in Werner NÄF, Herrschaftsverträge des Spätmittelalters, Bern 1951 (Quellen zur neueren Geschichte 17), S. 45–66. Gaston ZELLER, La réunion (wie Anm. 40), S. 362 mit Anm. 2; Bernard GUENÉE / Françoise LEHOUX, Les Entrées royales françaises de 1328 à 1515, Paris 1968; Lawrence M. BRYANT, The King and the City in the Parisian Royal Entry Ceremony, Genf 1986. Zu den bildlichen Ausgestaltungen siehe auch Anna RAPP BURI / Monica STUCKYSCHÜRER, Burgundische Tapisserien, München 2001, passim. Jean François HUGUENIN, Les chroniques de la ville de Metz, Metz 1838, S. 397 (Friedrich III.); S. 584, 625 (Maximilian I.); S. 850 ff. (Karl V.); ZELLER, La réunion (wie Anm. 40), Bd. 1, S. 361 mit Anm. 6. Zu Besançon siehe Gerrit Jasper SCHENK, Zeremoniell und Politik. Herrschereinzüge im spätmittelalterlichen Reich, Köln 2003, S. 365 f., der wohl mit Recht einen Einfluss des französischen Modells annimmt: Bei den Herrschereinzügen im Deutschen Reich gab es zwar auch die Schlüsselübergabe als Bestandteil des Zeremoniells, nicht aber regelmäßig die Bestätigung der Stadtprivilegien (S. 347 f., 405, 414–421).
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Bemerkenswert ist die Stilisierung des Eingangs. Der König sagt, dass die Stände vor ihm versammelt waren und demütig vorstellten und mit ihren Bitten und Klagen anzeigten, dass vielfach weder Wir noch Unsere Richter oder Beamten die Rechte, Bräuche, Gewohnheiten, Freiheiten und Privilegien Aragons achteten, weshalb sie Uns anflehten, dass Wir die genannten Rechte, Bräuche, Freiheiten und Gewohnheiten Aragons bestätigen und Wir und Unsere Nachfolger für alle Zeiten sämtliche Privilegien, die sie besitzen, sowie die Schenkungs- und Tauschurkunden achten möchten.
Was zunächst als demütige Bitten dargestellt wird, erweist sich aber sogleich als Diktat der Stände im wörtlichen Sinne: Und um Uns zu bestimmterer Kenntnis dessen, was sie begehrten, kommen zu lassen, ließen all die Vorgenannten es Uns und Unserem geliebten Sohn Alfons, Artikel für Artikel deutlich, laut und vernehmlich abschnittsweise vorlesen, in der Form, wie nachfolgend niedergeschrieben ist45.
Und in der Tat sind alle folgenden Artikel als Forderungen der Stände von Aragon formuliert. Wir erinnern uns – bei aller Verschiedenheit der Situation – rückblickend an das Privilegium Sigismundi Augusti oder auch an die Kapitulationsurkunden, deren Artikel ebenfalls als Forderungen stilisiert sind. Unser eiliger Gang durch die Zeiten hat zumindest aufgewiesen, dass es möglich ist, die Kapitulationsurkunden als einen Spezialfall von vielen Urkunden zu betrachten, in denen Herrscher und Stände ihr Verhältnis zueinander geregelt haben, ganz im Sinne von Otto Brunners Erkenntnis, dass das ‚Land‘ in seinen Ständen dem Landesherrn gegenübertrat und sich nur im Miteinanderhandeln und Verhandeln von ‚Land und Herrschaft‘ praktische Politik machen ließ46. Man könnte etwa auch an die Magna Charta von 1215 erinnern. Stets ging es vor allem um eine Garantie des bisherigen Rechtszustandes, der freilich je nach den Machtverhältnissen auch zugunsten einer Seite (meist der Stände) verschoben werden konnte.
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Die Texte bei NÄF, Herrschaftsverträge (wie Anm. 42); die Zitate S. 25 f.; zum Hintergrund Ludwig KLÜPFEL, Verwaltungsgeschichte des Königreichs Aragon zu Ende des 13. Jahrhunderts, Berlin 1915, S. 192–220. Otto BRUNNER, Land und Herrschaft. Grundfragen der territorialen Verfassungsgeschichte Österreichs im Mittelalter, 5. Aufl., Wien 1965.
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VII. Kehren wir aber nochmals zu den Kapitulationen im Kriegsfall zurück. Hier war das Angebot einer derartigen gütlichen Einigung eigentlich nur sachgemäß, ersparte sie doch in jedem Fall dem Sieger nicht nur einigen Aufwand, sondern verschaffte ihm zugleich die notwendige Infrastruktur in Gestalt der bisherigen Verwaltung der gewonnenen Stadt, des gewonnenen Gebietes. So finden wir bereits in der Bibel, 5. Mose 20, 10–11, die Weisung: Wenn du vor eine Stadt ziehst, sie zu bestreiten, so sollst du ihr den Frieden anbieten. Antwortet sie dir friedlich und tut dir auf, so soll das Volk, das darin gefunden wird, dir zinsbar und untertan sein.
Die Antike böte generell viel Anschauungsmaterial für diese Maxime. Hier nur einige Streiflichter. Da wäre der Lernprozess griechischer Hegemonialmächte – Athen, Sparta, Makedonien – im 5. und 4. Jahrhundert v. Chr. zu betrachten. Vom Ersten Attischen Seebund bis hin zu den multilateralen Friedensverträgen des ‚Königsfriedens‘ (387/86) und des Korinthischen Bundes (337) erkannten sie zunehmend, dass eine dauerhafte Ordnung auf die Anerkennung der (Freiheit und) Autonomie aller griechischen Staaten gegründet sein müsse47. Noch klarer waren während des Zweiten Punischen Krieges im Jahre 216 v. Chr. die Zusagen Hannibals an das sich ihm anschließende Capua: Ne quis imperator magistratusve Poenorum ius ullum in civem Campanum haberet, neve civis Campanus invitus militaret munusve faceret; ut suae leges, sui magistratus Capuae essent48.
Inhaltlich diesem vollständig entsprechende Verträge schloss Hannibal auch mit anderen italischen Gemeinwesen ab49. ———————————— 47
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Jack CARGILL, The Second Athenian League, Empire or Free Alliance?, Berkeley 1981; Ernst BALTRUSCH, Symmachie und Spondai. Untersuchungen zum griechischen Völkerrecht der archaischen und klassischen Zeit (8.–5. Jahrhundert v. Chr.), Berlin 1994 (Untersuchungen zur antiken Literatur und Geschichte 43), S. 155 ff.; Martin JEHNE, Koine Eirene. Untersuchungen zu den Befriedungs- und Stabilisierungsbemühungen in der griechischen Poliswelt des 4. Jahrhunderts v. Chr., Stuttgart 1994 (Hermes: Einzelschriften 63). Liv. 23,7, 1–2; dazu Jürgen von UNGERN-STERNBERG, Capua im Zweiten Punischen Krieg. Untersuchungen zur römischen Annalistik, München 1975 (Vestigia 23), S. 54– 59; Michael P. FRONDA, Between Rome and Carthage. Southern Italy during the Second Punic War, Cambridge 2010. Unbegründet sind die Zweifel von Andrew ERSKINE, Hannibal and the Freedom of the Italians, in: Hermes 121 (1993), S. 58–62.
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Ob die römische Form der Kapitulation, die deditio, Vertragscharakter oder aber die rechtliche Selbstvernichtung des sich Dedierenden zum Inhalt hatte, ist in der Forschung umstritten50. Fraglos war sie, anders als in der europäischen Neuzeit, immer ein einseitig stilisiertes Diktat des Siegers51. Dennoch kann die ‚förmliche Übergabe‘ an sich kaum anders als ein ‚Abkommen‘ genannt werden, dem vielfach – wenn nicht sogar in der Regel – die rechtliche Restitution des Gemeinwesens folgte52. Durch einen Fund aus Spanien haben wir dafür seit kurzem einen schönen inschriftlichen Beleg. Im Jahre 104 v. Chr. ergab sich danach das Volk der Seano[corum] dem Statthalter der Provinz Hispania Ulterior, L. Caesius, der die Dedition annahm und daraufhin die Übergabe der Waffen, der Geiseln, Überläufer (?), Gefangenen sowie der erbeuteten Pferde befahl. Nach Erfüllung der Bedingungen: Deinde eos L. Caesius C (ai) [f(ilius) imperator liberos] esse iussit, agros et aedificia leges cete[raque omnia] quae sua fuissent pridie quam se dedid[issent quaeque] extarent eis redidit, dum populus [senatusque] Roomanus vellet, deque ea re eos [Romam mittere] eire iussit legatos.
Die kapitulierende Gemeinde wurde also umgehend im alten Umfang und mit der bisherigen Verfassung wieder in die Freiheit entlassen; vorbehaltlich zwar der Genehmigung durch Volk und Senat in Rom, die anbefohlene Gesandtschaft setzte aber die Gemeinde als (wieder) handlungsfähiges Völkerrechtssubjekt – wenngleich selbstverständlich in Zukunft unter römi———————————— 49
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Hatto H. SCHMITT, Die Staatsverträge des Altertums, Bd. 3. Die Verträge der griechischrömischen Welt von 338–200 v. Chr., München 1969, Nr. 524 (Capua); 527 (Lokroi Epizephyroi); 531 (Tarent); 532 (Lukaner). Forschungsüberblick bei Karl-Heinz ZIEGLER, Das Völkerrecht der römischen Republik, in: Aufstieg und Niedergang der Römischen Welt, hg. v. Hildegard TEMPORINI, Bd. I. 2, Von den Anfängen Roms bis zum Ausgang der Republik, Berlin 1972, S. 69–114, hier S. 94 ff.; DERS., Kriegsverträge im antiken römischen Recht, in: Zeitschrift der SavignyStiftung für Rechtsgeschichte. Romanistische Abteilung 102 (1985), S. 40–90, hier S. 51 ff. Grundlegend für die Theorie der ‚Selbstvernichtung‘: DAHLHEIM, Struktur und Entwicklung des römischen Völkerrechts (wie Anm. 12), S. 5–67; bedenkenswerter Einspruch bei Dieter NÖRR, Aspekte des römischen Völkerrechts. Die Bronzetafel von Alcántara, München 1989 (Abhandlungen der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, phil.-hist. Klasse, NF 101), S. 39–50; DERS., Die Fides im römischen Völkerrecht, Heidelberg 1991 (Schriftenreihe der Juristischen Studiengesellschaft Karlsruhe 191), S. 13 ff. Das gilt auch für die Kapitulationen im griechischen Bereich; vgl. die Liste griechischrömischer Staatsverträge von Peter KEHNE, in: Der Neue Pauly 16, 2003, S. 338–437. Zur Restitution siehe NÖRR, Aspekte (wie Anm. 50), S. 51–64, der an eine civitas libera et immunis denkt (S. 64); dort auch (S. 19–23) die Rekonstruktion des Textes auf der Bronzetafel von Alcántara, die im Folgenden zitiert wird.
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scher Oberhoheit – voraus. Es ist schwer vorstellbar, dass das nicht von vornherein ein zumindest erwartbarer Bestandteil des Deditionsabkommens gewesen ist. Dass die städtische Autonomie in der Folgezeit konstitutiv für die Verwaltung des Imperium Romanum wurde, bedarf keines Beleges53. Verwiesen sei aber abschließend noch auf die Reaktion in Rom auf das Testament Attalos III. im Jahre 133 v. Chr. Zwar trat man das Erbe – die Herrschaft über das Königreich Pergamon – umgehend an. Ein Senatsbeschluss legte aber im folgenden Jahr für die römischen Kommandoinhaber „die Pflicht zur Respektierung der zivilen und administrativen Rechtsverhältnisse, die das Attalostestament vorgegeben hatte“, fest54. Die bestehenden Rechte zu achten und auf ihnen aufzubauen, war eben eine bewährte römische Herrschaftsmaxime. Damit ist in aller Kürze gesagt, worauf es bei Eroberungen – in der Antike wie in zivilisierteren Epochen der Neuzeit – ankam. Keine administrativen Änderungen waren das Ziel, erst recht keine Vertreibung der Bevölkerung – als ‚Bevölkerungsaustausch‘ oder gar ‚ethnische Säuberung‘ zweifelhafte ‚Errungenschaften‘ des 20. Jahrhunderts! –, sondern der Erwerb eines neuen Gebietes, das vor allem fortan die Steuern in die ‚richtige‘, d.h. in die eigene Kasse zahlen und natürlich Soldaten stellen sollte. Trefflich formuliert das der grundsätzlich sehr eroberungs- und annexionsfeindliche Montesquieu55. Il faut, dans cette sorte de conquête, laisser les choses comme on les a trouvées: les mêmes tribunaux, les mêmes lois, les mêmes coutumes, les mêmes privilèges; rien ne doit être changé que l’armée et le nom de souverain.
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Verwiesen sei aber auf die neueste zusammenfassende Darstellung von Werner DAHLHEIM, An der Wiege Europas. Städtische Freiheit im antiken Rom, Frankfurt/M. 2000; zu weiterem siehe Lokale Autonomie und römische Ordnungsmacht in den kaiserzeitlichen Provinzen vom 1.–3. Jahrhundert, hg. v. Werner ECK / Elisabeth MÜLLER-LUCKNER, München 1999 (Schriften des Historischen Kollegs 42). Michael WÖRRLE, Pergamon um 133 v. Chr., in: Chiron 30 (2000), S. 543–576, hier S. 563 ff. (mit der früheren Literatur); zu den gleichwohl sich ergebenden Problemen siehe Gustav Adolf LEHMANN, „Römischer Tod“ in Kolophon/Klaros. Neue Quellen zum Status der „freien“ Polisstaaten an der Westküste Kleinasiens im späten zweiten Jahrhundert v. Chr., Göttingen 1998 (Nachrichten der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, philol.-hist. Klasse 1998, Nr. 3), S. 146–151; nunmehr: Christian MAREK, Geschichte Kleinasiens in der Antike, München 2010, S. 320–329. Offensichtlich das Frankreich Ludwigs XIV. vor Augen, hält er ganz schlicht eine Eroberungspolitik für finanziell ruinös.
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Lorsque la monarchie a étendu ses limites par la conquête de quelques provinces voisines, il faut qu’elle les traite avec une grande douceur56.
Kapitulationen waren also Verträge, die für beide Seiten vorteilhaft waren. Den Ständen der kapitulierenden Seite verschafften sie im Moment Sicherheit und für die Zukunft Rechtssicherheit, etwas anachronistisch formuliert: Autonomie unter der neuen Herrschaft; dem neuen Herrscher gewährleisteten sie die Loyalität der neuen Untertanen und ihre Mitwirkung im neuen Verbande. Es muss aber betont werden, dass es Verträge zwischen ungleichen Partnern waren. Die Kapitulierenden waren nicht sui iuris, d.h. völkerrechtlich souverän. Das wird schon daran deutlich, dass sie stets die Notlage betonten, aus der heraus sie kapitulieren mussten: eine klare Rechtfertigung gegenüber der bisherigen Herrschaft. Deshalb besaßen die Kapitulationen auch keine völkerrechtliche Qualität57. Zwar räumten sie – anders als heute einer Besatzungsmacht! – im Moment dem Sieger die volle Herrschaftsgewalt ein und konnte dieser sich sogar förmlich huldigen lassen58. Ob sie ihm tatsächlich zum Gebietserwerb verhalfen, wurde aber endgültig auf der übergeordneten Ebene zwischen den beteiligten Staaten entschieden, d.h. der Erwerb kam nur durch die Verzichtserklärung des bisherigen Landesherrn zustande. Im Falle von Dorpat 1656 etwa oder von Besançon 1668 musste der Sieger die Stadt beim Friedensschluss wieder räumen. Auch dieser Sachverhalt wird in den Kapitulationen von 1710 sehr deutlich. Die Livländische wie die Estländische Ritterschaft und auch Reval erbaten sich ausdrücklich die russische Fürsprache und Hilfe, falls sie doch wieder an Schweden fallen sollten.
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De l’Esprit des lois X 9. Im Kapitel 11 fügt er hinzu: „Dans ces conquêtes, il ne suffit pas de laisser à la nation vaincue ses lois; il est peut-être plus necessaire de lui laisser ses mœurs, parce qu’un peuple connaît, aime et défend toujours plus ses mœurs que ses lois.“ In demselben Sinne äußert sich Hugo GROTIUS, De Jure Belli ac Pacis libri tres, übersetzt von Walter SCHÄTZEL, Tübingen 1950, S. 3, 15, 9 ff.; S. 3, 20, 5 zur notwendigen Zustimmung der Betroffenen. Für die Kapitulationen von 1710 führt das gut aus: Hasso von WEDEL, Die Estländische Ritterschaft vornehmlich zwischen 1710 und 1783. Das erste Jahrhundert russischer Herrschaft, Königsberg 1935, S. 13–23. Für die Zeit davor ist seine Auffassung freilich problematisch. Heinhard STEIGER, „Occupatio bellica“ in der Literatur des Völkerrechts der Christenheit (Spätmittelalter bis 18. Jahrhundert), in: Die besetzte res publica. Zum Verhältnis von ziviler Obrigkeit und militärischer Herrschaft in besetzten Gebieten vom Spätmittelalter bis zum 18. Jahrhundert, hg. v. Markus MEUMANN / Jörg ROGGE, Berlin 2006 (Herrschaft und soziale Systeme in der frühen Neuzeit 3), S. 201–240, bes. S. 218–237.
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Šeremetev und Bauer haben dies keineswegs befremdet zurückgewiesen, sondern ein solches Eintreten bereitwillig zugesagt. In den Friedensverträgen konnten die Rechte eines abgetretenen Gebietes von der erwerbenden Seite dann gewährleistet werden. Das ist jedoch keineswegs systematisch der Fall gewesen. Frankreich hat z.B. im Friedensvertrag mit dem Kaiser in Nimwegen (1679) die Rechte des von ihm erworbenen Freiburg i. Br. garantiert, nicht aber die von Straßburg im Frieden von Rijswijk (1697). Vergleichsweise sehr ausführlich sind die Zusagen, die Peter I. im Frieden von Nystadt 1721 den baltischen Provinzen gemacht hat (Artikel 9–12), auch wenn deren Abtretung durch Schweden zuvor in Artikel 4 allein mit dem Recht des Siegers begründet worden war. VIII. Eine andere Frage ist, wie die einzelnen Staaten mit den in den Kapitulationsurkunden verbrieften Privilegien und Rechten weiterhin umgegangen sind. Dabei stellte sich ein grundsätzliches Problem, auf das die estnische Rechtshistorikerin Marju Luts-Sootak aufmerksam gemacht hat: „Die rechtliche Autonomie bestand schon nach den Kapitulationen [...] lediglich in der bloßen Beibehaltung der alten Rechtsordnung, wohingegen keine Möglichkeit zur Rechtsänderung auf Initiative der Provinzen vorgesehen war“59. Man sollte dies allerdings zweiseitig formulieren: Das Formular der Kapitulation sah wie alle Bestätigungen von Privilegien generell keine Revisionsmöglichkeiten vor. Es schrieb einfach jeweils den gegenwärtig bestehenden Zustand fest. Die Verhältnisse entwickelten und veränderten sich aber und entsprachen damit nicht mehr den einmal ausgehandelten Privilegien. Diese standen den Bedürfnissen und der Modernisierung der Staaten immer wieder im Wege. Zudem war es nicht einfach zu entscheiden, auf welcher Ebene neue Probleme geregelt werden sollten. Allein schon im französischen Bereich verfuhr man dabei in sehr verschiedener Weise. In Besançon hat Ludwig XIV. innerhalb von zwei Jahren nach der Kapitulation mit Verfügung vom 26. August 1676 das eben erst bestätigte Stadtregiment nach dem Vorbild der benachbarten Landstadt Do———————————— 59
Marju LUTS, Modernisierung und deren Hemmnisse in den Ostseeprovinzen Est-, Livund Kurland im 19. Jahrhundert, in: Modernisierung durch Transfer im 19. und frühen 20. Jahrhundert, hg. v. Tomasz GIARO, Frankfurt/M. 2006 (Studien zur europäischen Rechtsgeschichte 205), S. 159–200, hier S. 164.
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le weitgehend umgestaltet60. In Straßburg dagegen ist bei mancherlei Problemen im Einzelnen der Sonderstatus bis zur Französischen Revolution in wesentlichen Teilen erhalten geblieben: die deutsche Universität blieb – die Aufhebung des Ediktes von Nantes wurde nicht auf das Elsass ausgedehnt – dieses blieb auch außerhalb des französischen Zollgebietes61. In Livland hat der polnische König Stephan Báthory sich sehr bald nicht mehr an die Privilegien gehalten und insbesondere die Gegenreformation durchzusetzen versucht62. Sein Nachfolger Sigismund III. kam unter dem Druck der Auseinandersetzung mit Herzog Karl von Södermanland (dem späteren schwedischen König Karl IX.) dem livländischen Adel in der Ordinatio Livonica II von 1598 wieder mehr entgegen, ohne diesen aber wirklich gewinnen zu können. Gustav Adolf hat dann den livländischen Adel sehr zurückgedrängt und eine Generalbestätigung der Privilegien verweigert. Diese erfolgte erst 1648 durch Königin Christina, nachdem seit 1634 die Livländische Ritterschaft schrittweise die Selbstverwaltung des Landes wieder weitgehend erlangt hatte63. Die Auseinandersetzungen um die Güterreduktionen unter Karl XI. 1694 führten dann aber sogar zu einer Aufhebung der Landesverfassung64. In der russischen Epoche der baltischen Länder von 1710 bis 1918 hingegen sind die Kapitulationsurkunden besonders lange und besonders umfang-
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Inventaire sommaire des Archives communales antérieures à 1790, Série BB (Administration communale), Bd. 2: 1576–1676, rédigé par Georges GAZIER, Besançon 1931, S. 353 f. (Verfügung Ludwigs XIV.); DEE, Expansion and Crisis (wie Anm. 19), S. 41–60. (Für die Hinweise danke ich Christian Windler). Siehe zuletzt Hanna SONKAJÄRVI, Qu’est-ce qu’un étranger? Frontières et identifications à Strasbourg (1681–1789), Strasbourg 2008. MÜLLER, Livländische Landesprivilegien (wie Anm. 28), S. 26–35. Jürgen HEYDE, Zwischen Kooperation und Konfrontation: Die Adelspolitik PolenLitauens und Schwedens in der Provinz Livland 1561–1650, in: Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung 47 (1998), S. 544–567. Zu Riga siehe Wilhelm LENZ, „Untertanentreue“ gegenüber dem Heiligen Römischen Reich? Rigas Vorbehalte gegen einen Herrschaftswechsel bei der Auflösung der Livländischen Konföderation, in: Riga und der Ostseeraum von der Gründung 1201 bis in die frühe Neuzeit, hg. v. Ilgvars MISĀNS / Horst WERNICKE, Marburg 2005 (Tagungen zur Ostmitteleuropa-Forschung 22), S. 249–260; Aleksander LOIT, Die Stadt Riga im schwedischen Ostseereich. Die Privilegienfrage, in: ebd., S. 321–332. Heinz von zur MÜHLEN, Das Ostbaltikum unter Herrschaft und Einfluß der Nachbarmächte (1561–1710/1795), in: Baltische Länder, hg. v. Gert von PISTOHLKORS, Berlin 1994 (Deutsche Geschichte im Osten Europas), S. 171–264, hier S. 180–202.
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reich bedeutungsvoll geblieben65, wenngleich auch hier mit Krisen – in der Zeit Katharinas II. wie in der Epoche der ‚Russifizierung‘ am Ende des 19. Jahrhunderts66. Aber das wurde allmählich schon zum Anachronismus, denn generell haben die Französische Revolution und die moderne Staatsauffassung verbunden mit dem Gedanken der allgemeinen Bürgerrechte den ständischpartikularistisch geprägten Kapitulationsverträgen der europäischen Tradition ein Ende bereitet. Allerdings nicht sofort und nicht überall67, wie das Beispiel Finnlands noch im Jahre 1809 lehren kann68. Und bisweilen könnte sogar das Institut der Kapitulationen schmerzlich vermisst worden sein. Napoleon hätte gewiss noch so gerne im Jahre 1812 in Moskau jemand angetroffen, der eine solche mit ihm geschlossen hätte69. Was dabei an alteuropä———————————— 65
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Jürgen von UNGERN-STERNBERG, Die Autonomie der baltischen Provinzen im russischen Kaiserreich, in: Autonomie – Hoffnungsschimmer oder Illusion? Europäische Autonomien in Geschichte und Gegenwart. Ein Seminar zum 200. Jubiläum der Autonomie Finnlands. Beiträge von Teilnehmern des 8. Snellman-Seminars, 4.10.–7.10.2009, hg. v. ROBERT SCHWEITZER, Helsinki 2013, S. 34–42 (Veröffentlichungen der Aue-Stiftung 28). Siehe auch Jürgen von UNGERN-STERNBERG, Die Debatte um die baltischen Kapitulationen und Privilegien im 19. Jahrhundert, in: Carl Schirren als Gelehrter im Spannungsfeld von Wissenschaft und politischer Publizistik. Dreizehn Beiträge zum 22. Baltischen Seminar 2010, hg. v. Michael GARLEFF, Lüneburg 2013 (Baltische Seminare 20), S. 83–119. Den Übergang macht etwa das Manifest Friedrich Wilhelms III. vom 22. Mai 1815 an die Bewohner des an Preußen gekommenen Teiles von Sachsen deutlich: „Was wir künftighin in den Gesetzen und den Formen zu ändern beschließen, wird nur durch die Rücksicht auf die Wohlfahrt des ganzen Landes und der Einwohner aller Klassen begründet, auch sorgfältig mit eingebornen, der Landesverfassung kundigen und patriotisch gesinnten Männern berathen werden. Die ständische Verfassung werden Wir erhalten, und sie der allgemeinen Verfassung anschließen, welche Wir Unsern gesammten Staaten gewähren werden.“ Mit demselben Datum entließ Friedrich August I. „euch, ihr Unterthanen und Soldaten der von Mir abgetretenen Provinzen eures Eides und eurer Pflichten gegen Mich und Mein Haus, und Ich empfehle euch, treu und gehorsam zu seyn eurem neuen Landesherrn.“ (Die Dokumente stellte mir freundlicherweise Professor E. D. Wachsmuth zur Verfügung.) Dazu in diesem Bande die Beiträge von Lars BJÖRNE und Robert SCHWEITZER. Nicht auf einer Kapitulation beruhend, aber ein bemerkenswerter Parallelfall zur Regelung für Finnland ist die Verfassung für das Königreich Polen 1815: Gotthold RHODE, Kleine Geschichte Polens, Darmstadt 1965, S. 344–350; Edward C. THADEN, Russia’s Western Borderlands, 1710–1870, Princeton, N.J., 1984, S. 71–80. Siehe dazu die Schilderung des auf eine Abordnung der Bojaren wartenden Napoleon in Lew TOLSTOI, Krieg und Frieden, Buch 3.3, Kap. 19, und seine Proklamationen an die Bewohner Moskaus, Buch 4.2, Kap. 9; vgl. Eugen TARLÉ, Napoleon in Russland 1812,
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ischer Kultur im Umgang von Siegern und Besiegten verloren gegangen ist, mag abschließend ein Blick auf das schöne Gemälde von Velazquez ‚Die Übergabe von Breda‘ lehren70.
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Zürich 1944, S. 210–213. Siehe auch Napoleons Proklamation an das ägyptische Volk im Jahre 1798. Dort heißt es u.a.: „Égyptiens, on vous dira que je viens pour détruire votre religion [...] Répondez que je viens vous restituer vos droits, punir les usurpateurs; [..., anders als unter den Mameluken; J. v. U.-S.] aucun Égyptien ne sera empêché d’accéder à une fonction éminente; que les plus sages, les plus instruits, les plus vertueux gouvernent et le peuple sera heureux [...] Article Ier:Tous les villages [...] enverront une députation au général commandant les troupes, pour les prévenir qu’ils sont dans l’obéissance [...] Article V: Les shaykh, les qadi et les Imams conserveront les fonctions de leurs places; chaque habitant restera chez lui et les prières continueront comme à l’ordinaire“. Zit. n. Henry LAURENS, L’expédition d’Égypte 1789–1801, Paris 1989, S. 75 ff. Hugo HERMAN(N), Obsidio Bredana armis Philippi IIII. Auspiciis Isabellae ductu Ambr. Spinolae perfecta, Antwerpen 1626; Carl JUSTI, Diego Velazquez und sein Jahrhundert, Bd. 1, 2. Aufl., Bonn 1903, S. 302–316. Im Falle von Calais waren die Formen noch sehr anders, wenngleich auch da nicht von einer ‚bedingungslosen Kapitulation‘ die Rede sein konnte: Jean-Marie MOEGLIN, Von der richtigen Art zu kapitulieren: Die sechs Bürger von Calais (1347), in: Krieg im Mittelalter, hg. v. Hans-Henning KORTÜM, Berlin 2001, S. 141–165.
RALPH TUCHTENHAGEN
Die Kapitulationen von 1710 im Kontext der schwedischen Reichspolitik Ende des 17. Jahrhunderts Die deutschbaltische Geschichtsschreibung hatte in der Vergangenheit oft die Tendenz, die Endphase der schwedischen Herrschaft in Est- und Livland aus der Perspektive der politischen Interessen der est- und livländischen Ritterschaften und der Magistrate von Reval und Riga zu betrachten. Das Ergebnis dieser Perspektivierung war eine wenig differenzierte deutschbaltische Opfergeschichte, bei der Schweden im Rahmen einer von den Resultaten der Französischen Revolution und der Hegelschen Geschichtsphilosophie geleiteten Konzeption oder aber – nach einem älteren politischen Ideal – von der spätmittelalterlichen Vorstellung einer Libertät der Stände beeinflusst war. Auf diesem Hintergrund erschien die Retablissement- und Reformpolitik des schwedischen Absolutismus als Angriff auf die mittelalterlichen Freiheiten der privilegierten est- und livländischen Stände und insbesondere der Ritterschaften. Deren Symbolfigur war Johann Reinhold von Patkul (*1660, †1707), und um sie entspann sich ein historischer Diskurs, dessen Dekonstruktion bis heute kaum begonnen hat. Vielmehr stieg Patkul zu einer Art livländisch-deutschbaltischer Erinnerungsort avant la lettre auf1. ———————————— 1
Abgesehen von der zahlreiche Dokumente umfassenden zeitgenössischen Kontroverse vgl. Henri Phillipe DE LIMIERS, Histoire de Suède sous le règne de Charles XII, Bd. 4, Amsterdam 1721, S. 394–416; Gauhens Adelslexikon, 2. Teil, Halle 1747, S. 855–865; Büschings neues Magazin für die neue Historie und Geographie, achter Teil, Halle 1774, S. 492–496; Friedrich Konrad GADEBUSCH, Patkull, in: DERS., Livländische Bibliothek II, Riga 1777, S. 328–340; DERS.: Livländische Jahrbücher, dritter Teil von 1630 bis 1710, zweyter Abschnitt von 1661 bis 1710, Riga 1782 (mit Korrekturen und Widerrufen zu Livländische Bibliothek II); August Wilhelm HUPEL, Neue Nordische Miscellaneen, 27 und 28. Stück, Riga 1791, S. 412 ff.; Benjamin von BERGMANN, Johann Reinhold von Patkul vor dem Richterstuhle der Nachwelt, Leipzig 1806; Anton BUCHHOLTZ, Beiträge zur Lebensgeschichte Johann Reinhold von Patkuls, Riga 1893; Constantin METTIG, Zum 200. Todestage Patkuls, Riga 1907; Friedrich von KEUSSLER, Ein livländischer Gedenktag, St. Petersburg 1907. Patkuls Geschichte hat auch im Reich und international Wellen geschlagen, vgl. z.B. Michael RANFT, Die merkwürdige Lebensgeschichte derer vier berühmten schwedischen Feldmarschalle, Grafen Rehnschild, Steenbock, Meyerfeld und Dücker nebst dem angefügten merkwürdigen Leben und jämmerlichen Ende des bekannten Generals Johann Reinhold Patkuls. Zur Erleuterung vieler wichtigen Umstände der Geschichte Königs Caroli XII von Schweden, ans Licht gestället von einem Liebhaber
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Ralph Tuchtenhagen
Gleichzeitig wurde Patkul von der schwedischen Historiografie von Anfang an als Hochverräter und Konspirateur gebrandmarkt2. Die später einsetzende estnische Historiografie schloss sich ihr dabei teilweise an3. Auf der Gegenseite stand ein inzwischen in die Jahre gekommenes, aber gleichermaßen von Hegel, später auch von marxistisch-dialektischen Vorstellungen inspiriertes Konzept der nationalestnischen bzw. -lettischen Volkshistoriografie von der „guten, alten Schwedenzeit“, nach der Schweden zur Garantiemacht der estnischen und lettischen Bauern gegen einen entfesselten Ritterfeudalismus und dessen freiheitsverhindernde Wirkungen auf die bäuerliche Bevölkerung wurde. Konkret geht diese positive Erinnerung an die schwedische Oberherrschaft auf die Bemühungen um die estnische und lettische Sprache und die Einführung eines umfassenden Volksschulwesens der schwedischen Geistlichkeit und auf die bauernfreundlichen bzw. adelsfeindlichen Maßnahmen Karls XI. (1672–1697) zurück, wurde aber gleichwohl für die gesamte schwedische Herrschaftsperiode reklamiert, vom Volksmund tradiert und von national bewegten Sammlern des Volksgutes im 19. Jahrhundert zum Teil aufgezeichnet. Nach Erreichen der staatlichen Unabhängigkeit in der Folge des Ersten Weltkriegs setzte freilich eine kritischere Auseinandersetzung mit dem Schweden-Mythogem ein. In der Zwischenkriegszeit entdeckten estnische und lettische Historiker auch allerlei weniger Gutes, wenn auch Altes an der Schwedenzeit. Für die deutschbaltische Historiografie der Zwischenkriegszeit war die Periode der schwedischen Herrschaft weiterhin eine Zeit der Bedrückung für den liv- und estländischen Adel – wenn man sich mittlerweile auch an manches Gute (etwa die Bewahrung des Protestantismus oder der Schutz gegen russische Angriffe) ————————————
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der neuesten Historie, Leipzig 1753; Lorentz HAGEN, Anecdotes concerning the famous John Reinhold Patkul: or, an authentic relation of what passed betwixt him and his confessor, the night before and at his execution. Transl. from the original manuscript, never yet printed, London 1761 (davon deutsche, französische und italienische Übersetzungen). Otto A. WERNICH, Der Livländer Joh. Reinh. von Patkul und seine Zeitgenossen, Berlin 1849; Yella ERDMANN, Der livländische Staatsmann Johann Reinhold von Patkul: ein abenteuerliches Leben zwischen Peter dem Grossen, August dem Starken und Karl XII. von Schweden, Berlin 1970. Otto SJÖGREN, Johann Reinhold Patkul, Stockholm 1880 (Historiskt bibliotek 7, 6); Harald HORNBORG, Konspiratören Johann Reinhold Patkul [Der Verschwörer Johann Reinhold Patkul], Stockholm 1945; Alvin ISBERG, Johann Reinhold Patkul och Livland åren 1699–1701 [Johann Reinhold Patkul und Livland in den Jahren 1699–1701], Stockholm 1960. Helmi NEGGO, Johann Reinhold Patkul – „kõige suurem liivlane“ [Johann Reinhold Patkul – „der größte Livländer“], Tallinn 1920.
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erinnern mochte. Die sowjetische Geschichtsschreibung schließlich sah in der Schwedenzeit wenig überraschend eine Epoche des feudalen Zeitalters mit vorgeschriebenen Klassenantagonismen zwischen feudalen Ausbeutern und unterständischen Ausgebeuteten4. Im Rahmen dieser Überschreibungen und Uminterpretationen müssen die „gute alte Schwedenzeit“ und ihre Memoralistik also als historisch dynamisch betrachtet werden. Dabei hat sich weder die deutschbaltische noch die nationalestnische oder -lettische noch die sowjetische Geschichtsschreibung viel um die Hintergründe der schwedischen Provinzialpolitik des 17. Jahrhunderts gekümmert; und dies offenbar ganz bewusst, denn an entsprechenden Sprachkenntnissen und anderen Fertigkeiten zur Analyse schwedischer provinzialpolitischer Interessen hat es nie gemangelt. Vielmehr wird man davon ausgehen müssen, dass der enge Blick auf die jeweils eigene – korporative, regionale, nationale, klassengebundene – Geschichte den Blick auf das schwedische Gesamtreich und dessen politische Mechanik verstellt hat. Ich werde solche Verkrustungen interessegeleiteter Geschichtsbetrachtung hier nicht vollständig aufbrechen können – das habe ich bereits in einem größeren Forschungskontext5 versucht –, möchte aber doch an einigen ausgewählten Beispielen der königlichen Politik in den Ostprovinzen des Schwedischen Reiches (Ingermanland, Kexholms län, Estland, Livland) aufzeigen, dass die schwedischen Maßnahmen einer klar zu umreißenden politi———————————— 4
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Zur Denkfigur der „guten alten Schwedenzeit“ vgl. Aleksander LOIT, Die „alte gute Schwedenzeit“ und ihre historische Bedeutung für das Baltikum, in: Die baltischen Staaten im Schnittpunkt der Entwicklungen. Vergangenheit und Gegenwart, hg. v. Carsten GOEHRKE / Jürgen von UNGERN-STERNBERG, Basel 2002 (Texte und Studien 4), S. 75– 90; Torkel JANSSON, Baltikum och Norden – något om den sociokulturella bakgrunden [Das Baltikum und der Norden – einige Worte über den soziokulturellen Hintergrund]. Vortrag auf dem zweiten Skandinavistensymposium in Stockholm 21.–22.8.2006; JeanFrançois BATTAIL, Norden och Baltikum – något om den historiska bakgrunden [Das Baltikum und der Norden – einige Worte über den historischen Hintergrund]. Vortrag ebd.; Hain REBAS, Historiographische Aspekte zur Schwedenzeit im Baltikum (1561–1721) in den deutsch- und estnischsprachigen Übersichtswerken des 20. Jahrhunderts, in: Visbysymposiet för historiska vetenskaper (8, 1986): Economy and culture in the Baltic 1650– 1700, hg. v. Sven-Olof LINDQUIST / Birgitta RADHE, Visby 1989 (Acta Visbyensia 8), S. 199–217. Vgl. auch den Symposiumsbericht von Kristoffer HOLT, Stockholms andra internationella skandinavistsymposium: „Hur nordiskt är Baltikum?“ 21–22 augusti 2006 [Stockholms zweites internationales Skandinavistensymposium: „Wie nordisch ist das Baltikum?“ 21.–22. August 2006], siehe URL: http://www.fl.ut.ee/orb.aw/class=file/action= preview/id=201075/Rapport.pdf, S. 9 ff. Ralph TUCHTENHAGEN, Zentralstaat und Provinz im frühneuzeitlichen Nordosteuropa, Wiesbaden 2009 (Veröffentlichungen des Nordost-Instituts 7).
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schen Rationalität folgten. Dabei wird hoffentlich klar werden, dass es sich oft nicht so sehr um eine Politik gegen die est- und livländischen Stände als vielmehr für den Zusammenhalt des Reichsganzen handelte. Dass das eine oft nicht ohne das andere zu haben war, versteht sich von selbst. Es ist auch nicht Ziel meiner Ausführungen, die Auswirkungen der schwedischen Politik auf die Provinzialstände und die Bevölkerung in den Ostseeprovinzen zu verharmlosen. Im Kern geht es mir um die Darstellung eines Interessenkonflikts, der in längerer Perspektive für beide Seiten katastrophale Folgen hatte: Dieser sollte nämlich zu einem nicht geringen Ausmaß den Großen Nordischen Krieg (1700–1721) mit auslösen und mitten im Krieg die Trennung der schwedischen Ostseeprovinzen vom Gesamtreich bewirken. Der „Kolateralschaden“ schwedischer Machtpolitik bei den Provinzialständen wurde in längerer Perspektive zum Schaden auf Gesamtreichsebene. Und es bleibt in diesem Lichte eine durchaus offene historiografische Frage, ob die erfolglosen schwedischen Revanchekriege des 18. Jahrhunderts gegen Russland, der sog. „Kleine Krieg“ (lilla ofreden, 1741–1743) und der „russische Krieg Gustavs III.“ (Gustavs III ryska krig, 1788–1790), die u.a. die Rückeroberung der ehemaligen schwedischen Ostseeprovinzen zum Ziel hatten, zu einer Aussöhnung zwischen Schweden und der Provinzialbevölkerung hätten führen können. Die schwedische Provinzialpolitik und ihre Hintergründe Grosso modo lassen sich im 17. Jahrhundert in der Debatte der führenden schwedischen Politiker um die schwedischen Provinzen zwei Richtungen unterscheiden: eine der „Inkorporation“ und eine der Separation. Umstritten war dabei vor allem die Frage, welche Rolle die „Uniformität“ der Provinzen spielen sollte, d.h. ob und in welchem Umfang schwedische Gesetze und schwedische Rechtsprechung in die Provinzen eingeführt werden sollten. Die Befürworter einer Inkorporation der Provinzen, zu denen u.a. die schwedischen Könige Karl IX. (1592–1611), Karl X. Gustav (1654–1660) und Karl XI. (1672–1697) sowie der Erzieher Gustavs II. Adolf und livländische Generalgouverneur Johan Skytte (*1577, †1645) zählten, waren der Auffassung, dass die Provinzen erst inkorporiert, d.h. administrativ, justiziell, militärisch, wirtschaftlich, sozial und kirchlich in das schwedische Reichsgebiet integriert werden müssten, um sie der Herrschaft der schwedischen Krone vollständig unterwerfen zu können. Die Separationsgruppe, zu der vor allem der schwedische Reichskanzler Axel Oxenstierna (*1583,
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†1654), aber auch eine Reihe anderer Mitglieder des schwedischen Hochadels zählten, hielt eine Inkorporation für schädlich, und zwar vor allem vor dem Hintergrund der Tatsache, dass zahlreiche Mitglieder des schwedischen Hochadels Güter in den neu erworbenen Provinzen besaßen, wo sie zum Teil weit größere Privilegien genossen als im eigentlichen Schweden. Zudem hätte eine Inkorporation auch die Zulassung der Provinzialstände zum Schwedischen Reichstag und damit eine Minderung des Einflusses des schwedischen Hochadels in diesem Gremium bedeutet – ganz zu schweigen von einer möglichen Berufung einzelner Vertreter der liv- und estländischen Ritterschaften in den Schwedischen Reichsrat und damit in das Kabinett des Königs6. Abgesehen von diesen hier idealtypisch rekonstruierten politischen Konstellationen werden in der Forschungsdiskussion um die Integrationspolitik gegenüber den Ostseeprovinzen im Rahmen der schwedischen Großmachtzeit zwischen 1561 und 1721 in der Regel drei Typen von Politiken unterschieden: 1. Nichtintegration; 2. vollständige Integration; 3. partielle Integration. Nicht integriert werden konnten und sollten im 17. Jahrhundert die Besitzungen der schwedischen Krone im Heiligen Römischen Reich, d.h. Schwedisch-Pommern, Bremen-Verden, Wismar und kleinerer Streubesitz7. In diesen Territorien fungierte der schwedische Monarch als deutscher Reichsfürst bzw. die schwedische Krone als Landesherr, und die schwedische ———————————— 6
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Am prominentesten der schwedische Reichskanzler Axel Oxenstierna: Heinrich BOSSE, Axel Oxenstiernas livländische Güterwirtschaft, in: Jomsburg 3 (1939), S. 228 f.; Edgars DUNSDORFS, The Livonian estates of Axel Oxenstierna, Stockholm 1981. Vgl. Eli F. HECKSCHER, Stormaktstidens sociala omvälvningar. Reduktionen och dess förutsättningar [Die sozialen Umbrüche der Großmachtszeit. Die Reduktion und ihre Voraussetzungen], Stockholm 1943; Sven A. NILSSON, Reduktion eller kontribution. Alternativ inom 1600-talets svenska finanspolitik [Reduktion oder Kontribution? Alternativen der schwedischen Finanzpolitik des 17. Jahrhunderts], in: Scandia 24 (1958), S. 68–114; Kurt ÅGREN, The reduction, in: Sweden’s age of greatness 1632–1718, hg. v. Michael ROBERTS, London 1973, S. 237–264; Lars MAGNUSSON, Reduktionen under 1600-talet. Debatt och forskning [Die Reduktion im 17. Jahrhundert. Diskussion und Forschung], Stockholm 1985; Maria ÅGREN, Ödets dunkla spel. Om farhågorna för en reduktion [Das dunkle Spiel des Schicksals. Über die Ängste vor einer Reduktion], in: Historiska etyder. En vänbok till Stellan Dahlgren, hg. v. Janne BACKLUND u.a., Uppsala 1997, S. 249–262. Rechtliche Grundlage waren die Bestimmungen des Westfälischen Friedens/Vertrags von Osnabrück zwischen dem Heiligen Römischen Reich (Kaiser Ferdinand III.) und der Krone Schweden (Christina von Schweden) vom 24.10.1648. Gedruckt in: Vertrag von Osnabrück (Instrumentum Pacis Osnabrugiensis), Frankfurt/M. 1649, Art. X; einsehbar unter dem URL: http://www.lwl.org/westfaelische-geschichte/que/normal/que2603.pdf (letzter Zugriff 21.6.2012).
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Regierung hatte Rücksichten auf die besonderen rechtlichen, wirtschaftlichen und sozialen Strukturen der Provinzen zu nehmen, um nicht in einen Konflikt mit anderen Reichsfürsten oder dem Römischen Kaiser zu geraten. Die Legislative beruhte hier durchgehend auf dem Modell der monarchia mixta, d.h. eines Dualismus zwischen Territorialfürst und Ständen und in Abhängigkeit von der politischen Entwicklung des römisch-kaiserlichen Gesamtreiches. Außenpolitische Faktoren und Erwägungen fielen bei diesem Typus von Provinzialpolitik weniger ins Gewicht als bei den Typen 2 und 3 8. Das deutlichste Beispiel einer vollständigen Integration bieten die Provinzen, die unter Karl X. Gustav nach den dänisch-schwedischen Kriegen im Frieden von Roskilde 1658 an Schweden gelangten. Konkret ging es um die ———————————— 8
Zur Stellung der deutschen Reichsprovinzen im Verhältnis zum Schwedischen Reich vgl. allgemein Klaus-Richard BÖHME, Die Krone Schweden als Reichsstand 1648–1720, in: In Europas Mitte. Deutschland und seine Nachbarn, hg. v. Heinz DUCHHARDT, Bonn 1988, S. 33–39; Ulf PAULI, Det svenska Tyskland. Sveriges tyska besittningar 1648–1815 [Das schwedische Deutschland. Schwedens deutsche Besitzungen 1648–1815], Stockholm 1989. Zu Pommern vgl. Pär-Erik BACK, Herzog und Landschaft. Politische Ideen und Verfassungsprogramme in Schwedisch-Pommern um die Mitte des 17. Jahrhunderts, Lund 1955 (Samhällsvetenskapliga studier 12); Werner BUCHHOLTZ, Schwedisch-Pommern als Territorium des deutschen Reichs, in: Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte 12 (1990), S. 14–33; DERS., Die pommerschen Landstände unter brandenburgischer und schwedischer Landesherrschaft 1648–1815. Ein landesgeschichtlicher Vergleich, in: Land am Meer. Pommern im Spiegel seiner Geschichte, hg. v. Werner BUCHHOLTZ / Günter MANGELSDORF, Köln / Weimar / Wien 1995, S. 427–455; Helmut BACKHAUS, Reichsterritorium und schwedische Provinz. Vorpommern unter Karls XI. Vormündern (1660–1672), Göttingen 1969; DERS., Verfassung und Verwaltung Schwedisch-Pommerns, in: Unter der schwedischen Krone. Pommern nach dem Westfälischen Frieden, hg. v. Ivo ASMUS, Greifswald 1998, S. 29–40. Zu BremenVerden vgl. Beate-Christine FIEDLER, Die Verwaltung der Herzogthümer Bremen und Verden in der Schwedenzeit 1652–1712. Organisation und Wesen der Verwaltung, Stade 1987; DIES., Schwedisch oder Deutsch? Die Herzogthümer Bremen und Verden in der Schwedenzeit (1645–1712), in: Niedersächsische Jahrbücher 67 (1995), S. 43–58. Zu Wismar vgl. Friedrich TECHEN, Geschichte der Seestadt Wismar, Wismar 1929; Klaus NITSCH / Anneliese DÜSING, Wismar. Geschichte und Gesicht einer Stadt, Leipzig ²1971; Ernst MÜNCH: Vom Fürstenhof zum Tribunal. Wismar in der Schwedenzeit, in: Integration durch Recht. Das Wismarer Tribunal (1653–1806), hg. v. Nils JÖRN / Bernhard DIESTELKAMP / Kjell ÅKE MODÉER, Köln / Weimar / Wien 2004 (Quellen und Forschungen zur Höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich 47), S. 83–95; Caludia HACKER / Ernst MÜNCH, Wismar im 17. und 18. Jahrhundert. Kontinuität und Wandel von der späten Hanse über die Schwedenzeit bis zur Rückkehr nach Mecklenburg, in: Städtesystem und Urbanisierung im Ostseeraum in der frühen Neuzeit. Wirtschaft, Baukultur und historische Informationssysteme. Beiträge des wissenschaftlichen Kolloquiums in Wismar vom 4. und 5. September 2003, hg. v. Frank BRAUN / Stefan KROLL, Münster 2004, S. 135–156.
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Provinzen Skåne, Halland, Blekinge und Bohuslän, die in den 1660er und 1670er Jahren zunächst vorsichtig, ab den 1680er Jahren aber mit unbarmherziger Härte „schwedisiert“ wurden. Dies bedeutete nicht nur die Einführung schwedischer Ständeprivilegien in diese Provinzen und eine Immatrikulation des Provinzialadels in den schwedischen Reichsadel, sondern auch eine kulturelle Assimilation, die sich beispielsweise in der Einführung der schwedischen Sprache, in der Uniformierung des Katechismus und der Liturgie oder der Einführung des Faches Schwedische Geschichte in den Schulen manifestierte9. ———————————— 9
Vgl. Jerker ROSÉN, Skånska privilegie- och reduktionsfrågor 1658–1686. Studier rörande Karl XI:s skånska räfstepolitik och Skånes försvenskning [Schonische Privilegien- und Reduktionsfragen 1658–1686. Studien über die schonische Justizpolitik Karls XI. und Schonens Schwedisierung], Lund 1944 (Skrifter utgivna av kungl. humanistiska vetenskapssamfundet i Lund 38); DERS., Hur Skåne blev svensk [Wie Schonen schwedisch wurde], Stockholm 1943 (Det levande förflutna 3); Alf ÅBERG, När Skåne blev svensk [Als Schonen schwedisch wurde], Halmstad 1958; DERS., Snapphanarna [Die Schnapphäne], Stockholm 1951; DERS., Skånes försvenskning – några svensk-danska tvistefrågor [Schonens Schwedisierung – einige schwedisch-dänische Streitfragen], in: Ale 27 (1987), Nr. 2, S. 11–20; DERS.: Kampen om Skåne under försvenskningstiden [Der Kampf um Schonen in der Zeit der Schwedisierung], Stockholm 1995; Knud FABRICIUS, Skaanes overgang fra Danmark til Sverige [Schonens Übergang von Dänemark an Schweden], 4 Bde., Lund / København 1955–1958; Inger DÜBECK, Fra gammel dansk til ny svensk ret. De retlige forsvenskning i de tabte territorier 1645–1683 [Vom alten dänischen zum neuen schwedischen Recht. Die rechtliche Schwedisierung in den verlorenen Territorien 1645–1683], København 1987; Yngve BOGREN, Den kyrkliga försvenskningen av Skånelandskapen och Bohuslän [Die kirchliche Schwedisierung der Schonenlandschaften und Bohusläns], Lund 1937; Martin Persson NILSSON, Skånes språkliga försvenskning [Die sprachliche Schwedisierung Schonens], in: Historisk tidskrift (S) 75 (1955), S. 169–181; Jerker ROSÉN, Hallands försvenskning [Die Schwedisierung Hallands], in: Hallands historia, Bd. 2: Från freden i Brömsebro till våra dagar, Halmstad 1959, S. 1–121. Sven Johan KARDELL, Bidrag till historien om Jämtlands och Härjedalens försvenskning efter freden i Brömsebro [Beiträge zur Geschichte der Schwedisierung Jämtlands und Härjedalens nach dem Frieden von Brömsebro], in: Jämtlands fornminnesföreningens tidskrift 4 (ca. 1908), S. 69–79; Nils BELTZÉN, Den kyrkliga försvenskningen av JämtlandHärjedalen [Die kirchliche Schwedisierung Jämtland-Härjedalens], in: Kyrkohistorisk tidskrift 44 (1944), S. 169–217; 45 (1945), S. 45–122; Carl Olof ARCADIUS, Om Bohusläns införlivande med Sverige [Über Bohusläns Inkorporation nach Schweden], in: Bidrag till Göteborgs och Bohus läns historia, Stockholm 1884, S. 1–119 (auch Lund 1883); Carl Johan BERGMAN, Gotland geografi och historia [Gotlands Geographie und Geschichte], bearb. v. Holger ROSMAN, Stockholm 41898, S. 129–144; Leif DANNERT, När Gotland blev svenskt [Als Gotland schwedisch wurde], Visby 1934; DERS., När Gotland blev svenskt. Några synpunkter på den första svenska tiden 1645–54 [Als Gotland schwedisch wurde. Einige Bemerkungen über die erste schwedische Zeit 1645–54], Visby 1934; DERS., Försvenskningspolitik under 1600-talet [Schwedisierungspolitik im 17. Jahrhundert], Visby 1934; Adolf SCHÜCK, Gotlands Stellung innerhalb des schwedischen Reiches, in: Conventus primus histo-
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Auch in der Geschichte der schwedischen Politik gegenüber den baltischen Ostseeprovinzen lassen sich Tendenzen einer forcierten Integration erkennen, allerdings ohne den Aspekt der Schwedisierung. Man kann deshalb und aus anderen Gründen von einer partiellen Integration sprechen. Gewiss lässt sich eine Linie schwedischer Integrationspolitik bis in die Zeit Eriks XIV. (1560–1568) zurückverfolgen. Die administrativen, justiziellen, militärischen, ökonomischen, sozialen, kirchlichen und kulturellen Systematisierungs- und Zentralisierungsbemühungen verliefen dabei je nach den Kriegsläuften und politischen Konjunkturen mehr oder weniger erfolgreich, reichten aber nie aus, um die Ostseeprovinzen in einen integralen Bestandteil des Reiches zu verwandeln. Das von 1561 bis 1660 fast ununterbrochene militärische Engagement Schwedens im Ostseeraum und die damit verbundenen politischen und ökonomischen Rücksichten auf die Loyalität des Adels und der Städte in den Ostseeprovinzen waren dabei die stärksten Gründe für den gebremsten Fortgang der Integrationspolitik10. Erst als nach dem Ende der schwedischen Eroberungspolitik unter Karl X. Gustav (1660) die schwedische territoriale Expansion insgesamt zu einem Stillstand gekommen war, die Vormundschaftsregierung Karls XI. (1660–1672) und schließlich Karl XI. selbst auf innere Konsolidierung statt auf Expansion des Reiches setzten, griff eine Integrationspolitik auch in den Ostseeprovinzen stärker um sich. Freilich reicht die Abwesenheit von Krieg und Expansion alleine als Erklärung nicht aus. Mehrere Gründe spielten zusammen, damit die Integration der Ostseeprovinzen aus schwedischer Sicht ein relativer Erfolg wurde. An erster Stelle der entscheidenden Gründe standen politische Erfahrungen Karls XI., die mit den Provinzen nur mittelbar zu tun hatten und zu dem führten, was im Schwedischen mit dem Begriff envälde („Eingewalt“) belegt ist. Der terminologische Unterschied sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass es zwischen der schwedischen envälde und den verschiedenen Formen des kontinentalen Absolutismus deutliche Parallelen gab. Insbesondere die Ähnlichkeiten zwischen dem Herrschaftssystem Louis’ XIV. (1643– ————————————
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ricorum balticorum 16.–20.8.1937. Acta et relata, Riga 1938, S. 251–259; (Koll.) Boken om Gotland. Minnesskrift med anledning av Gotlands återförening med Sverige genom freden i Brömsebro den 13 augusti 1645 [Das Buch über Gotland. Gedenkschrift anlässlich der Wiedervereinigung Gotlands mit Schweden durch den Frieden von Brömsebro vom 13. August 1645], Stockholm 1945. Vgl. TUCHTENHAGEN, Zentralstaat und Provinz (wie Anm. 5), besonders S. 19–54, 88–108, 133–163, 186–206, 242–262, 296–348, 377–404, 440–450 (mit weiteren Literaturhinweisen).
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1715) sind zum Teil frappierend11. Karl XI. war de iure seit seinem vierten Lebensjahr (seit 1660) König von Schweden, doch versah bis zu seiner Mündigkeitserklärung im Jahre 1672 eine hochadlige Vormundschaftsregierung (durchweg Gegner der Inkorporation) die Amtsgeschäfte der Krone. Die Vormundschaftsregierung musste zwar nicht wie die französische Monarchie mit einer fronde zu Recht kommen, die ja in Frankreich die Einführung des königlichen Absolutismus provozierte; aber sie setzte sich aus Mitgliedern des schwedischen Hochadels zusammen, die durch konfliktgeladene Beziehungen unter einander verbunden waren und deren jeweilige Intrigen und Machinationen wesentlich zu einer chaotischen Entwicklung der schwedischen Innenpolitik führten. Dazu kamen außenpolitische Probleme. Durch Frankreich, mit dem Schweden seit 1672 verbündet war, in Kriege mit Brandenburg und Dänemark hineingezogen, stand das Reich 1679, als Louis XIV. Karl XI. zum Frieden mit Dänemark (Friede von Lund vom 26. September 1679) zwang, vor dem Staatsbankrott und auf einem außenpolitischen Scherbenhaufen12. Um die politische Handlungsfähigkeit wieder herzustellen, setzten der König und seine Parteigänger auf dem schwedischen Reichstag zu Stockholm 168013 durch, dass die Vormundschaftsregierung vor Gericht gestellt würde, der Reichsrat künftig den größten Teil seiner legislativen und exekutiven Kompetenzen verlor und eine „Reduktion“ –
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Ein systematischer typologischer Vergleich der beiden Regierungssysteme steht bis heute aus. Ansätze finden sich bei Günther BARUDIO, Absolutismus: Zerstörung der „libertären Verfassung. Studien zur „Karolinischen Eingewalt“ in Schweden zwischen 1680 und 1693, Wiesbaden 1976 (Frankfurter historische Abhandlungen 13). Vgl. Berndt FREDRIKSSON, Försvarets finansiering. Svensk krigsekonomi under skånska kriget 1675–79 [Die Finanzierung des schwedischen Militärs. Schwedische Kriegsökonomie im Schonischen Krieg 1675–79], Uppsala 1976; Kampen om Skåne [Der Kampf um Schonen], hg. v. Göran RYSTAD, Lund 2005; Claes-Göran ISACSON, Skånska kriget 1675–1679 [Der Schonenkrieg 1675–1679], Lund 2000; Martin WEIBULL, Freden och förbundet i Lund 1679. Ett bidrag till Skandinaviens historia [Friede und Vertrag von Lund. Ein Beitrag zur Geschichte Skandinaviens], Lund 1871. Der Verlauf des Reichstags von 1680 lässt sich in den Protokollen der schwedischen Ritterschaft und des schwedischen Adels gut nachvollziehen: Sveriges ridderskaps och adelns riksdags-protokoll [Reichstagsprotokolle der schwedischen Ritterschaft und des Adels], Bd. XIII: 1680, hg. v. Bernhard TAUBE / Severin BERGH, Stockholm 1896. Vgl. Jerker ROSÉN, Johan Gyllenstiernas program för 1680 års riksdag [Das Programm Johan Gyllenstiernas für den Reichstag von 1680], Lund 1945; Anthony F. UPTON, The Riksdag of 1680 and the Establishment of Royal Absolutism in Sweden, in: The English Historical Review 102 (1987), Nr. 403, S. 281–308.
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eine „Rückführung“ der als Dienstlehen donierten Adelsgüter an die Krone – zur Sanierung der Reichsfinanzen eingeleitet würde14. Daraus leitet sich meine These ab, dass die schwedische Provinzialpolitik in den Ostseeprovinzen nicht nur aus einer ständerechtlichen Perspektive interpretiert werden kann – so sehr eine Fokussierung auf die Kapitulationen von 1710 dies auch nahe legt. Aus der Perspektive der schwedischen Zentralregierung stehen vielmehr die Staatsraison der Jahre nach 1679, konkret: das Überleben des schwedischen Herrschaftssystems und die Konsolidierung der territorialen Gewinne aus der Zeit zwischen 1561 und 1660 im Vordergrund. Der Verlust Est- und Livlands an Russland im Jahre 1710 ist aus diesem Blickwinkel zwar auch militärischen Versäumnissen oder Unglücksfällen (vor allem in der sächsisch-polnischen Frage während des Großen Nordischen Krieges) zu verdanken, basiert aber vor allem auf einer Dynamik der schwedischen Reichspolitik, wie sie sich aus dem außenpolitischen Trauma des sog. Schonischen Krieges (1675–1679) gegen Dänemark ergab. Die schwedische Expansion zwischen 1561 und 1660 hatte zu einem schleichenden Verfall der monarchischen Macht und zu einer Erschöpfung der schwedischen Staatsfinanzen geführt. Gegenmaßnahmen ergriff König Karl XI. unmittelbar nach Beendigung des Schonischen Krieges. Dabei lassen sich neben zahlreichen Einzelmaßnahmen, von denen ich einige gleich aufgreifen werde, mehrere größere Linien erkennen: Eine Rückkehr zur außenpolitischen Gleichgewichtspolitik und Konsolidierung der Königsherrschaft in Anlehnung an die Politik Gustavs I. Vasa (1523–1560)15, der Weg in den monarchischen Absolutismus in Anlehnung an das Vorbild Frank-
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Vgl. Sven GRAUERS, Sveriges riksdag. Historisk och statsvetenskaplig framställning, Bd 4: Riksdagen under den karolinska tiden [Schwedens Reichstag. Historische und politikwissenschaftliche Darstellung, Bd. 4: Der Reichstag in der Karolinerzeit], Stockholm 1932, S. 45–82. Sven GRAUERS, Kring förspelet till 1680 års riksdag [Zur Vorgeschichte des Reichstags von 1680], in: Historiska studier tillägnade Nils Ahnlund 23.8.1949, hg. v. Sven GRAUERS / Åke STILLE, Stockholm 1949, S. 138–179; Lennart THANNER, 1680 års statsrättsförklaring [Die staatsrechtliche Erklärung von 1680], Lund 1961 (Historiskt arkiv 11); UPTON, The Riksdag of 1680 (wie Anm. 13); Paul LOCKHART, Sweden in the Seventeenth Century, Houndmills, Basingstoke / New York 2004, S. 124–130. Vgl. Georg LANDBERG, Den svenska utrikespolitikens historia [Geschichte der schwedischen Außenpolitik], Bd. 1/3: 1648–1697, Stockholm 1952, S. 203–239; Göran RYSTAD, Karl XI., Stockholm 2009, S. 266–279; Anthony F. UPTON, Charles XI and Swedish Absolutism, Cambridge 1998, S. 200–212.
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reichs und Dänemarks16, die Konsolidierung der Staatsfinanzen, die Zentralisierung des monarchischen Herrschaftssystems und schließlich die Inkorporierung der Grenzprovinzen. Die gegen Dänemark im Frieden von Lund verteidigten südschwedischen Provinzen wurden das erste Objekt dieser Integrations- und Zentralisierungpolitik17. Aber auch die schwedischen Ostseeprovinzen wurden in die Konsolidierungspolitik der schwedischen Krone nun mit einbezogen. Dabei lassen sich drei Politikbereiche unterscheiden: 1. Die Reduktionspolitik und ihre jeweiligen finanziellen, ökonomischen, sozialen und militärpolitischen Folgen; 2. Die Inkorporationspolitik und ihre ständepolitischen Folgen; 3. Die Schwedisierungspolitik und ihre verwaltungs- und kirchenpolitischen sowie sozialdisziplinarischen Folgen18. Die Reduktionspolitik Die Reduktionspolitik der schwedischen Regierung muss hier nicht im Einzelnen ausgeführt werden. Sie ist in den Arbeiten von Juhan Vasar (1931), Alvin Isberg (1953) und Aleksander Loit (1975) ausführlich analysiert worden19. Im vorliegenden Zusammenhang ist jedoch zu betonen, dass sie für ———————————— 16
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Vgl. Stellan DAHLGREN, Karl XI:s envälde – kameralistisk absolutism? [Karls XI. Autokratie – kameralistischer Absolutismus?], in: Makt och vardag. Hur man styrde, levde och tänkte under svensk stormaktstid, hg. v. Stellan DAHLGREN / Anders FLORÉN / Åsa KARLSSON, Stockholm 1992, S. 115–132; UPTON, Charles XI (wie Anm. 15), S. 107–130; Alf ÅBERG, Karl XI, Stockholm 1958 (ND Falun 1994), S. 112–121. Vgl. Alf ÅBERG, Kampen om Skåne under försvenskningstiden [Der Kampf um Schonen in der Zeit der Schwedisierung], Stockholm 1995. Zur Provinzialpolitik der Regierung Karls XI. vgl. RYSTAD, Karl XI. (wie Anm. 15), S. 307–344. Juhan VASAR, Die große livländische Güterreduktion. Die Entstehung des Konflikts zwischen Karl XI. und der livländischen Ritter- und Landschaft 1678–1684, 2 Teile, Tartu 1930–1931 (Acta et commentationes Universitatis Tartuensis. Humaniora 20, 22); Alvin ISBERG, Karl XI och den livländska adeln 1684–1695. Studier rörande det karolinska enväldets införande i Livland [Karl XI. und der livländische Adel 1684–1695. Studien über die Einführung der karolinischen Eingewalt in Livland], Lund 1953; Aleksander LOIT, Kampen om feodalräntan. Reduktionen och domänpolitiken i Estland 1655–1710 [Der Kampf um den Grundzins. Reduktion und Domänenpolitik in Estland 1655–1710], Bd. 1, Uppsala 1975 (Studia historica Upsaliensia 71). Alte deutschbaltische Historiografie: Karl Friedrich SCHOULZ VON ASCHERADEN, Geschichte der Reduction in Livland unter der Regierung Karls XI., Königs von Schweden, in: Beiträge zur Geschichte des russischen Reiches, hg. v. Ernst HERRMANN, Leipzig 1843, S. 81–116; Astaf von TRANSEHE-ROSENECK, Gutsherr und Bauer in Livland im 17. und 18. Jahrhundert, Strassburg i.E. 1890. Für die
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alle Güter des Schwedischen Reiches galt, allerdings mit unterschiedlicher Intensität. Die Grenzprovinzen des Reiches waren davon besonders schwer betroffen20. Der Entschluss zur Reduktion fiel bereits auf dem schwedischen Reichstag von 1680. Die entsprechende propositio des Königs wurde dabei vor allem von den sog. „unfreien“ (ofrälse, d.h. steuerbefreiten) Ständen, konkret: den Bauern und Stadtbürgern, darüber aber auch von kleineren Teilen des Adels, unterstützt. Um den Zusammenhang des allgemeinen Reduktionsbeschlusses mit seinen Folgen in den schwedischen Ostseeprovinzen zu verstehen, genügt es, einige wichtigere Bestimmungen wiederzugeben. Der ursprüngliche Entwurf sah vor, dass alle Graf- und Freiherrschaften sowie alle Domänengüter an die Krone zurückfallen sollten. Darüber hinaus waren alle Adelsgüter einzuziehen, die jährlich eine Rente von mehr als 600 Reichstalern Silber abwarfen. Einer Reduktion unterworfen waren schließlich alle Donationen (Dienstgüter) in den Grenzprovinzen. Diese Maßnahmen galten rückwirkend ohne terminus post quem. Erbgüter waren von ihnen nicht betroffen. Zur Durchführung der Maßnahmen wurde eine Reduktionskommission eingesetzt, deren Mitglieder vom Adel gewählt werden durften. Dies galt jedoch nur für Mitglieder des immatrikulierten schwedischen Adels. Der Provinzialadel hatte hier weder Sitz noch Stimme. Man sieht schon an dieser noch gemäßigten Konzeption der Reduktionspolitik, dass es sich um einen vom Zentralstaat und den schwedischen Stän————————————
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schwedische Perspektive zusammenfassend vgl. ÅBERG, Karl XI (wie Anm. 16), S. 142–146; RYSTAD, Karl XI (wie Anm. 15), S. 334–344; UPTON, Charles XI and Swedish Absolutism (wie Anm. 15), S. 190–200. Zu vorbereitenden Arbeiten der schwedischen Regierung, vor allem zur Erarbeitung eines Katasters vgl. Edgars DUNSDORFS, Der Grosse schwedische Kataster in Livland 1681–1710, Bd. 1, Stockholm 1950 (Vitterhets historie och antikvitets akademiens handlingar 72). Zur Reduktion unter Karl XI. in Schweden allgemein vgl. RYSTAD, Karl XI (wie Anm. 15), S. 181–203; UPTON, Charles XI and Swedish Absolutism (wie Anm. 15), S. 51–70. Für den Fall der vormals dänischen Gebiete: Jerker ROSÉN, Skånska privilegie- och reduktionsfrågor 1658–1686. Studier rörande Karl XI:s skånska räfstpolitik och Skånes försvenskning [Schonische Privilegien- und Reduktionsfragen 1658–1686. Studien über Karls XI. schonische Rechenschaftspolitik und Schonens Schwedisierung], Lund 1944 (Acta Regiae Societatis humaniorum litterarum Lundensis 38); RYSTAD, Karl XI (wie Anm. 15), S. 318–321; UPTON, Charles XI and Swedish Absolutism (wie Anm. 15), S. 179–191. Für Pommern: Gustaf Hansson von ESSEN, Alienationer och reduktioner i f. d. Svenska Pommern [Güterdonationen und Reduktionen im ehemals schwedischen Pommern], hg. v. Algot LINDBLOM, Stockholm 1900; ÅBERG, Karl XI (wie Anm. 16), S. 141 f.; RYSTAD, Karl XI (wie Anm. 15), S. 329–334; UPTON, Charles XI and Swedish Absolutism (wie Anm. 15), S. 191–199.
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den initiierten und durchzuführenden Vorgang handelte. Dies war noch keine zentralistische Maßnahme im Sinne des monarchischen Absolutismus, aber die Reichsperipherie hatte dabei nicht mitzureden – wohl auch deshalb, weil man davon ausging, dass die Güter des Provinzialadels in der Regel keine königlichen Lehen waren und sich die Maßnahmen gegen den in den Provinzen ansässigen schwedischen Dienstadel richteten. Schon auf dem Reichstag der Jahre 1682 bis 1683 trat jedoch eine Verschärfung der Maßnahmen ein. In der propositio wurde die Ausweitung der Reduktion vor allem damit begründet, dass mehr Mittel zum Retablissement und Ausbau des Militärs vonnöten seien. Wieder unterstützten die unfreien Stände den königlichen Vorschlag, wohingegen der Adel sich für eine Kontribution aussprach. Im Ergebnis erhielt der König von den Ständen eine Bestätigung, dass er auf Grundlage des schwedischen Landgesetzes (landslag, 1442) berechtigt sei, Güter zu verlehnen und bei Bedarf wieder einzuziehen – und zwar auch ohne Zustimmung der Stände. Dies stellte einen ersten Rechtsbruch dar, denn das landslag besagte eigentlich, dass der König einziehen könne, was er selbst (als Person, nicht als Institution) verlehnt hatte. Tatsächlich verschaffte sich Karl XI. durch den Reichstagsbeschluss von 1682/83 das Recht, alle Güter, die irgendwann einmal von einem schwedischen Herrscher verlehnt worden waren, zurückzufordern. Damit waren nun auch die kleineren, weniger lukrativen Güter betroffen. Die nächste Verschärfung kam mit dem Reichstag von 1686, wo es unter anderem um Details der Reduktion verpachteter und verkaufter Güter ging. Hinsichtlich der verpachteten Güter wurde der Anteil der Rente, die dem Gut verblieben, heruntergesetzt und damit gleichzeitig der Anteil, der in die Pacht floss, erhöht. Im Prinzip bezogen sich die genannten Maßnahmen auf alle von der Krone verlehnten Güter. In der Praxis wurde jedoch vor allem die Adelsgüter der Reduktion unterworfen, während die Güter der unfreien Stände eine gewisse Schonung erfuhren. Dieses Muster ist sowohl im schwedischen Kernreich als auch in den Grenzprovinzen des Reiches zu beobachten. Auch zog sich die Reduktion über mehrere Jahrzehnte hin. Die meisten Fälle waren bis zum Ausbruch des Großen Nordischen Krieges noch gar nicht abgeschlossen. Trotzdem profitierte die Krone bis dahin bereits erheblich und konnte ihre katastrophale finanzielle Situation verbessern. Was dies konkret in Zahlen bedeutete, ist heute nicht mehr in allen Einzelheiten nachzuvollziehen. Nach Schätzungen von Vasar, Isberg und Loit flossen der Krone unter Karl XI. ca. 1.950.000 Reichstaler Silber zu. Dazu kamen Ausstände von rund 500.000 Reichstaler. Der Anteil Schwedens (einschl. Finnland) betrug
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ca. 700.000 Reichstaler, derjenige der angegliederten Provinzen (deutsche und Ostseeprovinzen) ca. 1.150.000, davon entfielen allein auf Livland knapp 550.000 Reichstaler. Die Krone brachte durch diese Einkünfte ihre Verschuldung fast auf Null und finanzierte damit eine stark erweiterte Staatsorganisation, vor allem Militär, Fiskus und Zivilverwaltung. Ständepolitisch bedeutete die Reduktion eine Stärkung der Bauern, Pfarrgeistlichkeit und Stadtbürger gegenüber Adel und hohem Klerus. Die Bauern profitierten außerdem wirtschaftlich, indem ein Teil der reduzierten Güter an sie verkauft oder verpachtet wurde. Der Adel war also der große Verlierer der Reduktion. Diese entriss dem Adel bedeutende Teile seiner Ländereien oder ging mit einer Fragmentierung und Zerstreuung der durch Tausch, Kauf oder Verpachtung erreichten Güterarrondierungen vergangener Generationen einher und führte so zu einer allgemeinen Krise des adligen Eigentumsrechts. Gleichzeitig verlor der Adel damit einen Teil seiner wirtschaftlichen Unabhängigkeit und wurde so in eine politische Abhängigkeit vom König getrieben; der Anteil des Dienstadels wuchs unter Karl XI. und Karl XII. gegenüber dem alten Besitzadel beträchtlich an. Die ausgeprägte Eigeninitiative des Adels, für die Krone in Friedenszeiten unbequem, entfiel nun aufgrund der politischen Abhängigkeit von der Krone – ein Faktum, das sich in Kriegszeiten besonders kontraproduktiv auswirkte. Beispiele aus der Zeit Karls XII. während des Großen Nordischen Krieges existieren zuhauf. Zu einem echten Ständeausgleich, der die absolutistische Monarchie weiter in ihrer Schiedsrichterfunktion hätte stärken können, kam es jedoch nicht. Unterschiedliche Privilegien, unterschiedliche Besteuerungen von Grund und Boden des Adels und der unfreien Stände blieben bestehen. Der Adel behauptete sich als, wenn schon nicht prinzipiell wirtschaftlich stärkster, so doch rechtlich mächtigster Stand. In den Ostseeprovinzen wurde die Reduktion deshalb als besonders ungerecht empfunden, weil die Krone hier nicht nur Güter reduzierte, die unter schwedischer Herrschaft verlehnt worden, sondern auch solche, die vorher bereits im Besitz des Provinzialadels gewesen waren. Juristisch und aus der Perspektive der schwedischen Interessen gesehen gerierte sich der schwedische König als Erbnehmer des Römischen Kaisers und konnte argumentieren, dass fast alle Güter ursprünglich Lehngüter gewesen sein. Die Reduktion ermöglichte es der schwedischen Krone, in Livland rund 80% der Adelsgüter, darunter auch einen beträchtlichen Anteil Güter vormals schwedischer Gutsbesitzer, unter ihre direkte Herrschaft zu bringen. In
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Estland fiel die Reduktion bekanntermaßen weit weniger radikal aus21. Begründet wird dieser Unterschied in der Forschung traditionell damit, dass es sich bei Estland aus Sicht der schwedischen Krone nicht um eine eroberte Provinz handelte wie im Falle Livlands, sondern sich die estländischen Stände der schwedischen Schutzherrschaft freiwillig unterstellt hatten. Ob dies der einzige Grund war, mag dahingestellt bleiben; möglicherweise spielten auch verteidigungs- und außenpolitische Gründe eine Rolle. Die direkte Herrschaft über die reduzierten Güter, d.h. konkret: über die Abgaben der Bauern, die Definition des rechtlichen Verhältnisses zwischen Gutsherren (oft adlige Pächter aus der Provinz) und Bauern sowie die Verfügung über die Bauern als militärischer Gefolgschaft der Krone und über die Gutsgeistlichen als quasi Staatsbeamte vor Ort führten zu einer Machtkonstellation, die vor allem in Livland, eingeschränkt auch in Estland, zu einem fast totalen Verlust politischer Spielräume für die lokalen Machteliten beitrugen22. Außerdem sanierte die livländische und estländische Reduktion im Zusammenspiel mit der Reduktion in anderen Teilen des Schwedischen Reichs die Staatsfinanzen in einem Maße, das in der schwedischen Geschichte bis dahin unbekannt gewesen war23. ———————————— 21
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Vgl. Aleksander LOIT, The effect of reduction on the structure of manorial possession in the province of Estonia, in: Feodal’nyj krest’janin v vostočnoj i severnoj Evrope. Sbornik statej, hg. v. Juhan KAHK / Enn TARVEL, Tallinn 1983, S. 85–102. Vgl. Arvid SCHWABE, Grundriß der Agrargeschichte Lettlands, Riga 1928, S. 150 ff.; Hendrik SEPP, Talupoegade kaitse Rootsiaja lõpul, eriti Liivimaal [Bauernschutz am Ende der Schwedenzeit, vor allem in Livland], in: Ajalooline ajakiri 8 (1929), S. 75–83, 133–156; Adolf PERANDI, Märkmeid talurahva õigusliku ja majandusliku seisundi kohta Liivimal Rootsi valitsusaja alul [Bemerkungen zur rechtlichen und ökonomischen Stellung der Bauern in Livland zur schwedischen Zeit], in: Ajalooline ajakiri 10 (1931), S. 193–213; Juhan VASAR, Om Karl XI:s bondereformer i Livland [Über die Bauernreform Karls XI. in Livland], in: SvioEstonica 1934, Tartu 1934, S. 88–94; Edgars DUNDSDORFS, Latvju zemnieku brivibas Karla XI laika [Die Aussichten der livländischen Bauern auf Freiheit zur Zeit Karls XI.], in: Latvijas Vēstures Institūta Žurnāls 1937, S. 187–225. Vgl. Robert SWEDLUND, Grev- och friherreskapen i Sverige och Finland. Donationerna och reduktionerna före 1680 [Graf- und Freiherrschaften in Schweden und Finnland. Donationen und Reduktionen aus der Zeit vor 1680], Uppsala 1936; Eli F. HECKSCHER, Stormaktstidens sociala omvälvningar: reduktionen och dess förutsättningar [Die sozialen Umbrüche der Großmachtszeit. Die Reduktion und ihre Voraussetzungen.], Stockholm 1943 (Det levande förflutna 2); Halvar NILSSON, Om reduktionen under tiden 1655–1674 [Über die Reduktion in der Zeit von 1655 bis 1674], Uppsala 1951; Anders KULLBERG, Johan Gabriel Stenbock och reduktionen. Godspolitik och ekonomiförvaltning 1675–1705 [Johan Gabriel Stenbock und die Reduktion. Güterpolitik und Wirtschaftsverwaltung 1675–1705], Uppsala 1973 (Studia historica Upsaliensia 51); Sven A. NILSSON, På väg mot reduktionen. Studier i svenskt 1600-tal [Auf dem Weg zur Reduktion. Studien zum 17. Jahrhundert in Schweden], Stock-
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Karl XI. war damit weit erfolgreicher als seine Vorgänger. Dabei waren Reduktionen in der schwedischen Geschichte der frühen Neuzeit nichts Ungewöhnliches24. Gustav I. Vasa, Christina und Karl X. Gustav hatten ähnliche Maßnahmen mit ähnlichen Zielen ergriffen. Grundsätzlich basierten Reduktionen auf der mittelalterlichen Tradition des Lehnswesens. Die Krone verlehnte Land an Staatsdiener in der Regel als Dienstgüter, während Schwedens Großmachtzeit mangels Geld aber häufig auch als Belohnung für militärische Verdienste. Gustav I. konsolidierte mit der Einziehung der Kirchengüter in den 1520er Jahren die monarchische Herrschaft in Schweden gegen die Unionspolitik der dänischen Könige, konnte gegenüber dem Adel als großzügiger Landdonator auftreten und seine Schulden gegenüber der Stadt Lübeck begleichen, schaffte es jedoch nicht, einen nahezu ausgeglichenen Haushalt wie Karl XI. vorzulegen. Die Landdonationen an den Adel produzierten in der Folgezeit außerdem einen für den Fiskus ungünstigen Mechanismus. Je mehr Land die Krone „donierte“, desto weniger Abgaben und Dienste kamen von den königlichen Domänen, weil das Volumen der Domänen insgesamt schrumpfte. Dies zeigte sich besonders während der fast ununterbrochenen Kriegführung zwischen 1561 und 1660. Bereits zur Zeit Königin Christinas, also noch in der Zeit des Dreißigjährigen Krieges, besaß die Krone nurmehr rund ein Drittel aller Güter im Reich, während der Adel über rund zwei Drittel der Güter gebot. Erste Reduktionsversuche Christinas und ihres Nachfolgers, Karls X. Gustav – des Vaters Karls XI. –, blieben aufgrund der zeitaufwändigen Untersuchung der adligen Grundbesitzverhältnisses und später wegen der ständigen Abwesenheit des kriegerischen Karl X. Gustav vom Hof im Sande stecken25. Trotzdem stand die Reduktion seit den 1640er Jahren auf der Agenda der schwedischen Regierung und war auch den Ritterschaften in den Ostseeprovinzen durchaus ein Begriff. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass sich in der ersten Phase der Reduktion in den Ostseeprovinzen, als nur die während der schwedischen Zeit verlehnten Güter zur Debatte standen, wenig Widerstand regte – betrafen diese Donationen doch überwiegend den schwedischen Dienstadel in ————————————
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holm 1964; Ola LINDQVIST, Jakob Gyllenborg och reduktionen: köpe-, pante- och restitutionsgodsen i räfstepolitiken 1680–1692 [Jakob Gyllenborg und die Reduktion: Kauf-, Pfandund Restitutionsgüter in der Rechenschaftspolitik 1680–1692], Lund 1956 (Bibliotheca historica Lundensis 4). Vgl. Lars MAGNUSSON, Reduktionen under 1600-talet. Debatt och forskning [Die Reduktion im 17. Jahrhundert. Debatte und Forschung], Malmö 1985. Vgl. Stellan DAHLGREN, Karl X Gustav och reduktionen [Karl X. Gustav und die Reduktion], Stockholm 1964 (Studia historica Upsaliensia 14).
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den Ostseeprovinzen. Der Konflikt brach erst aus, als Karl XI. ab 1682 auch die „mitgebrachten Güter“, also die – nach der Interpretation des liv- und estländischen Adels – autochthonen Erblehen zur Disposition stellte. Freilich verloren viele Gutsbesitzer ihr Land als Grundlage der Güterwirtschaft gar nicht, sondern mussten vor allem eine Modifizierung der Besitzverhältnisse hinnehmen. Die Krone hatte im Rahmen der Reduktion die Möglichkeit eingeräumt, das eingezogene Land als Pachtgut weiterzubewirtschaften. Man kann die Reduktion also auch so interpretieren, dass der Adel nunmehr zu Abgaben, zu einem über den traditionellen Staatsdienst hinausgehenden Beitrag für das gemeinsame Wohl des Reiches, zu einer Art Steuer, verpflichtet wurde. So jedenfalls sah es die schwedische Regierung. Die Bauern hatten zu diesem Ziel freilich ebenfalls beizutragen: durch Abgaben, Tagewerke und militärische Gefolgschaft, die jetzt allerdings nicht mehr an den gutsbesitzenden Adel, sondern an die Krone gingen. Die Inkorporations- und Schwedisierungspolitik Zur Konsolidierung der Staatsfinanzen gehörte die Unifizierung des Reichs. Dabei ging es vor allem um die Integration der Ständeprivilegien der Grenzprovinzen in die des Gesamtreiches, um die Vereinheitlichung der Lokalverwaltung und der Wirtschaftsnormen. Sie ist bis zum Ende der schwedischen Herrschaft in den Ostseeprovinzen nur teilweise gelungen, wäre aber wohl – geht man von den Plänen der schwedischen Regierung aus – ohne die Unterbrechung, die der Große Nordische Krieg herbeiführte, zu einem baldigen Ende geführt worden. Im Kontext der Reduktionspolitik wurden die Rechte der provinzialen Landräte und des Landtags seit den 1680er Jahren stark beschnitten oder aufgehoben (der livländische Landtag wurde 1693 gar aufgelöst)26. 1687 führte die Regierung eine neue, reichsweit gültige schwedische Kirchenordnung ein, die das Kirchenpatronat vor allem des estund livländischen Adels, teilweise auch der größeren Städte erheblich einschränkte27. ———————————— 26
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Vgl. Hasso von WEDEL, Die estländische Ritterschaft vornehmlich zwischen 1710 und 1783, Königsberg / Berlin 1935 (Osteuropäische Forschungen, N.F. 18), S. 11; Walther von UNGERN-STERNBERG, Geschichte der baltischen Ritterschaften, Limburg/L. 1960, S. 17–22. TUCHTENHAGEN, Zentralstaat und Provinz (wie Anm. 5), S. 397. Sveriges kyrkolag af år 1686 [Das schwedische Kirchenrecht von 1686], hg. v. Arvid Johan RYDÉN, Göteborg 1856; auch in: Sammlung der Gesetze, welche das heutige livländische Landrecht enthalten, hg. v. Gustav Johann von BUDDENBROCK, Bd. 2/2, Riga 1821,
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Die Schwedisierungspolitik, die mit der Inkorporationspolitik aufs Engste verschränkt war, hatte Folgen gerade hier, in der Provinzial- und Kirchenadministration, aber auch unter Aspekten der sozialen Kontrolle. Als 1690 die Universität Dorpat nach einer zwischenzeitlichen Schließung wieder eröffnet wurde, nutzte die schwedische Regierung dieses Ereignis für eine radikale Schwedisierung der wichtigsten Bildungsinstitution der Ostseeprovinzen. Sie berief eine Reihe schwedischstämmiger Professoren, begünstigte schwedische und finnländische (schwedischsprachige) Studenten, versuchte, deutschsprachige Studenten bewusst vom Studium in Dorpat fern zu halten und verfügte, dass künftig ein Staatsamt in den Ostseeprovinzen nur übernehmen könne, wer mindestens zwei Jahre in Dorpat studiert hatte. Dies war der Startschuss für eine Reihe weiterer Schwedisierungsmaßnahmen. 1691 erließ die schwedische Regierung eine Verordnung, nach der schwedische und ingermanländische (d.h. aus Schweden oder Finnland stammende) Pastoren bei der Besetzung vakanter Stellen in den Ostseeprovinzen den Vortritt erhielten. Ab 1694 führte sie sukzessive die schwedische Amtssprache ein und verlangte die Anwendung schwedischen Rechts in den est- und livländischen Gerichtshöfen. Die Publikation und königliche Bestätigung eines neuen Katechismus (1689)28, liturgischen Handbuchs (1693)29 und Kirchenliederbuches (1695)30 sowie einer neuen Bibelübersetzung
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S. 1593–1873. Vgl. Erik PETRÉN, Kyrka och makt. Bilder ur svensk kyrkohistoria [Kirche und Macht. Bilder aus der schwedischen Kirchengeschichte], Uppsala 32000, S. 149–155; UPTON, Charles XI and Swedish Absolutism (wie Anm. 15), Cambridge 1998, S. 108–112. Vgl. Henry William TOTTIE, Haqvin Spegel såsom kateket och homilet [Haqvin Spegel als Katechet und Homiletiker], Stockholm 1890. Vgl. Gustaf LIZELL, Svenska högmessoritualet 1614–1811 [Das Ritual der schwedischen Hochmesse 1614–1811], Bd. 1: 1614–1693, Uppsala 1910. Then swenska psalmboken, åhr 1695 öfwersedd och nödtorfteligen förbättrad och åhr 1697 i Stockholm af trycket vthgången [Das schwedische Kirchenliederbuch von 1695, übersetzt und notdürftig verbessert und im Jahr 1697 in Stockholm gedruckt], ND hg. v. Oscar Natanael FRANSÉN, Stockholm 1929. Vgl. Emil LIEDGREN, Den svenska psalmboken. Några synpunkter [Das schwedische Psalmbuch. Einige Anmerkungen], Örebro 1910; Nils FORSANDER, Svenska psalmbokens historia [Die Geschichte des schwedischen Kirchenliederbuchs], in: Tidskrift för teologi och kyrkliga frågor 14 (1912), S. 133–149; Carl E. PAULSON, Något om psalmböcker och psalmboksrevisioner i vår svenska kyrka [Über Kirchenliederbücher und Revisionen von Kirchenliederbüchern in unserer schwedischen Kirche], in: Julhälsningar till församlingarna från präster i Göteborgs stift 2 (1912), S. 142–154; Bengt WAHLSTRÖM, Studier över tillkomsten av 1695 års psalmbok [Studien zur Entstehung des Kirchenliederbuches von 1695], Uppsala 1951.
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(1703)31 und Schulordnung (1693)32, alle nach Muster der im Kernreich schon früher oder gleichzeitig eingeführten, entsprechenden schwedischsprachigen Werke, begleiteten diese Maßnahmen mit einem bis dato unerhörten Durchsetzungswillen der Krone und rundeten die Zentralisierung und umfassende Regulierung des Provinzialkirchenwesens als integralem Bestandteil der schwedischen Staatskirche ab. Die Folgen Die Reduktion und die Inkorporierungs- bzw. Schwedisierungsmaßnahmen trafen vor allem die politische Elite der Ostseeprovinzen. Für die nichtprivilegierte Bevölkerung hingegen waren mit diesen durchaus gewisse Vorteile verbunden. Der Überschreibung der Reduktionsgüter an die schwedische Krone brachte Erleichterungen der bäuerlichen Lasten und Schuldigkeiten mit sich, die im nationalen Gedächtnis Estlands und Lettlands bis heute eine gewisse Rolle spielen – wenn man auch nicht so weit gehen wird, von einem Versuch der Aufhebung der Leibeigenschaft zu sprechen, wie dies gelegentlich in lettischen und estnischen Darstellungen der Zwischenkriegszeit anklingt. Es sollte ———————————— 31
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Johann Adolf SCHINMEIER, Versuch einer vollständigen Geschichte der schwedischen BibelUebersetzungen und Ausgaben mit Anzeige und Beurtheilung ihres Werthes, 6 Bde., Flensburg / Leipzig 1777–1782. Vgl. Bengt BENGTSSON, Tillkomsten av Carl XII:s Biblia, thet är all then Heliga skrift på swensko; efter konung Carl then tolftes befalning medh förriga editioner jämförd. Ett tvåhundrafemtioårsminne [Die Entstehung der Bibel Karls XII., das ist die Heilige Schrift auf Schwedisch; auf König Karls XII. Befehl mit früheren Ausgaben verglichen. Zum Gedenken des 250. Jahrestages], Stockholm 1953. Gedruckt in: Sveriges allmänna läroverksstadgar 1561–1905 [Schwedens allgemeine Schulsatzungen 1561–1905], hg. v. Bror Rudolf HALL, Bd. IV, Lund 1923 (Årsböcker i svensk undervisningshistoria 2, 1922 / Föreningen för svensk undervisningshistoria VII, 1922/3), S. 1– 15. Vgl. Georg BRANDELL, Svenska undervisningsväsendets och uppfostrans historia, del 2: Ortodoxins tidevarv [Geschichte des schwedischen Unterrichts- und Erziehungswesens, Teil 2: Das Zeitalter der Orthodoxie], Lund 1931, S. 334–350; Albin WARNE, Svenska folkskolans historia [Geschichte der schwedischen Volksschule], Bd. 1, Stockholm 1940, S. 223–234; Wilhelm SJÖSTRAND, Pedagogikens historia, Bd. 2: Sverige och de nordiska grannländerna till början av 1700–talet [Geschichte der Pädagogik, Bd. 2: Schweden und die nordischen Grenzländer bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts], Malmö 1958, S. 206–210; Sixten MARKLUND, Skolväsendets centrala ledning. Från Gustav Vasa till Skolverket [Die zentrale Leitung des Schulwesens. Von Gustav Vasa zum Skolverket], Uppsala 1998 (Årsböcker i svensk undervisningshistoria 187); Gunnar RICHARDSSON, Svensk utbildningshistoria. Skola och samhälle förr och nu [Schwedische Bildungsgeschichte. Schule und Gesellschaft gestern und heute], Lund 62004; Hans Albin LARSSON, Mot bättre vetande. En svensk skolhistoria [Wider besseres Wissen. Eine schwedische Schulgeschichte], Stockholm 2011, S. 30 f.
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außerdem erwähnt werden, dass mit der Reduktion, die den größten Teil der vordem adligen in regale Kirchspiele verwandelte, zwar eine mehr und mehr schwedische Geistlichkeit in die Pastorate einzog, doch verlangte die schwedische Regierung von den Pastoren nunmehr normativ Kenntnisse der estnischen und/oder lettischen Sprache und forderte, dass die Bibel in die jeweiligen Volkssprachen übersetzt würde. Auch ermunterte die schwedische Regierung die estnischen und lettischen Bauern, an der Universität Dorpat zu studieren. Mit Hilfe von Geistlichen bäuerlicher Herkunft sollte die neue Sprachenpolitik in den Pastoraten rascher umgesetzt werden33. Insgesamt erscheinen die Kapitulationen von 1710 im Rahmen der schwedischen Gesamtreichspolitik weniger als Folge eines speziell gegen die Stände der Ostseeprovinzen gerichteten Angriffs der Stockholmer Zentralregierung, sondern als Ergebnis einer aus der Staatsraison geborenen politischen Strategie des monarchischen Absolutismus, der in der Zeit zwischen 1680 und 1710 durch die rechtliche und ökonomische Herabsetzung der privilegierten Stände überall im Reich versuchte, alle verfügbaren sozialen und ökonomischen Kräfte auf ein Ziel zu richten – die Konsolidierung des schwedischen politischen Systems und der davon in höchstem Maße abhängigen Sicherheit des Reiches. Um die schwedische Politik gegenüber den Ostseeprovinzen im Rahmen der Gesamtreichspolitik weiter zu kontextualisieren, sei erwähnt, dass als Blaupause für die Reduktions-, Inkorporationsund Schwedisierungspolitik entsprechende Maßnahmen in Skåne und anderen südschwedischen Grenzprovinzen dienten, wo die schwedische Regierung noch weit radikaler durchgriff als in Est- und Livland34. Unter sicherheitspolitischen Aspekten stellten Skåne und die Ostseeprovinzen überdies zwei interdependente Regionen dar. Die Politik der schwedischen Regierung gegenüber den Ostseeprovinzen beruhte nicht zuletzt auf einer fatalen Un———————————— 33
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Vgl. Hjalmar HOLMQUIST, Svenska kyrkan under Gustav II Adolf [Die schwedische Kirche unter Gustav II. Adolf], Stockholm 1938 (Kyrkans historia 4/1), S. 446; DERS., Från reformationen till romantiken [Von der Reformation zur Romantik], Stockholm 1953 (Handbok i svensk kyrkohistoria 2), S. 95; TUCHTENHAGEN, Zentralstaat und Provinz (wie Anm. 5), S. 253 f. Vgl. Yngve BOGREN, Den kyrkliga försvenskningen av skånelandskapen och Bohuslän [Die kirchliche Schwedisierung der Schonenlandschaft und Bohusläns], Stockholm 1937; Kurt FABRICIUS, Skaanes Overgang fra Danmark til Sverige [Schonens Übergang von Dänemark an Schweden], Bd. 4, København 1958; Jerker ROSÉN, Skånska privilegie- och reduktionsfrågor 1658–1686 [Schonische Privilegien- und Reduktionsfragen 1658–1686], Lund 1944; DERS., Hur Skåne blev svenskt [Wie Schonen schwedisch wurde], Uppsala 1943; Spelet om Skåne [Das Spiel um Schonen], hg. v. Erik OSVALDS, Malmö 1993; Alf ÅBERG, När Skåne blev svenskt [Als Schonen schwedisch wurde], Stockholm 1958.
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terschätzung der militärischen Bedrohung aus dem Osten (Polen, Russland) und der kaum gerechtfertigten Erwartung eines massiven Angriffs aus Dänemark auf die ehemaligen dänischen Besitzungen im Süden des Reiches. Dabei ist das dänische Bedrohungsszenario bei Teilen der schwedischen Führung sicherlich auf die Erfahrungen des Schonischen Krieges zurückzuführen. Andererseits warnten einzelne hohe Staatsbeamte, wie z.B. der livländische Generalgouverneur Erik Dahlberg (*1625, †1703), seit 1696 vor einer wachsenden militärischen Bedrohung und expansiven Bestrebungen des Moskauer Reiches unter Peter I. (1682/89–1725). Solche Warnungen verhallten allerdings ungehört. Die Unterschätzung territorialer Interessen Russlands im Baltikum führte auch zu einer Überschätzung der Belastbarkeit der Beziehungen zwischen Krone und Provinzialadel. Karl XI. schlug die Warnungen seiner Gouverneure in den Ostseeprovinzen, die fürchteten, die schwedische Integrationspolitik werde die liv- und estländischen Ritterschaften geradewegs in die Arme Russlands treiben, großzügig in den Wind. Die Neutralität und damit außenpolitische Isolation, in die sich die schwedische Regierung seit 1680 willentlich hineinmanövriert hatte, tat ein Übriges, um den Verlust der Ostseeprovinzen während des Großen Nordischen Krieges zu einem unausweichlichen Faktum zu machen. Aus Sicht der baltischen Ritterschaften und Städte waren die Kapitulationen von 1710 andererseits wohl nicht das letzte Wort in den schwedischrussischen Angelegenheiten. 1710 befand man sich noch mitten im Krieg, die Ostseeprovinzen waren einstweilen von russischen Truppen besetzt und die Kapitulationspunkte wahrscheinlich das Beste, was man zu diesem Zeitpunkt zu erreichen hoffte. Es ist aber nicht ausgeschlossen, dass die baltischen Stände darauf spekulierten, mit den russischen Zugeständnissen von 1710 ein Präjudiz für die Zeit nach dem Krieg zu schaffen und die Stockholmer Regierung im Falle eines schwedischen Sieges dazu zu bringen, die Integrationsmaßnahmen wieder rückgängig zu machen oder wenigstens auf ein erträgliches Maß abzumildern. Und man darf wohl auch davon ausgehen, dass die schwedische Regierung bei einem Sieg gegen Russland und die gesamte antischwedische Koalition den baltischen Ständen gegenüber Konzessionen gemacht hätte – allein schon, um den Wiederaufbau der vom Krieg zerstörten Provinzen zu gewährleisten, aber wahrscheinlich auch, um sich der Loyalität der baltischen Untertanen zu versichern, die 1710 die Erfahrung gemacht hatten, dass man auch als Adelskorporation mit den Rivalitäten der Großmächte spielen und seinen Vorteil daraus ziehen konnte. Die Geschichte hat die baltischen Stände 1721 endgültig der russischen Oberherrschaft unterstellt. Gleichwohl wäre es eine reizvolle historiografische
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Ralph Tuchtenhagen
Aufgabe, die Stimmung vor allem der baltischen Ritterschaften nach 1721 gegenüber Schweden einmal näher zu untersuchen. Ein gewichtiger Teil der schwedischen Führung ließ im 18. Jahrhundert jedenfalls keine Zweifel darüber aufkommen, dass Liv- und Estland eigentlich zum Schwedischen Reich gehörten und dass die beiden von Schweden angezettelten Kriege 1741– 1743 und 1788–1790 trotz einer offensichtlichen militärischen Überlegenheit Russlands auch deshalb Aussicht auf Erfolg hätten, weil sich der baltische Adel bei der ersten sich bietenden Gelegenheit auf die Seite Schwedens schlagen würde. Ob die Ritterschaften dies genauso sahen, ist eine weitgehend offene Forschungsfrage.
Pärtel Piirimäe
The Capitulations of 1710 in the Context of Peter the Great’s Foreign Propaganda* Introduction Die Moscowitischen Avisen haben gemeiniglich die Eigenschafft an sich, daß man ihnen entweder nicht glauben darff, oder nicht glauben will, weil sie gröstentheils aus solchen Orten einlauffen, die extremement parteyisch sind, und dasjenige, was sie wünschen, auff eine solche Art erzehlen, als hätten sie alles durch ein Vergrösserungs-Glaß angesehen, das übrige aber, was ihnen nicht recht in den Kram dienet, entweder auslassen, oder mit treflich ausgekünstelten Expreßionen in Zweiffel ziehen1.
This opinion by Philipp Balthasar Sinold von Schütz, the editor of the news journal “Europäische Fama”, reflects both the curiosity of the European educated elites about Muscovite affairs and their agonizing awareness that the information that trickled through did not come from independent sources and was thus utterly unreliable. The thirst for news was increased manifold at the time of the Great Northern War, when Peter the Great entered the scene of European politics by joining the anti-Swedish offensive alliance with Saxony-Poland and Denmark, and declared war on Sweden in September 1700. War created a market for information, which was readily provided not only by news writers and publishers like von Schütz, but also by government officials, paid propagandists and partisan enthusiasts who ————————————
* The article has been written with the support of the Nordic Spaces program of Riksbankens Jubiläumsfond, Target Financed Program no SF0180040s08 of the Estonian Ministry of Education, and SCAS, Uppsala. 1 “The Muscovite newsletters have a common feature that one is not able to or does not want to believe them, because they arrive mostly from places that are extremely partisan, and they tell things that they wish to tell as through a magnifying glass, and whatever does not serve their purpose, is either left out or put into doubt with concocted expressions.” [Philipp Balthasar Sinold von SCHÜTZ,] Die Europäische Fama, Welche den gegenwärtigen Zustand der vornehmsten Höfe entdecket. Der 29. Theil. Gedruckt zum ersten mahl 1705. und zum 4. mahl wieder aufgelegt, [Leipzig] 1707, p. 332; cf. Heinrich DOERRIES, Rußlands Eindringen in Europa in der Epoche Peters des Großen. Studien zur zeitgenössischen Publizistik und Staatenkunde, Königsberg 1939, pp. 181–183.
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attempted to manipulate public opinion2. The situation of war created fertile ground for the spread of all sorts of rumours, malicious allegations and self-glorifying lies, especially because it was almost impossible to acquire reliable information due to the cessation of much of the traffic and commerce. The chief aim of this article is to put Peter the Great’s war in the Baltic in the context of Russia’s propagandistic efforts in Europe. The military and diplomatic events leading to the conquest and annexation of the Swedish Baltic provinces have been studied in sufficient detail, but the impact of Peter’s wars and conquests on the minds of the European reading public has received much less attention3. I am going to follow how the Russian government adapted the arguments and rhetoric of their propaganda campaign according to their shifting war aims. It also has to be noted that propaganda is not just a post factum reaction to what has happened on the field, but the need to justify one’s actions may also have an impact on the actions themselves. Quentin Skinner has famously argued that the problem facing an agent who wishes to legitimate what he is doing at the same time as gaining what he wants cannot simply be the instrumental problem of tailoring his normative language in order to fit his projects. It must in part be the problem of tailoring his projects in order to fit the available normative language4.
In other words, the tricks with the ‘magnifying glass’ and ‘concocted expressions’ only work to a certain extent. Even cynical and ruthless statesmen might discover the long-term benefits of abiding by conventions, agreements or generally accepted moral requirements at the cost of more immediate gain, if the former seems to outweigh the latter. If a ruler puts any value on his reputation as a ‘Christian and just’ ruler, it is clearly easier to acquire such a reputation if he avoids violating the respective moral and legal codes ———————————— 2
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See also Pärtel PIIRIMÄE, War and Polemics in Early Modern Europe, in: Exploring Cultural History. Essays in Honour of Peter Burke, ed. by Melissa CALARESU / Filippo de VIVO / Joan-Pau RUBIES, Aldershot 2010, pp. 133–149. A relatively well researched aspect of the story is the changing image of Peter in Britain: Matthew S. ANDERSON, Britain’s Discovery of Russia 1553–1815, London / New York 1958; Matthew S. ANDERSON, English Views of Russia in the Age of Peter the Great, in: The American Slavic and Eastern European Review 13 (1954), pp. 200–214; Anthony CROSS, Peter the Great Through British Eyes: Perceptions and Representations of the Tsar since 1698, Cambridge 2000. A more general survey is Martin MALIA, Russia under Western Eyes: From the Bronze Horseman to the Lenin Mausoleum, Cambridge, Ma. 2000. Quentin SKINNER, The Foundations of Modern Political Thought, Vol. I, Cambridge 1978, pp. xii–xiii.
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in actual practice. Thus, I am going to ask whether the wish to appear as such a ruler might have influenced not just Peter’s rhetoric but also his actions in the Baltic provinces. This question pertains particularly to the capitulations of 1710, which were unusually generous by contemporary standards. This has not remained unnoticed in the historiography. One of the most comprehensive studies on the content, context and significance of the capitulations was published in 1960 by Soviet Estonian historian August Traat, which despite its strong ideological bias typical of the time of its writing contains a number of useful insights. Traat asks why the Russian government did not use the superior strength of its army to force unconditional surrender and, instead, chose to conclude the capitulation treaties with more lenient conditions for the opponent. Secondly, Traat asks why the Russians constrained their future scope of action even more by signing agreements with the local governing estates rather than just with the garrisons5. In the following discussion, Traat rightly points to a number of practical considerations. From the military point of view, unnecessary losses to their own army and the destruction of the conquered cities were avoided. From the political point of view, the compliance and future cooperation of the local estates was ensured. But Traat perceptively also points to several propagandistic aspects. The Russians had to “follow contemporary customs of war so as not to give well-founded arguments for anti-Russian propaganda”. Secondly, the tsar attempted to portray the unification of Livland and Estland with Russia “in a formaljuridical sense as voluntary”, which would have been an additional argument when the possession of the provinces became contested during the future peace conference6. In his massive study of Peter the Great published in 1964, Reinhard Wittram discusses the matter independently of Traat7. Wittram also points out that the estates would have signed agreements even if they had been offered far less favourable conditions8. Analysing the reasons for the tsar’s generosity, Wittram particularly emphasizes the need to avoid depopulation, to restore the economic strength of the provinces and to use their institutional and human capital for the reorganization of Russia. He ———————————— 5
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August TRAAT, Liivi- ja Eestimaa kapitulatsioonid aastast 1710 [The capitulations of Livland and Estland in 1710], in: Eesti ühendamisest Venemaaga ja selle ajaloolisest tähtsusest, hg. v. Artur VASSAR, Tallinn 1960, pp. 103–145, here: p. 124. Ibid., pp. 125–127. Reinhard WITTRAM, Peter I. Czar und Kaiser. Zur Geschichte Peters des Großen in seiner Zeit, 2 Vols., Göttingen 1964, here: Vol. I, pp. 348–354. Ibid., Vol. I, p. 351.
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also notes that “in Livland, the support of the estates was a trump card in the diplomatic game against King August”, and in both provinces the agreements provided additional security against Swedish attempts of a reconquest. Wittram focuses less on the broader propagandistic effects of the capitulations, but adds one interesting idea: the agreement with the German estates enabled Peter to introduce his imperial title. Wittram points to the fact that in several documents signed in connection to the capitulations, Peter used not only his traditional title ‘czar’, but also ‘imperator’ and ‘Kaiser’ which referred to the western or European tradition of empire. At about the same time Russian high-ranking officials started using the imperial title in internal communication with Peter, as well as began to insist on its usage in diplomatic correspondence with European courts9. It seems warranted, after the half a century that has passed since these studies, to take a new and more systematic look at all these suggestions and to find new evidence concerning the capitulations from this angle. The main aim of this article is to study the possible ideological effects of the capitulations in the broader context of Russia’s propaganda efforts during the Great Northern War. Justifying the Baltic Conquest Peter the Great was the first Russian ruler who consciously and effectively promoted the image of his country in Europe. The overarching message of his propaganda was that Russia was not such a barbaric nation as had been generally believed in Europe, but a traditionally Christian country, albeit somewhat lagging behind in development, which was partly caused by the efforts of its enemies to isolate Russia from the rest of Europe. Now, thanks to the reforms instigated by Tsar Peter, Russians were gradually becoming a ‘civilized’ and ‘polite’ nation, equal (and in some respects perhaps even superior) to other European nations10. Peter realized the importance of the printing press for getting his message across to wider audiences, and he employed a number of foreigners as diplomats and counsellors who were more aware ———————————— 9 10
WITTRAM, Peter I. (as in note 7), Vol. I, p. 354; Vol. II, pp. 250–252. Cf. Pärtel PIIRIMÄE, Russia, the Turks and Europe: Legitimations of War and the Formation of European Identity in the Early Modern Period, in: Journal of Early Modern History 11 (2007), pp. 63–86; Ekkehard KLUG, “Europa” und “europäisch” im russischen Denken vom 16. bis zum frühen 19. Jahrhundert, in: Saeculum 38 (1987), pp. 193–224.
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of the rhetorical and argumentative strategies used in Europe11. Russia’s improving image in Europe was, of course, not entirely a result of propagandistic efforts, because there was an increasing number of travellers who, while pointing out the despotism of the tsars and the ‘barbarous’ lifestyle of their subjects, were nevertheless struck by the grand designs and enthusiasm of Peter in reforming the country12. Apart from deeply personal and psychological reasons, which prompted Peter to seek acknowledgement by the European rulers he admired and sought to emulate, there were also various more practical reasons for the improvement of Russia’s image abroad. The successful implementation of reform plans depended on the influx of skilled foreigners who were reluctant to move over to a country seen as barbaric and inhospitable. Also, it was certainly easier to move around European courts in the search for allies, if one did not think of the Muscovites as the implacable enemies of European Christendom – an image stemming from the times of Ivan IV (‘the Terrible’), sustained and enhanced by the polemical writings produced mainly by Russia’s western neighbours13. A war, particularly an offensive one, created numerous propagandistic challenges. ‘Christian and civilized’ rulers were expected to follow certain legal and moral prescripts, and the duty to abstain from unjust wars was a central part of their code of behaviour. To be clear, this was often translated into a prescript of finding or inventing sufficiently plausible legal reasons for going to war. Yet those who were seen as habitually breaking the code by waging offensive wars without sufficient legal grounds found their interna———————————— 11
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Gary MARKER, Publishing, Printing and the Origins of Intellectual Life in Russia, Princeton, N.J. 1985; James CRACRAFT, The Petrine Revolution in Russian Culture, Cambridge, Ma. / London 2004; Lindsey HUGHES, Russia in the Age of Peter the Great, New Haven / London 1998; DOERRIES, Rußlands Eindringen (as in note 1). E.g. Friedrich Christian WEBER, The Present State of Russia. 2 Vols., Orig. 1722–1723. Facsim. reprint London 1968; more examples in ANDERSON, Britain’s Discovery (as in note 3). Andreas KAPPELER, Ivan Groznyi im Spiegel der ausländischen Druckschriften seiner Zeit. Ein Beitrag zur Geschichte des westlichen Rußlandbildes, Bern / Frankfurt am Main 1972 (Geist und Werk der Zeiten 33), passim. Cf. Rude & Barbarous Kingdom: Russia in the Accounts of 16th-Century English Voyagers, ed. by Lloyd E. BERRY / Robert O. CRUMMEY, Madison 1968; Markus OSTERRIEDER, Von Tyrannen und Barbaren: mentale Sichtweisen und Begründungen des Livländischen Kriegs in Polen-Litauen, in: Der Krieg im Mittelalter und in der frühen Neuzeit. Gründe, Begründungen, Bilder, Bräuche, Recht, ed. by Horst BRUNNER, Wiesbaden 1999 (Imagines medii aevi 3), pp. 395–426; Aleksandr FILIUSHKIN, Kak Rossiia stala dlia Evropy Aziei? [How did Russia become Asia for Europe?], in: Ab Imperio 5 (2004), No. 1, pp. 191–228.
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tional reputation greatly harmed. Thus Louis XIV was castigated as “the most Christian Turk” by his Protestant enemies, with an aim to mobilize alliances against him14. For these reasons, during military conflicts in 17thand 18th-century Europe, all kinds of pamphlet publications and broadsheets proliferated, with an aim to demonstrate the justness of one’s own arms and the unjustness of those of the enemies15. Peter’s challenge of justifying his war against Sweden could be divided into three sub-problems, according to the normative understanding of the criteria of bellum iustum of his day. First of all, a ruler who went to war needed iusta causa: sufficient material ground, such as self-defence against an unjust attack, recovery of property or punishment for injuries if compensation was not obtainable by peaceful means. Secondly, the criterion of recta intentio, which meant that the only legitimate goal was the restitution of ‘a just and honourable peace’. Rulers were not allowed to use the opportunity of war (even if one had a just cause) for territorial aggrandizement or disproportionate punishment of the opponent. Thirdly, they were also expected to follow the prescriptions of ius in bello, i.e. laws of war that regulated how enemy soldiers, captives, the civil population and their property was to be treated. Compliance with all these rules distinguished ‘Christian and civilized’ rulers from the ‘barbaric’ ones16. ———————————— 14
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English historian Thomas B. Macaulay summarizes the debates in the House of Commons in 1689: “He was called the most Christian Turk, the most Christian ravager of Christendom, the most Christian barbarian who had perpetrated on Christian outrages of which his infidel allies would have been ashamed.” Thomas Babington MACAULAY, The History of England from the Accession of James II. Vol. 1, London 1864, p. 303. Cf. Peter BURKE, The Fabrication of Louis XIV, New Haven / London 1992, ch. 10. Some collections: Acta publica, 3 vols., ed. by Michael Caspar LUNDORP, Frankfurt a. M. 1629–1640; Theatrum Europaeum, 21 Vols., Frankfurt a. M. 1635–1738; A General Collection of Treatys, Declarations of War, Manifestos, and other Publick Papers, Relating to Peace and War, 4 Vols., London 1710–1732; Memoires pour servir a l’histoire du XVIII siecle contenant les negotiations, traitez, resolutions, et autres documens authentiques concernant les affaires d’etat, 14 Vols., ed. by Guillaume de LAMBERTY, 2nd ed. Amsterdam 1735–1740; Gustav Edvard KLEMMING, Samtida skrifter rörande Sveriges förhållanden till fremmande magter, 2 Vols., Stockholm 1881–1883 (Kongl. Bibliotekets Samlingar); Flugschriftensammlung Gustav Freytag. Vollständige Wiedergabe der 6265 Flugschrifen aus dem 15. bis 17. Jh. sowie des Katalogs von Paul Hohenemser. 2 Parts, Munich et al., 1980–1981; John Roger PAAS, The German Political Broadsheet, 1600– 1700, 7 Vols., Wiesbaden 1985–2002. For an introduction to the topic, see Robert L. HOLMES, On War and Morality, Princeton 1989; Stephen C. NEFF, War and the Law of Nations: a General History, Cambridge 2005; Frederick RUSSELL, The Just War in the Middle Ages, Cambridge 1975; Steven P. LEE, Ethics and War: an Introduction, Cambridge 2012; Gregory M. REICHBERG, Jus ad
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Peter had serious troubles on all three fronts. I am not going to spend much space on the first of these (the story of Russia’s legitimization of its attack on Sweden in 1700), as I have discussed it more thoroughly elsewhere17. It suffices to say that Peter originally justified his war as a retribution for disrespect and injuries that he had suffered while visiting Riga during his Grand Embassy to Europe in 1697, and for various damages caused by Swedish subjects to some Russian merchants and diplomats, which the Swedes had been unwilling to compensate for. What is important in the context of the conquest of the Baltic provinces is that Russia’s shifting war aims also led to a change in the argument as to why the war was actually initiated in the first place. This brings us to the second front, the question of recta intentio or Russian war aims. The conquest of Estland and Livland was never an explicit goal of the tsar, even if he secretly harboured thoughts of such an expansion when he went to war in 1700. A more realistic war aim, and the one agreed upon with his closest ally King August, was merely a reconquest of “old Russian territory” – Ingria and Karelia – which had been lost to Sweden during the Time of Troubles and relinquished officially with the peace treaty of Stolbovo in 1617. It was agreed prior to the war that Livland and Estland were to become August’s possessions18. The Saxon-Polish defeat at Riga and the thrashing of the Russian army by the Swedes at Narva in 1700 pushed even these plans into a realm of daydreaming. The decision of Karl XII to turn towards Poland and Saxony, rather than to go after the tsar, enabled Peter to recover his forces. By 1704, he had conquered Karelia and Ingria, including Narva, thus accomplishing his original war aims. On the tsar’s orders, General Sheremetev thoroughly devastated the territories of Estland and Livland. The tsar had acquired Au————————————
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Bellum, in War: Essays in Political Philosophy, ed. by Larry MAY, New York / Cambridge 2008, pp. 11–29; Nicholas RENGGER, The Jus in Bello in Historical and Philosophical Perspective, in ibid., pp. 30–46; and the source texts in: The Ethics of War: Classic and Contemporary Readings, ed. by Gregory M. REICHBERG / Henrik SYSE, Oxford 2006. Pärtel PIIRIMÄE, Johann Reinhold von Patkuli poleemilised kirjutised [Johann Reinhold von Patkul’s polemical writings], in: Läänemere provintside arenguperspektiivid Rootsi suurriigis 16./17. sajandil, Vol. III, ed. by Enn KÜNG, Tartu 2009, pp. 155–187, here: pp. 165–171. Shorter account in English: Pärtel PIIRIMÄE, Russia, the Turks and Europe (as in note 10), pp. 81–82. For a military and diplomatic history of Peter’s war, see esp. WITTRAM, Peter I (as in note 7). Cf. Robert I. FROST, The Northern Wars: War, State and Society in Northeastern Europe, 1558–1721, Harlow 2000; Ragnhild M. HATTON, Charles XII of Sweden, London 1968; David G. KIRBY, Northern Europe in the Early Modern Period: the Baltic World 1492–1772, London / New York 1990; HUGHES, Russia (as in note 11), pp. 22–65.
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gust’s consent for his campaign in these provinces when their alliance treaty was renewed at Birsen in 170119. The tsar promised to assist August’s war effort by conquering Estland and Livland for Poland. After the conquest of Dorpat (Tartu) in July 1704, he deliberately created the impression that he was willing to hand it over to August, despite calling it “our glorious patrimonial city” (slavnyi otechestvennyi grad) in his reports to Russian grandees on the successful siege20. The approach of the Swedish forces in 1708 prompted Peter to evacuate from Livland and systematically destroy the city of Tartu. The situation changed completely with the Russian victory achieved at Poltava, after which August acknowledged Peter’s possession of Estland, yet managed to squeeze out the promise to receive Livland from him in case of a successful conquest21. This agreement was still valid when Riga capitulated to the tsar’s forces in July 1710 and capitulation agreements were signed with the garrison and the burghers of Riga and the Ritterschaft of Livland. The tsar immediately started using the title “Lord and Possessor of the Dukedom of Livland, Ingria and Karelia”, yet he did not reject the contractual rights of August, instead postponing the final settlement to the peace treaty22. De facto conquest of Estland followed in September 1710 when capitulation agreements were signed with the garrison and burghers of Reval (Tallinn) and the Ritterschaft of Estland23. Russia acquired de jure recognition of possession of both provinces in the peace treaty of Nystad in 172124. Peter’s takeover of the provinces was not just a matter of dispute between him and August, but also of his public reputation. Namely, Peter justified ———————————— 19
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For Russian promises to Poland, see WITTRAM, Peter I (as in note 7), Vol. I, pp. 244– 262. Pis’ma i bumagi imperatora Petra Velikogo [Letters and papers of emperor Peter the Great], t. 3 (1704–1705), S.-Peterburg 1893, No. 680–683, pp. 104–108; WITTRAM, Peter I (as in note 7), Vol. I, p. 259. Ibid., Vol. I, p. 325. Ibid., Vol. I, p. 339. Published in: Die Capitulationen der livländischen Ritter- und Landschaft und der Stadt Riga vom 4. Juli 1710 nebst deren Confirmationen. Nach den Originaldocumenten mit Vorausstellung des Privilegium Sigismundi Augusti und einigen Beilagen, hg. v. Carl SCHIRREN, Dorpat 1865; Die Capitulationen der estländischen Ritterschaft und der Stadt Reval vom Jahre 1710 nebst deren Confirmationen. Nach den Originalen mit andern dazu gehörigen Documenten und der Capitulation von Pernau, hg. v. Eduard WINKELMANN, Reval 1865. §4 of the Nystad treaty. The contemporary treaty text in German, Swedish and Russian is available in: http://www.histdoc.net/nystad/nystad_title.html (14.11.2013).
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his campaign in Livland not with Russia’s independent rights to the province, but by his contractual obligations to August who was the one who allegedly possessed legal claims to it. Hence, Peter did not keep his promises to August in secret but publicly declared his intentions to hand over Livland to its rightful owner. In 1704, Peter published an official proclamation or “Universalia” to the inhabitants of Livland, which was also or even primarily directed to European audiences25. The document proclaimed that the tsar had invaded Livland “with a true and definite aim to return this province, which by the rights known to the entire world belongs to the Crown of Poland, and had been taken by the Crown of Sweden by violence and injustice, to the Crown of Poland”26. The tsar announced that until the handover, he would take the province under his protection, promising the preservation of everyone’s life, property and rights. The Russians repeated the same argument when the tsar’s troops moved again into Livland in 1709. They had to respond to an official publication (placate) issued by the General-Governor of Livland Nils Stromberg on 22 October 1709. Stromberg refers to the “patents” and “universalia” spread in the country by the Muscovites, which had coaxed the people to break their obligations as subjects of the king of Sweden and transfer allegiance to Russia. He expresses his opinion that his faithful subjects are reasonable enough not to trust such promises, considering Russians’ previous record of “murder, firebrand, unheard torture, deportation of innocent people to barbaric slavery.” Nevertheless, he prohibits expressly subjection to the enemy’s pro-
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Russian original in: Pis’ma (as in note 20), no. 713, pp. 149–153. Published in: [von SCHÜTZ,] Europäische Fama (as in note 1), pp. 336–341; Das Jm Augusto 1704 glücklich besiegte Narva, Durch Die nunmehro der Welt sich auf dem Europäischen Theatro zeigende Sieghaffte Waffen Des Allerdurchlaucht. und Großmächtigsten Czaarens und Groß-Fürstens in Moscau [et]c. Herrn Petri Alexievviz […], pp. 22 ff. Heinrich Doerries supposes that the proclamation was never printed and was only distributed through German newsletters: DOERRIES, Rußlands Eindringen (as in note 1), p. 163. Wittram therefore proposes that the information in “Europäische Fama” that the “Universalia” was “durch das gantze Lieffland publiciret” might have been an invention of Johann Reinhold von Patkul: WITTRAM, Peter I (as in note 7), Vol. I, p. 453. Both Doerries and Wittram were unaware of a 4-page separate print, a copy of which is held at the Tartu University Library: Universalia, So Ihre Czaarische Majestät in dem Hertzogthum Lieff-Land publiciren lassen [dat. 3. July 1704], see URL: http://dspace.utlib.ee/dspace/handle/ 10062/28299 (14.11.2013). It might be the case, however, that this was printed later with international audiences in mind. Universalia, So Ihre Czaarische Majestät (as in note 25), f. 1 v.
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tection for whatever reason and commands Livonians to join the Royal Army for the defence of the country27. The Russian response was written in the form of a public letter from General Sheremetev to Stromberg, dated 31 January 1710. It was described as “a clever answer” by a Russian-friendly publication aimed at Germanspeaking audiences in Europe28. It was, undeniably, a skilful development of the 1704 “Universalia”, employing arguments from political theory suitable for the case of Sweden’s Baltic provinces. Sheremetev argued that the tsar had indeed promised “to rescue the knighthood from Swedish servitude and from the hugely unjust reduction from which they have suffered for a long time, and to restore them to their old state and liberties”29. Peter pursued this “dessein” because he was Christian and just. The king of Sweden, on the other hand, had treated the provinces as stepchildren and abandoned them, offering them for free plunder in the course of eight years (the unintended irony was that it was the Russians who did the plundering). The main argument was that the king did not fulfil his duties to his subjects, but followed the instincts of vengeance and ambition when he left Livland to hunt down the king of Poland. Therefore, the subjects were by “the right of nature” dispensed from all their duties to the king, rather than obliged to join his forces against their own “saviour”. At this moment, the text appeals to the principle shared by all “reasonable people”, namely that “if the protection of the prince ceases, also the obedience and faith of the subjects ends, because this vinculum must surely be mutual”30. The letter continues that the future will demonstrate that the tsar will not only keep his own promises but also restore the “privileges, rights, laws and customs sworn but not kept by the Swedish authorities”. Stromberg’s accusations about Russian unchris———————————— 27
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Ihrer Königl. Majestät zu Schweden / Meines allergnädigsten Königes Raht / und General-Gouverneur Niels Stromberg […] Gegeben auff dem Königlichen Schlosse zu Riga den 22. Octobr. 1709, in Eesti Ajalooarhiiv (Estonian Historical Archives, EAA, Tartu): f. 1, säi. 2, nim. 36, l. 427. Des Königlichen Schwedischen General-Gouverneurs zu Riga, Niels Strohmbergs, wider Jhro Groß-Czaarische Majestät heraus gegebenes Manifest, und die Von dem Moscowitischen Obristen Baris Schermetef darauff wohlgefaßte und kluge Antwort, Gedruckt in ult. Januario 1710 [s. l.], unpag. “[...] darin die Versicherung gegeben / daß eine Wol gebohrne Ritter- und Landshafft / von der Schwedischen Servitude, und von der / so lange Zeit mit dem Reductions- und Liquidations-Gewalt / und in vorigen Stand und alte Freyheit restituiret werden solte.” Ibid. “[...] wo eines großen Herrn Schutz auffhöret / da cessiret auch der Gehorsam und die Treue der Unterthanen / weil dieses vinculum billig mutuum seyn muß.” Ibid.
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tian and barbaric acts are rejected as false accusations. The text ends with sarcastic remarks on the calls to join the Swedish forces, which exist only as “chimera, but not in rerum natura”31. This publication provides a central propagandistic context for the capitulations signed with the Baltic estates half a year later. The argument that obligation is conditional on protection goes back to the idea of mutual ties of faith between the feudal suzerain and his vassal, but it was also a central claim in the contractual theory of sovereignty by modern natural law theorists such as Thomas Hobbes, Samuel Pufendorf and John Locke. Reinhard Wittram supposes that the author of the text might have been Gerhard Johann von Löwenwolde, a nobleman from Estland who had previously served King August and in 1709 entered the service of the tsar32. This hypothesis is plausible, considering that the theory of mutual contract was anathema not only to the apologists of the absolute power of the Swedish king, but even more to the Divine right absolutism of the Russian tsardom. The theory reflected rather precisely the views of the Baltic noblemen who had protested against the absolutist policies of Charles XI in Livland33. This shows clearly the length to which the Russians were willing to go to secure the possession of the provinces. At this moment they did not worry about the potential for future disobedience inherent in these contractual arguments, as a more acute worry was how to create a legal framework against the claims of both the king of Sweden and the king of Poland. Sheremetev’s letter avoided open antagonism with August, leaving the possibility that the “saviour” would relinquish the provinces to him as the future overlord. Yet the shift of the argument from the historical-legal claims of Poland to the voluntary act of the local estates suggested that the tsar could easily replace August as a new legitimate overlord, should the Livonians choose to subject themselves to him. The extensive promises outlined in the letter amount to nothing but a call upon the nobilities to do exactly this. The desired voluntary act of submission was then indeed secured by the capitulations. In Estland the matter was easier for the Russians than in Livland, because Poland could demonstrate no stronger historical claims over this province ———————————— 31 32 33
Des Königlichen Schwedischen General-Gouverneurs (as in note 28). WITTRAM, Peter I (as in note 7), Vol. I, pp. 326–327, 332–333. Johann Reinhold von Patkul expressed very similar views about the constitutional relationship of Livland to its Polish and Swedish overlords. Cf. Pärtel PIIRIMÄE, Swedish or Livonian patria? On the identities of Livonian nobility in the seventeenth century, in: Baltic regionalism, ed. by IDEM / Andres ANDRESEN, Special Issue of Ajalooline Ajakiri. The Estonian Historical Journal 2012, no. 1–2, pp. 13–32.
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than Russia, and any claims August might have had were renounced by him in the treaties of 1709. August’s claims over Livland, however, were by no means brushed aside by the capitulations, as he believed that only he had been entitled to receive the allegiance of the local estates due to his historical rights. This is why Russia started to invent new legal claims against Sweden, in order to broaden, in retrospect, the scope of Russia’s legitimate war goals. These claims were publicly launched in Petr Shafirov’s “A discourse concerning the just causes of the war between Sweden and Russia”, the most extensive and thoroughly argued piece of propaganda produced by Russians during the war34. Shafirov’s discourse, written in 1716 and published in 1717 in both Russian and German35 (and in 1722 also in English36), consisted of three main parts: first, the exposition of “the just, weighty and lawful causes” for Peter’s attack on Sweden in 1700; second, the demonstration that the king of Sweden was “the Cause of the long Continuance of this war”; and third, that the tsar had waged the war “according to the Custom and Maxims of all civilized and Christian Nations”37. The first part was largely new compared to the original legitimation of war from 1700. Shafirov distinguished between “ancient and modern causes”, which “necessitated” the tsar to begin the war. The modern causes were the affronts received at Riga that had formed the essence of the original justification, which Russian Ambassador Matveev had presented in The Hague in the autumn of 170038. But Shafirov put much more emphasis on the “ancient” ones. These consisted of the territorial pretensions of Russia towards Sweden. It is important to point out again that from the legal standpoint ———————————— 34
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I will quote from the reprint which contains both the English and Russian version: [Petr P. SHAFIROV,] A Discourse Concerning the Just Causes of the War between Sweden and Russia, 1700–1721, ed. by William E. BUTLER, Dobbs Ferry, N.Y., 1973. The text is assessed in: CRACRAFT, The Petrine Revolution (as in note 11), p. 186 ff.; Lauri MÄLKSOO, The History of International Legal Theory in Russia: a Civilizational Dialogue with Europe, in: The European Journal of International Law 19 (2008), pp. 211–232; PIIRIMÄE, Russia, the Turks, and Europe (as in note 10), passim. [Petr P. SHAFIROV,] Rassuzhdenie. Kakie zakonnye prichiny ego tsarskoe velichestvo Petr Pervyi, tsar’ i povelitel’ Vserossiiskii […] k nachatiiu voiny protiv korolia Karla XII, Shvedskogo, v 1700 godu imel […], Moscow 1717; Raisonnement, Was für Rechtmässige Ursachen Se. Czaarische Majest. Petrus der Erste / Czaar und Kayser aller Reußen [...] gehabt, den Krieg wieder den König in Schweden Carolum den XIIten, Ao: Christi 1700. anzufangen [...], St. Petersburg 1717. The English translation was published as an appendix to: Friedrich Christian WEBER, The Present State of Russia, 2 Vols., London 1722–1723. [SHAFIROV,] A Discourse (as in note 34), pp. 239–240. Ibid., pp. 274–290.
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there were two different sets of territories under debate. First, Karelia and Ingria, which had formerly belonged to the tsars of Russia but had been lost to Sweden with the peace treaty of Stolbovo in 1617. Second, Estland and Livland, which had never legally belonged to the tsars or the grand dukes of Muscovy – they had only been in their (partial) possession during the wars in the second half of the 16th century and in the 1650s, but were relinquished again in subsequent peace agreements. This distinction had been quite clear throughout the Great Northern War, and it was reflected in the agreements with Poland, as we saw above. It was much easier to justify the attempt to recapture relatively recently lost provinces (even though the loss was legally acknowledged in a treaty), compared to the acquisition of entirely new ones. In fact, already in 1700, a semi-official pro-Russian pamphlet supplemented the official reasons (affronts in Riga) with some more realistic ones. One of these was the argument that the provinces of Ingria and Karelia, which “since olden times have undisputedly belonged to the Grand Duchy of Muscovy”, had been seized by Sweden, taking advantage of Muscovy’s “internal troubles” in the early 17th century. No similar claims were advanced towards Livland or Estland in this pamphlet39. One of the chief aims of Shafirov’s text was to blur this crucial distinction. Shafirov starts with the demonstration that Ingria and Karelia “did of old make part of the Russian Empire” and that the Peace of Stolbovo had been an “extorted Treaty” and therefore illegitimate. However, he does not stop there but suggests an analogy with how Estland and Livland had been taken from Russia during the Livonian War: The Swedes being convinced in their Conscience, by the like unjust Means they had wrested from Russia and annexed to their Kingdom the Provinces of Livonia and Esthonia, which formerly partly had belonged to the Dominions of the Czars of Russia, partly had been under their Protection and paid Tribute to them; they stipulated in this Treaty, and made the Russian Ambassadors consent to it, that Russia should resign all its Pretensions to the said Provinces [Ingria and Karelia; P.P.]. […] In this manner the Crown of Sweden became possessed of the foresaid Provinces, contrary to all Equity and
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Printed in: Livonica, Oder einiger Zu mehrer Erläuterung Der Mit Anfang des 1700. Jahrs in Lieffland enstandenen Unruhe dienlicher Stücke und actorum publicorum, s. l. [1703], fasc IV, pp. 37 ff. The text, written by J. R. von Patkul, is discussed in PIIRIMÄE, Johann Reinhold von Patkuli poleemilised kirjutised (as in note 17), pp. 166–169.
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Charity, and against many Pacifications and Defensive Alliances, to the irreparable Damage of the Russian Empire [...]40.
Shafirov accumulates historical evidence that in his view proves that Livland and Estland had formerly been “under the Jurisdiction and Protection of the Russian Crown”. Here he could resort to claims that had already been launched during the Livonian War, including the “building” of Dorpat in 1030 by Yaroslav, the Grand Prince of Kiev, and the “Dorpat tribute” which allegedly proves that the bishops and the Teutonic Order only held the territories as vassals of Russian monarchs41. Shafirov also suggests that various treaties between Russia and Sweden concluded in the second half of the 16th century amounted to the Swedish renunciation of their claims to Livland and Estland, but he does not introduce the reader to the treaties in which the Russians renounced their own claims42. Nor does he mention the documents that formed the actual legal basis for the Swedish possession of the provinces, namely the contracts of submission concluded in 1561 by King Erik XIV with the city of Reval and the nobilities of Harrien-Wirland, and the treaties of Altmark and Oliva with Poland. All this indicates that “A Discourse” was written for a broader international audience that was not necessarily informed of the basic facts in the history of the region. In this new retrospective legitimation, the Baltic capitulations played no explicit role at all. Neither was the annexation of the provinces mentioned in the latter parts of the text, which dealt with Russia’s peace offers and conduct in war. This seems to suggest that Shafirov, who was undoubtedly one of Russia’s chief ideologists at the time, did not think of the 1710 treaties as the best or most appropriate legal basis for the possession of the provinces. We can only speculate about his reasoning in 1716, just like we can only ———————————— 40
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[SHAFIROV,] A Discourse (as in note 34), p. 269. Cf. Reinhard WITTRAM, Die Unterwerfung Livlands und Estlands 1710, in: Geschichte und Gegenwartsbewußtsein: historische Betrachtungen und Untersuchungen. Festschrift für Hans Rothfels zum 70. Geburtstag, hg. v. Waldemar BESSON, Göttingen 1963, pp. 278–310, here: pp. 307–308. “Accordingly the Bishops and Heer-meisters (Commanders of the Teutonick Order) who governed over the said Cities, owned the Russian Monarchs for their supreme Lords, and paid a yearly Tribute to them as Vassals [...]”.[SHAFIROV,] A Discourse (as in note 34), p. 242. On Ivan IV’s claims on Livonia, see Anti SELART, Livland – ein russisches Erbland?, in: Russland an der Ostsee. Imperiale Strategien der Macht und kulturelle Wahrnehmungsmuster (16. bis 20. Jahrhundert) / Russia on the Baltic: Imperial Strategies of Power and Cultural Patterns of Perception (16th – 20th Centuries), ed. by Karsten BRÜGGEMANN / Bradley D. WOODWORTH, Wien / Köln / Weimar 2012 (Quellen und Studien zur baltischen Geschichte 22), pp. 29–65. [SHAFIROV,] A Discourse (as in note 34), pp. 242–257.
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speculate about Russian motives when they signed the treaties in 1710. It seems possible that the central contractualist idea of the LöwenwoldeSheremetev text from 1710, which emphasized the voluntary and mutually binding character of the capitulations that followed, was held instrumentally useful at the time of its publication but was later found to be prejudicial to the rights of monarchs. Shafirov’s argument emphasizes, instead, Russia’s historical rights and the tsar’s freedom to act in claiming them. While Shafirov never referred to Livland and Estland as “patrimonial lands” (in Russian: votchina / otchina) in the style of Ivan IV – this would not have been accepted internationally43 – he effectively argued that it was Russia’s justified historical claims that entitled the tsar to offer protection and accept submission. As the text was directed to broader European audiences, the chief aim of this argument was to render the acquisition of the provinces at a future peace conference more palatable. But the suggestion that the lands were now in the hands of their ‘rightful’ owner also constrained the future liberty of the new subjects to swap overlords again in case they felt their privileges were violated. The creation of a legal basis for the possession of the provinces that was independent of the capitulations and the Nystad peace treaty was definitely viewed as desirable by the Russians, particularly considering that the wording of the capitulation treaties (especially various clauses in the General-Confirmationen) had already sown seeds for future disagreements, whether or not the successors of Peter the Great were legally bound to confirm the Baltic privileges. The Baltic Provinces and Peter’s Imperial Title What is the relationship of the 1710 agreements to Peter the Great’s imperial title? As indicated above, in various documents signed in relation to the Baltic capitulations, Peter used the titles ‘imperator’ and ‘Kaiser’, in addition to his traditional title ‘tsar’ (as in the German Gross-Czaarische Majestät). The first of these instances was the “Universal” for Estland from 16 August ———————————— 43
At the Nystad peace negotiations a clear distinction between Russia’s “patrimonial” lands and new acquisitions was made: WITTRAM, Peter I (as in note 7), Vol. 2, pp. 455–456. In the domestic propaganda, by contrast, Narva and Tartu (and sometimes entire Livland) were habitually called “patrimonial” (otechestvennye): Elena POGOSIAN, Zavoevanie Baltiiskikh zemel’ v ofitsial’noi ideologii Petra I (1703–1705 gg.) [The conquest of the Baltic lands in the official ideology of Peter I (1703–1705)], in: Na perekrestke kul’tur: russkie v Baltiiskom regione. Ch. 1, Kaliningrad 2004, pp. 144–153.
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1710, in which the tsar bore the title “von Gottes Gnaden Czaar und Imperator von allen Reussen”44. A similar formulation followed in the capitulations of the Estonian Ritterschaft45 and the city of Reval46, and in the general confirmation of the privileges of the Livonian Ritterschaft47 and the city of Riga48. This had not been the usage in earlier diplomatic documents of the Russian chancellery. Since it was the same period that the tsar’s officials started demanding the acknowledgement of the new title by other European states, the question arises whether there might have been any connection between the acquisition of the provinces and the adoption of the new title. Was there anything special about the possession of these provinces, or about the manner in which these provinces were acquired, which changed the legal status of the Russian rulers and made the ‘tsar’ into an ‘emperor’? It might be tempting to argue that since the concept ‘empire’ implies the amalgamation of a number of kingdoms and lands, the acquisition of Livland and Estland transformed the character of the tsar’s gosudarstvo to the extent that it became an ‘empire’ and the ‘tsar’ was transformed into an ‘imperator’. One may also point to the fact that the provinces had formerly been a part of the Holy Roman Empire. Perhaps this elevated the status of the tsar? These suggestions, however, are not corroborated by contemporary sources. The endeavour of Peter the Great to find acknowledgement for his imperial title was met with resentment by a number of European powers, especially the Emperor49, which is why the Russians made an effort to find the most convincing justification for the adoption of the title. The acquisition of the Baltic provinces was never used to support the imperial title. Instead, the Russians argued that it was not a new title at all but that ‘Kaiser’ and ‘imperator’ were the correct German and Latin translations of the Slavonic ‘tsar’, which the grand dukes of Muscovy had intermittently used from the 15th century and officially adopted in 1547. The trouble was that heretofore the Western powers had not acknowledged that ‘tsar’ is an equiv———————————— 44 45 46 47 48
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Die Capitulationen der estländischen Ritterschaft (as in note 23), p. 21. Ibid., p. 59. Ibid., p. 44. Die Capitulationen der livländischen Ritterschaft (as in note 23), pp. 47–49. Ibid. pp. 73–75. The Russian version was “My Petr’ Pervyi, Bozheiu milostiiu Tsar’ i imperator Vserossiiskii i prochaia i prochaia” [We, Peter the First, By the Grace of God Tsar and Emperor of All Russia etc, etc.]. References to other documents in WITTRAM, Peter I (as in note 7), Vol. 1, p. 480, note 53. Ibid., Vol. II, pp. 462–474; Karl-Heinz RUFFMANN, England und der russische Zarenund Kaisertitel, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 3 (1955), pp. 217–224.
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alent title to ‘emperor’, as this would have meant to recognize both the equality of Muscovite grand dukes with the Holy Roman Emperor and his superiority to European kings. In the 16th century, the title ‘tsar’ was generally not translated as ‘Kaiser’ or ‘imperator’ but transcribed as ‘tsar’ or ‘czar’, thus preserving its Slavonic character. The fact that ‘tsar’ was just another derivation from the Roman ‘Caesar’ either escaped notice or it was not considered as important50. There were exceptions to this translation practice. The English did not find it problematic in the 17th century to address Muscovite grand dukes as ‘emperor’ and the French occasionally addressed tsars as Empereur des Russies51. This usage did not, however, suggest the equality of tsars with the Holy Roman Emperor, but it showed that the tsars were considered as exotic rulers outside the orbit of the Christian commonwealth of nations. Once Tsar Peter started to play a greater role in European diplomacy and to claim his equality with the Holy Roman Emperors around 1710, attitudes changed and European governments refrained from such usage. When Russian negotiators Gavriil Golovkin and Petr Shafirov presented in 1717 to the English side the 17th-century letters as proof of the imperial title, the English negotiator Charles Whitworth said that the embellished titles had been customary in letters sent to “Turkey, Marocco, China, and other nations shut out of the pale of Christianity, and the common course of Correspondence”, and if the tsar wanted to be treated as a European ruler, he must be contented with the style used for the king of France52. But the Russians were able to uncover even more significant evidence. In 1514 Emperor Maximilian had addressed Tsar Vassili III as “brother” and “Käyser und Herscher aller Rewssen”. This unique departure from the cus———————————— 50
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On the adoption of the title ‘tsar’, see Aleksandr I. FILIUSHKIN, Tituly russkikh gosudarei [Titles of Russian rulers], Sankt-Peterburg 2006; Jaakko LEHTOVIRTA, Ivan IV as Emperor: the Imperial Theme in the Establishment of Muscovite Tsardom, Turku 1999; Isabel de MADARIAGA, Tsar into Emperor: the Title of Peter the Great, in: Royal and Republican Sovereignty in Early Modern Europe. Essays in Memory of Ragnhild Hatton, ed. by Robert ORESKO et al., Cambridge 2006, pp. 351–381; Sergey BOGATYREV, Reinventing the Russian Monarchy in the 1550s: Ivan the Terrible, the Dynasty, and the Church, in: The Slavonic and East European Review 85 (2007), pp. 271–295; Hedwig FLEISCHHACKER, Die staats- und völkerrechtlichen Grundlagen der moskauischen Außenpolitik (14.–17. Jahrhundert), Breslau 1938 (Jahrbücher für Geschichte Osteuropas, Beiheft 1). MADARIAGA, Tsar into Emperor (as in note 50), pp. 367–368. The English translated the title of Ivan the Terrible as follows: “We, greatest Ivan Vassilleviche by the Grace of God Emperor of all Russia and Great Duke”, FILIUSHKIN, Tituly (as in note 50), p. 113. Quoted from RUFFMANN, England (as in note 49), p. 223.
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tom of preserving the Slavonic title or translating it as ‘rex’ had been caused by the wish of the Emperor to form an alliance against Poland-Lithuania53. The letter was published in 1718 in German to prove that the Holy Roman Emperor, “the first among the monarchs of the world” had already recognized the imperial title54. This text was mentioned in all contemporary publications that discussed Peter’s claim on the imperial title. After Peter was unilaterally declared ‘imperator’ by the Senate and the Synod in 172155 and the Russians increased their efforts to find acknowledgement for the new title, several treatises were published in Europe that provided a systematic analysis of Russia’s claims. It was generally concluded that it was a mistake to translate the Slavonic ‘tsar’ as ‘Kaiser’ or ‘imperator’ because ‘tsar’ means a ruler who is roughly equivalent to European kings – he is above the dukes but definitely inferior to a ‘Caesar’56. Evidence was produced which showed that in the 17th century the tsars had made attempts at the court in Vienna to find acceptance for their imperial title but were even refused the title ‘majesty’ on the grounds that the Christian world had only one emperor57. ———————————— 53
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MADARIAGA, Tsar into Emperor (as in note 50), pp. 260–361; RUFFMANN, England (as in note 49), p. 217. Nachdeme man in der Reichs-Gesandten-Cantzeley in Mosko die alte Archiven durchsuchen und registriren lassen ist darunter ein Original-Schreiben von Ihro Majestät dem Römischen Käyser Maximiliano […] gefunden worden, welches Seine Majestät Anno 1514 […] an den Czaaren und Groß-Fürsten […], St. Petersburg 1718. Published also in Friedrich Christian WEBER, Das veränderte Russland, in welchem die ietzige Verfassung des geist- und weltlichen Regiments […], 2 Vols., Frankfurt 1721, here: Vol. I, pp. 356 ff. Weber writes that the document was found by Shafirov in Moscow archives in March 1719, but his dating appears wrong, as the text was introduced to the ministers of Holland in German and Dutch in 1718: [Philipp Balthasar Sinold von SCHÜTZ,] Europäische Fama, Welche den gegenwärtigen Zustand der vornehmsten Höfe entdecket. Der 214 Theil, [Leipzig] 1718, p. 878. Vienna disputed the authenticity of the letter but in the 19th century it was proved to be genuine: MADARIAGA, Tsar into Emperor (as in note 50), p. 374. MADARIAGA, Tsar into Emperor (as in note 50), 351. Analyzed in: Elena POGOSIAN, Petr I – arkhitektor rossiiskoi istorii [Peter I – the architect of Russian history], SanktPeterburg 2001, part 2, ch. 1, § 3. Martin SCHMEIZEL, Oratio inauguralis de titulo imperatoris, quem tzaarus Russorum sibi dari praetendit, Jena 1722, p. 27; [Friedrich Ludwig von BERGER,] Politisches Bedencken Uber die Frage: Ob Der Kayserliche Titul und Nahmen […] dem Czaaren von Rußland communiciret werden könne?, [s. l.] 1722, p. 16. Cf. [von SCHÜTZ,] Europäische Fama (as in note 54), p. 884. “nulli in orbe christiano, nisi unico et soli romanorum imperatori, debitam [...]”: [von BERGER,] Politisches Bedencken (as in note 56), p. 22; Cf. [von SCHÜTZ,] Europäische Fama (as in note 54), p. 885; SCHMEIZEL, Oratio (as in note 56), pp. 47–48.
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Friedrich Ludwig von Berger explained in 1722 that the difference between ‘empire’ and ‘kingdom’ was qualitative, not quantitative: it did not depend on the size of the state, nor on the number of acquired kingdoms, otherwise the Spanish and the British would have become emperors long ago. ‘Empire’ was a purely legal concept and in Europe there could be only one such realm. If the estates of some state conveyed ‘titulum imperatorium’ to their ruler, they were free to do so (albeit such a step was unheard of in Europe), but it did not concern the other nations58. Of course, it was also a free choice of other rulers to call the Russian tsars as they wished, as Balthasar von Schütz remarked in 1718. He wrote that the occasional attributions of the imperial title by various European states had taken place “aus Complaisance, aus geheimen Absichten und einem Particulair-Interesse”, and could not be taken as a general rule or sign of universal acknowledgement59. Against this background it is clear that we should not attribute too much significance to the fact that the tsar was called ‘imperator’ in the Baltic capitulations. If the acquisition of Tartar ‘kingdoms’ or ‘tsardoms’ of Kazan and Astrakhan by Ivan IV in the 1550s was not sufficient to turn him into an ‘emperor’60, it is quite clear that the acquisition of mere provinces from the Swedish kingdom could not accomplish this either. Also, the acceptance of the imperial title by Livonian and Estonian estates was not significant as a legal precedent because the European kings were not fully convinced even by the precedent set by the Emperor, not to speak of other kings or lesser rulers. Russian governments had to negotiate with each of them separately, using opportune diplomatic moments, yet it took several decades to achieve a universal acceptance of the title61. If the usage of the imperial title in the documents related to capitulations had been an important step in the long term policy of securing the title, the tsar’s officials would have surely used ‘Kaiser’ and ‘imperator’ in all documents signed in 171062. ———————————— 58 59 60
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Politisches Bedencken (as in note 56), pp. 25–42. [von SCHÜTZ,] Europäische Fama (as in note 54), pp. 885–886. For von Berger, the possessions of Kazan and Astrakhan were sufficient to prove that the tsars were more than dukes or grand dukes: [von BERGER,] Politisches Bedencken (as in note 56), p. 17. Cf. MADARIAGA, Tsar into Emperor (as in note 50), p. 362. Prussia, the Netherlands and Sweden acknowledged the title in 1721/22 but the other major powers did this only after the death of Peter the Great: the Emperor in 1726, Britain in 1742, France in 1745, Spain in 1759 and Poland as late as in 1764. RUFFMANN, England (as in note 49), p. 220; WITTRAM, Peter I (as in note 7), Vol. II, pp. 468. Several documents used the old Slavonic title: in the general confirmation of the privileges of the Estonian Ritterschaft the tsar was called “Gottes Gnaden Czaar und Beherrscher aller Reussen”. Die Capitulationen der estländischen Ritterschaft (as in note 23), pp. 80–
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The move to the title ‘imperator’ should be seen in the context of the great victory achieved by Peter over Charles XII at Poltava in 1709. This was a decisive moment in Peter’s shift from a Byzantine to a Roman imperial model63. Peter’s claim of the imperial title was not so much a resurrection of “the empire of the East”, as suggested by Isabel de Madariaga64, but a return to the original Roman military meaning of the word ‘imperator’, in which Peter’s own personality as a military leader played a central role. Richard Wortman concludes that “after Poltava, the visual arts openly characterized Peter as emperor and god”65. The triumphs at Riga and Reval in 1710 were included in such picture programmes as further signs of imperial prowess and glory66. Their distinctively European style emphasized the European character of Peter’s reinvigorated empire. The estates of the Baltic provinces were, of course, not in a position to resist the self-glorification of Peter as a resurrected Roman emperor, nor had they any motive to do so, as the imperial title of their new ruler heightened also their own status. From the Russian point of view, the adoption of the Latin imperial title vis-à-vis Estland and Livland did not represent a major innovation, because already in the late 15th century the rulers of Livonian lands (the Master of the Livonian branch of the Teutonic Order, the Archbishop of Riga and the bishops of Dorpat and Ösel) had accepted the title ‘Kaiser’ of the Muscovite grand dukes in the diplomatic documents67. This ————————————
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81. In the capitulation of the Livonian Ritterschaft: “Gross-Czaarische Majestät”; in the tsar’s resolutions on the Accord-Punkte with the Livonian Ritterschaft and the city of Riga: “Czaarische Majestät”, Die Capitulationen der livländischen Ritterschaft (as in note 23), pp. 35–46, 51–56, 76–79. Richard WORTMAN, Scenarios of Power. Myth and Ceremony in Russian Monarchy, Vol. I: from Peter the Great to the Death of Nicholas I, Princeton 1995, pp. 43–49. MADARIAGA, Tsar into Emperor (as in note 50), p. 376. WORTMAN, Scenarios of Power (as in note 63), p. 49. E.g., the series of commemorative medals commissioned by Peter and crafted by Philipp Heinrich Müller in 1712–1713. Ivan G. SPASSKII / Evgeniia S. SHCHUKINA, Medali i monety Petrovskogo vremeni; iz kollektsii Gosudarstvennogo Ermitazha = Medals and Coins of the Age of Peter the Great: from the Hermitage Collection, Leningrad 1974; Iurii P. PETRUNIN, Severnaia voina v medaliakh i monetakh (1700–1721) [The Northern War in medals and coins (1700–1721)], [Moscow] 2009. In fact the armistice treaty signed between the Bishop of Dorpat and Novgorod and Pskov in 1474 was the first instance when Ivan III was officially called “tsar”. Document reference in: FILIUSHKIN, Tituly (as in note 50), p. 78; cf. FLEISCHHACKER, Die staats- und völkerrechtlichen Grundlagen (as in note 50), p. 27. Ruffmann mentions a treaty from 1473 but this seems to be a mistake. RUFFMANN, England (as in note 49), p. 217. For the usage of “Kaiser” in Livonian-Russian relations in the 15th century, see Russisch-
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was not accidental but the title was imposed by the Russians as a sign of the superior status of Muscovite rulers. This was even more emphatically demonstrated by the practice of enforcing Livonians to sign treaties with the governors of Novgorod and Pskov rather than with the grand dukes themselves68. These practices had been well developed even before the grand dukes were crowned tsars (Ivan IV was the first in 1547) and before they started to regard Livonia as their ‘patrimonial’ land (this idea was developed at the early stages of the Livonian War69). The Russians succeeded in imposing the same humiliating practice on the earlier Vasa kings whom they regarded as inferior usurpers of the throne70. Their other Western neighbours, the Polish kings, were very well aware of the implication of superiority of the imperial title. Not only did they obstinately refuse to accept it but they also made diplomatic efforts to persuade the Emperor and the pope to follow their example71. Thus Tsar Peter’s chancellery could draw upon several centuries of diplomatic wrangling about the title. The Baltic lands had played a distinct yet minor role in this story. Conclusions The conquest of the Swedish Baltic provinces of Livland and Estland from 1704 to 1710 was undoubtedly a military triumph for Peter the Great. Yet the transformation of a de facto possession into a de jure acquisition was far from straightforward, considering the original justification for the war, treaties concluded with Poland-Saxony, the attitudes of the local elites and the international diplomatic situation. In this context, the Russian government ————————————
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livländische Urkunden, hg. v. Karl Eduard NAPIERSKY, St. Petersburg 1868, nos. 306, 316, 349, 369, 378, 380; Quellen zur Geschichte des Untergangs der livländischen Selbständigkeit, hg. v. Carl SCHIRREN, 8 Bde., Reval 1861–1881, passim; Neue Quellen zur Geschichte des Untergangs der livländischen Selbständigkeit, hg. v. Carl SCHIRREN, 3 Bde., Reval 1883–1885, passim. Norbert ANGERMANN, Studien zur Livlandpolitik Ivan Groznyjs, Marburg/Lahn 1972 (Marburger Ostforschungen 32), pp. 22–23; FLEISCHHACKER, Die staats- und völkerrechtlichen Grundlagen (as in note 50), pp. 86–93. SELART, Livland – ein russisches Erbland? (as in note 41), pp. 38–41. FLEISCHHACKER, Die staats- und völkerrechtlichen Grundlagen (as in note 50), pp. 97– 118; Sergei BOGATYREV, Ivan the Terrible Discovers the West. The Cultural Transformation of Autocracy during the Early Northern Wars, in: Russian History / Histoire Russe 34 (2007), No. 1–4, pp. 161–188. MADARIAGA, Tsar into Emperor (as in note 50), pp. 360–362.
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was constantly paying attention to the propagandistic aspects of its actions in the Baltic provinces. The capitulations of 1710 did not emerge on the spur of the moment but the ground was prepared by earlier treaties and promises made since 1704. Their general aim was to portray the process of conquest as a voluntary and legitimate submission by the representatives of the provincial elites in the situation where their former rulers were unable to protect them. It is difficult to assess to what extent the chosen language of voluntary submission affected the tsar’s campaign in the provinces. It did not prevent Peter from destroying the city of Dorpat in 1708, but after Poltava, when he became more confident about his prospects to acquire both Estland and Livland, a combination of practical and propagandistic considerations prompted him to adopt milder methods of campaigning and to show greater leniency towards his future subjects. The Baltic estates were able to capitalize on this situation and negotiate extraordinarily generous conditions in the 1710 treaties. Yet very soon after signing these documents the Russians started reinventing the legal basis for their possession of the provinces, which effectively undermined the capitulation framework established in 1704–1710. The re-emergence of the discourse of the historical rights of Russian tsars that had originally been conceived during the Livonian War stood in contrast with the contractualist nature of the 1710 treaties and sowed seeds for future debates and conflicts about their legal status. The capitulations also offered the opportunities to insert into juridical documents the title ‘imperator’, which Peter had started to adopt since the successful battle of Poltava. In the case of the Baltic provinces, this represented a return to the 16th-century practice when the Livonian rulers had been the first foreign powers to accept the Latin imperial title of the Muscovite grand dukes. It would be a mistake to see the acceptance of the imperial title by the Baltic corporations as an important legal precedent. It took decades before the other European rulers could be persuaded to accept the imperial title and the case of the Baltic provinces never figured in these debates. Yet the usage of the new title in the capitulation documents was another clear sign of the aspirations of Peter the Great. We may conclude that the capitulations of 1710 were not only legal documents that established the framework for the future government of the Baltic provinces within the Russian empire but they were also rhetorical exercises which affirmed Tsar Peter’s status as a military hero, a resurrected Roman emperor, a Christian Caesar and a thoroughly laudable and admirable European ruler.
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Der Systemwechsel in der Kirchenleitung Estlands nach 1710 und seine Bedeutung für ein Paradigma der deutschbaltischen Geschichtsschreibung* Ein Fundament der deutschbaltischen Lebenswelt in den Provinzen Estland und Livland war die ständische Selbstverwaltung. Als im Zuge des Nordischen Krieges in dieser Region die schwedische Herrschaft von der russischen abgelöst wurde, bestätigte die russische Seite die Selbstverwaltungsrechte der lokalen Stände zusammen mit ihren anderen weit reichenden Privilegien in den Kapitulationen von 1710 sowie im Jahre 1721 im Friedensvertrag von Nystad. In der folgenden Zeit waren die Deutschbalten sich dessen wohl bewusst, dass ihre gesellschaftliche Position in den baltischen Gouvernements des Russländischen Reichs direkt vom Willen des Zentrums abhing, die in den oben genannten Rechtsakten bestätigten Privilegien weiterhin anzuerkennen. Gerade wegen der erwähnten Umstände wurde in der deutschbaltischen historisch-politischen Ideenwelt für lange Zeit der Grundgedanke der Rechtskontinuität sowie das aus dieser Kontinuität abgeleitete Prinzip der Rechtmäßigkeit in einem ausgeprägten Maße unterstützt1. Am deutlichsten und einflussreichsten verkündete der Historiker und Publizist Carl Schirren die Treue der Deutschbalten zu dem in den Kapitulationen und in dem Friedensvertrag von Nystad bestätigten Landesrecht2. Das stärkste Argument der Ritterschaften gegen die sich im 19. Jahrhundert all————————————
* Der vorliegende Beitrag wurde mit Unterstützung des Projekts „Baltic Regionalism: Constructing Political Space(s) in Northern Europe, 1800–2000“ im Rahmen des Forschungsprogrammes „Nordic Spaces: Formation of States, Societies and Regions, Cultural Encounters, and Idea and Identity Production in Northern Europe after 1800“ verfasst. Die Übersetzung aus dem Estnischen besorgten Olaf und Marju Mertelsmann. Alle Daten sind im alten Stil angeführt. 1 Zur Einführung siehe z.B. Gert von PISTOHLKORS, Die Livländischen Privilegien: ihre Deutungen, Umdeutungen und praktischen Umsetzungen in der neueren baltischen Geschichte, in: Reiche und Territorien in Ostmitteleuropa. Historische Beziehungen und politische Herrschaftslegitimation, hg. v. Dietmar WILLOWEIT / Hans LEMBERG, München 2006, S. 285–309. 2 Carl SCHIRREN, Livländische Antwort an Herrn Juri Samarin, Leipzig 1869, passim. Siehe auch Reinhard WITTRAM, Carl Schirrens Livländische Antwort, in: DERS., Das Nationale als europäisches Problem, Göttingen 1954, S. 161–182.
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mählich ausweitenden Unifizierungsbestrebungen, mit welchen das Zentrum immer mehr darauf abzielte, den bisherigen privilegierten Status der deutschbaltischen Stände zu begrenzen, waren die in den Kapitulationen und im Frieden von Nystad bekräftigten Privilegien. In der deutschbaltischen Geschichtsschreibung steht Georg von Rauch zufolge „das Prinzip der Autonomie der Stände und des Landes, sowohl in der Wirklichkeit als Politikum als auch als geschichtlicher Gegenstand, im Zentrum der Aufmerksamkeit“3. Deutschbaltische Historiker haben die Entwicklung der ständischen Selbstverwaltung nach 1710 in Grundlinien entlang einer einheitlichen Konzeption behandelt, was Anlass gibt, von einem deutlich entwickelten Paradigma bezüglich dieser Frage zu sprechen. Gemäß diesem Paradigma wurde in den baltischen Provinzen entsprechend der Bedingungen der Kapitulationen und des Friedensvertrags von Nystad die Selbstverwaltungsordnung der Zeit vor den absolutistischen Reformen Karls XI. in den achtziger und neunziger Jahren des 17. Jahrhunderts wieder hergestellt. Somit restituierten die Estländische und die Livländische Ritterschaft sowie die Magistrate von Reval und Riga nur ihre früheren Selbstverwaltungsrechte4. Als eine Besonderheit des Gouvernements Estland betonen sowohl Reinhard Wittram als auch Gert von Pistohlkors die starke Rechtskontinuität5. Im vorliegenden Beitrag werden die Veränderungen in der Kirchenleitung in Estland nach 1710 untersucht. In der Analyse der im Spannungsfeld von Ritterschaft, Geistlichkeit und der Reichsregierung erfolgten institutionellen und rechtlichen Entwicklungen wird gezeigt, dass die Umgestaltung der Kirchenleitung im deutlichen Widerspruch zu geltenden Rechtsakten stand und dass das Paradigma von der Wiederherstellung der ständischen Selbst-
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Georg von RAUCH, Vorwort, in: Geschichte der deutschbaltischen Geschichtsschreibung, hg. v. Georg von RAUCH u.a., Köln / Wien 1986 (Ostmitteleuropa in Vergangenheit und Gegenwart, 20), S. xii. Siehe beispielsweise die wichtigsten allgemeinen Untersuchungen: Reinhard WITTRAM, Baltische Geschichte. Die Ostseelande Livland, Estland, Kurland 1180–1918, München 1954 (19732), S. 133–137; Gert von PISTOHLKORS, Die Ostseeprovinzen unter russischer Herrschaft (1710/1795–1914), in: Baltische Länder, hg. v. DEMS., Berlin 1994 (20022), S. 266–294, hier S. 266. „In Estland mit seiner ungemein starken Rechtskontinuität [...]“ (WITTRAM, Baltische Geschichte [wie Anm. 4], S. 135), „Die größte Rechtskontinuität gab es in Estland.“ (PISTOHLKORS, Die Ostseeprovinzen [wie Anm. 4], S. 274).
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verwaltungsordnung auf Basis der Rechtskontinuität im Falle des Gouvernements Estlands einer Korrektur bedarf6. *** Um die Bedeutung der am Anfang des 18. Jahrhunderts erfolgten Veränderungen in der Kirchenleitung Estlands im weiteren Kontext des Problems der Rechtskontinuität der lokalen Selbstverwaltung besser verständlich zu machen, muss die Behandlung des Themas mit einem Rückblick auf Knotenpunkte der Entwicklung der lutherischen Kirchenverfassung beginnen. Als sich der Adel von Harrien, Wierland und Jerwen im Jahr 1561 dem schwedischen König unterwarf, bestätigte Erik XIV. dem Adel die bisherigen Privilegien7. Die schwedischen Besitzungen in Nordestland wurden 1584 im Herzogtum Estland gebündelt und aus dem örtlichen Adel bildete sich die Estländische Ritterschaft heraus. Bis zum Livländischen Krieg haben in Alt-Livland römisch-katholische Landesherren regiert, ungeachtet der weiten Verbreitung der reformatorischen Ideen blieb hier die römischkatholische Kirchenorganisation bestehen und eine größere, die ländlichen Regionen umfassende lutherische Kirchenorganisation hatte sich noch nicht herausgebildet8. In Alt-Livland fiel die Macht über die Kirche nicht in den Aufgabenbereich des Adels, weshalb sich unter den 1561 bestätigten Privile———————————— 6
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Verschiedene Aspekte der vorliegenden Problematik habe ich bereits früher behandelt. Siehe Andres ANDRESEN, Luterlik territoriaalkirik Eestimaal 1710–1832. Riigivõimu mõju kirikuvalitsemisele, -institutsioonidele ja -õigusele [Die lutherische Territorialkirche in Estland 1710–1832. Der Einfluss der Staatsmacht auf die Leitung, die Institutionen und das Recht der Kirche], Tartu 2004 (Dissertationes historiae Universitatis Tartuensis 7); DERS., Eestimaa kirikukorraldus 1710–1832. Riigivõimu mõju institutsioonidele ja õigusele [Estlands Kirchenverfassung 1710–1832. Der Einfluss der Staatsmacht auf Institutionen und Recht], Tartu 2008; DERS., Luterlik territoriaalkirik ja poliitiline võim: kirikukorralduse struktuurimuutused Eestimaal 1561–1766 [Die lutherische Territorialkirche und die politische Macht: Strukturwandel der Kirchenverfassung in Estland 1561– 1766], in: Läänemereprovintside arenguperspektiivid Rootsi suurriigis 16./17. sajandil III, hg. v. Enn KÜNG, Tartu 2009 (Eesti Ajalooarhiivi Toimetised 17 [24]), S. 54–79. Des Königs Erich XIV Privilegium für die Ritterschaft vom 2. August 1561, in: Die Capitulationen der estländischen Ritterschaft und der Stadt Reval vom Jahre 1710 nebst deren Confirmationen. Nach den Originalen mit andern dazu gehörigen Documenten und der Capitulation von Pernau hg. v. Eduard WINKELMANN, Reval 1865, S. 11–14. Im Unterschied dazu bildeten sich in Reval und Riga, wo die politische Macht des Landesherren nur eine nominale blieb und der Magistrat das Luthertum unterstützte, jeweils bereits vor dem Zusammenbruch Alt-Livlands lutherische Territorialkirchen heraus.
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gien des Adels auch nicht das Recht findet, die Kirchenleitung zu dominieren. Beim Aufbau der lutherischen Kirchenverfassung Estlands spielte die schwedische Zentralmacht die entscheidende Rolle; sie setzte die höchsten Amtsinhaber ein und entschied über die Hauptrichtungen ihrer Tätigkeit9. Aufgrund verschiedener Umstände dauerte die vollständige Institutionalisierung der estländischen Territorialkirche viele Jahrzehnte. Als Ursachen können die bis zum Beginn des 17. Jahrhunderts auf dem Boden Estlands tobenden Kriege, die über einen längeren Zeitraum unsichere konfessionelle Situation des schwedischen Staates und die sich daraus ableitende mangelhafte Kirchenpolitik gelten. Das Luthertum gemäß der Augsburger Konfession wurde als offizielle und einzige Staatsreligion Schwedens erst 1593 verkündet. Ein eigenes Problem stellte der Gegensatz der Estländischen Ritterschaft und der Regierung in der Frage der Kirchenleitung dar. Die frühneuzeitliche Ordnung der lutherischen Territorialkirchen kann in zwei Grundtypen aufgeteilt werden, wobei ein entscheidendes Moment darin bestand, wie sehr die Kirchenleitung in einer gegebenen politischen Einheit von der weltlichen Macht abhing. Der Grundsatz des Augsburger Religionsfriedens von 1555 cuius regio, eius religio bestätigte dem lutherischen weltlichen Herrscher die Rechte des Kirchenoberhaupts. Die deutschen lutherischen Territorialkirchen waren in den Territorien des Reichs dem jeweiligen Landesherren und in den freien Reichsstädten dem Magistrat untergeordnet. Die weltlichen Herrscher leiteten diese Kirchen mit Hilfe der Institution des Konsistoriums. Dieses bestand sowohl aus weltlichen als auch aus geistlichen Mitgliedern (consistorium mixtum). Dieses System der konsistorialen Kirchenleitung bestand in den deutschen Gebieten in seinen Grundsätzen unverändert bis in das 19. Jahrhundert fort10. In Schweden bildete sich dagegen eine episkopale Kirchenleitung heraus. Anders als in den ———————————— 9
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Siehe detaillierter: Alvin ISBERG, Kyrkoförvaltningsproblem i Estland 1561–1700 [Das Problem der Kirchenleitung in Estland 1561–1700], Uppsala 1970 (Studia HistoricoEcclesiastica Upsaliensia 16), S. 19 ff. Zur Einführung siehe z.B. Dietmar WILLOWEIT, Das landesherrliche Kirchenregiment, in: Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd. I, Vom Spätmittelalter bis zum Ende des Reiches, hg. v. Kurt G. A. JESERICH / Hans POHL / Georg-Christoph von UNRUH, Stuttgart 1983, S. 361–369. Detaillierter siehe z.B. Die Territorien des Reichs im Zeitalter der Reformation und Konfessionalisierung. Land und Konfession 1500–1650, Bd. I–VII, hg. v. Anton SCHINDLING / Walter ZIEGLER, Münster 1989–1997 (Katholisches Leben und Kirchenreform im Zeitalter der Glaubensspaltung. Vereinsschriften der Gesellschaft zur Herausgabe des Corpus Catholicorum 49–53, 56–57). In einzelnen Fragen konnten im System der konsistorialen Kirchenleitung lokale Besonderheiten bestehen.
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deutschen Gebieten nach der Reformation blieben bei der schwedischen Territorialkirche sowohl die Bistümer und Bischofsämter der katholischen Zeit als auch der politische Einfluss der Bischöfe erhalten. Jedes Bistum wurde von einem Bischof geleitet, der dabei von einem einzig aus Geistlichen bestehenden Domkapitel (consistorium purum) unterstützt wurde11. Die Bischöfe vermochten im Laufe der Zeit die Versuche der Monarchen, die Kirchenleitung selbst zu übernehmen, abzuwehren12. Für die Estländische Ritterschaft bot die Territorialkirche der Stadt Reval mit ihrer konsistorialen Kirchenleitung ein gefälliges Vorbild13. Zum Revaler Konsistorium gehörten sowohl Mitglieder des Magistrats als auch städtische Geistliche, und es tagte unter Vorsitz eines Magistratsmitgliedes14. Das Ziel der Ritterschaft bestand darin, mit Hilfe eines Konsistoriums, welches sowohl aus Pastoren als auch aus Landräten bestehen sollte, die estländische Kirchenleitung zu dominieren15. Ausgehend von der schwedischen episkopalen Kirchenverfassung beschloss die schwedische Regierung hingegen, das Bischofsamt und eine rein geistliche Kirchenleitung einzuführen. Dabei fand die Forderung der Ritterschaft, der zufolge der Bischof ein örtlicher Pastor sein sollte, keine Unterstützung. Reichskanzler Axel Oxenstierna hielt die Ernennung eines Geistlichen lokaler Herkunft zum Bischof von Estland für ———————————— 11
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In Schweden wurden auch Stellen für Superintendenten geschaffen sowie die ihnen unterstellten Kirchenbezirke, die Superintendenturen. Bis zur Einführung des Kirchengesetzes von 1686 war die Machtposition des Bischofs der des Superintendenten überlegen. Die klassische Untersuchung zur Kirchenverfassung Schwedens bleibt Yngve BRILIOTH, Svensk kyrkokunskap [Das Wissen über die schwedische Kirche], Stockholm 1946. Für eine modernere Übersicht bezüglich des 17. Jahrhunderts siehe Ingun MONTGOMERY, Sveriges kyrkohistoria, Bd. 4, Enhetskyrkans tid [Schwedische Kirchengeschichte, Bd. 4, Die Zeit der Einheitskirche], Stockholm 2002. Ein konsistoriales System der Kirchenleitung wurde auch in Livland und auf Ösel in den Anfangsjahren der schwedischen Herrschaft eingerichtet; siehe ausführlicher: Alvin ISBERG, Livlands kyrkostyrelse 1622–1695 [Die Kirchenleitung Livlands 1622–1695], Uppsala 1968 (Studia Historico-Ecclesiastica Upsaliensia 12); DERS., Ösels kyrkoförvaltning 1645–1710 [Die Kirchenleitung Ösels 1645–1710], Uppsala 1974 (Studia Historico-Ecclesiastica Upsaliensia 24). Siehe z.B. Ernst GIERLICH, Reval 1621 bis 1645. Von der Eroberung Livlands durch Gustav Adolf bis zum Frieden von Brömsebro, Bonn 1991, S. 335; Lea KÕIV, „Jumalale meelepärane seletus ehk mõnede südametunnistuse-küsimuste teoloogiline deduktsioon“: vaimulik vs ilmalik 17. sajandi Tallinnas [„Eine gottgefällige Erklärung oder die theologische Deduktion einiger Gewissensfragen“: geistlich vs weltlich im Reval des 17. Jahrhunderts], in: Ajalookirjutaja aeg, hg. v. Piret LOTMAN, Tallinn 2008 (Eesti Rahvusraamatukogu toimetised 11), S. 78–81. ISBERG, Kyrkoförvaltningsproblem (wie Anm. 9), S. 54 ff.
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eine Schande für das gesamte Schwedische Reich16. Im Jahr 1638 ernannte die Reichsregierung den Schweden Joachim Jhering, den bisherigen Pastor von Nyköping, zum Bischof von Estland, der es vermochte, endlich eine gut funktionierende und nachhaltige Kirchenleitung zu etablieren. Das Konsistorium, das dem Bischof bei der Kirchenleitung und der geistlichen Rechtsprechung behilflich war und das nur aus geistlichen Mitgliedern mit dem Bischof als Vorsitzenden bestand, nahm in den Anfangsjahren der Amtszeit Jherings seine kontinuierliche Tätigkeit auf17. Die Mehrzahl der Nachfolger Jherings waren Deutsche – Andreas Virginius, Johann Jacob Pfeiff, Jacob Hellwig und Johann Heinrich Gerth. In den letzten Jahren des Jahrhunderts wurde mit Joachim Salemann auch ein aus Reval stammender Deutschbalte zum Bischof. Der letzte estländische Bischof unter der schwedischen Herrschaft war der Schwede Jacob Lange18. Im Vergleich zur höheren Geistlichkeit Schwedens galt für die estländischen Bischöfe ein bedeutender Unterschied – ihr Wirkungsbereich war auf die Kirchenleitung beschränkt und in der politischen Verwaltung spielten sie keine Rolle. Die Kirchenleitung war der einzige wichtigere Bereich in den inneren Angelegenheiten der estländischen Provinz, der außerhalb des Machtbereiches der Ritterschaft blieb. Von Zeit zu Zeit kam es zu Situationen, wo die Mitglieder der Ritterschaft die vom Bischof gegebenen Vorschriften nicht anerkannten, da sie nicht gewillt waren, sich der geistlichen Führung und dem geistlichen Gericht zu unterwerfen. Die Zuständigkeit des Konsistoriums als Gerichtsbehörde war nicht ganz eindeutig geklärt, woraus sich Jurisdiktionskonflikte mit dem Oberlandgericht ableiteten19. Bis zu einem gewissen Grade konnten sich die Bischöfe bei der Ausführung ihrer Entscheidungen auf die Hilfe der Zentralmacht stützen20. Dahingegen verfügte die Rit———————————— 16
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Leino PAHTMA, Heinrich Stahli „Käsi- ja koduraamatust“ [Über das „Hand- und Hauszbuch“ Heinrich Stahls], in: Rootsi suurriigist Vene impeeriumisse. Artiklid, hg. v. Leino PAHTMA / Helina TAMMAN, Tartu 1998 (Eesti Ajalooarhiivi Toimetised 3 [10]), S. 57– 90, hier S. 60. Johan KÕPP, Kirik ja rahvas [Kirche und Volk], [Lund] 1959, S. 37; ISBERG, Kyrkoförvaltningsproblem (wie Anm. 9), S. 95 ff. Das estländische Konsistorium war eine gleichartige Institution wie das Domkapitel in schwedischen Bistümern. Hugo Richard PAUCKER, Ehstlands Geistlichkeit in geordneter Zeit- und Reihefolge, Reval 1849, S. 15 f. Dem Oberlandgericht gehörten alle zwölf Landräte an und es stand unter dem Vorsitz des Gouverneurs oder des dienstältesten Landrates. Siehe z.B. ISBERG, Kyrkoförvaltningsproblem (wie Anm. 9), S. 98 ff.; Olaf SILD, Kas Tallinna doomkirik on kirikuloolises arenemiskäigus olnud piiskopi-kirikuks? [Ist die Re-
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terschaft bei der weltlichen Selbstverwaltung des Landes über weitgehende, von der schwedischen Obrigkeit bestätigte Privilegien, dank denen es der Ritterschaft gelang, mehrere Interventionsversuche der Reichsregierung erfolgreich zurückzuweisen. Die am Anfang der 1680er Jahre durchgeführte absolutistische Verwaltungsreform gab König Karl XI. die Macht, die Kirchenverfassung des schwedischen Staates zu reformieren. Auf der Grundlage des sowohl im schwedischen Mutterland als auch in den Ostseeprovinzen eingeführten neuen Kirchengesetzes (1686) wurde bis zum Anfang der 1690er Jahre die Regelung der Kirchenleitung vereinheitlicht21. Auf der Ebene der Bistümer und der Superintendenturen blieb wie bisher die rein geistliche Kirchenleitung bestehen, die mit Hilfe des Bischofs oder des Superintendenten zusammen mit dem nur aus Geistlichen zusammengesetztem Domkapitel oder Konsistorium exekutiert wurde22. Laut dem Kirchengesetz von 1686 spielte der Bischof in der Kirchenleitung seines Bistums die wichtigste Rolle. Das Konsistorium übernahm eine unterstützende Funktion23. Die Macht des Bischofs wurde durch die Pflicht der Konsistoriumsmitglieder, Aufsicht über den Lebenswandel und die Amtsführung des Bischofs zu führen, beschränkt24. Die Kirchenorganisation als Ganzes wurde aber der Alleinherr-
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valer Domkirche im Laufe der kirchengeschichtlichen Entwicklung eine Bischofskirche gewesen?], Tartu 1926 (Usuteadusline Ajakiri, lisavihk 1), S. 12–16. Kyrkio-Lag och Ordning, som then Stormächtigste Konung och Herre, Herr Carl then Elofte, Sweriges, Göthes och Wändes Konung, etc. Åhr 1686 hafwer låtit författa, och Åhr 1687 af Trycket utgå och publicera. Jemte ther til hörige Stadgar, Stockholm 1687. In den baltischen Provinzen war die deutschsprachige Übersetzung des Kirchengesetzes in Gebrauch: Kirchen-Gesetz und Ordnung, So der Großmächtigste König und Herr, Herr Carl, der Eilffte, Der Schweden, Gothen und Wenden König, etc. Im Jahr 1686 hat verfassen und Im Jahr 1687 im Druck ausgehen und publiciren lassen. Mit denen dazu gehörigen verordnungen, Stockholm [s.a.]. Zur Einführung des Kirchengesetzes in den baltischen Provinzen siehe: ANDRESEN, Kirikukorraldus (wie Anm. 6), S. 72 f., 78, 179 ff. Die Zusammensetzung des Domkapitels, also des Konsistoriums, regelte der erste Paragraph der als Ergänzung des Kirchengesetzes Anfang 1687 herausgegebenen Konsistorialprozessordnung (Huru med rättegång uti domkapitlen skall förhållas). Die deutschsprachige Übersetzung findet sich am Ende der deutschsprachigen Publikation des Kirchengesetzes von 1686: Ihr: Königl. May.t Verordnung, Wie es mit den Gerichts Processen bey denen Thumb-Capituln soll gehalten werden. Gegeben auf dem Schloß zu Stockholm den 11. Februarij Anno 1687, in: Kirchen-Gesetz und Ordnung (wie Anm. 21), S. 175–189. Ebenda, Cap. XXIV, § V. Siehe auch Wie es mit den Gerichts Processen (wie Anm. 22), § IX. Kirchen-Gesetz und Ordnung (wie Anm. 21), Cap. XXIV, § XIV.
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schaft des Königs unterworfen25. Zum Aufgabenbereich des Königs gehörte die Ernennung des Bischofs; im Falle eines Verstoßes gegen seine Aufgaben konnte der Bischof nur vom König entlassen und bestraft werden26. Gemäß der Konsistorialprozessordnung konnte gegen Entscheidungen des Konsistoriums am königlichen Hofgericht appelliert werden27. In Zusammenhang mit der Einführung des neuen Kirchengesetzes wurde 1693 ferner eine modifizierte Agende herausgegeben28. Die Anwendung des Grundsatzes der geistlichen Kirchenleitung im neuen Kirchengesetz brachte grundlegende Veränderungen in Reval mit sich. Auf Befehl des Königs wurden im Herbst 1691 gegen starken Widerstand des Magistrats das Stadtkonsistorium und das Amt des Superintendenten aufgelöst29. Die Stadt Reval und die estländische Provinz bildeten nunmehr ein Bistum der schwedischen Territorialkirche, welches der Leitung des estländischen Bischofs und des rein geistlichen Konsistoriums unterstand30. Karl XI. erteilte dem estländischen Bischof Gerth den Auftrag, zusammen mit anderen Vertretern der Geistlichkeit Vorschläge zur besseren Anpassung des Kirchengesetzes an die lokalen Verhältnisse herauszuarbeiten. Auf Vorschlag des Generalgouverneurs Axel Julius De la Gardie wurden auch die ———————————— 25
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Kirchen-Gesetz und Ordnung (wie Anm. 21), Cap. XIX, § XXI; Cap. XXIV, § XIV, XVI; Cap. XXVII, § I; Cap. XIX, § XIV, XXI. Kirchen-Gesetz und Ordnung (wie Anm. 21), Cap. XX, § I, III; Cap. XXIV, § XIV; siehe auch § XVI. Wie es mit den Gerichts Processen (wie Anm. 22), § XXIV. Handbok, ther vti är författat, huruledes gudstiensten, med christelige ceremonier och kyrckioseder, vti wåra swenska församlingar skal blifwa hållen och förhandlad, förbättrad och förmehrad i Stockholm åhr 1599, öfwersedd åhr 1608, och numera efter nyia kyrckioordningen inrättad åhr 1693, Stockholm 1693. Die deutsche Übersetzung der Agende wurde erst 1708 publiziert: Hand-Buch, Worinnen verfasset ist, welcher gestalt der Gottes-Dienst mit Christlichen Ceremonien und Kirchen-Gebräuchen in unseren Schwedischen Versammlungen gehalten und verrichtet werden soll. Verbessert und vermehret in Stockholm, im Jahr 1599, übersehen im Jahr 1608, und nunmehro nach der neuen Kirchen-Ordnung eingerichtet im Jahr 1693. Aus dem Schwedischen in das Teutsche übersetzt im Jahr 1708, Riga [s.a.]. ISBERG, Kyrkoförvaltningsproblem (wie Anm. 9), S. 163–172; siehe auch PAUCKER, Geistlichkeit (wie Anm. 18), S. 14, 22, 339; Eugen von NOTTBECK / Wilhelm NEUMANN, Geschichte und Kunstdenkmäler der Stadt Reval, Erster Band, Die Geschichte der Stadt Reval, Reval 1904, S. 194 f.; Gustaf Oskar Fredrik WESTLING, Kirchengesetz und Kirchengesetzarbeiten in Ehstland zur Zeit der schwedischen Herrschaft, in: Beiträge zur Kunde Ehst-, Liv- und Kurlands, Bd. 5, Reval 1900, S. 39–67, hier S. 65. ANDRESEN, Territoriaalkirik ja poliitiline võim (wie Anm. 6), S. 67 ff. Eine rein geistliche Kirchenleitung wurde auch in Livland und auf Ösel eingeführt.
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Vertreter der Ritterschaft zu dieser Arbeit herangezogen31. Aufgrund der Ergebnisse der Zusammenarbeit zwischen der Geistlichkeit und der Ritterschaft erließ der König am 30. November 1692 eine Ergänzung des Kirchengesetzes für Estland32. Diese Ergänzung betraf nicht das System der Kirchenleitung im estländischen Bistum, aber sie änderte die Appellationsordnung der Konsistoriumsbeschlüsse. Zukünftig sollten die Appellationsbeschwerden nicht dem königlichen Hofgericht, wie dies die Konsistorialprozessordnung vom 1687 vorsah, sondern dem Generalgouverneur vorgelegt werden, unter dessen Leitung der Statthalter zu Reval, der zugleich Präsident des Burggerichts war, zwei Assessoren des Burggerichts und drei Landräte eine Entscheidung treffen sollten33. *** Nach der Etablierung der russischen Herrschaft änderte sich die allgemeine machtpolitische Konstellation in den Ostseeprovinzen grundlegend. Die baltischen Länder stellten eine sich sowohl administrativ, rechtlich als auch konfessionell von den anderen Gebieten des Russländischen Reichs sehr deutlich unterscheidende Region dar. An die Stelle der bisherigen absolutistisch vorgegangenen Königsmacht trat das Zarenregime, das sich einer Intervention in die inneren Angelegenheiten der Provinzen zunächst enthielt. Während in Schweden die lutherische Glaubenseinheit zu den Stützen des Staatswesens zählte, tolerierten die russischen Zaren andere Konfessionen in ———————————— 31 32
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WESTLING, Kirchengesetz (wie Anm. 29), S. 63. Declaration der Kirchen-Ordnung. Königliche Majestäten gnädigste Resolution und Erklärung derer von Ritter- und Priesterschaft in Ehstland, durch den Bischof Johann Heinrich Gerthius, unterthänigst vorgetragenen Fragpunkte und Erinnerungen, angehende etliche Fälle, so bey der publicirten und in Druck ausgegangenen Kirchenordnung in ihrer Vorstellung an dem Orte in Bedenken kommen. Gegeben Stockholm, den 30sten November 1692. Die Ergänzung des Kirchengesetzes für Estland ist publiziert: Declaration der Kirchenordnung. Gegeben Stockholm den 30sten Novembr. 1692, in: Ueber das liefund ehstländische Kirchenpatronat. Nebst andern kürzern Aufsätzen etc. Der nordischen Miscellaneen zweytes Stück, hg. v. August Wilhelm HUPEL, Riga 1781, S. 163–192; Sammlung der Gesetze, welche das heutige livländische Landrecht enthalten, kritisch bearbeitet. Zweiter Band. Aeltere hinzugekommene Landesrechte. Zweite Abteilung und Anhang. Kirchenrecht und Richterregeln, hg. v. Gustav Johann von BUDDENBROCK, Riga 1821, S. 1641–1656. Vgl. ANDRESEN, Kirikukorraldus (wie Anm. 6), S. 72. Declaration der Kirchen-Ordnung (wie Anm. 32). Von der Proceßordnung beym Dohmcapitel. Siehe auch: WESTLING, Kirchengesetz (wie Anm. 29), S. 64 f. Sowohl der Generalgouverneur, als auch der Revaler Statthalter und das Burggericht waren Institutionen, welche die schwedische Zentralmacht vertraten.
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den angegliederten Gebieten und verzichteten darauf, irgendeinen Grundsatz der Glaubenseinheit zu realisieren. Die lutherische Kirchenleitung in den Ostseeprovinzen blieb bis zu den Reformen in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts außerhalb der direkten Interessensphäre der russischen Zentralmacht. Wie eingangs erwähnt, stützte sich die Autonomie der baltischen Provinzen rechtlich auf die Kapitulationen und den Friedensvertrag von Nystad. In den 1710 mit den Machthabern Schwedens in Riga, Pernau und Reval, aber auch mit der Ritterschaft Livlands und Estlands und den Städten Riga und Reval abgeschlossenen Kapitulationen bestätigte die russische Seite die früheren Privilegien der baltischen Stände34. So legte die Kapitulation Revals die Wiederherstellung der Episkopalrechte der Stadt in der Form fest, wie sie in den ersten 130 Jahren der schwedischen Herrschaft gegolten hatten35. Für die Frage der Kirchenleitung der Provinz sind die Kapitulation der schwedischen Garnison in Reval und die der Estländischen Ritterschaft von Bedeutung. Die Kapitulation der schwedischen Garnison verlangt klar und deutlich, dass die gesamte Kirchenverfassung ohne jegliche Veränderungen auf der bisherigen Grundlage bestehen bleibe. Gesondert werden die Bewahrung der rein geistlichen Kirchenleitung und das Fortbestehen aller Privilegien aus der schwedischen Zeit für die Geistlichkeit festgelegt36. Die Kapitulation der Ritterschaft sah die Berufung eines Bischofs vor37. Zar Peter I. ———————————— 34
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Ausführlicher zu den Kapitulationen und dem Frieden von Nystad siehe August TRAAT, Liivi- ja Eestimaa kapitulatsioonid aastast 1710 [Die liv- und estländischen Kapitulation aus dem Jahr 1710], in: Eesti ühendamisest Venemaaga ja selle ajaloolisest tähtsusest, hg. v. Artur VASSAR, Tallinn 1960, S. 103–145; Reinhard WITTRAM, Peter I. Czar und Kaiser. Zur Geschichte Peters des Großen in seiner Zeit, Göttingen 1964, Bd. I, S. 323–361, Bd. II, S. 79–98; Marju LUTS, Modernisierung und deren Hemmnisse in den Ostseeprovinzen Est-, Liv- und Kurland im 19. Jahrhundert, in: Modernisierung durch Transfer im 19. und frühen 20. Jahrhundert, hg. v. Tomasz GIARO, Frankfurt am Main 2006 (Rechtskulturen des modernen Osteuropa. Traditionen und Transfers 1), S. 159–200. Zu den Religionsprivilegien in den Kapitulationen und im Frieden von Nystad siehe genauer Andres ANDRESEN, Formal stipulation and practical implementation of religious privileges in Estland, Livland and Courland under Russian supremacy: researching the core of Baltic regional identity, in: Ajalooline Ajakiri 2012, Nr. 1/2 (139/140), S. 33–54. Capitulation der Stadt Reval vom 29. September 1710, in: Die Capitulationen (wie Anm. 7), S. 44–56, Art. 4. Capitulation der schwedischen Garnison in Reval vom 29. September 1710, in: ebenda, S. 28–43, Art. 12–18. Capitulation der estländischen Ritterschaft vom 29. September 1710, in: ebenda, S. 59– 73, Art. 1. Die Kapitulationen sind ebenfalls publiziert in Polnoe Sobranie Zakonov Rossijskoj Imperii [Vollständige Sammlung der Gesetze des Russländischen Imperiums, im
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konfirmierte die Kapitulationen Livlands und der Stadt Riga mit speziellen Rechtsakten (1710); der Estländischen Ritterschaft und der Stadt Reval erteilte er eine Privilegienbestätigung allgemeinerer Art (1712). Ähnliche Bestätigungen ihrer Privilegien erteilte den baltischen Ständen die Mehrheit der russischen Monarchen, die vor Alexander III. herrschten. Die Tatsache, dass diese Bestätigungen nicht an die Geistlichkeit gerichtet waren, änderte nichts an den rechtlichen Grundlagen der Kirchenleitung, weil sie kein neues Recht schufen, sondern nur die bestehenden Vorrechte bekräftigten. Für die Kirchenleitung Estlands war der bedeutendste Rechtsakt der Friedensvertrag von Nystad, der eindeutig betont, dass alle Einwohner Estlands, Livlands und Ösels – und demnach auch der Stand der Geistlichen – ihre Privilegien, die ihnen unter der Herrschaft Schwedens zuteil geworden waren, beibehielten und die Kirchenverfassung so bleiben solle wie in der schwedischen Zeit38. In der Folge bildeten die Kapitulationen der schwedischen Garnison in Reval und der Estländischen Ritterschaft sowie der Friedensvertrag von Nystad die rechtliche Grundlage für die ständische Selbstverwaltung Estlands39. Bis zur Einführung der russischen Herrschaft Ende September 1710 hatte die Kirchenleitung des Bistums Estland aufgehört zu existieren. Der Bischof war bereits im Juli nach Schweden gegangen, die Mehrzahl der Konsistoriumsmitglieder war entweder ausgewandert oder an der Pest gestorben. Sowohl der Magistrat von Reval als auch die Ritterschaft hatten kein Interesse daran, die Stadt Reval und die Provinz Estland weiterhin im Bestand einer gemeinsamen Kirchenorganisation zu führen. ————————————
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Folgenden: PSZ], Bd. IV, [St. Petersburg] 1830, Nr. 2297 (Die Revaler schwedische Garnison), Nr. 2298 (Reval), Nr. 2299 (Die estländische Ritterschaft). Die Artikel 9. 10. 11. 12. des Nystädter Friedens vom 30 August 1721, in: Die Capitulationen (wie Anm. 7), S. 109 ff., Art. 9, 10. Der Friedensvertrag ist auch publiziert in: PSZ, Bd. VI, Nr. 3819. In der deutschbaltischen Historiografie (im Unterschied beispielsweise zu TRAAT, Liivi- ja Eestimaa kapitulatsioonid [wie Anm. 34]) ist die Kapitulation der Revaler schwedischen Garnison zumeist nicht berücksichtigt worden, so erwähnt beispielsweise WITTRAM, Peter I. (wie Anm. 34), nicht einmal deren Existenz. Jedoch wurde auch diese Kapitulation in der Zeit der russischen Herrschaft als gültiger Rechtsakt angesehen (dazu ausführlicher ANDRESEN, Kirikukorraldus [wie Anm. 6], S. 125 f., 150 ff.). Wohl aber erwähnt Alexander von Richter die Bedingungen der Kapitulation der Revaler schwedischen Garnison: „In Religions- und Kirchensachen sollte nichts geändert werden [...]“. Siehe Alexander von RICHTER, Geschichte der dem russischen Kaiserthum einverleibten deutschen Ostseeprovinzen bis zur Zeit ihrer Vereinigung mit demselben, Theil II, Die Ostseelande als Provinzen fremder Reiche. 1562–1721, II. Band, Geschichte Liv- und Esthlands unter schwedischer Herrschaft. 1629–1721, Riga 1858, S. 323.
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Der Revaler Magistrat nutzte die Gelegenheit, um die Praxis der Kirchenleitung so wiederherzustellen, wie sie vor dem Jahr 1691 war. Bereits wenige Tage nach dem Abschluss der Kapitulation wählte der Magistrat zum Superintendenten der Stadt den Oberpastor der St. Olai Kirche, Justus Blanckenhagen, der gleichzeitig auch das Amt des Oberpastors im Dom, der Hauptkirche der Ritterschaft auf dem Revaler Domberg, innehatte40. Das sowohl aus weltlichen als auch aus geistlichen Mitgliedern zusammengesetzte Stadtkonsistorium wurde Ende 1710 restituiert41. Der Revaler Kaufmannssohn Justus Blanckenhagen war zu der Zeit zweifelsohne der Geistliche mit der größten Autorität sowohl beim Revaler Bürgertum als auch bei Ritterschaft und Geistlichkeit. Er war bereits 1682 zum Pastor der Domkirche und zum Assessor des estländischen Konsistoriums berufen worden, die Aufgaben des Oberpastors der Domkirche hatte er 1701 übernommen. Als Seelenhirt der Domkirche erreichte Blanckenhagen ein bemerkenswertes Ansehen unter den Ritterschaftsmitgliedern und spielte nachfolgend die Schlüsselrolle bei der Wiedererrichtung der estländischen Kirchenleitung42. In der Anfangsperiode der russischen Herrschaft übernahmen hauptsächlich die Landräte die alltäglichen realen Verpflichtungen der staatlichen Provinzialverwaltung in Estland43. Von 1711 bis 1736 stand der Gouvernementsregierung der Landrat Friedrich von Löwen vor44. Zu ihrem Bestand zählten damals noch ein weiterer Landrat, bald kam ein dritter hinzu. Später wurde sie von Ausländern geleitet, die in den russischen Staatsdienst getreten waren – hierzu zählten der Schotte Gustav Otto Douglas (1738–1740), Woldemar Löwendahl (1740–1743), der deutsch-dänischer Herkunft war, oder der Deutsche Peter August von Holstein-Beck (1743–1775)45. ———————————— 40
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Tallinna Linnaarhiiv [Tallinner Stadtarchiv], Bestand 230, Findbuch 1, Acte A.b.147, Bl. 1433 f. (Protokolle des Magistrats). PAUCKER, Geistlichkeit (wie Anm. 18), S. 22, 382. ANDRESEN, Kirikukorraldus (wie Anm. 6), S. 101 f. Die estländischen Landräte des Zeitraums von 1298 bis 1918 sind in chronologischer Reihenfolge im folgenden Werk angeführt: Wilhelm Baron von WRANGELL / Georg von KRUSENSTJERN, Die Estländische Ritterschaft ihre Ritterschaftshauptmänner und Landräte, Limburg/Lahn 1967, S. 349–356. Zuerst Vizegouverneur, dann Gouverneur 1730–1736, Landrat 1696–1721. Siehe Deutschbaltisches biographisches Lexikon 1710–1960, hg. v. Wilhelm LENZ, Wedemark 1998, S. 468. Hasso von WEDEL, Die Estländische Ritterschaft vornehmlich zwischen 1710 und 1783. Das erste Jahrhundert russischer Herrschaft, Königsberg/Pr., Berlin 1935 (Osteuropäische Forschungen, N.F. 18), S. 126; Mati LAUR, Eesti ala valitsemine 18. sajandil (1710–1783)
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Die Landräte machten im Sommer 1711 und Anfang des Jahres 1712 Blanckenhagen den Vorschlag, Präsident des estländischen Konsistoriums zu werden und zu dessen Wiederherstellung beizutragen, doch lehnte er beide Male ab46. Erst zu Beginn des Jahres 1713 wurde die Initiative der Landräte von Erfolg gekrönt. Auf Einladung der in der Funktion der Gouvernementsregierung tätigen Landräte47 versammelten sich in Reval die Pastoren Estlands, um das Konsistorium wiederherzustellen, wobei sie auch dem Vorschlag zustimmten, Blanckenhagen auf das Amt des Konsistoriumspräsidenten zu berufen. Die entsprechende Petition wurde Blanckenhagen am 14. Februar sowohl von den Landräten als auch den Vertretern der Geistlichkeit überreicht. Zwei Tage später verkündete Blanckenhagen sein Einverständnis den Landräten gegenüber, das neue Amt anzutreten. Gleichzeitig forderte er eine schriftliche Instruktion in der Angelegenheit der Rechte des Vorsitzes im Konsistorium48. Die Instruktion der Landräte für Blanckenhagen vom 19. Februar bestätigte ihn als Konsistoriumspräsidenten Estlands. Er erhielt das Recht Konsistoriumsassessoren zu berufen und die Arbeit des Konsistoriums so zu organisieren, wie sie früher während der schwedischen Zeit funktioniert hatte, wofür das Kirchengesetz von 1686 und andere gültige kirchenrechtliche Akten als Grundlage zu gelten hatten. Zudem erhielt er das Recht, Fragen zu lösen, die in die Kompetenz des geistlichen Gerichts fielen, Ordnungswidrigkeiten in den ländlichen Gemeindekirchen zu liquidieren und wurde bevollmächtigt, die Examinierung und die Ordinierung der Pastoren zu regeln49. Zwar sind uns die Pläne der Ritterschaft bezüglich der Kirchenverfassung nicht bekannt, doch dürfte die Tatsache, dass die Instruktion der Landräte keinen Hinweis auf eine mögliche Berufung eines Bischofs in der Zukunft beinhaltet, in diesem Zusammenhang durchaus von Bedeutung sein. Als Vorbild für die Umgestaltung der Kirchenleitung könnte den Landräten das ehemalige Bistum Wiborg in Finnland gedient haben, das während des Nordischen Krieges ebenfalls unter russische Herrschaft ge————————————
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[Die Verwaltung des estnischen Gebietes im 18. Jahrhundert (1710–1783)], Tartu 2000, S. 50 f., 54. PAUCKER, Geistlichkeit (wie Anm. 18), S. 61, 340; Eesti Ajalooarhiiv [Estnisches Historisches Archiv, im Folgenden EAA], Bestand 1187, Findbuch 2, Akte 27, Bl. 7r (Protokolle des Konsistoriums). „Zu Abhelffung der General-Gouvernements-Affaires verordnete Landt-Rähte“ Friedrich von Löwen und Tönnis Johann von Bellingshausen, in: EAA, 1187-2-316, Bl. 27 (Publikaten). ANDRESEN, Kirikukorraldus (wie Anm. 6), S. 102 f. EAA, 854-2-2910, Bl. 2r–3 (Instruktion für Blanckenhagen).
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fallen war. Das Jahr 1710 hatte dort eine ähnlich geartete Umgestaltung gebracht, bei der der Bischof und das Domkapitel von einem geistlichen Konsistorium mit einem Pastor als Konsistoriumspräsidenten abgelöst wurden. Diese Kirchenverfassung blieb über eine längere Zeit erfolgreich bestehen50. Blanckenhagen stellte das Estländische Konsistorium, das nur aus geistlichen Mitgliedern bestand, wieder her51. Aus den Protokollen dieses Gremiums wird deutlich, dass es in seiner Tätigkeit – wie beispielsweise der Examinierung und Ordinierung der Pastorenkandidaten, der Rechtsprechung usw. – von den kirchenrechtlichen Akten der Schwedenzeit ausging. Im Estländischen Pastorenkonvent (conventus ministerialis), das im Juni 1713 stattfand, erklärte der Konsistoriumspräsident vor der versammelten Geistlichkeit das Kirchengesetz von 1686 und die Agende des Jahres 1693 zur Grundlage der Estländischen Kirchenverfassung52. Die Tatsache, dass Blanckenhagen zwei voneinander getrennte Ämter ausübte, sollte unterstrichen werden. Erstens war er als Revaler Superintendent Mitglied des Stadtkonsistoriums und unterstand dem weltlichen Präsidenten des Konsistoriums, der von einem der Magistratsmitglieder gestellt wurde. Zweitens stand er im Amt des Konsistoriumspräsidenten an der Spitze der Estländischen Kirchenorganisation. Obwohl er gleichzeitig sowohl am Revaler als auch am Estländischen Konsistorium tätig war, achtete er streng auf die Trennung bei der Leitung beider Kirchenorganisationen. Die Wiederherstellung des Konsistoriums als der höchsten Kirchenleitungsinstitution Estlands bedeutete die Wiedererstehung einer einheitlichen Kirchenorganisation in Estland, also einer Territorialkirche. Ähnlich wie vor den Reformen Karls XI. bestand in der Anfangsphase der russischen Herrschaft neben der estländischen Territorialkirche eine Revaler Territorialkirche53. ———————————— 50
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Elis BERGROTH, Suomen kirkon historia pääpiirteissään [Grundzüge der Kirchengeschichte Finnlands], Porvoo 1892, S. 236; Maija RAJAINEN, Luterilaisuus Venäjän valtikan alaisena. Itä-Suomen ja Inkerin kirkon järjestelyvaiheita Uudenkaupungin ja Turun rauhojen molemmin puolin [Das Luthertum unter russischer Herrschaft. Entwicklungsstufen der ostfinnischen und ingermanländischen Kirche vor und nach den Frieden von Nystad und Åbo], Helsinki 1972 (Suomen Kirkkohistoriallisen Seuran Toimituksia, 87), S. 86–108, 120–125. ANDRESEN, Kirikukorraldus (wie Anm. 6), S. 105–109. Neben den ordentlichen Assessoren zählten ex officio auch der Pastor der Domkirche und die Pröpste Estlands zu den Mitgliedern des Konsistoriums. EAA, 1187-2-27, Bl. 13 (Protokolle des Konsistoriums). Ebenso formierten sich zu Beginn der russischen Herrschaft erneut die Territorialkirchen Livlands, Rigas und Ösels. Andres ANDRESEN, The Reconfiguration of Lutheran Church Organisation in the Baltic Region from the 1520s until 1917, in: Institutional Change
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Blanckenhagen starb im Herbst des Jahres 1713. Zum Oberpastor der Domkirche berief die Ritterschaft Erasmus Pegau, den bisherigen Pastor der Domkirche54. Eine Vollmacht für das Amt des Konsistoriumspräsidenten erhielt Pegau aber nicht. Die höchste Instanz in Fragen der weltlichen inneren Angelegenheiten der Provinz lag weiterhin bei den Landräten, und die führenden Vertreter der Ritterschaft entschieden sich, die Situation auszunutzen, um ihre Machtbefugnisse in die kirchliche Sphäre hinein zu erweitern. Das Landratskollegium gab am 16. Februar 1715 dem Landrat Adam Johann von Uxküll die offizielle Vollmacht (constitutorium) zur Leitung der Geistlichkeit und des Konsistoriums55. Die erste Konsistoriumssitzung unter Leitung des Landrats als Präsidenten fand am 15. März statt. An dieser Sitzung nahmen außer den ordentlichen Mitgliedern auch einige andere Pastoren Estlands teil56. Auf Grund der von Uxküll verliehenen Vollmacht wurde entschieden, dass alle dem Konsistorium vorzulegenden offiziellen Dokumente (acta Consistorialia) zukünftig vom Präsidenten entgegen genommen werden sollten, der auch die im Namen des Konsistoriums erstellten Dokumente zu formulieren hatte. Während der Abwesenheit des Präsidenten sollten die Dokumente vom Sekretär entgegengenommen werden, der sie bei der ersten sich bietenden Gelegenheit an den Präsidenten weiterzuleiten hatte. Um wichtigere Fragen zu lösen, sollte der Präsident eine Plenarsitzung des Konsistoriums zusammenrufen, Fragen von geringerer Bedeutung hätte der Präsident zusammen mit dem Oberpastor der Domkirche und den in der Nähe verweilenden Assessoren zu lösen gehabt57. ————————————
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and Stability: Conflicts, Transitions and Social Values, hg. v. Andreas GÉMES / Florencia PEYROU / Ioannis XYDOPOULOS, Pisa 2009, S. 35–47, hier S. 41. PAUCKER, Geistlichkeit (wie Anm. 18), S. 61. EAA, 1187-2-28, Bl. 2–2r, 5–5r (Protokolle des Konsistoriums); PAUCKER, Geistlichkeit (wie Anm. 18), S. 16 f. An der Sitzung nahmen teil der Präsident von Uxküll, der Oberpastor der Domkirche Pegau, der Assessor und Pastor von Kegel Johann Middendorf, der Assessor und Pastor von Rappel sowie Senior von West-Harrien Christian Hoppius, der Assessor und Pastor von St. Jürgens Anton Thor Helle, der außerordentliche Assessor und Pastor von Kosch Hermann Johann Heitzig, der Propst von Jerwen und Pastor von St. Matthäi Wolmar Anton Pancovius, der Propst von Land-Wiek und Pastor von St. Michaelis Johann Eberhard Udam, der Pastor von St. Johannis in Harrien und Jegelecht Heinrich Christoph Wrede, der Pastor von Kusal Johann Heinrich Gerth, Pastor Schwabe (es ist unklar ob es sich um Johann Christoph aus Ampel oder um Peter aus Weißenstein und Turgel handelt), der Pastor von Goldenbeck Heinrich Gutsleff, der Pastor von Poenal Leonhard Senff, der Pastor von Keinis Samuel Tunder und der Pastor von St. Simonis Andreas Meyer. Siehe ausführlicher: ANDRESEN, Kirikukorraldus (wie Anm. 6), S. 109 f. Die ordentlichen Sitzungen des Konsistoriums erfolgten gewöhnlich zweimal im Jahr. Außerhalb der Sit-
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Nach einiger Zeit genügte es der Estländischen Ritterschaft nicht mehr, nur das Konsistorium zu dominieren, denn eine weitaus ambitioniertere Idee fing an, Gestalt anzunehmen. Die Ritterschaft schickte der Zentralverwaltung eine Petition, mit der sie sich die ganze iura episcopalia anzueignen und die Geistlichkeit vollständig ihrer Herrschaft zu unterwerfen gedachte. Dabei sollten die Pastoren ihre wirtschaftliche Unabhängigkeit verlieren und ökonomisch von der Ritterschaft abhängig werden. Die Ritterschaft trachtete danach, die Ländereien der Kirchengüter unter sich aufzuteilen, die dann verpflichtet gewesen wären, den Pastoren ein Gehalt zu zahlen. Gleichzeitig wollte die Ritterschaft ihre Gerichtshoheit ausdehnen und als Appellationsinstanz für das Konsistorium nur das Oberlandgericht anerkennen, welches die höchste weltliche Gerichtsinstitution des Herzogtums Estland gewesen war58. Der Ukas des St. Petersburger Senats vom 24. September 1725, der als Antwort auf die Petition der Ritterschaft verfasst worden war, ließ die Mehrheit dieser Wünsche zwar unerfüllt, aber er bestätigte dennoch, dass das Konsistorium aus weltlichen und geistlichen Mitgliedern bestehen sollte59. Drei Jahre später beschlossen die Mitglieder der Ritterschaft, ihre Repräsentanten in St. Petersburg derart zu instruieren, dass sie bei der Reichsregierung beantragen sollten, der Ritterschaft alle Rechte und Privilegien gegenüber der lutherischen Kirche zu gewähren, die während der Schwedenzeit vom schwedischen König ausgeübt worden waren. Das Verhältnis zwischen der Ritterschaft und der Geistlichkeit war zu diesem Zeitpunkt ausgesprochen angespannt60. Die Frage der höheren Appellationsinstanzen fand im Jahr 1729 eine Antwort, als der Senat mit seinem Ukas vom 25. Juli die Schaffung einer neuen Gerichtsbehörde beschloss. Das Oberappellationsgericht sollte unter Leitung des Gouverneurs aus einer gleichen Anzahl von weltlichen und geistlichen Assessoren bestehen – von beiden Seiten nicht weniger als drei Assessoren61. Gemäß der späteren Praxis gehörten zum Oberappellationsgericht unter der Leitung des Gouverneurs zwei Landräte, zwei weitere Mitglieder der Ritterschaft und vier Geistliche. Diese Institution beschäftigte sich hauptsächlich mit der Entscheidung in ehelichen Ange————————————
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zungszeit waren der Pastor der Domkirche und der Sekretär des Konsistoriums für laufende Angelegenheiten zuständig. Gesandte der Ritterschaft in St. Petersburg waren Hans von Rosen und Gustav Wilhelm von Fersen. Siehe EAA, 854-2-457 (Ukas des Senats an die Ritterschaft Estlands, 15. Dezember 1725). PSZ, Bd. VII, Nr. 4781; WEDEL, Ritterschaft (wie Anm. 45), S. 152. SILD, Doomkirik (wie Anm. 20), S. 20 ff. PSZ, Bd. VIII, Nr. 5448.
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legenheiten wie Scheidungsverfahren. Die Mitglieder des Oberappellationsgerichts wurden für jeden einzelnen Fall neu berufen62. Nach dem Tod Pegaus im Januar 1724 berief die Ritterschaft mit dem aus Königsberg stammenden achtundzwanzig Jahre alten Hauslehrer aus Livland Christoph Friedrich Mickwitz einen Ausländer auf die Stelle des Oberpastors der Domkirche. Mickwitz hatte in Halle bei August Hermann Francke eine pietistische Ausbildung genossen und traf gerade Vorbereitungen für eine Missionsreise nach Indien63. Die Bevorzugung eines jungen Hauslehrers gegenüber den örtlichen Pastoren bei der Besetzung des prestigeträchtigsten geistlichen Amtes mag vom Wunsch der Ritterschaft zeugen, diesen Posten an eine Person zu vergeben, die nicht an örtliche Traditionen und Netzwerke gebunden war. Mickwitz blieb bis zu seinem Tod 1748 im Amt des Oberpastors der Domkirche und er erwies sich als ein fähiger Förderer des geistlichen Lebens64. Nach dem Tod von Uxkülls am 3. November 1729 versammelten sich die Konsistoriumsmitglieder am 20. November zu einer außerordentlichen Sitzung65. Es wurde darüber beraten, ob der Konsistoriumspräsident eine weltliche oder eine geistliche Person sein sollte. Die Teilnehmer der Versammlung kamen zu dem einmütigen Entschluss, dass das Konsistorium einen geistlichen Präsidenten haben sollte, weil dies sowohl vom Kirchengesetz des Jahres 1686, der Kapitulation der schwedischen Garnison in Reval 1710 als auch dem Friedensvertrag von Nystad so vorgeschrieben wurde. Zur Lösung dieser Frage hatte man sich sowohl direkt an den Monarchen als auch an die Gouvernementsregierung zu wenden. Eine Woche später schickte das Konsistorium einen Brief an den Zaren und auch an die Gouverne-
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ANDRESEN, Kirikukorraldus (wie Anm. 6), S. 109 ff. Siehe auch August Wilhelm HUPEL, Topographische Nachrichten von Lief- und Ehstland, Bd. I, Riga 1774, S. 464 f.; SILD, Doomkirik (wie Anm. 20), S. 22; Hellmuth WEISS, Ein Bericht Philipp Christian Moiers über die kirchlichen und sozialen Verhältnisse in Estland um 1770, in: Das Vergangene und die Geschichte. Festschrift für Reinhard Wittram zum 70. Geburtstag, hg. v. Rudolf von THADDEN / Gert von PISTOHLKORS / Hellmuth WEISS, Göttingen 1973, S. 164– 173, hier S. 168; WEDEL, Ritterschaft (wie Anm. 45), S. 171 f. Voldemar ILJA, Vennastekoguduse (herrnhutluse) ajalugu Eestimaal (Põhja-Eesti) 1730– 1743 [Die Geschichte der Brüdergemeinden (Herrnhuter) in Estland (Nordestland) 1730–1743], s.l. 1995, S. 47, Anm. 2; PAUCKER, Geistlichkeit (wie Anm. 18), S. 62 f. Siehe ausführlicher: ANDRESEN, Kirikukorraldus (wie Anm. 6), S. 112 f. An der Sitzung nahmen der Oberpastor der Domkirche Mickwitz, der Pastor der Domkirche Albert Anton Vierorth, der Pastor von St. Johannis und Jegelecht Heinrich Christoph Wrede und der Pastor von Kusal Johann Heinrich Gerth teil.
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mentsregierung66. In der an den Monarchen adressierten Supplik hieß es, dass der weltliche Stand nur zeitweilig in unruhigen Zeiten einen weltlichen Präsidenten an die Spitze des Konsistoriums eingesetzt habe. Der Herrscher des Russländischen Reichs habe sowohl im Friedensvertrag von Nystad als auch in den Kapitulationen bestätigt, dass die Kirchenverfassung Estlands auf der rechtlichen Basis der schwedischen Zeit bestehen bleiben solle. Gemäß dem Kirchengesetz vom Jahr 1686 gehöre das Recht, eine vakante Bischofsstelle neu zu besetzen, dem Monarchen. Die entsprechenden geeigneten Kandidaten könnten von der Geistlichkeit vorgeschlagen werden, woraufhin nach dieser Regelung ein Bischof berufen werden müsste. Der Monarch möge die Kirchen- und Schulangelegenheiten unter seinen besonderen kaiserlichen Schutz nehmen und eine Konfirmation der Privilegien für die Geistlichkeit ausstellen, um jegliche zukünftige rechtswidrige Intervention in die inneren Angelegenheiten der Kirche zu unterbinden. Aus der Staatskasse solle Geld für das Gehalt des Bischofs und noch einiger anderer Kirchenbeamten bereitgestellt werden67. Das Konsistorium informierte auch die Gouvernementsregierung über den Brief an den Zaren und dessen Inhalt68. Bald darauf reichte die Ritterschaft bei der Zentralregierung eine Klage ein, in der betont wurde, dass die Geistlichkeit aus Hochmut und Eigennutz dem Landrat als Präsidenten Widerstand leiste, von der Regierung ohne jeglichen Bedarf Gelder für den Unterhalt des Bischofs fordere und überhaupt unter dem Schutz des Bischofs gesetzeswidrig zu handeln gedenke. Die Geistlichkeit wiederholte ihr Gesuch an die Zentralmacht, den Zustand der schwedischen Zeit wiederherzustellen, am 24. Mai 173169. Ohne die Entscheidung der Reichsregierung abzuwarten, ernannte das Oberlandgericht bereits am 5. Dezember 1729 den Landrat Hans von Rosen zum nächsten Konsistoriumspräsidenten70. Die Geistlichkeit erkannte die Befugnisse von Rosens aber nicht an und forderte, dass die Entscheidung der Zentralregierung bezüglich der Kirchenverfassung abgewartet werden sollten, woraufhin im Januar des folgenden Jahres ein an das Konsistorium adressierter Brief der Landräte eintraf, in dem bekannt gegeben wurde, dass ———————————— 66
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Unter den Unterzeichnern befanden sich zusätzlich zu den genannten Pastoren noch der Pastor von Kegel Johann Middendorf, der Propst von Land-Wiek und Pastor von Goldenbeck Heinrich Gutsleff sowie der Pastor von Fickel Johann Friedrich Gernet. EAA, 1187-2-35, Bl. 53r–54r (Protokolle des Konsistoriums). Siehe auch SILD, Doomkirik (wie Anm. 20), S. 21. EAA, 1187-2-35, Bl. 54r–55. SILD, Doomkirik (wie Anm. 20), S. 21 f. EAA, 1187-2-35, Bl. 55r; SILD, Doomkirik (wie Anm. 20), S. 17.
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von Rosen sein Amt als Präsident aufgegeben habe71. Die nächsten 13 Jahre bestand das Estländische Konsistorium nur aus geistlichen Mitgliedern. Diese Zeit benötigte die Petersburger Regierung, um eine Entscheidung bezüglich der Kirchenverfassung in Estland zu treffen. Im Dezember 1741 erhielt die Ritterschaft aus St. Petersburg eine inoffizielle Mitteilung, laut der die Regierung sich in Fragen der Kirchenleitung in Estland auf die Seite der Ritterschaft gestellt habe. Im Januar des folgenden Jahres stellte die Ritterschaft beim Senat den Antrag, ihr das Religions-, Schul- und Hospitalwesen der ganzen Provinz Estland zu unterstellen. Die Vertreter der Geistlichkeit unternahmen noch einen letzten Versuch und sandten dem Senat am 22. Februar einen Bittbrief, in dem die Hintergründe des Konflikts um die Kirchenverfassung erläutert wurden und die Aufmerksamkeit auf den Umstand gelenkt wurde, dass bis zum Anfang der russischen Herrschaft an der Spitze der Estländischen Kirche ein Bischof gestanden hatte. Der zehnte Punkt des vom Zaren bestätigten Friedensvertrages von Nystad hätte aber festgelegt, dass das estländische „Kirchen- und Schulwesen auf dem Fuß wie es unter der letzten Schwedischen Regierung gewesen solle gelaßen und beibehalten werden“ solle, und das „Religionsund Schulwesen“ rechtlich noch nie unter der Vorherrschaft der Ritterschaft gestanden, sondern stets unter der des Monarchen gehört hätte. Abschließend wurde darum gebeten, die Rechte und die Privilegien der Geistlichkeit zu bekräftigen72. Das Verhältnis zwischen dem geistlichen Konsistorium auf der einen Seite und der Gouvernementsregierung sowie des Landratskollegiums auf der anderen wurde gleichzeitig durch ein neues Problem noch verwickelter73. In ———————————— 71
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EAA, 1187-2-36, Bl. 2r (Protokolle des Konsistoriums); SILD, Doomkirik (wie Anm. 20), S. 17, 23. Die Supplik ist publiziert: SILD, Doomkirik (wie Anm. 20), S. 16–19. Das Bittschreiben wurde von folgenden Personen unterschrieben: dem Propst von Land-Wiek und Pastor von Goldenbeck Heinrich Gutsleff, dem Oberpastor der Domkirche Mickwitz, dem Propst von Wierland und Pastor von Jewe Paul Johann Kniper, dem Propst von StrandWiek und Pastor von Karusen, Hannehl und Werpel Christian Anton Kettler, dem Propst von Ost-Harrien und Pastor von St. Johannis in Harrien und Jegelecht Heinrich Christian Wrede, dem Pastor der Domkirche Albert Anton Vierorth, dem Pastor von Fickel Johann Friedrich Gernet, dem Pastor von St. Michaelis Joachim Salemann, dem Pastor von St. Johannis in Jerwen Johann Heinrich Henckel, dem Pastor von St. Martens Paul Hönn. Der Gouvernementsregierung gehörten außer dem Gouverneur Graf Woldemar Löwendahl und Regierungsrat Peter von Brevern noch die Landräte Hans von Rosen und Gotthard Johann Zöge an. LAUR, Valitsemine (wie Anm. 45), S. 50 f.
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den ländlichen Gegenden Estlands fand die Bewegung der Herrnhuter einen immer stärkeren Zulauf. Die Mitglieder des Konsistoriums waren aufgrund ihrer theologischen Ansichten Pietisten, die sich wohlwollend den Herrnhutern gegenüber verhielten. Neben der Förderung des Religions- und Schulwesens begann diese neue religiöse Bewegung, eine gewisse Unruhe unter den Bauern zu stiften. Die Oberkirchenvorsteher des Kirchspiels St. Katharinen reichten am 15. Februar 1742 beim Oberlandgericht eine Beschwerde über den Gemeindepastor ein, der es zugelassen habe, dass „die herrnhutischen Übertreibungen“ immer mehr zunahmen. Als sich das Oberlandgericht in dieser Frage an das Konsistorium wandte, betonten die Geistlichen in ihrer Antwort, dass die Angelegenheiten der Religion und der Kirche gemäß des Kirchengesetzes des Jahres 1686 in den Kompetenzbereich des Bischofs und des Konsistoriums fielen und dass man sich im Falle des Auftretens von Missständen in den Gemeinden an das Konsistorium, nicht aber an das Oberlandgericht zu wenden habe74. Selbst als sich der estländische Gouverneur Woldemar Löwendahl am 12. März gegenüber Mickwitz beschwerte, dass die Tätigkeit der Herrnhuter außer Kontrolle geraten sei und der Gouvernementsregierung empfahl sich anzustrengen, blieb Letzterer weiterhin der festen Überzeugung, gemäß des Kirchengesetzes aus dem Jahr 1686 fielen Religionsfragen nicht in die Entscheidungsbefugnis der Gouvernementsregierung oder des Oberlandgerichts. Unter den weltlichen Machthabern stünde die Jurisdiktion über die Kirche nur dem Monarchen zu75. Der Gouverneur gab sich zunächst mit dieser Antwort zufrieden76. Die Ritterschaft erhob am 12. Juni Einspruch gegen die Bittschrift der Geistlichkeit vom 22. Februar, deren Argumentation sowohl die früheren Gedankengänge wiederholte als auch neue Standpunkte betonte: Die Geistlichkeit lege ein ehrgeiziges Streben nach unbegrenzter Kirchenleitung an den Tag. Indem sie dem Konsistoriumspräsidenten Widerstand leiste, widersetzte sich die Geistlichkeit der Anordnung der Zentralregierung aus dem Jahr 1725. Zu einer Zeit, in der das Konsistorium keinen weltlichen Präsi———————————— 74
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EAA, 858-1-278, Bl. 148 f. (Protokolle und Briefe des Oberlandgerichts); Olaf SILD, August Hermann Francke’ mõjud meie maal [Der Einfluss von August Hermann Francke auf unser Land], Tartu 1928, S. 104; ILJA, Vennastekoguduse (wie Anm. 63), S. 156–162. Zu Löwendahl siehe Hubertus NEUSCHÄFFER, Ulrich Friedrich Woldemar Freiherr von Löwendahl. Ein Generalgouverneur von Estland, in: Reval und die baltischen Länder. Festschrift für Hellmuth Weiss zum 80. Geburtstag, hg. v. Jürgen von HEHN / Csaba János KENÉZ, Marburg/Lahn 1980, S. 17–25. ILJA, Vennastekoguduse (wie Anm. 63), S. 151; SILD, August Hermann Francke’ (wie Anm. 74), S. 104–114.
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denten hatte, sei die Kirche in Unordnung geraten, z.B. in Verbindung mit der Tätigkeit der Herrnhuter. Zudem belastete der Posten des Bischofs unnötig den Haushalt der Regierung usw.77 Der Sieger des Machtkonflikts zwischen dem Estländischen Konsistorium und der Ritterschaft stellte sich im Herbst 1742 heraus. Die russische Regierung verlieh der Ritterschaft das Recht, an die Spitze des Konsistoriums einen weltlichen Präsidenten zu berufen. Die Gouvernementsregierung schickte Anfang Oktober dem Konsistorium die aus der oben erwähnten Tatsache sich ableitende Verfügung, den von der Ritterschaft auf das Amt des Konsistoriumspräsidenten ernannten Landrat Jacob Heinrich von Ulrich anzuerkennen und ihm gegenüber die nötige „Ehrerbietung und Gehorsam“ zu zeigen78. Die speziell dafür einberufene Sitzung des Konsistoriumsplenums besprach die Frage am 17. und 18. November und beschloss, dass sie von Ulrich unter denselben Bedingungen als Konsistoriumspräsidenten anerkenne wie den Landrat von Uxküll79. Landrat von Ulrich präsidierte das erste Mal auf der Konsistoriumssitzung am 10. Dezember80. Zur gleichen Zeit ergriff die Gouvernementsregierung in der Frage der Herrnhuter die Initiative. Am 12. November legte sie für die Tätigkeit der Herrnhuter strenge Einschränkungen fest81. Bekanntlich wurde die Tätigkeit der Herrnhuterbewegung im Zarenreich vollständig mit dem Ukas der Zarin Elisabeth vom 16. April 1743 untersagt82. ———————————— 77 78 79
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SILD, Doomkirik (wie Anm. 20), S. 24 f. EAA, 1187-2-49, Bl. 81r–82r (Protokolle des Konsistoriums). EAA, 1187-2-49, Bl. 83r–86r. An der Sitzung nahmen der Oberpastor der Domkirche Mickwitz, der Propst von Ost-Harrien und Pastor von St. Jürgens Anton Thor Helle, der Pastor der Domkirche Albert Anton Vierorth, der Pastor von Fickel Johann Friedrich Gernet, der Pastor von St. Michaelis Joachim Salemann, der Propst von Land-Wiek und Pastor von Goldenbeck Heinrich Gutsleff und der Pastor von St. Martens Paul Hönn teil. EAA, 1187-2-49, Bl. 87r–88; siehe auch: ILJA, Vennastekoguduse (wie Anm. 63), S. 178 f., aber Ilja behauptet fälschlicherweise, dass „der langandauernde Kampf zwischen der Ritterschaft und dem Konsistorium mit der Bestätigung der Privilegien [endete], die der Ritterschaft im Frieden von Nystad gegeben wurden.“ EAA, 1187-2-407, Bl. 328–331 (acta consistorii); ILJA, Vennastekoguduse (wie Anm. 63), S. 152 ff. Guntram PHILIPP, Die Wirksamkeit der Herrnhuter Brüdergemeine unter den Esten und Letten zur Zeit der Bauernbefreiung. (Vom Ausgang des 18. bis über die Mitte des 19. Jhs.), Köln / Wien 1974 (Forschungen zur internationalen Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, 5), S. 162; Siehe auch: ILJA, Vennastekoguduse (wie Anm. 63), S. 190–201; DERS., Vennastekoguduse (herrnhutluse) ajalugu Eestimaal (Põhja-Eesti) 1744–1764 [Die Geschichte der Brüdergemeinden (Herrnhuter) in Estland (Nordestland) 1744–1764], Tallinn 2000, S. 11, 15–23.
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Einen deutlichen Einschnitt in der Entwicklung der Kirchenverfassung der Provinz markierte der Ukas des Senats vom 6. Juli 1743, der zwei wichtige miteinander verknüpfte Fragenkomplexe behandelte. Zum einen wurden die früheren Anordnungen der Zentralmacht bezüglich auf eine gemischte Zusammensetzung des Konsistoriums und des Oberappellationsgerichts bestätigt. Zum anderen wurde die endgültige Entscheidung bezüglich der Institution des geistlichen Kirchenleiters bekannt gegeben – das Amt des Bischofs wurde für abgeschafft erklärt83. Somit wurde die estländische Territorialkirche irreversibel der Leitung des weltlichen Konsistoriumspräsidenten untergeordnet. Künftig protestierte die Geistlichkeit nicht mehr gegen die weltliche Kirchenleitung, dennoch rief sie einen neuen Konflikt mit der Ritterschaft hervor als sie forderte, im Falle der Vakanz des Amtes des Konsistoriumspräsidenten das Recht zu haben, aus den Reihen der Landräte Kandidaten dafür zu nennen84. Die Landräte wollten das ius praesentandi des Konsistoriums nicht anerkennen. Die geistlichen Mitglieder des Konsistoriums wurden in der Frage bei der Gouvernementsregierung vorstellig, die sich ihrerseits um einer Lösung willen an den Senat wandte. Der Senat ordnete am 28. September 1764 an, Generalgouverneur Peter August von Holstein-Beck solle die Frage selbständig regeln85. Der damalige Konsistoriumspräsident Jürgen Johann von Stackelberg starb am 29. Mai 1765. Die Landräte wählten daraufhin den Landrat Otto Jürgen von Hastfer zu seinem Nachfolger. Die Mitglieder des Konsistoriums, der Oberpastor der Domkirche Wilhelm Christian Harpe und der Pastor der Domkirche Johann Friedrich Schultz, versuchten daraufhin, die Frage der Wahlordnung des Konsistoriumspräsidenten wieder aufzuwerfen. Hierfür riefen sie eine Sitzung des Konsistoriums zusammen und erbaten von allen Pastoren eine schriftliche Stellungnahme zu dieser Frage86. Auf der Konsistoriumssitzung am 14. September wurde beschlossen, Hastfer als Konsistoriumspräsidenten unter der Bedingung anzuerkennen, dass der Konflikt zwischen den Landräten und der Geistlichkeit bezüglich der Präsi———————————— 83
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PSZ, Bd. XI, Nr. 8756. Der entsprechende Ukas des Senats an die Gouvernementsregierung Estlands folgte am 11. Juli, in: EAA, 854-1-841, Bl. 80. Gemäß dem Kirchengesetz von 1686 hatte das Konsistorium das Recht, im Falle einer Vakanz des Amtes des Bischofs einen Kandidaten vorzuschlagen. Siehe Kirchen-Gesetz und Ordnung (wie Anm. 21), Cap. XX, § I. Die Stellen der geistlichen Assessoren besetzte das Konsistorium selbst nach eigenem Dafürhalten. Siehe auch: ANDRESEN, Kirikukorraldus (wie Anm. 6), S. 116 ff. EAA, 1187-2-72, Bl. 66, 67–67r, 69r–70r (Protokolle des Konsistoriums).
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dentenwahl gemäß dem Versprechen der Gouvernementsregierung eine baldige Lösung finde und dass das Recht des Konsistoriums, Präsidentenkandidaten vorzuschlagen, zugestanden wird87. Der entsprechende Memorial wurde der Gouvernementsregierung zugeleitet. Auf Einladung des Konsistoriums nahm Hastfer schon am nächsten Tag zum ersten Mal an dessen Sitzung teil88. Auf einer Versammlung am 9. Dezember deklarierten die Landräte ihre Bereitschaft, das ius praesentandi des Konsistoriums in Bezug auf das Präsidentenamt in der Form anzuerkennen, dass das Konsistorium drei Landräte seiner Wahl dem Oberlandgericht vorschlage, welches dann aus ihnen den Präsidenten auswähle. Die Landräte stellten die Bedingung, dass das Konsistorium die bisherigen Streitigkeiten um das Präsidentenamt aufgebe und deren Beendigung akzeptiere. Auch sollten in der Zeit der Vakanz des Präsidentenpostens keine regulären Konsistoriumssitzungen abgehalten werden. Laut dem Gegenvorschlag des Konsistoriums sollte das Konsistorium auf den Posten des Präsidenten zwei Kandidaten aus dem Kreis der Landräte berufen und die gewohnheitsmäßige Tätigkeit unter der Anleitung des ältesten Assessors fortgesetzt werden89. Der Generalgouverneur Holstein-Beck gab seine sachgemäße Entscheidung am 21. September 1766 bekannt, in der er sowohl die Ansichten der Landräte als auch die des Konsistoriums berücksichtigte: Im Falle der Vakanz des Präsidentenamtes solle das Konsistorium dem Oberlandgericht drei Kandidaten aus den Reihen der Landräte zur Auswahl stellen, die ihr Amt tatsächlich gerade in officio ausführten. Das Oberlandgericht unter Leitung des Generalgouverneurs oder des Gouverneurs sollte dann seine Wahl treffen und einen der vorgeschlagenen Kandidaten zum Konsistoriumspräsidenten ernennen. Bis der neue Präsident ins Amt trete, sollte das Konsistorium unter der Leitung des ältesten Assessors seine gewohnte Tätigkeit fortsetzen90. Die Entscheidung des Generalgouverneurs, die sowohl für die Geistlichkeit als auch für die Ritterschaft die Wahlordnung des Konsistoriumspräsidenten festlegte, war der letzte wichtige Meilenstein auf dem Weg der Unterordnung der Kirchenleitung Estlands unter die weltliche Macht. Später traten keine bemerkenswerten Probleme zwischen der Ritterschaft und der ———————————— 87
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An der Sitzung nahmen neben Harpe und Schultz noch der Propst von Wierland und Pastor von St. Simonis Johann Georg Borge, der Pastor von Kegel Otto Reinhold Holtz und der Pastor von Ampel Georg Christopher Fuhrmann teil. EAA, 1187-2-72, Bl. 72–75. EAA, 1187-2-426, Bl. 241r–242 (acta consistorii). EAA, 1187-2-426, Bl. 241–243r.
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Geistlichkeit in Bezug auf die Institution des Konsistoriumspräsidenten mehr auf91. In der Periode der russischen Herrschaft fehlte in Estland zwar die Stelle des Bischofs, aber die Bezeichnung des Amtes lebte fort. Der Konsistoriumspräsident wurde inoffiziell besonders unter den Ritterschaftsmitgliedern Landrat-Bischof oder einfach Bischof genannt92. *** In Bezug auf die deutschbaltische Historiografie seien in Verbindung mit dem Thema dieses Beitrags folgende Aspekte hervorgehoben. In den beiden oben bereits erwähnten einflussreichen Untersuchungen zur baltischen Geschichte finden sich bezüglich der Periode der schwedischen Herrschaft bedeutende faktische Fehler. Wittrams „Baltische Geschichte“ erwähnt zwar, dass es in Estland „seit 1565 einen evangelischen Bischof“ gegeben habe, doch macht der Autor anschließend keinen Unterschied mehr zwischen den Kirchenverhältnissen in Estland und in Livland und behauptet irrtümlich auch für die Kirchenverfassung Estlands, dass sie „durch starke Verknüpfung mit der ständischen Selbstverwaltung bestimmt“ worden sei: „Der grundbesitzende Adel war zugleich aktive Gemeinde und Obrigkeit“93. Im Werk „Baltische Länder“ aus der Siedler-Reihe „Deutsche Geschichte im Osten Europas“ werden die von der schwedischen Zentralregierung ernannten Bischöfe als Kirchenleiter Estlands zwar erwähnt, doch wird danach irrtümlicherweise behauptet, dass „die Konsistorialverfassung Estlands zehn geistliche Assessoren, darunter die Pröpste“ vorgesehen habe – „unter dem Vorsitz eines vom Oberlandgericht gewählten Landrates“ 94. ———————————— 91
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In der Statthalterschaftszeit (1783–1796) wurde das ritterschaftliche System der Selbstverwaltung umgestaltet, die Institution des Landrates wurde 1786 abgeschafft. Deshalb wurde in der Kooperation von Ritterschaft und Geistlichkeit auch die Regulierung der Berufung des Präsidenten modifiziert, doch nach 1796 traten die alten Regeln wieder in Kraft. Siehe ausführlicher: ANDRESEN, Kirikukorraldus (wie Anm. 6), S. 118 f. HUPEL, Topographische Nachrichten (wie Anm. 62), S. 468; Lief- und ehstländische Kirchenpatronat (wie Anm. 32), S. 15, Anm. *; Olaf SILD, „Halliko Valla Kohto ja Seädusse Ramat“ [„Das Gerichts- und Gesetzesbuch der Gemeinde Halliko“], in: Usuteadusline Ajakiri 1927, Nr. 3, S. 140–146, hier S. 141. Als sarkastisches Kuriosum kann ein offizielles Schreiben des Superintendenten von Ösel Leonhard Samuel Swahn aus dem Jahr 1766 an das Konsistorium Estlands gelten, das die Anschrift trägt „Hochwürdiger und Hochwohlgebohrener Herr Bischof und Praeses“, in: EAA, 1187-2-426, Bl. 190. WITTRAM, Baltische Geschichte (wie Anm. 4), S. 91. Heinz von zur MÜHLEN, Das Ostbaltikum unter Herrschaft und Einfluß der Nachbarmächte (1561–1710/1795), in: Baltische Länder (wie Anm. 4), S. 173–264, hier S. 205.
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Bezüglich der Kirchenverfassung nach 1710 sieht es nicht besser aus. Wittram hat es in seiner Darstellung nicht für nötig gehalten, seine Leser überhaupt von den Verhältnissen in Estland nach 1710 zu informieren. „Baltische Länder“ behandelt die Kirchenverfassung Estlands zwar erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts95, doch gewinnt die Leserschaft aus dem analysierenden Teil der entsprechenden Thematik den Eindruck, dass in Estland nach 1710 mit Hilfe der Ritterschaft die vorabsolutistische Kirchenverfassung der Schwedenzeit wiederhergestellt worden sei: Nach dem Nordischen Krieg hat auch die evangelisch-lutherische Kirche zu den Institutionen gehört, die völlig von vorn beginnen mußte. Der schwedische Absolutismus hatte die ständische Verfassung und damit auch die Landeskirche unterminiert und aus ihr eine quasistaatliche Institution machen wollen. Nach 1710 gelang es den Ritterschaften jedoch, mit der ständischen Autonomie zugleich die Landeskirche wieder in ihrem rechtlichen Freiraum abzusichern96.
Als Zusammenfassung der deutschbaltischen Historiografie zur kirchengeschichtlichen Forschung ist unter der Redaktion von Reinhard Wittram der Sammelband „Baltische Kirchengeschichte“ erschienen. Hierin wird die Kirchenverfassung aus der schwedischen und aus der russischen Zeit in verschiedenen Artikeln behandelt. Bei der Behandlung der Kirchenverfassung während der russischen Zeit heißt es hier: Wie auch in den meisten lutherischen Ländern Deutschlands standen die Konsistorien [in Est-, Liv- und Kurland; A.A.] unter weltlicher Leitung. [...] Den Präsidenten des Estländischen Provinzialkonsistoriums wählte unter zwei vom Konsistorium vorgeschlagenen Landräten das Oberlandgericht [...]97.
Aufgrund des geschilderten allgemeinen Hintergrunds und des erläuternden Teiles gewinnt die Leserschaft den Eindruck, dass in der Periode der russischen Herrschaft die Kirchenverfassungsverhältnisse in Estland gemäß den Kapitulationen und dem Frieden von Nystad auf der Basis aus der schwedischen Zeit bestehen blieben: ———————————— 95 96 97
PISTOHLKORS, Die Ostseeprovinzen (wie Anm. 4), S. 338 f. Ebenda, S. 281. Wilhelm LENZ, Zur Verfassungs- und Sozialgeschichte der baltischen evangelisch-lutherischen Kirche 1710–1914. Der Aufbau der Landeskirchen und die Stellung des Pastors in Liv-, Est- und Kurland, in: Baltische Kirchengeschichte. Beiträge zur Geschichte der Missionierung und der Reformation, der evangelisch-lutherischen Landeskirchen und des Volkskirchentums in den baltischen Landen, hg. v. Reinhard WITTRAM, Göttingen 1956, S. 110–129, hier S. 110.
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Gemäß den Kapitulationsverträgen und dem Nystader Frieden von 1721 blieben die zur schwedischen Zeit in Liv- und Estland getroffenen kirchlichen Einrichtungen auch unter russischer Herrschaft bestehen98.
In einer Übersichtsdarstellung zur Geschichte der estländischen Ritterschaft sind der Kirchenverfassung in der schwedischen Zeit zwei Seiten gewidmet, aber die Ereignisse, die sich in der Anfangsphase der russischen Herrschaft abspielten, sind vollständig außer Acht gelassen worden; mit nur zwei Sätzen wird die Lage der Kirchenverfassung nach der Einführung des Kirchengesetzes von 1832 beleuchtet99. Trotzdem kann nicht behauptet werden, dass es sich bei dem Forschungsproblem dieses Artikels um ein völlig unbekanntes Thema für die deutschbaltischen Autoren handelt. So wurde schon im Lexikon der estländischen Pastoren, zusammengestellt vom Pastor des Kirchspiels St. Simonis Hugo Richard Paucker, die Unterordnung des Konsistoriums unter einen Landrat als Präsidenten im Jahre 1715 erwähnt100. Einer der bekanntesten und verdienstvollsten Forscher der evangelischen Kirchengeschichte im Russländischen Reich im 19. Jahrhundert, der aus Frankfurt am Main stammende Pfarrer der deutschen reformierten Gemeinde in St. Petersburg Hermann Dalton, veröffentlichte eine sachkundige und recht bekannte Übersicht über die Geschichte der lutherischen Kirchenverfassung im Zarenreich, die auch die Ostseeprovinzen umfasst. Über die Entwicklungen in Estland nach 1710 schreibt er Folgendes: Der letzte Bischof flüchtete in die Heimat, als Schweden die Provinz einbüßte. Die russische Regierung war willens und hat dem auch in den Accordpunkten Ausdruck gegeben, dem Lande die bischöfliche Würde zu belassen; allein der Adel hielt widerstrebend die Sache hin, bis endlich der Senat am 11. Juli 1743 entgegen dem Wunsch der Geistlichkeit und des Konsistoriums entschied, daß fürderhin kein Bischof mehr sein solle. Den Vorsitz in dem Konsistorium hatte an Stelle des Bischofs ein juristisch geschulter Landrat erhal———————————— 98 99 100
Ebenda. WRANGELL / KRUSENSTJERN, Ritterschaft (wie Anm. 43), S. 28 ff., 49. PAUCKER, Geistlichkeit (wie Anm. 18), S. 16–19. Das Lexikon enthält neben kurzen Lebensläufen der Pastoren auch ein Verzeichnis der Bischöfe, Generalsuperintendenten, Pröpste, der weltlichen Präsidenten des Konsistoriums und der Assessoren. Die Darstellung dieses Lexikons übertritt deutlich die Grenzen eines gewöhnlichen Nachschlagewerks, denn sehr viele Informationen sind besonders zur Kirchengeschichte vom 17. bis 19. Jahrhundert hinzugefügt. Pauckers Werk stützt sich in erster Linie auf die reichhaltige Sammlung von Materialien zur Kirchengeschichte Estlands von Arnold Friedrich Johann Knüpffer (1777–1843, Pastor von St. Katharinen, Assessor des Konsistoriums Estlands und der erste Generalsuperintendent Estlands).
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ten, das einzige weltliche Mitglied in einer im übrigen nur aus Geistlichen bestehenden Behörde. [...] Jetzt, wo das veränderte Regiment auch manche Änderung in der Kirchenverfassung erwarten ließ, war der estländische Adel eifrig bemüht, in kirchlichen Angelegenheiten sich eine einflußreichere Stellung zu verschaffen. 1725 kam er bei der Regierung ein, daß fortan das Oberlandgericht die Appellationsinstanz für das Konsistorium bilden „und die Geistlichkeit der Ritterschaft, von der sie berufen würde, untergeben werde, selbige in Kirchensachen über sich erkenne und nicht die Macht haben solle, in kirchenrechtlichen Sachen etwas ohne Genehmigung der gemeinsamen Ritterschaft anzuordnen, auch der Ritterschaft die Episkopalrechte mit deren Ausübung zu verleihen.“ In der That kein geringes, für die Kirche aber bedenkliches Verlangen, das in seinen Wurzeln bis in die alte bischöfliche und Ordenszeit mit ihren tiefgehenden Kämpfen zurückweist101.
In einer Sache sind sich die Historiker aber doch eindeutig einig: Die lutherischen Kircheninstitutionen gehörten in den Ostseeprovinzen sowohl vor 1710 als auch danach zu den Hauptstrukturen der Gesellschaftsordnung. *** Zusammenfassend lässt sich Folgendes festhalten. In Estland bildete sich bis zum Anfang der 1640er Jahre eine stabile lutherische Kirchenverfassung heraus, die dank der Anstrengungen der schwedischen Zentralgewalt und trotz des Widerstands der Ritterschaft dem schwedischen episkopalen Kirchenleitungssystem folgte. An der Spitze der estländischen Territorialkirche stand ein Bischof, der sich bei der Kirchenleitung an das allein aus Geistlichen bestehende Konsistorium (consistorium purum) anlehnte. Die Einführung des schwedischen Kirchengesetzes von 1686 sowohl im Mutterland als auch in den Ostseeprovinzen vereinheitlichte die lutherische Kirchenverfassung des Staates. Im Zuge der allgemeinen Anwendung der rein geistlichen Kirchenleitungsordnung bei Bistümern und Superintendenturen wurde die Revaler Kirchenorganisation an den Machtbereich des estländischen Bischofs angegliedert. In diesem estländischen Bistum der schwedischen Territorialkirche übten nachfolgend der Bischof und das rein geistliche Konsistorium Seite an Seite die Kirchenleitung aus. Nach dem Kirchengesetz, das im absolutistischen Geiste verfasst worden war, wurde das ganze Kirchenwesen dem Kö———————————— 101
Hermann DALTON, Verfassungsgeschichte der evangelisch-lutherischen Kirche in Rußland, Gotha 1887 (Beiträge zur Geschichte der evangelischen Kirche in Rußland 1), S. 149 f.
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nig untergeordnet. In Estland stand die Kirchenleitung weiterhin im vollen Umfang außerhalb der Jurisdiktion der Ritterschaft. Sowohl alle Kapitulationen vom 1710 als auch der Friedensvertrag von Nystad gingen bei den Rechten der örtlichen Stände von einem festen Grundsatz aus: Die russische Seite bestätigte oder stellte die früher existierten Privilegien wieder her. Die Kapitulation der schwedischen Garnison in Reval und der Friedensvertrag von Nystad legten die weitere Existenz der Kirchenverfassung in Estland in unveränderter Form fest. Die Kapitulation der Estländischen Ritterschaft schrieb die Ernennung eines Bischofs vor. Die Kapitulation der Stadt Reval setzte die Wiederherstellung der Episkopalrechte der Stadt in der Form der Zeit vor der Anwendung des Kirchengesetzes von 1686 fest. Die Einführung der russischen Herrschaft brachte für das baltische Luthertum zwei grundsätzliche Neuerungen im allgemeinen politischen Rahmen mit sich. Erstens änderte sich das Machtverhältnis zwischen den Ständen und der Zentralgewalt. In den ersten Jahrzehnten mischte sich die russische Regierung meistens nicht in die örtlichen Angelegenheiten ein. Zudem fingen die Ritterschaften und die Städte auf Kosten des nachlassenden Einflusses der Zentralgewalt an, ihre Machtbefugnisse zu erweitern. In der Provinz Estland verließ sich die Zentralverwaltung bei der Ausführung der staatlichen Gewalt anfangs zumeist auf die Landräte. Zweitens verloren die lutherischen Geistlichen ihre bisherige politische Rückendeckung in Form der direkten Unterstützung durch die staatliche Zentralmacht. Die russische Reichsregierung, die mit der russisch-orthodoxen Kirche eine andere Konfession vertrat, war nicht besonders an der Entwicklung des Luthertums in den neuen Provinzen interessiert. Für die Stadt Reval blieb das episkopale Kirchenleitungssystem unter dem estländischen Bischof ein kurzfristiges Zwischenspiel, das weniger als zwei Jahrzehnte andauerte, weil bereits vor dem Ablauf des Jahres 1710 der Magistrat das frühere konsistoriale Kirchenleitungssystem so einrichtete, wie es in der Anfangsperiode der schwedischen Herrschaft existiert hatte. Die Tätigkeit der Landräte bei der Wiederherstellung der estländischen Kirchenleitung 1713 kann als erster Schritt (gleichzeitig auch als letzter) in die richtige Richtung bei der Ausführung der in den Kapitulationen festgelegten Bedingungen bewertet werden. Die Berufung des Pastors Blanckenhagen als Konsistoriumspräsident und die ihm gegebene Instruktion, bei der Kirchenleitung vom Kirchengesetz des Jahres 1686 auszugehen, setzten die bisherige rein geistliche Kirchenleitungstradition fort. Es muss aber unter-
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strichen werden, dass das Amt des Präsidenten des geistlichen Konsistoriums von seinem Gewicht her nicht mit dem des Bischofs zu vergleichen war. Eine wichtige Zäsur in der Verfassungsgeschichte Estlands war das Jahr 1715. Zum ersten Male übernahm ein Vertreter der weltlichen Macht die Funktionen der Kirchenleitung, zum ersten Male wurde das consistorium purum durch ein consistorium mixtum ersetzt. Die Subordination der estländischen Territorialkirche unter die Leitung des Landrats als Konsistoriumspräsidenten bedeutete die Einführung des konsistorialen Kirchenleitungssystems, das charakteristisch auch für die deutschen Gebiete war. Im rechtlichen Sinne stand der Systemwechsel im Widerspruch sowohl zur Kapitulation der schwedischen Garnison in Reval und zur Kapitulation der Estländischen Ritterschaft als auch zum Kirchengesetz des Jahres 1686. Bis 1725 wurde dies durch keine legitime Rechtsnorm gerechtfertigt. Die Bevollmächtigung von Uxkülls durch die Landräte, welche diesem erlaubte, im Konsistorium zu präsidieren, war rechtswidrig. Die Landräte hatten nicht das Recht, eine derartige Vollmacht auszustellen, weil die Legislative sowohl unter schwedischer als auch unter russischer Herrschaft bei der Zentralregierung lag. Der Systemwechsel in der Kirchenleitung Estlands stellte einen klaren Rechtsbruch dar. Kirche und Religion waren die einzigen Lebensbereiche der inneren Angelegenheiten der Provinz, die bis 1715 außerhalb der Selbstverwaltung der Ritterschaft gestanden hatten. Die Kontrolle über die Kirchenleitung zu erlangen, war aber bereits seit den Anfängen der schwedischen Herrschaft deren Ziel gewesen. Die Frage, ob der rechtswidrigen Tätigkeit der Landräte neben dem Streben nach Erweiterung von Macht und Einfluss auch andere Motive zugrunde lagen, bedarf noch einer Antwort. Obwohl die Quellen solch einen Gedanken nicht bestätigen, könnte doch für einen Augenblick vermutet werden, dass die Ritterschaft bei der Wende im Jahre 1715 von Überlegungen und Auffassungen geleitet wurde, die mit den schwierigen und unruhigen Umständen der Kriegszeit verbunden waren: Es war anfangs einfach praktisch nicht möglich, einen Bischof an die Spitze der estländischen Kirche zu berufen. Ein rechtmäßiges Verhalten der Ritterschaft hätte hingegen eine Wiederherstellung der rein geistlichen Kirchenleitung und die Ernennung eines Bischofs unter den politisch stabileren Verhältnissen nach dem Abschluss des Friedensvertrags vorausgesetzt. Der vom russischen Zaren ratifizierte Frieden von Nystad bestätigte doch ausdrücklich, dass alle Stände der baltischen Provinzen weiterhin über ihre Privilegien aus der Zeit der schwedischen Herrschaft verfügten und die Kirchenverfassung unangetastet bleiben sollte.
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Tatsache ist aber, dass die Estländische Ritterschaft ihre Bemühungen ganz und gar der Legitimierung ihrer rechtswidrigen Umgestaltung post factum widmete und tatsächlich die Herausgabe entsprechender Ukase der Zentralregierung erreichte. Zudem ist in den Quellen eindeutig dokumentiert, dass nach der Berufung des Landrats zum Konsistoriumspräsidenten die Ritterschaft sich die völlige Unterordnung der Geistlichkeit zum Ziel setzte. Aus den Quellen ist auch eindeutig zu ersehen, dass die Vertreter der estländischen Geistlichkeit im Konsistorium bei der ersten passenden Gelegenheit in der Nachkriegszeit, d.h. sofort nach dem Tod des Landrats von Uxküll, alles Erdenkliche taten, um die frühere rein geistliche Kirchenleitungsordnung wiederherzustellen, da sie die Ernennung eines Landrats auf den Posten des Konsistoriumspräsidenten für eine ernsthafte Rechtsverletzung hielten. Weil sich aber die Zentralregierung im Machtkonflikt zwischen der Ritterschaft und der Geistlichkeit auf die Seite der Ritterschaft stellte, war der Ausgang klar. Aus den Darlegungen des vorliegenden Beitrags sollte ersichtlich werden, dass ein wichtiges Paradigma der deutschbaltischen Geschichtsschreibung in Bezug auf die Wiederherstellung der ständischen Selbstverwaltungsordnung aufgrund der Rechtskontinuität im Gouvernement Estland einer Korrektur bedarf. Nach der Einführung der russischen Herrschaft stellte die Estländische Ritterschaft in Übereinstimmung mit den Kapitulationen von 1710 und dem Friedensvertrag von Nystad von 1721 ihre früheren Selbstverwaltungsrechte in Bezug auf die weltliche Verwaltung und das Gerichtssystem wieder her. Die lutherische Kirche hingegen wurde von der Ritterschaft rechtswidrig ihrer Leitung benommen, womit die Anordnungen sowohl der Kapitulationen als auch des Friedensvertrages von Nystad verletzt wurden. Es ist nicht schwer zu verstehen, warum die deutschbaltische Historiografie die rechtswidrigen Umgestaltungen in der Kirchenleitung Estlands übersehen hat. Wie bereits eingangs erwähnt, hing die Position der deutschbaltischen Stände in den baltischen Gouvernements des Zarenreichs davon ab, ob die Zentralregierung die örtlichen Selbstverwaltungsrechte anerkannte. Im 19. Jahrhundert, als die deutschbaltische Gesellschaft Auge in Auge mit den immer stärker werdenden Intervention der Zentralmacht in die inneren Angelegenheiten der Gouvernements der Regierung gegenüberstand, beruhte der deutschbaltische Oppositionsdiskurs darauf, dass der Widerstand sich aus dem Grundsatz der aus der Rechtskontinuität gefolgerten Rechtmäßigkeit ableitete, wobei die Kapitulationen von 1710 und der Friedensvertrag von Nystad – die Grundlage der Selbstverwaltungsrechte – als die zentralen
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Argumente galten. Aber der rechtswidrige Systemwechsel in der estländischen Kirchenleitung bedeutete, dass die erste ernsthafte Verletzung der Bedingungen der Kapitulationen und des Friedensvertrages von Nystad mit bedeutenden gesellschaftlichen Folgen nicht etwa von der russischen Zentralmacht vollzogen wurde, die eine Unifizierung ihres Herrschaftsgebiets anstrebte, sondern von der Estländischen Ritterschaft selbst. Um der Erweiterung der eigenen Machtbefugnisse und damit auch ihres wirtschaftlichen Wohlergehens willen brach sie die Bedingungen der Kapitulationen und des Friedensvertrages auf Kosten der lutherischen Geistlichkeit. Diese Tatsache hätte aber die Legitimität des deutschbaltischen Rechtsdiskurses ernsthaft untergraben.
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Katharina II. und die Kapitulationen von 1710* Die Beziehungen zwischen dem Zentralstaat Russland und seinen baltischen Provinzen im 18. Jahrhundert sind in der bisherigen Historiografie meist aus der Perspektive Rigas oder Revals untersucht worden1. Diese Epoche ist im Allgemeinen als Konflikt zwischen der auf den Vorstellungen des aufgeklärten Absolutismus beruhenden Unifizierungspolitik der Zarin und den Bemühungen der deutschbaltischen Ritterschaften sowie der städtischen Oberschicht zur Bewahrung des status quo verstanden worden. Es liegen jedoch beinahe keine Untersuchungen zu diesem Thema aus der Sicht von St. Petersburg und Moskau vor. Betrachtet man den baltischen Landesstaat aus der baltischen Perspektive, so mutet er als ein einzigartiges und einmaliges Gebilde an, dessen Sonderstatus als selbstverständlich gilt, wobei jeder Versuch, diesen aufzulösen, als Anomalie gedeutet wird. Aus der Sicht von St. Petersburg oder Moskau hingegen dürfte sich ein ganz anderes Bild herausgeformt haben. Für die absolutistische Regierungsform, die in Europa im 18. Jahrhundert vorherrschte, war nämlich regionale ————————————
* Dieser Beitrag wurde im Rahmen der Forschungsförderung der Estnischen Republik SF0180006s11 & ETF 9164 verfasst. 1 Julius ECKARDT, Livland im 18. Jahrhundert, Bd. 1, Leipzig 1876; Hasso von WEDEL, Die estländische Ritterschaft vornehmlich zwischen 1710 und 1783, Königsberg / Berlin 1935 (Osteuropäische Forschungen, N.F. 18); Georg SACKE, Livländische Politik Katharinas II., in: Quellen und Forschungen zur Baltischen Geschichte 5, Riga / Posen 1944, S. 26–72; Janis ZUTIS, Ostzejskij vopros v XVIII veke [Die baltische Frage im 18. Jahrhundert], Riga 1946; Edgars DUNSDORFS, Latvijas vēsture 1710–1800 [Geschichte Lettlands 1710–1800], Stockholm 1973; Hubertus NEUSCHÄFFER, Katharina II. und die baltischen Provinzen, Hannover-Döhren 1975 (Beiträge zur baltischen Geschichte 2); Otto-Henrich ELIAS, Reval in der Reformpolitik Katharinas II. Die Statthalterschaftszeit 1783–1796, Bonn-Bad Godesberg 1978 (Quellen und Studien zur baltischen Geschichte 3), Mati LAUR, Eesti ala valitsemine 18. sajandil (1710–1783) [Die Verwaltung des estnischen Gebiets im 18. Jahrhundert (1710–1783)], Tartu 2000; DERS., Die Verortung des Baltikums im Russischen Imperium zu Beginn der Regierungszeit Katharinas II., in: Estland und Russland. Aspekte der Beziehungen beider Länder, hg. v. Olaf MERTELSMANN, Hamburg 2005 (Hamburger Beiträge zur Geschichte des östlichen Europa 11), S. 31–52; Ralph TUCHTENHAGEN, Zentralstaat und Provinz im frühneuzeitlichen Nordosteuropa, Wiesbaden 2008 (Veröffentlichungen des Nordost-Instituts 5).
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Autonomie eher eine Ausnahme als die Regel2. Das Prinzip der Autonomie konnte sich nicht mehr allein auf die Tradition stützen, dass es seit Jahrhunderten so und nicht anders gewesen sei. Es musste vielmehr einen konkreten und meistens sehr pragmatischen Grund geben, der sich aus der aktuelle Situation herleiten ließ. Ebenso wie die ursprüngliche Anerkennung der baltischen Autonomie seitens des Russländischen Reichs durch die Realitäten des Großen Nordischen Krieges bedingt war, so ist auch die Erhaltung des Landesstaates in erster Linie auf die Schwäche des russischen Absolutismus in den Jahrzehnten nach der Regierungszeit Peters I. zurückzuführen. Während mehrerer Jahrzehnte nach dem Tod des ersten Imperators wurden keine umfassenden Reformen in Russland durchgeführt, die einen Konflikt zwischen den Zentralbehörden und den Ostseeprovinzen hätten heraufbeschwören können. Stellte man die Entwicklung der baltischen Autonomie in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts grafisch dar, so müsste sie seit dem Tod Peters I. im Jahre 1725 bis zum Regierungsantritt von Elisabeth I. durch eine ansteigende Linie dargestellt werden. Der Sonderstatus der Region wurde von allen Nachfolgern Peters I. akzeptiert. Diese Kontinuität betonten auch die Formulierungen bei der jeweiligen Bestätigung der Privilegien: „In dieser Form wie sie unter meinem Großvater und meiner Großmutter bestätigt wurden“ (Peter II.); „ebenso wie dies die vorherigen Herrscher […] geruhten zu tun“ (Anna); „so wie sie im Laufe der Zeit bestätigt worden sind“ (Elisabeth)3. Wenn auch alle Herrscher Russlands, die Peter I. auf dem Thron folgten, beim Amtsantritt die Privilegien der Ostseeprovinzen bestätigt haben, kann schon in den 1740er Jahren eine Veränderung der Einstellung gegenüber dem baltischen Landesstaat festgestellt werden. Elisabeth I. bestätigte zwar die Privilegien, widerstand aber entschlossen der Erweiterung der regionalen Autonomie4. Auch wenn von einer weiteren Ausdehnung des Landesstaates somit keine Rede sein konnte, nahm doch Elisabeth I. nicht das Geringste zurück, was den beiden Provinzen Estland und Livland bereits zugesprochen worden ———————————— 2
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Zur Absolutismus-Debatte siehe Heinz DUCHHARDT, Das Zeitalter des Absolutismus, München 1998 (Oldenburg Grundriss der Geschichte 11), S. 159–165; Luise SCHORNSCHÜTTE, Geschichte Europas in der Frühen Neuzeit. Studienhandbuch 1500–1789, Paderborn 2009 (UTB 8414), S. 132 f.; Karl VOCELKA, Geschichte der Neuzeit 1500–1918, Wien u.a. 2010 (UTB 3240), S. 175–180. Polnoe sobranie zakonov Rossijskoj Imperii s 1649 goda (künftig: PSZ), Sanktpeterburg 1830, Bd. VIII, No. 5330 (12.9.1728), No. 5332 (12.9.1728), No. 5607 (23.8.1730), No. 5608 (23.8.1730); Bd. XI, No. 8573 (25.6.1742), No 8574 (25.6.1742). LAUR, Die Verortung des Baltikums im Russischen Imperium (wie Anm. 1), S. 33 f.
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war. Wenn wir zu unserer Grafik, welche die Entwicklung der baltischen Autonomie verdeutlicht, zurückkommen, so zeigt es sich, dass die ansteigende durch eine fast konstante horizontale Linie durch die zwei Jahrzehnte der Regierungszeit Elisabeths fortgesetzt wird. Durch den Regierungsantritt Katharinas II. im Sommer 1762 wurden die Beziehungen zwischen St. Petersburg und den baltischen Provinzen der bisherigen Stabilität beraubt. Die wichtigste Quelle baltischen Ursprungs, in der der politische Zustand in St. Petersburg nach der Palastrevolution behandelt wird, sind die aus der Hauptstadt und Moskau geschickten Briefe des livländischen Landrats Carl Friedrich Schoultz von Ascheraden (1720–1782)5 sowie sein Bericht über den Verlauf der Bestätigung der Privilegien, den er dem livländischen Landtag von 1765 vorlegte6. Als Vertreter der Livländischen Ritterschaft kam Schoultz bereits im Dezember 1761 in St. Petersburg an, um sich an der Arbeit der noch von Elisabeth I. einberufenen gesetzgebenden Kommission zu beteiligen. Im Unterschied zu der späteren, von Katharina II. gebildeten pompösen Großen Gesetzgebenden Kommission, umfasste Elisabeths Kommission nur einen kleinen Kreis von Experten, dessen Tätigkeit nach dem Ableben Elisabeths abgebrochen wurde. Schoultz blieb aber weiterhin in St. Petersburg, um nach Bestätigung der Privilegien von ihrem Nachfolger Peter III. zu ersuchen. Auch dieser Auftrag konnte nicht erledigt werden da der Kaiser schon bald seine Macht (und sein Leben) verlor. Schoultz war jedoch gezwungen, weiterhin in St. Petersburg zu bleiben, um nun bereits Peters Gattin Katharina II. um Konfirmation der Privilegien zu bitten. Da die neue Herrscherin durch die Entthronung Peters III., der für die Ostseeprovinzen Sympathie gezeigt hatte, an die Macht gekommen war, hätte man erwarten können, dass sie oder vielmehr diejenigen Kreise, die ihr zur Macht verholfen hatten, nun im Begriff waren, die Rechte der Deutschbalten zu beschneiden7. ———————————— 5
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Friedrich BIENEMANN jun., Aus der Korrespondenz des Landraths Karl Friedrich Freiherrn von Schultz-Ascheraden 1761–1763, in: Baltische Monatsschrift 45 (1898), S. 1– 28, 121–146, 211–236. Woldemar von BOCK, Relation aus den Delegations-Acten des Freiherrn C. F. SchoultzAscheraden, in: Livländische Beiträge, Bd. 3, H. 3, Leipzig 1870, S. 82–95; Julius ECKARDT, Livland im achtzehnten Jahrhundert, Leipzig 1876, S. 288–297. Auch in den Briefen von Schoultz wurden die Vorgänge um die baltischen Privilegien als eine Kraftprobe zwischen dem Senat und der Kaiserin dargestellt: „Alle bisher eingeleiteten Verbindungen hatten über Nacht ihren Werth verloren, die Rathgeber der neuen Monarchin sahen die Livländer, welche zu den Freunden des verstorbenen Kaisers gehalten, für ihre natürlichen Gegner an und thaten Alles, was in ihren Kräften stand, um die Privilegienbestäti-
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Schoultz schrieb in seiner Korrespondenz, es herrsche in den Machtkorridoren eine Einstellung, als „wären unsere Privilegien bei jedesmaliger Veränderung der Regierung en suspens, so dass es bloß von der willkürlichen Gnade des neuen Souverains abhinge, deren ferne Gültigkeit entweder zu confirmieren oder aufzuheben“; dass sie „durch Capitulation und Friedensschlüsse zu einem ewigen und unwandelbaren Gesetz sanciret sind“8, konnte Schoultz nicht erkennen. Sicherlich fehlte es am kaiserlichen Hof nicht an Personen, die gewillt waren, den Einfluss der Deutschbalten zu verringern und die entstandene Situation dafür auszunutzen. Auf jeden Fall hatten die Livländer und Estländer allen Grund, auch mit bedeutend düsteren Szenarien zu rechnen. Katharina II. selbst dagegen schien die Bestätigung der baltischen Privilegien eben als eine routinemäßige Prozedur anzusehen. Wie die Kaiserin später zugab, fehlte ihr in ihren ersten Regierungsjahren eine klare Vorstellung von diesen Sonderrechten9. Auf Grundlage der vorhandenen Quellen kann man behaupten, dass sie auch während der Bestätigungsprozedur keine Stellung dazu nahm. Die „durchaus gnädige“ Stimmung der Kaiserin10 wurde durch die Hofintrigen dennoch nicht beeinflusst. Am 19. Dezember 1762 (alle Daten sind nach dem alten Stil angegeben) bestätigte Katharina II. die Privilegien der Livländischen Ritterschaft in der Formulierung: „so wie im Kapitulationsakt vom 30. Juli 1710 bestätigt und wie meine Vorgänger kraft dieses Aktes konfirmiert haben“11. Die Ritterschaft entnahm diesem Wortlaut, dass die Bestätigung der Rechte, die ihnen von den Nachfolgern Peters I. verliehen worden waren, abgelehnt wurde, und Schoultz begann nun eine Änderung des Wortlauts zu beantragen, damit die Worte „kraft dieses Aktes“ (na osnove upomjanutoj konfirmacii) gelöscht werden könnten12. In die Aktion der Ritterschaft wurden sowohl einer der wichtigsten Befürworter der Deutschbalten in der Umgebung der Kaiserin, Generalfeldzugmeister Alexander de Villebois
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gung zu hintertreiben und der den Ostseeprovinzen durchaus gnädig gesinnten Kaiserin Mißtrauen gegen die angeblichen Schützlinge des bisherigen Regenten einzuflößen“. ECKARDT, Livland (wie Anm. 6), S. 288. BIENEMANN, Aus der Korrespondenz (wie Anm. 5), S. 131. Vasilij A. BIL’BASOV, Istorija Ekateriny II [Die Geschichte Katharinas II.], Bd. 2, Sankt Peterburg 1891, S. 289. BIENEMANN, Aus der Korrespondenz (wie Anm. 5), S. 131. PSZ, Bd. XVI, No 11727 (19.12.1762). ECKARDT, Livland (wie Anm. 6), S. 294 f.
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(1716–1781)13, als auch der livländische Generalgouverneur George von Browne (1698–1792) einbezogen, der keine Mühe scheute, persönlich nach St. Petersburg zu reisen14. Aus den Briefen von Schoultz geht hervor, dass sich auch die Gegenpartei beeilte. Als die Livländer versuchten, die Besorgung des Pergaments zu verzögern, um Zeit zu gewinnen, mit Katharina II. möglichst eine günstige Formulierung auszuhandeln, verlangte der Generalprokuror Aleksandr Glebov (1722–1790), den Schoultz als einflussreichsten Gegner der Balten ansah15, dass die Privilegien der Livländischen Ritterschaft auf das Pergament geschrieben werden sollten, das von einem Vertreter der Stadt Wiborg mitgebracht worden war16. Am 27. August 1763 unterzeichnete Katharina II. die Generalkonfirmation der Privilegien der Livländischen Ritterschaft allerdings ohne Änderung ihrer ursprünglichen Formulierung17. Um die dadurch hervorgerufene Unzufriedenheit der Livländer zu besänftigen, ergänzte die Kaiserin am 23. September 1763 die Suplik der Ritterschaft um eine Resolution, in der sie deklarierte, dass „sie von allem dem, was die livländische Ritter- und Landschaft von unsern Vorfahren erhalten hat, nicht das Geringste zu nehmen Willens sei“18. Schon recht bald musste die Kaiserin aber feststellen, welche Hindernisse die baltische Autonomie mit sich brachte. So erlaubte die gültige Ordnung die Domänengüter nur an matrikulierte Adlige zu verpachten, was ihr die Möglichkeit nahm, diese ihren nicht-matrikulierten Unterstützern zu überlassen. Die Privilegien, die den baltischen Städten verliehen waren, behinderten die gesamtstaatliche Handelspolitik der Kaiserin. Die in Liv- und Estland geltende, von den anderen Gouvernements abweichende Hakenbesteuerung konnte die Unterhaltskosten des Militärs nicht decken19. Diese Umstände zwangen Katharina hinsichtlich der baltischen Privilegien eine sehr viel kritischere Position zu beziehen. Spätestens Anfang 1764 hatte die Kaiserin nicht nur hinsichtlich der Ostseeprovinzen, sondern auch hinsichtlich der anderen privilegierten Grenzgebiete des Russländischen Reiches einen ———————————— 13 14
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BIENEMANN, Aus der Korrespondenz (wie Anm. 5), S. 145. Sbornik Imperatorskogo Russkogo Istoričeskogo Obščestva (künftig: SIRIO), Bd. VII, Sankt Peterburg 1871, S. 314. BIENEMANN, Aus der Korrespondenz (wie Anm. 5), S. 20. Reinhold STAEL VON HOLSTEIN, Zur Geschichte der livländischen Privilegien, in: Baltische Monatsschrift 51 (1901), S. 1–30, 81–98, hier S. 29. PSZ, Bd. XVI, No. 11905 (27.8.1763). Original: „iz vsego čem lifljandskoe rycarstvo i zemstvo predkami našimi požalovany, ničego otnjat’ u nich ne namerena“. BOCK, Relation (wie Anm. 6), S. 95. LAUR, Eesti ala valitsemine (wie Anm. 1), S. 131 f., 138–141, 171 f.; TUCHTENHAGEN, Zentralstaat und Provinz (wie Anm. 1), S. 365 f., 368.
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festen Standpunkt eingenommen. Dies kam in einer politischen Anweisung an Fürst Aleksandr Vjazemskij (1727–1793), der Glebov als Generalprokuror nachgefolgt war, anschaulich zum Ausdruck: Kleinrussland, Livland und Finnland sind von ihrem Charakter her Provinzen, die nach ihren von uns konfirmierten Privilegien regiert werden. Diese Provinzen durch ein plötzliches Nichtanerkennen der Privilegien zu verletzen, wäre ausgesprochen taktlos. Sie als ausländisch zu bezeichnen und mit ihnen dergestalt umzugehen würde einen noch größeren Fehler und eine komplette Dummheit darstellen. Diese Provinzen muss man auf die einfachste Art und Weise dahin bringen, dass sie russisch werden [obruseli], und aufhören, wie die Wölfe in den Wald zu schauen20.
Es folgte eine pompöse Rundreise Katharinas II. durch Est- und Livland im Sommer 1764, deren Repräsentation eindeutig russisch geprägt war. So wurde die Kaiserin von russischen Kaufleuten mit Brot und Salz empfangen, russisch-orthodoxe Gottesdienste fanden in ihrer Anwesenheit statt und alle deutschsprachigen Begrüßungsansprachen wurden im Namen der Kaiserin von Grigorij Orlov auf Russisch beantwortet. All dies sollte demonstrieren, dass die Ostseeprovinzen fest und unerschüttert zum Russländischen Reich gehörten21. Schon in den Jahren 1762 bis 1764 wurde die Verpachtung der Domänengüter umgestaltet22; von 1763 bis 1765 eine neue Handelsordnung für die Stadt Riga ausgearbeitet23; 1765 schlug der livländische Generalgouverneur George von Browne im Auftrag der Kaiserin dem livländischen Landtag Präpositionen vor, welche die Bauernlage in den Provinzen verbessern sollten24. 1766 wurde die Polizeiordnung für die Kleinstädte erlassen25. In den Jahren 1766– 1767 veränderte die Regierung ihre Einstellung zu den Rechten der Lehensgüter zugunsten des Staates26. Auch das Recht des baltischen Adels, selbst neue Mitglieder in die Ritterschaften zu inkorporieren, kritisierte Katharina scharf, ———————————— 20 21
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SIRIO, Bd. VII, Sankt Peterburg 1871, S. 348. Zur Reise siehe Guzel’ IBNEEVA, Katharina II. und die Gesellschaft in den Ostseeprovinzen im Jahre 1764, in: Narva und die Ostseeregion / Narva and the Baltic Sea Region. Beiträge der II. Internationalen Konferenz über die politischen und kulturellen Beziehungen zwischen Russland und der Ostseeregion (Narva, 1.–3. Mai 2003) / Papers presented at the II International Conference on Political and Cultural Relations between Russia and the Baltic Region States (Narva, 1–3. May 2003), hrsg. v. Karsten BRÜGGEMANN, Narva 2004 (Studia humaniora et paedagogica collegii Narovensis 1), S. 193–202. PSZ, Bd. XVI, No. 11984 (5.12.1763), No. 12300 (28.12.1764). PZS, Bd. XVII, No. 12518 (7.12.1765). ECKARDT, Livland (wie Anm. 6), S. 313–316. PSZ, Bd. XVII, No. 12636 (4.5.1766). LAUR, Eesti ala valitsemine (wie Anm. 1), S. 126 ff.
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die ostentativ fragte, wer denn nun „einen Edelmann machen“ könne, sie selbst, die Kaiserin, oder die Livländische Ritterschaft27? Die im Sommer 1767 in Moskau einberufene Große Gesetzgebende Kommission hätte zweifellos das Ende des baltischen Landesstaates bedeuten können. Ein paar Wochen vor der Öffnung der Kommission gelang es dem livländischen Landrat Johann Adolph Freiherr von Ungern-Sternberg (1726– 1793), zu einem Empfang der Kaiserin geladen zu werden. Die Botschaft der Kaiserin war für die Livländer schwerlich als angenehm zu bezeichnen: Sie haben deutsche, polnische und schwedische Gesetze, und sie können es doch nicht leugnen, daß die Richter die Gesetze gedreht haben, wie sie es gewollt, jetzo aber sollen Sie Gesetze bekommen, die deutlich und rein sind, womit ein Jeder zufrieden sein wird, und solche Gesetze, wie Sie noch nie bessere gehabt haben, noch bekommen können, und ich hoffe, daß Niemand hierinnen Hinderung machen wird28.
Dem letztgenannten Rat der Kaiserin folgten die deutschen Balten indes nicht. Der erste ernsthafte Konflikt entstand im Oktober 1767, als der Vollversammlung der Kommission der erarbeitete Entwurf eines Gesetzes über die Adelsrechte verlesen wurde, der nicht den geringsten Hinweis auf die baltischen Privilegien beinhaltete. Nun wurde von den baltischen Delegierten eine gemeinsame Petition der drei Ritterschaften abgefasst, worin ersucht wurde, in den Ostseeprovinzen die bisherige Rechtsordnung beizubehalten. Im nächsten Monat wurde mit dem Verlesen der baltischen Privilegien begonnen, begleitet von kritischen Ansprachen der russischen Abgesandten, die darauf beharrten, dass im Reich für alle die gleichen Gesetze gelten müssten: Es nimmt sich wunderlich aus, dass in Liv- und Estland, welche schon vor so langer Zeit unter russische Herrschaft gekommen sind, die Rechtsprechung nach ausländischen Gesetzen erfolgt, welche von solchen Fürsten gegeben wurde, mit denen sie jetzt nichts zu thun haben29.
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Zit. n. Alexander von TOBIEN: Die Livländer im ersten russischen Parlament (1767– 1769), in: Mitteilungen aus der livländischen Geschichte, Bd. 23, Riga 1924–1926, S. 424–484, hier S. 445. Zit. n. Reinhold STAEL VON HOLSTEIN, Die Kodifizierung des baltischen Provinzialrechts, in: Baltische Monatsschrift 52 (1901), S. 185–208, 249–280, 305–358, hier S. 272. SIRIO, Bd. VIII, Sankt Peterburg 1871, S. 350; Alexander BRÜCKNER, Die Verhandlungen der „grossen Kommission“ in Moskau und St. Petersburg 1767–1768, in: Russische Revue 22 (1883), S. 325–356, 411–432, 500–541, hier S. 513; siehe auch SIRIO, Bd. VIII, S. 330, 335, 337, 349.
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Möglicherweise hielten sich einige Abgesandte in ihren Ansprachen an die Richtlinien, die von der Kaiserin selbst gegeben worden waren. Auf jeden Fall unterbreitete Katharina II. dem Generalprokuror Vjazemskij eine Reihe von Thesen hinsichtlich der Frage der baltischen Privilegien, damit dieser sie durch Vermittlung eines Delegierten der Vollversammlung der Kommission vorlege30. Die Kaiserin machte den Deutschbalten jedoch keine Zugeständnisse: „Sie sind Untertanen des Russländischen Reiches und ich bin nicht die Kaiserin von Livland, sondern die aller Russen“31. Die Reden der baltischen Gesandten zur Rechtfertigung der baltischen Privilegien blieben unter Berücksichtigung der allgemeinen Auffassung der Versammlung eher blass. Alexander de Villebois’ Behauptung, „es ist nicht nötig, dass alle Untertanen der Kaiserin unbedingt nach denselben Gesetzen leben“32, war unter Beachtung der Ziele der gesetzgebenden Kommission keineswegs überzeugend. Alles wies darauf hin, dass die Gültigkeit der neuen, noch auszuarbeitenden Verfassung auch auf die baltischen Gouvernements ausgeweitet werden sollte – und dies unter tätiger Anteilnahme der deutschen Balten selbst. Als der Entwurf eines Gesetzes über die Adelsrechte im Juli 1768 erneut der Vollversammlung verlesen wurde, fand sich darin nach wie vor kein Wort zu den baltischen Privilegien. Um eine größere Wirkung zu erzielen, erstellen die Deutschbalten zusammen mit adligen Abgesandten aus Altfinnland, der Ukraine und aus Smolensk eine gemeinsame Petition, worin darum gebeten wurde, die vorhandenen Privilegien beizubehalten und die für den russischen Adel eingeführten Rechte nicht auf die genannten Gebiete auszuweiten33. Katharina II. war über die Aktion der Deutschen aus den Ostseeprovinzen sichtlich verärgert: „Die Herren Livländer, von denen wir eine musterhafte Haltung sowohl in Bezug auf Aufklärung wie auch in Bezug auf Höflichkeit voraussetzten, haben unseren Erwartungen nicht entsprochen“34. Wie die livländischen Gesetze von der Kaiserin beurteilt wurden, kam in einem ihrer Briefe an Generalprokuror Vjazemskij anschaulich zum Ausdruck: ———————————— 30 31 32 33 34
Osmadcatyj vek, hg. v. Pjotr Barten’ev, Bd. 3, Moskau 1869, S. 388. SIRIO, Bd. X, Sankt Peterburg 1872, S. 273. SIRIO, Bd. VIII, Sankt Peterburg 1871, S. 350. TOBIEN, Die Livländer (wie Anm. 26), S. 474. BRÜCKNER, Die Verhandlungen (wie Anm. 29), S. 517; Georg SACKE, Die Gesetzgebende Kommission Katharinas II., Breslau 1940 (Jahrbücher für Geschichte Osteuropas, Beiheft 2), S. 152.
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Dass aber die livländischen Gesetze besser sein könnten, als die unseren, sei unmöglich; denn unsere Grundsätze seien von der Menschenliebe selbst geschrieben; sie könnten derartige Grundsätze nicht aufweisen, und einige ihrer Gesetze seien erfüllt von Unbildung und Barbarei [...]. Wenn sie da feierlich einen Vorbehalt aussprechen, so bitten sie damit: wir wollen, dass man bei uns die Todesstrafe beibehalten soll, wir bitten um die Folter, wir bitten, dass unsere Rechtsprechung durch unaufhörliche Ränke nie zum Ziele gelange; wir behalten uns feierlich die Widersprüche und Unklarheiten unserer Gesetzgebung vor usw. Da möge doch die aufgeklärte Mitwelt über solche Tollheit urtheilen35.
Es besteht kein Zweifel daran, dass die Kaiserin ernsthaft danach trachtete, die in den Ostseeprovinzen geltende Rechtsordnung radikal zu verändern. Im September 1769 wurde die Vollversammlung der Gesetzgebenden Kommission aufgelöst, offiziell aufgrund des ausgebrochenen Krieges mit den Türken. In der Tat hatte die Kommission ihre Unfähigkeit demonstriert, dem Willen von Katharina II. zu folgen. Die Opposition der baltischen Delegierten war hierbei nur ein – und sicherlich nicht der wichtigste – Faktor. Obwohl die Vollversammlung der Kommission kein einziges Gesetz erlassen hatte, wird die von Katharina II. eingeleitete Reform in der Lokalverwaltung (Statthalterschaftsverfassung) von 1775 als indirektes Ergebnis der Kommissionsarbeit angesehen, die 1783 auch auf Est- und Livland ausgedehnt wurde. Als der bejahrte Generalgouverneur von Browne am 11. Dezember 1783 in seinem Erklärungsschreiben bei der Einführung der Statthalterschaft erklärte: „da, wo hiesige Provincial-Gesetze, Privilegia und Gnaden-Briefe existieren, selbige allerdings wie Fundamental-Gesetze bey Entscheidung der Sache vorzüglich angewandt werden müssen“36, so erregte dies bei der Kaiserin großen Ärger. Sie entgegnete, dass die Bestimmungen des Gesetzes zur Einführung der Statthalterschaft strikt und präzise ohne jegliche einschränkende Klauseln einzuhalten seien37. Mit der Stärkung des Absolutismus während der Regierungszeit Katharinas II. nahm auch der Druck auf die baltische Autonomie zu. Der Konflikt zwischen dem Zentralstaat und den Ostseeprovinzen entwickelte sich Schritt für Schritt, indem Katharina begriff, dass die von ihr selbst bestätigten Privi———————————— 35
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Osmadcatyj vek (wie Anm. 30), S. 388 f.; BRÜCKNER, Die Verhandlungen (wie Anm. 29), S. 508. Patent des Generalgouverneurs von Browne (No. 2250), in: Eesti Ajalooarhiiv (Estnisches Historisches Archiv, Tartu), Bestand 30, Findbuch 1, Akte 27, Bl. 4. PSZ, Bd. XXII, No. 15979 (5.4.1784).
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legien sich auf viele der von ihr geplanten Maßnahmen hinderlich auswirken. Nachdem der Entwurf einer neuen Gesetzgebung, dem wenigstens nach Ansicht der Kaiserin die besten, von den Ideen der Aufklärung getragenen Auffassungen zugrunde lagen, ausgearbeitet worden war, war es für eine absolutistische Herrscherin völlig undenkbar, deren Umsetzung in einem Teil des Reiches zu unterlassen. Die Neuartigkeit der Politik Katharinas II. bestand darin, dass sie im Unterschied zu ihren Vorgängern vor allem von den Interessen des Reiches als einem Ganzen ausging. Daher stellte sie sowohl die baltischen Gouvernements als auch andere autonome Regionen fester als jemals zuvor in den Dienst des Imperiums, ohne den „ausländischen“ Provinzen irgendwelche Zugeständnisse zu machen. Mit der Regierungszeit Katharinas II. begann eine jahrzehntelange politische Pattsituation, während der der Zentralstaat eine engere Integration der Ostseeprovinzen in das übrige Imperium anstrebte, zugleich jedoch nicht bereit oder in der Lage war, die baltische Autonomie radikal aufzuheben. Kaiser Paul I., der nach dem Tod Katharinas II. im Jahr 1796 an die Macht kam, hob die Statthalterschaftsverfassung auf und stellte das Regime, das vor 1783 geherrscht hatte, in seinen Grundzügen wieder her. Wenn Katharinas Streben nach einer stärkeren Integration der baltischen Provinzen in das Russländische Reich auch Erfolg hatte, blieben die Versuche, die baltische Gesellschaftsstruktur zu verändern, kraftlos – und ihre Resultate waren nur von kurzer Dauer.
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„Alte Ruinen“ (Julius Eckardt) oder Garanten einer zeitgemäßen praktischen Politik? Zur Interpretation der Livländischen Privilegien von 1710/21 vor der „Russifizierung“ (1841 bis 1885) Beim Studium der Quellensammlung, die der ehemalige livländische Landrat und Staatswissenschaftler Reinhold Baron Stael von Holstein (1846– 1907) unter dem Titel „Materialien zu einer Geschichte des Livländischen Landes-Staates in der zweiten Hälfte des XIX. Jahrhunderts“ zwischen 1895 und 1907 in sieben stattlichen Bänden auf mehreren tausend Seiten handschriftlich zusammengestellt und kommentiert hat, tritt in zweierlei Hinsicht Bemerkenswertes zutage1: einmal ist Baron Stael mit seinen dem ständischen Liberalismus verpflichteten Helden Hamilkar Baron Fölkersahm (1811–1856) und Fürst Paul Lieven (1821–1881) vor allem darüber bedrückt, dass der auf den Privilegien von 1710/21 ruhende livländische Landesstaat mit seinen führenden ritterschaftlichen Amtsträgern und Institutionen immer mehr an den Rand des politischen Geschehens gerückt wurde2. Diese Trauer hat die deutschbaltische Geschichtsschreibung bis zu Reinhard Wittram – freilich mit manchen Abweichungen und neuen Einsichten – zutiefst beeinflusst. Zum anderen vermitteln jedoch Baron Staels saubere und gekonnte Quellenzitate und -interpretationen in dem eng gewählten Rahmen ritterschaftlicher Dokumente ein wirklichkeitsgetreues Bild handfester Streitigkeiten um die praktische Politik. Liest man z.B. die detailversessenen Auseinandersetzungen um die richtige Politik im Umfeld der livländischen Landtage zwischen 1847 und 1851, ———————————— 1
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Zu Reinhold Baron Stael von Holstein siehe Deutschbaltisches Biographisches Lexikon 1710–1960, hg. v. Wilhelm LENZ, Köln / Wien 1970 (unveränderter Nachdruck Wedemark 1998; im Folgenden DBBL), S. 757; online abrufbar unter dem URL: http://www.bbl-digital.de. Nähere Angaben zu Baron Staels handschriftlicher Dokumentation: Staats- und Universitätsbibliothek Bremen. Standortkatalog der Sammlung Welding, bearb. v. Armin HETZER, München u.a. 1990, S. 4 f. Zwei seiner Bände liegen auch gedruckt vor: Reinhold Baron STAEL VON HOLSTEIN, Baron Hamilkar von Fölkersahm, Riga 1907, und zeitlich anschließend DERS., Fürst Paul Lieven als Landmarschall von Livland, Riga 1906. Die Seitenzahlen im folgenden Text beziehen sich nur auf den Band über Fölkersahm.
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so fällt einem sogleich das Herder zugeschriebene Sprachbild von der „Aristodemokratie“ ein. Hier ist zwischen den Parteiführern Georg Baron Nolcken (1789–1853), dem Exponenten der „Konservativen“ (zutreffender wäre der Begriff der „Reformfeinde“ oder auch der „Intransigenten“) und dem Agrarreformer und Livländischen Landmarschall von 1848 bis 1851, Hamilkar Baron Fölkersahm, mit Haken und Ösen, mit Tricks und persönlichen Invektiven um die Durchsetzung des eigenen Standpunktes gestritten worden3. Ein Beispiel: Nachdem die Livländische Agrarordnung von 1849 endlich verkündet und in den Paragraphen 90 bis 92 die Garantie der Gesamtheit der Livländischen Ritterschaft für die ordentliche Führung der geplanten Rentenbank und ihr Vorgehen bei der Schaffung von bäuerlichem Eigentum durch Publikation der Bauernverordnung von 1849 manifest geworden war, versuchten die Intransigenten auf dem Märzlandtag von 1850 durch Hinweis auf unterschiedliche Formulierungen zwischen dem russischen und dem deutschen Text die Haftungsfrage neu aufzurollen4. Der russische Text lasse den Schluss zu, dass die Korporation der Livländischen Ritterschaft in ihrer Gesamtheit für die Folgen einer Misswirtschaft der Rentenbank beim Bauernlandverkauf aufkommen müsse (230). Alle Beteuerungen Fölkersahms, der dem „Ostseekomitee“ in St. Petersburg ja angehört hatte, das die Agrarordnung von 1849 beschlossen hatte, nützten nichts. Dass die minimalen Abweichungen in der russischen Übersetzung niemals schädlich werden könnten, wurde ihm von einer schwankenden Mehrheit nicht geglaubt. Diese verunsicherte Mehrheit erzwang vielmehr Korrekturen mit der Maßgabe, dass eine Delegation der Ritterschaft bei Kaiser Nikolaus I. persönlich vorstellig werden solle. Auf Antrag von Nolcken sollte aber der Landmarschall Baron Fölkersahm der Delegation nicht angehören, weil er in dieser Angelegenheit ja „Partei“ sei (232). Obgleich ein Kompromiss gefunden wurde und die Angelegenheit schnell bereinigt werden konnte, war Fölkersahm doch persönlich angeschlagen aus dieser Konfrontation hervorgegangen. Nur mit Mühe überstand er die an sich in solchen Fällen unübliche Vertrauensfrage. In seiner Schlussansprache zum Märzlandtag von 1850 beschwor er deshalb die Versammlung, sich damit abzufinden, dass die Landbevölkerung durch Gesetz nunmehr die Möglichkeit erhalte, festen ———————————— 3 4
Zu Nolcken und Fölkersahm vgl. DBBL, S. 550 bzw. 220 f. Für den Zusammenhang grundlegend: STAEL, Fölkersahm (wie Anm. 2), S. 229–245. Zur Politik Fölkersahms siehe Reinhard WITTRAM, Meinungskämpfe im baltischen Deutschtum während der Reformepoche des 19. Jahrhunderts, Riga 1934, bes. S. 1–77; Gert von PISTOHLKORS, Ritterschaftliche Reformpolitik zwischen Russifizierung und Revolution, Göttingen 1978 (Göttinger Bausteine zur Geschichtswissenschaft 48), bes. S. 82–89.
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Landbesitz zu erwerben. Dies sei ein Versprechen gegenüber dem Thron wie gegenüber der Bevölkerung. Der Adel habe stets – und das ist eine Anspielung auf die Livländischen Privilegien von 1710/1721 – „seinen Stolz und seine Kraft darin gesucht, das Gute zu wollen und seine Erinnerung an eine glorreiche Vergangenheit dadurch zu feiern, dass er die Verpflichtungen der Gegenwart und Zukunft erfüllt“ (245). An diesen Konflikten und den jeweiligen Argumentationen zeigt sich deutlich, dass der Rückbezug auf die Livländischen Privilegien zwischen den Intransigenten und den Reformkräften in den 1840er Jahren eine neue Qualität gewann. Zwei weitere Beispiele: die 1840er Jahre brachten erhebliche Angriffe auf das deutsch geprägte Bildungswesen in Dorpat. Erwähnt sei nur die avisierte Schließung der Theologischen Fakultät im Jahr 1843, die wohl letztlich nur durch ein flammendes Gutachten von Karl Ernst von Baer (1792–1876) abgewendet wurde5, und die „Ulmannaffäre“, die die Maßregelung mehrerer Professoren, unter ihnen auch reichsdeutsche, nach sich zog. 1849 wurden auf Anordnung des Kaisers Nikolaus I. sämtliche Buchhandlungen in Dorpat und Riga geschlossen6. Im Übrigen wurde aus St. Petersburg nahegelegt, dass Söhne von Adeligen nach altem Brauch nicht studieren, sondern den Kriegsdiensten den Vorzug geben sollten. Auf die letztgenannte Verlautbarung reagierten die Intransigenten und die Reformfreunde in der Livländischen Ritterschaft aus Anlass des livländischen Landtags von 1851 unterschiedlich. Es kam die Frage auf, wie man auf das 25jährige Krönungsjubiläum von Nikolaus I. eingehen solle. Schließlich wurde der Antrag gestellt, dass auf 25 Jahre jeweils sieben junge Adelige durch Stipendien zu unterstützen seien: vier Kandidaten für die Kadettenschulen in St. Petersburg und drei für die Universität Dorpat. Diesem Antrag widersprach die „Nolckenpartei“ mit Erfolg, die die gesamte Summe sieben zukünftigen Kadetten zugutekommen lassen wollte7. Als schließlich drei Jahre später auf dem Mailandtag von 1854 aus Anlass des im Herbst 1853 ausgebrochenen Krimkrieges Ergebenheitsadressen und Selbstverpflichtungen des Adels aus dem ganzen Russischen Reich auf der Tagesordnung standen, entwarfen für die Livländische Ritterschaft auch der ———————————— 5
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Über Karl Ernst von Baer siehe DBBL, S. 22 f. Seine Denkschrift: „Über das proponirte evangelische Seminar“ ist abgedruckt bei Roderich Baron ENGELHARDT, Die deutsche Universität Dorpat in ihrer geistesgeschichtlichen Bedeutung, Reval 1933, S. 92–95. Vgl. STAEL, Fölkersahm (wie Anm. 2), S. 250. Für den Zusammenhang: Reinhard WITTRAM, Baltische Geschichte, 3. Aufl. München 1954, bes. S. 173–180. Ebenda, S. 251. Für den Parteienstreit immer noch grundlegend: WITTRAM, Meinungskämpfe (wie Anm. 4), S. 21–78.
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neu gewählte Landmarschall Ernst Baron Nolcken (1814–1900), ein Sohn von Georg Baron Nolcken, und Fölkersahm – in angezweifelter Kompetenz – jeweils eine Vorlage8. 66.000 Rubel sollten von der Livländischen Ritterschaft vor allem für die Anschaffung von Kanonenbooten aufgewendet werden. Nolckens Formulierung für die Ergebenheitsadresse war ein einziger Treueschwur im „Brustton“ (Woldemar v. Bock, 275), ohne Wenn und Aber. Fölkersahm hingegen wagte es, unter diesen Umständen mit dem unbedingt erforderlichen Treueschwur einen Hinweis auf den Inhalt der Privilegien zu verbinden: Die Livländische Ritterschaft hat in Ew. Majestät stets den Schutzherrn ihrer höchsten, unveräusserlichen Güter, ihres Glaubens, ihrer Sprache und der Sitte ihrer Väter verehrt, und würde es derselben im Widerspruche mit der ritterlichen Gesinnung erscheinen, wenn sie neben diesem Schutze ein Mass für diese Opfer denken sollte (ebd.).
Nicht zu Unrecht fassten die Leser diesen Satz als eine Art Bedingung auf, wie v. Bock es ausdrückte: „als Abhängigkeit unserer Loyalität gegen den Kaiser von des Kaisers Loyalität gegen uns“ (276). Statt des „verhassten Huldigungsklingklangs“ (v. Bock, ebd.) wurde der Anlass zur Gelegenheit, Selbstbewusstsein zu demonstrieren, wie es 15 Jahre später kein Geringerer als der privilegienbewusste Carl Schirren (1826–1910) in eigenen Worten in seiner „Livländischen Antwort“ versucht hat9. Zwischen 1841 und 1850 existierte in der Livländischen Ritterschaft der Reichspatriotismus nur noch bei den Ultrakonservativen bzw. Intransigenten ungebrochen. Diese Gruppierung war innerhalb der Ritterschaft – auch in Estland und Kurland – zu diesem Zeitpunkt allerdings noch stark, ja übermächtig. Fölkersahm und seine Anhänger waren jedoch bereits selbstbewusste Vertreter eines ständisch geprägten Regionalismus (Provinzialismus), der auf eine eigenständige Entwicklung abzielte, ohne zunächst zu nachdrücklich an durchschlagenden Freiheits- und Beteiligungsrechten für ———————————— 8
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Über Ernst Baron Nolcken siehe DBBL, S. 549 f. Der ganze Vorgang ausführlich bei STAEL, Fölkersahm (wie Anm. 2), S. 273–280. Über Carl Schirren siehe DBBL, S. 680 f.; Carl SCHIRREN, Livländische Antwort an Herrn Juri Samarin, Leipzig 1869. Jüngst zum 100. Todestag von Carl Schirren erschienen: Carl Schirren als Gelehrter im Spannungsfeld von Wissenschaft und politischer Publizistik. Dreizehn Beiträge zum 22. Baltischen Seminar 2010, hg. v. Michael GARLEFF, Lüneburg 2013 (Baltische Seminare 20). Neueste biografische Darstellung: Wilhelm LENZ, Carl Schirren und seine „Lebensaufgabe“, in: Geisteswissenschaften und Publizistik im Baltikum des 19. und frühen 20 Jahrhunderts, hg. v. Norbert ANGERMANN u.a., Münster 2011 (Schriften der Baltischen Historischen Kommission 17), S. 217–237.
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die Landbevölkerung oberhalb der Kirchspielebene interessiert zu sein10. Über Esten und Letten und ihre Wünsche und Ziele ist kaum auf den einschlägigen Veranstaltungen gesprochen worden. Wichtiger wurde in den Augen des Inhabers des status provincialis, der Livländischen Ritterschaft, zunächst die Wortmeldung des „Bürgerstandes“. Reinhard Wittram hat zu Recht den „Liberalismus“ baltischer Literaten – die öffentliche Pressearbeit – als den besonderen eigenständigen Beitrag des akademisch gebildeten Bürgerstandes zur Verteidigung und zum Ausbau der Rolle der Ostseeprovinzen im Russischen Reich gekennzeichnet11. Ihm schien die öffentliche gruppenspezifische Akzentuierung gegenüber der übermächtigen Ritterschaft besonders wichtig für den Ausbau der regionalen „deutschen“ Struktur einer von Russland weitgehend unabhängigen gebildeten Gesellschaft in Livland. Die „Baltische Monatsschrift“ mag in der Tat eine große Bedeutung für die lokale Wahrnehmung einer gebildeten deutschen Gesellschaft gehabt und zusammen mit den neu gegründeten oder ausgebauten Tageszeitungen – „Rigasche Zeitung“, „Zeitung für Stadt und Land“, „Revalsche Zeitung“, „Neue Dörptsche Zeitung“, auch Schirrens „Dorpater Tagesblatt“ – geeignet gewesen sein, die ständische Trennung nach innen unter den gebildeten Deutschen allmählich einzuebnen und einen deutschbaltischen Abwehrkampf gegen Ansprüche aus Russland zu akzentuieren. Allerdings sollte man die Zahl der aktiven Mitarbeiter in der deutsch-baltischen Publizistik und ihre Wirkung nach innen und außen auch nicht überschätzen12. Für den Abwehrkampf sind allerdings auch Medien in Deutschland – die Buchstadt Leipzig für anonyme und gezeichnete Publikationen, die Periodi-
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Vgl. Gert von PISTOHLKORS, Regionalismus als Konzept der baltischen Geschichte. Überlegungen zum Stand der Geschichtsschreibung über die baltischen Provinzen Rußlands im 19. Jahrhundert, in: Journal of Baltic Studies 15 (1984), S. 98–118 (auch in DERS., Vom Geist der Autonomie. Aufsätze zur baltischen Geschichte, hg. v. Michael GARLEFF, Köln 1995, S. 21–41); kritisch dazu: Jörg HACKMANN, Ethnos oder Region? Probleme der baltischen Historiographie, in: Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung 50 (2001), S. 531– 556. Reinhard WITTRAM, Liberalismus baltischer Literaten. Zur Entstehung der baltischen politischen Presse, Riga 1931, passim. Kritisch zu der behaupteten Wirkung: Gert von PISTOHLKORS, „Hamlet in Reval“. Bürgerbewußtsein und Meinungsfreiheit in den Ostseeprovinzen Rußlands. Nach den Papieren und Korrespondenzen Leopold von Pezolds 1855–1871, in: Reval und die baltischen Länder. Festschrift für Hellmuth Weiss zum 80. Geburtstag, hg. v. Jürgen von HEHN / Csaba János KENÉZ, Marburg/Lahn 1980, S. 27–46.
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ca und Tageszeitungen – früh und bewusst in den Kampf einbezogen worden13. Besonders nachdrücklich kennzeichnet Julius Eckardt (1836–1908) kurz nach Schirrens „Livländischer Antwort“ in seiner Schrift „Juri Samarins Anklage gegen die Ostseeprovinzen Rußlands“ von 1869, mit voller Namensnennung erschienen bei Brockhaus in Leipzig, das neue Verständnis von einem deutschbaltisch geprägten Regionalismus gegenüber dem Russischen Reich14. Nach der Übersetzung des ersten Bandes von Samarins „Okrainy Rossii“ (Eckardts Titel „Das russisch-baltische Küstenland im gegenwärtigen Augenblick“ bezieht sich auf den Untertitel dieses ersten Bandes) folgt ein Kommentar, der im Unterschied zu Schirren in betont sachlichem Ton das praktische politische Handeln der Livländischen Ritterschaft im Hinblick auf die Agrarreform von 1849/60 erläutert15. Eckardt klagt die Reichsbehörden an, jede der drei Ostseeprovinzen wie eine innerrussische Provinz zu behandeln, und wählt u.a. als Beispiel einen Sektor, in dem er sich als ehemaliger Chefredakteur der „Rigaschen Zeitung“ von 1861 bis 1867 besonders gut auskannte: die Pressezensur. Den Anstoß zum Erwachen einer politischen Presse in den Ostseeprovinzen habe die junge russische Presse gegeben (174). Den Kampf zwischen der „Rigaschen Zeitung“ und den „Moskovskie Vedomosti“ (Moskauer Nachrichten) von Michail N. Katkov (1818–1887), die seit 1859 „in ihren Fle———————————— 13
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Neueste Darstellung mit Einbeziehung der einschlägigen Literatur: Michael GARLEFF, Julius Eckardt (1836–1908) als baltischer Historiker und politischer Publizist in Riga, in: Geisteswissenschaften und Publizistik im Baltikum (wie Anm. 9), S. 313–335. Es fehlt im Übrigen eine zusammenfassende Arbeit über die deutschbaltisch geprägte und die reichsdeutsche Baltikum-Publizistik in Deutschland vor 1914. Die folgenden Seitenzahlen im Text beziehen sich auf diese Ausgabe: Julius ECKARDT, Juri Samarins Anklage gegen die Ostseeprovinzen Rußlands. Übersetzung aus dem Russischen, Leipzig 1869. Neueste Auseinandersetzung mit der Schrift von Jurij SAMARIN, Okrainy Rossii. Serija pervaja, vyp. I: Russkoe baltijskoe pomor’e v nastojaščuju minutu (kak vvedenie v pervuju seriju) [Die Grenzmarken Russlands. Erste Serie, H. 1: Das russische baltische Küstenland im gegenwärtigen Augenblick (als Einführung in die erste Serie)], Prag 1868, von Edward C. THADEN (†), Iurii Feodorovich Samarin (1819–1876) as a Baltic Historian, in: Geisteswissenschaften und Publizistik im Baltikum (wie Anm. 9), S. 137–155. Zum Thema „Russifizierung“ vgl. die schlüssige, brandneue Darstellung von Karsten BRÜGGEMANN, Als Land und Leute ‚russisch‘ werden sollten. Zum Verständnis des Phänomens der „Russifizierung“ am Beispiel der Ostseeprovinzen des Zarenreichs, in: Kampf um Wort und Schrift. Russifizierung in Osteuropa, im Kaukasus und in Sibirien im 19.–21. Jahrhundert, hg. v. Zaur GASIMOV, Göttingen 2012 (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Beiheft 90), S. 39–60.
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geljahren stand“ (175), hätten wesentliche Kräfte in Livland – gemeint sind vor allem die „Intransigenten“ in der Livländischen Ritterschaft – nicht verstanden. Die deutsche Presse in den Ostseeprovinzen habe auf den ungeheuren Umschwung im Russland Alexanders II. zu Beginn der 1860er Jahre zunächst mit Sympathie geschaut und eine „analoge Regeneration des baltischen Provinziallebens“ (176) gefordert. „Bei den Reformwünschen für das eigene Haus, in denen die baltische Presse sich erging, blieb man freilich auf dem Boden der eigenen Verhältnisse; man wollte sich bereitwillig in das Gebäude des umgestalteten Russland einfügen lassen, aber freilich nur als eigenartig geschnitzter Baustein“ (ebd.). An dieser Auffassung, dass der Maßstab für die Erfüllung von Reformbedürfnissen nicht „jenseits des Peipus“ gewonnen werde, habe zunächst niemand Anstoß genommen (ebd.). Während freilich im Innern Russlands „noch Alles in chaotischer Wendelust hin- und herwogte“, hätten die Deutschen in den Ostseeprovinzen gewohnheitsmäßig den Boden strenger Loyalität nicht verlassen und selbst den Schein gegen die Regierungswünsche gerichteter Bestrebungen vermieden (ebd.). Daß der Gebrauch der deutschen Sprache, die Herrschaft eines besonderen Rechts, die Treue gegen die lutherische Kirche als Verletzungen der russischen Nationalsouveränetät (sic!) angesehen werden könnten, wurde uns weder von der Regierung noch von der russischen Presse gesagt (ebd.).
Mit dem Verweis auf die Garantie von deutscher Sprache, eigenem Provinzial- und Privatrecht und lutherischer Kirche knüpft Eckardt unmittelbar an die Privilegien von 1710/21 an. In den Jahren 1860 bis 1863 sei alles noch friedlich gewesen. Man ging in Liv-, Est- und Kurland nicht von Parteiprincipien, sondern von praktischen Bedürfnissen aus, und diese waren bei uns andere als in den übrigen Provinzen. Man wollte die Verwaltungsmaschine vereinfachen, weil sie unbehilflich war, die Justiz den Zeitansprüchen gemäß umgestalten, damit sie rascher und wohlfeiler arbeite, endlich die Schranken niederreißen, welche die einzelnen Stände von einander trennten und das Land bei in- und ausländischen Nachbarn lächerlich machten (ebd.).
Nach den Maßstäben der damaligen russischen Gesellschaft sei das alles löblich gewesen: „Da brach im Januar 1863 – wie allbekannt ohne baltisches Zuthun – der polnische Aufstand aus“ (177). Die anziehende Schilderung dieser Ereignisse, die Eckardt am Beispiel Litauens thematisiert, kann hier knapp gehalten werden; wichtig sind aber die Konsequenzen, die er zwingend herausarbeitet. Die russische Presse habe
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den Liberalismus aufgegeben und auf ein neues Feldzeichen gesetzt, die „Nationalität“ (178). „Weil in Litauen Adel und Geistlichkeit staatsfeindlich gewesen waren“, so fasst Eckardt zusammen, „war der Begriff der Aristokratie, der politischen wie der geistigen, überhaupt suspect und der geborene Gegner der russischen Staatsidee“ (ebd.). Nunmehr sollte „jedes innerhalb der Reichsgrenzen gesprochene nicht-russische Idiom die Sprache der Verschwörung, jedes nicht-orthodoxe Gotteshaus eine revolutionäre Teufelskanzel sein“ (ebd.). Weil den Litauern nicht verboten worden sei, polnisch zu reden und lateinisch zu beten, sollten sie zu Rebellen geworden sein. Die baltische Presse, so Eckardt, sei des Umschwungs der russischen Gesellschaft vom Liberalismus zum Nationalismus, von Alexander Herzen zu Katkov, viel früher gewahr geworden als das baltische Publikum. Die stereotype Antwort auf Warnungen in der Presse sei gewesen, – und das richtet sich gegen die Intransigenten und Unpolitischen in der Ritterschaft – dass der Kaiser, der Generalgouverneur von 1848–1863, Fürst Aleksandr A. SuvorovItalijskij, und andere Spitzenvertreter des Russischen Reichs noch kürzlich ihre Zufriedenheit mit der ritterschaftlichen Selbstverwaltung geäußert hätten. Die baltische Presse habe sich jedoch nicht irre machen lassen und habe ihre Leser stets davor gewarnt, dass „man es sich nicht nehmen lassen werde, die in Litauen gemachten Erfahrungen [...] zu generalisiren“ (179). In der russischen Öffentlichkeit sei über die deutsch-baltische Gesellschaft und deren Organisation der Stab gebrochen worden, stellt Eckardt zuspitzend fest. Er bejahte den Ausbau einer Verteidigung: „Die Structur unserer Verfassung war aristokratisch, unsere Bildung westeuropäisch, unsere Kirche nicht die orthodoxe – eines weiteren bedurfte es nicht“ (ebd.). „Damit aber“, so fährt Eckardt fort, „wurde natürlich auch ein neuer Gesichtspunkt für die Beurtheilung aller bis dazu geplanten Reformen [in den Ostseeprovinzen; G.v.P.] maßgebend: „Werden sie die Vertheidigung erschweren oder erleichtern?“ Darüber, daß man lieber die alten Ruinen conserviren, als das Land einer Behandlung nach litauischem Vorbild preisgeben wollte, darüber war das ganze Land einig“ (ebd.). Eckardt hat ein ausgeprägtes Urteil über die Vorgänge in Litauen nach 1863, die er als beispielhaft für das zukünftige Schicksal der Ostseeprovinzen ansah. Der neue russische Nationalismus eines Katkov habe bald keinen anderen Maßstab mehr gekannt als den des russischen „Raceinteresses“ und der russischen „Raceeigenthümlichkeit“ (ebd.). Hier sind Anklänge an Schirrens Diktion in der „Livländischen Ant-
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wort“ nicht zu übersehen16. Durch die Förderung eines günstigen Ablösungsgesetzes für den ländlichen Grund und Boden seien Staat und russische Öffentlichkeit bemüht gewesen, der polonisierten Aristokratie in Litauen zu schaden und die ländliche Bevölkerung „an das russische Staatsinteresse zu fesseln“ und „dem russischen Volkstum zu assimiliren“ (178). Bewusst bekennt sich Eckardt zu der Aufgabe der baltischen Presse, die eigene Leserschaft darüber aufzuklären, dass es nicht mehr allein um liberale und illiberale Prinzipien gehe, sondern in den Ostseeprovinzen um die „historische Existenz als solche“ (181)17. Es sei immer klarer geworden, dass nicht nur die aristokratische, sondern die „deutsch-protestantische Ordnung der Dinge an der Ostsee“ – die Grundrechte von 1710/21 – den russischen Nationalisten „ein Greuel“ seien (181 f.). Und nun folgt ein sybellinischer Satz zum Teil in Sperrdruck: „die Leute in der Festung“ [in den Ostseeprovinzen, G.v.P.] sollten durch die deutsch-baltische Presse „neue Gesichtspunkte für die Beurtheilung der alterthümlichen Einrichtung“ gewinnen. Wäre das nicht geschehen, so hätte mindestens ein Theil der baltischen Bevölkerung seine aus den Jahren 1860–63 überkommenen Irrtümer theuer bezahlen und seinen Reformhunger mit einer Speise stillen müssen, an der er gestorben wäre (182).
Das war klar gegen jeden doktrinären Liberalismus gerichtet, wie ihn etwa der Mitredakteur Eckardts in der „Rigaschen Zeitung“, John Baerens (1834–1884), vertrat18. Aber war Eckardt wirklich der Auffassung, dass die Ritterschaften an ihren altertümlichen Einrichtungen – der „alten Ruine“ der ritterschaftlichen Provinzialverfassung, des Provinzialrechts und des Liv-, Est- und Curländischen Privatrechts von 1864/65 – unter diesen Umständen unbedingt unverändert festhalten und auf jede Reform verzichten sollten? Reinhard Wittram hat in seiner erwähnten Abhandlung über den „Liberalismus baltischer Literaten“ im Kapitel „Julius Eckardt und die Rigasche Zeitung“ nach gründlicher Durchsicht der verfügbaren Quellen nachgewiesen, dass Eckardt seine „Rigasche Zeitung“ als vierte Kraft zwischen den ———————————— 16
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Vgl. aus dem Mai 1869 SCHIRREN, Livländische Antwort (wie Anm. 9), bes. S. 110, 114 f. Über Eckardts widersprüchliche Auseinandersetzung mit dem Begriff der „Nationalität“ v.a. in der „Rigaschen Zeitung“ sehr gründlich: WITTRAM, Liberalismus (wie Anm. 11), bes. S. 81–84. Über Baerens siehe DBBL, S. 23. Vgl. auch Gert von PISTOHLKORS, Die Ostseeprovinzen unter russischer Herrschaft (1710/95–1914), in: Baltische Länder, hg. v. DEMS., 2. durchgesehene Aufl. 2002 (Deutsche Geschichte im Osten Europas), S. 265-450, hier S. 387 f.; DERS. „Hamlet in Reval“ (wie Anm. 12), bes. S. 42 ff.
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Ständen – den Ritterschaften, den Literaten und dem „Mittelstand“ in den Städten und dem Bauerntum – empfand, die sich vor allem der Aufgabe des Machbaren auf der Grundlage einer „organischen Fortbildung“ des historisch Überkommenen widmete19. Offenbar hat auch Eckardt seine liberalen Bestrebungen aus den frühen 1860er Jahren in der deutschen Emigration nach 1867 aufgegeben und wie der Publizist Georg Berkholz (1817–1886), sein Freund und Gönner in Riga, eine Wendung zum Konservatismus eingeleitet20. Eckardt erläuterte nicht genau, was er unter der „Festung“ verstand, die durch die öffentliche Meinung in den Ostseeprovinzen verteidigt, aber auch nach Kräften aufgebrochen werden sollte. In seiner Antwort an Jurij Samarin verweist er auf die Tatsache, dass die Reichsregierung bei verschiedenen Mahnaktionen offen eingeräumt habe, die Residenzpresse nicht behindern zu können, und sich bei dem unwillkommenen Zeitungsstreit zwischen der Residenzpresse und der deutschen Provinzialpresse in Riga, Reval und Dorpat mit Zensurmaßnahmen lieber an die baltische Presse hielt, der es im Jahr 1865 verboten wurde, auf Presseangriffe – 98 Artikel gegen die baltische Presse und baltische Institutionen allein im Jahr 1864 – überhaupt nur zu reagieren21. Im Mittelpunkt der Polemiken aus St. Petersburg und Moskau habe der Vorwurf gestanden, das „Ostseekomitee“, das Beschlussgremium bei der Einführung der Livländischen Agrarordnung von 1849/60, sei eine Einrichtung des baltischen Separatismus gewesen. Eckardt versucht hingegen nachzuweisen, dass Kaiser Nikolaus I. selbst, von der Einsicht geleitet, dass der Sachverstand bei der Vorbereitung der Bauernverordnungen in den Ostseeprovinzen, nicht in St. Petersburg gelegen habe, die Beteiligung von Vertretern der Ritterschaften an den notwendigen Beschlüssen befohlen habe. ———————————— 19
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Vgl. WITTRAM, Liberalismus (wie Anm. 11), S. 63 f.; Michael Garleff setzt den Akzent besonders stark auf Eckardts Auseinandersetzung mit dem 18. Jahrhundert und die Anfänge der journalistischen Arbeit Eckardts in Riga und berücksichtigt weniger die Stellungnahmen Eckardts im politischen Tageskampf der frühen 1860er Jahre. GARLEFF, Julius Eckardt (wie Anm. 13), S. 313–332. Neueste Darstellung zum erwähnten baltischen Privatrecht: Hesi SIIMETS-GROSS, Das „Liv-, Est- und Curlaendische Privatrecht“ (1864/65) und das römische Recht im Baltikum, Tartu 2011 (Dissertationes Iuridicae Universitatis Tartuensis 33). Zu Georg Berkholz siehe DBBL, S. 59, und WITTRAM, Liberalismus (wie Anm. 11), bes. S. 21–52. WITTRAM, Liberalismus (wie Anm. 11), S. 87, nennt die Zahl 98. Eckardts Ausführungen über die Wirkung der Zensurverhältnisse und den (vergeblichen) Kampf gegen sie, in: DERS., Juri Samarins Anklage (wie Anm. 14), bes. S. 177–184.
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Zum anderen zieht sich jedoch die Diskussion um eine planvolle Germanisierung der aufsteigenden Esten und Letten wie ein roter Faden durch die Polemik gegen den baltischen Separatismus. Hier zitiert der Altliberale Eckardt einen Artikel seines Freundes Georg Berkholz aus der „Baltischen Monatsschrift“ von 1864, „Pro ordine civico“, in dem der führende Publizist in Riga erklärt, dass die „deutsch-protestantische Entwicklung“ nicht notwendig in einen Sprachenkampf einmünden müsse22: „Die Sprache ist nur eins der die Nationalität constituirenden Elemente“, schreibt Berkholz, zwar ein sehr wichtiges, aber nicht das an und für sich entscheidende. [...] Wie ein Volk seine Sprache behalten und zugleich in fast allen übrigen Beziehungen jedes eigenthümliche Gepräge einbüßen kann, davon sind gerade die Letten und Esten ein treffendes Beispiel.
Weiter heißt es hier über Esten und Letten: Durch Luthertum und Herrnhutismus ist die Substanz ihrer geistigen Bedürfnisse in deutsche Form gegossen, in deutsche Rechtsbegriffe haben sie sich seit Jahrhunderten hineingelebt, ihre ganze Literatur besteht aus Nachbildungen und Uebersetzungen deutscher Producte. Was bleibt übrig? Etwa noch Volkslieder, Hochzeitsbräuche, ein eigenthümlicher Anspann (gemeint ist der Krummholz-Pferdeanspann), Pflug oder Dreschflegel?
Berkholz’ Fazit, dem Eckardt ganz offensichtlich zustimmt: Man könne schlankweg behaupten, dass „die Germanisirung der Letten und Esten, weit davon entfernt, ein Problem zu sein, [...] längst schon vollendete Tatsache“ sei (197). Je schneller allerdings die soziale Kluft – „schauerlich und tief“ – „zwischen den lange Zeit leibeigenen Bauern und den übrigen Ständen des Landes“ (Berkholz, ebd.) ausgefüllt werden könne, „desto ohnmächtiger werden alle bisherigen Gegensätze, auch der Sprachen, werden“ (ebd.). Hier wird eine Hoffnung ausgedrückt, die auch bei manchen Standespolitikern bis über die Jahrhundertwende hinaus anklang: dass mit dem wirtschaftlichen Aufstieg von Bauernwirten die sozialen Gegensätze entscheidend gemildert werden könnten23. ———————————— 22
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Über Georg Berkholz siehe DBBL, S. 559 f. Der erwähnte Artikel in: Baltische Monatsschrift 9 (1864), S. 267–274. Vgl. Erki TAMMIKSAAR, Alexander Theodor von Middendorff und die Entwicklung der livländischen Gesellschaft in den Jahren 1860 bis 1885, in: Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung 59 (2010), S. 147–185. Vgl. auch PISTOHLKORS, Ritterschaftliche Reformpolitik (wie Anm. 4), bes. S. 182–215.
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Von den Aktivitäten nationaler Vereine und Zirkel der Esten und Letten und deren Verbindungen nach St. Petersburg hielt Eckardt jedenfalls gar nichts und betrachtete deren Agitationserfolge als eine vorübergehende Erscheinung24. Was die zukünftige Bedeutung und Wirkung der Kapitulationen von 1710 anbelangt, so verweist Eckardt in seinem Kommentar schlicht und einfach in einem Satz auf Schirrens „Livländische Antwort“ vom Mai 1869, der in Kapitel 7 dazu alles Notwendige gesagt habe25. Das war für den Leser seines Kommentars sicher unbefriedigend, weil nicht einmal in einem Satz vermittelt wird, welche Inhalte dort angesprochen werden. Carl Schirren erörtert hier u.a. die von Samarin gestellte Frage, ob die letzte Konfirmation der Livländischen Privilegien im Jahr 1856 – aus Anlass des Regierungsantritts Kaiser Alexanders II. – mit einer Umformulierung der Majestätsklausel nicht auch die Privilegien von 1710 im Sinne des Russischen Reiches und seiner „Nacionalversammlung“ neu interpretiert und damit aufgehoben habe. In einer geschickten rechtslogischen Argumentation weist Schirren eine solche Interpretation zurück und stellt zusammenfassend fest, dass die Zusage von 1710 „der Schuldschein auf Gold“ sei, auf den sich die besondere Stellung der Städte Riga und Reval und der Ritterschaften gründe. Im Übrigen sei im Promulgationsukas von 1845 – anlässlich der Kodifizierung des baltischen Provinzialrechts – förmlich erklärt worden, dass durch dieses Provincialrecht ebensowenig, als durch das Allgemeine Reichsgesetzbuch [den Svod zakonov, G.v.P.] die Kraft und Geltung der bestehenden Gesetze abgeändert, sondern dieselben nur in ein gleichförmiges Ganze (sic!) und in ein System gebracht
worden seien26. ———————————— 24
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Neuester erhellender Aufsatz zu den Erfolgen der estnischen nationalen Bewegung in St. Petersburg: Kersti LUST, Johan Köler (1826–1899), ein Vorkämpfer der estnischen Nationalbewegung im 19. Jahrhundert, in: Geisteswissenschaften und Publizistik im Baltikum (wie Anm. 9), S. 193–216. Das erwähnte Kap. 7 in der „Livländischen Antwort“ trägt die Überschrift: „Von dem Angriffe auf die Capitulationen“ (S. 134–145). Vgl. auch Anm. 9 und den Verweis auf die Aufsatzsammlung aus Anlass von Schirrens 100. Todestag. Zitate bei SCHIRREN, Livländische Antwort (wie Anm. 9), S. 140 und 143 (Hervorhebungen von Schirren). Aus der Fülle der Literatur über Schirren nur vier Titel: Felix RACHFAHL, Carl Schirren, eine Lebensskizze, in: Carl Schirren, Zur Geschichte des Nordischen Krieges. Rezensionen, Kiel 1913, S. 1–48 (unveränderter Nachdruck o.O., o.J. [2010]); Reinhard WITTRAM, Carl Schirrens Livländische Antwort, in: DERS., Das Nationale als europäisches Problem, Göttingen 1954, S. 161–182; Irene NEANDER, Carl Schirren als Historiker, in: Geschichte der deutschbaltischen Geschichtsschreibung, hg. v. Georg von
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Es ist m.E. von Eckardt richtig erkannt worden, dass die deutschbaltischen gebildeten Schichten in den Ostseeprovinzen Rußlands nicht in erster Linie durch Handlungen der Reichsregierung, sondern durch die „Entfaltung der russischen Öffentlichkeit“ (Manfred Hagen) in die Defensive gedrängt wurden27. Der Anspruch der deutschbaltischen gebildeten Gesellschaft und in Sonderheit der Ritterschaften, in der baltischen Region in der praktischen Politik das Heft in der Hand zu behalten und den Bürgerstand aktiv am politischen Leben zu beteiligen, äußert sich auch in der Tatsache, dass eine deutschbaltische öffentliche Meinung forciert wurde, die den provinzialen Rahmen der livländischen – estländischen, kurländischen – Ständeordnung sprengte und provinzübergreifend wirken sollte. Die baltischen Tageszeitungen zwischen Libau und Reval schrieben unter den Bedingungen der Pressezensur allerdings vor allem voneinander ab und zitierten und kommentierten sich unter diesem Diktat gegenseitig nahezu in jeder Ausgabe. Im Übrigen wurde der baltische Verteidigungskampf zunächst nur von Einzelnen – Woldemar von Bock, Julius Eckardt u.a. – bewusst aufgenommen und unter dem Eindruck der durchschlagend wirksamen Provinzialzensur nach außen, naheliegenderweise nach Deutschland getragen28. Noch aber bestand die Hoffnung, dass auf dem Kampffeld der Provinz Livland das Gewicht der althergebrachten Ämter und Institutionen, das Gewicht des Provinzialrechts und der Korporation ausreichen würde, um den mit Fölkersahms Agrarreform eingeleiteten besonderen Weg im Russischen Reich weiter zu gehen. Der im Zeichen des absolutistischen Zentralismus unter Nikolaus I. zusammengestellte Provinzialkodex von 1845 war in den Augen Eckardts al-
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RAUCH u.a., Köln / Wien 1986 (Ostmitteleuropa in Vergangenheit und Gegenwart 20), S. 175–202; Gert von PISTOHLKORS, Die Livländischen Privilegien: ihre Deutungen, Umdeutungen und praktischen Umsetzungen in der neueren baltischen Geschichte, in: Reiche und Territorien in Ostmitteleuropa. Historische Beziehungen und politische Herrschaftslegitimation, hg. v. Dietmar WILLOWEIT / Hans LEMBERG, München 2006 (Völker, Staaten und Kulturen in Ostmitteleuropa 2), S. 285–309. Vgl. die grundlegende Habilitationsschrift mit gleich lautendem Titel von Manfred HAGEN, Die Entfaltung politischer Öffentlichkeit in Russland 1906–1914, Wiesbaden 1982 (Quellen und Studien zur Geschichte des östlichen Europa 18), passim. Wichtig auch die Aufsatzsammlung DERS., Die russische Freiheit, Stuttgart 2002. Neueste Darstellung: Michael GARLEFF, Zur baltischen Publizistik am Beispiel Julius Eckardts und Woldemar von Bocks, in: Jahrbuch des baltischen Deutschtums 36 (1989 [1988]), S. 139–146.
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lerdings keine wirkliche Hilfe29. Die zahlreichen Einzelbestimmungen verdunkelten vielmehr den inneren Zusammenhang zwischen den drei Provinzen: es fehlten nach seiner Auffassung Hinweise auf die Rolle des Kirchenregiments, die Behörden für die Beziehungen zum Bauernstand, die gesamte Organisation des Volksschulwesens, das Kirchengesetz von 1832, „eins der mangelhaftesten und systemlosesten Gesetzbücher, die je verfaßt worden sind“ (203). In einer Zeit, da von keinem andern Recht als dem des absoluten Herrschers die Rede sein durfte, waren die den Liv-, Est- und Kurländern theuersten und heiligsten Rechte, vor allem das Recht des freien religiösen Bekenntnisses angetastet worden (204).
Hier kommt er wiederum auf die Konversionsbewegung und die 1865 nur mündlich zugesagte und später in den 1890er Jahren bekanntlich revocierte Rekonversion zu sprechen (205). Niemals habe es in der livländischen Landbevölkerung einen unwiderstehlichen Zug zur russischorthodoxen Kirche gegeben, wie Samarin behaupte (206). Trotz der gesetzlich eingeräumten Bevorzugung der Staatskirche habe sie nie eine Verankerung in der Landbevölkerung erreichen können, zumal die erhofften weltlichen Vorteile nicht eingetreten seien und der Besuch des orthodoxen Gottesdienstes häufig durch Prügelstrafen erzwungen worden sei, was in der Landbevölkerung einen unüberwindlichen Widerwillen erzeugt habe30. ———————————— 29
30
Grundlegende Arbeit zum baltischen Provinzialrecht des 19. Jahrhunderts Marju LUTS, Juhuslik ja isamaaline: F. G. v. Bunge provintsiaalõigusteadus [Zufällig und Vaterländisch: Die Provinzialrechtswissenschaft von F. G. v. Bunge], Tartu 2000 (Disserationes Juridicae Universitatis Tartuensis 3). Dt. Zsf. S. 256–273. Vgl. DIES., Das Verhältnis von Rechtsgeschichte zur Rechtsdogmatik im Werk von F. G. v. Bunge, in: Tundmatu Friedrich Georg von Bunge, Tartu 2006 (Verhandlungen der Gelehrten estnischen Gesellschaft 35), S. 209–236; Gert von PISTOHLKORS, F. G. von Bunge und das ständische Denken, in: ebenda, S. 175–208. Neueste Arbeit zur Konversionsbewegung (mit Verweisen auf die frühere verzweigte Literatur): Gert von PISTOHLKORS, „Die russische Sphäre: sie lähmt und zerstückelt; sie verwaltet nicht: sie tödtet“. Die Livländische Konversionsbewegung in Schirrens Livländische Antwort und in den Materialien des Baron Stael von Holstein, in: Anthropologien der Endlichkeit. Für Hans Graubner zum 75. Geburtstag, hg. v. Friederike Felicitas GÜNTHER / Torsten HOFFMANN, Göttingen 2011, S. 357–389; zur russischen Perzeption siehe Karsten BRÜGGEMANN, The Baltic Provinces and Russian Perceptions in Late Imperial Russia, in: Russland an der Ostsee: Imperiale Strategien der Macht und kulturelle Wahrnehmungsmuster (16. bis 20. Jahrhundert) / Russia on the Baltic: Imperial Strategies of Power and Cultural Patterns of Perception (16th – 20th Centuries), hg. v. DEMS. / Bradley D. WOODWORTH, Köln / Weimar / Wien 2012 (Quellen und Studien zur baltischen Geschichte 22), S. 111–140.
Zur Interpretation der Livländischen Privilegien
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Wenden wir uns der Frage zu, ob in den 1860er Jahren die Livländische Ritterschaft die „alten Ruinen“, wie Julius Eckardt es ausdrückte, verteidigt oder mit Nachdruck an den Ausbau der eigenständigen Region Livland gedacht hat. Die Frage der Verfassungsreform stand im Mittelpunkt der Auseinandersetzungen der liberalen mit der konservativen Partei zwischen 1862 und 1885. Dazu liegen u.a. gedruckte Anträge an die Landtage von 1863, 1866 und 1869 vor, die der Besitzer von Raudenhof (lettisch Rauda), im Kreis Walk gelegen, Jegór von Sivers (1823–1879), eingebracht hat und die bereits Alexander von Tobien (1854–1929) zum Beweis nahm, dass Einzelne durchaus eigenständige Gedanken zur Verfassungsreform unterbreiteten, die auch von einigen Parteigängern unterstützt wurden31. Sivers-Raudenhof war ein weitgereister Mann, der sich in Mittelamerika und Europa umgesehen hatte, bevor er sich literarisch betätigte und Ämter in der Livländischen Ritterschaft übernahm. Auch Sivers ging 1866 wie Eckardt davon aus, dass die Chancen zu einer eigenständigen Verfassungsreform durch Maßnahmen, die von Staats wegen ergriffen werden konnten, zunichte gemacht werden könnten. Dabei verwies er auf die bereits oktroyierte Justizordnung und auf die Gefahr, dass „wir alsbald auch in einen neuen Landesverfassungskörper eingeschlossen würden, an dessen Bildung wir unbetheiligt bleiben“32. Gemeint ist natürlich die russische Zemstvo-Ordnung von 1864. Im Jahr 1866 forderte Sivers eine Reform der Landesverfassung an Haupt und Gliedern. Es gelte, „mit Bürgern und Bauern ein gemeinsames Haus zu schirmen“ (19). Die Einsicht müsse unter den Landtagsberechtigten geweckt werden, „daß es wohlverbriefte Rechte giebt und althergebrachte Gewohnheiten und Einrichtungen, die uns statt zu nutzen – schaden; die uns spalten und hemmen, statt uns zu einigen und zu fördern“ (ebd.). „Stillstand und Selbstvernichtung“ seien auch in Livland „gleichbedeutend“ geworden (20). Um die „heiligsten Güter“ des Landes zu erhalten: „eigene Richterwahl, GesetzesInitiative, Selbstverwaltung, Muttersprache in Schule und Behörde, freie Glaubensübung und Kirche ohne Eindrang“ – das bezieht sich auf die Folgen der Konversionsbewegung – sei es nötig, auf „Sonderprivilegien“ zu ver———————————— 31
32
Zu Sivers und Tobien siehe DBBL, S. 735 f. u. 803. Über die Vorbereitung der „Großen Aktion“ der Livländischen Ritterschaft von 1869/70: Alexander von TOBIEN, Die Livländische Ritterschaft in ihrem Verhältnis zum Zarismus und russischen Nationalismus, Bd. I, Riga 1925, S. 366–416, bes. S. 366 f. und 388 f. Jegór v. SIVERS, Zur Revision der livländischen Verfassung. Zwei als Manuskript für Landtagsberechtigte gedruckte Anträge an die Landtage 1869 und 1866, Raudenhof, 2./14. März 1869 (31 S.); Zitat aus dem „Antrag vom 1./13. Februar 1866“, S. 15. Die folgenden Zitate stammen aus diesen Texten.
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zichten (ebd.). Das Kaiserreich habe aufgehört, ein „Sclavenstaat“ zu sein (ebd.). Deutscher Geist und deutsche Gewissenhaftigkeit müssten Livland in den Stand versetzen, „Geläuterteres, Reiferes, Fruchtbareres zu leisten als die nationalrussischen Provinzen“ (ebd.). Dem fortgeschrittenen Bildungsstand „unserer Provincialen“ – der Esten und Letten – sei es geschuldet, dass kein weiterer Zeitverlust eintrete. Die indigene Bevölkerung könne jedenfalls nicht mehr länger „unter Vormundschaft“ gestellt werden (19, 24). In seiner Begründung eines Antrags auf Einsetzung einer Kommission von fünf Landtagsberechtigten zur Revision der livländischen Verfassung gibt Sivers eine bis dahin kaum zu findende Begründung für diesen Antrag. Es sei Aufgabe der mit dem Vorteil hoher Bildung ausgestatteten Gruppen – also s.E. der deutschen Ritterschaft und der deutschen Bürger – zu verhindern, dass „der bedrängte Teil“ der Bevölkerung – die estnische und lettische Landbevölkerung – „selbst den Mißständen abzuhelfen“ suche. Sivers fordert eine Reform an Haupt und Gliedern, um lokale Revolten wie den „Krieg“ von Machters (estn. Mahtra) von 1858 in Zukunft unmöglich zu machen33. Angesichts der Neigung „gewisser Bevölkerungstheile“ zu „ungesetzlicher Selbsthilfe“, angesichts des „außerordentlichen verwirrenden Eingreifens der obersten Staatsgewalt“ (24), in der besonders schwierigen Stellung, welche die livländische protestantischdeutsche Ritterschaft, die russische Staatsregierung, die griechische Geistlichkeit und eine lettische und estnische Flachlandbevölkerung zu einander einnehmen, kann nur Eines unsere Existenz retten: klares Denken, offenes loyales Handeln, entschiedenes und ungesäumtes Vorgehen und Vollendung dessen, was Zeit und Umstände erfordern: das Einigungswerk der verschiedenen Nationalitäten und Gesellschaftsgruppen in Stadt und Land (der letzte Halbsatz in Sperrdruck, 24 f.).
1866 und wiederum 1869 forderte Sivers „die Umwandlung der Virilstimmenversammlung“ – des ritterschaftlichen Landtags – „und Kreistags“ – der Versammlung der immatrikulierten Rittergutsbesitzer auf Kreisebene – „in Repräsentativ-Versammlungen“ (8). Diese neue Institution sollte alle bisher dem Landtag zustehenden Rechte – namentlich das der Gesetzesinitiative, der Landschulangelegenheiten und des Kirchenpatronats – ausüben. Im Übrigen sollte die Beteiligung der städtischen und der bäuerlichen Gemeinden an den Land- und Kreistags-Versammlungen vorbereitet werden (26–31). ———————————— 33
Zum Krieg von Machters vgl. Juhan KAHK, Bauer und Baron im Baltikum, Tallinn 1999, S. 141.
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In scharfen Wendungen suchte Sivers das Ende der „Sonderprivilegien“ (20) und der ständischen Ordnung einzuläuten: Seitdem wir Bauernsöhne haben Gelehrte und Beamte werden sehn, seitdem Fabrikanten und Kaufleute durch einen leicht erworbenen russischen Rang haben Gutsbesitzer werden dürfen; seitdem gutsbesitzliche Edelleute, die einen Universitätscursus absolvirt hatten, sich nicht dadurch für erniedrigt hielten, wenn sie die Geschäfte von Brandtweins – und Viehhändlern unternahmen, Fabriken anlegten, Schiffsrhederei betrieben: ist die unselige Schranke gefallen, welche der angeborenen geistigen Begabung durch den angeerbten Standesunterschied gestellt war[,] und das Vorurtheil vernichtet, welches kastenmäßig nicht gestattete[,] außerhalb des väterlichen Beschäftigungskreises seinen Beruf und Erwerb zu wählen (25).
Hier wird in bester aufklärerischer Absicht nachdrücklich festgestellt, dass der Prozess der Veränderungen die bestehende ständische Ordnung bereits überholt habe und der grundlegenden Veränderung der Sozialverhältnisse nachgearbeitet werden müsse. Aufbauend auf der Materialsammlung von Reinhold Baron Stael von Holstein und dem Werk von Alexander von Tobien sowie eigenen Quellenrecherchen im Ritterschaftsarchiv und in der deutschbaltischen Presse hat Reinhard Wittram in einer differenzierten Analyse aus dem Jahr 1934 – „Meinungskämpfe im baltischen Deutschtum während der Reformepoche des 19. Jahrhunderts“ – den Weg der Anträge zwischen 1862 und 1885 im Einzelnen verfolgt34. Sie wurden von Vertretern der ständischen Liberalen und der aus ihnen hervorgegangenen Reformpartei den jeweiligen Landtagen zur Verfassungsreform beharrlich vorgelegt und von den jeweiligen wechselnden intransigenten Mehrheiten ebenso beharrlich desavouiert. Die Zustimmung zu einer Verfassungsreform nahm in den 1870er Jahren kontinuierlich ab. Die Begründungen für die Ablehnungen wechselten hingegen und deuten auf die tiefe Verunsicherung, die selbst die Spitzenvertreter der Livländischen Ritterschaft zunehmend überwältigte. Jegór von Sivers wird von Wittram als Radikaler unter den Liberalen eingestuft, der nur wenige Parteigänger gehabt habe und letztlich unter den Landtagsberechtigten seiner Generation nur in Alexander von Middendorff-Hellenorm (1815–1894) ———————————— 34
WITTRAM, Meinungskämpfe (wie Anm. 4 ), bes. Kap. II: Die Entwicklung der Parteigegensätze in Livland von der Begründung der liberalen Landtagspartei bis zum Beginn der Russifizierung, S. 21–77. Es bleibt allerdings zweifelhaft, ob für die Aktivitäten der Livländischen Ritterschaft zwischen 1862 und 1885 der Begriff einer Reformepoche nicht zu anspruchsvoll ist.
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einen hoch angesehenen Unterstützer gefunden habe35. Manche der Forderungen von Sivers gingen auch den Altliberalen zu weit. So wollte der ehemalige Landmarschall Nicolai von Oettingen (1825–1875) in seinem Verfassungsentwurf die Pflicht zur Steuerreform in den Mittelpunkt gerückt sehen und nur die ritterschaftlichen Kreistage erweitern, nicht etwa den Landtag in die Reform einbeziehen. Ihm ging es vor allem um Wahrung der Rechtskontinuität seit 1710/21, nicht um einen Neuanfang; am 10. März 1872 schrieb er aus Riga: Mich stimmt es wehmütig, dass im Augenblick meine liebsten Freunde sich gegenseitig montieren für die Idee, den Virillandtag in eine Delegiertenversammlung umzugestalten. Sie kommen mir vor wie Kinder, die Gerichter machen [mit Kuchenförmchen aus Sand Kuchen backen wollen; G.v.P.] und glauben, dass sie davon satt werden können36.
Solchen Ansichten widersprach Hermann von Samson-Urbs (1826– 1908), der „Wetterleuchter“37. Er forderte ohne jede Aussicht auf Erfolg die Aussetzung aller Steuerdebatten, bis eine Erweiterung des Willigungsrechts durch eine entsprechende Umgestaltung des Landtages erreicht sei, eine Forderung, die er Jahre später völlig zurücknahm, als er den alten Landtag der immatrikulierten Adeligen unbedingt bewahren und daneben einen Steuerlandtag installieren wollte, zu dem gewählte Vertreter der Landbevölkerung hinzutreten sollten38. Die Beispiele zeigen deutlich, dass die sogenannten Reformer sich nicht einig waren, wohin die Reise jeweils gehen sollte. Eindruck machte jedoch die wiederholt geäußerte Meinung, dass die Zeit für Reformen begrenzt sei, „im Hinblick auf die Reichsreformen“ und „angesichts des sich bei der einheimischen Bevölkerung immer mehr regenden und künstlich leicht aufzustachelnden Selbstgefühls“, wie Moritz von Grünewaldt (1827–1873), langjähriger Sekretär der Livländischen Ritterschaft seit 1862, es in einem eigenen Entwurf formulierte39. ———————————— 35
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Ebenda, S. 39–42. Zu Middendorff siehe DBBL, S. 521 f. Grundlegend TAMMIKSAAR, Alexander Theodor von Middendorff (wie Anm. 23). WITTRAM, Meinungskämpfe (wie Anm. 4), S. 46. Zu Hermann von Samson-Urbs, der im Jahr 1878 mit einer anonym publizierten Schrift „Wetterleuchten“ den viel beachteten „Broschürenstreit“ eröffnete, vgl. DBBL, S. 66, und WITTRAM, Meinungskämpfe (wie Anm. 4), S. 127–134. Vgl. auch PISTOHLKORS, Die Ostseeprovinzen (wie Anm. 18), S. 387 f. WITTRAM, Meinungskämpfe (wie Anm. 4), S. 43–48. Zitat ebenda, S. 44. Über den Zoologen und Landespolitiker Moritz von Grünewaldt siehe DBBL, S. 273.
Zur Interpretation der Livländischen Privilegien
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Besonders Angehörige der jungen Generation von Liberalen verstärkten das Argument, dass man auf die estnischen und lettischen Bauernwirte zugehen müsse. Wenn die Livländische Ritterschaft in der jetzigen Stellung starr stehen bliebe, so Axel von Grünewaldt-Aahof (1832–1916) auf dem Juni-Landtag von 1872, würde man sich „in der eigenen Heimat und im eigenen Lande“ einen Feind schaffen, „der viel größere Gefahr bringt als die von der Regierung“40. Balthasar Baron Campenhausen (1843–1905) verstieg sich sogar zu dem Ausruf, dass die „Racenprivilegien“ endlich abzulegen seien. Was wir als Voraussetzung allen weiteren Fortschritts zu erstreben haben, ist der Ausgleich der sozialen Gegensätze innerhalb der deutschen und autochthonen Bevölkerung Livlands. [...] Alle Reform ist danach zu beurteilen, wieweit sie geeignet ist, die nationalen Gegensätze auszugleichen und ein „livländisches Volk“ zu schaffen.
Allerdings war Campenhausen auch der Auffassung, dass der erstrebte Ausgleich nur mit den „besitzlichen Klassen der Letten und Esten“ zu erhoffen sei. Die „jungen Heißsporne“, wie Nicolai von Oettingen sie nannte, wurden von den Älteren als Theoretiker und Ideologen angesehen41. Dabei kommt Wittram 1934 insgesamt zu dem Ergebnis, dass von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen die Reformfreunde die Zeichen der Zeit nicht erkannt hätten. Sie hätten „die Eigenkraft der lettischen und estnischen Volksidee“ nicht erkennen wollen und sich reformerischen Illusionen hingegeben. Die Liberalen hätten an eine mögliche „Harmonisierung der Gegensätze“ geglaubt, „als der Nationalismus, die stärkste der neuen geschichtlichen Kräfte, längst sein revolutionäres Gesicht enthüllt hatte“42. Wittrams Beitrag über die Reformpolitik der verschiedenen Parteien im livländischen Landtag endet deshalb mit einer eindeutigen Parteinahme für die intransigenten Konservativen, die als einzige Realpolitik betrieben und das Mögliche stets im Blick gehabt hätten. Ihre Botschaft sei einfach gewesen: aus der Uralterinnerung des Eroberers heraus habe bei der Verteidigung der Adelsvorrechte „Kolonistenstolz“ eine Rolle gespielt43. „Wie blaß wirkt gegenüber diesem Selbstgefühl der liberale Begriff vom Staatsbürger, der als ———————————— 40
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WITTRAM, Meinungskämpfe (wie Anm. 4), S. 46. Über Axel von Grüenewaldt siehe Album Livonorum, o.O. 1972, Nr. 412. WITTRAM, Meinungskämpfe (wie Anm. 4), S. 58 f., das Oettingen-Zitat ebenda, S. 47. Über Balthasar Baron Campenhausen siehe Album Livonorum (wie Anm. 40), Nr. 549. Zitate nach WITTRAM, Meinungskämpfe (wie Anm. 4), S. 56 und S. 77. Zitat ebenda, S. 65.
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solcher Rechte und Ansprüche habe! Das war luftige Theorie“, schreibt Wittram und zeigt damit im Jahr 1934 doch eine gewisse Zeitabhängigkeit im Urteil über die Kraftlosigkeit liberaler Reformbereitschaft44. Aber seine Charakterisierungen der Parteien sind eindrucksvoll: Familienclans: Nolcken, Löwis, Transehe, Loudon, Brasch – hätten die „Konservative Partei“ zusammengehalten. Am reichsdeutschen Konservatismus geschulte deutsche Gesinnung und Festhalten der Privilegien seien eine unauflösliche Symbiose eingegangen, doch müsse berücksichtigt werden, dass Nationalismus in einem vornationalen Zeitalter nicht dasselbe bedeutet habe wie in den 1870er Jahren. Das Verharren in ständischen Denkkategorien habe noch den Hauptkampf zwischen der Ritterschaft und der Stadt Riga in den 1860er Jahren begleitet, als es um den gescheiterten Ausbau der ständischen Justizverfassung ging und, wie ergänzt werden kann, einige immatrikulierte Adelige wie der bekannte Sammler und Genealoge Robert Baron TollKuckers (1802–1876) es als unmöglich ansahen, dass ein Nicht-Adeliger mit juristischer Ausbildung über einen Adeligen zu Gericht sitze45. In den 1870er Jahren seien hingegen mit dem Führer der Konservativen Arthur von Richter (1824–1892) neue Zeiten angebrochen. Solange unsere unglückliche Landbevölkerung wirklich der Regierung gegenüber dasteht, wie die Tasten eines Klaviers, auf dem sie spielen kann und jeden beliebigen Ton hervorrufen, so lange, m[eine] H[erren], ist es für uns unmöglich, diesen Bevölkerungsschichten gleiche Rechte oder überhaupt eine Beteiligung an unseren Rechten zu gewähren. Denn wenn wir das tun, verlieren wir die unsrigen unbedingt46 (73).
Diese Argumentation Richters vom 29. Mai 1875 wurde in der Folge auch deshalb gehört, weil spätestens nach der Einführung der russischen Städteordnung im Jahr 1877 bei den Wahlen im Jahr 1878 besonders in Riga deutlich zutage trat, zu welcher Kraftentfaltung die estnischen und lettischen Listen fähig waren. Richter, so Wittram, wollte dem Land den deut———————————— 44
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Zitat ebenda, S. 65 f. Vollends zeigt sich ein publizistischer Jargon der dreißiger Jahre, wenn er einige Zeilen weiter die Vorherrschaft des Ständischen gegenüber dem modernen Nationalen bei den Konservativen um 1860 betont: „Das ist kein heutiges Nationalgefühl; dazu fehlt die Schwingung in der Weite des Volksganzen“ (ebenda, S. 66). Zu Robert Baron Toll siehe DBBL, S. 807 f. Vgl. Gert von PISTOHLKORS, Das „Hineinragen“ ständischer Strukturen in die sich modernisierende baltische Region. Die gescheiterte ständische Justizreform in den 1860er Jahren (Original 1992), in: DERS., Vom Geist der Autonomie (wie Anm. 10), S. 43–54. Bei Wittram zitiert nach dem Landtagsrezess von 1875, vgl. DERS., Meinungskämpfe (wie Anm. 4), S. 73.
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schen Charakter erhalten: Das ständische Prinzip sei mit dem nationalen bereits völlig verschmolzen gewesen. Zwar hätten die Konservativen unter dem Zwang der Verhältnisse einen „allständischen Vertretungskörper“ in Wirtschafts- und Steuerfragen auf Provinzebene ins Auge gefasst und sich zumindest äußerlich dem Verlangen nach Anpassung an die ZemstvoInstitutionen angleichen wollen; aber das Ziel sei die Erhaltung des Virilllandtages gewesen als „letzte Stätte des reinen Deutschtums“, wie es im Landtagsrezess von 1882 heißt47. Die ständischen Liberalen aber hätten die Machtfrage nicht klar genug gestellt und seien deshalb an ihren Illusionen gescheitert48. Auf mehr als 50 Druckseiten hat Tobien das Scheitern sämtlicher Bemühungen um eine Anpassung der Verfassung an moderne Erfordernisse geschildert49, beginnend mit der 1. Baltischen Konferenz 1882 und den Folgen der Manaseinschen Revision Livlands und Kurlands von 1882/83, die in einer riesigen Petitionsbewegung der estnischen und lettischen Vereine endete50. Ziel der Petitionen war u.a. die Aufhebung der Provinz Livland und die Schaffung zweier Provinzen – Estland und Lettland – entlang der Sprachengrenze. Die „Baltische Konferenz“ von Delegierten der Ritterschaften Livlands, Estlands, Kurlands und Oesels aus dem Jahr 1882 hätte bereits unter dem Endruck gestanden, „dass der sich zu regen beginnende lettischestnische Chauvinismus schon am Werke sei, dem Landvolk den Sinn für Ordnung und Recht deutschen Ursprunges zu rauben“51. Diese Volksbewe———————————— 47 48
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Zitiert ebenda, S. 74 Zu den städtischen Wahlkämpfen: ebenda, S. 108–120. Vgl. auch Ulrike von HIRSCHHAUSEN, Die Grenzen der Gemeinsamkeit. Deutsche, Letten, Russen und Juden in Riga 1860–1914, Göttingen 2006 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 172), bes. S. 166–195. Reinhard Wittram hat sich bis zu seinem letzten Aufsatz zur baltischen Geschichte stets für die Frage des Übergangs vom Ständischen zum Nationalen interessiert. Vgl. Reinhard WITTRAM, Das ständische Gefüge und die Nationalität, in: DERS., Das Nationale als europäisches Problem, Göttingen 1954, S. 149–160; DERS., Methodologische und geschichtstheoretische Überlegungen zu Problemen der baltischen Geschichtsschreibung, in: Zeitschrift für Ostforschung 20 (1971), S. 601–640, bes. S. 619–635. Vgl. auch Gert von PISTOHLKORS, Führende Schicht oder nationale Minderheit?, in: ebenda 21 (1972), S. 601–618; HACKMANN, Ethnos oder Region? (wie Anm. 10), und BRÜGGEMANN, Als Land und Leute ‚russisch‘ werden sollten (wie Anm. 15), passim. TOBIEN, Die Livländische Ritterschaft (wie Anm. 31), bes. S. 406–416. Über die Manaseinsche Revision unter Nennung der einschlägigen Literatur: Gert von PISTOHLKORS, Die Ostseeprovinzen (wie Anm. 18), S. 390 ff. TOBIEN, Die Livländische Ritterschaft (wie Anm. 31), S. 406; Zitat nach Ferdinand LUTHER, Der Nationalismus, ein Feind unserer kirchlichen und staatlichen Ordnung, in: Baltische Monatsschrift 29 (1882), S 122–138, Zitat S. 130. Über Luther: Die Pastoren
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Gert von Pistohlkors
gungen hätten die „auf germanischer Grundlage ruhende Kommunalverfassung Livlands von unten“ bedroht: Gleichzeitig gefährdeten „nationalistischunitarische Pläne der Staatsregierung die historisch gewordene Struktur der Ostseeprovinzen von oben“52. Ob ein frühes Eingehen auf eine Politik der Kooperation auf Kreisebene und auf Provinzebene einen baltischen Regionalismus befördert hätte, wie er in Finnland seit 1863 zu einem wachsenden Verständnis zwischen verschiedenen Ständen und Ethnien beigetragen hat, gehört wohl in den Bereich der Spekulation53. Tobien lässt sein spannendes Kapitel über die Provinzialverfassung aus der Perspektive des Jahres 1918 mit dem Satz enden: „Die Weltgeschichte war es, die mit starker Hand in die Entwickelung der öffentlichrechtlichen Zustände Livlands eingriff und sie völlig umgestaltete“54. Aus dem Blickwinkel der Jahrzehnte vor der Russifizierung am Ende der 1880er Jahre scheinen dem gegenüber manche Ergebnisse einer gescheiterten Reformpolitik doch hausgemacht. In seinem Buch „The Failure of Illiberalism“ aus dem Jahr 1972 schreibt der bekannte amerikanische Historiker und Bestseller-Autor deutsch-jüdischer Herkunft, Fritz Stern: By illiberalism I mean not only the structure of the political regime, suffrage restrictions, or class chicanery, but a state of mind. For just as liberalism be————————————
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des Konsistorialbezirks Estland 1885–1919, hg. v. Erik AMBURGER, Köln / Wien 1988 (Quellen und Studien zur baltischen Geschichte 11), S. 66. TOBIEN, Die Livländische Ritterschaft (wie Anm. 31), S. 407. Zur vergleichsweise harmonischen Entwicklung der Verfassungsverhältnisse im zum Russländischen Reich gehörenden Großfürstentum Finnland vgl. vor allem Robert SCHWEITZER, Autonomie und Autokratie. Die Stellung des Großfürstentums Finnland im russischen Reich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts (1863–1899), Gießen 1978 (Marburger Abhandlungen zur Geschichte und Kultur Osteuropas 19), bes. S. 31–102; Risto ALAPURO, State and Revolution in Finland, London 1988, S. 19–139. Vgl. auch Robert SCHWEITZER, Finnland und das Zarenreich, in: DERS., Finnland, das Zarenreich und die Deutschen. Festschrift für Robert Schweitzer zum 60. Geburtstag, Lübeck 2008 (Veröffentlichungen der Aue-Stiftung 20), S. 372–725 (hierin mehrere einschlägige Aufsätze des Autors). Risto Alapuro und Verf. haben seinerzeit eine „twin study“ publiziert, die sich auf „non-dominant ethnic groups“ in Finland und in den Ostseeprovinzen bezog: Risto ALAPURO, Peasants in the Consolidation of the Finnish State: The Rise of a Non-dominant Ethnic Group, in: Roots of Rural Ethnic Mobilisation, hg. v. David HOWELL u.a., Dartmouth 1993 (Comparative Studies on Governments and Non-dominant Ethnic Groups in Europe, 1850–1940, 7), S. 145–168; Gert von PISTOHLKORS, Inversion of Ethnic Group Status in the Baltic Region: Governments and Rural Ethnic Conflicts in Russia’s Baltic Provinces and in the Independent States of Estonia and Latvia, 1850–1940, in: ebenda, S. 169–220. TOBIEN, Die Livländische Ritterschaft (wie Anm. 31), S. 457.
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speaks a state of mind, so does its negation. [...] Any concessions in any realm might undermine the authority, prestige, and status of the entire system55.
Die Inanspruchnahme der Privilegien von 1710/21 für eine Reformdiskussion, die in der versteinerten Standespolitik der 1880er Jahre endete, macht deutlich, dass die fähigen Provinzialpolitiker in der Livländischen Ritterschaft offenen Auges den schwindenden Raum für eine erfolgreiche Gestaltung des Ausbaus der baltischen Region im Russischen Reich wahrnahmen; sie fanden in den wenigen Jahren, die ihnen noch für eine aktive Landespolitik unter eigenen Gesichtspunkten blieben, keinen Weg zur Lösung ihrer Probleme56. Reinhold Baron Stael von Holstein hat auf mehreren tausend Seiten dargestellt, wie der Livländische Landesstaat langsam, aber unaufhaltsam zerbrach57. Staatliche Reformen, die als „Russifizierung“ erlebt wurden, unterminierten schließlich auch die in den Jahren 1710/21 garantierte Stellung der deutschen Sprache, des deutschen Rechts in Justiz und Verwaltung und der evangelisch-lutherischen Kirche in den Ostseeprovinzen, besonders sichtbar und europaweit beachtet in den livländischen Pastorenprozessen der 1870er bis 1890er Jahre58.
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Fritz STERN, The Failure of Illiberalism, London 1972, S. XVII. Mit diesem Satz endet auch meine Dissertation: PISTOHLKORS, Ritterschaftliche Reformpolitik (wie Anm. 4), S. 257. Neben den Aufsätzen von HACKMANN, Ethnos oder Region (wie Anm. 10), und BRÜGGEMANN, Als Land und Leute ‚russisch‘ werden sollten (wie Anm. 15), siehe Gert von PISTOHLKORS, „Die russische Sphäre“ (wie Anm. 30), S. 357–389. Verf. sitzt an einer größeren Arbeit über „Reinhold Baron Stael und der Zusammenbruch des livländischen Landesstaates im 19. Jahrhundert“. Zu den Pastorenprozessen grundlegend: Horst GARVE, Konfession und Nationalität. Ein Beitrag zum Verhältnis von Kirche und Gesellschaft in Livland im 19. Jahrhundert, Marburg/Lahn 1978 (Wissenschaftliche Beiträge zur Geschichte und Landeskunde Ostmitteleuropas 110), bes. S. 251–263.
MARJU LUTS-SOOTAK
Die baltischen Kapitulationen von 1710 und die Gesetzbücher des 19. Jahrhunderts* 1. Einleitung Sowohl die deutsche als auch die estnische und wohl auch die lettische Geschichtsschreibung behandeln im Kontext der est- und livländischen Kapitulationen vom 1710 meistens nur die so genannten großen Themen: die Ausübung der lutherischen Religion gemäß der Augsburgischen Konfession, die Beibehaltung der deutschen Amtssprache sowie der Behördenverfassung und Rechtsordnung, die Restitution der reduzierten Güter und die volle bzw. sogar weiter reichende Wiederherstellung der Selbstverwaltungsbefugnisse des Adels. So formuliert sind die konkreten Forderungen des Jahres 1710 allerdings bereits auf eine hohe Abstraktionsebene gestellt. Die Accords-Puncta bzw. alteuropäisch „capitula“1 des schwedischen Generalgouverneurs Nils Jönsson Strömberg2 enthielten 65 Punkte und dazu noch drei ————————————
* Eine erste Version dieses Artikels erschien als Marju LUTS-SOOTAK, 1710. aasta rüütelkondade kapitulatsioonide suured teemad ja 19. sajandi seadusandlus [Die großen Themen der Kapitulationen der Ritterschaften von 1710 und die Gesetzgebung des 19. Jahrhunderts], in: Tuna 2010, Nr. 3, S. 42–51. Sie wurde für den vorliegenden Beitrag überarbeitet und ergänzt; finanziell wurde die Anfertigung des Textes unterstützt durch das Projekt ETF 9209 des estnischen Wissenschaftsfonds. 1 Zum gemeineuropäischen Kontext der baltischen Kapitulationen siehe den Beitrag von Jürgen von UNGERN-STERNBERG in diesem Band. Siehe auch Hans HATTENHAUER, Europäische Rechtsgeschichte, Heidelberg 42004; zum rechtshistorischen Zusammenhang der Kapitulationen mit dem mittelalterlichen Leihegedanken noch zu Beginn der Neuzeit ebenda, S. 390 f., zur Einsetzung der Kapitulationen bei der Gestaltung der Beziehungen zum Osmanischen Reich ebenda, S. 533 ff., zur Umwälzung der alteuropäischen „Kapitulation“ als eines „die Streitpunkte aufzählenden“ Textes in die „unconditional surrender“ des Jahres 1945 ebenda, S. 826 ff. Allgemein strukturierend und damit für einen Vergleich sehr gut geeignet: Wolfgang REINHARD, Geschichte der Staatsgewalt. Eine vergleichende Verfassungsgeschichte Europas von den Anfängen bis zur Gegenwart, München 2 2000; für die hier behandelten Fragen einschlägig vor allem Kapitel III, S. 211 ff. 2 Polnoe sobranie zakonov Rossijskoj imperii [Vollständige Gesetzessammlung des Russländischen Reichs, künftig PSZ], Sammlung I, Bd. 4, Nr. 2277, 3.7.1710, S. 501– 514; dt. in: Capitulation des schwed. Gen. Gouverneur Strömberg mit dem Gen. Feldm. Sche-
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Puncta von Feldmarschall Boris P. Šeremetev; die Capitulations und AccordsPuncta der Stadt Riga3 22; die Accords-Puncte der Livländischen Ritterschaft4 zusammen mit Additamentum 30+3; die Capitulations Puncta der schwedischen Garnison in Pernau5 41, die Accords Puncte der schwedischen Garnison zu Reval6 31, die Puncta der Stadt Reval7 33 und die Kapitulation der Estländischen Ritterschaft8 41. Es waren insgesamt 266 Punkte – erheblich mehr als der traditionell in Übersichtsdarstellungen erwähnte Kern. Es ist ————————————
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remetiew vom 3. Juli 1710. Aus dem Recesse des Landtages vom J. 1710., nach einer vidimirten Copie, in: Die Capitulationen der livländischen Ritter- und Landschaft und der Stadt Riga vom 4. Juli 1710 nebst deren Confirmationen. Nach den Originaldocumenten mit Vorausstellung des Privilegium Sigismundi Augusti und einigen Beilagen, hg. v. Carl SCHIRREN, Dorpat 1865, S. 85–111, mit den Puncta Šeremetevs (S. 112) und dem zarischen Mandatum Gratiae vom 17.10.1710 (S. 113 f.). Alle Daten folgen dem Kalender alten Stils. PSZ I-4, Nr. 2278, 4.7.1710, S. 514–519; dt. als Capitulation der Stadt Riga vom 4. Juli 1710. Pap.-Orig. im innern Rig. Raths-Archiv, in: Die Capitulationen der livländischen Ritter- und Landschaft (wie Anm. 2), S. 65–74, mit der zarischen Generalkonfirmation vom 30.9.1710 (S. 73) und der Resolution vom 12.10.1710 (S. 76 f.). PSZ I-4, Nr. 2279, 4.7.1710, S. 519–526; dt. als Capitulation der Livl. Ritterschaft vom 4. Juli 1710. Pap.-Orig. im Archiv der Livl. Rittersch. Doc.Schrank No. 30, in: Die Capitulationen der livländischen Ritter- und Landschaft (wie Anm. 2), S. 35–46, mit der zarischen Generalkonfirmation vom 30.9.1710 (S. 47 ff.), der Resolution vom 12.10.1710 (S. 51 ff.) und der Resolution des Fürsten Menšikov vom 1.3.1712 (S. 57 ff.). PSZ I-4, Nr. 2286, 12.8.1710, S. 531–543; dt. als Capitulation der schwedischen Garnison in Pernau vom 12. August 1710. Nach einer im Ritterschafts-Archive zu Reval befindlichen Notariatsabschrift vom 16. Aug. 1710, in: Die Capitulationen der estländischen Ritterschaft und der Stadt Reval vom Jahre 1710 nebst deren Confirmationen. Nach den Originalen mit andern dazu gehörigen Documenten und der Capitulation von Pernau, hg. v. Eduard WINKELMANN, Reval 1865, S. 85–107, mit dem Huldigungsrevers der Eingesessenen des Pernauschen und Dorpatschen Kreises vom 15.8.1710 (S. 108). PSZ I-4, Nr. 2297, 29.9.1710, S. 552–560; dt. als Capitulation der schwedischen Garnison in Reval vom 29. September 1710. Nach dem im Ritterschafts-Archive zu Reval befindlichen Originale auf Papier, in: Die Capitulationen der estländischen Ritterschaft (wie Anm. 5), S. 28–43. PSZ I-4, Nr. 2298, 29.9.1710, S. 560–567; dt. als Capitulation der Stadt Reval vom 29. September 1710. Nach dem im Rathsarchive zu Reval befindlichen Original auf Papier, in: Die Capitulationen der estländischen Ritterschaft (wie Anm. 5), S. 44–56, mit der zarischen Generalconfirmation (S. 57 f.). PSZ I-4, Nr. 2299, 29.9.1710, S. 567–575; dt. als Die Capitulation der estländischen Ritterschaft vom 29. September 1710. Nach dem im Ritterschaftsarchive zu Reval befindlichen Originale, in: Die Capitulationen der estländischen Ritterschaft (wie Anm. 5), S. 58–73, mit dem Interims-Revers der Ritterschaft vom 1.10.1710 (S. 74 f.), dem Huldigungseid der Ritterschaft vom 22.2.1711 (S. 76 ff.) und der zarischen Generalkonfirmation vom 1.3.1712 (S. 80 ff.).
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klar, dass die Forderungen der einzelnen Stände, Städte, Gouverneure und Garnisonen sich thematisch teilweise oder gar größtenteils deckten. Andererseits sind unter einem konkreten Punkt öfters mehrere Themen behandelt worden. Die Kapitulationen der beiden Ritterschaften9 z.B. lassen sich in insgesamt 76 verschiedene Themen und Forderungen einteilen, wovon nur 15 in beiden Kapitulationen inhaltlich übereinstimmen. Schon ein flüchtiger Blick auf die Kapitulationen der Städte und Garnisonen zeigt, dass die Anzahl der einzelnen Forderungen sich noch vermehren ließe. Auch an dieser Stelle wird es indes um die Analyse der beiden ritterschaftlichen Kapitulationen gehen, obwohl es immer noch an einer detaillierten und umfassenden vergleichenden Analyse aller Kapitulationen des Jahres 1710 fehlt. Man kann die Themen der Kapitulationen von 1710 unterscheiden in solche von tagespolitischer Bedeutung und in Dauerthemen. Als Themen von tagespolitischer Bedeutung werden hier solche angesehen, die durch eine einmalige Aktion oder Entscheidung relativ schnell lösbar waren. Dauerthemen hingegen verlangten nach Dauer-, teilweise auch nach institutionellen Lösungen. Im Folgenden soll diese Differenzierung anhand der beiden Kapitulationen der Ritterschaften im Detail vorgestellt werden, um dann die Beziehung der Kapitulationsthematik zu den Gesetzesinhalten, vor allem der umfangreichen Gesetzbücher des 19. Jahrhunderts, in Betracht zu ziehen. 2. Themen von tagespolitischer und dauernder Bedeutung in den Kapitulationen Themen von tagespolitischer Bedeutung konnten 1710 sehr wichtig sein und dringend nach einer Lösung verlangen. Insoweit waren sie vor allem für die Zeitgenossen wesentlich. Aber sie verlangten nicht nach strukturellen oder institutionellen Dauerlösungen. In erster Linie gehören hierher solche Probleme, die unmittelbar mit den Kriegshandlungen und der aktuellen Situation verbunden waren, z.B. die Bitte, „die übrige wenige Mannschaft [des „Adels Fahne Roszdiensts-Pferde-Regiments“, M.L.-S.] nach Hausz zu Dimittiren, nachdem daszelbe Regiment durch Verarmung des Adels in diesem Kriege gantz dismontiret vnd im Abgang gekommen“ war (KEstR IX), oder die Bestätigung, dass der Adel sein wegen des Krieges in der Stadt und Garnison verborgenes Vermögen wieder an sich nehmen dürfe (KLivR 27); ähn———————————— 9
Hier weiterhin: KLivR (die Kapitulation der Livländischen Ritterschaft) und KEstR (die Kapitulation der Estländischen Ritterschaft).
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lich auch für das Kirchenvermögen (KEstR XXXII). In dieselbe Kategorie gehören auch die Forderung der Amnestie für die Flüchtlinge aus der Kriegsgefangenschaft – ein Punkt, der der Livländischen Ritterschaft erst später eingefallen war (KLivR, Zusatz 1) – oder für diejenigen, die vor oder während der Kriegshandlungen „Ihro Grosz-Czarische Maytt. Hoheit selbsten, oder dero Truppen insgemein, oder jemanden in specie beleidigt haben, sei es mit Worten oder Werken“ (KEstR XXV); ebenso die allgemeine Zusicherung, dass alle Beleidigungen vor und während der Belagerung vergessen und unbestraft bleiben sollten (KEstR XXXV). Von Truppen enteignetes Vieh, requirierte Pferde und „Haabseligkeit“ wollte man ebenfalls zurückbekommen. Die russische Seite machte eine Ausnahme bei der bereits vor der Belagerung gemachten „[f]eindtliche[n] Beute“ – diese sollte nicht zurückerstattet werden (KEstR XXXIX und Konfirmation dazu). Auch die Schritte zur Bewältigung der Folgen der Kriegshandlungen kann man in diese Kategorie einordnen. Hierher gehören etwa die Rückerstattung des Vermögens an die rechtmäßigen Eigentümer (KLivR 12), eine Steuerbefreiung, bis sich die „adeliche[n] Güter“ von der „Belästigung“ der mehrjährigen Kriegshandlungen erholt haben (KLivR 18), und ein Zuschuss von Saatkorn nicht nur für adlige Güter (KEstR XX). Die befristete Befreiung der Pächter der Krongüter von der Bezahlung des Pachtgeldes sollte zwar der „allergnädigsten disposition“ des Zaren überlassen bleiben, aber gefordert wurde auch dies (KLivR 20). Innerhalb von anderthalb Jahren sollten die in Schweden und anderswo weilenden Personen zurückkehren dürfen (KLivR 22). In der Konfirmation dieses Punktes wurden die Fristen differenziert: Aus Schweden sollte man innerhalb sechs Monaten zurückkehren, aus dem übrigen Ausland, etwa von den ausländischen Universitäten, innerhalb der erbetenen anderthalb Jahre. Die Estländische Ritterschaft hat die geforderte anderthalb-jährige Frist auch für diejenigen bestätigt bekommen, die sich im schwedischen Dienst befanden (KEstR XXXIV, XV). Zurückverlangt wurden auch die nach Russland deportierten Bauern (KLivR 21) und in die Gefangenschaft gefallene „Mittbrüder, item Priester, Amtleute und Bauern“ (KEstR XII). Wie die Zurückkehrenden sollten auch die Wegziehenden eine Frist von eineinhalb Jahren für die Ordnung ihrer Vermögensverhältnisse gewährt bekommen (KLivR 22, 24; KEstR XXVI, XXXIV). Im Nystädter Frieden10 wurden diese Forderungen unter Punkt 12 insoweit modifiziert, ———————————— 10
PSZ I-6, Nr. 3819, 30.8.1721, S. 420–431; dt. partiell als Art. 9, 10, 11 und 12 des Nystädter Friedens, geschlossen am 30.8.1721, in: Die Capitulationen der livländischen Ritter- und Landschaft (wie Anm. 2), S. 115–117.
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als dass die Frist für die beiden Umsiedlerkategorien auf drei Jahre verlängert wurde. Der Krieg hatte auch innerhalb des Landes die Leute in fremde Gegenden getrieben. Nun wollte man sicher sein, dass sich ein jeder frei bewegen könne, also zu seinen Landgütern zurückkehren oder auch in der Stadt bleiben dürfe. Niemandem sollte weder auf dem flachen Lande noch in der Stadt dadurch Schaden entstehen (KLivR 28, KEstR XXIV). Wichtig war auch die garantierte Möglichkeit, in der Nachbarprovinz befindliche Landgüter wieder in Besitz zu nehmen (KEstR XVI). Manche Forderungen waren mit der Tatsache verbunden, dass der Krieg noch andauerte. So bat man die hohe Majestät um Vermittlung „durch Holl- und England“, falls die Salzeinfuhr künftig „möchte gehemmet werden“, was russischerseits auch zugesichert wurde – „so woll bey Holl- alsz Engelland“ (KEstR XVIII mit Konfirmation). Falls sich das Kriegsglück doch wieder auf die schwedische Seite neigen sollte, bat man um eine zarische Generalgarantie für „alle diese allergnädigst indulgirte[n] Capitulation[en]“ (KEstR XIV; ähnlich KLivR 30). Zu den Themen von aktueller Bedeutung sollte auch die Forderung nach Restitution der von der schwedischen Regierung reduzierten Güter gezählt werden, obwohl dieses Problem nichts mit der Kriegssituation zu tun hatte. Die schwedische Güterreduktion am Ende des 17. Jahrhunderts, von der Livland mehr als Estland betroffen war, spielte Peter I. einen Trumpf in die Hände, dank dessen er sich als gütiger Herrscher präsentieren konnte, der die „ungerechten Schwedischen proceduren gegen Lieff- und Ehst-Land“11 rückgängig machen und damit die Zuneigung des von den schwedischen Maßnahmen betroffenen Adels gewinnen wollte. Die beiden Ritterschaften hatten den entsprechenden Punkt als einen von fünfzehn gemeinsamen Forderungen in ihre Kapitulationen aufgenommen (KLivR 15; KEstR III). Dieser Punkt wurde auch im Nystädter Frieden unter Punkt 11 wiederholt bestätigt und gehört zu dem bis heute tradierten Kern der capitula des Jahres 1710. Auf der Tagung in Tartu im September 2010 hat Märt Uustalu erste Ergebnisse seiner Untersuchung des Restitutionsprozesses nach dem Nordischen Krieg präsentiert. Dieser wurde in der Regel in den ersten fünf Nachkriegsjahren vollzogen, konnte aber im Einzelfall sogar ein halbes Jahrhun———————————— 11
So im Gegenmandat Šeremetevs. Nach dem Abdruck in der Broschüre: Des Königlichen schwedischen General-Gouverneurs zu Riga, Niels Strohmbergs, wider Ihro GrossCzaarische Majestät heraus gegebenes Manifest, und die von dem Moscowitischen Obristen Baris Scheremetef, darauff wohlgefasste und kluge Antwort. Gedruckt in ult. Januario 1710, in: Die Capitulationen der livländischen Ritter- und Landschaft (wie Anm. 2), S. 30.
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dert dauern. Obwohl man in der Geschichtsschreibung gewöhnlich davon ausgeht, dass die Güter dem deutschbaltischen Adel zurückgegeben wurden, war der größte Gewinner des Restitutionsprozesses der niedere schwedische Adel. Reduziert wurden ja in erster Linie Donationsgüter, nicht die genuinen Privatgüter des ohnehin landsässigen Adels. Gemäß Uustalus Angaben haben die in ihre Rechte wieder eingesetzten Eigentümer ihre zurückgewonnenen Güter nach der Restitution allerdings schnell wieder verkauft. Ähnlich handelte übrigens auch der russische Adel im 18. Jahrhundert mit seinen baltischen Donationsgütern. Somit war die Restitution ein relativ schnell erledigter Prozess, der auch keine bleibenden Folgen nach sich zog, etwa in der Änderung der Sozialstruktur innerhalb der Adelsschicht in Estund Livland. Die einst frei verfügbaren Donationsgüter sollten aber bei den Käufern in der nächsten Generation zu Erbgütern werden und dadurch dem freien Verkehr entzogen werden12. Die Restitution der reduzierten Güter war aber nicht der einzige Punkt, mit dem die schwedische Intervention rückgängig gemacht werden sollte13. Hierher gehören z.B. auch die Wiederherstellung der vorigen rechtlichen Stellung, von „Würde, dignität und Rang“ des Landratskollegiums, „die der Rahtstuhl von denen Königen in Dennemarck, vnd Hoch- und herr Meistern gehabt und genoszen“ (KEstR V), oder die Wiederherstellung der Handelsfreiheit des Adels im Kornexport, die von der schwedischen Zentralmacht eingeschränkt worden war (KEstR XVII). Wenn auch bei manchen Punkten die russische Truppenführung nicht gleich selbst entscheiden wollte bzw. ohne entsprechende Vollmacht gar nicht initiativ werden konnte, sodass die Entscheidung dem Urteil des Herrschers anheimgestellt wurde, überließ die Estländische Ritterschaft selbst die Frage der Weiterexistenz des in der Schwedenzeit eingeführten Burggerichts zu Reval14 der Disposition des Zaren. Ihre einzige Bedingung war, dass die Adligen und ihre Güter von ———————————— 12
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Dazu näher Werner OGRIS, Art. Erbgut, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, hg. v. Adalbert ERLER / Ekkehard KAUFMANN, Bd. 1, Berlin 1971, Sp. 964 f. Zu der vorhergehenden schwedischen Provinzialpolitik im Allgemeinen und insbesondere gegenüber den Überseeprovinzen Est- und Livland vgl. den Beitrag von Ralph TUCHTENHAGEN in diesem Band. Zum Revaler Burggericht, das als ein Instrument der „Schwedisierung“ der estländischen Rechtsordnung fungieren sollte, siehe Friedrich Georg von BUNGE, Geschichte des Gerichtswesens und Gerichtsverfahrens in Liv-, Est- und Curland, Reval 1874, S. 170 ff. (Nachdruck Charleston 2010); eingehender Adolf PERANDI, Die Aufgaben und Funktionen der Estländischen Generalgouvernementsregierung während der Schwedischen Zeit, in: Katalog des Estländischen Generalgouverneursarchivs aus der Schwedischen Zeit, Bd. I, Tartu 1935, S. 103 ff.
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der Gerichtsbarkeit des Burggerichts ausgeschlossen sein sollten (KEstR XXII). Das Burggericht wurde jedoch abgeschafft, wodurch auch diese „Erneuerung“ der schwedischen Zentralmacht in Estland wieder rückgängig gemacht worden ist. Während die Restitution der Rechtslage aus der Zeit vor den Interventionen der schwedischen Regierung ganz bestimmte Bereiche betraf, gab es auch eine ganze Reihe gewöhnlicher Rechtsakte, die durch den Krieg betroffen war. Der Krieg hatte den überlieferten Rechtszustand zerstört bzw. fraglich gemacht, weshalb Rechtssicherheit vonnöten war. Daher verlangten die Ritterschaften die volle Gültigkeit der in den Gerichten aufbewahrten Forderungen, Ansprüche, Pfandbriefe, Hypothekenscheine usw. (KLivR 6, 16, 25; KEstR XXVII). Nicht nur die Bestätigung aller Privilegia, Donationes, Statuten, Immunitäten, Alte wohlhergebrachte landes Gewohnheiten von denen Glorwürdigsten Königen in Denmark, item denen Hoch- vnd Herr Meistern dem Lande und Adel gegebene vnd von Zeiten zu zeiten confirmirte Praerogativen (KEstR II)
stand auf der Liste. Diese Forderung ist in dem tradierten Kern der Kapitulation stets präsent gewesen, weshalb sie zu den Dauerthemen gehört. In der späteren Literatur ist aber weniger präsent, wie 1710 innerhalb der genuin schwedischen Erbschaft differenziert worden ist. Die von der schwedischen Krone durchgeführte Güterreduktion wollte man rückgängig machen, dagegen sollten die von denen Glorwürdigsten Königen in Schweden […] dem Adel gegebene vnd gegönte Privilegia, güter, Donationes und Pfandgüter jetzigen Possessoren und Eigenthümern Erblich und Eigenhtümblich […] einem jeden ungekränckt
belassen bzw. zurückgegeben werden (KEstR III). In Livland wurde in diesem Zusammenhang auch an diejenigen gedacht, die geflüchtet oder aus anderen Gründen abwesend waren: Alle solche Commoda und beneficia werden auch den Abwesenden aus der Ritter und Landschaft vorbehalten, des gleichen alle gefangene Liefländischer Nation oder welche in derselben sich eingeheurathet; Sie seyn Adelichen oder Bürgerlichen- Geist- oder Weltlichenstandes mit dem vordersambsten zusambt allem was sie umb und bey sich haben aus Milde und Gnade restituiret und zu vorigen beneficien admittirt (KLivR 21).
Damit inzwischen doch rechtskräftig abgeschlossene Veräußerungsgeschäfte unter der Wiederherstellung des vorigen Rechtszustandes nicht leiden, sollten diese abgesichert werden, vor allem gegenüber den möglichen näherrechtlichen Ansprüchen von nächsten Verwandten der ehemaligen Ei-
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gentümer (KLivR 23). In dieselbe Gruppe von Forderungen, die auf die Sicherung der konkreten Rechtsgeschäfte und der Rechtsordnung im Allgemeinen gerichtet waren, gehört auch die Aufforderung, alle sollten überall „den allgemeinen Land-, Stadt- vnd Hausz-Frieden geniesen“ sowie das Verbot der kollektiven Selbsthilfe (KEstR XXX). Neben der Wiederherstellung des Rechtszustandes der Vorkriegszeit wurden allerdings auch einzelne ganz neue Normen aufgestellt. Dazu gehört das Veräußerungsverbot der Kron- und Domänegüter. Nach dem früheren Recht war dies nicht verboten, doch musste nun eine Übergangslösung gefunden werden: Die mit der Erlaubnis der Obrigkeit schon veräußerten und verpfändeten Güter sollten „billig in der Käufer oder Pfandhalter Händen und Geniess verbleiben, bis sie mit Contenter Zahlung und völlig reluiret worden“ wären (KLivR 14). Wenn auch die Veräußerung der Krongüter nunmehr verboten sein sollte, konnte man sie doch fortwährend verpachten. Dem Adel sollte dabei das Vorrecht zukommen – „absonderlich vor denen Bürgern in Riga“ (KLivR 17). Die Estländische Ritterschaft überging natürlich die Rigaer Bürger, doch wollte auch sie das Vorrecht beim Pachten der Krongüter dem Adel reservieren (KEstR XIX). Es gab vor allem in der Kapitulation der Estländischen Ritterschaft Forderungen, deren unmittelbaren Gründe in der Kriegssituation und -erfahrung lagen, deren Lösungen aber Dauerhaftigkeit in Anspruch nahmen: die Befreiung der Adelshäuser auf dem Domberg von der Einquartierungspflicht (KEstR XI), die Befreiung der „Ritter- vnd Landschafft samt Landes Bedienten Häuszer und Plätz so wohl auf dem Dhomb als in der Stadt in vnd auszerhalb“ von jeglichen „Einquartierungen, Contributionen, Wachten, Arbeits-Tagen, Schüszungen vnd dergleichen“ (KEstR XXVIII), die Aufforderung, „dasz für die künfftige Zeiten, Baraquen, wozu hier gute bequemlichkeit ist, mögen aufgebauet werden, die Milice im fall der Noth darin zulogiren“ (KEstR XI), oder der Wunsch, dass die Einrichtung von Garnisonen keine Schädigung des Vermögens der einheimischen Bevölkerung verursachen dürfe, was russischerseits dann „der Billigkeit nach völlig placediret“ wurde (KEstR XXXVI mit Konfirmation dazu). Wenn auch die Einhaltung dieser Regel für immer gedacht war, betrafen sie doch nur sehr partiell den Militärbereich und die damit verbundenen Gefahren für die Zivilbevölkerung und deren Vermögen. Die wesentlichen Dauerthemen waren natürlich die prinzipiellen Punkte, die dem Sonderstatus der Ostseegouvernements auch im Russländischen Reich eine mehr oder weniger feste Grundlage schaffen sollten. Ganz im Sinne des frühneuzeitlichen Verfassungsdenkens nahm hierbei die Konfessi-
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onsfrage eine entscheidende Stellung ein. Eine weitere Zuspitzung dieses auch sonst wichtigen Aspekts ergab sich in diesem Fall aus der Tatsache, dass der neue Fürst und Landesherr selbst von einer anderen Konfession war. In den beiden hier näher betrachteten Kapitulationen steht gleich am Anfang die Forderung, die reine „Evangelische Religion Augsburgscher Confession zu schützen und ungehindert zulaszen“ (KEstR I; ähnlich KLivR 1)15. Hierher gehören auch die Punkte über die Kirchenverwaltung: die Beibehaltung der tradierten Konsistorien und Patronatsrechte (KLivR I), die Wahl eines „Episcopus von denen Geistlichen aus der Stadt vnd Lande“ (KEstR I) oder die „freyheit“ des Adels, bei der Besetzung der vakanten Predigerstellen „2 tüchtige subjecta vorzuschlagen und zu präsentiren“ (KLivR 3). Die Konfessionsfrage war gleichfalls Erziehungsfrage. So gehörte auch die Forderung, dass die Schulen mit evangelischen Lehrern besetzt werden sollten (KEstR I; KLivR 2), zu den Punkten über die Kirchen- und Religionsangelegenheiten. Die Livländische Ritterschaft ließ sich darüber hinaus noch konkret konfirmieren, dass „in den Landstädten die Trivial-schulen überall mit 3 tüchtigen Schul Collegen versehen, und selbige aus publiquen und der Krone Mittel zureichlich salariret“ sein sollten (KLivR 2). Auch die – sich in der Wirklichkeit als nicht durchführbar erweisende – Forderung nach Beibehaltung der Universität in Livland beinhaltete die weitergehende Bedingung, dass deren Professoren evangelisch-lutherischer Konfession sein sollten (KLivR 4). Das nächste große Thema von dauerhafter Bedeutung war das adlige Selbstverwaltungsrecht, worunter allerdings auch ein Großteil der allgemeinen Landes- und der Justizverwaltung samt Gerichtsordnung fiel. Hier kann zwischen den Kapitulationen der beiden Ritterschaften ein gewisser Stilunterschied festgestellt werden. Die Estländische Ritterschaft formulierte die Ritterschaftsverfassung und die Prärogativen der ritterschaftlichen Spitzenämter eingehender und detaillierter, die Livländische Ritterschaft hingegen die Forderungen in Bezug auf Gerichtsordnung und Rechtsprechung. Die schon erwähnten Bestätigungen sowohl der alten Privilegien und Donationen (KEstR II) als auch derjenigen der schwedischen Könige (KEstR III) betrafen u.a. die adlige Selbstverwaltung, d.h. im Grunde fast ———————————— 15
Ein eingehender Vergleich der Kapitulationspunkte bezüglich Konfession, Kirche und Kirchenverwaltung, der auch den Machtwechsel in Kurland 1795 einbezieht, bei Andres ANDRESEN, Formal stipulation and practical implementation of religious privileges in Estland, Livland and Courland under Russian supremacy. Researching the base of Baltic regional identity, in: Ajalooline Ajakiri 2012, Nr. 1/2 (139/140), S. 33–54. Für die freundliche Überlassung des Manuskripts schon vor der Publikation bin ich dankbar.
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die ganze Landesverwaltung. Gleich nach den Privilegienpunkten wurden die Instanzen der „Landes Policey vnd Jurisdiction“ aufgezählt – Oberlandgericht mit seinen Niedergerichten, Manngerichte und Hackenrichter –, die „in Ihren alten Würden vnd Wesen“ zu belassen waren (KEstR IV). Danach kam es zu der schon erwähnten Wiederherstellung der Stellung oder „Würde“ der „12 Landt Räthen vnd Land-Marshall (sic!)“ (KEstR V). Das Landratskollegium bildete zugleich die höchste Gerichtsinstanz, das Oberlandgericht, und sollte unter dem Vorsitz des vom Herrscher eingesetzten Generalgouverneurs tagen; bei der Abwesenheit des Gouverneurs sollte der Vorsitz von dem ältesten unter den Landräten ausgeübt worden (KEstR VI). Die Landräte selbst, wie auch alle anderen ritterschaftlichen Richter und Gerichtsassessoren in Estland, bekleideten ihre Ämter ehrenamtlich und damit unbesoldet – so übrigens noch bis zur Justizreform von 1889. In der Gerichtskanzlei arbeiteten aber Sekretäre, Kanzellisten, Registrateure u.a. Hilfspersonen, die zu besolden waren. Dazu wurden die Einkünfte der so genannten Landratsgüter benutzt, die aber der schwedischen Güterreduktion zum Opfer gefallen waren. Daher wurden die „Kuymetzsche und Nappellsche Gütter dem Rathstuhl“ zurückverlangt, „weilen zu Sublevirung und Unterhaltung des Gerichts, einigermasen so viel als zureichen wollen“ (KEstR VII). Erst nachdem diese Angelegenheiten der Spitze der Selbst- und Justizverwaltung erledigt waren, kam der Landtag zur Sprache. Die „E. E. Ritterschaft“ sollte sich „[v]orbewust der hohen Landes Obrigkeit“ versammeln, „wann Sie Ihre Angelegenheiten abzuhandeln gehabt, auch wann die hohe Obrigkeit etwas denen Landes Ständen anzusinnen gehabt“ – dies wollte die Ritterschaft nun beibehalten „als ein principal Stück Ihrer Privilegien“ (KEstR VIII). Zu den adligen Vorrechten bzw. Pflichten gehörte schon seit dem Mittelalter und in Estland immer noch auch der Rossdienst. Wenn auch 1710 „die Fahne“ dringend Urlaub und Stärkung brauchte, sollte das Verfahren der Bestellung ihrer Offiziere doch bestätigt werden: drei Landräte sollten für den Posten des „Obersten“ vorgestellt, „von welchen die hohe Landes Obrigkeit Einen benennt, und Successive die übrigen Officiers“ (KEstR IX). Die ungleiche Verteilung der Kriegslasten wurde auf die Ungleichheit des lokalen Bodenmaßes des Hakens zurückgeführt, weshalb nun um dessen Vereinheitlichung gebeten wurde, um die Belastungen und den Rossdienst innerhalb der Provinz unter allen Landgütern gleichmäßig zu verteilen, unabhängig von der noch aus vorschwedischer Zeit stammenden Angehörigkeit der Ländereien entweder zum Episkopalgebiet oder zu den Ordensländereien (KEstR X). Von der Befreiung von den Einquartierungen und ande-
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ren Militärlasten war oben schon die Rede. Die Domkirche in Reval, die „von alters her der Ritterschaft Kirche gewesen“, sollte dies auch bleiben (KEstR XXXII). Bei den allgemeinen Angelegenheiten der Ritterschaften war die livländische Kapitulation abstrakter und knapper. Der „Status Provincialis“ im Allgemeinen und dabei auch der der Ritterschaft wurde „bey den von Alters dabey gehabten Competenzen conserviret“ (KLivR 5) und am Ende der Kapitulation noch eine so genannte Generalvollmacht verlangt: „was auch weiter zu der Ritterschafft und des landes besten zu erinnern und zu behandeln nöhtig seyn möchte, soll derselben künfftig je und alle wege unbenommen seyn“ (KLivR 30, Abs. 2). Vom Landtag als höchstem Repräsentationsgremium ist nicht die Rede, ebenso nicht von der Ritterschaftsleitung durch Landräte und Landmarschall. Es wurde aber allgemein über die Gerichte und das Gerichtspersonal verhandelt. Von der Überzeugung ausgehend, „nebst der Bestellung des wahren Gottes Dienstes beruhet die grund Veste eines landes auf der administration der Justice“, wurde um die Konservierung aller Unter- und Oberinstanzen gebeten (KLivR 6). Wie die Estländische Ritterschaft, die „in dem Ober- als in den Unter-Gerichten Keine andere Richter als bishero gewesenen“ sehen wollte (KEstR XXXI), so verlangten auch die Livländer die Konservierung aller Instanzen „heylsahmlich in ihren itzigen Gliedern und bedienten“. In diesem Fall jedoch erinnerte sich die russische Seite daran, dass manche Richter oder Gerichtsbedienstete an der Konservierung ihrer Stellung möglicherweise nicht interessiert waren – den schwedischen Untertanen war in der Konfirmationsformel die Freiheit gelassen worden, zusammen mit der Garnison abzuziehen, wobei ihnen für die Ausfuhr ihrer Sachen allerlei Hilfe gewährleistet wurde (KLivR 6, mit der entsprechenden Konfirmation). Immerhin dachte die Livländische Ritterschaft in diesem Punkt nicht nur an die Richter, die im Jahr 1710 fungierten bzw. wegen des Krieges ihr Amt nicht wahrnehmen konnten. Irgendwann würde ihre Amts- oder Lebenszeit an ein Ende gelangen, und die Rekrutierung des Justizpersonals musste ebenfalls geregelt werden. Für die Fälle von Vakanzen wurde nun vorgeschrieben, dass die Gerichte „aus der Noblesse des landes, und theils aus andern wohlgeschickten Eingebohrnen auch sonst meritirten personen Teutscher nation allzeit ergäntzet und bestellt werden“ (KLivR 6). Das hier angesprochene Indigenatsrecht – das ausschließliche Recht der (deutschen) Landeskinder auf die Justizstellen wurde für alle „so wohl Civilals Militair Chargen“ noch wiederholt, wobei das Vorrecht des Adels vor allen übrigen Ständen noch eigens hervorgehoben wurde (KLivR 11). In der
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Kapitulation der Estländischen Ritterschaft findet sich keine derart explizite Indigenatsklausel. Dagegen wird hier mehrfach die Beibehaltung der deutschen Amtssprache verlangt, zunächst als Sprache des Oberlandgerichts „von Anfang her“ und damit auch weiterhin (KEstR VI) und dann noch allgemein für alle Ober- und Unterinstanzen (KEstR XXXI). Die Livländische Ritterschaft hatte wohl gemeint, die deutsche Amtssprache sei implizit schon in den übrigen Garantien eingeschlossen, und auf die ausdrückliche Erwähnung dieser Forderung verzichtet. Ebenso gibt es in der Kapitulation der Livländischen Ritterschaft keine Parallele zu der Forderung der Estländer, „dem Lande zur groszen Gnade einen Teutschen und Evangelischer Religion zugethanen General-Gouverneurn zuverordnen“ (KEstR VI). Die Forderung der Estländischen Ritterschaft, dasz die im Lande befindlichen Gerichtspersohnen sowohl durchgehends insgemein, als ins besonder, Ihres geführten Amts wegen und was Sie wieder jemanden, Er seye was Standes, Condition oder Herkommens Er wolle, geurtheilet oder verhengt haben möchten, weder mit Worten beschuldiget, noch deszhalb zu einiger Verantwortung gezogen, vielweniger thätlich angegriffen, noch Ihnen einiges Leyd, Gewalt vnd Unrecht zugefüget werden sollte (KEstR XXIX),
ist nicht als Stärkung der gerichtlichen Autorität oder gar als moderne Unabhängigkeitsgarantie zu deuten. Vielmehr scheint hier die schon seit Jahrhunderten gegen das adlige Fehderecht ins Feld geführte Landfriedensbewegung noch mitzureden. In dieselbe Richtung deutet auch das gleich darauf folgende Verbot der kollektiven Selbsthilfe und Eigengerichtsbarkeit (KEstR XXX). Auch Letztere waren ja eigentlich Dauerthemen, wenn sie auch im europäischen Vergleich eher aus einer lang vergangenen Epoche zu stammen schienen. Darüber hinaus brauchte der estländische Adel das Fehderecht nicht (west)europäisch traditionell gegen die landesherrliche Gerichtsbarkeit einzusetzen16 – die Gerichtsbarkeit lag ja nicht in der Kompetenz des Landesherren, sondern bei der Adelskorporation selbst und diese wollte als Institution die Selbstbehauptung ihrer einzelnen Mitglieder wohl nicht dulden. In der Kapitulation der Estländischen Ritterschaft fehlen die genaueren Bestimmungen darüber, welches Materialrecht in den Gerichten angewandt oder nach welchem Prozessrecht verfahren werden sollte. Die Livländische ———————————— 16
Zu Wesen und Funktionen der Fehde im Allgemeinen und insbesondere in deutschen Territorien: Christine REINLE, Art. Fehde, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, hg. v. Albrecht CORDES, Bd. 1, Berlin 2008, Sp. 1515–1525, hier Sp. 1523.
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Ritterschaft hingegen hatte ziemlich eingehend sowohl zum Material- als auch zum Prozessrecht bestimmt, dass in allen Gerichten […] nach Liefländischen Privilegien wohl eingeführten alten Gewohnheiten, auch nach dem bekannten alten Lief-Ländischen Ritterrechte17, und, wo diese deficiren möchten, nach gemeinen Teutschen Rechten18, dem landesüblichen Processform gemäss […] decidirt, und gesprochen
werden sollte (KLivR 10). Die Estländische Ritterschaft begnügte sich in Bezug auf das materielle Recht mit einer allgemeinen Bestätigung der alten Rechte und Privilegien. Man dachte einzeln nur an Fälle, wo die künftigen obrigkeitlichen Vorschriften verletzt werden könnten: Solte aber einer wider der Hohen Obrigkeit Gesetze vnd Verordnungen (: welches der Höchste verhüten wolle :) etwas pecciren, dasz derselbe alsdenn ———————————— 17
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Mehr als 90 Jahre später erschien ein neuer Druck, der heute zugänglicher ist als die früheren: Liefländisches Ritter- und Landrecht, in: Gustav Johann von BUDDENBROCK, Versuch einer Geschichte der liefländischen Ritter- und Landrechte nebst der hochdeutschen Uebersetzung des liefländischen Ritterrechtes, welches in plattdeutscher Sprache zuerst im Jahr 1537. hernach im Jahr 1773. unter dem Titel: De gemenen Stichtischen Rechte, um Sticht van Ryga, geheten dat Ridderrecht, gedruckt worden, Riga 1794, S. 315–496. Im Unterschied zu der späteren Sekundärliteratur wird hier noch korrekt von gemeinen deutschen Rechten im Plural gesprochen. Es handelte sich um eine Mischung, in der manche Rechte von ihrem Ursprung her gar nicht „deutsch“ waren. Zunächst war es das römische Recht des justinianischen Gesetzbuches aus dem 6. Jahrhundert, das von den französischen Humanisten des 16. Jahrhunderts den Gesamttitel Corpur Iuris Civilis bekommen hatte. Seit dem Hochmittelalter im Mittelmeerraum, dann in Westeuropa, hat sich dieses Rechtsbuch im 15./16. Jahrhundert auch in den Territorien des Heiligen Römischen Reichs, darunter auch in Alt-Livland, verbreitet. Zum gemeinen Recht gehörte auch das kanonische oder Kirchenrecht, in den reformierten Territorien dann mit entsprechenden Modifizierungen und Abweichungen. Dazu kamen noch die kaiserlichen Gesetze wie z.B. die Halsgerichtsordnung Karl V. oder das Constitutio Criminalis Carolina vom 1532 sowie Reichsabschiede und andere von Reichsständen erlassene Rechtsakte. Für Livland waren sie allerdings nur bis zum Stichjahr 1561 relevant. Die Rangordnung dieser einzelnen Teile des so genannten gemeinen Rechts etwa in der Rechtsprechung war umstritten. Dazu siehe Peter OESTMANN, Rechtsvielfalt vor Gericht: Rechtsanwendung und Partikularrecht im Alten Reich, Frankfurt/M 2002. In der baltischen Rechtsliteratur postulierte – allerdings erst im 19. Jahrhundert – der Kurländer Georg Benedict Engelhardt 1817 eine ziemlich klare Rangordnung der gemeinen Rechte, die dann in der späteren Diskussion vom Kurländer Carl Neumann und dem Dorpater Professor für Provinzialrecht Friedrich Georg von Bunge teilweise übernommen, aber in hohem Maß doch wieder aufgelöst wurde. Eingehend dazu Marju LUTS, Juhuslik ja isamaaline: F. G. v. Bunge provintsiaalõigusteadus [Zufällig und vaterländisch: die Provinzialrechtswissenschaft von F. G. v. Bunge], Tartu 2000 (Dissertationes iuridicae universitatis Tartuensis 3), S. 176 ff.
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allein nach allgemeinen landüblichen Rechten vorgenommen und bestraffet […] werden möge (KEstR XXX).
Die Livländische Ritterschaft stellte eine ähnliche Bedingung mit einem ähnlichen Appell an Gott (KLivR 8). Dass die Estländer in Hinblick auf Gericht und Rechtsprechung entweder ganz abstrakt und allgemein oder dann doch sehr spezifisch an einzelne konkrete Sachverhalte dachten, bezeugt etwa die Forderung nach individueller Bestrafung für die Majestäts- oder sonstigen schweren Verbrechen, die ebenfalls nach dem Landes- und nicht nach dem Reichsrecht erfolgen sollte: Sollte auch ins Künfftige einer oder ander (: da Gott für sey :) in puncto Feloniae et Criminis laesae Majestatis pecciren, dasz Selbiger in seinem Foro, nach Landes Rechten möge verurtheilet werden, […] vnd personam delinquenten allein, nicht aber seine Gütter, die seinen nechsten Erben zufallen, vnd dahero keiner gantzen familie solches zuentgelten laszen, weil ein jeder seine Miszethat selber büszen musz (KEstR XIII).
Aus dem Bereich der Rechtspflege ist noch eine Forderung der Livländischen Ritterschaft hervorzuheben, die allerdings erst durch die russische Justizreform von 188919 erfüllt wurde: „In Criminalibus sortiret der Adel niemahlen unter eine andere als der Cron Jurisdiction“ (KLivR 7). Dagegen sollte die Bitte, dass „Sr. Gr: Cz: Mayt: dieser provinz die Gnade“ erweisen möge, „und ein tribunal allhie nach der form des Preussischen20 zu introduciren und privilegiren“, um die Kosten des Landes und dessen Einwohner niedrig zu halten (KLivR 9), zunächst der zarischen Disposition vorbehalten bleiben. Der Zar seinerseits fand gerade die Einführung eines solchen Tribunals als eines Novums in der Gerichtsverfassung Livlands zu kostspielig, besonders in der andauernden Kriegszeit. So sollte die Entscheidung über diese Forderung „biss zu bequemerer Zeit aussgesetzet“ werden21 und erwies sich im Laufe der Zeit als ein frommer Wunsch. ———————————— 19 20
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Siehe dazu auch unten Anm. 58 und die dazugehörigen Passagen im Text. Gemeint ist wohl das im Jahr 1657 eingeführte Oberapellationsgericht für das Herzogtum Preußen mit Sitz in Königsberg. Dazu Hans-Georg KNOTHE, Die oberste Gerichtsbarkeit in Ostpreußen von 1618 bis 1879, in: Gerichtskultur im Ostseeraum. Vierter Rechtshistorikertag im Ostseeraum, 18.–20. Mai 2006, hg. v. DEMS. / Marc LIEBMANN, Frankfurt/M. etc. 2007 (Rechtshistorische Reihe 361), S. 55–81, hier S. 64 ff., mit weiteren Nachweisen. Zarische Resolution in Betreff der Accord-Puncte der livl. Ritterschaft vom 12 Oct. 1710, in: Die Capitulationen der livländischen Ritter- und Landschaft (wie Anm. 2), S. 51–53, hier S. 52.
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Diese recht detaillierte Erörterung sollte zeigen, wie vielfältig die in den Kapitulationen behandelten Themen waren, die in ihrem tradierten Kern entweder recht abstrakt zusammengefasst oder nur in Auswahl erwähnt werden, wobei zum Teil auch über die einzelnen Kapitulationen hinaus extrapoliert wird. Für die ganze Vielfalt der Forderungen stehen hier die als Dauerthemen bezeichneten, die für die späteren Entwicklungen über das 18. Jahrhundert hinaus von Bedeutung waren. Es gab allerdings auch solche Punkte, die zwar als Dauerthemen formuliert wurden, aber schon aufgrund der nachfolgenden Ereignisse und Entwicklungen faktisch zu einem Provisorium wurden. So konnte die Dauerhaftigkeit der Forderungen und Konfirmationen von 1710 gegebenenfalls zu einem Provisorium werden. Dies zeigt etwa die Erweiterung der Befugnisse der Estländischen Ritterschaft in der Kirchenverwaltung schon kurz nach 171022. Es gibt auch in den Kapitulationen selbst Indizien dafür, dass die Akteure des Jahres 1710 nicht so sehr auf die Ewigkeit setzten, wie es der Blick zurück womöglich erwartet, der von dem weiteren Verlauf der Geschichte und den späteren Diskussionen um die Deutung und Umdeutung der Kapitulationen ausgeht23. So galt der Ritterschaft z.B. die Forderung, dass in livländischen Gerichten nach livländischen Privilegien und den alten Rechtsbüchern entschieden werden sollte, einem provisorischen Zustand. Denn es hieß weiter: „biss unter geniesung weiterer Huld und Gnade ein vollstandiges Jus provinciale in Liefland collogiret und edirt werden könne“ (KLivR 10). Eine Dauerlösung wurde eher von einer umfassenden Kodifizierung des Provinzialrechts erwartet. Der Konfirmationsformel zufolge wollte man auf ruhigere Zeiten warten, um dann ein entsprechendes Gesuch einzureichen – abgelehnt wurde diese Bitte der Livländischen Ritterschaft zumindest nicht. ———————————— 22 23
Dazu näher der Beitrag von Andres ANDRESEN in diesem Band. Hierzu siehe mit weiteren Nachweisen Gert von PISTOHLKORS, Die Livländischen Privilegien: ihre Deutungen und praktischen Umsetzungen in der neueren baltischen Geschichte, in: Reiche und Territorien in Ostmitteleuropa. Historische Beziehungen und politische Herrschaftslegitimation, hg. v. Dietmar WILLOWEIT / Hans LEMBERG, München 2006 (Völker, Staaten und Kulturen in Ostmitteleuropa 2), S. 285–309; siehe auch den Beitrag des Autors in diesem Band; mit Konzentration auf die berühmte Debatte zwischen Juri Samarin und Carl Schirren Jürgen von UNGERN-STERNBERG, Die Debatte um die baltischen Kapitulationen und Privilegien im 19. Jahrhundert, in: Carl Schirren als Gelehrter im Spannungsfeld von Wissenschaft und politischer Publizistik. Dreizehn Beiträge zum 22. Baltischen Seminar 2010, hg. v. Michael GARLEFF, Lüneburg 2013 (Baltische Seminare 20), S. 83–119. Ich bin für die freundliche Übersendung des Manuskripts vor der Drucklegung sehr dankbar.
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Obwohl es in der estländischen Kapitulation keinen Punkt über ein zu schaffendes Provinzialgesetzbuch gibt, haben die Estländer als erste bereits 1718 entsprechende Vorbereitungen unternommen24. In Livland wurde eine erste Kommission für diesen Zweck erst 1730 eingesetzt25. Zwar blieben die lokal initiierten provinzialrechtlichen Kodifikationsversuche der beiden Provinzen im 18. und auch noch in den Anfangsjahrzehnten des 19. Jahrhunderts erfolglos. Die Tätigkeit der Gesetzeskommissionen und die Landrechtsentwürfe bezeugen aber das Verlangen nach dieser Art der Rechtssicherheit auf Provinzialebene im Allgemeinen und in den Ritterschaften im Besonderen. Ein Durchbruch zu solch einer neuen, gesetzlichen oder gar kodifikatorischen Grundlage war auch den beiden Kodifikationsbewegungen des Reichs unter Katharina II. und ihrem Enkel Alexander I. nicht vergönnt. Erst Nikolaus I. hat umfassende Gesetzbücher bestätigt. Das 16-bändige Reichsgesetzbuch Svod zakonov Rossijskoj imperii (Gesetzessammlung des Russländischen Reichs) von 1832/35 sollte zunächst nur eine Vorstufe der eigentlichen Kodifikation des Reichsrechts sein, galt aber bis zur Oktoberrevolution – allerdings mehrfach geändert und ergänzt. Auch die ersten zwei auf die seit 1795 drei Ostseeprovinzen bezogenen Bände, welche die Behördenverfassung26 und das Ständerecht27 betrafen, also Provinzialverwaltung und -verfassung des Provinzialrechts, hatte Nikolaus I. 1845 bestätigt und ab dem 1. Januar 1846 in Kraft gesetzt. Diese waren ebenso von der konservativen Gesetzgebungsideologie beeinflusst wie der Svod insgesamt. So kann man in dieser Hinsicht von einer erneuten Bestätigung bzw. Erweiterung der Privilegien der baltischen Stände sprechen. Viele der in den Kapitulationen angesprochenen Punkte wurden nun in die Gesetzbücher aufgenommen. Es folgt eine nähere Betrachtung dessen, wie die Forderungen der Unterwerfungsverträge des Jahres 1710 ein neues Leben in Gesetzesform gewannen. ———————————— 24
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Auch allgemein zur Rechtsentwicklung in Estland vor und nach 1710: Johann Philipp Gustav EWERS, Vorbericht des Herausgebers, in: Des Herzogthums Ehsten Ritter- und Landrechte. Sechs Bücher. Erster Druck. Mit erläuternden Urkunden und ergänzenden Beilagen, hg. v. DEMS., Dorpat 1828, S. III–XXVII, hier S. XVII ff. Zu der Kodifikationsgeschichte in Livland mit vielen Quellenbelegen: Reinhold Baron STAËL VON HOLSTEIN, Die Kodifizierung des baltischen Provinzialrechts, in: Baltische Monatsschrift 52 (1901), S. 185–208, 249–280, 305–358, hier S. 190 ff. Provinzialrecht der Ostseegouvernements. Erster Theil: Behördenverfassung, St. Petersburg 1845. Im Titel findet sich folgende Erläuterung: „Nach dem Russischen Originale übersetzt in der Zweiten Abtheilung Seiner Kaiserlichen Majestät Eigener Kanzellei“. Provinzialrecht der Ostseegouvernements. Zweiter Theil: Ständerecht, St. Petersburg 1845.
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3. Die Kapitulationen als Steinbruch der Gesetzbücher? Am 1. Januar 1846 sind die beiden ersten Teile des Provinzialrechts der Ostseegouvernements in Kraft getreten. Weil diese Kodifikationen gemäß der kaiserlichen Vorgabe bloß die Zusammenfassung und Systematisierung des schon vorhandenen Rechts angestrebt hatten, finden sich überall bei den Gesetzesstellen Quellenhinweise. Ein Beispiel, wo ausdrücklich auf die Kapitulationen von 1710 hingewiesen wurde, bietet die Regulation des passiven Wahlrechts des immatrikulierten Adels bei der Besetzung der Justizstellen. Neben der inneren Administration der Ritterschaft, der evangelischlutherischen Kirchen- und der allgemeinen Polizeiverwaltung gehörte die Justiz zu den ritterschaftlichen Angelegenheiten. Zu dieser allgemeinen Justizpflege sollte die Livländische Ritterschaft z.B. 1) Den Präsidenten, den Vizepräsidenten, die Landräte und einen der Assessoren des Hofgerichts; 2) den Sekretär der Hofgerichtsabteilung für Bauernsachen; 3) die Landrichter, die Assessoren und Sekretäre der Landgerichte; 4) die Vorsitzer, die adligen Beisitzer und die Sekretäre der Kreisgerichte; die Kirchspielsrichter und deren Substituten wählen (Ständerecht Art. 359). Die Artikel 447 und 498 des Ständerechts zählen ähnlich die Wahlämter in Estland und Kurland auf, Artikel 425 listet sie separat für die Öselsche Ritterschaft. Solch ein aktives Wahlrecht allein begründet allerdings noch kein exklusives Indigenatsrecht des immatrikulierten Adels. Es folgen nun aber die Bestimmungen darüber, welche Personen auf die Landesposten, darunter auch die Justizstellen, wählbar sind: Zu den von der Wahl der Livländischen Ritterschaft abhängigen Ämtern können nur örtlich immatrikulierte Edelleute erwählt werden (Ständerecht Art. 364). Es werden allerdings gleich auch die Ausnahmen von diesem Prinzip in einer geschlossenen Liste angegeben: Der Ritterschaftsrentmeister sollte nur rechnen können, das weltliche Mitglied des General-Konsistoriums durfte auch den anderen steuerfreien Ständen angehören, der General-Superintendent sollte ein evangelisch-lutherischer Prediger sein, die Sekretäre der Land- und Kreisgerichte sollten rechtskundig, die Kirchspielsrichter landsässig, die Notare der Ordnungsgerichte wiederum rechtskundig und die Postierungsdirektoren wiederum landsässig sein (Ständerecht Art. 378, 380, 382, 387–389, 391, 392). Bei Art. 364 zur Forderung der Immatrikuliertheit der Landespostenkandidaten wird nach den polnischen und schwedischen Unterwerfungsakten und Privilegienerteilungen auch auf die Punkte 6 (Besetzung der Justizstellen) und 11 (das Indigenatsrecht für alle Ämter) der KLivR verwiesen. Abgesehen von der geografischen Bezeichnung bestimmt das Ständerecht in Art. 428 in gleichem
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Wortlaut die Regel der Immatrikuliertheit für die Öselsche Ritterschaft – mit den entsprechenden Ausnahmen wie in Livland, wobei die Notare der Ordnungsgerichte fehlen, weil es auf Ösel keine Ordnungsgerichte gab. Bei diesem Artikel findet sich übrigens kein Quellenverweis. Auf eine Kapitulation aus dem Jahre 1710 konnte man an dieser Stelle ja auch nicht hinweisen, weil eine solche nicht existierte – Ösel kam ja erst mit dem Nystädter Frieden an Russland. Auf diesen Friedensvertrag wird in den Gesetzbüchern des Jahres 1845 auch sonst nicht verwiesen, obwohl es einschlägige Punkte gegeben hätte. Die entsprechende Bestimmung zu Estland war in Wortlaut allerdings etwas abweichend, auch wurden hier die Ausnahmen nur durch eine Generalklausel für die Geistlichen erläutert: zu allen von der esthländischen Ritterschaft abhängigen Aemtern, einige geistliche ausgenommen, können nur örtlich immatrikulirte Edelleute gewählt sein; zu den wichtigsten aber, wie unten bemerkt wird, nur solche, die Rittergüter besitzen (Ständerecht Art. 450).
Außer auf die schwedisch-königlichen Resolutionen aus den Jahren 1561, 1576 und 1594 wird bei diesem Artikel auf die Punkte 4 (Konservierung der Gerichtsinstanzen), 6 (Vorsitz und Verhandlungssprache im Oberlandgericht) und 31 (Konservierung des Gerichtspersonals und deutscher Verhandlungssprache) der KEstR und auf die Wahlmethode der Estländischen Ritterschaft aus dem Jahr 1803 § 6 hingewiesen. An keiner dieser Stellen wurde das ausschließliche Recht des Adels oder gar nur des immatrikulierten Adels auf die Wahlämter erwähnt. Durch eine Anmerkung zum Artikel 450 wurden übrigens auch diejenigen zu den Indigenatsberechtigten gezählt, die in der Statthalterschaftszeit unter Katharina II. in die adligen Geschlechtsbücher eingetragen worden waren. Für Kurland hieß die grundsätzlich ähnliche Regelung dann wiederum ein bisschen andres: „Eben so werden alle von der Kurländischen Ritterschaft abhängenden Aemter nur Edelleuten übertragen, die zur örtlichen Matrikel gehören und zwar vorzugsweise solchen, die Landgüter besitzen“ (Ständerecht Art. 501). Ähnlich wie in Livland waren auch hier die Ausnahmen gesetzlich abschließend festgelegt – darunter fielen allerdings nur das geistliche Mitglied des Generalkonsistoriums und der Generalsuperintendent (Ständerecht Art. 524, 516). Die Verweise bei Artikel 501 betreffen nur frühere Rechtsquellen, beginnend mit der Unterwerfungsakte und dem Privilegium Sigismundi Augusti vom 28. November 1561 bis zu den autonomen Satzungen oder landesherrlichen Verordnungen der Herzogtumszeit. Dagegen wird nicht auf die „Unterwerfungsakte einer Hochwohlgebornen Ritter- und Landschaft der Herzogthümer Curland und
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Semgallen an Ihro kaiserlichen Majestät aller Reußen“ der Kurländischen Ritterschaft vom 1795 verwiesen. Hier war nur sehr allgemein von Katharina II. die Rede, die „bis Dato die großmüthige Beschützerin und Garante aller Unserer zeitherigen Rechte, Geseze, Gewohnheiten, Freiheiten, Privilegien und Besitzungen“ gewesen sei und der in ihrer „mütterlichen Sorgfalt“ die Ritterschaft nun „die nähere Bestimmung Unseres zukünftigen Schicksals […] überlassen und anheim stellen“ wollte28. Die Redakteure des Ständerechts hielten es anscheinend für zu unsicher, um diese Stelle als eine der ursprünglichen Quellen des beschränkten Indigenatsrechts anzusehen. Inhaltlich standen zu dieser Beschränkung des Indigenatsrechts ausschließlich auf den immatrikulierten Adel doch die Punkte 6 und 11 der KLivR am nächsten. Aber auch in diesen wurden Personen anderer Stände nicht ausgeschlossen. Punkt 11 betraf zwar alle Zivil- und Militärämter, doch werden gleich nach dem Adel die „Eingebohrne[n] des landes“ benannt; auch wurde hier kein ausdrückliches Vorzugsrecht des Adels vor allen anderen postuliert. Punkt 6 bestimmte die künftige Ergänzung der Justizstellen „aus der Noblesse des landes, und theils aus andern wohlgeschickten Eingebohrnen auch sonst meritirten personen Teutscher Nation“. Bei dem Punkt 11 lautet die Konfirmationsformel wohlwollend: „hat seine Richtigkeit“; die Forderungen im Punkt 6 wurden ebenfalls „accordiret“. Obwohl dem Adel und den „Eingeborenen“ des Landes 1710 zweifelsohne das Vorrecht bei der Bekleidung der Landesposten bestätigt wurde, findet das ausschließliche Recht des Adels – die Matrikeln gab es 1710 noch nicht – auf die Bekleidung der Justizstellen hier keine Bestätigung. Ganz im Gegenteil, konnten doch nach dem Wortlaut der Kapitulation in livländischen Gerichten neben dem Adel auch die Personen anderer Stände angestellt werden. Das Wörtchen „Theils“ verweist sogar darauf, dass neben den adligen Assessoren auch nicht-adlige – allerdings deutscher Nation und meritiert – eingesetzt werden sollten und zwar paritätisch, also in gleicher Anzahl. So ist festzuhalten, dass die KLivR, deren Bestimmungen den Regulationen des Ständerechts von 1845 am ehesten entsprachen, die Bekleidung der Justizstellen durch nicht-Adlige nicht nur als möglich ansah, sondern vielmehr sogar vor-
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Unterwerfungsakte einer Hochwohlgebornen Ritter- und Landschaft der Herzogthümer Curland und Semgallen an Ihro kaiserlichen Majestät aller Reußen. 17./28. März 1795, in: Carl Wilhelm CRUSE, Curland unter den Herzögen, Bd. 2, Mitau 1837, S. 264; in fast gleichem Wortlaut die Unterwerfungsakte der Ritter- und Landschaft des Piltenschen Kreises von demselben Tag, in: ebenda, S. 267.
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schrieb. Das in dem Gesetzbuch aufgestellte beschränkte Indigenatsrecht steht also im strikten Widerspruch zu der Forderung der Kapitulation. Die Einschränkung des so genannten Indigenatsrechts ausschließlich auf den matrikulierten Adel stammte somit nicht aus den angegebenen Punkten der Kapitulationen. Die Adelsmatrikel selbst waren ja auch erst in der Mitte des 18. Jahrhunderts abgefasst worden. Nach Oswald Schmidt waren damit ursprünglich keine landespolitischen Ziele verfolgt worden29. Jeder Rittergutsbesitzer konnte sich in die Matrikel eintragen lassen, wenn er seinen Besitz und seinen Adel nachweisen konnte. Als Ergebnis der Eintragung in die Matrikel wollte man die Ritterschaftshäuser mit allen Wappen der immatrikulierten Adelsgeschlechter schmücken – was auch geschah. Der livländische Landtag erklärte 1742 noch ausdrücklich, dass die Matrikel lediglich ein Verzeichnis sei. Die Eintragung in dieselbe sollte keine Vermehrung der Privilegien oder Rechte bedeuten; eine Nicht-Eintragung somit auch keine Verminderung derselben. Sieben Jahre später, auf dem Landtag von 1749 wurde aber eine neue Landtagsordnung verabschiedet. Darnach waren weiterhin nur die zum Corps der Ritterschaft gehörenden Personen zum Erscheinen auf den Landtag verpflichtet und mit Stimmrecht versehen (Tit. II, § 4). Diese so genannte Landtagsberechtigung sollte aber nicht zwangsläufig die Einschränkung des Indigenatsrechts auf den immatrikulierten Adel bedeuten. Woldemar von Bock hob ein Jahr vor der Bestätigung des Ständerechts in einem anonym veröffentlichten Aufsatz mit Nachdruck hervor, dass die Kapitulation der Livländischen Ritterschaft die Justizstellen keinesfalls dem Adel alleine reserviert habe30. Von Bock zählte für die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts neunzehn Personen auf, die „theils nicht zur livländischen Adelsmatrikel, theils nicht einmal zum Adel gehört haben“ und trotzdem das Amt des Landgerichtsassessors bekleidet hatten31. Leider hört seine Liste gerade da auf, wo es spannend wird. Seine letzten Daten stammen aus dem Jahr 1759. Genau in diesem Jahr wurde die Instruktion zur Landtagsordnung verabschiedet, mit der u.a. die Wahl der Justizstellen genauer reguliert wurde. Eine ausdrückliche Beschränkung des Bekleidungsrechts auf die ———————————— 29
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Oswald SCHMIDT, Zur Geschichte der Ritter- und Landschaft in Livland, in: Dorpater Juristische Studien, Bd. 3, Dorpat 1894, S. 1–36, hier S. 25. [Woldemar von BOCK,] Die Livländischen Landgerichte und die Livländische Adelsmatrikel. Eine Frage an die Livländische Rechtsgeschichte, in: Das Inland 9 (1844), Nr. 47– 49, Sp. 741 ff., 761 ff., 781 ff. Die Verfasserschaft von Bocks nach Eduard WINKELMANN, Bibliotheca livoniae historica, 2. Ausg, Berlin 1875, S. 174, Nr. 4067. [BOCK,] Landgerichte (wie Anm. 30), Sp. 781 ff.
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immatrikulierten Edelleute findet sich allerdings auch hierin nicht. In der Praxis dürfte dies jedoch damals schon höchstwahrscheinlich der Fall gewesen sein. Auch von Bock, der sich vehement gegen dieses Prinzip wehrte, räumte ein, dass in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die NichtImmatrikulierten oder gar Nicht-Adligen auf den Justizposten seltener wurden, „vielleicht auch ganz verschwinden mögen“. Er hob aber zugleich hervor, dass diese Praxis keine rechtliche Grundlage besaß und die „verfassungsmäßigen Ansprüche der Unadeligen und Nichtimmatrikulirten“ im Jahre 1844 keinesfalls von einer „erlöschenden Verjährung“ verzehrt worden seien32. Die letzte livländische Landtagsordnung vor der Kodifikation, diejenige von 1827, kannte eine Einschränkung des Indigenatsrechts ebenfalls nicht. Eine einzige ausdrückliche Beschränkung betraf die Landgerichtsmitglieder, die in dieser Form schon aus der Instruktion von 1759 stammte und in die von 1827 wörtlich übernommen wurde: „Bey Besetzung der Landgerichte ist zu observiren, daß zu solchen nur Männer genommen werden, welche in dem Distrikt, wo die Vacanz Existirt, wohnhaft, und der Bauernsprache aus diesem Distrikt kundig sind“33. Also wieder kein Wort von der Immatrikulation; allerdings wird die Kenntnis des Estnischen bzw. des Lettischen verlangt. Ob „wohnhaft“ die Forderung des Gutsbesitzes bedeuten sollte, war in der zeitgenössischen Diskussion allerdings umstritten34. Eines ist aber klar: Im Falle Livlands findet sich das gesetzlich festgeschriebene ausschließliche Recht der Bekleidung der Justizstellen allein durch immatrikulierte Adlige zum ersten Mal im Ständerecht von 1845. An anderer Stelle hat die Verfasserin die entsprechenden Recherchen auch für die älteren Rechtsquellen Estlands durchgeführt35 und ist zu ganz ähnlichen Ergebnissen gelangt: Auch wenn KEstR ebenfalls von der Konservierung des Gerichts- und Rechtssystems spricht, werden die Justizstellen keinesfalls nur dem Adel reserviert; die früheren Quellen sprechen ———————————— 32 33
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Ebenda, Sp. 784. Instruktion für die Ritterschaftsbeamten, Tit. III, § 53 in: Livländische Landtagsordnung. Nach dem ursprünglichen Entwurf des Landtags vom Jahr 1802 und den Zusätzen der folgenden Landtage, im Jahr 1827 regulirt, und auf Befehl Eines dirigirenden Senats vom 11ten März 1827 durch Gouvernementsobrigkeit bestätigt, Riga 1827, S. 67. Woldemar von Bock hat mit bissiger polemischer Energie quellenmäßig nachgewiesen, dass die geläufige Auffassung über die Erforderlichkeit des Gutsbesitzes keine gesetzliche Grundlage hatte, siehe [BOCK,] Landgerichte (wie Anm. 30), Sp. 748 ff. Marju LUTS, Juristenausbildung im Richteramt (baltische Ostseeprovinzen im 19. Jh.), in: Juristische Fakultäten und Juristenausbildung im Ostseeraum. Zweiter Rechtshistorikertag im Ostseeraum, Lund 12–17.3.2002, hg. v. Jörn ECKERT / Kjell-Åke MODÉER, Stockholm 2004 (Rättshistoriska Skrifter 6), S. 272–312, hier S. 289 ff.
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ausdrücklich nicht nur von adligen, sondern auch von nicht-adligen Assessoren. Auch im Hinblick auf Estland hat für eine derartige exklusive Praxis erst das kaiserlich bestätigte Gesetzbuch des Jahres 1845 eine Rechtsgrundlage geschaffen. Angeblich ist es Graf Stackelberg-Ellistfer gewesen, dem es im Frühjahr 1845 in St. Petersburg gelang, Nikolaus I. in diesem Punkt für die Lösung zugunsten des Immatrikulations-Indigenats zu gewinnen36. Ein weiterer heikler Punkt, in dem die Ritterschaften mit dem neuen Gesetzbuch ihre privilegierte Stellung im Vergleich zu der früheren und auch zu der durch die Kapitulationen zugesicherten hinaus verbessern konnten, war das Gütererwerbsrecht (reguliert im Ständerecht Art. 874 ff.). Die Beschränkung des Erwerbsrechts für Rittergüter nur auf die örtlich immatrikulierten Adligen hatte zuvor ebenfalls keine Rechtsgrundlage und wurde erst durch einen kaiserlich bestätigten Vortrag des Leiters der für die Kodifikation zuständigen Zweiten Abteilung der Kaiserlichen Kanzlei vom 20. Juni 1841 so entschieden und gestaltet. Nicht einmal der Reichsrat wurde in die Verhandlung dieses Streitpunkts, der ziemlich umstritten war, einbezogen. Das war einer der wichtigsten Anstöße für Otto Müller, der 1841 anonym und außerhalb der Reichsgrenzen eine Streitschrift veröffentlichte37. In ihr versuchte er, die Standesprivilegien als Landesprivilegien zu deuten, und bot den baltischen Adelskorporationen die Koalitionshand des örtlichen Bürgertums an. Carl Julius Albert Paucker plädierte 1839 für das Recht der estländischen Geistlichen, Landgüter zu erwerben, wofür er mehrere Belege veröffentlichte38. Dies waren die beiden bekannten Fälle, wo das Gesetzbuch des 19. Jahrhunderts die Adelsprivilegien auch über die Forderungen der Kapitulationen des Jahres 1710 hinaus vermehrte. Insofern brauchte man in diesen Fällen die Kapitulationen nicht als Baumaterial – in ihnen fehlten die entsprechenden Steinschichten. Es waren allerdings erneut sehr konkrete Lösungen, die in prinzipiell wichtigen Punkten eingriffen. Insgesamt regelten die beiden provinzialrechtlichen Kodifikationen des Jahres 1845 in ihren insgesamt 1.730 + 1.502 = 3.232 Artikeln die meisten allgemeinen, aber auch die konkreten Forderungen der Kapitulationen bezüglich der Verfassung und der Verwaltung neu. Die Adelsprivilegien wurden ebenfalls im Ständerecht de———————————— 36 37
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STAËL VON HOLSTEIN, Kodifizierung (wie Anm. 25), S. 344. [Otto MÜLLER,] Die Livländischen Landesprivilegien und deren Confirmationen, Leipzig 1841; die posthume, „neue Ausgabe“ von 1870 ist mit Verfassernamen ebenfalls in Leipzig publiziert worden. [Carl Julius Albert PAUCKER,] Urkunden, betreffend das Recht der Esthländischen Geistlichkeit, Landgüter zu erwerben, in: Das Inland 4 (1839), Nr. 20, Sp. 305–311.
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tailliert geregelt, d.h. im zweiten Titel des ersten Buches (Art. 32 ff.); dessen Fortsetzung regelte die Stellung und Kompetenz der höheren und niedrigeren kollektiven Gremien der Ritterschaften (zu den Landtagen der Livländischen Ritterschaft Art. 51 ff., zum Adelskonvent Art. 129 ff. und zu den Kreisversammlungen Art. 163 ff.; zu den Landtagen der Öselschen Ritterschaft Art. 171 ff. und zum Adelskonvent Art. 196 ff.; zu den Landtagen der Estländischen Ritterschaft Art. 202 ff., zum Ritterschaftsausschuss Art. 261 ff. und zu den Kreistagen Art. 271 ff.; zu den Landtagen der Kurländischen Ritterschaft Art. 291 ff., zu deren allgemeinen Konferenzen Art. 332 ff., zu den Oberhauptmannschafts- und Kreisversammlungen Art. 351 ff. und zu den Kirchspielsversammlungen Art. §§ 354 ff.). Diese eingehenden Regulationen überlappten die knappen Formulierungen der Kapitulationen über die ritterschaftlichen Gremien völlig. Das zweite Kapitel dieses Titels regulierte die Wahlordnung der Ritterschaften, worüber in den Kapitulationen nichts stand. Dagegen war das vierte Kapitel über die Beamten der Ritterschaften bereits Thema der Kapitulationen gewesen und wurde im Ständerecht ebenfalls eingehend reguliert (Art. 557–839). Die in diesem Aufsatz bereits behandelte Beschränkung des Indigenatsrechts gehört zu den prinzipiellen und konstitutiven Lösungen in diesem Bereich. Auch die vermögensrechtlichen Vorrechte bzw. Befreiungen und Ermäßigungen bei den Abgaben und Leistungen waren in Art. 857 ff. und 874 ff. des Ständerechts stärker denn je gestaltet. Darunter fallen auch diejenigen, welche bereits 1710 ausgehandelt worden waren, wie z.B. die Befreiung der adligen Häuser auf dem Domberg in Reval von den Einquartierungen (Art. 862; neben KEstR XI wird auf zwei schwedisch-königliche Resolutionen aus dem Jahr 1660 hingewiesen). Insoweit blieb auch in diesem vermögensrechtlichen Bereich kaum ein Punkt der Kapitulationen von der gesetzlichen Neuregulierung unberührt. In Letzteren waren auch Vorrechte des Adels im Strafverfahren verlangt worden, die nun wie die adligen Vorrechte im Gerichtsprozess überhaupt im Ständerecht Art. 849 ff. festgelegt wurden. In den Kapitulationen war es um einzelne Verbrechen wie Majestätsverbrechen, Beleidigung oder Landfriedensbruch gegangen. Auch in diesem Bereich trat im Mai 1846 ein neues Gesetzbuch in Kraft und zwar das Strafgesetzbuch des Reiches39. Nach der offiziellen deutschen Übersetzung, die in der Kodifikationsabteilung der Kaiserlichen Kanzlei angefertigt wurde, hieß ———————————— 39
Uloženie o nakazanijach ugolovnych i ispravitelnych [Verordnung über die kriminellen und korrigierenden Bestrafungen], in: PSZ II-20, Nr. 19283, 15.8.1845, S. 598–1010.
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es das Gesetzbuch der Kriminal- und Korrectionsstrafen40. Eine offizielle deutsche Übersetzung war für die Ostseeprovinzen notwendig, wo die Gerichtssprache weiterhin Deutsch war – gesetzlich neu verankert in Art. 121 der Behördenverfassung (mit der Ausnahme für Estnisch und Lettisch in den so genannten Bauernbehörden). Bis zur Inkraftsetzung dieses russischen Strafgesetzbuchs hatten die Gerichte der Ostseeprovinzen in der Strafrechtsprechung etwa die römisch-kaiserliche Halsgerichtsordnung Karls V. von 1532 angewendet und darüber hinaus eine ganze Menge späterer Rechtsaufzeichnungen, obrigkeitlicher Vorschriften und Gesetze41. Kritische Stimmen, die sich gegen eine derartige Intervention in die überlieferte Rechtsordnung der Provinzen, wie es die Einführung des Reichsstrafgesetzbuchs darstellte, gewehrt und diese als offensichtliche Verletzung der durch die Kapitulationen zugesicherten Konservierung des geltenden Rechts gedeutet hätten, sind mir nicht bekannt. Ganz im Gegenteil herrschte Zufriedenheit darüber, dass das neue Gesetzbuch der überlieferten Vielfalt der Strafgesetze ein Ende gemacht hatte42. Dass die russische Zentralmacht schon zwanzig Jahre später selbst eine neue Vielfalt an Strafgesetzbüchern schaffen und damit den einzigen auch in der Sekundärliteratur behaupteten Vorteil des Strafgesetzbuchs vom 1845 wieder aufheben sollte, mag hier dahingestellt bleiben. Im Zusammenhang des vorliegenden Beitrags ist es wichtig zu betonen, dass die insgesamt 2.224 Artikel des Reichsstrafgesetzbuchs durchaus ausreichten, um die wenigen strafrechtlichen Bestimmungen der Kapitulationen zu überlappen. Die Kapitulationen beinhalteten auch manche Punkte über die Behördenverfassung und die Geschäftsführung. Das alles wurde nun durch den ———————————— 40
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Gesetzbuch der Kriminal- und Korrectionsstrafen. Nach dem Rußischen Originale übersetzt in der 2. Abtheilung Sr. Kaiserlichen Majestät Eigener Kanzellei, St. Petersburg 1846. Eingehend zum Problem der Pluralität der Strafgesetze in den Ostseeprovinzen unter der imperialen russischen Herrschaft: Marju LUTS-SOOTAK / Marin SEDMAN, Ambivalences of the Legality Principle in Penal Law of the Baltic Provinces in the Russian Empire (1710–1917), in: From the Judge’s Arbitrium to the Legality Principle. Legislation as a Source of Law in Criminal Trials, hg. v. Georges MARTYN / Heikki PIHLAJAMÄKI / Anthony MUSSON, Berlin 2013 (Comparative Studies in Continental and Anglo-American Legal History 31), S. 317–345. Vgl. z.B. [Carl Julius Albert PAUCKER,] Unsre neuesten Gesetzbücher und ihre geschichtlichen Begleiter, in: Das Inland 11 (1846), Sp. 853 ff. Der Beitrag ist anonym erschienen, die Verfasserschaft Pauckers behauptet Allgemeines Schriftsteller- und Gelehrten-Lexikon der Provinzen Livland, Esthland und Kurland. Nachträge und Fortsetzungen, Bd. 2, hg. v. Johann Friedrich von RECKE / Karl Eduard von NAPIERSKY, Mitau 1861, S. 105.
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ersten Teil des Provinzialrechts der Ostseegouvernements neu reguliert und war damit ebenfalls dem Geltungsbereich der Kapitulationen entzogen worden. Die als Eckpunkte wahrgenommenen Bestimmungen der Kapitulationen über die evangelisch-lutherische Konfession und die Kirchenverwaltung waren durch das Gesetz für die evangelisch-lutherische Kirche in Russland und die dazu gehörende Instruktion43 schon 1832 neu bestimmt worden. Auch hier reichten die 512 Artikel des Gesetzes und die 122 Paragraphen der Instruktion aus, um die Punkte von 1710 zu verändern, zum Teil auch gegen die durch die Kapitulationen ausgehandelten Prinzipien44. Die Kapitulationen enthielten auch manche privatrechtlichen Bestimmungen. Diese wurden erst durch den dritten Teil des Provinzialrechts, d.h. durch das 1864 bestätigte und am 1. Juli 1865 in Kraft getretene Liv-, Est- und Curlaendisches Privatrecht45 neu reguliert. Was von den 4.600 + 30 Artikeln dieses Gesetzbuchs noch ungeregelt blieb von den bereits in den Kapitulationen angesprochenen Punkten etwa bezüglich der Krongüter, war schon früher im achten Band des Reichsgesetzbuchs reguliert worden – dieses genügte ebenfalls, um die Bestimmungen der Kapitulationen über die Domänegüter neu zu prägen.
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PSZ II-7, Nr. 5870, 28.12.1832, S. 956–1022, und Nr. 5871, 28.12.1832, S. 1022– 1040. Die deutsche Übersetzung des Gesetzes ist ohne Orts- und Zeitangaben der Publikation erschienen: Gesetz für die Evangelisch-Lutherische Kirche in Russland. Instruction für die Geistlichkeit und die Behörden der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Russland. Zur Einführung des neuen Kirchengesetzes in Estland: Andres ANDRESEN, Eestimaa kirikukorraldus 1710–1832. Riigivõimu mõju institutsioonidele ja õigusele [Estländische Kirchenverfassung 1710–1832. Einfluss der Staatsgewalt auf die Institutionen und das Recht], Tartu 2008, S. 171 ff.; zu den institutionellen, konfessionellen und rechtlichen Vereinheitlichungsprozessen, die durch das Gesetz vom 1832 erforderlich wurden, und zu deren Ähnlichkeit mit den schwedischen Bemühungen um ein einheitliches evangelisches Reichskirchenrecht siehe DERS., Unifying the Periphery of a Conglomerate State: Ecclesiastical Legislation in Estland and Livland (1686–1832), in: Einheit und Vielfalt in der Rechtsgeschichte im Ostseeraum. Sechster Rechtshistorikertag im Ostseeraum 3.–5. Juni 2010, hg. v. Marju LUTS-SOOTAK / Sanita OSIPOVA / Frank SCHÄFER, Frankfurt/M. et al. 2012 (Rechtshistorische Reihe 428), S. 7–14. Provincialrecht der Ostseegouvernements. Dritter Theil. Privatrecht: Liv-, Est- und Curlaendisches Privatrecht. Zusammengestellt auf Befehl des Herrn und Kaisers Alexander II. St. Petersburg 1864; hiervon wurde gleich eine russische Übersetzung angefertigt, die durch einen späteren Ukas des dirigierenden Senats den Vorrang vor dem deutschen Originaltext gewann: Svod mestnych uzakonenij gubernij ostzejskich. Čast’ tret’ja. Zakony graždanskie, Sanktpeterburg 1864.
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4. Fazit und Schlussbetrachtung Die gerade betrachteten Gesetzgebungsaktivitäten der russischen Zentralgewalt, die bei den provinzialrechtlichen Kodifikationen und dem evangelischlutherischen Kirchengesetz allerdings unter vorbereitender Mitwirkung der Vertreter der baltischen Ritterschaften und Städte erfolgten, zeigen, dass die Kapitulationen von 1710 auseinander genommen und neu zusammengesetzt, aber zuweilen auch erheblich ergänzt wurden. Formal blieben die Kapitulationen in Kraft; dies war noch unbestritten. Inhaltlich waren sie aber von den neuen Gesetzbüchern und teilweise auch von Einzelgesetzen sozusagen entleert worden. Wenn Alexander III. bei seiner Thronbesteigung 1881 wie gewöhnlich die baltischen Kapitulationen bestätigt hätte, wäre diesem Akt nur noch politischer Symbolwert beigekommen. Der Verzicht auf die Bestätigung indes war von ungleich größerer symbolischer Bedeutung. Die im vorliegenden Beitrag erwähnte Kritik an der Ausweitung der Adelsprivilegien war vor dem Inkrafttreten der Gesetzbücher erschienen. Paucker, Müller und von Bock waren aber Juristen und wussten nur allzu gut, dass nach dem Inkrafttreten der Gesetze deren Bestimmungen geltendes Recht würden und sich der Grundsatzkritik entzögen. Die 1870 immer noch in Leipzig, aber nicht mehr anonym erschienene „neue Ausgabe“ von Otto Müllers „Landesprivilegien“ wurde damit unter ganz neuen rechtlichen Bedingungen und im Kontext eines früher so noch nicht erlebten politischen Drucks publiziert. Das Problem des Verhältnisses der Gesetzbücher des 19. Jahrhunderts zu den Kapitulationen des 18. Jahrhunderts war durchaus ein Thema in diesen neuen Diskussionen um die Autonomie der Ostseeprovinzen einerseits und um die Durchsetzung der Hoheitsrechte der russischen Krone andererseits. Eine nähere Untersuchung der damals geäußerten Positionen vom Erlöschen der „sogenannten Privilegien durch die Thatsache der Herausgabe eines Provinzialgesetzbuchs in formaler Beziehung“ und von der Einfügung des Provinzialgesetzbuches als „Localgesetze einer Provinz (analog den Gesetzen Kleinrußlands) in das allgemeine System der Reichsgesetze“ – so der russische Publizist Jurij F. Samarin46 – über die Behauptung, das Provinzialge———————————— 46
Jurij SAMARIN, Das russisch-baltische Küstenland in gegenwärtigen Augenblick. Reprint der Ausgabe Leipzig 1869, Münster 1996, S. 44; Hervorhebungen wie im Original. Was Samarin hier mit dem Ausdruck „in formaler Beziehung“ meint, bleibt unklar. Formal hatte man bis dahin die Kapitulationen des Jahres 1710 von keiner Seite zurückgenommen. Der Einführungsukas des Provinzialrechts betont ausdrücklich, dass „durch dieses Provincialrecht ebensowenig, als durch das Allgemeine Rechtsgesetzbuch die Kraft und
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setzbuch sei lediglich „eine Sammlung von Rechtsbestimmungen, welche bis jetzt in den Gouvernements Livland, Estland und Kurland Kraft und Geltung bewahrt haben, eine Sammlung“, welche die Geltung der früheren „Gesetze“ nicht berühre – so der damals noch Dorpater, bald darauf Kieler Geschichtsprofessor Carl Schirren47 – bis hin zur radikalen Verneinung der Geltung des Provinzialgesetzbuchs, da es ohne Mitstimmung der Stände in Kraft gesetzt wurde48, würde die Schranken des vorliegenden Beitrags sprengen. Die späteren Urteile über die Stellung dieser Gesetzbücher zur überlieferten Landesverfassung sind ebenfalls ganz verschieden. Im Jahr 1869 behauptete Julius Eckardt, dass die Gesetzbücher „für unser provinzielles öffentliches Recht den engen russischen Gouvernementsrahmen“ brachten, „in den der thatsächlich vorhandene Stoff absolut nicht hineinpaßte“. Dadurch ————————————
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Geltung der bestehenden Gesetze abgeändert, sondern dieselben nur in ein gleichförmiges Ganze und in ein System gebracht werden“. Siehe den Befehl an den Dirigirenden Senat vom 1.7.1845, in: Provinzialrecht I (wie Anm. 26), S. 3. Auch die Gleichstellung des baltischen Rechts mit dem Recht der kleinrussischen Gouvernements Černigov und Poltava stimmt nicht. Diese werden zwar in dem Promulgationsukas des baltischen Provinzialrechts erwähnt, aber als Gegenbeispiel für ein Kodifikationsverfahren, wo man die provinziellen Abweichungen im Reichs-svod einbezogen hatte. Die „besonderen Rechtsbestimmungen der Gouvernements Livland, Estland und Kurland“ waren aber „so zahlreich, daß es unmöglich gewesen wäre, sie, ohne wesentliche Unzweckmäßigkeit, in das Allgemeine Reichsgesetzbuch einzuschalten“ (ebenda, S. 1). Samarin ging mit seiner Quelle also recht frei und teilweise strikt gegen den Buchstaben des Originals um. Carl SCHIRREN, Livländische Antwort an Herrn Juri Samarin, Leipzig 1869, S. 142. Der Promulgationsukas sprach in der Tat von Gesetzen und ließ damit die Frage nach der Geltung der anderen Rechtsquellen, wie etwa der hier behandelten Unterwerfungsverträge oder Privilegienverleihungen, die im Gesetzbuch als originäre Quellen der einen oder anderen Regelung angegeben sind, im Grunde offen. Dazu kommt, dass der Begriff des Gesetzes damals noch nicht seine heutige Bestimmtheit trug. Das Gesetzgebungsrecht in Livland. Eine landesstaatliche Erörterung. I: Allgemeiner Teil, Leipzig 1873, passim, betont S. 41 ff. Die Schrift ist anonym erschienen und auch WINKELMANN, Bibliotheca (wie Anm. 30), Nr. 3808, S. 161, bietet keine Angaben zu dem Verfasser an. Der anonyme Autor hatte eine durchaus stichhaltige Theorie zur Mitwirkung der Stände im Gesetzgebungsverfahren, nur dass die Stände in Liv- und Estland solch ein Mitwirkungsrecht – die Bestätigung der für diese Territorien erlassenen Gesetze durch die Ständeversammlung – nie gehabt hatten, auch nicht unter den früheren Landesherren. Anders war es dagegen in Finnland, das seit 1809 ebenfalls zum Russländischen Reich gehörte. Dort hatten die Stände ein entsprechend verstandenes Mitwirkungsrecht im Gesetzgebungsverfahren. Diese eher formelle Position im Vergleich zu den Mitwirkungsmöglichkeiten der baltischen Stände im Vorfeld, bei der inhaltlichen Vorbereitung der Gesetzesentwürfe, hat sich bei der realen Verteidigung der Autonomie als stärker erwiesen. Zu Finnland siehe in diesem Band die Beiträge von Lars BJÖRNE und Robert SCHWEITZER.
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sei das „lebensvolle Ganze, zu welchem unser Provinzialleben sich gestaltet hat“, im Provinzialgesetzbuch um jede Einheit, jeden inneren Zusammenhang gebracht und „in eine Anzahl Theile aufgelöst, für welches jedes geistige Band fehlte“49. 1901 hat Reinhold Baron Staël von Holstein für die ersten zwei Teile des Provinzialrechts dagegen poetisch behauptet, dass durch diese Kodifikationen „die uralte Landesverfassung verjüngt und gekräftigt wie ein Phönix aus der Feuerprobe hervorgegangen [ist], entledigt vom Staub der Jahrhunderte und wohlgerüstet dem Kommenden zu widerstehen“50. Es lassen sich noch mehrere Gegenpole finden, wie etwa die Behauptung, dass im Provinzialrecht „der lutherischen Landeskirche, die einen integrirenden und dazu höchst wichtigen Theil der Provinzialverfassung bildet“, kaum gedacht worden sei (so Eckardt 186951). Dagegen steht die These, dass das Ständerecht „um so mehr Beachtung“ verdiene, als gerade dadurch „die wohl hin und wider geäußerten Zweifel, ob sie [die Geistlichkeit; M.L.-S.] jetzt überhaupt noch einen besonderen Stand bilde“ beseitigt und die evangelische Geistlichkeit in den Ostseeprovinzen für ihre Stellung als selbständiger Stand eine feste Grundlage bekommen habe (so Paucker 184652). Diese Andeutungen sollen nur die Mannigfaltigkeit der verschiedenen und nicht so sehr von juristischen als vielmehr von politischen Beweggründen getragenen Positionen in den Diskussionen umreißen, die noch in den Anfangsjahrzehnten des 20. Jahrhunderts weitergeführt wurden53. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts versuchten die Provinzialen, „im kleinen Kriege wieder zu erobern, was bei dem ungleichen Kampf mit der Rücksichtslosigkeit des alten Systems verloren gegangen war“, um noch einmal mit Julius Eckardt zu sprechen54. Auf dieser Seite war und ist Carl ———————————— 49
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Juri Samarins Anklage gegen die Ostseeprovinzen Rußlands. Uebersetzung aus dem Russischen. Eingeleitet und commentirt von Julius ECKARDT, Leipzig 1869, S. 202 f. STAËL VON HOLSTEIN, Kodifizierung (wie Anm. 25), S. 356. SAMARINs Anklage (wie Anm. 49), S. 203. PAUCKER, Gesetzbücher (wie Anm. 42), Sp. 829. Für eine neue Arbeit zur Diskussion um die Weitergeltung des so genannten gemeinen Rechts (vgl. oben Anm. 18) nach der Kodifikation des provinziellen Privatrechts, bei dem sich das Problem der Gesetzeslücke als Weichenstelle herauskristallisiert hatte, siehe Hesi SIIMETS-GROSS, Das „Liv-, Est- und Curlaendische Privatrecht“ (1864/65) und das römische Recht im Baltikum, Tartu 2011 (Disserationes iuridicae universitatis Tartuensis 33), S. 51 ff.; eingehender und um weitere Quellenbelege bereichert DIES., Das Liv-, Esthund Curlaendische Privatrecht (1864/1865) – die einzige Quelle des Privatrechts?, in: Einheit und Vielfalt (wie Anm. 44), S. 275–285. Samarins Anklage (wie Anm. 49), S. 202.
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Schrirren bestimmt der berühmteste Vorkämpfer und Fürsprecher. Allerdings hat gerade er das Fazit gezogen, dass durch die Provinzialrechtskodifikation das Recht durch das Gesetz ersetzt worden sei und jenes wiederum ebenso veränderbar wäre wie alle anderen Gesetze55. Diese rechtstheoretisch durchaus haltbare Feststellung bezeugen rechtshistorisch auch die später erschienenen „Fortsetzungen zum Provinzialrechte der Ostseegouvernements“. Der Kampf der baltischen Konservatoren verlief allerdings nicht nur gegen die russische Reichsregierung. Ich bin zwar weit entfernt von dem Glauben an die Gesetzmäßigkeiten und den notwendigen Fortschritt in der Geschichte, doch will ich in diesem Fall behaupten, dass die Zeit der Herrschaftsverträge als Übereinkünfte zwischen Herrscher und Ständen „wie z.B. die aragonischen Privilegien (1283 u. 1287) oder die Jouyeuse Entrée Brabant (1356), in denen es den Ständen gelang, Privilegien für sich zu erringen“56, auch im Russländischen Reich langsam zu ihrem Ende kam. Im Jahr 1889 etwa war Russland stark genug geworden, um auf die Hilfe der Stände als intermediäre Gewalten57 im Bereich der Justiz zu verzichten58. Durch die Justizreform von 1889 wurde nun wiederum ein großes Stück des kodifizierten baltischen Provinzialrechts inhaltlich entleert und umgestaltet – teilweise ausdrücklich außer Kraft gesetzt, teilweise doch wieder stillschweigend anders reguliert. Die Vorrechte der Ritterschaften in der Justizverwaltung wur-
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SCHIRREN, Livländische Antwort (wie Anm. 47), S. 10, 75. Hans-Jürgen BECKERT, Art. Herrschaftsvertrag, in: Handwörterbuch (wie Anm. 12), Bd. 2, Berlin 1978, Sp. 109. Dazu näher HATTENHAUER, Rechtsgeschichte (wie Anm. 1), S. 473 ff. Vgl. die jüngeren Forschungen über die Justizreform von 1889 als einem Modernisierungsvorgang: Toomas ANEPAIO, Die Justizreform in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in den Ostseeprovinzen – Russifizierung oder Modernisierung?, in: Acta Baltica 35 (1997), S. 257–272; spezieller zu den Merkmalen Verstaatlichung, Gewaltenteilung und allgemeine Gleichheit vor dem Gericht: DERS., Justice Laws of 1889 – a Step in Estonia’s Constitutional Development, in: Juridica International. Law Review University of Tartu 10 (2005), S. 150–160; differenzierter nach den konkreten Modernisierungseffekten fragend: Marju LUTS, Modernisierung und deren Hemmnisse in den Ostseeprovinzen Est-, Liv- und Kurland im 19. Jahrhundert, in: Modernisierung durch Transfer im 19. und frühen 20. Jahrhundert, hg. v. Tomasz GIARO, Frankfurt/M. 2006 (Studien zur europäischen Rechtsgeschichte 205), S. 159–200, hier S. 198 ff.; noch weiter differenzierend: DIES. The Ambivalence of Reforms and their Absence: Baltic Lections of the 19th Century, in: Juridica International. Law Review University of Tartu 11 (2006), S. 68–75, hier S. 74. Diese Publikation ist frei zugänglich unter www.juridicainternational.eu.
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den diesmal gestrichen, anstatt sie „mit noch ampleren und herlichern, nach gelegenheit zu vermehren“59, wie 1710 und erst recht 1845.
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Universale Peters des Grossen vom 16. August 1710, in: Die Capitulationen der estländischen Ritterschaft (wie Anm. 5), S. 21–23, hier S. 22.
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Finnland 1809 – und die Entwicklung danach: Versuch einer kurzen Rechtsgeschichte Einleitung Schweden trat nach einem kurzen Krieg im Frieden von Fredrikshamn (finn. Hamina) 1809 die östliche Hälfte des Königreiches (die finnischen Provinzen) an Russland ab. Finnland wurde jedoch dem russischen Kaiserreich nicht vollständig einverleibt, sondern es wurde als ein vom „Zaren und Großfürsten“ regiertes autonomes Großfürstentum konstituiert. Schon vor dem Friedensvertrag wurde im März 1809 in der Kleinstadt Porvoo ein Landtag abgehalten, auf dem Repräsentanten der finnischen Stände ihrem neuen Herrscher huldigten. Zar Alexander I. versprach seinerseits, die Religion und die Grundgesetze des Landes sowie die Standesprivilegien aufrechtzuerhalten. Insoweit waren die Geschehnisse in Porvoo den baltischen Kapitulationen von 1710 ähnlich1. Jedoch wurde der Landtag in Porvoo später vor allem in Finnland und in Russland zum Gegenstand einer immerwährenden Debatte, und die verschiedenen Auslegungen der Geschehnisse in Porvoo sind, milde gesagt, zahlreich2. Ich versuche hier keine eigene Interpretation vorzulegen, sondern möchte nur in aller Kürze die Hauptzüge einer Rechtsgeschichte des autonomen Finnland darstellen und insbesondere die für die Finnen wichtigen ausländischen Vorbilder, aber auch warnenden Beispiele hervorheben; dabei wird, obwohl historisch gesehen nicht ganz korrekt, auch Russland als ‚Ausland‘ behandelt. Diese Darstellung ist außerdem nur eine ‚äußere‘ Rechtsgeschichte (Gustav Hugo), d.h. eine Geschichte der Rechtsquellen, vor allem der Gesetzesnormen.
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So insbesondere Osmo JUSSILA, Suomen suuriruhtinaskunta – 1809–1917 [Das Großfürstentum Finnland – 1809–1917], Juva 2004, S. 67 und 69. Ebenda, S. 11 und 21–24; Torkel JANSSON, Rikssprängningen som kom av sig. Finsksvenska gemenskaper efter 1809 [Die gescheiterte Reichssprengung. Finnisch-Schwedische Gemeinschaften nach 1809], Malmö 2009, S. 9.
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Das Privatrecht Das allgemeine Gesetz, das schwedische Reichsgesetzbuch von 1734, war zweifelsohne eine Kodifikation, deren Bestimmungen nur mit Zustimmung der Stände geändert werden konnte. Novellen waren vor 1863 im Prinzip ausgeschlossen, und nach dem Scheitern der russischen Kodifikationspläne in den 1830er Jahren hat der sonst autokratische Nikolaus I. die Rechte der (freilich nicht einberufenen) Stände respektiert. Zwar wurden einige Verordnungen zum allgemeinen Gesetz erlassen, es lässt sich jedoch nur ein einziger offenkundiger Verstoß gegen die frühere Gesetzgebung nachweisen (1827); Nikolaus gab diesen Verstoß auch ausdrücklich in seinem Dekret zu, das auch eine Art Entschuldigung enthielt. Obwohl das allgemeine Gesetz nicht ohne Zustimmung des finnischen Landtags geändert werden konnte, war es jedoch unklar, ob diese Zustimmung auch für Änderungen der Form und Systematik des Gesetzes nötig war. Auch die Systematik wurde als ein Teil der abendländischen Erbschaft empfunden, und die finnischen Rechtswissenschaftler mussten es am Anfang der Autonomie gegen russische Kodifikationspläne und paradoxerweise auch gegen das in europäischen Kodifikationen übliche römische Rechtssystem verteidigen. Nikolaus I. ernannte 1835 eine Kommission mit dem Auftrag, eine systematische Zusammenstellung aller in Finnland geltenden Gesetze zu erstellen. Das Vorbild für die Systematik war die römischrechtlich beeinflusste russische Kodifikation von 1832; der Zar hatte die Absicht, die Zusammenstellung der finnischen Gesetze ohne die Zustimmung des Landtags zu bestätigen. Diese Kodifikationspläne scheiterten jedoch an dem Widerstand der führenden finnischen Rechtsgelehrten, die behaupteten, dass ein neues System die Rechtssätze auch inhaltlich verändern würde und eine neue Systematisierung der Normen ohne Mitwirkung der Stände gesetzlich nicht möglich sei. Außerdem wurden die Argumente der deutschen historischen Rechtsschule über die Verderblichkeit aller Kodifikationen vorgetragen. Weit wichtiger war jedoch, dass der Generalgouverneur Finnlands, der russische Marineminister Fürst Aleksandr S. Menšikov, von den Plänen abriet, weil er befürchtete, dass die Kodifikation Unruhe unter den finnischen Loyalisten erregen würde. Schließlich gab der Zar die Kodifikationspläne auf3. ———————————— 3
JUSSILA, Suomen (wie Anm. 1) S. 205 ff.; Hannu Tapani KLAMI, The Legalists. Finnish Legal Science in the Period of Autonomy, Helsinki 1981, S. 35 ff.; Max ENGMAN, Storfurstendömet Finland. Nationalstat och imperiedel [Das Großfürstentum Finnland.
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Schon im frühen 19. Jahrhundert war das Gesetzbuch von 1734 eine veraltete Kodifikation, und Schweden führte schon in der ersten Hälfte des Jahrhunderts mehrere wichtige Reformen durch. Bereits am Anfang der 1860er Jahre schien die Rechtseinheit der ehemaligen zwei Reichsteile verloren gegangen zu sein. Man hätte erwarten können, dass nach der Einberufung des finnischen Landtags 1863 die rechtliche Trennung von Schweden noch größer werden würde, zumal man in Finnland sofort mit umfassenden Gesetzesrevisionen anfing. Besonders das von der Aufklärung nur wenig beeinflusste und als grausam empfundene Strafrecht wurde schon in den 1860er Jahren zum Teil reformiert; ein neues Strafgesetz, das die Abschnitte über die Verbrechen und den Strafvollzug im Gesetzbuch von 1734 ersetzte, wurde vom Landtag allerdings erst im Jahre 1889 verabschiedet. Auch der obsolete Abschnitt über die Vollstreckung in Zivilsachen wurde durch ein neues Gesetz aus dem Jahre 1894 ersetzt. Die im heutigen Sinne privatrechtlichen4 Abschnitte des Gesetzbuchs von 1734, d.h. die fünf Abschnitte über das Eherecht, das Erbrecht, das Eigentum und andere Rechte an Grundstücken, über das Landbaurecht und über Handel und Gewerbe blieben trotz erheblicher Änderungen geltendes Recht bis zur Zeit der Selbständigkeit. Nur die wichtigsten Änderungen können hier erwähnt werden. In den familien- und erbrechtlichen Abschnitten wurde die Stellung der Frau verbessert (unverheiratete Frauen wurden 1864 mündig, gleiches Erbrecht und gleiches Recht am Gesamtgut der Gatten für Mann und Frau wurden 1878 eingeführt) und im Abschnitt über das Eigentum an Grundstücken wurden die Interessen des Handelsverkehrs berücksichtigt (neues Gesetz über die Eintragung von Grundstückbelastungen 1868, Einschränkungen im Erblösungsrecht 1878). Mehrere an die Wirtschaftsgesetzgebung grenzende Bestimmungen über das Landbaurecht wurden durch Verordnungen schon vor 1863 geändert (Flurregelungsverordnung 1848, Waldverordnung 1851), während die stufenweise eingeführte Gewerbefreiheit in den 1860er und 1870er Jahren die größten Veränderungen im Handelsrecht brachte. Diese Verordnungen waren durchaus konstitutionell. In Schweden hatte der König von alters her ein weitgehendes Recht auf Gesetzgebung in wirtschaftlichen und administrativen Sachen oh————————————
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Nationalstaat und Teil eines Imperiums], in: Det nya Norden efter Napoleon, hg. v. Max ENGMAN / Åke SANDSTRÖM, Edsbruk 2004 (Stockholm Studies in History 73), S. 150– 186, hier S. 159. Nach Meinung der Rechtsgelehrten im 18. Jahrhundert waren auch Straf- und Prozessrecht Teile des Privatrechts.
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ne Mitwirkung der Stände; in Finnland wurde dieses Recht des Staatsoberhaupts erst mit der Regierungsform von 1919 aufgehoben. Die hier erwähnten Reformen in Finnland haben ein gemeinsames Charakteristikum: Sie waren früher, oft schon Jahrzehnte vorher, in Schweden durchgeführt worden. Als Gesetzesrevisionen in den 1860er Jahren möglich wurden, war vor allem Schweden das Vorbild – im Strafrecht auch Deutschland; nur die russische Gesetzgebung wurde als Vorbild völlig ignoriert. Zur Zeit der finnischen Unabhängigkeitserklärung 1917 hatte das Land eine Rechtsordnung, die im Wesentlichen nordisch, vor allem aber schwedisch geprägt war. Das öffentliche Recht Das Verfassungsrecht Der berühmte dänische Rechtswissenschaftler und -historiker Peder Kofod Ancher (1710–1788) stellte im Jahre 1777 in Frage, ob es überhaupt ein ius publicum particulare, d.h. ein positives Staatsrecht, in Dänemark-Norwegen gebe, weil die Regierung souverän war. Er verneinte selbst die Frage: Die wenigen, den König bindenden Bestimmungen im Königsgesetz, die Kongeloven von 1665, machten noch kein Staatsrecht aus. Man kann ebenso gut fragen, ob es zu Beginn der Zeit der Autonomie in Finnland überhaupt ein Staatsrecht, d.h. ein Verfassungsrecht, gab. Bei den von Alexander I. in Porvoo bestätigten Grundgesetzen handelte es sich wohl – denn die Russen haben diese Auslegung des Begriffes ‚Grundgesetz‘ nie anerkannt – um die Regierungsform von 1772 und die Vereinigungs- und Sicherheitsakte von 1789, die dem Monarchen eine beinahe unbeschränkte Macht gewährten. Obwohl man offiziell mit der Regierungsform die Übertreibungen sowohl des karolinischen Absolutismus als auch der Zeit der Freiheit verhindern wollte, war auch die gustavianische Staatsform ein kaum verhüllter Absolutismus. Der Ständereichstag wurde zwar beibehalten, jedoch nur mit sehr beschränkten Rechten. Das allgemeine Recht, d.h. das Gesetzbuch von 1734, durfte zwar nicht ohne Zustimmung sowohl der Stände auch als des Königs geändert werden. Die Einberufung des Reichstags war jedoch eine Prärogative des Regenten, und laut der Vereinigungsund Sicherheitsakte durften die Stände nur vom König vorgelegte Propositionen behandeln. Die Praxis der gustavianischen Zeit zeigt außerdem, dass die Regierung sogar diese wenigen Schranken der königlichen Gewalt nicht
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beachtete. Obwohl der von Gustav III. 1788 begonnene Krieg gegen Russland der spektakulärste Verstoß gegen die Regierungsform von 1772 war, wurde z.B. die Zustimmung der Stände zu Gesetzesänderungen von seinem Nachfolger Gustav IV. Adolf nicht beachtet. Die Bestimmungen im Gesetzbuch von 1734 wurden unter dem Titel einer an sich erlaubten königlichen Gesetzeserklärung mehrmals erheblich geändert. So wurde z.B. im Jahre 1805 das im Gesetzbuch völlig unbekannte befristete Anfechtungsrecht beim Immobilienkauf durch eine königliche Erklärung eingeführt. Nach der Ermordung Gustavs III. 1792 wurde bis zum Jahre 1809 der Reichstag nur einmal (1800) einberufen. Gustav IV. Adolf hätte höchstwahrscheinlich seine Absetzung vermeiden können, hätte er nicht gegen die Vorschläge seiner Ratgeber die Einberufung des Reichstags hartnäckig abgelehnt. Ohne Revolution hätte auch Schweden eine lange „Staatsnacht“ ohne Reichstag erlebt5. Der gustavianische politische Alltag wurde von Zensur, Verhaftungen, Landesverweisungen usw. geprägt. Die „Staatsnacht“ in Finnland, als zwischen 1809 und 1863 der Landtag nicht einberufen wurde, war mit der strengen Zensur und einigen Landesverweisungen sowohl mit den gustavianischen Grundgesetzen als auch mit der gustavianischen Praxis völlig vereinbar. Es ist deshalb gewissermaßen ironisch, dass der so genannte Rechtskampf zwischen finnischen und russischen Rechtswissenschaftlern seit den 1880er Jahren vor allem um die Bedeutung des Landtags in Porvoo 1809 ging. Die Russen hätten ruhig zugeben können, das Versprechen Alexanders I. sei bindend gewesen, um dann mit einem „…na und?“ hinzuzufügen, sie hätten weder Religion noch Privilegien gefährdet, und in der Tat die Grundgesetze viel gewissenhafter als die schwedischen Könige beachtet. Vor allem der finnische Historiker Osmo Jussila hat m.E. mit Recht hervorgehoben, dass nicht die Grundgesetze, sondern die sich allmählich herausbildende politische Praxis in der Zeit der Autonomie den eigentlichen Grund der Sonderstellung Finnlands dargestellt habe6. Diese Sonderstellung war das Ergebnis zäher Bestrebungen der finnischen führenden Beamten, oft gegen den Widerstand russischer Behörden, und die erweiterte Autonomie war vom Wohlwollen des jeweiligen Zaren abhängig. Die Finnen konnten aber diese schwache konstitutionelle Grundlage im Rechtskampf nicht zugeben, und deshalb wurden der Landtag in Porvoo und die Grundgesetze sozusagen völlig neu interpretiert. ———————————— 5 6
So JANSSON, Rikssprängningen (wie Anm. 2), S. 107. Siehe vor allem JUSSILA, Suomen (wie Anm. 1), passim.
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Der finnische Ministerstaatssekretär Alexander Armfelt soll behauptet haben, die finnische Konstitution sei wie die außereheliche Verbindung eines Ehemannes: Alle wussten davon, alle duldeten sie, aber je weniger man davon redete, desto glücklicher waren die Partner7. Unter diesen Umständen war es nur natürlich, dass eine Gesetzesreform der Konstitution kaum möglich war. Die bedeutendste Ausnahme war die neue Landtagsordnung von 1869, und auch diese Reform war auf halbem Weg stehen geblieben. Obwohl man in Schweden einige Jahre zuvor die uralte Vierständeversammlung durch einen Zweikammerreichstag ersetzt hatte, verhinderte die politische Lage in Finnland eine derartige Reform. Die wichtigste Neuigkeit war aber, dass der Landtag nun jedes fünfte Jahr, von den 1880er Jahren an jedes dritte Jahr, einberufen werden sollte. Diese Bestimmung, die auch von Nikolaus II. sogar während der so genannten Unterdrückungsperiode von 1899 bis 1917 respektiert wurde, verhinderte eine Wiederholung der „Staatsnacht“. Erst 1886 wurde dem Landtag ein beschränktes Recht zu eigenen Initiativen gestattet. Reformen der eigentlichen gustavianischen Grundgesetze blieben aber ausgeschlossen8. Als Vorbilder im finnischen Kampf um eine erweiterte Autonomie konnten natürlich nicht die ‚imperialistischen‘ Reiche Russland und Deutschland, ja noch nicht einmal Schweden dienen. Finnland hatte am Anfang der Autonomie bis zum polnischen Novemberaufstand 1830 eine mit Kongresspolen vergleichbare Stellung. Ein Vorbild war auch Norwegen, das 1814 in eine recht lockere Union mit Schweden gezwungen worden war. Auch Norwegen hatte eine eigene Regierung, Volksvertretung und Gesetzgebung. In den 1860er Jahren bezeichnete ein bedeutender russischer Staatswissenschaftler die Verbindungen zwischen Norwegen und Schweden bzw. Finnland und Russland als ähnliche Realunionen9. In beiden Fällen war die Rechtslage des unterlegenen Partners, Norwegen bzw. Finnland, am Anfang schwach; sowohl die Norweger als auch die Finnen konnten aber durch jahrzehntelange zähe Arbeit ihre Stellung allmählich verbessern. In beiden Fällen war außerdem das erste halbe Jahrhundert der Union von einer gewissen Bereitschaft zur Kooperation geprägt, während sowohl das norwegische als auch das finnische Nationalgefühl um 1860 deutlich stärker
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Zitiert nach ENGMAN, Storfurstendömet (wie Anm. 3), S. 157. Siehe JUSSILA, Suomen (wie Anm. 1), S. 336–352. KLAMI, Legalists (wie Anm 3), S. 91; JANSSON, Rikssprängningen (wie Anm. 2), S. 158.
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wurde10. Dies muss hervorgehoben werden, weil Jussila behauptet, die russische Niederlage im Krimkrieg habe den Anlass zum finnischen Separatismus gegeben11. Es kann noch erwähnt werden, dass man sowohl in Finnland als auch in Norwegen bei allen Gesetzesreformen das Recht des stärkeren Unionspartners völlig vermied. Die Ostseeprovinzen taugten dagegen in Finnland nie zum Vorbild, auch nicht im Jahre 1809. Man kann eher von einem Schreckensbild reden. Die finnischen Bauern waren während des Krieges 1808/09 der königstreueste Teil der Bevölkerung, weil sie sich vor der baltischen Leibeigenschaft fürchteten. Die baltischen Verhältnisse im 18. Jahrhundert haben auch in Finnland Misstrauen erregt. Die wenig verbreitete finnische Selbständigkeitsbewegung in den 1780er Jahren unter der Führung von Göran Magnus Sprengtporten (1740–1819) wurde durch die russischen Maßnahmen in den Ostseeprovinzen noch abgeschwächt, als Katarina II. die Privilegien der baltischen Ritterschaften durch die Statthalterverwaltung verletzte12. Auch später hat man sich in Finnland von allen Verbindungen zu den baltischen Provinzen ferngehalten, um sozusagen eine Kontamination zu vermeiden. Die estnische Dichterin Lydia Koidula hat in ihrem Gedicht „Die finnische Brücke“ (Soome sild) – das sich in Auszügen bis Ende 2010 auf den estnischen 100-Kronenscheinen befand – eine nähere Zusammenarbeit vorgeschlagen; der Gedanke erweckte jedoch in Finnland nur wenig Begeisterung13. Das Verwaltungsrecht Die Rechte des Regenten waren im Verwaltungsrecht der gustavianischen Grundgesetze noch geringfügiger als im Verfassungsrecht eingeschränkt. Laut der Vereinigungs- und Sicherheitsakte konnte der König nach Belieben über alle Ämter im Reich verfügen; er durfte jedoch nur gebürtige Schweden in ein Amt bestellen. Besonders in den Jahren nach 1809 wurde die Entwicklung der Verwaltung ein wichtiger Teil der finnischen Autonomie. ———————————— 10
11 12
13
Siehe Ola MESTAD / Dag MICHALSEN, Rett, nasjon, union 1814–1905 [Recht, Nation, Union 1814–1905], in: Rett, nasjon, union. Den svensk-norske unionens rettslige historie 1814–1905, hg. v. DENS., Otta 2005, S. 19–32, hier S. 23. JUSSILA, Suomen (wie Anm. 1), S. 13 f. und 268 ff. Stig RAMEL, Göran Magnus Sprengtporten. Förrädaren och patrioten [Göran Magnus Sprengtporten. Verräter und Patriot], Malmö 2003, S. 102. Seppo ZETTERBERG, Viron historia [Geschichte Estlands], Hämeenlinna 2007, S. 441 f.
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Noch nach dem Landtag in Porvoo standen alle verwaltungsrechtlichen Möglichkeiten offen. Obwohl die alten Grundgesetze formal in Kraft blieben, war man gezwungen, eine neue Regierung und neue Verwaltungsbehörden zu schaffen. Dabei wurden oft die Institutionen des alten Reiches als Vorbilder verwendet. Der neue Regierungskonseil, ab 1816 der Senat, hatte große strukturelle Ähnlichkeiten mit dem von Gustav III. 1789 aufgehobenen Reichsrat. Wichtig war, dass das Justizdepartement des Senats die oberste Rechtsinstanz Finnlands war. Obwohl der Zar schon laut Grundgesetz das Begnadigungsrecht hatte, kann man sagen, dass das Großfürstentum das privilegium de non appellando erhielt, während z.B. die höchste Instanz der baltischen Provinzen in St. Petersburg lag. Die Hauptstadt war zunächst nach Turku verlegt worden; schon im zweiten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts jedoch wurde Helsinki zur neuen Hauptstadt und zum Sitz der eigenen Regierung. In kurzer Zeit wurden mehrere Zentralbehörden gegründet. Auf dem Verwaltungswege erhielt Finnland z.B. ein eigenes Finanzwesen, eine eigene Staatsbank, eigene Briefmarken und schließlich auch eine eigene Währung, während der bedeutendste Spross der finnischen Autonomiebestrebungen, die eigene, auf der allgemeinen Wehrpflicht beruhende und von 1878 bis 1901 bestehende Armee, durch ein vom Zaren und dem Landtag verabschiedetes Gesetz geschaffen wurde. Auch die Eingliederung des so genannten Altfinnland, des Wiborgschen Gouvernements, in das Großfürstentum 1812 war eine russische administrative Lösung. Während die Einrichtung der neuen Verwaltung und der neuen Behörden in Finnland nach 1809 auf sanfte Weise und unter Berücksichtigung bestehender Verhältnisse und alter Traditionen durchgeführt wurde, gliederte man Altfinnland dagegen sehr rasch und auf recht schroffe Weise ein. Das für die Einwohner fast unbekannte schwedische Recht und die schwedischen Verwaltungsstrukturen wurden schnell eingeführt, die alten Beamten und Richter fast ohne Ausnahme entlassen und mit Personen aus dem Großfürstentum ersetzt. Es liegt heutzutage nahe, diese Gleichschaltungspolitik mit der Eingliederung der ehemaligen DDR in die Bundesrepublik zu vergleichen14. Die Entwicklung des Kirchenrechts ist auch ein gutes Beispiel der finnischen Sonderentwicklung im Russländischen Reich. Das Kirchengesetz von 1686, ein Produkt des karolinischen Absolutismus, war 1809 geltendes ———————————— 14
Dieser Vergleich schon bei Max ENGMAN, Ett långt farväl. Finland mellan Sverige och Ryssland efter 1809 [Ein langer Abschied. Finnland zwischen Schweden und Russland nach 1809], Malmö 2009, S. 123.
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Recht. Die 300-Jahresfeier der Reformation 1817 gab Anlass zu weitgehenden Reformplänen der finnischen Kirche. Der primus motor dieser Pläne war der Bischof von Turku Jacob Tengström (1755–1832), der bei der Feier die Erzbischofwürde erhielt. Obwohl die Vorarbeiten so lange dauerten, dass das neue Kirchengesetz erst 1868 bestätigt werden konnte, wusste man ohnehin, dass das Reichsgesetz für die evangelisch-lutherische Kirche Russlands von 1832 nicht in Finnland (und Polen) gelten konnte15. Obwohl Schweden auch beim Aufbau der finnischen Verwaltung das wichtigste Vorbild war, schuf man in Finnland am Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts eine Verwaltungsrechtswissenschaft, die weder schwedische noch nordische Vorbilder hatte. Die neue deutsche Verwaltungsrechtswissenschaft, vor allem die Schriften Otto Mayers (1846–1924), war dagegen von entscheidender Bedeutung. Diese Richtung, ein Zweig des so genannten staatsrechtlichen Positivismus, hob den Begriff des „Rechtsstaats“ hervor und forderte die Gesetzmäßigkeit aller Verwaltungsakte. Diese Verwaltungsrechtswissenschaft hatte in Finnland und in Deutschland dieselbe Funktion: Sie diente als Ersatz für mangelnde demokratische Rechte und einen schwach entwickelten Konstitutionalismus. Das Großfürstentum Finnland: nordischer Rechtsstaat oder russische Provinz? Es ist klar, dass es vor 1809 kein eigenes finnisches Recht gegeben hat, und ich wollte mit diesem rechtshistorischen Überblick zeigen, dass die Reformen in der Zeit der Autonomie fast immer ausländische Vorbilder hatten; das Kirchengesetz von 1868 ist jedoch eine wichtige Ausnahme. Schwedisches Recht war das natürliche Vorbild auf fast allen Rechtsgebieten, was auch in Bezug auf die Gesetzesvorbereitung nicht verheimlicht werden sollte16. Schwedische Rechtsgelehrte wurden auch um Hilfe gebeten: Der Professor für Strafrecht an der Universität Uppsala, Johan Hagströmer (1845– 1910), verfasste ein ausführliches Gutachten über den Entwurf zum neuen finnischen Strafgesetz, das auch gedruckt wurde. Trotz der Möglichkeit schwedisches Recht und schwedische Sachkundige zu verwenden, war es für die finnische Rechtsentwicklung von entscheidender Bedeutung, dass das Großfürstentum schon von Anfang an eine eigene ———————————— 15 16
ENGMAN, Storfurstendömet (wie Anm. 3), S. 161. JANSSON, Rikssprängningen (wie Anm. 2), S. 177 ff. und 233 ff.
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Universität hatte – die 1640 gegründete Akademie Turku; diese Universität wurde später nach dem großen Brand von 1827 nach Helsinki verlegt. Bis zum Allianzvertrag mit dem schwedischen Kronprinzen Karl Johan 1812 in Turku war die russische Eroberung Finnlands politisch nicht abgesichert, und Alexander I. versuchte schon 1808 sich den Finnen anzunähern. Als Teil seiner Annäherungspolitik förderte Alexander auch die Universität. Diese hatte schon von Anfang an auch eine juristische Fakultät; wegen Geldmangels bestand sie aber aus nur einem Lehrstuhl. Schon im Jahre 1811 erhielt die Fakultät eine neue Professur und zwei assistierende Professuren. Die alte, ziemlich oberflächliche juristische Berufsausbildung wurde durch eine Verordnung im Jahre 1817 reformiert. Es wurde dadurch möglich, die benötigten Richter und Verwaltungsbeamten an der eigenen Landesuniversität auszubilden. Diese Richter und Beamten waren schwedischsprachig, konnten manchmal aber auch Finnisch. Finnische Sprachkenntnisse wurden später obligatorisch, und schon in den 1860er Jahren wurde Finnisch im Prinzip nach einer Übergangszeit als Gerichts- und Verwaltungssprache dem Schwedischen gleichgestellt. Die juristische Fakultät war auch für die legislative Arbeit wichtig. Karl Gustaf Ehrström (1822–1886), Professor für Strafrecht und Rechtsgeschichte, und insbesondere sein Nachfolger Jaakko Forsman (1839–1899) waren die führenden Kräfte bei der Vorbereitung des neuen Strafgesetzes. Der Professor für Staatsrecht in Helsinki Johan Jacob Nordström (1801–1874), der in den 1840er Jahren nach Schweden umsiedelte, schrieb in seiner neuen Heimat den grundlegenden Entwurf zur Landtagsordnung von 186917. Es kann noch erwähnt werden, dass einige Professoren der juristischen Fakultät in Helsinki in der vordersten Linie im Rechtskampf gegen die Russen standen18. Der ehemalige Professor für Staatsrecht Leo Mechelin (1839–1914) hat tatsächlich die Polemik gegen die Russen angefangen, indem er 1888 in einem Büchlein auf Französisch behauptete, das Verhältnis Finnlands zu Russland sei ausschließlich völkerrechtlich19. Diese Behauptung und vor allem die verwendete Sprache ———————————— 17 18
19
JANSSON, Rikssprängningen (wie Anm. 2), S. 114. Siehe insbesondere Matti KLINGE, Helsingin yliopisto. II. Keisarillinen Aleksanterin yliopisto 1808–1917 [Die Universität Helsinki. II. Die Kaiserliche Alexander-Universität], Keuruu 1989, S. 680, 803 f. So auch JUSSILA, Suomen (wie Anm. 1), S. 21 und S. 541 ff. Zu den sehr gewöhnlichen nordischen Rechtskämpfen siehe Lars BJÖRNE, Politik als Rechtswissenschaft. Nordische Rechtswissenschaftler im Dienste des Nationalismus, in: Nationalismus und Rechtsgeschichte im Ostseeraum nach 1800, hg. v. Ditlev TAMM / Helle VOGT, København 2010, S. 20–25.
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erregten Empörung unter den Russen und haben der finnischen Sache wohl eher geschadet, selbst wenn der anwachsende Panslawismus in Russland ohnehin eine Tatsache war. War denn die Entwicklung und allmähliche Ausdehnung der finnischen Autonomie eine Erfolgsgeschichte? Diese Frage kann nur mit „Jein“ beantwortet werden. Schon im 19. Jahrhundert wurde Finnland auch von den russischen Machthabern als Staat, nicht als Provinz angesehen20, die Existenz dieses Staates war aber vom guten Willen des russischen Herrschers abhängig. Die weite Autonomie Finnlands bot auch vor den Russifizierungsmaßnahmen keinen Schutz, obwohl die Einschränkungen der Autonomie, z.B. in der Verwaltung, letzten Endes ziemlich gering blieben. Die von russischer Seite unilateral erlassene Gleichberechtigungsgesetz von 1912, das die Ämter im Großfürstentum für russische Staatsbürger öffnete, blieb ohne Erfolg, weil die finnischen Beamten selten Russisch konnten, und der Übergang zum Russischen als Amtssprache deshalb unmöglich war. Diese Schwierigkeiten bedeuteten aber nur eine Verschiebung der geplanten Unifizierung. Man kann kontrafaktisch behaupten, dass wenn Russland zu den Siegern des Ersten Weltkriegs gehört hätte, die finnische Sonderstellung zu einem jähen Ende gekommen wäre, sodass nur einige autonome Feigenblätter übrig geblieben wären. Der Rechtskampf gegen die Russen hatte auch die finnische Gesellschaft polarisiert – und soziale Reformen wurden vernachlässigt. Der verheerende Bürgerkrieg 1918 hatte seine Wurzeln in den Gegensätzen der Zeit der Autonomie.
———————————— 20
Beispiele bei JANSSON, Rikssprängningen (wie Anm. 2), S. 112 ff., 156 ff.
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Vorbild oder Auslaufmodell? Die Bedeutung der Kapitulationen und der Autonomie der Ostseeprovinzen für die Autonomie Finnlands im Russischen Reich In dem einstmals berühmtesten deutschen Drama, Goethes „Faust“, findet sich folgendes bekannte Zitat: Nachdem Mephisto, also der Teufel, bekannt hat, dass er daran gebunden ist, einen Raum auf demselben Weg zu verlassen, wie er ihn betreten hat, ruft Faust aus: „Die Hölle selbst hat ihre Rechte? / Das find ich gut, da ließe sich ein Pakt, / und sicher wohl, mit Euch, ihr Herren, schließen“1. Natürlich liegen die baltischen Kapitulationen zeitlich vor Goethe, aber wer im historischen Rückblick die Vorgänge in den Ostseeprovinzen und im Westen des Russischen Reichs 1710 und danach betrachtet, dem kann schon dieses Zitat einfallen. Russland, bei seinem Angriff auf Livland mit allen, direkt der Türkenpolemik entnommenen Zuschreibungen als ein wahres Reich der Finsternis gemalt, dieses Russland hatte sich auf einen Vertrag mit dem militärisch besiegten Liv- und Estland eingelassen – und zeigte den ernsthaften Willen, sich an diesen zu halten2. Jeder Reisende nach Riga oder Reval (estn. Tallinn), konnte sich davon überzeugen, dass die Provinzen um 1740 noch ebenso deutsch waren, wie zuvor unter schwedischem und polnischem Zepter3. Das hat nicht nur die blühende Literatur über das „veränderte Russland“4 hervorgebracht – hatte man doch hier ein lebendes Beispiel für Russlands ———————————— 1 2 3
4
Johann Wolfgang von GOETHE, Faust, Teil 1, Vers 1413 ff. Siehe hierzu den Beitrag von PÄRTEL PIIRIMÄE in diesem Band. Das galt auch noch 100 Jahre später; vgl. die Zitate aus Schilderungen von Russen bei Karsten BRÜGGEMANN, Das Baltikum im russischen Blick, in: Nordosteuropa als Geschichtsregion. Beiträge des III. Internationalen Symposiums zur deutschen Kultur und Geschichte im europäischen Nordosten vom 20.–22. September 2001 in Tallinn (Estland), hg. v. Jörg HACKMANN / Robert SCHWEITZER, Helsinki / Lübeck 2006 (Veröffentlichungen der Aue-Stiftung 17), S. 392–411, insbes. 395–399; DERS., Auf den Spuren der Ritter und Zaren: Reval im Blick russischer Touristen unter Nikolaj I., in: The Image of the Baltic. A Festschrift for Niels Blomkvist, hrsg. by Michael F. SCHOLZ / Robert BOHN / Carina JOHANSSON, Visby 2012 (Gotland University Press 10), S. 101-110. Diese Bezeichnung ist dem Titel des wohl bekanntesten dieser Werke entnommen: Friedrich Christian WEBER, Das veränderte Russland. 3 Teile, Frankfurt / Leipzig, 1738–1740;
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Hinwendung zu abendländischen staatsrechtlichen Spielregeln. Nein, auch die unmittelbaren Nachbarn Russlands, die in seinem Expansionsraum lagen, wurden immer wieder mit der Idee konfrontiert – ich wiederhole noch einmal das Zitat – „da ließe sich ein Pakt, / und sicher wohl, mit Euch, ihr Herren, schließen.“ *** Die Kapitulationen mit den baltischen Ständen – Vorbild oder Auslaufmodell? Dieser Frage will ich im Hinblick auf Finnland nachgehen. Dort nämlich stellte sich die Frage ganz natürlich: eine echte Detente zwischen Schweden und Russland hatte der Frieden von Nystad (finn. Uusikaupunki), nicht geschaffen, wie die beiden Revindikationsversuche 1741 und 1788 zeigen. Wenn die Auseinandersetzung anhielt, würde sie auf finnischem Boden geführt werden und bei einer Niederlage Schwedens mit dem Besitzwechsel von finnischem Boden enden. Natürlich steht als Bezugsdatum sofort das Jahr 1809 im Raum, als ganz Finnland zum Russischen Reich kam und eine ähnliche Rechtszusicherung erlebte wie die Ostseeprovinzen fast 100 Jahre zuvor. Dies geschah wie 1710 ebenfalls noch mitten im Krieg ohne Einbeziehung Schwedens in den Vorgang5. Aber dass dies so reibungslos funktionierte, wirft die Frage auf, inwieweit die Vorgänge von 1710 den Weg für diese Lösung auch in Finnland geebnet haben könnten. Allerdings geht es nicht um Kapitulationen in dem von Jürgen von Ungern-Sternberg definierten Sinn6, sondern eher um die allgemeine Rechts- und Statuszusicherungen. Direkte Belege dafür sind selten, aber auch nicht eifrig gesucht worden. Die spätere Entwicklung der Autonomie Finnlands hat sich gegenüber dem Weg der Ostseeprovinzen als erfolgreicher erwiesen. Ein Rückbezug auf ein
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über diese Art Russlandliteratur insgesamt siehe Eckhard MATTHES, Das veränderte Rußland: Studien zum deutschen Rußlandverständnis im 18. Jahrhundert zwischen 1725 und 1762, Frankfurt/M. u.a. 1981 (Europäische Hochschulschriften R. 3, 135). Neben den zahlreichen neuen Forschungen von finnischer Seite anlässlich des „Gedenkjahres“ 2009 (www.1809.fi) liegt ein informativer Sammelband zu mehreren Veranstaltungen in Deutschland aus diesem Anlass vor: 1809 und die Folgen: Finnland zwischen Schweden, Russland und Deutschland, hg. v. Jan HECKER-STAMPEHL u.a., Berlin 2011 (Schriftenreihe des Finnland-Instituts in Deutschland 12). Siehe den Beitrag von Jürgen von UNGERN-STERNBERG in diesem Band.
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„baltisches Vorbild“ lief demzufolge der Ratio des finnischen Staatsdenkens zuwider. Trotzdem lässt sich eine ganz konkrete Erfahrung Finnlands mit der baltischen Autonomie vor 1809 nachweisen, und zwar in dem 1710 eroberten und 1721 abgetretenen Gebiet um Wiborg (finn. Viipuri, russ. Vyborg) und Kexholm (finn. Käkisalmi, russ. früher Korela, heute Priozersk). Dies war dem Russischen Reich zunächst als Festungskommandanturbezirk angegliedert worden, hatte also keine Zivilverwaltung. Andererseits instruierte Peter der Große seine Kommandanten, nicht nur – wie in Nystad vertraglich zugesichert – die lutherische Religion der Bevölkerung, sondern auch ihre sonstigen angestammten Rechte zu respektieren. Unter dieser Prämisse nahmen die lokalen Institutionen der Region ihre Arbeit wieder auf, und so oft auch die Kommandanten dieses Gebot missachteten, so rückte doch die Krone Russlands im Grundsatz nicht davon ab7. Als der Militärkommandant um 1730 zum Schiedsrichter im Streit um die korrekte Besetzung des Wiborger Magistrats werden musste, endete dies mit der Anerkennung des Wahlmodus aus der schwedischen Zeit. Diese Entscheidung wurde jedoch im Justizkollegium für Liv- und Estländische Angelegenheiten des Senats entschieden, einem Gremium, dem traditionell ein Deutschbalte vorstand. 1735 wurden dessen Kompetenzen und sein Name erweitert: seitdem war das Justizkollegium für Liv-, Est- und Finnländische Angelegenheiten das oberste Gericht auch für die Wiborger Region, die später die Bezeichnung „das Alte Finnland“ erhielt8. Dieses Gericht wehrte das gesamte 18. Jahrhundert hindurch mehrfach Versuche russischer Grundbesitzer ab, auf den Gütern, die ihnen die Zaren als Donation verliehen hatten, einseitig die Steuerlast für die Bauern nach russischem Muster zu erhöhen. Es schien, als werde das Alte Finnland, nur weil es auch 1710 erobert worden war, hinsichtlich des Fortgeltens des Rechts den Ostseeprovinzen gleichgestellt9. Paradoxerweise verhinderten ———————————— 7
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Vgl. Raimo RANTA, Viipurin komendanttikunta [Der Kommandanturbezirk Wiborg] 1710–1721, Helsinki 1987 (Historiallisia tutkimuksia 141), u.a. S. 291 ff. Vgl. Erik AMBURGER, Die Geschichte der Behördenorganisation in Rußland von Peter dem Großen bis 1917, Leiden 1966 (Studien zur Geschichte Osteuropas 10), S. 169 f., 174 f. u. 453 ff. Mit der ausdrücklichen Begründung, dass den Provinzen Livland und Estland ihre alten Rechte bestätigt worden waren, hieß es in einem Beschluss der Wiborger Gouvernementskanzlei, dass die Magistratswahlen nach den schwedischen Bestimmungen von 1693 durchzuführen seien. Siehe Viipurin kaupungin historia [Geschichte der Stadt Wiborg]. Teil 3: 1710–1812, Helsinki 1975, S. 165.
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dieselben Kräfte, die im Baltikum die Leibeigenschaft vollendeten, deren Einführung im Alten Finnland. Offenbar muss die Verteidigung des Systems zugesicherter Rechte höhere Priorität gehabt haben als die „Klassensolidarität“ mit dem Altfinnländer Neuadel10. Allerdings löste sich diese Widerstandslinie gerade im Jahrzehnt vor dem Übergang ganz Finnlands auf, und dies führte dazu, dass das Alte Finnland in der innerfinnischen Diskussion als warnendes Beispiel dafür diente, sich nicht auf eine einfache Provinzialautonomie einzulassen11. Die gute Praxis hatte aber im 18. Jahrhundert auch ihr positives Echo gehabt. Ein Informationskanal waren die Pfarrer des Alten Finnland, die noch immer an der Universität Åbo (finn. Turku) ausgebildet wurden und dadurch ein lebendiges Bindeglied zwischen schwedischem und russischem Finnland bildeten12. *** Es ist nicht untersucht, ob das glimpfliche Los des Alten Finnland im Russischen Reich einen Einfluss darauf gehabt hat, dass der schwedisch gebliebene Teil Finnlands im Jahre 1742 einen Versuch unternahm, das Beispiel der Deutschbalten nachzuahmen13. Bekanntlich hatte die Adelspartei Schwedens in dem damals bestimmenden Reichstag mit unzureichenden Mitteln 1741 einen Krieg mit Russland begonnen. Durch das Scheitern der erhofften Bündniskonstellationen drohte die Besetzung ganz Finnlands durch russi———————————— 10
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Beispiele bei Jyrki PAASKOSKI, Vanhan Suomen lahjoitusmaat [Die Donationsgüter des Alten Finnland], Helsinki 1997 (Bibliotheca historica 24), S. 172–208; vgl. auch die ausführliche Rezension von Eljas ORRMAN, En nytolkning av donationsböndernas situation i Gamla Finland [Eine Neuinterpretation der Lage der Donationsbauern im Alten Finnland], in: Historisk tidskrift för Finland 83 (1998), S. 162–168, hier S. 166 f. Dazu im Detail Edgar HÖSCH, Adelsrechte und Bauernfreiheit in Altfinnland, in: Pro Finlandia 2001: Festschrift für Manfred Menger, hg. v. Fritz PETRICK / Dörte PUTENSEN, Reinbek 2001, S. 83–103. Zur Frage der Kontinuität zwischen den Autonomien des Alten und des Neuen Finnland grundlegend Frank NESEMANN, Ein Staat – kein Gouvernement: die Entstehung und Entwicklung der Autonomie Finnlands im russischen Zarenreich 1808–1826, Frankfurt/M. u.a. 2003 (Europäische Hochschulschriften R. 3, 949). Grundlegend dazu Maija RAJAINEN, Luterilaisuus Venäjän valtikan alaisena [Luthertum unter russischem Zepter], Helsinki 1972 (Suomen kirkkohistoriallisen seuran toimituksia 87), S. 106 ff. Zum Folgenden siehe Arno Rafael CEDERBERG, Turun maakuntapäivät 1742 [Der Provinzial-landtag von Turku 1742], in: Historiallinen Aikakauskirja 33 (1935), S. 199–217; DERS., Vaasan maakuntakokous 1742 [Die Provinzialversammlung von Vaasa 1742], in: Historiallinen Arkisto 50 (1944), S. 127–150, Dt. Ref. S. 151 f.
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sche Truppen. Dem schickte die neue Zarin Elisabeth ein Manifest voraus, das dem Land Schonung und den Einwohnern Erhaltung ihrer Rechte versprach, wenn es keinen Widerstand leiste, und Hilfe, sich von Schweden selbständig zu machen. Als die Besetzung unter diesen Umständen geglückt war und sowohl in Vaasa als auch später im Herbst 1742 in Turku die Vertreter der vier Stände des westlichen Finnland zu Rumpflandtagen einberufen wurden, ging es von russischer Seite freilich nur noch um konkrete Bedürfnisse und Leistungen des Landes. Es war nur noch die finnische Seite, die an den Gedanken der Unabhängigkeit des Landes erinnerte, und der Landtag von Turku wollte sie, symbolisiert durch die Wahl des späteren Zaren Peter III. zum Großfürsten von Finnland, über eine Delegation zur Zarin zur Sprache bringen. Allerdings war die Entwicklung darüber hinweggegangen: Elisabeth machte Peter nun zum Kronprinzen für Russland, konnte Schweden den Lübecker Fürstbischof Adolf Friedrich als König aufdrängen und war dafür zur Rückgabe der besetzten Gebiete bis auf den Städtegürtel FredrikshamnWillmanstrand-Nyslott (finn. Hamina-Lappeenranta-Savonlinna) bereit. Die Denkfigur eines selbständigen Finnland unter Rechtzusicherung und Protektorat Russlands verschwand jedoch nicht mehr aus den Köpfen der finnischen Führungsschicht. Auch erhielten die von Russland neu hinzugewonnenen Gebiete zusammen mit den 1710 eroberten durch ein von dem Deutschbalten Balthasar von Campenhausen erarbeitetes Reglement den Gouvernementsstatus, in dessen Rahmen sich eine deutschsprachige Selbstverwaltung entwickelte. Wiborg und Kexholm wehrten sich freilich gegen die Einführung des 1734 erarbeiteten schwedischen Gesetzbuches. Sie bestanden darauf, dass ihnen der Status von 1721, mit u.a. den Gesetzen aus der Zeit König Christophs von Bayern (15. Jh.) zustehe – weil dies ihnen ermöglichte, die Konkurrenz der neu hinzugekommenen Städte abzuwehren. Trotzdem waren es die schwedischen Gesetze, gleich welcher Zeit, die zum mit den finnischen Gebieten eingekauften Reformpotential für Russland gezählt wurden: Stolz berichtete Gouverneur Nikolai von Engelhardt Katharina der Großen 1767: Das Volck [...] ist vermöge der eingeführten Schwedischen Rechte [...] ein freies Volck, jedoch ist diese Freyheit durch die Gesetze [...] also einge-
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schräncket, dass es weder sich selbst [...] noch dem Allgemeinen schaden kann14.
Offenbar erfuhr nicht die baltische Selbstverwaltung, wie sie in den Kapitulationen ihren Anfang genommen hatte, sondern die bescheidene finnische Autonomie eine höhere Bewertung als Modell. Das zeigt sich in der unterschiedlichen Rezeption der 1784 eingeführten Statthalterschaftsverfassung in beiden Gebieten. Eine der Rechtfertigungen Russlands für den Erhalt der angestammten Rechtsordnung war ja immer gewesen, dass man die respektierten Freiheiten, wenn die Zeit reif war, auf das Reich ausdehnen könne – und zwar modernisiert und vereinheitlicht. Das wurde von russischer Seite nicht als Bruch von Zusicherungen angesehen, solange die Qualität der Freiheiten nach der Reform nicht hinter der in den Rechtszusicherungen zurückblieb. Da die Statthalterschaftsverfassung insgesamt Beteiligungsrechte erweiterte, ließ Katharina keine Beschwerde dagegen gelten, dass Freiheiten wie die 1710 zugesicherten nun weniger exklusiv waren15. Da im Alten Finnland keine starke privilegierte Schicht übriggeblieben war, lief diese Erweiterung dort reibungslos ab – wie überhaupt die Reformen Katharinas in ihrer ganzen Breite bis bin zum Normalschulwesen und zur Frauenbildung nur dort durchgeführt wurden16. Auf die bekannte Anjala-Verschwörung im Krieg von 1788 bis 1790 muss hier nur am Rande eingegangen werden. Denn zum Kern unseres Themas, den Rechtszusicherungen, ist man damals kaum vorgedrungen. Die teilnehmenden Offiziere aus Finnland im schwedischen Heer hofften, dass Russland im Gegenzug dafür, dass sie den ungesetzlichen Angriffskrieg vereitelten, Finnlands Selbständigkeitsbestrebungen militärisch absichern würde. Zarin Katharina stellte sich zwar wie ihre Vorgängerin einen finnischen Rumpflandtag als Gegenüber vor, aber über Verfassungspositionen wurde noch gar nicht gesprochen. Das mögliche baltische Vorbild aber war durch die endgültige Konsolidierung der Leibeigenschaft in den Ostseeprovinzen in den 1740er Jahren in Finnland desavouiert: Gabriel Porthan, der erste ———————————— 14
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Nikolai Henrik ENGELHARDT, Die Beschreibung des russisch käyserlichen (!) Gouvernements von Wiburg (1767), hg. v. Sulo HALTSONEN, Helsinki 1973 (Suomen historian lähteitä 8), S. 12. Vgl. Janet M. HARTLEY, Införandet av ståthallerskapsförfattningen i Gamla Finland [Die Einführung der Statthalterschaftsverfassung im Alten Finnland], in: Historisk tidskrift för Finland 67 (1982), S. 78–100. Vgl. z.B. beispielhaft Maija RAJAINEN, Vanhan Suomen koulut 1: Normaalikoulut [Die Schulen des Alten Finnland 1: Die Normalschulen], Helsinki 1940 (Historiallisia tutkimuksia 40).
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finnische Wissenschaftler von europäischem Renommee, verurteilte solche Verträge mit Russland als den Traum von „vier bis sechs adligen Windbeutel(n), welche hofften, auf diese Weise zu Herren ihrer Landsleute zu werden und diese, wie in Livland, zu Sklaven machen zu können“17. Auf die Einzelheiten der Angliederung Kurlands, des dritten Teiles des mittelalterlichen livländischen Ordensstaates mit seinem deutschen Adel, an Russland bei der dritten Teilung Polens im Jahre 1795 gehe ich nicht näher ein. Hier ging eine bedingungslose Unterstellung unter den neuen Souverän Russland – statt des verloren gegangenen Souveräns Polen – einer einseitigen Rechtszusicherung durch die Zarin voraus, und sie unterstellte auch Kurland der Statthalterschaftsverfassung. Paul I. aber, der sofort fast alle Reformen seiner Mutter zurücknahm, restituierte auch Kurland seine alten Rechte – die es so ja gar nicht gehabt hatte. Trotzdem galten die drei deutsch geprägten Provinzen seitdem als zu gleichen Bedingungen im Russischen Reich autonom und erhielten 1801 einen gemeinsamen Generalgouverneur – die Denkfigur der Kapitulationen besaß also noch Ausstrahlung genug. *** In der turbulenten Zeit der Napoleonischen Kriege geschahen vor der Entscheidung über Finnlands Schicksal im Jahr 1809 im Alten Finnland noch zwei Dinge von Tragweite. Einerseits wurde die Region durch die Unterstellung unter den Erziehungsdistrikt der Universität Dorpat und der Gründung des deutschsprachigen Wiborger Gymnasiums noch ein Stück mehr „Russlands vierte baltische Provinz“. Andererseits änderte sich die Rechtsprechung der Petersburger Obergerichte in der Donationsbauernfrage, so dass ein Teil der Bauernschaft in die Leibeigenschaft abzugleiten drohte. Zwei Kommissionen berieten über Verbesserungen, wobei die Abschaffung der bescheidenen Autonomie drohend im Raum stand18. ———————————— 17
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Zitiert (in meiner Übersetzung) nach Suomen historian käsikirja [Handbuch der Geschichte Finnlands]. Osa 1, hg. v. Arvi KORHONEN, Helsinki 1949, S. 644. – Zur Verschwörung von Anjala siehe auch Aleksej L. NAROČINSKIJ, Venäjä ja Anjalan liitto [Russland und der Anjalabund], in: Historiallinen Aikakauskirja 64 (1966), Anlage, S. 24–39; Yrjö BLOMSTEDT, Den finländska självständighetstanken på 1780-talet – ideologie eller politisk spekulation [Der Selbständigkeitsgedanke in Finnland in den achtziger Jahren des 18. Jh. – Ideologie oder politische Spekulation?], in: Historisk tidskrift för Finland 50 (1965), S. 268–299. Hierzu kürzlich Anna JÄRVINEN, ‘Old Finland’ on the path of integration, in: Zweihundert Jahre deutsche Finnlandbegeisterung, hg. v. Robert SCHWEITZER, Berlin 2010
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Mit dem Beginn des russischen Zwangskrieges gegen Schweden im Februar 1808 wiederholten sich äußerlich gesehen die Abläufe von 1741/42 wie in einem déjà-vu-Erlebnis: wieder erfolgte schon ganz am Anfang der Kampfhandlungen eine Zusicherung der angestammten Rechte und die Aussicht auf Einberufung eines Landtages im Austausch gegen Verzicht auf irregulären Widerstand19. Dadurch konnte Südfinnland wieder schnell besetzt werden, und der Landtag sollte nun nur noch den Treueid leisten. Im Sommer verschlechterte sich jedoch die Lage der Russen, und es durfte doch eine Deputation gewählt werden, die nun auch tatsächlich nach St. Petersburg reisen konnte, um über die Bedürfnisse des Landes Auskunft zu geben. Da für Finnland noch keine hoffnungslose Situation bestand, stieß der Einwand der Deputierten, nicht für das Land sprechen zu dürfen und wieder den Landtag zu fordern, auf Resonanz. So war einerseits die Einigung über den Übergang Finnlands zu Russland zum Greifen nahe, hing aber von der Einberufung eines echten Rumpflandtages von Finnland ab. Formal fand zwischen Delegation und Zar trotzdem eine Art Kapitulation statt, indem die Deputierten eine Liste von Wünschen aufstellte, die dann punktweise genehmigt wurden – nur, dass sie nicht die wesentlichen Fragen von Landtag und Rechtszusicherung betrafen, sondern praktische Maßnahmen zur Linderung der Kriegslasten. Alexander I. berief die Stände Finnlands ein und begab sich in Person im März 1809 nach Borgå (finn. Porvoo). In keiner Phase wurden die zu erhaltenden Rechte Finnlands explizit in Punkten aufgeführt, sondern der Zar versprach global die Erhaltung der Standesprivilegien, darunter die Bauernfreiheit, und der Rechtsordnung20. So fielen Generalkonfirmation und Huldigung in einen Akt zusammen. In vielem orientierte sich das Zeremoniell ————————————
19
20
(Schriftenreihe des Finnland-Instituts in Deutschland 11; Veröffentlichungen der AueStiftung 25), S. 35–54. Vgl. den anlässlich des 200jährigen Jubiläums des Friedensschlusses erschienenen Kongressband Rossija i Finljandija v 1808–1809 godach [Russland und Finnland in den Jahren 1808–1809], hg. v. Timo VICHAVAJNEN [Vihavainen] / Evgenij CHEJSKANEN [Heiskanen], Sankt-Peterburg 2010. Zu der staatsrechtlichen Bedeutung des Landtags von Porvoo als eines alteuropäischen Huldigungsakts schon grundlegend Osmo JUSSILA, Maakunnasta valtioksi [Vom Kronland zum Staat], Porvoo 1985, S. 13–41, 54–58; aktualisiert in DERS., Suomen suuriruhtinaskunta [Das Großfürstentum Finnland], Helsinki 2004, S. 47–80 (russ. Ausgabe: Velikoe knjažestvo Finljandskoe, Helsinki 2009). Jussila betont freilich die prozedurale und formale Nähe der Verhandlungen der Deputation zu den Vorgängen von 1710 und nennt die Vorgänge in Anführungszeichen „Kapitulationsvertrag“ (kapitulaatiosopimus). Ebenda, S. 7 und 67 ff.
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an den Huldigungen an den König von Schweden, aber es gab auch eine deutliche Verbindung zum Akt von 1710. Damals hatte sich Peter der Große nicht selbst an den Ort bemüht, aber Marschall Šeremetev war mit allen Herrschaftssymbolen ausgestattet, unter anderem einem leeren Thron, was symbolisch von demselben Wert wie die Anwesenheit des Herrschers war. Der beim Akt von Porvoo verwendete Thron hatte eine ausgefeiltere Symbolik, insofern als er imperiale – den Doppeladler – und lokale Symbole – den Löwen – trug. Darin lag aber bei aller Parallelität ein kleiner, aber bedeutsamer Unterschied, den der § 4 der Grundgesetze Russlands 1833 folgendermaßen festschrieb: „Von dem Thron des Russischen Kaiserreichs sind untrennbar der Thron des Königreichs Polen und des Großfürstentums Finnland“21. In dieser deutlichen Weise spiegelte sich die baltische Autonomie, obwohl sie 1833 noch uneingeschränkt existierte, weder in den Grundgesetzen noch in der kurzen Kaisertitulatur wider: „Wir, N.N., von Gottes Gnaden Kaiser von Russland, König von Polen, Großfürst von Finnland usw., usw.“22. Auffällig ist, dass es der russischen Seite daran gelegen war, Huldigung und Rechtszusicherungen mit einem Gegenüber auszutauschen, das zweifelsfrei für das Land sprechen konnte, so dass die Befriedung im laufenden Krieg erfolgreich sein konnte. So versprach man sich eine vertrauensbildende Wirkung des schon erfolgreich praktizierten Rituals, füllte es aber inhaltlich in deutlicher Abhängigkeit von der militärischen Situation einerseits und den übergeordneten Plänen im Umgang mit den neuerworbenen Gebieten andererseits. In der Tat liefen in den entscheidenden Jahren 1808 bis 1812 die Intentionen verschiedener Akteure noch parallel, die – wie Eisenbahngleise am Ausgang des Bahnhofs – dann in verschiedenste Richtungen abbogen. Michail M. Speranskij, der Architekt der finnischen Sonderstellung, wollte sie als ein schon fertiges Modellteil für ein System von Regionalautonomien in den heterogenen Teilen des Russischen Reiches erhalten. Diese sollten gemeinsam mit anderen Großregionen Russlands eine übergeordnete Kammer beschicken – wodurch die Heterogenität des Reichs ins Positive umgedeutet Quelle eines Systems von checks and balances wurde, das in eine Verfassung ———————————— 21
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Vgl. hierzu Kesar Filipovič ORDIN, Pogrešnost’ redakcii 4-j statej toma I Svoda Zakonov Osnovnych [Ein Versehen bei der Redaktion des 4. Artikels des ersten Bandes der Sammlung der Reichsgrundgesetze], in: Russkij Vestnik 1888, Nr. 2, S. 376–380. Z.B. in Storfurstendömet Finlands Författnings-Samling [Verordnungssammlung des Großfürstentums Finnland] 1861, Nr. 6, S. 1.
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einmünden konnte23. Da dieses Modell aber unabdingbar die Vorstellung beinhaltete, dass über der Autonomie Finnlands eine gesamtstaatliche Sphäre existierte, war der andere große Günstling Alexanders I., der Finnländer Gustav Mauritz Armfelt, bemüht, dies zu verhindern. Er wirkte am Sturz Speranskijs mit und konzentrierte seinen Einfluss darauf, dass das spätabsolutistische System des gustavianischen Schweden in Finnland fortlebte, als sei der Zar nur in die Rechte des Königs von Schweden in Finnland eingetreten. Das bedeutete eine Abkehr vom baltischen Modell in zwei Punkten: die Hoffnungen auch finnischer Adliger, der Zar werde ihre Freiheiten erweitern, zerschlugen sich24. Sie hatten unter Gustav III. zweimal vor geladenen Kanonen verhandeln müssen, während in den Ostseeprovinzen nicht einmal ein Vertreter der Regierung das Ständelokal betreten durfte. Aber das Großfürstentum Finnland kannte wie das gustavianische Schweden keine Pflicht des Monarchen zur Einberufung der Stände, denn das war die Brücke gewesen, über die die Autokratie gehen konnte. Aber dafür hatte es – anders als die Ostseeprovinzen – einen kompletten und den russischen Kronsbehörden völlig entzogenen Verwaltungsapparat mit Spitzenbehörde und Obergericht im eigenen Land. Damit war Finnland „in einer anderen Liga“, und die Wiederangliederung des Alten Finnland an das sogenannte neue – das neu eroberte – war die logische Konsequenz; das baltische Modell hätte die Region nicht vor dem „Weg der ärgeren Hand“ retten können. *** Dieses klare Bewusstsein zeigte sich in den verschiedenen Reaktionen auf die Kodifizierung der noch existierenden regionalen Gesetze des Kaiserreichs seit den 1830er Jahren. Die Ostseeprovinzen wirkten aktiv daran mit, um end———————————— 23
24
Vgl. Peter SCHEIBERT, Eine Denkschrift Sperankijs zur Reform des Russischen Reiches aus dem Jahre 1811, in: Forschungen zur osteuropäischen Geschichte 7 (1959), S. 26–58; allgemein zu diesen „föderativen“ Überlegungen Plans for Political Reform in Imperial Russia 1730–1905, hg. v. Marc RAEFF, Englewood Cliffs, N.J., 1966, S. 110–120. Ein typologisches Raster der Überlegungen, die dem Erhalt heterogener Strukturen in den Randgebieten des Russischen Reichs zugrundelagen, bei Robert SCHWEITZER, Nordosteuropa: Ergebnis „unvollendeter Penetration“ oder „korrekten Nachfolgestaatsverhaltens“, in: Nordosteuropa als Geschichtsregion (wie Anm. 3), S. 378–391, hier S. 383. Eine kritische Auseinandersetzung mit dem „Modellgedanken“ bei Janet HARTLEY, The “Constitutions” of Finland and Poland in the Reign of Alexander I: Blueprints for Reform in Russia?, in: Finland and Poland in the Russian Empire, hg. v. Michael BRANCH u.a., London 1995 (SSEES Occasional Papers 29), S. 41–59, bes. S. 52 ff. JUSSILA, Maakunnasta (wie Anm. 20), S. 38–41.
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lich auf ein vom Zaren gebilligtes geschlossenes Gesetzeswerk verweisen zu können25. Die Finnen hintertrieben mit Erfolg das Unternehmen, weil die von ihnen erstrebte staatsähnliche Autonomie nur zu behaupten war, wenn ihre Quelle ein Rechtsdokument von außerhalb der Sphäre der Autokratie, also die global bestätigten Gesetze Schwedens, blieb26. So kehrten sich die Verhältnisse um: hatten 1809 noch die Rechtszusicherungen von 1710 wie ein Modell gewirkt, so gewann Finnland im Denken der baltischen Provinzen den Charakter eines Ideals. Von dem Letten Kaspars Biesbardis über die liberalen baltischen Literaten – um mit Reinhard Wittram zu sprechen – bis zu dem erzkonservativen adligen Emigranten Woldemar von Bock sahen sie die Erweiterung der politischen Mitwirkung über den Adel hinaus und die Einheitlichkeit einer einheimischen Verwaltung als den einzigen Ausweg aus dem Druck durch Russland an27. Dieser Ausweg blieb versperrt – die Mehrheit des Adels konnte nicht über ihren Schatten springen, und es bleibt ebenso fraglich, ob die russische Regierung eine solche Konsolidierung zugelassen hätte28 – im Falle Polens hatte sie sie ja auch verhindert. Von daher hätte das Denkmodell einer „Baltischen Parallele“ gar nicht mehr aufkommen sollen. Aber die Vorstellung, baltische und finnische Autonomie seien in ihrer Entstehung, Blüte und Bedrohung durch Russland ähnlich, gewann am Ende des 19. Jahrhunderts Raum und hielt sich weitere hundert Jahre in der Geschichtsschreibung. Sie hatte zwei Quellen. Der russische Offizier Michail Borodkin, durch eine Mutter von den Ålandinseln des Schwedischen mächtig und der Finnlandexperte des russischen Militärs, empfahl sich Anfang der 1890er Jahre durch eine Broschüre „Baltijskaja Finljandija i Finljandskaja Pribaltika“29. Er nutzte die Furcht, dass die deutsch ———————————— 25
26
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29
Vgl. Reinhold Baron STAEL VON HOLSTEIN, Die Kodifizierung des baltischen Provinzialrechts, in: Baltische Monatsschrift 52 (1901), S. 185–208, 249–280 u. 305–358. Osmo JUSSILA, Finnland in der Gesetzeskodifikation zur Zeit Nikolajs I., in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 20 (1972), S. 24–41. Die einzelnen Meinungen sind analysiert bei Robert SCHWEITZER, Die „Baltische Parallele“: Gemeinsame Konzeption oder zufällige Koinzidenz in der russischen Finnland- und Baltikumpolitik im 19. Jh.?, in: Zeitschrift für Ostforschung 33 (1984), S. 551–577. Dieses Dilemma klingt immer wieder in den Forschungen Gert von PISTOHLKORS an, z.B. in: Das „Hineinragen“ ständischer Strukturen in die sich modernisierende baltische Region: die gescheiterte ständische Justizreform in den 1860er Jahren, in: DERS., Vom Geist der Autonomie, Köln 1995, S. 43–54 (Original 1992). G. ABOV [d.i. Michail Michailovič BORODKIN], Baltijskaja Finljandija i Finljandskaja Pribaltika [Baltisches Finnland und finnländisches Baltikum], Moskva 1894. Borodkin greift hier das bereits von Jurij Samarin verwendete Wortspiel auf – kehrt aber die Stoßrichtung
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geprägten Ostseeprovinzen ein Brückenkopf des vereinigten Deutschland für eine Bedrohung Russlands werden konnten, um durch die Gleichsetzung beider Autonomien die Einschränkung der finnischen Sonderstellung als ebenso große Gefahrenquelle zu fordern. Umgekehrt begannen deutschbaltische Publizisten, die ersten Anzeichen für ein containment der finnischen Autonomie als Wiederholung des Abbaus ihrer Autonomie in den 1870er und 1880er Jahren anzuprangern. Hatte man bisher in der Weltöffentlichkeit der Reformunfähigkeit und Antiquiertheit der baltischen Autonomie Mitschuld an ihrer Krise zugesprochen, so musste dieses Argument entfallen, wenn eine so vorbildliche, reformfreudige Autonomie wie die finnische ebenfalls ins Fadenkreuz des russischen Zentralismus geriet. Da Finnland auch einen Ständelandtag hatte, allerdings einen mit vier Kammern (Adel, Geistlichkeit, Bürger und Bauern!), klagte man Russland wegen des Angriffs auf ständische Autonomien an30. Während die russische Position mit dem Zarenreich verschwand, hat in der westlichen Historiografie die „Baltische Parallele“ lange eine große Rolle gespielt, war aber nicht von der Genese, sondern von dem Abbau der Autonomien her konzipiert.
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um; Samarin polemisierte 1868 noch dagegen, dass die Ostseeprovinzen die wesentlich stärkeren Autonomierechte Finnlands zu usurpieren suchten – die damit selbst noch gar nicht in Frage gestellt waren. Jurij SAMARIN, Okrainy Rossii [Die Grenzmarken Russlands], ser. 1, vyp. 1, Prag 1868, S. 185 f.: „Eines schönen Morgens wird Russland erwachen und anstelle von Livland, Estland und Kurland die Wiege eines […] ‚Baltischen Finnland‘ erblicken.“ (Meine Übersetzung, R. Sch.). Hermann von SAMSON-HIMMELSTJERNA, Russland unter Alexander III., Leipzig 1891, S. 148 u. 180.
Über die Autorin und die Autoren ANDRES ANDRESEN ist Senior Researcher am Institut für Geschichte und Archäologie der Universität Tartu. Er studierte Geschichte an den Universitäten Tartu und Tübingen und promovierte 2004 in Tartu mit einer Arbeit, die unter dem Titel Eestimaa kirikukorraldus 1710–1832. Riigivõimu mõju institutsioonidele ja õigusele [Estlands Kirchenverfassung 1710–1832. Der Einfluss der Staatsmacht auf Institutionen und Recht] (Tartu 2008) veröffentlicht wurde. Er ist Mitautor der Gesamtdarstellung Eesti ajalugu V. Pärisorjuse kaotamisest Vabadussõjani [Estnische Geschichte V. Von der Abschaffung der Leibeigenschaft zum Freiheitskrieg] (Tartu 2010). Seine zahlreichen Veröffentlichungen befassen sich mit Problemen der Staats-, Institutions-, Rechts- und Kirchengeschichte in der frühneuzeitlichen und neuzeitlichen baltischen Region (Estland, Livland, Kurland). E-Mail: [email protected] LARS BJÖRNE war von 1979 bis 2012 Professor für Römisches Recht und Rechtsgeschichte an der Universität Turku, Finnland. Er promovierte 1977 mit einer Arbeit über die politischen Prozesse gegen Kommunisten und Sozialisten am Hofgericht Turku 1918 bis 1939 („... syihin ja lakiin eikäa mielivaltaan ...“: Tutkimus Turun hovioikeuden poliittisista oikeudenkäynneistä vuosina 1918–1939, Turku 1977). Als Humboldt-Stipendiat in München schrieb er eine Studie über „Deutsche Rechtssysteme im 18. und 19. Jahrhundert“, die in den „Münchner Abhandlungen zur rechtswissenschaftlichen Grundlagenforschung“ erschien (Ebelsbach 1984). An die Münchner Arbeit schlossen sich Monografien über „Nordische Rechtssysteme“ (Ebelsbach 1987) und über Nordische Rechtsquellenlehre (Nordisk rättskällelära: studier i rättskälleläran på 1800-talet [Nordische Rechtsquellenlehre: Studien und Rechtsquellen im 19. Jahrhundert], Lund 1991) an. Sein Hauptwerk ist eine Gesamtdarstellung der Geschichte der nordischen Rechtswissenschaft vom 16. Jahrhundert bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts in vier Bänden (Den nordiska rättsvetenskapens historia, Lund 1995–2007). Er arbeitet zurzeit an einer vergleichenden Darstellung des finnischen und norwegischen Nationalismus im 18. Jahrhundert, die im Frühjahr 2014 in der Reihe „Oslo Studies in Legal History“ erscheint. Seit 1990 wirkt er als Mitglied der Societas Scientiarum Fennica. Seit 2003 trägt er den Dr. jur. h.c. der schwedischen Universität Lund und seit 2011 auch den Dr. jur. h.c. der Universität Oslo. E-Mail: [email protected] KARSTEN BRÜGGEMANN ist Professor für estnische und allgemeine Geschichte am Historischen Institut der Universität Tallinn und zweiter Vorsitzender der Baltischen Historischen Kommission. Nach dem Studium der mittleren und neueren Geschichte sowie der Ostslawistik in Hamburg und Leningrad promovierte er 1999
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Über die Autorin und die Autoren
in Hamburg mit einer Studie über den russischen Bürgerkrieg im Baltikum („Die Gründung der Republik Estland und das Ende des ‚Einen und Unteilbaren Rußland‘“, Wiesbaden 2002). 2013 hat er sich mit einer Arbeit zum Bild der Ostseeprovinzen in der russischen imperialen Kultur an der Universität Gießen habilitiert. Seine Forschungsinteressen auf dem Gebiet der russischen/sowjetischen und baltischen Geschichte umfassen die Revolutions- und Unabhängigkeitskriege der Jahre 1917–1920, die Kulturgeschichte des Stalinismus und der späten Sowjetunion, nationale Narrative und Erinnerungskulturen sowie die Geschichte des Sports und des Tourismus. Aus seiner Feder stammen eine Analyse der musikalischen Massenkultur in der UdSSR („Von Sieg zu Sieg, von Krieg zu Krieg“, Hamburg 2002), eine Geschichte Tallinns (mit Ralph Tuchtenhagen, Köln etc. 2011; estn. Tallinn 2013) sowie zahlreiche Artikel zur russischen und baltischen Geschichte. Gemeinsam mit Ralph Tuchtenhagen und dem Nordost-Institut Lüneburg gibt er zurzeit eine dreibändige Darstellung der baltischen Geschichte heraus. Er ist Mitherausgeber der „Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung“ und gemeinsam mit Mati Laur Herausgeber der „Forschungen zur baltischen Geschichte“. E-Mail: [email protected] MATI LAUR ist Professor für neuere Geschichte am Institut für Geschichte und Archäologie der Universität Tartu. Nach dem Geschichtsstudium in Tartu promovierte er das erste Mal 1987 zum sowjetischen cand. hist. (Upravlenie Pribaltijskimi gubernijami v period prosveščennogo absoljutizma [1762–1769] [Die Verwaltung der Ostseeprovinzen in der Zeit des aufgeklärten Absolutismus (1762–1769)]) und das zweite Mal 2000 zum PhD in der Republik Estland (Eesti ala valitsemine 18. sajandil [1710–1783] [Die Verwaltung des estnischen Gebietes im 18. Jahrhundert (1710–1783)], Tartu 2000). Seine wesentlichen Forschungsgebiete liegen auf dem Gebiet der baltischen Geschichte: die Politik des aufgeklärten Absolutismus, die Verwaltungsgeschichte (mit Schwerpunkt auf der „Guten Policey“) sowie das Thema der Bauernbefreiung. Er ist zusammen mit Karsten Brüggemann Herausgeber der Zeitschrift „Forschungen zur baltischen Geschichte“; er ist zudem Herausgeber und einer der Autoren des vierten Bandes des sechsbändigen Gesamtwerks Eesti ajalugu (Estnische Geschichte, Bd. 4: 1700–1819, Tartu 2003) und Verfasser zahlreicher Lehrbücher für allgemeine und estnische Geschichte. E-Mail: [email protected] MARJU LUTS-SOOTAK ist seit 2003 Professorin für Rechtsgeschichte an der juristischen Fakultät der Universität Tartu und seit 2012 Mitglied der Baltischen Historischen Kommission. Nach dem Studium der Rechtswissenschaft und Geschichte an der Universität Tartu vertiefte sie ihre wissenschaftliche Qualifikation und ihre Kontakte durch mehrfache Studien- und Forschungsaufenthalte in Deutschland, Schweden, Finnland und der Schweiz, u.a. als Gastprofessorin an den Universitäten Frankfurt/Main, Zürich und Helsinki. Mit ihrer rechtswissenschaftlichen Promotion Juhuslik ja isamaaline: F. G. v. Bunge provintsiaalõigusteadus (Zufällig und vater-
Über die Autorin und die Autoren
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ländisch. Die rechtswissenschaftliche Konzeption von F. G. von Bunge, Tartu 2000) wurde sie zur führenden Forscherin im Bereich des baltischen Provinzialrechts der Neuzeit. Ihre wichtigsten Forschungsfelder spiegeln sich in ihren Beiträgen zum Projekt des Max Planck-Instituts für europäische Rechtsgeschichte „Rechtskulturen des modernen Osteuropa: Traditionen und Transfers“, die Modernisierungsvorgänge und deren Hemmnisse in den baltischen Ostseeprovinzen im 19. Jahrhundert, die Juristenausbildung an der Universität zu Dorpat, die wissenschaftliche Behandlung des ostseeprovinziellen Privatrechts und die höchstrichterlichen Praxis des Zarenreichs behandeln. Von ihr stammen zahlreichen Beiträge zur Geschichte der baltischen und estnischen Rechtszeitschriften sowie zur baltischen und estnischen Kodifikationsgeschichte im 19. bis 21. Jahrhundert, von denen viele auch auf Deutsch verfasst sind. E-Mail: [email protected] PÄRTEL PIIRIMÄE ist Dozent für Geschichte am Institut für Geschichte und Archäologie der Universität Tartu und gleichzeitig Pro Futura Scientia Fellow am Swedish Collegium for Advanced Study, Uppsala. Nach dem Studium der Geschichte in Tartu und in Göttingen absolvierte er das Magisterstudium „History of Political Thought and Intellectual History“ an der Universität Cambridge und promovierte dort 2007 mit einer Dissertation über die Anwendung der Theorie des gerechten Krieges in frühneuzeitlichen Kriegslegitimationen (The Just War in Theory and Practice. Legitimations of Sweden’s Conflicts during the Great Power Period). In den Jahren 2003–2006 war er als Research Fellow am St. John’s College (Cambridge) tätig. Seit 2007 arbeitet er an der Universität Tartu und ist auch Herausgeber der Fachzeitschrift „Ajalooline Ajakiri. The Estonian Historical Journal“. Sein Hauptinteresse betrifft die europäische Ideengeschichte in der Frühneuzeit. Er hat zahlreiche Artikel in Zeitschriften und Sammelbänden über die frühneuzeitliche politische Philosophie, die Geschichte des Völkerrechts, der politischen Kultur und Propaganda sowie zur Verfassungsgeschichte, aber auch zur Geschichte der Universitäten und der Identitätsbildung im Ostseeraum publiziert. E-mail: [email protected] GERT VON PISTOHLKORS, geb. 1935 in Narva, war zuletzt Akademischer Direktor am Seminar für Mittlere und Neuere Geschichte der Georg-August-Universität Göttingen (pensioniert 2001). Nach dem Studium der Geschichte, Anglistik und Germanistik in München und Göttingen wurde er zunächst Studienrat in Rosenheim und 1967 Assistent von Reinhard Wittram (1902–1973) in Göttingen. Bei Rudolf von Thadden wurde er 1974 in Göttingen mit einer Arbeit über „Ritterschaftliche Reformpolitik zwischen Russifizierung und Revolution“ (Göttingen 1978) promoviert. Von 1979 bis 2007 war er Erster Vorsitzender der Baltischen Historischen Kommission (BHK), seit 2008 Ehrenmitglied. Seit 1980 gehört er dem J. G. Herder-Forschungsrat an, 1984–1996 Vorstandsmitglied, 1993–2005 Mitglied des Kuratoriums des Herder-Instituts Marburg. Mitherausgeber der „Zeit-
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Über die Autorin und die Autoren
schrift für Ostmitteleuropa-Forschung“ 1983–2007. Die Herausgabe des Bandes „Baltische Länder“ in der Reihe „Deutsche Geschichte im Osten Europas“ (Berlin 1994, überarb. Nachdruck 2002) sowie die Abfassung des Abschnitts über die Ostseeprovinzen zwischen 1710 und 1914 waren Voraussetzung für die Ehrendoktorwürde der Universität Tartu (1998) und die Ehrenmitgliedschaft in der „Gelehrten Estnischen Gesellschaft“ (2003). Er erhielt zwei Festschriften (1995 und 2005) und den Marienlandorden der Republik Estland Klasse III (1999). Er ist Auswärtiges Mitglied der Akademie der Wissenschaften Lettlands (1990). Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der baltischen Geschichte zwischen ca. 1700 und 1945 mit einem Nachdruck auf der Gruppe der Deutschbalten im 19. und 20. Jahrhundert und ihrer Historiografie. Zahlreiche Aufsätze in deutscher, und englischer Sprache und in estnischer und russischer Übersetzung. Mitherausgeber zweier Reihen der BHK (1982–2012). E-Mail: [email protected] ROBERT SCHWEITZER arbeitete bis zu seinem Ruhestand 2010 als Stellvertretender Direktor der Stadtbibliothek Lübeck, früher auch als Lehrbeauftragter für Osteuropäische Geschichte an den Universitäten Stuttgart und Hamburg. Nebenamtlich ist er seit 1991 Forschungsleiter der Aue-Stiftung (Helsinki), die Kontakte zwischen dem deutschsprachigem Mitteleuropa und dem europäischen Nordosten und deren historische Erforschung fördert. Er ist Vorstandsmitglied der Baltischen Historischen Kommission, Mitglied der Wiss. Kommission für die Erforschung der Deutschen in Russland und Korrespondierendes Mitglied einer Reihe wissenschaftlicher Gesellschaften in Finnland. Nach dem Studium der Slawistik und Geschichte in Marburg und Helsinki promovierte er 1978 mit einer Studie zur Stellung des autonomen Finnland im Zarenreich („Autonomie und Autokratie. Die Stellung des Großfürstentums Finnland im russischen Reich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts [1863–1899]“, Gießen 1978). Außer zur Grenzmarkenpolitik des Zarenreichs hat er kontinuierlich zur Rolle der Deutschen im nordosteuropäischen Migrationskontinuum gearbeitet (Sammelband „Finnland, das Zarenreich und die Deutschen“, Helsinki / Lübeck 2008). Zusammen mit Jörg Hackmann organisiert er seit 1995 die „Internationalen Symposien zur deutschen Kultur und Geschichte im europäischen Nordosten“ (sog. „Tallinner Symposien“). Er zeichnet für das Kapitel „Finnland 1848–1870“ im „Handbuch der europäischen Verfassungsgeschichte im 19. Jahrhundert“ verantwortlich und arbeitet an einer Biographie von Alexander Armfelt, 1842–1876 Ministerstaatssekretär für Finnland beim Zaren. E-Mail: [email protected] RALPH TUCHTENHAGEN ist Professor für Kulturwissenschaften am NordeuropaInstitut der Humboldt Universität zu Berlin. Er schloss seine Promotion 1992 an der Universität Freiburg ab und habilitierte sich 2001 an der Universität Heidelberg. Zu seinen Forschungsrichtungen zählen die (früh)neuzeitliche skandinavische, baltische und russische Geschichte sowie die Geschichte der Arktisregion, die euro-
Über die Autorin und die Autoren
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päische Historiografie und Erinnerungskulturen. Von ihm stammen Monografien zu religiösen Minderheiten im späten Zarenreich („Religion als minderer Status“, Frankfurt am Main 1995) und die Interaktion zwischen Provinzen und frühneuzeitlichen Staaten im Ostseeraum („Zentralstaat und Provinz im frühneuzeitlichen Nordosteuropa“, Wiesbaden 2008); eine Reihe von Gesamtdarstellungen der Geschichte der baltischen Länder, Schwedens und Norwegens (München 2005–2009); sowie Geschichten von Vilnius (mit Joachim Tauber, Köln 2008) und Tallinn (mit Karsten Brüggemann, Köln 2011). Zurzeit bereitet er mit Karsten Brüggemann und dem Nordost-Institut Lüneburg ein Handbuch der Geschichte der baltischen Staaten zur Publikation vor. E-Mail: [email protected] JÜRGEN VON UNGERN-STERNBERG war Professor für Alte Geschichte an der Universität Basel (1978–2007). Nach dem Studium von Geschichte und Latein in München und Freiburg i.Br. promovierte er 1968 an der Universität München mit der Arbeit „Untersuchungen zum spätrepublikanischen Notstandsrecht. Senatusconsultum ultimum und hostis-Erklärung“ (München 1970). 1974 habilitierte er sich in Erlangen mit der Arbeit „Capua im Zweiten Punischen Krieg. Untersuchungen zur römischen Annalistik“ (München 1975). Seine Forschungsinteressen waren zunächst die Geschichte der römischen Republik und die römische Geschichtsschreibung und die frühe griechische Geschichte. Dazu hat er „Römische Studien“ (München-Leipzig 2006) und „Griechische Studien“ (Berlin 2009) vorgelegt. Zunehmend hat er sich dann auch der Wissenschaftsgeschichte, insbesondere den Beziehungen zwischen deutschen und französischen Altertumswissenschaftlern, zugewandt und den Aktivitäten der Intellektuellen während des Ersten Weltkriegs; dazu, zusammen mit seinem Bruder Wolfgang: „Der Aufruf ‚An die Kulturwelt!‘. Das Manifest der 93 und die Anfänge der Kriegspropaganda im Ersten Weltkrieg“ (2., erw. Aufl. mit einem Beitrag von Trude Maurer Frankfurt/M 2013). Als Mitglied der Baltischen Historischen Kommission widmet er sich auch der Geschichte des Baltikums. Zusammen mit Carsten Goehrke hat er herausgegeben: „Die baltischen Staaten im Schnittpunkt der Entwicklungen. Vergangenheit und Gegenwart“ (Basel 2002). Er ist Ehrendoktor der Universitäten Mulhouse, Riga und Tartu. E-Mail: [email protected]
Orts- und Namensregister Dieses Register umfasst die Einträge in der Sprache, in der sie im Buch genutzt werden. Sie tauchen nur dann in ihrer deutschen und englischen Variante auf, wenn beide im Buch vorkommen und sich erheblich voneinander unterscheiden. In der Regel finden die üblichen Ortsbezeichnungen des 18. Jahrhunderts Anwendung (also „Reval“ statt „Tallinn“), während die anderen mit einem Verweis versehen sind (Tallinn → Reval). Kursive Seitenzahlen verweisen auf Einträge, die auf der betreffenden Seite nur in den Fußnoten erwähnt werden. Lebende Persönlichkeiten werden nicht erfasst. Aachen 25 Åbo / Turku 190, 191, 192, 198, 199 Adolf Friedrich (Lübeck) 199 Ålandinseln 205 Aleksej Michajlovič 25, 26 Alexander I. 6, 15, 168, 183, 186–187, 192, 202, 204 Alexander II. 140, 177 Alexander III. 97 Alfons III. 33, 34 Altfinnland → Finnland Ancher, Peder Kofod 186 Andrusovo 26 Anna Ivanovna 120 Aragon 33, 34 Armfelt, Alexander 188 Armfelt, Gustav Mauritz 204 Astrachan’ / Astrakhan 30, 83 Athen 35 Attalos III. 37 August II. „der Starke“ 44, 68, 71, 72, 73, 75, 76 Baer, Karl Ernst von 131 Baerens, John 137 Bar, Herzogtum 31, 32 Báthory, Stephan 40 Bauer, Rudolf Felix 21, 23, 39 Berger, Friedrich Ludwig von 83 Berkholz, Georg 138, 139 Berlin-Karlshorst 17 Besançon 24, 25, 33, 38, 3
Biesbardis, Kaspars 205 Birsen 72 Blanckenhagen, Justus 98, 99, 100, 101, 114 Blekinge, schwed. Provinz 49 Bock, Woldemar von 132, 141, 172, 173, 178, 205 Bohuslän, schwed. Provinz 49, 62 Borgå / Porvoo 15, 183, 186, 187, 190, 202, 203 Borodkin, Michail Michajlovič 205 Brabant 32, 33, 181 Brandenburg 51 Bremen-Verden 47, 48 Browne, George von 123, 124, 127 Brunner, Otto 34 Burgund 24 Campenhausen, Balthasar Baron 147, 199 Casablanca 17 Charles XI → Karl XI. China 81 Christina von Schweden 26, 40, 47, 58 Christoph von Bayern 199 Colbert, Jean-Baptiste 20 Columbus, Christoph 18 Créquy, François de 19 Curland → Kurland Dänemark / Denmark 23, 29, 49, 51, 52, 53, 63, 65, 158, 159, 186
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Orts- und Namensregister
Dahlberg, Erik 63 Dalton, Hermann 112 De la Gardie, Axel Julius 94 Dellingshausen, Eduard von 7 Deutschland (inkl. DDR und BRD) 17, 33, 111, 133, 141, 186, 188, 190, 191 Dole 25 Dorpat 24, 25, 26, 28, 29, 31, 38, 60, 62, 72, 78, 79, 86, 131, 138, 201 Douglas, Gustav Otto 98 Düna 27 Dunsdorfs, Edgars 4 Eckardt, Julius 134, 135, 136, 137, 138, 139, 140, 141, 142, 143, 179, 180 Ehrström, Karl Gustaf 192 Elisabeth I. (Russland) 107, 120, 121, 199 Elsass 40 Engelhardt, Nikolai von 199 England 157 Erik XIV. 27, 29, 32, 50, 78, 89 Estland / Estonia 1, 2, 7, 10, 11, 13, 21, 23, 29, 45, 57, 61, 64, 67, 71, 72, 75, 77, 78–80, 83–92, 95–102, 104–106, 110–116, 120, 123, 125, 132, 149, 157, 159, 162, 169, 170, 173, 174, 179, 195, 197, 206 Finnland / Finland (inkl. Altfinnland) 15, 41, 55, 60, 99, 124, 126, 150, 183–193, 195–206 Fleming, Hannß Friedrich von 22 Flemming, Lars 25, 26 Fölkersahm, Hamilkar Baron 129, 130, 132, 141 Forsman, Jaakko 192 Francke, August Hermann 103, 106 Frankfurt am Main 112 Frankreich / France 19, 25, 31, 32, 37, 39, 51, 81 Frantz, Johann Joachim 19 Fredrikshamn / Hamina 183, 199 Freiburg 19, 39 Friedrich III. 33 Friedrich von Löwen 98 Ģērmanis, Uldis 9
Gerth, Johann Heinrich 92, 94, 95, 101, 103 Glebov, Aleksandr 123, 124 Goethe, Johann Wolfgang von 197 Golovkin, Gavriil 81 Granada 31 Grünewaldt-Aahof, Axel von 147 Gustav I. Vasa 52, 58, Gustav II. Adolf 27, 40, 46 Gustav III. 46, 187, 190, 204 Gustav IV. Adolf 187 Hagströmer, Johan. 191 Halland, schwed. Provinz 49 Halle 103 Hamina → Fredrikshamn Hannibal 35 Harpe, Wilhelm Christian 108, 109 Harrien 78, 89, 101, 105, 107 Hastfer, Otto Jürgen von 108, 109 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 44 Heiliges Römisches Reich / Holy Roman Empire 24, 29, 31, 47, 80, 81, 82, 165 Hellwig, Jacob 92 Helsinki 190, 192 Herzen (Gercen), Alexander 136 Hobbes, Thomas 75 Hof im Sande 58 Holstein-Beck, Peter August von 98, 108, 109 Hugo, Gustav 183 Indien 103 Ingermanland / Ingria 45, 71, 72, 77 Isberg, Alvin 53, 55 Italien 31 Ivan IV. 27, 29, 30, 31, 69, 79, 83, 85 Jerwen 89, 101, 105 Jhering, Joachim 92 Johann III. 32 Johanna (Brabant) 32, 33 Joseph II. 33 Karelia 71, 72, 77 Kardis 26 Karl I. der Kühne 24 Karl I. von Anjou 33
Orts- und Namensregister Karl IX. 29, 40, 46 Karl V. 33, 165 Karl X. Gustav 46, 48, 50, 58 Karl XI. / Charles XI 40, 46, 50, 51, 52, 55, 56, 63, 75, 93, 94 Karl XII. 56, 71 Karl von Södermanland 40 Karl Johan, schwed. Kronprinz 192 Katharina II. 13, 121, 122, 123, 126, 127, 168, 170, 171, 189 Katkov, Michail Nikiforovič 134, 136 Kazan’ / Kasan 30, 31, 83 Kettler, Gotthard 27 Kexholm 15, 45, 197, 199 Kiev 10 Königsberg 103, 166 Koidula, Lydia 189 Kurland / Curland 27, 111, 132, 135, 142, 149, 161, 169, 170, 179, 201, 206 Lange, Jacob 92 Lappeenranta → Willmanstrand Leipzig 133, 134, 178, Lettland 61, 149 Libau 141 Liepāja → Libau Lieven, Paul 129 Litauen 28, 135, 136, 137 Livland / Livonia 1, 2, 7, 10, 11, 12, 13, 26, 27, 40, 43, 45, 52, 56, 57, 62, 67, 68, 71, 72, 73, 74, 75, 76, 77, 78, 79, 80, 83, 84, 85, 86, 87, 89, 91, 94, 96, 97, 100, 103, 110, 120, 122, 124, 126, 127, 133, 135, 141, 143, 144, 147, 149, 150, 157, 157, 159, 161, 165, 166, 168, 170, 173, 176, 179, 195, 197, 201, 206 Locke, John 75 Löwendahl, Woldemar 98, 105, 106 Löwenwolde, Gerhard Johann von 75, 79 Lothringen 31 Louvois , Marquis de 19, 20, 23, 25 Lucius Caesius 36 Lübeck 58 Ludwig X. 32 Ludwig XI. 24 Ludwig / Louis XIV. 20, 25, 37, 39
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Lund 51, 53 Makedonien 35 Marocco 81 Matveev, Andrei Artamonovich (Russ. ambassador) 76 Maximilian I. 81, 82 Mayer, Otto 191 Mechelin, Leo 192 Menšikov, Aleksandr Sergeevič 21, 154, 184 Mercy, Franz von 19 Metz 33 Mettig, Constantin 7, 8 Mickwitz, Christoph Friedrich 103, 105, 106, 107 Middendorff-Hellenorm, Alexander von 145 Montesquieu, Charles-Louis de 37 Moritz von Grünewaldt 146 Moskau 13, 26, 30, 41, 69, 63, 82, 119, 121, 125, 138 Müller, Otto 174, 178 Napoleon 41, 42 Narva 71, 73, 79, Niederlande (Holland) 33, 82, 83, 157 Nikolaus I. 15, 130, 131, 138, 141, 168, 174, 184 Nikolaus II. 188 Nimwegen 19, 23, 25, 39 Nolcken, Ernst Baron 132 Nolcken, Georg Baron 130, 132, 148 Nordström, Johan Jacob 192 Norwegen 186, 188, 189, 211 Novgorod 84, 85 Nyslott / Savonlinna 199 Nystad / Uusikaupunki 2, 3, 5, 7, 15, 16, 39, 72, 79, 87, 88, 96, 97, 100, 103, 104, 105, 107, 111,112, 114, 115, 116, 117, 156, 157, 170 196, 197 Ösel / Oesel 2, 29, 84, 91, 94, 97, 100, 149, 170 Österreich 19, 33 Oettingen, Nicolai von 146, 147 Orlov, Grigorij Grigor’evič 124 Osmanisches Reich 18, 32, 153
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Orts- und Namensregister
Osnabrück 23, 47 Oxenstierna, Axel 46, 47, 91 Pärnu → Pernau Patkul, Reinhold von 43, 44, 73, 75 Paucker, Carl Julius Albert 112, 174, 176, 178, 180, Paucker, Hugo Richard 112 Paul I. 128, 201 Pegau, Erasmus 101, 103 Pergamon 37 Pernau 72, 96, 154 Peter I. (der Große) / Peter the Great 1, 3, 5, 7, 8, 10, 12, 13, 16, 21, 24, 39, 63, 65, 66, 67, 68, 69, 70, 71, 72, 73, 74, 76, 79, 80, 81, 82, 83, 84, 85, 86, 96, 120, 122, 157, 197, 203 Peter II. 120 Peter III. (Russland) 121, 199 Peter III. (Aragon) 33 Pfeiff, Johann Jacob 92 Philipp IV. 31 Pochlebkin, Vil’jam Vasil’evič 10 Polen (inkl. Polen-Sachsen, PolandSaxony, Poland-Lithuania) 23, 25, 26, 27, 28, 29, 41, 52, 63, 65, 66, 71, 72, 73, 74, 75, 77, 78, 82, 85, 188, 191, 201, 203, 205 Poltava 72, 84, 86 Pommern 47 Porthan, Gabriel 200 Porvoo → Borgå Pskov 84, 85 Pufendorf, Samuel 75 Rauch, Georg von 88 Raudenhof 143 Reiman, Villem 9 Reims 17 Reval / Tallinn 2, 7, 8, 11, 13, 21, 22, 23, 29, 38, 43, 72, 78, 80, 84, 88, 91, 92, 94, 95, 96, 97, 98, 99, 100, 103, 113, 114, 115, 119, 138, 140, 141, 154, 158, 160, 163, 175, 195 Richter, Arthur von 148 Riga 1, 5, 7, 8, 21, 22, 23, 27, 28, 29, 43, 71, 72, 74, 76, 77, 80, 84, 88, 89, 96, 97, 119, 124, 131, 138, 139, 140,
146, 148, 154, 160, 195 Rijswijk 19, 39 Rom 36, 37, 84 Rosen, Hans von 102, 104, 105 Roskilde 48 Russland / Russia (inkl. Großfürstentum Moskau, Russländisches Reich) 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9, 10, 11, 12, 13, 14, 15, 16, 26, 32, 46, 52, 63, 64, 65, 66, 67, 68, 69, 71, 72, 73, 74, 75, 76, 77, 78, 79, 80, 81, 82, 83, 84, 85, 86, 87, 95, 96, 97, 98, 99, 100, 104, 105, 107, 110, 111, 112, 114, 115, 116, 117, 119, 120, 123, 124, 125, 126, 128, 131, 133, 134, 135, 136, 137, 140, 141, 143, 144, 150, 151, 156, 157, 158, 160, 163, 168, 170, 176, 177, 178, 179, 181, 183, 187, 188, 189, 190, 191, 192, 193, 195, 196, 197, 198, 199, 200, 201, 202, 203, 204, 205, 206 Saaremaa → Ösel Šafirov, Petr Pavlovič / Shafirov, Petr 13, 76, 77, 78, 79, 81, 82. Salemann, Joachim 92, 105, 107, Samarin, Jurij Fedorovič 5, 6, 134, 138, 140, 142, 167, 178, 179, 205, 206, Samson-Urbs, Hermann von 146 Savonlinna → Nyslott Saxony 71 Šeremetev, Boris Petrovič / Sheremetev, Boris 1, 20, 21, 23, 24, 39, 71, 74, 75, 79 154, 157, 203 Schirren, Carl 6, 87, 132, 133, 134, 136, 140, 142, 179 Schmidt, Oswald 172 Schoultz von Ascheraden, Carl Friedrich 121, 122, 123 Schultz, Johann Friedrich 108, 109 Schweden/ Sweden 1, 2, 3, 4, 6, 9, 10, 11, 12, 13, 14, 15, 19, 20, 21, 22, 23, 24, 25, 26, 29, 38, 39, 43, 44, 45, 46, 47, 48, 49, 50, 51, 52, 53, 54, 55, 56, 57, 58, 59, 60, 61, 62, 63, 64, 65, 66, 68, 70, 71, 73, 74, 75, 76, 77, 78, 83, 85, 87, 89, 90, 91, 92, 93, 94, 95, 96, 97, 105, 110, 111, 112, 113, 114, 115,
Orts- und Namensregister 156, 157, 158, 159, 183, 185, 186, 187, 188, 189, 190, 191, 192, 196, 198, 199, 202, 203, 204, 205 Schweiz 18, 31 Semgallen 171 Siebenbürgen 32 Sigismund II. August 28, 32 Sigismund III. 40 Sinold von Schütz, Philipp Balthasar 65, 83 Sizilien 33 Sivers, Jegór von 143, 144, 145, 146, Skåne, schwed. Provinz 12, 49, 62 Skinner, Quentin 66 Skytte, Carl Gustaf 24 Skytte, Johan 46 Smolensk 30, 126 Spanien 18, 24, 25, 31, 36, 83 Sparta 35 Speranskij, Michail Michajlovič 203, 204 Sprengtporten, Göran Magnus 189 St. Petersburg 4, 5, 102, 105, 112, 119, 121, 123, 130, 131, 138, 140, 174, 190, 201, 202 St. Simonis, Kirchspiel 112 Stackelberg, Jürgen Johann von 108 Stackelberg-Ellistfer, Reinhold von 174 Stael von Holstein, Reinhold Baron von 14, 129, 145, 151, 180 Stockholm 2, 12, 51, 60, 62, 63, 93, 95 Stolbovo 71, 77 Straßburg 19, 20, 21, 22, 23, 39, 40 Strömberg, Nils Jönsson 73, 74, 75, 153 Šujskij, Petr I. 29, 31 Suvorov-Italijskij, Aleksandr Arkad’evič 136 Tallinn → Reval Tartu → Dorpat Tengström, Jacob 191 The Hague 76 Tobien, Alexander von 143, 145, 149, 150 Toll-Kuckers, Robert Baron 148 Toul 31 Traat, August 67, 96 Trubeckoj, Aleksej Nikitič 25, 26
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Turkey 81 Turku → Åbo Ukraine 30, 126 Ulrich, Jacob Heinrich von 107 Ungern, Wolmar von 26 Ungern-Sternberg, Johann Adolph Freiherr von 12, 196 Uppsala 191 Uusikaupunki → Nystad Uxküll, Adam Johann von 101, 103, 107, 115, 116 Vaasa 199 Vasar, Juhan 53, 55 Vassili III. 81 Velazquez, Diego 42 Venedig 17 Verdross, Alfred 18 Verdun 31, 32, 47 Vienna 82 Villebois, Alexander de 122, 126 Virginius, Andreas 92 Vitry 20 Vjazemskij, Aleksandr Alekseevič 124, 126 Vyborg → Wyborg Wenzeslaus von Luxemburg 32, 33 Whitworth, Charles 81 Wiborg / Vyborg 15, 99, 123, 190, 197, 199, 201 Wierland 89 Willmanstrand / Lappeenranta 199 Wismar 47 Wittram, Reinhard 67, 68, 73, 75, 88, 98, 110, 111, 129, 133, 137, 145, 147, 148, 149, 205. Yaroslav Vladimirovich 78