100 Jahre Umsatzsteuer in Deutschland 1918-2018: Festschrift 9783504385941

Aus Anlass des 100-jährigen Bestehens der Umsatzsteuer in Deutschland haben über 40 Autoren Beiträge zu allen relevanten

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German Pages 1039 [1006] Year 2018

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100 Jahre Umsatzsteuer in Deutschland 1918-2018: Festschrift
 9783504385941

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100 Jahre Umsatzsteuer in Deutschland 1918-2018 Festschrift

100 JAHRE UMSATZSTEUER IN DEUTSCHLAND 1918-2018 FESTSCHRIFT herausgegeben vom

UmsatzsteuerForum e.V. Bundesministerium der Finanzen

2018

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Verlag Dr. Otto Schmidt KG Gustav-Heinemann-Ufer 58, 50968 Köln Tel. 02 21/9 37 38-01, Fax 02 21/9 37 38-943 [email protected] www.otto-schmidt.de ISBN 978-3-504-06049-7 ©2018 by Verlag Dr. Otto Schmidt KG, Köln

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeiche­ rung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das verwendete Papier ist aus chlorfrei gebleichten Rohstoffen hergestellt, holz- und säurefrei, alterungs­ beständig und umweltfreundlich. Einbandgestaltung: Lichtenford, Mettmann Satz: WMTP, Birkenau Druck und Verarbeitung: Kösel, Krugzell Printed in Germany

Vorwort Am 1. August 2018 ist die deutsche Umsatzsteuer 100 Jahre alt geworden. Angesichts der Schnelllebigkeit unserer Zeit und damit verbunden natürlich auch der Änderungszeitintervalle für Steuergesetze, ist es geradezu ein Anachronismus, dass eine Steuer 100 Jahre alt wird. Die hinter dem Geburtstag stehende Erfolgsgeschichte ist vor allem eine des Aufkommens: startete die Umsatzsteuer 1918 noch mit einem Normalsatz in Höhe von 0,5 v.H., liegt der Satz nunmehr bei 19 v.H. Im Jahre 2016 betrug das Steueraufkommen aus Umsatzsteuer und Einfuhrumsatzsteuer 217 Mrd. Euro, das entspricht einem Anteil von 31% am Gesamtsteueraufkommen der Bundesrepublik Deutschland. 100 Jahre Umsatzsteuer bedeuten aber auch 100 Jahre umsatzsteuerliche Probleme. Von Johannes Popitz, Staatssekretär im Reichsfinanzministerium, stammt 1928 der Ausspruch: „Die Umsatzsteuer steht … abseits von allen Steuern, sie ist problematischer als die anderen“. An dieser Einschätzung hat sich wenig geändert. Zwar führte noch der Systemwechsel von einer Bruttophasensteuer hin zu einer Allphasen-Netto-Umsatzsteuer mit Vorsteuerabzug zum 1.1.1968 zu einer Entproblematisierung der Umsatzsteuer als unternehmerischem Kostenfaktor. Mittels des Vorsteuerabzugs neutralisierte sich die Umsatzsteuer im Unternehmen. Indes zeigte sich relativ schnell, dass die Probleme deshalb nicht weniger wurden. Exemplarisch darf nur die nach wie vor sehr intensive Debatte zur umsatzsteuerlichen Organschaft, zur Begrenzungsmöglichkeit beim Vorsteuerabzug unter dem Blickwinkel des Umsatzsteuermissbrauchs oder fehlerhafter Rechnungen und deren Korrekturmöglichkeiten oder zum innergemeinschaftlichen Reihengeschäft erwähnt werden. Dass die Umsatzsteuer – wie Popitz meinte –„abseits“ von allen anderen Steuern steht, hängt maßgeblich vom stetig gestiegenen Einfluss des Unionsrechts und hier vor allem der Interpretationshoheit durch den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaft (EuGH) ab. Exemplarisch seien hier nur seine Versuche zur unionsrechtlichen Beurteilung grenzüberschreitender Reihengeschäft angesprochen, wo mittels der Rechtsfigur der „Verschaffung der Verfügungsmacht“ oder unionsrechtlich „der Befähigung wie ein Eigentümer über einen Gegenstand verfügen zu können“ versucht wird, eine Rechtsbeziehung zwischen mehreren, sich häufig nicht kennenden Unternehmern zu lösen. Die gegenwärtigen Baustellen lassen sich daher auch kurz beschreiben: Abgrenzung Schadensersatz und Leistungsaustausch, Rechnungsberichtungen im Verhältnis zu Verjährungsfristen, Begrenzung des Vorsteuerabzugs wegen Verdachts des Umsatzsteuermissbrauchs, Symmetrie zwischen Umsatzsteuer und Vorsteuer, Ausweitung des Reverse Charge, mangelnde Unionskompatibilität der Steuerbefreiungstatbestände, Reform der Ermäßigungstatbestände, Umfang und Wirkung der unentgeltlichen Wertabgaben, Einfluss des Zollrechts auf die Umsatzbesteuerung, und „last but not least“ stehen die Beratungen zum sog. „endgültigen System“ auf europäischer Ebene an. Ziel ist ein echter Binnenmarkt ohne steuerliche Grenzen. Angesichts der wachsenden Bedeutung der Umsatzsteuer und dem Anlass ihres 100sten Geburtstages war es denn auch nur konsequent, sich mit einer Festschrift den alten, gegenwärtigen und zukünftigen Problemen der Umsatzsteuer zu widmen. Über 40 namhafte Autoren aus dem In- und Ausland haben sich dieser Aufgabe angenomV

Vorwort

men. Die Darstellungen umfassen sämtliche Problembereiche der Umsatzsteuer von der Historie über das System, dem Spannungsfeld zum Unionsrecht, der Abgabenordnung und Zollrecht bis hin zu nahezu jedem Tatbestandskomplex der nationalen Umsatzsteuer, angefangen bei der Steuerbarkeit, den Steuerbefreiungen, dem Steuersatz, der Bemessungsgrundlage, dem Vorsteuerabzug, der Steuerschuld und den Nachweispflichten. Abgerundet wird der Gang durch die umsatzsteuerlichen Themenbereiche mit einem Kapitel zur Zukunft der Umsatzsteuer. Die nachfolgende Laudatio gibt einen eindrucksvollen Vorabeindruck über die ganze Bandbreite der herausragenden und in ihrer Komplexität und Vielschichtigkeit einzigartigen Ansammlung von Beiträgen. Der Titel der Festschrift lautet bewußt „100 Jahre Umsatzsteuer in Deutschland“ und nicht „100 Jahre deutsche Umsatzsteuer“. Damit wird deutlich, dass diese Steuer zwar in Deutschland ihre Ursprünge nahm, mittlerweile aber eingebettet ist in einen gesamteuropäischen Kontext. Wenn die Umsatzsteuer ihren 200sten Geburtstag erleben sollte, was ihr zu wünschen ist, wird sie ihn als eine europäische Umsatzsteuer feiern. Es geht also um die Umsatzsteuer als solche und nicht (nur) um die deutsche Umsatzsteuer. Das ist der wahre Grund für Festschrift und anschließende Jubiläumsfeier. Prof. Dr. Hans Nieskens Vorsitzender des UmsatzsteuerForums e.V.

VI

Staatssekretär Dr. Rolf Bösinger Bundesministerium der Finanzen

Inhalt Seite

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XIII I. Laudatio Werner Widmann Laudatio . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 II. Umsatzsteuer seit Popitz Bertrand Monfort Johannes Popitz (1884-1945) – Finanzwissenschaftler und  Widerstandskämpfer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 Gunter Ammann Einige dem Vorsteuerabzug entsprechende Vergütungen in der Zeit vor 1968 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 III. Das System der Umsatzsteuer Ferdinand Kirchhof Umsatzsteuer und Besondere Verbrauchsteuern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 Hans Nieskens Umsatzsteuerliche Folgen einer bewussten oder unbewussten Asymmetrie der Steuer auf Eingangs- und Ausgangsumsätze eines Unternehmers . . . . . 77

VII

Inhalt

IV. Der Einfluss des Unionsrechts auf das nationale Umsatzsteuerrecht Juliane Kokott Vom Sinn der Form . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 Markus Achatz Die Besteuerung der Körperschaften öffentlichen Rechts im Wandel der Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 Hermann-Josef Tehler Der Einfluss des EuGH auf das nationale Umsatzsteuerrecht . . . . . . . . . . . . 141 V. Umsatzsteuer im Spannungsfeld zum Verfassungsrecht Rudolf Mellinghoff Das Umsatzsteuerrecht im Spannungsfeld zwischen Bundesfinanzhof, Bundesverfassungsgericht und Gerichtshof der Europäischen Union . . . . . . 165 Paul Kirchhof Die verfassungsbewusste Erneuerung des Umsatzsteuerrechts . . . . . . . . . . . . 185 VI. Umsatzsteuer im Spannungsverhältnis zur AO Wolfram Birkenfeld Das Verfahrensrecht als Rahmen für die Verwirklichung der Umsatzsteuer 197 Stefan Heinrichshofen Bestandsaufnahme und Aufzeigen eines Auswegs bei unzulässigen verfahrensrechtlichen und prozessualen Einschränkungen im zwischenunternehmerischen Bereich am Beispiel des Vorsteuerabzugs . . . . 221 VII. Umsatzsteuer und Zollrecht Hans-Michael Wolffgang Erlöschenstatbestände im Zollrecht – Konnexität zwischen Zoll und Einfuhrumsatzsteuer? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 Colette Hercher Einfuhrumsatzsteuer – Herausforderungen des digitalen Handels . . . . . . . . 261 Ralph E. Korf / Thomas Peterka Gestaltungen bei der Tarifierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 VIII

Inhalt

VIII. Leistungsaustausch Wilfried Wagner Die „einheitliche Leistung“, ein Instrument zur gebotenen Steuergerechtigkeit, zur Besteuerungsvereinfachung oder zur willkommenen Erhöhung des Umsatzsteueraufkommens? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293 Heidi Friedrich-Vache Das „ABC“ des Leistungsaustauschs – Verständnis von steuerbaren und nicht steuerbaren Umsätzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321 Georg von Streit / Stefan Behrens Mehrwertsteuerlicher Leistungsaustausch bei Umwandlungsvorgängen am Beispiel der Verschmelzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359 IX. Gesellschafter und Gesellschaft in der Umsatzsteuer Thomas Stapperfend Vorsteuerabzug bei Beteiligungsbesitz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387 Roland Ismer / Wolfram Reiß Organschaft in der Umsatzsteuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 413 Ursula Slapio Umsatzsteuerliche Organschaft: Erforderliche Neuausrichtung der finanziellen, wirtschaftlichen und organisatorischen Eingliederungskriterien . . . 439 X. Unentgeltliche Wertabgaben Bernd Heuermann Entnahme und Zuwendung – Objektive Tatbestandsmerkmale und ihre Abgrenzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 461 Christoph Wäger Entnahme, Einlage und Berichtigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 477

IX

Inhalt

XI. Steuerpflichtiger/Unternehmer David Hummel Das Handeln eines Steuerpflichtigen als solchem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 497 Thomas Küffner/Alena Kirchinger Die öffentliche Hand als Steuerpflichtiger – (fast unlösbare) Herausforderungen nach 100 Jahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 515 XII. Internationales Umsatzsteuerrecht Joachim Englisch Besteuerung am Ort der Empfängerbetriebsstätte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 533 Jürgen Scholz Die feste Niederlassung im Lichte von BEPS – Anforderungen, Rechtsfolgen und Praxisfragen zu umsatzsteuerlichen Betriebsstätten . . . . . 557 XIII. Steuerbefreiungen und Option Rüdiger Philipowski Finanzdienstleistungen: Steuerbefreiungen – Option – Vorsteuerabzug . . . . 579 Hans-Hermann Heidner Heilbehandlungen im Bereich der Humanmedizin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 605 XIV. Sonderprobleme zum Steuersatz Jörg Kraeusel Die Bedeutung des Unionsrechts für die Steuersatzermäßigung des § 12 Abs. 2 UStG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 629

X

Inhalt

XV. Bemessungsgrundlage Ulrich Grünwald Das Entgelt als Determinante der Steuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 677 Raoul Riedlinger Umsatzsteuer im Wandel: Umgang mit „kostenlosen“ digitalen Dienstleistungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 699 XVI. Vorsteuerabzug Tina Ehrke-Rabel Missbrauch und Vorsteuerabzug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 721 Martin Kemper Das deutsche Umsatzsteuerrecht zwischen Steuergestaltung, Missbrauch und Hinterziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 749 Ferdinand Huschens Rechnungsberichtigung mit Rückwirkung ohne Rechnung? . . . . . . . . . . . . . . 773 XVII. Steuerschuldnerschaft und ­Reverse-­  Charge-  Verfahren Stephan Filtzinger Sektorales oder generelles Reverse-Charge? – Reformbedarf bei der Steuerschuldverlagerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 801 XVIII. Formerfordernisse und Nachweispflichten Alexander Neeser Gelangensbestätigung und USt-IdNr. – Prüfungspflicht für Unternehmer in Gegenwart und Zukunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 829 Matthias Winter Ohne Belege geht es nicht! Formerfordernisse und Nachweispflichten bei innergemeinschaftlichen Lieferungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 853 Stefan Groß Umsatzsteuerrechtliche Anforderungen an den digitalen sowie digitalisierten Rechnungseingang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 865 XI

Inhalt

XIX. Umsatzsteuer in der Zukunft Harald Elster Reformbedarf der umsatzsteuerrechtlichen Organschaft . . . . . . . . . . . . . . . . 875 W. Christian Lohse 2018 auch Übergangsjubiläen: 50 Jahre Mehrdeutschigkeiten und 25 Jahre legistische Bewusstseinsspaltung im UStG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 897 Roland Ismer Entwicklungslinien der Umsatzsteuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 935 Michael Vellen Auf dem Weg zu einem einheitlichen europäischen ­MwSt- Raum? . . . . . . . . 955 Werner Widmann Die Zukunft der Umsatzsteuer zwischen dem Mehrwertsteuersystem im Binnenmarkt und den Problemen des Vollzugs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 987 Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1011

XII

Autorenverzeichnis Prof. Dr. Markus Achatz Johannes-Kepler-Universität Linz, Mitglied des Verfassungsgerichtshofs, Steuerberater, Leitner + Leitner, Linz Gunter Ammann Steuerberater, Hamburg Dr. Stefan Behrens Rechtsanwalt, Fachanwalt für Steuerrecht und Steuerberater, Clifford Chance LLP, Frankfurt a.M. Dr. Wolfram Birkenfeld Richter des BFH a.D., Rechtsanwalt, München Prof. Dr. Tina Ehrke-Rabel Karl-Franzens-Universität Graz Harald Elster Steuerberater und Wirtschaftsprüfer, Präsident des Deutschen Steuerberater­ verbandes e.V., Berlin Prof. Dr. Joachim Englisch Westfälische Wilhelms-Universität Münster Stephan Filtzinger Abteilungsdirektor im Landesamt für Steuern Rheinland-Pfalz, Koblenz Dr. Heidi Friedrich-Vache Steuerberaterin, Rödl & Partner, München Stefan Groß Steuerberater und CISA, Peters, Schönberger & Partner mbB, München Dr. Ulrich Grünwald Rechtsanwalt und Steuerberater, Deloitte GmbH, Berlin Dr. Hans-Hermann Heidner Richter des BFH, München

XIII

Autorenverzeichnis

Stefan Heinrichshofen Rechtsanwalt, Fachanwalt für Steuerrecht und Steuerberater, Peters, ­Schönberger & Partner mbB, München Colette Hercher Ministerialdirektorin, Bundesministerium der Finanzen, Berlin Prof. Dr. Bernd Heuermann Vorsitzender Richter am BFH, München, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg Prof. Dr. David Hummel Universität Leipzig, Referent am EuGH im Kabinett der Generalanwältin Kokott Ferdinand Huschens Oberamtsrat, Bundesfinanzverwaltung, Mahlow Prof. Dr. Roland Ismer Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg Dr. Martin Kemper Richter des FG München Prof. Dr. Ferdinand Kirchhof Vizepräsident des BVerfG, Karlsruhe, Eberhard-Karls-Universität Tübingen Prof. Dr. Dres. h.c. Paul Kirchhof Richter des BVerfG a.D., Ruprecht-Karls-Universität, Heidelberg Alena Kirchinger Rechtsanwältin, KMLZ, München Prof. Dr. Dr. Juliane Kokott, LL.M. Generalanwältin am EuGH, Luxemburg Ralph E. Korf Rechtsanwalt und Steuerberater, München Prof. Dr. Thomas Küffner Rechtsanwalt, Fachanwalt für Steuerrecht, Steuerberater und Wirtschaftsprüfer, KMLZ, München Jörg Kraeusel Ministerialdirigent im BMF a.D., Erding XIV

Autorenverzeichnis

Prof. Dr. W. Christian Lohse Vorsitzender Richter des FG München a.D., Universität Regensburg Prof. Dr. h.c. Rudolf Mellinghoff Präsident des BFH, München, Eberhard-Karls-Universität, Tübingen Bertrand Monfort Rechtsanwalt, Steuerberater, Ernst & Young GmbH, Düsseldorf Prof. Dr. Alexander Neeser Hochschule für öffentliche Verwaltung und Finanzen, Ludwigsburg Prof. Dr. Hans Nieskens Rechtsanwalt und Steuerberater, Vors. UmsatzsteuerForum, Köln e.V., Freising Thomas Peterka Rechtsanwalt, Zollkanzlei Peterka, Hamburg Prof. Dr. Rüdiger Philipowski Julius-Maximilians-Universität Würzburg, Rechtsanwalt und Steuerberater, Alfter Prof. Dr. Wolfram Reiß Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg Dr. Raoul Riedlinger Rechtsanwalt und Steuerberater, Wirtschaftsprüfer, Präsident der Bundesteuer­ beraterkammer, Berlin Jürgen Scholz, M.L.B.-HSG (Universität St. Gallen) Steuerberater, WTS Global, Düsseldorf Ursula Slapio Steuerberaterin, KPMG AG Wirtschaftsprüfungsgesellschaft, Düsseldorf Prof. Dr. Thomas Stapperfend Präsident des Finanzgerichts Berlin-Brandenburg, Cottbus Georg von Streit Rechtsanwalt und Steuerberater, Bonn Prof. Dr. Hermann-Josef Tehler ehemals Fachhochschule für Finanzen Nordrhein-Westfalen, Nordkirchen

XV

Autorenverzeichnis

Michael Vellen Oberregierungsrat, Bundesfinanzakademie im Bundesministerium der Finanzen, Berlin Dr. Christoph Wäger Richter des BFH, München Dr. Wilfried Wagner Vizepräsident des BFH a.D., München Werner Widmann Ministerialdirigent a.D. im Ministerium der Finanzen in Rheinland-Pfalz, Mainz Dr. Matthias Winter Flick Gocke Schaumburg mbB, Bonn Prof. Dr. Hans-Michael Wolffgang Westfälische Wilhelms-Universität, AWB Steuerberatungsgesellschaft, Münster

XVI

I. Laudatio

Werner Widmann

Laudatio Inhaltsübersicht I. Über Festschriften

IV. Zum Inhalt

II. Dank den Autoren

V. Zueignung und Hoffnung

III. Aufbau der Festschrift

I. Über Festschriften In der literarischen Verlagsproduktion nimmt die Festschrift eine Sonderrolle ein: Sie wird nicht in der Absicht konzipiert und verlegt, bei gutem Absatz in weiteren Auflagen zu erscheinen oder neu bearbeitet zu werden. Sie ist ein einmaliges Produkt entsprechend der Einmaligkeit ihres Anlasses. So ist auch unsere Festschrift im aktuellen Schrifttum zur Umsatzsteuer ein Solitär, in dem im Jahr 2018 für wichtig gehaltene Probleme dieser Steuerart mit Blick sowohl in die Vergangenheit als auch in die Zukunft einmalig in einer Art Momentaufnahme dargestellt und einer Lösung nähergebracht werden. Ein Buch, in dem über ein Rechtsgebiet geschrieben wird, das seit einem Jahrhundert besteht, ist nicht schon von selbst ein Jahrhundertwerk. Da wollen wir doch lieber bescheiden bleiben. Aber es ist sicher nicht übertrieben, wenn wir heute die Hoffnung hegen, dass dieses Werk vielleicht in fünfzig oder hundert Jahren, falls es dann die Umsatzsteuer in Deutschland noch gibt – wenig spricht dafür, dass diese zuverlässig sprudelnde Quelle des Fiskus ungenutzt bleiben wird - noch Nutzen stiftet zum Begreifen der ersten hundert Jahre Umsatzsteuer in Deutschland mit ihren zwei verschiedenen Systemen, von denen das erste nach fünfzig Jahren abgelöst wurde. Festschriften werden typischerweise für anerkannte Wissenschaftler oder herausragende öffentliche Einrichtungen herausgegeben. Dazu versammeln sich die Autoren aus persönlicher Verbundenheit mit der zu ehrenden Person oder Institution. Eine derartige subjektive, persönlich geprägte Verbindung kann sich zu einer Steuerart wohl kaum entwickeln; eher mögen es beruflich veranlasste Berührungen sein, durch welche die 46 Autoren dieses Bandes zum Umsatzsteuerrecht gefunden haben. Das schmälert das sachliche Engagement in den Beiträgen selbstverständlich in keiner Weise.

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Werner Widmann

II. Dank den Autoren Alle Autoren haben ihre Aufsätze unentgeltlich zur Verfügung gestellt, umsatzsteuerrechtlich liegt bei Unternehmern damit eine nichtsteuerbare unentgeltliche Wertabgabe gem. §  3 Abs.  9a UStG in Form einer Dienstleistung aus unternehmerischen Gründen vor. Das geschah allein zu Ehren der Umsatzsteuer. Freilich ist die Bemerkung angebracht, dass es aber auch eine bleibende Ehre ist, an dieser Festschrift mitgearbeitet zu haben. Der deutsche Begriff Ehrengabe für das vornehme Wort Honorar, das umsatzsteuerlich doch nur ein schnödes Entgelt gem. § 10 UStG ist, bekommt so eine eher ungewohnte, aber doch wohl sehr sympathische Konnotation. Und damit trifft diese Laudatio auf die Festschrift auch und vor allem die Autoren. Lob und Dank gebührt ihnen auch deshalb, weil sie sich in die vom Vorstand und dem wissenschaftlichen Beirat unserer Vereinigung entworfene Konzeption dieses Buches haben einbinden lassen. Sie haben die Einladung zur Mitwirkung an einem bestimmten Themenbereich angenommen und mit den von ihnen selbst gefundenen Titeln zu einer beachtlichen Vielfalt der Problemsicht beigetragen. Das macht den besonderen Reiz der Festschrift aus: Sie ist bewusst nicht als enzyklopädisches Handbuch zum Umsatzsteuerrecht konzipiert, in dem man bei gezielter Suche zu allem etwas finden sollte. Vielmehr werden alte und neue Problemstellungen von verschiedenen Autoren aus den mitunter verschiedenen Sichtweisen und Vorverständnissen der Wissenschaft, der Rechtsprechung, der Beratungspraxis und der Verwaltung ­beleuchtet. Damit steht jeder der 43 Beiträge in einer systematischen Ordnung der Themen für sich allein. So ist ein Umsatzsteuer-Lesebuch entstanden, das nicht an einem Stück rezipiert werden will, sondern dazu einlädt, immer wieder die Auffassungen der jeweiligen Verfasser kennenzulernen. Das Bundesministerium der Finanzen und das UmsatzsteuerForum fungieren zwar als Herausgeber, aber sie haben keinerlei Einfluss auf den Inhalt der Beiträge genommen. Es mag also durchaus auch zu gewissen Doppelungen oder mehrfach gleichgerichteter Argumentation kommen. Das ist dann möglicherweise die Replizierung einer schon bestehenden herrschenden Meinung, oder womöglich sogar der originelle Ausgangspunkt für eine künftige herrschende Meinung. Das sollte dann aber bitte auch beim hoffentlich häufigen Zitieren durch spätere Autoren hervorgehoben werden, denn auch für unser Buch gilt der alte Satz, dass der Autor vom Zitat lebt, hier angesichts der schon erwähnten Honorarlosigkeit freilich nur in dem Sinne der wissenschaftlichen Reputation, die auch durch das Wahrgenommenwerden in der Zunft entsteht.

III. Aufbau der Festschrift Es wäre völlig vermessen und unangebracht, in dieser Laudatio einzelne Beiträge oder Autoren besonders hervorzuheben. Wir haben alle Beiträge nach ihrer sachlichen Verortung, nicht nach dem Amt, beruflicher Stellung oder gar protokollarischem Rang 4

Laudatio

der Autorinnen und Autoren in dem Band sortiert. Es wird Kritikern sicher nicht schwer fallen, fehlende Aspekte zu monieren oder auch eine andere Sachgliederung als in den folgenden achtzehn Abschnitten für besser zu halten. Vielleicht werden sie auch bestimmte Autorinnen oder Autoren vermissen. Aber das müssen wir aushalten, denn, um es zu wiederholen, wir haben kein Lexikon des Umsatzsteuerrechts vor uns.

IV. Zum Inhalt 1. Daher kann es hier nur darum gehen, die Schwerpunkte der einzelnen Themenbereiche kurz anzureißen, damit die imponierende Fülle der Gedanken sichtbar wird, die dieses Buch zu einer Lagerstätte, Fundgrube oder vielleicht sogar Schatztruhe wertvoller Erkenntnisse macht. Einhundert Jahre Umsatzsteuer in Deutschland lassen sich nicht ohne Bezüge zu den historischen Abläufen und Ereignissen dieser Zeitspanne begreifen. Schon die Ent­ stehung des UStG 1918, noch im schlachtenreichen Krieg, dessen Ende mit dem Waffenstillstand am 11.11.1918 am 1.8., dem Inkrafttretensdatum des UStG noch nicht absehbar war,1 lenkt den Blick darauf, dass diese Steuer – ebenso wie die 1918 eingeführte Vermögensteuer – zur Finanzierung dieses Krieges geschaffen wurde.2 Vorher waren die Kriegsanleihen das Finanzierungsinstrument gewesen. Man wollte möglichst lange auf die Steuerfinanzierung verzichten, um durch die Kredite auch künftige Generationen an den Kriegskosten beteiligen. Dass so der moderne Steuerstaat entstanden ist,3 muss man gewiss nicht feiern, aber es gehört eben doch auch zur Steuergeschichte des 20. Jahrhunderts.4 2. So scheinen die Rückblicke auf historische Fakten und Zusammenhänge in vielen Beiträgen auf. Wie könnte es anders sein, als dass Johannes Popitz als die Person, die im Reichsfinanzministerium für die Vorbereitung des Gesetzes zuständig war, im II. Abschnitt „Umsatzsteuer seit Popitz“ eine ausführliche Würdigung erfährt und dabei auch seine Rolle im Widerstand gegen Hitler und das NS-Regime, die er nach einem Urteil des Volksgerichtshofs im Februar 1945 mit dem Leben bezahlen musste, historisch eingeordnet wird.5 Vermutlich wird auch heute noch kein anderer Name so oft bei umsatzsteuerrechtlichen Arbeiten mit auch entstehungsgeschichtlichen Bezügen genannt wie der dieser einzigartigen Persönlichkeit. Das ist auch in dieser Festschrift so. Dieser Hinführung zur alten Umsatzsteuer folgt ein systemhistorisch angelegter Rückblick auf einige dem Vorsteuerabzug entsprechende Vergütungen in der Zeit vor 1968.6 Dabei wird deutlich, dass das Ziel der Besteuerung nur des inländischen Kon1 S. dazu Münkler, Der große Krieg, 4. Aufl. 2014, 7. Kapitel, Der erschöpfte Krieg, S. 563 ff. 2 S. F. Kirchhof, S. 61 ff. 3 So Münkler, a.a.O, S. 592. 4 S. Birkenfeld, S. 197 ff. 5 S. Montfort, S. 25 ff. 6 S. Ammann, S. 41 ff.

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Werner Widmann

sums schon im seit 1918 geltenden System vielerlei Ausnahmeregelungen insbesondere für die Exportumsätze verlangte. Steuertechnisch lässt sich das durch Befreiungen oder Vergütungen organisieren. Zugleich zeigt sich auch, dass sich eine indirekte Steuer für den Gesetzgeber sehr gut dazu eignet, versteckte Subventionen zu schaffen, die im Haushalt nicht besonders aufgeführt werden müssen, weil sie eben nur das Aufkommen der Steuer beeinflussen. 3. Das schlägt den Bogen zu den weiteren Fragen des Systems der Umsatzsteuer im III.  Abschnitt, der mit dem Beitrag „Umsatzsteuer und Besondere Verbrauchsteuern – Dogmatik und System?“ beginnt7. Das Fragezeichen hinter dieser Themenstellung deutet schon an, dass es mit einem stringenten System, zu dem eine saubere Dogmatik entwickelt werden kann, nicht allzu weit her ist. Es fehlt an einer einsichtigen Regelung der steuerbaren Verbrauchsgegenstände – warum wird Bier und Kaffee besteuert, aber nicht Wein und Tee? Die Konkurrenzen zwischen den besonderen Verbrauchsteuern und der Umsatzsteuer sind geradezu willkürlich ausgestaltet. Deshalb kommt es zu Doppelbesteuerungen. Der Zugriff auf die Konsumfähigkeit als Rechtfertigung der Verbrauchsteuern ist zu grob und verträgt sich nicht mit dem Leistungsfähigkeitsprinzip der Ertragsteuern. Das Sozialrecht nimmt zu wenig Rücksicht auf die Belastung der Verbraucher mit geringem Einkommen. Der Rechtsschutz des Verbrauchers ist ungenügend. Und der EuGH hat bisher die primärrechtlichen Fragestellungen nicht aufgearbeitet. Diese vielfältigen Problemstellungen könnten sicher ein eigenes Buch im Umfang dieser Festschrift füllen. Zu den vielen nicht wirklich überzeugend gelösten Fragen der Mehrwertsteuer gehört seit jeher die Behandlung von hohen Vorsteuern und geringen Umsätzen. Dafür hat sich in jüngerer Zeit der Begriff der Asymmetrie von Steuer und Vorsteuer gebildet. Das ist Gegenstand des zweiten Beitrags im dritten Abschnitt – besonders aktuell vor dem Hintergrund einiger Entscheidungen des EuGH aus jüngerer Zeit, die noch nicht zu einer klaren Linie gefunden haben.8 Das schlägt auf die Rechtsprechung der beiden BFH-Umsatzsteuersenate durch, die zu unterschiedlichen Ergebnissen gelangen. Die Stichworte zum Thema sind u.a. Mindestbemessungsgrundlage, Zuordnungswahlrecht, Gestaltungsmissbrauch und decken ein weites Spektrum ab. 4. Alle Arbeit mit der Umsatzsteuer ist seit 1968 nur unter Beachtung des Unionsrechts möglich. Deshalb widmet sich der IV. Abschnitt mit drei Beiträgen dem Einfluss des Unionsrechts auf das nationale Umsatzsteuerrecht. Wenn als erstes dabei „Vom Sinn der Form“ geschrieben wird 9, mag der Literaturfreund vielleicht eine spontane Assoziation zu der seit 1928 in Berlin erscheinenden Zeitschrift „Sinn und Form“ haben. Indes, es geht selbstverständlich nicht um literarische Fragen, sondern um die allerdings in weiterem Sinne bei allen geistigen Vorgängen sich aufdrängende Konkurrenz von Inhalt und Form, die schon der Philosoph Wilhelm Hegel problematisierte, indem er den Inhalt als das Wesentliche und Selb7 S. F. Kirchhof, S. 61 ff. 8 S. Nieskens, S. 77 ff. 9 S. Kokott, S. 109 ff.

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ständige, die Form hingegen als das Unwesentliche und Unselbständige beschrieb. Der Jurist Rudolf Jhering hat hingegen die Form als Feind der Willkür bezeichnet, die in einem Massenfallrecht wie der Umsatzsteuer unerträglich ist. Die Achtung der Form ist hier unverzichtbar. Allerdings kann, wie das Beispiel der Rechnung als Vo­ raussetzung des Vorsteuerabzugs zeigt, ein übertriebener Formalismus zu Systemstörungen führen. Der EuGH setzt dem in seiner Rechtsprechung zur Durchsetzung des Neutralitätsgrundsatzes deutliche Grenzen. Am Beispiel der USt-Identfikationsnummer zeigt sich, dass die von der Europäischen Kommission jetzt auf Drängen der Mitgliedstaaten vorgeschlagene Einführung einer Verpflichtung zu deren Angabe bei steuerfreien innergemeinschaftlichen Lieferungen zwar eine Formalie wäre, die aber wegen ihres Beitrags zur Umsatzsteuerbetrugsbekämpfung gerechtfertigt erscheint. Der Titel des zweiten Beitrags „Das System der Körperschaften im Wandel der Zeit“10 verspricht eine entwicklungsgeschichtliche Darstellung der Besteuerung der öffentlichen Hand seit den Arbeiten von Johannes Popitz. Er hatte schon erkannt, dass es für den Staat gestaltbar ist, ob er dem Bürger für seine Leistungen durch Steuern und Abgaben etwas abnimmt oder ob er sich selbst zum Steuerpflichtigen der Umsatzsteuer macht und seine Angebote gegen Entgelt erbringt und damit in Konkurrenz zu den privaten Anbietern tritt. Das Unionsrecht lässt den Mitgliedstaaten dazu in Art. 13 MwStSystRL einen gewissen Spielraum. Was hoheitlich ist und was wirtschaftliche Tätigkeit ist, überlässt das Unionsrecht den Mitgliedstaaten. Die Neuregelung des § 2b UStG muss sich die Frage gefallen lassen, ob hinsichtlich der Beistandsleistung eine Über- oder Unterbesteuerung stattfindet. Und schließlich ist zu erwägen, ob die Vorsteuerentlastung der öffentlichen Hand nach ausländischem Vorbild statt über die Unternehmereigenschaft besser über ein Refundsystem gelingen könnte. Dass es einen Einfluss des EuGH auf das nationale Umsatzsteuerrecht gibt, ist unbestreitbar. Und doch kommt in diesem Titel des dritten Beitrags11 ein feinsinniger Unterschied zur Überschrift des vierten Abschnitts zu Tage, denn diese spricht vom Einfluss des Unionsrechts, nicht des EuGH. Zum nicht kodifizierten Unionsrecht gehört aber eben auch die Rechtsprechung des EuGH, denn seine Entscheidungen binden alle staatliche Gewalt der Mitgliedstaaten. Die bewusst unkritische Darstellung zahlreicher Urteile des EuGH zeigt, dass zu nahezu allen Bereichen der Umsatzsteuer, angefangen von den Mitgliedsbeiträgen über den Vorsteuerabzug, die Bemessungsgrundlage bis zu den Steuersätzen und Reiseleistungen, eine ständige Ausdifferenzierung der Richtlinienvorgaben stattfindet, die freilich nicht immer zu einem homogenen Fallrecht führt. Daher tun sich oft die nationalen Instanzen  – nicht nur in Deutschland – schwer mit einer zeitnahen und korrekten Umsetzung von EuGH-Urteilen. 5. Die Umsatzsteuer im Spannungsfeld zum Verfassungsrecht ist Gegenstand von zwei Abhandlungen im V. Abschnitt.

10 S. Achatz, S. 129 ff. 11 S. Tehler, S. 141 ff.

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Zunächst wird das Spannungsfeld zwischen BFH, BVerfG und EuGH umrissen.12 Das ist für den beim gesetzlichen Richter Rechtsschutz suchenden Bürger bildlich gesprochen eine mitunter zerklüftete Landschaft mit teilweise kurvigen Straßen. Die drei Gerichte sind selbstverständlich voneinander unabhängig, müssen aber gemeinsam dem Unionsrecht dienen. An der Umsatzsteuer lassen sich die dabei denkbaren und tatsächlichen Konfliktlinien exemplarisch aufzeigen. Insbesondere durch die Vorabentscheidungsersuchen wendet sich der BFH an den EuGH, um die verbindliche Auslegung zweifelhafter Unionsrechtsnormen zu erfahren. Mitunter geht es auch darum, wie bereits ergangene EuGH-Urteile hinsichtlich neuartiger Fälle zu verstehen sind. Der Grundrechtsschutz gegen Umsatzsteuernormen, die auf Unionsrecht beruhen, ist nach der Rechtsprechung des BVerfG allein Sache des EuGH. Dazu wendet sich der EuGH in jüngerer Zeit insbesondere bei Gleichheitsfragen verstärkt dem Unionsprimärrecht zu. Die „Verfassungsbewusste Erneuerung des Umsatzsteuerrechts“ muss angesichts des bestehenden Zustandes des Umsatzsteuerrechts als Dauerbaustelle des Gesetzgebers alsbald angegangen werden. Das ist die Forderung des zweiten Beitrags im fünften Abschnitt.13 Dazu soll diese Steuerart unionsrechtskonform eingebunden werden in eine universale Kodifizierung des gesamten deutschen Steuerrechts in einem Bundessteuergesetzbuch, in dem die bisherigen Systembrüche und Widersprüche der einzelnen Steuerarten aufgelöst werden durch eine Rückbesinnung auf deren jeweiligen Besteuerungszweck. Weil das bei der Umsatzsteuer der private Letztverbrauch ist, werden die zwischenunternehmerischen Umsätze aus der Steuerbarkeit ausgenommen und einem besonderen Kontrollverfahren unterworfen. Also braucht man keine Organschaft mehr. Zugleich wird dem unsäglichen Vorsteuerbetrug die Grundlage entzogen. Auch bei steuerfreien Umsätzen gibt es den Vorsteuerabzug; damit bedarf es keiner Regelungen zur Aufteilung des Vorsteuerabzugs. Es könnte also alles wirklich einfacher werden. Leider fehlt es derzeit am politischen Willen sowohl bei der Europäischen Kommission als auch bei den Mitgliedstaaten, der Umsetzung dieser auch von Praktikern schon durchgespielten Vorschläge näher zu treten. 6. Nach diesen grundsätzlichen Erörterungen eröffnet Abschnitt VI. die Hinwendung zu den spezifischen Einzelfragen der Umsatzsteuer. Zunächst wird das Spannungsverhältnis zur AO beleuchtet. Dazu ist „das Verfahrensrecht als Rahmen für die Verwirklichung der Umsatzsteuer“ zu untersuchen.14 Die dazu ausgebreitete Historie gibt einen mitunter erstaunlichen Einblick in die Entwicklung des Rechtsschutzes durch Verfahren, zeigt aber auch die Verschränkung des Verfahrensrechts mit den materiellen Normen auf. Auch hierzu wird wieder die Rechnung als Zwitter dieser beiden Bereiche beschrieben. Die Umsatzsteuer-Voranmeldung und die Umsatzsteuer-Jahreserklärung sind verfahrensrechtlich schwierig; weitere Stichworte zu Problemzonen sind u.a. die Umsatzsteuer-Nachschau und die Beweislast.

12 S. Mellinghoff, S. 165 ff. 13 S. P. Kirchhof, S. 185 ff. 14 Birkenfeld, S. 197 ff.

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Die „Bestandsaufnahme unzulässiger verfahrensrechtlicher und prozessualer Einschränkungen im zwischenunternehmerischen Bereich insbesondere beim Vorsteuerabzug und Aufzeigen eines Ausweges“15 ist geradezu ein leidenschaftlicher Hilferuf an die Finanzgerichtsbarkeit und den Gesetzgeber aus der Praxis wegen der vielen scheinbar unentwirrbaren Verwicklungen von Steuerverfahrensrecht, Zivilrecht und es gibt, wenn auch selten, Konflikte mit dem Steuerstrafrecht, weil Bestrafungen möglich sind trotz fehlender materieller Steuerschuld. Das Rechtsschutzbedürfnis der Leistungsempfänger gegenan den leistenden Unternehmer gerichtete Verwaltungsakte wird von den Finanzgerichten oft verneint. Die Beiladung wird nicht selten als nicht zwingend angesehen. Als Vorschlag zur Lösung vieler dieser Konfliktpotentiale wird die Schaffung eines besonderen Feststellungsverfahrens mit Wirkung für und gegen alle Beteiligten an einem komplexen Sachverhalt präsentiert. Und am Schluss steht der Wunsch nach Abschaffung der Nachzahlungszinsen im zwischenunternehmerischen Bereich. 7. Umsatzsteuer und Zollrecht haben vielfältige Berührungspunkte. Sie werden im VII. Abschnitt zunächst dargestellt mit der Frage der Konnexität zwischen Zoll und Einfuhrumsatzsteuer hinsichtlich der Erlöschentatbestände im Zollrecht.16 Diese Konnexität hat der EuGH jüngst verworfen. Es kommt jetzt nur noch darauf an, dass die Waren in den freien Verkehr der Union gelangt sind. Nur dann kann es zu dem besteuerungswürdigen potentiellen Verbrauch kommen. Die sinngemäße Anwendung der Zollvorschriften auf die EUSt gem. § 21 UStG ist nur dann geboten, wenn das UStG nicht selbst Regelungen zur EUSt enthält wie z.B. § 5 UStG zu den Befreiungen und § 11 UStG zur Bemessungsgrundlage. Die EUSt ist – anders als der Zoll – kein wirtschaftliches Lenkungsmittel, sondern dient allein dem Grenzausgleich zur Gewährleistung des Bestimmungslandprinzips. Die Erlöschentatbestände setzen vo­ raus, dass überhaupt eine reguläre oder irreguläre Einfuhr positiv festgestellt wurde. Der nächste Beitrag widmet sich den Herausforderungen des digitalen Handels, die sich bei der EUSt neuerdings stellen.17 Konnte es sich der Fiskus bei den herkömm­ lichen Handelsstrukturen leisten, beim Zoll unionsweit einen Schwellenwert von 150  EUR und bei der EUSt für Kleinsendungen einen Schwellenwert von 22 EUR anzusetzen, unterhalb derer es zu keinen Eingangsabgaben kam, hat sich nun über digitale Marktplätze ein derartig umfangreicher Versandhandel aus Drittländern ergeben, dass es auch unter Wettbewerbsgesichtspunkten nötig ist, diese Schwellenwerte abzuschaffen. Das soll nach der Richtlinie vom 5.12.2017 zum 1.1.2021 geschehen. Allerdings sind die Zollverwaltungen auf die dazu notwendigen elektronischen Verwaltungsabläufe derzeit noch nicht eingestellt. Es erscheint sogar fraglich, ob der Termin des 1.1.2021 eingehalten werden kann, denn die vorgesehene Einrichtung eines elektronischen Import-One-Stop-Shop, ohne die die neue Unionsrechtslage nicht administriert werden kann, ist bis 2021 wohl nicht zu schaffen. Auch hier erweist sich, dass der Vollzug des Rechts sich oftmals nicht ohne erheblichen technischen und personellen Aufwand organisieren lässt. 15 S. Heinrichshofen, S. 221 ff. 16 S. Wolffgang, S. 239 ff. 17 S. Hercher, S. 261 ff.

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Die Gestaltungen bei der Tarifierung nach der Kombinierten Nomenklatur schlagen auf die Umsatzsteuer durch bei der Frage des zutreffenden Steuersatzes gem. §  12 UStG.18 Die dazu im dritten Beitrag des siebten Abschnitts aus der Praxis herausgegriffenen Beispiele aus dem Arznei- und Lebensmittelsektor werden zwar als Beleg dafür angeführt, wie wichtig die „Kunst der Einreihung“ sei. Das tut dem hehren Begriff der Kunst dann doch Gewalt an, denn es fällt schwer, manchen ausdrücklich so genannten Steuerirrsinn bei den Abgrenzungen des Zolltarifs für real zu halten. Die schon fast sprichwörtlichen getrockneten Schweineohren sind selbstverständlich auch erwähnt. Die Zolltarifauskunft als Hilfe in Zweifelsfällen ist für die Praxis unentbehrlich. 8. Abschnitt VIII. wendet sich mit dem Leistungsaustausch einem Schlüsselbegriff der Umsatzsteuer zu. Bevor man zum Austausch kommt, muss freilich erst die Leistung, der Gegenstand der Leistung und ihr Umfang bestimmt werden. Deshalb widmet sich der erste Beitrag19 der einheitlichen Leistung, die als „Instrument zur gebotenen Steuergerechtigkeit, zur Besteuerungsvereinfachung oder zur willkommenen Erhöhung des Steueraufkommens“ verstanden werden kann. Auch hier geht es zurück zu Popitz, der die wirtschaftliche Betrachtungsweise zur Beschreibung der Leistung favorisierte. Der BFH spricht übrigens erst seit 1966 von einheitlichen Leistungen. Dabei ist oft auch noch die Frage von Haupt- und Nebenleistung zu klären. Der EuGH kommt dabei zu nicht immer deckungsgleichen Ergebnissen, wie seine inzwischen drei Urteile zu den Mietnebenkosten zeigen. Sein jüngstes Urteil vom 18.1.2018 – Stadion Amsterdam CV – vermag nicht zu überzeugen. Auch bei den Versicherungsleistungen gibt es mäandrierende Entscheidungen. Bei Leistungsbündeln ist der Schwerpunkt der Leistung zu bestimmen, um den Ort der Leistung zu finden. Es folgt ein „ABC“ des Leistungsaustauschs, bei dem die Steuerbarkeit oder Nichtsteuerbarkeit an einer Vielzahl praktischer alter und neuer wirtschaftlicher Vorgänge untersucht wird.20 Das geht von den Gesellschafterbeiträgen über die Holdinggestaltungen zum Schadenersatz, Verzichtsleistungen, Vergleichen u.ä. bis zu den Formen der neuen „Sharing Economy“ und den kostenlosen Online-Diensten und der Zurverfügungstellung von persönlichen Daten durch die Abnehmer. Maßgeblich zur Einordnung in die Steuerbarkeit oder Nichtsteuerbarkeit soll nach der Linie des EuGH die Sicht des Durchschnittsverbrauchers zum Vorliegen einer finalen Verbindung zwischen Leistung und Gegenleistung sein. Ob diese Sicht von der tradierten wirtschaftlichen Betrachtungsweise wirklich abweicht, wird man wohl nie herausfinden. Das Vorliegen eines Leistungsaustausches ist auch oft zweifelhaft bei den Umwandlungsvorgängen.21 Das wird am Beispiel der Verschmelzung eingehend unter Beachtung der Vorgaben des Umwandlungsrechts untersucht. Danach liegt regelmäßig ein Entgelt vor, wenn an den Übernehmer Anteile ausgegeben werden oder dieser Verbindlichkeiten übernimmt. Es gibt dazu Abgrenzungsprobleme zur Geschäftsveräu18 S. Korf/Peterka, S. 273 ff. 19 S. Wagner, S. 293 ff. 20 S. Friedrich-Vache, S. 321 ff. 21 S. von Streit/Behrens, S. 359 ff.

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ßerung im Ganzen. Die Autoren räumen ein, dass es noch diverse offene Fragen gibt, die sie nicht behandeln, versprechen aber, dies in der Festschrift zum 150. Jubiläum der Umsatzsteuer nachzuholen. Dieser Gleichlauf der persönlichen Lebenserwartung mit der der Umsatzsteuer gibt sicher auch älteren Lesern der Festschrift Hoffnung und Mut. Ad multos annos! 9. Im Abschnitt IX. geht es um das immer aktuelle Thema „Gesellschafter und Gesellschaft in der Umsatzsteuer“, das auch schon beim Leistungsaustausch eine Rolle spielte. Dazu ist in den letzten Jahren der Vorsteuerabzug beim Beteiligungsbesitz verstärkt in den Blick geraten.22 Der EuGH war schon seit Jahren immer wieder mit diesen Fragen beschäftigt. Das hat aber nicht zur nötigen Klarheit geführt, so dass auch der BFH Vorabentscheidungsersuchen an ihn gerichtet hat, bei denen es um die Aufteilung der Vorsteuern bei Holdingstrukturen ging. Die Antworten des EuGH waren für die Praxis kaum hilfreich: die beiden BFH-Senate haben sie wohl auch unterschiedlich verstanden. Fraglich ist nach dem BFH-Urteil vom 19.1.2016 der Umfang des Vorsteuerabzugs auch bei Kreditumsätzen, wenn diese den Charakter von Hilfsumsätzen haben. Und es gibt seit dem Urteil des BFH vom 4.1.2016 wohl auch die Beschränkung des Vorsteuerabzugs in den Fällen der unverhältnismäßigen Kapitaleinwerbung. Trotz der intensiven Diskussion auch in der Literatur sind nach wie vor viele Fragen offen. Der EuGH wird sich sicher noch öfters mit diesen Problemen beschäftigen müssen. Von der Holding zur Organschaft ist es nicht weit.23 So schließt sich eine zunächst die Historie der Organschaft beschreibende Abhandlung der Vor- und Nachteile einer Organschaft bei der Mehrwertsteuer an. Wegen des Vorsteuerabzugs ist dieses Rechts­ institut in deren System nicht zwingend nötig. Die unionsrechtlich vorgegebene Begrenzung der Wirkungen der Organschaft auf das Inland wird problematisiert. Das Für und Wider einer Umsatzsteuergruppe, die es in anderen Mitgliedstaaten gibt, kommt zum Ergebnis, dass das nur sinnvoll wäre, wenn alle Mitgliedstaaten ein derartiges Rechtsgebilde zuließen. Die Unterschiede des §  2 Abs.  2 UStG gegenüber Art. 11 MwStSystRL sind insbesondere bei der Über- und Unterordnung augenfällig. Große Schwierigkeiten gibt es bei der Insolvenz; national sollte ein Anerkennungsverfahren für die Organschaft eingeführt werden. Bekanntlich ist dies eine seit langem erhobene Forderung, die aber bisher vom Gesetzgeber nicht aufgegriffen wurde. Die bereits angesprochenen finanziellen, wirtschaftlichen und organisatorischen Eingliederungskriterien sollten neu ausgerichtet werden – diesen Wunsch begründet ein eigener Beitrag24, der die vorhergehenden Ausführungen ergänzt und vertieft – auch in der Kritik an manchen Urteilen der beiden BFH-Senate, die z.B. bei der Anerkennung einer Personengesellschaft als Organ entsprechend der neuen EuGH-Rechtsprechung erkennbar unterschiedlich weit gehen wollen. Wie aktuell die praktischen

22 S. Stapperfend, S. 387 ff. 23 S. Ismer/Reiß, S. 413 ff. 24 S. Slapio, S. 439 ff.

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Fragen bei § 2 Abs. 2 UStG sind, zeigt auch, dass sich zum Reformbedarf auch noch ein Beitrag im Abschnitt XIX.25 (Umsatzsteuer in der Zukunft) findet. 10. Mit den unentgeltlichen Wertabgaben beschäftigt sich der X. Abschnitt. Im ersten Beitrag werden die objektiven Tatbestandmerkmale der Entnahme und der Zuwendung diskutiert.26 Die Entnahme ist danach eine negative Zuordnungsentscheidung des Unternehmers, die die Zugehörigkeit des entnommenen Gegenstands zum Unternehmen aufhebt. An den vom BFH entschiedenen „Mähdrescher“-Fällen zeigt sich, dass eine Bruchteilsgemeinschaft keine wirtschaftliche Tätigkeit gegenüber ihren Mitgliedern ausführen muss und damit auch keine unentgeltlichen Wertabgaben erbringt, wenn sie die Nutzung der gemeinschaftlichen Wirtschaftsgüter ohne Entgelt gestattet. Die weite Formulierung des § 3 Abs. 1b UStG bei unentgeltlichen Lieferungen aus unternehmerischen Gründen erlaubt und verlangt eine teleologische Einschränkung auf die Fälle der typischen Endverbrauchersituation, die nicht vorliegt, wenn die Wertabgabe in weitere unternehmerische Aktivitäten des Empfängers eingeht. Auch bei diesem Thema ist zu konstatieren, dass nach einhundert Jahren immer noch viele Probleme nicht befriedigend gelöst sind. Dass sie noch nicht „hinreichend (d.h. höchstrichterlich)“ durchdacht sind, stimmt sicher. Dass aber auch höchstrichterliches Durchdenken nicht immer zu klaren Ergebnissen führen muss, wird im Beitrag zu „Entnahme, Einlage und Berichtigung“27 anhand der Rechtsprechung des EuGH unter Beweis gestellt. Dem Traum von einer einfachen Besteuerung steht die real existierende Welt der Besteuerung gegenüber und diese wird bei der Umsatzsteuer maßgeblich vom EuGH geprägt. Mit seinen Urteilen in den Rechtssachen Lennartz, Armbrecht, Puffer und VNLTO hat er zum Teil verblüffende Ergebnisse hervorgebracht, die sogar zur Änderung der MwStSystRL durch Schaffung des Art. 168a MwStSystRL nötigten (rechtsprechungsüberholende Gesetzgebung). Die verfehlte Statuierung einer gewillkürten Zuordnungsentscheidung zur Erlangung des Vorsteuerabzugs führt zu kaum zu rechtfertigenden Folgen bei der Vorsteuerberichtigung und steht einer sachgerechten Lösung der Einlagenproblematik im Wege. Immerhin endet der Beitrag mit der Hoffnung, dass der EuGH in den nächsten hundert Jahren aus dem Dickicht seiner Urteile herausfindet –auch vor dem Hintergrund des Art. 168a MwStSystRL. 11. Abschnitt XI. widmet sich der Hauptperson des Umsatzsteuerrechts: Das ist in der Sprache der MwStSystRL der Steuerpflichtige, im UStG bekanntlich seit jeher der Unternehmer gem. § 2 UStG. Allerdings interessiert sich die Umsatzsteuer regelmäßig nur dann für ihn, wenn er als solcher handelt, denn neben seiner wirtschaftlichen Tätigkeit hat er typischerweise auch noch eine nichtunternehmerische Sphäre. Anhand des EuGH-Urteils vom 11.5.2017 in der Rechtssache Posnania Investment wird im ersten Beitrag28 unter25 S. Elster, S. 875 ff. 26 S. Heuermann, S. 461 ff. 27 S. Wäger, S. 477 ff. 28 S. Hummel, S. 497 ff.

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sucht, ob die Hingabe von Wirtschaftsgütern an den Fiskus zur Begleichung von unternehmerischen Steuerschulden, die nach polnischem Recht möglich ist – ähnlich wie gem. § 224a AO in Deutschland, dort allerdings nur für Zwecke der Vermögenund Erbschaftsteuer, ein Handeln eines Steuerpflichtigen als solchem darstellt. Der EuGH hat das, entgegen den Schlussanträgen der Generalanwältin, verneint, weil es an einer Lieferung fehle. Das wird für nicht überzeugend gehalten. Es liege durchaus eine Lieferung gegen Entgelt vor. Bei § 224a AO wird das Handeln als Steuerpflichtiger verneint. Hier liegt es dann nahe, in der Hingabe von unternehmerischen Gegenständen zur Tilgung einer privaten Erbschaftsteuerschuld eine Entnahme zu erblicken. Selbstverständlich durfte ein Beitrag zu Unternehmereigenschaft der öffentlichen Hand im Hinblick auf den ab dem 1.1.2017 geltenden § 2b UStG nicht fehlen.29 Da diese Norm erst ab dem 1.1.2021 von allen juristischen Personen des öffentlichen Rechts zu befolgen ist, weil die meisten gegenwärtig nach Option gem. § 27 Abs. 22 UStG noch das bisherige Rechts gem. § 2 Abs. 3 UStG im Verständnis der Verwaltung anwenden, weisen die Ausführungen in die nahe Zukunft. Dabei stellt sich schnell heraus, dass die jetzt stattgefundene Hinwendung des UStG zu den unionsrechtlichen Vorgaben in Art. 13 MwStSystRL weitreichende Umstellungen der bisher eingeübten Rechtsauffassungen und Verfahrensabläufe verlangt. Die bei den juristischen Personen für die Steuerfragen verantwortlichen Amtsträger werden sich ungewohnten Haftungsfragen stellen müssen. Die neuere Rechtsprechung des EuGH stellt das bisher praktizierte Behördenprinzip bei der Veranlagung in Frage. Daher ist zu klären, ob der Bund und die Länder jeweils nur noch eine Umsatzsteuer-Voranmeldung und -Jahreserklärung abgeben dürfen, in der sämtliche Umsätze ihrer Behörden zu erfassen sind. Die Fortsetzung der bisherigen Praxis nach dem Behördenprinzip könnte alsbald auf dem Prüfstand eines Finanzgerichts stehen. 12. Das internationale Umsatzsteuerrecht beschränkt sich nicht auf den Binnenmarkt, sondern stellt allgemein gültige Regeln für grenzüberschreitende Umsätze auf. Anknüpfungspunkt für den Ort der sonstigen Leistungen ist regelmäßig der Ort des Sitzes oder einer Betriebsstätte des Leistenden oder des Leistungsempfängers. Das schafft erhebliche praktische Probleme, weil der Begriff der Betriebsstätte oder festen Niederlassung vom EuGH nicht klar definiert wird. Das schlägt sich auch in Art. 11 MwStDVO nieder, der nur die EuGH-Urteile kodifiziert hat. Der erste Beitrag30 im Abschnitt XII zeigt anhand von EuGH-Urteilen exemplarisch auf, dass der vom EuGH favorisierte Vorrang des Sitzes nicht gerechtfertigt ist. Das zeige auch, dass das Umsatzsteuerrecht in seinem gegenwärtigem Zustand einerseits von der Rechtsprechung des EuGH zu den wichtigsten Fragen lebt, aber mitunter auch daran leidet, dass viele Fragen durch sekundäres und tertiäres Unionsrecht eben nicht eindeutig geregelt sind. Im anschließenden Beitrag31 spielt die feste Niederlassung auch eine zentrale Rolle. Da sie auch im BEPS-Projekt im Mittelpunkt vieler Überlegungen zur fairen ertrag29 S. Küffner/Kirchinger, S. 515 ff. 30 S. Englisch, S. 533 ff. 31 S. Scholz, S. 557 ff.

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steuerlichen Verteilung von Gewinnen bei multinationalen Aktivitäten steht, ist es geboten, die Anforderungen, Rechtsfolgen und Praxisfragen der BEPS-Grundsätze bei der Umsatzsteuer zu untersuchen. Ausgangspunkt ist dabei die grundsätzliche Anknüpfung der Umsatzsteuer an den Ort der Leistung, der immer nur in einem Staat liegen kann; es gibt dabei keine Aufteilung auf verschiedene Territorien, so dass das Recht zur Besteuerung des Umsatzes stets nur einem Staat zustehen kann. Da sich aber über die Schaffung von Tochtergesellschaften, Betriebsstätten und festen Niederlassungen die wirtschaftliche Tätigkeit eines Unternehmens in verschiedenen Staaten abspielt, kommt es zu den Problemen der Abgrenzung von Stammhaus und aus diesem ausgelagerten Betriebsteilen. Das ist in den Zeiten der digitalen Wirtschaft von großer praktischer Bedeutung. Aber auch schon so banale Anlagen wie Windräder zur Erzeugung von Energie sind nicht eindeutig als Betriebsstätten zu begreifen. 13. Die Umsatzsteuer verschont bestimmte Umsätze durch die Steuerbefreiung. Weil das bei nicht grenzüberschreitenden Umsätzen mit dem Verlust des Vorsteuerabzugs einhergeht (§ 15 Abs. 2 UStG), gibt § 9 UStG bei einigen Steuerbefreiungen das Recht der Option zur Steuerpflicht. Diese verschafft den Zugang zum Vorsteuerabzug. Im XIII. Abschnitt wird dieses Gestaltungsrecht untersucht bei den steuerbefreiten Finanzdienstleistungen.32 Der historische Rückblick auf die gesetzgeberische Entwicklung des Umfangs der Steuerbefreiung belegt eine bis heute anhaltende und bemerkenswerte Schwankungsbreite. Es fällt auch auf, dass die umsatzsteuerrechtliche Einordnung bankentypischer Aktivitäten oft gewechselt hat, weil die Leistungsbeziehungen eine neue Beurteilung erfahren haben. Das macht es der Praxis – sowohl den Unternehmern als auch der Verwaltung – nicht gerade leicht. Die Frage, wie z.B. eine aus 145 Einzelleistungen bestehende Leistung eines Rechenzentrums in der Finanzbranche zu qualifizieren ist, wird immer kontrovers diskutiert werden. Auch die Optionsmöglichkeit erfuhr mit der Zulassung der Einzeloption gegenüber der ursprünglich vorgeschriebenen Gesamtoption eine wichtige Änderung. Die Aufteilung der Vorsteuern ist bis heute nicht bundeseinheitlich geregelt, weil die Verwaltung den lange geltenden sog. Bankenschlüssel abgeschafft hat, ohne eine klare Nachfolgeregelung zu schaffen. Auch die Steuerbefreiung für heilberufliche Umsätze33 gem. § 4 Nr. 14 UStG hat vor allem in den letzten Jahren eine bewegte gesetzgeberische Entwicklung aufzuweisen, die teilweise sowohl vom BVerfG als auch vom EuGH angestoßen wurde. Vor allem aber ist die Diversifizierung der Heilberufe mit völlig neuen Berufsbildern Anlass für viele Rechtsstreitigkeiten darüber, ob eine Heilbehandlung vorliegt oder nicht. Die Zahl der dazu im zweiten Beitrag des XIII. Abschnitts zitierten EuGH-, BFH- und FG-Urteile ist geradezu beängstigend, weil es nichts zu geben scheint bei § 4 Nr. 14 UStG und dessen unionsrechtlichen Vorgaben, über das nicht schon gestritten wurde. Man denke nur an die sog. Schönheitsoperationen, die gegenüber kosmetischen Eingriffen zur Heilung einer psychischen Erkrankung abzugrenzen sind. Das sich immer

32 S. Philipowski, S. 579 ff. 33 S. Heidner, S. 605 ff.

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noch entwickelnde Medizinrecht hat die Umsatzsteuer fest im Griff, so dass nicht absehbar ist, dass die geschilderte Dynamik bald aufhört. 14. Der XIV. Abschnitt – Sonderprobleme zum Steuersatz – beschäftigt sich mit der Bedeutung des Unionsrechts für die Steuerermäßigungen des § 12 Abs. 2 UStG.34 Die schon bei den Steuerbefreiungen im vorigen Abschnitt auffallende Vielzahl von Judikaten wird beim ermäßigten Steuersatz gem. § 12 Abs. 2 UStG noch übertroffen. Die Steuersatzfrage wurde z.B. bei Nahrungsergänzungsmitteln genauso streitig wie bei Weihnachtsbäumen, der EuGH stellte fest, dass Deutschland zu Unrecht jahrzehntelang den Umsatz mit Pferden nur ermäßigt besteuert hat, die Saunaumsätze waren gegenüber den Heilbädern abzugrenzen, der Regelsteuersatz für das Frühstück im Hotel nach einer ermäßigt zu besteuernden Übernachtung wuchs sich geradezu zu einer nationalen Erregung in Deutschland aus. Das sind nur einige beliebige Beispiele, die wir der unionsrechtlichen Möglichkeit verdanken, bestimmte Umsätze dem ermäßigten Steuersatz zu unterwerfen. Der deutsche Gesetzgeber macht davon munter Gebrauch. Dabei sind das unionale Primärrecht, das Sekundärrecht und das Tertiärrecht vor oder neben dem deutschen Recht zu beachten. Wenn sich allerdings die Vorschläge der Europäischen Kommission zur weitgehenden Freigabe des Anwendungsbereichs für ermäßigte Steuersätze in den Mitgliedstaaten durchsetzen sollten, kommen auf die inländischen Unternehmer die Probleme, die jetzt schon in Deutschland kaum mehr zu beherrschen sind, aus allen EU-Mitgliedstaaten zu. Dann müsste der hier vorgestellte Beitrag für jedes Land, das ermäßigte Steuersätze hat, neu geschrieben werden. Der Band verdiente aber bestimmt nicht die Bezeichnung „Festschrift“! 15. Ohne Bemessungsgrundlage kommt man zu keiner Steuer. Das Entgelt ist nicht nur die in den meisten Fällen bei der Umsatzsteuer gem. § 10 UStG seit jeher anzusetzende Bemessungsgrundlage. Es ist auch Tatbestandsmerkmal des Unternehmerbegriffs und des Leistungsaustauschs. Insofern gibt es dazu nicht nur Ausführungen in den beiden Beiträgen im XV. Abschnitt – Bemessungsgrundlage –, sondern auch bei den Abhandlungen zu diesen anderen Komplexen. Diese Zusammenhänge werden im ersten Beitrag35 erörtert. Es folgen Ausführungen zu den Bemessungsgrundlagen für die unentgeltlichen und verbilligten Leistungen sowie beim Tausch und tauschähnlichen Umsätzen. Die Entgeltsminderungen und -erhöhungen gem. § 17 UStG sind ein weiterer Schwerpunkt, wobei die Rechtsprechung des EuGH, insbesondere das jüngst ergangene Urteil in der Rechtssache Boehringer Ingelheim als mitunter schwer nachvollziehbar beschrieben wird. Die Bestimmung einer Bemessungsgrundlage ist auch eines der Probleme, die sich bei den „kostenlosen“ digitalen Dienstleistungen ergeben. Das vertieft der zweite Beitrag des XV. Abschnitts36, wobei zuvor das Vorliegen eines Leistungsaustauschs untersucht wird. An den neuen Fragestellungen, die durch die digitale Wirtschaft entstehen, kann gleichsam die Probe auf die Exempel gemacht werden, die in allen Texten 34 S. Kraeusel, S. 629 ff. 35 S. Grünwald, S. 677 ff. 36 S. Riedlinger, S. 699 ff.

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der Festschrift zu finden sind. Es hat den Anschein, dass mit der Anerkennung der Unternehmereigenschaft der Kunden, die ihre Daten dem leistenden Unternehmer zur Verfügung stellen als Teil ihres Entgelts  – so die denkbare Konstruktion eines Leistungsaustausches – die Umsatzsteuer implodiert. Denn der Vollzug wäre dieser Betrachtungsweise nicht gewachsen. Die Diskussion zu diesen Fragen muss unionsweit geführt werden; nationale Lösungen helfen hier nicht. Vielleicht sollte man sich daran erinnern, dass es eine ähnliche Diskussion schon in der Frühzeit der Umsatzsteuer zur Unternehmereigenschaft der Sparer gegeben hat. Sie ist nach dem Tatbestand des § 2 UStG leicht zu begründen, sie würde den Unternehmerbegriff aber „überspannen“. Eine ähnlich topische Lösung sollte auch zur digitalen Wirtschaft gesucht werden. 16. Der XVI. Abschnitt kommt mit dem Vorsteuerabzug zum Kernelement des Mehrwertsteuersystems. Er ist zur Herstellung der Neutralität unverzichtbar, zugleich aber auch Ausgangspunkt des fiskalisch unerträglichen Vorsteuerbetrugs. Dabei ist die Abgrenzung von Umgehung und Missbrauch zum Betrug und zur Hinterziehung oft nicht eindeutig vorzunehmen.37 Der EuGH hat es als einen unionsrechtlichen Grundsatz erkannt, dass sich niemand missbräuchlich auf das Unionsrecht berufen kann. Er schützt den gutgläubigen Erwerber, bringt Regeln zur Beweislast, kommt bei nachgewiesener Betrugsbeteiligung oder -kenntnis aber zum Verlust des Vorsteuerabzugsrechts. Die sich daraus ergebende Folge einer Doppelbesteuerung nimmt er in Kauf. Seine Anforderungen an den guten Glauben sind insofern sehr streng, als er auch das „Wissenmüssen“ und sogar das potentielle „Hätte—Wissenmüssen“ als schädlich betrachtet. Diese Überlegungen zum Missbrauch und Vorsteuerabzug werden fortgesetzt in der Untersuchung, wie sicher die Umsatzsteuer gegen Umgehung und Hinterziehung ist, wobei auch da die Grenzlinien von Steuergestaltung, Missbrauch und Hinterziehung ausgelotet werden.38 Die bekannten Zahlen zu den geschätzten Steuerausfällen, die inzwischen sogar von der Europäischen Kommission genannt werden, um ihre Vorschläge zum endgültigen System zu untermauern, sind erschreckend. Dennoch ist der Umsatzsteuerbetrug beherrschbar, wenn die Verwaltung dazu die nötige Personalund IT-Ausstattung bekommt. Am Beispiel vieler aus dem Leben gegriffenen Gestaltungen wird aufgezeigt, dass mit rechtzeitigen Kontrollen viele Taten und Gestaltungen verhindert werden könnten. Auch das Reverse-Charge-Verfahren ist ein sinnvolles Instrument zur Betrugsverhinderung, wenn auch um den Preis der erheblichen Komplizierung. Der europäische und der nationale Gesetzgeber sollten daher die Befolgungskosten einer Gesetzesänderung intensiver in seine Überlegungen einbeziehen. Der dritte Beitrag39 in diesem Abschnitt stellt die Rechnung als unverzichtbares Dokument für den Vorsteuerabzug in den Mittelpunkt. Die Befolgungskosten zur Ein37 S. Ehrke-Rabel, S. 721 ff. 38 S. Kemper, S. 749 ff. 39 S. Huschens, S. 773 ff.

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haltung der formellen Rechnungsanforderungen sind enorm hoch. Anhand von elf EuGH-Urteilen zu den Anforderungen an die formalen Voraussetzungen eines Abrechnungsdokuments und der Zulässigkeit seiner Berichtigung wird aufgezeigt, dass es ein langer Weg war, bis der EuGH die rückwirkende Möglichkeit der Rechnungsberichtigung ausdrücklich zugelassen hat. Man könnte dazu auch sagen, dass es erst dieser Urteile bedurfte, um die deutsche Verwaltungspraxis auf den unionsrechtlich zutreffenden Auslegungspfad zu zwingen. Trotz dieser Urteile bestehen nach wie vor Unklarheiten, welche Mindestanforderungen an ein Abrechnungsdokument gestellt werden müssen und es ist auch denkbar nach der EuGH-Rechtsprechung, dass in besonders gelagerten Einzelfällen auf eine Rechnungsberichtigung sogar verzichtet werden kann, wenn es andere Dokumente gibt, die den Bezug für das Unternehmen in tatsächlicher Hinsicht zweifelsfrei belegen. 17. Eine Leidensgeschichte ohne Vorbild ist die gesetzgeberische Entwicklung der Steuerschuldverlagerung40 gem. § 13b UStG, die das bis Ende 2001 geltende Umsatzsteuer-Abzugsverfahren ablöste. Das schildert der XVII. Abschnitt. Die genial-einfache Idee, den Vorsteuerabzug des Leistungsempfängers bei diesem direkt mit der Steuerschuld für die Leistung verrechenbar zu machen, indem die Steuerschuld des leistenden Unternehmers auf den Leistungsempfänger übertragen wird, beseitigt einen großen Teil der Vorsteuerbetrugsfälle. Um das Ergebnis des Beitrags vorweg­ zunehmen: Das kann aber nur gelingen, wenn das Reverse-Charge-Verfahren generell eingeführt würde, also ein grundsätzlicher Systemwechsel stattfände, wie von Deutschland und Österreich schon vor über zehn Jahren ausgearbeitet. Damals war hier auch bei der Umsatzsteuer bei einigen Steuerpolitikern im Bund und in den Ländern die Aufgeschlossenheit für vereinfachende Reformen merklich ausgeprägter als gegenwärtig. § 13b UStG wurde ständig erweitert, mit Ausnahmen und Rückausnahmen immer komplizierter. Mehr als 30 (in Worten: dreißig) BMF-Schreiben sind dazu ergangen. Sogar ein sog. Schnellreaktionsmechanismus wurde auf EU-Ebene erfunden, um in den Mitgliedstaaten rasch für einzelne Sektoren das Reverse-Charge-Verfahren einführen zu können. Und der Gipfel war in Deutschland dann die Entwicklung der Bauträgerfälle, die zur Schaffung des § 27 Abs. 19 UStG führte, der bis heute die Finanz- und Zivilgerichte beschäftigt. Der Richtlinienvorschlag der Euro­ päischen Kommission, den sich Tschechien zur Einführung der Steuerschuldverlagerung ertrotzt hat, vegetiert in Brüssel ohne Aussicht auf Erfolg. 18. Die im Beitrag „Vom Sinn der Form“ grundsätzlich und rechtsmethodisch bearbeiteten Probleme werden im Abschnitt XVIII. an den konkreten Formerfordernissen und Nachweispflichten bei innergemeinschaftlichen Lieferungen einem konkreten Praxistest unterzogen. Zunächst geht es um die Gelangensbestätigung und die USt-IdNr.41 Der EuGH hat hier – im Gegensatz zur jahrzehntelangen Praxis in Deutschland, die auch vom BFH 40 S. Filtzinger, S. 801 ff. 41 S. Neeser, S. 829 ff.

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gepflegt wurde – entschieden, dass der Ausfuhrnachweis keine materielle Voraussetzung des Steuerfreiheit der Ausfuhrlieferung ist. Entsprechend hat er zu den Nachweispflichten bei den innergemeinschaftlichen Lieferungen geurteilt. Damit hat der Steuerpflichtige eine Vielzahl von Nachweismöglichkeiten; es gibt den sog. Objek­ tivnachweis. Allerdings hat der BFH im Urteil vom 19.3.2015 den Zeugenbeweis im Regelfall ausgeschlossen. Das habe verheerende Wirkungen in der Praxis und sei daher abzulehnen. Die Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Plöckl vom 20.10.2016, wonach die Angabe einer nicht im MIAS-System registrierten USt-IDNr.  in der Rechnung des Lieferanten der Steuerbefreiung der innergemeinschaftlichen Lieferung nicht entgegensteht, bringt nachträglich die Lösung des VSTR-Falles. Allerdings hat die Europäische Kommission in ihren Vorschlägen vom 4.10.2017 die Angabe der zutreffenden USt-ID-Nr. doch wieder zum materiellen Tatbestandmerkmal der steuerbefreiten innergemeinschaftlichen Lieferung erhoben. Das hält der Verfasser für vorschnell. Der plakative Titel des folgenden Beitrags „Ohne Belege geht es nicht“42 zeigt auf, dass nicht zuletzt allein die Einhaltung der Formvorschriften im aktuellen Tagesgeschäft gewährleistet, dass die Steuerfreiheit bei grenzüberschreitenden Lieferungen rechtssicher erreicht wird. Insofern müsse die traditionell als Buchhaltersteuer abgetane Umsatzsteuer genau die Voraussetzungen pflegen, die sie für die Buchhalter beherrschbar machen. Der Streit um den VSTR-Fall, der nach dem EuGH-Urteil noch zu weiteren BFH-Urteilen und einem FG-Urteil führte, zeigt, dass auch alltägliche Fälle mit verhältnismäßigen Aufwand kaum mehr zu lösen sind. Die Aufwertung der USt-IDNr.  zum materiellen Tatbestandmerkmal nach dem Vorschlag der Europäischen Kommission wird deshalb nicht abgelehnt. Nur die Bestätigung der USt-IDNr. und die Kontrolle des Zahlungsflusses vom Leistungsempfänger zum Leistenden könne die ordnungsmäßige Erhebung der Umsatzsteuer sicherstellen – gleichgültig ob das Bestimmungslandprinzip oder das Ursprungslandprinzip gilt. Mit den Anforderungen der Umsatzsteuer an den digitalen und digitalisierten Rechnungseingang wird ein Blick in die Zukunft der Formerfordernisse geworfen.43 Das geht über die elektronische Rechnung i.S. von § 14 UStG weit hinaus. Viele Leser werden dabei sicher mit digitalen Formaten und Möglichkeiten konfrontiert, die sie bisher (noch) nicht nutzen. Wer versteht sich schon darauf, seine Reisekostenbelege während der Reise mobil in der Weise zu scannen, dass sie im Betrieb so gespeichert werden können, wie das vorgeschrieben ist? Überhaupt: Die technischen Anforderungen und Möglichkeiten der Unternehmen sind für die Verwaltung bisher noch nicht alle nachvollziehbar, weil es an der Technik, aber auch an den Fertigkeiten bei den Prüfern fehlt. Da kommen völlig neue technische Herausforderungen bei den Nachweisführungspflichten auf die Steuerpflichtigen und die Verwaltung zu. Vorbild könnten die Vorschriften über die elektronische Rechnungserteilung im öffentlichen Auftragswesen im Gesetz vom 4.4.2017 sein.

42 S. Winter, S. 853 ff. 43 S. Groß, S. 865 ff.

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19. Diese Darstellung bereits bestehender, aber stark wachsender digitaler Möglichkeiten schlägt die Brücke zum letzten Abschnitt der Festschrift. Er ist überschrieben mit „Umsatzsteuer in der Zukunft“. Das nimmt die in allen Beiträgen spürbare Erwartung auf, dass es auch in der Zukunft eine stabile Umsatzsteuer geben wird. Dass dabei auch alte Rechtsinstitute wie die auch schon in anderen Beiträgen44 angesprochene Organschaft mit ihrer wechselhaften Geschichte immer noch einen hohen Reformbedarf haben, sowohl bei den unionsrechtlichen Vorgaben zum Tatbestand in dem nur rudimentären Art. 11 MwStSystRL als auch in verfahrensrechtlicher Hinsicht, wird im ersten Beitrag deutlich.45 Die Rechtsprechung des EuGH zu den Vorgaben an die nationalen Gesetzgeber zeigt, dass der Richtliniengeber diese präzisieren sollte. Und die Rechtsprechung des BFH z.B. zur Organfähigkeit von Personengesellschaften ist trotz vermeintlicher Übereinstimmung des V. und XI. Senats noch keineswegs so zuverlässig ausgereift, dass sie in der Praxis bei Gestaltungsfragen hilfreich ist. Ein weites Feld mit vielen Unsicherheiten liegt bei den Insolvenzen teilweise brach, weil die Rollen der verschiedenen Insolvenzphasen mit Verwaltern mit unterschiedlichen Kompetenzen nicht exakt festgelegt sind. Und ob überhaupt eine Organschaft vorlag, wird mitunter erst klar bei Eintritt einer Insolvenz im (vermeintlichen) Organkreis. Daher wird dringend empfohlen, mit der gesetzgeberischen Schaffung eines Feststellungs- oder Antragsverfahren endlich die für die Praxis unentbehrliche Rechtssicherheit herbeizuführen. „50 Jahre Mehrdeutschigkeiten und 25 Jahre Bewusstseinsspaltung im Umsatzsteuergesetz!“46 Dieser Titel des nächsten Beitrag lässt schon ahnen, dass mit einer ausdrücklich als provokant bezeichneten Wortschöpfung eine Philippika gegen den ­Gesetzgeber und seine Gehilfen zu erwarten ist, weil es immer noch zu viele alther­ gebrachte Begriffe im UStG gebe anstelle der von den unionsrechtlichen Normen ­verwendeten Begriffe. Das macht eine lange Liste mit Gegenüberstellungen der unterschiedlichen Wortwahl des Unionsrechts und des UStG deutlich. Erneut wird ge­ fordert, statt von Umsatzsteuer von Mehrwertsteuer zu sprechen – immerhin hatte der Gesetzgeber beim Systemwechsel zum 1.1.1968 hinter das Wort Umsatzsteuer noch den Begriff Mehrwertsteuer gesetzt. Das schien ihm dann allerdings wieder entbehrlich, als sich das neue System in der Praxis eingespielt hat. Dass der EuGH sich an die Wortwahl des Unionsrechts hält, ist selbstverständlich, zwingt aber sicher den deutschen Gesetzgeber nicht zur wörtlichen Übernahme der unionalen Terminologie, denn wenn klargestellt wird, dass mit den traditionellen Begriffen wie z.B. des Unternehmers genau das gemeint ist, was die EU- Richtlinien mit dem Begriff des Steuerpflichtigen sagen, dann gilt eben auch das unionsrechtliche Prinzip, dass die Richtlinien den Mitgliedstaaten nur das Ziel vorgeben, aber nicht die Wortwahl. Ob die Verengung des Begriffs der „Einrichtung“ in Art. 13 MwStSystRL auf die juristische Person des öffentlichen Rechts in § 2b UStG tatsächlich ein Umsetzungsdefizit darstellt, wird sich sicher bald in der Praxis herausstellen. 44 S. Ismer/Reiß, S. 413 ff. und Slapio, S. 439 ff. 45 S. Elster, S. 875 ff. 46 S. Lohse, S. 897 ff.

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Die von der Europäischen Kommission Ende des Jahres 2017 vorgelegten ersten Vorschläge für das endgültige Mehrwertsteuersystem in einem einheitlichen euro­ päischen Mehrwertsteuerraum sind Gegenstand von zwei Abhandlungen.47 Die sog. Quick Fixes als Provisorien können sicher für sich gesehen einige der gegenwärtig schwer praktizierbaren Regelungen zu den Reihengeschäften und zur Steuerbefreiung der innergemeinschaftlichen Lieferungen entkrampfen, aber sie sind kein nennenswerter Beitrag zur (besseren) Zukunft der Mehrwertsteuer. Diese wird sich an sieben Dichotomien messen lassen müssen: Es wird darum gehen, ȤȤ ob die Vereinheitlichung oder die Vielfalt nationaler Regelungen die Oberhand gewinnt, ȤȤ ob es abstrakt-generelle Normen gibt oder ein Case Law, ȤȤ ob es zu einer Einmalbesteuerung, Doppelbesteuerung oder Doppelnichtbesteuerung kommt, ȤȤ ob der Leistende oder eine andere Person Steuerschuldner ist, ȤȤ ob analoge oder digitale Rechnungen verlangt werden, ȤȤ ob die Betrugsbekämpfung einen Paradigmenwechsel erfordert, ȤȤ ob es bei einer allgemeinen Umsatzsteuer bleibt oder eine Vielheit von Sonderumsatzsteuern kommt.48 Die ­Bewertung des vorgeschlagenen Übergangs zum Bestimmungslandprinzip mit der Steuerbarkeit grenzüberschreitender Lieferungen am Ort des Empfängers stößt auf erhebliche Skepsis, erst recht wenn die Rolle des von der Kommission dazu erdachten zertifizierten Steuerpflichtigen durchgespielt wird. Die weitgehende Freigabe des Anwendungsbereichs ermäßigter Steuersätze für die nationalen Gesetzgeber wird in Übereinstimmung mit der Beschlusslage des Bundesrates als Rückschritt bei der Steuerharmonisierung angesehen, die auf große praktische Schwierigkeiten stoßen wird. Leider kann (noch) nichts zur Haltung der Bundesregierung zu diesen Fragen berichtet werden.49 Der letzte Beitrag widmet sich den Vollzugsfragen, die sich im Binnenmarkt ergeben.50 Die Zukunft der Mehrwertsteuer wird ganz wesentlich davon bestimmt sein, wie sich der Vollzug gleichmäßig durchsetzen lässt. Die gegenwärtigen Aufkommenslücken, die sich aus betrügerischen Gestaltungen und aus der Nicht- oder Falsch­ erklärung von Umsätzen ergeben, sind auch unter dem Gesichtspunkt der unionsweiten Wettbewerbsgleichheit unerträglich. Die Unausweichlichkeit der Belastung, die den rechtsstaatlichen Steuervollzug kennzeichnet, ist gegenwärtig bei den von der Kommission ermittelten Ausfallquoten von teilweise mehr als 30 v.H. in einzelnen Mitgliedstaaten erkennbar in der Union nicht gewährleistet. Das wird durch den 47 S. Ismer, S. 935 ff. und Vellen, S. 955 ff. 48 S. Ismer, S. 935 ff. 49 S. Vellen, S. 955 ff. 50 S. Widmann, S. 987 ff.

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Übergang zum Bestimmungslandprinzip eher noch schlechter werden wegen neuer Betrugsmodelle, die durch den als Verfahrenserleichterung gedachten One-StopShop sogar verdeckt werden. Die Vorschläge der Kommission werden deshalb abgelehnt. Somit stellt sich die von der Kommission bisher nicht ernsthaft untersuchte Frage, ob das Allphasensystem mit Vorsteuerabzug, das als größten Vorzug den exakten Grenzausgleich hat, wirklich noch langfristig in einem Binnenmarkt ohne Steuergrenzen administriert werden kann. Dafür spricht nicht mehr viel, denn die jetzt auch vorgeschlagene Verlagerung der Steuerschuld bei grenzüberschreitenden Lieferungen auf den Leistungsempfänger, wenn dieser zertifiziert ist, bringt eher Komplizierung anstelle der notwendigen Einfachheit. Es gibt schon bessere Vorschläge.

V. Zueignung und Hoffnung Die vielen Wünsche zur Zukunft der Mehrwertsteuer können die bestehenden Normen selbst natürlich nicht erfüllen. Deshalb muss man sie umleiten auf die Legislative und die Exekutive sowie die später agierende Judikative. Und dabei sollte man die Normadressaten einschließen, d.h. die Steuerpflichtigen. Sie sind es, die das Gesetz als erste anwenden müssen. Und sie haben immerhin nach Art. 41 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union den Anspruch auf eine gute Verwaltung, die  mit schlechten Gesetzen unverhältnismäßig schwierig ist. Schließlich darf man auch die Verbraucher als die Träger der Steuer nicht vergessen. Auch wenn sie selbst keine direkten Befolgungspflichten und -kosten haben, sorgen sie für das Aufkommen. Obwohl sie niemand kennt, sitzen beim EuGH in den Beratungen wenigstens die von ihm erdachten Durchschnittsverbraucher am Tisch und geben mitunter das Maß des Eingriffs der Umsatzsteuer in ihr dem Konsum gewidmeten Vermögen vor. Diese Laudatio konnte nur versuchen, die ungeheure Fülle der Gedanken und Vorschläge zur Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Umsatzsteuer in Deutschland und Europa zu skizzieren. Dabei schöpft sie aus den Beiträgen die Hoffnung aus dem Schlusschor des Oratoriums Semele51 von Georg Friedrich Händel, der selbstverständlich keinen Bezug zur Umsatzsteuer hat, aber doch die Verheißung des Steuerrechtsstaat auch für diese Steuerart sein könnte: „Was gut ist und gerecht, wird sich bewähren.“

51 Komponiert im Jahr 1743, HWV 47.

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Johannes Popitz (1884-1945) – Finanzwissenschaftler und Widerstandskämpfer Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Lehrjahre – Popitz im Kaiserreich (1884-1918) III. Aufstieg – Popitz in der Weimarer Zeit (1918-1933)

IV. Rückkehr – Popitz in den ersten Jahren des Dritten Reiches (1933-1938) V. Verhängnis – Popitz im Widerstand ­gegen das NS-Regime (1938-1945)

I. Einleitung Ein Rückblick auf 100 Jahre Umsatzsteuer ohne Erinnerung an eine Steuerpersönlichkeit wie Johannes Popitz wäre einfach undenkbar. Bekannt als „Vater der Umsatzsteuer“ wird er fast wie eine „biblische“ Autorität in Fachpublikationen und bei Fachvorträgen noch oft zitiert. Weniger bekannt ist, dass Johannes Popitz auch jenseits der kleinen Welt des Steuerrechts eine bedeutende Figur war und damit in die Geschichtsbücher eingegangen ist. Das diesjährige Jubiläum gibt Anlass, seine Rolle in der Zeit der Weimarer Republik und des Dritten Reiches sowie die tragischen Umstände seines Todes im Widerstand gegen das NS-Regime in Erinnerung zu rufen.

II. Lehrjahre – Popitz im Kaiserreich (1884-1918) Johannes Popitz wurde am 2. Dezember 1884 in Leipzig geboren. Sein Vater war angestellter Apotheker des 1871 eingeweihten Leipziger Städtischen Krankenhauses Sankt Jakob, seine Mutter eine begabte Malerin. Schon als Kind fiel er durch seine Intelligenz auf. Es wird ihm nachgesagt, ein einsames Kind gewesen zu sein, das lieber intellektuellen Beschäftigungen nachging, als Zeit mit anderen Kindern zu verbringen. Dennoch lassen die Quellen keine verlässlichen Aussagen darüber zu. Dieses Bild passt in der Tat nicht zu seiner späteren Persönlichkeit. Schon als Rechtsreferendar und spätestens als etablierter Elitebeamter war Popitz als durchaus gesellig bekannt. Aufgrund des frühen Todes des Vaters 1893 zog er nach Dessau in die Heimatstadt seiner Mutter, wo Großvater Moritz Rudolph die mittellose Witwe und ihre beiden jungen Kinder aufnahm. Der Großvater war Landgerichtspräsident, residierte in einer repräsentativen Dienstwohnung und verfügte über ein üppiges Einkommen. Als erster Akademiker einer alten Handwerkerfamilie hatte er die Sozialleiter rasant gestiegen. Er überlies die Erziehung der beiden Halbweisen nicht der zur Romantik neigen25

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den Mutter und übernahm sie selber in die Hand. Die Erziehung des Großvaters war streng, geprägt durch Leistungserwartung und männliche Autorität jener Zeit, dafür das Verhältnis der gefühlsamen Mutter zu den beiden Kindern liebevoll. Popitz fand die erste Berührung mit der Rechtsmaterie im Kontakt mit seinem Großvater. Ungewöhnlich begabt auf der intellektuellen Seite war er dagegen körperlich von zierlicher Gestalt. Er lernte weder Fahrradfahren, noch Schwimmen, noch im Erwachsenenalter Autofahren. Er wurde 1907 für den Heeresdienst dauerhaft untauglich geschrieben und diente deshalb im Ersten Weltkrieg nicht als Soldat. Seinen Beitrag sollte er jedoch als schlagkräftiger junger Beamter im preußischen Innenministerium leisten. Er begann sein Jura-Studium in Lausanne, besuchte aber direkt in dieser Zeit auch Vorlesungen über politische Ökonomie. Schon zu Beginn seines Studiums erkannte Popitz den Zusammenhang zwischen Rechts- und Wirtschaftswissenschaften. Im weiteren Verlauf seiner Karriere sollte er als Steuerrechtler die wirtschaftliche Perspektive nie aus den Augen verlieren.1 Popitz setzte sein Jura-Studium in Leipzig, Berlin und Halle fort. Er zeigte sich früh dem öffentlichen Recht zugeneigt; so promovierte er 1907 zum Thema „Parteibegriff im preußischen Verwaltungsstreitverfahren“ (mit dem Prädikat summa cum laude) und schrieb 1910 seine Hausarbeit für die Assessorenprüfung auch über ein verwaltungsrechtliches Thema. Sein sog. Regierungs-Referendariat absolvierte er in Köln, Sitz eines Regierungs­ bezirks der damals preußischen Rheinprovinz. Ein Jahr lang arbeitete er im Landrats­ amt Gummersbach. Dort lernte er den Landrat David Fischer kennen, der später Staatssekretär im Reichsfinanzministerium wurde und u.a. für die heikle Frage der Reparationsleistungen des Deutschen Reiches zuständig war. Danach folgte die praktische Ausbildung als sog. Regierungs-Assessor in Oberschlesien beim Landrat des Landkreises Beuthen, im Regierungsbezirk Oppeln, dem zweitwichtigsten im alten Preußen. Bis zum Kriegsende spielte er mit dem Gedanken, selbst Landrat zu werden. Damals war der preußische Landrat der oberste Kreisverwalter der Staatssteuern und Vorsitzender der Einkommensteuer-Veranlagungskommission. In dieser Zeit machte Popitz erste Bekanntschaft mit dem Steuerrecht. Im Anschluss daran wurde er im Herbst 1913 wissenschaftlicher Mitarbeiter beim preußischen Oberverwaltungsgericht in Berlin-Charlottenburg (am Standort des heutigen Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg). Dort lernte er Rolf Grabower kennen, der 40 Jahre später erzählte, was für einen „außergewöhnlichen“ Eindruck (sic) er ihm am Tag ihrer ersten Begegnung machte und wie dem jungen Assessoren, der in der Verwaltung „das kluge Kind“ genannt wurde, sein Ruf vorausging.2 Im 1 Siehe z.B. Popitz, Der wirtschaftende Mensch als Steuerzahler, Vierteljahresschrift für Steuer- und Finanzrecht 1930, 1; Bödeker, Johannes Popitz: Auf der Suche nach einer neuen Wirtschaftsordnung, Der Staat 1985, S. 513 ff, dieser Beitrag war 1954 von der schon damals letzten Überlebenden aus Popitz‘ privatem Arbeitskreis geschrieben worden, blieb aber unveröffentlicht. 2 Grabower, Persönliche Erinnerungen an Johannes Popitz, FR 1954, 516.

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September 1914 wurde Popitz in das preußische Innenministerium versetzt. Er zeichnete sich u.a. beim Wiederaufbau Ostpreußens aus, das von Russland zu Beginn des Ersten Weltkrieges überfallen und teilweise zerstört wurde. Im Jahr 1918 wurde Popitz vom preußischen Innenministerium zum Regierungsrat ernannt. Für seine Verdienste im Krieg wurde der ausgemusterte Popitz mit dem Eisernen Kreuz am weißen Bande geehrt. Keine Tätigkeit war ihm zu viel. Im Gegenteil wurde er zusätzlich von dem damaligen Reichschatzamt, dem späteren Reichfinanzministerium, gerufen, wo er 1917 aufgrund seiner beim Wiederaufbau Ostpreußens gewonnenen Erfahrung eine Stellung als Referent für kommunale Interessen unter Beibehaltung seiner Aufgaben im preußischen Innenministerium übernahm. Vor dieser offiziellen Bestellung hatte Popitz 1916 im Reichsschatzamt bereits an der Entstehung des Warenumsatzstempelgesetzes teilgenommen und direkt im selben Jahr Aufsätze dazu im „Preußischen Verwaltungsblatt“ geschrieben.3 Nach Angaben von Popitz war dies seine erste praktische und wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Steuerrecht.4 Aus dem Warenumsatzstempelgesetz von 1916 entstand das Umsatzsteuergesetz vom 26. Juli 19185, bei dessen Vorbereitung Popitz als Verfasser des Gesetzes bekanntlich eine entscheidende Rolle spielte. Den Stempel seiner Vaterschaft prägte er mit dem von ihm verfassten und bereits im Oktober 1918, also vor dem Ende des Krieges und dem Untergang der Monarchie, veröffentlichten allerersten Kommentar zum Umsatzsteuergesetz auf. Diese Erinnerung ist nicht nur anekdotisch. Das Umsatzsteuergesetz 1918 enthielt Neuerungen, „die von großer Bedeutung für die weitere Entwicklung der Besteuerung im allgemeinen in Deutschland sind“6. Das Gesetz gilt mit seinen neuen Konzepten als Vorgänger der Abgabenordnung und führte allgemeine Pflichten wie z.B. Aufzeichnungs- und Buchführungspflichten ein, die zwangsläufig Folgen für das ­ganze deutsche Steuerrecht haben sollten. Für diese neuen Begriffe hat Popitz erstmals die Bezeichnung „steuerrechtliche Wirtschaftsbegriffe“ angewandt.7 Aufgrund seines innovativen Charakters und der damit zu erwartenden Auslegungsfragen führte das Umsatzsteuergesetz 1918 zu zwei Schöpfungen, die heute noch zum Alltag des Steuerrechtlers gehören: die Gründung des Reichfinanzhofs (Vorgänger des Bundesfinanzhofs) und die Beistandspflicht der Verbände und Vertretungen gegenüber den Finanzämtern, woraus sich der ständige Austausch zwischen Wirtschaft und Verwaltung herleitet. Schließlich soll nicht unerwähnt bleiben, dass in dieser Zeit Popitz am

3 Popitz, Preußisches VwBl. 1916, 65; Popitz, Preußisches VwBl. 1916, 83; Popitz, Preußisches VwBl. 1916, 187. 4 Dieckmann, Johannes Popitz – Entwicklung und Wirksamkeit in der Zeit der Weimarer Republik, Berlin 1960, S. 14. 5 Umsatzsteuergesetz vom 26. Juli 1918, RGBl. 1918, 779. 6 Hübschmann, Die Entwicklung der Umsatzsteuer in Deutschland aus der Sicht ihrer heutigen Gestaltung, FR 1954, 529 (531); Pausch, Johannes Popitz – und was bleibt, DStZ 1984, 476; Birkenfeld, Umsatzsteuer in der Zeit, UR 1993, 321. 7 Popitz, Kommentar zum Umsatzsteuergesetz, 2. Aufl., Berlin 1921, S. 60.

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7. Mai 1918 die blonde und hochgewachsene Niederländerin Cornelia Slot, die er während seines Kölner Referendariats kennengelernt hatte, heiratete.8

III. Aufstieg – Popitz in der Weimarer Zeit (1918-1933) Der von Wilhelm II, „von Gottes Gnaden König von Preußen“ (so die Bestellungsurkunde)9, frisch ernannte Regierungsrat musste kurz darauf einen abrupten Machtwechsel erleben und danach einer Republik die Treue erweisen. Der Übergang ist Popitz nicht leicht gefallen. Das parlamentarische und demokratische System der Weimarer Republik entsprach nicht seiner politischen Gesinnung. Die Überzeugung, in erster Linie dem Staat zu dienen, muss ihm geholfen haben. So beteiligte sich Popitz zu Beginn der Weimarer Republik am Aufbau des neuen Staates und beeinflusste die Verhandlungen über Finanzfragen in der Nationalversammlung mit. In den ersten Jahren der Weimarer Republik machte Popitz im Reichsfinanzministerium rasant Karriere: im März 1919 Ernennung zum Geheimen Regierungsrat, im September 1921 zum Ministerialdirektor und Leiter der Steuerabteilung, im Januar 1925 zum Staatssekretär für die Zoll- und Steuerabteilung, und schließlich im Herbst 1926 nach dem Ausscheiden vom ersten Staatssekretär David Fischer, seinem ehemaligen Vorgesetzten beim Landratsamt Gummersbach, alleiniger Staatssekretär und damit auch für die Etat- und Reparationsabteilungen zuständig. Aufgrund der schweren finanziellen Folgen des Ersten Weltkriegs stand die Weimarer Republik zu ihrem Beginn vor gewaltigen Herausforderungen. Dies löste eine historische Steuerreform aus, die sog. Erzberger‘sche Steuerreform (genannt nach dem damaligen Reichsfinanzminister Matthias Erzberger10), die immer noch die Grundlage des heutigen Steuerrechts darstellt. Die Reform wurde in unglaublichen neun Monaten (von Juli 1919 bis März 1920) abgeschlossen. Sie bestand aus 16 Gesetzen, die zu einer Vereinheitlichung des Steuerrechts in ganz Deutschland führten. Besonders nennenswert sind das Landessteuergesetz, wonach das Reich – wie im heutigen modernen Steuersystem der Bund  – erstmals der größte Steuergläubiger wurde, das Reichsfinanzverwaltungsgesetz und die Reichsabgabenordnung, die eine einheitliche Reichsfinanzverwaltung und ein einheitliches allgemeines Steuerrecht schufen. Auch die Einkommensteuer wurde im ganzen Reich vereinheitlicht. Das Umsatzsteuerge 8 Aus der Ehe Popitz gingen drei Kinder hervor: 1919 ein Sohn (der 1945 nach dem Tod von Popitz in Russland fiel), 1922 eine Tochter, 1925 ein Sohn (der Soziologie-Professor an der Universität Freiburg i.Br., Heinrich Popitz, der sich nicht überraschend angesichts des Schicksals des Vaters mit Themen wie „Phänomene der Macht“ und „Prozesse der Machtbildung“ beschäftigte). Popitz’ Frau starb an Krebs am 29. April 1936, was den viel beschäftigten Vater von drei unmündigen Kindern privat vor große Schwierigkeiten stellte. 9 Bundesfinanzakademie (Hrsg.), Amt und Verantwortung – Ausstellung zur Erinnerung an Johannes Popitz (1884-1945), Siegburg 1984, S. 25, Nr. 76. 10 Der Zentrumspolitiker Matthias Erzberger war Leiter der Delegation, die am 11. November 1918 im Walde von Compiègne die Waffenstillstandsbedingungen unterzeichnet hatte. Er gehörte deshalb zu den Politikern, die in den Augen der Nationalisten als Verräter galten, und wurde 1921 ermordet.

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setz erfuhr seine erste Auffrischung. Popitz nahm neben anderen an dieser Reform einen wesentlichen Anteil. Ab 1921 musste Popitz als Ministerialdirektor und Leiter der Steuerabteilung an der Front der rasanten Inflation dieser Jahre kämpfen. Nach der Inflationsphase kam 1925 die zweite große Steuerreform der Weimarer Republik, die sog. Schlieben-Popitzsche Steuerreform unter der Amtszeit von Reichsfinanzminister Schlieben, bei der Popitz aber die führende Figur war. Die Reform sollte die deutsche Wirtschaft entlasten und wieder ankurbeln. Neben verschiedenen steuertechnischen Anpassungen in den Einzelsteuergesetzen waren die markantesten Neuerungen die Einführung eines Bewertungsgesetzes – in ganz Deutschland für alle an Vermögenswerte anknüpfenden Steuern – und die Novellierung des Finanzausgleichs, der das Reich weiter stärkte. Als Anerkennung für seine „außerordentlichen Verdienste“ (sic) erhielt Popitz vom Reichspräsidenten von Hindenburg ein besonders lobendes Dankesschreiben sowie eine Schiffsreise von Hamburg nach Montréal. Die sehr schwierige Haushaltslage am Ende des Jahres 1929 zwang den damaligen sozialdemokratischen Reichsfinanzminister Hilferding11 und seinen Staatssekretär Popitz zum Amtsrücktritt. Popitz wurde vom Reichspräsidenten seinem Wunsch entsprechend in den einstweiligen Ruhestand versetzt. Ursächlich für den Rücktritt war ein Streit mit dem damaligen Reichsbankpräsidenten Hjalmar Schacht bezüglich einer von der Reichsregierung genehmigten aber an der Reichsbank vorbei heimlich geführten Kreditvermittlung mit der US-amerikanischen Bank Dillion, Read & Co. zur Überbrückung eines Haushaltsdefizits i.H.v. 330 Millionen Mark.12 Als Staatssekretär unter vier verschiedenen Reichsfinanzministern innerhalb von vier Jahren (1925-1929) war Popitz in den goldenen Jahren der Weimarer Republik der wahre starke Mann der Finanzpolitik.13 Er war wie kaum ein anderer Staatssekretär in der Öffentlichkeit bekannt geworden und von der Presse „Staatssekretär von Ewigkeit zu Ewigkeit“ genannt. Er hat damit seinen Einfluss auf das Steuerrecht jener Jahre aus-

11 Obwohl Popitz die politische Gesinnung des Sozialdemokraten Rudolf Hilferding gar nicht teilte, waren ihre Beziehungen durch einen tiefen gegenseitigen Respekt gekennzeichnet. Popitz verhalf dem von den Nazis verfolgten Hilferding zur Flucht ins Ausland. Auch bei seiner Verhaftung in Frankreich 1941 setzte sich Popitz vergeblich für ihn ein. Hilferding starb in einem Pariser Gestapo-Gefängnis, vgl. Voß, Johannes Popitz (1884-1945) – Jurist, Politiker, Staatsdenker unter drei Reichen – Mann des Widerstands, Frankfurt 2006, S. 274; Hildebrandt, Wir sind die letzten  – Aus dem Leben des Widerstandskämpfers Albrecht Haushofer und seiner Freunde, Neuwied und Berlin, 1950, S. 86. 12 Schwerin von Krosigk, Es geschah in Deutschland – Menschenbilder unseres Jahrhunderts, Tübingen 1951, S. 82, 340; Dieckmann, Johannes Popitz – Entwicklung und Wirksamkeit in der Zeit der Weimarer Republik, Berlin 1960, S. 78-97; Nagel, Johannes Popitz (1884-1945) – Görings Finanzminister und Verschwörer gegen Hitler – Eine Biographie, Köln 2015, S. 7377. 13 Vortrag des Berliner Bürgermeisters Dr. Acker, Protokoll der 5. Sitzung des Verfassungsausschusses am 5. Februar 1947, in Reichhardt (Hrsg.), Die Entstehung der Verfassung von Berlin, Band I, Berlin 1990, S. 428, 436: „Ich habe also die Dinge aus allernächster Nähe erlebt. Es ist tatsächlich so gewesen, daß eigentlich Popitz, mit dem, was hinter ihm stand, regierte, während der Minister eine ziemlich bescheidene Erscheinung bei der Partie war.“

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üben können14, einer Zeit, in der das moderne Steuersystem unserer Zeit entstanden ist. Neben Matthias Erzberger gehört Johannes Popitz zu den zwei Persönlichkeiten, die die Finanzpolitik der Weimarer Republik entscheidend bestimmt haben.15 In der nach dem Rücktritt gewonnenen Freizeit entfaltete Popitz eine sehr vielfältige Tätigkeit. Er übernahm diverse Ämter in der Privatwirtschaft (Aufsichtsrat, Ausschüsse usw.) und verfasste verschiedene Gutachten. Besondere Berücksichtigung, selbst in der Tagespresse, fand sein Gutachten über den Finanzausgleich16 (eines seiner wichtigsten Themen). In dieser Zeit gehörte Popitz selbstverständlich zu den Sachver­ ständigen des sog. Umsatzsteuer-Ausschusses des Reichswirtschaftsrats. Er diente auch als Vorsitzender in Schiedsgerichtsverfahren bezüglich der Entschädigung von Fürstinnen aus Mecklenburg infolge des Untergangs der Monarchie. Johannes Popitz wurde im Jahre 1930 angeboten, Präsident des Reichsfinanzhofs zu werden. Er lehnte diese Würde jedoch ab. Sicherlich muss sich in dieser Zeit der sehr belesene und hochgebildete Popitz viel der Kultur gewidmet haben. Schon als Student hatte sich Popitz sehr für antike Kultur interessiert und trotz seiner schwachen Gesundheit in Griechenland, Italien, Dalmatien, Ägypten und sogar fern im Orient Reisen gemacht. Auch über Reisen in China und Korea legte er Berichte vor, in denen er die Arroganz und die rassistischen Vorurteile seiner Zeitgenossen kritisierte. In einer Zeit, wo Kolonialismus und Rassismus herrschten, zeigte er sich außereuropäischen Kulturen besonders offen. Der mit hochtechnischen Themen viel beschäftigte Popitz fand noch die Zeit, Ehrenmitglied des Deutschen Archäologischen Instituts, Präsident der Gesellschaft für antike Kultur und Vorsitzender des Vereins für Städteausgrabungen in Ägypten zu sein und eine Gesellschaft der Freunde antiker Kultur zu gründen. Mit diesem Hintergrund war Popitz prädestiniert, 1932 Mitglied der sog. „Mittwochsgesellschaft“, dem seit 1863 bestehenden prestigevollsten Kreis aus Berliner Gelehrten, zu werden. In dieser Zeit entstand die rätselhafte Freundschaft zu dem umstrittenen Staatsrechtler und politischen Philosophen Carl Schmitt, auch „Kronjurist des Dritten Reiches“ genannt. Sie trafen sich oft im Restaurant der „Deutschen Gesellschaft 1914“, einem Berliner politischen Klub, dem Spitzenpolitiker wie Friedrich Ebert, Gustav Stresemann oder Matthias Erzberger angehörten. Schließlich fanden auch Begegnungen mit der Familie statt, obwohl Popitz und Carl Schmitt privat so unterschiedlich waren.17 14 Pausch, Zum Popitz-Gedenkjahr 1984, UR 1984, 269. 15 Hettlage, Die Finanzverwaltung in: Deutsche Verwaltungsgeschichte Bd 4 – Das Reich als Republik und in der Zeit des Nationalsozialismus, Stuttgart 1985, 198. 16 Terhalle, Der künftige Finanzausgleich, FR 1954, 521; Hensel, Steuerrecht, 3. Aufl., Berlin 1933, S. 19 ff. – Nachdruck Herne 1986. 17 Nagel, Johannes Popitz (1884-1945) – Görings Finanzminister und Verschwörer gegen Hitler – Eine Biographie, Köln 2015, S. 86-89; Bentin, Johannes Popitz und Carl Schmitt – Zur wirtschaftlichen Theorie des totalen Staates in Deutschland, München 1972, das Werk von Bentin bedarf nach dem Historiker Gerhard Schulz „etlicher Korrekturen“ und „enthält auch Missverständnisse (Schulz, Johannes Popitz in: Lill, Oberreuter, 20. Juli – Portrait des Widerstands, Düsseldorf und Wien 1984, S. 251), an dieser Stelle soll auch erwähnt werden, dass Gerhard Schulz der Ehemann von Popitz‘ Tochter Cornelia Schulz-Popitz war.

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Über Carl Schmitt lernte Popitz in dieser Zeit des Rücktritts Ernst Jünger kennen, den er zu sich einlud. Bereits 1919 war Popitz Lehrbeauftragter an der Handelshochschule Berlin und 1922 Honorarprofessor an der juristischen Fakultät der Universität Berlin mit einem Lehrauftrag für Steuerrecht geworden. Seine sofortige Mitgliedschaft in der 1925 neu gegründeten Friedrich-List-Gesellschaft, einem Expertenkreis zum Auf- und Ausbau einer modernen Wirtschafts- und Finanzwissenschaft, war eine Selbstverständlichkeit. Nach seinem Rücktritt als Staatssekretär baute er seine Lehrtätigkeit aus. Im Jahr 1930 übernahm er eine Gastprofessur an der Universität Kiel. Die philosophische Fakultät der Universität Berlin erteilte ihm 1931 einen ständigen Lehrauftrag für Finanzlehre. Die Weimarer Zeit war die fruchtbarste seines wissenschaftlichen Schaffens.18 In dieser Zeit, in der sich Steuerrecht in Deutschland zu einer selbständigen Wissenschaft entwickelte, gelangte Popitz in den Kreis der führenden Finanz- und Steuerwissenschaftler.

IV. Rückkehr – Popitz in den ersten Jahren des Dritten Reiches (1933- 1938) Die ersten Jahre des Dritten Reiches sind für Popitz die Zeit der Rückkehr an die Macht. Vorausgegangen war unter der Weimarer Republik das Vorspiel des sog. „Preußenschlags“ am 20. Juli 1932.19 Die nach Neuwahlen ohne parlamentarische Mehrheit amtierende preußische Regierung wurde durch eine auf Art. 48 WRV (Weimarer Reichsverfassung) gestützte Verordnung des Reichspräsidenten abgesetzt. Am 31. Oktober 1932 wurde Popitz unter Reichskanzler von Papen Reichsminister ohne Geschäftsbereich und gleichzeitig Reichskommissar für das preußische Finanzministerium, d.h. Nachfolger des abgesetzten Finanzministers. Nach dem Sturz von Reichskanzler von Papen blieb Popitz unter dessen Nachfolger von Schleicher, der Popitz nicht mochte, Reichsminister und Reichskommissar für das preußische Finanzministerium. Dies endete am 30. Januar 1933 mit der Machtergreifung durch Hitler, wobei Popitz bereits im April 1933 mit der Bildung einer neuen Landesregierung zum preußischen Staats- und Finanzminister ernannt wurde. Sein unmittelbarer Vorgesetzter war Hermann Göring, der neue preußische Ministerpräsident. Göring fand zu Popitz ein Vertrauensverhältnis in Wirtschaftsfragen.20 Leider beruhte diese Zuneigung auf Gegenseitigkeit. Vor seiner Ernennung wurde Popitz am 3. Februar 1933 auf Vorschlag der 18 Besonders nennenswert für die kleine Gemeinschaft des Umsatzsteuerrechts: Popitz/Kloß/ Grabower, Kommentar zum Umsatzsteuergesetz, 3. Aufl., Berlin 1928; Popitz, Umsatzsteuer, in Elster/Weber/Wieser (Hrsg.), Handwörterbuch der Staatswissenschaften, VIII Band, 4. Aufl., Jena 1928, S. 373 ff. 19 Schulze, Weimar – Deutschland 1917-1933, Berlin 1982, S. 372 ff; Clark, Preußen – Aufstieg und Niedergang 1600-1947, München 2006, S. 728, 733. 20 Kube, Pour le mérite und Hakenkreuz  – Hermann Göring im Dritten Reich, München 1986, S. 124.

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Reichskanzlei von den Mitgliedern der Reichsregierung das Recht eingeräumt, an den Sitzungen des Reichskabinetts ständig teilzunehmen,21 wovon er fast ausnahmslos Gebrauch machte.22 Damit wurde er kein Mitglied der Reichsregierung, gewann jedoch eine gewisse Möglichkeit, Einfluss auf die Steuergesetzgebung des Reiches zu nehmen.23 Die Gründe, weshalb sich Popitz dem Dritten Reich in seinen Anfängen angeschlossen hat, sind mit Sicherheit vielfältig: konservative politische Gesinnung und fehlende Sympathie für den Parlamentarismus, wiedergefundene Handlungsfähigkeit nach Jahren des politischen Exils, Eitelkeit der Machtzugehörigkeit. Entscheidend war aber die erkannte Möglichkeit, seine verfassungsrechtlichen Pläne zu verwirklichen. Popitz hatte einen tiefen Glauben an den Staat, den er zur Lebensaufgabe machte, und ­verurteilte in der Weimarer Republik den Pluralismus, weil er darin nur eine Ansammlung von partikularistischen Interessen einzelner Gruppen sah, die den Staat im Endeffekt schwächen würden. Er nannte diesen Zustand der Weimarer Republik „Polykratie“ und „Parteienherrschaft“. Geschwächt war der Staat nach Auffassung von Popitz auch aufgrund einer gewissen Unübersichtlichkeit der Verwaltungszuständigkeiten. Verfassungsrechtlich war Popitz ein „Unitarist“, also ein Verfechter des Einheitsstaats und der Abschaffung der Staatlichkeit der Länder. Er sah im Nationalso­ zialismus und im Aufbau eines autoritären Regimes die Möglichkeit, den Staat von dieser Polykratie und Parteienherrschaft zu befreien und ihm seine volle Schlagkraft zu verleihen.24 Vom Staat mit einheitlicher Willensbildung zur Diktatur war der Schritt leider nicht mehr groß. Der Nationalsozialismus scheint ihn sonst nicht besonders angesprochen zu haben. Im März 1933 verhinderte er z.B. das Hissen der Hakenkreuzfahne am Gebäude des Preußischen Finanzministeriums und ordnete die Einziehung der Fahne sowie die Entlassung des schuldigen Amtsgehilfen an.25 Er wurde kein Parteimitglied der ersten Stunde. Seine Aufnahme (unter der Nr. 3.805.233) geschah nicht einmal aus eigener Initiative, sondern erst 1937 anlässlich der Verleihung des goldenen Ehrenzeichens der NSDAP, als alle Kabinettsmitglieder, die noch nicht Parteimitglieder waren, „vom Führer persönlich in die NSDAP aufgenommen wurden“26. Wichtigste Steuerreform im Dritten Reich war 1934 die sog. Reinhardt‘sche Steuerreform27 (genannt nach dem Staatssekretär im Reichsfinanzministerium Fritz Reinhardt). 21 Schulz, Über Johannes Popitz (1884-1945), Der Staat 1985, S. 490, Fn. 11. 22 Voß, Steuern im Dritten Reich, München 1995, S. 46 ff. 23 Dazu im Allgemeinen Pausch, Im Konflikt mit dem Steuerpositivismus, StuW 1985, 54. 24 Voß, Johannes Popitz (1884-1945)  – Jurist, Politiker, Staatsdenker unter drei Reichen  – Mann des Widerstands, Frankfurt 2006, S. 274 ff; Herzfeld, Johannes Popitz – Ein Beitrag zur Geschichte des deutschen Beamtentums, in: Forschungen zu Staat und Verfassung – Festgabe für Fritz Hartung, Berlin 1958, S. 350-351. 25 Schulz, Johannes Popitz in: Lill, Oberreuter, 20. Juli – Portrait des Widerstands, Düsseldorf und Wien 1984, S. 237, 247. 26 Schreiben des Chefs der Kanzlei des Führers der NSDAP an den Reichsschatzmeister der NSDAP vom 9. Februar 1937. 27 Voß, Steuern im Dritten Reich, München 1995, S. 83 ff.

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Die Reform hatte hinsichtlich der dramatischen Folgen der Weltwirtschaftskrise und der herrschenden hohen Arbeitslosigkeit einen starken sozialen Hintergrund. Sie betraf so gut wie alle Steuerarten und führte u.a. zu mehreren bedeutenden Änderungen des Umsatzsteuerrechts durch das Umsatzsteuergesetz 193428; u.a. wurde die von der Rechtsprechung entwickelte „Organtheorie“, heute die Organschaft, in das Gesetz aufgenommen29. Den Antisemitismus seiner Zeit scheint Popitz nur in geringem Maße geteilt zu haben.30 Im Gegenteil sind Freundschaften mit jüdischen Kollegen bekannt. Dies gilt besonders gegenüber Rolf Grabower31 und Herbert Dorn32, die er beide als Mitarbeiter für das Reichsfinanzministerium im Rahmen der Erzberger‘schen Steuerreform gewinnen konnte. Rolf Grabower äußerte sich wiederholt mit einer fast nostalgischen Zärtlichkeit über Popitz, z.B. in unmittelbar nach dem zweiten Weltkrieg niedergelegten Erinnerungen sowie im allerersten Beitrag der Umsatzsteuer-Rundschau.33 Der frühere Reichsfinanzminister Heinrich Köhler sprach von seiner „Vorliebe für die Juden“34. Popitz war mit dem renommierten deutschen Wirtschaftswissenschaftler jüdischer Abstammung Edgar Salin privat befreundet. Ein früherer wissenschaftlicher Mitarbeiter im Reichsfinanzministerium, Fritz Neumark, der wegen seiner jüdischen Abstammung emigrieren musste, lieferte folgendes Zeugnis: „Dass Popitz kein Nazi, 28 Umsatzsteuergesetz 1934, RGBl. I 1934, 942 = RStBl. 1934, 1166. 29 Hübschmann, Die Entwicklung der Umsatzsteuer in Deutschland aus der Sicht ihrer heutigen Gestaltung, FR 1954, 529 (533, 541). 30 Voß, Johannes Popitz (1884-1945)  – Jurist, Politiker, Staatsdenker unter drei Reichen  – Mann des Widerstands, Frankfurt 2006, S.  265 ff; Nagel, Johannes Popitz (1884-1945)  – Görings Finanzminister und Verschwörer gegen Hitler  – Eine Biographie, Köln 2015, S. 107. 31 Voß, Steuern im Dritten Reich, München 1995, S. 162 ff. Rolf Grabower musste 1934 aufgrund seiner jüdischen Abstammung das Reichsfinanzministerium verlassen und wurde dann mit Hilfe des Reichsfinanzministers Schwerin von Krosigk Richter am Reichsfinanzhof, aus dem er aber bereits 1935 entlassen werden musste. Popitz besuchte ihn mehrmals in München und zeigte sich mit ihm in der Öffentlichkeit. Im Mai 1942 wurde Grabower ins KZ Theresienstadt deportiert. Es ist bekundet, dass sich Popitz für ihn eingesetzt hatte, ohne jedoch eine Deportation vermeiden zu können. Grabower überlebte die Haft und wurde nach dem Krieg Oberfinanzpräsident in Nürnberg und Honorarprofessor der Universität Erlangen. 32 Voß, Steuern im Dritten Reich, München 1995, S. 161 ff. Herbert Dorn war ein Wunderkind des Steuerrechts. Mit 44 Jahren wurde er 1931 Präsident des Reichsfinanzhofs und war dort jünger als alle anderen Richter. Auch er musste 1934 den Reichsfinanzhof verlassen. 1939 gelang ihm die Emigration. Ein Bild zeigt ihn mit Popitz auf einer Schiffsreise, offenbar zu einem privaten Anlass. 33 Erinnerungen von Rolf Grabower, Bundesfinanzakademie; Grabower, UR 1952, 2. 34 Köhler, Lebenserinnerungen des Politikers und Staatsmannes 1878-1949, Stuttgart 1964, S. 196: „Der Leiter der Steuerabteilung, der Reparationsabteilung nebst seinen zwei Ministerialräten, der Währungsabteilung, der Kriegsentschädigungsabteilung, der Umsatzsteuerreferent, der Einkommenssteuerreferent, der Dometscher  – alles Juden, die meist von Popitz einberufen, alle aber von ihm vorzugsweise befördert waren. Auf meine gelegentliche Bemerkung, dass die große Zahl der Juden mich überrasche, antwortete er mit der saloppen Gegenfrage, ob die Leute nicht besonders tüchtig seien.“

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sondern ein Konservativer alten Schlages war, vermag ich aufgrund langjähriger persönlicher Bekanntschaft mit ihm (wir blieben auch nach meinem Fortgang aus dem Reichsfinanzministerium in stetem Kontakt) zu bezeugen.“35 Auch mit David Fischer, dem Landrat seines Regierungs-Referendariats und später Staatssekretär im Reichsfinanzministerium, der Halbjude war, hatte er sich ausgezeichnet verstanden.

V. Verhängnis – Popitz im Widerstand gegen das NS-Regime (1938- 1945) Obwohl sich Popitz dem Nationalsozialismus in seinen Anfängen angeschlossen und sogar aktiv am Aufbau des neuen Staates mitgewirkt hatte,36 wanderte er langsam in das Lager des Widerstands. Erste Zweifel bestanden schon 193337, aber spätestens 1938 wurde er endgültig ein unversöhnlicher Gegner des Regimes. Nicht zuletzt seine Mitgliedschaft in der Mittwochsgesellschaft, „einer der elitärsten geistigen Institutionen jener Zeit“38, könnte dazu beigetragen haben. Er gehörte von Anfang an zu den „Grüppchen“ der Vorkriegszeit, die gegen Hitler komplottierten.39 Obwohl Popitz im Vergleich zu historischen Figuren wie Carl Goerdeler und Ulrich von Hassell in den Hintergrund der Erinnerung an den bürgerlichen Widerstand getreten ist, muss bei ihm hervorgehoben werden, dass er der einzige Widerstandskämpfer aus dem Kreis der damaligen amtierenden Minister gewesen ist.40 Dies allein macht ihn zu einer historisch markanten Persönlichkeit. Popitz war kein Mitläufer, sondern eine führende Figur des deutschen Widerstands.41 35 Neumark, Zuflucht am Bosporus  – Deutsche Gelehrte, Politiker und Künstler in der Emigration 1933-1953, Frankfurt 1980, S. 53. 36 Er darf nicht verschwiegen werden, dass sich Popitz in dieser Zeit nicht nur gesetzgeberisch an dem Unrecht des Dritten Reiches, sondern auch als Finanzminister in seinem Ressort an politischen Verfolgungen und Enteignungen beteiligt war, vgl. Nagel, Johannes Popitz (1884-1945) – Görings Finanzminister und Verschwörer gegen Hitler – Eine Biographie, Köln 2015, S. 125-136. 37 Zunächst bei der frühen Feststellung, dass sein Vorgesetzter, Ministerpräsident Göring, maßlos korrupt war; als preußischer Finanzminister konnte der staatstreue Popitz nicht gleichgültig übersehen, wie Göring sein pompöses Lebensniveau aus der Staatskasse finanzierte; vgl. auch Gespräche mit seinem Hausarzt Prof. Zahler, in Hildebrandt, Wir sind die letzten – Aus dem Leben des Widerstandskämpfers Albrecht Haushofer und seiner Freunde, Neuwied und Berlin, 1950, S. 87-89. 38 Langbehn, Das Spiel des Verteidigers – Der Jurist Carl Langbehn im Widerstand gegen den Nationalsozialismus, Berlin 2014, S. 89. Ob die Mittwochsgesellschaft eine Zelle des Widerstands war, soll dahingestellt bleiben. Tatsache ist, dass von ihren 16 Mitgliedern Johannes Popitz, Ulrich von Hassell, Ludwig Beck, Carl Goerdeler und Jens Jessen prominente Vertreter des sog. nationalkonservativen Widerstands waren. 39 Kershaw, Hitler 1936-1945, München 2000, S. 368. 40 Nagel, Johannes Popitz (1884-1945) – Görings Finanzminister und Verschwörer gegen Hitler – Eine Biographie, Köln 2015, 15. 41 Eine fesselnde und lebendige Beschreibung von Popitz‘ Aktivität im deutschen Widerstand befindet sich in Hildebrandt, Wir sind die letzten – Aus dem Leben des Widerstandskämpfers Albrecht Haushofer und seiner Freunde, Neuwied und Berlin, 1950, S. 80-108.

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Insbesondere über die Schrecken der „Reichskristallnacht“ am 9. November 1938 war Popitz empört. Infolgedessen adressierte er an Ministerpräsidenten Göring ein Rücktrittsschreiben als preußischer Staats- und Finanzminister.42 In Ermangelung einer Antwort von Göring blieb Popitz aber in seinem Amt.43 Popitz ist dem sog. nationalkonservativen Widerstand zuzurechnen, der sich um den aus Protest zurückgetretenen Chef des Generalstabs der Wehrmacht, Generaloberst Ludwig Beck, und den ausgeschiedenen Oberbürgermeister von Leipzig, Carl Goerdeler, gebildet hatte.44 Popitz war maßgeblich an der Erarbeitung verfassungsrechtlicher Texte für die Zeit nach dem Umsturz Hitlers beteiligt.45 Wie die anderen Vertreter des nationalkonservativen Widerstands trat Popitz langsam in den Hintergrund, als sich die jüngere Generation von Militärs und Gewerkschaftern durchsetzte. In diesem Generationskonflikt46 bezeichnete der Jurist Helmuth James Graf von Moltke (Begründer des sog. Kreisauer Kreises) Popitz als sehr konservativ und wünschte keine Zusammenkunft mit ihm47. In den Ministerlisten der Verschwörer stand am Anfang Popitz ein Posten zu, bis er vom jungen Flügel als zu reaktionär empfunden wurde und sein Name völlig fehlte.48 Hassell schreibt in einer Tagebucheintragung vom 27. Dezember 1943, dass Popitz deswegen sehr verbittert und deprimiert war.49 Besonders markant bei der Beteiligung von Popitz am Widerstand ist seine abenteuerliche Fühlungnahme mit Heinrich Himmler am 26. August 194350 hinsichtlich eines

42 von Hassell, Die Hassell-Tagebücher 1938-1944, Berlin 1988, S.  70: „Popitz hat übrigens nach dem Pogrom Göring um seinen Abschied gebeten, der versprochen habe, dieses Gesuch an den Führer weiterzugeben. (…) P. erzählte, er habe die Sache mit Göring in offenster Weise besprochen und deutlich auf Görings zukünftige Stellung und die Unmöglichkeit, so etwas mitzumachen, hingewiesen. (…) Popitz hat Göring gesagt, die Verantwortlichen müßten bestraft werden. Antwort: Mein lieber Popitz, wollen Sie den Führer bestrafen?“ 43 von Hassell, Die Hassell-Tagebücher 1938-1944, Berlin 1988, S. 79: „Popitz hat auf sein Göring vorgetragenes Abschiedsgesuch natürlich keine Antwort erhalten. Als ich ihn danach fragte, meinte er, für ihn sei entscheidend, ob Goebbels bleibe. Ich glaube, er braucht sich dieserhalb nicht zu beunruhigen.“ 44 Klausa in Steinbach/Tuchel (Hrsg.), Widerstand gegen den Nationalsozialismus (Bundeszentrale für politische Bildung Band 323), Bonn 1994, S. 227, 230; Mommsen in Benz/Pehle (Hrsg.), Lexikon des deutschen Widerstandes, Frankfurt 1994, S.  58; Thamer in von Klemperer/Syring/Zitelmann (Hrsg.), Das Attentat – Die Männer des 20. Juli 1944, Wien 2006, S. 86; die meisten Informationen über Popitz im Widerstand finden sich an zahlreichen Stellen in Peter Hoffmann, Widerstand Staatsstreich Attentat – Der Kampf der Opposition gegen Hitler, 3. Aufl., München 1979. 45 Hoffmann, Widerstand Staatsstreich Attentat  – Der Kampf der Opposition gegen Hitler, 3. Aufl., München 1979, S. 234-240. 46 Kershaw, Hitler 1936-1945, München 2000, S. 874. 47 chronoshistory, Widerstand – Kampf gegen Hitler, Teil 5: Die Hoffnung der Demokraten, https://www.youtube.com/watch?v=pzSSvdJXA_E – Interview seiner Witwe. 48 Hoffmann, Widerstand Staatsstreich Attentat  – Der Kampf der Opposition gegen Hitler, 3. Aufl., München 1979, S. 453-454. 49 von Hassell, Die Hassell-Tagebücher 1938-1944, Berlin 1988, S. 414. 50 Ironischerweise war der 26. August 1943 ausgerechnet der Tag des Amtsantritts von Himmler als Reichsinnenminister.

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Sturzes von Hitler und möglicher Sonderfriedensverhandlungen mit den Alliierten.51 Die Vermittlung dieses Gesprächs hat einen prosaischen Hintergrund. Mittelmann war der Berliner Rechtsanwalt und Widerstandskämpfer Carl Langbehn, den Popitz durch seinen Nachbarn Edgar Haverbeck, der sein Vetter war, kennengelernt hatte. Nach Hildebrandt war Langbehn „die geborene Ergänzung zu Popitz.“52 Die Tochter von Langbehn war in derselben Schulklasse wie Himmlers Tochter, und auf dieser Schiene waren persönliche Verbindungen zum Reichsführer-SS entstanden. Popitz witterte den Teufel, nahm den Vorschlag jedoch an.53 Aus heutiger Sicht erscheint die Wahl einer Person wie Himmler als Ansprechpartner für eine Verschwörung gegen Hitler äußerst fragwürdig. Dennoch bilden die damaligen Gerüchte, selbst in der obersten SS-Führung bestand eine Bereitschaft, Hitler auszuschalten54, mildernde Umstände für Popitz. Seine Initiative wirkte aber schon zu dieser Zeit diskreditierend sowohl innerhalb des Widerstands55 als auch bei den westlichen Alliierten.56 Damit hatte sich Popitz schlussendlich ins Abseits des Widerstands57 und ins Visier der Gestapo58 selbst manövriert. Langbehn wurde kurz nach der Unterredung im September 1943 verhaftet und ins KZ deportiert, wobei Popitz auf freiem Fuß blieb. Die Gründe dieser schnellen Verhaftung und unterschiedlichen Behandlung sind nicht eindeutig geklärt. War Popitz eine zu prominente Figur, um aus heiterem Himmel verhaftet zu werden? Fürchtete man, dass Hochverrat aus der Führungsriege ein schlechtes Licht auf das Regime werfen könnte?59 51 Langbehn, Das Spiel des Verteidigers – Der Jurist Carl Langbehn im Widerstand gegen den Nationalsozialismus, Berlin 2014, S. 121 ff. 52 Hildebrandt, Wir sind die letzten  – Aus dem Leben des Widerstandskämpfers Albrecht Haushofer und seiner Freunde, Neuwied und Berlin, 1950, S.  99-100: „Besaß Popitz das weitgespannte Denken, so fand Langbehn stets die kürzeste Linie vom Plane zur Durchführung. (…) Beide verband die Kompromisslosigkeit, die Unerschrockenheit und die hundertprozentige Einsatzbereitschaft. Wer sie näher kannte und von ihrem Spiel wusste, hatte den Eindruck, das entweder sie oder Hitler die nächsten Jahre überleben werden. (…) So war es für beide – so verschieden die Motive waren – ein gewolltes Spiel auf Leben und Tod.“ 53 Höhne, Der Orden unter dem Totenkopf – Die Geschichte der SS, Augsburg 1995, S. 485 ff. 54 von Hassell, Die Hassell-Tagebücher 1938-1944, Berlin 1988, S.  368. Dieser Glaube war auch durch die zu dieser Zeit verlorene Hoffnung verschärft, dass die Wehrmacht zu einem Umsturz Hitlers bereit wäre; von Hassell, Die Hassell-Tagebücher 1938-1944, Berlin 1988, S. 388: „Die ganze Verbindung ist ein faute de mieux und nur als Zwischenlösung denkbar, aber alles ist heute recht, was die schlimmste Katastrophe abwenden kann.“ 55 von Hassell, Die Hassell-Tagebücher 1938-1944, Berlin 1988, S. 368 ff. 56 Thamer, Verführung und Gewalt – Deutschland 1933-1945, Berlin 1986, S. 738. 57 Hoffmann, Widerstand Staatsstreich Attentat  – Der Kampf der Opposition gegen Hitler, 3. Aufl., München 1979, S. 449. 58 Wobei von Hassell bereits im Februar 1942 darüber berichtet, dass er selbst und Popitz „scharf “ überwacht waren, vgl. von Hassell, Die Hassell-Tagebücher 1938-1944, Berlin 1988, S. 300; in einer Tagebucheintragung vom 7. Februar 1944 schreibt er auch: „Er [Claus Graf Schenk von Stauffenberg] meinte, man müsse unerhört vorsichtig sein, in Äußerungen und im Verkehr, letzteres besonders auch mit Geißler [Popitz], der scharf beobachtet werde“, vgl. von Hassell, Die Hassell-Tagebücher 1938-1944, Berlin 1988, S. 418. 59 Genau aus diesem Grund wurde z.B. Generalfeldmarschall Rommel am 14. Oktober 1944 nach dem Attentat vom 20. Juli 1944 auf Hitler zum Selbstmord, der als „Herzschlag als

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Historische Quellen belegen eher, dass Hitler und Himmler Popitz länger handeln ließen, um ihn besser ins Netz zu fangen. In seinen Erinnerungen erzählt Albert Speer, dass er unbeabsichtigter Zeuge eines Gesprächs zwischen Himmler und Hitler im Spätherbst 1943 war, in dem Himmler Hitler in Kenntnis des Gesprächs mit Popitz setzte.60 Ähnliches steht in einer Tagebucheintragung von Joseph Goebbels vom 8. November 1943.61 Bereits unter dem Datum des 23. September 1943 schrieb Goebbels: „Ich erzähle ihm [Hitler] auch von dem ablehnenden Wesen, das Popitz bei dieser Sitzung [des Luftkriegsschädenausschusses] zur Schau getragen hat. Der Führer ist sich absolut im klaren darüber, dass Popitz unser Feind ist. Er lässt ihn übrigens schon etwas beobachten, um geeignetes Material gegen ihn zur Verfügung zu haben; sobald Popitz aus seiner Reserve heraustreten würde; hätte er ihn in der Hand.“62

Dennoch wird lange unklar bleiben, inwieweit Himmler ein Doppelspiel führte und Hitler wirklich loyal war63. Die Glaubwürdigkeit Himmlers in seiner Rede vom 3. August 1944 auf der Gauleiter-Tagung in Posen64 darf angezweifelt werden. In dieser Folge eines im Westen erlittenen Dienstunfalls“ vertuscht wurde, gezwungen; Popitz‘ Nachbar, Edgar Haverbeck, dessen Vetter Carl Langbehn das Gespräch mit Himmler vermittelt hatte, wurde im Frühjahr 1944 verhaftet und berichtete Popitz nach seiner Freilassung, der Kriminalrat Lange wolle ihn (Popitz) eigentlich vernehmen, dies sei aber „so schwierig“, zitiert in Nagel, Johannes Popitz (1884-1945) – Görings Finanzminister und Verschwörer gegen Hitler – Eine Biographie, Köln 2015, S. 186. 60 Albert Speer, Erinnerungen, Frankfurt 1993, S.  390: „Sie sind dann also einverstanden, mein Führer, dass ich mit der ,Grauen Eminenz‘ spreche und dabei so tue, als ob ich mitmache?“ Hitler nickte. „Es gibt irgendwelche dunklen Pläne, vielleicht erfahre ich, wenn ich sein Vertrauen erobere, mehr davon. Wenn Sie, mein Führer, von dritter Seite dann hören sollten, so wissen Sie über meine Motive Bescheid.“ Hitler machte eine Geste des Einverständnisses: „Selbstverständlich, ich habe alles Zutrauen zu Ihnen.“ Bei einem Adjutanten erkundigte ich mich, ob er wüsste, wer den Spitznamen ,Graue Eminenz‘ trage. „Ja“, entgegnete er, „das ist der Preußische Finanzminister Popitz!“ 61 Fröhlich (Hrsg.), Die Tagebücher von Joseph Goebbels, Teil II, Band 10, München 1994, S.  255: „Himmler berichtet mir vom Vorhandensein eines Kreises von Staatsfeinden, zu dem Halder und vielleicht auch Popitz gehören.“ 62 Fröhlich (Hrsg.), Die Tagebücher von Joseph Goebbels, Teil II, Band 9, München 1993, S. 577. 63 Langbehn, Das Spiel des Verteidigers – Der Jurist Carl Langbehn im Widerstand gegen den Nationalsozialismus, Berlin 2014, S. 133-140. 64 Zitiert in Langbehn, Das Spiel des Verteidigers – Der Jurist Carl Langbehn im Widerstand gegen den Nationalsozialismus, Berlin 2014, S. 136: „Ein eigenartiger Herr, ein Staatsminister Popitz, versuchte viele Monate, mit mir Fühlung zu bekommen. Er hat mich durch einen Mittelsmann sagen lassen, er möchte dringend eine Aussprache mit mir. Diesen Mittelsmann ließen wir einmal plaudern, ließen wir erzählen, und der erzählte so ungefähr: Ja, es wäre also doch notwendig, dass der Krieg beendet würde, wir müssten mit England zu einem Friedensschluss kommen – genau die Gedanken von jetzt –, und zwar wäre die Vo­ raussetzung, der Führer müsste eigentlich weg und müsste so ungefähr aufs Altenteil gesetzt werden, auf einen Ehrenpräsidentenposten, und seine Gruppe wäre sich darüber klar, dass sie es gegen die SS nicht gut durchführen könnte, deswegen hoffe sie, ich wäre ein verständiger und verantwortungsbewusster Deutscher  – nur für Deutschland natürlich, um Gottes willen keine eigensüchtigen Sachen –, ob ich denn da nicht mittäte. Als ich das

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Rede erzählte Himmler die Umstände seiner Unterredung mit Popitz und stellte es so dar, als wäre er von Anfang an empört gewesen, und nur deshalb mitgemacht hätte, um Popitz besser überführen zu können. Himmler behauptet in dieser Rede, Hitler sofort, d.h. noch vor dem Gespräch mit Popitz im Sommer 1943, unterrichtet zu haben, was der Aussage von Speer (im Spätherbst 1943), wenn er sich richtig erinnerte, widerspricht. Himmler muss nicht die Wahrheit gesagt haben und könnte auch nur versucht haben, sich reinzuwaschen. Obwohl Popitz nicht nur gedanklich gegen Hitler engagiert war und früh, insbesondere in Kreisen der Wehrmacht, für eine physische Ausschaltung von Hitler plädierte,65 war er aufgrund der Marginalisierung des älteren Widerstandsflügels an der Verschwörung des 20. Juli 1944 nicht beteiligt. Dennoch löste der Anschlag gegen Hitler eine Welle von Verhaftungen aus, die Popitz diesmal nicht aussparte. Popitz wurde bereits am frühen Morgen des 21. Juli 1944 festgenommen, wohl gemerkt als erster Zivilist,66 und zunächst im Zellentrakt des KZ Ravensbrück inhaftiert. Danach wurde er in ein Berliner Gefängnis der Gestapo verlegt (vermutlich im September 1944 in das Zuchthaus Tegel).67 Im Vergleich zu den meisten anderen Häftlingen genoss er etwas bessere Haftbedingungen wie Besuch seiner Kinder und Schreibmöglichkeiten. Folter wurde ihm erspart. Besonders rührend ist eine Art literarischen Testaments zum ersten Mal hörte, ging ich sofort zum Führer und sagte: Den Kerl bringe ich jetzt um, so eine Unverschämtheit, mir überhaupt so einen Gedanken zuzumuten. Der Führer lachte und sagte: Nein, den werden Sie nicht umbringen, sondern anhören, lassen Sie sich den einmal kommen, das ist interessant, und wenn er sich bei der ersten Unterredung gleich verausgabt, dann können Sie ihn gleich festnehmen. […] Die erste Aussprache mit Herrn Popitz ist nun sehr interessant gewesen. Es war meine erste Handlung als Reichsinnenminister, auch eigenartig. Wir haben die Unterhaltung dann auf Draht aufgenommen, damit sie festgelegt wurde. Er kam zu mir ins Reichsinnenministerium. Er traute sich aber nicht so ganz heraus, wie ich das gewünscht hätte. Er verlangte dringend sehr bald wieder nach einer Aussprache. Denn war mir aber die Sache noch zu unreif. Ich habe dem Führer darüber berichtet und sagte: Das ist noch nicht reif, da erwischen wir nämlich bloß ein paar Äußere, der Popitz ist nur am Rande, er tut mit, aber die Wichtigeren sitzen ganz woanders, sitzen in den Kreisen hinter Herrn Halder. Ich habe mir dann wenigstens den Mittelsmann einmal hereingeholt. Seit der Zeit, seit ¾ Jahren, sieht Herr Popitz so käsig aus. Wenn ihn jemand sah, war er so bleich wie eine Wand, das lebende schlechte Gewissen. Das glaube ich. Er schrieb Fernschreiben an mich, ließ antelefonieren, ließ fragen, was mit dem Dr. X wäre, was passiert wäre, ist es so oder so passiert, geschieht es mit meinem Willen oder gegen meinen Willen. Ich sagte mir: Zum Weglaufen ist der Kerl zu feige, und tun wird er im Moment auch nichts, dazu hat er im Moment zu große Angst. Das hat sich auch als richtig herausgestellt.“ 65 Siehe z.B. Hildebrandt, Wir sind die letzten – Aus dem Leben des Widerstandskämpfers Albrecht Haushofer und seiner Freunde, Neuwied und Berlin, 1950, S. 100-101: „Einmal kam während Haushofers Anwesenheit ein Offizier aus dem Führerhauptquartier, und Popitz empfing ihn mit den Worten: ‘Sie verdammter Mensch kommen aus dem Hauptquartier und haben den Kerl immer noch nicht umgebracht!‘ “. 66 Schulz, Johannes Popitz in: Lill, Oberreuter, 20. Juli – Portrait des Widerstands, Düsseldorf und Wien 1984, S. 237. 67 Tuchel, „… und ihrer aller wartete der Strick“ Das Zellengefängnis Lehrter Straße 3 nach dem 20. Juli 1944, Berlin 2014, S. 83 und S. 167 Fn. 498.

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Johannes Popitz (1884-1945) – Finanzwissenschaftler und Widerstandskämpfer

über Goethe und Fontane, das er im Gefängnis für seine Kinder schrieb.68 Beide Autoren lagen ihm besonders am Herzen und wurden seine letzte Lektüre. Obwohl alle preußischen Ministerien (außer dem Amt des preußischen Ministerpräsidenten) aufgelöst und an das Reich abgegeben wurden, hatte allein Popitz sein Ministerium vor dieser Entwicklung retten können.69 Das preußische Finanzministerium war stark an seine Person gebunden und überlebte seine Verhaftung nicht. Im September 1944 wurde es auch in das Reich aufgelöst. Am 3. Oktober 1944 fand der Prozess vor dem Volksgerichtshof statt. Mitangeklagt war Carl Langbehn, der das Gespräch mit Himmler vermittelt hatte. Der Präsident des Volksgerichtshofes, Roland Freisler, der es bekanntlich pflegte, Angeklagte ohne Rücksicht auf deren früheren Rang anzubrüllen und zu demütigen, wie zahlreiche Bild­ aufnahmen zeigen, behandelte Popitz mit bemerkenswertem Respekt. Der damalige Reichsfinanzminister, Schwerin von Krosigk, berichtete wie folgt: „Im Gegensatz zu seiner sonstigen Gewohnheit befleißigte sich Freisler bei dieser Vernehmung in einem erregenden, von beiden Seiten geschmeidig geführten Duell einer ausgesuchten Höflichkeit.“70

Selbst vor dem Volksgerichtshof war Popitz‘ intellektuelle Autorität unerschüttert. Trotz fehlender Teilnahme an dem Attentat war seine Verwicklung in die rechtliche Organisation der Zeit nach dem Umsturz Hitlers aber ausreichend, um dieses Engagement mit dem Leben zu bezahlen. Unter dem Vorsitz von Roland Freisler verurteilte der Volksgerichtshof am 3. Oktober 1944 Johannes Popitz und Carl Langbehn zum Tode. Beide wurden bereits am 12. Oktober 1944 zur Hinrichtungsstätte geführt, wobei nur Langbehn direkt an diesem Tag hingerichtet wurde. Für Popitz gab es erneut eine Sonderbehandlung. Aus nicht ganz geklärten Gründen scheinen gewisse Leute innerhalb der SS ihn schützen gewollt zu haben. Zitiert wird auf jeden Fall der Name vom SS-Offizier Otto

68 Sonderdruck aus Beckerath/Popitz/Siebeck/Zimmermann (Hrsg.), Antidoron – Edgar Salin zum 70. Geburtstag, Tübingen 1962. 69 Kube, Pour le mérite und Hakenkreuz  – Hermann Göring im Dritten Reich, München 1986, S. 67. 70 Schwerin von Krosigk, Es geschah in Deutschland – Menschenbilder unseres Jahrhunderts, Tübingen 1951, S.  344. Der langjährige Reichsfinanzminister (1932-1945), Schwerin von Krosigk, beschrieb Popitz‘ außergewöhnliche Intelligenz wie folgt: „Popitz war ein Mann von blendender Intelligenz und überragender Rednergabe; er beherrschte die Kunst, für verwickelte Verhältnisse und schwierige Lagen ausgleichende Formulierungen zu finden, und besaß eine Arbeitskraft, die an sich selbst höhere Forderungen stellte als an die Leistungen, die er von Untergebenen verlangte und erwartete. Doch ließ er seine geistige Überlegenheit auch fühlbar werden. Da sie sich oft in ironischer Form äußerte, war er als scharfer, sarkastischer und schlagfertiger Dialektiker gefürchtet. Die wenigen fühlten sich den blitzenden Brillengläsern gegenüber unbefangen, aus denen sie sein spöttischer Blick anfunkelte“, vgl. Schwerin von Krosigk, Es geschah in Deutschland – Menschenbilder unseres Jahrhunderts, Tübingen 1951, S. 340.

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­ hlendorf, Leiter der Abteilung III des Reichssicherheitshauptamtes.71 Otto Ohlendorf O war Student bei Jens Jessen gewesen, hatte seine Familie nach dessen Hinrichtung finanziell unterstützt, und hatte über Jens Jessen mit Popitz Bekanntschaft gemacht, der ihn als Minister in seiner akademischen Laufbahn gefördert haben soll.72 Man wollte möglicherweise den erfahrenen Verwaltungsmann für das neue Regime nach dem Fall Hitlers einsetzen. Wie Carl Goerdeler musste Popitz einen von der Abteilung III des Reichsicherheitshauptamts verfassten langen Fragenkatalog zu verwaltungsrechtlichen Themen beantworten, wodurch der Zeitpunkt der Urteilsvollstreckung vor dem Hintergrund eines erwarteten frühen Kriegsendes verlängert werden konnte. Selbst Himmler soll Popitz einmal aus der Haft haben holen lassen, um ihn erneut über die rechtliche Gestaltung der Nachkriegszeit zu sondieren.73 Auf jeden Fall hatte Himmler persönlich die Hinrichtung hinausschieben lassen,74 bis er wahrscheinlich den perversen Gedanken aufgab, die SS in die Kleider des Widerstands schlüpfen zu lassen. Nicht nur Beschützer, sondern auch Gegner waren am Werk, die auf einen zeitnahen Einsatz des Henkers einwirkten.75 Irgendwann verliert sich das Machtspiel innerhalb des NS-Staates um das Leben von Popitz. Seine Tochter Cornelia hatte unmittelbar nach der Verurteilung ein handschriftliches Gnadengesuch an Hitler gerichtet. Es blieb aber wirkungslos. Am 2. Februar 194576 wurde Popitz zusammen mit Carl Goerdeler und dem Jesuiten Alfred Delp in Berlin-Plötzensee durch den Strang hingerichtet. Seine Leiche wurde verbrannt und seine Asche an einem unbekannten Ort verstreut. „Einer der feinsten Geister Deutschlands fiel damit dem Terror zum Opfer.“77 71 Voß, Johannes Popitz (1884-1945)  – Jurist, Politiker, Staatsdenker unter drei Reichen  – Mann des Widerstands, Frankfurt 2006, S. 309; Nagel, Johannes Popitz (1884-1945) – Görings Finanzminister und Verschwörer gegen Hitler – Eine Biographie, Köln 2015, S. 191. 72 Otto Ohlendorf galt als einer der klügsten Köpfe innerhalb der SS und ist dennoch nicht nur als Schreibtischtäter in die Geschichtsbücher eingegangen. Der hochgebildete Jurist und Volkswirt war von Juni 1941 bis Juli 1942 Befehlshaber der Einsatzgruppe D, einer Terroreinheit mit denkbar berüchtigtem Ruf, und damit aktiver Vollstrecker der Judenvernichtung. Er wurde im Nürnberger Prozess, wo er keine Reue zeigte und mit seinen detaillierten und emotionslosen Schilderungen der Massenerschießungen schockierte, wegen der Ermordung von 90.000 unschuldigen Menschen zum Tode verurteilt. Im Gegenteil zu vielen anderen Verurteilten blieb für ihn eine Begnadigung aus. Er wurde am 7. Juni 1951 in Landsberg hingerichtet. 73 Hagen, Die Geheime Front – Personen und Aktionen des deutschen Geheimdienstes, Linz und Wien 1950, S. 95; es darf nicht unerwähnt bleiben, dass der Autor in Wirklichkeit Wilhelm Höttl hieß und ein ehemaliger hochrangiger SS-Offizier war. 74 Höhne, Der Orden unter dem Totenkopf – Die Geschichte der SS, Augsburg 1995, S. 497. 75 Genannt wird u.a. Reichsjustizminister Thierack, der es kaum erwarten konnte, dass Popitz hingerichtet wird, und sich an Kaltenbrunner (Chef des Reichsicherheitshauptamts und somit Vorgesetzter von Otto Ohlendorff) wandte, um die Hinrichtung voranzutreiben, vgl. Langbehn, Das Spiel des Verteidigers – Der Jurist Carl Langbehn im Widerstand gegen den Nationalsozialismus, Berlin 2014, S. 149. 76 Doppelte Ironie des Schicksals: Roland Freisler starb ein Tag später am 3. Februar 1945 in einem Luftangriff, der den Volksgerichtshof traf, wobei sein Tod von einem von der Straße herbeigerufenen Arzt festgestellt wurde, nämlich dem Bruder Rüdiger Schleichers, den Freisler am Tag zuvor zum Tode verurteilt hatte (Joachim Fest, Der Spiegel 28/1994, S. 52). 77 Schwerin von Krosigk, Es geschah in Deutschland – Menschenbilder unseres Jahrhunderts, Tübingen 1951, S. 344.

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Einige dem Vorsteuerabzug entsprechende Vergütungen in der Zeit vor 1968 Inhaltsübersicht

I. Einleitung 1. Zur Wahl des Beitrags 2. Anmerkung zur Kommentierung von 1920 3. Reminiszenzen an die Tätigkeit 1962 bis 1970 4. Überblick über die Behandlung der Umsatzsteuer in Hamburg bis zum 31. Dezember 1969

II. Exkurse 1. Naziherrschaft, 2. Weltkrieg, Zwangsbewirtschaftung; Zeit bis zum UStG 1951 im Westen 2. Deutsche Demokratische Republik 3. Inland, ein „verbotener“ Begriff? III. Vorsteuerabzug bei der Umsatzsteuer – seit Jahrzehnten ein europäisches Vorbild für die Welt IV. „Vorsteuerabzug“ vor 1968 ein ­Merkmal grenzüberschreitenden ­Wettbewerbs 1. Behandlung der Exporte a) Steuerbefreiung b) Beginn der Steuerbefreiung c) Sonderfall Sonderumsatzsteuer



2. Entlastung von der „Vorumsatzsteuer“ = Vorsteuerabzug a) Ausfuhrhändlervergütung b) Ausfuhrvergütung



V. Entlastung des inländischen Vorratsvermögens zum Schluss des Jahres 1967 1. Rechtsgrundlage 2. Begründung und Durchführung 3. Ergebnis



VI. „Vorsteuerabzug“ als Instrument ­sozialer Lenkung 1. Staatliche Förderung der Errichtung von Familienheimen 2. Umsatzsteuerrechtliche Begünstigung 3. Umsatzsteuerrechtliche Maßnahmen bis 31.12.1966 4. Begünstigungsvorschriften im Wortlaut 5. Kuriosum(?): Umsatzsteuer-Vergütung als Kindergeld VII. Ausblick

I. Einleitung 1. Zur Wahl des Beitrags 100 Jahre Umsatzsteuer. Für die Fachleute von heute kaum denkbar als Allphasenumsatzsteuer ohne Vorsteuerabzug. Und dennoch: Von 1918 bis 1968, fünfzig Jahre lang gab es scheinbar keinen Vorsteuerabzug. Er war da, nur verborgen, hinter dem Wort „Vergütung“ versteckt. Umso mehr reizt es, diesem Verborgenen nachzugehen.

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2. Anmerkung zur Kommentierung von 1920 Es ist schon bedenkenswert, was beim „Schmökern“ in alten Gesetzeskommentaren1 entdeckt werden kann: „Es wird nun von dem Grundgedanken der Umsatzsteuer, dem Überwälzungsprinzip ausgegangen: danach erhält der zweite Hersteller, wenn er einen von einem anderen hergestellten Gegenstand2 kauft, die Steuer im Preise überwälzt. Wird ihm der Teil dieses seines Einkaufspreises, der auf die Steuer3 entfällt, vom Umsatzsteueramt vergütet, so ist er in der Lage, den Gegenstand,4 den er herstellt, unter Zugrundelegung eines Einkaufspreises zu kalkulieren, der um den Betrag des Vergütungsanspruchs niedriger ist als der von ihm tatsächlich bezahlte Preis“.

Und weiter: „Der Steuerfiskus kann die Vergütung unbedenklich gewähren, weil er von dem zweiten Hersteller, wenn dieser den von ihm hergestellten Gegenstand5 veräußert, von außergewöhnlichen Fällen abgesehen, eine weit höhere Steuer6 erhält, als er vergütet.“

Wie anders kann, in der damaligen Ausdrucksweise, der Vorsteuerabzug dargestellt werden? Es gab ihn, auch wenn er sich in dem genannten Text „nur“ auf die Luxussteuer7 bezieht. Die Überschrift hatte eine schon einschlägige Formulierung: „IV. Das Vergütungsverfahren des § 19.“ 3. Reminiszenzen an die Tätigkeit 1962 bis 1970 Der Autor war in der Zeit von April 1962 bis Ende 1969 in der Umsatzsteuervergütungsstelle eines Hamburger Finanzamtes als Prüfer und Sachbearbeiter, auch für die Rechtsbehelfe in Vergütungsangelegenheiten tätig. Hatte schon die Umsatzsteuer den Hautgout des Besonderen, so war die Gewährung der mit dem Export zusammenhängenden Vergütung geradezu extraordinär. Daneben fristete die Umsatzsteuervergütung für Heimstätten- und Kleinsiedlungsausgeber ein Schattendasein. Dieses zuletzt genannte, exotische Gebiet band gleichwohl wegen der in Hamburg gegebenen Zuständigkeit überregional und bundesweit agierender „großer“ Ausgeberunternehmen8 einen erklecklichen Anteil der Arbeit des Autors. Die für die anderen Steuerrechtsgebiete übliche interne berufliche Kommunikationsmöglichkeit fehlte hierfür 1 Johannes Popitz Kommentar zu Umsatzsteuergesetze v. 24.12.1919 und zu den Ausführungsbestimmungen v. 12.6.1920. Zweite, gänzlich neubearbeitete und vermehrte Auflage auf der Grundlage des Kommentars zum Gesetz v. 26.7.1918. I. Halbband, S. 472, 473. 2 Im Original „Luxusgegenstand“. 3 Im Original „Luxussteuer“. 4 Im Original „Luxusgegenstand“. 5 Im Original „Luxusgegenstand“. 6 Im Original „Luxussteuer“. 7 § 15 – 20 UStG 1919; „Die Steuer erhöht sich auf fünfzehn v. Hundert…“. 8 „Neue Heimat“ als Milliardenunternehmen und die NWDS Nordwestdeutsche Siedlungsgesellschaft seien als damals präponderante Beispiele genannt. Die Vergütung wurde nur an diese und ähnliche Unternehmen gezahlt, die zumeist als „Ausgeber“ des zu errichtenden Domizils zu bezeichnen waren.

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so gut wie ganz.9 Dieser Beitrag soll dazu dienen, die Umsatzsteuervergütung der Vergessenheit zu entreißen, die seit 1918, fünf Jahrzehnte lang als nicht ausgeprägte Form ähnlich dem Vorsteueranspruch fungierte. Mit dem Umsatzsteuergesetz vom 29.5.196710, dem Übergang zum System Nettoumsatzsteuer mit Vorsteuerabzug gab es ab 1.1.1968 für die Umsatzsteuervergütung als „Schattenvorsteuerabzug“ endgültig keine Berechtigung mehr. 4. Überblick über die Behandlung der Umsatzsteuer in Hamburg bis zum 31. Dezember 1969 Die Umsatzsteuer führte bis zum 31.12.196911 zumindest in Hamburg ein von der Landesverwaltung nicht eben den Ertragsteuern gleichgeachtetes Dasein. Ausschließlich dem Bund12 stand das Aufkommen der Umsatzsteuer und wörtlich auch ihre Verwaltung zu.13 Die Rechtsprechung, namentlich der BFH14, sah die praktizierte Regelung der Umsatzsteuer-Verwaltung15 als verfassungsgemäß und damit durch das Grundgesetz16 gedeckt an.17 Die Begründung war und ist denkwürdig: „Bei der Verwaltung der Umsatzsteuer durch die OFD sind Landesbeamte und Landesfinanzminister von jeder Einflussnahme ausgeschaltet. Die Umsatzsteuer wird auch nach dem FVG unmittelbar durch Bundesbeamte bei der OFD verwaltet.“

Die Finanzämter wurden als „Hilfsstellen des Bundes“18 bei der Verwaltung der Umsatzsteuer bezeichnet. Die – damals noch existierende – Oberfinanzdirektion Hamburg war zwar gleichzeitig Mittelbehörde des Bundes sowie des Landes; beide Abteilungen19, die einen gemeinsamen Präsidenten20 hatten, agierten aber völlig getrennt 9 Namentlich ist Egon Mönnich als Fachprüfer insbesondere für die Siedlungsausgeber hervorzuheben. 10 BStBl. I 1967, 234. 11 Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes v. 12.5.1969, BGBl. I 1969, 363. 12 Art. 106 Abs. 1 GG bis zum 31.12.1969: Das Aufkommen der folgenden Steuern stehen dem Bunde zu: … 3. die Umsatzsteuer. 13 Art. 108 Abs. 1 GG i.d.F. v. 15.11.1968, BGBl. I 1968, 1177: „… die Umsatzsteuer … wird durch Bundesfinanzbehörden verwaltet.“ 14 BFH, Urt. v. 27.6.1968, V R 128/66, BStBl. II 1968, 488. 15 In § 9 FVG. 16 Art 108 GG. 17 Sie dazu auch Verfassungsmäßigkeit der UStVerwaltung durch Finanzämter, UR 1968, 226. 18 In Hamburg „Hilfsstelle der Oberfinanzdirektion Hamburg“; vgl. Wortlaut des damaligen § 9 FVG und den Begriff „Hilfsstelle” in §§ 304 ff. AO a.F. 19 Steuerabteilung des Landes einerseits und Zollabteilung des Bundes andererseits. 20 Auch wenn es inzwischen üblich ist, in der deutschen Sprache die weibliche Form stets mit zu bedenken, hat der Autor sich entschieden, es bei der „damals“ üblichen Form zu belassen. Die vom Autor favorisierte versachlichende Form des Diminutivs hätte an dieser Stelle bedeutet „Präsidentchen“ zu schreiben, was zwar als genneutral und auch sonst richtig verteidigt werden, aber zu noch mehr Missverständnissen führen könnte. Deshalb wird gebeten, sämtliche männlichen Ausdrucksformen auch als die weiblichen mit umfassend zu lesen.

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voneinander. In der Abteilung „Z“21 war eine Gruppe mit ca. 6–8 Bediensteten22 für die Bearbeitung der Umsatzsteuer zuständig. Bei der Finanzbehörde Hamburg, dem Landes-Finanzministerium, war „Umsatzsteuer“ als zu behandelnder Fachbereich ein Fremdwort. Weder dort noch in der Abteilung „St“23 der Oberfinanzdirektion hatte irgendjemand hoheitlich mit Umsatzsteuer irgendetwas zu tun.24 Dieser Auffassung war auch der V. Senat des Bundesfinanzhofs, der wohl deswegen die Tätigkeit der Landesbeamten in Sachen Umsatzsteuer in den Finanzämtern völlig anders würdigte25 als noch der II. Senat in einem summarischen Beschluss26 für die Verwaltung der insoweit der Umsatzsteuer gleichenden Beförderungssteuer. Die gemeinsame Auffassung von Bundes- sowie Landesverwaltung und der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofes führte bei den Finanzamtsbediensteten27, den Betriebsprüfern und Sachbearbeitern, zumal den Auszubildenden28 zu einer Distanz zum Umsatzsteuerrecht. Die ausschließlich im Umsatzsteuervergütungsrecht29 tätigen Spezialprüfer und sonstigen Bearbeiter fühlten sich deshalb „zwischen Baum und Borke“; letztlich war die Erinnerung daran auch ein Anstoß für diesen Beitrag.

II. Exkurse Die Deutsche Demokratische Republik30 und das „3. Reich“ waren keine Rechtsstaaten, auf deren Gesetzestext konnte Niemand sich verlassen, nur auf ihn setzen, wenn es den Machtinhabern, der Hitler-NSDAP oder der SED gefiel. Die Besatzungsmächte hatten nach dem 2. Weltkrieg im Westen31 mit den Kontrollratsgesetzen eingedämmt und verboten, was spezifisch an die Nazizeit erinnerte oder ihnen sonst nicht gefiel. Das Umsatzsteuerrecht galt aber prinzipiell weiter. 1. Naziherrschaft, 2. Weltkrieg, Zwangsbewirtschaftung; Zeit bis zum UStG 1951 im Westen Deutschland unter Hitler war ebenso wenig wie später die DDR ein Rechtsstaat, die Steuerrechtsregeln konnten beliebig an- oder dem Gefühl der Mächtigen entspre21 Zollabteilung. 22 Sämtlich Bundesbedienstete. 23 Steuerabteilung. 24 Das änderte sich schlagartig mit dem 1.1.1970, die Umsatzsteuer wurde Gemeinschaftssteuer und von den Ländern verwaltet (21. Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes – Finanzreformgesetz v. 12.5.1969). 25 BFH, Urt. v. 27.6.1968 – V R 128/66, BStBl. II 1968, 488: „3. Die Regelung über die Verwaltung der Umsatzsteuer in § 9 FVG entspricht Art. 108 GG“. 26 BFH, Beschl. v. 27.3.1968 – II S 8/67, BStBl. II 1968, 491. 27 Sämtlich Landesbedienstete, gleich, ob Angestellte oder Beamte. 28 Immerhin war Umsatzsteuer für die Ausbildung des gehobenen Dienstes eines von fünf Pflichtfächern in den beiden Prüfungen. 29 Beim Finanzamt für Körperschaften in Hamburg in den sechziger Jahren ca. 17, in den 13 anderen Hamburger Finanzämtern zeitgleich zusammen ca. 22 Bedienstete. 30 Kurz DDR. 31 Bi- und Trizone; US-Amerikanisch, britisch und französisch besetzt.

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chend anders gewendet werden, Rechtssicherheit gab es nur zum Schein, nur für die Angepassten. Gleichwohl: Die Zeit ab 1935 bis 1951 und auch noch darüber hinaus war für die Gestaltung des Umsatzsteuerrechts, insbesondere der der Vergütung, trotz des Ursprungs im Terrorregime prägend auch für die junge Bundesrepublik. 2. Deutsche Demokratische Republik Das Umsatzsteuer-Recht galt in der DDR nach dem Zusammenbruch prinzipiell nach dem Umsatzsteuergesetz vom 16.10.1934 weiter.32 Tatsächlich aber war es ausgehöhlt. Die private Wirtschaft, für die es ausschließlich galt, hatte einen zu vernachlässigenden Anteil am Außenhandel der DDR. Zudem war es praktisch auf das „sozialistische“ System ausgerichtet. Eine finanzgerichtliche Kontrolle der Umsatzsteuerfestsetzung fand nicht statt.33 Bemerkenswert ist, dass in der DDR die Durchführungsbestimmungen vom 23.12.1933 zum Umsatzsteuergesetz vom 16.10.1934 angewendet werden sollten, während die Rechtsanwender in der Bundesrepublik Deutschland die Durchführungsbestimmungen vom 17. Oktober 1934 für dieses Gesetz zumindest bis zum Jahre 195134 anwendeten. Gegen das Gesetz behandelte man Waren aus der DDR bis zum 31.3.1954: Nach Verwaltungsübung35 wurden für Waren, die im Rahmen des Interzonenabkommens aus der Ostzone oder aus Ost-Berlin in das Bundesgebiet ­gelangt sind und von dort ausgeführt werden, Umsatzsteuervergütungen nach § 16 UStG gewährt, die Ausfuhrhändlervergütung mangels Steuerpflicht der Vorlieferung jedoch für derartige Ausfuhren nach dem 31.3.1954 nicht mehr.36 3. Inland, ein „verbotener“ Begriff? Mit dem UStG 1980 ist die Bundesrepublik Deutschland ihrer Verpflichtung nachgekommen, die vom EG-Ministerrat am 17.5.1977 beschlossene 6. Richtlinie zur Harmonisierung der Umsatzsteuern37 in den Mitgliedstaaten der Gemeinschaft in nationales Recht zu übernehmen. Was hat das mit der Vorsteuer- oder -Vergütung vor 1968 zu tun? Das Thema gehört zur DDR. Deren Territorium war bis zum 31.12.1979 und damit auch bis zum 31.12.1967 umsatzsteuerrechtlich Inland. Um diesen Begriff gab es bei der Gesetzgebung 1978/1979 dramatische Auseinandersetzungen wie nie zuvor und bis heute auch nicht wiederholt. Viermal mussten Bundestag und Bundesrat zusammentreten um ein Gesetz dem Bundespräsidenten ausfertigungsreif vorzulegen, einzigartig bis heute in der bundesdeutschen Gesetzgebung.38 Zuerst leitete der 32 Siehe dazu VEB deutscher Zentralverlag Berlin Schriftenreihe zum Abgabenrecht Heft 20, Das Umsatzsteuer-Recht Systematische Zusammenfassung aller geltenden Bestimmungen für die private Wirtschaft Stand 1. Januar 1956. 33 Duda, Das Steuerrecht im Staatshaushalt der DDR, 2011 [zugleich 2010 Freie Universität, Diss.]. 34 Soweit die Kontrollratsgesetze dieses zuließen. Die 1934er Regelungen wurden abgelöst vom UStG 1951 und von den UStDB 1951, beides v. 1.9.1951. 35 Verw 7-82, UR 1954, 54. 36 BdF-Erlass v. 5.5.1954 – IV S 4165- 215 – 54. 37 Amtsblatt der EG 1977 Nr. L 145. 38 Vgl. dazu Benda, UR 1979, 225.

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Bundesrat den Gesetzesentwurf der Bunderegierung als UStG 1979 vom März 1978 dem Bundestag zu.39 Der Bundestag verabschiedete die in UStG 1980 umbenannte Vorlage am 17.5.1979. Der Bundesrat rief danach unter anderem wegen der Verwendung des Inlandsbegriffs, inhaltlich entsprach dieser dem „Reichsgebiet in den Grenzen vom 31.12.1937“, den Vermittlungsausschuss an. Nach dessen Beschlussemp­ fehlung landete das Gesetz mit dem unveränderten Inlandsbegriff wieder beim Bundestag, der zustimmte. Der Bundesrat, dessen Zustimmung notwendig war, verweigerte diese dem ihm zugeleiteten Beschluss. Diesmal rief die Bundesregierung den Vermittlungsausschuss an, nach ihr sollte es beim Inlandsbegriff bleiben. Der Vermittlungsausschuss gab seine Empfehlung, im Gesetz den Inlandsbegriff nicht abzuändern wiederum an den Bundestag, der auch entsprechend abstimmte und diesen Beschluss an den Bundesrat leitete. Der blieb auch bei der dritten Vorlage bei seiner Auffassung zum Inlandsbegriff und lehnte damit das Gesetz erneut ab. Zum dritten und letztmöglichen Male rief nunmehr der Bundestag den Vermittlungsausschuss an und dieser hat dann, auch unter Beteiligung u.a. des ehemaligen Bundestagsabgeordneten und bayerischen Ministerpräsidenten Dr. h.c. F.J. Strauß40 statt der Begriffe „­Inland“ den des „Erhebungsgebietes“ und statt „Ausland“ das „Außengebiet“ vor­ geschlagen. Dieser Änderung stimmten dann in quasi letzter Minute41 sowohl Bundestag42 als auch Bundesrat43 zu.

III. Vorsteuerabzug bei der Umsatzsteuer – seit Jahrzehnten ein europäisches Vorbild für die Welt 50 der 100 vergangenen Jahre, von 1918 bis 1968, kennzeichnete ein Allphasen-System das deutsche Umsatzsteuerrecht. Nahezu pausenlos, nicht anders als von 1968 bis 2018, wurden die Rechtstexte geändert. Zum 1.1.1968 kam der als systemändernd empfundene44 Einschnitt. Mit Einführung des generellen Vorsteuerabzugs und der damit einhergehenden europäischen Harmonisierung überwand zumindest aus deut-

39 BT-Drucks. 8/1799. 40 Unter der Ägide von F.J. Strauß als Bundesfinanzminister wurde das Umsatzsteuergesetz 1967 eingeführt. Er war der Herausgeber der Fibel „Die Mehrwertsteuer“, Bonn 1967. 41 Die Anrufungsmöglichkeiten des Vermittlungsausschusses waren damit verbraucht. Das Gesetz hätte 1980 erneut eingebracht werden müssen, damit wäre wegen der bereits über sechs Monate bestehenden Nichtumsetzungszeit die 6. EG-Richtlinie weitere Zeit unmittelbar in der Bundesrepublik Deutschland anzuwenden. 42 BR Drucks. 506/79. 43 9.11.1970. 44 Das Umsatzsteuergesetz blieb prinzipiell unverändert. Hinzugekommen ist der Vorsteuerabzug, der bei Exporten die Ausfuhr- und Ausfuhrhändlervergütung ersetzte. Deutlich wird dieses auch dadurch, dass der Begriff „Mehrwertsteuer“, der sich bis heute gehalten hat, im Gesetz nur in einem Klammerzusatz verwendet wurde, um das Gesetz von dem bis zum 31.12.1967 geltenden Recht zu unterscheiden. Und die Fibel zum neuen Recht machte den Übergang von der Umsatzsteuervergütung zum Vorsteuerabzug bei Exporten mit dem Zusatz „Mehrwertsteuer“ deutlich.

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scher Sicht der Gesetzgeber die nationalen Grenzen im Steuerrecht zum ersten Mal.45 Das Wesensmerkmal dieser Besteuerung, der Vorsteuerabzug, stellte nicht nur die Wettbewerbsgleichheit bei der Umsatzsteuer im Besteuerungsgebiet46 her, sondern mit ihm ergab sich der Grenzausgleich für Importeure und Exporteure axiomatisch: Bei Importen wird die Einfuhrumsatzsteuer als Vorsteuer mit der nachfolgenden Umsatzsteuer verrechnet; der Exporteur darf steuerfrei ausführen und behält wie im inländischen steuerpflichtigen Zwischenunternehmerverkehr das Vorsteuerabzugsrecht. Nationale und internationale Wettbewerbsneutralität ist damit hinsichtlich der Umsatzsteuer gewährleistet. Mit der in Deutschland 1968 begonnenen Harmonisierung der Umsatzbesteuerung in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft wird dieses Ziel für die zunächst sechs Gründerstaaten Europas47 erreicht.

IV. „Vorsteuerabzug“ vor 1968 ein Merkmal grenzüberschreitenden Wettbewerbs So eingängig der Vorsteuerabzug in Deutschland seit 1968 jedem Umsatzsteuerrechtsanwender ist, bleibt doch die Frage „Wie war das vor 1968?“ Die Antwort ist einfach: Der internationale Wettbewerb verlangte beim Export eine prinzipielle Entlastung von der inländischen Umsatzsteuer. Die Durchführung dieser Entlastung gestaltete sich aber nicht so elegant wie der Vorsteuerabzug heute. Die Besteuerung der Lieferung an den Exporteur konnte zwar relativ einfach festgestellt werden, die Umsatzsteuerbelastung, die davor das Exportgut betraf, konnte wegen der unterschiedlichen Herkunft und der unterschiedlich durchlaufenen Stufen der Warenbestandteile nur prinzipiell und das auch nur unzureichend geschätzt werden.48 Der Vorsitzende des Finanzausschusses des Deutschen Bundestages hat zum Abschluss der 3. Lesung des Umsatzsteuergesetzes 1967 ausgeführt49, die unzureichende, ja z.T. willkürliche Entlastung hemme tendenziell die Ausfuhr und an der Ausfuhrvergütungsschraube 45 Erste Richtlinie des Rates v. 11.4.1967 (67/227/EWG) – Amtsblatt der EG 1301/67 – zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuer. Sie galt nur für die sechs Gründerstaaten Deutschland – ohne DDR –, Frankreich, Italien, Belgien, Niederlande und Luxemburg. Real angewendet ging die Zollunion dieser sechs Staaten, verwirklicht am 1.7.1968, dem harmonisierten Umsatzsteuerrecht noch voraus. Das Ziel der Harmonisierung war beschrieben und festgelegt; schon die Zweite Richtlinie des Rates, ebenfalls v. 11.4.1967 (67/228/EWG) – Amtsblatt der EG 1303/67– zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern benannte die Struktur und Anwendungsmodalitäten des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems und dabei im Artikel 11 den Vorsteuerabzug. 46 Zunächst in der „alten“ Bundesrepublik Deutschland, dann in der Europäischen Union, zu der ab 3.10.1990 das wiedervereinigte Deutschland gehörte. Die zeitlich davorliegende Umsatzbesteuerung in der Republik Österreich, die sieben Jahre Teil des Deutschen Reichs war, wurde nicht behandelt. 47 Neben Deutschland noch Frankreich, Italien, Belgien, die Niederlande und Luxemburg. 48 Siehe dazu Lutzke, Der Weg zur Mehrwertsteuer, UR 1967, 109 (110). 49 Otto Schmidt, Zur Verabschiedung des Entwurfs eines Mehrwertsteuergesetzes, UR 1967, 97 (99, li. Sp.).

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dürfe nicht mehr gedreht werden. Vor dem Übergang zum „echten“ Vorsteuerabzug sind damit auch klare Worte zur bisherigen Vergütung gesprochen. Obwohl die Umsatzsteuer weitaus überwiegend als eine den Marktangehörigen belastende „inländische“ Abgabe empfunden wurde, haben sich über die Wettbewerbsverzerrungen durch die Umsatzsteuer insbesondere in der Außenwirtschaft Generationen von Sachverständigen in den ersten 50 Jahren des deutschen Umsatzsteuerjahrhunderts gestritten. Einig war man sich hinsichtlich der Exporte. Bei Überschreitung der Marktgrenzen in Richtung „imaginärer“ Weltmarkt soll die Ware oder idealerweise auch eine Dienstleistung nicht mit inländischer Umsatzsteuer belastet sein. Das bedeutet auf der anderen Seite, dass die mit Umsatzsteuer nicht belastete Importware bei der Einfuhr auf das Marktniveau mit inländischer Umsatzsteuer angepasst werden muss.50 1. Behandlung der Exporte Solange Umsatzsteuer national erhoben wird, mag sie als Akzise oder anders bezeichnet werden, muss die Grenzüberschreitung aus dem Inland in das Ausland von Umsatzsteuer steuerfrei sein, wenn der Staat die Neutralität dieser Besteuerung auf dem Weltmarkt will. In Deutschland ist der Export von Waren prinzipiell sowohl von der allgemeinen Umsatzsteuer als auch von der temporär erhobenen Luxusumsatzsteuer, von 191851 bis heute befreit worden. Um Wettbewerbsneutralität herzustellen wurden Einfuhren, wenn auch erst später52 in das Reichs- oder Bundesgebiet (= Inland, Zollgebiet) mit der Umsatzausgleichsteuer53 belastet.54 Dass Exporte umsatzsteuerrechtlich stets von Umsatzsteuer frei sein sollten, ist zwar eine mehr als hundertjährige Grundauffassung, die aber in Krisenzeiten nicht stets durchgehalten wurde. Allein die Befreiung des Exports entlastet die Ware nicht von dem Preisbestandteil „Umsatzsteuer“, der vor der Ausfuhrlieferung aufgrund des Allphasensystems anfiel. Zunächst gab es deshalb die Ausfuhrhändlervergütung, um die Steuer der Lieferung an den Exporteur auszugleichen. Später folgte die Ausfuhrvergütung, die sämtliche davorliegenden Umsatzsteuerbelastungen ausgleichen sollte.

50 Die Festsetzung und Erhebung der Umsatzausgleichsteuer oblag in Deutschland den Zoll-, also Bundesbehörden wie ab 1968 die der Einfuhrumsatzsteuer auch. 51 § 2 Nr.1 UStG 1918, RGBl. 1918, 780; § 13 UStG 1919. 52 Zum 15.2.1932, UStG 1932 mit der Ausgleichsteuerordnung v. 30.1.1932, RGBl. I 1932, 49; die Verordnung trat in Kraft mit dem 15.2.1932 (§ 28). 53 Die Umsatzausgleichsteuer wurde 1932 mit der Anhebung der allgemeinen Umsatzsteuer von 0,85 auf 2 Prozent, eingeführt, Ausgleichsteuerordnung v. 30.1.1932, RGBl. I 1932, 49. Ab 1968 Einfuhrumsatzsteuer. 54 Eine die Regel bestätigende Ausnahme stellte § 4 AbsichG v. 29.11.1968, BGBl. I 1968, 1255 = BStBl. I 1968, 1203 dar. Die Vorschrift ordnete im Umsatzsteuerverfahren an, die Ausfuhren um 4% zu belasten und die Einfuhrumsatzsteuer um eine Vergütung für die Einfuhr von 4% zu entlasten.

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a) Steuerbefreiung Der erste Schritt zur Herstellung der internationalen Wettbewerbsneutralität hinsichtlich der Umsatzsteuer auf dem Weltmarkt ist die Steuerbefreiung der Exporte. b) Beginn der Steuerbefreiung Bereits das Gesetz über einen Warenumsatzstempel55, das als Vorläufer des ersten deutschen Umsatzsteuergesetzes angesehen wurde56 sah nach der Nr. 10 5. vor: „Befreit sind … 3. Lieferungen im Inland bezogener Waren in das Ausland“.57 Diese Befreiung ist in sämtlichen Umsatzsteuergesetzen bis heute enthalten.58 c) Sonderfall Sonderumsatzsteuer In einem Krisenfall besonderer Art wurde das Umsatzsteuerrecht zur Korrektur der Währungspolitik benutzt. Das fehlende außenwirtschaftliche Gleichgewicht, veranlasste die Bundesregierung, ein Gesetz „über umsatzsteuerliche Maßnahmen zur ­außenwirtschaftlichen Absicherung“ in den Bundestag einzubringen, das die Umsatzsteuerbefreiung bei Ausfuhrlieferungen einschränkte; der Deutsche Bundestag kreierte das Absicherungsgesetz59 mit Sonderumsatzsteuer60 und Einfuhrvergütung61, das für die Zeit vom 1.12.1968 bis zum 31.3.197062 einen Ausgleich vorsah, der einer DM-Aufwertung gleichkam.63 Das Bundesverfassungsgericht hat hierin keinen Grundgesetzverstoß gesehen.64 Und es hat mit seiner Entscheidung auch dem um55 Vom 26.6.1916, RGBl. 1916, 639. 56 Popitz, Kommentar zum Umsatzsteuergesetze, 2. Aufl. 1921, I. Halbband, 11. 57 RGBl. 1916, 641. 58 Z.B. die UStG 1918, 1919, 1926, 1934, 1951, 1966, 1967, 1980. 59 Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft v. 29.11.1968 (BGBl. I 1968, 1255 = BStBl. I 1968, 1203) – Absicherungsgesetz (AbsichG). Das Beispiel fällt zwar in die Zeit nach dem 31.12.1967, zeigt die demokratisch-parlamentarische Ausnahme aber besonders eindrucksvoll. 60 § 2 Abs. 1 Satz 1 und § 4 AbsichG haben folgenden Wortlaut: „Die Ausfuhr von Gegenständen, die ein Unternehmer im Sinne des § 2 des Umsatzsteuergesetzes in der Zeit vom 29. November 1968 bis 31. März 1970 bewirkt, unterliegt einer Sonderumsatzsteuer. Die Steuer beträgt vier vom Hundert der Bemessungsgrundlage. Sie ermäßigt sich auf zwei vom Hundert für die Ausfuhr der in der Anlage 1 zum Umsatzsteuergesetz bezeichneten Gegenstände.“ 61 § 1 Absicherungsgesetz sieht eine Vergütung für die Einfuhr vor, ebenfalls 4%. 62 Die Befristung der Geltungsdauer des Absicherungsgesetzes auf den 31.3.1970 wurde durch Gesetz v. 8.8.1969 (BGBl. I 1969, 1081) vorzeitig aufgehoben. Mit Verordnung der Bundesregierung v. 28.10.1969 (BGBl. I 1969, 2045) wurde bestimmt, dass die Sonderumsatzsteuer nicht mehr auf die Ausfuhr von Gegenständen anzuwenden ist, die nach dem Tag der Verkündung der Verordnung bewirkt wird. 63 Vgl. Der Spiegel 49/68 v. 2.12.1968, S.28 re. Sp.; Stern, Grundfragen der globalen Wirtschaftssteuerung, Berlin 1969, S. 22. 64 Sieben Klagen wurden mit dem Beschluss v. 9.3.1971 – 2 BvR 326, 327, 341, 342, 343, 344, 345/69 zu einem Verfahren verbunden.

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satzsteuerspezifischen Vorbringen keine grundrechtsverletzende Bedeutung beigemessen, dass das Absicherungsgesetz den exakten Grenzausgleich des gerade am 1.1.1968 neu eingeführten Mehrwertsteuerrechts konterkarierte. 2. Entlastung von der „Vorumsatzsteuer“ = Vorsteuerabzug Die Befreiung des Exports allein entlastet die Ware nicht von der Umsatzsteuer, wenn diese auf mehr als der letzten Stufe der Umsatzkette erhoben wird. Schwierig wird die Ermittlung dieser Umsatzsteuer, wenn, wie in Deutschland bis vor 1968 die offene Überwälzung der Umsatzsteuer gesetzlich untersagt ist.65 Der Begriff Vergütung ist im § 4 UStG vom 24.12.1919 erstmals normiert worden, im Gegensatz zum § 28 UStG von 1918, der dafür noch den Begriff Erstattung verwandte. Der Wandel geht auf Popitz66 zurück. Er schreibt, eine Steuer könne nur demjenigen erstattet werden kann, der sie gezahlt hat. Dem Unternehmer wird ein Betrag vergütet, der der Steuer für die Lieferung an ihn entspricht. Eine weitere Entlastung war nicht vorgesehen; angesichts des relativ geringen Steuersatzes von 0,5% drängte sie sich auch nicht so sehr auf wie später bei steigenden Steuersätzen. Die Erstattung bzw. Vergütung beschränkte sich zunächst auf im Inland vom Exporteur erworbene Ware, der inländische Hersteller musste sich mit der Steuerbefreiung bei entsprechenden Umsätzen begnügen. a) Ausfuhrhändlervergütung Die Ausfuhrhändlervergütung wurde, wie der Name es sagt, dem Exporthändler gewährt. Hatte ein Fabrikant seine Produkte exportiert, meinte Popitz „Wer die eingekaufte Ware nicht bloß handelsrechtlich behandelt, sondern verändert, ist nicht Ausfuhrhändler, sondern Fabrikant. Für ihn liegt ein Anlaß zu der Vergütung nicht vor.“ 67

Nicht nur, dass es ein prinzipieller Vorsteuerabzug ist, wenn die Voraussetzungen zutreffen; identisch ist auch das Sollprinzip, zahlt der Lieferant die für die steuerpflichtige Lieferung nicht, wird der Vorsteuerabzug = Ausfuhrhändlervergütung dennoch gewährt. aa) Entwicklung von 1918–1968 Seit der „Erstattung“ nach § 28 Abs. 1 UStG 1918, bis zum Ende des Jahres 1967, wurden Wege gesucht, die im Preis auf den Exporthändler überwälzte Umsatzsteuer diesem zu vergüten. Solange keine Umsatzausgleichsteuer bei der Einfuhr erhoben wurde68, blieben im Ausland erworbene Waren, gleich, ob sie im Inland verarbeitet oder 65 Zunächst § 13 UStG 1918, dann § 12 UStG 1919, § 10 Abs. 1 UStG 1934, 1951, 1966. 66 Popitz, Kommentar zum Umsatzsteuergesetze, 2. Aufl. 1921, I. Halbband, 308. 67 Popitz, Kommentar zum Umsatzsteuergesetze, 2. Aufl. 1921, I. Halbband, 305. 68 Eingeführt wurde die Umsatzausgleichsteuer zum Steuersatz von 2% (ermäßigt 1%) aufgrund des UStG 1932 mit der Ausgleichsteuerordnung v. 30.1.1932, RGBl. I 1932, 49, die Verordnung trat in Kraft mit dem 15.2.1932 (§ 28).

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nur durchgeführt worden waren69, bei der Exportbefreiung unberücksichtigt. Die Vergütung war relativ einfach zu ermitteln, sollte sie doch der Steuerpflicht der Lieferung an den Ausfuhrhändler entsprechen. „Erbringt ein Unternehmer den Nachweis, dass er von ihm ausgeführte Gegenstände im Inland erworben oder in das Inland eingeführt hat und die Lieferung an ihn der Steuerpflicht unterlag, so vergütet ihm die Steuerstelle den Teil des entrichteten Entgelts, der der Steuer für die Lieferung an ihn entspricht.“70

Der Vergütungssatz betrug demnach Anfangs 0,5%, dann 1,5%.71 Der Satz wurde an die Höhe des allgemeinen Steuersatzes angepasst, von 1922 über zunächst 2%72 auf 2,5%73, dann wieder über 2%74 auf 1,5%75 und 1925 schließlich auf 1%.76 Das neue Umsatzsteuergesetz vom 8.5.192677 brachte bis zum 1.4.1930 einen Satz von 0,75%. Danach kam eine Erhöhung auf 0,85%.78 Mit der Neufassung des Umsatzsteuergesetzes vom 30.1.193279 wurde ab 1.1. des Jahres der Steuersatz auf 2% angehoben, ab 15.2.1932 die Umsatzausgleichsteuer und deren Ausgleich durch die Ausfuhrhändlervergütung beim Export gesetzlich festgelegt – und schließlich die Ausfuhrvergütung kreiert. Der Ausfuhrhändlervergütungssatz blieb dem Regelsteuersatz entsprechend bis zum 31.12.1945 bei 2%. Exportierende Hersteller erhielten bis zum 15.2.1932 keine Vergütung, weil ihr Umsatz ohnehin steuerfrei war. Die Besatzungsmächte verfügten80 ab 1.1.1946 einen Steuersatz von 3%, ab 1.7.195181 galt ein Steuersatz von 4%, der bis zum 31.12.1967 stabil blieb. bb) Berechnung der Ausfuhrhändlervergütung U.a. wegen des Ausweisverbots der Umsatzsteuer konnte die Umsatzsteuer des Vorlieferanten des Exporteurs nicht wie heute die Vorsteuer aus der Eingangsrechnung abgelesen werden. Es war vielmehr die Bemessungsgrundlage auf der Grundlage des Entgelts, des Einkaufspreises oder des Werts zu ermitteln. War das Entgelt der Ausgangspunkt, gab es die Vergütung auf 92% hiervon, bei dem nach dem 2. Weltkrieg am Häufigsten anzuwendenden Fall also 4% von 92% des Entgelts, gerechnet wurde 69 Die Durchfuhr war ohnehin steuerfrei. 70 § 28 Abs. 1 UStG 1918, RGBl. I 1918, 792; wortgleich § 4 UStG v. 24.12.1919, Popitz, Kommentar zum Umsatzsteuergesetze, 2. Aufl. 1921, 1. Halbband, 300. 71 Oder 10 bzw. 15% für Gegenstände, die der Luxussteuer unterlagen, 5% für der Anzeigensteuer unterliegende Lieferungen; Popitz Kommentar zum Umsatzsteuergesetze, 2. Aufl. 1921, 1. Halbband, 308. 72 Gesetz v. 8.4.1922, RGBl. I 1992, 335 (373). 73 2. Notverordnung. 74 (1.) SteuermilderungsVO v. 14.9.1924, RGBl. I 1924, 707. 75 2. SteuermilderungsVO v. 10.11.1924, RGBl. I 1924, 737. 76 Gesetz über Zolländerungen v. 17.8.1925, RGBl. I 1925, 261. 77 RGBl. I 1926, 218. 78 Art VII des Gesetzes zur Änderung des Biersteuergesetzes, RGBl. I 1930, 136. 79 RGBl. I 1932, 39; ursprünglich 4. NotVO v. 8. 12.1931, RGBl. I 1931, 699 (728). 80 Kontrollratsgesetz Nr. 15, Art. 1. 81 Mit dem Umsatzsteueränderungsgesetz v. 28.6.1951, BGBl. 1951, 402.

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abgekürzt: 3,68% × 100% des „bereinigten“82 Entgelts. Seit Besteuerung der Einfuhr erstreckte sich die Ausfuhrhändlervergütung auch auf die Umsatzausgleichsteuer. Die Höhe brauchte bei der Ausfuhr nicht berechnet zu werden, es wurde die nachweislich entrichtete Steuer vergütet. War der Nachweis nicht möglich, gab es die Hälfte als Vergütung.83 b) Ausfuhrvergütung Ausfuhren sollten zur Herstellung größtmöglicher Neutralität nicht nur steuerfrei die Grenze queren können, dafür diente die Exportbefreiung vom Warenumsatzstempel bereits schon 191684, sie sollten auch von der inneren, nationalen Umsatzsteuer entlastet werden. Die letzte Stufe der Lieferung an den Exporteur wurde mit der Ausfuhrhändlervergütung entlastet, die Vorstufenbelastung blieb bis 1932 ohne Ausgleich. aa) „Unmöglichkeit“ einer Vorstufenentlastung Die Vergütung der Umsatzsteuer, die die Lieferung an den Ausfuhrhändler belastete, war einfach, weil die Steuerpflicht dieser Lieferung gesetzlich feststand.85 Die Vergütung der davorliegenden Umsatzsteuer auf den Vorstufen wurde als unmöglich angesehen. Noch im April 1918 bezeichnete Popitz die Einführung einer ganz allgemeinen Rohstoffsteuer anstelle der Umsatzsteuer als nicht denkbar, u.a., weil die daraus folgende Preisgestaltung zu einer schweren Gefährdung auf dem Auslandsmarkt führen müsste und sich kein Weg bot, für die richtige Bemessung und Bewertung einer Ausfuhrvergütung.86 Aber auch vor mehr als 100 Jahren, bei den Beratungen des Warenumsatzstempelgesetzes87 wurden die Schwierigkeiten einer Ausfuhrvergütung diskutiert,88 endlich wurde sie wohl deswegen jahrelang nicht gewährt. bb) Einführung ab 1.12.1932; Ende am 31.12.1967 Ab 1.12.193289 hatte die ausfuhrvergütungslose Zeit in Deutschland ein Ende, der Gesetzgeber hatte sich entschlossen, eine Ausfuhrvergütung in Höhe von 0,5%90

82 Das Entgelt war um bestimmte Kosten gem. § 73 UStDB 1951 zu korrigieren, um auf eine Bemessungsrundlage „frei Grenze“ zu kommen. 83 [Koch Wirckau] Sölch Ringleb, Kommentar zum UStG, 1950, 4. Aufl., S. 358. 84 Befreiung 3 zu TarifNr. 10 des Warenumsatzstempelgesetzes 1916, RGBl. I 1916. 85 Ausfuhrhändlervergütung. 86 Popitz Kommentar zum Umsatzsteuergesetze, 2. Aufl. 1921, I. Halbband, 13. 87 Vom 26.6.1916, RGBl. I 1916, 639. 88 Popitz Kommentar zum Umsatzsteuergesetze, 2. Aufl. 1921, I. Halbband, 13. 89 § 4 Abs.2 und Verordnung über die Umsatzsteuervergütung v. 28.11.1932, RGBl. I 1932, 536. 90 § 75 UStDB 1934.

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des Entgelts einzuführen. Der Satz wurde zum 1.1.194691 erhöht auf 0,75% und zum 1.7.195192 gesplittet: Fertigwaren 2,5%, Halbwaren 1,0%, sonstige Gegenstände 0,5%. Zuletzt galt 1966 eine Vergütungsliste93 mit den Vergütungssätzen 0,5%, 1% und 5%, die nach dem Deutschen Zolltarif gegliedert war.94 Die Ausfuhrvergütung gab es auf 100% des bereinigten Entgelts, anders als die Ausfuhrhändlervergütung nicht nur auf 92% hiervon. Im Übrigen waren aber die Verwaltungsvorschriften für beide Vergütungsarten gleich.

V. Entlastung des inländischen Vorratsvermögens zum Schluss des Jahres 1967 Die Einführung des Vorsteuerabzuges und die Umstellung auf ein Nettoumsatzsteuersystem war ein radikaler Eingriff in Wirtschaftsabläufe. Niemand wusste, wie die Kunden, zumal Endverbraucher, sich verhalten würden angesichts der neuen Kalkulation. Da half ein wenig der Umstand, dass das am 1.1.1968 in Kraft tretende Gesetz bereits im Mai 1967 verabschiedet wurde. Auch die zwar sehr grobe, aber immerhin vollziehbare Entlastung der Altvorräte als ein Kraftakt des Vorsteuerabzugs besonderer Art brachte dem betroffenen Unternehmer Rechtssicherheit und eine Kalkula­ tionsgrundlage. 1. Rechtsgrundlage Nach § 28 Abs. 1 UStG 196795 konnte der Unternehmer für seine am Schluss des Jahres 1967 im Inland vorhandenen Gegenstände des Vorratsvermögens als Vorsteuer einen Betrag abziehen, der sich aus der Anwendung des für diese Gegenstände nach §  25 UStG 1951 in der zuletzt geltenden Fassung jeweils in Betracht kommenden Vergütungssatzes für die Ausfuhrvergütung ergab. 2. Begründung und Durchführung Der Wechsel vom Bruttoallphasenprinzip zum Nettoallphasenprinzip verlangt aus Wettbewerbsgründen, dass sämtliche Unternehmer nach dem Wechsel hinsichtlich der Umsatzsteuer aus der Bruttoallphasenzeit auf „Null“ gestellt werden. Was bot sich 91 Kontrollratsgesetz Nr. 15 v. 11.2.1946, Amtsblatt des Kontrollrats in Deutschland 1946, 75; Steuer- und Zollblatt (britische Zone) 1946, 21. 92 §§ 79, 86 Abs. 5 UStDB 1951. 93 Anlage 7 zum UStG, § 25 Abs. 1. 94 § 77 Abs. 2 Ziff. 6 UStDB verpflichtet den Unternehmer, in seinem Antrag die Tarifierung anhand des Statistischen Warenverzeichnisse für den Außenhandel vorzunehmen. 95 „Mehrwertsteuer“.

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dafür besser an, als die vorher nur für die Ausfuhr maßgebende Ausfuhrvergütung96, die denselben Hintergrund hatte, nämlich die Ware von der kumulativen Umsatzsteuer zu entlasten. Um die Ware von der zusätzlichen Umsatzsteuer zu entlasten, die auf der letzten Lieferung an den Unternehmer beruhte, aber auch, um die durchschnittliche Belastung mit Umsatzsteuer zu erreichen97, durften die Werte der Waren nach der Bilanz zum 31.12.1967 um 100%98 erhöht werden, um die Bemessungsgrundlage festzustellen.99 Für die Händler mit Anlagevermögen lag ein besonderes Problem darin, dass die Besteller ihre Käufe in das Jahr 1968 verlagern könnten. Die Lösung bestand, anders als beim Vorratsvermögen, nicht in einem besonderen Vorsteuerabzug, sondern in seinem Gegenteil: Der volle Vorsteuerabzug wurde pro rata temporis teilweise rückgängig gemacht. Und zwar mit fallenden Sätzen in den Jahren 1968–1972: 8% – 7% – 6% – 4% – 2%.100 3. Ergebnis Die Ausgaben für die Vorratsentlastung wurden mit 4,9 Mrd. DM prognostiziert. Im Mai/Juni 1969 wurde die angemeldete Vorratsentlastung mit 5,0 Mrd. DM bezeichnet.101

VI. „Vorsteuerabzug“ als Instrument sozialer Lenkung Mag die Vorratsentlastung ein Vorsteuerabzug für die Zeit vor 1968 nur für Unternehmer gewesen sein; die Berlinförderung102, in diesem Beitrag nicht behandelt, war aus wirtschaftspolitischen Gründen notwendig und half manchem Unternehmer in Westdeutschland und in Westberlin über die Runden. Ein anderer „Vorsteuerabzug“ ausschließlich für Nichtunternehmer erreichte das Ende des kumulativen Bruttoumsatzsteuersystems nicht, sondern hauchte sein Leben zwei Jahre vorher aus, bestand aber bereits seit 1920. Er befreite ausschließlich den letzten Umsatz an den Maßnahmeträger, der die Begünstigung in seiner Abrechnung an den Siedler usw. weitergeben sollte. Nicht deutlich erkennbar ist, ob die Umsatzsteuerfreiheit von Anfang an und in jedem deutschen Land dem Maßnahmeträger als Vergütung gewährt wurde. Denkbar wäre auch gewesen, statt der nach dem zweiten Weltkrieg in der Bundesre 96 Nach der Vergütungsliste zu § 25 UStG 1966 (Anlage 7); jedoch Ersatz der Vergütungssätze 0,5% durch 1%, 5% durch 4%; Pauschalsätze (1%, 1,5% und 2,5%) waren stattdessen möglich. 97 Nach Lutzke, Der Weg zur Mehrwertsteuer, UR 1967, 109 (111), lag die Belastung im Normalfall zwischen 10 und 12%, im Einzelfall bis zu 20%. 98 Ausnahmsweise um nur 50% oder nur 20%. 99 Siehe auch Groenefeld, Feststellung der tatsächlichen Vergütungssätze und der tatsächlichen Pauschsätze gem. § 28 UStG 1967, UR 1968, 5. 100 Sog. Selbstverbrauchsteuer gem. § 30 UStG 1967 ab 1.1.1968. 101 Schmidt, UR 1969, 161; der den Betrag als „Einnahmeausfall“ bezeichnete. 102 Häufig als Berlin-Hilfe bezeichnet, was einen Kollegen aus Berlin in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts zu dem Spruch veranlasste: „Berlin kann nicht mehr geholfen werden, wird nur noch gefördert.“

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publik normierten Vergütung die Befreiung des Umsatzes dem am Bau beteiligten Unternehmer zu gewähren, der den Maßnahmeträger als Vertragspartner hat. Eine eher kuriose, aber eindeutige Familienkomponente umsatzsteuerlicher Art wurde 1919 zum Gesetz, eine Umsatzsteuervergütung als Kindergeld für minderbemittelte Familien. Diese einzigartige Maßnahme wurde nie angewendet, weil der Gesetzgeber sie bereits vor ihrem Inkrafttreten wieder kassierte. 1. Staatliche Förderung der Errichtung von Familienheimen Die staatliche Förderung von schlichten Familienheimen, insbesondere zur Selbstversorgung, hatte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auch in der Literatur lebhaften Zuspruch, es wurde bis auf den „alten Fritz“ zurückgegriffen.103 Seit 1850, wenn nicht schon vorher, wurde das Kleinwohnungswesen staatlich gefördert. Die Umsatzsteuerbefreiung und -Vergütung wurde 1941 zutreffend als Begünstigung des Heimstätters erkannt, obwohl die Vergütung dem Ausgeber gewährt wurde.104 1946 war die Umsatzsteuer und deren Vergütung kein Thema, allein planwirtschaftliche Lenkung könnte aus dem Chaos herausführen.105 2. Umsatzsteuerrechtliche Begünstigung Popitz106 wies 1920 bereits daraufhin, dass nicht sämtliche sachlichen Befreiungen von der Umsatzsteuer sich im §  2 UStG 1920 befinden. Die Befreiung nach §  29 Reichssiedlungsgesetz erläutert er in einem Anhang.107 Ob die Befreiung nach Bestätigung der Richtigkeit der Versicherung des Ausgebers durch die Umsatzsteuerstelle dem leistenden Unternehmer oder dem Siedlungsausgeber die entsprechende Vergütung gewährt wurde, ist nicht ersichtlich. Zur verwaltungsmäßigen Vereinfachung wird die Steuerbefreiung nicht für die Umsätze der zahlreichen Unternehmer an die Siedlungsträger, sondern für die wenigen Siedlungsträger werden die begünstigten Umsätze an diese zusammengefasst und ihnen als Vergütung gewährt.108 3. Umsatzsteuerrechtliche Maßnahmen bis 31.12.1966 Bis zwei Jahre vor Einführung des Vorsteuerabzugs als bestimmendes Merkmal des neuen Umsatzsteuerrechts zum 1.1.1968 wurde der Wohnungsbau in bestimmten Sektoren mit dem Mittel der Vergütung umsatzsteuerlich subventioniert. Einen Überblick über die Vorschriften der gewährten Vergütungen zeigt deren Abschaffung zum 1.1.1967. Mit Art. 7 des Steueränderungsgesetzes 1966 wurden die in folgenden Ge-

103 Kuhn, Kleinsiedlungen aus friderizianischer Zeit, Neuauflage 1918; Graebert, Das Recht der Reichsheimstätte, 1941; Schnell/Haake, Kleinsiedlung von Morgen, 1946. 104 Graebert, Das Recht der Reichsheimstätte, 1941, S 68. 105 Schnell/Haake, Kleinsiedlung von Morgen, 1946, S 106. 106 Popitz, Kommentar zum Umsatzsteuergesetze, 2. Aufl. 1921, I. Halbband, 218. 107 Popitz, Kommentar zum Umsatzsteuergesetze, 2. Aufl. 1921, I. Halbband, 255. 108 [Koch Wirckau] Sölch Ringleb, Kommentar zum UStG, 1950, 4. Aufl., S 192; UR 1953, 51.

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setzen enthaltenen Umsatzsteuerbefreiungen und damit auch die in Form der Vergütung an die Siedlungsträger aufgehoben: ȤȤ § 4 Gesetz zur Förderung der landwirtschaftlichen Siedlung.109 ȤȤ § 34 Reichsheimstättengesetz.110 ȤȤ § 64 Bundesvertriebenengesetz.111 ȤȤ § 20 Kap II IV. Teil 3. VO des Reichspräsidenten.112 ȤȤ Art 4 VO zur Kleinsiedlung und Bereitstellung von Kleingärten.113 ȤȤ § 14 VO zur beschleunigten Förderung des Baues von Heuerlings- und Werkwohnungen sowie von Eigenheimen für ländliche Arbeiter und Handwerker.114 Das Reichssiedlungsgesetz115 verpflichtete die Länder zur Begründung gemeinnütziger Siedlungsunternehmen „zur Schaffung neuer Ansiedlungen sowie zur Hebung bestehender Kleinbetriebe, …“ und gewährte die Umsatzsteuerbegünstigung. 4. Begünstigungsvorschriften im Wortlaut § 29 Kleinsiedlungsgesetz, der wortgleich oder sinngemäß für die anderen Regelungsinhalte auch gilt, enthält folgende Steuerbefreiungsvorschriften: „Alle Geschäfte und Verhandlungen, die zur Durchführung von Siedlungsverfahren im Sinne dieses Gesetzes dienen, sind, soweit sie nicht im Wege des ordentlichen Rechtsstreits vorgenommen werden, von allen Gebühren, Stempelabgaben und Steuern des Reichs, der Bundesstaaten und sonstigen öffentlichen Körperschaften befreit. Die Befreiung erstreckt sich insbesondere auch auf Umsatz- und Wertzuwachssteuern jeder Art, auf letztere insbesondere auch dann, wenn sie von dem Erwerbe von Land und Inventar durch das gemeinnützige Siedlungsunternehmen erhoben werden.“ „Die Gebühren-, Stempel- und Steuerfreiheit ist durch die zuständigen Behörden ohne weitere Nachprüfung zuzugestehen, wenn das gemeinnützige Siedlungsunternehmen versichert, dass ein Siedlungsverfahren im Sinne des Reichssiedlungsgesetzes vorliegt und dass der Antrag oder die Handlung zur Durchführung eines solchen Verfahrens erfolgt. Die Versicherung unterliegt nicht der Nachprüfung durch die Finanzbehörden.“

Das Reichsheimstättengesetz116, neben dem Kleinsiedlungsgesetz die am häufigsten genutzte Vorschrift für die Umsatzsteuervergütung, regelt die Ausgabe von Heimstätten durch das Reich, die Länder, Gemeinden oder Gemeindeverbände sowie durch

109 V. 31.3.1931, RGBl. I 1931, 122, i.V.m. § 8 Abs. 1 Gesetz v. 7.12.1939, RGBl. I 1939, 2405. 110 I.d.F. v. 25.11.1937, RGBl. I 1937, 1291. 111 I.d.F. v. 23.10.1961, BGBl. I 1961, 1882. 112 V. 6.10.1931, RGBl. I 1931, 537 (551). 113 I.d.F. v. 15.1.1937, RGBl. I 1937, 17. 114 V 10.3.1937 RGBl. I 1937, 292. 115 Vorher bereits v. 11.8.1919, RGBl. I, 1429. 116 V. 10.5.1920, RGBl. I. 1920, 962 und v. 25.11.1937, RGBl. I 1937, 1291.

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Einige dem Vorsteuerabzug entsprechende Vergütungen in der Zeit vor 1968

besonders als Ausgeber zugelassene andere öffentliche Verbände oder gemeinnützige Unternehmungen. § 34 des Gesetzes schreibt vor: „Alle zur Begründung und Vergrößerung von Heimstätten erforderlichen Geschäfte und Verhandlungen sind von allen Gebühren, Stempelabgaben und Steuern des Reichs, der Länder und sonstiger öffentlichen Körperschaften befreit.“ „Die Gebühren- und Steuerfreiheit ist durch die zuständigen Behörden ohne weitere Nachprüfung zuzugestehen, wenn der Ausgeber versichert, dass der Antrag oder die Handlung zur Durchführung eines solchen Verfahrens erfolgt.“

In den Vorschriften über die von den Gemeinden oder Gemeindeverbänden bereitgestellten Kleingärten117 und die Errichtung von Landarbeiterwohnungen118 wurde die Umsatzsteuer119 namentlich genannt: „Rechtsvorgänge und Urkunden, die zur Schaffung und Einrichtung von Landarbeiterwohnungen … erforderlich sind, sind von folgenden Steuern des Reichs, der Länder und der Gemeinden (Gemeindeverbände) ausgenommen: 1. Der Umsatzsteuer, 2. Der Grunderwerbsteuer, 3. Der Wertzuwachssteuer, 4. Der Steuer der Gemeinden (Gemeindeverbände) vom Zubehör (Gewerbeanschaffungssteuer). Gebühren und Gerichtskosten, die aus Anlass der Schaffung und Einrichtung von Landarbeiterwohnungen entstehen, werden nicht erhoben. … .“

Alle Befreiungsvorschriften bezweckten die Verbilligung der von den Trägern ausgegebenen Siedlerstellen durch steuerliche Entlastung anstelle öffentlicher Zuschüsse. Die Umsatzsteuerbefreiung wurde den Trägern in Form der Vergütung gewährt, um die Begünstigung bei diesen zentral prüfen zu können. 5. Kuriosum(?): Umsatzsteuer-Vergütung als Kindergeld Es ist kaum zu glauben, aber es war Teil des Umsatzsteuerrechts. In der 2. Lesung des Umsatzsteuergesetzes vom 24.12.1919120 trat ein sozialdemokratischer Antrag hervor, der auf eine großzügige Vergütungsaktion an minderbemittelte Haushaltungen hi­ nauslief und Gesetz wurde. Ihm war aber nur eine kurze Lebenszeit beschieden; denn mit §  57 Abs.1 Reichseinkommensteuergesetz vom 29.3.1920 wurde es beseitigt.121 Popitz schreibt, § 14 sei also lediglich 3 Monate hindurch ein „gesetzgeberischer Monolog“ gewesen.122 Es sei aus Chronistenpflicht der für diese Zeit geltende, aber nie zur Ausführung gekommene Gesetzestext genannt:

117 Art. 4 der VO v. 23.12.1931, RGBl. I 1931, 790 und v. 15.1.1937, RGBl. I 1937, 17. 118 Heuerlingsstellen, Werkswohnungen, Eigenheime als Rentenstelle. 119 § 14 der VO v. 10.3.1937. 120 Popitz, Kommentar zum Umsatzsteuergesetze, 2. Aufl. 1921, I. Halbband, 49. 121 Popitz, Kommentar zum Umsatzsteuergesetze, 2. Aufl. 1921, I. Halbband, 50, 107. 122 Popitz, Kommentar zum Umsatzsteuergesetze, 2. Aufl. 1921, I. Halbband, 402.

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§ 14 Abs. 1 Satz 1 UStG v. 24.12.1919 Aus dem Aufkommen der Umsatzsteuer erhält derjenige, dessen jährliches Gesamt­ einkommen 5.000 Mark nicht übersteigt, eine Vergütung gewährt, wenn er mehr als ein Kind unter 16 Jahren versorgt. Da nach Absatz 7 der Vorschrift der Antrag das erste Mal im Januar 1921 für das Kalenderjahr 1920 gestellt werden konnte, zu diesem Zeitpunkt die Gesetzesstelle im Umsatzsteuerrecht aber bereits ersatzlos beseitigt worden war, kam die Vorschrift nie zur Anwendung.

VII. Ausblick Aufgrund der internationalen Wettbewerbsneutralität wird es die Vorsteuervergütung alter Prägung solange geben, als nicht weltweit ein Nettoumsatzsteuersystem hergestellt worden sein wird, das allein mit der Ausfuhrbefreiung und üblichem Vorsteuerabzug die Besteuerung im Verbrauchsland sicherstellt. Voraussetzung ist die weltweite Anwendung des Nettoumsatzsteuersystems, eine utopische Vorstellung, aber nicht ausgeschlossen. Dazu gehört der Vorsteuerabzug als Vergütung, solange nicht eine andere Methode innerhalb desselben Systems mit gleicher Wirkung angewendet wird.123 Die Umsatzsteuervergütung in Form eines Vorsteuerabzugs für private „Häuslebauer“ wäre eine deutsche wohnungsbaupolitische Maßnahme, die leicht und einfach, zumal digitalisiert, also elektronisch handhabbar wäre. Es könnte eine nationale Regelung außerhalb des europaweit harmonisierten Umsatzsteuerrechts sein. Dann könnten Vorschriften wie der § 29 Siedlungsgesetz von 1923124 und § 34 Heimstättengesetz von 1920125 in moderner Form fröhliche Urständ feiern. Die übrigen Gebühren- und Kostenbefreiungen täten das ihre, den Familienheimbau auch für nicht betuchte Bürger zu erleichtern.

123 Vgl. z.B. Ammann, UR 1994, 109; „Ein Beitrag zur Vermeidung von Vorsteuererschleichungen“. 124 RGBl. I 1923, 364. 125 RGBl. I 1920, 962.

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Umsatzsteuer und Besondere Verbrauchsteuern Dogmatik und System? Inhaltsübersicht

I. Die traditionelle und bewährte ­Verbrauchbesteuerung

II. Die deutsche und die europaweite ­Umsatzbesteuerung III. Das Nebeneinander der Besonderen Verbrauchsteuern in Deutschland IV. Notwendiger Exkurs: Die Kategori­ sierung der Verbrauchsteuerarten

V. Die ungelösten Fragen an die ­deutschen Verbrauchsteuern 1. Erfassung der Leistungsfähigkeit durch die Aufwendungen des End­ verbrauchers im Konsumakt 2. Rechtsschutz des steuertragenden ­Endverbrauchers

VI. Die offenen Fragen an die Umsatz­ steuer



1. Steuer auf Steuer: Die Kaskaden­ wirkung von Allgemeiner und ­Besonderer Verbrauchsteuer 2. Europäischer Grundsatz der Neutra­ lität

VII. Der Grund und die Rechtfertigung der Besonderen Verbrauchsteuern 1. Zusatzsteuern 2. Äquivalenz und Wettbewerbsgleichheit 3. Luxussteuern 4. Lenkung 5. Inkonsistente Belastungsgüter VIII. Die Ansätze zur Integration der ­Allgemeinen und Besonderen ­Verbrauchsteuern 1. Deutsche Integration 2. Europäische Harmonisierung IX. Ausblick

I. Die traditionelle und bewährte Verbrauchbesteuerung Verbrauchsteuern sind die ältesten Abgabenarten im Staat. Ägypter, Griechen und Römer zahlten bereits in der Antike Allgemeine und Besondere Verbrauchsteuern.1 In Deutschland erhob der Kaiser bis in die Mitte des zwölften Jahrhunderts Abgaben auf den Verbrauch. Es existierten sogar Steuerbefreiungen für Lebensmittel und für alles, was man auf einer Pilgerfahrt nach Rom mit sich führte.2 Um 1150 ging die Steuerbefugnis dann mehr auf die Städte über, deren Märkte eine Geldwirtschaft entwickelt hatten.3 Ab dem 15. Jahrhundert traten allgemeine Abgaben auf den Verbrauch zugunsten von Akzisen in den Hintergrund4; es wurde nicht mehr der Marktvorgang besteuert sondern die Ware beim Zutritt in die Stadt verzollt. Die heute zu 1 Grabower/Herting/Schwarz, Die Umsatzsteuer 1962, S. 11 ff. und 66. 2 Grabower/Herting/Schwarz, Die Umsatzsteuer 1962, S. 102 u. 108. 3 Grabower/Herting/Schwarz, Die Umsatzsteuer 1962, S.  115  ff.; Andel/Haller/Neumark (Hrsg.), HB der Finanzwissenschaft, Bd. I, 1977, S. 37. 4 Grabower/Herting/Schwarz, Die Umsatzsteuer 1962, S. 135; Tipke/Lang, Steuerrecht, 22. Aufl. 2015, S. 890; Jacobs, DStZ 2006, 654.

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feiernden 100 Jahre Umsatzsteuer gründen also auf etlichen Jahrtausenden der Verbrauchsabgaben, die freilich rechtlich und territorial völlig zersplittert5 als Zoll, Akzise, Ungeld, Maut, Regalie oder Stempelsteuer erhoben wurden.

II. Die deutsche und die europaweite Umsatzbesteuerung Erste Ansätze zu einer in sich konsistenten Verbrauchsteuerordnung zeigten sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als kurzfristige Erscheinungen in den Vereinigten Staaten von Amerika und in der Hansestadt Bremen.6 Eine deutschlandweite, alle Warenlieferungen umfassende Umsatzbesteuerung begann als Kind der Not im Kriegsjahr 1916, weil die Personensteuern und die Kriegsanleihen zur Staatsfinanzierung weitgehend ausgereizt waren. Das Gesetz über einen Warenumsatzstempel7 fügte dem Reichsstempelgesetz eine Tarifnummer 10 hinzu, die erstmals alle Warenlieferungen von Gewerbetreibenden einer Steuer von 1 Promille des gezahlten Entgelts unterwarf. Es bestand eine jährliche Anmeldepflicht der steuerbaren Warenlieferungen.8 Der steuerpflichtige Gewerbetreibende9 konnte bereits zwischen der Besteuerung nach vereinbarten oder nach vereinnahmten Entgelten wählen.10 Ein 1917 nachgeschobenes Gesetz verbot die gesonderte Ausweisung der Steuer auf der Rechnung und den Vorsteuerabzug.11 1919 wurde dann das erste Mal die allgemeine Verbrauchsteuer kodifiziert. Unter dem Titel „Umsatzsteuergesetz“12 wurde eine Steuer auf alle Lieferungen und sonstige Leistungen sowie Privatentnahmen angeordnet;13 Steuerpflichtig waren die Unternehmer.14 Der Steuersatz belief sich auf 1,5% des Entgelts.15 Für Luxusgegenstände wurde der Tarif drastisch auf 15% erhöht.16 Der Katalog dieser Luxusgegenstände atmet den Geist seiner Zeit; zu ihnen zählten damals motorisierte „Land-, Wasser- oder Luftfahrzeuge zur Personenbeförderung“, aber auch „Pralinen, Fondants und mit Marzipan, Früchten, Saft oder Likören aller Art gefüllte Des­ sertbonbons“.17 In diesen Jahren entwickelt sich eine Dogmatik der allgemeinen ­Verbrauchsteuer nach Belastungszielen, technischer Durchsetzung der Steuer und 5 Landesweit einheitliche Steuern kamen erst im Absolutismus auf, Andel/Haller/Neumark (Hrsg.), HB der Finanzwissenschaft, Bd. I, 1977, S. 40 ff. 6 Grabower/Herting/Schwarz, Die Umsatzsteuer 1962, S. 175 ff.; Stadie in Rau/Dürrwächter, UStG, Stand März 2017, Einführung Rz. 2. 7 Vom 26.6.1916, RGBl. I 1916, 639. Zur Geschichte des Warenumsatzstempels z.B. Jacobs, DStZ 2006, 654 (656 f.). 8 § 76 ReichtsstempelG. 9 Für größere Warenlieferungen Privater war eine Quittungsstempelsteuer vorgesehen, Jacobs, DStZ 2006, 654 (658). 10 § 81 ReichtsstempelG. 11 § 1 G, betreffend die Abwälzung des Warenumsatzstempels vom 30.5.1917, RGBl. I 1917, 441. 12 Vom 24.12.1919, RGBl. I 1919, 2157. 13 § 1 Nrn. 1 und 2 UStG 1919. 14 § 11 UStG 1919. 15 § 13 UStG 1919. 16 § 15 UStG 1919. 17 § 15 II. Nrn. 8 und 32.

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Differenzierung zwischen Steuerschuldner und Steuerträger, die sich bis heute durchgehalten hat. Insoweit feiern wir heute zu Recht 100 Jahre Umsatzsteuer. Ein geändertes Modell der Umsatzsteuer wurde ab 1948 in Frankreich in Form der Allphasensteuer mit Vorsteuerabzug vorgestellt und schrittweise verwirklicht.18 Weil sie die unerwünschten Kaskadeneffekte einer Bruttoallphasensteuer vermied und in Produktions- und Handelsketten unterschiedlicher Länge gleichheitsgerecht besteuerte, sprang die Europäische Gemeinschaft auf diesen Zug aus Frankreich auf und begann 1967 mit zwei Richtlinien19 die europaweite Harmonisierung nach dem französischen Modell in allen Mitgliedstaaten. Heute hat die europäische Union auf dem Weg der „Vollharmonisierung“ in der MwStSystRL die umsatzsteuerrechtlichen Tatbestände, deren Bemessungsgrundlage und das Besteuerungsverfahren, nicht aber den Steuertarif20 weitgehend vereinheitlicht und später mit der Einführung des innergemeinschaftlichen Erwerbs für den Binnenmarkt tauglich gemacht.21 Im Ergebnis zeigt sich eine historische Linie von 1916 bis heute, die in Ausdehnung des Umsatzsteuergebiets von Deutschland auf das ganze Europa zu einem System der Umsatzsteuer von einheitlicher Belastungsdogmatik und gemeinsamer Durchsetzungstechnik führt. Erstaunlich ist aber, dass etliche Grundfragen zur Umsatzsteuer, die seit 1916 bekannt sind und diskutiert wurden,22 bis heute ungelöst bleiben. Man hat sich wohl darauf eingerichtet, dass die Umsatzsteuer in der Praxis ganz gut funktioniert und vergisst darüber, deren Akzeptanz und Legitimation auszuarbeiten.

III. Das Nebeneinander der Besonderen Verbrauchsteuern in Deutschland Eine Systematik weisen die Besonderen Verbrauchsteuern in Deutschland nicht auf. In buntem Durcheinander werden Alkoholika, Tabakwaren, fossile Energieträger, Strom und Kaffee mit Abgaben belegt oder auch von ihnen befreit. Nimmt man noch die Verkehrsteuern hinzu, weil sie letztlich auch den Endverbrauch besteuern, so treten als Belastungsgüter noch Flugtickets, Versicherungen, Wetten, Lotterien und Grundstückserwerbe hinzu. Belastet wird nach Entgelten, festgelegten Preisen, Mengen oder Inhaltsstoffen. Hinter den Belastungsgründen – Luxusbesteuerung, ökologische oder gesundheitspolitische Motive, Wettbewerbsschutz, Äquivalenz oder exklusive Sondersteuer wegen technischer Exemtion von der Umsatzsteuer  – ist keine einheitliche Linie zu erkennen. Es ist nicht zu erklären, warum wir auf Kaffee eine 18 Dazu Peter Schmidt, Konsumbesteuerung durch MWSt, Diss. Tübingen 1998, S. 38. 19 Erste Richtlinie 67/227/EWG des Rates vom 11.4.1967, ABl. P 71, 1301 und Zweite Richtlinie 67/228/EWG des Rates vom 11.4.1967 zur Schaffung eines gemeinsamen Mehrwertsteuersystems, ABl. P 71, 1303. 20 Der Normaltarif liegt heute in den Mitgliedstaaten zwischen 17 % und 27 %; vgl. Grune, in FS für Korth, 2016, 224 (230). 21 In Deutschland § 1a UStG. 22 Dazu Jacobs, DStZ 2006, 654 (658); Peter Schmidt, Konsumbesteuerung durch MWSt, Diss. Tübingen 1998, S. 36; Stadie in Rau/Dürrwächter, Einf. Rz. 19.

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besondere Verbrauchsteuer zahlen, der Tee aber unbesteuert bleibt; es ist dem Endverbraucher kaum zu vermitteln, warum Bier belastet, Wein aber steuerlich verschont wird. Der deutsche Gesetzgeber hat angesichts dieser Systemlosigkeit schon Einiges unternommen, den Wildwuchs zurückzuschneiden. 1965 hat er Kohlenabgabe und Süßstoffsteuer, 1980 Spielkarten-, Zündwaren- und Essigsteuer, bei der Errichtung des Binnenmarktes 1993 Steuern auf Leuchtmittel, Salz, Zucker und Tee abgeschafft.23 Auch die Europäische Union versucht, materielle Konsequenz in dieses Chaos zu bringen. Die Verbrauchsteuer-System-Richtlinie von 2008 setzt an den Belastungsgütern an und ordnet sie in die drei Gruppen Energieerzeugnisse und Strom, Alkoholika und Tabakwaren. Andere Verbrauchsgüter werden jedoch gegen die Umsatzsteuer nur abgegrenzt, aber nicht ausgeschlossen. Zu den Verkehrsteuern fehlen solche Versuche einer Teilharmonisierung völlig. Letztlich fehlt den Besonderen Verbrauchsteuern in Deutschland jegliches innere, materielle System.24 Hier ist noch viel zu tun.

IV. Notwendiger Exkurs: Die Kategorisierung der Verbrauchsteuerarten Die Untergliederung der Abgabentypen im Verbrauchsteuerrecht hat wegen ihrer normativ geschaffenen Systemlosigkeit zu jahrzehntelanger Verwirrung geführt. Das Grundgesetz nennt sie Verbrauch-, Aufwand-, Verkehr- und Gemeinschaftsteuern,25 obwohl sie letztlich alle den Zweck verfolgen, den Konsum des Endverbrauchers und seine Vermögensverwendung zu belasten.26 Das einfachgesetzliche Steuerrecht greift diese Begriffe zwar in AO und FVG erneut auf. Die unterschiedliche Benennung beruht aber auf anderen Gründen als dem der Bildung eines materiellen Steuersystems nach Belastungszielen. Nach ihrem Zweck zählen sie alle zu den Steuern auf den Verbrauch. Die Kategorie der Aufwandsteuer will in der Abgrenzung zur Nennung der Verbrauchsteuer in Verfassung und Gesetz nur die Art des besteuerten Konsums, nämlich den substanzwahrenden bloßen Gebrauch eines Steuerguts27 statt seines endgültigen Verbrauchs, erfassen. Die Verkehrsteuer zeigt ebenfalls den Charakter einer Konsumsteuer, greift lediglich zur Zuweisung von Verwaltungskompetenz und Ertragshoheit auf alle Lieferungen und Leistungen zu, deren Tatbestand durch einen – meist zivilrechtlichen  – Übertragungsakt gekennzeichnet ist. Ihre Rechtstechnik macht sie zur (Rechts-)Verkehr(-sakt-)Steuer, ihr Belastungsziel bleibt der Aufwand 23 Jatzke, Das System des deutschen Verbrauchsteuerrechts, 1997, S. 86. 24 Jatzke, Das System des deutschen Verbrauchsteuerrechts, 1997, S. 185. 25 Art. 105 Abs. 2a, 106 Abs. 1 Nrn. 2 und 3, Abs. 2 Nr. 3, Abs. 3 Satz 1, Abs. 6 Satz 1 und 3, 108 Abs. 1 Satz 1. 26 Statt vieler Widmann, in FS für Paul Kirchhof, Band II, 2013, S. 1995. 27 Vgl. BVerfG v. 6.12.1983 – 2 BvR 1275/79, BVerfGE 65, 325, 347 m.w.N.

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des Endverbrauchers. Die Umsatzsteuer wird mit der Einkommen- und der Körperschaftsteuer den Gemeinschaftsteuern zugerechnet, um mit diesem Begriff einen Aufkommenspool zu beschreiben, der Bund, Ländern und Gemeinden gemeinsam zusteht .Diese Begriffe haben nur in ihrem jeweiligen speziellen Normenkontext Berechtigung und Bedeutung. Zur Klassifizierung eines Belastungsguts, das sie von den Steuern auf die Einkommenserzielung oder auf das Vermögen abgrenzen könnten, taugen sie nicht. In der materiellen Systematik der Steuern sind sie samt und sonders Steuern auf den Verbrauch und die Vermögensverwendung.28

V. Die ungelösten Fragen an die deutschen Verbrauchsteuern Die bestens eingespielten Verbrauchsteuern schleppen seit ihrer Erhebung etliche Rechtsfragen mit sich, die schon bei ihrer Entstehung bekannt waren, aber bis heute noch nicht zufriedenstellend und umfassend gelöst worden sind, obwohl deren Beantwortung zu ihrer Legitimation notwendig wäre und ihnen dauerhaft politische Akzeptanz verleihen könnte. Dies gilt vor allem, weil Verbrauchsteuern im Aufkommen stark anwachsen und die Ertragsteuern ausgereizt sind. Im Jahr 2015 erbrachten die Umsatzsteuer 211 Mrd. Euro, die Tabaksteuer 15 Mrd. Euro, die Energie- und Stromsteuern 46,5 Mrd. Euro und die Alkoholsteuern 3,2 Mrd. Euro. 1. Erfassung der Leistungsfähigkeit durch die Aufwendungen des Endverbrauchers im Konsumakt Jede Abgabe bedarf für die Wahl des Belastungsguts und ihres Tarifs eines Sachgrundes. Generell tauglicher Sachgrund für Finanzzwecksteuern ist eine Belastung nach der Leistungsfähigkeit.29 Bei Verbrauchsteuern gehen Rechtsprechung und Literatur stereotyp davon aus, die Rechtfertigung für diese Lasten liege darin, dass sie durch tatbestandliche Anknüpfung an das gezahlte Entgelt die Leistungsfähigkeit des Endverbrauchers erfasse.30 Dabei wird durchaus zugestanden, dass im Einzelfall Konsum­ aufwendungen auch von finanziell Nichtbemittelten oder mit geliehenem Geld finanziert werden.31 Der Hinweis auf die Zulässigkeit der Typisierung steuerrechtlicher Zugriffstatbestände genügt dann, diese Frage nicht weiter zu verfolgen. 28 Jakobs, USt, 4. Aufl. 2009, S. 3; Stadie in Rau/Dürrwächter, Einf. Rz. 156; Seer, ZfZ 2013, 146 (148). Das zeigt auch das Springen einer Steuerart zwischen den Unterarten. Die USt ist in der Regel Verkehrsteuer (z.B. Tipke/Lang, Steuerrecht, 22. Aufl. 2015, S. 900), bei Einfuhr, innergemeinschaftlichem Erwerb, Privatentnahmen und Privatverwendungen ist sie Verbrauchsteuer i.e.S. 29 BVerfG v. 15.12.2015  – 2 BvL 1/12, BVerfGE 141, 1 (40 m.w.N.); BVerfG v. 22.2.1984  – 1 BvL 10/80, BVerfGE 66, 214 (223); Ferdinand Kirchhof, BB 2017, 662 f. 30 BVerfG v. 20.4.2004 – 1 BvR 1748/99, 905/00, BVerfGE 110, 274 (297 m.w.N.); BVerfG v. 7.5.1998 – 2 BvR 1991/95, BVerfGE 98, 106 (125); BVerfG v. 6.12.1983 – 2 BvR 1275/79, BVerfGE 65, 325 (347 f.); Reiß, DStJG 13 (1990), S. 3 (20); Tipke, Die Steuerrechtsordnung, Bd. II, 2.Aufl. 2003, S.  983. Lediglich der EuGH schweigt zur Leistungsfähigkeit; Hoff­ sümmer, Steuerbefreiungen für Inlandsumsätze, 2009, S. 64. 31 BVerfG v. 6.12.1983 – 2 BvR 1275/79, BVerfGE 65, 325, 347; Seer, ZfZ 2013, 146 (147).

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Die Allgemeine Verbrauchsteuer nimmt die individuelle Lage eines Steuerträgers aber gar nicht in den Blick, sondern konzentriert sich ausschließlich auf den Konsummarkt und das dafür entrichtete Entgelt.32 Die Besonderen Verbrauchsteuern erfassen meist nur die Menge und die inhaltliche Beschaffenheit der erworbenen Waren und verfehlen dadurch von vorneherein eine Bemessung nach den finanziellen Fähigkeiten des Steuerträgers.33 Wo nach Entgelten besteuert wird, wird zur Rechtfertigung ein Leistungsfähigkeitsprinzip verwendet, das zur Legitimation der Einkommensteuer entwickelt wurde. Unter Leistungsfähigkeit versteht man dort die individuelle finanzielle Potenz des Steuerpflichtigen.34 Sie wird durch Ermittlung dessen bestimmt, was er aus seinem Einkommen oder Vermögen leisten kann. Sie erfordert notwendig eine Betrachtung seiner finanziellen Gesamtverhältnisse. Ein Verbrauchsteuertatbestand, der ausschließlich Entgelte, Mengen oder Inhaltsstoffe erfasst, kann sie aber nicht leisten,35 denn er klammert die individuellen Verhältnisse des Steuerträgers völlig aus. Besteuert wird dort nach tatsächlicher Gegen-Leistung, nicht nach Leistungs-„Fähigkeit“.36 Das Legitimationskonzept aus dem Einkommensteuerrecht wird brüchig. Hier ist es auch wenig hilfreich, den Begriff der Leistungsfähigkeit durch die „Konsumleistungsfähigkeit“37 zu ersetzen, denn sie macht allenfalls auf das Problem aufmerksam, transportiert mit dieser Bezeichnung aber gleichfalls die verfehlte Vorstellung, es würde im Konsum die gesamte finanzielle Potenz eines Steuerträgers erfasst und bewertet. Sicherlich darf man im Großteil der Verbrauchsteuerfälle Aufwendung und Leistungsfähigkeit im Groben gleichsetzen und gelangt damit insoweit zu einer Rechtfertigung der Steuer. Aber diese Vermutung berechtigt nicht dazu, alle Steuerfälle über diesen selben Leisten zu schlagen. Bei Aufwendungen Nichtbemittelter für den Konsum ist eher davon auszugehen, dass sie weniger Aufwendungen tätigen wollen als müssen, um den notwendigen Lebensunterhalt zu finanzieren.38 Der Hinweis auf das Recht zur Typisierung verfängt in diesen Fällen nicht. Denn es müssten zum einen ihre Vorteile im angemessenen Verhältnis zu den von ihr verursachten Nachteilen stehen39 – dieses lässt sich bei einer völlig das Belastungsziel verfehlenden Erfassung von Steuerfällen in großem Umfang kaum behaupten. Zum anderen dürfte eine Typisierung nicht dazu führen, ganze Gruppen von Steuerpflichtigen gleichheitswidrig zu behandeln – die Zahl der finanziell Nichtbemittelten und gleichwohl von Verbrauchsteuern erfassten Personen dürfte in die Millionen gehen.

32 BVerfG v. 20.4.2004 – 1 BvR 1748/99, 905/00, BVerfGE 110, 274, 297. Deshalb existieren für die Umsatzsteuer keine subjektiven Steuerbefreiungen. 33 Seer, ZfZ 2013, 146 (148). 34 Stadie in Rau/Dürrwächter, Einf. Rz. 145. 35 Z.B. Jakobs, USt, 4. Aufl. 2009, S. 11. 36 Jacobs, DStZ 2006, 654 (658); Ferdinand Kirchhof, BB 2017, 662 (666). 37 Dazu z.B. Tipke/Lang, Steuerrecht, 22. Aufl. 2015, S. 985; Seer, ZfZ 2013, 146 (147). 38 Seer, ZfZ 2013, 146 (152). 39 BVerfG v. 20.4.2004  – 1 BvR 1748/99, 905/00, BVerfGE 110, 274 (292); BVerfG v. 20.12.1966 – 1 BvR 320/57 – 1 BvR 70/63, BVerfGE 21, 12 (27).

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Die fehlende Tauglichkeit des Leistungsfähigkeitsprinzips zur Rechtfertigung von Verbrauchsteuern in einer Vielzahl von Fällen führt nicht sogleich zum Verdikt dieser Steuern. Gefordert ist vielmehr ein erneutes und subtileres Nachdenken über ihre Legitimation dort, wo die Gleichung „Aufwand im Konsumakt = Leistungsfähigkeit des Konsumenten“ nicht aufgeht.40 Der Zugriff auf Nichtleistungsfähige wird wegen der erfassungstechnischen Notwendigkeit einer Verbrauchsteuer, jeden Abnehmer ohne Rücksicht auf seine persönlichen Verhältnisse zu erfassen, und wegen der praktisch unausweichlichen Konzentration auf das gezahlte Entgelt jedoch wieder tolerabel, wenn und soweit das Sozialrecht mit finanziellen Hilfen die verbrauchsteuerliche Belastung wieder ausgleicht.41 Gefragt ist also ein Zusammenwirken von So­ zialrecht und Steuerrecht bei der Legitimation eines unterschiedslos auf Bemittelte und Unbemittelte zugreifenden Verbrauchsteuerrechts42 und ein Abrücken vom gedankenlosen „Durchdeklinieren“ des Leistungsfähigkeitsprinzips bei solchen Steuern, denn die Gruppe der Unbemittelten wird trotz fehlender Leistungsfähigkeit belastet. Ich bin mir sicher, dass dieses Vorgehen im finanziellen Gesamtergebnis in unserem gut ausgebauten deutschen Sozialstaat gelingen wird, ja schon gelungen ist. Dieses Zusammenwirken sollte der Steuerstaat aber periodisch durchrechnen und offenlegen, damit sich aus der Bilanz von Verbrauchsteuerlast und korrespondierendem Sozialleistungsausgleich ergibt, dass zumindest das von Art. 1 i.V.m. Art. 20 GG geforderte menschenwürdige Existenzminimum gewahrt ist. Es fehlt jedoch gänzlich eine Abstimmung von steuerlichen Belastungs- und sozialrechtlichen Begünstigungs­ zielen in Rechtsdogmatik und Steuersystematik, die beide Gebiete zu einem in sich konsistenten Konzept zusammenfügt. Man könnte beim Bemittelten weiterhin die Gleichung von Aufwendung und Leistungsfähigkeit benutzen, müsste aber beim Unbemittelten unter Hinweis auf die wegen der Verbrauchsteuertechnik unerlässliche Belastung jedes Konsumenten und die tatbestandlich zwingende ausschließliche Erfassung seiner Konsumaufwendung eine Steuerechtfertigung trotz Leistungsunfähigkeit in der unvermeidlichen Steuertechnik und in den belastungsausgleichenden Sozialleistungen finden. Dann kann der Steuerstaat vom Unbemittelten Abgaben erheben, denn er gleicht sie als Sozialstaat wieder aus. 2. Rechtsschutz des steuertragenden Endverbrauchers Während man in der rechtlichen Kontrolle früher bei den indirekten Verbrauchsteuern lediglich die Verpflichtung des Unternehmers oder Produzenten zur Entrichtung 40 Für das Einkommensteuerrecht hat Moris Lehner diese Überlegungen bereits angestellt in „Einkommensteuerrecht und Sozialhilferecht“, 1993. 41 Zur grundsätzlichen Zulässigkeit eines solchen Ausgleichs BVerfG v. 29.5.1990  – 1 BvL 20/84, 1 BvL 26/84, 1 BvL 4/86, BVerfGE 82, 60 (84). Zum notwendigen Umfang des Ausgleichs vgl. Lehner, „Einkommensteuerrecht und Sozialhilferecht“, 1993, S.  82  ff., 134  ff. und 152 ff. mit Hinweisen auf die Nachrangigkeit sozialer Hilfen, ihrer Abhängigkeit von der individuellen Bedürftigkeit und dem Unterschied von „Soll“-Leistungsfähigkeit im Sozialhilfe- und von „Ist“-Leistungsfähigkeit im Steuerrecht. 42 So auch Reiß, DStJG 13 (1990), S. 3 (6).

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der Steuerschuld berücksichtigte, sind Rechtsprechung und Literatur mittlerweile zur – zutreffenden – Auffassung gelangt, dass die intendierte ökonomische Belastung des Steuerträgers auch rechtlich von Bedeutung ist, selbst wenn sie nur im Wege mittelbarer, zivilrechtlicher Überwälzung erfolgt.43 Denn sowohl Ziele als auch Wirkungen von Verbrauchsteuern richten sich an den Endverbraucher.44 Damit ergibt sich aber ein Defizit im Rechtsschutz: Ein Unternehmer oder Produzent ist als rechtlich Verpflichteter einer Verbrauchsteuer zweifellos berechtigt, gegen die Steuergewalt den Rechtsweg einzuschlagen. Allerdings wird er daran wegen der Überwälzung auf den Endverbraucher oft gar kein Interesse zeigen. Jenem ist indessen an der Abwehr der Belastung durchaus gelegen. Er ist aber nicht Adressat der Steuerbescheide und wegen der jährlichen Anmeldung der Gesamtsteuerlast durch den Entrichtungspflichtigen kaum in der Lage, seine individuelle, rechtliche Betroffenheit gerichtlich geltend zu machen. Hier klafft eine Rechtsschutzlücke, die geschlossen werden sollte. Das Bundesverfassungsgericht lässt Verfassungsbeschwerden zu, wenn der Beschwerdeführer zwar nur mittelbar faktisch, aber in einem dem rechtlichen Eingriff vergleichbaren Maße betroffen ist,45 hat diese Erwägung aber für ökonomisch betroffene Steuerträger bisher noch nicht durchgreifen lassen.46 Dieser Schutzgedanke könnte aber von den Gerichten auf die indirekten Steuern zugunsten des Steuerträgers erstreckt werden, denn dessen Belastung ist in der Überwälzung von Verbrauchsteuern regelmäßig beabsichtigte und realisierte Folge. Das gesamte System ist auf Überwälzung angelegt. Die herkömmliche Doktrin, dass der rechtliche Eingriff schwer wiege, der faktische aber nicht, trifft generell zu, versagt aber immer bei indirekten Steuern wegen ihres Ziels der Abwälzung. Deshalb sollte nicht erst die rechtlich verursachte Verletzung subjektiven Rechts sondern bereits dessen intendierte ökonomische Belastung zur Klage berechtigen. Es ist bei einer solchen Erweiterung des Klagerechts nicht zu befürchten, dass jeder Brötchenkäufer wegen 50 Cent vor den Kadi zieht. In gewichtigen Steuerfällen – vor allem des Besonderen Verbrauchsteuerrechts – ergäbe sich aber ein rechtsstaatlicher Gewinn: Dem Geist des Art. 19 Abs. 4 GG, jedem von der öffentlichen Gewalt Betroffenen Gerichtsschutz einzuräumen, würde besser Rechnung getragen. Die Erweiterung zöge die prozessuale Konsequenz aus der Er-

43 Z.B. BVerfG v. 20.4.2004 – 1 BvR 1748/99, 905/00, BVerfGE 110, 274 (292); FG Hamburg, Beschl. v. 29.1.2013  – 4 K 270/11, juris –Rz.  321; Ferdinand Kirchhof in Merten/Papier (Hrsg.), HB der Grundrechte, Band III 2009, S. 161 (171 f.). Der EuGH konzentriert sich noch ganz auf den Steuerschuldner; Tipke/Lang, Steuerrecht, 22. Aufl. 2015, S. 903. 44 BVerfG v. 20.4.2004 – 1 BvR 1748/99, 905/00, BVerfGE 110, 274 (292 u. 298 m.N.); BVerfG v. 29.10.1999 – 2 BvR 1264/90, BVerfGE 101, 132 (139) = UR 1999, 494 = UR 1999, 494 m. Anm. Widmann und BVerfG v. 10.11.1999 – 2 BvR 2861/93, BVerfGE 101, 151 (156) = UR 1999, 498; BVerfG v. 7.5.1998  – 2 BvR 1991/95, BVerfGE 98, 106 (125); BVerfG v. 20.12.1966 – 1 BvR 320/57, 1 BvR 70/63, BVerfGE 21, 12 (32). 45 BVerfG v. 13.2.2007  – 1 BvR 910/05, 1 BvR 1389/05, BVerfGE 118, 1 (20); BVerfG v. 13.6.2006 – 1 BvR 1160/03, BVerfGE 116, 135 (153); BVerfG v. 12.4.2005 – 2 BvR 1027/02, BVerfGE 113, 63 (76 f.); BVerfG v. 26.6.2002 – 1 BvR 558/91, 1 BvR 1428/91, BVerfGE 105, 252 (273); BVerfG v. 26.6.2002  – 1 BvR 670/91, BVerfGE 105, 279 (300  f.); BVerfG v. 6.11.1979 – 1 BvR 81/76, BVerfGE 52, 283 (296). 46 Z.B. BVerfG v. 8.4.1997 – 1 BvR 48/94, BVerfGE 95, 267 (302).

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kenntnis, dass weniger der Schuldner als der Träger einer indirekten Steuer materiell belastet wird.

VI. Die offenen Fragen an die Umsatzsteuer 1. Steuer auf Steuer: Die Kaskadenwirkung von Allgemeiner und Besonderer Verbrauchsteuer Häufig wird die Doppelbelastung als ungerecht empfunden, die dadurch entsteht, dass auf ein bereits mit einer Besonderen Verbrauchsteuer belegtes Produkt nochmals Umsatzsteuer erhoben wird, deren Bemessungsgrundlage die Besondere Verbrauchsteuer umfasst. Aus der Perspektive der endgültigen Belastungshöhe ist indessen gegen eine „Steuer auf Steuer“ nichts einzuwenden;47 der Gesetzgeber könnte genauso bereits den Satz der Besonderen Verbrauchsteuer höher festlegen, um ohne Umsatzsteuer denselben Effekt zu erzielen. Das Unbehagen hat aber zwei vernünftige Gründe. Zum einen versteckt die Doppelbelastung mit zwei Steuern die reale Belastung. Wo Mineralölund Umsatzsteuer getrennt berechnet und erhoben werden, verschweigt der Steuerstaat, dass der kumulierte Steuertarif tatsächlich zwischen 100 und 130% des Kraftstoffpreises liegt. Der Steuerbürger würde wohl politisch sensibler reagieren, wenn er bei Zusammenführung von Umsatz- und Mineralölsteuer realisierte, dass der an ihn gelieferte Kraftstoff mit 130% Verbrauchsteuer belegt würde; die Öffentlichkeit würde vermutlich auf rasche Abhilfe dringen.48 Zum anderen werden beide Steuern in getrennten Referaten des Finanzministeriums konzipiert, in unterschiedlichen Gesetzgebungsverfahren des Parlaments beraten und von verschiedenen Finanzbehörden verwaltet. Der eine weiß dabei nichts vom anderen; ein Gesamtkonzept der Belastung dieser Güter wird so verhindert. Das ist unerfreulich und wenig transparent, aber nicht verfassungswidrig. Die Demokratie mit ihrem offenen Diskurs über politische Vorhaben ziert es nicht. 2. Europäischer Grundsatz der Neutralität Die Europäische Union hat der Umsatzsteuer eine rechtstechnische Systematik in der „Vollharmonisierung“ der Steuertatbestände und -befreiungen sowie der Bemessungsgrundlagen und des Steuerverfahrens gegeben. Der EuGH garantiert ihre einheitliche Anwendung im gesamten Binnenmarkt. Das bietet eine taugliche Basis, jetzt auch die materielle Dogmatik der Umsatzsteuer europaweit zu entwickeln. Der EuGH gibt dieser Systematik dezent und vorsichtig auch inhaltliche Struktur, indem er Grundrechte und Grundfreiheiten, den Grundsatz der Rechtssicherheit sowie das Verhältnismäßigkeitsprinzip einbringt. Der von ihm betonte Grundsatz der Neutralität befasst sich allerdings weniger mit materiellen Fragen als mit der äußeren Ausgestaltung der Umsatzsteuer, vor allem in Abgrenzung zu den nationalen Besonderen 47 OVG Niedersachsen, Beschl. v. 22.3.2012 – 9 LA 98/11, juris – Rz. 6. 48 Dazu Seer, ZfZ 2013, 146 (153); Paul Kirchhof (Hrsg.), Bundessteuergesetzbuch, 2011, S. 816; Ferdinand Kirchhof, BB 2015, 278.

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Verbrauchsteuern in der Mitgliedstaaten. Unklar ist noch die ratio dieses Prinzips geblieben: Soll es die vollständige Entlastung des Unternehmers durch Vorsteuerabzug, die Wettbewerbsgleichheit durch strikte Proportionalität der Steuerlast zum Entgelt, ihre strenge Rechtsformneutralität gegenüber dem Steuerschuldner oder die strenge Gleichheit der Steuer auf nationale und auf grenzüberschreitende Leistungen sein?49 Ihre äußeren, typprägenden Merkmale gibt der Grundsatz der Neutralität hingegen trennscharf vor: die Allgemeinheit der Steuer, die Proportionalität von Entgelt und Steuerlast, die Allphasenbesteuerung und der Vorsteuerabzug. Eher verwirrend wirkt hingegen die rechtliche Fundierung dieses Grundsatzes. Er soll sich nach der Rechtsprechung des EuGH aus einem primärrechtlichen Gleichheitssatz ableiten, aber in der Normenhierarchie unter diesem stehen, d.h. vom Gesetzgeber auszugestalten und damit eher zu vernachlässigen sein.50 Hier ist der EuGH wenig mutig und hemmt die Entwicklung einer primärrechtlichen Dogmatik der Umsatzsteuer.51

VII. Der Grund und die Rechtfertigung der Besonderen Verbrauchsteuern Besondere Steuern bedürfen besonderer, legitimierender Belastungsgründe.52 Diese Forderung stellt sowohl der steuerliche Gleichheitssatz nach Art.  3 GG aus verfassungsrechtlicher Perspektive als auch die Notwendigkeit einer Akzeptanz in der Bevölkerung aus politischem Blickwinkel. Die Belastungsrechtfertigung gibt Grund und Grenze für jede Besondere Verbrauchsteuer vor. Ein einziger allgemein gültiger Belastungsgrund für die Besonderen Verbrauchsteuern existiert jedoch nicht.53 1. Zusatzsteuern Die fiskalische Ergiebigkeit dieser Abgaben mag durchaus unter Anderem als Motiv des Fiskus´ für derartige Belastungen mit eine Rolle spielen;54 zur rechtlichen Legitimation Besonderer Verbrauchsteuern taugt sein reines Finanzinteresse nicht.55 Das befriedigt er bereits durch die allgemeine Umsatzsteuer. Besondere Verbrauchsteuern verursachen eine zusätzliche Belastung. Sie bedürfen folglich auch eines zusätzlichen Belastungsgrundes, weil vom Steuerträger nochmals eine Abgabe gefordert wird. Eine Ausnahme gilt dort, wo eine Besondere die Allgemeine Verbrauchsteuer erset49 Dazu Tipke/Lang, Steuerrecht, 22. Aufl. 2015, S. 901 f. 50 Zur Kritik z.B. Stadie in Rau/Dürrwächter, Einf. Rz. 600; Tipke/Lang, Steuerrecht, 22. Aufl. 2015, S. 902 f. 51 Tipke/Lang, Steuerrecht, 22. Aufl. 2015, S.  902  f., attestieren ihm einen „erschreckenden Mangel an grundrechtsdogmatischer Stringenz“. 52 Vgl. dazu z.B. Jatzke, Das System des deutschen Verbrauchsteuerrechts, 1997, S. 59; Seer, ZfZ 2013, 146 (152); Paul Kirchhof (Hrsg.), Bundessteuergesetzbuch, 2011, S. 815. 53 Paul Kirchhof (Hrsg.), Bundessteuergesetzbuch, 2011, S. 1016. 54 Sie tauchen z.B. neben der „Grünen Dividende“ lenkender Steuern als deren „Blaue Dividende“ auf; vgl. dazu Ferdinand Kirchhof, BB 2015, 278. 55 BVerfG v. 15.12.2015 – 2 BvL 1/12, BVerfGE 141, 1 (41 m.w.N.). Erstaunlich z.B. FG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 16.5.2013 – 1 K 1075/11, juris – Rz. 53.

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zen soll. Diesen Willen hat der Gesetzgeber in § 4 Nrn. 9 f. UStG erklärt und so Grund­ erwerb-, Rennwett-und Lotterie- sowie Versicherungsteuern im Grundsatz von der Notwendigkeit befreit, einen eigenen Belastungsgrund vorzuweisen. Alle anderen Besonderen Verbrauchsteuern bedürfen aber einer additiven Legitimation als Zusatzsteuer. 2. Äquivalenz und Wettbewerbsgleichheit Im Lauf der Zeit hat sich bereits im deutschen Steuerrecht ein ungefährer Katalog derartiger Gründe ergeben. Sie können grundsätzlich als Steuern auf Luxusgüter, auf Waren des gehobenen Bedarfs, mit Lenkungszielen, nach dem Äquivalenzprinzip und zur Herstellung von Wettbewerbsgleichheit gerechtfertigt werden. Das veraltete, an sich für die generelle Steuererhebung nicht mehr passende Äquivalenzprinzip hat sich noch in der Mineralölsteuer gehalten, denn sie finanziert zum Teil den Straßenbau.56 Der Zweck, Wettbewerbsgleichheit herzustellen, kommt recht selten vor. Er wurde z.B. in den Zeiten der Allphasenbruttoumsatzsteuer ohne Vorsteuerabzug von einem abgesenkten Steuersatz auf Umsätze des Großhandels verfolgt; er sollte die steuererhöhende längere Lieferkette und die daraus resultierende größere Belastung mit Umsatzsteuer für den Einzelhandel ausgleichen.57 Heute beruht auf diesem Ziel der Wettbewerbsgleichheit die Umsatzbesteuerung der Betriebe gewerbliche Art, die als Finanzquelle für den Fiskus an sich sinnlos ist, denn hier besteuert der Staat den Staat. Die Gleichheit wird in den beiden Fällen jedoch nicht durch eine zusätzliche Steuerart sondern durch Erweiterung des Tatbestands der Allgemeinen Umsatzsteuer oder der Verringerung ihres Tarifs bewirkt. 3. Luxussteuern Die Belastung von Luxusgütern lässt sich mit der bei ihrem Erwerb zu vermutenden höheren Kaufkraft rechtfertigen; hier legitimiert das Leistungsfähigkeitsprinzip tatsächlich die Steuer.58 Das Problem einer Übermaßbesteuerung von Unbemittelten stellt sich hier nicht, denn das Luxusgut zeichnet sich gerade  – im Tatbestand der Erhebung erkennbar – dadurch aus, dass man es weder unbedingt benötigt noch dass es in einem alltäglichen Konsumakt erworben wird. Solche Luxussteuern existieren zur Zeit nur bei den Aufwandsteuern, z.B. als Belastung von Zweitwohnungen, Jagden oder Motorbooten. Belastet werden aber auch Waren des gehobenen Bedarfs, nämlich Tabakwaren und Alkoholika. Ihnen ist gleich den Luxusgütern, wenn auch in geringerem Maß, eigen, dass sie nicht lebensnotwendig sind und einen erhöhten Aufwand abbilden. Das reicht für die Legitimation einer finanziellen Zusatzlast aus.59 Die Erfassung von fos56 Jatzke, Das System des deutschen Verbrauchsteuerrechts, 1997, S. 63. 57 Grabower/Herting/Schwarz, Die Umsatzsteuer 1962, S. 196 und 212 ff. 58 Vgl. Jatzke, Das System des deutschen Verbrauchsteuerrechts, 1997, S. 61; Englisch, in FS für Paul Kirchhof, Bd. II 2013, S. 2081 (2086). 59 Vgl. Jatzke, Das System des deutschen Verbrauchsteuerrechts, 1997, S. 61.

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silen Energieträgern und Strom kann man auf diese Weise indessen nicht mehr rechtfertigen. Jeder ist auf sie angewiesen; von einem gehobenen Konsum kann man ebenfalls nicht mehr ausgehen. Dasselbe dürfte heute für die Kaffeesteuer gelten; Kaffee ist ein Alltagsgetränk für jedermann und nicht mehr – wie früher angenommen – eine Droge aus der Kolonialwarenhandlung. 4. Lenkung Der Fiskus hat in der Bedrängnis, Energie- und Stromsteuer zu legitimieren, neue Rechtfertigungsfaktoren gesucht und im Lenkungsziel solcher Abgaben gefunden. Prinzipiell dürfen Abgaben neben ihrem Finanzierungszweck auch durch ökonomische Belastung das Verhalten des Steuerträgers beeinflussen,60 selbst wenn ihr ursprünglicher Finanzierungszweck durch die dann oft entstehenden hohen Steuersätze geradezu denaturiert wird.61 Die Rechtsprechung erlaubt sie mittlerweile recht großzügig,62 ohne eine zusätzliche Kompetenz zur Sachregelung zu verlangen;63 allein das Lenkungsziel muss im Gesetz selbst angelegt und deutlich erkennbar sein.64 Der Umweltschutz und die Limitierung des Verbrauchs knapper Ressourcen sollen so beide Steuern rechtfertigen.65 So richtig überzeugend ist dieses Motiv zumindest bei der Stromsteuer kaum, weil sie ohne Rücksicht auf die Erzeugungsart des Stroms erhoben wird. Hier haben wohl eher europarechtliche Anstöße und die normative Kraft des Faktischen Pate gestanden; Bestehendes sollte gerechtfertigt werden, weil es eben bestand. Heutzutage wird den Steuern auf Alkoholika und Tabak ein zusätzlicher Legitimationsschub gegeben, indem man ihnen eine gesundheitspolitische Lenkung beifügt. Sie zielt auf eine Vermeidung sowohl der Selbstgefährdung des Rauchers und des Alkoholkonsumenten als auch der Fremdgefährdung der Passivraucher.66 Die Legitimationswirkung dürfte im Ergebnis recht schwach ausfallen. Sie birgt sogar das Risiko, unter dem Titel „Gesundheitsgefährdung“ das Besondere Verbrauchsteuerrecht für eine Vielzahl von neuen Belastungen zu öffnen. Vorschlage zur Einführung von Abgaben auf Zucker, Limonade, Fett oder Fleisch gibt es dafür schon zu Genüge.

60 Zur Lenkung durch Steuern allgemein Ferdinand Kirchhof in Merten/Papier (Hrsg.), HB der Grundrechte, Band III 2009, S. 161, 177 f. 61 Jatzke, Das System des deutschen Verbrauchsteuerrechts, 1997, S. 62 f. 62 BVerfG v. 20.4.2004 – 1 BvR 1748/99, 905/00, BVerfGE 110, 274 (293). 63 BVerfG v. 7.5.1998 – 2 BvR 1991/95, 2 BvR 2004/95, BVerfGE 98, 106 (117 f.). 64 BVerfG v. 20.4.2004 – 1 BvR 1748/99, 905/00, BVerfGE 110, 274 (293 und 296). 65 Z.B. Paul Kirchhof (Hrsg.), Bundessteuergesetzbuch, 2011, S. 815. Ebenso die Luftverkehrsteuer vom 9.12.2010, BGBl. I 2010, 1885; BGBl. I 2013, 81. 66 Tipke/Lang, Steuerrecht, 22. Aufl. 2015, § 2 Rz. 11 (S. 41), § 3 Rz. 21 (S. 69 f.), § 18 Rz. 128 (S. 1118); vgl. auch BT-Drucks. 9/844, 8 (Tabaksteuer), BT-Drucks. 15/2587, 1 (Alkopopsteuer).

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5. Inkonsistente Belastungsgüter Die Belastungsgüter der Besonderen Verbrauchsteuern sind im deutschen Steuerwesen ohne jegliche innere Konsistenz ausgewählt worden. Es belastet Kaffee, aber nicht Tee; es erhebt Steuern auf Bier, nicht auf Wein; der Bürger zahlt für seinen Hund, aber nicht für seine Katze. Das ist unbefriedigend und inkonsequent, aber nicht gleichheitswidrig. Die Rechtsprechung wendet den Gleichheitssatz nämlich im Steuerecht im Gegensatz zu anderen Rechtsgebieten invers67 an: Statt die grundlegende Belastungsentscheidung – also Steuerobjekt- und -tarif – an einem strikten Gleichheitssatz zu messen und dann in den weniger wichtigen Details auf einen elastischeren Willkürmaßstab überzugehen,68 räumt sie dem Gesetzgeber bei der Wahl des Steuergegenstandes einen Spielraum bis zur Willkürgrenze ein69 und greift erst in den Einzelheiten des Gesetzes zu einem strengen Grundsatz der Folgerichtigkeit. In dieser Anwendung des Gleichheitssatzes ist eine inkonsequente Auswahl von Belastungsgütern nicht mehr gleichheitswidrig.

VIII. Die Ansätze zur Integration der Allgemeinen und Besonderen Verbrauchsteuern Ideal aus den Perspektiven von politischer Akzeptanz und materieller Steuergerechtigkeit wäre ein in sich geschlossenes, konsistentes Verbrauchsteuersystem. In ihm kommt der Umsatzsteuer die Rolle der Allgemeinen Verbrauchsteuer70 zu, denn sie wird auf alle Lieferungen und Leistungen erhoben; die Besonderen Verbrauchsteuern müssten dort die erneute Belastung durch einen zusätzlichen Grund rechtfertigen. Der Gesetzgeber hat sich „aus Zeitgründen“71 bisher aber nicht einmal zu einem allgemeinen Verbrauchsteuersystemgesetz entschließen können. Die Europäische Union ist hier vorgeprescht und gibt Grenzen für die Besonderen Verbrauchsteuern vor, damit sie der vollharmonisierten Umsatzsteuer im Binnenmarkt nicht in die Quere kommen.

67 Ferdinand Kirchhof, BB 2017, 662 (664); Ferdinand Kirchhof, BB 2015, 278 (281). 68 BVerfG v. 29.10.1999 – 2 BvR 1264/90, BVerfGE 101, 132 (138 f.) = UR 1999, 494 m. Anm. Widmann; BVerfG v. 10.11.1999 – 2 BvR 2861/93, BVerfGE 101, 151 (155 f.) = UR 1999, 498. 69 BVerfG v. 7.11.2006  – 1 BvL 10/02, BVerfGE 117, 1 (30); BVerfG v. 20.4.2004  – 1 BvR 1748/99, 905/00, BVerfGE 110, 274 (293); BVerfG v. 20.12.1966  – 1 BvR 320/57, 1 BvR 70/63, BVerfGE 21, 12 (26 f.). Zur Rechtfertigung dieses Vorgehens Ferdinand Kirchhof in Merten/Papier (Hrsg.), HB der Grundrechte, Band III 2009, 161 (196); Ferdinand Kirchhof, BB 2015, 278 (281). 70 Z.B. Tipke/Lang, Steuerrecht, 22. Aufl. 2015, S. 895. 71 Jatzke, Das System des deutschen Verbrauchsteuerrechts, 1997, S. 31 ff.

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1. Deutsche Integration Da in Deutschland nie ein Verbot der Doppelbesteuerung durch zwei Verbrauchsteuern auf dasselbe Steuergut bestand,72 ergab sich kein rechtlicher Zwang zur Bildung eines in sich stimmigen Systems. Wie bereits oben angedeutet, sind aber einige Besonderen Steuern als Ersatz für die Umsatzsteuer vorgesehen und werden deswegen von ihr ausgenommen. Diese Regelung beschreitet im Grundsatz den richtigen Weg zur Abstimmung der Steuerarten, hat aber auch ihre Haken. Zwar werden Grunderwerb, Rennwett- und Lotterieumsätze sowie Versicherungsleistungen in § 4 Nrn. 9 ff. UStG von der Umsatzsteuer befreit. Zugleich wird aber nach § 15 Abs. 2 Nr. 1 UStG auch der Vorsteuerabzug ausgeschlossen. Damit kommt es trotz erklärter Exemtion doch wieder zu einer Steuerkumulation;73 nur beim Grunderwerb kann sie durch Verzicht auf Steuerbefreiung nach § 9 Abs. 1 UStG vermieden werden. Weitere Abhilfe könnten rechtstechnisch Ermäßigungen des Umsatzsteuertarifs schaffen. Die Möglichkeiten zur vollständigen Steuerbefreiung und zur Tarifermäßigung sind aber durch die Art. 98 Abs. 2 i.V.m. Anhang III, Art. 135 Abs. 1 Buchst. a und Buchst. i bis k sowie Art. 168 f. MwStSystRL begrenzt. Ein weiteres Hindernis der Integration aller Verbrauchsteuern zu einem in sich materiell geschlossenen System entsteht aus deren unterschiedlichen Tarifierung. Besondere Verbrauchsteuern werden teils proportional nach Entgelten, teils spezifisch nach Mengen oder Inhaltsstoffen bemessen. Zumindest in der tatsächlichen Belastung wird eine Abstimmung wegen dieser unterschiedlichen Maßstäbe sehr schwierig. Letztlich stehen die Verbrauchsteuern in der Regel ziemlich bezugslos neben einander.74 2. Europäische Harmonisierung Die Europäische Union beschränkt die Erhebung von Besonderen Verbrauchsteuern nach Art. 401 MwStSystRL in der Weise, dass sie nicht „den Charakter von Umsatzsteuern“ aufweisen dürfen. Der EuGH vergleicht eventuell kollidierende Steuern aber nicht materiell nach dem Belastungsgut sondern allein formell nach den vier Neutralitätskategorien der allgemeinen Geltung, der Proportionalität zum Entgelt, der Allphasenbesteuerung und des Vorsteuerabzugs,75 sodass den Mitgliedstaaten weiterhin ein einladendes Feld neuer Verbrauchsteuern bleibt. Die Richtlinie der Europäischen Union über das allgemeine Verbrauchsteuersystem verhindert in Art. 1 Abs. 2 und 3 lediglich, dass neuartige Verbrauchsteuern auf andere Warengruppen als Alkoholika, Tabak, Energieträger und Strom den europarechtlichen Vorschriften widersprechen und mit dem Grenzübertritt verbundenen Formalitäten nach sich ziehen. Der Ertrag

72 OVG Niedersachsen, Beschl. v. 22.3.2012 – 9 LA 98/11, juris – Rz. 6; Jatzke, Das System des deutschen Verbrauchsteuerrechts, 1997, S. 182 f. mit einem Integrationsvorschlag auf S. 188. 73 Seer, ZfZ 2013, 146 (150). 74 Jatzke, Das System des deutschen Verbrauchsteuerrechts, 1997, S. 185. 75 Dazu Seer, ZfZ 2013, 146 (151).

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der europäischen Harmonisierung für eine Gesamtordnung der Verbrauchsteuern fällt also ebenso bescheiden wie der deutsche Anteil aus.

IX. Ausblick Es gibt im Recht der Verbrauchsteuern dogmatisch und systematisch noch viel zu tun. Diese Steuern haben sich in der Praxis zwar seit einem Jahrhundert bestens eingespielt und bewährt. Blickt man aber auf ihre Legitimation und ihre Abstimmung untereinander, begibt man sich auf ungesichertes Terrain. Bereits der für sie ver­ wendete Begriff der Leistungsfähigkeit versagt. Gesetzgebung, Rechtsprechung und Wissenschaft sind aufgefordert, auf diesem Gebiet nachzuarbeiten und Klarheit zu schaffen, damit ein bis heute recht konzeptionsloses Steuerrechtsgebiet nicht seine Rechtfertigung und Akzeptanz verliert.

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Umsatzsteuerliche Folgen einer bewussten oder unbewussten Asymmetrie der Steuer auf Eingangs- und Ausgangsumsätze eines Unternehmers Inhaltsübersicht

I. Einleitung

II. Ausgangssachverhalte 1. Wirtschaftlich nicht erfolgreicher ­Unternehmer 2. Exportunternehmer 3. Vermietungsunternehmer 4. Unternehmer/Juristische Personen des Öffentlichen Rechts ohne kosten­ deckende Gegenleistung a) Wirtschaftliche Tätigkeit eines ­Unternehmers gegen ein Entgelt zu nicht marktüblichen Bedingungen b) Defizitäre Dienstleistung einer ­Gemeinde im Rahmen der Daseinsvorsorge 5. Der erfolglose Unternehmer 6. Unternehmer, der an einer länder­ übergreifenden Steuerhinterziehung beteiligt ist 7. Unternehmer mit beruflich genutztem Pkw, den er überwiegend privat nutzt 8. Unternehmerisch tätige Holding mit hohen Transaktionskosten anlässlich eines Beteiligungserwerbs 9. Unternehmerisch tätige Juristische Person des Öffentlichen Rechts ­veräußert Wirtschaftsgut unter Selbstkostenpreis III. Ein- und Abgrenzungen der Frage­ stellung 1. Fallvariante 1, 2 und 3



2. Fallvarianten 4a und 4b 3. Fallvariante 5 4. Fallvariante 6 5. Fallvarianten 7 und 8 6. Fallvariante 9 7. Zusammenfassung

IV. Unionsrechtliche Grundsätze 1. Zuordnungswahlrecht 2. Wirtschaftliche und nicht wirtschaft­ liche Tätigkeit 3. Mangelnde Kohärenz zwischen Eingangs- und Ausgangsumsatz 4. Zwischenergebnis a) Fallvariante 7 b) Fallvariante 8 c) Fallvariante 9

V. Interpretationsvorgaben BFH, V. Senat 1. Grundsätze der Entscheidung BFH, V R 6/14 2. Rechtsfolgen

VI. Lösungsansätze und Bewertung 1. Mindestbemessungsgrundlage 2. Umdeutung eines geringen Entgelts in eine unentgeltliche Wertabgabe 3. Missbrauch von rechtlichen Gestaltungsmöglichkeiten 4. Angemessenheitsprüfung als teleolo­ gische Lückenausfüllung 5. Liebhaberei VII. Zusammenfassung und Ergebnis

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I. Einleitung Mit der Umstellung des Mehrwertsteuer-Systems zum 1.1.1968 auf das heute gültige Allphasen-Nettoprinzip mit Vorsteuerabzug1 wurde die Umsatzbesteuerung wettbewerbsneutral ausgestaltet.2 Dieses auch unionsrechtlich in Art. 1 Abs. 2 MwStSystRL3 zugrunde liegende Prinzip folgt der Grundvorstellung, dass im Bereich voll vorsteuerabzugsberechtigter Unternehmer4 die durch den Unternehmer für seinen (Ausgangs-)Umsatz geschuldete Umsatzsteuer und die bei seinem Leistungsempfänger abziehbare Vorsteuer deckungsgleich sind.5 Selbst für die systematischen Ausnahmefälle einer Steuerschuldnerschaft ausnahmsweise durch den Leistungsempfänger (sog. Reverse-Charge-Verfahren, vgl. § 13b Abs. 1 und 2 UStG, Art. 197 ff. MwStSyst­ RL6) wird die Kongruenz zwischen Umsatzsteuer und abziehbarer Vorsteuer aus ein und demselben Leistungsvorfall gewahrt, wie sich aus § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 und 4, § 25b Abs. 5 UStG ergibt. Es gibt allerdings kein Junktim zwischen entstandener, geschuldeter und/oder entrichteter Umsatzsteuer auf der einen und der abziehbaren Vorsteuer auf der anderen Seite. Zum einen muss der Unternehmer seine steuerpflichtigen Leistungen auch dann versteuern, wenn er insoweit – z.B. mangels einer ordnungsgemäßen Rechnung – keinen oder einen nicht vollumfänglichen Vorsteuerabzug hat.7 Zum anderen verlangt das grundsätzliche Gleichgewicht zwischen Umsatzsteuer und Vorsteuer auch keine Verknüpfung dergestalt, dass nur die Entrichtung der Umsatzsteuer den Abzug der Vorsteuer nach sich zöge oder aber die Finanzbehörde nur im Falle der Umsatzsteuerfestsetzung und -erhebung auch zur Vorsteuererstattung verpflichtet wäre.8 Auch unionsrechtlich gibt es keine Bestimmung, die ausdrücklich eine Kohärenz zwischen Umsatzsteuer beim Leistenden und dem Vorsteuer beim Leistungsempfänger vorsehen würde. 9 Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus der in Art. 167 MwStSystRL vorgenommenen Kopplung zwischen der Entstehung des Vorsteuerabzugsrechts und der Entstehung des Anspruchs auf die geschuldete Steuer. Weder der Grund noch die Höhe der abziehbaren Vorsteuer lassen

1 UStG 1967 v. 29.5.1967, BGBl. I 1967, 545. 2 Zur Verstoß gegen den Grundsatz der Wettbewerbsneutralität durch das alte Allphasen-­ Bruttosystem vgl. BVerfG v. 20.12.1966 – 1 BvR 320/57 und 70/63, BStBl. III 1967, 7; Stadie in Rau/Dürrwächter, Einf. Rz. 254 (April 2013). 3 RL 2006/112/EG v. 28.11.2006 i.d.F. der RL (EU) 2016/1065 v. 27.6.2016, ABl. EU Nr.  L 2016,177/9. 4 Im Sprachmodus der Union „Steuerpflichtiger“, vgl. Art. 9 MwStSystRL. 5 Zu den Ausnahmefällen eines Vorumsatzabzugs vgl. §§ 25 Abs. 3 und 25a Abs. 3 UStG. 6 Vgl. zum Ausnahmecharakter des Reverse-Charge zuletzt EuGH v. 26.4.2017 – C-564/15 – Tibor Farkas, UR 2017, 438 Rz. 21 – 39. 7 EuGH v. 8.12.2005 – C-280/04 – Jyske Finans A/S, UR 2016, 360 Rz. 26; BFH v. 2.3.2006 – V R 35/04, UR 2006, 537; ebenso Lippross, Umsatzsteuer, 24. Aufl. 2017, S. 75 – 2.1.3. 8 BFH v. 2.11.1989 – V R 56/84, BStBl. II 1990, 253 = UR 1990, 154 m. Anm. Schwakenberg; BFH v. 18.7.1991 – V B 42/91, BStBl. II 1991, 888; BFH v. 10.12.1998 – V R 58/97, BFH/NV 1999, 987. 9 EuGH v. 26.1.2012 – C-218/10 – ADV Allround Vermittlungs AG in Liquidation, UR 2012, 175 Rz. 34 ff.

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sich aus der geschuldeten Umsatzsteuer ableiten10, wie sich unschwer bei einem fälschlicherweise als steuerfrei oder nicht steuerbaren, in Wirklichkeit aber mit 19% zu versteuernden Umsatz ergibt. Art. 167 MwStSystRL gibt daher alleine eine Aussage zum Zeitpunkt des Vorsteuerabzugs in Abhängigkeit zum Entstehungszeitpunkt der Umsatzsteuer, nicht mehr, aber eben auch nicht weniger. Damit ergibt sich die systematische Grundausrichtung, dass einerseits zwar ein Gleichklang zwischen Umsatzsteuer und Vorsteuerabzug aus einem Leistungsverhalten angestrebt ist. Andererseits wird aber die Pflicht des Einen – Umsatzsteuerschuld des Leistenden – nicht zwingend zum Recht des Anderen – Vorsteuerabzug. Im Gegenteil: Fehler und Irrtümer der Leistungspartner können im Einzelfall dazu führen, dass der leistende Unternehmer Umsatzsteuer in einer Rechnung fakturiert, im Preis erhält und an den Fiskus abführt, der Leistungsempfänger aber wegen einer bei ihm richtigerweise entstehenden Steuerschuldnerschaft im Rahmen eines Reverse-Charge-Falls (zunächst) keinen Vorsteuerabzug erhält.11 Insoweit scheint alles geklärt zu sein. Eine mögliche Asymmetrie zwischen Umsatzsteuer und Vorsteuer dürfte letztlich im System der Umsatzsteuer keine Rolle spielen. Eine Eingangsinvestition mit einem hohen Vorsteuerabzugsvolumen müsste daher stets den Vorsteuerabzug ermöglichen, ungeachtet des Umstandes, ob diese Eingangsleistung überhaupt und wenn ja, in welcher Höhe, zu einem Ausgangsumsatz mit Umsatzsteuer führt. In der Vergangenheit ist gerade der Vorsteuerabzug aber alleine deswegen verstärkt ins Visier der Rechtsprechung12 geraten, weil eben über eine ordnungsgemäß ausgestellte Rechnung und bei entsprechend krimineller Energie – meistens durch beide Partner – vortrefflich Umsatzsteuer in Form eines unberechtigten Vorsteuerabzugs hinterzogen werden kann. Es drängt sich daher die Frage auf, ob, unter welchen Bedingungen und in welchem Umfang für das System der Mehrwertsteuer nicht doch eine Verknüpfung zwischen Umsatzsteuer einerseits und abziehbarer Vorsteuer andererseits angezeigt ist. Der Vorsteuerabzug als solcher und seine Höhe konnte auf diese Weise dergestalt an die Umsatzsteuer gekoppelt werden, dass dem Fiskus jedenfalls kein Steuerausfall droht.

10 So aber fälschlich Stadie in Rau/Dürrwächter, § 15 UStG Rz. 74 und 119.1 (Jan. 2017) unter Ablehnung der Entscheidungen des EuGH v. 28.7.2016 – C-332/15 – Guiseppe Astone, UR 2016, 683 Rz. 47 und EuGH v. 15.9.2016 – C-518/14 – Senatex, UR 2016, 800 m. Anm. Maunz – Rz. 42. 11 So ausdrücklich zuletzt EuGH v. 26.4.2017  – C-564/15  – Tibor Farkas, UR 2017, 438 Rz. 48 – mit einem Verweis des EuGH aus die zivilrechtlichen Ansprüche des Leistungsempfängers an seinen Leistungspartner auf die Rückerstattung der zu Unrecht im Preis bezahlten Umsatzsteuer und eines möglichen und nur ganz ausnahmsweisen Anspruchs gegen den Fiskus, soweit sich dieser Anspruch wegen Zahlungsunfähigkeit des Leistenden nicht mehr realisierbar ist, Rz. 50 ff. 12 Vgl. statt aller EuGH v. 18.12.2014 – C-131/13, C-163/13 und C-164/13 – Schoenimport „Italmoda“ Mariano Previti vof, Turbu.com BV und Turbo.com Mobile Phone´s BV, UR 2015, 106.

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II. Ausgangssachverhalte Bei der Analyse der zuvor aufgeworfenen Frage ist zunächst danach zu differenzieren, ob die Asymmetrie bewusst oder unbewusst, mit oder ohne Steuerhinterziehungsabsicht oder zumindest fahrlässiger Teilnahme an einer Steuerhinterziehung entstanden ist. Beispielhaft sind nachfolgenden Fallvarianten vorstellbar: 1. Wirtschaftlich nicht erfolgreicher Unternehmer Der Unternehmer gerät in wirtschaftliche Schräglage. Als letzte Möglichkeit tätigt er nochmals sehr hohe Investitionen (Erwerb von Gegenständen) im Inland. Die so erworbenen Gegenstände veräußert er zu einem stark reduzierten Preis im Inland. Am Jahresende muss er dennoch Insolvenz anmelden. Die Summe seiner Eingangsumsätze übersteigt um das 20-fache die Summe seiner Ausgangsumsätze. 2. Exportunternehmer Ein im In- und Export tätiges Unternehmen kauft im Jahr 01 auf dem deutschen Markt eine Vielzahl einzelner Gegenstände zusammen, die – nach einer Be- und Verarbeitung  – als neue Gegenstände in Drittländer exportiert werden. Zwar sind die Ausgangsumsätze gem. § 4 Nr. 1 Buchst. a i.V.m. § 6 Abs. 1 Nr. 1, 2 UStG steuerfrei. Wegen § 15 Abs. 2 Nr. 1 i.V.m. § 15 Abs. 3 Nr. 1 UStG bleibt der Vorsteuerabzug aber erhalten. Aufgrund des Exportüberhangs realisiert das Unternehmen fortwährend Vorsteuerüberhänge. 3. Vermietungsunternehmer Ein gewerblicher Vermieter errichtet in bester Innenstadtlage ein neues Geschäftshaus. Die aus der Herstellung resultieren Vorsteuern übersteigen die Umsatzsteuer aus der wegen der gem. § 9 Abs. 1 und 2 UStG i.V.m. § 4 Nr. 12 Buchst. a UStG mittels Option steuerpflichtigen Vermietung um das 200-fache. 4. Unternehmer/Juristische Personen des Öffentlichen Rechts ohne kostendeckende Gegenleistung a) Wirtschaftliche Tätigkeit eines Unternehmers gegen ein Entgelt zu n ­ icht marktüblichen Bedingungen Ein Unternehmer bezieht eine Eingangsleistung, die er für einen Ausgangsumsatz verwendet. Absprachegemäß und ausnahmsweise bewirkt er den Umsatz aber für einen Preis, der deutlich unter marktüblichen Bedingungen liegt. Die aus dem Eingangsumsatz resultierende Vorsteuer übersteigt die aus dem Ausgangsumsatz resultierende Umsatzsteuer um das 10-fache.

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b) Defizitäre Dienstleistung einer Gemeinde im Rahmen der Daseinsvorsorge Eine Gemeinde begehrt den Vorsteuerabzug aus den Herstellungskosten für eine errichtete Sporthalle. Entsprechend einer Entgeltsordnung erhebt die Gemeinde von Vereinen für die Inanspruchnahme der Halle für Übungs-, Trainings- und den Schulungsbetrieb im Erwachsenensport zur teilweisen Deckung der Betriebskosten eine Nutzungspauschale in Höhe von 1,50 Euro je Stunde. Bei der Überlassung der Sporthalle an die Vereine wird ein Kostendeckungsgrad von 12% erzielt, der zeitliche Nutzungsanteil beträgt 14%. 5. Der erfolglose Unternehmer Die natürliche Person A beabsichtigt die Aufnahme einer unternehmerischen Tätigkeit und nimmt hierzu die Dienstleistungen eines Rechtsanwalts und Steuerberaters in Anspruch. Nach deren erster Einschätzung gibt A seine Absicht zur unternehmerischen Tätigkeit auf, begehrt aber dennoch aus den Dienstleistungen des Rechtsanwalts und Steuerberaters den vollen Vorsteuerabzug. 6. Unternehmer, der an einer länderübergreifenden Steuerhinterziehung beteiligt ist Im Rahmen einer inländischen Lieferung erwirbt ein deutscher Unternehmer Ware, macht aus diesem Erwerbsvorgang in Deutschland den Vorsteuerabzug geltend und liefert seinerseits innergemeinschaftlich steuerfrei an einen anderen EU-Ausländer. Wegen der sich anschließenden steuerfreien innergemeinschaftlichen Lieferung führt der inländische Erwerb zu einem Vorsteuerüberhang. Unstreitig wusste aber der Unternehmer bzw. hätte er wissen müssen, dass in der Umsatzkette vor oder nach ihm eine Umsatzsteuerhinterziehung begangenen wurde. 7. Unternehmer mit beruflich genutztem Pkw, den er überwiegend privat nutzt Unternehmer nutzt einen mit Umsatzsteuerausweis angeschafften Luxus-Pkw in Höhe von 20% für seine selbständige Tätigkeit und fährt ihn ansonsten nur privat. Die aus der Anschaffung resultierenden Vorsteuern übersteigen die Umsatzsteuer aus seiner unternehmerischen Tätigkeit im Jahr der Anschaffung um das 3-fache. 8. Unternehmerisch tätige Holding mit hohen Transaktionskosten anlässlich eines Beteiligungserwerbs Eine Holding erwirbt eine Beteiligung. Sie greift mit administrativen Leistungen gegen Sonderentgelt in die Verwaltung der erworbenen Beteiligung ein. Die Summe der aus ihren Ausgangsumsätzen betreffend die administrative Tätigkeit gegenüber der erworbenen Beteiligungsgesellschaft resultierenden Umsatzsteuer steht in einem auffälligen Missverhältnis zu den Vorsteuerbeträgen aus den sog. Transaktionskosten. Die vorsteuerentlasteten Kosten sind 40-fach höher als die erzielten Leistungsentgel81

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te. Ein Umsatzsteuermissbrauch oder eine Beteiligung an einem solchen ist nicht feststellbar. 9. Unternehmerisch tätige Juristische Person des Öffentlichen Rechts veräußert Wirtschaftsgut unter Selbstkostenpreis Eine ansonsten wirtschaftlich tätige Gemeinde will den Vorsteuerabzug aus einem auf ihrem Grundstück hergestellten Gebäude vollumfänglich abziehen, das sie an eine Stiftung steuerpflichtig weiterveräußert. Der Preis der Weiterlieferung beträgt nur 10% der Herstellungskosten und die Stiftung ihrerseits überlässt das Gebäude weitestgehend an eine Sondergrundschule zur unentgeltlichen Nutzung. Im Übrigen wird das Gebäude steuerfrei vermietet.

III. Ein- und Abgrenzungen der Fragestellung 1. Fallvariante 1, 2 und 3 Von den zuvor beschriebenen Fallvarianten scheiden die erste, zweite und dritte Fallgestaltung für die hier näher zu untersuchende Asymmetrie zwischen Steuern aus Eingangs- und Ausgangsumsätzen aus. Eine Asymmetrie liegt zwar in allen drei Fällen wegen des Vorsteuerüberhangs vor. Dieser ist aber nicht das Ergebnis einer – bewusst oder unbewusst – ausgelösten Verschiebung des vom System der Umsatzsteuer/ Mehrwertsteuer angestrebten Gleichgewichts zwischen geschuldeter Umsatzsteuer einerseits und abziehbarer Vorsteuer andererseits. Die rein faktisch ausgelöste Asymmetrie ist in allen drei geschilderten Fällen alleine das Ergebnis der sich aus dem System ergebenden Rechtsfolge einer vollumfänglich unternehmerischen Tätigkeit. Der Unternehmer bewirkt in allen drei Fallvarianten einen steuerbaren Ausgangsumsatz, entweder steuerpflichtig (Fall 1), steuerfrei (Fall 2) oder zunächst steuerfrei, aber durch Option steuerpflichtig (Fall 3). Fallvariante eins führt zu einer Asymmetrie infolge wirtschaftlichen Missmanagements. So wie aber der gänzlich erfolglose Unternehmer bei nur beabsichtigten Ausgangsumsätzen zum Vorsteuerabzug berechtigt bleibt13, gilt dies erst Recht für den aktiv durch Ausgangsumsätze am Wirtschaftsleben teilnehmenden, aber nicht erfolgreich agierenden Unternehmer. Ein Eingreifen zur Beseitigung der sich ergebenden Asymmetrie zwischen Vorsteuerabzug einerseits und (Ausgangs-)Umsatzsteuer andererseits ist systematisch nicht nur nicht geboten, sondern verbietet sich. In der Fallvariante zwei ergibt sich die Asymmetrie alleine wegen des durch §  15 Abs. 3 Nr. 1 Buchst. a UStG möglichen Vorsteuerabzugs, eine Rechtsfolge, die durch den Gesetzgeber bewusst gewählt wurde. Die Steuerfreistellung einerseits und der trotzdem gewährte Vorsteuerabzug andererseits verwirklichen  – in Übereinstim13 Vgl. EuGH v. 29.2.1996 – C-110/94 – INZO, BStBl. II 1996, 655 = UR 1996, 116 m. Anm. Widmann.

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mung mit dem Unionsrecht in Art. 169 Buchst. b MwStSystRL – das Bestimmungslandprinzip und sichern so die Besteuerung im Land des Verbrauchs bei gleichzeitiger Gewährleistung der Wettbewerbsneutralität.14 In der Fallvariante drei ergibt sich die Asymmetrie alleine wegen des durch die Op­ tion gem. § 9 UStG nicht eingreifenden Abzugsverbots gem. § 15 Abs. 2 UStG (vgl. Art. 137 Abs. 1 i.V.m. Art. 391 i.V.m. Art. 371, Anhang X Teil B Nr. 5 und 9 MwSt­ SystRL). Mit der Optionsmöglichkeit vermeidet der Gesetzgeber zum einen Wettbewerbsnachteile, die sich für den Steuerpflichtigen ergeben könnten, würde ihm die Möglichkeit versagt werden, seinen Umsatz steuerpflichtig stellen zu können.15 Zum anderen will der Gesetzgeber offenkundig eine mögliche Steuerkumulierung im Falle der Steuerfreiheit ohne Vorsteuerabzugsmöglichkeit verhindern.16 Hierin spiegelt sich die umsatzsteuerliche Grundentscheidung wider, dass derjenige, der keine (Ausgangs-)Umsatzsteuer zahlt, auch keinen Vorsteuerabzug begehren kann. Eine mögliche Asymmetrie ist damit auch in dieser Fallvariante das vom Gesetzgeber gewollte und ausdrücklich hingenommene Ergebnis einer umsatzsteuerlich möglichen Gestaltung. Alleine der Umstand eines Vorsteuerüberhangs rechtfertigt keine andere Beurteilung. 2. Fallvarianten 4a und 4b a) Fallvariante 4a zeichnet sich dadurch aus, dass einerseits eine wirtschaftliche (und damit eine unternehmerische) Tätigkeit gegeben ist, andererseits im Rahmen der wirtschaftlichen Tätigkeit ein Umsatz zu einem sehr geringen Entgelt – einem Wert deutlich unter marktüblichen Bedingungen – bewirkt wird. Ein dennoch geltend gemachter Vorsteuerabzug aus einer Eingangsleistung führt damit zwangsläufig zu einer Asymmetrie zwischen Vorsteuer und Umsatzsteuer. Für diesen Fall sieht das nationale Recht mit §  10 Abs.  5 UStG  – Mindest-Bemessungsgrundlage -, gestützt auf das Unionsrecht (Art. 395 Abs. 1 Unterabs. 1 und 2 MwStSystRL17), ein Korrektiv im Fall eines Naheverhältnisses zwischen Leistendem und Leistungsempfänger vor. Liegt ein solches Naheverhältnis vor, wird eine mögliche Asymmetrie durch den Ansatz der Mindest-Bemessungsgrundlage weitgehend vermieden. Die eventuell anstehende Frage, ob das vereinbarte Entgelt nur symbolischen Charakter hätte, wäre insoweit unbeachtlich. Fehlt es an dem von § 10 Abs. 5 UStG geforderten Naheverhältnis, greift auch kein umsatzsteuerliches Korrektiv. Im Gegenteil: Es gibt weder im nationalen noch im Unionsrecht eine gesetzliche Grundlage, wonach ein Entgelt deutlich unter marktüblichen Bedingungen wie eine unent-

14 Ebenso Stadie in Rau/Dürrwächter, § 15 UStG Rz. 1556 (Febr. 2016). 15 Stadie in Rau/Dürrwächter, § 15 UStG Rz. 1589 ff. (Febr. 2016); Stadie, Das Recht des Vorsteuerabzugs, 1989, S. 182. 16 Oelmaier in Sölch/Ringleb, §  15 UStG Rz.  649 (Sept. 2014); Lippross, Umsatzsteuer, 24. Aufl. 2017, S. 760 – 3.3.1. 17 BFH v. 7.10.2011 – V R 4/10, UR 2011, 626 – Rz. 21; BFH v. 5.6.2014 – XI R 44/12, UR 2014, 700 – Rz. 28.

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geltliche Wertabgabe zu behandeln wäre.18 Nur im Falle eines nur symbolischen ­Preises lässt der EuGH offensichtlich die Möglichkeit zu, den Vorsteuerabzug zu beschränken.19 Wie der EuGH in der Rechtssache Balkan and Sea Properties20 ausdrücklich – allerdings zu Art. 80 MwStSystRL – festgestellt hat, kommt darüber hinaus der Ansatz der Mindest-Bemessungsgrundlage nur dann zur Anwendung, wenn Leistender und Leistungsempfänger nicht voll vorsteuerabzugsberechtigt sind. Nur bei einem Leistungsempfänger ohne volle Vorsteuerabzugsberechtigung besteht bei unangemessen niedrigem Entgelt und dem geforderten Naheverhältnis die Gefahr von Steuerhinterziehung und -umgehung und damit die Berechtigung des Ansatzes einer Mindest-Bemessungsgrundlage. 21 Alleine für den Fall eines missbräuchlichen Miteinanders zwischen Leistendem und Leistungsempfänger bliebe als Regulativ die AO-rechtliche allgemeine Missbrauchsregelung des § 42 AO.22 Alleine ein zu niedriges Entgelt – auch soweit es nicht marktüblich ist – rechtfertigt daher keinen systematischen Eingriff zur Vermeidung einer sich eventuell ergebenden Asymmetrie. b) Damit führt auch die durch das nichtkostendeckende Entgelt entstehende Asymmetrie zwischen Eingangs- und Ausgangsumsätzen in der Fallvariante 4b alleine nicht zur Notwendigkeit eines am System ausgerichteten Eingriffs zur Vermeidung der Asymmetrie23. Davon zu trennen ist allerdings die Frage, ob überhaupt eine wirtschaftliche Tätigkeit vorliegt bzw. durch die in Rede stehende Tätigkeit ausgelöst wird. Vor allem juristische Personen des öffentlichen Rechts unterliegen mit ihren entgelteten Dienstleistungen (Fallvariante 4b: Überlassung einer errichteten Sporthalle an Vereine gegen eine Nutzungspauschale24) der Bewertung, ob durch eine Asymmetrie zwischen Betriebskosten und den als Gegenleistung für die angebotenen Dienstleistungen erhaltenen Beträge eine wirtschaftliche Tätigkeit und damit ein Vorsteuerabzug schon dem Grunde nach verneint werden kann.

18 Vgl. hierzu EuGH v. 20.1.2005  – C-412/03  – Hotel Scandic Gasabäck, UR 2005, 98  – Rz. 27 ff. 19 EuGH v. 22.6.2016 – C-267/15 – Gemeente Woerden, UR 2016, 646 – Rz. 41. 20 EuGH v. 26.4.2012 – C-621/10 und C-129/11 – Balkan and Sea Properties, UR 2012, 435 – Rz. 48. 21 Zur Anwendbarkeit für das deutsche Recht vgl. BFH v. 5.6.2014 – XI R 44/12, UR 2014, 700 – Rz. 36: der Leistungsempfänger darf für die in Anspruch genommene Vorsteuer keiner Vorsteuerberichtigung gem. § 15a UStG unterliegen. 22 Ebenso Feil in Weymüller, Umsatzsteuergesetz (2015), § 10 UStG Rz. 53.9. 23 Zur Beschränkung des Vorsteuerabzugs bei Zuordnung eines gemischt genutzten Gebäudes insgesamt zum Unternehmen auf die unternehmerische Nutzung vgl. Art. 168a MwStSystRL und § 15 Abs. 1b UStG. 24 BFH v. 28.6.2017 – XI R 12/15, UR 2017, 758 m. Anm. Sterzinger und Rust unter Bezugnahme auf EuGH v. 12.5.2016  – C-520/14  – Gemeente Borsele, UR 2016, 520 und BFH v. 15.12.2016 – V R 44/15, UR 2017, 302.

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Letztlich geht es vor allem um die im hoheitlichen Raum anzutreffende Frage, ob die von den Nutzern der Dienstleistung erbrachten Zahlungen eher auf einen Beitrag in Form einer Gebühr oder doch als Gegenleistung für die angebotene Dienstleistung anzusehen sind.25 Die sich aus der Asymmetrie zwischen Eingangs- und Ausgangsumsatz ergebenden Rechtsfolgen werden also nicht auf der Ebene des Vorsteuerabzugs, sondern  – bereits einen Schritt früher  – auf der Ebene der Steuerbarkeit der Ausgangsumsätze problematisiert. Nur eine unternehmerische Tätigkeit führt zu einer wirtschaftlichen Tätigkeit und nur eine wirtschaftliche Tätigkeit eröffnet überhaupt erst die Möglichkeit des Vorsteuerabzugs aus Eingangsleistungen. Indes wäre es verfehlt, über das Kriterium der wirtschaftlichen Tätigkeit bereits stets in jedem Falle einer Asymmetrie auf einen mangelnden Vorsteuerabzug schließen zu können. Eine solche Asymmetrie alleine – und dies hat der BFH in Umsetzung der EuGH-­ Rechtsprechung in der Rechtssache Gemeente Borsele klargestellt26 – reicht nicht aus, um das Vorliegen einer wirtschaftlichen Tätigkeit und damit den Vorsteuerabzug abzulehnen. Hinzukommen müssen vielmehr allgemeine Feststellungen zur Nachhaltigkeit der Tätigkeit, wie etwa, ob die Leistung am allgemeinen Markt angeboten wird, ob das Entgelt marktüblich ist und von der tatsächlichen Nutzungsinanspruchnahme abhängt27 oder ob das Entgelt von jedem Nutzer geschuldet wird.28 Damit reduziert sich die Problematik der Asymmetrie auch in den Fällen der Fallvariante 4b auf eine allgemein umsatzsteuerlich relevante Fragestellung, nämlich einer zugrunde liegenden unternehmerischen (wirtschaftlichen) Tätigkeit. Die festgestellte Asymmetrie zwischen Eingangs- und Ausgangsumsatz berührt diese Frage allenfalls nur insoweit, als sie Auslöser für eine intensive Bewertung ist. Das System wird aber durch die Asymmetrie nicht in Frage gestellt, so dass es auch keiner Erörterung möglicher systematischer Korrekturen bedarf. c) Fallvariante vier scheidet daher ebenfalls sowohl in der Variante 4a als auch in der Variante 4b für die hier zu erörternde Fragestellung aus. 3. Fallvariante 5 Die in Fallvariante fünf ausgelöste Asymmetrie zwischen Vorsteuer und Umsatzsteuer wird ausgelöst durch die nur beabsichtigte, tatsächlich aber zu keinem Zeitpunkt ausgeübte wirtschaftliche Tätigkeit. Die unter dem umsatzsteuerlichen Synonym des erfolglosen Unternehmers laufenden Fälle führten zunächst seitens der deutschen Rechtsprechung zu einer vollständigen Versagung des Vorsteuerabzugs. Der BFH

25 EuGH v. 12.5.2016  – C-520/14  – Gemeente Borsele, UR 2016, 520  – Rz.  33; BFH v. 28.6.2017 – XI R 12/15, UR 2017, 758 m. Anm. Sterzinger und Rust – Rz. 46. 26 BFH v. 15.12.2016 – V R 44/15, UR 2017, 302 – Rz. 43; zustimmend Küffner, Anm. zu BFH v. 15.12.2016 – V R 44/15, UR 2017, 302 (305). 27 BFH v. 28.6.2017 – XI R 12/15, UR 2017, 758 m. Anm. Sterzinger und Rust – Rz. 53. 28 EuGH v. 12.5.2016 – C-520/14 – Gemeente Borsele, UR 2016, 520 – Rz. 33.

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versagte mangels tatsächlicher wirtschaftlicher Tätigkeit die Unternehmereigenschaft des den Vorsteuerabzug Begehrenden.29 Mit der Entscheidung in der Rechtssache INZO30 hat der EuGH den Vorsteuerabzug nicht von einer wirtschaftlichen Tätigkeit, genauer von der (nachhaltigen) Erzielung eines entgeltlichen Umsatzes abhängig gemacht. Auch wenn es infolge fehlender Rentabilität, geänderter Rahmenbedingungen oder schlicht wegen einer Absichtsänderung nicht zur Ausführung von Umsätzen kommt, bleibt es beim Vorsteuerabzug, so  der den Vorsteuerabzug Begehrende nur seine ernsthafte Absicht nachweisen kann, mittels der Eingangsleistungen eine wirtschaftliche Tätigkeit aufnehmen zu wollen.31 Die in dieser Fallvariante ausgelöste Asymmetrie zwischen Vorsteuer und Umsatzsteuer ist daher das bewusste durch den EuGH vorgegebene Ergebnis einer am Neutralitätsgebot ausgerichteten Beurteilung des Vorsteuerabzugs. Die durch die Asymmetrie ausgelöste Problemlage verlagert sich auf die streitanfällige Ebene des Nachweises der Ernsthaftigkeit der Absicht wirtschaftlicher Tätigkeiten. 4. Fallvariante 6 Fallvariante sechs zeichnet sich dadurch aus, dass hier der vom Unternehmer ausgeführte Umsatz in eine Steuerhinterziehung eingebunden ist. Der EuGH bewertet diese Einbindung als betrügerisches oder missbräuchliches Verhalten und verwehrt dem Steuerpflichtigen sämtliche durch das Umsatzsteuersystem ausgelösten Vergünstigungen, wie eine Steuerbefreiung oder einen Vorsteuerabzug.32 Die durch den Vorsteuerabzug bei gleichzeitiger Steuerbefreiung der anschließenden innergemeinschaftlichen Lieferung auslöste Asymmetrie wird durch den EuGH damit bewusst zugunsten des nationalen Fiskus gelöst. Der Steuerpflichtige kann weder den Vorsteuerabzug aus der Eingangsleistung beanspruchen, noch die innergemeinschaftliche Lieferung steuerfrei behandeln. Er schuldet die aus diesem Umsatz resultierende (Ausgangs-)Umsatzsteuer ohne Vorsteuerabzug.33 Die Versagung des Vorsteuerabzugs gilt selbst dann, wenn der Leistende diesen Umsatz ordnungsgemäß der Umsatzsteuer zugeführt hat.34 Der EuGH stellt ausdrücklich klar, dass die zuvor beschriebene Rechtsfolge nicht nur dann gilt, wenn der Steuerpflichtige selbst die Steuerhinterziehung begeht. Auch 29 BFH v. 6.5.1993 – V R 45/88, BStBl. II 1993, 564 = UR 1993, 312; BFH v. 16.12.1993 – V R 103/88, BStBl. II 1994, 270 = UR 1994, 270; BFH v. 12.5.1993 – XI R 59/90, UR 1994, 269; BFH v. 15.9.1994 – V R 12/93, UR 1995, 129. 30 EuGH v. 19.2.1996  – C-110/94  – INZO, UR 1996, 116; vgl. auch EuGH v. 15.1.1998  – C-37/95 – Ghent Coal Terminal NV, UR 1998, 149. 31 EuGH v. 19.2.1996 – C-110/94 – INZO, UR 1996, 116 – Rz. 23. 32 EuGH v. 18.12.2014 – C-131/13, C-163/13 und C-164/13 – Schoenimport „Italmoda“ Mariano Previti vof, Turbu.com BV und Turbo.com Mobile Phone´s BV, UR 2015, 106 – Rz. 49, 50; vgl. hierzu Wäger, Der Kampf gegen die Steuerhinterziehung, UR 2015, 81 (96 ff., 99). 33 Zu Recht kritisch Reiß, Unionsrechtlich gebotene Bestrafung und Besteuerung sine lege und contra legem, UR 2016, 342 (355). 34 Wäger, Der Kampf gegen die Steuerhinterziehung, UR 2015, 81 (98).

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dann, wenn er wusste oder hätte wissen müssen, dass er sich mit seinem Umsatz an einem Umsatz beteiligt, der in eine vom Lieferer oder von einem anderen Wirtschaftsteilnehmer auf einer vorhergehenden oder nachfolgenden Umsatzstufe der Lieferkette begangene Steuerhinterziehung einbezogen war, kann er keinen Vorsteuerabzug und keine Steuerfreiheit der innergemeinschaftlichen Lieferung beanspruchen.35 Damit scheiden alle diejenigen Fallvarianten für die hier zu problematisierende Systemfrage aus, in denen der betreffende und zu beurteilende Steuerpflichtige an einer Steuerhinterziehung beteiligt war oder zumindest hätte wissen müssen, dass er sich mit seinem Umsatz an einer solchen beteiligt. In der Fallvariante fünf muss daher unter Beachtung der einschlägigen EuGH-Rechtsprechung36 eine Asymmetrie die notwendige Folgekonsequenz der Steuerhinterziehungsbeteiligung sein. 5. Fallvarianten 7 und 8 Die beiden Fallvarianten sieben und acht zeichnen sich dadurch aus, dass die sich aus dem Vorsteuerüberhang ergebende Asymmetrie zum einen das Ergebnis einer bewussten Gestaltung ist. Zum anderen ist die Asymmetrie zugunsten des Vorsteuer­ überhangs das Ergebnis einer auch außerhalb der eigentlichen wirtschaftlichen Tätigkeit möglichen Nutzbarmachung der Eingangsleistung. In der Fallvariante sieben führt alleine das durch den EuGH aufgestellte Postulat vom Zuordnungswahlrecht37 dazu, dass der Steuerpflichtige trotz überwiegend außerunternehmerischer Nutzung des Pkw´s (im vorliegenden Fall zu 80%) dennoch den gesamten Pkw dem Unternehmensvermögen zuordnen kann. Übt der Steuerpflichtige sein Zuordnungswahlrecht in diesem Sinne aus, kann er trotz überwiegend nicht unternehmerischer Nutzung den gesamten Vorsteuerabzug geltend machen. Die außerunternehmerische Nutzung führt zu einer steuerbaren und steuerpflichtigen unentgeltlichen Wertabgabe (§ 3 Abs. 9a Nr. 1 UStG). Wegen der nur mit den durch die außerunternehmerische Nutzung entstandenen Ausgaben anzusetzenden Bemessungsgrundlage (§ 10 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 UStG) ergibt sich die zuvor beschriebene Asymmetrie. Hier stellt sich erstmals die systematische Frage, ob nicht die Höhe des Vorsteuerabzugs auf die Höhe der durch die wirtschaftliche Tätigkeit ausgelösten Umsatzsteuer begrenzt werden muss. Auch den Gesetzgeber beschäftigt – sowohl auf Unions- als auch auf nationaler Ebene – diese Frage und ist damit nicht bar jedweder Relevanz, wie die Vorsteuerbegrenzung für den Fall der Zuordnung eines nicht nur unternehmerisch genutzten Gebäu35 EuGH v. 18.12.2014 – C-131/13, C-163/13 und C-164/13 – Schoenimport „Italmoda“ Mariano Previti vof, Turbu.com BV und Turbo.com Mobile Phone´s BV, UR 2015, 106 – Rz. 50. 36 Vgl. auch EuGH v. 6.7.2006 – C-439/04 und C-440/04 – Kittel und Recolta Recycling, UR 2006, 594 – Rz. 45, 46, 56 und 60; EuGH v. 6.12.2012 – C-285/11 – Bonik, UR 2013, 195 – Rz. 38 – 40. 37 Vgl. EuGH v. 8.5.2003 – C-269/00 – Wolfgang Seeling, UR 2003, 388; Nieskens in Kirchhof/ Nieskens (Hrsg.), Festschrift Reiß, S. 62 ff.

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des zeigt. Art. 168a MwStSystRL und dem Unionsrecht folgend § 15 Abs. 1b UStG38 gewähren einen Vorsteuerabzug (zunächst) nur in Höhe der unternehmerischen Nutzung. Eine Asymmetrie kann sich jetzt allenfalls nur noch bezüglich der absoluten Höhe einstellen. Die Fallvariante acht hat innerhalb eines Zeitraums von nicht weniger als 16 Jahren39 mit der Entscheidung in der Rechtssache Minerva und Larentia40 im Jahre 2015 zu der Einsicht geführt, dass eine Holding mit dem entgeltlichen Leistungseingriff in die Verwaltung ihrer erworbenen Beteiligung die anlässlich der Transaktion entstandenen Kosten insoweit stets dem wirtschaftlichen Bereich der Holding zugordnen kann. Der voll umfängliche Vorsteuerabzug aus den Transaktionskosten ist die umsatzsteuerliche Konsequenz. Trotzdem stellt sich nach wie vor die Frage, ob nicht angesichts der teilweise sehr hohen Vorsteuerbeträge aus den Transaktionskosten (Kosten für die Kapitaleinwerbung, Prospektgutachten, etc.) die sich hieraus ergebende Asymmetrie systematisch begrenzt werden muss. Denkbar wäre, bei einem nach wie vor sehr hohen Vorsteuerüberhang systematisch die überschießenden Vorsteuern im Sinne einer zu beachtenden Obergrenze zu begrenzen oder in Höhe des asymmetrischen Überhangs diese insoweit doch wiederum dem nicht wirtschaftlichen Bereich zuzuordnen.41 6. Fallvariante 9 Die sich in Fallvariante neun ergebende Asymmetrie schließlich ist das Ergebnis einer bewussten Gestaltung des Steuerpflichtigen. Statt die erworbene Immobilie ihrem Verwendungszweck entsprechend zu vermieten, wird sie verkauft. Während aber die Vermietung wegen § 9 Abs. 2 UStG42 den Vorsteuerabzug mangels Option und steuerfreier Verwendung durch den Leistungsempfänger ausschließt, gewährt die Veräußerung als Lieferumsatz die Möglichkeit der Option gem. § 9 Abs. 1 UStG (unterstellt, die Stiftung ist auch wirtschaftlich tätig und damit Unternehmer) und damit den Vorsteuerabzug. Fraglich bleibt aber, ob die bewusste Gestaltung auch unter Berücksichtigung der Veräußerung unter den Herstellungskosten nicht eine vom System nicht zu billigende und damit zu korrigierende Asymmetrie bedeutet.43

38 § 15 Abs. 1b UStG eingefügt durch Gesetz v. 8.12.2010 (BGBl. I 2010, 2878) mit Wirkung zum 1.1.2011. 39 Beginnend mit EuGH v. 14.11.2000 – C-142/99 – Floridienne SA und Berginvest, UR 2000, 530 und vorläufig endend mit EuGH v. 16.7.2015 – C-108/14 und C-109/154 – Minerva + Larentia mbH & Co. KG und Marenave Schiffahrts AG, UR 2015, 671. 40 EuGH v. 16.7.2015 – C-108/14 und C-109/154 – Minerva + Larentia mbH & Co. KG und Marenave Schiffahrts AG, UR 2015, 671; BFH v. 19.1.2016 – XI R 38/12, UR 2016, 313 und BFH v. 1.6.2016 – XI R 17/11, UR 2016, 674. 41 Vgl. hierzu BFH v. 6.4.2016 – V R 6/14, UR 2016, 598. 42 Vgl. zum Unionsrecht Art. 137 Abs. 1 i.V.m. Anhang X Teil B MwStSystRL. 43 Vgl. hierzu EuGH v. 22.6.2016 – C-267/15 – Gemeente Woerden, UR 2016, 646.

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7. Zusammenfassung Die zuvor beschriebenen Fallvarianten eins bis vier berühren trotz einer tatsächlichen Asymmetrie zwischen Vorsteuern aus Eingangsleistungen und Umsatzsteuer aus korrespondierenden Ausgangsumsätzen nicht die Systematik. Auch wenn die Asymme­ trie zu Lasten des Fiskus wirkt, verbietet sich ein Eingreifen aus systematischen Gründen. Die Kongruenz zwischen Vorsteuern aus Eingangsumsätzen einerseits und Umsatzsteuer aus Ausgangsumsätzen andererseits bei ein und derselben Person ist gewahrt. Alleine die Ausführung besteuerter Ausgangsumsätze rechtfertigt den Vorsteuerabzug aus den Eingangsumsätzen. Vorsteuerüberhänge infolge Missmanagements, hoher Investitionsausgaben oder aus der Art der Ausgangsumsätze rechtfertigen keine andere Sicht. Alleine eine Wertabgabe zu einem marktunüblichen bis hin zu einem nur symbolischen Preis – eine wirtschaftliche Tätigkeit unterstellt44 – rechtfertigt ebenfalls keinen Eingriff zur Vermeidung einer möglichen Asymmetrie zwischen Vorsteuern und Umsatzsteuern. Als umsatzsteuerliches Korrektiv (vgl. Fall­ variante vier) steht zum einen der Ansatz der Mindest-Bemessungsgrundlage, zum anderen die strikte Anwendung der Voraussetzungen für eine wirtschaftliche Tätigkeit zur Verfügung. Außerhalb der Umsatzsteuer kann eventuell die allgemeine Missbrauchsvorschrift des §  42 AO zur Anwendung kommen. Das Korrektiv für eine Asymmetrie, ausgelöst durch eine nur beabsichtigte wirtschaftliche Tätigkeit (sog. erfolgloser Unternehmer, Fallvariante fünf), liegt in dem zu erbringenden Nachweis der Ernsthaftigkeit der Absicht, mit der eine wirtschaftliche Tätigkeit angestrebt wurde. In der Fallvariante sechs liegt eine Asymmetrie vor, die durch einen systematisch zu rechtfertigenden Rückgriff auf die Grundsätze zur Vermeidung von Steuerhinterziehung und Steuermissbrauch vermieden werden kann. Die hier zu erörternde Frage eines möglichen systematischen Eingriffs in eine bestehende Asymmetrie zwischen Vorsteuer und Umsatzsteuer stellt sich daher in den in den Fallvarianten sieben bis neun beschriebenen Sachverhaltsgestaltungen. Sei es, dass der Unternehmer neben einer wirtschaftlichen auch noch eine nichtwirtschaftliche im Sinne von unternehmensfremde Tätigkeit45 ausübt, sei es, dass seine steuerliche Gestaltung in Bezug auf einen Leistungsempfänger zu einer Asymmetrie führt, stets bleibt die Frage, ob eventuell aus systematischen Grundsätzen ein Eingriff, eine Begrenzung, zulässig ist.

44 Vgl. hierzu BFH v. 28.6.2017 – XI R 12/15, UR 2017, 758 m. Anm. Sterzinger und Rust unter Bezugnahme auf EuGH v. 12.5.2016 – C-520/14 – Gemeente Borsele, UR 2016, 520 und BFH v. 15.12.2016 – V R 44/15, UR 2017, 302. 45 Zur Begrifflichkeit siehe Abschn. 15.2e Buchst. a UStAE, Abschn. 2.3 Abs.  1a UStAE  – nicht wirtschaftliche, unternehmensfremde Tätigkeit als nichtwirtschaftliche, private Tätigkeit im Sinne der EuGH-Rspr., EuGH v. 12.2.2009 – C-515/07 – VNLTO, UR 2009, 199.

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IV. Unionsrechtliche Grundsätze Die bisherige Rechtsprechung des EuGH in Umsetzung der unionsrechtlichen Vorgaben aus den Bestimmungen der MwStSystRL ist geprägt von zwei Grundsätzen. Zum einen sieht der EuGH das Recht auf Vorsteuerabzug als integralen Bestandteil des Mechanismus der Mehrwertsteuer, das grundsätzlich nicht eingeschränkt werden kann.46 Der Vorsteuerabzug soll völlige Neutralität hinsichtlich der steuerlichen Belastung aller wirtschaftlichen Tätigkeiten unabhängig von ihrem Zweck oder ihrem Ergebnis gewährleisten, soweit diese Tätigkeiten der Mehrwertsteuer unterliegen.47 Zum anderen definiert der EuGH den Bereich der wirtschaftlichen Tätigkeit im Sinne einer sog. Drei-Sphären-Theorie.48 Die in die nichtwirtschaftliche und nicht private (unternehmensfremde) Sphäre fallenden Tätigkeiten schließen definitiv und endgültig den Vorsteuerabzug aus. Hierzu gehört beispielsweise das Erwerben und Halten von Beteiligungen49 ebenso wie Tätigkeiten eines Vereins, soweit er seine ideellen Zwecke verfolgt.50 Die systematische Frage nach einer Begrenzung der Asymmetrie zwischen Vorsteuern und Ausgangsumsatzsteuern zwingt begriffslogisch zu einer Auseinandersetzung mit diesen beiden Eckpfeilern der EuGH-Rechtsprechung. Will man m.a.W. eine Begrenzung im Sinne eines Eingriffs aus systematischen Gründen begründen, heißt das zwangsläufig entweder den Umfang des Vorsteuerabzugs von der Bewertung des oder der Ausgangsumsätze abhängig zu machen oder aber den Bereich der nichtwirtschaftlichen und nicht zum Vorsteuerabzug berechtigenden Tätigkeiten ausdehnend zu definieren. Die Rechtsprechung des EuGH ist geprägt durch eine Reihe zum Teil widersprüchlicher systematischer Kernaussagen: 1. Zuordnungswahlrecht Mit der weder im nationalen Gesetz noch im Unionsrecht ausdrücklich vorgesehenen sog. Zuordnungswahlmöglichkeit des Unternehmers hat der EuGH schon früh einen wichtigen Schritt hin zu einer bewusst hingenommenen möglichen Asymmetrie ­zwischen Vorsteuer- und Ausgangsumsatzsteuer zugelassen. Das Zuordnungswahlrecht gewährt dem Unternehmer das Recht, einen angeschafften, hergestellten oder innergemeinschaftlich erworbenen Gegenstandes dem Unternehmensvermögen zuzuordnen, soweit der Gegenstand mindestens 10% (§ 15 Abs. 1 Satz 2 UStG51), aber 46 Zuletzt EuGH v. 22.6.2016 – C-267/15 – Gemeente Woerden, UR 2016, 646 – Rz. 31. 47 EuGH v. 12.2.2009  – C-515/07  – VNLTO, UR 2009, 199  – Rz.  27; EuGH v. 22.6.2016  – C-267/15 – Gemeente Woerden, UR 2016, 646 – Rz. 32. 48 Basierend auf EuGH v. 12.2.2009 – C-515/07 – VNLTO, UR 2009, 199 – Rz. 32 ff. – vgl. Abschn. 2.3 Abs. 1a UStAE und BFH v. 9.10.2010 – V R 17/10, BStBl. II 2012, 53. 49 EuGH v. 16.7.2015 – C-108/14 und C-109/154 – Minerva + Larentia mbH & Co. KG und Marenave Schiffahrts AG, UR 2015, 671 – Rz. 19. 50 EuGH v. 12.2.2009 – C-515/07 – VNLTO, UR 2009, 199 – Rz. 32 ff. 51 Zur Frage der Unionskompatibilität der alleine durch eine Ermächtigung zu rechtfertigenden Einschränkung gem. §  15 Abs.  1 Satz 2 UStG vgl. BFH v. 16.6.2015  – XI R 15/13, ­BStBl. II 2015, 865; EuGH v. 15.9.2016 – C-400/15 – Landkreis Potsdam-Mittelmark, UR 2016, 840 und Nachfolgentscheidung BFH v. 16.11.2016 – XI R 15/13, UR 2017, 150 mit der Einschränkung, dass § 15 Abs. 1 Satz 2 UStG im Jahre 2008 nicht für den Fall gilt, dass die

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höchstens 99,9% unternehmerisch genutzt wird.52 Das Wahlrecht gilt ungeachtet des Grades der unternehmerischen Nutzung zwischen 10% und 99,9%. Der Unternehmer kann den Gegenstand ganz, gar nicht oder zu einem beliebigen Teil dem Unternehmensvermögen zuzuordnen. Der EuGH geht erkennbar von der These aus, dass nur die vollständige Zuordnungsfreiheit des Unternehmers, die eben auch die Zuordnung zum Unternehmensvermögen beinhaltet, die vollständige Entlastung des Steuerpflichtigen durch den Vorsteuerabzug gewährleistet.53 Eine verlässliche Aussage zur Zulässigkeit einer hieraus ableitbaren Asymmetrie zwischen Vorsteuer und (Ausgangs-)Umsatzsteuer kann hieraus aber nicht abgeleitet werden. Zum einen verstößt die sich insoweit ergebende Wahlmöglichkeit – Zuordnung eines gemischt genutzten Gegenstand ganz zum Unternehmensvermögen, obwohl dieser Gegenstand nur ganz geringfügig (§ 15 Abs. 1 Satz 2 UStG: mindestens 10%) unternehmerisch genutzt wird, Zuordnung insgesamt zum Privatvermögen, obwohl der gemischt genutzte Gegenstand ganz überwiegend unternehmerisch genutzt wird  – gegen den Belastungsgrund der Umsatzsteuer.54 Eine Zuordnungswahlfreiheit zugunsten einer Zuordnung des gemischt genutzten Gegenstandes insgesamt zum Privatvermögen lässt die tatsächliche unternehmerische Verwendung außer Acht. Sieht man, wie der EuGH in zahlreichen Entscheidungen immer wieder betont55, das Vorsteuerabzugsrecht als eine der wesentlichen Säulen des Systems der Umsatzsteuer an, die als eine allgemeine Verbrauchsteuer systematisch zu verstehen ist, wird gegen diesen Grundsatz verstoßen, wenn der Unternehmer aufgrund einer bloßen rein subjektiven Wahlrechtsausübung56 die Zuordnung insgesamt zum Privatvermögen vornehmen kann. Die Aussagen des EuGH in der Rechtssache Bakcsi 57 zugunsten eines auch insoweit geltenden schrankenlosen Wahlrechts waren zudem auch erkennbar von dem Bestreben geprägt, in dem konkreten Fall – kein Vorsteuerabzug aus dem Anschaffungsvorgang – eine Doppelbelastung zu vermeiden.58 Nicht zuletzt die völlig verfehlte Entscheidung59 des EuGH in der Rechtssache Seeling60 vererworbenen Gegenstände oder Dienstleistungen zu mehr als 90% für nichtwirtschaftliche Tätigkeiten (also nicht für private Tätigkeiten) genutzt werden. 52 EuGH v. 8.3.2001 – C-415/98 – Bakcsi, UR 2001, 149; EuGH v. 8.5.2003 – C-269/00 – Seeling, UR 2003, 288 m. Anm. Burgmaier; EuGH v. 21.4.2005 – C-25/03 – HE, UR 2005, 324 m. Anm. Widmann; EuGH v. 14.7.2005 – C-434/03 – P. Charles und T.S. Charles-Tijmens, UR 2005, 563 ; EuGH v. 14.9.2006 – C-72/05 – Grundstücksgemeinschaft Jörg und Stefanie Wollny,UR 2006, 638 m. Anm. Widmann, UR 2006, 644 und Stadie, Anm. zu EuGH v. 14.9.2006 – C-72/05 – Hausgemeinschaft Jörg und Stefanie Wollny, UR 2006, 645. 53 Reiß, Vorsteuerabzug, Berichtigung des Vorsteuerabzugs und Besteuerung der Entnahme für „unternehmensfremde Zwecke“ bei „gemischter“ Verwendung von Grundstücken und anderen Gegenständen, UR 2010, 797 (801). 54 Zustimmend Stadie in Rau/Dürrwächter, § 15 UStG Rz. 1243 (Jan. 2017). 55 Vgl. zuletzt EuGH v. 26.4.2017 – C-564/15 – Tibor Farkas, UR 2017, 438 – Rz. 41. 56 Dziadkowski, Zur Zuordnung gemischt genutzter Gegenstände im Umsatzsteuerrecht, StuW 2001, 316 (321). 57 EuGH v. 8.3.2001 – C-415/98 – Bakcsi, UR 2001, 149. 58 Zur Kritik Nieskens in FS Reiß, Wahlrechte in der Umsatzsteuer, S. 45 (57, 62). 59 Zutreffend Stadie in Rau/Dürrwächter, § 15 UStG Rz. 1402 (Febr. 2017). 60 EuGH v. 8.5.2003 – C-269/00 – Wolfgang Seeling, UR 2003, 288 m. Anm. Burgmaier.

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deutlicht die sich aus dem Zuordnungswahlrecht ergebenden systematischen Probleme.61 Ein Unternehmer, der sein hergestelltes oder angeschafftes Gebäude nur ganz geringfügig (in Höhe von 10%) unternehmerisch nutzt, konnte wegen der vom EuGH festgestellten steuerpflichtigen unentgeltlichen Wertabgabe (§ 3 Abs. 9a Nr. 1 UStG) zunächst den vollen Vorsteuerabzug beanspruchen. Die auf die private Nutzung entfallende Besteuerung der unentgeltlichen Wertabgabe berichtigte den zu viel in Anspruch genommenen Vorsteuerbetrag nur ratierlich und bewirkte damit letztlich den Ausgleich. Dem Unternehmer wurden für den mit seiner privaten Nutzung verbundenen Verbrauch ungerechtfertigte Privilegien verschafft, vor allem im Hinblick auf seine Liquidität und auf mögliche Zinsvorteile.62 Zum anderen dient das postulierte Zuordnungswahlrecht gerade deswegen nicht zu einer systematischen Ausrichtung in Bezug auf eine damit ausgelöste und gewollte Asymmetrie von Vorsteuer und (Ausgangs-)Umsatzsteuer, weil das Unionsrecht selbst durch Art. 168a MwStSystRL und ihm folgend der nationale Gesetzgeber durch § 15 Abs. 1b UStG die sich aus dem Zuordnungswahlrecht ergebenden Rechtsfolgen begrenzt. Für den vielleicht wichtigsten Bereich der durch das Zuordnungswahlrecht ausgelösten Rechtsfolgen in Bezug auf eine Asymmetrie zugunsten des Vorsteuerabzugs, nämlich der Zuordnung eines nicht nur unternehmerisch genutzten Gebäudes, sieht das nationale Umsatzsteuerrecht ab 1.1.2011 den Vorsteuerabzug zunächst63 nur für den unternehmerisch genutzten Teil des Gebäudes vor. Damit wird die durch einen (ungerechtfertigten) Vorsteuerabzug ausgelöste Asymmetrie verhindert. 2. Wirtschaftliche und nicht wirtschaftliche Tätigkeit Geradezu gegenläufig zum Zuordnungswahlrecht und den damit ausgelösten Rechtsfolgen einer bewusst in Kauf genommenen Asymmetrie zwischen Vorsteuer und Umsatzsteuer wirkt die durch die Entscheidung in der Rechtssache VNLTO64 ausgelöste neue Sichtweise zur Abgrenzung der wirtschaftlichen von der nichtwirtschaftlichen Tätigkeit. Die Aussagen des EuGH führen zu einer systematischen Korrektur zum Zuordnungswahlrecht vor allem bei Vereinen und hoheitlich tätigen juristischen Personen des öffentlichen Rechts, soweit ihre nicht wirtschaftliche Tätigkeit im Rahmen des Satzungszwecks betroffen ist. Seit VNLTO ist nunmehr zwischen einer einerseits völlig fremden, dem privaten Bedarf dienenden Verwendung der dem Unternehmen zugeordneten Gegenständen und andererseits einer Verwendung für „nicht völlig unternehmensfremde Zwecke“, die dem Satzungszweck und Geschäftsgegenstand einer 61 Vgl. Reiß, Vorsteuerabzug, Berichtigung des Vorsteuerabzugs und Besteuerung der Entnahme für „unternehmensfremde Zwecke“ bei „gemischter“ Verwendung von Grundstücken und anderen Gegenständen, UR 2010, 797 (801 f.). 62 Nochmals bestätigt durch EuGH v. 23.4.2009 – C-460/07 – Sandra Puffer, UR 2009, 410 m. Anm. Widmann; wie hier Reiß, Vorsteuerabzug, Berichtigung des Vorsteuerabzugs und Besteuerung der Entnahme für „unternehmensfremde Zwecke“ bei „gemischter“ Verwendung von Grundstücken und anderen Gegenständen, UR 2010, 797 (799, 800). 63 Zur möglichen Vorsteuerberichtigung vgl. § 15 Abs. 6a und Abs. 8 Satz 2 UStG. 64 EuGH v. 12.2.2009 – C-515/07 – Vereniging Noordelijke Land- en Tuinbouw Organisatie (VNLTO), UR 2009, 199.

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Vereinigung entsprechen, aber nicht deren wirtschaftlichen Tätigkeit dienen, zu unterscheiden.65 Nur bei einer nicht wirtschaftlichen, dem privaten Bedarf dienenden Verwendung bleibt das Zuordnungswahlrecht erhalten, ermöglicht es den vollumfänglichen Vorsteuerabzug, der damit nach wie vor eine Asymmetrie zur Umsatzsteuer auslösen kann. Anders dagegen im Bereich der nichtwirtschaftlichen aber noch innerhalb der nach Satzung, Gesellschaftsvertrag, gesetzlicher Aufgabenzuweisung oder auch nur nach dem tatsächlichen Aufgabenkreis liegenden Verwendung. In diesem Falle ist die Eingangsleistung zwingend (bereits innerhalb des § 15 Abs. 1 UStG) aufzuteilen, der Vorsteuerabzug nur in Bezug auf die unternehmerische Verwendung zu gewähren. Eine Asymmetrie zur Umsatzsteuer wird damit weitgehend ausgeschlossen.66 Ungeachtet der systematischen Streitfrage, ob der EuGH mit seiner Entscheidung VNLTO das Zuordnungswahlrecht67 oder aber nur schlicht das Vorsteuerabzugsrecht beschränken wollte68, führt letztlich die Unterscheidung des nichtwirtschaftlichen Bereichs in einen privaten und einen den Unternehmenszweck noch betreffenden Tätigkeitsbereich zu einer Begrenzung des durch das Zuordnungswahlrecht ausgelösten vollen Vorsteuerabzugs und des damit verbundenen Subventionseffekts im Sinne einer bewussten Asymmetrie. Gleichzeitig verdeutlichen die Aussagen des EuGH in der Rechtssache VNLTO, dass aus dem Zuordnungswahlrecht allgemeine systematische Ableitungen zugunsten einer unionsrechtlich nicht gewollten Asymmetrie von Vorsteuerabzug und Umsatzsteuer nicht hergeleitet werden können.69 Dies gilt umso mehr, als eben jener EuGH keinerlei Bedenken hatte, dem sog. erfolglosen Unternehmer den Vorsteuerabzug zu gewähren, obwohl überhaupt keine wirtschaftliche Tätigkeit vorliegt. Gestützt alleine auf den Grundsatz der Neutralität sieht er keinen Unterschied zwischen Steuerpflichtigen mit steuerbaren Umsätzen und solchen, die durch Investitionen versuchen, wirtschaftliche Tätigkeiten aufzunehmen, die zu steuerbaren Umsätzen führen sollen.70 Ist aber schon das „Ob“ der wirtschaftlichen Tätigkeit kein geeigneter systematischer Entscheidungsparameter für oder ge-

65 Zur Kritik vgl. Reiß, Vorsteuerabzug, Berichtigung des Vorsteuerabzugs und Besteuerung der Entnahme für „unternehmensfremde Zwecke“ bei „gemischter“ Verwendung von Grundstücken und anderen Gegenständen, UR 2010, 797 (807 ff.). 66 BFH v. 12.1.2011 – XI R 9/08, UR 2011, 357; BFH v. 12.1.2011 – XI R 10/08, BFH/NV 2011, 860; BFH v. 13.1.2011 – V R 12/08, UR 2011, 295; BFH v. 3.3.2011 – V R 23/10, UR 2011, 617; BFH v. 10.11.2011 – V R 41/10, UR 2012, 272; BFH v. 9.2.2012 – V R 40/10, BStBl. II 2012, 844 = UR 2012, 394. 67 BFH v. 12.1.2011 – XI R 9/08, UR 2011, 357; BFH v. 3.3.2011 – V R 23/10, UR 2011, 617; Reiß, Vorsteuerabzug, Berichtigung des Vorsteuerabzugs und Besteuerung der Entnahme für „unternehmensfremde Zwecke“ bei „gemischter“ Verwendung von Grundstücken und anderen Gegenständen, UR 2010, 797 (806). 68 Stadie in Rau/Dürrwächter, § 15 UStG Rz. 670 (Febr. 2017). 69 Vgl. insoweit auch EuGH v. 16.2.2012 – C-118/11 – Eon Aset Menidjmunt, UR 2012, 230 und BFH v. 14.10.2015 – V R 10/14, UR 2016, 35: Das Zuordnungswahlrecht gilt nur für die Herstellung und Anschaffung von Gegenständen, nicht aber für den Bezug von sonstigen Leistungen. 70 EuGH v. 19.2.1996 – C-110/94 – INZO, UR 1996, 116 – Rz. 22.

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gen eine Asymmetrie von Vorsteuer und Umsatzsteuer, dann erst Recht nicht der jeweilige Grad der wirtschaftlichen Tätigkeit. Auch die Ausführungen des EuGH in der Rechtssache Gemeente Borselen71 führen zu keinem anderen Ansatz. Zwar geht der EuGH im Ansatz davon aus, die Asymmetrie zwischen Betriebskosten und den als Gegenleistung für die angebotene Dienstleistung erhaltenen Beträge „deute darauf hin“72, dass die Zahlungen der Nutzer kein Leistungsentgelt darstellen und somit eine wirtschaftliche Tätigkeit ausscheide. Es bleibt aber für den EuGH zunächst bei dem Grundsatz, dass alleine die Asymmetrie noch nicht die wirtschaftliche Tätigkeit und damit den Vorsteuerabzug ausschließe.73 Selbst der Umstand, dass durch die Höhe des Entgelts ein Steuerungsinstrument ausgenutzt würde (im vorliegenden Fall die gleichmäßige Hallenbelegung, ist unbeachtlich.74 Hinzukommen müssen vielmehr allgemeine Feststellungen zur Nachhaltigkeit der Tätigkeit, wie etwa, ob die Leistung am allgemeinen Markt angeboten wird, ob das Entgelt marktüblich ist und von der tatsächlichen Nutzungsinanspruchnahme abhängt75 oder ob das Entgelt von jedem Nutzer geschuldet wird.76 Der Weg über eine generelle Versagung der wirtschaftlichen Tätigkeit und damit des Vorsteuerabzugs alleine wegen einer tatsächlichen Asymmetrie zwischen Eingangs- und Ausgangsumsätzen scheidet daher aus. 3. Mangelnde Kohärenz zwischen Eingangs- und Ausgangsumsatz Trotz der Beschränkung des Vorsteuerabzugs auf die Verwendung der Eingangsleistung für den Bereich der wirtschaftlichen und nichtwirtschaftlichen, aber privaten Tätigkeit (so die Zuordnung zum Unternehmen gewählt wurde), sieht der EuGH stets das Vorsteuerabzugsrecht als den Fundamentalgrundsatz des Mehrwertsteuersystems an. Die völlige Neutralität hinsichtlich der steuerlichen Belastung auf der unternehmerischen Ebene soll für alle Tätigkeiten gewährleistet werden, unabhängig von Zweck oder Ergebnis, sofern diese Tätigkeiten nur der Mehrwertsteuer unterliegen. In der Rechtssache Gemeente Woerden77 konkretisiert der EuGH diese allgemeinen Aussagen für den Fall eines mit Vorsteuerabzug hergestellten Gebäudes, den eine Gemeinde an eine Stiftung (an der sie leitungsmäßig beteiligt war) zu einem stark verbilligten Preis weiterlieferte. Die Stiftung ihrerseits überließ einen Teil des erworbenen Gebäudes an Einrichtungen für Grundschulunterricht zur unentgeltlichen Nutzung. Der verbleibende Teil wurde steuerfrei vermietet. Für den EuGH war unstreitig, dass die Gemeinde bei Herstellung und Weiterlieferung unternehmerisch  – und damit wirtschaftlich – tätig war. Die Asymmetrie wurde infolge der steuerpflichtigen Lieferung seitens der Gemeinde trotz steuerfreier oder nicht wirtschaftlicher Tätigkeit (unentgeltliche Überlassung) seitens der Stiftung ausgelöst. Bei einer Gestaltung in 71 EuGH v. 12.5.2016 – C-520/14 – Gemeente Borsele, UR 2016, 520. 72 EuGH v. 12.5.2016 – C-520/14 – Gemeente Borsele, UR 2016, 520 – Rz. 33. 73 EuGH v. 12.5.2016 – C-520/14 – Gemeente Borsele, UR 2016, 520 – Rz. 26. 74 BFH v. 28.6.2017 – XI R 12/15, UR 2017, 758 m. Anm. Sterzinger und Rust – Rz. 42. 75 BFH v. 28.6.2017 – XI R 12/15, UR 2017, 758 m. Anm. Sterzinger und Rust – Rz. 53. 76 EuGH v. 12.5.2016 – C-520/14 – Gemeente Borsele, UR 2016, 520 – Rz. 33. 77 EuGH v. 22.6.2016 – C-267/15 – Gemeente Woerden, UR 2016, 646 – Rz. 36 ff.

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Form der Nutzungsüberlassung anstatt einer steuerpflichtigen Lieferung wäre der Vorsteuerabzug ausgeschlossen gewesen. Der EuGH will das Recht auf Vorsteuerabzug bei der Gemeinde aber nicht von einer Nutzung des Gebäudes durch die Person, die es von der Gemeinde geliefert erhält, der Stiftung, abhängig machen. Jede andere Bewertung hätte zur Konsequenz, dass der Vorsteuerabzug von einem späteren Handeln des Erwerbers oder Leistungsempfängers abhängen könnte. Auch die Lieferung deutlich unter marktüblichen Preis ist für den EuGH unerheblich, da alleine entscheidend sei, dass überhaupt eine wirtschaftliche Tätigkeit vorliege. Das erzielte Ergebnis sei für das Vorsteuerabzugsrecht unerheblich.78 Der EuGH hat die sich aus der Gestaltung resultierende Asymmetrie zwischen Vorsteuer und Umsatzsteuer ausdrücklich aus dem System begründet und damit seine Rechtsprechung in der Rechtssache Minerva und Larentia bestätigt.79 Soweit eine Holding nicht bloß die Beteiligung erworben hat und hält, sondern darüber hinaus eine wirtschaftliche Tätigkeit infolge eines mittelbaren oder unmittelbaren Eingriffs in die Verwaltung der erworbenen Gesellschaft begründet, führt diese wirtschaftliche Tätigkeit alleine zum vollumfänglichen Vorsteuerabzug aus den Eingangsleistungen anlässlich des Beteiligungserwerbs. Ohne die Höhe der Eingangsleistungen, ein mögliches Missverhältnisses zwischen Eingangs- und Ausgangsleistungen oder eine eventuell gesellschaftsrechtlich begründete Zuordnung der Eingangsleistung zu hinterfragen, war für den EuGH alleine entscheidend, ob eine wirtschaftliche Tätigkeit vorliegt, für die die Eingangsleistung insoweit verwendet wurde. Eine Asymmetrie zwischen Vorsteuer und Umsatzsteuer wurde nicht problematisiert und bewusst in Kauf genommen. Eine irgendwie geartete Kohärenz zwischen Eingangs- und Ausgangsleistung wird vom EuGH nicht verlangt. 4. Zwischenergebnis Die vom EuGH interpretierten unionsrechtlichen Grundsätze lassen dem Grunde nach eine strikte Trennung zwischen Eingangs- und Ausgangsseite erkennen. Voraussetzung für den Vorsteuerabzug ist eine wirtschaftliche Tätigkeit, der der Eingangsumsatz zugeordnet werden muss. Liegt eine solche Zuordnung vor, ist eine Asymmetrie grundsätzlich unbeachtlich. Auch die durch den Leistungsempfänger ausgelöste Tätigkeit infolge des an ihn bewirkten Umsatzes ist unbeachtlich. Allerdings gelten diese Grundsätze nicht schrankenlos. Lassen sich nicht gewollte Auswüchse, wie beim Zuordnungswahlrecht erkennen, erfolgt eine Einschränkung, um das wirtschaftlich ungewollte Ergebnis – der durch den vollen Vorsteuerabzug ausgelöste Subventionseffekt80 – zu verhindern. Eine generelle Schranke bildet die Teilnahme an einer Steuerhinterziehung oder einem Steuermissbrauch. Bei Überschreiten dieser Grenze wer78 EuGH v. 22.6.2016 – C-267/15 – Gemeente Woerden, UR 2016, 646 – Rz. 36, 37 und 40. 79 EuGH v. 16.7.2015 – C-108/14 und C-109/154 – Minerva + Larentia mbH & Co. KG und Marenave Schiffahrts AG, UR 2015, 671. 80 Zum Begriff Stadie in Rau/Dürrwächter, § 15 UStG Rz. 669 (Febr. 2017).

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den sämtliche durch das Unionsrecht gewährten Vergünstigungen wie Vorsteuerabzug oder Steuerbefreiung versagt. Zusammengefasst gilt daher: ȤȤ Zumindest ein Steuerpflichtiger, der als Verein oder nicht natürlicher Rechtsträger eine Tätigkeit im Rahmen des Satzungszwecks ausführt, kann über die Ausübung des sog. Zuordnungswahlrechts bewusst eine Asymmetrie zwischen Vorsteuer und Umsatz auslösen. Alleine die ab 1.1.2011 geltenden Beschränkungen in Art. 168a MwStSystRL und § 15 Abs. 1b UStG verhindern kraft Gesetzes eine Asymmetrie in dem wohl fiskalisch bedeutsamsten Bereich der Zuordnung, nämlich der Zuordnung eines überwiegend nichtunternehmerisch genutzten und dem Unternehmensvermögen zugeordneten Grundstücks. ȤȤ Unbeachtlich für eine Asymmetrie ist die Verwendung der ausgeführten Leistung durch den Leistungsempfänger in Bezug auf den Vorsteuerabzug des Leistenden. ȤȤ Zwar begrenzt eine nicht wirtschaftliche, gleichwohl aber noch im Rahmen des Satzungs- oder Gesellschaftszwecks liegende Tätigkeit eines Vereins oder eines anderen nicht natürlichen Rechtsträgers den Vorsteuerabzug und verhindert damit eine Asymmetrie. Ansonsten ist aber weder das Ob noch der Umfang einer wirtschaftlichen Tätigkeit Ansatzpunkt für ein systematisches Eingreifen zur Behebung möglicher Asymmetrien zwischen Vorsteuer und Umsatzsteuer. ȤȤ Der Grundsatz der Neutralität führt zu einer Trennung von Eingangs- und Ausgangsseite. Erforderlich ist alleine eine Verwendung der Eingangsleistung für eine anschließende wirtschaftliche Tätigkeit, die der Umsatzsteuer unterliegt. Damit beantwortet sich die zu Fallvarianten sieben bis neun gestellte Frage nach einer zulässigen oder systematisch zu bereinigenden Asymmetrie zwischen Vorsteuer und Umsatzsteuer unter Beachtung der zuvor genannten Grundsätze wie folgt: a) Fallvariante 7 Auch soweit der Unternehmer neben seinem wirtschaftlichen noch einen nichtwirtschaftlichen, privaten Tätigkeitsbereich hat und die Nutzung des angeschafften Investitionsguts auch der privaten Lebensführung zugeordnet werden kann (Luxus-Pkw zur Befriedigung auch privater Freuden), liegt eine Verwendung der Eingangsleistung insoweit für die wirtschaftliche Tätigkeit vor. Eine Asymmetrie ist unbeachtlich.81 b) Fallvariante 8 Eine Holding, die durch Eingriff in ihre Beteiligungsgesellschaft unternehmerisch tätig ist, kann insoweit den Vorsteuerabzug aus sämtlichen Eingangsleistungen anlässlich des Beteiligungserwerbs beanspruchen. Eine ausgelöste Asymmetrie ist die logische, aber systematisch zulässige Konsequenz. 81 EuGH v. 16.7.2015 – C-108/14 und C-109/154 – Minerva + Larentia mbH & Co. KG und Marenave Schiffahrts AG, UR 2015, 671 – Rz. 25; bestätigt durch BFH v. 19.1.2016 – XI R 38/12, UR 2016, 312 – Rz. 43; BFH v. 1.6.2016 – XI R 17/11, UR 2016, 673 – Rz. 33.

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c) Fallvariante 9 Da weder die zukünftige Verwendung der erworbenen Leistung durch den Leistungsempfänger noch die Leistung selbst, deutlich unter Marktpreis, entscheidend für den Vorsteuerabzug des Leistenden sind, ist auch hier eine gestalterisch bewusst gewollte Asymmetrie systematisch nicht zu korrigieren.

V. Interpretationsvorgaben BFH, V. Senat Vor allem die Aussagen des EuGH zur gesonderten Bewertung eines jeden Umsatzes unabhängig von der auf frühere oder spätere Umsätze geschuldeten Umsatzsteuer82 und der Unerheblichkeit einer Leistung zu einem nicht kostendeckenden Preis83 begründen im Kern nichts anderes als eine bewusste systematische Inkaufnahme einer möglichen Asymmetrie zwischen der auf den Eingangsumsätzen lastenden und abziehbaren Vorsteuer und der auf den Ausgangsumsätzen lastenden Umsatzsteuer. Trotz dieser klaren unionsrechtlichen Vorgaben und den sich hieraus ableitbaren Ergebnissen des Vorsteuerabzugs sog. Führungsholdings, so sie nur unmittelbar oder mittelbar in die Verwaltung ihrer Beteiligung eingreifen, sieht der BFH, V. Senat, offenbar dennoch eine systematische Möglichkeit, um unliebsame Diskrepanzen zwischen Vorsteuer und Umsatzsteuer ausschließen zu können.84 Demgegenüber gewährt der XI. Senat stets den vollen Vorsteuerabzug, solange nur die Führungsholding keine anderen Beteiligungen hält, in deren Verwaltung sie nicht entgeltlich eingreift.85 1. Grundsätze der Entscheidung BFH, V R 6/14 Der BFH, V. Senat86, bemüht offenkundig eine Erforderlichkeitsprüfung, um eine mögliche Asymmetrie zwischen Vorsteuer und Umsatzsteuer ausschließen zu können. Er will zum einen das eingeworbene Kapital ins Verhältnis zum Stammkapital der erworbenen Beteiligung setzen, um bei einem auffallenden Missverhältnis den Vorsteuerabzug aus den Transaktionskosten zu begrenzen. Im entschiedenen Fall diente die Einwerbung des Kapitals und die dadurch ausgelösten Vorsteuerbeträge zu einer Erhöhung des Kommanditkapitals auf insgesamt 7,8 Mio. Euro, während das Stammkapital der erworbenen Beteiligung, in deren Verwaltung die Holding entgeltlich eingriff, nur 10.000 USD umfasste. Der BFH sah den direkten und unmittelbaren Zusammenhang zwischen Eingangs- und Ausgangsumsatz nicht als gegeben an, „weil es des eingeworbenen Kapitals jedenfalls nicht in dieser Größenordnung bedurfte.“87 Weiterhin sah es der BFH als möglich an, dass ein Missverhältnis zwischen dem Ent82 EuGH v. 22.6.2016 – C-267/15 – Gemeente Woerden, UR 2016, 646 – Rz. 33. 83 EuGH v. 22.6.2016 – C-267/15 – Gemeente Woerden, UR 2016, 646 – Rz. 40. 84 BFH v. 6.4.2016 – V R 6/14, UR 2016, 770. 85 BFH v. 19.1.2016 – XI R 38/12, UR 2016, 312 – Rz. 43; BFH v. 1.6.2016 – XI R 17/11, UR 2016, 673 – Rz. 33. 86 BFH v. 6.4.2016 – V R 6/14, UR 2016, 770. 87 BFH v. 6.4.2016 – V R 6/14, UR 2016, 770 – Rz. 34.

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gelt für die Leistung der Holding gegenüber ihrer Tochter und den vorsteuerbelasteten Kosten „der wirtschaftlichen Tätigkeit … gegenüber ihrer nichtwirtschaftlichen Tätigkeit eine nur untergeordnete Bedeutung zukommen lasse.88 Im entschiedenen Fall versagte der BFH den Vorsteuerabzug, weil die vorsteuerbelasteten Aufwendungen im Verhältnis zum tatsächlichen Leistungsentgelt aus dem Eingriff der Holding in die Verwaltung der Tochter 40-fach höher waren. Schließlich lässt der BFH es ausdrücklich offen, ob nicht generell die Höhe des Vorsteuerabzugs auf die Höhe der Umsatzsteuer auf die zuzuordnenden Ausgangsumsätze – im Sinne einer Obergrenze – zu beschränken sei. 2. Rechtsfolgen Die Aussagen des BFH, V. Senat, sind zunächst – auch und gerade im Angesicht der EuGH-Holding-Rechtsprechung – zu beschränken auf den Vorsteuerabzug bei Holdinggesellschaften. Gerade in diesem wirtschaftlichen Segment führen die durch einen Beteiligungserwerb ausgelösten Transaktionskosten zu teilweise sehr hohen Vorsteuerabzügen, die durch die  – häufig nur gestalterisch, aber nicht wirtschaftlich vernünftigen – Leistungsbeziehungen zur Beteiligungsgesellschaft veranlasst werden. Trotzdem führen die Aussagen in ihrer Allgemeinheit zu einer bisher im nationalen Recht nicht anzutreffenden Begrenzung des Vorsteuerabzugs. Der Grund hierfür liegt denn auch weniger in systematischen, als vielmehr in rein fiskalisch motivierten Zwangsläufigkeiten. Bezogen auf die Ausgangsfallvarianten drei, fünf und sieben könnte die neue Sichtweise des BFH zunächst erhebliche Auswirkungen für den Vorsteuerabzug haben. In allen drei Fallvarianten müsste eigentlich der Vorsteuerabzug begrenzt werden auf die Höhe der Umsatzsteuer (Variante drei und sieben) bzw. ganz ausgeschlossen werden (Variante fünf) aus den Ausgangsumsätzen. Der BFH schließt sich insoweit aber der bisherigen Sichtweise an, als er seine Idee von einer Obergrenze ausdrücklich nicht auf Vorsteuerabzugsbeträge ausdehnen will, die durch Investitions- oder Fehlmaßnahmen ausgelöst werden.89 Anders dagegen in den Fallvarianten vier, acht und neun. Hier würde die neue Sichtweise voll durchschlagen und zu einer Vorsteuerabzugsbegrenzung führen. Die Asymmetrie wäre insoweit behebbar. Soweit eine Einbindung des Steuerpflichtigen in einen Umsatzsteuermissbrauch oder eine Umsatzsteuerhinterziehung vorliegt, gibt es keine Unterschiede zum unionsrechtlichen Ansatz des EuGH (Fallvariante sechs). Der Exportunternehmer (Fallvariante zwei) ebenso wie der wirtschaftlich nicht erfolgreiche Unternehmer (Fallvariante eins) dürfte ebenfalls seinen asymmetrischen Vorsteuerabzug behalten.

VI. Lösungsansätze und Bewertung Angesichts der zuvor beschriebenen Vorgaben des EuGH in Umsetzung der unionsrechtlichen Regelungen bleibt die Frage nach möglichen Begrenzungs-Instrumenta­ 88 BFH v. 6.4.2016 – V R 6/14, UR 2016, 770 – Rz. 40. 89 BFH v. 6.4.2016 – V R 6/14, UR 2016, 770 – Rz. 40.

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rien, sei es national-, sei es unionsrechtlich. Fest scheint indes alleine zu stehen, dass es einen zwingenden unionsrechtlichen und nationalen Ansatz zum systematischen Eingriff in eine bewusst oder unbewusst herbeigeführte Asymmetrie zwischen Vorsteuer und Umsatzsteuer nicht gibt. 1. Mindestbemessungsgrundlage Ein Instrument, das zumindest unionsrechtlich optional von den Mitgliedstaaten gewählt werden kann, ist die Anwendungsoption gem. Art 80 MwStSystRL. Wählt ein Mitgliedstaat diese Option, kann der volle Vorsteuerabzug begrenzt werden, wenn die Gegenleistung niedriger als der sog. Normalwert ist. Der Normalwert iSd Art 72 MwStSystRL entspricht grundsätzlich dem marktüblichen Entgelt.90 Der deutsche Gesetzgeber stützt seine Regelung in § 10 Abs. 5 UStG alleine auf Art. 395 MwStSyst­ RL91 und ermöglicht mit dem Ansatz der Mindest-Bemessungsgrundlage unter den Vorgaben des § 10 Abs. 5 Nr. 1 und Nr. 2 UStG ein Regulativ bei zu niedrigem Leistungsentgelt. Hierdurch wird zwar nicht auf den Vorsteuerabzug zugegriffen, weder auf das „Ob“ noch auf die Höhe. Allerdings kann die Asymmetrie weitestgehend durch den Ansatz der Bemessungsgrundlage vermieden werden. Erforderlich ist nach deutschem Recht aber stets ein Naheverhältnis wie in § 10 Abs. 5 Nr. 1 und Nr. 2 UStG gefordert. Außerhalb eines solchen Naheverhältnisses verbietet sich der regulative Ansatz des § 10 Abs. 5 UStG. Jedenfalls verbietet sich, entweder über eine Ausdehnung des Begriffs „nahestehende Person“ (Nutzer kommunaler Einrichtungen sind keine nahestehende Personen der Einrichtung92) oder aber durch eine analoge Anwendung von § 10 Abs. 5 UStG auf Fälle nicht kostendeckender Leistungsabgaben (eine Gemeinde vermietet eine Sporthalle gegen zu geringes Entgelt an die Nutzer93) die Asymmetrie aufzubrechen. 2. Umdeutung eines geringen Entgelts in eine unentgeltliche Wertabgabe Die Umdeutung eines geringen Leistungsentgelts in eine unentgeltliche Wertabgabe auch außerhalb des Anwendungsbereichs des § 10 Abs. 5 UStG verbietet sich wegen der grundsätzlichen Unabhängigkeit von Eingangs- und Ausgangsumsatz. Soweit der EuGH dies für den Fall eines nur symbolischen Entgelts anders sehen will94, bliebe abzuwarten, wann konkret ein nur symbolisches Entgelt gegeben ist. Schon wegen der mangelnden Praktikabilität der Abgrenzung sollte sich die Umsatzsteuer weitge90 EuGH v. 29.5.1997 – C-63/96 – Skripalle, BStBl. II 1997, 841 = UR 1997, 301 m. Anm. Widmann; vgl. auch BFH v. 8.10.1997 – XI R 8/86, BStBl. II 1997, 840 = UR 1998, 147. 91 Zum Verhältnis Art.  395 und 80 MwStSystRL vgl. Wagner in Sölch/Ringleb, §  10 UStG Rz.  471: Der Anwendungsbereich des §  10 Abs.  5 UStG kann auch nach Einfügung des Art. 80 MwStSystRL weiterhin auf Art. 395 MwStSystRL gestützt werden, ist nicht richtlinienkonform auslegbar, muss aber die allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts bei der Bestimmung des Anwendungsbereichs des Art. 80 MwStSystRL heranziehen; vgl. hierzu auch Slapio, Anwendungsbereich der Mindestbemessungslage, UR 2012, 429 (433 f.). 92 BFH v. 28.6.2017 – XI R 12/15, UR 2017, 758 m. Anm. Sterzinger und Rust – Rz. 69. 93 BFH v. 28.6.2017 – XI R 12/15, UR 2017, 758 m. Anm. Sterzinger und Rust – Rz. 74. 94 EuGH v. 20.1.2005 – C-412/03 – Hotel Scandic Gasabäck, UR 2005, 98 – Rz. 25 ff.

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hend von solchen Ansätzen frei machen. Jedes Entgelt kann seine wirtschaftliche Bedeutung haben, auch ein Entgelt von nur einem Euro. Will beispielsweise durch ein solches Entgelt der Unternehmer einen Kaufanreiz für seine anderen Produkte setzen (Handyvertrag für drei Jahre und Abgabe eines Handys für einen Euro), wird deutlich, dass jede Bewertungseinmischung der Verwaltung und Rechtsprechung in die Entgeltsfähigkeit des gezahlten Preises dem Charakter der Umsatzsteuer zuwider läuft.95 3. Missbrauch von rechtlichen Gestaltungsmöglichkeiten § 42 AO stellt den Rechtsgrundsatz auf, dass durch Missbrauch der Gestaltungsmöglichkeiten des Rechts ein Steuergesetz nicht umgangen werden kann. Die Regelung des § 42 AO stellt eine gesetzliche Normierung eines unionsrechtlichen Grundsatzes dar96, den der EuGH in einer Vielzahl von Entscheidungen zur Eindämmung des Umsatzsteuermissbrauchs bemüht hat.97 Damit ist das Unionsrecht dahin auszulegen98, dass es dem Recht des Steuerpflichtigen auf Vorsteuerabzug nur dann entgegensteht, wenn die Umsätze, die dieses Recht begründen, eine „missbräuchliche Praxis“ darstellen.99 § 42 AO eignet sich damit zwar grundsätzlich zur Beseitigung einer Asymmetrie zwischen Vorsteuer und Umsatzsteuer. Allerdings eröffnet § 42 AO nicht eine generelle nicht gewünschte Asymmetrie. Erforderlich ist vielmehr stets eine Beteiligung zumindest in Form des „Wissen müssen“, um eine Begrenzung des Vorsteuerabzugs auslösen zu können. Gemeint sind daher ausschließlich Sachverhalte der Fallvariante sechs. Die übrigen Fallvarianten, insbesondere die Fallvarianten vier, fünf und sieben bis neun lassen sich damit nicht erfassen. Es ist in diesem Zusammenhang darauf hinzuweisen, dass der EuGH aber gerade dann einen Gestaltungsmissbrauch verneint, wenn der Steuerpflichtige durch Gestaltungen Liquiditätsvorteile ziehen will100 oder von in der Union unterschiedlichen Steuersätzen profitieren will.101 Schließlich ist nochmals daran zu erinnern, dass der EuGH in der Rechtssache Gemeente Woer-

95 Im Ergebnis wohl ebenso Feil in Weymüller (2015), § 10 UStG Rz. 53.8. 96 BFH v. 9.11.2006 – V R 43/04, BStBl. II 2007, 344 = UR 2007, 111; Lippross, Umsatzsteuer, 24. Aufl. 2017, S. 104 – 2.2.2.5b. 97 A.A.Wäger, Anm. zu EuGH v. 21.2.2006 – C-255/02 – Halifax plc. Pp., UR 2006, 240 (242): Das Urteil des EuGH dürfte schließlich die Anwendung des § 42 AO im Bereich des Umsatzsteuerrechts beenden. 98 EuGH v. 21.2.2006 – C-255/02 – Halifax plc. Pp., UR 2006, 232 – Rz. 61 ff., 86; EuGH v. 18.12.2014 – C-131/13, C-163/13 und C-164/13 – Schoenimport „Italmoda“ Mariano Previti vof, Turbu.com BV und Turbo.com Mobile Phone´s BV, UR 2015, 106 – Rz. 50; EuGH v. 6.7.2006  – C-439/04 und C-440/04  – Kittel und Recolta Recycling, UR 2006, 594  – Rz. 45, 46, 56 und 60; EuGH v. 6.12.2012 – C-285/11 – Bonik, UR 2013, 195 – Rz. 38 – 40; vgl. auch Wäger, Der Kampf gegen die Steuerhinterziehung, UR 2015, 81 (89 ff.). 99 BFH v. 9.11.2006 – V R 43/04, BStBl. II 2007, 344 = UR 2077, 111. 100 EuGH v. 22.12.2010 – C-103/09 – Weald Leasing Ltd., UR 2011, 705. 101 EuGHG v. 17.12.2015 – C-419/14 – WebMindLicenses Kft., UR 2016, 58.

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den ausdrücklich festgestellt hat, dass jeder Umsatz unabhängig von der auf frühere oder spätere Umsätze geschuldeten Umsatzsteuer gesondert zu bewerten ist.102 Zusammengefasst eignet sich damit der allgemeine Missbrauchstatbestand des § 42 AO gerade nicht dazu, eine bestehende Asymmetrie zwischen Vorsteuer und Umsatzsteuer – mit Ausnahme vorliegender Fälle einer Missbrauchsbeteiligung – in anderen als den in Fallvariante sechs genannten Sachverhalten zu beseitigen. 4. Angemessenheitsprüfung als teleologische Lückenausfüllung Die vom BFH, V. Senat aufgestellten Grundsätze zur Behebung einer systematisch nicht gewollten Asymmetrie zwischen Vorsteuer und Umsatzsteuer im Zusammenhang mit Transaktionskosten sog. Führungsholdings103 betreffen eine Angemessenheitsprüfung im Hinblick auf den Umfang der bezogenen Eingangsleistungen. Nur wenn diese für den BFH in einem angemessenen Verhältnis zu den Ausgangsumsätzen stehen, will der BFH insoweit den Vorsteuerabzug gewähren. Letztlich läuft diese Bewertung auf eine Obergrenze der Ausgangsumsatzsteuer für den Vorsteuerabzug hinaus. Der Übertragung dieser Aussagen auf alle Fälle einer Asymmetrie zwischen Vorsteuer und Umsatzsteuer steht zum einen der Wortlaut der nationalen Vorschriften entgegen. § 15 UStG stellt eine Verknüpfung zwischen Eingangs- und Ausgangsumsatz lediglich insoweit her, als dass grundsätzlich nur die Verwendung der Eingangs­leistungen für steuerpflichtige Ausgangsumsätze den Vorsteuerabzug gewährleisten können. Eine weitergehende Verknüpfung ist § 15 UStG nicht zu entnehmen. Art. 168 MwStSystRL bestätigt diese Sichtweise, da unionsrechtlich der Vorsteuerabzug die Verwendung für besteuerte Umsätze voraussetzt. Lediglich in den Fällen des § 15 Abs. 1a UStG findet eine Korrektur einer etwaigen überschießenden Begünstigungswirkung in Folge des Vorsteuerabzugs statt. Betroffen sind aber nur bestimmte, die Lebensführung betreffende sog. Repräsentationsaufwendungen gem. § 4 Abs. 5 Nr. 1–4 und 7 und § 12 Nr. 1 EStG.104 Zum anderen verbietet sich aber auch eine teleologische Reduktion. Zwar mag es sich bei der festgestellten Asymmetrie zumindest in den Fallvarianten sieben bis neun um eine verdeckte, nachträgliche Lücke des Gesetzes in § 15 UStG handeln. Auch kann unter Berufung auf die Methodenlehre von Larenz105 diese Lücke aus dem Sinn und Zweck, dem Telos des vom EuGH ausgelegten oder fortgebildeten Unionsrechts, allen voran der MwStSystRL, geschlossen werden.106 Eine teleologische Reduktion zur Begrenzung einer Asymmetrie zwischen Vorsteuer und Umsatzsteuer verbietet sich aber alleine deswegen, weil es zum einen keine im Sinne einer Asymmetriebegrenzung einschränkende (neuere) EuGH-Rechtsprechung gibt und zum anderen der 102 EuGH v. 22.6.2016 – C-267/15 – Gemeente Woerden, UR 2016, 646 – Rz. 33. 103 BFH v. 6.4.2016 – V R 6/14, UR 2016, 770 – Rz. 40. 104 Ablehnend Stadie in Rau/Dürrwächter, § 2 UStG Rz. 488 ff. (Juli 2014). 105 Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, S. 366 ff. 106 Vgl. hierzu Heuermann, Mit Italmoda auf den Schultern von Larenz, DStR 2015, 1416.

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EuGH genau das Gegenteil judiziert. Nicht anders sind seine Aussagen in der – nach der Entscheidung des BFH, V. Senats – ergangenen Rechtssache Gemeente Woerden zu verstehen: „In Bezug auf die Mehrwertsteuer (ist) jeder Umsatz unabhängig von der auf frühere oder spätere Umsätze geschuldeten Mehrwertsteuer gesondert zu bewerten“. 107 Wird ein Gegenstand „zu einem nicht kostendeckenden Preis geliefert, ist … das mit einer wirtschaftlichen Tätigkeit erzielte Ergebnis im Hinblick auf das Abzugsrecht unerheblich …, solange die Tätigkeit selbst der Mehrwertsteuer unterliegt.“108 Damit verbietet sich ein Rückgriff auf das Unionsrecht in der Interpretation des EuGH, um im Wege der teleologischen Reduktion den Wortlaut des § 15 UStG im Sinne einer Begrenzung des Vorsteuerabzugsrechts wegen einer verdeckten, nachträglichen Lücke zu ergänzen. 5. Liebhaberei Sind die vorsteuerbelasteten Ausgaben regelmäßig höher als die durch die wirtschaftliche Tätigkeit ausgelösten umsatzsteuerpflichtigen Einnahmen, könnte die sich hieraus ergebende Asymmetrie dadurch begrenzt werden, dass wegen einer angenommenen Liebhaberei der Tätigkeit das Attribut einer „wirtschaftlichen“ Tätigkeit abgesprochen wird. So sehr der Ansatz einer Asymmetriebegrenzung auch nachvollziehbar ist109, so wenig lässt weder das nationale, noch das Unionsrecht eine Berücksichtigung des als Liebhaberei bekannten Instituts systematisch zu. Liebhaberei ist eine Tätigkeit, bei der zwischen den aus dieser Tätigkeit resultierenden Einnahmen und den damit zusammenhängenden Ausgaben ein so krasses Missverhältnis besteht, dass von einer ertragsorientierten wirtschaftlichen Tätigkeit nicht mehr gesprochen werden kann.110 Im Einkommensteuerrecht wird wegen einer fehlenden Gewinn- bzw. Überschusseinkünfteerzielungsabsicht ein Erwerbseinkommen iSd § 2 EStG verneint und damit die damit zusammenhängenden Ausgaben nicht zum Abzug zugelassen.111 Ob der Steuerpflichtige die Absicht der Gewinn- oder Überschusserzielung hat, soll danach beurteilt werden, ob der Steuerpflichtige auf der Basis seiner Planung über die gesamte Dauer der Erwerbstätigkeit einen Totalgewinn oder Totalüberschuss erwirtschaften kann.112 Letztlich werden über das Institut der Lieb­ haberei vor allem Hobbytätigkeiten (Pferde- und Freizeitlandwirtschaft, etc.) oder ­Tätigkeiten im Zusammenhang mit der Anschaffung und Vermietung von Freizeitgegenständen (Reisemobile, Motor- und Segelyachten) erfasst und der damit zusammen­ hängende Aufwand einkommensteuerlich nicht zum Abzug zugelassen. Überzeugend an der Nutzbarmachung des Instituts der Liebhaberei auch in der Umsatzsteuer ist alleine die Möglichkeit, mit Hilfe solcher Tätigkeiten die Asymmetrie 107 EuGH v. 22.6.2016 – C-267/15 – Gemeente Woerden, UR 2016, 646 – Rz. 33. 108 EuGH v. 22.6.2016 – C-267/15 – Gemeente Woerden, UR 2016, 646 – Rz. 40. 109 Vgl. hierzu Stadie in Rau/Dürrwächter, § 2 UStG Rz. 469 ff. (Juli 2014). 110 Ruppe/Achatz, Österreichisches Umsatzsteuergesetz, 4. Aufl. 2011, § 2 UStG Rz. 241. 111 Vgl. Weber-Grellet in Schmidt, EStG, 35. Aufl. 2016, § 2 Rz. 23. 112 Hey in Tipke/Lang, 22. Aufl. 2015, § 8 Rz. 126; ebenso Lippross, Umsatzsteuer, 24. Aufl. 2017, S. 455 – 2.8.4f(2).

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zwischen Vorsteuer und Umsatzsteuer zumindest in einigen Bereichen verhindern zu können. Im Ergebnis wird über die Verneinung einer wirtschaftlichen Tätigkeit die gesamte Tätigkeit aus dem Anwendungsbereich der Umsatzsteuer herausgeschält. Die Versagung des Vorsteuerabzugs und damit die Verhinderung einer Asymmetrie ist die folgerichtige Konsequenz. Die h.M.113 zum nationalen Recht lehnt jedoch zutreffend die Übernahme dieses Instituts für die Umsatzsteuer ab. Zum einen fehlt eine ausdrückliche gesetzliche Regelung, wie sie etwa in § 2 Abs. 5 Nr. 2 ö-UStG vorgesehen ist. Dort wird eine Tätigkeit, die auf Dauer gesehen Gewinne oder Einnahmeüberschüsse nicht erwarten lässt, als umsatzsteuerliche Liebhaberei definiert und dieser Tätigkeit der Charakter einer wirtschaftlichen Tätigkeit abgesprochen.114 Zum anderen stellt § 2 Abs. 1 Satz 3 UStG – vergleichbar auch § 2 Abs. 1 Satz 3 ö-UStG – nach seinem eindeutigen Wortlaut nur auf eine Einnahmeerzielungs-, nicht aber auf eine Gewinnerzielungsabsicht ab. Dem entspricht auch Art 9 MwStSystRL. Art. 9 Abs. 1 MwStSystRL stellt ausdrücklich klar, dass eine Einordnung einer Tätigkeit als „wirtschaftlich“ und damit der Mehrwertsteuer unterwerfend unabhängig vom Zweck und Ergebnis der Tätigkeit zu erfolgen hat. Wie aber gerade die Aufzählung in § 1 Abs. 2 ö-Liebhaberei-VO zeigt, soll gerade der verfolgte Zweck – insbesondere die Befriedigung der der Lebensführung dienenden Bedürfnisse – die Tätigkeit zu einer „nicht wirtschaftlichen Tätigkeit“ qualifizieren. Im Übrigen wird gerade auch im Hinblick auf die österreichische Sonderreglung in § 2 Abs. 5 Nr. 2 ö-UStG eine „legistische Antinomie zu § 2 Abs. 1 ö-UStG“ angenommen, da dort – ebenso wie in der deutschen Norm – die ansonsten eine unternehmerische Tätigkeit auslösende Tätigkeit eben nicht von einer Gewinn- oder Überschusserwirtschaftung abhängt.115 Schließlich weist Lippross116 zusätzlich darauf hin, dass der Rückgriff auf die ertragsteuerliche Abgrenzung der Liebhaberei zu steuerbaren Einkünfte in der Umsatzsteuer alleine deswegen scheitern muss, weil der Rückgriff auf den gesamten Zeitraum der beruflichen oder gewerblichen Tätigkeit als umsatzsteuerliches Abgrenzungsmerkmal schlichtweg ungeeignet ist. Letztlich bedarf es auch keines Rückgriffs auf die Auslegung des Unionsrechts durch den – erst noch anzurufenden117 – EuGH. Bekanntlich liegt der Mehrwertsteuer das 113 BFH v. 12.2.2009 – V R 61/06, BStBl. II 2009, 828 = UR 2009, 481; BFH v. 21.6.1990 – V B 27/90, BStBl. II 1990, 801 = UR 1990, 346 m. Anm. Stadie; BFH v. 23.1.1992 – V R 66/85, UR 1992, 202 m. Anm. Weiß; Treiber in Sölch/Ringleb, § 2 UStG Rz. 310 Stichwort „Liebhaberei“ (März 2016); Englisch in Tipke/Lang, Steuerrecht, 22. Aufl. 2015, §  17 Rz.  44; Lippross, Umsatzsteuer, 24. Aufl. 2017, S. 455/6 – 2.8.4f(2); BMF v. 14.7.2000 – IV D 1 – S 7303a – 5/00, UR 2000, 399 – Rz. 1; a.A. Stadie in Rau/Dürrwächter, § 2 UStG (Juli 2014) Rz. 469 ff. 114 Vgl. hierzu auch § 6 i.V.m. § 1 Abs. 2 Österreichische Liebhaberei-VO v. 15.1.1993, ö-­BGBl. II 15/1999 – abgedruckt in Ruppe/Achatz, Österreichisches Umsatzsteuergesetz, 4. Aufl. 2011 Anhang V. 115 Ruppe/Achatz, Österreichisches Umsatzsteuergesetz, 4. Aufl. 2011, § 2 UStG Rz. 244. 116 Lippross, Umsatzsteuer, 24. Aufl. 2017, S. 456 – 2.8.4f(2). 117 So aber wegen der österreichischen und von ihm offenbar präferierten Lösung in §  2 Abs. 5 Nr. 2 ö-UStG im Unterschied zur h.M. in Deutschland Stadie in Rau/Dürrwächter, § 2 UStG Rz. 475 (Juli 2014).

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Hans Nieskens

Grundkonzept einer Besteuerung des allgemeinen Verbrauchs zugrunde.118 Steuergut der Mehrwertsteuer sind die Aufwendungen oder die Aufkommensverwendungen der Endverbraucher.119 Die Belastungskonzeption der Mehrwertsteuer besteht in der Verwendung von Einkommen bzw. Aufwand für gebrauchs- oder verwendungsfähige Güter für den privaten Verbrauch.120 Mit diesem Belastungskonzept ist es ausgeschlossen, die Teilhabe am wirtschaftlichen Verkehr davon abhängig zu machen, wie der Leistende den Erfolg seiner Tätigkeiten kalkuliert.121 Das Festmachen an einer Gewinn- oder Überschusserzielung lässt die Teilhabe am System der Mehrwertsteuer auch mit der Möglichkeit eines Vorsteuerüberhangs alleine davon abhängen, ob eine geplante bzw. verwirklichte Tätigkeit auf den gesamten Zeitraum der gewerblichen oder beruflichen Tätigkeit einen Gewinn bzw. Überschuss abwirft oder nicht. Einer Bestätigung dieser allgemeinen Grundsätze durch den EuGH bedarf es nicht. Zusammengefasst ergibt sich daher auch unter dem Gesichtspunkt des der Ertragsteuer entlehnten Rechtsinstituts der Liebhaberei keine Möglichkeit, systematisch auf eine mögliche Asymmetrie zwischen Vorsteuer und Umsatzsteuer einzuwirken. Es bleibt aber darauf hinzuweisen, dass ungeachtet der Ablehnung der Liebhaberei natürlich nach wie vor die Frage geklärt sein muss, ob der die Asymmetrie Auslösende mit seinen Tätigkeiten überhaupt wirtschaftlich tätig ist. Hierzu bedarf es im Rahmen einer richtlinienkonformen Auslegung der durch § 2 Abs. 1 Satz 3 UStG vorgegebenen nationalrechtlichen Voraussetzung einer „nachhaltigen“ Tätigkeit eine Tätigkeit im Sinne eines geschäftsmäßig organsierten Marktauftritts.122 Nicht mehr aber eben auch nicht weniger hat der EuGH in der Rechtssache Gemeente Borsele123 verlangt, als es um die Beurteilung einer „Asymmetrie“ zwischen den Betriebskosten und den als Gegenleistung für die angebotene Dienstleistung – Schülerbeförderungen durch eine juristische Person des öffentlichen Rechts  – erhaltenen Beträgen von einem Teil der Eltern ging. Wie bereits an anderer Stelle ausgeführt124 stellt der BFH in Anwendung dieser EuGH-Rechtsprechung ausdrücklich klar, dass der mit der Tätigkeit verfolgte Zweck für die Einordnung der Tätigkeit als wirtschaftliche Tätigkeit und damit trotz bestehender Asymmetrie die Gewährung des Vorsteuerabzugs unbeachtlich ist. Entscheidend ist alleine, ob die allgemeinen Voraussetzungen für eine „nachhaltige“ Tätigkeit gegeben sind.125

118 Vgl. hierzu statt aller Nieskens in Kirchhof/Nieskens, FS Reiß, Wahlrechte in der Umsatzsteuer, S. 445 (46 mit Nachweisen in Fn. 6). 119 Reiß in Reiß/Kraeusel/Langer, Einf. UStG Rz. 10.1 (Jan. 2015). 120 Tipke, Die Steuerrechtsordnung, Bd. II 1993, S. 893 ff. – fortgeführt Bd. II, 2. Aufl. 2003, S. 968. 121 So zutreffend bei Ablehnung der österreichischen Regelung Ruppe/Achatz, Österreichisches Umsatzsteuergesetz, 4. Aufl. 2011, § 2 UStG Rz. 245. 122 Vgl. hierzu statt aller m.w.N. Englisch in Tipke/Lang, Steuerrecht, 22. Aufl. 2015, §  17 Rz. 43. 123 EuGH v. 12.5.2016 – C-520/14 – Gemeente Borsele, UR 2016, 520. 124 BFH v. 28.6.2017 – XI R 12/15, UR 2017, 758 m. Anm. Sterzinger. 125 BFH v. 28.6.2017 – XI R 12/15, UR 2017, 758 m. Anm. Sterzinger – Rz. 42.

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Bewusste oder unbewusste Asymmetrie der Steuer auf Eingangs- und Ausgangsumsätze

VII. Zusammenfassung und Ergebnis Die Umsatzsteuer wird nicht umsonst im Jahre 2018 einhundert Jahre alt. Sie kann diesen Geburtstag nur deshalb feiern, weil sie allen Widrigkeiten getrotzt hat und sämtlichen gut gemeinten Ratschlägen, die meistens fiskalisch motiviert waren, widerstanden hat. Dies gilt auch und erst Recht für die notwendige Systemumstellung zum 1.1.1968 auf das auch heute noch gültige Allphasen-Netto-System mit Vorsteuerabzug. Natürlich verleitet der relativ einfache Vorsteuerabzug zum Umsatzsteuermissbrauch. Die Einführung des Umsatzsteuer-Binnenmarktes mit Wirkung zum 1.1.1992 hat hierzu durch den Wegfall der Grenzkontrollen zwischen den mittlerweile 28 (bzw. bald nur noch 27) EU-Mitgliedstaaten sein Übriges beigetragen. Um eines aber ganz klar festzustellen: Umsatzsteuermissbrauch hat es immer schon gegeben, sei es als nicht versteuerte Schwarzarbeit, sei es als unberechtigt geltend gemachter Vorsteuerabzug, sei es als unberechtigt beanspruchte Export-Steuerbefreiung. Die Versuche dies einzudämmen – z.B. durch ein generelles Reverse-Charge126 – sind bekanntermaßen gescheitert. Daher sind Fragestellungen, wie die vorliegenden, nach einer systematischen Eindämmung einer Asymmetrie zwischen Vorsteuer und Umsatzsteuer alleine am gegenwärtigen System und nicht am Wunsch einer fiskalisch wünschenswerten vereinfachten Sichtweise zu beantworten. Genau dieses der Umsatzsteuer (national) und Mehrwertsteuer (unionsrechtlich) zugrunde liegende System bietet aber keine Möglichkeit eines Eingriffs zur Verhinderung, Ausschaltung oder Eindämmung einer Asymmetrie zwischen Vorsteuer und Umsatzsteuer. Alleine die Teilnahme an einem Umsatzsteuermissbrauch oder an einer Umsatzsteuerhinterziehung eröffnet nach der gefestigten Rechtsprechung des EuGH die Möglichkeit einer Begrenzung. In der Anfangs beschriebenen Fallvariante sechs ist daher der Vorsteuerabzug zu versagen, eine Asymmetrie wird verhindert. In allen anderen Fallvarianten  – insbesondere in der Fallvariante 4b aber auch den Fallvarianten sieben bis neun – darf aus dem System kein Eingriff abgeleitet werden. Weder eine Angemessenheitsprüfung als teleologische Lückenausfüllung, noch die Übernahme des ertragsteuerlichen Rechtsinstituts der Liebhaberei rechtfertigen einen solchen Eingriff in das System. Unter-Preis-Verkäufe, Ausübung von Gestaltungswahlrechten, unangemessen hohe Vorsteuern bei unangemessen niedrigen Ausgangsumsätzen, selbst eine Leistung zu einem nur symbolischen Preis rechtfertigen keinen Eingriff zur Ausschaltung einer Asymmetrie. Auch die speziell bei juristischen Personen des öffentlichen Rechts verstärkt auftretende Diskussion, ob überhaupt eine wirtschaftliche Tätigkeit vorliegt, die zum Vorsteuerabzug berechtigen kann, führt nicht zu einem Eingriff in das System. Alleine eine Asymmetrie zwischen Betriebskosten und Einnahmen führt nicht zur Versagung des Vorsteuerabzugs. Das System der Allphasen Umsatzsteuer verlangt fiskalische Gelassenheit, nicht um des Systems willen, sondern um der Umsatzsteuer weitere 100 Erfolgsjahre zu verschaffen.

126 Zur Entwicklung vgl. Ammann, Hundertmilliardenschwerer Umsatzsteuerbetrug europaweit ohne die zielführendste Eindämmung, UR 2009, 372 m.w.N.

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Juliane Kokott

Vom Sinn der Form Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Spannungsverhältnis zwischen formaler und materieller Gerechtigkeit? I II. Vom Sinn der Form 1. Rechnung als Ausübungsvoraussetzung? a) Wortlaut, Art. 178 Buchst. a ­MwStSystRL

b) Form als Feindin der Willkür, ­Rechtssicherheit c) Zwischenergebnis zu 1. 2. Formerfordernis der Steueridentifika­ tionsnummer IV. Ergebnisse/Ausblick

I. Einleitung „Die Form ist die geschworene Feindin der Willkür, die Zwillingsschwester der Freiheit“.1 Mit diesem Zitat von Rudolf von Jhering brachte Herr Kollege Heuermann, Richter am Bundesfinanzhof, im Rahmen eines höchstrichterlichen Austausches seine Sorge zum Ausdruck, der Gerichtshof der Europäischen Union zerstöre womöglich sinnvolle Formerfordernisse im Mehrwertsteuerrecht. Wer aber die Form zerstört, beschädigt mit den Worten von Herbert von Karajan2 auch den Inhalt. Unstrittig dürfte sein, dass der Gerichtshof der Europäischen Union einem übertriebenen Formalismus im Mehrwertsteuerrecht Einhalt geboten hat. Gleichwohl darf dieser Weg der Entformalisierung nicht zu weit gehen. Das würde die uniforme Anwendung des Mehrwertsteuerrechts und damit den fairen Wettbewerb gefährden und der Willkür Vorschub leisten. Der folgende Beitrag versucht, die Gratwanderung des Gerichtshofs zwischen materieller Gerechtigkeit jenseits von Formalismus einerseits und der Gefahr eines zu weitgehenden Verzichts auf Formerfordernisse andererseits aufzuzeigen. Die damit verbundene Problematik wird gewöhnlich unter dem Stichwort „substance over form“ diskutiert. Natürlich kann ich hier nicht erschöpfend alle Formerfordernisse des Mehrwertsteuerrechts unter die Lupe nehmen. Vielmehr wende ich mich exemplarisch den Erfordernissen einer – ordnungsgemäßen – Rechnung sowie einer Umsatz-Steueridentifikationsnummer zu. Gerade im vielfach als technisch und jedenfalls als missbrauchsanfällig betrachteten Mehrwertsteuerrecht spielen solche Formerfordernisse eine wichtige Rolle. Das geht so weit, dass der Bundesfinanzhof 1 Rudolf von Jhering, Geist des Römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung, Teil 2, Bd. 2. Leipzig 1858, Haften an der Aeußerlichkeit. III. Der Formalismus. § 45, S. 497 (32). 2 zitate.eu.

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das Rechnungserfordernis sogar als materielle Ausübungsvoraussetzung der durch die Richtlinie gewährten Rechte betrachtet hat.3 Das würde allerdings meinen Vortragstitel hinfällig machen. Zumindest insoweit kommt mir entgegen, dass jedenfalls der Gerichtshof insbes. das Rechnungserfordernis lediglich als eine formelle Bedingung für den Vorsteuerabzug betrachtet (s.u.).

II. Spannungsverhältnis zwischen formaler und materieller Gerechtigkeit? Das formelle Recht setzt das materielle Recht voraus, dessen Durchsetzung es dient. Letzteres regelt Inhalt, Entstehung, Veränderung, Übertragung und das Erlöschen von Rechten. Mit den Worten des Gerichtshofs regeln die materiellen Anforderungen des Rechts auf Vorsteuerabzug die eigentliche Grundlage und den Umfang dieses Rechts, so wie sie in Titel X Kapitel 1 – „Entstehung und Umfang des Rechts auf Vorsteuerabzug“ der Mehrwertsteuersystemrichtlinie vorgesehen sind.4 Das materielle Recht regelt das „Recht haben“, wohingegen das formelle Recht das „Recht bekommen“ betrifft. Steuerverfahrensrecht ist formelles Recht. Nach dem Gerichtshof regeln die formellen Anforderungen des Rechts auf Vorsteuerabzug die Modalitäten und die Kontrolle seiner Ausübung sowie das ordnungsgemäße Funktionieren des Mehrwertsteuersystems so wie die Verpflichtung zu Aufzeichnungen, Rechnungsstellung und Steuererklärung.5 Die formelle Gerechtigkeit im Massenverfahrensrecht der Steuererhebung zielt da­ rauf ab, dass durch Einhaltung bestimmter „formeller“ Regeln alle gleichgelagerten Fälle gleich behandelt werden. Einer solchen Regel- oder Verfahrensgerechtigkeit kann man eine Ergebnisgerechtigkeit gegenüberstellen. Bei letzterer kommt es auf das nach materiellen Gerechtigkeitsvorstellungen zu wertende Ergebnis an. Der Ansatz des Gerichtshofs lässt sich mit diesem Gedanken einer materiellen Ergebnisgerechtigkeit erklären, die über eine tendenziell weite Auslegung des Begriffs der „formellen“ Bedingungen erfolgt. Er soll die Rechte des gutgläubigen Steuerpflichtigen, die Entlastung des Unternehmers durch den Vorsteuerabzug und das dem Mehrwertsteuersystem zugrunde liegende Neutralitätsprinzip wahren. Dabei ist zwischen gutgläubigen Steuerpflichtigen und bösgläubigen oder fahrlässigen Steuerpflichtigen zu unterscheiden.6 Gutgläubige Steuerpflichtige müssen nicht alle Formvorschriften einhalten, um ihre Rechte auf Vorsteuerabzug und Steuerbefreiung in Anspruch neh-

3 Vgl. Heuermann, MwStR 2017, 729 (739). 4 EuGH, Urt. v. 28.7.2016 – C-332/15, ECLI:EU:C:2016:614 – Astone, UR 2016, 683 – Rz. 47. 5 EuGH, Urt. v. 28.7.2016 – C-332/15, ECLI:EU:C:2016:614 – Astone, UR 2016, 683 – Rz. 47. 6 Vgl. auch EuGH, Schlussanträge des Generalanwalts Bot v. 17.2.2016 – C-518/14, ECLI:EU:​ C:2016:91 – Senatex – Rz. 46; EuGH, Urt. v. 12.7.2012 – C-284/11, ECLI:EU:C:2012:458 – EMS Bulgaria Transport, UR 2012, 642  – Rz.  70  ff.; EuGH, Urt. v. 13.2.2014  – C-18/13, ECLI:EU:C:2014:69 – Maks Pen, UR 2014, 861 – Rz. 26 ff.

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men zu können.7 Es wäre unverhältnismäßig, dafür auf die vollständige Einhaltung bloßer Formvorschriften zu bestehen, wenn das materielle Recht auf Vorsteuerabzug oder Befreiung besteht. Die Relativierung der Formerfordernisse kann auch mit Gutglaubensschutz erklärt werden, auf den sich die Steuerpflichtigen ohnehin auch bei Fehlen einer (vollständigen) Rechnung oder sogar einer Umsatz-Steueridentifikationsnummer berufen können.8 Der Gutglaubensschutz überwindet insoweit die Form. Sanktionen für die Nichteinhaltung der Formvorschriften bleiben den Mitgliedstaaten bei Einhaltung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes gleichwohl unbenommen.9 Dieser verlangt aber, dass die Sanktionen vom Betrag her nicht der Versagung der genannten Rechte gleichkommen.10 Bösgläubige oder auch nur fahrlässige Steuerpflichtige sehen sich demgegenüber einem harten Regime ausgesetzt. Ihnen werden Vorsteuerabzug, Steuerbefreiungen und Erstattungen versagt. UU sehen sie sich zusätzlichen Verwaltungssanktionen ausgesetzt.11 Wer könnte einer solchen Unterscheidung zwischen schutzwürdigen und nicht schutzwürdigen Steuerpflichtigen? – zwischen „gut“ und „böse“ – widersprechen? Nun, man könnte sich fragen, ob die materielle Entstehung der Rechte auf Vorsteuerabzug und Befreiungen nach dem Wortlaut der Richtlinie nicht teilweise doch die Erfüllung bestimmter, nur vermeintlich „formeller“ Bedingungen voraussetzt (III.1.a). Vor allem aber ist, wie eingangs betont, die „Form die geschworene Feindin der Willkür“ und eine Grundlage für die Rechtssicherheit im und die einfache Handhabung des Mehrwertsteuerrechts (III.1.b). Ferner ist schließlich die Grenze zwischen „gut“ und „böse“ auch im Mehrwertsteuerrecht nicht immer trennscharf durchzuführen. Das für die Bösgläubigen und Fahrlässigen gedachte harte und abschreckende Regime der Vorteilsverweigerung i.V.m. Sanktionen kann auch einmal den Falschen treffen und birgt die Gefahr eines „chilling effect“ für innergemeinschaftliche Dienst-

7 Vgl. EuGH, Urt. v. 15.9.2016 – C-516/14, ECLI:EU:C:2016:690 – Barlis 06 – Investimentos Imobiliários e Turísticos, UR 2016, 795 m. Anm. Maunz  – Rz.  42  ff.; EuGH, Urt. v. 15.9.2016 – C-518/14, ECLI:EU:C:2016:691 – Senatex, UR 2016, 800 m. Anm. Maunz – Rz. 38 ff.; EuGH, Urt. v. 8.5.2008 – C-95/07 und C-96/07, ECLI:EU:C:2008:267 – Ecotrade, UR 2008, 512 – Rz. 70. 8 Vgl. auch EuGH, Schlussanträge des Generalanwalts Bot v. 17.2.2016 – C-518/14, ECLI:EU:​ C:2016:91 – Senatex – Rz. 46. 9 EuGH, Urt. v. 15.9.2016 – C-516/14, ECLI:EU:C:2016:690 – Barlis 06 – Investimentos Imobiliários e Turísticos, UR 2016, 795 m. Anm. Maunz – Rz. 47; EuGH, Urt. v. 15.9.2016 – C-518/14, ECLI:EU:C:2016:691 – Senatex, UR 2016, 800 m. Anm. Maunz – Rz. 42; EuGH, Urt. v. 12.7.2012 – C-284/11, ECLI:EU:C:2012:458 – EMS Bulgaria Transport, UR 2012, 642 – Rz. 73 ff. 10 EuGH, Urt. v. 12.7.2012 – C-284/11, ECLI:EU:C:2012:458 – EMS Bulgaria Transport, UR 2012, 642 – Rz. 76. 11 S. dazu auch Kokott, Bedeutung und Wirkungen deutscher und europäischer Grundrechte im Steuerstrafrecht und Steuerstrafverfahren, NZWiSt 2017, 409.

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leistungen und den innergemeinschaftlichen Handel.12 Ich werde diese Fragen zum Sinn der Form an Hand der „Form-“ Erfordernisse der ordnungsgemäßen Rechnung (III.1.) und der Steueridentifikationsnummer (III.2.) erörtern, wie das allerdings zum Teil auch schon in meinen und anderen Schlussanträgen geschehen ist.13

III. Vom Sinn der Form Welche Bedeutung hat aber die Einordnung als formelle oder materielle Bedingung? Nun, Hegel schrieb, dass „Form und Inhalt … ein Paar Begriffsbestimmungen (sind), deren sich der reflektierende Verstand sehr häufig bedient, und zwar vornehmlich in der Art, dass der Inhalt als das Wesentliche und Selbständige, die Form dagegen als das Unwesentliche und Unselbständige betrachtet wird.“14

Genauso ist es in der Mehrwertsteuer-Rechtsprechung des Gerichtshofs: Rein formelle Bedingungen sind entbehrlich, wenn das materielle Recht nachweislich besteht.15 Hegel hielt dagegen: „Darwider ist jedoch zu bemerken, dass in der Tat beide gleich wesentlich sind…“16

Wenngleich der große Philosoph das Mehrwertsteuerrecht gewiss nicht vor Augen hatte, inspiriert doch gleichwohl seine Achtung vor der Form. Ohne Form ist die Substanz manchmal nicht recht greifbar. So geht es mir mit manchen Werken moderner Musik und Kunst. Inwieweit enthält nun aber die Mehrwertsteuerrichtlinie rein formelle Bedingungen, und sind diese unwesentlich und unselbständig? Auch in materiellen Gesetzen wie der Mehrwertsteuerrichtlinie können sich rein formelle Regeln finden. Die Mehrwertsteuerrichtlinie enthält in der Tat eine Reihe formeller oder vom Gerichtshof zu solchen erklärter Pflichten, so zB dass jeder Steuerpflichtige die Aufnahme, den Wechsel und die Beendigung seiner Tätigkeit als Steuerpflichtiger gem. Art. 213 MwStSystRL

12 Vgl. Kokott, Bedeutung und Wirkungen deutscher und europäischer Grundrechte im Steuerstrafrecht und Steuerstrafverfahren, NZWiSt 2017, 409 – unter II. 5. a). 13 EuGH, Schlussanträge des Generalanwalts Wahl v. 5.7.2017  – C-374/16 und C-375/16, ECLI:EU:C:17:515 – Geissel und Butin, UR 2017, 629; EuGH, Schlussanträge der Generalanwältin Kokott v. 18.2.2016 – C-516/14, ECLI:EU:C:2016:101 – Barlis 06 – Investimentos Imobiliários e Turísticos; EuGH, Schlussanträge der Generalanwältin Kokott v. 30.11.2017 – C-8/17, ECLI:EU:C:2018:249 – Biosafe. 14 Hegel, Enzyklopedie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse, ab 1816, b. Inhalt und Form, § 133, Zusatz. 15 Z.B. EuGH, Urt. v. 28.7.2016 – C-332/15, ECLI:EU:C:2016:614 – Astone, UR 2016, 683 – Rz. 45. 16 Hegel, Enzyklopedie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse, ab 1816, b. Inhalt und Form, § 133, Zusatz.

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Vom Sinn der Form

anzeigen muss (Mehrwertsteuerregistrierung).17 Ähnliches gilt für die Verpflichtung jedes Steuerpflichtigen gem. Art. 242 MwStSystRL Aufzeichnungen zu führen, die so ausführlich sind, dass sie die Anwendung der Mehrwertsteuer und ihre Kontrolle durch die Steuerverwaltung ermöglichen.18 1. Rechnung als Ausübungsvoraussetzung? Gehört nun aber die Rechnung zu den formellen Regeln? a) Wortlaut, Art. 178 Buchst. a MwStSystRL Die Auslegung beginnt beim Wortlaut. Nach Art. 178 Buchst. a MwStSystRL muss der Steuerpflichtige, der sein nach Art. 168 Buchst. a MwStSystRL bestehendes Recht auf Vorsteuerabzug ausübt, eine gemäß den detaillierten Vorschriften dieser Richtlinie ausgestellte Rechnung besitzen.19 Besitzt der Steuerpflichtige keine Rechnung, die den Anforderungen des Art. 226 MwStSystRL entspricht, kann ihm zwar ein Recht auf Vorsteuerabzug zustehen. Gem. Art.  178 Buchst. a MwStSystRL kann er dieses Recht aber so lange nicht ausüben, wie er nicht eine Rechnung besitzt, die den An­ forderungen des Art. 226 MwStSystRL genügt. Der Wortlaut des Art. 178 Buchst. a MwStSystRL scheint insoweit eindeutig und wird noch durch ein argumentum a contrario aus Art. 181 MwStSystRL unterstützt. Danach können die Mitgliedstaaten Steuerpflichtigen, die keine ordnungsgemäß ausgestellte Rechnung besitzen, beim innergemeinschaftlichen Erwerb von Gegenständen doch den Vorsteuerabzug gewähren. Daraus sollte man schließen, dass das sonst generell nicht möglich ist. Denn sonst wäre Art. 181 MwStSystRL überflüssig.20 In den Urteilen Barlis und Senatex nuancierte der Gerichtshof seine bisherige Rechtsprechung21 jedoch dahin gehend, dass die Steuerverwaltung das Recht auf Vorsteu17 EuGH, Urt. v. 21.10.2010 – C-385/09, ECLI:EU:C:2010:627 – Nidera Handelscompagnie, UR 2011, 27 – Rz. 48 ff., 50 ff.; EuGH, Urt. v. 12.7.2012 – C-284/11, ECLI:EU:C:2012:458 – EMS Bulgaria Transport, UR 2012, 642  – Rz.  60; EuGH Urt. v. 22.10.2015  – C-277/14, ECLI:EU:C:2015:719 – PPUH Stehcemp, UR 2015, 917 – Rz. 38. 18 EuGH, Urt. v. 13.2.2014 – C-18/13, ECLI:EU:C:2014:69 – Maks Pen, UR 2014, 861 – Rz. 47. 19 Art.  178 Buchst. a MwStRL verweist auf Titel XI, Kapitel 3 Abschnitte 3 bis 6, d.h. auf Art. 219a bis 240 MwStSystRL. 20 Vgl. EuGH, Schlussanträge der Generalanwältin Kokott v. 18.2.2016 – C-516/14, ECLI:EU:​ C:2016:101 – Barlis 06 – Investimentos Imobiliários e Turísticos – Rz. 75 ff., 77. 21 Rechnungsfreundlicher noch EuGH, Urt. v. 8.5.2013 – C-271/12, ECLI:EU:C:2013:297 – Petroma Transports, UR 2013, 591 m. Anm. Sterzinger – Rz. 28; EuGH, Urt. v. 6.9.2012 – C-324/11, ECLI:EU:C:2012:549 – Tóth, UR 2012, 851 – LS 1 und Rz. 32 f.; EuGH, Urt. v. 29.4.2004  – C-152/02, ECLI:EU:C:2004:268  – Terra Baubedarf-Handel, UR 2004, 323  – Tenor, Rz. 34 f. und 38; EuGH Urt. v. 22.10.2015 – C-277/14, ECLI:EU:C:2015:719 – PPUH Stehcemp, UR 2015, 917 – Rz. 40 und 49 („wenn hingegen die nach der Sechsten Richtlinie vorgesehenen formellen (!) und materiellen Voraussetzungen für die Entstehung und die Ausübung (!) des Rechts auf Vorsteuerabzug erfüllt sind, …“; EuGH, Urt. v. 15.7.2010 – C-368/09, ECLI:EU:C:2010:441 – Pannon Gép, UR 2010, 693 m. Anm. Nieskens und Anm. Sterzinger – Rz. 43 f.; EuGH, Urt. v. 13.2.2014 – C-18/13, ECLI:EU:C:2014:69 – Maks Pen,

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erabzug nicht allein deshalb verweigern könne, weil eine Rechnung nicht die nach Art. 226 Nrn. 6 und 7 MwStSystRL verlangten Inhalte, d.h. Menge und Art der gelieferten Gegenstände beziehungsweise Umfang und Art der erbrachten Dienstleistungen und das Leistungsdatum enthält. Voraussetzung ist dabei, dass sie über sämtliche Daten verfügt, um zu prüfen, ob die für dieses Recht geltenden materiellen Voraussetzungen erfüllt sind.22 Damit verallgemeinerte der Gerichtshof seine schon zuvor für Fälle der Steuerschuldverlagerung (reverse charge) und nationale Ausübungsmodalitäten entwickelte Rechtsprechung.23 Das ist bemerkenswert: Zum einen gilt bei Umkehr der Steuerschuldnerschaft einzig die Ausübungsmodalität des Art. 178 Buchst. f MwStSystRL. Danach müssen die Steuerpflichtigen nur die von dem jeweiligen Mitgliedstaat vorgeschriebenen Formalitäten erfüllen und nicht die in Art. 178 Buchst. a bis e der Richtlinie vom Unionsrecht selbst vorgesehenen Ausübungsmodalitäten.24 Schon der Vorrang des Unionsrechts bewirkt, dass im nationalen Recht vorgesehene Ausübungsmodalitäten nicht durch das Unionsrecht gewährte Rechte beeinträchtigen können. Solche Rechte des Einzelnen können sich, sofern sie hinreichend genau formuliert sind, auch aus Richtlinien ergeben. Zum anderen fallen bei Steuerschuldverlagerung Vorsteuerabzug und Steuerpflicht nicht auseinander. Vielmehr heben sich Umsatzsteuerschuld und Vorsteuerabzug beim Leistungsempfänger gegenseitig auf. Daher bedeutet eine Nichterfüllung von Aufzeichnungspflichten in der Rechnung keine Gefahr für das Steueraufkommen.25 Ähnliches gilt für die Relativierung von Formerfordernissen in Bezug auf eine nicht UR 2014, 861 – Rz. 47: „Im Übrigen kann eine etwaige Nichtbeachtung bestimmter buchführungsrechtlicher Erfordernisse durch den Dienstleistungserbringer das Abzugsrecht des Empfängers der erbrachten Dienstleistungen in Bezug auf die dafür entrichtete Mehrwertsteuer nicht in Frage stellen, wenn die Rechnungen über die erbrachten Dienstleistungen alle nach Art. 226 der Richtlinie 2006/112 vorgeschriebenen Angaben enthalten.“ 22 EuGH, Urt. v. 15.9.2016 – C-516/14, ECLI:EU:C:2016:690 – Barlis 06 – Investimentos Imobiliários e Turísticos, UR 2016, 795 m. Anm. Maunz – Rz. 43 und 49. 23 EuGH, Urt. v. 11.12.2014  – C-590/13, ECLI:EU:C:2014:2429  – Idexx Laboratories Italia, UR 2015, 70 – Rz. 33 und 38; EuGH, Urt. v. 12.7.2012 – C-284/11, ECLI:EU:C:2012:458 – EMS Bulgaria Transport, UR 2012, 642 – Rz. 28, 49, 61; EuGH, Urt. v. 30.9.2010 – C-392/09, ECLI:EU:C:2010:569 – Uszodaépítő, UR 2010, 948 – Tenor und Rz. 37 ff.; EuGH, Urt. v. 21.10.2010 – C-385/09 – Nidera, UR 2011, 27 – Tenor und EuGH, Urt. v. 8.5.2008 – C-95/07 und C-96/07, ECLI:EU:C:2008:267 – Ecotrade, UR 2008, 512 – Rz. 35, 38, 53, 55 f., 61 ff., 63: „Da nämlich das Reverse-Charge-Verfahren in den Ausgangsverfahren unbestreitbar anwendbar war, erfordert der Grundsatz der steuerlichen Neutralität, dass der Vorsteuerabzug gewährt wird, wenn die materiellen Anforderungen erfüllt sind, selbst wenn der Steuerpflichtige bestimmten formellen Anforderungen nicht genügt hat.“ Rz.  71. Gegen die Verallgemeinerung dieser Rspr. EuGH, Schlussanträge der Generalanwältin Kokott v. 18.2.2016 – C-516/14, ECLI:EU:C:2016:101 – Barlis 06 – Investimentos Imobiliários e Tu­ rísticos – Rz. 81 ff. 24 S. auch EuGH, Urt. v. 30.9.2010 – C-392/09, ECLI:EU:C:2010:569 – Uszodaépítő, UR 2010, 948 – Rz. 37. 25 Vgl. EuGH, Urt. v. 8.5.2008 – C-95/07 und C-96/07, ECLI:EU:C:2008:267 – Ecotrade, UR 2008, 512 – Rz. 56 und 71.

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hinreichend dokumentierte steuerbefreite innergemeinschaftliche Lieferung. Auch hier droht mangels Steuerpflicht im Herkunftsstaat i.d.R. keine Gefährdung des Steueraufkommens.26 Daher spielt die Rechnung bei Steuerschuldverlagerung eine weit weniger bedeutsame Rolle als sonst beim Vorsteuerabzug. Das spricht dafür, in Fällen der Steuerschuldverlagerung geringere Anforderungen an das Vorliegen einer ordnungsgemäßen Rechnung zu stellen als sonst. Nach der Rechtsprechung ist die ordnungsgemäße Rechnung jedoch generell – und nicht nur bezogen auf Fälle der Steuerschuldverlagerung – keine materielle Entstehungsvoraussetzung des Rechts auf Vorsteuerabzug. Vielmehr kann dieses Recht unabhängig von einer solchen entstehen.27 Bei dem die Verweigerung des Vorsteuerabzugs indizierenden Wortlaut des Art. 178 Buchst. a MwStSystRL sollte man in der Tat nicht stehen bleiben und sicherlich dann nicht, wenn der Gerichtshof sich zu einer anderen Auslegung durchgerungen hat. Meist führt längeres Nachdenken und die Anwendung weiterer Auslegungsregeln dann doch zu dem Ergebnis, zu dem der Gerichthof gekommen ist, und die zunächst angebrachte Kritik fällt in sich zusammen. Aber ist das auch so in Bezug auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs zu unvollständigen Mehrwertsteuerrechnungen? Dieser verfolgt anstelle eines eher formalistischen einen realistischen und pragmatischen Ansatz28 und betont dabei das Neutralitätsprinzip. Ob ein eher formalistischer oder ein realistisch pragmatischer Ansatz vorzuziehen sind, hängt abgesehen vom Wortlaut der Vorschriften vom Sinn der Form ab.29 Warum verlangt die Mehrwertsteuerrichtlinie eine Rechnung und listet in Art. 226 MwStSystRL ihre prima facie – „müssen… enthalten“ – notwendigen Angaben auf? b) Form als Feindin der Willkür, Rechtssicherheit Die Rechnung erfüllt eine wichtige Dokumentationsfunktion. Sie dokumentiert die übereinstimmende Rechtsauffassung der Parteien über eine konkrete Lieferung und den darauf geschuldeten Steuersatz und muss dazu überprüfbare Angaben enthal-

26 EuGH, Urt. v. 27.9.2007 – C-146/05, ECLI:EU:C:2007:549 – Collée, UR 2007, 813 m. Anm. Maunz – Rz. 34 ff., 37. 27 Zu den materiellen und „formellen” Voraussetzungen des Vorsteuerabzugs EuGH, Urt. v. 15.9.2016 – C-518/14, ECLI:EU:C:2016:691 – Senatex, UR 2016, 800 m. Anm. Maunz – Rz. 28 f.; EuGH, Urt. v. 11.12.2014 – C-590/13, ECLI:EU:C:2014:2429 – Idexx Laboratories Italia, UR 2015, 70 – Rz. 41 f.; EuGH, Schlussanträge des Generalanwalts Wahl v. 5.7.2017 – C-374/16 und C-375/16, ECLI:EU:C:17:515 – Geissel und Butin, UR 2017, 629 – Rz. 25 ff. 28 EuGH, Schlussanträge des Generalanwalts Wahl v. 5.7.2017  – C-374/16 und C-375/16, ECLI:EU:C:17:515 – Geissel und Butin, UR 2017, 629 – Rz. 34. 29 Teleologische Auslegung ebenfalls in EuGH, Schlussanträge des Generalanwalts Wahl v. 5.7.2017 – C-374/16 und C-375/16, ECLI:EU:C:17:515 – Geissel und Butin, UR 2017, 629 – Rz. 38 ff.

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ten.30 Der steuerpflichtige Leistungsempfänger hat vor allem dann Interesse, auf einer sofortigen und vollständigen Rechnung zu bestehen, wenn er ohne eine solche des Rechts auf Vorsteuerabzug hinsichtlich seiner Eingangsleistungen verlustig geht. Nun ließe sich einwenden, dass dem Steuerpflichtigen auch sämtliche anderen Nachweismöglichkeiten über den Umfang seiner Eingangsleistungen offenstehen müssten. Schwierigkeiten für die Steuerverwaltung seien angesichts der Bedeutung des Neutralitätsgrundsatzes und der grundlegenden Bedeutung des Rechts auf Vorsteuerabzug hinzunehmen. Es widerspricht dem Neutralitätsgrundsatz, wenn ein materiell bestehendes Recht auf Vorsteuerabzug nicht ausgeübt werden kann.31 Denn dann bleibt der Unternehmer auf seinen Eingangskosten sitzen.32 Wie der Gerichtshof ausgeführt hat, kommt es jedoch auf die Umstände an, wobei auch dem Anliegen einer zuverlässigen und effizienten,33 und vor allem auch gleichmäßigen Einziehung der Mehrwertsteuer Rechnung zu tragen ist. Insoweit stellt sich die Frage, ob und inwieweit diese zuverlässige, effiziente und gleichmäßige Einziehung der Mehrwertsteuer eine Rechnung voraussetzt. Und dies hängt wiederum von der Funktion der Rechnung im Mehrwertsteuerrecht ab.34 aa) Kontrolle der materiellen Voraussetzungen durch Formerfordernisse: die Nachweisfunktion der Rechnung Im Mehrwertsteuerrecht fallen das Recht auf Vorsteuerabzug und die Steuerpflicht normalerweise auseinander: Der Leistungsempfänger übt den Vorsteuerabzug für seine Eingangsleistungen aus, die zu einem Ausgangsumsatz in Bezug auf einen steuerpflichtigen Umsatz führen müssen. Sein Recht auf Vorsteuerabzug ist bedingt durch die Steuerpflicht des Leistenden. Fehlt es an einem steuerpflichtigen Leistenden, entfällt auch das Recht auf Vorsteuerabzug des Leistungsempfängers. Folglich ist eine transparente Verbindung zwischen dem Vorsteuerabzugsberechtigten und seinem steuerpflichtigen Leistenden nötig. Diese Funktion erfüllt in standardisierter Form die Rechnung: Nach dem Wortlaut der Art. 178 Buchst. a MwStSystRL kann der Empfänger einer Leistung den Vorsteuerabzug nur ausüben, wenn er über eine ordnungsgemäße Rechnung verfügt.35 Die Rechnung hat eine Nachweis- und Kontrollfunktion für das Entstehen und die Entrichtung der Steuer sowie für ggf. das Bestehen des

30 Vgl. auch EuGH, Urt. v. 1.3.2012 – C-280/10, ECLI:EU:C:2012:107 – Polski Trawertyn, UR 2012, 366 – Rz. 48. 31 EuGH, Urt. v. 1.3.2012  – C-280/10, ECLI:EU:C:2012:107  – Polski Trawertyn, UR 2012, 366 – Rz. 43. 32 EuGH, Urt. v. 12.7.2012 – C-284/11, ECLI:EU:C:2012:458 – EMS Bulgaria Transport, UR 2012, 642 – Rz. 43, 68 ff. 33 Vgl. EuGH, Urt. v. 1.3.2012 – C-280/10, ECLI:EU:C:2012:107 – Polski Trawertyn, UR 2012, 366 – Rz. 49. 34 Dazu EuGH, Schlussanträge des Generalanwalts Wahl v. 5.7.2017 – C-374/16 und C-375/16, ECLI:EU:C:17:515 – Geissel und Butin, UR 2017, 629 – Rz. 38 ff. 35 Vgl. auch Heuermann, Probleme des Vorsteuerabzugs, MwStR 2017, 729 (739).

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Vorsteuerabzugsrechts.36 In diesem Licht sind die in Art. 226 MwStSystRL enthaltenen Pflichtangaben auszulegen. Die Informationen sollen die Steuerverwaltungen in den Stand setzen, nachzuprüfen und zu gewährleisten, dass der Aussteller der Rechnung seine korrespondierende Steuerpflicht begleicht.37 Dieser Zugriff auf den Aussteller der Rechnung wird durch Art.  203 MwStSystRL noch unterstützt. Danach schuldet der Aussteller der Rechnung die Steuer unabhängig davon, ob der Steuertatbestand überhaupt verwirklicht ist.38 Da die Rechnung zum Vorsteuerabzug verleitet, schuldet der Aussteller eines für den Fiskus insofern riskanten Dokuments die Steuer ebenfalls zunächst unabhängig von der Verwirklichung des Steuertatbestandes. In diesem Fall wird sozusagen nur auf die „Papierform“ abgestellt. Die Rechnung erfüllt dabei die Funktion einer Art Versicherung für den Fiskus.39 Wegen des grundsätzlichen Auseinanderfallens von Vorsteuerabzugsberechtigten und Steuerschuldner ist anders das Mehrwertsteuersystem auch kaum handhabbar. Schon zur Dokumentation der notwendigen Verbindung zwischen dem Vorsteuerabzugsberechtigten und seinem steuerpflichtigen Lieferanten, ohne den ja kein Recht auf Vorsteuerabzug besteht, erfüllt die Rechnung im Mehrwertsteuerrecht im Grundsatz daher eine systemtragende Funktion. bb) Rechtsanwendungsgleichheit kraft standardisierter Formerfordernisse Zudem verlangt das in Art. 3 Abs. 1 GG wurzelnde Gebot der Besteuerungsgleichheit, dass das Steuergesetz die Steuerpflichtigen nicht nur rechtlich, sondern auch tatsächlich gleich belastet.40 Mithin setzt die Besteuerungsgleichheit sowohl die Gleichheit der normativen Steuerpflicht als auch die Gleichheit bei deren Durchsetzung in der Steuererhebung voraus. Nach dem Bundesverfassungsgericht muss das materielle Steuergesetz in ein normatives Umfeld eingebettet sein, welches die Gleichheit der Belastung auch hinsichtlich des tatsächlichen Erfolges prinzipiell gewährleistet.41 Der Gesetzgeber hat die Besteuerungstatbestände und die ihnen entsprechenden Erhebungsregeln aufeinander abzustimmen. Die Erhebungsregeln dürfen nicht dazu führen, dass ein gleichmäßiger Belastungserfolg prinzipiell verfehlt wird.42 „Das ist allerdings nicht schon bei einer Belastungsungleichheit der Fall, die durch Vollzugsmängel bei der Steuererhebung hervorgerufen wird, wie sie immer wieder vorkommen und sich auch tatsächlich ereignen.“43 Die Grenze zur Verfassungswidrigkeit ist erst er36 EuGH, Urt. v. 15.9.2016 – C-516/14, ECLI:EU:C:2016:690 – Barlis 06 – Investimentos Imobiliários e Turísticos, UR 2016, 795 m. Anm. Maunz – Rz. 27. 37 Vgl. auch EuGH, Schlussanträge des Generalanwalts Bot v. 17.2.2016 – C-518/14, ECLI:EU:​ C:2016:91 – Senatex – Rz. 43. 38 Vgl. auch EuGH, Schlussanträge der Generalanwältin Kokott v. 18.2.2016  – C-516/14, ECLI:EU:C:2016:101 – Barlis 06 – Investimentos Imobiliários e Turísticos – Rz. 33. 39 EuGH, Schlussanträge der Generalanwältin Kokott v. 18.2.2016  – C-516/14, ECLI:EU:​ C:2016:101 – Barlis 06 – Investimentos Imobiliários e Turísticos – Rz. 34. 40 Zum Gebot der steuerlichen Lastengleichheit BVerfG, Urt. v. 27.6.1991 – 2 BvR 1493/89, FR 1991, 375 – Rz. 104 ff. 41 BVerfG, Urt. v. 27.6.1991 – 2 BvR 1493/89, FR 1991, 375 – Ls. 1 und Rz. 107 ff. 42 BVerfG, Urt. v. 27.6.1991 – 2 BvR 1493/89, FR 1991, 375 – Rz. 108. 43 BVerfG, Urt. v. 27.6.1991 – 2 BvR 1493/89, FR 1991, 375 – Rz. 109.

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füllt, wenn sich eine Erhebungsregelung strukturell so auswirkt, dass der Besteuerungsanspruch weitgehend nicht durchgesetzt werden kann.44 Davon kann bei Verzicht auf einzelne Anforderungen an die Rechnung keine Rede sein, vielleicht noch nicht mal, wenn man unter bestimmten Umständen ganz auf eine Rechnung verzichten würde. Gleichwohl muss es Ziel der Gesetzgebung und der Gesetzesauslegung sein, dem Ideal der auch tatsächlich gleichen Steuererhebung möglichst nahe zu kommen. Und dafür kann die ordnungsgemäße Rechnung hilfreich sein. Was hat dies nun aber mit dem Thema: Vom Sinn der Form zu tun? Die Antwort liegt auf der Hand: Das formale Abstellen auf eine ordnungsgemäße – welche Anforderungen hier gelten, ist noch zu spezifizieren – Rechnung gewährleistet im Massenverfahren eine einheitliche und gleichmäßige Anwendung des Steuerrechts. Jeder muss diese Voraussetzung der ordnungsgemäßen Rechnung erfüllen. Dann und nur dann gibt es den Vorsteuerabzug. Wenn man dagegen auf die materielle Rechtslage abstellt, haben die jeweils zuständigen Finanzämter und Richter mehr Spielraum und Freiheit. Der Richter kann die Beweise für das Vorliegen der materiellen Voraussetzungen des Steuerabzugs frei würdigen. Das eine Finanzamt und der eine Richter sind vielleicht großzügiger als ihre Kollegen, was sogar ein „tax forum shopping“ begünstigen könnte. Schließlich kann eine Rolle spielen, wie gut ein Steuerpflichtiger anwaltlich vertreten ist. Das könnte finanzstarke Steuerpflichtige gegenüber den weniger leistungskräftigen begünstigen. cc) Bedürfnisse der Massenverwaltung Schließlich ist Steuerrecht Massenverwaltungsrecht. Daher lässt sich der Gedanke der Typisierungsbefugnis im Steuerrecht als „Massenfallrecht“ fruchtbar machen. Gerade Steuergesetze vernachlässigen um der Praktikabilität der Besteuerung willen in weitem Umfang die Besonderheiten des einzelnen Falles. Zwar hat die Typisierungsbefugnis des Gesetzgebers im Verfassungsrecht bislang vor allem hinsichtlich der materiellen Ausgestaltung der Steuertatbestände eine Rolle gespielt.45 Der Gerichtshof der Europäischen Union hat sich bislang überhaupt nur marginal mit dieser Problematik auseinander gesetzt.46 Der Gedanke der Effizienz bei Massenverfahren ist aber gleichermaßen bei der Steuererhebung relevant. Das Festhalten an bestimmten „formellen“ Erfordernissen wie der ordnungsgemäßen Rechnung kann man als typisierte Beweiswürdigung betrachten. Wenn die Rechnung vorgelegt wird, ist vom Bestehen des Anspruchs auszugehen. Wenn sie fehlt, darf die Steuerverwaltung, ohne sich auf weitere Beweiswürdigungen einlassen zu müssen, von der Nichtexistenz des Anspruchs, insbes. auf Vorsteuerabzug, ausgehen.

44 BVerfG, Urt. v. 27.6.1991 – 2 BvR 1493/89, FR 1991, 375 – Rz. 109. 45 Z.B. BVerfG, Beschl. v. 29.3.2017 – 2 BvL 6/11, FR 2017, 577 – Rz. 106 ff.; BVerfG, Urt. v. 7.4.2015 – 1 BvR 1432/10, FamRZ 2015, 1097 – Rz. 14. 46 EuGH, Urt. v. 24.2.2015 – C-512/13 – Sopora, ISR 2015, 142 – Rz. 33 ff. mit ausführlichem SA Kokott v. 13.11.2014 – Rz. 51 ff., 55.

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Darauf können sich die Beteiligten einstellen. Sie dürfen dann Zahlungen (die ihrer Ansicht nach eine abziehbare Umsatzsteuer enthalten) nur aufgrund ordnungsgemäßer Rechnungen vornehmen, wollen sie nicht ihren Vorsteuerabzug riskieren. Nur sie können von ihren Geschäftspartnern solche Rechnungen verlangen.47 Dieser „private Durchsetzungsmechanismus“ ist einfacher und personalsparender durchzuführen als nachträgliche Verwaltungssanktionen wegen Verletzung von Formvorschriften, die nach der Rechtsprechung in bestimmten Fällen an die Stelle einer Versagung des Vorsteuerabzugs treten.48 Wenn die Steuer-„Vergünstigungen“ dagegen auch ohne Rechnungen garantiert sind, besteht kein systemimmanenter Grund mehr dafür, dass die Steuerpflichtigen unter sich auf ordnungsgemäßen und vollständigen Rechnungen bestehen. Zwar können die Mitgliedstaaten Sanktionen verhängen,49 die aber betragsmäßig nicht auf die Verweigerung des Vorsteuerabzugs hinauslaufen dürfen50 und somit milder sind und deren Verhängung zudem weiteren Verwaltungsaufwand mit sich bringt. Die Praxis und Kultur, die Rechnungen richtig auszustellen, könnte dann verloren gehen. Ein solcher Verzicht auf das „formelle“ Rechnungserfordernis würde die Steuerverwaltung vor zu große Herausforderungen stellen. Insbesondere wäre die Rechtslage für den Steuerpflichtigen bei freier Beweiswürdigung ohne Rechnungserfordernis recht unübersichtlich, so dass auch der Grundsatz der Rechtsicherheit für die Wahrung der „Form“ spricht. dd) Praktische Folgen der formellen oder materiellen Betrachtungsweise Der Gerichtshof erklärt eine ordnungsgemäße Rechnung klar zur bloßen formellen Bedingung des Vorsteuerabzugs. Das impliziert aber durchaus noch nicht, dass die Rechnung ohne weiteres entbehrlich wäre. Im römischen Legisaktionenprozess konnte ein Formverstoß ohne weiteres zum Prozessverlust führen.51 Im Kontext der Rechtsprechung des Gerichtshofs bedeutet die Einordung als „nur“ formelle Bedingung allerdings durchaus, dass diese eher verzichtbar, also nicht durchweg zwingend ist. Nach der formellen Betrachtungsweise des Gerichtshofs kann das Recht auf Vorsteuerabzug unabhängig vom Besitz einer ordnungsgemäßen Rechnung entstehen und insbesondere bevor diese ordnungsgemäße Rechnung überhaupt vorliegt. Hat es der Empfänger einer unvollständigen Rechnung ausgeübt, hat das seine Richtigkeit und er muss nicht etwa Zinsen auf zu Unrecht einbehaltene Vorsteuer zahlen.52 Zusätzlich 47 Vgl. auch EuGH, Urt. v. 29.4.2004 – C-152/02, ECLI:EU:C:2004:268 – Terra Baubedarf-­ Handel, UR 2004, 323 – Tenor, Rz. 35 a.E. 48 Z.B. EuGH, Urt. v. 15.9.2016 – C-516/14, ECLI:EU:C:2016:690 – Barlis 06 – Investimentos Imobiliários e Turísticos, UR 2016, 795 m. Anm. Maunz – Rz. 47 ff. 49 EuGH, Urt. v. 15.9.2016 – C-516/14, ECLI:EU:C:2016:690 – Barlis 06 – Investimentos Imobiliários e Turísticos, UR 2016, 795 m. Anm. Maunz – Rz. 48; EuGH, Urt. v. 8.5.2008 – C-95/07 und C-96/07, ECLI:EU:C:2008:267 – Ecotrade, UR 2008, 512 – Rz. 68. 50 EuGH, Urt. v. 17.7.2014  – C-272/13, ECLI:EU:C:2014:2091  – Equoland, UR 2015, 75  – Rz. 46 f. 51 Vgl. Apathy/Klingenberg/Pennitz, Einführung in das römische Recht, 2016, § 46, S. 271. 52 Vgl. EuGH, Urt. v. 15.9.2016 – C-518/14, ECLI:EU:C:2016:691 – Senatex, UR 2016, 800 m. Anm. Maunz – Rz. 42 f.

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greift der Gerichtshof auf den Neutralitätsgrundsatz als fundamentales Prinzip des Mehrwertsteuerrechts und den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zurück.53 Ob eine Rechnung völlig fehlen darf, ist allerdings höchst zweifelhaft.54 In den Reverse-Charge-Fällen und ähnlich in Bezug auf eine unzureichend dokumentierte steuerbefreite innergemeinschaftliche Lieferung würde bei Bestehen auf einer vollständigen und gar sofortigen Rechnung drohen, dass der Unternehmer die Steuer für seine Eingangsumsätze endgültig tragen muss, ohne dass dies durch die Dokumentations- und Verknüpfungsfunktion der Rechnung (s.o., S. 115) gerechtfertigt wäre. Man kann diesen Gedanken einer „nicht neutralen“ Endbelastung des Unternehmers auch über das „Reverse-Charge-Verfahren“ hinaus verallgemeinern. Auch dies lässt sich noch mit dem Neutralitätsgrundsatz begründen, sofern nachweislich die materiellen Voraussetzungen des Vorsteuerabzugs erfüllt sind und der Leistungsempfänger trotz unvollständiger Rechnung gezahlt hat. Ein sorgfältiger Unternehmer sollte allerdings nur gegen eine ordnungsgemäße Rechnung zahlen. Nach dem Bundesgerichtshof kann der Leistungsempfänger das von ihm geschuldete Entgelt grundsätzlich nach § 273 Abs. 1 BGB zurückhalten, bis der Leistende ihm die Rechnung erteilt.55 Ist die Rechnung nun aber für den Leistungsempfänger unerkennbar unrichtig, z.B. aufgrund eines Zahlendrehers in der Umsatz-Steueridentifikationsnummer und er zahlt, dann droht eine temporäre Verletzung des Neutralitätsgrundsatzes, die allerdings durch Rechnungsberichtigung beseitigt werden kann. Ebenso droht eine normalerweise nur temporäre Beeinträchtigung des Neutralitätsgrundsatzes, wenn ein Unternehmer ohne Rechnung oder auf eine erkennbar unvollständige Rechnung zahlt. In beiden Fällen entstand aufgrund der formellen Betrachtungsweise des Gerichtshofs das Vorsteuerabzugsrecht bereits mit Leistungserbringung. Der Bundesfinanzhof betrachtet den Besitz einer vollständigen Rechnung, die den in Art. 226 MwStSystRL vorgesehen Inhalt aufweist, hingegen als materielle Anspruchsvoraussetzung.56 Es würde eines größeren Argumentationsaufwandes bedürfen, Vorsteuerabzug zuzusprechen, obwohl eine materielle Voraussetzung nicht erfüllt ist. Gleichwohl kommt der Bundesgerichtshof aufgrund des Vorrangs des Unionsrechts zu gleichen Ergebnissen, nämlich dass ein Vorsteuerabzug bestehen kann, auch wenn (noch) keine vollständige Rechnung vorlag. Danach entsteht das Vorsteuerabzugsrecht ex tunc mit der Rechnungsberichtigung und wirkt auf den Zeitpunkt zurück, in dem die Rechnung erstmals ausgestellt wurde.57 53 EuGH, Urt. v. 15.9.2016  – C-518/14, ECLI:EU:C:2016:691  – Senatex, UR 2016, 800 m. Anm. Maunz – Rz. 37. 54 Zum Rechnungserfordernis s. noch EuGH, Urt. v. 29.4.2004  – C-152/02, ECLI:EU:​ C:2004:268 – Terra Baubedarf-Handel, UR 2004, 323 – Tenor und Rz. 34 ff.; EuGH, Urt. v. 12.4.2018 – C-8/17, ECLI:EU:C:2018:249 – Biosafe Indústria Recicglagens, UR 2018, 399 m. Anm. Heinrichshofen; EuGH, Urt. v. 21.3.2018  – C-533/16, ECLI:EU:C:2018:204  – Volkswagen, UR 2018, 359 m. Anm. Maunz. 55 BGH, Urt. v. 26.6.2014 – VII ZR 247/13, MDR 2014, 1064. 56 Z.B. BFH, Urt. v. 20.10.2016 – V R 26/15, UR 2017, 60 m. Anm. Sterzinger – Rz. 17. 57 BFH, Urt. v. 20.10.2016 – V R 26/15, UR 2017, 60 m. Anm. Sterzinger – Ls. 1.

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In keinem Falle muss der Steuerpflichtige, der den Vorsteuerabzug ohne vollständige Rechnung ausgeübt hat, Zinsen an das Finanzamt zahlen, da ihm der Anspruch ja von Anfang an zustand, und sei es ex tunc. Damit entfällt allerdings der Druck, Rechnungen möglichst schnell zu berichtigen. ee) Versagung von Vergünstigungen oder Verwaltungssanktionen? Sind zur Durchsetzung der formellen Ausübungsmodalitäten des Vorsteuerabzugs nun Verwaltungssanktionen oder die Versagung der „Vergünstigungen“ vorzuziehen? Es geht um eine Abwägung dreier Faktoren: Gutglaubensschutz und Neutralitätsprinzip auf der einen Seite und die effiziente und betrugsresistente Steuerbeitreibung auf der anderen. Normalerweise fällt das Anliegen einer effizienten und betrugsresistenten Steuerbei­ treibung erheblich stärker ins Gewicht als in Fällen der Steuerschuldverlagerung. Das Steueraufkommen kann bei unvollständigen Rechnungen gefährdet sein, falls der dem Vorsteuerabzug entsprechende Ausgangsumsatz wegen schwieriger Identifizierung oder erschwerter Auffindbarkeit des steuerpflichtigen Leistungsempfängers letztlich nicht besteuert wird. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs rechtfertigen solche Verwaltungsschwierigkeiten aber normalerweise nicht, dass dem Einzelnen seine im Unionsrecht wurzelnden Rechte vorenthalten werden. Hat man das Rechnungserfordernis einmal als nur formelle Bedingung eingeordnet, liegt der Weg, den der Gerichtshof eingeschlagen hat, also sehr nahe. Jedenfalls solche Rechnungsanforderungen, die noch nicht einmal zur Identifizierung des Rechnungsausstellers notwendig sind, sollten nicht die weitreichende Folge der Versagung des Vorsteuerabzugs zur Folge haben. Beispielsweise kann im Zeitalter des elektronischen Daten­ austausches und der elektronischen Mehrwert-Steuerregistrierung die vollständige Anschrift des Steuerpflichtigen entbehrlich sein.58 Ohnehin ist es heute bisweilen schwierig, eine wirtschaftliche Tätigkeit einem bestimmten Ort zuzuordnen,59 ein Faktor, der allerdings gegenwärtig im direkten Steuerrecht60 zu mehr Schwierigkeiten führt als im Mehrwertsteuerrecht. Bei nicht erkennbar fehlerhaften Rechnungen käme zudem ohnehin Gutglaubensschutz in Betracht. Dabei dürfte ein guter Teil der in Rechnungen angegebenen ­Adressen nicht erkennbar falsch sein, es sei denn man verpflichtete den Rechnungsempfänger zu Recherchen, was aber Aufgabe der Behörden ist.61 Anders ist es beim unsorgfältigen Unternehmer, der auf eine erkennbar unvollständige Rechnung zahlt.

58 EuGH, Schlussanträge des Generalanwalts Wahl v. 5.7.2017  – C-374/16 und C-375/16, ECLI:EU:C:17:515 – Geissel und Butin, UR 2017, 629 – Rz. 38 ff., 43. 59 EuGH, Schlussanträge des Generalanwalts Wahl v. 5.7.2017  – C-374/16 und C-375/16, ECLI:EU:C:17:515 – Geissel und Butin, UR 2017, 629 – Rz. 44 ff., 45. 60 Vgl. auch Sinnig, Besteuerung der digitalen Wirtschaft in Großbritannien, Italien und Ungarn – ein europäischer Rechtsvergleich, ISR 2017, 408. 61 EuGH, Urt. v. 29.7.2010 – C-188/09, ECLI:EU:C:2010:454 – Profaktor Kulesza, Frankowski, Jóźwiak, Orłowski, UR 2010, 775 – Rz. 53 ff., 61 ff., 65; EuGH, Schlussanträge des Gene-

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Dem gutgläubigen und nicht fahrlässigen Steuerpflichtigen, der lediglich aus Versehen (d.h. für ihn nicht erkennbar) unvollständige Rechnungen besitzt, kommt also von Anfang an Vertrauensschutz zu. Insofern stellt sich eigentlich hier nicht die Frage einer rückwirkenden Berichtigung. Darüber hinaus ist bei der gebotenen unionsrechtskonformen Auslegung des Umsatzsteuerrechts mit dem Bundesfinanzhof davon auszugehen, dass eine nachträglich vervollständigte Rechnung auf den Zeitpunkt zurückwirkt, zu dem die (u.U. auch erkennbar unvollständige) Rechnung erstmals ausgestellt wurde.62 c) Zwischenergebnis zu 1. Der Gerichtshof ist bestrebt, die Rechte der Steuerpflichtigen weitgehend zu schützen. Unter Betonung des Neutralitätsgrundsatzes und des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit ist er im Hinblick auf die Modalitäten, die diese bei der Ausübung ihrer Rechte zu beachten haben – den „formellen“ Bedingungen – großzügiger als bislang die deutsche Finanzverwaltung und Rechtsprechung. Er verkennt aber keinesfalls die Dokumentations- und Nachweisfunktion der Rechnung. Das „formelle“ Erfordernis einer Rechnung bleibt daher grundsätzlich unverzichtbar.63 Viele Fragen sind allerdings noch offen: Welche Angaben muss diese Rechnung im Einzelnen enthalten?64 Inwieweit sind in der Richtlinie selbst vorgesehene Pflichtangaben entbehrlich? Inwieweit und wie lange kann eine unvollständige Rechnung rückwirkend berichtigt werden? Welche Rechnungen sind überhaupt berichtigungsfähig und was für Mindestbestandteile müssen diese ggf. enthalten? Über die Beantwortung dieser – jedenfalls für den Mehrwertsteuerrechtler – spannenden Fragen kann ich hier jedoch nicht spekulieren. Ihre Beantwortung bleibt dem Gerichtshof vorbehalten, der jedoch um den Sinn der Form weiß. Auch mein französischer Kollege, Generalanwalt Yves Bot betonte in seinem Schlussantrag zum Senatex-Fall, dass er „keinesfalls die Relevanz der Rechnung im gemeinsamen Mehrwertsteuersystem in Abrede” stelle.65 ralanwalts Wahl v. 5.7.2017  – C-374/16 und C-375/16, ECLI:EU:C:17:515  – Geissel und Butin, UR 2017, 629 – Rz. 63 ff. 62 BFH, Urt. v. 20.10.2016 – V R 26/15, UR 2017, 60 m. Anm. Sterzinger – Ls. 1. 63 S.  auch EuGH, Schlussanträge des Generalanwalts Bot v. 17.2.2016  – C-518/14, ECLI:EU:C:2016:91 – Senatex – Rz. 43: „Ich stelle keinesfalls die Relevanz der Rechnung im gemeinsamen Mehrwertsteuersystem in Abrede.“ Vgl. auch EuGH, Urt. v. 15.9.2016  – C-518/14, ECLI:EU:C:2016:691 – Senatex, UR 2016, 800 m. Anm. Maunz – Rz. 39. 64 Dazu BFH, Urt. v. 20.10.2016 – V R 26/15, UR 2017, 60 m. Anm. Sterzinger – Ls. 2. 65 EuGH, Schlussanträge des Generalanwalts Bot v. 17.2.2016 – C-518/14, ECLI:EU:C:2016:91 – Senatex – Rz. 47 f.; dazu auch BFH, Urt. v. 20.10.2016 – V R 26/15, UR 2017, 60 m. Anm. Sterzinger – Rz. 22 ff.; EuGH, Urt. v. 12.4.2018 – C-8/17, ECLI:EU:C:2018:249 – Biosafe Indústria Recicglagens, UR 2018, 399 m. Anm. Heinrichshofen – Rz. 32 f.: Ausübungsvo­ raussetzung; s.ä. EuGH, Urt. v. 21.3.2018 – C-533/16, ECLI:EU:C:2018:204 – Volkswagen, UR 2018, 359 m. Anm. Maunz – Rz. 42.

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2. Formerfordernis der Steueridentifikationsnummer Auch die Verpflichtung zur Mitteilung einer Umsatz-Steueridentifikationsnummer ist nach der Rechtsprechung ein formelles und damit u.U. verzichtbares Erfordernis im Hinblick auf das Recht auf Mehrwertsteuerbefreiung bei innergemeinschaftlichen Lieferungen oder im Rahmen der innergemeinschaftlichen Verbringung. Folglich erfordert nach dem Gerichtshof der Grundsatz der steuerlichen Neutralität, dass die Mehrwertsteuerbefreiung gewährt wird, selbst wenn der Steuerpflichtige derartigen Anforderungen nicht genügt hat.66 Die Beraterseite begrüßte natürlich, dass der „EuGH … deutschen Formalismus aus-“67 hebele und dass deutsche Steuerpflichtige nun nicht mehr die Hilfssheriffs der Finanzverwaltung seien.68 Die Mehrwertsteuerrichtlinie enthält keine eindeutigen Vorschriften darüber, ob die Identifikationsnummer unverzichtbares materielles oder verzichtbares formelles Erfordernis ist. Nach Art. 214 der Richtlinie treffen die Mitgliedstaaten die erforderlichen Maßnahmen, damit bestimmte Steuerpflichtige jeweils eine individuelle Mehrwertsteuer-Identifikationsnummer erhalten. Diese Nummer ermöglicht den Steuerbehörden, die Umsatzsteuer leichter zu erheben, indem der betreffende Steuerpflichtige identifiziert und das tatsächliche Bestehen der Umsätze kontrolliert wird, um Steuerhinterziehungen zu bekämpfen. Zudem gehört die Mehrwertsteuer-Identifikationsnummer zu den Pflichtvoraussetzungen der Rechnung i.S.d. Art. 226 MwStSystRL, die nach der Rechtsprechung aber jedenfalls partiell u.U. verzichtbare formelle Erfordernisse darstellen (s.o.). Gem. Art. 262 und 264 MwStSystRL muss jeder Steuerpflichtiger mit Mehrwertsteuer-Identifikationsnummer in seiner obligatorischen zusammenfassenden Meldung die Mehrwertsteuer-Identifikationsnummer der Erwerber, an die er geliefert hat, ­sowie der Steuerpflichtigen und der nicht steuerpflichtigen juristischen Personen, für  die er Dienstleistungen erbracht hat, angeben. Bei einer innergemeinschaftlichen Verbringung soll die Mitteilung der Umsatz-Steueridentifikationsnummer dem Nachweis dienen, dass der Steuerpflichtigen den Gegenstand „für die Zwecke seines Unternehmens“ in diesen Mitgliedstaat verbracht hat und damit steuerbefreit ist.69 Entscheidend ist, welche Funktion die Mehrwertsteuer-Identifikationsnummer (USt-­ IdNr.) nach dem System der Richtlinie spielt. Ausgangspunkt ist, dass ein Ausgleich 66 Vgl. EuGH, Urt. v. 20.10.2016 – C-24/15, ECLI:EU:C:2016:791 – Plöckl, UR 2016, 882 – Rz. 39 ff.; EuGH, Urt. v. 27.9.2012 – C-587/10 – VSTR, UR 2012, 832 m. Anm. Burgmaier – Rz. 45 ff., 51 f.; EuGH, Urt. v. 6.9.2012 – C-273/11 – Mecsek-Gabona, UR 2012, 796 m. Anm. Maunz – Rz. 57 ff., 59 ff. für den besonderen Fall der nachträglichen Löschung der Nummer; EuGH, Urt. v. 22.12.2010 – C-438/09 – Dankowski, UR 2011, 435 – Rz. 33 und 47 und EuGH, Urt. v. 9.7.2015 – C-183/14 – Salomie ua, UR 2015, 594 –Tenor Nr. 2 und Rz. 60 ff. für den Fall der Nichtregistrierung. 67 Haufe Online Redaktion, 28.9.2012. 68 Küffner, Haufe Online Redaktion, 28.9.2012. 69 So auch das übereinstimmende Vorbringen der Kommission und Deutschlands im Fall Plöckl, vgl. EuGH, Urt. v. 20.10.2016 – C-24/15, ECLI:EU:C:2016:791 – Plöckl, UR 2016, 882 – Rz. 34.

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für die fehlende physische Grenzkontrolle geschaffen werden musste. Dieser besteht im elektronischen Austausch bestimmter Daten im Rahmen des sog. MIAS-Systems (MwSt-Informationsaustausch-System). In dessen Rahmen hat der Unionsgesetzgeber der Mehrwertsteuer-Identifikationsnummer eine Schlüsselfunktion zur Verknüpfung der Befreiung der Lieferung oder Verbringung in dem einen Mitgliedstaat und der Erwerbsbesteuerung in dem anderen Mitgliedstaat zugewiesen.70 Sie bewirkt eine eindeutige Kennzeichnung eines Unternehmens innerhalb der Europäischen Union und dient zur Abwicklung des innergemeinschaftlichen Waren- und Dienstleistungsverkehrs. Sie ist Grundlage des Informationsaustauschs des Ursprungsmitgliedstaates und der Kontrolle im Bestimmungsmitgliedstaat im Rahmen des Mehrwertsteuer-Informations-Austausch-Systems (MIAS). Nach dem Gerichtshof hängt sie unbestreitbar eng mit der Steuerpflichtigeneigenschaft zusammen.71 Die Mehrwertsteuer-Identifikationsnummer stellt mithin ein Beweismittel dar, das nach der Rechtsprechung u.U. aber durch freie Beweiswürdigung ersetzt werden kann und muss, soweit keine Anhaltspunkt für Missbrauch oder Steuerhinterziehung bestehen.72 Dabei muss der Steuerpflichtige u.U. noch nicht einmal alles getan haben, um auch die formellen Voraussetzungen zu erfüllen. Maßgeblich ist dann allein die von den nationalen Behörden und Finanzgerichten zu würdigende materielle Rechtslage.73 Wenn die Beteiligung des Steuerpflichtigen an einer Steuerhinterziehung ausgeschlossen wurde, kann ihm die Mehrwertsteuerbefreiung u.U. „nicht mit der Begründung versagt werden, dass er nicht alle ihm zumutbaren Maßnahmen ergriffen habe, um eine formelle Verpflichtung, nämlich die Mitteilung der vom Bestimmungsmitgliedstaat der innergemeinschaftlichen Verbringung erteilten Umsatz-Steueridentifikationsnummer, zu erfüllen.“74 Ohne Mehrwertsteuer-Identifikationsnummer des Empfängerlandes dürften allerdings die Finanzämter des Ausgangstaates bei Verbringungen und Lieferungen Steuerhinterziehung im Empfängerland schwerlich ausschließen können. Auch diese gilt es aber zu verhindern, nicht nur Steuerhinterziehung und Missbrauch im eigenen Land.75 Regelmäßig nimmt der Gerichthof auch Steuerverkürzungen in den Bestimmungsländern, ja in allen Mitgliedstaaten, durch die sich eine Lieferkette zieht, in den Blick. Unzulässig ist eine Verschleierung der Identität der Erwerber in dem anderen Mitgliedstaat, die es ermöglicht, die für den dort getätigten innergemeinschaftlichen Erwerb geschuldete Mehrwertsteuer zu hinterziehen.76 In solchen Fällen hat die Verweigerung von Befreiungen für innergemeinschaftliche Lie70 Kritisch zum Urteil Plöckl daher Lohse, EuGH macht MIAS wortlos wertlos, BB 2016, 3031 ff. 71 EuGH, Urt. v. 27.9.2012 – C-587/10 – VSTR, UR 2012, 832 m. Anm. Burgmaier – Rz. 48. 72 EuGH, Urt. v. 20.10.2016 – C-24/15, ECLI:EU:C:2016:791 – Plöckl, UR 2016, 882 – Rz. 41 ff. 73 EuGH, Urt. v. 20.10.2016 – C-24/15, ECLI:EU:C:2016:791 – Plöckl, UR 2016, 882 – Rz. 51 ff. in Abgrenzung zu EuGH, Urt. v. 27.9.2012 – C-587/10 – VSTR, ECLI:EU:C:2012:592 = UR 2012, 832 m. Anm. Burgmaier. 74 EuGH, Urt. v. 20.10.2016 – C-24/15, ECLI:EU:C:2016:791 – Plöckl, UR 2016, 882 – Rz. 55. 75 Darauf stützt sich der Ausschluss der Hinterziehung im Urteil Plöckl, EuGH, Urt. v. 20.10.2016 – C-24/15, ECLI:EU:C:2016:791 – Plöckl, UR 2016, 882 – Rz. 45 und 55. 76 EuGH, Urt. v. 7.12.2010 – C-285/09, ECLI:EU:C:2010:742, R., UR 2011, 15 m. Anm. Sterzinger  – Tenor und 47; EuGH, Urt. v. 18.12.2014  – C-131/13, C-163/13 und C-164/13, ECLI:EU:C:2014:2455 – Italmoda, UR 2015, 106.

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ferungen nach der Rechtsprechung eine abschreckende Wirkung zum Schutz des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems. In bestimmten Fällen, in denen ernsthafte Gründe für die Annahme bestehen, dass der mit der Lieferung zusammenhängende innergemeinschaftliche Erwerb im Bestimmungsland – trotz gegenseitiger Amtshilfe und Zusammenarbeit zwischen den Finanzbehörden der betroffenen Mitgliedstaaten – der Zahlung der Mehrwertsteuer entgehen könnte, muss der Ausgangsmitgliedstaat sogar grundsätzlich dem Lieferer der Gegenstände die Befreiung verweigern und ihn verpflichten, die Steuer nachzuentrichten, um zu vermeiden, dass der fragliche Umsatz jeglicher Besteuerung entgeht.77 Dafür, dass jegliche Besteuerung entfällt, stehen die Chancen aber nicht schlecht, wenn die Lieferung oder Verbringung im Ausgangsmitgliedstaat befreit ist und ihr Verbleib mangels Steueridentifikationsnummer des Empfängermitgliedstaats nicht ohne weiteres nachverfolgt werden kann.78 Insofern steht die Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Bekämpfung des Mehrwertsteuerbetrugs in einem gewissen Spannungsverhältnis zur Entbehrlichkeit der Umsatz-Steueridentifikationsnummer. Vor diesem Hintergrund betonte GA Saugmandsgaard Øe im Fall Ploeckl, dass sein Ansatz den „Grundsatz der Pflicht der Steuerpflichtigen, bei innergemeinschaftlichen Verbringungen eine vom Bestimmungsstaat erteilte Umsatz-Steueridentifikationsnummer mitzuteilen, insbesondere angesichts seiner Bedeutung für die Kontrolle der innergemeinschaftlichen Umsätze, nicht in Frage“ stelle. Es geht, wie schon bei den Rechnungserfordernissen, nur um die Art der Sanktion. In Anbetracht der „Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Ablehnung von Formalismus“ dürften keine Steuer-„Vergünstigungen“ versagt sondern aus Verhältnismäßigkeitsgründen nur verwaltungsrechtliche Sanktionen verhängt werden.79 Das ist allerdings, wie schon in Bezug auf unvollständige Rechnungen aufgezeigt, aufwändiger für die Verwaltung und tendenziell weniger effektiv, zumal die Sanktionen im Betrag hinter der in Frage stehenden Steuervergünstigung zurückbleiben müssen (s.o.). Zudem ist die Umsatz-Steuer­ identifikationsnummer unter den Pflichterfordernissen des Art.  226 MwStSystRL sicherlich gewichtiger als die Adresse i.S.d. genauen Bezeichnung des Ortes, wo die wirtschaftliche Tätigkeit stattfinde (s.o.). Ihre Nichtangabe kann auch mal im Sinne der Rechtsprechung den sicheren Nachweis verhindern, dass die materiellen Anfor77 EuGH, Urt. v. 7.12.2010  – C-285/09, ECLI:EU:C:2010:742, R., UR 2011, 15 m. Anm. ­Sterzinger – Rz. 50 und 52. 78 S. auch Lohse, EuGH macht MIAS wortlos wertlos, BB 2016, 3031 ff., 3032: „Muster für ein Geschäftsmodell zum grenzüberschreitenden unionsrechtlichen Mehrwertsteuerbetrug…, bei dem ein inländischer Steuerpflichtiger Waren in einen anderen Mitgliedstaat verbringt und dort ohne jegliche Mehrwertsteuerbelastung vertreibt, weil er sich nicht registrieren lässt.” 79 EuGH, Schlussanträge des Generalanwalts Saugmandsgaard Øe v. 6.4.2016  – C-24/15, ECLI:EU:C:2016:204  – Plöckl  – Rz.  135  ff. Zur Problematik der verwaltungsrechtlichen Sanktionen im Mehrwertsteuerrecht s. auch Kokott, Bedeutung und Wirkungen deutscher und europäischer Grundrechte im Steuerstrafrecht und Steuerstrafverfahren, NZWiSt 2017, 409.

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derungen tatsächlich erfüllt sind. Dann kann die Steuervergünstigung allerdings versagt werden.80 Gleichwohl kann das Bestehen auf der Mitteilung der Mehrwertsteuer-Identifikationsnummer unter bestimmten Umständen Formalismus sein, das kommt aber nicht notwendiger Weise ihrer Verzichtbarkeit gleich. Noch mehr als in Bezug auf die Rechnungserfordernisse ist m.E. hier Jherings Wort von der Form als geschworener Feindin der Willkür in Erinnerung zu halten. Die Finanzämter und Gerichte können an die Grenzen ihrer Kontroll- und Erkenntnismöglichkeiten stoßen, wenn sie ohne Mehrwertsteuer-Identifikationsnummer Lieferungen und Verbringungen ins Ausland würdigen sollen. Das kann die Rechtssicherheit, Vorhersehbarkeit und Berechenbarkeit des Rechts bedrohen und Missbrauch und Steuerhinterziehung begünstigen. Diese können nämlich gut generalpräventiv durch Bestehen auf die Mitteilung der Umsatz-Steueridentifikationsnummer bekämpft werden, soweit diese Angabe nicht ausnahmsweise unmöglich ist.81 Denn die Angabe der Umsatz-Steueridentifikationsnummer dient zum Nachweis der Voraussetzungen für die Befreiung einer innergemeinschaftlichen Transaktion und zugleich der Sicherstellung der ordnungsgemäßen Besteuerung im Bestimmungsland. Die so ermöglichte Nachverfolgung der Leistung wirkt präventiv Missbrauch und Steuerhinterziehungen entgegen. Dieser Effekt lässt sich kaum erreichen, wenn man das Unterlassen der Mitteilung der Umsatz-Steuer­ identifikationsnummer immer damit rechtfertigen könnte, dass ja alles gut gegangen sei. Dieses Anliegen der Bekämpfung des Mehrwertsteuerbetrugs ist in der Rechtsprechung des Gerichtshofs sehr präsent82 und hat in der Taricco und Italmoda-Rechtsprechungslinie83 sogar zu Konzessionen an die Rechtssicherheit geführt. Vor diesem Hintergrund ist es umso interessanter, die weitere Entwicklung der Rechtsprechung zu den formellen Erfordernissen wie Rechnung und Mitteilung der Umsatz-Steuer­ identifikationsnummer abzuwarten. Meines Erachtens ist zwischen den Fällen der innergemeinschaftlichen Lieferung, bei denen es um die Umsatz-Steueridentifikationsnummer des Leistungsempfängers geht, und dem innergemeinschaftlichen Verbringen zu unterscheiden, bei der der Verbringende lediglich eine eigene Umsatz-Steueridentifikationsnummer angeben muss. Ähnlich wie in Bezug auf die Verallgemeinerung der zunächst nur für Fälle der Verlagerung der Steuerschuld entwickelten Rechtsprechung zur Entbehrlichkeit von 80 EuGH, Urt. v. 6.9.2012 – C-273/11, ECLI:EU:C:2012:547 – Mecsek-Gabona, UR 2012, 796 m. Anm. Maunz – Rz. 60. 81 Vgl. EuGH, Urt. v. 27.9.2012 – C-587/10 – VSTR, ECLI:EU:C:2012:592 = UR 2012, 832 m. Anm. Burgmaier. 82 Z.B. EuGH, Urt. v. 6.9.2012 – C-273/11, ECLI:EU:C:2012:547 – Mecsek-Gabona, UR 2012, 796 m. Anm. Maunz – Rz. 47 ff. 83 Vgl. EuGH, Urt. v. 8.9.2015 – C-105/14, ECLI:EU:C:2015:555 – Taricco u.a., UR 2016, 367; EuGH, Urt. v. 18.12.2014  – C-131/13, C-163/13 und C-164/13, ECLI:EU:C:2014:2455  – Italmoda, UR 2015, 106; dazu Kokott, Bedeutung und Wirkungen deutscher und euro­ päischer Grundrechte im Steuerstrafrecht und Steuerstrafverfahren, NZWiSt 2017, 409 ff. – unter II. Das europäische Legalitätsprinzip im Mehrwertsteuerrecht.

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Rechnungsangaben ist ebenfalls Behutsamkeit geboten, soweit es um die Übertragung der Rechtsprechung zur innergemeinschaftlichen Lieferung auf das innergemeinschaftliche Verbringen geht. Insbesondere leuchtet nicht ohne weiteres ein, wa­ rum dem Verbringenden die Angabe seiner eigenen Steueridentifikationsnummer aus Gründen der Verhältnismäßigkeit nicht zumutbar sein sollte. Gut vor diesem Hintergrund ist es übrigens, dass ich diesen Vortrag im Jahre 2018 und nicht im Jahre 2019 halte. Denn die Kommission hat im Rahmen ihrer angestrebten großen Reform der Mehrwertsteuer für den Handel innerhalb der EU als eine von drei Sofortmaßnahmen, die bereits am 1.1.2019 in Kraft treten sollen, die Anerkennung der Mehrwertsteuer-Identifikationsnummer des Kunden als materielle Bedingung für die Steuerbefreiung innergemeinschaftlicher Lieferungen vorgesehen!84 Auf diese Weise erhält die Umsatzsteuer ein schönes Geschenk zum ihrem hundertsten Geburtstag, das ihr betrugsresistente Vitalität verleihen möge. Wir stimmen wahrscheinlich dahin überein, dass das Gemeinsame Mehrwertsteuersystem mit Umsatz-Steueridentifikationsnummer besser funktionieren kann. Mit dieser optimistischen Perspektive komme ich zum Schluss und zu meinen Ergebnissen:

IV. Ergebnisse/Ausblick Wer ein Recht unter der Mehrwertsteuerrichtlinie hat, soll es grundsätzlich auch in Anspruch nehmen können, ohne unverhältnismäßige formelle Ausübungsmodalitäten beachten zu müssen. Etwas anderes gilt nur für Betrüger. Dieser Ansatz der EuGH-­ Rechtsprechung leuchtet prima facie jedem ein. Er scheint dem „common sense“ zu entsprechen. Gewisse formelle Ausübungsmodalitäten könnte man jedoch als abstrakte, formalisierte Beweiswürdigungsregeln dahingehend betrachten, dass die Verwaltung und die Gerichte normalerweise davon ausgehen können, dass nur derjenige berechtigt ist, der sie beachtet. Das dient der gleichmäßigen und vorhersehbaren Rechtsanwendung im Massenfallrecht und verhindert forum shopping. Insbesondere dienen formelle Ausübungsmodalitäten, wie bestimmte Rechnungsangaben und die Mitteilung der Mehrwertsteuer-Identifikationsnummer, der Transparenz und Nachverfolgbarkeit der Leistungsbeziehungen und damit präventiv der Bekämpfung von Missbrauch und Steuerhinterziehung, ein Ziel, was sich die Union und die Staaten gegenwärtig groß auf die Fahnen geschrieben haben. Aber natürlich gibt es Konstellationen, in der eine formelle Anforderung ihren Zweck nicht mehr erfüllt oder der Steuerpflichtige sie nicht erfüllen kann. Solche Konstellationen hat der Gerichtshof identifiziert und insofern zu Recht einem übertrieben Formalismus Einhalt geboten. 84 European Commission, 4.10.2017, COM(2017) 566 final, Communication from the Commission to the European Parliament, the Council and the European Economic and Social Committee, On the follow-up to the Action Plan on VAT Towards a single EU VAT area – Time to act, S. 8, 3.1.1.1. b) „Three „quick fixes“ requested by the Council“, 2. Spiegelstrich.

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Für die Zukunft gilt es im Hinblick auf die formellen Erfordernisse jedoch die Balance zu halten zwischen den Rechten des Steuerpflichtigen und dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz auf der einen und dem Neutralitätsgrundsatz und der uniformen und einfachen Anwendung des Mehrwertsteuerrechts auf der anderen Seite. Formerfordernisse können dabei durchaus auch der Rechtsicherheit dienen sowie dazu, Missbrauch und Hinterziehung zu erschweren, was ebenfalls ein aktuelles Anliegen des Unionsrechts und des Gerichthofs ist. Das Bestehen auf bestimmten unschwer einzuhaltenden Formalien ist nicht unverhältnismäßig im Hinblick auf diese Ziele.

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Die Besteuerung der Körperschaften öffentlichen Rechts im Wandel der Zeit Inhaltsübersicht I. Vorbemerkung II. Vor 100 Jahren I II. 100 Jahre später 1. Allgemeine Grundsätze

2. Lücken der Besteuerung im System 3. Überbesteuerung im Fall sogenannter Beistandsleistungen? IV. Ein Blick in die Zukunft

I. Vorbemerkung Die Besteuerung der Körperschaften öffentlichen Rechts gehört seit jeher zu den dogmatisch anspruchsvollen Bereichen des Umsatzsteuerrechts. Die Einbeziehung dieser Körperschaften in ein System der allgemeinen Verbrauchsbesteuerung führt für Tätigkeiten, die der Ausübung öffentlicher Gewalt dienen, zu einer Vielzahl von Auslegungsfragen. Der nachstehende Beitrag soll dabei zunächst mit einem Blick zurück zu den Anfängen der Umsatzbesteuerung zeigen, dass die auftretenden Grundfragen keineswegs neu sind. In der Folge soll das bestehende System mit den Grundsätzen verglichen werden, die vor 100 Jahren an den Anfängen der Umsatzbesteuerung standen. Dabei wird deutlich, dass viele dieser Grundfragen auch im bestehenden Konzept noch keiner befriedigenden Lösung zugeführt werden konnten und die Konzepte für eine systematische Weiterentwicklung durchaus vielfältig sind. Im Zentrum der Betrachtung soll dabei nicht ein historischer Abriss, sondern die Frage stehen, inwieweit das geltende System im Vergleich zu den Anfängen vor dem Hintergrund der Belastungskonzeption der Umsatzsteuer Fortschritte beinhaltet. Abschließend soll ein kurzer Ausblick auf mögliche Entwicklungen gegeben werden, die eine systemkonforme Ausgestaltung herbeiführen könnten.

II. Vor 100 Jahren Dem Umsatzsteuergesetz 1918 war der Begriff des Unternehmers als solcher fremd. In § 1 dUStG 1918 wurde das Steuersubjekt mit dem Terminus „jemand“ bezeichnet, der Lieferungen und sonstige Leistungen „innerhalb der von ihm selbständig ausgeübten gewerblichen oder beruflichen Tätigkeit im Inland gegen Entgelt ausführt“. Die Frage nach der Einordnung von Körperschaften öffentlichen Rechts als Steuersubjekt war damit gesetzlich im dUStG 1918 nicht explizit geregelt und der Auslegung durch die Praxis überantwortet.

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Markus Achatz

Popitz führte dazu aus, dass die Verwaltungstätigkeit des Staates und der öffentlichen Verbände, „jedoch mit Ausnahme der Ausübung der öffentlichen Gewalt“ der Umsatzsteuer unterläge.1 Dies leitete er aus den Merkmalen der gewerblichen oder beruflichen Tätigkeit unter Heranziehung der Entwicklungsgeschichte und des Vergleichs mit anderen Rechtsgebieten ab. Eine solche (gewerbliche oder berufliche) Tätigkeit würde nämlich danach durch folgende Merkmale bestimmt: Es bedurfte einer Rechtspersönlichkeit mit Selbständigkeit, einer Tätigkeitsabsicht und einer Tätigkeit.2 Hinsichtlich der Tätigkeitsabsicht führt Popitz aus, dass es einer Erwerbsabsicht nicht bedarf, diese aber auf eine Tätigkeit gegenüber Dritten gerichtet sein muss. Die Tätigkeit selbst setzt Arbeit voraus, die nachhaltig und entgeltlich sein muss. Auf die Art der Tätigkeit kam es dabei nicht an, wobei Popitz in seinem Kommentar beispielhaft die Urerzeugung, Gewerbe im engeren Sinn, den Handel, den Verkehr, die freien Berufe, die Vereine und wohltätigen Unternehmen (als Verwaltungen zusammengefasst) und „die Verwaltungstätigkeit des Staates und der öffentlichen Verbände, jedoch mit Ausnahme der Ausübung der öffentlichen Gewalt“ anführte.3 Im Zusammenhang mit dem Merkmal der Tätigkeitsabsicht hält Popitz sodann fest, dass diese einen Plan erfordere, der die Sphäre des Eigenlebens überschreiten muss. Der Unternehmer muss seine Aufgabe darin sehen, Dritten gegenüber wirtschaftlich auswertbare Beziehungen zu suchen und auszunutzen. Vorgänge der Hauswirtschaft und der Eigenproduktionen scheiden damit aus. Dazu führt Popitz weiter aus, dass auch für den Staat die umsatzsteuerliche relevante Sphäre von jener „des Eigenlebens“ abzugrenzen ist. Während beim physischen Menschen das Eigenleben darin bestünde, was jemand zu seiner und seiner Familie Erhaltung vornimmt, sei beim Staat die Betätigung der öffentlichen Gewalt als das zum Bestehen des Staates begrifflich Notwendige aus seiner Gesamttätigkeit auszuscheiden.4 Eine gewerbliche Tätigkeit liege erst vor, wenn sich der Staat „auf andere Gebiete“ begebe. Die Schwierigkeit bestand freilich von Anfang an darin, Kriterien für das Vorliegen der Ausübung öffentlicher Gewalt zu entwickeln. Popitz grenzt diese terminologisch von der sozialen Tätigkeit des Staates ab und führt weiter aus, das sich die Leistungen auf dem Gebiete der öffentlichen Gewalt von den übrigen Tätigkeitsbereichen zunächst nicht dadurch unterscheiden, dass sie unter den Normen des öffentlichen Rechts stehen. Auch Veranstaltungen im Zusammenhang mit dem Betrieb eines Gewerbes können unter dem Schutz des öffentlichen Rechts stehen. Nicht entscheidend könne ferner sein, ob ein öffentliches Interesse oder ein öffentlicher Zweck verfolgt werde oder ob an einen Verwaltungsakt eine öffentliche Gebühr geknüpft sei.5 Entscheidend sei nach Popitz allein die Wirkung des staatlichen Aktes: Diese müsse mit

1 Vgl. Popitz, Umsatzsteuergesetz, 2. Aufl 1921, S. 142 f. 2 Vgl. Popitz, (Fn. 1), S. 142. 3 Vgl. Popitz, (Fn. 1), S. 143. 4 Vgl. Popitz (Fn. 1), S. 161. 5 Vgl. Popitz (Fn. 1), S. 182.

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der allein der öffentlichen Gewalt wesentlichen Macht, die sich in Zwang äußern kann, in Verbindung stehen.6 Vor diesem Hintergrund bestand seit jeher kein Zweifel, dass Akte der Militärhoheit, Justizakte, Akte der Schulhoheit, und die Akte der Polizei als Ausübung öffentlicher Gewalt zu qualifizieren waren.7 Die Abgrenzung war im übrigen allerdings kasuistisch: So sollte es etwa bei den Gemeinden hinsichtlich der „Leistungen der Wasserleitungen, Kanalisation, Reinigungsanstalten“ darauf ankommen, ob ein öffentlich-­ rechtlicher Anschlusszwang besteht. Diesfalls wäre eine Ausübung öffentlicher Gewalt gegeben, nicht jedoch, wenn die Leistungen aus einem gemeinwirtschaftlichen Motiv heraus erbracht werden. Ob die Leistungen auch von Privatunternehmen dargebracht werden konnten, spielte keine Rolle.8 Abzustellen war dabei auf die jeweilige Leistung, nicht hingegen auf die organisatorische Einordnung der jeweiligen Verwaltungsstelle.9 Der bloße Zusammenhang einer Leistung mit der obrigkeitlichen Tätigkeit schloss die Steuerpflicht nicht aus, wenn es bezogen auf die einzelne Leistung an einer Ausübung öffentlicher Gewalt fehlte. Wenn der Staat oder eine Universität in der Anstalt Lehrmittel veräußert, Gelegenheit zur Beköstigung gibt oder Internate zur Verfügung gestellt werden, lag danach eine gewerbliche Tätigkeit vor.10 Ob sich der Staat zur Ausübung der öffentlichen Gewalt einer öffentlichen Behörde bediente, war nicht entscheidend. Die Betrauung von Privatpersonen bedingte nicht, dass für die Leistung Steuerpflicht eintrat. Diente die Tätigkeit privater Unternehmen etwa der Ausübung polizeilicher Zwecke, unterlag die Leistung nicht der Steuerpflicht.11 Daneben bestanden auch explizite Steuerbefreiungen, die in ihrer Wirkung der Ausklammerung jener Leistungen entsprochen haben, die in Ausübung öffentlicher Gewalt ausgeführt worden sind. Damit war etwa auch im Ergebnis die Erbringung von Leistungen im Rahmen der sozialen Fürsorge nicht mit Umsatzsteuer belastet, sei es weil sie der Ausübung öffentlicher Gewalt zugerechnet worden sind, sei es weil sie im 6 Damit war der Unternehmensbereich insoweit enger als jener nach der MwStSystRL, als mit Mitteln des privaten Rechts ausgeübte Tätigkeiten der Ausübung öffentlicher Gewalt dienen konnten. Im Bereich öffentlich rechtlich geregelter Tätigkeiten bedurfte es dagegen keines spezifischen Wettbewerbsverhältnisses, um Tätigkeiten, die nicht mit der Ausübung von Zwang verbunden sind, einzubeziehen. Das geltende System erlaubt dagegen bei Vorliegen eines relevanten Wettbewerbsverhältnisses auch die Einbeziehung solcher im Kernbereich öffentlicher Gewalt gelegener Tätigkeiten. Vgl. dazu unten bei Fn. 16. 7 Vgl. Popitz (Fn. 1), S. 183. 8 Vgl. Popitz (Fn. 1), S. 184. 9 Insoweit entsprach das UStG den Anforderungen an eine moderne Verbrauchsbesteuerung weit besser als die in weiterer Folge vorgenommenen Anknüpfung an die dem Körperschaftsteuergesetz entnommene Rechtsfigur des Betriebs gewerblicher Art. 10 Vgl. Popitz (Fn. 1), S. 185. 11 Vgl. Popitz (Fn. 1), S. 184 – Demgegenüber bleibt der beliehene Unternehmer unter Geltung des Unionsrechts unternehmerisch tätig; vgl. EuGH, Urt. v. 25.7.1991  – C-202/90, ECLI:EU:C:1991:332 – Ayuntamiento de Sevilla/Recaudadores de las Zonas primera y segunda, UR 1993, 122 m. Anm. Weiß.

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Rahmen einer gewerblichen Tätigkeit ausgeführt unter einen Steuerbefreiungstatbestand fielen.12 Die Umsatzbesteuerung der Körperschaften öffentlichen Rechts wies damit bereits an der Wiege der Umsatzbesteuerung systematische Bezüge einer modernen Verbrauchs­ besteuerung auf: Die Belastung knüpfte an das Vorliegen einer entgeltlichen Leistung an, die der Besteuerung grundsätzlich unabhängig davon unterliegen sollte, ob sie von einem privaten Rechtssubjekt oder einer öffentlich-rechtlichen Körperschaft erbracht wurde. Die besondere Behandlung für die Fälle der Ausübung der öffentlichen Gewalt wurde einer systematischen Begründung zugeführt, indem die hoheitliche Sphäre einer Körperschaft öffentlichen Rechts mit der privaten Sphäre eines Privatrechtssubjektes gleichgesetzt worden ist. Aus der Perspektive einer allgemeinen Verbrauchsbesteuerung war freilich wenig überzeugend, dass die Ausübung öffentlicher Gewalt die Steuerpflicht in jedem Fall ausgeschlossen hatte, und zwar auch für Leistungen, die entgeltlich auch von Privatrechtssubjekten ausgeführt worden sind.

III. 100 Jahre später 1. Allgemeine Grundsätze Auch im System der MwStSystRL stellt sich die Kardinalfrage, wie mit Tätigkeiten zu verfahren ist, die diesen Körperschaften im Rahmen der öffentlichen Gewalt obliegen. Anders als im Vorunionsrechtszeitalter stehen solche Tätigkeiten nicht vorbehalt- und ausnahmslos außerhalb des Anwendungsbereichs der MwStSystRL: Nach Art.  13 Abs.  1 MwStSystRL gelten Staaten, Länder, Gemeinden und sonstige Einrichtungen des öffentlichen Rechts nicht als Steuerpflichtige, soweit sie Tätigkeiten ausüben oder Umsätze bewirken, die ihnen im Rahmen der öffentlichen Gewalt obliegen. Für diese Leistungen tritt gem. Art. 13 Abs. 1 UAbs 2 MwStSystRL Steuerpflicht ein, sofern eine Behandlung als Nichtsteuerpflichtige zu größeren Wettbewerbsverzerrungen führen würde. Die Unternehmereigenschaft einer Körperschaft öffentlichen Rechts ist somit im System der MwStSystRL an Hand eines komplexen Regel-Ausnahme- Rückausnahmekonzeptes zu prüfen.13 Mit dieser Regelung soll im Ergebnis eine systemwidrige Nichtbesteuerung von Leistungen, die im Rahmen der Ausübung öffentlicher Gewalt gegen Entgelt ausgeführt werden, vermieden werden. Geht man der Frage nach, unter welchen Voraussetzungen von einer Tätigkeit im Rahmen der öffentlichen Gewalt auszugehen ist, lässt sich festhalten, dass nach der Rechtsprechung des EuGH eine solche Tätigkeit dann vorliegt, wenn eine öffentlich rechtliche Einrichtung die Tätigkeit im Rahmen der eigens für sie geltenden rechtli12 Vgl. Popitz, (Fn. 1), S. 186. 13 Vgl. dazu ausführlich Wiesch, Die umsatzsteuerliche Behandlung der öffentlichen Hand, Dissertation 2015, S. 47 ff.

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chen Regelungen ausübt.14 Soweit Leistungen unter den gleichen rechtlichen Bedingungen, wie sie für private Wirtschaftsteilnehmer gelten, erbracht werden, steht dies nach der Rechtsprechung einem Handeln im Rahmen der öffentlichen Gewalt entgegen.15 Damit ist diese Frage im Grunde nach dem nationalen Recht zu entscheiden. Die Abgrenzung unterscheidet sich von jener, die Popitz angedacht hatte zunächst insofern, als nach Unionsrecht nicht erst die Ausübung von Zwang, sondern bereits der Regelungskontext zur Ausübung öffentlicher Gewalt führen kann.16 Nach Unionsrecht kann allerdings auch im Kernbereich öffentlicher Gewalt, in dem der Staat Zwang ausübt, bei Bestehen eines Wettbewerbsverhältnisses Steuerpflicht eintreten. 2. Lücken der Besteuerung im System Das in Art 13 MwStSystRL angeordnete Regel-Ausnahme-Rückausnahmekonzept bedingt allerdings, dass der Eintritt einer solchen wettbewerbsbedingten Verbrauchsbesteuerung von mehreren Faktoren abhängig ist, die im Ergebnis der Regelung eine nur geringe Effektivität belassen dürften: Systematisch ist zunächst darauf hinzuweisen, dass die Vorschrift des Art. 13 MwStSystRL die Regelung des Art. 9 Abs. 1 MwStSystRL einschränkt, der im Grundsatz anordnet, dass als Steuerpflichtiger gilt, wer eine wirtschaftliche Tätigkeit unabhängig von ihrem Ort, Zweck und Ergebnis selbständig ausübt.17 Die Einschränkung des Art. 13 MwStSystRL kann somit folgerichtig nur für jene Tätigkeiten der öffentlichen Hand eintreten, die den Charakter einer wirtschaftlichen Tätigkeit aufweisen. Das Vorliegen einer wirtschaftlichen Tätigkeit ist dabei – sieht man an dieser Stelle von den Aspekten der Nachhaltigkeit und der Selbständigkeit der Leistungserbringung ab – primär an der Frage festzumachen, ob Leistungen gegen Entgelt ausgeführt werden.18 Dies wiederum impliziert, dass ein Leistungsempfänger eine Gegenleistung für den Erhalt einer Leistung aufwendet. Aus dieser Perspektive sind Leistungen der öffentlichen Hand, die sich an einen allgemeinen, unbestimmten Adressatenkreis richten oder an bestimmte Leistungsempfänger ohne Entgelt ausgeführt werden, nicht vom Anwendungsbereich des Art. 9 MwStSystRL erfasst und damit auch nicht Gegenstand der Ausnahmeregelung des Art. 13 MwStSystRL. Es gilt somit festzuhalten, dass Tätigkeiten, die im Rahmen der öffentlichen Gewalt obliegen, je nach Charakter und Ausgestaltung entweder schon deshalb nicht der 14 Vgl. EuGH, Urt. v. 17.10.1989 – 231/87 und 129/88, ECLI:EU:C:1989:381 – Ufficio distrettuale delle imposte dirette di Fiorenzuola d‘Arda e.a / Comune di Carpaneto Piacentino u.a., UR 1991, 77 m. Anm. Ramme; EuGH, Urt. v. 15.5.1990 – C-4/89, ECLI:EU:C:1990:204 – Comune di Carpaneto Piacentino u.a. / Ufficio provinciale imposta sul valore aggiunto di Piacenza, UR 1991, 225; EuGH, Urt. v. 14.12.2000 – C-446/98, ECLI:EU:C:2000:691 – Fazenda Pública, UR 2001, 108 m. Anm. Widmann. 15 EuGH, Urt. v 6.2.1997  – C-247/95, ECLI:EU:C:1997:57  – Finanzamt Augsburg-Stadt/ Marktgemeinde Welden, UR 1997, 261 m. Anm. Stadie. 16 Vgl. dazu oben bei Fn. 5. 17 Vgl. Ruppe/Achatz, Umsatzsteuergesetz-Kommentar 5. Aufl. 2018, § 2 Tz. 9/1. 18 Vgl. auch Wiesch (Fn. 13), S. 23 ff.

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Umsatzsteuer unterliegen können, weil es ihnen an den Merkmalen einer wirtschaftlichen Tätigkeit fehlt, oder weil sie unter Art. 13 MwStSystRL fallen. Während in den Fällen des Art. 13 MwStSystRL eine Steuerpflicht eintreten kann, ist in Fällen, in denen es an den Merkmalen einer wirtschaftlichen Tätigkeit von vorneherein fehlt, Art. 13 MwStSystRL nicht anwendbar, womit auch eine Steuerpflicht nicht in Betracht kommen kann. Für die im Anwendungsbereich des Art. 13 MwStSystRL verbleibenden Tätigkeiten ist ferner ein die Steuerpflicht begründendes Wettbewerbsverhältnis auszuschließen, wenn bestimmte Tätigkeiten von privaten Wirtschaftsteilnehmern nicht ausgeführt werden dürfen oder diese mit den von privaten Wirtschaftsteilnehmern ausgeführten Leistungen nicht vergleichbar sind und somit kein relevantes Wettbewerbsverhältnis vorliegt.19 Stehen sich allerdings öffentliche und private Wirtschaftsteilnehmer mit einem vergleichbaren Leistungsangebot gegenüber, tritt Steuerpflicht ein, wenn die ansonsten eintretenden Wettbewerbsverzerrungen mehr als unbedeutend sind.20 Insofern kann somit eine Steuerpflicht nicht eintreten, wenn es an einem hinreichenden Wettbewerb fehlt. In diesem Zusammenhang ist auch zu bestimmen, auf welchen Markt sich die Wettbewerbsprüfung bezieht. Nach der Rechtsprechung des EuGH ist für die Frage des maßgeblichen Marktes auf die jeweilige Tätigkeit abzustellen, wobei es nicht darauf ankommt, ob das konkrete Auftreten einer öffentlich-rechtlichen Einrichtung auf einem lokalen Markt zu einer Wettbewerbssituation führt, sondern nur, ob eine vergleichbare Tätigkeit von einem privaten Wirtschaftsteilnehmer innerhalb des nationalen Marktes ebenfalls ausgeübt werden könnte.21 Dieser Ansatz ist wie bereits oben festgehalten gegenüber den Anfängen der Umsatzbesteuerung ein systematischer Fortschritt. Berücksichtigt man allerdings, dass die Frage, ob eine Tätigkeit im Rahmen der öffentlichen Gewalt ausgeübt wird, anhand der für diese Tätigkeit geltenden Regelungen des betreffenden Mitgliedstaates zu erfolgen hat22 und letztlich auch die Frage des Bestehens eines Wettbewerbes von den mitgliedstaatlichen Wettbewerbsverhältnissen abhängig ist, kommt den Mitgliedstaaten ein nicht unerheblicher Gestaltungsspielraum zu, den Anwendungsbereich der Rückausnahmeregelung zu verengen und damit jenen der Befreiungsvorschrift – aus der Perspektive einer allgemeinen Verbrauchsbesteuerung unsystematisch – auszuweiten. Ferner ist – wie bereits oben angeführt – zu berücksichtigen, dass die Rückausnahme des Art. 13 Abs. 1 UAbs 2 MwStSystRL nicht für jene Leistungen der Ausübung öffentlicher Gewalt zum Tragen kommen kann, die außerhalb des Anwendungsbereichs 19 Vgl. Wiesch (Fn. 13), S. 71 ff. 20 Vgl. dazu Wiesch (Fn. 13), S. 77 ff.; Ruppe/Achatz (Fn. 17) § 2 Tz. 9/3. 21 EuGH, Urt. v. 16.9.2008 – C-288/07, ECLI:EU:C:2008:505 – Isle of Wight Council u.a., UR 2008, 816 m. Anm. Küffner; EuGH, Urt. v. 6.11.2014 – C-42/13, ECLI:EU:C:2014:2345 – Cartiera dell’Adda. 22 Vgl. EuGH, Urt. v. 17.10.1989  – 231/87 und 129/88, ECLI:EU:C:1989:381  – Ufficio dis­ trettuale delle imposte dirette di Fiorenzuola d‘Arda e.a / Comune di Carpaneto Piacentino u.a., UR 1991, 77 m. Anm. Ramme; Ruppe/Achatz (Fn. 17) § 2 Tz. 9/2.

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des Art. 9 MwStSystRL liegen. Dieser Umstand ist vor dem Hintergrund kritisch zu sehen, dass Mitgliedstaaten über einen nicht unbeträchtlichen Gestaltungsspielraum bei der Ausgestaltung der Finanzierung der von öffentlichen Einrichtungen erbrachten Leistungen verfügen. Im Grunde stehen sich in einem Kontinuum an Finanzierungsformen die Extreme einer ausschließlich kostendeckenden umsatzsteuerlich relevanten Gebührenfinanzierung und einer ausschließlichen Steuerfinanzierung aus öffentlichen Mitteln gegenüber, womit ungeachtet der jeweils eröffneten Möglichkeit des Verbrauchs vergleichbarer Leistungen Belastungsunterschiede eintreten können, die mit den Zielen einer allgemeinen Verbrauchsbesteuerung nicht ohne weiteres vereinbar scheinen. Die Problematik der Ausgestaltung der Finanzierung der Leistungserstellung besteht vor dem Hintergrund der EuGH-Rechtsprechung zumindest in zweifacher Hinsicht: Zum einen dürfte es den Mitgliedsaaten nicht verwehrt sein, Gegenleistungen derart auszugestalten, dass sie ungeachtet ihres Einkommensverwendungscharakters nicht die Anforderungen an eine Erzielung von Einnahmen i.S.d. Art. 9 MwStSystRL erfüllen. Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang auf die Entscheidung „Kommission gegen Finnland“.23 In diesem Fall hat der EuGH das Vorliegen einer wirtschaftlichen Tätigkeit verneint, da die aufzuwendende Gegenleistung für öffentlich-rechtlich erbrachte Rechtshilfe nur zu einem geringen Teil nach dem Wert der Leistung, im ­Übrigen von der Höhe des Einkommens und des Vermögens des Leistungsempfängers abhängig war. Zum anderen scheint das Vorliegen einer wirtschaftlichen Tätigkeit offenbar nicht nur vorauszusetzen, dass nachhaltig Leistungen gegen Entgelt erbracht werden, sondern dürften auch die Umstände maßgebend sein, unter denen solche Leistungen gewöhnlich erbracht werden. So hat der EuGH in der Rechtssache Borsele ausgesprochen, dass im Fall einer Gemeinde, die Schülertransporte durchführte und hierfür nur von einem Drittel der Eltern Beiträge einhob, weshalb nur 3% der Kosten gedeckt waren, ungeachtet des Vorliegens von Leistungsentgelten keine wirtschaftliche Tätigkeit vorliege.24 Schon Popitz hat gezeigt, dass die Umsatzbesteuerung öffentlicher Leistungen von der Ausgestaltung ihrer Finanzierung abhängt.25 Die unionsrechtlich gebotene Einbeziehung entgeltlicher Leistungen kann vom jeweiligen Mitgliedstaat auch heute noch durch Steuerfinanzierung vermieden werden; und selbst im Fall einer entgeltbezogenen Gebührenfinanzierung kann die Einbeziehung durch Gestaltung der rechtlichen Rahmenbedingungen für den Wettbewerb mit privaten Wirtschaftsteilnehmern unterlaufen werden. Damit ist aber insgesamt festzuhalten, dass die Effektivität der bestehenden Regelung, eine Verbrauchsbesteuerung jener Leistungen abzusichern, die im Rahmen der ­öffentlichen Gewalt ausgeführt werden, in der Hand der Mitgliedsaaten liegt. Die 23 EuGH, Urt. v. 29.10.2009 – C-246/08, ECLI:EU:C:2009:671 – Kommission / Finnland, UR 2010, 224. 24 EuGH, Urt. v. 12.5.2016 – C-520/14, ECLI:EU:C:2016:334 – Gemeente Borsele, UR 2016, 520 m. Anm. Küffner und Anm. Sterzinger, UR 2016, 543. 25 Popitz (Fn. 1) S. 182; vgl. Wiesch (Fn. 13), S. 151 ff; Achatz, RFG 2014, 25 ff.

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MwSt­Syst­RL gibt dabei ein zwar einheitliches Konzept vor, das aber die autonome Vor­gehensweisen der Mitgliedsaaten legitimiert und im Ergebnis dazu führt, dass vergleichbare Leistungen in der Union unterschiedlichen Verbrauchsteuerbelastungen unterliegen können. 3. Überbesteuerung im Fall sogenannter Beistandsleistungen? Die bestehende Regelung begünstigt aber nicht nur wettbewerbsverzerrende „Unterbesteuerungen“, sie scheint auch in nicht unbeträchtlichem Ausmaß zu systemwidrigen „Überbesteuerungen“ zu führen. Besonders in das Blickfeld geraten sind – nicht zuletzt auf Grund des stetig voranschreitenden Erfordernisses, die Effizienz des Mitteleinsatzes in öffentlichen Haushalten zu heben – Formen der Zusammenarbeit und Kooperation öffentlicher Haushalte, etwa im Bereich der kommunalen Verwaltungen oder auch der sozialen Sicherheit.26 Die Anwendung der Grundsätze einer richtlinienkonformen Auslegung ließen in der Rechtsanwendungspraxis zunehmend Zweifel entstehen, inwieweit die traditionelle Nichtbesteuerung von Beistandsleistungen und Kooperationsformen weiter aufrechterhalten werden konnte. Die Rechtsprechung des BFH hat diese Frage verneint27 und auch in Österreich hat das BMF im Salzburger Steuerdialog 2012 gestützt auf Unionsrecht eine weitgehende Besteuerung solcher Leistungen postuliert.28 Die Steuerpflicht von Beistandsleistungen erscheint allerdings teleologisch problematisch: Wird die Kooperation mit Handlungsformen des privaten Rechts durchgeführt, scheint eine Steuerpflicht in Anbetracht der verfolgten Zielsetzung insofern überschießend sein, als das Anknüpfen an die Handlungsform an sich nicht geeignet ist, die spezifischen Umstände zu berücksichtigen, unter denen diese Leistungen ausgeführt werden. Weist die Kooperation einen engen Konnex zur nichtwirtschaftlichen Sphäre der Körperschaft öffentlichen Rechts auf, erscheint die Belastung jedenfalls systemwidrig. Soweit die Beistandsleistungen auf öffentlich-rechtlichen Vorschriften beruhen, tritt dieser Aspekt in besonderer Weise zu Tage, wenn die Wettbewerbsrelevanz der Beistandsleistung bejaht wird ohne die spezifischen Umstände der Leistungserbringung zu berücksichtigen.29 Der deutsche Gesetzgeber hat daher mit der Regelung des § 2b UStG der Einbeziehung in die Steuerpflicht zumindest für jene Fälle Grenzen gesetzt, in denen die Kooperation auf der Grundlage öffentlicher Vorschriften erfolgt. Danach liegen gem. § 2b Abs. 3 Nr. 2 Satz 1 UStG keine größeren Wettbewerbsverzerrungen vor, wenn die Zusammenarbeit durch gemeinsame spezifische öffentliche Interessen bestimmt wird. Der unionsrechtliche Rahmen für die Beurteilung der Unionsrechtskonformität der Regelung (und in Österreich für die unionsrechtskonforme Auslegung der an den Begriff des Betriebs gewerblicher Art anknüpfenden Definition des Unternehmensbereichs) stellt sich dabei m.E. wie folgt dar: 26 Vgl. Wiesch (Fn. 13) S. 151 ff; Achatz, RFG 2014, 25 ff. 27 Vgl. dazu ausführlich mit zahlreichen Nachweisen Wiesch (Fn. 13) S. 156 ff. 28 Vgl. dazu im Detail Achatz (Fn. 26), S. 25 mit weiteren Nachweisen. 29 Vgl. dazu Wiesch (Fn. 13) S. 157.

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Erfolgt die Zusammenarbeit mit Handlungsformen des privaten Rechts, scheint aus der Rechtsprechung des EuGH zu folgern, dass vom Vorliegen einer wirtschaftlichen Tätigkeit auszugehen ist.30 Zwingend ist dies m.E. jedoch nicht: Vielmehr ist zu prüfen, ob die Tätigkeit unter Umständen erfolgt, die jenen vergleichbar sind, unter denen eine derartige Leistung gewöhnlich erbracht wird.31 Auch ist im gegebenen Zusammenhang zu bedenken, dass nach der Rechtsprechung des EuGH Tätigkeiten einer Körperschaft öffentlichen Rechts, die die notwendigen Vorbedingungen für den Marktzugang schaffen, nicht als wirtschaftliche Tätigkeit in Erscheinung treten.32 Umso mehr muss das für Leistungen gelten, die der Vorbereitung von Tätigkeiten dienen, die in der Ausübung öffentlicher Gewalt bestehen. So hat auch der EuGH etwa Werbeleistungen, die entgeltlich ausgeführt worden sind und der Verwirklichung politischer Ziele dienten, der nichtwirtschaftlichen Sphäre zugeordnet.33 Für Leistungen, die der Kooperation von Körperschaften öffentlichen Rechts dienen, lassen sich mannigfach Gründe ins Treffen führen, die vor diesem Hintergrund gegen das Vorliegen einer wirtschaftlichen Tätigkeit sprechen. Die aus dem Gebot der Sparsamkeit, Wirtschaftlichkeit und Zweckmäßigkeit resultierenden Verpflichtungen, den Ressourceneinsatz zu optimieren, freie Kapazitäten für die kooperative Erfüllung von Aufgaben einzusetzen, überhängende Kosten zwecks Gewährleistung von Kostenwahrheit und Transparenz zu ersetzen, scheinen hinreichend zu sein, solchen Leistungen den Charakter einer wirtschaftlichen Tätigkeit abzusprechen. Vielmehr ist zu beachten, dass eine privatrechtliche Handlungsform zur Realisierung einer Kooperation für sich nicht dazu führen kann, dass die im Rahmen der Kooperation ausgeübte Tätigkeit außerhalb des öffentlichrechtlichen Regelungskontextes stünde. Aus einer wettbewerbsrelevanten Perspektive kommt hinzu, dass die Leistungen nicht selten spezifischer Natur sind, deren Bedarf der Markt nicht ohne erhebliche, (aber wohl umsetzbare) Anpassungen (etwa bei der Zurverfügungstellung von IT-Leistungen oder personeller Ressourcen) befriedigend kann.34 Freilich kann auch einer solchen Sichtweise am Ende nicht erspart bleiben, die (nicht) eintretenden Belastungswirkungen auf den Prüfstand der Belastungskonzeption der Umsatzsteuer als allgemeiner Verbrauchssteuer, die das Ziel der Belastung konsumptiver Einkommensverwendung verfolgt, zu stellen. Dabei ist naturgemäß zu berücksichtigen, dass die Belastungswirkungen auf der Ausgangsseite nicht ohne Beachtung der Effekte auf der Eingangsseite, und damit der möglichen Entlastung im Wege des Vorsteuerabzugs beurteilt werden können. Erst diese Gesamtsicht rechtfertigt, (nicht) eintretende Belastungen gemessen an der Belastungskonzeption als Über- oder Unterbesteuerung zu bewerten. Das bei einer solchen Betrachtung gewonnene Kaleidoskop lässt es höchst zweifelhaft erscheinen, ob das bestehende System gegenüber den 30 Vgl. oben. 31 Vgl. EuGH, Urt. v. 12.5.2016 – C-520/14, ECLI:EU:C:2016:334 – Gemeente Borsele, UR 2016, 520 m. Anm. Küffner und Anm. Sterzinger, UR 2016, 543. 32 EuGH v. 26.6.2007 – C-284/04, ECLI:EU:C:2007:381 – T-Mobile Austria u.a., UR 2007, 607 m. Anm. Burgmaier. 33 EuGH, Urt. v. 6.10.2009 – C-267/08, ECLI:EU:C:2009:619 – SPÖ Kärnten, UR 2009, 760. 34 Achatz (Fn. 26), S. 30.

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Anfängen der Umsatzbesteuerung einen substanziellen Fortschritt beinhaltet. Folgende Fallgruppen können unterschieden werden: a) Die Kooperation dient einer wirtschaftlichen Tätigkeit der Körperschaften öffentlichen Rechts: Die Belastung der Beistandsleistungen wird neutralisiert im Wege des Vorsteuerabzugs, sofern die Ausgangsleistungen (also jener Leistungen, deren Erstellung die Beistandsleistung dient) der Körperschaften öffentlichen Rechts steuerpflichtig sind. In Anbetracht des Vorsteuerabzugs wäre auch eine Nichtbesteuerung der Beistandsleistung vertretbar. Besteht für die Ausgangsleistung eine unechte Befreiung, tritt im Fall der Besteuerung der Beistandsleistung hinsichtlich der für die Kooperation anfallenden Personalkosten eine systemwidrige Belastung ein, zielt die unechte Befreiung doch gerade auf die Entlastung dieser Kosten von der Umsatzsteuer. Auch im Hinblick auf unecht befreite Leistungen wäre eine Nichtbesteuerung der Beistandsleistung somit systemgerecht. b) Die Kooperation dient der Ausübung öffentlicher Gewalt, wobei diese als wirtschaftliche Tätigkeit einzuordnen ist (also Leistungen gegen Entgelt erbracht werden) und die Wettbewerbsklausel die Steuerpflicht der Ausgangsleistungen der Körperschaften öffentlichen Rechts bedingt. Es treffen die vorhin getroffenen Feststellungen zu a) sinngemäß zu. c) Die Kooperation dient der Ausübung öffentlicher Gewalt, wobei diese als wirtschaftliche Tätigkeit einzuordnen ist und kein Wettbewerb besteht: Aus Verbrauchsteuersicht wäre eine Steuerpflicht der Ausgangsleistung der Körperschaften öffentlichen Rechts geboten. Im Ergebnis ist der Verbrauch allerdings ungeachtet der Nichtbesteuerung belastet, wenn man unterstellt, dass die Kosten der steuerpflichtigen Beistandsleistung an den Leistungsdestinar weitergegeben werden. Aus dieser Perspektive besteht keine systematische Notwendigkeit für eine Entlastung der Beistandsleistung, im Gegenteil, die Effekte einer Nichtbesteuerung liefen der Belastungskonzeption der Abgabe zuwider. d) Bleibt jener Fall zu betrachten, in dem die Beistandsleistung jenem Bereich der Körperschaft öffentlichen Rechts dient, in dem Leistungen an die Allgemeinheit oder ohne Entgelt erbracht werden: Hier erscheint bei erster Betrachtung eine Belastung der Beistandsleistung insoweit unsystematisch, als Personalkosten mit Umsatzsteuer belastet würden (siehe bereits a). Dies unter der Prämisse, dass eine Belastung der Körperschaft öffentlichen Rechts im Bereich außerhalb des Art. 9 MwStSystRL mit Umsatzsteuer nur insoweit der Belastungskonzeption der Umsatzsteuer entspricht, als sie auf die für die Erstellung des öffentlichen Leistungsangebots bezogenen Vorleistungen entfällt. Betrachtet man die letzte Fallgruppe genauer, müsste aber wohl zwischen jenen Leistungen, die der Versorgung der Allgemeinheit mit öffentlichen Gütern dienen, und der unentgeltlichen Erbringung individuell zurechenbarer Nutzenpotentiale unterschieden werden: Nur für die erste Gruppe trifft zu, dass eine Besteuerung von Beistandsleistungen zu einer unsystematischen Belastung führt, da es in diesen Fällen an einer belastbaren Ausgangsleistung fehlt. Werden dagegen individuell zuordenbare, als umsatzsteuerliche Leistungen in Erscheinung tretende Nutzenpotentiale von der 138

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öffentlichen Hand unentgeltlich zur Verfügung gestellt, ersetzt die Belastung der Beistandsleistung partiell die gänzliche Nichtbesteuerung der Ausgangsleistung. Im bestehenden System sind somit in einer Gesamtbetrachtung die durch eine (Nicht-) Besteuerung von Beistandsleistungen ausgelösten Belastungswirkungen nur teilweise mit der Belastungskonzeption der Umsatzbesteuerung in Einklang zu bringen. Eine Besteuerung der Beistandsleistung führt zum einen zu einer Überbelastung in Fällen der unechten Befreiung und in Fällen, in denen die Beistandsleistungen zur Erstellung eines öffentlichen Angebots führt, das gegenüber der Allgemeinheit erbracht wird und nicht in der Ausführung umsatzsteuerlicher Leistungen besteht. Eine Nichtbesteuerung hat zum anderen zur Folge, dass eine Unterbelastung in Fällen eintritt, in denen die öffentliche Hand Nutzenpotentiale schafft, die als umsatzsteuerliche Leistungen zu werten sind, für die aber keine Steuerpflicht besteht, sei es weil bei der Ausübung öffentlicher Gewalt kein Wettbewerb besteht oder Leistungen unentgeltlich ausgeführt werden. Eine je nach Fallkonstellation unterschiedliche Behandlung der Beistandsleistung erscheint aber unpraktikabel, zumal solche Leistungen vielfach auch sämtliche Bereiche gleichzeitig erfassen. Insofern ist zweifelhaft, ob im derzeitigen System überhaupt eine belastungsadäquate Regelung für Beistandsleistungen erzielbar ist, liegt doch das Problem in der Inkonsistenz des Systems der Besteuerung der Körperschaften öffentlichen Rechts selbst. Eine systemgerechte Ausgestaltung würde erreicht, wenn Leistungen der öffentlichen Hand, die dem Verbraucher ein konkretes Nutzenpotential verschaffen, unabhängig vom Bestehen eines Wettbewerbs der Besteuerung unterlägen. Ferner müssten aber auch solche umsatzsteuerlichen Leistungen erfasst werden, die unentgeltlich (also finanziert aus den Eigenmitteln der öffentlichen Hand) erbracht werden. In einem solchen System könnten Beistandsleistungen im Hinblick auf die Belastung der Ausgangsleistung gänzlich von der Umsatzsteuer (echt) befreit werden.

IV. Ein Blick in die Zukunft Die Schwächen des bestehenden Systems sind evident. Hinsichtlich der Ausgangseite besteht das generelle Problem, dass die öffentliche Hand über einen Gestaltungsspielraum verfügt, die Belastung der Leistung durch gänzliche oder teilweise Steuerfi­ nanzierung zu drosseln. Die hierdurch eintretenden unterschiedlichen Belastungen erscheinen insoweit systemgegeben, da es in Höhe einer Steuerfinanzierung an einer Einkommensverwendung des Abnehmers fehlt. Insofern kommt der allgemeine Grundsatz zum Tragen, dass derjenige, dem es gelingt, ohne Aufwand zu konsumieren, nicht mit der Abgabe belastet sein kann.35 Zu bedenken ist allerdings, dass die Körperschaft öffentlichen Rechts in Höhe der Steuerfinanzierung den Aufwand des Abnehmers aus eigenem für den Abnehmern trägt. Dies würde m.E. rechtfertigen, von einer Einkommensverwendung auszugehen. Eine Normalwertbesteuerung für 35 Ruppe/Achatz (Fn. 17), Einf Tz. 31 ff.

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Leistungen der öffentlichen Hand wäre somit auch im Rahmen des bestehenden Systems de lege ferenda rechtfertigbar und würde eine gleichmäßige Verbrauchsbesteuerung gewährleisten. Im Übrigen hat auch die Europäische Kommission bekanntlich Initiativen zu einer Diskussion der Reform der Besteuerung der Körperschaften öffentlichen Rechts gesetzt. Als mögliche Reformmodelle werden die Einführung eines Refundsystems und ein System der Vollbesteuerung angeführt.36 Beim Refundsystem sollen nachteilige Folgen der weitgehenden Vorsteuerbelastung durch eine Entlastung von der zu tragenden Vorsteuer hergeführt werden, wobei dieser Ausgleich außerhalb des harmonisierten Mehrwertsteuersystems erfolgen soll.37 Dagegen wird bei einem Vollbesteuerungssystem die öffentliche Hand umfassend in das Mehrwertsteuersystem einbezogen, indem Ausgangsleistungen möglichst vollständig der Besteuerung unterworfen werden und auf der Eingangsseite korrespondierend der Vorsteuerabzug zustehen soll.38 Sowohl für ein Refundsystem wie auch ein für Vollbesteuerungssystem stellen sich zahlreiche Fragen hinsichtlich der Reichweite der Ausgestaltung. Für die weitere Entwicklung könnte bedeutsam sein, dass Refundsysteme in der mitgliedstaatlichen Kompetenz liegen und lediglich die Beachtung unionsrechtlicher Vorgaben des Vertrages erfordern dürften, womit anders als im Fall eines Vollbesteuerungssystems ein harmonisiertes einstimmiges Vorgehen der Mitgliedstaaten nicht erforderlich sein dürfte. Unabhängig vom jeweiligen System wird dabei u.a. auch zu erörtern sein, ob und auf welche Weise jener Bereich in das System einzubeziehen ist, in dem der Staat Leistungen an bzw. für die Allgemeinheit erbringt, ohne dass einem Leistungsdestinar ein konkretes Nutzenpotential zuzuordnen wäre, somit also keine umsatzsteuerliche Leistungen ausgeführt werden. Dabei wird auch zu diskutieren sein, inwieweit der von Popitz angestellte Vergleich dieser Sphäre mit dem „Eigenleben physischer Menschen“ heute noch tragfähig ist. Anders als die Privatsphäre der physischen Person, der in den Fällen der Selbstversorgung keine ausgangsseitige Relevanz zukommt, produziert der Staat öffentliche Güter nicht für sich, sondern für seine Bürger. Dies gilt auch für jene Fälle, in denen die Produktion nicht zur Zuordnung individueller Nutzenpotentiale führt. Wie immer diese Frage beantwortet werden wird, ist insgesamt jedenfalls davon auszugehen, dass die Besteuerung der Körperschaften öffentlichen Rechts auch im MwSt-System der Union auch hinkünftig eine Vielzahl dogmatischer Herausforderungen beinhaltet.

36 Vgl. Europäische Kommission, Grünbuch über die Zukunft der Mehrwertsteuer, KOM (2010) 695 eng. 37 Vgl. Wiesch (Fn. 13), S. 304 ff. 38 Vgl. Wiesch (Fn. 13), S. 361 ff.

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Der Einfluss des EuGH auf das nationale Umsatzsteuerrecht Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Einfluss des EuGH auf das nationale UStG 1. Unentgeltliche Wertabgaben 2. Vorsteuerabzug nach § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 UStG 3. Vorsteuerabzug nach § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 UStG 4. Besteuerung der Reiseleistungen nach § 25 UStG 5. Mindestbemessungsgrundlage nach § 10 Abs. 5 UStG 6. Steuerbefreiung der Umsätze der staatlichen Hochschulen aus Forschungstätigkeit (§ 4 Nr. 21a UStG) 7. Steuerbefreiung für Umsätze, die unter das Rennwett- und Lotteriegesetz fallen, § 4 Nr. 9 Buchst. b UStG 8. Ermäßigter Steuersatz für Pferde, § 12 Abs. 2 UStG i.V.m. Nr. 1a der Anlage 2 9. Ermäßigter Steuersatz für Theater, ­Orchester u.a. nach § 12 Abs. 2 Nr. 7 Buchst. a UStG

10. Ausschluss vom Vorsteuerabzug bei ­gemischt genutzten Grundstücken, § 15 Abs. 1b UStG III. Einfluss des EuGH auf die nationale ­Anwendungspraxis 1. Mitgliederbeiträge 2. Umsätze als Bausparkassenvertreter, Versicherungsvertreter und Versicherungsmakler 3. Bemessungsgrundlage beim Tausch und tauschähnlichen Umsatz 4. Durchschnittssätze für land- und forstwirtschaftliche Betriebe 5. Differenzbesteuerung nach § 25a UStG 6. Preisnachlässe durch Vermittler 7. Legen eines Hausanschlusses zur Wasserversorgung 8. Änderung der Bemessungsgrundlage nach § 17 UStG IV. Zusammenfassung

I. Einleitung Der EuGH wurde im Jahr 1952 durch den Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) gegründet und nahm im Jahr 1953 seine Arbeit auf. Er war zunächst nur für Streitigkeiten innerhalb des EGKS-Vertrages zuständig. Nach Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und der Europäischen Atomgemeinschaft (EURATOM) durch die römischen Verträge 1957 war der EuGH als gemeinsames Organ der Gemeinschaften für sämtliche Streitigkeiten auf Grund der drei Verträge zuständig. Im Jahr 1989 wurde zur Entlastung des Gerichts das Gericht erster Instanz geschaffen. Seit dem Jahr 2005 besteht darüber hinaus das Gericht für den öffentlichen Dienst als Fachgericht, das die Zuständigkeit für Rechtsstreitigkeiten zwischen der Europäischen Union (bzw. ursprünglich der Europäischen Gemeinschaften) und ihren Beamten oder sonstigen Bediensteten hat.

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Seit dem Vertrag von Lissabon trat die Europäische Union an die Stelle der Euro­ päischen Gemeinschaft. Damit ist der EuGH seit dem 1.1.2009 eine gemeinsame Einrichtung der Europäischen Union und der Europäischen Atomgemeinschaft und zur Auslegung des Rechts dieser beiden Organisationen zuständig. Der EuGH hat als Organ der EU die Aufgabe, die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung der Verträge zu sichern (Art. 19 Abs. 1 Satz 2 EUV). Für die Durchsetzung des Unionsrechts kommen vor allem zwei Verfahren in Betracht: ȤȤ Das Vertragsverletzungsverfahren (Art. 258, 259 AEUV) kann von der Kommis­ sion eingeleitet werden, wenn ein Mitgliedstaat vorrangiges Unionsrecht nicht, nicht rechtzeitig oder nicht unionsrechtskonform anwendet. Der EuGH entscheidet in diesem Fall, ob eine Vertragsverletzung vorliegt. ȤȤ Im sog. Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 267 AEUV entscheidet der EuGH über die Gültigkeit und Auslegung von Unionsrecht. Die Frage der Vereinbarkeit des nationalen Rechts mit dem Unionsrecht ist nicht Gegenstand der Entscheidung des EuGH. Der EuGH ist nach seiner Rechtsprechung jedoch befugt, im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens dem nationalen Gericht Hinweise zu geben, die es ihm ermöglichen, über die Frage der Vereinbarkeit des nationalen Rechts mit dem Unionsrecht zu befinden. Die Entwicklung des nationalen Umsatzsteuerrechts ist durch die Rechtsprechung des EuGH umfänglich geprägt worden. Nachfolgend soll in einem ersten Abschnitt an lediglich einigen Beispielen aufgezeigt werden, in denen sich der nationale Gesetzgeber gezwungen sah, das nationale Umsatzsteuergesetz auf Grund der Rechtsprechung des EuGH zu ändern. In einem zweiten Abschnitt soll ebenfalls an einigen Beispielen nachgezeichnet werden, in denen die nationale Anwendungspraxis geändert werden musste, indem das nationale Umsatzsteuergesetz auf Grund der Rechtsprechung des EuGH durch richtlinienkonforme Auslegung entsprechend den Vorgaben des EuGH angewandt werden musste. Der nachfolgende Beitrag wird nicht die in den Beispielen aufgeführten Urteile des EuGH einer kritischen Würdigung unterziehen; das würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen. Es soll lediglich aufgezeigt werden, dass das nationale Umsatzsteuerrecht durch die Rechtsprechung des EuGH maßgeblich geprägt worden ist und sicherlich weiterhin geprägt werden wird.

II. Einfluss des EuGH auf das nationale UStG 1. Unentgeltliche Wertabgaben Das nationale Umsatzsteuergesetz erfasste bis zum 31.3.1999 die unentgeltlichen Wertabgaben als Gegenstandsentnahmen in § 1 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. a UStG, als Leistungseigenverbrauch in § 1 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b UStG, als Arbeitnehmerverbrauch 142

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in § 1 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b UStG, als Aufwendungseigenverbrauch in § 1 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. c UStG und schließlich als Gesellschafterverbrauch in § 1 Abs. 1 Nr. 3 UStG. Die gesetzlichen Regelungen zur Eigenverbrauchsbesteuerung in § 1 Abs. 1 Nr. 2 und 3 UStG stellten nicht auf einen vorher in Anspruch genommenen Vorsteuerabzug ab. Die Entnahmen oder die unternehmensfremde Verwendung von Gegenständen aus dem Unternehmen waren bis zum 31.3.1999 grundsätzlich auch dann steuerbar, wenn für die Anschaffung des Gegenstands selbst oder für Aufwendungen zu seiner Erhaltung oder für seinen Verbrauch kein Vorsteuerabzug beansprucht werden konnte. Mit Urteil vom 25.5.1993 entschied der EuGH1, dass Art.  6 Abs.  2 Buchst. a der 6. EG-Richtlinie die Besteuerung der privaten Verwendung eines dem Unternehmen zugeordneten Gegenstands, bei dessen Lieferung der Steuerpflichtige die Mehrwertsteuer abziehen konnte, ausschließt, soweit diese Verwendung Dienstleistungen umfasst, die der Steuerpflichtige von Dritten zur Erhaltung oder zum Gebrauch des Gegenstands ohne die Möglichkeit zum Vorsteuerabzug in Anspruch genommen hat. In Umsetzung des Urteils des EuGH und in Anlehnung an Art. 5 Abs. 6 und Art. 6 Abs. 2 der 6. EG-Richtlinie regelte der Gesetzgeber durch das Steuerentlastungsgesetz vom 24.3.19992 mit Wirkung ab dem 1.4.1999 die Eigenverbrauchsbesteuerung grundlegend neu. Das Gesetz macht die Besteuerung nunmehr davon abhängig, dass die entnommenen oder unentgeltlich zugewandten Gegenstände oder ihre Bestandteile zum vollen oder teilweisen Vorsteuerabzug berechtigt haben (§ 3 Abs. 1b UStG, § 3 Abs. 9a UStG.3 Durch das Steuerentlastungsgesetz 1999/2000/2002 wurde auch § 10 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 UStG entsprechend angepasst. 2. Vorsteuerabzug nach § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 UStG Nach § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 UStG 1980 konnte der Unternehmer die folgenden Vorsteuerbeträge abziehen: „die in Rechnungen im Sinne des § 14 gesondert ausgewiesene Steuer für Lieferungen oder sonstige Leistungen, die von anderen Unternehmern für sein Unternehmen ausgeführt worden sind.“ Nach Auffassung der Finanzverwaltung konnte folglich bei der Erteilung einer Rechnung i.S.d. § 14 Abs. 4 UStG der Vorsteuerabzug vom Leistungsempfänger grundsätzlich auch dann vorgenommen werden, wenn die Steuer für einen steuerfreien Umsatz ausgewiesen wurde oder der leistende Unternehmer die Sonderregelung des §  19 UStG anwendete.4 Auch der BFH gewährte dem Leistungsempfänger den Vorsteu-

1 EuGH v. 25.5.1993 – C-193/91 – Mohsche, BStBl. II 1993, 812 = UR 1993, 309 m. Anm. Widmann. 2 Steuerentlastungsgesetz 1999/2000/2002 v. 24.3.1999, BGBl. I 1999, 402 = BStBl. I 1999, 304. 3 Vgl. Nieskens in Rau/Dürrwächter, § 3 UStG Rz. 1295 ff. (September 2013); Heuermann in Sölch/Ringleb, § 3 UStG Rz. 300 ff. (März 2017). 4 Abschn. 192 UStR 1996.

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erabzug nach § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 UStG 1980 unabhängig davon, ob die ausgewiesene Umsatzsteuer geschuldet wurde.5 Mit Urteil vom 13.12.1989 entschied der EuGH6, dass Art. 17 Abs. 2 Buchst. a der 6. EG-Richtlinie dahin auszulegen ist, dass das Recht auf Vorsteuerabzug nur für die diejenigen Steuern besteht, die geschuldet werden – d.h. mit einem der Mehrwertsteuer unterworfenen Umsatz im Zusammenhang steht. Das Recht auf Vorsteuerabzug erstreckt sich nicht auf eine Steuer, die ausschließlich deshalb geschuldet wird, weil sie in der Rechnung ausgewiesen ist, so ausdrücklich der EuGH. Mit Urteil vom 2.4.1998 hat der BFH7 die entsprechende Begrenzung des Abzugsrechts durch den EuGH übernommen: „Bei richtlinienkonformer Auslegung des § 15 Abs. 1 Nr. 1 UStG ist somit nicht jeder, sondern nur der geschuldete Steuerbetrag als Vorsteuer abziehbar.“ An seiner früheren Rechtsprechung, nach der ein Steuerbetrag nach § 15 Abs. 1 Nr. 1 UStG 1980 unabhängig davon abziehbar war, ob er geschuldet wird, hält der BFH nicht mehr fest. Die Finanzverwaltung schloss sich dem Urteil des BFH umgehend an.8 Durch das Steueränderungsgesetz 20039 erhielt § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 UStG seine heutige Fassung. In § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr.1 UStG wird nunmehr auf die gesetzlich geschuldete Steuer abgestellt. Damit hat der Gesetzgeber die Rechtsprechung des EuGH expressis verbis umgesetzt.10 In der Regierungsbegründung geht der Gesetzgeber zwar von einer „Klarstellung“ aus. Ursächlich für die Gesetzesänderung ist jedoch die Rechtsprechung des EuGH. 3. Vorsteuerabzug nach § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 UStG Nach der nationalen Vorschrift des § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 UStG bis zum 29.6.2013 konnte der Unternehmer „die entrichtete Einfuhrumsatzsteuer“ als Vorsteuer für Gegenstände abziehen, die für sein Unternehmen nach § 1 Abs. 1 Nr. 4 UStG eingeführt wurden. Abschn. 15.8 UStAE führte dazu aus: „Die Einfuhrumsatzsteuer kann vom Unternehmer als Vorsteuer abgezogen werden, wenn sie tatsächlich entrichtet wird und die Gegenstände für sein Unternehmen im Inland oder in den österreichischen Gebieten Jungholz und Mittelberg eingeführt worden sind. Die Entrichtung ist durch einen zollamtlichen Beleg nachzuweisen.“ Nach Abschn. 15.8 Abs. 1 Satz 5 UStAE war ein bereits vorgenommener Vorsteuerabzug (§  16 Abs.  2 Satz 4 UStG) zu berichtigen, wenn die Einfuhrumsatzsteuer bei Fälligkeit nicht entrichtet wurde. 5 BFH v. 19.5.1993 – V R 110/88, BStBl. II 1993, 779 = UR 1994, 124; BFH v. 29.10.1987 – V R 154/83, BStBl. II 1988, 508 = UR 1988, 282. 6 EuGH v. 13.12.1989 – C-342/87 – Genius Holding, UR 1990, 274. 7 BFH v. 2.4.1998 – V R 34/97, BStBl. II 1998, 695 = UR 1998, 349 m. Anm. Stadie. 8 Abschn. 192 Abs. 6 ab UStR 2000. 9 StÄndG 2003 v. 15.12.2003, BGBl. I 2003, 2645 = BStBl. I 2003, 710. 10 Vgl. auch Stadie in Rau/Dürrwächter, § 15 UStG Rz. 49 (Februar 2016).

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Mit Urteil vom 29.3.2012 entschied der EuGH11, dass es einem Mitgliedstaat nicht erlaubt ist, das Recht auf Abzug der Einfuhrumsatzsteuer von der tatsächlichen vorherigen Zahlung dieser Steuer durch den Steuerschuldner abhängig zu machen, selbst wenn dieser auch der zum Abzug Berechtigte ist. Nach Art. 168 Buchst. e MwStSystRL ist der Steuerpflichtige berechtigt, vom Betrag der von ihm geschuldeten Steuer die Mehrwertsteuer abzuziehen, die für die Einfuhr von Gegenständen geschuldet oder entrichtet worden ist. Schon nach dem Wortlaut der Vorschrift, wonach die Steuerpflichtigen berechtigt sind, die Mehrwertsteuer abzuziehen, die für eingeführte Gegenstände „geschuldet oder entrichtet worden sind“, betrifft das Recht des Steuerpflichtigen auf Steuerabzug eindeutig nicht nur die Einfuhrmehrwertsteuer, die er entrichtet hat, sondern auch die von ihm geschuldete, d.h. die von ihm noch zu entrichtende Einfuhrmehrwertsteuer. Wenn der Unionsgesetzgeber, so der EuGH wörtlich, das Recht auf Abzug der Einfuhrmehrwertsteuer von der tatsächlichen vorherigen Zahlung dieser Steuer durch den Steuerschuldner hätte abhängig machen wollen, so hätte er dies explizit dadurch tun können, dass er beispielsweise in Art. 168 MwStSystRL den Begriff „geschuldet“ weggelassen hätte. Durch Art.  10 Nr.  9 Buchst. a Doppelbuchst. aa des Gesetzes zur Umsetzung der Amtshilferichtlinie sowie zur Änderung steuerlicher Vorschriften vom 26.9.201312 wurde § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 UStG zur Umsetzung des EuGH-Urteils neu gefasst. Nach § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 UStG kann der Unternehmer die folgenden Vorsteuerbeträge abziehen: „Die entstandene Einfuhrumsatzsteuer für Gegenstände, die für sein Unternehmen nach § 1 Abs. 1 Nr. 4 eingeführt worden sind.“ Abschn. 15.8 Abs. 1 UStAE wurde der neuen Gesetzeslage angepasst. 4. Besteuerung der Reiseleistungen nach § 25 UStG Die Sonderregelung der Besteuerung von Reiseleistungen gelten nach der nationalen Vorschrift des § 25 UStG für Reiseleistungen eines Unternehmers, die nicht für das Unternehmen des Leistungsempfängers bestimmt sind. Nach der ausdrücklichen Weisung der Finanzverwaltung13 findet § 25 UStG keine Anwendung, soweit Reise­ leistungen eines Unternehmers für das Unternehmen des Leistungsempfängers bestimmt sind. So unterliegen insbesondere Kettengeschäfte und Incentive-Reisen in den jeweiligen Vorstufen nicht der Besteuerung nach § 25 UStG.14 In diesen Fällen erfolgt die Besteuerung nach den allgemeinen Vorschriften. Die Beurteilung der Steuerbarkeit, Nichtsteuerbarkeit und die Steuerfreiheit richten sich für die erbrachten Leistungen nach den allgemeinen Vorschriften.15 Nach § 25 Abs. 3 Satz 1 UStG bemisst sich die sonstige Leistung nach dem Unterschied zwischen dem Betrag, den der Leistungsempfänger aufwendet, um die Leistung zu 11 EuGH v. 29.3.2012 – C-414/10 – Véleclair SA, BStBl. II 2013, 941 = UR 2012, 602. 12 Amtshilferichtlinie-Umsetzungsgesetz v. 26.9.2013, BGBl. I 2013, 1809 = BStBl. I 2013, 802. 13 Abschn. 25.1 Abs. 2 UStAE. 14 Vgl. auch BFH v. 15.1.2009 – V R 9/06, BStBl. II 2010, 433 = UR 2009, 319. 15 Abschn. 25.1 Abs. 2 Satz 2 UStAE.

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erhalten, und dem Betrag, den der Unternehmer für die Reisevorleistungen aufwendet. Nach § 25 Abs. 3 Satz 2 UStG kann der Unternehmer die Bemessungsgrundlage statt für jede einzelne Leistung entweder für Gruppen von Leistungen oder für die gesamten innerhalb des Besteuerungszeitraums erbrachten Leistungen ermitteln. Im Urteil vom 26.9.2013 hatte der EuGH16 im Rahmen der Anwendung der Sonderregelungen für Reisebüros u.a. über die Auslegung des Begriffs des „Reisenden“ und auch über die pauschale Ermittlung der Bemessungsgrundlage für Reiseleistungen für einen bestimmten Zeitraum zu entscheiden. Der EuGH entschied, dass die Sonderregelungen für Reisebüros nach Art. 306 bis 310 MwStSystRL nicht nur für Umsätze von Reisebüros anzuwenden sind, die diese mit „Reisenden“ tätigen, sondern auch auf Umsätze mit allen Arten von „Kunden“. Der EuGH begründet seine Entscheidung durch Auslegung der Sonderregelung für Reisebüros nach deren Zusammenhang und Ziel. Außerdem entschied der EuGH, dass die Besteuerungsgrundlage in diesem Bereich nicht pauschal, sondern nach Art. 308 MwStSystRL in der Weise zu ermitteln ist, dass auf jede einheitliche Dienstleistung des Reisebüros Bezug genommen wird. Die nationale Besteuerung von Reiseleistungen nach § 25 UStG entspricht sowohl im Hinblick auf die Beschränkung des Leistungsempfängers der Reiseleistung als auch im Hinblick auf die Ermittlung der Bemessungsgrundlage nicht den Grundsätzen des EuGH-Urteils. Der nationale Gesetzgeber hat bisher das Urteil des EuGH nicht in das nationale UStG umgesetzt. Mit Klage der Kommission vom 8.7.201617 vor dem EuGH gegen die Bundesrepublik Deutschland beantragt die Kommission wie folgt zu entscheiden: „Die Bundesrepublik Deutschland hat gemäß Art.  258 Abs.  1 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union ihre Verpflichtungen aus Art. 73 sowie aus den Art. 306 bis 310 MwStSystRL verletzt, indem sie Reiseleistungen für Steuerpflichtige, die diese für Ihr Unternehmen nutzen, von des Regelung für Reisebüros ausschließt und Reisebüros, soweit die genannte Sonderregelung auf sie anwendbar ist, gestattet, die Steuerbemessungsgrundlage pauschal für Gruppen von Leistungen und für jeden Besteuerungszeitraum zu ermitteln. Mit Urteil vom 8.2.2018 entschied der EuGH18, dass die Bundesrepublik Deutschland gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 73 MwStSystRL sowie den Art. 306 bis 310 MwStSystRL verstoßen hat, indem sie Reiseleistungen, die gegenüber Steuerpflichtigen ­erbracht werden, die sie für ihr Unternehmen nutzen, von der Mehrwertsteuersonderregelung für Reisebüros ausschließt und indem sie Reisebüros, soweit diese Sonderregelung auf sie anwendbar ist, gestattet, die Mehrwertsteuerbemessungsgrundla16 EuGH v. 26.9.2013 – C-189/11 – Kommission/Spanien, UR 2013, 835 m. Anm. Sterzinger. 17 EU-Kommission v. 8.7.2016, Kommission/Deutschland, C-380/16, ABl.EU, Nr. 314, 14. 18 EuGH v. 8.2.2018 – C-380/16 – Kommission/Deutschland, UR 2018, 290.

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ge pauschal für Gruppen von Leistungen oder für die gesamten innerhalb eines Besteuerungszeitraums erbrachten Leistungen zu ermitteln. Der nationale Gesetzgeber wird auf Grund des Urteils des EuGH § 25 UStG entsprechend den Grundsätzen des EuGH-Urteils ändern müssen. 5. Mindestbemessungsgrundlage nach § 10 Abs. 5 UStG Bis zum 30.7.2014 hatte § 10 Abs. 5 UStG folgenden Wortlaut: „Abs. 4 gilt entsprechend für 1. Lieferungen und sonstige Leistungen, die Körperschaften und Personenvereinigungen im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 1 bis 5 des Körperschaftsteuergesetzes, nichtrechtsfähige Personenvereinigungen sowie Gemeinschaften im Rahmen ihres Unternehmens an ihre Anteilseigner, Gesellschafter, Mitglieder, Teilhaber oder diesen nahestehende Personen sowie Einzelunternehmer an ihnen nahe stehende Personen ausführen; 2. Lieferungen und sonstige Leistungen, die ein Unternehmer an sein Personal oder dessen Angehörige auf Grund des Dienstverhältnisses ausführt, wenn die Bemessungsgrundlage nach Abs. 4 das Entgelt nach Abs. 1 übersteigt.“

Auf Vorlage des BFH vom 13.12.199519 entschied der EuGH mit Urteil vom 29.5.199720: „Eine vom Rat erteilte Ermächtigung zur Einführung einer von der Sechsten Richt­ linie des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage (77/388 EWG) abweichenden Sondermaßnahmen, die zur Verhütung von Steuerhinterziehungen oder -umgehungen vorsieht, dass bei entgeltlichen Leistungen zwischen einander nahestehenden Personen als Mindestbemessungsgrundlage die Ausgaben im Sinne von Art.  11 Teil A Abs.1 Buchst. c der Sechsten Richtlinie anzusetzen sind, ist insoweit nicht durch Art. 27 dieser Richtlinie gedeckt, als das vereinbarte Entgelt marktüblich, aber niedriger als die Mindestbemessungsgrundlage ist.“ Der BFH hat entsprechend mit Urteil vom 8.10.199721 entschieden, dass der Umsatz nicht gem. § 10 Abs. 5 i.V.m. Abs. 4 UStG 1980 bemessen werden darf, wenn das vereinbarte niedrigere Entgelt marktüblich ist. Mit dem Gesetz zur Anpassung des nationalen Steuerrechts an den Beitritt Kroatiens zur EU und zur Änderung weiterer steuerlicher Vorschriften vom 25.7.201422 wurde 19 BFH v. 13.12.1995 – X I R 8/86, UR 1996, 155 = UVR 1996, 173 m. Anm. Wagner = UR 1996, 155. 20 EuGH v. 29.5.1997 – C-63/96 – Skripalle, BStBl. II 1997, 841 = UR 1997, 301 m. Anm. Widmann = UVR 1997, 284 m. Anm. Wagner. 21 BFH v. 8.10.1997 – XI R 8/86, BStBl. II 1997, 840 = UR 1998, 147. 22 Gesetz zur Anpassung des nationalen Steuerrechts an den Beitritt Kroatiens zur EU und zur Änderung weiterer steuerlicher Vorschriften v. 25.7.2014, BGBl. I 2014, 1266 = BStBl. I 2014, 1126.

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§  10 Abs.  5 UStG geändert. §  10 Abs.  5 UStG ist wie folgt geändert worden: „Der Punkt am Ende wurde durch die Wörter: „der Umsatz ist jedoch höchstens nach dem marktüblichen Entgelt bemessen“ ersetzt. Als Satz 2 wurde angefügt: „Übersteigt das Entgelt nach Abs. 1 das marktübliche Entgelt, gilt Abs. 1. Mit dieser Änderung sollte der Rechtsprechung des EuGH entsprochen werden.23 6. Steuerbefreiung der Umsätze der staatlichen Hochschulen aus Forschungstätigkeit (§ 4 Nr. 21a UStG) Bis zum 31.12.2003 waren nach § 4 Nr. 21a UStG von den unter § 1 Abs. 1 Nr. 1 UStG fallenden Umsätzen steuerfrei: „Die Umsätze der staatlichen Hochschulen aus Forschungstätigkeit. Nicht zur Forschungstätigkeit gehören Tätigkeiten, die sich auf die Anwendung gesicherter Erkenntnisse beschränken, die Übernahme von Projektträgerschaften sowie Tätigkeiten ohne Forschungsbezug.“ Die Vorschrift beruhte auf Art. 1 Nr. 5 des UStG 1997 vom 12.12.199624 und war am 1.1.1997 in Kraft getreten. Nach der Gesetzesbegründung25 sollte die Vorschrift eine bewährte Verwaltungspraxis festschreiben, die von der Finanzverwaltung aber mittlerweile als rechtswidrig erkannt war.26 Mit Urteil vom 20.6.2002 hat der EuGH27 auf Klage der Kommission gem. Art. 226 EG entschieden, dass die Bundesrepublik Deutschland dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 2 der 6. EG-Richtlinie verstoßen hat, dass sie die gegen Entgelt ausgeübte Forschungstätigkeit staatlicher Hochschulen gem. § 4 Nr. 21a UStG 1993 in der Fassung von Art.  1 Nr.  5 UStÄndG 1997 vom 12.12.1996 von der Mehrwertsteuer befreit. Da die deutsche Regierung in dem Verfahren nicht bestritt, dass staatliche Hochschulen bei der im Ausgangsverfahren fraglichen Forschungstätigkeit grundsätzlich als Steuerpflichtige i.S.d. Art.  4 Abs.  1 der 6. EG-Richtlinie anzusehen sind, betraf der Rechtsstreit ausschließlich die Frage, ob die entgeltlichen Forschungstätigkeiten staatlicher Hochschulen Dienstleistungen darstellen, die i.S.d. Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. i der 6. EG-Richtlinie mit dem Hochschulunterricht eng verbunden sind und als solche nach dieser Bestimmung von der Mehrwertsteuer zu befreien sind. Diese Frage beantwortete der EuGH dahingehend, dass die entgeltliche Durchführung von Forschungsvorhaben durch staatliche Hochschulen nicht als eine mit dem Hochschulunterricht eng verbundene Tätigkeit i.S.d. Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. i der 6. EG-Richtlinie anzusehen ist.

23 Vgl. BR-Drucks. 184/14, 89. 24 Umsatzsteuergesetz v. 12.12.1996, BGBl. I 1996, 1851 = BStBl. I 1996, 1560. 25 BT-Drucks. 13/5758. 26 Vgl. Klenk in Sölch/Ringleb, § 4 Nr. 21a UStG Rz. 1 (April 2004); vgl. auch Stadie in Rau/ Dürrwächter, § 4 Nr. 21a UStG Rz. 1 ff. (November 2002). 27 EuGH v. 20.6.2002 – C-287/00 – Kommission/Deutschland, UR 2002, 316.

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Der nationale Gesetzgeber hat in Umsetzung des EuGH-Urteils §  4 Nr.  21a UStG durch Steueränderungsgesetz 2003 vom 15.12.200328 mit Wirkung ab dem 1.1.2004 aufgehoben. Allerdings war § 4 Nr. 21a UStG gem. der Übergangsregelung des § 27 Abs. 10 UStG auf Antrag auch noch auf vor dem 1.1.2005 erbrachte Umsätze der staatlichen Hochschulen aus Forschungstätigkeit anzuwenden, wenn die Leistungen auf einem Vertrag beruhten, der vor dem 3.9.2003 abgeschlossen worden war.29 7. Steuerbefreiung für Umsätze, die unter das Rennwett- und Lotteriegesetz fallen, § 4 Nr. 9 Buchst. b UStG Bis zum 5.5.2006 waren nach § 4 Nr. 9 Buchst. b UStG befreit: „die Umsätze, die unter das Rennwett- und Lotteriegesetz fallen, sowie die Umsätze der zugelassenen öffentlichen Spielbanken, die durch den Betrieb der Spielbank bedingt sind. Nicht befreit sind die unter das Rennwett- und Lotteriegesetz fallenden Umsätze, die von der Rennwett- und Lotteriesteuer befreit sind oder von denen diese Steuer allgemein nicht erhoben wird.“ Auf die Vorlagebeschlüsse des BFH vom 6.11.200230 entschied der EuGH vom 17.2.200531, dass Art. 13 Teil B Buchst. f der 6. EG-Richtlinie dahin auszulegen ist, dass er nationalen Rechtsvorschriften entgegensteht, wonach die Veranstaltung oder der Betrieb von Glückspielen und Glückspielgeräten aller Art in zugelassenen öffentlichen Spielbanken steuerfrei ist, während diese Steuerbefreiung für die Ausübung der gleichen Tätigkeit durch Wirtschaftsteilnehmer, die nicht Spielbankbetreiber sind, nicht gilt. Weiterhin entschied der EuGH, dass Art. 13 Teil B Buchst. f der 6. EG-Richtlinie unmittelbare Wirkung in dem Sinne hat, dass sich ein Veranstalter oder Betreiber von Glückspielen oder Glückspielgeräten vor den nationalen Gerichten darauf berufen kann, um die Anwendung mit dieser Bestimmung unvereinbarer innerstaatlicher Rechtsvorschriften zu verhindern. In der Nachfolgeentscheidung des BFH vom 12.5.200532 entschied der BFH, dass ein Aufsteller von Geldspielautomaten sich auf die Steuerfreiheit seiner Umsätze nach Art. 13 Teil B Buchst. f der 6. EG-Richtlinie in dem Sinne berufen kann, dass die Vorschrift des § 4 Nr. 9 Buchst. b UStG keine Anwendung findet. Schon mit Urteil vom 11.6.1998 hatte der EuGH33 entschieden, dass ein Mitgliedstaat die unerlaubte Veranstaltung eines Glücksspiels nicht der Mehrwertsteuer unterwer28 Steueränderungsgesetz v. 15.12.2003, BGBl. I 2003, 2645 = BStBl. I 2003, 710. 29 Vgl. Klenk in Sölch/Ringleb, § 4 Nr. 21a UStG Rz. 2 (April 2004); BT-Drucks. 15/1945. 30 BFH v. 6.11.2002 – V R 7/02, UR 2003, 83; BFH v. 6.11.2002 – V R 50/01, UR 2003, 81. 31 EuGH v. 17.2.2005 – C-453/02 und C-462/02 – Linneweber und Akritidis, UR 2005, 194 m. Anm. Birk/Jahndorf. 32 BFH v. 12.5.2005 – V R 7/02, BStBl. II 2005, 617 = UR 2005, 500. 33 EuGH v. 11.6.1998 – C-283/95 – Fischer, UR 1998, 384 m. Anm. Lausterer.

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fen darf, wenn die Veranstaltung eines solchen Glücksspiels durch eine zugelassene öffentliche Spielbank steuerfrei ist.34 Mit dem Gesetz zur Eindämmung missbräuchlicher Steuergestaltungen vom 28.4.200635 wurde zur Umsetzung des EuGH-Urteils § 4 Nr. 9 Buchst. b Satz 1 UStG mit Wirkung vom 6.5.2006 dahingehend geändert, indem die Wörter „sowie die Umsätze der zugelassenen öffentlichen Spielbanken, die durch den Betrieb der Spielbank bedingt sind“ gestrichen wurden. 8. Ermäßigter Steuersatz für Pferde, § 12 Abs. 2 UStG i.V.m. Nr. 1a der Anlage 2 Bis zum 30.6.2012 unterlagen die Lieferung, die Einfuhr und der innergemeinschaftlichen Erwerb von Pferden, einschließlich reinrassiger Zuchttiere, ausgenommen Wildpferde aus Position 0101 dem ermäßigten Steuersatz. Mit Urteil vom 12.5.2011 entschied der EuGH36 auf die Klage der Kommission gegen Deutschland, dass die Bundesrepublik Deutschland durch die Anwendung eines ermäßigten Mehrwertsteuersatzes auf sämtliche Lieferungen, Einfuhren und innergemeinschaftliche Erwerbe von Pferden gegen ihre Verpflichtung aus den Art. 96 und 98 i.V.m. Anhang III MwStSystRL verstoßen hat. Anhang III Nr. 1 MwStSystRL verweise nach ihrer Systematik zunächst auf „Nahrungs- und Futtermittel“, also auf Produkte, die zum menschlichen oder tierischen Verzehr geeignet seien. Anhang III Nr. 1 MwStSystRL gestattet die Anwendung eines ermäßigten Steuersatzes nur für lebende Tiere, die üblicherweise dafür bestimmt sind, für die Zubereitung von Nahrungs- und Futtermitteln verwendet zu werden, und dass der Zweck dieser Vorschrift darin besteht, dem Endverbraucher den Kauf dieser Nahrungs- und Futtermittel zu erleichtern. Anhang III Nr. 1 MwStSystRL erlaubt es somit einem Mitgliedstaat nicht, auf alle Lieferungen von lebenden Pferden unabhängig von ihrer Bestimmung einen ermäßigten Mehrwertsteuersatz anzuwenden. Durch Art. 2 des Gesetzes zur Änderung des Gemeindefinanzreformgesetzes und zur Änderung steuerlicher Vorschriften vom 8.5.201237 wurde die Begünstigung der Nr. 1a der Anlage 2 mit Wirkung vom 1.7.2012 aufgehoben. Der Gesetzgeber wollte damit dem Urteil des EuGH nachkommen.38

34 Vgl. auch BFH v. 21.4.2005 – V R 16/04, BStBl. II 2006, 96 = UR 2005, 549; Klenk in Rau/ Dürrwächter, § 4 Nr. 9 UStG Rz. 133.6 (Oktober 2011). 35 Gesetz zur Eindämmung missbräuchlicher Steuergestaltungen v. 28.4.2006, BGBl. I 2006, 1095 = BStBl. I 2006, 353. 36 EuGH v. 12.5.2011 – C-453/09 – Kommission/Deutschland, UR 2011, 827. 37 Gesetz zur Änderung des Gemeindefinanzreformgesetzes und zur Änderung steuerlicher Vorschriften v. 8.2.2012, BGBl. I 2012, 1030. 38 BT-Drucks. 17/8867; vgl. auch Klenk in Sölch/Ringleb § 12 UStG Rz. 66 (März 2016).

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9. Ermäßigter Steuersatz für Theater, Orchester u.a. nach § 12 Abs. 2 Nr. 7 Buchst. a UStG Bis zum 15.12.2004 unterlagen die Leistungen der Theater, Orchester, Kammermusik­ ensembles, Chöre und Museen sowie die Veranstaltung von Theatervorführungen und Konzerten durch andere Unternehmer dem ermäßigten Steuersatz. Nach Auffassung der Finanzverwaltung gehörten zu den Orchestern, Kammermusik­ ensembles und Chören alle Musiker- und Gesangsgruppen, die aus zwei oder mehr Mitwirkenden bestanden. Auf die Art der Musik kam es nicht an. Auch Musikgruppen aus dem Bereich der Unterhaltungsmusik konnten deshalb unter die Vorschrift fallen.39 Die Steuerbefreiung erstreckte sich auch auf die Veranstaltung von Theatervorführungen und Konzerten durch andere Unternehmer. Als Konzerte waren musikalische und gesangliche Aufführungen durch einzelne oder mehrere Personen anzusehen. Andere Unternehmer i.S.d. § 12 Abs. 2 Nr. 7 Buchst. a UStG konnten auch Solokünstler sein.40 Mit Urteil vom 23.10.2003 hat der EuGH41 auf die Feststellungsklage der Kommission gegen Deutschland entschieden, dass die Bundesrepublik Deutschland dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 12 Abs. 3 Buchst. a Unterabs. 3 der 6. EG-Richtlinie im Hinblick auf den Normalsteuersatz verstoßen hat, dass sie den ermäßigten Steuersatz auf Leistungen, die die Musikensembles direkt für die Öffentlichkeit oder für einen Konzertveranstalter erbringen, sowie auf Leistungen anwendet, die von Solisten direkt für die Öffentlichkeit erbracht werden, hingegen auf die Leistungen von Solisten, die für einen Veranstalter tätig sind, den Normalsteuersatz anwendet. Es gibt keinen Anhaltspunkt für die Annahme, so der EuGH, dass die Leistungen von Solisten und von Musikensembles nicht identisch oder doch zumindest gleichartige Leistungen sind. Auf Grund des Urteils des EuGH wurde die Vorschrift des § 12 Abs. 2 Nr. 7 Buchst. a UStG ab dem 16.12.2004 durch Art.  5 Nr.  8 des Gesetzes zur Umsetzung von EU-Richtlinien in nationales Steuerrecht und Änderung weiterer Vorschriften42 neugefasst: „a)Eintrittsberechtigungen für Theater, Konzerte und Museen sowie die den Theatervorführungen und Konzerten vergleichbaren Darbietungen ausübender Künstler.“ Die Neufassung bewirkt, dass für die Leistung der ausübenden Künstler, die mit denen der Theater, Orchester, Kammermusikensembles und Chöre vergleichbar sind, der ermäßigte Steuersatz gilt.43

39 Abschn. 166 Abs. 1 UStR 2000; Abschn. 107 UStR 2000. 40 Abschn. 106 Abs. 2 UStR 2000; BFH v. 18.1.1995 – V R 60/93, BStBl. II 1995, 348 = UR 1995, 194; BFH v. 26.4.1995 – XI R 20/94, BStBl. II 1995, 519 = UR 1995, 343. 41 EuGH v. 23.10.2003 – C-109/02 – Kommission/Deutschland, UR 2004, 34 m. Anm. Nieskens. 42 Richtlinien-Umsetzungsgesetz – EURLUmsG v. 9.12.2004, BGBl. I 2004, 3310 bzw. 3843 = BStBl. I 2004, 1158. 43 BR-Drucks. 604/04; BT-Drucks. 15/3677.

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10. Ausschluss vom Vorsteuerabzug bei gemischt genutzten Grundstücken, § 15 Abs. 1b UStG Mit Urteil vom 8.5.2003 entschied der EuGH44, dass Art. 6 Abs. 2 und Art. 13 der 6.  EG-Richtlinie 77/388/EWG so auszulegen sind, dass sie nationalen Rechtsvorschriften entgegenstehen, wonach die Verwendung eines Teils eines insgesamt dem Unternehmen zugeordneten Betriebsgebäudes für den privaten Bedarf des Steuerpflichtigen als eine  – als Vermietung oder Verpachtung eines Grundstücks i.S.d. Art. 13 Teil B Buchst. b der 6. EG-Richtlinie – steuerfreie Dienstleistung behandelt wird. Entgegen der früheren Auffassung der Finanzverwaltung45, wonach die Verwendung des Grundstücks für den privaten Bedarf eine steuerbare und steuerfreie Grundstücksvermietung i.S.d. § 4 Nr. 12 Satz 1 Buchst. a UStG darstellte, wurde in Umsetzung des EuGH-Urteils durch die Finanzverwaltung46 die private Grundstücksverwendung als steuerpflichtig angesehen. Das Seeling-Urteil erschien zunächst wie eine Einladung zu einem Steuersparmodell: Der Unternehmer nahm für den privat verwendeten Gebäudeteil den Vorsteuerabzug in Anspruch und besteuerte die private Verwendung nach § 10 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 UStG a.F. mit den Kosten, die auf der Grundlage einer 50 jährigen Nutzungsdauer mit 2 % der Anschaffungs- bzw. Herstellungskosten jährlich angesetzt wurden.47 Dieses Steuersparmodell mit den Kostenbegriff des § 10 Abs. 4 UStG verlor durch das Gesetz zur Umsetzung von EU-Richtlinien in nationales Steuerrecht und zur Änderung weiterer Vorschriften vom 9.12.200448 erheblich an Attraktivität. Der Kostenbegriff des §  10 Abs.  4 UStG wurde von dem ertragssteuerrechtlichen Kostenbegriff abgekoppelt. Wenn die Anschaffungs- oder Herstellungskosten mindestens 500 Euro betragen, sind sie gleichmäßig auf einen Zeitraum zu verteilen, der dem für das Wirtschaftsgut maßgeblichen Berichtigungszeitraum nach § 15a UStG entspricht. Durch Art. 4 Nr. 9 Buchst. a des JStG 2010 vom 8.12.201049 wurde ein neuer § 15 Abs. 1b UStG eingeführt. Verwendet der Unternehmer ein Grundstück sowohl für Zwecke seines Unternehmens als auch für Zwecke, die außerhalb des Unternehmens liegen, oder für den privaten Bedarf seines Personals, ist nach § 15 Abs. 1b UStG die Steuer für die Lieferung, die Einfuhr und den innergemeinschaftlichen Erwerb sowie für die sonstige Leistung im Zusammenhang mit diesem Grundstück vom Vorsteuerabzug ausgeschlossen, soweit sie nicht für Zwecke des Unternehmens entfällt. Die Änderung trat am 1.1.2011 in Kraft. 44 EuGH v. 8.5.2003 – C-269/00 – Seeling, BStBl. II 2004, 378 = UR 2003, 288 m. Anm. Burgmaier. 45 Abschn. 24c Abs. 7 UStR 2000. 46 Abschn. 4.12.1 Abs. 1 UStAE. 47 Vgl. Lippross, 24. Aufl. 2017, 2.6.7.3. 48 Richtlinien-Umsetzungsgesetz – EURLUmsG v. 9.12.2004, BGBl. I 2004, 3310 bzw. 3843 = BStBl. 2004, 1158. 49 JStG 2010 v. 8.12.2010, BGBl. I 2010, 1768 = BStBl. I 2010, 1394.

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Die Neufassung des § 15 Abs. 1b UStG beruht auf Art. 168a MwStSystRL, der durch die Richtlinie 2009/162 EU des Rates zur Änderung verschiedener Bestimmungen der MwStSystRL vom 22.12.2009 eingeführt worden ist.50 Da vom EuGH keine Korrektur der Gestaltungsmöglichkeit des Seeling-Modells zu erwarten war51, übernahm der Richtliniengeber den Versuch, derartige „Missbrauchsfälle“ des Mehrwertsteuersystems zu beschneiden.52 Diesen Zweck verfolgt der Gesetzgeber mit der Einfügung des neuen § 15 Abs. 1b UStG.53 Die Regelung des § 15 Abs. 1b UStG stellt einen neuen Vorsteuerausschlusstatbestand dar. Das Zuordnungswahlrecht des Unternehmers, gemischt genutzte Grundstücke  – Grundstücke, die sowohl für unternehmerische Zwecke als auch für Zwecke, die außerhalb des Unternehmens liegen, oder für den privaten Bedarf des Personals verwendet werden – in vollem Umfang seinem Unternehmen zuzuordnen, bleibt unberührt.54

III. Einfluss des EuGH auf die nationale Anwendungspraxis 1. Mitgliederbeiträge Nach Auffassung der Finanzverwaltung führen echte Mitgliederbeiträge nicht zu einem Leistungsaustausch. „Soweit eine Vereinigung zur Erfüllung ihrer den Gesamtbelangen sämtlicher Mitglieder dienenden satzungsgemäßen Gemeinschaftszwecke tätig wird und dafür echte Mitgliederbeiträge erhebt, die dazu bestimmt sind, ihr die Erfüllung dieser Aufgaben zu ermöglichen, fehlt es an einem Leistungsaustausch mit dem einzelnen Mitglied“.55 Mit Urteil vom 21.3.2002 entschied der EuGH56, dass Art. 2 Nr. 1 der 6. EG-Richtlinie dahin auszulegen ist, dass die Jahresbeiträge der Mitglieder eines Sportvereins die Gegenleistung für die von diesem Verein erbrachten Dienstleistungen darstellen können, auch wenn diejenigen Mitglieder, die die Einrichtungen des Vereins nicht oder nicht regelmäßig nutzen, verpflichtet sind, ihren Jahresbeitrag zu zahlen. Der Umstand, dass der Jahresbeitrag ein Pauschalbetrag ist und nicht jeder persönlichen Nutzung z.B. eines Golfplatzes zugeordnet werden kann, ändert nichts daran, so der EuGH, dass zwischen den Mitgliedern eines Sportvereins und dem Verein selbst gegenseitige Leistungen ausgetauscht werden. Die Leistungen des Vereins bestehen nämlich darin, dass er seinen Mitgliedern dauerhaft Sportanlagen und damit verbundene Vorteile zur Verfügung stellt, und nicht darin, dass er auf Verlangen seiner Mitglieder gezielte Leistungen erbringt. Somit besteht ein unmittelbarer Zusammenhang

50 ABl EU 2010 Nr. L 10, S. 1. 51 Vgl. EuGH v. 23.4.2009 – C-460/07 – Puffer, UR 2009, 410 m. Anm. Widmann. 52 Vgl. Wagner in Sölch/Ringleb, § 15 UStG Rz. 531 (April 2011). 53 BT-Drucks. 17/2249. 54 BT-Drucks. 17/2249 zu Art. 4 Nr. 8. 55 Vgl. Abschn. 4 Abs. 1 UStR 2000. 56 EuGH v. 21.3.2002 – C-174/00 – Kennemer Golf & Country Club, UR 2002, 320 m. Anm. Widmann = UVR 2002, 154 m. Anm. Wagner.

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zwischen den Jahresbeiträgen der Mitglieder eines Sportvereins und den von diesem Verein erbrachten Leistungen. In einer Anmerkung zu dem EuGH Urteil schrieb Widmann57 wörtlich: „Mit umsatzsteuerlichen Superlativen sollte man – erst Recht bei EuGH-Urteilen – zurückhaltend sein, aber wenn Wagner58 davon spricht, dass der dritte Leitsatz des vorstehenden EuGH-Urteils der „Knaller“ sei, dann ist das wohl kaum übertrieben. Man darf gespannt sein, wie laut der Knall in der deutschen Umsatzsteuerpraxis ausfallen wird, und natürlich wird es, um im Bild zu bleiben, darauf ankommen, wo, wann und wie lange es knallen wird. Jedenfalls scheint sich die Restnutzungsdauer von Abschn. 4 UStR 2000 – überschrieben mit „Mitgliederbeiträge“ – der im Wesentlichen auf der Rechtsprechung des BFH aufbaut – in Teilen rapide verkürzt zu haben.“

Der BFH hat sich der Rechtsprechung des EuGH angeschlossen und damit seine bisherige Rechtsprechung aufgegeben.59 Die Finanzverwaltung hat den Abschn. 4 UStR 2000 auch nicht in Teilbereichen geändert Abschn. 1.4 UStAE in der jetzt gültigen Fassung entspricht wortgleich dem Abschn. 4 UStR 2000.60 Die Finanzverwaltung beruft sich dabei auf die Rechtsprechung des BFH. Diese Rechtsprechung, auf die sich die Finanzverwaltung beruft, hat der BFH im Anschluss an das EuGH-Urteil aufgegeben. 2. Umsätze als Bausparkassenvertreter, Versicherungsvertreter und Versicherungsmakler Nach § 4 Nr. 11 UStG sind die Umsätze aus der Tätigkeit als Bausparkassenvertreter, Versicherungsvertreter und Versicherungsmakler steuerfrei. Nach Auffassung der Finanzverwaltung61 enthielt die Befreiungsvorschrift des §  4 Nr.  11 UStG eine ausschließliche Aufzählung der begünstigten Berufsgruppen. Sie konnte auf andere Berufe z.B. Bankenvertreter, auch wenn sie ähnliche Tätigkeitsmerkmale aufwiesen, nicht angewendet werden. Welche Unternehmer als Bausparkassenvertreter, Versicherungsvertreter oder Versicherungsmakler anzusehen waren, richtete sich nach den Begriffsbestimmungen der §§ 92 und 93 HGB. Die Finanzverwaltung berief sich dabei auf die Rechtsprechung des BFH.62

57 Widmann, UR 2002, 325. 58 Wagner, UVR 2002, 158. 59 Vgl. z.B. BFH v. 9.8.2007 – V R 27/04, UR 2007, 811; BFH v. 11.10.2007 – V R 69/06, UR 2008, 153 m. Anm. Stadie; BFH v. 29.10.2008 – XI R 59/07, UR 2009, 127; BFH v. 20.3.2014 – V R 4/13, UR 2014, 732. 60 Vgl. zur Kritik Friedrich-Vache in Reiß/Kraeusel/Langer, § 1 UStG Rz. 448 ff. (März 2017); Nieskens in Rau/Dürrwächter, § 1 UStG Rz. 1051 ff. (Januar 2016); Oelmaier in Sölch/Ringleb, § 1 UStG Rz. 64 ff. (März 2017); Lippross, 24. Aufl. 2017, 2.2.7.1. 61 Abschn. 75 UStR 2008. 62 BFH v. 16.7.1970 – V R 138/69, BStBl. II 1970, 709; BFH v. 24.4.1975 – V R 35/74, BStBl. II 1975, 593.

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Der Einfluss des EuGH auf das nationale Umsatzsteuerrecht

§ 4 Nr. 11 UStG dient der Umsetzung des Art. 13 Teil B Buchst. a der 6. EG-Richtlinie. Danach befreien die Mitgliedstaaten Versicherungs- und Rückversicherungsumsätze einschließlich der dazugehörenden Dienstleistungen, die von Versicherungsmaklern und -vertretern erbracht werden. Mit Urteil vom 3.3.2005 entschied der EuGH63, dass die von Art. 13 der 6. EG-Richtlinie verwendeten Begriffe autonom gemeinschaftsrechtlich auszulegen sind, um eine in den Mitgliedstaaten unterschiedliche Anwendung des Mehrwertsteuersystems zu verhindern. Zu den wesentlichen Aspekten der nach Art. 13 Teil B Buchst. a der 6. EG-Richtlinie steuerfreien Versicherungsvermittlungstätigkeit gehört es, so der EuGH, Kunden zu suchen und diese mit dem Versicherer zusammenzuführen. Leistungen von Versicherungsvertretern und -maklern sind daher nur steuerfrei, wenn sie zugleich zum Versicherer und Versicherungsnehmer in Beziehung stehen. Das entscheidende Kriterium für die Anwendung des Art. 13 Teil B Buchst. a der 6. EG-Richtlinie ist nicht, ob eine Person als Versicherungsvertreter i.S.d. Art. 13 Teil B Buchst. a der 6. EG-Richtlinie anzusehen ist. Die Anerkennung der Eigenschaft eines Versicherungsvertreters setzt vielmehr eine Prüfung des Inhalts der in Rede stehenden Tätigkeiten voraus, so ausdrücklich der EuGH. Im Hinblick auf die Rechtsprechung des EuGH und die danach gebotene richtlinienkonforme Auslegung des § 4 Nr. 11 UStG hält der BFH64 an seiner Rechtsprechung, nach der es für den Umfang der Steuerbefreiung auf die handelsrechtlichen Begriffe des Versicherungsvertreters und Versicherungsmaklers nach §§ 90 f. HGB ankam65, nicht mehr fest. Die Finanzverwaltung hat sich insofern der Rechtsprechung des BFH angeschlossen, als sie im Abschn. 4.11.1 UStAE den Satz 3 dahingehend geändert hat, dass „die Begriffe des Versicherungsvertreters und Versicherungsmaklers richtlinienkonform nach dem Unionsrecht und nicht handelsrechtlich im Sinne von § 92 und § 93 HGB auszulegen sind.“ 3. Bemessungsgrundlage beim Tausch und tauschähnlichen Umsatz Als Entgelt und damit Bemessungsgrundlage des Umsatzes im Rahmen eines Tausches bzw. tauschähnlichen Umsatzes ist nach § 10 Abs. 2 Satz 2 UStG der Wert des anderen Umsatzes, also die Gegenlieferung bzw. die sonstige Leistung des Leistungsempfängers anzusehen. Wie im Fall des § 10 Abs. 1 UStG richtet sich die Bemessungsgrundlage des Umsatzes nach dem Wert der Gegenleistung. Als Wert i.S.d. § 10 Abs. 2

63 EuGH v. 3.3.2005 – C-472/03 – Arthur Andersen, UR 2005, 201 m. Anm. Wäger. 64 BFH v. 6.9.2007 – V R 50/05, BStBl. II 2008, 829 = UR 2008, 121. 65 BFH v. 29.1.1998 – V R 41/96, UR 1998, 423; BFH v. 9. 7.1998 – V R 62/97, BStBl. II 1999, 253 = UR 1999, 73; BFH v. 10.6.1999 – V R 10/98, BStBl. II 1999, 686 = UR 1999, 454.

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Satz 2 UStG war nach Auffassung des BFH66 und der Finanzverwaltung67 der gemeine Wert zu verstehen. Da das Umsatzsteuergesetz den gemeinen Wert nicht definiert, griffen der BFH und die Finanzverwaltung auf § 9 BewG zurück. Mit Urteil vom 3.7.2001 entschied der EuGH68, dass die Bemessungsgrundlage für einen Tausch bzw. tauschähnlichen Umsatz ein subjektiver Wert ist, da die Besteuerungsgrundlage die tatsächlich erhaltene Gegenleistung ist, nicht aber ein nach objektiven Maßstäben geschätzter Wert. Im vorliegenden Fall ging es um eine Gesellschaft, die im Clubgeschäft mit Büchern und Schallplatten tätig war. Die Gesellschaft überließ ihren Altmitgliedern für die Anwerbung neuer Mitglieder Sachprämien wie Bücher, Schallplatten oder Fahrräder. Dazu führt der EuGH aus, dass der Wert für die Lieferung der Prämien als subjektiver Wert derjenige Wert sein müsse, den der Empfänger der Dienstleistung (Anwerbung des neuen Mitglieds) den Dienstleistungen beimisst, die er sich verschaffen will und dem Betrag entsprechen, den er zu diesem Zweck aufzuwenden bereit ist. Der BFH hat spätestens mit Urteil vom 1.8.200269 seine ursprüngliche Rechtsprechung zur Anwendung des gemeinen Wertes als Bewertungsmaßstab bei tauschähnlichen Umsätzen aufgegeben. Der BFH hat sich insoweit der Rechtsprechung des EuGH angeschlossen und legt § 10 Abs. 2 Satz 2 UStG nach den Grundsätzen des EuGH aus. Die Finanzverwaltung wendet die Rechtsprechungsgrundsätze des EuGH beim Tausch und tauschähnlichen Umsätzen grundsätzlich an.70 Soweit der Leistungsempfänger konkrete Aufwendungen für die von ihm erbrachte Gegenleistung getätigt hat, ist der gemeine Wert (§ 9 BewG) dieser Gegenleistung nicht maßgeblichen, so ausdrücklich Abschn. 10.5 Abs. 1 Satz 5 UStAE. Hat der Leistungsempfänger keine konkreten Aufwendungen für seine Gegenleistung getätigt, ist nach Auffassung der Finanzverwaltung als Entgelt für die Leistung weiterhin der gemeine Wert der Gegenleistung anzusetzen; die Umsatzsteuer ist herauszurechnen.71 4. Durchschnittssätze für land- und forstwirtschaftliche Betriebe Nach § 24 Abs. 1 Satz 1 UStG unterliegen „die im Rahmen eines land- und forstwirtschaftlichen Betriebs ausgeführten Umsätze“ der Durchschnittssatzbesteuerung. § 24 UStG beruht auf Art. 25 der 6. EG-Richtlinie.

66 BFH v. 12.11.1987 – V B 52/86, BStBl. II 1988, 156 = UR 1988, 155 m. Anm. Widmann. 67 Abschn. 153 Abs. 1 UStR 2008. 68 EuGH v. 3.7.2001 – C-380/99 – Bertelsmann, UR 2001, 346. 69 BFH v. 1.8.2002 – V R 21/02, BStBl. II 2003, 438 = UR 2003, 26. 70 Abschn. 10.5 Abs. 1 Sätze 1bis 4 UStAE. 71 Abschn. 10.5 Abs. 1 Satz 6 UStAE.

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Der Einfluss des EuGH auf das nationale Umsatzsteuerrecht

Nach Auffassung der Finanzverwaltung72 waren die Durchschnittssätze nur auf Umsätze anzuwenden, die im Rahmen eines land- und forstwirtschaftlichen Betriebs ausgeführt wurden. Ob dies der Fall war, war in der Regel nach den Grundsätzen des Einkommensteuer- und Gewerbesteuerrechts zu entscheiden. Die Heranziehung der ertragssteuerrechtlichen Grundsätze beschränkte sich jedoch auf die Klärung der Frage, ob die jeweilige Tätigkeit ihrem Wesen nach eine land- und forstwirtschaftliche oder eine gewerbliche Tätigkeit war. Die Durchschnittssatzbesteuerung nach § 24 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 UStG galt nach Auffassung der Finanzverwaltung insbesondere für die Umsätze der wichtigsten landwirtschaftlichen Erzeugnisse wie z.B. Getreide, Getreideerzeugnisse, Vieh, Fleisch, Milch, Obst, Gemüse und Eier sowie die Hilfsumsätze.73 Als Hilfsumsätze waren die Umsätze zu betrachten, die zwar zur unternehmerischen Tätigkeit gehörten, jedoch nicht den eigentlichen Gegenstand des Unternehmens bildeten, z.B. der Verkauf gebrauchter landwirtschaftlicher Geräte.74 Mit Urteil vom 15.7.2004 entschied der EuGH,75 dass Art. 25 der 6. EG-Richtlinie eng auszulegen ist. Um eine einheitliche Anwendung dieser Regelung in der gesamten Gemeinschaft sicherzustellen, hat der Gemeinschaftsgesetzgeber vorbehaltlich einer ausdrücklichen Verweisung auf das Recht der Mitgliedstaaten hinsichtlich der Bestimmung der erfassten Betriebe für eine Definition u.a. der Begriffe „landwirtschaftlicher Erzeuger“, „landwirtschaftliche Erzeugnisse“ und „landwirtschaftliche Dienstleistungen“ Sorge getragen. Damit wollte er, so der EuGH, für die Anwendung dieser Regelung nicht auf das alleinige Kriterium der formalen Eigenschaft als landwirtschaftlicher Erzeuger abstellen, sondern er hat die Anwendung denjenigen landwirtschaftlichen Erzeugern vorbehalten, deren Lage sämtlichen Bestimmungen des Art. 25 der 6. EG-Richtlinie entspricht. Folglich kann eine Person nicht allein deswegen, weil sie landwirtschaftlicher Erzeuger ist, geltend machen, auf sie müsse unabhängig von der Art der von ihr getätigten Geschäfte ausschließlich diese Regelung Anwendung finden. Der BFH76 und die Finanzverwaltung77 haben sich der Rechtsprechung des EuGH angeschlossen. Die Durchschnittssätze sind nach § 24 Abs. 1 Satz 1 UStG nur auf Umsätze anzuwenden, die im Rahmen eines land- und forstwirtschaftlichen Betriebs ausgeführt werden. Unter Beachtung der Rechtsprechung des EuGH ist § 24 UStG dahin auszulegen, 72 Bis zum 31.12.2010 geltende Fassung des Abschn. 24.1 UStAE. 73 Abschn. 265 Abs. 3 UStR 2008. 74 Abschn. 265 Abs. 3 Satz 2 UStR 2008 unter Bezugnahme auf BFH v. 24.2.1988 – X R 67/82, BStBl. II 1988, 622 = UR 1988, 326. 75 EuGH v. 15.7.2004  – C-321/02  – Harbs, UR 2004, 543; vgl. auch EuGH v. 26.5.2005  – C-43/04 – Stadt Sundern, UR 2005, 397. 76 BFH v. 25.11.2004 – V R 8/01, UR 2005, 264; BFH v. 22.9.2005 – V R 28/03, BStBl. II 2006, 280 = UR 2006, 124. 77 Abschn. 24.1 UStAE.

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dass solche Umsätze nur die Lieferungen selbst erzeugter landwirtschaftlicher Erzeugnisse und die landwirtschaftlichen Dienstleistungen erfassen, auf die die Pauschalregelung nach Art. 295 bis 305 MwStSystRL Anwendung findet. Andere Umsätze, die der Unternehmer im Rahmen des land- und forstwirtschaftlichen Betriebs sowie außerhalb dieses Betriebs tätigt, unterliegen der Besteuerung nach den allgemeinen Vorschriften des Gesetzes. Diese Auslegung gilt auch für die Umsätze im Rahmen eines land- und forstwirtschaftlichen Nebenbetriebs.78 5. Differenzbesteuerung nach § 25a UStG Nach § 25a Abs. 1 UStG gilt für Lieferungen i.S.d. § 1 Abs. 1 Nr. 1 UStG von beweglichen körperlichen Gegenständen unter bestimmten Voraussetzungen eine Besteuerung nach Maßgabe der nachfolgenden Vorschriften des § 25a UStG (Differenzbesteuerung). Unionsrechtliche Grundlagen für die Differenzbesteuerung sind Art. 319 ff. MwStSystRL. Wird aus mehreren Einzelgegenständen, die jeweils für sich die Voraussetzungen der Differenzbesteuerung erfüllen, ein einheitlicher Gegenstand hergestellt oder zusammengestellt, unterliegt die anschließende Lieferung dieses „neuen“ Gegenstands nach Auffassung der Finanzverwaltung nicht der Differenzbesteuerung.79 Das gilt nach Auffassung der Finanzverwaltung auch, wenn von einem erworbenen Gebrauchtgegenstand anschließend lediglich einzelne Teile geliefert werden (z.B. beim Ausschlachten eines PKW).80 Der EuGH hat mit Urteil vom 18.1.201781 entschieden, dass Art.  311 Abs.  1 Nr.  1 MwStSystRL dahin auszulegen ist, dass gebrauchte Teile, die aus Altfahrzeugen, die ein Autoverwertungsunternehmen von einer Privatperson erworben hat, stammen und als Ersatzteile verkauft werden sollen, „Gebrauchtgegenstände“ i.S.d. Vorschrift sind, mit der Folge, dass die Lieferungen solcher Teile durch einen steuerpflichtigen Wiederverkäufer der Differenzbesteuerung unterliegen. Die Auffassung der Finanzverwaltung entspricht nicht den Grundsätzen des EuGH Urteils. Der BFH hat sich mit Urteil vom 23.2.201782 den Grundsätzen des Urteils des EuGH angeschlossen. Danach ist die Differenzbesteuerung nach § 25a UStG auch dann anwendbar, wenn ein Unternehmer Gegenstände liefert, die er gewonnen hat, indem er zuvor von ihm erworbene Gebrauchtfahrzeuge zerlegt hat.

78 Abschn. 24.1 Abs. 1 Satz 4 UStAE. 79 Abschn. 25a.1 Abs. 4 Satz 4 UStAE. 80 Abschn. 25a.1 Abs. 4 Satz 5 UStAE. 81 EuGH v. 18.1.2017 – C-471/15 – Sjelle Autogenbrug, UR 2017, 242. 82 BFH v. 23.2.2017 – V R 37/15, UR 2017, 685 = DStR 2017, 1481 m. Anm. Heuermann.

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Der Einfluss des EuGH auf das nationale Umsatzsteuerrecht

Die Finanzverwaltung wird auf Grund der Rechtsprechung des EuGH und des BFH ihre Auffassung ändern müssen und § 25a UStG richtlinienkonform auslegen. 6. Preisnachlässe durch Vermittler Nach § 10 Abs. 1 Satz 1 UStG wird der Umsatz bei Lieferungen und sonstigen Leistung nach dem Entgelt bemessen. Nach § 10 Abs. 1 Satz 2 UStG ist Entgelt alles, was der Leistungsempfänger aufwendet, um die Leistung zu erhalten (abzüglich der Umsatzsteuer). Hat sich die Bemessungsgrundlage für einen steuerpflichtigen Umsatz geändert, hat der Unternehmer, der diesen Umsatz ausgeführt hat, den dafür geschuldeten Steuerbetrag zu berichtigen. Ebenfalls ist der Vorsteuerabzug bei dem Unternehmer, an den dieser Umsatz ausgeführt wurde, zu berichtigen (§ 17 Abs. 1 UStG). Erstattet der erste Unternehmer in einer Leistungskette dem Endabnehmer einen Teil des von diesem gezahlten Leistungsentgelts oder gewährt er ihm einen Preisnachlass, mindert sich dadurch die Bemessungsgrundlage für den Umsatz des ersten Unternehmers an seinen Abnehmer der nächsten Stufe. Der erste Unternehmer hat deshalb den für seinen Umsatz geschuldeten Steuerbetrag zu berichtigen.83 Nach Auffassung der Finanzverwaltung minderten danach Preisnachlässe, die dem Abnehmer von Reiseleistungen vom Reisebüro für eine von ihm lediglich vermittelte Reise gewährt wurden, die Bemessungsgrundlage des Umsatzes der vom Reisebüro dem Reiseveranstalter gegenüber erbrachten Vermittlungsleistung.84 Die Finanzverwaltung berief sich dabei auf das Urteil des BFH vom 12.1.2006.85 Der BFH hatte sich in dem Urteil auf die Urteile des EuGH vom 15.10.200286 und vom 24.10.199687 berufen.88 Mit Urteil vom 16.1.2014 entschied der EuGH89, dass sich die Grundsätze der Elida Gibbs-Rechtsprechung nicht auf Preisnachlässe übertragen lasse, die ein Vermittler nicht dem Leistungsempfänger seiner Vermittlungsleistung, sondern dem Leistungsempfänger des vermittelten Umsatzes gewährt. Die Frage war dem EuGH durch Beschluss des BFH vom 26.4.201290 vorgelegt worden.

83 Abschn. 17.2 Abs. 10 Sätze 1 und 2 UStAE. 84 Abschn. 17.2 Abs. 10 Satz 3 UStAE a.F. 85 BFH v. 12.1.2006 – V R 3/04, BStBl. II 2006, 479 = UR 2006, 285 m. Anm. Stadie. 86 EuGH V. 15.10.2002 – C-427/98, Kommission/Deutschland, BStBl. II 2004, 328 = UR 2002, 523. 87 EuGH v. 24.10.1996 – C-317/94 – Elida Gibbs, BStBl. II 2004, 324 = UR 1997, 265 m. Anm. Weiß. 88 Durch das EURLUmsG v. 9.12.2004 (BGBl. I 2004, 3310 bzw. 3843 = BStBl. I 2004, 1158) ist mit Wirkung vom 16.12.2004 § 17 Abs. 1 UStG neu gefasst worden. Diese Änderung wurde durch die Rechtsprechung des EuGH zur umsatzsteuerrechtlichen Beurteilung der Erstattung von Preisnachlassgutscheinen durch Hersteller gegenüber dem Endverbraucher notwendig. 89 EuGH v. 16.1.2014 – C-300/12 – Ibero Tours, BStBl. II 2015, 317 = UR 2014, 234. 90 BFH v. 26.4.2012 – V R 18/11, UR 2012, 567.

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In der Nachfolgeentscheidung des BFH vom 27.2.201491 entschied der BFH, dass er auf Grund des EuGH-Urteils vom 16.1.201492 nicht daran festhält, dass ein Vermittler das Entgelt für seine Vermittlungsleistung ändern kann, wenn er dem Kunden der von ihm vermittelten Leistung einen Preisnachlass gewährt. Die Finanzverwaltung hat mit Schreiben vom 27.2.201593 die Rechtsprechung des EuGH und des BFH für alle offenen Fälle übernommen und Abschn. 17.2 Abs.  10 UStAE entsprechend geändert. Gleichzeitig wurde eine Übergangsregelung getroffen.94 7. Legen eines Hausanschlusses zur Wasserversorgung Nach § 12 Abs. 2 Nr. 1 i.V.m. Anlage 2 Nr. 34 UStG ermäßigt sich die Steuer auf 7 % u.a. für die Lieferung von Wasser. § 12 Abs. 2 Nr. 1 i.V.m. Anlage 2 Nr. 34 UStG beruht auf Art. 12 Abs. 3 Buchst. a und Anhang H Kategorie 2 der 6. EG-Richtlinie. Das Legen von Hausanschlüssen wurde nach früherer Rechtspraxis bis zum Erlass des BMF-Schreibens vom 4.7.200095 als unselbstständige Nebenleistung zur Lieferung von Wasser angesehen, auch wenn dem Grundstückseigentümer hierfür ein gesondertes Entgelt berechnet wurde.96 Seit 2000 vertrat die Finanzverwaltung die Auffassung, dass derartige Umsätze als „Verschaffung der Möglichkeit zum Anschluss an das Versorgungsnetz“ als selbstständige Hauptleistung anzusehen sind, die dem allgemeinen Steuersatz unterliegen. Mit Urteil vom 3.4.2008 hat der EuGH97 auf Vorlagebeschluss des BFH98 entschieden, dass Art. 12 Abs. 3 Buchst. a und Anhang H Kategorie 2 der 6. EG-Richtlinie dahin auszulegen sind, dass die Verbindung des Wasser-Verteilungsnetzes mit der Anlage des Grundstückseigentümers unter den Begriff „Lieferungen von Wasser“ fällt, wenn die Anschlussleistung an den späteren Wasserbenutzer erbracht wird. In der Folgeentscheidung hat sich der BFH mit Urteil vom 8.10.200899 den Grundsätzen des EuGH angeschlossen. Die Finanzverwaltung hat die Rechtsprechung des EuGH und des BFH insoweit übernommen, als sie die Grundsätze auf das Legen des Hausanschlusses durch das Wasserversorgungsunternehmen beschränkt.100 91 BFH v. 27.2.2014 – V R 18/11, BStBl. II 2015, 306 = UR 2014, 667. 92 EuGH v. 16.1.2014 – C- 300/12 – Ibero Tours, BStBl. II 2015, 317 = UR 2014, 234. 93 BMF v. 27.2.2015 – IV D 2 – S 7200/07/10003, BStBl. I 2015, 232 = UR 2015, 286. 94 Vgl. auch BMF v. 13.7.2017 – III C 2 – S 7200/07/10011 : 003, UR 2017, 645. 95 BMF v. 4.7.2000 – IV D 1 – S 7100 – 81/00, BStBl. I 2000, 1185 = UR 2000, 396. 96 BMF v. 27.12.1983 – IV A 1 – S 7220 – 44/83, BStBl. I 1983, 567 = UR 1984, 16. 97 EuGH v. 3.4.2008 – C-442/05 – Zweckverband zur Trinkwasserversorgung und Abwasserbeseitigung Torgau-Westelbien, UR 2008, 432. 98 BFH v. 3.11.2005 – V R 61/03, BStBl. II 2006, 149 = UR 2006, 178. 99 BFH v. 8.10.2008 – V R 61/03, BStBl. II 2009, 321 = UR 2009, 56. 100 Abschn. 12.1 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 UStAE; BMF v. 7.4.2009 – IV B 8 – S 7100/07/100/10024, BStBl. I 2009, 531 = UR 2009, 323.

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Der Einfluss des EuGH auf das nationale Umsatzsteuerrecht

Mit Urteil vom 7.2.2018 hat der BFH101 entschieden, dass das Legen eines Hausanschlusses auch dann als „Lieferung von Wasser“ i.S.d. § 12 Abs. 2 Nr. 1 i.V.m. Anlage 2 Nr. 34 UStG anzusehen ist, wenn diese Leistung nicht von dem Wasserversorgungsunternehmen erbracht wird, das das Wasser liefert. 8. Änderung der Bemessungsgrundlage nach § 17 UStG Hat sich die Bemessungsgrundlage für einen steuerpflichtigen Umsatz i.S.d. § 1 Abs. 1 Nr. 1 UStG geändert, hat nach § 17 Abs. 1 Satz 1 UStG der Unternehmer, der diesen Umsatz ausgeführt hat, den dafür geschuldeten Steuerbetrag zu berichtigen. § 17 UStG beruht auf Art. 11 Teil A Abs. 3 Buchst. b, Art. 11 Teil C Abs. 1 der 6. EG-­ Richtlinie. Nach bisheriger Auffassung der Finanzverwaltung102 war der für eine Lieferung geschuldete Steuerbetrag bereits in dem Besteuerungszeitraum zu berichtigen, in dem eine Vereinbarung über die Herabsetzung des Kaufpreises geschlossen worden ist, und nicht erst im Besteuerungszeitraum ihrer Erfüllung. Mindert sich der Kaufpreis auf Grund einer Mängelrüge, änderte sich nach Auffassung der Finanzverwaltung103 die Bemessungsgrundlage bereits in dem Zeitpunkt, in dem sich der Verkäufer mit der Minderung – z.B. durch Erteilung einer Kaufpreis-Gutschrift – einverstanden erklärte. In beiden Fällen berief sich die Finanzverwaltung auf die Rechtsprechung des BFH.104 Mit Urteil vom 29.5.2001 hat der EuGH105 entschieden, dass die Erteilung einer Gutschrift (Rabatt) auf den Katalogpreis einer gelieferten Ware nicht bereits bei Ent­ stehung dieses Rückvergütungsanspruchs des Kunden, sondern erst dann zu einer Änderung der Bemessungsgrundlage führt, wenn der Kunde tatsächlich über die Gutschrift durch Auszahlung oder anderweitig verfügt hat. Mit Urteil vom 18.9.2008 hat der BFH106 im Anschluss an die Rechtsprechung des EuGH und unter Änderung seiner bisherigen Rechtsprechung entschieden, dass allein die Vereinbarung einer Herabsetzung des Entgelts keine Minderung der Bemessungsgrundlage i.S.d. § 17 Abs. 1 Satz 1 UStG rechtfertigt, wenn das Entgelt bereits vereinnahmt worden ist. Hinzukommen muss in diesem Fall noch die tatsächliche Rückgewähr des ursprünglich gezahlten Entgelts.107 Die Finanzverwaltung hat sich der Rechtsprechung des EuGH und des BFH angeschlossen. Mindert sich der Kaufpreis auf Grund einer Mängelrüge, ändert sich die 101 BFH v. 7.2.2018 – XI R 17/17, UR 2018, 357. 102 Abschn. 223 Abs. 2 Satz 3 UStR 2000. 103 Abschn. 223 Abs. 2 Satz 4 UStR 2000. 104 BFH v. 30.11.1995 – V R 57/94, BStBl. II 1996, 206 = UR 1996, 232; BFH v. 13.12.1995 – XI R 16/95, BStBl. II 1996, 208 = UR 1996, 159. 105 EuGH v. 29.5.2001 – C-86/99 – Freemans, UR 2001, 349. 106 BFH v. 18.9.2008 – V R 56/06, BStBl. II 2009, 250 = UR 2009, 94. 107 Vgl. auch BFH v. 19.7.2007 – V R 11/05, BStBl. II 2007, 966 = UR 2007, 901.

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Bemessungsgrundlage im Zeitpunkt der tatsächlichen Realisierung der Ansprüche (Erfüllungsgeschäft).108 Eine Änderung der Bemessungsgrundlage setzt die vollständige oder teilweise Rückzahlung des entrichteten Entgelts voraus.109

IV. Zusammenfassung In dem Beitrag sollte dargestellt werden, in welchem Umfang die Rechtsprechung des EuGH auf das nationale Umsatzsteuerrecht einwirkt. In einem ersten Abschnitt wird lediglich an einigen Beispielen aufgezeigt, dass der nationale Gesetzgeber das nationale Umsatzsteuergesetz auf Grund der Rechtsprechung des EuGH ändern musste. In einem zweiten Abschnitt wird ebenfalls an einigen Beispielen nachgezeichnet, dass die nationale Anwendungspraxis geändert werden musste, indem das nationale Umsatzsteuergesetz auf Grund der Rechtsprechung des EuGH durch richtlinienkonforme Auslegung entsprechend den Vorgaben des EuGH angewendet werden musste. Nicht Gegenstand dieses Beitrags war es, die in den Beispielen angeführten Urteile des EuGH der kritischen Würdigung zu unterziehen. Der Beitrag sollte lediglich aufzeigen, in welchem Umfang das nationale Umsatzsteuerrecht durch die Rechtsprechung des EuGH geprägt wird.

108 Abschn. 17.1 Abs. 2 Satz 5 UStAE. 109 Abschn. 17.1 Abs. 2 Sätze 3 und 4 UStAE.

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Das Umsatzsteuerrecht im Spannungsfeld zwischen Bundesfinanzhof, Bundesverfassungsgericht und Gerichtshof der Europäischen Union Inhaltsübersicht I. Einführung II. Beitrag des BFH 1. Der BFH als oberster Gerichtshof für Steuern und Zölle a) Die Umsatzsteuer in der Rechtsprechung des BFH b) Vorlagen an das BVerfG c) Einholung von Vorabentscheidungen des EuGH 2. Einheitlichkeit der Rechtsprechung ­innerhalb des BFH 3. Rechtsprechung anderer oberster ­Bundesgerichte I II. Beitrag des Bundesverfassungsgerichts 1. Prüfungsmaßstab für auf Unionsrecht beruhende Hoheitsakte oder Umsetzungsnormen

2. Umsetzung im Umsatzsteuerrecht a) Prüfung in Abhängigkeit vom Umsetzungsspielraum der Mitgliedsstaaten b) Verfahrensgrundrechte c) Bestimmtheitsgrundsatz (Art. 103 Abs. 2 GG) bei Hinterziehung (§ 370 AO) von Umsatzsteuer 3. Vorabentscheidungsersuchen des BVerfG IV. Beitrag des EuGH 1. Verfahren vor dem EuGH a) Inhalt des Vorabentscheidungs­ ersuchens b) Arbeitsweise des EuGH 2. Inhalt der Vorabentscheidung 3. Bindungswirkung der Vorabentscheidung V. Zusammenfassung

I. Einführung Das Umsatzsteuerrecht ist eine Rechtsmaterie, die mehr als das übrige Steuerrecht von europarechtlichen Vorgaben geprägt ist. Die Auslegung des nationalen Umsatzsteuerrecht durch die nationalen Gerichte wird durch die Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (Mehrwertsteuersystemrichtlinie – MwStSystRL –)1 geprägt, deren verbindliche Auslegung dem Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) obliegt. Vor diesem Hintergrund wird die Herstellung der Rechtseinheit im Umsatzsteuerrecht als „Dialog der Richter“2 auf nationaler und europäischer Ebene oder „Diskurs“3 zwischen den Gerichten der Mitgliedstaaten und dem EuGH beschrieben. Neben dem Bundesfinanzhof und dem Gerichtshof der Europäischen Union ist aber auch das Bundesverfassungsgericht 1 Zuvor die Sechste Richtlinie 77/388/EWG des Rates v. 17.5.1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage (RL 77/388/EWG). 2 Spindler, in DFGT 3, 2006, S. 19 (20). 3 Kokott/Henze, in FS Spindler, 2011, S. 279.

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an der Inhaltskonkretisierung des Umsatzsteuerrechts beteiligt, denn dem Bundesverfassungsgericht obliegt die Prüfung der Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz. In dieser Gemengelage ist es Aufgabe des Bundesfinanzhofs (dazu II.), des Bundesverfassungsgerichts (dazu III.) und des Gerichtshofs der Europäischen Union (dazu IV.) eine konsistente, folgerichtige, verfassungsfeste und unionssichere Auslegung und Anwendung des Umsatzsteuerrechts herbeizuführen.

II. Beitrag des BFH Eine einheitliche Rechtsprechung zum Umsatzsteuerrecht wird auf nationaler Ebene vorrangig durch den BFH hergestellt. Dies schließt besondere Verfahren ein, um die Einheitlichkeit der Rechtsprechung auch innerhalb des BFH sicherzustellen. Umsatzsteuerrechtliche Fragen können sich aber auch in Verfahren anderer Gerichtsbarkeiten stellen, die dann in eigener Verantwortung entscheiden. 1. Der BFH als oberster Gerichtshof für Steuern und Zölle a) Die Umsatzsteuer in der Rechtsprechung des BFH Das Umsatzsteuerrecht wird in Deutschland insbesondere durch die Rechtsprechung des V. und XI. Senats des Bundesfinanzhofs geprägt. Als Revisionsgericht entscheiden diese Senate Rechtssachen von grundsätzlicher Bedeutung (§ 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO) und wenn die Fortbildung des Recht oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung geboten ist (§ 115 Abs. 2 Nr. 2 FGO). Grundsätzliche Rechtsausführungen des BFH enthalten vor allem die Entscheidungen in Revisionsverfahren. In Verfahren über Nichtzulassungsbeschwerden entscheidet der BFH demgegenüber nur über das Vorliegen eines Zulassungsgrundes (vgl. § 116 Abs. 5 Satz 2 FGO), in Verfahren über die Aussetzung der Vollziehung nur darüber, ob ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungshandelns bestehen (vgl. § 69 Abs. 3, 2 Sätze 2 bis 6 FGO). Er trifft daher in diesen Verfahrensarten regelmäßig4 keine abschließende Entscheidung über strittige Rechtsfragen. Umsatzsteuerrechtliche Entscheidungen des BFH folgen häufig einer charakteristischen Methodik. Beruht Bundesrecht auf EU-Richtlinien, legt der BFH es nicht nur herkömmlich grammatisch, historisch, systematisch und teleologisch, sondern auch richtlinienkonform aus. Sind nach dem Gesetzeswortlaut mehrere Auslegungen denkbar, von denen nur eine der Richtlinie entspricht, ist bei richtlinienkonformer Ausle-

4 Abgesehen von Entscheidungen nach § 116 Abs. 6 FGO, vgl. BFH, Beschl. v. 28.7.2004 – IX B 27/04, BFHE 206, 330 = BStBl. II 2004, 895; v. 14.3.2007 – IV B 76/05, BFHE 216, 507 = BStBl. II 2007, 466; v. 17.6.2014 – IV B 184/13, BFH/NV 2014, 1563 und Entscheidungen über (Verfahrens-)Fragen des Beschwerdeverfahrens, vgl. BFH, Beschl. v. 6.5.2014  – GrS 2/13, BFHE 244, 536 = BStBl. II 2014, 645, Rz. 26 ff.

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Das Umsatzsteuerrecht im Spannungsfeld zwischen BFH, BVerfG und EuGH

gung eben diese eine Auslegung zwingend.5 Dementsprechend zitieren umsatzsteuerrechtliche Entscheidungen des BFH häufig nicht nur die streitentscheidenden Normen des nationalen Rechts, sondern auch die zugrunde liegenden Vorschriften der MwStSystRL. Die richtlinienkonforme Auslegung ist nicht auf das Umsatzsteuerrecht beschränkt. Sie ist hier aber von besonderer Bedeutung, da das Umsatzsteuerrecht in weit höherem Maße als andere Steuerrechtsgebiete auf Unionsrecht beruht. Ist eine richtlinienkonforme Auslegung des nationalen Rechts nicht möglich, berücksichtigt der BFH den Anwendungsvorrang des Unionsrechts und ermöglicht Steuerpflichtigen, sich unmittelbar auf Bestimmungen der Richtlinie zu berufen, sofern diese klar und unbedingt sind und zu ihrer Anwendung insoweit keines Ausführungsakts mehr bedürfen6. Er folgt damit der Rechtsprechung des EuGH, wonach ein nationales Gericht bei einem Widerspruch zwischen nationalem Recht und Unionsrecht das entsprechende nationale Recht nicht anwenden darf, ohne dessen Anpassung oder Aufhebung durch den nationalen Gesetzgeber oder ein nationales Verfassungsgericht herbeiführen oder abwarten zu müssen.7 Verfassungsrechtliche Grundlage dafür ist Art. 23 Abs. 1 GG.8 Danach wirkt die Bundesrepublik Deutschland zur Verwirklichung eines vereinten Europas bei der Entwicklung der Europäischen Union mit, die demokratischen, rechtsstaatlichen, sozialen und föderativen Grundsätzen und dem Grundsatz der Subsidiarität verpflichtet ist und einen dem GG im Wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutz gewährleistet (Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG). Der Bund kann hierzu durch Gesetz mit Zustimmung des Bundesrates Hoheitsrechte übertragen (Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG). Für die Begründung der Europäischen Union sowie für Änderungen ihrer vertraglichen Grundlagen und vergleichbare Regelungen, durch die das GG seinem Inhalt nach 5 Grundlegend BFH, Urt. v. 12.11.1980 – II R 1/76, BFHE 132, 319, BStBl. II 1981, 279, aus neuerer Zeit z.B. BFH, Urt. v. 22.6.2016 – V R 46/15, BFHE 254, 272 = UR 2016, 763, Rz. 50; v. 1.6.2016 – XI R 17/11, BFHE 254, 164 = BStBl. II 2017, 581 = UR 2014, 313 m. Anm. Marchal, Rz. 60; v. 17.12.2015 – V R 45/14, BFHE 252, 511 = BStBl. II 2017, 658 = UR 2016, 310, Rz. 16. 6 Grundlegend BVerfG, Beschl. v. 8.4.1987 – 2 BvR 687/85, BVerfGE 75, 223 = UR 1987, 355 m. Anm. Weiss und in der Folge BFH, Beschl. v. 29.8.1991 – V B 113/91, BFHE 165, 109 = BStBl. II 1992, 267 = UR 1991, 349 m. Anm. Widmann, Rz. 22 f., aus neuerer Zeit etwa BFH, Urt. v. 31.5.2017 – V R 31/16, BFH/NV 2017, 1334, Rz. 14; v. 7.12.2016 – XI R 5/15, BFHE 256, 550 = UR 2017, 385, Rz. 20; v. 28.8.2014 – V B 28/14, BFH/NV 2014, 1916, Rz. 6; v. 24.10.2013 – V R 17/13, BFHE 243, 456 = BStBl. II 2015, 513 = UR 2014, 147, Rz. 12 ff.; v. 25.4.2013  – V R 7/11, BFHE 241, 475 = BStBl.  II 2013, 976, Rz.  21, 36 im Anschluss an EuGH, Urt. v. 15.11.2012 – C-174/11, ECLI:ECLI:EU:C:2012:716 – Zimmermann, UR 2013, 35. 7 Z.B. EuGH, Urt. v. 26.2.2013 – C-617/10, ECLI:ECLI:EU:C:2013:105 – Åkerberg Fransson, UR 2014, 27 = NJW 2013, 1415, Rz. 45, dem folgend BFH, Urt. v. 24.10.2013 – V R 17/13, BFHE 243, 456 = BStBl. II 2015, 513 = UR 2014, 147, Rz. 13; v. 28.8.2014 – V B 28/14, BFH/ NV 2014, 1916 = BzAR 2014, 497, Rz. 6. 8 BVerfG, Beschl. v. 15.12.2015 – 2 BvR 2735/14, BVerfGE 140, 317, Rz. 37 ff., m.w.N.; vor Einfügung des Art.  23 durch das Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes v. 21.12.1992, BGBl. I 1992, 2086, aus Art. 24 Abs. 1, Art. 59 GG hergeleitet, vgl. dazu BVerfG, Beschl. v. 22.10.1986 – 2 BvR 197/83, Solange II, BVerfGE 73, 339, unter Rz. 72 ff.

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geändert oder ergänzt wird oder solche Änderungen oder Ergänzungen ermöglicht werden, gilt Artikel 79 Abs. 2 und 3 GG (Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG). Nach einer Auffassung im Schrifttum darf ein Anwendungsvorrang des Unionsrechts allerdings erst angenommen werden, wenn der EuGH einen Widerspruch zwischen nationalem Recht und Unionsrecht festgestellt hat.9 Die EuGH-Rechtsprechung bietet für eine solche Einschränkung aber keine Anhaltspunkte. b) Vorlagen an das BVerfG Hält ein Gericht ein Gesetz, auf dessen Gültigkeit es bei der Entscheidung ankommt, für verfassungswidrig, so ist nach Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG das Verfahren auszusetzen und, wenn es sich um die Verletzung der Verfassung eines Landes handelt, die Entscheidung des für Verfassungsstreitigkeiten zuständigen Gerichtes des Landes, wenn es sich um die Verletzung des GG handelt, die Entscheidung des BVerfG einzuholen. Hält daher der BFH eine Regelung des UStG für verfassungswidrig, hat er grundsätzlich eine Entscheidung des BVerfG einzuholen. Dabei ist aber zu berücksichtigen, dass das BVerfG Hoheitsakte, die auf Unionsrecht beruhen, und nationale Rechtsnormen, die Unionsrecht umsetzen, nur in begrenztem Umfang überprüft, worauf ich später10 näher eingehen werde. Die Vorlage eines Umsetzungsgesetzes nach Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG setzt daher voraus, dass das vorlegende Gericht geklärt und dargelegt hat, dass das vorzulegende Gesetz überhaupt vom BVerfG überprüft werden kann. Dazu muss es – wie das Bundesverfassungsgericht in seinem Beschluss vom 4. Oktober 201111 festgestellt hat – gegebenenfalls eine Vorabentscheidung des EuGH einholen, inwiefern dem nationalen Gesetzgeber ein Umsetzungsspielraum zusteht. Insofern müsste auch der BFH ein Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH stellen, bevor er eine Regelung des UStG, die auf der MwStSystRL beruht, dem BVerfG vorlegt. Geht ein Gericht in unvertretbarer Weise davon aus, dass ein Gesetz verfassungskonform ausgelegt werden kann, und verstößt es deswegen gegen seine Vorlagepflicht aus Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG, verletzt es das Recht auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG). Ein Recht auf den gesetzlichen Richter haben auch juristische Personen des öffentlichen Rechts und ihre Behörden.12 Zur Geltendmachung eines solchen Verstoßes ist gegebenenfalls Nichtigkeitsklage (§ 134 FGO i.V.m. § 579 Abs. 1 Nr. 1 ZPO) zu erheben.13 Eine Verfassungsbeschwerde ist erst zulässig, wenn das Wiederaufnahmeverfahren erfolglos geblieben ist.14

9 Stadie, in FS Reiß, 2008, S. 67 (72 f.). 10 Unter III. 11 BVerfG, Beschl. v. 4.10.2011 – 1 BvL 3/08, BVerfGE 129, 186 = DStR 2011, 2141, Rz. 44 ff. 12 BVerfG, Beschl. v. 16.12.2014 – 1 BvR 2142/11, BVerfGE 138, 64 = NVwZ 2015, 510, Rz. 53. 13 BFH, Urt. v. 13.7.2016 – VIII K 1/16, BFHE 254, 481 = BStBl. II 2017, 198, Rz. 16. 14 BVerfG, Beschl. v. 22.1.1992 – 2 BvR 40/92, NJW 1992, 1030, Rz. 3 ff.; v. 19.12.2006 – 2 BvR 2456/06; Bergkemper in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 134 FGO, Rz. 13.

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c) Einholung von Vorabentscheidungen des EuGH Neben der Pflicht zur Vorlage an das Bundesverfassungsgericht ist in Verfahren mit unionsrechtlichen Bezügen auch Art.  267 Abs.  3 AEUV zu beachten, der die Vorabentscheidung durch den Gerichtshof der Europäischen Union regelt. Grundsätzlich ist eine Vorabentscheidung einzuholen, wenn Fragen der Auslegung europäischen Rechts zu klären sind. Die Verpflichtung zur Anrufung des EuGH wegen der Auslegung von Unionsrecht entfällt nach den Grundsätzen des EuGH-Urteils vom 6. Oktober 198215, wenn der EuGH die fragliche Bestimmung bereits ausgelegt hat (sog. „acte éclairé“) oder die Auslegung des Unionsrechts „derart offenkundig ist, dass für einen vernünftigen Zweifel keinerlei Raum bleibt“ (sog. „acte clair“). Ob ein solcher Fall vorliegt, hat das nationale Gericht in eigener Verantwortung zu entscheiden. Der EuGH hat diese Grundsätze in ständiger Rechtsprechung bestätigt und die Vo­ raussetzungen der Offenkundigkeit in diesem Sinne in zwei neueren Entscheidungen konkretisiert. Nach dem EuGH-Urteil vom 9. September 201516 ist ein oberstes Gericht eines Mitgliedstaats nicht schon deswegen zur Anrufung des EuGH verpflichtet, weil ein nationales Gericht einer unteren Instanz die fragliche unionsrechtliche Norm anders auslegt. Treten bei der Auslegung einer streitentscheidenden Norm aber wiederholt Schwierigkeiten in verschiedenen Mitgliedstaaten auf, ist nach den Grundsätzen dieses Urteils eine Anrufung des EuGH selbst dann geboten, wenn das nationale Gericht die Auslegung für offenkundig erachtet. Hat ein nationales Gericht einer unteren Instanz in einer ähnlichen Sache den EuGH angerufen, muss nach den Grundsätzen des EuGH-Urteil vom 9. September 201517 ein oberstes Gericht des gleichen Mitgliedstaates weder seinerseits den EuGH anrufen noch die Entscheidung des EuGH über das Vorabentscheidungsersuchen des Gerichts der unteren Instanz abwarten. Auch nach nationalem Recht haben die Beteiligten unter diesen Voraussetzungen keine Möglichkeit, ein Vorabentscheidungsersuchen durchzusetzen. Sie können allerdings nach §  155 FGO i.V.m. §  251 ZPO mit Blick auf das anhängige Vorabentscheidungsersuchen das Ruhen des Verfahrens beantragen. Die Umsatzsteuersenate des BFH weisen die Verfahrensbeteiligten regelmäßig von sich aus auf die ihnen bekannten anhängigen Vorabentscheidungsersuchen zu möglicherweise entscheidungserheblichen Rechtsfragen hin und regen ein Ruhen des Verfahrens an. Denn das Aufstellen von Rechtsgrundsätzen, die demnächst durch eine Entscheidung des EuGH überholt sein könnten, würde regelmäßig weder zur Klärung grundsätzlicher Rechtsfragen noch zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung beitragen.

15 EuGH, Urt. v. 6.10.1982 – C-283/81, ECLI:ECLI:EU:C:1982:335 – CILFIT, Slg 1982, 3415. 16 EuGH, Urt. v. 9.9.2015 – C-160/14 – João Filipe Ferreira da Silva e Brito, EuZW 2016, 111, ECLI:EU:C:2015:565. 17 EuGH v. 9.9.2015 – C-72/14 und C-197/14 – van Dijk, ZESAR 2016, 333, ECLI:EU:C:2015:564, Rz. 60 ff.

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Inwiefern ein oberstes Gericht eines Mitgliedstaats zu einem Vorabentscheidungsersuchen verpflichtet ist, wenn eine bestimmte unionsrechtliche Rechtsfrage zwar nicht mehrfach zu Auslegungsschwierigkeiten geführt hat, gleichwohl aber von zumindest einem obersten Gericht eines anderen Mitgliedstaats abweichend beurteilt wird, hat der EuGH noch nicht entschieden. Der V. Senat des BFH hat in der Vergangenheit eine von seiner eigenen Auffassung abweichende Entscheidung des österreichischen Verfassungsgerichtshofs zum Anlass eines Vorabentscheidungsersuchens genommen.18 In einem aktuellen Urteil zu einem grenzüberschreitenden Sachverhalt hat der XI. Senat daraus einen Umkehrschluss gezogen und die Einholung einer Vorabent­ scheidung mit dem Hinweis abgelehnt, seine Auffassung entspreche der Auffassung der ausländischen Steuerbehörden, so dass im Streitfall weder eine Doppelbesteuerung noch eine doppelte Nichtbesteuerung zu besorgen sei.19 Darüber hinaus spricht viel dafür, dass eine Rechtsfrage als geklärt angesehen werden kann, wenn sie von verschiedenen Höchstgerichten der Mitgliedstaaten der EU einheitlich beantwortet wird. Im Sinne des Diskurses zwischen den nationalen und europäischen Gerichten bieten Vorabentscheidungsersuchen die Möglichkeit, auf Vorabentscheidungsersuchen anderer Gerichte und Vorabentscheidungen des EuGH zu erwidern.20 Nationale Gerichte können dadurch die Aufmerksamkeit des EuGH auf noch nicht oder nicht ausreichend berücksichtigte Gesichtspunkte lenken, um eine Präzisierung oder Fortentwicklung der EuGH-Rechtsprechung anzustoßen. So hat etwa der V. Senat des BFH in einem Vorabentscheidungsersuchen darauf hingewiesen, dass Ausführungen in dem EuGH-­ Urteil vom 22. Oktober 201521 so verstanden werden können, dass „die materiellen und formellen Voraussetzungen des Vorsteuerabzugs jede Bedeutung verlieren“22. Da Gerichte unterer Instanzen zur Einholung von Vorabentscheidungsersuchen zwar nicht verpflichtet, aber nach Art. 267 Abs. 2 AEUV berechtigt sind, kann ein Vorab­ entscheidungsersuchen eines obersten Gerichts auch zweckmäßig sein, um anderenfalls zu erwartende Vorabentscheidungsersuchen von Gerichten unterer Instanzen zu antizipieren und eine Vorabentscheidung des EuGH in Kenntnis der Rechtsauffassung des obersten Gerichts anstelle eines Gerichts einer unteren Instanz herbeizuführen. Daher kann es auch zweckmäßig sein, ein Vorabentscheidungsersuchen eines Instanzgerichts durch eine eigene Vorlage des obersten Bundesgerichts zu begleiten, weil es – anders als beim Bundesverfassungsgericht – keine Möglichkeit der förmli18 BFH, Beschl. v. 10.2.2005 – V R 59/03, BFHE 208, 502 = BStBl. II 2005, 537 = UR 2008, 186, Rz. 24 ff. 19 BFH, Urt. v. 12.10.2016 – XI R 5/14, BFHE 255, 457 = BStBl. II 2017, 500 = UR 2017, 189, Rz. 47. 20 Vgl. Kokott/Henze, in FS Spindler, 2011, S. 279 (285). 21 EuGH Urt. v. 22.10.2015 – C-277/14, ECLI:EU:C:2015:719 – PPUH Stehcemp, UR 2015, 917 = HFR 2015, 1182. 22 BFH, Beschl. v. 6.4.2016 – V R 25/15, BFHE 254, 139 = UR 2016, 598 = DStR 2016, 1527, Rz. 58 ff.; Az. des EuGH C-375/16, ECLI:EU:C:2017:867; ähnlich BFH, Beschl. v. 6.4.2016 – XI R 20/14, BFHE 254, 152 = UR 2016, 604 = DStR 2016, 1532, Rz. 61 f.; Az. des EuGH C-374/16, ECLI:EU:C:2017:867.

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chen Stellungnahme eines obersten Bundesgerichts zu den Vorlagen der Instanzgerichte gibt. Verletzt ein oberstes Bundesgericht – also auch der BFH – seine Pflicht aus Art. 267 Abs. 3 AEUV, kann darin nach nationalem Recht ein Entzug des gesetzlichen Richters (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) liegen. Dies ist allerdings nicht bei jedem Verstoß gegen Art.  267 Abs.  3 AEUV der Fall, sondern erst dann, wenn das Absehen von einem Vorabentscheidungsersuchen offensichtlich unhaltbar ist. Das BVerfG räumt den obersten Bundesgerichten hinsichtlich der Voraussetzungen eines Vorabentscheidungsersuchens einen Beurteilungsspielraum ein. Es sieht sich ausdrücklich nicht als „oberstes Vorlagenkontrollgericht“23. Das BVerfG beanstandet deshalb die Auslegung und Anwendung von Zuständigkeitsnormen nur, wenn sie bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz bestimmenden Gedanken nicht mehr verständlich erscheinen und offensichtlich unhaltbar sind. Ein derart qualifizierter Verstoß liegt etwa vor, wenn das Gericht seine Vorlagepflicht grundsätzlich verkennt und entscheidet, ohne eine Vorabentscheidung des EuGH einzuholen, obwohl es selbst erkennt, dass eine unionsrechtliche Frage entscheidungserheblich ist, die nicht eindeutig so zu beantworten ist, wie das Gericht es beabsichtigt. Macht sich das Gericht erst gar nicht über das Unionsrecht kundig oder lässt es offenkundig einschlägige Rechtsprechung des EuGH unberücksichtigt, liegt ebenfalls ein qualifizierter Verstoß vor.24 Nach diesen Grundsätzen hat das BVerfG mit Blick auf das Umsatzsteuerrecht entschieden, dass der BFH Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG nicht verletzt hat, als er mit Urteil vom 23. November 200625 ohne Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH entschied, ein Betreiber von Geldspielautomaten könne nicht die Aufhebung von bestandskräftigen Umsatzsteuerfestsetzungen verlangen, auch wenn diese nach den Grundsätzen des EuGH-Urteils vom 17. Februar 200526 rechtswidrig seien. Die Annahme, die unionsrechtliche Rechtslage sei diesbezüglich durch ein anderes EuGH-Urteil27 geklärt, überschreite nicht den dem BFH zustehenden Beurteilungsspielraum.28 23 St. Rspr., grundlegend BVerfG, Beschl. v. 31.5.1990  – 2 BvL 12/88, 2 BvL 13/88, 2 BvR 1436/87, BVerfGE 82, 159, BGBl. I 1990, 1728, Rz. 142 ff.; in der Folge u.a. BVerfG, Beschl. v. 6.7.2010 – 2 BvR 2661/06, BVerfGE 126, 286, ZIP 2010, 1711, Rz. 88 ff.; BVerfG, Urt. v. 28.1.2014  – 2 BvR 1561/12 u.a., BVerfGE 135, 155, Rz.  180; zuletzt BVerfG, Beschl. v. 19.12.2017 – 2 BvR 424/17, NJW 2018, 686, Rz. 39 ff.; siehe auch BFH, Beschl. v. 27.9.2017 – XI R 18/16, BFH/NV 2018, 244, Rz. 26 und BFH, Urt. v. 13.7.2016 – VIII K 1/16, BFHE 254, 481 = BStBl. II 2017, 198, Rz. 29. 24 BVerfG, Beschl. v. 25.2.2010  – 1 BvR 230/09, NJW 2010, 1268, Rz.  15  ff.; v. 19.7.2016  – 2 BvR 470/08, NJW 2016, 3153, Rz. 55 f. 25 BFH v. 23.11.2006 – V R 67/05, BFHE 216, 357 = BStBl. II 2007, 436 = UR 2007, 334. 26 EuGH v. 17.2.2005 – C-453/02 C-462/02 – Linneweber und Akritidis, Slg. 2005, I-1131, ECLI:EU:C:2005:92. 27 EuGH, Urt. v. 13.1.2004 – C-453/00 – Kühne und Heitz, Slg. 2004, I-837, ECLI:EU:C:2004:17. 28 BVerfG, Beschl. v. 4.9.2008 – 2 BvR 1321/07, UR 2008, 884 = HFR 2009, 189, BVerfGK 14, 217, Rz. 12. Ob der Beschwerdeführer zuvor Nichtigkeitsklage erhoben hatte, ist dem Beschluss nicht zu entnehmen.

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Unionsrechtlich begründet ein Verstoß gegen die Pflicht zur Anrufung des EuGH einen Staatshaftungsanspruch gegen den Mitgliedsstaat, dessen Gericht zur Anrufung verpflichtet gewesen wäre. Dieser Anspruch darf unionsrechtlich nicht davon abhängig gemacht werden, dass die fehlerhaft zustande gekommene Entscheidung aufgehoben wird, wenn eine solche Aufhebung praktisch ausgeschlossen ist.29 Im Schrifttum wird der Handhabung von Vorabentscheidungsersuchen durch den BFH ein gutes Zeugnis ausgestellt. Seer weist z.B. darauf hin, der BFH sei ein „europäisches Gericht“, das „mit guten Erfolgsaussichten europarechtlichen Rechtsschutz gewährt“30. Im Jahr 2016 hat der BFH fünf Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH gerichtet.31Zuvor hat der BFH – auch außerhalb der Umsatzsteuer – bis einschließlich 2015 insgesamt 307 Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH gerichtet, mehr als jedes andere Gericht in der Europäischen Union. An zweiter Stelle folgt der Hoge Raad der Nederlanden mit 271 Anrufungen. Für die vergleichsweise hohe Vorlagebereitschaft nicht nur des BFH, sondern der obersten Bundesgerichte insgesamt, spricht auch, dass rund 1/3 aller bisherigen Vorabentscheidungsersuchen aus Deutschland von obersten Gerichten kommen, gegenüber rund 1/4 der Vorabentscheidungsersuchen aus Frankreich, je rund 1/5 derer aus Großbritannien und Italien und nur rund 1/6 derer aus Spanien32. 2. Einheitlichkeit der Rechtsprechung innerhalb des BFH Innerhalb des BFH wird die Einheitlichkeit der Rechtsprechung der verschiedenen Fachsenate durch den Großen Senat sichergestellt (§ 11 Abs. 1 FGO). Der Große Senat entscheidet, wenn ein Senat in einer Rechtsfrage von der Entscheidung eines anderen Senats oder des Großen Senats abweichen will (§ 11 Abs. 2 FGO). Bei einer solchen Divergenz bedarf es zwingend der Vorlage an den großen Senat. Zudem kann der erkennende Senat eine Frage von grundsätzlicher Bedeutung dem Großen Senat zur Entscheidung vorlegen, wenn das nach seiner Auffassung zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erforderlich ist (§ 11 Abs. 4 FGO). Eine solche Vorlage steht im Ermessen des erkennenden Senats. In bei-

29 EuGH, Urt. v. 9.9.2015 – C-160/14 – João Filipe Ferreira da Silva e Brito, EuZW 2016, 111, ECLI:EU:C:2015:565, Rz. 46 f., 60. 30 Seer in Tipke/Kruse, Abgabenordnung/Finanzgerichtsordnung, Europarechtsschutz Rz. 13. 31 BFH, Beschl. v. 6.4.2016 – V R 25/15, BFHE 254, 139 = UR 2016, 598, und v. 6.4.2016 – XI R 20/14, BFHE 254, 152 = UR 2016, 604, dazu jeweils EuGH, Urt. v. 15.11.2017 – C-374 u. C-375/16, ECLI:EU:C:2017:867 – Geissel und Butin, UR 2017, 970 m. Anm. Jacobs/Zitzl; BFH, Beschl. v. 22.6.2016 – V R 42/15, BFHE 254, 264 = UR 2016, 717, dazu EuGH, Urt. v. 20.12.2017 – C-462/16, ECLI:EU:C:2017:1006 – Boehringer Ingelheim Pharma, UR 2018, 166, und nachgehend BFH, Urt. v. 8.2.2018, DB 2018, 747; v. 21.9.2016 – V R 29/15, BFHE 255, 315 = UR 2017, 66 = BFH/NV 2017, 243, Az. beim EuGH C-660/16, und v. 21.9.2016 – XI R 44/14, BFHE 255, 328 = UR 2017, 72 = BFH/NV 2017, 248, Az. beim EuGH C-661/16. 32 Jahresbericht 2015 – Jahresüberblick des EuGH, S. 101 ff.

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den Fällen ist Voraussetzung einer Vorlage, dass die betreffende Rechtsfrage entscheidungserheblich ist33. In Verfahren mit unionsrechtlichen Bezügen werden diese Grundsätze allerdings von der Vorlagepflicht nach Art. 267 Abs. 3 AEUV überlagert. Betrifft die beabsichtigte Abweichung oder die Frage von grundsätzlicher Bedeutung die Gültigkeit oder Auslegung von Unionsrecht, ist eine Vorabentscheidung des EuGH einzuholen; eine Vorlage an den Großen Senat ist dann ausgeschlossen.34 Hat der EuGH eine Rechtsfrage abweichend von der früheren Rechtsprechung des BFH beantwortet, kann der nunmehr erkennende Senat nach den Grundsätzen des EuGH entscheiden, ohne die Rechtsfrage dem Großen Senat vorzulegen.35 Will er die frühere Rechtsprechung beibehalten und damit von der EuGH-Rechtsprechung abweichen, muss er erneut den EuGH anrufen. Divergenzen (§ 11 Abs. 2 FGO) entstanden bisher bei der Auslegung des Verfahrensrechts, die allen Senaten des BFH obliegt, und in ertragsteuerrechtlichen Fragen, mit denen derzeit sieben von elf Senaten des BFH befasst sind. Umsatzsteuerrechtliche Fragen hatte der Große Senat bisher nicht zu entscheiden. Die Umsatzsteuer ist beim BFH derzeit im Wesentlichen nur zwei Senaten, dem V. und dem XI. Senat, übertragen. Dementsprechend geringer ist die Wahrscheinlichkeit einer Divergenz. Die Folgeentscheidungen des V. Senats36 und des XI. Senats37 nach dem EuGH-Urteil vom 16. Juli 201538 haben in der Literatur zu einer Diskussion darüber geführt, dass die Frage der umsatzsteuerlichen Organschaft bisher nicht dem Großen Senat des Bundesfinanzhofs vorgelegt worden sei.39 Der XI. Senat hat allerdings ausdrücklich darauf hingewiesen, dass er vom V. Senat nur in der Begründung, nicht im Ergebnis abweicht und deswegen eine Vorlage an den Großen Senats ausscheidet.40 Ob eine Divergenz besteht, die eine Vorlage an den Großen Senat erfordert, hat der jeweils 33 BFH, Beschl. v. 9.10.2014  – GrS 1/13, BFHE 247, 291, BStBl.  II 2015, 345, Rz.  29; v. 14.4.2015 – GrS 2/12, BFHE 250, 338, BStBl. II 2015, 1007, Rz. 31, jeweils zu § 11 Abs. 2 FGO; BFH, Beschl. v. 17.7.1967  – GrS 3/66, BFHE 91, 213, BStBl.  II 1968, 285, unter Rz. 9 ff.; v. 28.11.1977 – GrS 3/77, BFHE 124, 43, BStBl. II 1978, 105, unter Rz. 22, jeweils zu § 11 Abs. 4 FGO. 34 BFH, Beschl. v. 13.11.2002 – I R 13/02, BFHE 201, 73 = BStBl. II 2003, 795, Rz. 29. 35 BFH, Urt. v. 13.7.2016 – VIII K 1/16, BFHE 254, 481 = BStBl. II 2017, 198, Rz. 22. 36 BFH, Urt. v. 2.12.2015 – V R 25/13, BFHE 251, 534 = BStBl. II 2017, 547 = UR 2016, 185; v. 2.12.2015 – V R 15/14, BFHE 252, 158 = BStBl. II 2017, 553 = UR 2016, 192; v. 2.12.2015 – V R 67/14, BFHE 251, 547 = BStBl. II 2017, 560 = UR 2016, 199; v. 3.12.2015 – V R 36/13, BFHE 251, 556 = BStBl. II 2017, 563 = UR 2016, 204. 37 BFH, Urt. v. 19.1.2016 – XI R 38/12, BFHE 252, 516 = BStBl. II 2017, 567; v. 1.6.2016 – XI R 17/11, BFHE 254, 164 = BStBl. II 2017, 581. 38 EuGH, Urt. v. 16.7.2015 – C-108/14 und C-109/14, ECLI:EU:C:2015:496 – Larentia + Minerva, Marenave, BStBl. II 2017, 604 = UR 2015, 671 m. Anm. Hummel; Anm. Heinrichshofen, UR 2015, 722. 39 Sterzinger, UR 2016, 326 (328); Prätzler, BB 2018, 599 (601), BB 2016, 2144; Michel, DB 2016, 1959 (1961); Masuch, GmbHR 2016, 1005 (1006). 40 BFH, Urt. v. 19.1.2016 – XI R 38/12, BFHE 252, 516 = BStBl. II 2017, 567, Rz. 96 ff., m.w.N.; siehe auch Heuermann, DB 2016, 608 (615).

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erkennende Senat zu beurteilen. Der Große Senat kann nur aufgrund einer Vorlage entscheiden. Nach den bisherigen Erfahrungen spricht viel dafür, dass der V. und der XI. Senat auch in Fragen der umsatzsteuerrechtlichen Organschaft gemeinsame Grundsätze entwickeln werden. Sollten unterschiedliche Begründungsansätze auf der Auslegung von Unionsrecht beruhen, wäre im Übrigen eine Klärung nicht durch den Großen Senat, sondern nur durch den EuGH möglich. 3. Rechtsprechung anderer oberster Bundesgerichte Stellen sich in anderen Gerichtsbarkeiten umsatzsteuerrechtliche Vorfragen, können auch andere oberste Bundesgerichte als der BFH höchstrichterlich über Umsatzsteuerrecht entscheiden. Beabsichtigen sie dabei, von der Rechtsprechung des BFH abzuweichen, müssen sie die betroffene Rechtsfrage dem Gemeinsamen Senat der Obersten Gerichtshöfe des Bundes (GmSOGB; vgl. Art. 95 Abs. 3 GG) vorlegen, ebenso der BFH, wenn er vor einer Entscheidung eines anderen obersten Bundesgerichts zur Umsatzsteuer abweichen will. Die Einzelheiten des Verfahrens vor dem GmSOGB ergeben sich aus dem Gesetz zur Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe des Bundes (RsprEinhG). Die einzige spezifisch steuerrechtliche Frage, die der GmSOGB bisher zu entscheiden hatte, betraf den Erlass von Gewerbesteuer. Höchstrichterliche Entscheidungen anderer oberster Bundesgerichte zum Umsatzsteuerrecht finden sich vor allem in der Rechtsprechung des BGH in Steuerstrafsachen.41 Kommt es im Rahmen eines Steuerstrafverfahrens vor dem BGH auf eine noch ungeklärte Frage zur Auslegung oder Gültigkeit der MwStSystRL an, ist der BGH als höchste Instanz der ordentlichen Gerichtsbarkeit ebenso wie der BFH nach Art. 267 Abs. 3 AEUV verpflichtet, eine Vorabentscheidung des EuGH einzuholen. Bisher hat er dies in zwei Fällen getan.42

III. Beitrag des Bundesverfassungsgerichts Das BVerfG kann mit umsatzsteuerrechtlichen Fragen nicht nur – wie bereits erwähnt43 – aufgrund von Richtervorlagen aus der Finanzgerichtsbarkeit, sondern insbesondere auch durch eine Verfassungsbeschwerde befasst werden. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass für das Umsatzsteuerrecht aufgrund seiner unionsrechtlichen Bezüge ein besonderer Prüfungsmaßstab gilt. 41 Dazu Harms/Heine, in FS Spindler, 2011, S. 429 ff. 42 Vgl. Vorlagebeschluss v. 7.7.2009 – 1 StR 41/09, BFH/NV 2009, 1951 = HFR 2009, 1138 = DStR 2009, 1688, dazu EuGH, Urt. v. 7.12.2010 – C-285/09, ECLI:EU:C:2010:742, R., BStBl. II 2011, 846 = UR 2011, 15 m. Anm. Sterzinger; und BGH, Beschl. v. 20.10.2011 – 1 StR 41/09, BGHSt 57, 32 = BFH/NV 2012, 366 = HFR 2012, 332 = NJW 2011, 3797; und v. 22.7.2015 – 1 StR 447/14, MwStR 2016, 808, wistra 2016, 33 (red. Ls.), dazu EuGH, Urt. v. 8.12.2016 –C-453/15, ECLI:EU:C:2016:933 – A und B, UR 2017, 24 = HFR 2017, 86 und nachgehend BFH, Urt. v. 10.10.2017, NJW 2018, 480 = BB 2018, 149. 43 Unter II.1.b.

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1. Prüfungsmaßstab für auf Unionsrecht beruhende Hoheitsakte oder Umsetzungsnormen Wegen des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts44 misst das BVerfG in ständiger Rechtsprechung innerstaatliche Rechtsvorschriften, die eine Richtlinie oder eine Verordnung der Europäischen Union in deutsches Recht umsetzen, grundsätzlich nicht am Maßstab des Grundgesetzes, sondern am Unionsrecht, soweit die Richtlinie oder die Verordnung den Mitgliedstaaten keinen Umsetzungsspielraum lässt.45 Das BVerfG prüft insofern lediglich, ob die Organe der Europäischen Union die Befugnisse gewahrt haben, die ihnen die Mitgliedstaaten durch die Verträge übertragen haben (sogenannte „ultravires“-Kontrolle), und ob die durch Art. 23 Abs. 1 Satz 3 i.V.m. Art. 79 Abs. 3 GG als unabänderlich geschützten Grundsätze gewahrt sind (sogenannte Identitätskontrolle).46 Der Rat der EU erlässt nach Art.  113 AEUV gemäß einem besonderen Gesetzgebungsverfahren und nach Anhörung des Europäischen Parlaments und des Wirtschafts- und Sozialausschusses einstimmig die Bestimmungen zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften über die Umsatzsteuern, die Verbrauchsabgaben und sonstige indirekte Steuern, soweit diese Harmonisierung für die Errichtung und das Funktionieren des Binnenmarkts und die Vermeidung von Wettbewerbsverzerrungen notwendig ist. Ein Handeln „ultra vires“ bei Erlass und Änderung der MwStSystRL kommt insofern wohl nur in Betracht, wenn der Rat in hinreichend qualifizierter47 Weise den Harmonisierungsbedarf verkannt hat. Umsatzsteuerrechtliche Regelungen lassen typischerweise auch keine Verletzung der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 Satz 1 GG) oder der souveränen Verfassungsstaatlichkeit (Art. 20 GG)48 besorgen. Soweit die MwStSystRL den Mitgliedstaaten keinen Umsetzungsspielraum lässt, kann daher eine Verletzung nationalen Verfassungsrechts regelmäßig nicht vor dem Bundesverfassungsgericht gerügt werden. Insoweit kann – anders als im Ertragsteuerrecht – insbesondere nicht geltend gemacht werden, eine Regelung oder deren Auslegung verstießen gegen die aus Art. 3 GG herzuleitenden Gebote der Ausrichtung der Steuerlast an der finanziellen Leistungsfähigkeit und der Folgerichtigkeit.49

44 Siehe II.1.a. 45 Grundlegend BVerfG, Beschl. v. 22.10.1986 – 2 BvR 197/83, Solange II, BVerfGE 73, 339, unter Rz. 98; zuletzt etwa BVerfG, Beschl. v. 21.9.2016 – 2 BvL 1/15, Rindfleischetikettierung, BVerfGE 143, 38, BGBl. I 2016, 2521 = NJW 2016, 3648, Rz. 32, m.w.N. 46 Dazu umfassend BVerfG, Urt. v. 21.6.2016 – 2 BvR 2728/13 u.a., OMT-Programm, BVerfGE 142,123 = NJW 2016, 2473, Rz. 115 ff. 47 Vgl. BVerfG, Urt. v. 21.6.2016 – 2 BvR 2728/13 u.a., OMT-Programm, BVerfGE 142,123 = NJW 2016, 2473, Rz. 147 ff. 48 Vgl. BVerfG, Urt. v. 30.6.2009  – 2 BvE 2/08 u.a., Lissabon-Vertrag, BVerfGE 123, 267 = BGBl. I 2009, 2127, Rz. 226. 49 Vgl. z.B. BVerfG, Beschl. v. 15.12.2015 – 2 BvL 1/12, Treaty Override, BVerfGE 141, 1, DStR 2016, 359, Rz. 95 f., m.w.N.

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2. Umsetzung im Umsatzsteuerrecht Diese Grundsätze lassen sich anhand einiger BVerfG-Entscheidungen der vergangenen Jahre verdeutlichen. a) Prüfung in Abhängigkeit vom Umsetzungsspielraum der Mitgliedsstaaten Mit Beschluss vom 31. Mai 200750 nahm das BVerfG eine Verfassungsbeschwerde betreffend die Umsatzbesteuerung von Krankenhäusern nicht zur Entscheidung an. Beschwerdeführerin war eine GmbH & Co KG, die mehrere Sanatorien betrieb. Der BFH hatte mit Urteil vom 18. März 200451 entschieden, dass die dabei ausgeführten Umsätze weder nach § 4 Nr. 14 UStG noch nach § 4 Nr. 16 Buchst. b UStG i.V.m. § 67 AO (jeweils in der im Jahr 1986 geltenden Fassung) steuerfrei seien. Umsätze von Krankenhäusern könnten bei richtlinienkonformer Auslegung entsprechend den Grundsätzen der EuGH-Rechtsprechung nicht nach § 4 Nr. 14 UStG, sondern nur nach § 4 Nr. 16 Buchst. b UStG steuerfrei sein. Eine Befreiung nach § 4 Nr. 16 Buchst.  b UStG sei im Streitfall aber ausgeschlossen, da die Voraussetzungen des § 67 AO nicht vorlägen. Das BVerfG überprüfte lediglich die Auslegung des § 4 Nr. 14 Satz 3 UStG und des § 4 Nr. 16 Buchst. b UStG, da im Übrigen kein Umsetzungsspielraum des nationalen Gesetzgebers bestand. Es sah den Ausschluss von Krankenhausbetreibern aus dem Anwendungsbereich auch des § 4 Nr. 14 Satz 3 UStG im Hinblick auf die Rechtssystematik, die Abhängigkeit der Steuerbefreiung nach §  4 Nr.  16 Buchst. b. UStG von den Voraussetzungen des § 67 AO aus sozialstaatlichen Gründen als verfassungsrechtlich zulässig an. In ähnlicher Weise erachtete das BVerfG im Beschluss vom 20. März 201352 eine Verfassungsbeschwerde gegen die Versagung der Ist-Besteuerung (§ 20 UStG) zwar für teilweise zulässig, da das Unionsrecht53 den Mitgliedsstaaten insofern einen Umsetzungsspielraum lässt. Die Verfassungsbeschwerde hatte aber in der Sache keine Aussicht auf Erfolg, weil es nicht gegen Art. 3 GG verstößt, die Ist-Besteuerung davon abhängig zu machen, ob im Unternehmen eine für die Soll-Besteuerung geeignete Buchführung vorhanden ist (§ 20 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 UStG alter Fassung, § 20 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 UStG), was bei der Beschwerdeführerin der Fall war. b) Verfahrensgrundrechte Der Anwendungsvorrang des Unionsrechts und dementsprechend die Beschränkung auf eine „ultra vires“- und eine Identitätskontrolle betrifft aber grundsätzlich nur das materielle Umsatzsteuerrecht. Für das Verfahrensrecht gilt unionsrechtlich der Grundsatz der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten. Danach können die Mit50 BVerfG, Beschl. v. 31.5.2007 – 1 BvR 1316/04, BVerfGK 11, 268 = UR 2007, 737 = BFH/NV 2007, Beilage 4, 449 = NJW 2007, 3628. 51 BFH, Urt. v. 18.3.2004 – V R 53/00, BFHE 204, 503 = BStBl. II 2004, 677 = UR 2004, 421. 52 BVerfG, Beschl. v. 20.3.2013 – 1 BvR 3063/10, UR 2013, 468 m. Anm. Stadie = BFH/NV 2013, 1213 = HFR 2013, 535. 53 In dem dortigen Fall noch die RL 77/388/EWG.

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gliedstaaten das Besteuerungsverfahren grundsätzlich eigenständig regeln. Das Verfahrensrecht für unionsrechtlich geprägte Sachverhalte darf nur nicht ungünstiger sein als das Verfahrensrecht für gleichartige rein national geregelte Sachverhalte (Äquivalenzgrundsatz) und die Durchsetzung des Unionrechts nicht übermäßig erschweren (Effektivitätsgrundsatz).54 Das BVerfG prüft daher auch in Umsatzsteuerfällen, ob im Besteuerungsverfahren und im Finanzprozess die Verfahrensgrundrechte der Beteiligten gewahrt wurden. Dies zeigt der Beschluss vom 22. September 200955, mit dem das BVerfG einer Verfassungsbeschwerde gegen die Verweigerung einer Aussetzung der Vollziehung ohne Sicherheitsleistung stattgab. Das FG habe bei der ihm nach § 69 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. Abs. 2 Satz 3 FGO obliegenden Ermessensausübung das verfassungsrechtliche Gebot effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG) nicht hinreichend berücksichtigt, weil es nicht geprüft habe, ob der Kläger bei zumutbaren Anstrengungen überhaupt Sicherheit leisten könne. c) Bestimmtheitsgrundsatz (Art. 103 Abs. 2 GG) bei Hinterziehung (§ 370 AO) von Umsatzsteuer Bei der Überprüfung einer Verurteilung wegen Hinterziehung (§ 370 AO) von Umsatzsteuer hat sich das BVerfG bei der Auslegung der einschlägigen Normen des UStG bisher nicht auf eine „ultra vires“- und eine Identitätskontrolle beschränkt. Es hat auch geprüft, ob die Auslegung des Umsatzsteuerrechts dem strafrechtlichen Bestimmtheitsgrundsatz (Art. 103 Abs. 2 GG) entspricht. Der BVerfG-Beschluss vom 16. Juni 201156 betraf eine Verfassungsbeschwerde gegen die Verwerfung einer Revision gegen eine Verurteilung wegen Umsatzsteuerhinterziehung (§  370 AO) im Zusammenhang mit innergemeinschaftlichen Lieferungen (§ 6a UStG). Der Beschwerdeführer hatte unter anderem gerügt, die Auslegung des § 6a UStG durch den BGH verstoße gegen den strafrechtlichen Bestimmtheitsgrundsatz. Der Tatbestand der Steuerhinterziehung (§ 370 AO) enthält zahlreiche Tatbestandsmerkmale, die durch die jeweiligen Einzelsteuergesetze auszufüllen sind. Es handelt sich somit, wie das BVerfG ausführte, um einen sogenannten Blanketttatbestand. Daher muss nicht nur die Strafvorschrift selbst, sondern auch das zur Ausfüllung des Blanketts herangezogene Steuerrecht dem strafrechtlichen Bestimmtheitsgrundsatz entsprechen (Art. 103 Abs. 2 GG). Im konkreten Fall sah das BVerfG keinen Verstoß gegen den Bestimmtheitsgrundsatz. Die Auffassung des BGH, dass der Erwerb beim Abnehmer nicht, wie von § 6a Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 UStG, gefordert, der Umsatzbesteuerung „unterliegt“, wenn die gesetzlich vorgesehene Besteuerung unterlaufen wird57, sei schon bei isolierter Betrachtung vom Wortlaut der Vorschrift ge54 St. Rspr., zuletzt EuGH, Urt. v. 7.3.2018 – C-494/16, Santoro, ECLI:EU:C:2018:166, Rz. 30. 55 BVerfG, Beschl. v. 22.9.2009 – 1 BvR 1305/09, UR 2010, 150 = BFH/NV 2009, 2124 = HFR 2010, 70. 56 BVerfG, Beschl. v. 16.6.2011 – 2 BvR 542/09, UR 2011, 775 = BVerfGK 18, 482, HFR 2011, 1145. 57 BGH, Beschl. v. 20.11.2008 – 1 StR 354/08, BGHSt 53, 45 = UR 2009, 192, Rz. 13.

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deckt, zudem mit der Gesetzessystematik vereinbar und entspreche auch der Auslegung des maßgebenden Unionsrechts durch den EuGH. Nach dem EuGH-Urteil vom 26. Februar 201358 gehören Steuerstrafverfahren wegen Umsatzsteuerhinterziehung zur Durchführung des Unionsrechts im Sinne von Art. 51 Abs. 1 Satz 1 der EU-Grundrechtecharta (EUGrdRCh). Sie sind nach Auffassung des EuGH daher an der EUGrdRCh zu messen. In der EUGrdRCh ist auch der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen garantiert. Nach Art. 49 Abs. 1 Satz 1 EUGrdRCh darf niemand wegen einer Handlung oder Unterlassung verurteilt werden, die zur Zeit ihrer Begehung nach innerstaatlichem oder internationalem Recht nicht strafbar war. Ob sich das Bundesverfassungsgericht dieser Sichtweise für das Umsatzsteuerrecht anschließen könnte, ist bisher nicht geklärt. In seiner Entscheidung zur Antiterrordatei59 hat das Bundesverfassungsgericht durchaus kritische Worte zu dem Urteil in der Rechtssache Åkerberg Fransson gefunden und ausgeführt, dass jedenfalls in dem zu entscheidenden Fall die angegriffenen Vorschriften nicht durch das Unionsrecht determiniert seien. Für eine Bindung der Mitgliedstaaten durch die in der EUGrdRCh niedergelegten Grundrechte der EU genügt nicht schon jeder sachliche Bezug einer Regelung zum bloß abstrakten Anwendungsbereich des Unionsrecht oder rein tatsächliche Auswirkungen auf dieses. Vielmehr finden die Europäischen Grundrechte nur in „unionsrechtlich geregelten Fallgestaltungen, aber nicht außerhalb derselben Anwendung“. Dies könnte dazu führen, dass auch insoweit vom Anwendungsvorrang des Unionsrechts auszugehen und eine Prüfung am Maßstab des Art. 103 Abs. 2 GG durch das BVerfG ausgeschlossen ist. Das BVerfG hat sich dazu noch nicht geäußert.60 3. Vorabentscheidungsersuchen des BVerfG Stellen sich in einem Verfahren vor dem BVerfG ungeklärte Fragen der Auslegung oder Gültigkeit der MwStSystRL, ist auch das BVerfG nach Art. 267 Abs. 3 AEUV verpflichtet, eine Vorabentscheidung des EuGH einzuholen. Dieser Fall ist noch nicht eingetreten. Das bisher einzige Vorabentscheidungsersuchen des BVerfG an den EuGH erging im Zusammenhang mit dem sogenannten OMT-Beschluss der EZB.61 Ein Vorabentscheidungsersuchen zum Umsatzsteuerrecht erscheint mir im Hinblick auf den soeben dargestellten eingeschränkten Prüfungsmaßstab eher unwahrscheinlich. 58 EuGH, Urt. v. 26.2.2013 – C-617/10, ECLI:EU:C:2013:105 – Åkerberg Fransson, UR 2014, 27, Rz. 27. 59 BVerfG, Urt. v. 24.3.2013 – 1 BvR 1215/07, Antiterrordatei, BVerfGE 133, 277, BGBl. I 2013, 1270 Rz. 91. 60 Im BVerfG, Beschl. v. 15.12.2011 – 2 BvR 148/11, Doppelbestrafungsverbot EUGrdRCh, BVerfGK 19, 265, NJW 2012, 1202, Rz. 32 f. verneint das BVerfG bereits die Anwendbarkeit des nationalen Doppelbestrafungsverbots (Art. 103 Abs. 3 GG) auf den Streitfall. Auf ein mögliches Konkurrenzverhältnis zum unionsrechtlichen Doppelbestrafungsverbot (Art. 50 EUGrdRCh) kam es daher nicht mehr an. 61 BVerfG, Beschl. v. 14.1.2014 – 2 BvR 2728/13 u.a., OMT-Programm, BVerfGE 134, 366.

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IV. Beitrag des EuGH Der EuGH äußert sich zur Auslegung der MwStSystRL vor allem in seinen Vorabent­ scheidungen auf Ersuchen nationaler Gerichte (Art.  267 AEUV). Er versteht das ­Vorabentscheidungsverfahren als „Instrument der Zusammenarbeit zwischen dem Gerichtshof und den nationalen Gerichten“62 mit dem Ziel, die Entwicklung einer nationalen Rechtsprechung, „die nicht mit den Normen des Gemeinschaftsrechts in Einklang steht“63, zu verhindern. Andere Verfahren zu mehrwertsteuerrechtlichen Fragen, insbesondere Vertragsverletzungsverfahren (Art. 258 f. AEUV), in denen die Kommission oder ein anderer Mitgliedstaat rügen, ein Mitgliedstaat habe die MwStSystRL fehlerhaft umgesetzt, sind seltener. 1. Verfahren vor dem EuGH Das Verfahrensrecht des EuGH ist außerhalb des AEUV in einer eigenen Verfahrens­ ordnung geregelt. Aus Sicht der nationalen Gerichte sind insbesondere die Rege­ lungen über Form und Inhalt der Vorabentscheidungsersuchen von Bedeutung. Die Entscheidungsfindung des EuGH wird aber auch durch seine interne Arbeitsweise geprägt. a) Inhalt des Vorabentscheidungsersuchens Die Anforderungen an Form und Inhalt eines Vorabentscheidungsersuchens ergeben sich aus Art. 94 der Verfahrensordnung des EuGH. Danach muss das Vorabentscheidungsersuchen außer den dem EuGH zur Vorabentscheidung vorgelegten Rechtsfragen enthalten: (a) eine kurze Darstellung des Streitgegenstands und des maßgeblichen Sachverhalts, wie er vom vorlegenden Gericht festgestellt worden ist, oder zumindest eine Darstellung der tatsächlichen Umstände, auf denen die Fragen beruhen; (b) den Wortlaut der möglicherweise auf den Fall anwendbaren nationalen Vorschriften und gegebenenfalls die einschlägige nationale Rechtsprechung; (c) eine Darstellung der Gründe, aus denen das vorlegende Gericht Zweifel bezüglich der Auslegung oder der Gültigkeit bestimmter Vorschriften des Unionsrechts hat, und den Zusammenhang, den es zwischen diesen Vorschriften und dem auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren nationalen Recht herstellt. Um den Gerichten der Mitgliedstaaten die Abfassung von Vorabentscheidungsersuchen zu erleichtern, veröffentlicht der EuGH zudem in mehrjährigen Abständen Empfehlungen an die nationalen Gerichte bezüglich der Vorlage von Vorabentschei-

62 St. Rspr. des EuGH, zuletzt etwa EuGH, Urt. v. 22.2.2018  – C-103/16, Porras Guisado, ECLI:EU:C:2018:99, BB 2018, 627 (Kurzwiedergabe), Rz. 34; v. 20.12.2017 – C-504/16 und C-613/16 – Deister Holding, ECLI:EU:C:2017:1009, BB 2018, 672, Rz. 39. 63 Grundlegend EuGH, Urt. v. 4.11.1997  – C-337/95  – Christian Dior, Slg 1997, I-6013, ECLI:EU:C:1997:517, DB 1998, 192; zuletzt ausdrücklich in EuGH, Urt. v. 15.3.2017  – C-3/16 – Lucio Cesare Aquino, ECLI:EU:C:2017:209, Rz. 33.

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dungsersuchen.64 Aus prozessökonomischen Überlegungen, insbesondere im Hinblick auf die erforderlichen Übersetzungen in alle Amtssprachen der Europäischen Union, sollen Vorabentscheidungsersuchen „einfach, klar und präzise sowie ohne überflüssige Elemente“ gestellt werden. Der Erfahrung des EuGH nach würden „ungefähr zehn Seiten oftmals ausreichen“.65 Von Bedeutung ist für den EuGH insbesondere der Sachverhalt des Ausgangsrechtsstreits und das einschlägige nationale Recht, während sich die unionsrechtlichen Ausführungen auf ein „Mindestmaß“66 beschränken können. Enthält ein Vorabentscheidungsersuchen nicht die tatsächlichen und (national-)rechtlichen Informationen, die der EuGH benötigt, um dem vorlegenden Gericht eine zweckdienliche Antwort zu geben67, oder ist die erbetene Auslegung des Unionsrechts für den Ausgangsrechtsstreit offensichtlich nicht relevant, ist es unzulässig.68 Aus einem Vorabentscheidungsersuchen betreffend die Grundfreiheiten muss sich dementsprechend nach dem EuGH-Urteil vom 15. November 201669 ergeben, dass die Merkmale des Ausgangsrechtsstreits über die Grenzen eines Mitgliedsstaats hi­ nausweisen, oder weshalb ausnahmsweise auch bei nicht grenzüberschreitenden Sachverhalten Fragen zu den Grundfreiheiten bestehen. Vorabentscheidungsersuchen zum Umsatzsteuerrecht betreffen regelmäßig die Auslegung der MwStSystRL, so dass der Bezug zum Unionsrecht typischerweise unproblematisch ist.70 Die Darlegungsanforderungen des EuGH an ein Vorabentscheidungsersuchen sind regelmäßig niedriger als die Darlegungsanforderungen des BVerfG an eine Richtervorlage (Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG). Dies folgt schon aus den unterschiedlichen Vo­ raussetzungen beider Vorlagen. Während es nach Art. 267 AEUV ausreicht, dass sich eine unionsrechtliche Rechtsfrage stellt, fordert Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG, dass ein Gericht von der Verfassungsmäßigkeit einer streitentscheidenden Rechtsnorm überzeugt ist. Bloße Auslegungszweifel sind naturgemäß einfacher darzulegen als die Überzeugung von der Verfassungswidrigkeit. Es ist allerdings regelmäßig sachgerecht, in einem Vorabentscheidungsersuchen auch Gesichtspunkte anzusprechen, die zwar nicht zu dem unverzichtbaren Mindestinhalt gehören, allerdings nach Auffassung des vorlegenden Gerichts entscheidungserheb64 Zuletzt ABl. C 439 v. 25.11.2016, S. 1, zuvor ABl. C 338 v. 6.11.2012, S. 1. 65 ABl. C 439 v. 25.11.2016, Rz. 14. 66 EuGH, Beschl. v. 27.10.2017  – C-114/15  – Audace, ECLI:EU:C:2016:813, Rz.  37 und v. 8.9.2016 – C-322/15 – Google Ireland und Google Italy, ECLI:EU:C:2016:672, Rz. 18. 67 Siehe z.B. EuGH, Beschl. v. 5.10.2017  – C-567/15  – LitSpecMet, ECLI:EU:C:2017:736, Rz. 25 und v. 8.9.2016 – C-322/15 – Google Ireland und Google Italy, ECLI:EU:C:2016:672, Rz. 24 ff. 68 Zuletzt EuGH, Urt. v. 28.2.2018  – C-518/16  – ZPT, ECLI:EU:C:2018:126, Rz.  19 und v. 17.3.2016 – C-40/15 – Aspiro, ECLI:EU:C:2016:172, UR 2016, 386 = HFR 2016, 418, Rz. 17. 69 EuGH, Urt. v. 15.11.2016 C-268/15, Fernand Ullens de Schooten, ECLI:EU:C:2016:874, Rz. 54 f. 70 Vgl. EuGH, Urt. v. 17.3.2016 – C-40/15 Aspiro, ECLI:EU:C:2016:172, UR 2016, 386 = HFR 2016, 418, Rz. 18.

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lich sein können. Dazu gehören insbesondere rechtstatsächliche Gegebenheiten oder mögliche Folgeprobleme. Die EuGH-Richter sind grundsätzlich Generalisten71, so dass es erforderlich sein kann, die Probleme für die Besonderheiten einzelner Rechtsgebiete bewusst zu machen und auf den systematischen Gesamtkontext hinzuweisen. b) Arbeitsweise des EuGH Der EuGH hat seit seiner Gründung ein charakteristisches Selbstverständnis ent­ wickelt, das auch seine Methodik und Entscheidungsprozesse prägt. Ziel ist die Ko­ härenz und die einheitliche Anwendung des Unionsrechts, nicht aber die Konsistenz und die Eigenheit der mitgliedstaatlichen Rechtsordnung. Dies hat Abweichungen von den juristischen Traditionen einzelner Mitgliedstaaten zur bewussten und notwendigen Folge.72 Besonderes Augenmerk legt der EuGH auf die Verfahrensdauer. Nach einem Bericht aus dem Jahr 2013 bestanden dazu interne Richtlinien, wonach Vorabentscheidungsersuchen innerhalb von höchstens 65 Wochen beantwortet werden sollten, davon nur 22 Wochen für die juristische Prüfung, 22 Wochen für Schriftverkehr und Ladungsfrist und 21 Wochen für Übersetzungen.73 Die durchschnittliche Verfahrensdauer der 2015 vom EuGH abgeschlossenen Verfahren (davon knapp 2/3 Vorabentscheidungsverfahren) betrug 15,6 Monate, mithin rund 70 Wochen.74 Im Jahr 2016 benötigte der EuGH für die Bearbeitung eines Vorabentscheidungsersuchens durchschnittlich 15 Monate.75 2. Inhalt der Vorabentscheidung Steuerrechtliche Entscheidungen – nicht nur aus dem Umsatzsteuerrecht – machen einen bedeutenden Teil der Tätigkeit des EuGH aus. Im Jahr 2015 ergingen von den insgesamt 616 Entscheidungen des EuGH 55, also rund 9%, zum Steuerwesen. Dies war die zweitgrößte Fallgruppe nach den 74 Fällen zu Verkehrs- und Niederlassungsfreiheiten und zum Binnenmarkt.76 Umsatzsteuerrechtliche Entscheidungen des EuGH betreffen herkömmlicherweise die Auslegung der früheren RL 77/388/EWG und der MwStSystRL. Mit Beschluss vom 22. Juni 201677 hat der BFH erstmals ein Vorabentscheidungsersuchen gestellt, das die Auslegung der MwStSystRL im Lichte der EUGrdRCh betrifft. Fraglich war, ob der unionsrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz (Art. 20 EUGrdRCh) eine Auslegung der MwStSystRL zulässt, wonach aufgrund unterschiedlicher Abrechnungsmodalitä71 Vgl. Kokott/Sobotta, EuGRZ 2013, 465 (469). 72 Kokott/Sobotta, EuGRZ 2013, 465 (471 f.). 73 Kokott/Sobotta, EuGRZ 2013, 465 (471). 74 Jahresbericht 2015 – Jahresüberblick des EuGH, S. 28. 75 Pressemitteilung Nr. 17/17 des EuGH v. 17.2.2017, S. 1. 76 Jahresbericht 2015 – Jahresüberblick des EuGH, S. 28. 77 BFH, Beschl. v. 22.6.2016 – V R 42/15, BFHE 254, 264 = BFH/NV 2016, 1528 = UR 2016, 717.

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ten nach nationalem Recht zwar Rabatte pharmazeutischer Unternehmen zugunsten der gesetzlichen Krankenversicherung (vgl. §  130a SGB V) die umsatzsteuerrecht­ liche Bemessungsgrundlage für die Lieferung von Medikamenten mindern, nicht aber Rabatte zugunsten privater Versicherungsgesellschaften und beamtenrechtlicher Kostenträger (vgl. § 1 des Gesetzes über Rabatte für Arzneimittel – A ­ MRabG –). Der EuGH knüpfte in seiner Entscheidung vom 20. Dezember 2017 an sein Urteil vom 24. Oktober 199678 an und beantwortete die Vorlagefrage dahingehend, dass die MwStSystRL „unter Berücksichtigung des unionsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatzes“79 eine solche Auslegung nicht zulässt. Dabei ging er jedoch nicht auf die vom Generalanwalt80 übernommene Argumentation des BFH81 ein, wonach der ­allgemeine primärrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz aus Art.  20 EUGrdRCh weiter gehe als der Neutralitätsgrundsatz im Umsatzsteuerrecht. Vielmehr griff der EuGH auf das Grundprinzip der Neutralität der Mehrwertsteuer zurück.82 Damit bleibt offen, inwiefern aufgrund des unionsrechtlichen Gleichheitssatzes „vorheriges“ nationales Recht die Auslegung der MwStSystRL beeinflussen kann oder ob der nationale Gesetzgeber möglicherweise gleichheitswidrige umsatzsteuerrechtliche Folgen schon bei der Regelung umsatzsteuerrechtlicher bedeutsamer Sachverhalte berücksichtigen muss.83 Es bleibt abzuwarten, ob künftig eine Überprüfung der MwStSystRL durch den EuGH anhand des unionsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatzes (Art. 20 EUGrdRCh) im Umsatzsteuerrecht eine ähnliche Funktion einnimmt wie in anderen Bereichen des Steuerrechts die im Umsatzsteuerrecht ausgeschlossene84 Überprüfung der Steuergesetze durch das BVerfG anhand der Grundsätze der Folgerichtigkeit und der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit. 3. Bindungswirkung der Vorabentscheidung Unmittelbare Bindung entfalten Vorabentscheidungen des EuGH nur für die mit dem Ausgangsverfahren befassten mitgliedstaatlichen Gerichte.85 Wegen des Anwendungsvorrangs des Europarechts sind sie aber auch in anderen Verfahren zu beachten. Die Auslegung des EuGH ist grundsätzlich für den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens „maßgeschneidert“86. Der EuGH beantwortet Vorabentscheidungsersuchen 78 EuGH, Urt. v. 24.10.1996 – C-317/94, ECLI:EU:C:1996:400 – Elida Gibbs, UR 1997, 265 m. Anm. Weiß, Rz. 28 und 31. 79 EuGH, Urt. v. 20.12.2017 – C-462/16, ECLI:EU:C:2017:1006 – Boehringer Ingelheim Pharma, UR 2018, 166, Rz. 46. 80 Schlussanträge v. 11.7.2017, ECLI:EU:C:2017:534, Rz. 47. 81 BFH, Beschl. v. 22.6.2016 – V R 42/15, UR 2016, 717 = BFHE 254, 264 = BFH/NV 2016, 1528, Rz. 37. 82 EuGH, Urt. v. 20.12.2017 – C-462/16, ECLI:EU:C:2017:1006 – Boehringer Ingelheim Pharma, UR 2018, 166, Rz. 33 und 35. 83 Vgl. dazu auch Becker, NWB 2018, 618 (620 und 622). 84 Siehe bereits unter III.1. 85 BVerfG, Beschl. v. 22.10.1986 – 2 BvR 197/83, BVerfGE 73, 339 = NJW 1987, 577, Rz. 78; v. 8.4.1987 – 2 BvR 687/85, BVerfGE 75, 223 = UR 1987, 355 m. Anm. Weiss, Rz. 39. 86 Kokott/Henze, in FS Spindler, 2011, S. 279 (283).

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daher häufig mit einer Auslegung „unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens“87. Die Entscheidung ist dann auf andere Sachverhalte nur übertragbar, wenn sie mit dem Sachverhalt des fraglichen Ausgangsverfahrens vergleichbar sind. Soweit der EuGH Vorabentscheidungsersuchen dahingehend beantwortet, dass das Unionsrecht bestimmten nationalen Regelungen entgegensteht88 oder nicht entgegensteht89, geht er dabei immer von den konkreten Tatbestandsvoraussetzungen und Rechtsfolgen aus. Dementsprechend sind auch solche Entscheidungen nur auf nationale Regelungen übertragbar, die an vergleichbare Tatbestände anknüpfen und vergleichbare Rechtsfolgen vorsehen. Vorabentscheidungen zu Regelungen anderer Mitgliedstaaten sind daher auf abweichende Regelungen in Deutschland nur in diesem Rahmen übertragbar.

V. Zusammenfassung Ein „Dreieck zwischen BFH, BVerfG und EuGH“ besteht im gesamten Steuerrecht. Das Umsatzsteuerrecht beruht allerdings, anders als etwa das Ertragsteuerrecht, größtenteils auf Unionsrecht, vor allem der MwStSystRL. Es ist insoweit nicht am Grundgesetz, sondern an der MwStSystRL zu messen. Die letzte Entscheidung obliegt diesbezüglich nicht dem BVerfG, sondern dem EuGH. Dementsprechend liegt auch der „Schwerpunkt“ des „Dreiecks“ näher beim EuGH als in anderen Gebieten des Steuerrechts. Die Ergebnisse der Zusammenarbeit zwischen dem EuGH und den nationalen Gerichten hängen auch von den Beiträgen der nationalen Gerichte ab. Der BFH bringt sich hier seit langem konstruktiv ein.

87 Zuletzt EuGH, Urt. v. 21.3.2018 – C-533/16, ECLI:EU:C:2018:204 – Volkswagen, UR 2018, 359 m. Anm. Maunz, Rz. 33 und 51 f. und v. 7.3.2018 – C-159/17, ECLI:EU:C:2018:161 – Dobre, UR 2018, 565. 88 Z. B. EuGH, Urt. v. 15.9.2016 – C-518/14, ECLI:EU:C:2016:691 – Senatex, UR 2016, 800 m. Anm. Maunz = HFR 2016, 1029 und zuletzt v. 22.2.2018  – C-398/16, C-399/16, ECLI:EU:C:2018:110, Rz. 51. 89 Z. B. EuGH, Urt. v. 5.10.2016  – C-576/15, ECLI:EU:C:2016:740  – Maya Marinova, UR 2016, 925 = HFR 2016, 1034, und zuletzt v. 15.3.2018 – C-104/17, ECLI:EU:C:2018:188, Rz. 43.

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Paul Kirchhof

Die verfassungsbewusste Erneuerung des Umsatzsteuerrechts Inhaltsübersicht I. Das Rechtskonzept der Umsatzsteuer II. Der rechtfertigende Belastungsgrund der Umsatzsteuer III. Reformvorschläge 1. Vorsteuerabzug 2. Die öffentliche Hand

3. Steuerverschonungen 4. Das Bestimmungslandprinzip IV. Die Umsatzsteuer als computertaugliches Folgerecht des Leistungstausches

I. Das Rechtskonzept der Umsatzsteuer Die Umsatzsteuer belastet den Endverbraucher, lässt den Fiskus an der Kaufkraft teilhaben, die sich in der Nachfrage von nichtunternehmerischen Konsumenten nach entgeltlichen Leistungen offenbart.1 Die Umsatzsteuer wird beim Unternehmer erhoben. Der Steuerträger, der Konsument, bleibt in der Anonymität des Marktes. Seine Leistungsfähigkeit wird im Umsatzsteuervorgang vermutet. Der Konsum wird aber auch belastet, wenn die vermutete Leistungsfähigkeit nicht besteht, der Konsum z.B. aus Kredit oder sozialstaatlichen Zuwendungen finanziert worden ist. Die Umsatzsteuer bemisst sich nach dem vereinbarten Preis, prüft nicht dessen Angemessenheit, hat also kein Bewertungsproblem.2 Der Umsatzsteuertatbestand unterstellt, dass die Steuerlast vom Unternehmer, dem Steuerschuldner, auf den Konsumenten, den Steuerträger, abgewälzt werden kann. Für den Unternehmer, der als unentgeltlicher Verwaltungshelfer des Fiskus tätig wird, wirkt die Umsatzsteuer als „durchlaufender Posten“.3 Die Umsatzsteuer ist nach Art. 106 Abs. 3 Satz 1 GG eine Gemeinschaftsteuer, die nach einem variablen, gesetzlichen Verteilungsschlüssel auf Bund und Länder verteilt wird (Art. 106 Abs. 4 GG). Diese Regel der bundesstaatlichen Ertragshoheit hat auch materielle Bedeutung. Der einfache Gesetzgeber darf nur solche Steuern einführen, deren Ertrag durch Art. 106 GG abschließend Bund und Ländern zugeteilt ist. Ein freies Steuererfindungsrecht mit einer dem Gesetzgeber vorbehaltenen Zuweisung 1 Englisch, in: Tipke/Lang (Hrsg.), Steuerrecht, 23. Aufl. 2018, S.  980  ff.; Tipke, Die Steuerrechtsordnung, 2. Aufl. 2003, 989; Nieskens, Umsatzsteuer im Spannungsfeld zwischen Systematik und Fiskalinteresse, UR 2002, 577; Widmann, Umsatzsteuer, in: Kube u.a. (Hrsg.), Leitgedanken des Rechts, Bd. 2, 2013, §  183 Rz.  1; Breinersdorfer, Grenzüberschreitender Verkehr, das., § 184 Rz. 1. 2 Widmann, a.a.O., § 183 Rz. 2. 3 Widmann, a.a.O., § 183 Rz. 8 mit Erörterung des § 10 Abs. 1 UStG.

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der Ertragshoheit steht weder dem Bund noch den Ländern zu. Diese Kompetenznormen der Finanzverfassung schützen zugleich den Bürger vor einer unübersehbaren Vielfalt von Steuern, sichern sein Vertrauen darauf, nur in dem durch die Finanzverfassung vorgegebenen Rahmen belastet zu werden.4 Die Umsatzsteuer ist in Art. 106 GG als eigenständiger Steuertyp – neben den Verkehrs- und Verbrauchssteuern – ausgewiesen. Insoweit kann offenbleiben, ob sie erhebungstechnisch eine Verkehrsteuer, materiell aber eine Verbrauchsteuer ist. Das Grundgesetz billigt den Steuertypus „Umsatzsteuer“ in ihrer Struktur5, genügt auch in der heute geläufigen und anerkannten Form einer Allphasen-Netto-Umsatzsteuer mit Vorsteuerabzug den inzwischen strengeren Anforderungen an den Steuertypus.6 Die Umsatzsteuer ist heute weitgehend europarechtlich geregelt. Zwar ist Rechtsgrundlage für das deutsche Umsatzsteuerrecht das Umsatzsteuergesetz und die aufgrund gesetzlicher Ermächtigung erlassene Umsatzsteuer-Durchführungsverordnung. Dieses nationale Recht wird aber durch das Unionsrecht geprägt. Nach Art. 113 AEUV sind die Rechtsvorschriften über die Umsatzsteuern innerhalb der EU zu harmonisieren, soweit dies für das Funktionieren des Binnenmarktes und die Vermeidung von Wettbewerbsverzerrungen notwendig ist. Die Sechste Umsatzsteuersystemrichtlinie lässt entgegen dem Regelungsinstrument der Richtlinie  – abgesehen von den nur in europäischen Bandbreiten vorgegebenen Steuersätzen – kaum noch Raum für eigenständige mitgliedstaatliche Regelungen. Der deutsche Gesetzgeber ist „Umsetzungsgehilfe für das Unionsrecht in nationales Recht“.7 Doch auch diese europäische Richtlinie stützt sich – wie das gesamte Europarecht – auf die Verfassungskultur der Mitgliedstaaten. Sie findet dort ihre Rechtfertigung und ihr Maß. Sie gibt insbesondere Reformüberlegungen Impulse. Gerade in der Gegenwart braucht die Euro­ päische Union Reformen, die Steuern möglichst unausweichlich machen, das Steuerrecht grundlegend vereinfachen und den steuerlichen Belastungsgrund für Jedermann als sachlich gerechtfertigt und einsichtig darstellen. Hier ist, da die Europäische ­Union keine Verfassung hat, der Blick in die mitgliedstaatlichen Verfassungen umso dringlicher.

4 BVerfG v. 13.4.2017 – 2 BvL 6/13, BGBl. I 2017, 1877 = BVerfGE 145, 171 – Kernbrennstoffsteuer; BVerfG v. 15.1.2008 – 1 BvL 2/04, BVerfGE 120, 1 (26) – Abfärberegelung (für die GewSt); vgl. auch BVerfG v. 22.5.1962 – 1 BvR 301, 302/59, BVerfGE 14, 105 (111) – Branntweinmonopol; BVerfG v. 20.12.1966 – 1 BvR 320/57, 70/63, BVerfGE 21, 12 (26) – Allphasenumsatzsteuer; BVerfG v. 1.4.1971 – 1 BvL 22/67, BVerfGE 31, 8 (16) – Glücksspielautomat; BVerfG v. 19.3.1974 – 1 BvR 416/68, 767/68, 779/68, BVerfGE 37, 38 (45) – USt bei Kleinunternehmen; BVerfG v. 4.6.1975 – 2 BvR 824/74, BVerfGE 40, 56 (60 ff.) – Vergnügungssteuergesetz; BVerfG v. 23.3.1976 – 2 BvL 11/75, BVerfGE 42, 38 (40 ff.) – Vergnügungssteuer für den Betrieb von Spielapparaten; v. 26.2.1985 – 2 BvL 14/84, BVerfGE 69, 174 (183 f.) – Getränkesteuer; BVerfG v. 22.6.1995 – 2 BvL 37/91, BVerfGE 93, 121 – Vermögensteuer. 5 So BVerfGE 21, 12 (25 f.) – Vorläufige Gültigkeit der damaligen (1966) Allphasenumsatzsteuer mit Blick auf die damals geplante Reform. 6 Vgl. BVerfG v. 13.4.2017 – 2 BvL 6/13, BGBl. I 2017, 1877 = BVerfGE 145, 171. 7 Widmann, a.a.O., Rz. 30.

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II. Der rechtfertigende Belastungsgrund der Umsatzsteuer Der Staat fordert eine steuerliche Teilhabe am Umsatz, weil er die Rahmenbedingungen für einen freien Leistungstausch bereitstellt, die Friedlichkeit des Binnenmarktes garantiert, das Recht der Vertragsfreiheit und die gerichtliche Durchsetzung der ­vereinbarten Verträge gewährleistet, die Grundlagen für ein Geld- und Kreditsystem bietet, den Gütertausch in der Modernität des Internet ermöglicht. Die Nachfrage ist freiheitliche Leistung des Nachfragers, aber auch durch die staatlich gewährleistete Infrastruktur bedingt. Diese Generaläquivalenz ist Grundlage der Umsatzbesteuerung. Wenn der Staat Eigentümer- und Berufsfreiheit verfassungsrechtlich garantiert, er damit auf Staatsunternehmen, die staatliche Herrschaft über Warenangebot und Preise, verzichtet, wird die Umsatzsteuer zum Preis der Freiheit. Gerade in Deutschland war vor der Wiedervereinigung ersichtlich, dass in einem staatlich bestimmten Markt die Nachfrage nicht nur von der Zahlungskraft des Nachfragers, sondern auch von seinen Beziehungen und seiner Geduld abhängt. In einer Marktwirtschaft hingegen sind grundsätzlich die Kaufhäuser und Schaufenster nach den Bedürfnissen der Nachfrager gefüllt. Diese können alles erwerben, sofern sie nur zahlungsfähig und zahlungsbereit sind. Die Umsatzsteuer ist heute eine Bedingung eines freiheitlichen Marktes. Der Steuergesetzgeber kann grundsätzlich auf das Einkommen, das Vermögen oder die Nachfragekraft zugreifen.8 Das moderne Steuerrecht verzichtet zunehmend auf eine Belastung des Vermögensbestandes. Die Gewerbekapitalsteuer ist entfallen. Die Vermögensteuer wird nicht mehr erhoben. Die Grundsteuer steht in der Diskussion. Belastet wird die Vermögensbewegung  – die freiwillige Konsumnachfrage und der freiwillige Einkommenserwerb. Diese steuerliche Teilhabe des Staates am Marktgeschehen ist grundrechtsschonender, weil der Steuerpflichtige – in Kenntnis der Steuer­ lasten  – grundsätzlich die Güterbewegung am Markt sucht, die Steuer ihn deshalb nicht aus einer gefestigten, gesicherten Rechtsposition verdrängt9, sie vielmehr auf einen nicht steuerlich veranlassten Vermögenstransfer zugreift. Diese grundrechtsschonende Form der Besteuerung nimmt dem Steuerpflichtigen nicht ein gesichertes Recht, sondern modifiziert seine Erwerbs- und Tauschbedingungen. Diese verfassungsverbindlichen Leitgedanken finden im Europarecht eine Entsprechung10, werden teilweise auch europarechtlich verdeutlicht11. Doch das Europarecht 8 Vgl. BVerfGE 93, 121 (134) – Vermögensteuer. 9 So die Formulierung des BVerfG insbes. zu den Grenzen rückwirkender Steuergesetzgebung: vgl. BVerfG v. 7.7.2010 – 2 BvL 1/03 u.a., BVerfGE 127, 31 (47) – Fünftelregelung; BVerfG v. 7.7.2010 – BvL 14/02 u.a., BVerfGE 127, 1 (21) – Gewinne aus privaten Grundstücksveräußerungsgeschäften; BVerfG v. 7.7.2010  – 2 BvR 748/05, BVerfGE 127, 61 (67 f.) – Absenkung der Beteiligungsquote; BVerfG v. 10.10.2012 – 1 BvL 6/07, BVerfGE 132, 302 (319) – Streubesitzbeteiligung. 10 Art. 17 Charta der Grundrechte der Europäischen Union v. 7.12.2000, ABl. C 364/1 in der konsolidierten Fassung v. 30.3.2010, ABl. C 83/389. 11 Vgl. insbes. Art. 1 Abs. 2 Zusatzprotokoll zur Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten v. 20.3.1992, in der Bekanntmachung der Neufassung v. 22.10.2010, BGBl. II 2010, 1189.

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kennt nicht den verfassten Steuerstaat, ist vielmehr ein mitgliedstaatlicher Staatenverbund, der der Union kaum eigene Erträge zuweist, die wesentlichen Besteuerungskompetenzen bei den Mitgliedern belässt und sich auf die mitgliedstaatliche Finanzverwaltung stützt. Den Mitgliedstaaten gibt ihr Verfassungsrecht Maß und Ziel. Das EU-Recht kennt keinen Grundsatz der Steuergerechtigkeit und allenfalls Anfänge einer Steuerbelastungsgleichheit.12 Die Dringlichkeit einer verfassungsrechtlichen Koordination zwischen Europarecht und mitgliedstaatlichem Recht zeigt sich insbesondere, wenn der nationale Gesetz­ geber eine Richtlinie nicht rechtzeitig umgesetzt hat, das Europarecht dann den Steuerpflichtigen berechtigt, sich bei Umsetzungsmängeln auf das ihn begünstigende Unionsrecht und das ihm günstigere nationale Recht zu berufen13, damit aber eine offensichtliche Ungleichheit in das Gesetz hineinträgt, die weder vom deutschen noch vom europäischen Gesetzgeber so gewollt ist. Gerade das Umsatzsteuerrecht bietet als Jedermanns- und Alltagsrecht eine einmalige Chance, auseinanderstrebende Kräfte in einem kraftvollen Reformkonzept zu inte­ grieren und in einem verfassungsgeprägten, erneuerten Umsatzsteuerrecht die Vorzüge, die Unverzichtbarkeit der Europäischen Union bewusst zu machen.14

III. Reformvorschläge 1. Vorsteuerabzug Das erste einsichtige Reformprojekt betrifft den Vorsteuerabzug, der sich in den letzten Jahren als Achillesferse für die Umsatzbesteuerung und das Rechtsbewusstsein im  Umsatzsteuerrecht erwiesen hat. Insbesondere grenzüberschreitende Karussell­ geschäfte, Scheinrechnungen und Geschäfte ohne Rechnung haben zur Folge, dass Umsatzsteuern nicht abgeführt und Vorsteuererstattungen erschlichen werden. Die Rechtstreue erodiert. Steuerausfälle steigen. Das Gefälle im Vollzugsdefizit unter den Mitgliedstaaten wächst. Die Umsatzsteuer will die Kaufkraft des Verbrauchers belasten. Die eingesetzte Kaufkraft wird im Leistungstausch sichtbar, im Entgelt zählbar. Die Tatbestandlichkeit auch von Leistungen an den Unternehmer hat lediglich erhebungstechnische Gründe. Leistungen zwischen Unternehmen sind im Ergebnis der Steuerbelastung wie in der Ertragswirkung umsatzsteuerlich unerheblich. Deswegen folgt die geltende Umsatz12 Zu den Anfängen dieser Entwicklung Birk, Besteuerungsgleichheit in der Europäischen Union, DStJG 19/1994, 63; Tipke, Die Steuerrechtsordnung, 2. Aufl. 2003, 969; zur weiteren Entwicklung (Art. 20 GrCh, besondere Diskriminierungsverbote, Grundfreiheiten, grenz­ überschreitende Sachverhalte) P. Kirchhof, in: Maunz/Dürig, Art. 3 Abs. 1 (2015) Rz. 177 ff. 13 Seit EuGH v. 19.1.1982 – RS 8/81 – Ursula Becker, EuGHE 1982, 53; vgl. auch BFH Urt. v. 25.11.2004 – V R 4/04, BStBl. II 2005, 415 (418) – Urheberrechtsumsätze; vgl. auch BVerfG Urt. v. 8.4.1987 – 2 BvR 687/85, BVerfGE 75, 223 (241) – Vorabentscheidungen des EuGH. 14 Vgl. zum Folgenden P. Kirchhof, Bundessteuergesetzbuch. Ein Reformentwurf, 2011, Buch 4, 813 ff.

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steuer zwar dem Allphasenumsatzprinzip, vermeidet aber eine Belastung des Unternehmers. Der Unternehmer ist zum Abzug der von ihm gezahlten Vorsteuer berechtigt. Er muss die Differenz zwischen der Umsatzsteuer auf seine Umsätze und der Summe seiner Vorsteuern als Zahllast an das Finanzamt abführen. Damit wird im Ergebnis nur der Letztverbraucher mit der Umsatzsteuer auf das von ihm gezahlte Entgelt belastet. Der Unternehmer wird von allen im zwischenunternehmerischen Leistungstausch erhobenen Umsatzsteuern entlastet. Diese Regelung drängt zu einer Bestimmung des Belastungsgrundes, der die „Leistung an den Verbraucher“ zu Tatbestandsmerkmal eines steuerbaren Umsatzes macht. Die Umsatzsteuer sollte Leistungen zwischen Unternehmen grundsätzlich nicht zum Belastungstatbestand machen. Sie sind nicht mehr in der Rechnung auszuweisen und nicht mehr vom Leistungsempfänger an den Leistenden zu bezahlen. Der Vorsteuerabzug und die Vorsteuererstattung entfallen. Für den Verbraucher ergeben sich aus einer solchen Neuregelung keine Änderung. Er wird sie nicht bemerken. Die Nichtsteuerbarkeit zwischenunternehmerischer Leistungen ist allerdings nur vertretbar, wenn der Tatbestand des zwischenunternehmerischen Austausches ver­ lässlich und beweisbar ist, auch im alltäglichen Massengeschäft für jeden beteiligten Unternehmer ersichtlich wird. Deswegen muss jedem Unternehmer eine umsatzsteuerliche Identifikationsnummer zugeteilt werden, die bei einer Zentralstelle  – dem Bundesamt für Finanzen – von jedem Marktteilnehmer durch Computerklick abrufbar ist. Die Benennung der Identifikationsnummer bei der finanzbehördlichen Zen­ tralstelle begründet einen Vertrauenstatbestand. Jeder Unternehmer, der sich darauf verlässt, kann für seine Leistungsbeziehung die Qualifikation seines Partners als Unternehmer als rechtlich gesichert behandeln. Er ist in seinem Vertrauen auf die amtlich bestätigte Unternehmereigenschaft geschützt. Zweite Voraussetzung für die Nichtsteuerbarkeit ist, dass die Leistungspartner ihre Zahlungen über Bankkonten abwickeln, die von den Finanzbehörden jederzeit eingesehen werden können. Bei Bezahlung durch Banküberweisung ist die Abwicklung über diese Gewährkonten Voraussetzung der steuerlichen Entlastung. Werden zwischenunternehmerische Leistungen nicht durch Banküberweisung bezahlt, z. B. weil der Bauunternehmer spontan Material benötigt und dieses beim Baumarkt erwirbt, so bleibt es bei der Vorsteuerbelastung und dem Vorsteuerabzug. Der Baumarkt kann an der Kasse nicht prüfen, ob der Kunde Unternehmer oder Konsument ist. Deshalb trifft den Unternehmer, der diesen atypischen Weg wählt, die Verwaltungslast. Wenn die Nichtsteuerbarkeit zwischenunternehmerischer Leistungen in der gesamten EU gilt, so erübrigen sich insoweit Regelungen zur innergemeinschaftlichen Lieferung und zum innergemeinschaftlichen Erwerb. Alle zwischenunternehmerischen Leistungen werden gleichbehandelt. Die Anforderungen an einen gleichmäßigen, verlässlichen Verwaltungsvollzug durch alle Mitgliedstaaten werden zwar gegenwärtig teilweise noch nicht erfüllt, könnten aber durch eine Ertragsausfallhaftung des betroffenen Mitgliedstaates wirkungsvoll sanktioniert werden.

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In einer arbeitsteiligen Wirtschaft baut eine unternehmerische Leistung in einer langen Produktionskette auf die andere auf. Deshalb dürfte bei Nichtsteuerbarkeit ­zwischenunternehmerischer Leistungen eine Großzahl von Umsatzsteuerfällen  – Schätzungen erwarten über 80 %  – entfallen. Eine überflüssige Komplizierung der Rechtslage wird vermieden. Kenner sprechen von „Akten juristischer Hochseilakrobatik“, von einer Rechtsanwendung im zwischenstaatlichen Bereich, die „in Teilbe­ reichen der Tätigkeit eines Übersetzungsbüros nicht unähnlich“ sei.15 Die Verständlichkeit und die Rechtssicherheit im Umsatzsteuerrecht wächst. Bürokratie und Kostenaufwand sinken. Nicht gerechtfertigte Liquiditätsverschiebungen und Ausfallrisiken entfallen, weil der leistende Unternehmer die Umsatzsteuer abführt, wenn der Leistungsempfänger seine Kaufkraft eingesetzt hat. Er braucht als Helfer des Steuerträgers und der Verwaltung die Umsatzsteuer nicht mehr vorzufinanzieren. Insolvenzbedingte Ausfälle werden verringert, wenn der Leistungsempfänger nicht mehr zwischen Vorsteuererstattung durch den Fiskus und Entgeltbezahlung an den Leistenden insolvent werden kann. 2. Die öffentliche Hand Zum Endverbrauch gehören auch die Waren und Dienstleistungen, die der Staat für sein hoheitliches Handeln am Markt erwirbt. Wenn der Staat jedoch für diese Leistungen Umsatzsteuer zahlt, finanziert er die Steuer aus Steuererträgen. Diese Besteuerung erbringt kein Steueraufkommen. Der Staat ist zugleich Steuerschuldner und Steuergläubiger. Die Umsatzsteuerzahlung wird Teil eines staatsinternen Finanzausgleichs. Die Steuer stärkt nicht den Staatshaushalt, sondern belastet ihn. Wenn z. B. der Bund Umsatzsteuer zahlt, fließt ihr Ertrag zum Teil an den Bund zurück, steht aber zu anderen Teilen den Ländern und Gemeinden zu. Die Umsatzsteuer verändert das Ertragsverteilungssystem des Art. 106 Abs. 3 und 4 GG, ohne dass die Steuerzahlung aus Steuererträgen in die Bemessungsgrundlage des Finanzausgleichs einbezogen wird. Würde man die Nachfrage des Staates allein im Binnensystem des Umsatzsteuerrechts rechtlich qualifizieren, würde der Staat eher als Unternehmer denn als Verbraucher tätig. Er erwirbt die Wirtschaftsgüter nicht für einen staatseigenen Verbrauch, sondern zum Nutzen Dritter, wenn er Straßen baut, um den Bürgern Bewegungsmöglichkeiten zu erschließen, Schulen und Hochschulen errichtet, um die Ausbildung der Kinder und Forschung und Lehre zu ermöglichen, Waffen erwirbt, um die öffentliche Sicherheit zu gewährleisten. Allerdings lässt sich der Staat auch nicht als „Unter­ nehmer“ qualifizieren, weil er im hoheitlichen Bereich kein Entgelt erzielt. Er steht systematisch von vornherein außerhalb des Umsatzsteuersystems, weil er nicht über Kaufkraft, sondern über Steuerertragskraft verfügt, freiheitsverpflichtet, nicht freiheitsberechtigt ist, in seiner Hoheitsaufgabe als Steuerträger ungeeignet ist.

15 Birkenfeld, Vorsteuerabzug, in: Kube u.a. (Hrsg.), Leitgedanken des Rechts, Bd. 2, 2013, § 185 Rz. 1.

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Der Staat ist nicht Steuerträger, vermittelt aber bei staatlichen Leistungen die Steuerlast an den Nachfrager. Im geltenden Recht ist die öffentliche Hand zur Steuererhebung verpflichtet, wenn sie nach dem Maßstab des Körperschaftsteuerrechts als Betrieb gewerblicher Art gilt (§ 2 Abs. 3 Satz 1 UStG). Diese Anknüpfung allerdings ist fragwürdig, weil die Körperschaftsteuer den Ertrag einer Körperschaft belastet, die Umsatzsteuer hingegen den Steuerpflichtigen nur erhebungstechnisch in Anspruch nimmt, um den Verbraucher in seiner Kaufkraft zu belasten. Doch die Entlastung der öffentlichen Hand soll nicht auch den Verbraucher entlasten, der aus öffentlicher Hand Leistungen empfängt. Eine solche Entlastung ist weder gesetzlich gewollt noch sachlich gerechtfertigt. Deshalb wird die öffentliche Hand als Verwaltungshelfer des Fiskus dann besteuert werden müssen, wenn sie am Markt Leistungen erbringt und dafür Entgelte vereinbart, also nicht im Rahmen öffentlicher Gewalt tätig wird. Schon nach bisheriger Rechtsprechung ist die öffentliche Hand immer dann unternehmerisch tätig, wenn sie sich am allgemeinen Leistungswettbewerb beteiligt.16 3. Steuerverschonungen Das geltende Umsatzsteuerrecht ist durchsetzt mit einer Fülle von Steuerverschonungen und Steuertarifdifferenzierungen. Manche Umsatzsteuervorlesung gerät bei der Behandlung dieses Themas zur Heiterkeitsveranstaltung mit Abschreckungswirkung für den Rechtsuchenden, wenn der Dozent seine Studenten gedanklich über den Wochenmarkt führt und dabei darauf verweist, welche Ware welcher Umsatzsteuerbelastung unterworfen wird. Hier ist grundsätzlich ein Verzicht auf Steuersubventionen, ein einheitlicher Steuersatz und eine Nichtbesteuerung der nicht steuerwürdigen Tatbestände zu empfehlen. Manche Steuerbefreiungen sind berechtigt. Wenn das geltende Recht heilberufliche Umsätze, Umsätze von Krankenhäusern, Alten- und Pflegeheimen, Umsätze von Wohlfahrtseinrichtungen und Grundstücksvermietungsumsätze verschont, werden große Teile des privaten Konsums entlastet. Diese Steuerbefreiungen mildern typisierend die Kosten existenznotwendiger Nachfragen, sollen die Tatsache ausgleichen, dass mit steigendem Einkommen der Verbraucher relativ weniger für seinen Grundbedarf ausgibt als der Konsument, der für seinen existentiellen Bedarf sein gesamtes oder den überwiegenden Teil seines Einkommens verwenden muss. Wenn der Mil­ lionär und der Bettler beim Kauf eines Schnitzels gleichermaßen 19 % Umsatzsteuer zahlen müssen, erscheint diese Steuer unsozial, „wirtschaftstheoretisch kaum zu rechtfertigen“ und steuersystematisch unvertretbar.17 Auch wenn mit steigendem Einkommen erheblich höherwertigere Waren- und Dienstleistungen nachgefragt werden, die überwiegend dem Regelsteuersatz unterliegen18, bleibt doch der Befund, dass der Vielverdiener einen Großteil seines Einkommens nicht konsumieren muss, es insbesondere auch am Finanzmarkt anlegen kann, in dem die Umsätze gegenwär16 Vgl. BFH v. 10.11.2011 – V R 41/10, UR 2012, 272; Widmann, a.a.O., § 183 Rz. 27. 17 Vgl. bereits Popitz, Kommentar zum Umsatzsteuergesetz idF. v. 8.5.1928, 3. Aufl. 1928, Erg.-Bd. 1930, 2. 18 Tipke, Die Steuerrechtsordnung, Bd. II, 2. Aufl., 2003, 1005.

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tig gänzlich steuerbefreit sind. Deswegen ist die Steuerverschonung existentieller Nachfrage des Endverbrauchers gerechtfertigt. Dies gilt insbesondere für medizinische Leistungen, die Überlassung und Übertragung von Wohnraum, für Versicherungen der persönlichen Zukunftssicherung (z. B. Rentenversicherung, Lebensver­ sicherung), für Umsätze, die einen gemeinnützigen Zweck zum Inhalt haben (z. B. Altenpflege, Jugendsport, Bildung). Steuerbefreiungen für Grundstücksumsätze rechtfertigen sich als Lösung von Steuerkonkurrenzen, solange die Verkehrs- und Verbrauchsteuern nicht in die Umsatzsteuer integriert sind. Die Umsätze am Finanzmarkt müssen der Eigenart dieses Marktes entsprechend gesondert besteuert werden. Die Mehrwertsteuersystemrichtlinie erlaubt ermäßigte Steuersätze, schreibt sie aber, anders als bestimmte Steuerbefreiungen, nicht zwingend vor. 4. Das Bestimmungslandprinzip Die Umsatzsteuer belastet den Endverbrauch, die Kaufkraft des Nachfragers. Deshalb muss der Ertrag dem Staat zustehen, in dem die Nachfrage sich ereignet. Folgerichtig ist das Bestimmungslandprinzip der Leitgedanke des Umsatzsteuerrechts. Weil die Umsatzsteuer aber an Verkehrsvorgänge anknüpft, sie beim leistenden Unternehmer erhoben wird, wird der Ort, an dem die Leistung erbracht wird (Ursprungslandprinzip), zum Anknüpfungspunkt der Umsatzsteuer. Bei grenzüberschreitenden Umsätzen ist das Bestimmungsland für die Besteuerung zuständig. Der Ursprungsstaat befreit die bei ihm steuerbaren grenzüberschreitenden Umsätze oder erstattet die bei ihm gezahlte Steuer. Das Bestimmungsland besteuert und erhält den Steuerertrag. Diese Prinzipien schließen Doppelbelastungen aus, erübrigen damit Doppelbesteuerungsabkommen.19 Der Ort der Leistung verliert an praktischer Bedeutung, soweit zwischenunterneh­ merische Leistungen grenzüberschreitend nicht steuerbar sind. Doch das Grund­ problem bleibt. Die Abgrenzung des Inlandsumsatzes vom grenzüberschreitenden Umsatz ist heute insbesondere bei weltweiter Vernetzung und Digitalisierung schwierig, wenn ein Dienstleistungsunternehmen aus dem Ausland Leistungen im Inland erbringt. Wartet z. B. ein IT-Spezialist über das Internet vom Ausland aus einen inländischen Computer, so ist dieses ein grenzüberschreitender Umsatz. Trägt ein Künstler hingegen im Inland ein Programm vor, das er im Ausland ausgearbeitet hat, so wird der Leistungserfolg durch den Auftritt vor Ort erreicht und entgolten. Dies ist ein Inlandsumsatz.20 Grundsätzlich aber ist die Lieferung und sonstige Leistung auch im grenzüberschreitenden Verkehr unteilbar. Deswegen ist auch hier zu unterscheiden, ob die Umsatzsteuer dem Staat zustehen soll, der die Infrastruktur für die Wertschöpfung des konsumierten Gutes bereitgestellt hat (Herkunftsland), oder dem Staat, der die Kaufkraft des Nachfragers strukturell ermöglicht hat (Bestimmungsland).21 Die 19 Vgl. im Einzelnen Breinersdorfer, a.a.O., § 184 Rz. 3 f. 20 Zum Beispiel und dessen Problematisierung Breinersdorfer, a.a.O., § 184 Rz. 4. 21 Zu dieser Alternative – im Ergebnis offenlassend und nach dem Ziel einfacher Steuerer­ hebung, richtiger Aufkommensverteilung oder Wettbewerbsneutralität entscheidend  – Breinersdorfer, a.a.O., § 184 Rz. 12.

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Umsatzsteuer rechtfertigt sich aus der Teilhabe des Staates an der Kaufkraft des Konsumenten, die dieser Staat ermöglicht hat, nicht aus der Wertschöpfung beim Leistungsanbieter, die für die Zurechnung bei der Einkommensteuer maßgebend ist. Je mehr der Weltmarkt von Unternehmen bestimmt wird, die im Inland Konsumenten, aber keine Betriebsstätte haben, wird eine Umsatzbesteuerung im Bestimmungslandprinzip gerechtfertigt sein. Wenn die Ertragsteuer eine „fiktive Betriebsstätte“ im Inland sucht, kann die Umsatzsteuer an die Realität der Inlandsnachfrage und des inländischen Ortes des Leistungsentgelts anknüpfen. Maßgeblicher Ort ist also der Ort der Leistung, an dem die Leistung dem Empfänger erbracht wird (Empfangsort). Besondere Ortsregelungen gelten für Dienstleistungen im Zusammenhang mit Grundstücken (Ort der Belegenheit des Grundstücks), Arbeiten an beweglichen Gegenständen (Ort des Gegenstandes) und Dienstleistungen im Zusammenhang mit Veranstaltungen (Veranstaltungsort). Dienstleistungen, bei denen ein Empfangsort nur schwer zu ermitteln ist, insbesondere auf elektronischem Weg erbrachte Dienstleistungen, Übertragungen von Rundfunk und Fernsehen, werden am Sitz des Leistungsempfängers erbracht. Ausnahmeregeln für Leistungen an Bord von Beförderungsmitteln (Leistungsort ist der Abgangsort des Beförderungsmittels) und für die Beförderungsleistung (Leistungsort ist der Ort, an dem die Beförderung beginnt) dienen der Vereinfachung und Verfahrensökonomie.

IV. Die Umsatzsteuer als computertaugliches Folgerecht des Leistungstausches Fragen wir nach dem Leitgedanken der Umsatzbesteuerung, der allen Beteiligten einsichtig ist, so verstehen wir die Umsatzsteuer als Konsumsteuer, die im vereinbarten Preis des Leistungstausches ihre Bemessungsgrundlage findet. Die Umsatzsteuer belastet die Kaufkraft des Konsumenten, die im jeweiligen Preis tatbestandlich erfasst und zugleich in Zahlen ausgedrückt wird. Dieser Rechtfertigungsgrund erlaubt ein einfaches Besteuerungsverfahren, das insbesondere in der Gegenwart eines digital abgewickelten Leistungsaustausches „per Computerklick“ die Steuer erheben könnte. Diese einfache und einsichtige Steuer hat sich unter dem Einfluss des Europarechts in eine komplizierte, widersprüchliche und in ihrem rechtfertigenden Grund kaum noch verständliche Steuerbelastung entwickelt. Der Unternehmer braucht den spezialisierten Berater, um seine Rechnung umsatzsteuergerecht zu stellen und in diesem Wertpapier insbesondere das Recht zum Vorsteuerabzug zu sichern. Die Umsatzsteuer gibt Anlass, vom Europarecht enttäuscht zu sein, dem um Redlichkeit im Steuerrecht bemühten Unternehmer die Rechtsgewissheit zu nehmen, die prinzipielle Verdrossenheit der Konsumenten über dieses Recht zu mehren. Häufige Änderungen des Rechts, auch eine nicht immer folgerichtige Rechtsprechung machen das Umsatzsteuerrecht zu einer Baustelle, bei der die Arbeiter ständig hin- und hereilen, das Konzept des Architekten aber nicht ersichtlich wird. Deswegen beauftragt die Umsatzsteuer das Europarecht und die in der Union rechtsetzenden Organe, einen Beweis ihrer Gestaltungskraft und Rechtsverantwortung zu 193

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erbringen. Die Europäische Union muss ihre Eigenständigkeit gegenüber internationalen Organisationen, der Macht der weltweit tätigen Wirtschaftsunternehmen und insbesondere der Digitalwirtschaft belegen, dem Steuerpflichtigen ein einfaches Umsatzsteuerrecht als Folgerecht des vereinbarten Leistungstausches bieten, das Rechtsbewusstsein im Umsatzsteuerrecht durch einfache Prinzipien prägen. So könnte allgemein bewusst werden, dass jede entgeltliche Leistung an den Endverbraucher mit 20 % Umsatzsteuer am Ort der Leistungserbringung besteuert werden soll. Von diesem bewusstseinsprägenden Prinzip – 100 % Preis für den Vertragspartner, 20 % zusätzlich für den Staat – dürfen die Mitgliedstaaten nur im Steuersatz abweichen. Ein solcher Befreiungsschlag stärkt Rechtsbewusstsein und Rechtsgewissheit bei den Steuerpflichtigen, verallgemeinert die Bereitschaft für eine unausweichliche Steuer, entbürokratisiert die Wirtschaft, unterbindet Steuerhinterziehungen und sichert den Mitgliedstaaten einen verlässlichen, einfach zu verwaltenden Steuerertrag. Hundert Jahre Umsatzsteuer kann der Aufbruch zu einem besseren, neueren Europa, zu einem systematischen und folgerichtigen Steuerrecht, zu mehr Unternehmerfreiheit und Konsumentengelassenheit sein. Beim europäischen Aufbruch zu Menschenrechten und Demokratie in Mitteleuropa am Hambacher Fest 1732 galt die Devise der deutschen, französischen und polnischen Erneuerer: „So viel Anfang war nie.“22 Unser Anliegen der Steuergerechtigkeit im Umsatzsteuerrecht ist bescheidener, betrifft aber auch das Fundament von Staatlichkeit und europäischem Staatenverbund in der Idee des demokratisch-allgemeinen Gesetzes und der Freiheits- und Gleichheitsbindung des Gesetzgebers. Wenn diese europäischen Ideale auch unsere Gegenwart bestimmen, könnte die Geschichte einmal im Rückblick auf unsere Verantwortlichkeit sagen: „So viel Aufbruch zum Recht war nie.“

22 Vgl. die unter diesem Titel herausgegebene Anthologie: Soviel Anfang war nie. Deutscher Geist im 19. Jahrhundert. Ein Lesebuch, in: Glaser (Hrsg.), 1981. Das Buch trägt auf dem Umschlag ein Bild des Hambacher Festes.

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Das Verfahrensrecht als Rahmen für die Verwirklichung der Umsatzsteuer Inhaltsübersicht I. Einführung 1. Spannungsverhältnis 2. Aufbau des Rahmens II. Ergänzung des Umsatzsteuerrechts durch Verfahrensrecht 1. Grundlagen 2. Die Voranmeldung 3. Voranmeldung und Jahressteuerfest­ setzung 4. Sachverhaltsaufklärung durch vollstän­ dige und richtige Steuererklärungen a) Nach bestem Wissen b) Nach bestem Gewissen c) Klarstellung der Verantwortlichkeiten 5. Beweisführung auf wessen Kosten 6. Besondere umsatzsteuerrechtliche Sachverhaltsaufklärung durch eine Umsatzsteuer-Nachschau

7. Die Rechnung als Zwitter aus Verfahrensrecht und materiellem Recht a) Materiell-rechtliche Entstehungs- und Ausübungsvoraussetzungen b) Formelle Ausübungsvoraussetzungen c) Rechnung und Verfahrensrecht d) Materielles Recht und Verfahrensrecht bei den Rechnungsanforderungen e) Anwendung 8. Verfahrensrecht bei der Besteuerung grenzüberschreitender Umsätze a) MwSt-IdNr. b) Innergemeinschaftlicher Erwerb c) Negative Voraussetzungen bei innergemeinschaftlichen Lieferungen und dem Recht auf Vorsteuerabzug d) Beweislast und Beweisführung e) Anwendung III. Schluss

I. Einführung 1. Spannungsverhältnis In der Generalüberschrift für diesen Abschnitt ist von einem Spannungsfeld der Umsatzsteuer zur AO die Rede. Als Spannungsfeld wird ein Bereich mit gegensätzlichen Kräften bezeichnet, die sich gegenseitig beeinflussen und auf diese Weise eine Anspannung erzeugen. Ein solches Spannungsfeld zwischen Umsatzsteuer und AO irritiert. Statt von gegensätzlichen Kräften wird das Verhältnis von AO und UStG von notwendiger Ergänzung geprägt. Das materielle Umsatzsteuerrecht kann ohne die Ergänzung durch Verfahrensvorschriften der AO nicht verwirklicht werden. Spannungen gibt es (nur), wenn das wirklich richtige materielle Recht aus verfahrensrechtlichen Gründen nicht (z.B. wegen Verjährung) oder nicht vollständig durchgesetzt werden kann (z.B. wegen Bestandskraft). Die AO ist der Rahmen, in dessen Grenzen das materielle Umsatzsteuerrecht lebt. Der Rahmen ist flexibel, weil auch das UStG wichtige verfahrensrechtliche Vorschriften enthält. Die Verwirklichung des materiellen Umsatzsteuerrechts gelingt nur in 197

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ergänzendem Wechselspiel zwischen UStG und AO (dazu unter II.). Die AO stößt an Grenzen, wenn materielles Umsatzsteuerrecht grenzüberschreitend verwirklicht werden soll (dazu unter II.8.). 2. Aufbau des Rahmens Am 1.8.19181 ist das erste im damaligen Deutschen Reich geltende Umsatzsteuer­ gesetz (UStG 1918) in Kraft getreten.2 Die Reichsabgabenordnung ist erst später erarbeitet und erst – am 23.12.1919 – wirksam geworden. Beide Gesetze sind aus der Not der Zeit geboren worden und sollten Kriegsfolgen lindern. Die „schmiegsame Eisenkonstruktion“ des Umsatzsteuergesetzes3 musste schnell errichtet werden. Der im Reichstag am 20.4.1918 eingebrachte Entwurf des Umsatzsteuergesetzes4 wurde sogleich am 23. und 24.4.1918 beraten5, in Unterausschüssen in Form gebracht, am 11. und 12.7.1918 in zweiter und dritter Lesung erörtert und beschlossen.6 Die Streben, die die Eisenkonstruktion im Inneren stützen, sind seitdem „Umsätze“, die an einen rechtgeschäftlichen Vorgang und seine Bezahlung7, aber nicht an die Leistungsfähigkeit des Leistungserbringers anknüpfen. Ein Unternehmer sollte als Steuerpflichtiger Steuerzahler,8 aber nicht Steuerträger sein. Bis dahin nicht vorhandene verfahrensrechtliche Regeln mussten geschaffen werden. Ein reichseinheitlich geltendes Steuerverfahrensgesetz gab es noch nicht. Im UStG 1918 sind beispielhaft – teilweise bis heute geltende – Grundsätze für die Verwaltung der Steuer geregelt worden, z.B. die monatliche Erhebung der Steuer nach tatsächlich vereinnahmten Entgelten (§§ 16,17 UStG 1918), die Selbstverwaltung der Steuerpflichtigen (§ 31 Abs. 4 UStG 1918), neue Aufzeichnungs-, Buchführungs- und Auskunftspflichten des Steuerpflichtigen (§ 21 UStG 1918) oder ein Schätzungsverfahren (§ 22 UStG 1918).

1 Nach dem Heeresbericht vom 1.8.1918 aus dem Großen Hauptquartier fand zwischen Ypern und Bailleul am frühen Morgen vorübergehend ein lebhafter Feuerkampf statt. 2 Vorgänger war das Gesetz über einen Warenumsatzstempel v. 26.6.1916, RGBl. I 1916, 639. Der sog. Umsatzstempel wurde auf inländische bezahlte Warenlieferungen in Höhe von 0,1% erhoben. Gewerbliche Warenlieferungen waren jährliche anzumelden und zugleich die Steuer zu zahlen. Nachfolgend unterlag die Anmeldung einem Prüfungsverfahren der Steuerstellen; vgl. dazu Jacobs, Am Anfang war der Warenumsatzstempel von 1916, DStZ 2006, 654. 3 Schlussansprache durch Graf von Roedern, Staatssekretär des Reichsschatzamtes, am 13.7.1918, RT, Stenographischer Bericht 1918, S. 6142. 4 RT-Drucks. 1461/18. 5 RT, Stenographischer Bericht 1918, S. 4734-4758 und 4760-4789. 6 RT, Stenographischer Bericht 1918, S. 6130. 7 RFH v. 25.11.1918 – II D 2/18, RFHE 1, B 1 (5) – Gutachten. 8 Der EuGH (v. 21.2.2008 – C-271/06 – Netto Supermarkt, UR 2008, 508, Rz. 21) beschreibt den Unternehmer als Steuereinnehmer, der für Rechnung des Staates und im Interesse der Staatskasse handelt.

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Das UStG 1918 ist ein großer Anreger für die Entwicklung des allgemeinen Steuerrechts gewesen. Es enthält verfahrensrechtliche Vorschriften, die als erster Schritt eines allgemeinen Teils des Steuerrechts und als Vorbild für die in die Reichsabgabenordnung übernommenen Regelungen angesehen worden sind.9 Als Enno Becker10 am 26.11.1918, den Entwurf für eine Reichsabgabenordnung begann, fand er somit schon erste Regelungen vor.11 Die Reichsabgabenordnung vom 13.12.1919 ist am 23.12.1919 in Kraft getreten, mehrfach geändert und neu bekannt gemacht, aber erst am 1.1.1977 durch die Abgabenordnung 1977 abgelöst worden.12 Für den steuerrechtliche Rechtsschutz beschloss der Reichstag gleichzeitig mit dem UStG 1918 – am 26.7.2018 – das Gesetz zur Errichtung des Reichsfinanzhofs.13 Enno Becker hat den ursprünglich stark betonten Rechtsschutz in seinem Entwurf abgeschwächt, „weil ihre Beibehaltung die Finanzverwaltung lähmen“ würde.14

II. Ergänzung des Umsatzsteuerrechts durch Verfahrensrecht 1. Grundlagen Normen des Verfahrensrechts (formellen Rechts) dienen der Durchsetzung des materiellen Rechts. Ihr Eigenleben hat grundsätzlich dienende Funktion. Verfahrensrecht regelt den Ablauf eines Verfahrens. Diese Regeln sind nicht nur in besonderen Verfahrensordnungen zusammengefasst worden, sondern können auch in materiellen Gesetzen enthalten sein. Materielles Recht enthält die Voraussetzungen für die Entstehung, den Inhalt, die Veränderung und Untergang von Rechten. Materielles Recht und Verfahrensrecht werden 9 Popitz in Popitz/Kloss/Grabower, Kommentar zum Umsatzsteuergesetz, 3. Aufl. 1929, S. 86; zu 75 Jahre Umsatzsteuer vgl. Birkenfeld, UR 1993, 321. 10 Enno Becker war als Richter am Oberlandesgericht Oldenburg und zugleich als mit Steuersachen beschäftigter Richter am oldenburgischen Oberverwaltungsgericht tätig. Er wurde im Oktober 1918 in das Reichsschatzamt nach Berlin berufen und beauftragt, einen Entwurf für ein Gesetz über das allgemeine Steuerrecht zu schaffen. Er war von 1920 bis 1935 Richter am Reichsfinanzhof, zuletzt als Senatspräsident. 11 Dazu schreibt Enno Becker im Vorwort S. IV seiner Handausgabe zur Reichabgabenordnung, 1. Aufl. 1922: „Es trifft sich, dass ich diese Arbeit an demselben Tage schließe, an dem ich vor drei Jahren mit der Bearbeitung des Entwurfs begann. Das war in Berlin am Bußtage des Jahres 1918. Da saß ich im Reichsfinanzministerium, damals noch Reichsschatzamt, in einem kahlen Zimmer am Schreibtisch vor einem leeren Blatt Papier und hatte als einzigen Anhalt die Textausgabe der Steuergesetze. Draußen hatten die öffentlichen Gebäude Halbmast rot geflaggt, weil an jenem Tage die Leichen derer beigesetzt wurden, die bei der Revolution getötet waren … .“ 12 Art. 96 Nr. 1 EGAO v. 14.12.1976, BGBl. I 1976, 3341. 13 RGBl. 1918, 959. Mit Wirkung v. 1.8.1918 hat der RFH in München seine Arbeit begonnen. 14 Enno Becker im Vorwort S.  VI seiner Handausgabe zur Reichabgabenordnung, 1. Aufl. 1922.

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auch als zwei Teilrechtsordnungen angesehen, die erst zusammen zu Vollrechtsnormen werden.15 Die AO enthält aber nicht nur Verfahrens-, sondern auch materielles Recht (Erlöschen von Ansprüchen, Verjährung) und das UStG enthält nicht nur materielles Recht, sondern auch Verfahrensrecht (z.B. Zusammenfassende Meldung, § 27b UStG). Verfahrensrecht kommt grundsätzlich Rückwirkung zu.16 Die verfahrensrechtliche Umsetzung unionsrechtlicher Anforderungen an das nationale Steuerrecht obliegt autonom den Mitgliedstaaten (vgl. Art. 291 Abs. 1 AEUV), wenn es nicht besondere unionsrechtliche Verfahrensregeln gibt.17 Das nationale Verfahrensrecht ist grundsätzlich18 einer richtlinienkonformen Auslegung nicht zugänglich.19 2. Die Voranmeldung Geradezu als Glücksgriff für den Zweck der Umsatzsteuer, schnell und verlässlich Geld zu beschaffen, erweist sich die gesetzliche Trennung zwischen der Entstehung der Steuer und der Berechnung der Steuer für die Entstehung der Steuerpflicht. Die Steuer entsteht für den einzelnen Umsatz (vgl. § 13 Abs. 1 UStG), wird aber nach der Summe der in einem Besteuerungszeitraum (früher Steuerabschnitt) entstandenen Steuern berechnet (§ 16 Abs. 1 Satz 3 UStG). Zusätzlich muss der Unternehmer die entstandenen Steuern für den Voranmeldungszeitraum berechnen und der Finanzbehörde übermitteln (§ 18 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 UStG). Dies sind Steueranmeldungen (§ 168 AO). 3. Voranmeldung und Jahressteuerfestsetzung Die Festsetzung von Umsatzsteuervorauszahlungen (§ 18 Abs. 1 UStG) umfasst nur Besteuerungsgrundlagen für den Voranmeldungszeitraum (§ 18 Abs. 2 UStG). Sie ist gegenüber der Festsetzung der Jahresumsatzsteuer eigenständig.20 Die Voranmeldung führt zu einer Steuerfestsetzung, die zwingend unter dem Vorbehalt der Nachprüfung 15 Nawiasky, Allgemeine Rechtslehre, 2. Aufl., Zürich, Köln 1948, S. 15 ff. 16 BVerwG v. 14.7.2008 – 9 B 22/08, ECLT:DE:BVerwG: 2008:140708B9B22.08.2, Rz. 9. 17 BFH v. 19.12.2013 – V R 5/12, BStBl. II 2016, 585, Rz. 42; BFH v. 11.1.2012 – I R 30/10, BFH/NV 2012, 1105; EuGH v. 15.3.2007  – C-35/05  – Reemtsma, UR 2007, 343, Rz 40, m.w.N. 18 Der Einfluss des Unionsrechts auf das nationale Verfahrensrecht ist gleichwohl vorhanden, weil das nationale Verfahrensrecht nicht so ausgestaltet sein darf, dass es die Ausübung der Rechte, die die Gemeinschaftsrechtsordnung einräumt, praktisch unmöglich macht –Grundsatz der Effektivität – (vgl. dazu EuGH v. 20.12.2017 – C-500/16 – Caterpillar, UR 2018, 249; EuGH v. 2.12.1997 – C-188/95 – Fantask, HFR 1998, 234, Tz. 36 m.w.N.) und dass keine Diskriminierung – Grundsatz der Äquivalenz – stattfindet (vgl. EuGH v. 19.7.2012 – C-591/10 – Littlewoods Retail, UR 2012, 772, Rz. 27). 19 BFH v. 5.6.2014 – V R 50/13, BStBl. II 2014, 813, Rz. 31 m.w.N. 20 BFH v. 15.6.1999 – VII R 3/97, BStBl. II 2000, 46 (51) = UR 2000, 77 m. Anm. Stadie; BFH v. 16.5.1995 – XI R 73/94, UR 1996, 25; Wüllenkemper, DStZ 1998, 458 (463).

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ergeht (§ 164 Abs. 1 Satz 2 AO) und deshalb nicht materiell bestandskräftig werden kann.21 Der Festsetzung von Umsatzsteuervorauszahlungen liegen kraft Gesetzes entstandene Steuer- oder Vorsteuerabzugsansprüche22 zugrunde (§ 13 Abs. 1, § 18 Abs. 1 Satz 3 mit § 16 Abs. 1, Abs. 2 UStG, § 38 AO UStG). Dadurch unterscheiden sich die Festsetzungen von Umsatzsteuer- und Einkommensteuervorauszahlungen; denn Einkommensteuervorauszahlungen sind aufgrund einer voraussichtlich künftigen Steuerschuld (§ 37 Abs. 1 Satz 1 EStG), angelehnt an die letzte Veranlagung (§ 37 Abs. 3 Satz 2 EStG), festzusetzen.23 Die Umsatzsteuerfestsetzung für das Kalenderjahr (§ 16 Abs. 1 UStG) umfasst das materielle Ergebnis der in diesem Besteuerungszeitraum entstandenen positiven oder negativen Umsatzsteuern. Die Jahresumsatzsteuer wird ohne Bindung an die Steuerfestsetzungen für die Voranmeldungszeiträume festgesetzt. Die Jahressteuerfestsetzung nimmt materiell-rechtlich den Inhalt der Steuerfestsetzungen für die Vorauszahlungszeiträume in sich auf. Sie löst die auf Voranmeldungen oder Vorauszahlungsbescheiden beruhenden Steuerfestsetzungen für die Voranmeldungszeiträume ab. Alleiniger Rechtsgrund dafür, dass das FA die geleisteten Vorauszahlungen behalten darf, ist nunmehr der Jahressteuerbescheid.24 Die Verfahren wegen der Vorauszahlungen und der Jahressteuer sind von einander unabhängig.25 Mit der wirksamen Anmeldung der Jahresumsatzsteuer (§  18 Abs.  3 Satz 1 UStG) oder mit der Bekanntgabe des entsprechenden Jahresumsatzsteuerbescheids (§  18 Abs. 4 Satz 2 UStG) sind nur deren Festsetzungen maßgebend (§ 124 Abs. 1 AO). Die sachlich-rechtlichen Wirkungen der vorangegangenen Festsetzungen für die Voranmeldungszeiträume sind überholt. Die Steuerfestsetzungen für die Voranmeldungszeiträume werden durch die Jahresumsatzsteuerfestsetzung aber nicht geändert (§ 164 Abs. 2 AO), erweitert oder eingeschränkt. Vielmehr erledigt ein wirksam ergangener Jahresumsatzsteuerbescheid die vorangegangenen Steuerfestsetzungen für die Voranmeldungszeiträume „auf andere Weise“ (§ 124 Abs. 2 AO) als durch Zurücknahme, Widerruf, Aufhebung oder Zeitablauf.26 Für die Zukunft, d.h. seit der

21 BFH v. 15.6.1999 – VII R 3/97, BStBl. II 2000, 46 (51) = UR 2000, 77 m. Anm. Stadie . 22 BFH v. 15.6.1999 – VII R 3/97, BStBl. II 2000, 46 (51) = UR 2000, 77 m. Anm. Stadie; BFH v. 17.9.1992 – V R 17/86, BFH/NV 1993, 279; BFH v. 29.11.1984 – V R 146/83, BStBl. II 1985, 370 = UR 1985, 140. 23 Vgl. zu den systematischen Unterschieden zwischen Einkommen- und Umsatzsteuererhebung auch BFH v. 17.5.2017 – X R 45/16, BFH/NV 2018, 10, Rz. 44. 24 BFH v. 12.10.1999  – VII R 98/98, BStBl.  II 2000, 486 (488, 489) = UR 2000, 163; BFH v.  15.6.2000  – VII R 3/97, BStBl.  II 2000, 46 (51) = UR 2000, 77 m. Anm. Stadie; BFH v. 3.7.1995 – GrS 3/93, BStBl. II 1995, 730. 25 BFH v. 16.5.1995 – XI R 73/94, BStBl. II 1996, 259 = UR 1996, 25. 26 BFH v. 7.7.2011 – V R 42/09, BFH/NV 2011, 1980 = UR 2011, 870; BFH v. 29.11.1984 – V R 146/83, BStBl. II 1985, 370 = UR 1985, 140.

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wirksamen Bekanntgabe,27 ist die für das Kalenderjahr festgesetzte Umsatzsteuer ausschließlich dem Jahresumsatzsteuerbescheid zu entnehmen.28 Die Erledigung der Vorauszahlungsfestsetzungen durch die Wirksamkeit des Jahresumsatzsteuerbescheids „auf andere Weise“ bedeutet aber nicht, dass die Vorauszahlungsfestsetzungen rückwirkend als nicht ergangen anzusehen sind. Vielmehr ist ihre Wirksamkeit nur suspendiert, wie dies den Grundsätzen von Änderungsbescheid und geändertem Bescheid29 entspricht. Formell werden die Abgabe der Voranmeldung und die Wirkung als Steuerfestsetzung nicht beseitigt. Maßgebend für das sachliche Steuerschuldverhältnis sind die Steuerfestsetzung und das Leistungsgebot des Jahresumsatzsteuerbescheids, solange dieser wirksam bleibt (§ 124 Abs. 2 AO). Soweit die Vorauszahlungsfestsetzungen von der Jahresfestsetzung unabhängige Rechtswirkungen entfalten, bleiben sie als „formelle Rechtsgrundlage“30 bestehen.31 Grundlagen für Verspätungszuschläge (§  152 AO) sind weiterhin die Vorauszahlungsfestsetzungen.32 Das wird auch für Säumniszuschläge angenommen.33 §  240 Abs. 1 Satz 4 AO, wonach verwirkte Säumniszuschläge auch dann bestehen bleiben, wenn die Festsetzung der Steuer aufgehoben, geändert oder nach § 129 AO berichtigt wird, ist dafür aber nicht einschlägig. Die formellen Rechtswirkungen der Vorauszahlungsfestsetzung und die nicht fristgerechte Entrichtung der Steuer reichen aus (§ 240 Abs. 1 Satz 1 AO). Sie sind nicht erledigt.34 Das gilt auch für die Fälligkeit von Vorauszahlungen für die Beurteilung einer Aufrechnungslage.35 Das Leistungsgebot in einer Vorauszahlungsfestsetzung bleibt die Rechtsgrundlage für deswegen ausgeführte Vollstreckungsmaßnahmen,36 wie für eine Forderungspfändung. Mit der Wirksamkeit des Jahressteuerbescheids, der die Voranmeldungszeiträume umfasst, können weitere Vollstreckungsmaßnehmen, wie z.B. die Ein­ 27 BFH v. 22.3.2011 – VII R 42/10, BStBl. II 2011, 607; BFH v. 3.7.1995 – GrS 3/93, BStBl. II 1995, 730. 28 Grundlegend: BFH v. 29.11.1984 – V R 146/83, BStBl. II 1985, 370 = UR 1985, 140; vgl. auch BFH v. 17.3.2009 – VII R 38/08, BStBl. II 2009, 953 (954) = UR 2009, 457; BFH v. 2.2.1995 – VII R 42/94, BFH/NV 1995, 853. 29 Vgl. dazu BFH v. 9.12.2004 – VII R 16/03, BStBl. II 2006, 346; BFH v. 25.10.1972 – GrS 1/172, BStBl. II 1973, 231. 30 BFH v. 24.1.1995 – VII R 144/92, BStBl. II 1995, 862 = UR 1996, 343. 31 Vgl. auch BFH v. 15.6.1999 – VII R 3/97, BStBl. II 2000, 46 (50) = UR 2000, 77 m. Anm. Stadie; BFH v. 10.2.2010 – XI R 3/09, BFH/NV 2010, 1450, Rz. 31 = UR 2010, 701; Leonhard in Bunjes, UStG, 16. Aufl. 2017, § 18 UStG Rz. 10. 32 Nach BFH v. 16.5.1995 – XI R 73/94, BStBl. II 1996, 259 = UR 1996, 25 ist das FA nach Erlass des Jahressteuerbescheids verpflichtet, im Rechtsbehelfsverfahren gegen den Bescheid über einen Verspätungszuschlag wegen einer Voranmeldung in eine erneute Prüfung der Zumessungsgründe des § 152 AO einzutreten. 33 BFH v. 31.1.1991  – V B 135/90, BFH/NV 1991, 563 = UR 1991, 235; FG Münster v. 26.10.2001 – 5 K 5941/99 U, EFG 2002, 118. 34 BFH v. 4.11.1999 – V R 35/98, BStBl. II 2000, 454 = UR 2000, 76. 35 BFH v. 22.8.1995 – VII B 107/95, BStBl. II 1995, 916 = UR 1997, 64; BFH v. 24.1.1995 – VII R 144/92, BStBl. II 1995, 862 = UR 1996, 343. 36 BFH v. 29.11.1984 – V R 146/83, BStBl. II 1985, 370 = UR 1985, 140.

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ziehung der gepfändeten Forderung, nicht mehr auf den Vollstreckungstitel des Vorauszahlungsbescheids gestützt werden (§ 251 Abs. 1 mit § 155 Abs. 1, § 164 Abs. 1 Satz 2 AO). Die vorher verwirklichte Vollstreckungsmaßnahme (Forderungspfändung) wird durch die Erledigung des Vorauszahlungsbescheids und durch den Wegfall der weiteren Vollziehbarkeit aber nicht unwirksam (§ 257 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 Satz 1 AO, § 100 Abs. 1 Satz 2 FGO, § 717 Nr. 1 mit §§ 775, 776 ZPO). Insoweit sind Rechtsbehelfe gegen Vorauszahlungsfestsetzungen zulässig, wenn sie die Grundlage für weitere Verwaltungsakte geworden sind, z.B. eine Forderungspfändung. Gegen den erledigten Vorauszahlungsbescheid kann ein begonnenes Rechtsbehelfsverfahren mit dem Ziel der Feststellung der Rechtswidrigkeit fortgeführt werden (§ 100 Abs. 1 Satz 4 FGO), sofern dafür ein rechtliches Interesse besteht.37 Die Abtretung eines Vorsteuerüberschusses in einem Voranmeldungszeitraum38 vor einer Erledigung bleibt wirksam, weil der Vorauszahlungsbescheid dafür der formelle Rechtsgrund ist. Das FA kann einen an den Abtretungsempfänger ausgezahlten Vorsteuerüberschuss nach § 37 Abs. 2 AO zurückfordern, wenn der Jahressteuerbescheid die Feststellung enthält, „dass die Steuerfestsetzung für den betreffenden Voranmeldungszeitraum fehlerhaft war“.39 Diese etwas verwirrende Feststellung wird dadurch entschärft, dass sich die Fehlerhaftigkeit der Festsetzungswirkung aus der Voranmeldung auch aus den Gründen des Umsatzsteuerjahresbescheids ergeben kann.40 Der Abtretungsempfänger erwirbt den Erstattungsanspruch nur belastet mit dem Vorbehalt der Nachprüfung der Richtigkeit der Vorauszahlungsfestsetzung. Wenn die Vollziehung des Jahressteuerbescheids ausgesetzt wird, sind die geleisteten Vorauszahlungen vorläufig nicht zu erstatten (§ 361 Abs. 2 Satz 4 AO, § 69 Abs. 2 Satz 8 FGO). Wird der Jahressteuerbescheid aufgehoben, weil z.B. Festsetzungsverjährung eingetreten ist, werden die Festsetzungen der Vorauszahlungen wieder in Kraft gesetzt.41 Die Rechtsprechung des BFH dazu ist widersprüchlich. Ein Umsatzsteuerjahresbescheid könne „nicht mit der Wirkung aufgehoben werden, dass an seiner Stelle wieder die Festsetzungen für die Vorauszahlungszeiträume maßgeblich sein würden“.42 Zutreffend hat der BFH später43 entschieden, dass die Vorauszahlungsfestsetzungen wieder wirksam werden, wenn der Jahressteuerbescheid wieder aufgehoben 37 BFH v. 15.6.1999 – VII R 3/97, BStBl. II 1999, 46 (50) = UR 2000, 77 m. Anm. Stadie; BFH v. 7.8.1979 – VII R 14/77, BStBl. II 1979, 708. 38 BFH v. 24.1.1995 – VII R 144/92, BStBl. II 1995, 862 = UR 1996, 343; vgl. dazu Ratschow in Klein, AO, 13. Aufl. 2016, § 37 AO Rz. 48; Boeker in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO, § 37 AO Rz. 47, Sept. 2012. 39 BFH v. 9.4.2002  – VII R 108/00, BStBl.  II 2002, 562 = UR 2002, 433; vgl. auch BFH v. 17.3.2009 – VII R 38/08, BStBl. II 2009, 953 (955) = UR 2009, 457. 40 Vgl. BFH v. 13.7.2007 – VII B 362/96, BFH/NV 2007, 2364. 41 BFH v. 27.11.2012 – VII B 16/12, BFH/NV 2013, 506 (507), Rz. 6. 42 So BFH v. 29.11.1984 – V R 146/83, BStBl. II 1985, 370 = UR 1985, 140; vgl. nachfolgend BFH v. 30.4.1996 – VII R 122/94, BFH/NV 1996, 866 (870); BFH v. 13.2.1996 – VII R 55/95, BFH/NV 1996, 454 (456); vgl. auch Boeker in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO, § 37 AO Rz. 48, Sept. 2012; wie hier: Lindberg in Frotscher, § 37 EStG Rz. 77. 43 BFH v. 27.11.2012 – VII B 16/12, BFH/NV 2013, 506 (507), Rz. 6.

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wird. Der Jahressteuerbescheid vernichtet die Vorauszahlungsfestsetzungen nicht, sondern suspendiert lediglich ihre Wirksamkeit. Wird er aufgehoben (§ 124 Abs. 2 AO), entfällt der Rechtsgrund für die Suspendierung. Die wieder wirksamen Vorauszahlungsfestsetzungen sind der Rechtsgrund für das Behaltendürfen der geleisteten Vorauszahlungen44 Das gilt jedoch nicht, wenn das FA mit dem Jahressteuerbescheid auch die Vorauszahlungsfestsetzungen  – ausdrücklich oder schlüssig  – aufhebt (§  124 Abs.  2 AO). Wenn ein FA den Umsatzsteuerjahresbescheid aufhebt, weil der Steuerpflichtige z.B. mangels Unternehmereigenschaft, nicht Schuldner der Jahresumsatzsteuer sei,45 hebt es damit schlüssig auch die Vorauszahlungsfestsetzungen auf.46 Das FA bekennt, dass die Grundlage sowohl für die Festsetzung einer Jahresumsatzsteuer fehlt als auch für die Festsetzung von Umsatzsteuervorauszahlungen nicht vorhanden ist. Deswegen hat das FA nicht den Willen, die Vorauszahlungsfestsetzungen wieder in Kraft zu setzen. Es ist davon auszugehen, dass das FA auch die Vorauszahlungsfestsetzungen – mindestens stillschweigend – aufgehoben hat.47 Das FA müsste anderenfalls (innerhalb der Festsetzungsfrist) einen erneuten Jahressteuerbescheid erlassen, um die als Vorauszahlungen geleisteten Zahlungen behalten zu dürfen. Allerdings endet die Festsetzungsverjährung für den Steueranspruch nicht (§ 171 Abs. 14 AO), bevor ein damit zusammenhängender Erstattungsanspruch verjährt und nach §  47 AO erloschen wäre. Wenn den Umsatzsteuervorauszahlungsfestsetzungen kein Jahressteuerbescheid mehr folgt oder nicht mehr folgen kann, bleiben die vorhandenen und nicht erledigten Vorauszahlungsfestsetzungen bestehen.48 Die durch die Jahressteueranmeldungen bedingten Steuerfestsetzungen werden unbedingt;49 denn der Vorbehalt der Nachprüfung entfällt (§ 164 Abs. 4 Satz 1 AO50). 4. Sachverhaltsaufklärung durch vollständige und richtige Steuererklärungen Zutreffende Steuerfestsetzung setzt die vollständige Aufklärung des Sachverhalts vo­ raus. Das UStG verpflichtet den Unternehmer, eine Steuererklärung (nach § 18 Abs. 3 Satz 1 UStG, § 150 Abs. 1 AO) für das Kalenderjahr und – regelmäßig – 12 Voranmeldungen für Vorauszahlungen (nach §  18 Abs.  1 Satz 1 UStG für einen Voranmel44 Vgl. dazu BFH v. 9.12.2004 – VII R 16/03, BStBl. II 2006, 346 (347). 45 Vgl. dazu auch BFH v. 27.11.2012 – VII B 16/12, BFH/NV 2013, 506 (507), Rz. 6; BFH v. 22.5.2012 – VII R 47/11, BFH/NV 2012, 1849 (1850), Rz. 16. 46 Vgl. auch BFH v. 17.3.2009 – VII R 38/08, UR 2009, 457 = BStBl. II 2009, 953 (954). 47 BFH v. 27.11.2012 – VII B 16/12, BFH/NV 2013, 506, Rz. 6; BFH v. 22.5.2012 – VII R 47/11, BStBl. II 2013, 3, Rz. 16. 48 BFH v. 17.9.1992 – V R 17/86, BFH/NV 1993, 279; BFH v. 29.11.1984 – V R 146/83, B ­ StBl. II 1985, 370; vgl. dazu auch Weiß, UR 1992, 126. 49 Noch offen gelassen in BFH v. 22.5.2012 – VII R 47/11, BStBl. II 2013, 3 (4), Rz. 18. 50 Zwar ergeht die Vorauszahlungsfestsetzung immer unter dem Vorbehalt der Nachprüfung. Das bedeutet aber nicht, dass der Vorbehalt über den Ablauf der Festsetzungsfrist hinaus wirkt und bestehen bleibt.

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dungszeitraum) zu den abgefragten rechtserheblichen Sachverhalten51 abzugeben. Steuererklärungen werden entweder auf Papier nach Vordruck oder – regelmäßig – in elektronischer Form abgegeben: Die elektronische Form für Umsatzsteuererklärungen ist gesetzlich vorgeschrieben (§ 150 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO; § 18 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 Satz 1 UStG). Inhaltlich gelten für eine Steuererklärung, in welcher Form sie auch erstellt wird, die gleichen Anforderungen in § 150 Abs. 2 AO.52 Die früher vorgeschriebene eigenhändige Unterschrift wird bei elektronischer Übermittlung der Umsatzsteuererklärung durch die Verwendung eines sicheren Verfahrens ersetzt (§ 150 Abs. 7 AO; § 6 Abs. 1 Satz 2 StDÜV), das den Übermittler authentifiziert.53 Der Unternehmer muss sich zutreffend erklären.54 Er muss Angaben in der Steuererklärung „wahrheitsgemäß nach bestem Wissen und Gewissen“ machen (§ 150 Abs. 2 AO). Eine eidesstattliche Versicherung ist mit dieser Erklärung nicht verbunden.55 Seiner Mitwirkungspflicht an der Ermittlung des Sachverhalts genügt der Unternehmer, wenn er „die für die Besteuerung des Sachverhalts erheblichen Tatsachen56 vollständig und wahrheitsgemäß offen legt“ (§ 90 Abs. 1 Satz 2 AO). Dass das alles so selbstverständlich nicht ist, beweist die ausdrückliche gesetzliche Regelung. Damit geht die Aufgabe der Finanzbehörde einher, „sicherzustellen, dass Steuern nicht zu Unrecht festgesetzt und erhoben werden“ (§ 85 Satz 2 AO). Für die nachträgliche Aufklärung eines umsatzsteuerrechtlich erheblichen tatsäch­ lichen Geschehens (Sachverhalts) werden die Angaben in der Steuererklärung als ­Beweisanzeichen ausgewertet. Die Darlegungs- und Nachweispflicht, der Über­zeu­ gungsgrad für die Glaubhaftmachung der rechtserheblichen Tatsachen und die Verteilung der Beweislast folgen geschriebenen und ungeschriebenen Regeln der AO und des UStG. Mit den „wahrheitsgemäßen Angaben nach bestem Wissen und Gewissen“ und der vollständigen und richtigen Offenlegung „der für die Besteuerung des Sachverhalts 51 Zu den 13 Steuererklärungen kommen noch vier Zusammenfassende Meldungen (§ 18a UStG) hinzu, auf die die für Steuererklärungen geltenden Vorschriften der AO ergänzend anwendbar sind (§ 18a Abs. 11 UStG) sind (vgl. BFH v. 27.9.2017 – XI R 15/15, UR 2018, 126). 52 Für den Unternehmer ergibt sich dies – versteckt – nur aus dem Hinweis, dass die mit der Steueranmeldung angeforderten Daten auf Grund der §§  149, 150 AO erhoben werden (Zeile 78 der Umsatzsteuer-Voranmeldung 2017; Zeile 24 der Umsatzsteuererklärung 2017). 53 Die Übermittlung der Umsatzsteuererklärung im ELSTER-Verfahren genügt diesen Anforderungen; vgl. dazu Rätke in Klein, AO, 13. Aufl., § 150 AO Rz. 38 m.w.N. 54 Auch mit einer unzutreffenden Steuererklärung hat der Unternehmer seine Erklärungspflicht nach § 150 Abs. 1 AO erfüllt; vgl. dazu Rätke in Klein, AO, 13. Aufl., § 150 AO Rz. 6 m.w.N. 55 Gleichwohl kann die Finanzbehörde gemäß § 95 AO verlangen, dass der Unternehmer die Richtigkeit behaupteter Tatsachen an Eides statt versichert; vgl. dazu Tipke, Steuerrechtsordnung, Band III, 2. Aufl. 2012, S. 1422. 56 Tatsache ist jeder Lebenssachverhalt, der Merkmal oder Teilstück eines gesetzlichen Tatbestands sein kann (vgl. BFH v. 19.10.2011 – X R 29/10, BFH/NV 2012, 227, Rz. 12 m.w.N.).

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erheblichen Tatsachen“, kann ein Unternehmer oder sein Vertreter (Vorstand, Geschäftsführer einer Gesellschaft) – insbesondere in der Umsatzsteuer – leicht überfordert sein. Maßgebend sind grundsätzlich individuelle Kenntnisse und persönliche Anforderungen an die Gewissenhaftigkeit. Durch die Forderung nach dem „besten“ Wissen und Gewissen setzt das Gesetz Maßstäbe. Allein die selbst gesetzten Regeln („keine Ahnung“) gelten nicht, wenn die erwarteten Angaben für den Unternehmer erfüllbar sind. Das auch ein gutwilliger Unternehmer einer Umsatzsteuererklärung nicht gewachsen sein kann,57 folgt aus der Komplexität der umsatzsteuerrechtlich erheblichen Vorgänge. Bei den von ihm verlangten „Angaben“ der für die „Besteuerung des Sachverhalts erheblichen Tatsachen“ geht es in der Umsatzsteuer nämlich nicht nur um die Mitteilung von Tatsachen als Wissenserklärungen. Vielmehr schließt die Erklärung z.B. der „steuerfeien Umsätze mit Vorsteuerabzug“,58 der „steuerfreien Umsätze ohne Vorsteuerabzug“59 oder der „steuerpflichtigen Umsätze zum Steuersatz von 7%“60 notwendig auch eine rechtliche Beurteilung ein. Die rechtliche Beurteilung kann nicht wahr oder unwahr, sondern nur zutreffend oder unzutreffend sein.61 Ohne eine Subsumtion, ob die erklärten tatsächlichen Vorgänge steuerbaren, steuerfreien oder steuerpflichtigen Umsätzen entsprechen oder ob und in welcher Höhe die erklärten Vorsteuern (z.B. aus 12.000 Rechnungen in Höhe von 24 Mio Euro) abziehbar sind, kommt der Unternehmer seiner Steuererklärungspflicht jedoch nicht nach. Dass ein Unternehmer durch die Steuererklärungspflicht auskunftspflichtig ist, ist verfassungsgemäß. Die Erklärungsverpflichtung ist im Interesse staatlicher Aufgaben­ erfüllung und gleichmäßiger Erfassung aller Steuerpflichtigen geboten.62 Der Steuerpflichtige soll sich gerade keiner Steuerstraftat bezichtigen. Der Schutz durch § 393 AO, der regelt, dass kein Zwangsmittel gegen einen Steuerpflichtigen eingesetzt werden darf, wenn er sich einer Steuerstraftat bezichtigen müsste, greift für die Steuererklärungspflicht noch nicht ein.63 a) Nach bestem Wissen Das beste Wissen kann sich für die Abgabe einer Umsatzsteuererklärung nur auf die Tatsachenkenntnis vom Sachverhalt beziehen, selbst wenn diese in eine rechtliche Einordnung der erklärten Tatsachen einfließt. Gemeint ist zunächst das eigene Wis57 Vgl. schon Tipke, BB 2009, 636 (637). 58 Zeile 19 der Umsatzsteuer-Voranmeldung 2017; Zeile 32 ff Anlage UR zur Umsatzsteuer­ erklärung 2017. 59 Zeile 24 der Umsatzsteuer-Voranmeldung 2017; Zeile 42 ff Anlage UR zur Umsatzsteuer­ erklärung 2017. 60 Zeile 27 der Umsatzsteuer-Voranmeldung 2017; Zeile 38 ff der Umsatzsteuererklärung 2017. 61 Vgl. dazu Tipke, Die Steuerrechtsordnung, Band III, 2. Aufl. 2012, S. Seer in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 150 AO Rz. 14, Januar 2012. 62 Vgl. BVerfG v. 21.4.1988 – 2 BvR 330/88, wistra 1988, 302. 63 Vgl. BVerfG v. 15.10.2004 – 2 BvR 1316/04, NJW 2005, 362.

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sen. § 150 Abs. 1 Satz 2 AO geht von der Berechtigung zur eigenen Steuererklärung des Unternehmers aus. Eine Pflicht, einen Steuerberater einzuschalten besteht zwar ausdrücklich nicht, kann sich aber aufgrund der vorhandenen Wissenslücken des Unternehmers ergeben. Wenn entgegen dem eigenen besten Wissen zu wenig oder falsch erklärt wird, hat dies Folgen, weil die Erklärungsverpflichtung verletzt wird.64 Die Verpflichtung zur Umsatzsteuererklärung nach bestem Wissen fordert dazu auf, sich dieses Wissen zu verschaffen. Wissenslücken sind durch die Kenntnisnahme der gesetzlichen Vorschriften, der Erläuterungen zur Steuererklärung65 und der Anwendungserklärungen der Finanzverwaltung zu verringern. Das bedeutet nicht, dass ein Zwang besteht, den darin zu entnehmenden rechtlichen Schlussfolgerungen zu folgen. Der Unternehmer, der beim besten Wissen seine Geschäfte umsatzsteuerrechtlich nicht beurteilen und deswegen auch nicht erklären kann, muss bezahlten fachlichen Rat beanspruchen. Er kann sein Unwissen aber nicht zum Maßstab seines umsatzsteuerrechtlichen Verhaltens machen.66 Das Wissen seiner Mitarbeiter über die Tatsachen (z.B. wann und wie viele Lieferungen an wen ausgeführt und von wem empfangen worden sind) und seiner steuerlichen Berater über die umsatzsteuerlichen Rechtsfolgen (z.B. ob eine steuerpflichtige oder steuerfreie Lieferung im Rahmen eines Reihengeschäfts ausgeführt oder ob die Steuer für eine Dienstleistung eines ausländischen Unternehmers übernommen wird) muss sich der Unternehmer mangels eigener Kenntnis verschaffen. Der Unternehmer kann seine verfahrensrechtliche Position nicht dadurch verbessern, dass er seine Steuerklärung durch eigenes Personal, durch einen Steuerberater und dieser durch sein Büropersonal anfertigen lässt.67 Er muss wissen, was er erklärt. b) Nach bestem Gewissen Damit die Erklärungsverpflichtung des Unternehmers nach „bestem Gewissen“ rechtlich erfassbar wird,68 ist sie an einem gewissenhaften Erklärungsverhalten zu messen.69 Gewissenhaft handelt ein Unternehmer nicht, wenn er die Tatsachen, die den Umsatz, eine Steuerbefreiung und den Vorsteuerabzug nur nach eigenem Ver64 Zu den steuerverfahrensrechtlichen Folgen (vgl. § 164 Abs. 2, § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO) können auch strafrechtliche Konsequenzen hinzutreten. Die schuldhaft fehlerhaft (zu gering) in einer Umsatzsteuererklärung angegebenen Umsätze, die nach der Veranlagung zu einer Steuerverkürzung geführt haben, können als Steuerhinterziehung (§ 370 AO) verfolgt werden. 65 Anleitung zur Umsatzsteuer-Voranmeldung 2017 und Anleitung zur Umsatzsteuererklärung 2017, BStBl. I 2017, 1363. 66 Wie im Straßenverkehr muss der Unternehmer Regeln befolgen, will er nicht als umsatzsteuerrechtlicher Geisterfahrer schmerzhafte finanzielle Folgen hinnehmen. 67 Vgl. BFH v. 14.3.2013 – XI B 33/13, BStBl. II 2013, 997, Rz. 39. 68 Vgl. dazu Wendt, Nach bestem Wissen und Gewissen, Festschrift für W. Ritter, 1997, 637 (641). 69 Vgl. FG Nds. v. 24.5.2011 – 3 K 249/10, EFG 2011, 1677 (1678); Seer in Tipke/Kruse, AO/ FGO, § 150 AO, Rz. 15, Jan. 2012.

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ständnis oder nach Erläuterungen, die ihm vom Hörensagen bekannt geworden sind, einordnet.70 Nach bestem Gewissen handelt der Unternehmer, wenn er sich vorhandene tatsächliche (z.B. Rechnungskontrolle) und fachliche Wissenslücken eingesteht (z.B. über innergemeinschaftliche Dreiecksgeschäfte) und vorsorglich sachkundige fremde Hilfe beansprucht. Der Unternehmer braucht dafür die Unterstützung durch  – regelmäßig bezahlte  – Helfer. Er handelt gewissenhaft, wenn er sich die tatsächlichen und auch rechtlichen Angaben von anderen – verantwortlich ausgewählten – Personen (Steuerberater, Mitarbeitern der Steuerabteilung) zu Eigen macht.71 Diese „Hilfeleistungen“ werden ihm bei der eigenen Steuererklärung zugerechnet.72 Im Regelfall darf der Unternehmer darauf vertrauen, dass der vollständig informierte Steuerberater die Steuererklärung richtig und vollständig vorbereitet, wenn er diesem die für die Erstellung der Steuerklärung erforderlichen Informationen insgesamt verschafft hat.73 Er ist er grundsätzlich auch nicht verpflichtet, die von einem Steuerberater vorbereitete Steuererklärung in allen Einzelheiten nachzuprüfen.74 Fehler und Nachlässigkeiten, die üblicherweise vorkommen, mit denen immer gerechnet werden muss und die selbst bei sorgfältiger Arbeit nicht zu vermeiden sind, werden zwar den Anforderungen von § 150 Abs. 2 AO nicht gerecht, können im Einzelfall aber grobe Fahrlässigkeit ausschließen.75 Verletzungen des § 150 Abs. 2 AO sind bis zur Bestandskraft der Steuerfestsetzung heilbar.76 c) Klarstellung der Verantwortlichkeiten Unmögliches wird durch die Steuererklärungspflicht nach bestem Wissen und Gewissen nicht verlangt, wenn der Unternehmer sich auf das Mögliche beschränkt. Ein gewissenhafter Unternehmer kann die Vollständigkeits- und Richtigkeitserklärung mit der ausdrücklichen Einschränkung abgeben, dass er auf die Angaben seiner bezahlten Helfer vertraue. Das Gesetz kann die Begrenzung der Wahrheitsversicherung nicht ausschließen. Der Unternehmer sollte nicht darauf vertrauen, dass diese Einschränkung  – auch ungeschrieben  – selbstverständlich sei. Die Hauptverantwortlichen für die Ermittlung der der für die Besteuerung erheblichen Tatsachen sollte der Unternehmer wegen der strafrechtlichen Verantwortung klar (namentlich) benennen, um sich selbst zu schützen. Die Angaben, wer bei der Anfertigung der Steuererklärung mitgewirkt habe, reichen dafür nicht aus.

70 Zur Pflichtverletzung bei doppelter Eintragung derselben Aufwendungen vgl. BFH v. 14.3.2013 – XI B 33/13, BStBl. II 2013, 997, Rz. 39. 71 Vgl. zur Zurechnung der Erklärungen des Steuerberaters vgl. z.B. BFH v. 10.2.2015 – IX R 18/14, BStBl. II 2017, 7, Rz. 14. 72 BFH v. 10.2.2015 – X R 18/14, BStBl. II 2017, 7, Rz. 14 m.w.N. 73 BFH v. 18.5.2005 – VIII R 107/03, HFR 2006, 115. 74 BFH v. 29.10.2013 – VIII R 27/10, BStBl. II 2014, 295, Rz. 32. 75 Vgl. BFH v. 13.9.1990 – V R 110/85, UR 1991, 114 = BStBl. II 1991, 124 zur Nichtberücksichtigung von Vorsteuerbeträgen aus einer Voranmeldung. 76 Vgl. auch BFH v. 6.2.2013 – X B 164/13, BFH/NV 2013, 694, Rz. 18.

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Mit der Höhe der Verantwortung in einer Unternehmung nimmt das Wissen um den Gehalt umsatzsteuerrechtlicher Erklärungen nicht selten ab. Die Bemühungen, der „organisierten Unverantwortlichkeit“ dadurch entgegenzutreten, dass auch juristische Personen und nicht rechtfähige Personengesellschaften bei umsatzsteuerrechtlichen Zuwiderhandlungen durch den umsatzsteuerrechtlichen Anforderungen nicht gewachsenes Personal über die Sanktionen im OWiG (z.B. § 30 OWiG) hinaus, strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden, sind bisher erfolglos geblieben.77 5. Beweisführung auf wessen Kosten Bei der Aufklärung eines komplexen umsatzsteuerrechtlichen Sachverhalts trifft den Unternehmer eine besondere Mitwirkungspflicht, weil er dem Sachverhalt am Nächsten steht. Wenn er dies fachgerecht mit einer medizinischen oder technischen Sachverhaltsschilderung erfüllt, aber damit eine Steuerermäßigung oder einen anderen Vorteil (Vorsteuerabzug) begehrt, kann er unter Hinweis auf Beweislastgrundsätze auf Ablehnung stoßen, die erkennbar von wenig medizinischen oder technischen Fachkenntnissen geprägt ist. Die fachliche Sachverhaltsaufklärung ist aufwendig und die überforderte Finanzbehörde bedarf sachverständiger Unterstützung. Beispielhaft sei folgender Fall vorgestellt: Für die Beurteilung, ob eine Operation eines Chirurgen als Heilbehandlung steuerfrei (§ 4 Nr. 14 Buchst. a UStG) oder nur einem „besseren Aussehen“ des Patienten dient und steuerpflichtig ist,78 muss der „Schönheitschirurg“ eine genaue Beschreibung der Veranlassung (Anamnese), der Ausführung und Folgen seiner Tätigkeit schildern.79 Hier ist der zur besonderen Mitwirkung verpflichtete Steuerpflichtige zunächst „Sachverständiger“ in eigener Sache. Die von der Mehrwertsteuer befreiten Eingriffe können auch psychologischer Art sein.80 Der BFH will für diese Beurteilung entsprechendes Fachpersonal und dafür nur psychologische Psychotherapeuten und auf Leiden psychologischer Art spezialisierte Fachärzte heranziehen. Ob psychische Störungen durch jahrelange Hänseleien wegen abstehender Ohren „auch und ggf. sogar vorrangig mit den Mitteln der Psychiatrie und Psychotherapie“ behandelt werden können – so der BFH81 – ist hier nicht weiter zu untersuchen. Ohne fachlich begründete Einwände kann die Finanzbehörde die Steuerbefreiung, die hier von der medizinischen Indikation abhängt, nicht ernsthaft verweigern. Dafür reichen aber Allgemeinwissen über Schönheitschirurgen oder Vermutungen des Steuerbeamten nicht aus. Wenn die Finanzbehörde von dem Steuerpflichtigen mit

77 „Entwurf eines Gesetzes zur Einführung der strafrechtlichen Verantwortung von Unternehmen und sonstigen Verbänden“ des Landes Nordrhein-Westfalen vom September 2013 ist über das Entwurfsstadium nicht hinausgekommen. 78 BFH v. 4.12.2014 – V R 33/12, UR 2015, 232, Rz. 14,15. 79 BFH v. 4.12.2014 – V R 16/12, UR 2015, 225, Rz. 18 – 20, 23. Das Regelbeweismaß wird auf eine „größtmögliche Wahrscheinlichkeit“ verringert. 80 EuGH v. 21.3.2013 – C-91/12 – PFC Clinik, UR 2013, 335, Rz. 33. 81 BFH v. 19.6.2013 – V S 20/13, BFH/NV 2013, 1643, Rz. 17, 19.

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Hinweisen auf seine Beweislast ein (weiteres) Gutachten auf seine Kosten verlangt, sind Zweifel an ihren Kenntnissen von den Regeln der AO angebracht. § 92 mit § 96 Abs. 1 AO berechtigt und verpflichtet die Finanzbehörde nach pflichtgemäßem Ermessen, eine fachlich entgegenstehende Sachverhaltsbeurteilung im Steuerfestsetzungs- und im Einspruchsverfahren mit Hilfe eines von Amts wegen beauftragten Gutachters durchzuführen.82 Die Ermessensfreiheit der Finanzbehörde findet ihre Grenzen, wo sich die Notwendigkeit der Hinzuziehung eines Sachverständigen mangels eigener Sachkunde aufdrängen muss.83 Wenn die Finanzbehörde es ablehnt, einen Sachverständigen hinzuzuziehen, muss es die eigene Sachkunde – spätestens in den Gründen der Einspruchsentscheidung – näher darlegen.84 Die Sachverhaltsaufklärung mit Hilfe eines beauftragten Sachverständigen muss die Finanzbehörde auf eigene Kosten durchführen (§ 107 AO). Diese Kosten für die Sachverhaltsaufklärung im vorgerichtlichen Verfahren braucht der Steuerpflichtige – im Unterliegensfall  – nicht zu erstatten, wenn dies nicht gesetzlich bestimmt worden ist.85 Es entspricht nicht dem Gesetzesplan, die Sachverhaltsaufklärung durch Gutachter auf das Finanzgericht zu verlagern, nur um den Fiskus (zunächst) zu schonen. Die Kosten für den gerichtlich bestellten Sachverständigen trägt der Unternehmer, wenn er ganz oder teilweise unterliegt. Das Finanzgericht kann und sollte eine Einspruchs­ entscheidung wegen unzulänglicher Sachverhaltsaufklärung aufheben, wenn eine fachlich fundierte Sachverhaltsaufklärung für die abschlägige Entscheidung der Finanzbehörde unterblieben ist (§ 100 Abs. 3 Satz 1 FGO). Die Finanzbehörde erhält dadurch die Gelegenheit, den Gutachterauftrag auf eigene Kosten nachzuholen. 6. Besondere umsatzsteuerrechtliche Sachverhaltsaufklärung durch eine Umsatzsteuer-Nachschau Verfahrensvorschriften für die Aufklärung eines umsatzsteuerrechtlichen Sachverhalts enthält neben der AO auch das UStG. § 27b Abs. 1 Satz 1 UStG berechtigt die Finanzbehörde „zur Sicherstellung einer gleichmäßigen Festsetzung und Erhebung der Umsatzsteuer“ eine Umsatzsteuer-Nachschau durchzuführen. Die Umsatzsteuer-­ Nachschau ist wie die Umsatzsteuer-Voranmeldung ein Kind des UStG, das Wert auf Eigenständigkeit, z.B. gegenüber dem Ertragsteuerrecht, legt.86 Amtsträger der Finanzbehörde können „ohne vorherige Ankündigung“ Grundstücke und Räume betreten, in denen der Unternehmer tätig ist, um Sachverhalte festzustel82 Vgl. BFH v. 14.5.2013 – X B 176/12, BFH/NV 2013, 1445, Rz. 29. 83 BFH v. 16.6.2005 – IV B 187/03, BFH/NV 2005, 2015; BFH v. 4.3.1993 – IV R 33/92, BFH/ NV 1993, 739. 84 Vgl. z.B. BFH v. 12.4.1994 – IX R 101/90, BStBl. II 1994, 660. 85 Vgl. § 147 Abs. 6 Satz 4 AO für die Beschaffung und Aufbereitung von Daten. 86 Tipke (Steuerrechtsordnung, Band III, 2. Aufl. 2012, S. 1429) tritt für eine Verallgemeinerung der Nachschau ein.

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len, die für die Besteuerung erheblich sein können. Auch ein unverdächtiger Unternehmer erhält Besuch. Es reicht das Bemühen zur Sicherstellung einer gleichmäßigen Festsetzung und Erhebung von Umsatzsteuer (§ 27b Abs. 1 Satz 1 UStG) aus. Diese selbstverständlichen für jede Art finanzbehördlicher Sachverhaltsermittlung geltenden Grundsätze mögen zwar die Sonderbefugnisse zur Aufklärung von Steueranmeldungen mit gewichtigen negativen Umsatzsteuerbeträgen (§  168 Abs.  2 AO) oder zur Erledigung von Amtshilfeersuchen anderer EU-Mitgliedstaaten oder von Auskunftsersuchen anderer Finanzämter im Zusammenhang mit Vorsteuerabzügen rechtfertigen. Eine „Schieflage“ zu Lasten eines bisher gewissenhaften Unternehmers besteht aber,87 wenn Grundstücke betreten werden, um einzelne Rechnungen oder einzelne Buchungsvorgänge zu prüfen.88 Ebenso ist es verfahrensrechtlich bedenklich, wenn kein Prüfungsbericht über die Umsatzsteuer-Nachschau (nach außen) anzufertigen ist89 oder wenn Schutzvorschriften für den Unternehmer nicht gelten sollen, wie eine Änderungssperre nach einer Außenprüfung, keine Aufhebung eines Nachprüfungsvorbehalts oder keine verbindliche Auskunft im Anschluss an die Umsatzsteuer-Nachschau. Damit der Verdacht auf Beschaffung von Kenntnissen zur Anordnung einer Umsatzsteuer-Sonderprüfung, einer – darüber hinausgehenden – Außenprüfung ohne Ankündigung90 unbegründet bleibt, ist das Ermessen der Finanzbehörde bei der Entscheidung zur Durchführung einer Umsatzsteuer- Nachschau zu beschränken. Für die Durchführung einer Umsatzsteuer-Nachschau muss mehr als das Interesse „zur Sicherstellung einer gleichmäßigen Festsetzung und Erhebung der Umsatzsteuer“ bestehen. Es müssen Gründe für die Notwendigkeit dieser qualifizierten Sachverhaltsfeststellung vorliegen. Sie sind schriftlich darzulegen und dem Steuerpflichtigen nachträglich mit einem Bericht über das Ergebnis der Sachverhaltsaufklärung bekannt zu geben. Immerhin bleibt eine Fortsetzungsfeststellungsklage (§ 100 Abs. 1 Satz 4 FGO) auch gegen die formlosen Finanzbefehle91 als restlicher Rechtsschutz möglich, weil ein Einspruch und eine Anfechtungsklage nach Beendigung der Umsatzsteuer-Nachschau unzulässig sind.

87 Vgl. dazu auch Rüsken, DStJG Bd. 31 (2008), 252 ff; Seer, StuW 2003, 51. 88 Bisher ist höchstrichterlich nur geprüft worden, ob § 27b UStG gegen das Zitiergebot des Art 19 Abs. 1 Satz 2 GG verstößt (BFH v. 25.5.2016 – V B 107/15, BFH/NV 2016, 1310, Rz. 3; BFH v. 9.4.2014 – VII B 228/13, BFH/NV 2014, 1227, Rz. 8 m.w.N.). 89 Vgl. Abschn. 27b 1. Abs. 6 Satz 2 UStAE. 90 Abschn. 27b.1 Abs. 9 Satz 4 UStAE. 91 Vgl. Abschn. 27b.1 Abs. 5 Satz 7, Abs. 4 UStAE

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7. Die Rechnung als Zwitter aus Verfahrensrecht und materiellem Recht a) Materiell-rechtliche Entstehungs- und Ausübungsvoraussetzungen Die Entstehungsvoraussetzungen für das Recht auf Vorsteuerabzug (§ 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Satz 1 UStG; Art. 168 Buchst. a MwStSystRL) kann der darlegungs- und beweisbelastete Unternehmer mit den allgemeinen Beweismitteln der AO (§  93  ff. AO) nachweisen, z.B. durch Zeugenaussagen für den Empfang einer Lieferung. Das UStG begrenzt die Ausübung des Vorsteuerabzugs durch den Besitz einer Rechnung mit vorgeschriebenen formalen Voraussetzungen (§ 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Satz 2 UStG; Art.  178 Buchst. a MwStSystRL). Die dem Unternehmer erteilte Rechnung muss (nur) den Anforderungen von § 14 Abs. 4 UStG; Art. 220 bis 236 und 238 bis 240 MwStSystRL) genügen.92 Dies sind materielle Anforderungen. Ohne den Besitz einer ordnungsgemäßen – formal ausreichenden – Rechnung gibt es kein Vorsteuerabzug.93 Zwei Grundsätze sind zu beachten: ȤȤ Das Recht auf Vorsteuerabzug kann grundsätzlich nicht eingeschränkt werden.94 ȤȤ Die Mitgliedstaaten dürfen auch die Ausübungsvoraussetzungen für das Recht auf Vorsteuerabzug nicht nach eigenem Gutdünken von der Erfüllung inhaltlicher Rechnungsangaben (Art. 226 MwStSystRL) abhängig machen, die in den Bestimmungen der MwStSystRL nicht ausdrücklich vorgesehen sind.95 Fehlen die für den Vorsteuerabzug nach § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Satz 2 UStG Art. 226 MwStSystRL erforderlichen Rechnungsangaben oder sind sie unzutreffend, besteht nach bisheriger Rechtsprechung des BFH kein Anspruch auf Vorsteuerabzug.96

92 EuGH v. 15.7.2010 – C-368/09 – Pannon Gép, UR 2010, 693, Rz 39, 40; EuGH v. 22.12.2010 – C-438/09 – Dankowski, UR 2011, 435, Rz. 27 ff. zu der im Wesentlichen inhaltsgleichen Regelung in Art. 22 Abs. 3 Buchst. b der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG; Einzelheiten z.B. in BFH v. 6.4.2016 – V R 25/15, UR 2016, 598, Rz. 39 ff. 93 BFH v. 22.7.2015 – V R 23/14, UR 2015, 796 = BStBl. II 2015, 914, Rz 22; BFH v. 2.9.2010 – V R 55/09, = BStBl. II 2011, 235, Rz 12 = UR 2010, 946; BFH v. 30.4.2009 – V R 15/07, BStBl. II 2009, 744, Rz 31 f. = UR 2009, 816; BFH v. 23.9.2009 – II R 66/07, BStBl. II 2010, 712, Rz. 10 = UR 2010, 138; BFH v. 17.12.2008 – XI R 62/07, BStBl. II 2009, 432, Rz. 13 ff. = UR 2009, 247 m. Anm. Widmann. 94 Ständige Rechtsprechung des EuGH, z.B. EuGH v. 15.11.2017  – C-374/16  – Geissel, C375/16 – Butin, UR 2017, 970 Rz. 39; EuGH v. 15.9.2016 – C-518/14 – Senatex, UR 2016, 800, Rz. 37. 95 EuGH v. 15.11.2017 – C-374/16 – Geissel, C- 375/16 – Butin, UR 2017, 970 Rz. 38; EuGH v. 15.9.2016 – C-516/14- Barlis 06 – Investimentos Imobiliários e Turísticos, UR 2016, 795, Rz. 25; EuGH v. 22.12.2010 – C-438/09- Dankowski, UR 2011 435, Rz. 35. 96 BFH v. 22.7. 2015 – V R 23/14, BStBl. II 2015, 914, Rz. 22 = UR 2015, 796; BFH v. 2.9.2010 – V R 55/09, BStBl.  II 2011, 235, Rz.  12 = UR 2010, 946; BFH v. 30.4. 2009  – V R 15/07, ­BStBl. II 2009, 744, Rz 31 f. = UR 2009, 816; BFH v. 23.9.2009 – II R 66/07, BStBl. II 2010, 712, Rz 10 = UR 2010, 138; BFH v. 17.12.2008 – XI R 62/07, BStBl. II 2009, 432, Rz. 13 ff. = UR 2009, 247 m. Anm. Widmann.

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b) Formelle Ausübungsvoraussetzungen Die Angaben, in der Rechnung (§ 14 Abs. 4 Satz 1 UStG; Art. 226 MwStSystRL) sind formelle Bedingungen97 für die Ausübung des Rechts auf Vorsteuerabzug. Bei den formellen Anforderungen handelt es sich aber nicht um Verfahrensrecht, sondern um materielles Recht. Es geht um die Voraussetzungen für die Verwirklichung eines Vorsteuerabzugsanspruchs. Deshalb bleibt der EuGH für die Auslegung der autonomen unionsrechtlichen Ausübungsbedingungen zuständig.98 Inhalt und Reichweite der „Formalien“ müssen die nationalen Gerichte als sachliche Ausübungsvoraussetzungen „eng“ auslegen,99 Fehlinterpretationen von Finanzbehörden korrigieren, dabei aber den Auslegungsergebnissen des EuGH folgen.100 Das gilt auch, wenn der EuGH den formellen Voraussetzungen unterschiedlichen Beweiswert beilegt. Wenn nämlich – so der EuGH – die materiellen Anforderungen des Vorsteuerabzugs erfüllt sind, ist der Vorsteuerabzug auch zu gewähren,101 wenn der Steuerpflichtige bestimmten formellen Bedingungen nicht genügt hat.102 Dabei versteht der EuGH unter materiellen Anforderungen die Voraussetzungen für die Anspruchsentstehung (Art. 168 Buchst. a MwStSystRL; § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Satz 1 UStG) und unter den formellen Bedingungen die in Art 226 MwStSystRL bezeichneten Rechnungsangaben für die Ausübung des Vorsteuerabzugsrechts. So können für den Vorsteuerabzug z.B. die Modalitäten für die vom EuGH geklärte Angabe der Anschrift des Rechnungsempfängers nicht maßgebend sein, wenn die Identität des Rechnungsausstellers durch die Bezeichnung der (ermittelbaren) Umsatzsteuer-Identifikationsnummer nachprüfbar ist.103 c) Rechnung und Verfahrensrecht Das nationale Verfahrensrecht ist erst und nur zuständig zu bestimmen, wie die ­unionsrechtlichen inhaltlich geklärten materiellen Entstehungsvoraussetzungen und die formellen Ausübungsvoraussetzungen in einem Streitfall nachgewiesen werden.

97 EuGH v. 15.11.2017 – C-374/16 – Geissel, C-375/16 – Butin, UR 2017, 970 Rz. 40; EuGH v. 15.9.2016 – C-518/14 – Senatex, UR 2016, 800, Rz. 38. 98 Zur Auslegung des Merkmals der Rechnungsanschrift (Art. 226 Nr. 5 MwStSystRL; § 14 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 UStG) vgl. EuGH v. 15.11.2017 – C-374/16 – Geissel, C- 375/16 – Butin, UR 2017, 970 Rz. 41, 45, 49. 99 EuGH v. 15.11.2017 – C-374/16 – Geissel, C-375/16 – Butin, UR 2017, 970 Rz. 37. 100 Die ausgelegten Vorschriften sind vom Zeitpunkt ihres Inkrafttretens – wie vom EuGH ausgelegt  – zu verstehen (EuGH v. 20.12.2017  – C-500/16  – Caterpillar, UR 2018, 249, Rz. 34). 101 EuGH v. 22.12.2010 – C-438/09 – Dankowski, UR 2011 435, Rz. 34 ff. Vorsteuerabzug des Leistungsempfängers trotz fehlender Registrierung des Leistenden als Mehrwertsteuerpflichtiger. 102 EuGH v. 15.11.2017 – C-374/16 – Geissel, C-375/16 – Butin, UR 2017, 970, Rz. 40; EuGH v. 15.9.2016 – C-518/14 – Senatex, UR 2016, 800, Rz. 38 m.w.N. 103 EuGH v. 15.11.2017 – C-374/16 – Geissel, C-375/16 – Butin, UR 2017, 970, Rz. 42.

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Für Vorgaben zur „bloß“ verfahrensrechtlichen Rechtsanwendung fehlt dem EuGH ohne ausdrückliche gemeinschaftsrechtliche Regelung die Berechtigung.104 d) Materielles Recht und Verfahrensrecht bei den Rechnungsanforderungen In der Rechnung gehen materielles Recht und Verfahrensrecht ein Bündnis ein. Mit dem Besitz einer Rechnung (Art. 218, 219 MwStSystRL) mit den in § 14 Abs. 4 Satz 1 UStG, Art. 226 MwStSystRL bezeichneten Angaben erfüllt der Unternehmer materielle Anforderungen (Besitz einer Rechnung) und (materiell-rechtlich geforderte) formelle inhaltliche Bedingungen für die Ausübung des Vorsteuerabzugsrechts. Zugleich begrenzen § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Satz 2 mit § 14 Abs. 4 Satz 1 UStG; Art. 178 Buchst. a, Art. 226 MwStSystRL verfahrensrechtlich den Nachweis für die Ausübungsbedingungen auf eine „Rechnung“ entweder auf Papier oder aufgrund elektronischer Elemente (Art. 218 MwStSystRL). Neben dieser (unionsrechtlichen und einzelstaatlichen) Beweismittelbeschränkung begründet eine ordnungsgemäße Rechnung zugleich verfahrensrechtlich den widerlegbaren Nachweis für das Vorliegen der materiellen Voraussetzungen. Die Inhaltsangaben in einer formal ordnungsgemäßen Rechnung105 zur Ausübung des Vorsteuerabzugs sind verfahrensrechtlich Beweisanzeichen auf das Vorliegen der Entstehungsvoraussetzungen. Die Indizwirkung kann die Finanzbehörde nicht grundsätzlich oder aufgrund bloßer Vermutungen ohne sachliche Begründung erschüttern. Sie kann die Wirkung aber nach eigenen Ermittlungen106 aufgrund von begründeten Zweifeln mit sämtlichen geeigneten Beweismitteln der AO erschüttern. Dann lebt die Beweislast des Unternehmers wieder auf. Der Streit, ob die materiellen Formalien in der Rechnung wirklich (tatsächlich) stimmen, wird im Massenverfahren des Vorsteuerabzugs mit dem Verfahrensrecht der AO ausgetragen. Der Beweis, ob die von A berechnete Lieferung wirklich ausgeführt

104 Mangels einschlägiger Gemeinschaftsregelungen unterliegt die Bestimmung der Verfahrensmodalitäten nach dem Grundsatz der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten der  innerstaatlichen Rechtsordnung eines jeden Mitgliedstaats (EuGH v. 15.3.2007  – C-35/05 – Reemtsma, UR 2007, 343, Rz. 40; EuGH v. 19.9.2006 – C- 392/04 und C-422/04 – i-21 Germany und Arcor, EuZW 2006, 696, Rz.  57; vgl. auch EuGH v. 19.9.2000  – C-454/98 – Schmeink & Cofreth und Strobel, UR 2000, 470, Rz. 65, 66, zur Berichtigung von zu Unrecht in Rechnung gestellter Mehrwertsteuer). 105 Zur Rechnung vgl. BFH v. 23.10.2014 – V R 23/13, BStBl. II 2015, 313, Rz. 17 = UR 2015, 188. 106 Die Finanzbehörde kann (muss) die notwendigen Prüfungen durchführen, ob der durch die Mehrwertsteuer-Identifikationsnummer ermittelbare Rechnungsaussteller Unternehmer ist und die berechnete Mehrwertsteuer entrichtet hat (EuGH v. 15.11.2017  – C-374/16 – Geissel, C-375/16 – Butin, UR 2017, 970, Rz. 42 unter Hinweis auf die Ausführungen des GA Wahl in Rz. 40 und 43 seiner Schlussanträge v. 5.7.2017 in den Sachen C-374 und 375/16, mitgeteilt in UR 2017, 974 Fn. 2 und 3 und die Schlussanträge der GA Kokott v. 18.2.2016 in der Sache C-516/14 – Barlis, Rz. 34).

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oder ob sie statt von A vielmehr von B erbracht worden ist,107 ob das Lieferdatum stimmt, ob die Rechnungsanschrift zutrifft, kann durch Zeugen oder weitere Urkunden bewiesen werden. Der Nachweis wirkt auf die Rechnungsausstellung zurück. Bei Verlust einer Rechnung sind die allgemeinen Nachweise der AO lediglich für den Beweis zugelassen, dass eine ordnungsgemäße Rechnung (einmal) vorhanden war.108 e) Anwendung Der Unternehmer A hat im Inland mehrfach Waren für sein Unternehmen von B erworben, der als Unternehmer u.a. unter einer Anschrift in einer anderen Stadt und einer Steuernummer abrechnet. Das FA verweigert A den Vorsteuerabzug, weil B an der in der Rechnung bezeichneten Anschrift nur eine Büroadresse unterhalte und er keine USt entrichtet habe. A hat bei dem nach der Steuernummer zuständigen FA unter Hinweis auf das Steuergeheimnis keine Auskunft erhalten, ob B USt zahle. Der Vorsteuerabzug kann A nicht mit dem Hinweis versagt werden, dass B bei der auf der Rechnung bezeichneten Anschrift nicht wirtschaftlich tätig sei (Auslegung der formellen Rechnungsvoraussetzung: vollständige Anschrift). Es reicht aus, dass er mit den Beweismitteln der AO nachweist, dass er an der angegebenen Adresse postalisch erreichbar war. Damit sind die positiven Anspruchsvoraussetzungen dargelegt.109 8. Verfahrensrecht bei der Besteuerung grenzüberschreitender Umsätze Das mehrwertsteuerrechtliche Unionsrecht enthält überwiegend materiell-rechtliche Bestimmungen. Zur Verwirklichung des materiellen Rechts stellt es aber auch – unionsweit geltende – Verfahrensregeln bereit, die wiederum von einzelstaatlichem Verfahrensrecht ergänzt werden. So müssen insbesondere die Rechtsfolgen für grenz­ überschreitende Umsätze notwendig von Verfahrensrecht ummantelt werden. Der Rahmen der „alten AO“ reicht dafür nicht aus.110 Mehrwertsteuerrechtliches Unionsrecht bietet notwendige Unterstützung durch zahlreich tatsächliche Vermutungen,111 107 Der Vorsteuerabzug des Leistungsempfängers darf aber erst versagt werden, wenn diese Umstände den Tatbestand eines betrügerischen Verhaltens erfüllen und aufgrund der von den Steuerbehörden beigebrachten objektiven Umstände feststeht, dass der Steuerpflichtige wusste oder hätte wissen müssen, dass der zur Begründung des Abzugsrechts geltend gemachte Umsatz in diesen Betrug einbezogen war ( EuGH v. 13.2.2014 – C-18/13 – Maks Pen, UR 2014, 861, Rz. 32). 108 BFH v. 23.10.2014 – V R 23/13, BStBl. II 2015, 313, Rz. 21-23 m.w.N. = UR 2015, 188. 109 Vgl. dazu EuGH v. 15.11.2017  – C-374/16  – Geissel, C-375/16  – Butin, UR 2017, 970, Rz. 42 gegen die in den Vorlagebeschlüssen (BFH v. 6.4.2016 – V R 25/15, UR 2016, 598 und BFH v. 6.4.2016 – XI R 20/14, UR 2016, 604) geschilderte entgegenstehende Rechtsprechung. 110 Zu den Urkundenbeweisen für Ausfuhrlieferungen vgl. §§ 8–17 UStG und für innergemeinschaftliche Lieferungen vgl. § 17a–17c UStG. Zu Nachweisen für die Steuerbefreiung nach § 4 Nr. 7 UStG durch Urkunden ausländischer Behörden vgl. § 4 Nr. 7 Satz 5 UStG. 111 Vgl. die Vermutungen in Art.  24a bis 24c MwStVO  – Durchführungsverordnung (EU) 282/2011 des Rates v. 15.3.2011, ABl. 2006 L 77, 1 – für die Ansässigkeit. Es handelt sich nach dem Wortlaut der Vorschriften (z.B. Art. 24a, Art. 24c MwStVO) um Vermutungen,

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ihre Widerlegung112 und durch die Aufzählung nützlicher Beweismittel,113 z.B. zum Nachweis des Dienstleistungsorts.114 Materielles Recht und Verfahrensrecht verschwimmen.115 Die Pflichten, die der Unternehmer umsatzsteuerrechtlich bei grenzüberschreitenden Umsätzen erfüllen muss, nehmen zu. Ihm werden neue Registrierungspflichten,116 Identifikationspflichten, Aufzeichnungs- und zusätzliche Meldepflichten auferlegt.117 Ein Aufgabenzuwachs besteht auch bei den Finanzbehörden. So ist z.B. Sachverhaltsaufklärung im Wege der Amtshilfe für andere Mitgliedstaaten oder von anderen Mitgliedstaaten zu leisten, Daten über Leistungen an oder von im Ausland ansässigen Unternehmern sind auszutauschen, die zusätzlichen Unternehmerpflichten sind zu überwachen und zu prüfen. a) MwSt-IdNr. Die MwSt-IdNr. (nachfolgend. USt-IdNr.) dient der Kontrolle und der Abwehr von Betrug und Missbrauch. Sie ist leicht zugänglich, von den Finanzbehörden einfach überprüfbar und wesentliche Informationsquelle für die Identifikation des Inhabers.118 Sie ist materiell-rechtliches Tatbestandsmerkmal bei inländischen Umsätzen und bei grenzüberschreitenden Sachverhalten. Auch das Verfahrensrecht knüpft an ihre Verwendung an. So begründet die Angabe, einer USt-IdNr. in einer Rechnung an einen Leistungsempfänger die Vermutung, dass er die Leistung als Unternehmer für sein Unternehmen und nicht ausschließlich für den privaten Bereich empfangen hat.119 Diese tatsächlichen Vermutungen sind durch unmittelbar geltendes Unionsrecht in Art. 18 Abs. 1,

nicht um Anscheinsbeweise, die einen der allgemeinen Lebenserfahrung entsprechenden Geschehensablauf voraussetzen (vgl. BFH v. 21.4.2010 – VI R 46/08, BStBl. II 2010, 848, Rz. 15, 23). 112 Z.B. Art. 24d MwStVO. 113 Die Aufzählungen sind nicht abschließend, weil auf „sonstige wirtschaftlich relevante Informationen“ verwiesen wird (Art. 24e Buchst. d, Art. 24f Buchst. f MwStVO). 114 Art. 24e, Art. 24f MwStVO. 115 EuGH v. 22.10.2015 – C-277/14 – PPU Stehkemp, UR 2015, 917, Rz. 33. 116 Die Mitgliedstaaten können die Registrierung zur Betrugsbekämpfung von einer Sicherheitsleistung abhängig machen, vgl. EuGH v. 26.10.2017 – C-534/16 – BB construct, UR 2017, 980, Rz. 21 ff. 117 Zu den Folgen bei der Verletzung dieser Pflichten vgl. EuGH v. 22.10.2015 – C-277/14 – PPU Stehkemp, UR 2015, 917, Rz. 40, 41; EuGH v. 6.9.2012 – C-324/11 – Toth, UR 2012, 851, Tz. 32; EuGH v. 22.12.2010 – C-438/09 – Dankowski, UR 2011, 435, Rz. 33, 36 und 38. 118 EuGH v. 15.11.2017 – C-374/16 – Geissel, C-375/16 – Butin, UR 2017, 970, Rz. 43. 119 BFH v. 27.9.2017 – XI R 15/15, UR 2018, 126, Rz. 34.

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Abs. 2; Art. 19 MwStVO geregelt.120 Die Vermutungen sind widerlegbar. Dafür ist einzelstaatliches Verfahrensrecht, z.B. der AO, heranzuziehen. b) Innergemeinschaftlicher Erwerb Der innergemeinschaftliche Erwerb eines Gegenstands wird grundsätzlich in dem Gebiet des Mitgliedstaats bewirkt, in dem sich der Gegenstand am Ende der Warenbewegung befindet (§ 3d Satz 1 UStG; Art. 40 MwStSystRL). Verwendet der Erwerber gegenüber dem Lieferer aber eine von einem anderen Mitgliedstaat erteilte USt-IdNr., gilt der Erwerb außerdem121 solange in dem Gebiet dieses Mitgliedstaats bewirkt, bis der Erwerber nachweist, dass der Erwerb durch den Mitgliedstaat am Ende der Warenbewegung besteuert worden ist (§ 3d Satz 2 UStG; Art. 41 Unterabs. 1 MwStSystRL). Verfahrensrechtlich ist die Auflösung einer umsatzsteuerrechtlichen Doppelbesteuerung gesetzlich geregelt (§ 3d Satz 2 Halbsatz 2 UStG; Art. 41 Untersabs. 1 Halbsatz 2 MwStSystRL). Die Nachweislast trifft den Erwerber. Den Nachweis führt er mit den Beweismitteln, die das Verfahrensrecht des Mitgliedstaats der verwendeten USt-­ IdNr. bereithält. Er ist bei der Wahl der Beweismittel frei.122 Den Nachweis der Besteuerung im Mitgliedstaat am Ende der Warenbewegung123 kann der Unternehmer z.B. mit der Steuererklärung, seinen Aufzeichnungen und dem Steuerbescheid, mit dem der innergemeinschaftliche Erwerb im Mitgliedstaat am Ende der Warenbewegung besteuert worden ist, führen.124 c) Negative Voraussetzungen bei innergemeinschaftlichen Lieferungen und dem Recht auf Vorsteuerabzug Der EuGH hat den positiven Voraussetzungen für die Steuerfreiheit einer innergemeinschaftlichen Lieferung und bei den Abzugsvoraussetzungen für den Vorsteuerabzug jeweils ungeschriebene negative Voraussetzungen beigefügt. Wenn sie vorliegen, stehen sie der Steuerfreiheit einer innergemeinschaftlichen Lieferung oder dem Vorsteuerabzug entgegen. Nach einem allgemeinen Grundsatz des unionsrechtlichen Mehrwertsteuersystems125 darf sich niemand missbräuchlich oder betrügerisch auf die im Rechtssystem der 120 Erwägungsgrund 18 und 19 zur MwStVO, BFH v. 27.9.2017 – XI R 15/15, UR 2018, 126, Rz. 34; BMF v. 4.9.2009, BStBl. I 2009, 1005, Rz. 15,16. 121 Nach Art. 16 MwStVO nimmt dieser Mitgliedstaat seine Besteuerungskompetenz unabhängig von anderen Mitgliedstaaten wahr. 122 Abschn. 3d.1 Abs. 4 Satz 3 UStAE. 123 Für den umgekehrten Fall enthält Art. 41 Unterabs. 2 MwStSystRL eine materiell-rechtliche Lösung durch Minderung der Steuerbemessungsgrundlage. 124 Abschn. 3d.1 Abs. 4 Satz 4 UStAE. 125 EuGH v. 18.12.2014  – C- 131/13, C-163/13, C-164/13  – Italmoda Rz.  46; EuGH v. 13.2.2014 – C-18/13 – Maks Pen, UR 2014, 861, Rz 26; EuGH v. 21.6.2012 – C-80/11 und C-142/11 – Mahagében und David, UR 2012, 591, Rz. 41.

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Union vorgesehenen Rechte berufen.126 Die nationalen Behörden und Gerichte müssen diese Rechte rückwirkend127 versagen, wenn aufgrund objektiver Umstände feststeht, dass sie in betrügerischer Weise geltend gemacht werden.128 Es ist unerheblich, welches Recht aus dem Bereich der Mehrwertsteuer von der betrügerischen Handlung betroffen ist.129 Dies gilt nicht nur, wenn der Steuerpflichtige selbst eine Steuerhinterziehung begeht, sondern auch, wenn er wusste oder hätte wissen müssen, dass er sich mit dem betreffenden Umsatz an einem Umsatz beteiligte, der in eine vom Lieferer oder von einem anderen Wirtschaftsteilnehmer auf einer vorhergehenden oder nachfolgenden Umsatzstufe der Lieferkette begangene Steuerhinterziehung einbezogen war.130 Er ist als Beteiligter an dieser Hinterziehung anzusehen131 und zwar unabhängig davon, ob er im Rahmen seiner besteuerten Ausgangsumsätze aus dem Weiterverkauf der Gegenstände oder der Verwendung der Dienstleistungen einen Gewinn erzielt.132 Dadurch wird der Grundsatz durchbrochen, dass für das Recht des Steuerpflichtigen auf Steuerbefreiung oder Vorsteuerabzug nicht von Bedeutung ist, ob die Mehrwertsteuer, die für die vorausgegangenen oder nachfolgenden Umsätze geschuldet war, tatsächlich an den Fiskus entrichtet wurde.133 Nun ist es mit dem Unionsrecht nicht vereinbar, einem Steuerpflichtigen die Steuerbefreiung oder den Vorsteuerabzug zu versagen, wenn er weder wusste noch wissen konnte, dass der betreffende Umsatz in eine vom Lieferer begangene Steuerhinterziehung einbezogen war oder dass in der Lieferkette bei einem anderen Umsatz, der dem vom Steuerpflichtigen getätigten Umsatz vorausgeht oder nachfolgt, Mehrwertsteuer hinterzogen wurde.134 126 EuGH v. 6.7.2006  – C-439/04,C-440/04  – Kittel und Recolta Recycling, UR 2006, 594, Rz. 54; EuGH v. 3.3.2005 – C-32/03 – Fini, UR 2005, 443, Rz. 32, EuGH v. 13.2.2014 – C-18/13 – Maks Pen, UR 2014, 861, Rz. 26. 127 EuGH v. 6.7.2006 – C-439, C-440/04 – Kittel und Recolta, UR 2006, 594, Rz. 55. 128 EuGH v. 6.7.2006 – C-439, C-440/04 – Kittel und Recolta, UR 2006, 594, Rz. 55; EuGH v. 6.12.2012 – C- 285/11 – Bonik, UR 2013, 193, Rz. 37; EuGH v.13.2.2014 – C-18/13 – Maks Pen, UR 2014, 861, Rz. 26. 129 EuGH v. 18.12.2014 – C-131/13, C-163/13, C-164/13 – Italmoda, UR 2015, 106 Rz. 49. 130 Vgl. EuGH v. 18.12.2014  – C-131/13, C-163/13, C-164/13  – Italmoda, UR 2015, 106, Rz.50; EuGH v. 6.7.2006 – C-439, C-440/04 – Kittel und Recolta, UR 2006, 594, Rz. 45, 46, 56 und 60; EuGH v. 6.12.2012 – C-285/11 – Bonik, UR 2013, 193, Rz. 38 bis 40. 131 EuGH v. 6.7.2006 – C-439/04, C-440/04 – Kittel und Recolta Recycling, UR 2006, 594, Rz. 56. 132 EuGH v. 21.6.2012  – C-80/11 und C-142/11  – Mahagében und David, UR 2012, 591, Rz. 46; EuGH v. 6.7.2006 – C-439/04, C-440/04 – Kittel und Recolta Recycling, UR 2006, 594, Rz. 56. 133 EuGH v. 21.6.2012  – C-80/11 und C-142/11  – Mahagében und David, UR 2012, 591, Rz. 40. 134 EuGH v. 22.10.2015 – C-277/14 – PPU Stehkemp, UR 2015, 917, Rz. 49; EuGH v.13.2.2014 – C-18/13 – Maks Pen, UR 2014, 861, Rz. 26 ff.; EuGH v. 6.12.2012 – C- 285/11 – Bonik, UR 2013, 193, Rz. 36 ff.; EuGH v. 21.6.2012 – C-80/11 und C-142/11 – Mahagében und David, UR 2012, 591, Rz. 44, 45 und 47; EuGH v. 12.1.2006 – C-354/03, C-355/03 – Optigen, UR 2006, 157, Rz. 51, 52 und 55; EuGH v. 6.7.2006 – C-439/04, C-440/04 – Kittel und Recolta

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Das Verfahrensrecht als Rahmen für die Verwirklichung der Umsatzsteuer

d) Beweislast und Beweisführung Die Schlussfolgerung, dass der Unternehmer neben dem Nachweis der positiven Voraussetzungen seine Gutgläubigkeit beweisen muss, greift zu kurz. Vielmehr muss der Unternehmer zwar die positiven Voraussetzungen für die Steuerbefreiung und den Vorsteuerabzug beweisen. Er braucht aber nicht nachzuweisen, dass die negativen Voraussetzungen (kein Betrug oder Missbrauch, Nichtwissen von der Steuerhinterziehung eines Vertragspartners) nicht vorgelegen haben. Negativa non sunt probanda.135 Die Beweislast kehrt sich um.136 Die Finanzbehörde muss zunächst Betrug oder Missbrauch darlegen und nachweisen. Die verfahrensrechtlichen Hürden dafür sind hoch. Erst wenn sie genommen worden sind, ist der Unternehmer am Zug und muss seine Gutgläubigkeit dartun und beweisen. In welchem Verfahren darüber entschieden wird  – bei der Steuerfestsetzung oder in einem Billigkeitsverfahren  – ist noch nicht abschließend geklärt. Der EuGH hat die Folgen entschärft, die Finanzbehörden teilweise aus der erwähnten Rechtsprechung des EuGH gezogen haben. Danach gilt: ȤȤ Es ist grundsätzlich Sache der Steuerbehörden, bei den Steuerpflichtigen die er­ forderlichen Kontrollen durchzuführen, um Unregelmäßigkeiten und Mehrwertsteuerhinterziehungen aufzudecken und gegen den Steuerpflichtigen, der diese Unregelmäßigkeiten oder Steuerhinterziehungen begangen hat, Sanktionen zu verhängen.137 ȤȤ Es ist Sache der Steuerverwaltung, die Steuerhinterziehungen oder Unregelmäßigkeiten durch einen Ausstellers einer Rechnung festgestellt hat, aufgrund objektiver Anhaltspunkte darzulegen, dass der Rechnungsempfänger wusste oder hätte wissen müssen, dass der zur Begründung des Rechts auf Vorsteuerabzug geltend gemachte Umsatz in eine Mehrwertsteuerhinterziehung einbezogen war.138 Dem Rechnungsempfänger obliegen grundsätzlich keine Überprüfungen. Nach den Umständen im Einzelfall139 muss der Steuerpflichtige den Gegenbeweis führen, um die bewiesenen objektiven Anhaltspunkte der Finanzbehörde zu erschüttern. Nur bei vorhandenen Anhaltspunkten für Unregelmäßigkeiten oder Steuerhinterziehung des Geschäftspartners kann der Unternehmer verpflichtet sein, über einen anderen Wirtschaftsteilnehmer, von dem er Gegenstände oder Dienstleistungen zu Recycling, UR 2006, 594, Rz. 44 bis 46 und 60. Dem hat sich der BFH bereits angeschlossen, z.B. BFH v. 30.4.2009 – V R 15/07, BStBl. II 2009, 744, Rz 44 = UR 2009, 816. 135 Digesten 22,3,2. Der Rechtssatz, dass Nicht Bestehendes nicht bewiesen zu werden braucht, gehört zu den Grundlagen des abendländischen Rechtssystems. 136 Vgl. dazu Musielak, Die Grundlagen der Beweislast im Zivilprozess, 1975, S. 259 ff, 2678 f. 137 EuGH v. 6.9.2012 – C-324/11, UR 2012,851, Rz. 42, 43. 138 EuGH v. 22.10.2015  – C-277/14  – PPU Stehkemp, UR 2015, 917, Rz.  50; EuGH v. 6.12.2012 – C-285/11 – Bonik, UR 2013, 193, Rz. 45; EuGH v. 31.1.2013 – C-643/11 – LVK 56, UR 2013, 346, Rz. 64. 139 EuGH v. 22.10.2015  – C-277/14  – PPU Stehkemp, UR 2015, 917, Rz.  51; EuGH v. 21.6.2012 – C-80/11 und C-142/11 – Mahagében und David, UR 2012, 591, Rz. 59.

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erwerben beabsichtigt, Auskünfte einzuholen, um sich von dessen Zuverlässigkeit zu überzeugen. Die Steuerverwaltung kann jedoch von einem Unternehmer nicht generell eine Prüfung verlangen, ob der Rechnungsaussteller über die abgerechneten Gegenstände ­verfügen und sie liefern konnte und ob er seinen Steuererklärungspflichten nachgekommen ist und Umsatzsteuer abgeführt hat. Sie kann auch die Vorlage anderer entsprechender Unterlagen140 nicht fordern.141 e) Anwendung Der Unternehmer U hat von A in DE Gegenstände eingekauft und sie an B in Portugal geliefert. Das FA versagt den Vorsteuerabzug, weil der Lieferant A USt hinterzogen hat. Weil der Erwerber B an der in der Rechnung bezeichneten Anschrift nicht wirtschaftlich tätig ist, wird auch die Steuerbefreiung für die innergemeinschaftliche Lieferung versagt. U verliert den Vorsteuerabzug nur, wenn die Finanzbehörde aufgrund objektiver Beweisanzeichen nachweist, dass er von der Steuerhinterziehung wusste oder hätte wissen können. Die zweifelhafte Anschrift des Erwerbers einer innergemeinschaftlichen Lieferung steht der Steuerbefreiung nicht entgegen, wenn er durch die USt-IdNr. eindeutig identifizierbar ist.

III. Schluss Der Kreis der Teilrechtsordnungen schließt sich. Er hätte größer sein können, jedoch nicht dürfen. Aber das ist ein zu weites Feld hätte der alte Briest aus Groß Cremmen sagen können.142

140 Unklar ist, welche Unterlagen gemeint sein könnten. Der Geschäftspartner könnte aber z.B. aufgefordert werden, eine aktuelle Steueranmeldung und einen Steuerzahlungsbeleg vorzulegen. 141 Vgl. in diesem Sinne Urteile EuGH v. 22.10.2015 – C-277/14 – PPU Stehkemp, UR 2015, 917, Rz. 52; Mahagében und Dávid – C-80/11 und C-142/11, UR 2012, 591, Rz. 60 und 61 m.w.N. 142 Theodor Fontane, Elfi Briest, 1894/1895, letzte Seite, letzter Satz.

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Bestandsaufnahme und Aufzeigen eines Auswegs bei unzulässigen verfahrensrechtlichen und prozessualen Einschränkungen im zwischenunternehmerischen Bereich am Beispiel des Vorsteuerabzugs Inhaltsübersicht I. Vorwort II. Einleitung III. Verschiedene Fallgruppen von unzu­ reichend gelösten Zuständigkeiten 1. Rechtsschutzbedürfnis des Leistungsempfängers bei seiner Anfechtungsklage gegen den Umsatzsteuerbescheid seines Vertragspartners, den leistenden Unternehmer 2. Feststellungsinteresse des Vorsteuer­ abzugsberechtigten a) Zivilrechtliche Rechtsprechung b) Finanzgerichtliche Rechtsprechung

3. Hinzuziehung/Beiladung a) Einfache Beiladung des Leistungsempfängers b) Beiladung eines anderen Finanzamtes 4. Widerstreitende Steuerfestsetzung (§ 174 AO) 5. Das leidige Bauträgerthema und widerstreitende Steuerfestsetzungen 6. Diskussionsvorschlag für einen Lösungsweg IV. Ausblick und Wunsch

I. Vorwort Anders als das materielle Umsatzsteuerrecht ist das Verfahrensrecht – mit Ausnahme gewisser Regelungen für das Vorsteuervergütungsverfahren  – nicht harmonisiert. Vielmehr ist es Aufgabe des innerstaatlichen Rechts der einzelnen Mitgliedstaaten u. a. die Modalitäten des Verfahrens zu regeln, die den Schutz der dem Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte gewährleisten sollen, wobei diese Modalitäten jedoch nicht weniger günstig ausgestaltet sein dürfen als die entsprechenden innerstaatlichen Rechtsbehelfe (Äquivalenzgrundsatz) und die Ausübung der durch die Unionsrechtsverordnung verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren dürfen.1 Zu letztgenannten Rechten gehört das Recht auf Vorsteuerabzug. Es ist integraler Bestandteil des Mechanismus der Mehrwertsteuer und darf grundsätzlich nicht eingeschränkt werden. Der Verfasser vertritt die Ansicht, dass zumindest die Ausübung des Rechts auf Vorsteuerabzug in Deutschland leider sehr wohl durch verfahrensrechtliche sowie prozessuale Hindernisse erschwert und eingeschränkt wird und möchte einen (ersten) Weg der Abhilfe zur Diskussion stellen. Dabei sollen verschiedene Szenarien aufgezeigt werden, die bis heute durch 1 Ständige Rechtsprechung des EuGH, z.B. Urt. v. 26.1.2012 – C-218/10 – ADV Allround, UR 2012, 175 mit Anm. Burgmaier und Sterzinger.

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die Rechtsprechung keiner befriedigenden und gerechten Lösung zugeführt werden konnten. Am Ende des Beitrags wird ein Vorschlag für eine Änderung des Umsatzsteuergesetzes unterbreitet, der möglicherweise nicht alle der nachfolgend skizzierten Problemfelder lösen kann, aber nach Auffassung des Verfassers zu einer deutlichen Verbesserung gegenüber dem Ist-Zustand führt. Deutschland täte gut daran, für eine gesetzliche Änderung zu sorgen. Die Entscheidung des EuGH in der Rechtsache ­Zabrus2 verdeutlicht, dass sich der EuGH andernfalls über nationale verfahrensrechtliche Vorschriften hinwegsetzt, um dem Steuerpflichtigen zu seinem Recht zu ver­ helfen.

II. Einleitung Bereits im Jahre 2004, d.h. noch vor Eintritt des Online-Handel-Booms, wurden nach einer nicht veröffentlichten Statistik des Statistischen Bundesamtes in Deutschland jährlich mehr als 32 Milliarden Rechnungen ausgestellt. Jeder dieser Rechnungen geht eine umsatzsteuerliche Würdigung voraus. Galt die Umsatzsteuer bei ihrer Einführung nicht nur materiell noch als Verkehrssteuer,3 hat sie sich im Lauf der Zeit und spätestens seit ihrer europäischen Harmonisierung materiell-rechtlich zu einer Verbrauchsteuer entwickelt. Sie ist eine indirekte Steuer, d.h. der Leistungsempfänger hat ihre Belastung zu tragen und der Leistende kümmert sich regelmäßig – sofern es nicht zu einem Übergang der Steuerschuld kommt – um ihre Abführung an den Fiskus. Die Umsatzsteuer ist nach ständiger zivilrechtlicher Rechtsprechung4 integraler Bestandteil der Vergütung. Dies führt regelmäßig dazu, dass im zwischenunternehmerischen Bereich Vereinbarungen getroffen werden, infolge derer es sich bei der Vergütung um einen Nettobetrag handelt, der sich um die gesetzlich geschuldete Umsatzsteuer erhöht. Aber auch in den meisten Gebührenverordnungen, die für Berufe erlassen werden, deren Tätigkeit umsatzsteuerpflichtig ist, findet sich eine Regelung, wonach der Auftragnehmer seinem Vertragspartner die von ihm abzuführende Umsatzsteuer gesondert in Rechnung stellen darf.5 Aufgrund ihres Wesens als indirekte Steuer findet man auch deshalb zur umsatzsteuerlichen Beurteilung von Sachverhalten nicht nur Urteile von grundsätzlicher Bedeutung aus der Finanzgerichtsbarkeit, sondern auch aus allen anderen Gerichtsbarkeiten.6 Dabei entscheiden sämtliche Gerichtszweige über die jeweilige umsatzsteuerliche Beurteilung aufgrund eigener Sachkunde eigenständig, d. h. ohne das jeweilige Verfahren auszusetzen und/oder eine Entscheidung der Finanzbehörden bzw. der Finanzgerichtsbarkeit einzuholen

2 EuGH v. 26.4.2018 – C-81/17 – Zabrus, EU-UStB 2018, 39. 3 Vgl. Stadie in Rau/Dürrwächter, Einf. Rz. 97 ff. m.w.N. zur Diskussion. 4 BGH v. 11.5.2001 – V ZR 492/99, UR 2001, 530 m.w.N. 5 Z.B. § 16 Abs. 1 HOAI für Architekten und Ingenieure; § 15 StBGebV für Steuerberater. 6 BVerwG v. 11.10.2006 – 10 C 7/05, UR 2007, 307 zur Steuerbefreiung für kulturelle Einrichtungen (Schifffahrtsmuseum); BSG v. 2.10.2008 – B 9 SB 7/07 R, UR 2009, 130 m. Anm. Hummel zur Umsatzsteuererstattung bei ärztlichem Befundbericht.

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bzw. abzuwarten.7 Dies führt für die Beteiligten zu einer deutlichen verfahrensrechtlichen und administrativen Mehrbelastung und inhaltlich – je nach Blickwinkel der Beteiligten – gelegentlich auch zu bösen oder freudigen Überraschungen. Gutes Beispiel hierfür ist die strafrechtliche Rechtssache Matthias Hoffmann:8 Während der BFH als Fachinstanz entschieden hatte,9 dass, wenn zwei umsatzsteuerrechtlich als Einzelunternehmer zu behandelnde Musiker, die als Duo auftreten, die Leistungen des einzelnen Musikers keine steuerfreien oder steuerbegünstigten Leistungen eines Kammermusikensembles oder einer sonstigen begünstigten Einrichtung darstellen können, hatte der BGH10 in dem sich anschließenden strafrechtlichen Verfahren Zweifel an der Beurteilung durch den BFH und rief den EuGH an. Der EuGH11 bestätigte die Zweifel des BGH und entschied, dass der Begriff der „anderen anerkannten Einrichtung“ als Einzelkünstler auftretende Solisten nicht ausschließe. Diese sich widersprechende Rechtsprechung führte dazu, dass der Angeklagte strafrechtlich freizusprechen war, die gegen ihn zu Unrecht festgesetzte Umsatzsteuer aber zu bezahlen hatte, da das Urteil des BFH nicht mehr revidierbar war. Ob es in der Sache zu einem (nachträglichen) Erlass der Umsatzsteuer aus Billigkeit kam, ist dem Verfasser nicht bekannt. Auslöser für die nachfolgend aufgezeigte Problematik ist der Umstand, dass nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung die Steuerschuld des Leistenden und der Vorsteuerabzug des Leistungsempfängers jeweils nach eigenen Grundsätzen geprüft werden müssen.12 Einige aus Sicht des Verfassers für die Praxis bislang nicht wirklich gelöste Konstellationen im zwischenunternehmerischen Bereich sollen im Nachgang näher beleuchtet werden: ȤȤ Gibt es für den Leistungsempfänger die Möglichkeit, den Umsatzsteuerbescheid seines Vertragspartners wirksam anzufechten (sog. „Drittbetroffenheit“)? ȤȤ Besteht für den Leistungsempfänger die Möglichkeit, eine Feststellungsklage zu erheben, die die Steuerpflicht/Steuerfreiheit der an ihn ausgeführten Leistung verbindlich feststellt? ȤȤ Kann eine Entscheidung erstritten werden, die sowohl die am Leistungsaustausch beteiligten Parteien als auch die für die Parteien zuständigen Finanzämter bindet? ȤȤ Besteht die Gefahr eines überraschenden Änderungsbescheides auch nach Beendigung einer Betriebsprüfung ohne Feststellungen und entsprechender Verbescheidung? 7 Soweit ersichtlich wurde in einem zivilrechtlichen Rechtstreit bislang auch noch nicht versucht, die involvierten Finanzämter im Rahmen einer rechtswegübergreifenden Streitverkündung zu beteiligen. 8 Weitere Vorlagebeschlüsse des 1. Strafsenats zur Auslegung der Steuerfreiheit von innergemeinschaftlichen Lieferungen v. 7.7.2009 – 1 StR 41/09, wistra 2009, 441; eines Zertifikats als ähnliches Recht v. 22.7.2015 – 1 StR 447/14, wistra 2016, 331. 9 BFH v. 24.2.2000 – V R 23/99, UR 2000, 253 = DStR 2000, 818 mit Anm. FK. 10 BGH v. 5.4.2000 – 5 StR 169/00, UR 2000, 286 mit Anm. Lausterer. 11 EuGH v. 3.4.2003 – C-144/00 – Matthias Hoffmann, BStBl. II 2003, 679. 12 BFH v. 12.8.1993 – V R 26/91, UR 1995, 108.

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III. Verschiedene Fallgruppen von unzureichend gelösten Zuständigkeiten 1. Rechtsschutzbedürfnis des Leistungsempfängers bei seiner Anfechtungsklage gegen den Umsatzsteuerbescheid seines Vertragspartners, den leistenden Unternehmer Die Statthaftigkeit einer Klage setzt neben der objektiven Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes voraus, dass der Verwaltungsakt gerade den Kläger subjektiv in seinen Rechten verletzt. Die objektive Rechtswidrigkeit steht für die Aufhebungswürdigkeit des Verwaltungsakts, die Verletzung der Rechte für die Legitimation des Klägers, die Aufhebung betreiben zu dürfen. Die Rechtsprechung hat hierfür die sogenannte ­Adressatentheorie und die Schutznormlehre entwickelt.13 Von der Adressatentheorie nicht erfasst werden Rechtsverletzungen, die ein von dem Verwaltungsakt betroffener Dritter erleidet. Dabei zu berücksichtigen ist, dass nicht jede Rechtsnorm den Bürger als Rechtssubjekt mit einem (eigenen) Recht ausstattet. Während im Zivilrecht Pflichten und Rechte meist derart miteinander korrespondieren, dass eine Verpflichtung der einen Seite die andere Seite berechtigt, geht im öffentlichen Recht nicht mit jeder Verpflichtung des Staates eine Berechtigung einer Privatperson einher. Das öffentliche Recht hat dabei nicht nur die Aufgabe, Individualinteressen zu befriedigen. Es nimmt Aufgaben der öffentlichen Ordnung, des Allgemeininteresses wahr, ohne ein unmittelbares subjektives Recht des Bürgers auf Erfüllung der Aufgabe anzuerkennen. Nach der von Bühler begründeten sogenannten Schutznormtheorie sind subjektive Rechte im Sinne des § 40 Abs. 2 FGO verletzt, wenn die verletzte Norm zumindest auch den Schutz von Individualinteressen bezweckt. Diese Rechtsposition wird auch als gesetzlich oder rechtlich geschütztes Interesse (aufgrund drittschützender Wirkung von Rechtsvorschriften) bezeichnet und vom Allgemeininteresse sowie vom bloß tatsächlichen Interesse abgehoben.14 Bislang gibt es – soweit ersichtlich – keine positiven Urteile, in denen der Leistungsempfänger den Umsatzsteuerbescheid seines an ihn leistenden Vertragspartners mit dem Argument anfechten konnte, dass die an ihn ausgeführte Leistung nicht der Umsatzsteuer unterliegt oder er die Verneinung der Steuerpflicht erstreiten konnte, um so das von ihm bereits ausgeübte Recht auf Vorsteuerabzug nicht zu verlieren.15 Letztere Fallgruppe wird immer dann virulent, wenn ein Rückforderungsanspruch im Ergebnis ausscheidet, insbesondere bei zivilrechtlicher Verjährung oder Insolvenz des Leistenden. Im Gegenteil: Es gibt Rechtsprechung, die eine Anfechtungsmöglichkeit des die Steuer/Abgabe tragenden Verbrauchers explizit verneint. Wird durch die rechtswidrige Festsetzung mittels Umsatzsteuer- oder Verbrauchsteuerbescheides eine Steuer zu hoch festgesetzt und vom Steuerschuldner auf den Steuerträger überwälzt, so wird nach Auffassung des Finanzgerichts Hamburg nur der Verbrauchsteuerschuldner trotz der (wirtschaftlichen) Überwälzung auf seinen Vertragspartner, den Steuerträger, in seinen Rechten

13 Vgl. u.a. von Beckerath in Beermann, § 40 FGO Rz. 157 ff. 14 Vgl. hierzu ausführlich Seer in Tipke/Kruse, § 40 FGO Rz. 43 ff. 15 Vgl. hierzu ablehnend FG Münster v. 19.12.2000 – 15 K 5138/95 U, EFG 2001, 473.

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verletzt, der Steuerträger hingegen wird danach „nur“ wirtschaftlich betroffen.16 Demnach kann der private Letztverbraucher von Strom oder Mineralöl, der Nichtschuldner, sondern Träger der Stromsteuer und Mineralölsteuer ist, die Bescheide des Steuerschuldners nicht anfechten, auch nicht zwecks Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit dieser Steuern. Dass die wirtschaftliche Betroffenheit mittelbar durch den Steuerbescheid ausgelöst wird, wird von dieser Rechtsprechung nicht als ausreichend angesehen.17 Der BFH hatte bereits in der älteren Vergangenheit entschieden, dass ein auf den Vorsteuerabzug des Leistungsempfängers bezogenes Interesse des Leistenden nicht rechtfertige, die Frage der Entgeltlichkeit (und Steuerpflichtigkeit) eines Umsatzes im Rahmen der Steuerfestsetzung gegen ihn zu klären. Denn die Steuerschuld des Leistenden und der Vorsteuerabzug des Leistungsempfängers müssten jeweils nach eigenen Grundsätzen geprüft werden.18 Festzuhalten ist, dass die Rechtsprechung selbst dem vorsteuerabzugsberechtigten Leistungsempfänger nicht das Recht einräumt, sich gegen die Umsatzsteuerfestsetzung seines an ihn leistenden Vertragspartners zu wenden, beispielsweise um gegen die Steuerpflicht vorzugehen oder sich gegen deren nachträgliche Versagung zu wenden. 2. Feststellungsinteresse des Vorsteuerabzugsberechtigten Die Frage des Feststellungsinteresses des leistungsempfangenden Vertragspartners stellt sich u. a. bei dem Streit über den Anspruch auf Erteilung einer Rechnung mit Umsatzsteuerausweis. Von praktischer Relevanz ist dies sowohl bei Vorliegen einer sog. „Nettopreisabrede“ als auch bei Vorliegen einer sog. „Bruttopreisabrede“. Bei dieser Thematik muss insbesondere das Zusammenspiel zwischen Zivilrecht und Umsatzsteuerrecht im Blick behalten werden. Der Anspruch auf Erteilung einer Rechnung mit Steuerausweis richtet sich nach der objektiven Steuerrechtslage, setzt also das Vorliegen der nach § 14 UStG maßgebenden Merkmale voraus. Die bloße zivilrechtliche Vereinbarung einer Abrechnung mit Steuerausweis im Vertrag reicht nicht aus.19 Für einen Rechtsstreit vor den ordentlichen Gerichten, wie regelmäßig bei Streit über die Abrechnung mit Steuerausweis, ist also die Klärung umsatzsteuerrechtlicher Vorfragen entscheidungserheblich.20 Insoweit stellt sich einerseits die Frage, in welchen Fällen trotz grundsätzlicher Zuständigkeit der ordentlichen Gerichte die umsatzsteuerlichen Fragen gleichwohl von den 16 FG Hamburg v. 22.2.1980 – IV 29/79 S-H, EFG 1980, 406; v. 28.2.2000 – IV 179/99, ZfZ 2000, 171. 17 BFH v. 16.12.1997 – VII R 30/97, BFH/NV 1998, 896. 18 BFH v. 26.2.1987 – V S 4/86, UR 1988, 150 = BFH/NV 1987, 604; v. 12.8.1993 – V R 26/91, BFH/NV 1994, 747. 19 BGH v. 2.11.2001 – V ZR 224/00, UR 2002, 91. 20 Dies hat sich evident bei der Rechtsfrage gezeigt, ob die Versteigerung der UMTS-Lizenzen eine wirtschaftliche Tätigkeit des Staates darstellt: Vorlageersuchen des LG Wien v. 7.6.2004  – 20 Cg 17/04; EuGH v. 26.6.2007  – C-284/04  – T-Mobile Austria GmbH, UR 2007, 607 m. Anm. Burgmaier.

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dafür zuständigen Finanzbehörden bzw. Finanzgerichten zu entscheiden sind. Andererseits bedarf es einer Klärung, ob ggf. der Steuerpflichtige, der vom Leistenden eine Rechnung beansprucht, berechtigt ist, mit einer Feststellungsklage vor den Finanzgerichten gemäß §  41 FGO feststellen zu lassen, dass er aufgrund einer steuerpflich­ tigen – also mit Steuerausweis abrechenbaren – Leistung gezahlt hat. Die hierzu ergangene Rechtsprechung ist auch innerhalb derselben Gerichtsbarkeit keinesfalls eindeutig. a) Zivilrechtliche Rechtsprechung Nach einer früheren ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs besteht hinsichtlich der Kompetenz der Zivilgerichte zur anschließenden Entscheidung der umsatzsteuerrechtlichen Vorfrage der Vorbehalt der Zumutbarkeit der Anspruchserfüllung zur Rechnungserteilung, solange nicht feststeht, dass das Finanzamt den Vorgang (beim Leistenden) bestandskräftig der Umsatzsteuer unterworfen hat. Solange kommt eine Klage auf Erteilung der Rechnung nach § 14 Abs. 1 und Abs. 4 UStG stattgegebenes Urteil nicht in Betracht.21 Im Nachgang entschied ein anderer Senat des BGH22 wie folgt: „Das Entscheidungsrecht über die Rechtmäßigkeit der Besteuerung liegt nach dem System der AO ausschließlich bei den Finanzbehörden. Nur diese treffen eine verbindliche Entscheidung über das Bestehen der Steuerpflicht. Meinungsunterschiede über die Rechtmäßigkeit des Steuereinbehalts sind zwischen dem Steuerschuldner (Unternehmer) und dem Steuergläubiger (Steuerfiskus) zu klären. Das Zivilgericht würde die durch Gesetz gebotenen Grenzen seiner Zuständigkeit überschreiten und in unzulässiger Weise in das Gebiet des Steuerrechts und der Steuerbehörden hinübergreifen, wollte es sich in seiner Entscheidung grundsätzlich auch mit dem öffentlich-rechtlichen fiskalischen Steueranspruch als solchem befassen sowie zur Frage des Bestehens der Steuerschuld, ihrer Höhe und ihrer Entrichtungsweise Stellung nehmen … Zudem werden die Finanzbehörden an die Entscheidung der Zivilgerichte nicht gebunden.“

In einer kurz darauf ergangenen Entscheidung23 verwies ein anderer Zivilsenat hingegen wieder auf die ältere ständige zivilgerichtliche Rechtsprechung und entschied, dass die Ausstellung einer Rechnung mit gesonderter Angabe der Umsatzsteuer auch bei Bestehen einer Nettopreisabsprache entweder nur bei objektiver Steuerpflicht der erbrachten Leistung oder im Falle einer bestandskräftigen Besteuerung verlangt werden könne.24 Die steuerrechtlichen Vorfragen seien grundsätzlich von den Zivilgerichten selbständig zu beantworten. Dabei blieb im Entscheidungsfall offen, ob im Hinblick auf die Möglichkeit der Korrektur eines unrichtigen Steuerausweises bzw. der damit verbundenen Folgen eine Verpflichtung zur Rechnungserteilung nach wie vor als unzumutbar anzusehen ist. 21 BGH v. 24.2.1988 – VIII ZR 64/87, BGHZ 103, 284. = UR 1988, 183 m. Anm. Weiss. 22 BGH v. 17.7.2001 – X ZR 13/99, UR 2002, 37 mit Anm. Wagner. 23 BGH v. 2.11.2001 – V ZR 224/00, UR 2002, 91. 24 In einem solchen zivilrechtlichen Rechtsstreit kann es sich durchaus anbieten, die Finanzämter im Wege der rechtswegübergreifenden Streitverkündung an dem Verfahren zu beteiligen. Wer dies aber ersucht, muss sich aber darauf einstellen, dass er damit neue Streitigkeiten auslösen wird.

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b) Finanzgerichtliche Rechtsprechung Um den Steuerpflichtigen aus dem von der Zivilrechtsprechung herrührenden Dilemma zu führen, zeigte der BFH einen Lösungsweg auf, indem er dem Leistungsempfänger die Erhebung einer Feststellungsklage ermöglichte.25 Prozessual-rechtlich entschied der BFH u.a.: „Behandelt der Grundstückseigentümer bei seiner Umsatzsteuererklärung den Vorgang – abweichend von der Beurteilung durch den Optionsberechtigten  – nicht als steuerpflichtigen Umsatz, kann der Optionsberechtigte die Frage der Umsatzsteuerpflicht dieses Vorgangs im Wege der Feststellungsklage gemäß § 41 FGO klären lassen. Sein Rechtsschutzinteresse an der Feststellung ergibt sich mit Rücksicht auf die Rechtsprechung des BGH (BGHZ 103, 284), nach der bei zweifelhafter Rechtslage über das Vorliegen eines steuerbaren und steuerpflichtigen Umsatzes der Leistungsempfänger die Erteilung einer Rechnung mit gesondert ausgewiesener Umsatzsteuer nur verlangen kann, wenn die zuständige Finanzbehörde den Vorgang bestandskräftig der Umsatzsteuer unterworfen hat. Die mit der Feststellungsentscheidung gefundene materiell-rechtliche Beurteilung sei für die Steuerschuldverhältnisse des Grundstückseigentümers und des Optionsberechtigten bindend.“

Die Hoffnung, dass sich durch diese Grundsatzentscheidung des BFH die Rechtsschutzmöglichkeiten des leistungsempfangenden Unternehmers erweitert hätten, wird in der Praxis enttäuscht. Paradebeispiel hierfür ist eine Entscheidung des XI. Senats des BFH.26 In dem Streitfall ging es darum, ob die Klägerin Leistungsempfängerin der beigeladenen X-GmbH war und einen Anspruch auf Ausstellung einer Rechnung mit Umsatzsteuer hatte. Die Klägerin betrieb im Streitfall eine Kfz-Werkstatt. Von ihren Kunden wurde sie beauftragt, deren Fahrzeuge zur gesetzlichen Hauptuntersuchung gemäß § 29 StVZO vorzuführen. Dabei hatte sie die Wahl, die Fahrzeuge entweder bei den Prüfstellen der Überwachungsorganisationen vorzufahren oder die Hauptuntersuchung nach einer entsprechenden Terminabsprache mit der Beigeladenen in deren Werkstatt von einem Prüfungsingenieur der Beigeladenen durchführen zu lassen. Zwischen der Klägerin und der Beigeladenen bestand Streit, ob die Bei­ geladene eine Leistung an die Klägerin oder vielmehr an deren Kunden erbrachte. Aufgrund Verwaltungspraxis und Verfügungen der Finanzverwaltung wurde in den Vorjahren davon ausgegangen, dass zwischen den Parteien ein umsatzsteuerlicher Leistungsaustausch stattgefunden habe. Ohne Vorliegen einer Rechtsprechung hatte die Finanzverwaltung ihre Auffassung geändert und ging nunmehr davon aus, dass kein umsatzsteuerlicher Leistungsaustausch mehr bestünde. Dieses neue Verständnis wurde von der Klägerin mit Sachargumenten bestritten. Der BFH sah die Feststellungsklage der Klägerin als unzulässig an, da weder über die Steuerbarkeit und Steuerpflicht der Leistung noch über die Höhe des Steuersatzes Streit bestehe. Aus der Praxis sind weitere negative, nicht veröffentlichte, Urteile von Finanzgerichten bekannt. An der Richtigkeit dieser Entscheidung gab es nicht nur in materieller, sondern insbesondere auch in verfahrensrechtlicher Sicht erhebliche Zweifel.27 Von Eichborn, 25 BFH v. 10.7.1994 – V R 94/96, UR 1997, 473 mit ablehnender Anm. Stadie. 26 BFH, Urt. v. 30.3.2011 – XI R 12/08, DStR 2011, 1270. 27 Dies wird nicht nur von dem Autor, sondern augenscheinlich auch von einem Richter des entscheidenden Senats so gesehen (von Eichborn, DStR 2011, 1249).

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Richter an dem für das Urteil zuständigen Senat, weist in seinem Beitrag darauf hin, dass die Verwaltungsauffassung – Ausfluss administrativer Regelungswut – materiell-rechtlich unzutreffend erscheine, sodass die Rechtslage zweifelhaft gewesen sei und somit ein Feststellungsinteresse vorgelegen habe. Die Entscheidung verdeutlicht, vorausgesetzt, der zuständige Senat hätte unter Beachtung von § 65 FGO festgestellt, dass zwischen der Klägerin und der Beigeladenen ein (dann unstreitig steuerbarer und steuerpflichtiger) Leistungsaustausch vorgelegen hätte, dass diese Feststellung einer bestandskräftigen Umsatzbesteuerung durch das Finanzamt der Beigeladenen gleichstünde, die auch für das Finanzamt der Klägerin bindend gewesen wäre. Ohne Ergehen dieses Feststellungsurteils muss die Klägerin zivilrechtliche Klage – mit den oben dargestellten Risiken – erheben. Die Praxis zeigt, dass der BFH dem leistungsempfangenden Unternehmer die Möglichkeit einer Feststellungsklage eröffnet hat, die Anforderungen der Gerichte an das Feststellungsinteresse aber derart hoch angesetzt werden, dass sie regelmäßig nicht erfüllt werden können. Hinzu kommt ein hohes Prozesskostenrisiko. 3. Hinzuziehung/Beiladung Bei diesem Punkt gilt es, einerseits zwischen den beiden am umsatzsteuerlichen Leistungsaustausch beteiligten Steuerpflichtigen und andererseits zwischen den an dem Verfahren beteiligten Finanzämtern zu unterscheiden. Zwar gab es auch bei dieser Thematik einen gewissen Fortschritt, doch kommt es m. E. in der Praxis weiterhin zu einer Beeinträchtigung der Rechte des Leistungsempfängers. a) Einfache Beiladung des Leistungsempfängers In einem Grundsatzbeschluss hat der BFH28 im Wege einer Rechtsprechungsänderung klargestellt, dass eine Entscheidung im Rechtsstreit des leistenden Unternehmers über die Steuerpflicht seiner Umsätze die rechtlichen Interessen des den Vorsteuerabzug begehrenden Leistungsempfängers berührt, der den Vorsteuerabzug aus diesen Leistungen begehrt. Der Leistungsempfänger kann deshalb zum Rechtsstreit des leistenden Unternehmers, in dem es um die Steuerbarkeit und Steuerpflicht dieser Leistungen geht, beigeladen werden. Dabei hat der BFH allerdings auch klargestellt, dass es sich nicht um einen Fall der notwendigen (§ 60 Abs. 3 FGO), sondern nur der einfachen Beiladung (§ 60 Abs. 1 FGO) handelt.29 Damit steht dem Finanzgericht im gerichtlichen Verfahren und der Finanzbehörde im Einspruchsverfahren ein Ermessen zu. Dessen Verletzung führt m. E. zu einem Verfahrensmangel, sodass bei Verletzung im finanzgerichtlichen Verfahren ein Revisionsgrund gegeben ist. Doch wiederum der BFH30 sah bei einem in der Nichtzulassungsbeschwerde gerügten Verstoß keine Notwendigkeit, die Revision zuzulassen.

28 BFH v. 1.2.2001 – V B 199/00, UR 2001, 216. 29 Vgl. hierzu aber im Zusammenspiel mit § 174 AO die Ausführungen unter 4. 30 BFH v. 19.2.2008 – XI B 205/07, BFH/NV 2008, 1210.

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b) Beiladung eines anderen Finanzamtes Die Entscheidung des EuGH in der Rechtssache ADV Allround verdeutlicht ein weiteres verfahrensrechtliches Dilemma, nämlich, ob Behörden in einem gerichtlichen Verfahren beigeladen werden können.31 Aufgrund der Leistungsbeziehungen zwischen Leistendem und Leistungsempfänger und den für die jeweiligen Vertragsparteien zuständigen Finanzbehörden kommt es regelmäßig zu einem Vier-Personenverhältnis mit jeweils unterschiedlichen Rechtsbeziehungen: Zum einen steuerrechtliche zwischen den beiden Unternehmern und ihren jeweiligen Finanzämtern sowie eine zivilrechtliche zwischen den beiden Unternehmern. Zwischen den regelmäßig involvierten Finanzämtern besteht keine Rechtsbeziehung. Diese Konstellation birgt die Gefahr divergierender Entscheidungen bezüglich der umsatzsteuerlichen Beurteilung. Die Divergenz kann entstehen durch sich widersprechende Entscheidungen der beiden Finanzbehörden, insbesondere wenn das Finanzamt des Leistenden die Leistung der Umsatzsteuer unterwirft und das Finanzamt des Leistungsempfängers den Vorsteuerabzug mangels (steuerbaren) Leistungsaustausches verweigert. Die Thematik ist auch der Finanzverwaltung bekannt und kommt in der Praxis häufiger als gedacht vor. Die Finanzverwaltung hat jedoch nur einen kleinen Anwendungsbereich geregelt.32 Ein solcher Sachverhalt lag auch der Entscheidung ADV Allround zugrunde:33 Im Streitfall erbrachte die Klägerin (ADV Allround) die Vermittlung selbständiger Lastkraftwagenfahrer an Speditionen mit Sitz in Deutschland und im übrigen Gemeinschaftsgebiet, insbesondere nach Italien. Die Klägerin stellte ihren Vertragspartnern Umsatzsteuer in Rechnung. Nachdem den italienischen Kunden seitens des Bundeszentralamts für Steuern mit dem Argument der mangelnden Steuerbarkeit (Leistungsort in Italien) der Vorsteuerabzug versagt wurde, erstattete sie ihren Vertragspartnern die von diesen bezahlte Umsatzsteuer. Sodann beantragte sie von ihrem Finanzamt eine Korrektur der von ihr abgeführten Umsatzsteuer. Das Finanzamt Hamburg versagte die Änderung des Umsatzsteuerbescheides sowie eine Rückzahlung mit dem Argument, dass die Leistungen – entgegen der Auffassung des Bundeszentralamts für Steuern – in Deutschland umsatzsteuerpflichtig seien. Das hierzu von der Klägerin angerufene Finanzgericht erkannte die Problematik, setzte das Verfahren aus und rief den EuGH u. a. mit folgenden Fragen an: 34 „… 2. Sind Art.  17 Abs.  1, Abs.  2 Buchst. a, Abs.  3 Buchst. a, Art.  18 Abs.  1 Buchst. a Sechste EG-Richtlinie (inzwischen Art. 167, Art. 168 Buchst. a, Art. 169 Buchst. a, Art. 178 Buchst. a MwStSystRL) dahin auszulegen, dass das nationale Verfahrensrecht Vorkehrungen treffen muss, dass die Steuerbarkeit und Steuerpflicht ein und derselben Leistung beim leistenden und 31 Eingehend zu der Thematik Weinschütz, EuZW 2012, 221. 32 OFD Hannover v. 9.10.2009, UR 2010, 188 zur Organschaft und Geschäftsveräußerung.; § 1 Abs. 3 StAuskV zur Frage der verbindlichen Auskunft bei Organschaftsverhältnissen. 33 EuGH v. 26.1.2012 – C-218/10, ADV Allround, UR 2012, 175 mit Anm. Burgmaier sowie Sterzinger. 34 FG Hamburg v. 20.4.2010 – 3 K 3/09, DStRE 2010, 1119.

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Stefan Heinrichshofen beim leistungsempfangenden Unternehmer gleich beurteilt wird, auch wenn für beide Unternehmen verschiedene Finanzbehörden zuständig sind? 3. Nur falls „Ja“ zu 2.: Sind Art. 17 Abs. 1, Abs. 2 Buchst. a, Abs. 3 Buchst. a, Art. 18 Abs. 1 Buchst. a dahin auszulegen, dass die Frist, binnen derer der Leistungsempfänger den Vorsteuerabzug für eine erhaltene Leistung geltend machen kann, nicht ablaufen darf, bevor über die Steuerbarkeit und Steuerpflicht gegenüber dem leistenden Unternehmer rechtskräftig entschieden ist?“

Der EuGH beantwortete die an ihn gerichtete zweite Frage wie folgt: „… 2. Art. 17 Abs. 1, Abs. 2 Buchst. a, Abs. 3 Buchst. a, Art. 18 Abs. 1 Buchst. a sind dahin auszulegen, dass sie den Mitgliedstaaten nicht vorschreiben, ihr nationales Verfahrensrecht so zu gestalten, dass die Steuerbarkeit und die Mehrwertsteuerpflicht einer Dienstleistung beim Leistungserbringer und beim Leistungsempfänger in kohärenter Weise beurteilt werden, auch wenn für sie verschiedene Finanzbehörden zuständig sind. Diese Bestimmungen verpflichten die Mitgliedstaaten jedoch, die zur Sicherstellung der korrekten Erhebung der Mehrwertsteuer und zur Wahrung des Grundsatzes der steuerlichen Neutralität erforderlichen Maßnahmen zu treffen.“

Unter Rz. 43 führte der EuGH aus, dass widersprechende Entscheidungen der verschiedenen Behörden und Gerichte eines Mitgliedstaats dazu führten, dass insbesondere der Grundsatz der steuerlichen Neutralität verletzt werde und dies als Verstoß gegen die Verpflichtung des Mitgliedstaats aus der Sechsten Richtlinie angesehen werden könne. Die Spruchpraxis der deutschen Finanzgerichtsbarkeit35 hingegen hat die Beiladung einer anderen Behörde als unzulässig angesehen. Die seinerzeitige pauschale Begründung kann m. E. nicht überzeugen bzw. verallgemeinert werden, da in jedem Einzelfall auf den jeweiligen Schutzzweck abgestellt werden muss.36 Dieser erfordert in den aufgezeigten Sachverhalten die Beiladung der Behörde. Insoweit ist es zu begrüßen, dass es durchaus auch fortschrittliche Richter gibt, die aus der Entscheidung des EuGH grundlegende verfahrensrechtliche Konsequenzen für die jeweilige Beurteilung ziehen, um widersprechende Entscheidungen desselben Sachverhalts auszuschließen. „Der Ausspruch des EuGH erfordert daher verfahrensrechtliche Vorkehrungen. Andere Möglichkeiten, sich widersprechende Entscheidungen rechtswirksam auszuschließen, als die Beiladung bzw. Hinzuziehung der jeweils anderen Finanzbehörde und des anderen Unternehmers, sind aber nicht ersichtlich.“37

Die bloße Beiladung des jeweils anderen Unternehmers ist zwar möglich, dieser kann sich auf eine für ihn günstige Entscheidung aber gleichwohl nicht berufen, weil sein eigenes Finanzamt nicht beteiligt war.38 35 BFH v. 23.11.1972 – VIII R 42/67, BFHE 108, 10; v. 23.1.2008 – IV B 38/07. 36 Burgmaier/Heinrichshofen, EU-UStB 2012, 14 (16 f.). 37 Weinschütz, EuZW 2012, 221. 38 FG Hamburg v. 20.4.2010 – 3 K 3/09, DStRE 2010, 1119.

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4. Widerstreitende Steuerfestsetzung (§ 174 AO) Eine der komplexesten Vorschriften der Abgabenordnung stellt nach Auffassung des Verfassers § 174 AO dar. Die Vorschrift enthält vier unterschiedliche Änderungstatbestände, bei deren Vorliegen die Bestandskraft von Steuerbescheiden durchbrochen werden darf. Allen ist gemein, dass die steuerliche Behandlung eines bestimmten Sachverhalts in einem Steuerbescheid der Behandlung in einem anderen Bescheid widerstreitet.39 § 174 Abs. 4 AO enthält zusätzlich eine darüber hinausgehende Änderungsmöglichkeit. Der Widerstreit kann ein positiver oder ein negativer sein. § 174 Abs. 5 AO regelt, dass eine Änderung auch gegenüber einem Dritten erfolgen kann, wenn dieser am Verfahren, das zur Anfechtung oder Änderung des fehlerhaften Steuerbescheides geführt hat, beteiligt wurde. Soweit ersichtlich, wird in der einschlägigen Kommentierung nicht erörtert, ob, und bejahendenfalls welche Änderungsmöglichkeiten im Verhältnis zwischen Leistendem und Leistungsempfänger eröffnet sind, wenn es um die Frage der Steuerbarkeit, Steuerpflicht u. a. geht und dies Auswirkungen auf den Vorsteuerabzug des Leistungsempfängers hat. Einzig aus der Kommentierung bei Rüsken40 kann geschlossen werden, dass eine solche Änderungsmöglichkeit auch zu Lasten des vorsteuerabzugsberechtigten Leistungsempfängers möglich ist, wenn der Leistende (nachträglich) erstreitet, dass seine Leistung nicht der Besteuerung oder nur einer Besteuerung mit dem ermäßigten Steuersatz zu unterwerfen ist. Dies entspricht auch dem Verständnis des BFH. In einem Urteil aus dem Jahre 198941 hat er entschieden, dass zu dem Rechtsstreit des leistenden Unternehmers der Leistungsempfänger, der die gesondert ausgewiesene Steuer für die an sein Unternehmen ausgeführten Lieferungen und sonstigen Leistungen als Vorsteuerbeträge abgezogen hat, gemäß § 174 Abs. 5 Satz 2 i. V. m. Abs. 4 Satz 1 AO auf Antrag des Finanzamts von dem Finanzgericht beizuladen ist, wenn die Unternehmereigenschaft des Leistenden in Frage steht. In dem Streitfall hatte der beigeladene Leistungsempfänger die Leistungen der Klägerin mittels Gutschrift umsatzsteuerpflichtig abgerechnet. Der BFH begründete seine Auffassung damit, dass zwar die Steuerschuld des Leistenden und der Vorsteuerabzug des Leitungsempfängers im Sinne einer gegenseitigen Abhängigkeit miteinander verknüpft seien, es hierauf jedoch für die Anwendung der Änderungsvorschrift des § 174 Abs. 4 AO und damit für die Möglichkeit einer Beiladung nach § 174 Abs. 5 Satz 2 AO nicht ankäme. Ausreichend sei, dass bei der – jeweils selbständig vorzunehmenden  – Prüfung der Steuerschuld des Leistenden und des Vorsteuerabzugs des Leistungsempfängers aus demselben Lebenssachverhalt, nämlich dem Auftreten des Leistenden nach außen, Folgerungen sowohl beim Leistenden als auch beim Leistungsempfänger zu ziehen seien, weil die Unternehmereigenschaft des Leistenden bei diesem Voraussetzung der Steuerpflicht, beim Leistungsempfän39 Rüsken in Klein, AO, § 174 Rz. 1. 40 Rüsken in Klein, AO, §  174 Rz.  4a: „Eine Ungereimtheit z. B., die darin liegt, dass der Rechtsgrund für eine Leistung beim Leistenden nicht in der gleichen Weise qualifiziert wurde wie beim Leistungsempfänger, kann nach Abs. 4 und Abs. 5 beseitigt werden, der es bei einer vom Stpfl. erstrittenen Aufhebung oder Änderung eines Steuerbescheids ermöglicht, auch gegenüber Dritten die richtigen steuerlichen Folgerungen zu ziehen.“ 41 BFH v. 20.4.1989 – V B 153/88, UR 1990, 15 = BStBl. II 1989, 539.

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Stefan Heinrichshofen

ger Voraussetzung des Vorsteuerabzugs sei. In der Entscheidung gelangte der BFH unter 2. weiter zu dem Ergebnis, dass der Beigeladenen die Rechtsstellung eines notwendig Beigeladenen i. S. des § 60 Abs. 3 FGO zukäme. Könnte man meinen, dass durch diese Entscheidung des BFH ein verlässlicher Rechtsschutz des Leistungsempfängers eingetreten ist, zeigt aber bereits eine Entscheidung des Finanzgerichts Münster42, dass dies in der Praxis nicht der Fall ist. In dem Streitfall war verfahrensrechtlich über die Frage der Bindungswirkung eines Steuerbescheides gegenüber einem im Verwaltungsverfahren hinzugezogenen Dritten zu entscheiden. Materiell-rechtlich ging es um die Wirksamkeit einer eine Nachbelastung des Leistungsempfängers mit Umsatzsteuer aufhebenden Rechnungsberichtigung. Der Leistungsempfänger hatte ursprünglich bestandskräftig Vorsteuer in Abzug gebracht. In der Praxis verschärft sich die Problematik, wenn der Leistungsempfänger bei Verlust des Vorsteuerabzugs seinen Rückzahlungsanspruch gegenüber seinem Vertragspartner nicht durchsetzen kann, insbesondere weil letzterer in Insolvenz gefallen ist. Obwohl der EuGH in einer ersten Grundsatzentscheidung43 klargestellt hatte, dass in Fällen, in denen die Erstattung der Mehrwertsteuer unmöglich oder übermäßig erschwert werde, die Mitgliedstaaten vorsehen müssten, dem Leistungsempfänger zu ermöglichen, die zu Unrecht in Rechnung gestellte Steuer erstattet zu erhalten, hat die deutsche Rechtsprechung in mehreren Entscheidungen vom selben Tag44 noch für keine Abhilfe gesorgt. Dabei schieben sich die für das Verfahrensrecht und das Umsatzsteuerrecht zuständigen Senate die Verantwortung für die letztendliche Lösung des Problems gegenseitig zu, ohne für die vom EuGH wiederholt45 angemahnte Neutralität zu sorgen. Da in der Praxis die Finanzämter im nachgelagerten Verfahren dem Leistungsempfänger einen Anspruch aus Billigkeitserwägungen versagen, bleibt der Leistungsempfänger auf dem Schaden sitzen. Hierüber ist aber glücklicherweise das letzte Wort noch nicht gesprochen. Bei der Lösung der Problematik gilt es m. E. ebenfalls zu bedenken, dass ein Direktanspruch des Leistungsempfängers regelmäßig zu einer niedrigeren Steuerbelastung des Fiskus führt als bei Ausspruch eines Abzugs auf Vorsteuer aus Billigkeitsgründen. Bei letzteren käme es einerseits zu einer Auszahlung der vom Leistenden berichtigten Umsatzsteuer und andererseits zu einem Vorsteuerabzug des Leistungsempfängers. Insoweit ist es wenig verwunderlich, dass der Fiskus an einem solchen Ergebnis kein Interesse hat. Natürlich beinhaltet die Thematik im Kern auch insolvenzrechtliche Aspekte. Aber gerade im zwischenunternehmerischen Bereich mit der Gefahr des Verlustes des Vorsteuerabzugs werden m. E. die insolvenzrechtlichen Grundsätze von den europarechtlichen Grundsätzen überlagert.

42 FG Münster v. 19.12.2000 – 15 K 5138/95 U, EFG 2001, 473. 43 EuGH v. 15.3.2007 – C-35/05 – Reemtsma Cigarettenfabriken GmbH, UR 2007, 343 mit Anm. Burgmaier. 44 BFH v. 30.6.2015 – VII R 30/14, UR 2015, 802. 45 EuGH v. 26.4.2017  – C-564/17  – Tibor Farkas, UR 2017, 438 = EU-UStB 2017, 25 mit Komm. Heinrichshofen.

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5. Das leidige Bauträgerthema und widerstreitende Steuerfestsetzungen Der BFH46 hat entschieden, dass Bauträger – entgegen der Auffassung der Finanzverwaltung Abschn. 13b.3 Abs. 8 S. 5 und 6 UStAE – im Regelfall keine Bauleistungen im Sinne von § 13b Abs. 2 Nr. 4 UStG erbringen, weil sie mit der Errichtung eines Bauwerks auf eigenem Grundstück keinen „fremden“ Gegenstand bearbeiten und deshalb keine Werklieferungen an ihren „Kunden“ ausführen. Zutreffend hatte das BMF in seinem Einführungsschreiben zum Übergang der Steuerschuldnerschaft47 die Auffassung vertreten, dass Bauträger mit ihren unter das Grunderwerbsteuergesetz fallenden Umsätzen keine Bauleistungen erbringen und deshalb kein Übergang der Steuerschuld stattfindet, wenn sie steuerpflichtige Bauleistungen beziehen. Mit dem BMF-Schreiben vom 16.10.2009 hat die Finanzverwaltung dann eine überraschende Wendung vollzogen, indem sie für die Beurteilung von Bauträgerleistungen nicht auf die Grunderwerbsteuerbarkeit des Vorgangs, sondern darauf abstellt, ob die Bauträgerleistungen als Werklieferungen im Sinne des § 3 Abs. 4 UStG zu qualifizieren seien. Diese Wertung wurde in dem BMF-Schreiben vom 11.3.2010 noch verdeutlicht. Da die Bauträger regelmäßig nicht zum Vorsteuerabzug berechtigt sind, führte der Übergang der Steuerschuld ohne Vorsteuerabzug bei ihnen zu einer Steuerbelastung. Hiergegen gingen die Bauträger mit dem Argument vor, dass die Voraussetzungen für einen Übergang der Steuerschuld nicht vorlagen, sodass sie von ihrem Finanzamt eine Erstattung der abgeführten Umsatzsteuer verlangten. Wie bekannt, behielten sie Recht, sodass dem Fiskus ein Milliardenschaden dadurch entstand, dass er an die Bauträger Umsatzsteuer zurückzahlen musste ohne den entsprechenden Betrag, insbesondere aus vertrauensschutzrechtlichen Gründen, bei den leistenden Bauhandwerkern festzusetzen konnte. Unabhängig von der die Problematik auslösenden Fehleinschätzung der Finanzverwaltung stellt sich auch bei dieser Thematik die Frage, ob ein solches Ergebnis durch geeignete verfahrensrechtliche Vorschriften hätte vermieden werden können. Dies gilt umso mehr, als die europäische Kommission48 plant, den Anwendungsbereich des Übergangs der Steuerschuld im zwischenunternehmerischen Bereich deutlich auszuweiten und dabei Ausnahmetatbestände unausweichlich bleiben. 6. Diskussionsvorschlag für einen Lösungsweg Der Verfasser sieht eine Möglichkeit, die aufgezeigten Schwierigkeiten und rechtsstaatlich nicht akzeptablen Unzulänglichkeiten durch ein gesondertes Feststellungsverfahren zu beseitigen. Die Vorschrift könnte folgenden Wortlaut haben: „§ 1 Abs. 1 UStG-E: Umsatzsteuerliche Besteuerungsgrundlagen im Sinne von § 1 Abs. 1 Nr. 1 und Abs. 1a UStG können auf Antrag eines am Leistungsaustausch Beteiligten oder von Amts wegen ganz oder 46 BFH v. 22.8.2013 – V R 37/10, BStBl. II 2014, 128 = UR 2011, 671. 47 BMF v. 31.3.2014, BStBl. I 2004, 1129. 48 Mitteilung der Kommission v. 4.10.2017 an das Europäische Parlament, den Rat und den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss über Follow-up zum Aktionsplan im Bereich der Mehrwertsteuer, hhtp://ec.europa/taxation_customs/sites/taxation/files/commu​ nication_towards-a-single-vat-area.de.pdf

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Stefan Heinrichshofen teilweise gesondert festgestellt werden, wenn die Besteuerungsgrundlagen von den am Leistungsaustausch beteiligten Personen und/oder von einer für die Festsetzung der Umsatzsteuer bei den beteiligten Personen zuständigen Finanzbehörde unterschiedlich beurteilt werden (streitiger Sachverhalt). Ist der streitige Sachverhalt nur zwischen zwei am Leistungsaustausch beteiligten Personen streitig, so ist für die Feststellung das Finanzamt des Leistenden bzw. sofern der Leistungsempfänger Steuerschuldner der Umsatzsteuer ist, das Finanzamt des Leistungsempfängers zuständig; in allen übrigen Fällen das Finanzamt, bei dem der Antrag als erstes eingeht. Soweit sich aus den vorgenannten Regelungen nichts anderes ergibt, gelten im Übrigen die Vorschriften über die gesonderte Feststellung entsprechend.“

Aus Sicht der Finanzverwaltung könnte der Einwand erhoben werden können, dass die Ausdehnung des Feststellungsverfahrens zu einer Mehrbelastung der Finanzverwaltung führen würde, die ohne zusätzliches Personal nicht bewältigt werden könne. Diese Einschätzung wird von dem Verfasser nicht geteilt, da die aufgezeigten sich widersprechenden Steuerfestsetzungen bei deren Feststellung durch die Parteien zu gerichtlichen Verfahren führen. Die in diesen Verfahren von der Finanzverwaltung aufzubringenden Ressourcen dürften m. E. ein Vielfaches höher sein als die im Rahmen eines Feststellungsverfahrens. Hinzu kommt, dass durch ein solches Feststellungsverfahren die unter Ziffer 5 aufgezeigten Nachteile für den Fiskus im Wesentlichen vermieden werden könnten. Auf diese Weise wird auch den Vorgaben des EuGH entsprochen. Abschließend soll überprüft werden, ob die oben unter Ziffer 1. bis 5. aufgezeigten verfahrensrechtlichen Probleme durch den Lösungsvorschlag entfallen oder zumindest deutlich reduziert würden: Die unter Ziffer 1 aufgezeigte Thematik entschärft sich vollumfänglich, da für den Leistungsempfänger durch den Antrag auf Feststellung kein Bedürfnis mehr bestünde, den Umsatzsteuerbescheid seines Vertragspartners anzufechten. Durch das vorgeschlagene Feststellungsverfahren entfällt auch die Notwendigkeit der Erhebung einer Feststellungsklage. Selbiges gilt für die unter Ziffer 3. dargestellte Problematik der Hinzuziehung/Beiladung. Der Feststellungsbescheid bindet die Finanzämter der am Leistungsaustausch beteiligten Parteien. Auch die unter 4. erörterte Problematik, unter welchen Voraussetzungen es zu einer Änderungsmöglichkeit nach §  174 AO kommt, entfiele. Schließlich würden auch unterschiedliche Beurteilungen bezüglich des Anwendungsbereichs des Übergangs der Steuerschuld gelöst werden.

IV. Ausblick und Wunsch Der Verfasser hegt als Liebhaber der Umsatzsteuer den innigen Wunsch, dass der Reformvorschlag die aufgezeigte Problematik lösen möge und sie stärker in das Blickfeld der Öffentlichkeit ruft. Die Umsatzsteuer, als Königin der Steuern, soll nämlich weitere 100 Jahre, insbesondere für vorsteuerabzugsberechtigte Leistungsempfänger, neutral und verfahrensrechtlich fair regieren und dem Rechtsstaat sprudelnde Einnahmen bescheren. Der Verfasser als Organ der Rechtspflege appelliert an dieser Stelle an den Staat, sich bei seinen Entscheidungen stets ins Gedächtnis zu rufen, dass er sich der Unternehmer als Steuereinsammler bedient. Er bürdet ihnen zunehmend 234

Unzulässige verfahrensrechtliche und prozessuale Einschränkungen

Aufgaben und Lasten auf. Anders als große Konzerne können insbesondere kleinere Unternehmen diese nicht bzw. allenfalls nur eingeschränkt bewältigen. Deshalb sollte der Staat nicht nur seine (unmittelbar) Bediensteten, wie Richter und Beamte, (übermäßig) schützen, sondern auch die Unternehmer als seine Steuereinsammler in den Schutz miteinbeziehen. Hierzu gehören m. E. insbesondere ein offener Umgang und Kommunikation zwischen Finanzverwaltung und Steuerpflichtigen, speziell bei ­komplexen Rechtsfragen, vertrauensschutzbildende Maßnahmen und endlich die Abschaffung der Festsetzung von Nachzahlungszinsen jedenfalls im zwischenunternehmerischen Bereich mit korrespondierendem Recht auf Vorsteuerabzug. Sich des Unternehmers als Steuereinsammlers zu bedienen, ihn bei objektiver Verkürzung pauschal der Steuerhinterziehung zu bezichtigen und zwar ohne eingehende Prüfung des Tatbestandsmerkmals des Vorsatzes, führt nach meinem Verständnis bei der Komplexität des Steuerrechts zu einem Verstoß gegen ein faires Verfahren. Dies sollten sich unsere Staatsbediensteten (stärker) in Erinnerung rufen. Darüber hinaus wäre es für die Politik beispielhaft, mit diesen Einnahmen nachhaltig und besonnen mit Blick auf die nächste Generation umzugehen. Wenn dem so geschieht, bringt die Umsatzsteuer nur Gewinner zum Vorschein. Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, liebe Umsatzsteuer!

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Hans-Michael Wolffgang

Erlöschenstatbestände im Zollrecht – Konnexität zwischen Zoll und Einfuhrumsatzsteuer? Inhaltsübersicht I. Vorbemerkung II. Entstehung der Zollschuld und Zollschuldner 1. Reguläre Einfuhr 2. Irreguläre Einfuhr III. Erlöschen der Zollschuld

IV. Sinngemäße Anwendung der Zollvorschriften für die Einfuhrumsatzsteuer 1. Allgemeines 2. Ausschluss der sinngemäßen Anwendung 3. Sinngemäße Anwendung a) Entstehung der EUSt-Schuld und ­Abgabenschuldner b) Erlöschen der EUSt-Schuld V. Fazit

I. Vorbemerkung Gibt es eine generelle Konnexität zwischen Zoll und (Einfuhr-)Umsatzsteuer? In der Vergangenheit wurde wie selbstverständlich angenommen, dass zollrechtliche Bestimmungen generell Anwendung auch auf die Einfuhrumsatzsteuer (EUSt) finden – die EUSt mithin eine Art Appendix des Zolls darstelle und von diesem abhängig sei. War die Zollschuld entstanden, wurde ohne weitere Differenzierung auch die Entstehung der EUSt-Schuld angenommen.1 Der Europäische Gerichtshof hatte erstmalig 1984 Überlegungen zur Vergleichbarkeit von Zoll und EUSt angestellt; beide sollten nach Auffassung des EuGH auf der Grundlage einer Einfuhr in die Gemeinschaft und der sich anschließenden Überführung in den Wirtschaftskreislauf der Mitgliedstaaten entstehen.2 Diese Parallelität rechtfertige es, den Steuertatbestand und die Entstehung des Steueranspruchs der EUSt mit dem Tatbestand und der Entstehung des Zollanspruchs zu verknüpfen. In besagtem Urteil war der tatsächliche Eingang der Waren in den Handels- und Wirtschaftskreislauf allerdings unstreitig unmöglich, da es sich um Betäubungsmittel handelte. Einige Jahre später stand zur Diskussion, ob ein Eingang von Waren in den Wirtschaftskreislauf vorliege, wenn Waren an der Außengrenze von den Zollbehör-

1 Dazu Wolffgang, UR 2017, 845. 2 EuGH, Urt. v. 28.2.1984  – C-294/82  – Einberger, Slg. 1984, 1177  – Rz.  18 und Urt. v. 6.12.1990 – C-343/89 – Witzemann, Slg. 1990, I-4477 – Rz. 18; EuGH, Urt. v. 29.4.2010 – C-230/08 – Dansk Transport og Logistik. So auch EuGH, Schlussanträge des GA Mengozzi v. 22.5.2012 – C-165/11 – Profitube, ECLI:EU:C:2012:301.

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Hans-Michael Wolffgang

den beschlagnahmt und eingezogen werden, welches der EUGH verneint hat.3 Insofern scheint es grundsätzlich keine neue Erkenntnis zu sein, den Mehrwertsteueran­ spruch im Fall der Einfuhr von einem tatsächlichen Eingang in den Wirtschaftskreislauf der Union abhängig zu machen. Ungeachtet dieser ersten Signale zur Notwendigkeit, die generelle Konnexität von Zoll und EUSt auf den Prüfstand zu stellen, sind Rechtsprechung und Literatur in der Folge weiterhin davon ausgegangen, dass jegliche Entstehung einer Einfuhrzollschuld parallel zum Eintritt des Mehrwertsteueranspruchs der EUSt führe.4 Bemerkenswerterweise hat der EuGH mit Urt. v. 15.5.2014 in der Rs. X sogar entschieden, dass in dem Fall jedoch, in dem diese Waren zum Zeitpunkt ihrer Wiederausfuhr aufgrund des Entstehens einer Zollschuld diesen Regelungen bereits nicht mehr unterliegen, … davon auszugehen (ist), dass sie Gegenstand einer Einfuhr im Sinne von Art. 2 Nr. 2 der Sechsten Richtlinie waren.5

Im Juni 2016 – und damit mehr als 30 Jahre nach den ersten Entscheidungen zu dieser Thematik – hat der EuGH6 die Weichen richtig gestellt und das Ende der strikten Konnexität zwischen zollrechtlicher Einfuhr und Entstehung der Einfuhrumsatzsteuer eingeläutet.7 Nach neuester Rechtsprechung8 soll nur noch dann eine Entstehung auch der Einfuhrumsatzsteuer anzunehmen sein, wenn die Gegenstände in den freien Verkehr der Union, d.h. zu einem potentiellen „Verbrauch“ in den Wirtschaftskreislauf, gelangt sind. Eine solche Gefährdungslage sei nunmehr für die Verwirklichung des Tatbestandes der EUSt entscheidend. Mithin komme es auch in Fällen irregulärer Einfuhren, in denen nachweislich kein Verbrauch der Gegenstände im Unionsgebiet stattgefunden hat bzw. dieser ausgeschlossen werden kann, konsequenterweise nicht (mehr) zur Entstehung der Einfuhrumsatzsteuer.

3 EuGH, Schlussanträge der GAin Trstenjak v. 3.9.2009  – C-230/08  – Dansk Transport og Logistik, ECLI:EU:C:2009:510. 4 BFH, Urt. v. 26.4.1972 – VII R 109/69, BFHE 105, 545; BFH, Urt. v. 26.4.1988 – VII R 124/85, BFHE 153, 463; BFH, Urt. v. 3.5.1990 – VII R 71/88, BFHE 161, 260; BFH, Urt. v. 13.11.2001 – VII R 88/00, BFHE 196, 383 = UR 2002, 376; BFH, Urt. v. 23.9.2009 – VII R 44/08, BStBl. II 2010 = UR 2010, 120, 334; FG München, Urt. v. 28.6. 2012 – 14 K 298/11, ZfZ Beilage 2013, Nr 1, 1; EuGH, Urt. v. 11.7.2013 – C-273/12 – Harry Winston, ZfZ 2014, 22. 5 EuGH, Urt. v. 15.5.2014  – C-480/12  – X, ZfZ 2014, 221–224. Dazu Duyfjes/von Streit, ­EU-UStB 2014, 54-56. 6 EuGH, Urt. v. 2.6.2016  – C-226/14 und C-228/14  – Eurogate Distribution und DHL, ECLI:EU:C:2016:405 = UR 2016, 557. 7 Dazu ausführlich Wolffgang, UR 2017, 845. 8 EuGH, Urt. v. 18.5.2017  – C-154/16  – Latvijas dzelzceļš, UR 2017, 472 = ZfZ 2017, 241; EuGH, Urt. v. 1.6.2017 – C-571/15 – Wallenborn, UR 2017, 513 = ZfZ 2017, 238; FG Düsseldorf, Urt. v. 20.6.2016 – 4 K 2955/15 Z; FG Hessen, Urt. v. 27.9.2016 – 7 K 1863/13, ZfZ Beilage 2017, Nr 2, 25; FG Hamburg, Urt. v. 12.10.2016 – 4 K 113/15; FG München, Urt. v. 9.3.2017 – 14 K 2434/16; FG Hessen, Urt. v. 11.7.2017 – 7 K 433/15; FG Hessen, Vorlagebeschluss v. 2.11.2017 – 7 K 1158/14.

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Erlöschenstatbestände im Zollrecht

II. Entstehung der Zollschuld und Zollschuldner Zum 1.5.2016 ist der UZK9 vollständig in Kraft getreten und hat den ZK10 und die ZK-DVO11 als unionsrechtliche Basisrechtsakte abgelöst. Die aufgrund der Änderung des Vertrags von Lissabon erforderlichen beiden Durchführungsbestimmungen  – Delegierte Verordnung (EU) 2015/244612 (DelVO) und Durchführungsverordnung (EU) 2015/244713 (DVO) – sind ebenfalls am 1.5.2016 anwendbar geworden. Einfuhrseitig sind zollschuldrechtliche Tatbestände insbesondere in den Art. 77 und 79 UZK vorgesehen. Klassischer Tatbestand der Zollschuldentstehung ist dabei die Überlassung von einfuhrabgabenpflichtigen Waren zum zollrechtlich freien Verkehr oder in das Verfahren der vorübergehenden Verwendung mit Teilverzollung (Art. 77 UZK – hier als „reguläre“ Einfuhr bezeichnet). Sofern Einführer bestimmte Pflichten nicht erfüllen bzw. Voraussetzungen für die Überführung von Waren in bestimmten Fällen nicht gegeben sind, entsteht die Einfuhrzollschuld nach Art. 79 UZK (hier als „irreguläre“ Einfuhr bezeichnet). Anknüpfungspunkt für die Zollschuldentstehung ist im UZK wie nach altem Recht das Vorliegen einer einfuhrabgabenpflichtigen Ware.14 1. Reguläre Einfuhr Eine Einfuhrzollschuld entsteht mit der Überlassung einer einfuhrabgabenpflichtigen Ware entweder zum zollrechtlich freien Verkehr (Art. 77 Abs. 1 Buchst. a UZK) oder zur vorübergehenden Verwendung unter teilweiser Befreiung von den Einfuhrabgaben (Art. 77 Abs. 1 Buchst. b UZK). Einfuhrabgaben sind gem. Art. 5 Nr. 20 UZK die für die Einfuhr von Waren zu entrichtenden Abgaben und umfassen Zölle und Abgaben gleicher Wirkung, nicht hingegen jedoch die Einfuhrumsatzsteuer.15

9 Verordnung (EU) Nr.  952/2013 v. 9.10.2013 zur Festlegung des Zollkodex der Union, ­ABlEU Nr. l 269/1. 10 Verordnung (EWG) Nr. 2913/92 des Rates v. 12.10.1992 zur Festlegung des Zollkodex der Gemeinschaften, AblEG 1992 Nr. L 302/1, aufgehoben durch Art. 286 Abs. 2, 288 Abs. 2 UZK mit Wirkung ab dem 1.5.2016. 11 Verordnung (EWG) Nr. 2454/93 der Kommission v. 2.7.1993 mit Durchführungsvorschriften zu der Verordnung (EWG) Nr.  2913/92 des Rates zur Festlegung des Zollkodex der Gemeinschaften, Abl. EG 1993, Nr. L 253/1. 12 Delegierte Verordnung (EU) 2015/2446 der Kommission v. 28.7.2015 zur Ergänzung der Verordnung (EU) Nr. 952/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates mit Einzelheiten zur Präzisierung von Bestimmungen des Zollkodex der Union, Abl. Nr.  L 343 v. 29.12.2015, S. 1. 13 Durchführungsverordnung (EU) 2015/2447 der Kommission v. 24.11.2015 mit Einzelheiten zur Umsetzung von Bestimmungen der Verordnung (EU) Nr. 952/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates zur Festlegung des Zollkodex der Union, Abl. Nr. L 343 v. 29.12.2015, S. 558. 14 Witte in Witte/Wolffgang, Lehrbuch des Zollrechts der Europäischen Union, Rz. 1102. 15 Lux in Dorsch, Zollrecht, Art. 5 UZK Rz. 72.

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Zollschuldner ist gemäß Art. 77 Abs. 3 UAbs. 1 Satz 1 UZK der Anmelder; im Falle einer indirekten Vertretung ist auch die Person Zollschuldner, in deren Auftrag die Zollanmeldung abgegeben wurde (Art. 77 Abs. 3 UAbs. 1 Satz 2 UZK). Unter einem Anmelder versteht man im Zollrecht gem. Art. 5 Nr. 15 UZK denjenigen, der im eigenen Namen Waren zu einem Zollverfahren anmeldet oder aber derjenige, in dessen Namen Waren zu einem Zollverfahren angemeldet werden. Der Anmelder ist mithin nicht zwingend die im Rahmen der Zollabfertigung gegenüber den Zollbehörden agierende Person, sondern derjenige, der von den Rechtswirkungen einer Zollanmeldung und damit im Regelfall der Entstehung der Abgabenschuld betroffen wird. Das Zollrecht knüpft für die Eigenschaft als Abgabenschuldner mithin ausschließlich an die Förmlichkeit der Abgabe einer Zollanmeldung an. Eigentumsverhältnisse oder Verfügungsrechte an den einzuführenden Waren im Zeitpunkt der Einfuhr sind unter zollrechtlichen Gesichtspunkten nicht von Bedeutung.16 Ebenfalls irrelevant für die Befugnis, Waren zum freien Verkehr abfertigen lassen zu können, ist die umsatzsteuerliche Verfügungsmacht. Somit besteht die Möglichkeit der Zollabfertigung im Inland auch durch eine Person, der keinerlei Verfügungsrechte an einer Ware zustehen, wie z.B. einen Logistiker oder Zollvertreter. Beschränkt wird das Recht, im Rahmen der Zollabfertigung als Anmelder aufzutreten und eine Zollanmeldung abzugeben, lediglich durch Art. 170 Abs. 2 UZK, welcher die Ansässigkeit des Anmelder im Zollgebiet der Union fordert. Seit Inkrafttreten des UZK wird der Datenlieferant über Art. 77 Abs. 3 UAbs. 2 UZK als Zollschuldner festgelegt, soweit er wusste oder vernünftigerweise hätte wissen können, dass die zugrundeliegenden Angaben für eine Zollanmeldung, aufgrund derer die Einfuhrabgaben nach Art. 77 Abs. 1 UZK nicht oder nur teilweise erhoben wurden, unrichtig waren. Für die Feststellung, ob der Datenlieferant dieses Wissen hatte oder hätte haben können, wird auf das Verhalten eines verständigen und sorgfältigen Wirtschaftsteilnehmers abgestellt. Art. 77 Abs. 2 UZK geht von der Zollschuldentstehung im Zeitpunkt der Annahme der Zollanmeldung (Art.  172 UZK) aus. Dieser Zeitpunkt ist gem. Art.  85 UZK Grundlage für die Bemessung des Abgabenbetrages. 2. Irreguläre Einfuhr Art.  79 UZK regelt die Zollschuldentstehung aufgrund fehlerhaften Verhaltens des Zollschuldners und fasst die ehemals in Art. 202-205 ZK geregelten Verstöße in einer Norm zusammen. Die Bestimmung beinhaltet nunmehr drei verschiedene Fallgruppen. Die Einfuhrzollschuld für einfuhrabgabenpflichtige Waren entsteht bei irregulären Einfuhren in den Fällen, in denen ȤȤ eine der in den zollrechtlichen Vorschriften festgelegten Verpflichtungen in Bezug auf das Verbringen von Nicht-Unionswaren in das Zollgebiet der Union, auf das Entziehen dieser Waren aus der zollamtlichen Überwachung oder auf die Beförderung, Veredelung, Lagerung, vorübergehende Verwahrung, vorübergehende Verwendung oder Verwertung dieser Ware in diesem Gebiet (Buchst. a), 16 Harksen, BB 2013, 2144.

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Erlöschenstatbestände im Zollrecht

ȤȤ in Bezug auf die Endverwendung von Waren innerhalb des Zollgebiets der Union nicht erfüllt ist (Buchst. b) oder ȤȤ eine Voraussetzung für die Überführung von Nicht-Unionswaren in ein Zoll­ verfahren oder für die Gewährung der vollständigen oder teilweisen Befreiung von Einfuhrabgaben aufgrund der Endverwendung der Waren nicht gegeben ist (Buchst. c). Entsteht die Zollschuld auf der Grundlage einer Verfehlung, so sind Schuldner der Zollabgaben grds. diejenigen, die die zollrechtlichen Verpflichtungen zu erfüllen gehabt hätten, Art. 79 Abs. 3 UZK.

III. Erlöschen der Zollschuld Ist eine Zollschuld regulärer als auch irregulärer Natur entstanden, so konnte diese bereits nach altem Recht unter bestimmten Bedingungen erlöschen. Art.124 UZK, der sämtliche Erlöschenstatbestände nunmehr abschließend regelt,17 hat die zollrechtlichen Erlöschenstatbestände der Art. 232 und 234 ZK im Wesentlichen übernommen und deren Anwendungsbereich erweitert18, um „dem guten Glauben des Beteiligten in den Fällen, in denen eine Zollschuld auf einer Nichteinhaltung zollrechtlicher Vorschriften beruht, Rechnung zu tragen und die Folgen fahrlässigen Verhaltens des Zollschuldners auf ein Mindestmaß abzumildern.“19 Bestehende Erlöschenstatbestände wurden dabei ergänzt und konkretisiert sowie gänzlich neue Erlöschenstatbestände geschaffen.20 Systematisch besteht dabei der Unterschied, dass die im alten Recht in Art. 859 ZK-DVO ausschließlich für Fälle der Zollschuldentstehung nach Art. 204 ZK vorgesehene Möglichkeit der Heilung, die zu einem Entfallen der Zollschuld durch Heilung derselben führte, nunmehr durch ein Erlöschen der Zollschuld für sämtliche Unregelmäßigkeitstatbestände ersetzt worden ist. Ein Erlöschen lässt im Gegensatz zu einer Heilung die einmal entstandene Zollschuld allerdings nicht entfallen, sondern beseitigt diese erst zu dem Zeitpunkt, zu welchem der Tatbestand des Erlöschens erfüllt ist. Die Zollschuld erlischt durch ȤȤ Verjährung der Zollschuld (Art. 124 Abs. 1 Buchst. a UZK) Sofern Zollschulden verjährt sind, dürfen diese nicht mehr mitgeteilt werden. In diesem Fall erlischt die Zollschuld. 17 VSF Z 1102 – Dienstvorschrift Zollschuld – Abs. 401; Lux, ZfZ 2014, 243 ff. 18 Deimel in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO, Art. 124 UZK Rz. 1. 19 Erwägungsgrund 38 zum UZK; dazu Witte in Gerda Koszinowski (Hrsg.), Unionszollkodex und Entwicklungen im internationalen Handel, Tagungsband des 26. Europäischen Zollrechtstags des EFA am 26. und 27.6.2014 in Esslingen, Köln, 2015, S. 17 (18). 20 Trennt, AW-Prax 2016, 229.

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ȤȤ Entrichtung des Abgabenbetrages (Art. 124 Abs. 1 Buchst. b UZK) Die Zahlung des Abgabenbetrages ist gem. Art. 109 Abs. 1 UZK in bar oder mit einem anderen Zahlungsmittel möglich, das schuldbefreiende Wirkung hat.21 Die Aufrechnung ist nach Art. 109 Abs. 1 UZK i.V.m. § 226 AO ebenfalls möglich.22 Der Zollschuldner muss die Abgaben nach Art. 109 Abs. 2 UZK nicht persönlich entrichten; vielmehr kann eine Zahlung der Abgaben auch durch Dritte, wie z.B. einen Dienstleister oder Zollvertreter erfolgen. Schulden mehrere Zollschuldner die Abgaben gesamtschuldnerisch (Art.  84 UZK), so erlischt die Zollschuld bei Entrichtung der Zollabgaben durch nur einen der Gesamtschuldner auch für die anderen Zollschuldner.23 ȤȤ Erlass des Abgabenbetrages (Art.124 Abs. 1 Buchst. c UZK) Der Erlass des Abgabenbetrages führt zum Erlöschen einer festgesetzten und mitgeteilten, aber noch nicht entrichteten Zollschuld.24 Gem. Art. 5 Nr. 29 UZK ist unter einem Erlass die Befreiung von der Verpflichtung zur Entrichtung eines noch nicht entrichteten Abgabenbetrages zu verstehen. Sofern mehrere Personen zur Entrichtung des Abgabenbetrages verpflichtet sind und diese erlassen werden, erlischt die Zollschuld gem. Art. 124 Abs. 5 UZK nur für die Personen, denen der Erlass gewährt wird.25 ȤȤ Ungültigerklärung der Zollanmeldung (Art. 124 Abs. 1 Buchst. d UZK) Wird eine Zollanmeldung zur Überlassung von Waren zum freien Verkehr oder zur vorübergehenden Verwendung unter Entstehung der Abgabenschuld nach Art. 77 UZK abgegeben und stellt der Anmelder vor Überlassung der Waren bei den Zollbehörden einen Antrag auf Ungültigerklärung der Zollanmeldung, so erlischt die Zollschuld. Neben der Beseitigung der Abgabenschuld wird ein mit der Zollanmeldung ausgelöster Statuswechsel der Waren gem. Art. 154 Buchst. d UZK rückgängig gemacht, so dass aus einer Unionsware wieder eine Nicht-Unionsware wird.26 Einziehung oder Beschlagnahme (Art. 124 Abs. 1 Buchst. e UZK) Wird die Ware eingezogen oder beschlagnahmt und gleichzeitig oder später eingezogen, erlischt die Zollschuld unabhängig von der Art des Pflichtverstoßes und nach dem UZK unabhängig vom Zeitpunkt der Beschlagnahme.27 In der Vorgän21 Witte in Witte, Art. 109 UZK Rz. 1. 22 Witte in Witte, Art. 109 UZK, Rz. 1; Gellert in Dorsch, Zollrecht, Art. 109 UZK Rz. 7. 23 Gellert in Dorsch, Zollrecht, Art. 124 UZK Rz. 5. 24 Henke in Witte/Henke/Kammerzell, Unionszollkodex, S. 128. 25 So auch zur Vorgängerregelung des Art.  233 ZK bereits der EuGH, Urt. v. 17.2.2011  – C-78/10 – Berel, Slg 2011, I-717-771 mit Hinweis auf den Schutz der finanziellen Interessen der EU und Witte in Witte, Art. 233 ZK Rz. 12. 26 Gellert in Dorsch, Zollrecht, Art. 124 UZK Rz. 9. 27 Witte in Gerda Koszinowski (Hrsg.), Unionszollkodex und Entwicklungen im interna­ tionalen Handel, Tagungsband des 26. Europäischen Zollrechtstags des EFA am 26. und 27.6.2014 in Esslingen, Köln, 2015, S. 17 ff.; Deimel in Hübschmann/Hepp/Spitaler, UZK, Art. 124 Rz. 42.

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gerregelung der Art. 233 UAbs. 1 Buchst. c, 2. Anstrich und Buchst. d ZK war wesentlich, zu welchem Zeitpunkt die Waren beschlagnahmt wurden.28 Die Zollschuld erlischt nunmehr im Zeitpunkt der Einziehung. Unter einer Beschlagnahme versteht man einen Eingriff zur Übernahme der tatsächlichen (vorläufigen) Sachherrschaft durch die zuständigen Behörden, mit dem die Waren sichergestellt werden und ihr Eintritt in den Wirtschaftskreislauf der Mitgliedstaaten materiell verhindert wird.29 Einziehung ist der dauernde Entzug der Verfügungsmacht über eine Ware, um zu verhindern, dass mit diesen Waren im Wirtschaftskreislauf der Union ohne Entrichtung der Einfuhrabgaben gehandelt wird.30 Sofern Waren beschlagnahmt werden und davon auszugehen ist, dass diese nicht eingezogen werden, erlischt die Zollschuld nicht. Die Waren werden nach Entrichtung der Einfuhrabgaben herausgegeben. Eine Ware, für die die Zollschuld durch Einziehung erloschen ist, bleibt Nicht-Unionsware, solange sie nicht in den zollrechtlich freien Verkehr übergeführt wird, Art. 201 UZK i. V. m. Art. 250 DelVO. ȤȤ Zerstörung oder Aufgabe zugunsten der Staatskasse (Art.  124 Abs.  2 Buchst. f UZK) In der Vergangenheit spielte dieser Erlöschensgrund in der deutschen Praxis keine Rolle.31 Nunmehr erlischt die Zollschuld auf der Grundlage der unionseinheitlichen Regelung, wenn die Zollbehörden selbige zuvor genehmigt haben, Art. 199 UZK, Art. 249 DVO. ȤȤ Unvorhergesehene Ereignisse und höhere Gewalt (Art.124 Abs. 1 Buchst. g UZK) Verschwinden Waren oder ist die Nichterfüllung der zollrechtlichen Verpflichtungen darauf zurückzuführen, dass die betreffenden Waren ȤȤ aufgrund ihrer Beschaffenheit ȤȤ infolge unvorhersehbarer Ereignisse ȤȤ höherer Gewalt32 oder ȤȤ auf Anweisung der Zollbehörden vollständig zerstört worden oder unwiederbringlich verloren gegangen sind, so erlischt die Zollschuld. Zerstört ist eine Ware dann, wenn sie nicht mehr bestim28 Lux, ZfZ 2014, 243 (250). 29 EuGH, Urt. v. 29.4.2010  – C-230/08  – Dansk Transport og Logistik, Slg. 2010, I-3799, Rz. 61; EuGH, Urt. v. 2.4.2009 – C-459/07 – Elshani, Slg. 2009, I-2759, Rz. 29; Deimel in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO, Art. 124 UZK Rz. 43. 30 Witte in Witte, Art. 124 UZK Rz. 21; EuGH, Urt. v. 29.4.2010 – C-230/08 – Dansk Transport og Logistik, Slg. 2010, I-3799, Rz. 63. 31 Witte in Witte, Art. 233 ZK Rz. 21. 32 Zu den Begriffen „höhere Gewalt“ und „Zufall“ im Sinne der Vorgängerregelung des Art.  206 Abs.  1 ZK, EuGH, Urt. v. 14.6.2012  – C-533/10  – CIVAD, EU:C:2012:347, v. 4.2.2016 – C-659/13 und C-34/14 – C & J Clark International und Puma, EU:C:2016:74, Rz. 190 und 191 und v. 25.1.2017 – C-640/15 – Vilkas, EU:C:2017:39, Rz. 56.

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mungsgemäß verwendet werden kann, aber noch verwertbare Reste oder Abfälle verblieben sind. Als unwiederbringlich verloren ist eine Ware dann anzusehen, wenn sie von niemanden mehr zu verwenden ist.33 Bestimmte Verstöße, die zum Entstehen einer Zollschuld geführt haben, werden gleichsam als zollschuldrechtlich unbeachtlich angesehen, da ein Festhalten an der Zollschuld zu einem unbilligen Ergebnis führen würde. In dieser Fallgruppe ist allerdings entscheidend, dass die Ware im Zeitpunkt des maßgeblichen Ereignisses noch nicht zum freien Verkehr überlassen worden und diese mithin noch nicht in den Wirtschaftskreislauf eingegangen ist.34 ȤȤ Verstöße ohne erhebliche Auswirkungen (Art. 124 Abs. 1 Buchst. h UZK) Ist eine Einfuhrzollschuld aufgrund einer Unregelmäßigkeit (Art.  79 UZK) entstanden, so erlischt die Zollschuld, wenn die folgenden Voraussetzungen kumulativ vorliegen: ȤȤ der Verstoß hat sich nicht erheblich auf die ordnungsgemäße Abwicklung des Verfahrens ausgewirkt ȤȤ es liegt kein Täuschungsversuch vor ȤȤ es werden nachträglich alle notwendigen Formalitäten erfüllt, um die Situation der Ware zu bereinigen. Art. 124 Abs. 1 Buchst. h UZK führt den Gedanken der bislang auf Pflichtverletzung des Art.  204 ZK limitierten Heilungsmöglichkeiten des Art.  859 ZK-DVO fort und dehnt diesen auf sämtliche Fälle einer Unregelmäßigkeit aus. Da der ­Begriff des Täuschungsversuchs ein vorsätzliches Zuwiderhandeln gegen Vorschriften35 voraussetzt, besteht die Möglichkeit des Erlöschens bis zur Grenze des Täuschungsversuchs.36 Die Fälle, in denen sich Verstöße nicht wesentlich auf die ordnungsgemäße Abwicklung eines Zollverfahrens ausgewirkt haben, sind in Art. 103 DelVO geregelt.37 Dabei handelt es sich um die folgenden: ȤȤ Fristüberschreitung um einen Zeitraum, der nicht länger war als die Verlängerung, die bei einem Antrag auf Verlängerung gewährt worden wäre (Art. 103 Buchst. a DelVO); ȤȤ Waren, die in ein besonderes Verfahren oder die vorübergehende Verwahrung übergeführt worden sind und für welche eine Zollschuld nach Art. 79 Abs. 1 Buchst. a oder c UZK entstanden ist, wurden anschließend zum zollrechtlich freien Verkehr überlassen (Art. 103 Buchst. b DelVO); 33 Witte in Witte, Art.  124 UZK Rz.  31; Deimel in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO, Art. 124 UZK Rz. 53. 34 Gellert in Dorsch, Zollrecht, Art. 124 UZK Rz. 18. 35 VSF Z 0901 Zollschuldrecht, Rz. 106. 36 Witte in Witte/Wolffgang, Lehrbuch des Zollrechts der Europäischen Union, Kap. E, Rz. 1170. 37 Vgl. EuGH, Urt. v. 11.11.1999 – C-48/98 – Söhl & Söhlke, Slg. 1999, I-7877 zu Art. 859 ­ZK-DVO. Bartone in Krenzler/Herrmann/Niestedt, UZK, Art. 124 UZK Rz. 21.

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ȤȤ Die zollamtliche Überwachung wurde in bestimmten Fällen wiederhergestellt (Art. 103 Buchst. c UZK-DelVO); ȤȤ Fehlerhafte Angaben in einer Zollanmeldung haben keine Auswirkung auf die Erledigung des Verfahrens gehabt (Art. 103 Buchst. d DelVO); ȤȤ Zollschuldentstehung gem. Art.  79 Abs.  1 Buchst. a oder b UZK und der ­Zollschuldner hat die Zollbehörden über den Verstoß unterrichtet, bevor die Zollschuld mitgeteilt/eine Zollkontrolle angekündigt wurde (Art. 103 Buchst. e DelVO). ȤȤ Ausfuhr nach Endverwendung (Art. 124 Abs. 1 Buchst. i UZK) Werden Waren, die aufgrund ihrer Endverwendung einfuhrabgabenfrei oder zu einem ermäßigten Zollsatz zum zollrechtlich freien Verkehr überlassen worden sind, mit Zustimmung der Zollbehörden ausgeführt, so erlischt die Zollschuld. ȤȤ Verbringen aus dem Zollgebiet (Art. 124 Abs. 1 Buchst. k UZK) Die Zollschuld erlischt, wenn sie im Fall einer Unregelmäßigkeit nach Art. 79 UZK entstanden ist, den Zollbehörden nachgewiesen wird, dass die Waren nicht verwendet oder verbraucht, sondern aus dem Zollgebiet der Union verbracht worden sind und kein Täuschungsversuch unternommen wurde (Art. 124 Abs. 6 UZK). Damit sind die Waren nicht in den Wirtschaftskreislauf eingetreten. Unter einer Verwendung versteht man die Nutzung einer Ware, ohne diese in ihrer Substanz zu verbrauchen38. Ein Verbrauch liegt vor, wenn die Ware als solche körperlich im Wesentlichen nicht mehr vorhanden ist.39 Zu beachten ist allerdings, dass dieser Erlöschensgrund ausschließlich auf Zollschuldentstehungstatbestände im Rahmen einer irregulären Einfuhr anwendbar ist; entsteht die Zollschuld auf der Grundlage ordnungsgemäßer Überlassung zum freien Verkehr, führt die Ausfuhr der Unionswaren nicht zum Erlöschen der zuvor entstandenen Zollschuld.40

IV. Sinngemäße Anwendung der Zollvorschriften für die Einfuhrumsatzsteuer 1. Allgemeines § 21 UStG sieht in seiner Überschrift „Besondere Vorschriften für die Einfuhrumsatzsteuer“ vor und ordnet in seinem Abs. 2 in Umsetzung von Art. 71 MwStSystRL die sinngemäße Anwendung der Zollvorschriften für die Einfuhrumsatzsteuer an. Ausgeschlossen ist die sinngemäße Anwendung der Zollvorschriften naturgemäß dann, wenn das Umsatzsteuerrecht selbst eigene Regelungen für die Einfuhrumsatz38 Witte in Witte, Art. 205 ZK Rz. 4. 39 Witte in Witte, Art. 205 ZK Rz. 3. 40 Witte in Gerda Koszinowski (Hrsg.), Unionszollkodex und Entwicklungen im internationalen Handel, Tagungsband des 26. Europäischen Zollrechtstags des EFA am 26. und 27.6.2014 in Esslingen, Köln, 2015, S. 17 (23).

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steuer vorsieht, wie dies in § 5 UStG (Steuerbefreiungen), § 11 UStG (Bemessungsgrundlage), § 12 UStG (Steuersatz), § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 UStG (Vorsteuererstattungsanspruch), § 17 Abs. 3 UStG (Änderung der Bemessungsgrundlage) sowie § 22 Abs. 2 Nr. 6 UStG i.V.m. § 64 UStDV (Aufzeichnungspflichten) der Fall ist. Insofern enthält § 21 UStG nicht die grundsätzlichen Vorschriften für die Einfuhrumsatzsteuer, sondern befasst sich im Wesentlichen mit den besonderen Verfahren der Einfuhr­ umsatzsteuer. Daher war § 21 UStG noch nie – und wird es nach der neuesten Auffassung der europäischen und deutschen Judikatur auch künftig nicht sein  – als abschließende Vorschrift über die Umsatzbesteuerung von Einfuhren zu verstehen.41 So soll durch die sinngemäße Anwendung der Zollvorschriften lediglich sichergestellt werden, dass die bei der Einfuhr zu erhebenden Abgaben von ein und derselben Behörde in einem Bescheid nach dem gleichen Verfahren aufgrund einheitlich getroffener Feststellungen einfach und zweckmäßig erhoben werden.42 Dieser Zweck kann nur dann erreicht werden, wenn es regelmäßig zur Anwendung der Zollvorschriften auf die Einfuhrumsatzsteuer kommt. Wie sich aus Art.  1 Abs.  2 MwStSystRL entnehmen lässt, beruht das gemeinsame Mehrwertsteuersystem auf dem Grundsatz, dass auf Gegenstände und Dienstleistungen, ungeachtet der Zahl der Umsätze, die auf den vor der Besteuerungsstufe liegenden Produktions- und Vertriebsstufen bewirkt wurden, eine allgemeine, zum Preis der Gegenstände und Dienstleistungen genau proportionale Verbrauchsteuer anzuwenden ist. Die Einfuhrumsatzsteuer ist zwar systematisch als unselbständiger Bestandteil der Umsatzsteuer anzusehen, so dass sie auch deren grds. Charakter als Verbrauchsteuer43 teilt, sie unterscheidet sich von dieser jedoch im Erhebungs- und Verwaltungsverfahren – wie sich bereits aus der oben zitierten Überschrift zu § 21 UStG entnehmen lässt. So ist die Einfuhrumsatzsteuer gem. § 21 Abs. 1 UStG eine besondere Verbrauchsteuer, da sie – anders als die innere Umsatzsteuer – nicht an eine Transaktion in Form einer Lieferung oder sonstigen Leistung, sondern an einen tatsächlichen Vorgang des Verbringens von Gegenständen in das Mehrwertsteuergebiet der Union (Gemeinschaft) anknüpft, Art.  30 MwStSystRL.44 Hierdurch soll sichergestellt werden, dass 41 Flick in Rau/Dürrwächter, UStG, § 21 UStG Rz. 2, 13. 42 Schriftlicher Bericht des Finanzausschusses des Deutschen Bundestages v. 30.3.1967, zu BT-Drucks. V/1581, zu § 21 Abs. 2; BFH, Urt. v. 26.4.1972 – VII R 109/69, BFHE 105, 545; BFH, Urt. v. 26.4.1988 – VII R 124/85, BFHE 153, 463 (464); Flick in Rau/Dürrwächter, UStG, § 21 UStG Rz. 4; Henke in Küffner/Stöcker/Zugmaier, UStG, § 21 UStG Rz. 6. 43 Zur wissenschaftlichen Auseinandersetzung, ob es sich bei der inneren Umsatzsteuer um eine Verkehrs- oder Verbrauchssteuer handelt, vgl. Stadie in Rau/Dürrwächter, UStG, Einf., Rz. 90 ff; Birkenfeld in Birkenfeld/Wäger, USt-Handbuch, Einf, Rz. 133.1 ff; Henke in Küffner/Stöcker/Zugmaier, § 21 UStG Rz. 9. 44 Langer in Reiß/Kraeusel/Langer, UStG, Art. 30 MwStSystRL Rz. 4. So auch EuGH, Urt v. 9.2.2006 – C-305/03 – Kommission/Vereinigtes Königreich, Slg. 2006, I-1213. Der EuGH geht davon aus, dass „zwischen zwei der Mehrwertsteuer unterliegenden Kategorien von Umsätzen zu unterscheiden“ ist, „den im Inland ausgeführten Umsätzen und der Einfuhr von Gegenständen.“ Vgl. auch Lux/Schrömbges, AW-Prax 2017, 301 (304).

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Gegenstände, die aus dem Drittlandsgebiet in das mehrwertsteuerliche Unionsgebiet gelangen, nicht unversteuert in den Wirtschaftskreislauf gelangen können. Ziel der Einfuhrumsatzsteuer ist daher die Verhinderung des unversteuerten Letztverbrauchs und steuerliche Gleichstellung von Unions- und Drittlandsgegenständen. Eine besonders geartete Leistungsbeziehung oder die Verschaffung der Verfügungsmacht an einem Gegenstand wird zur Entstehung der Einfuhrumsatzsteuer nicht vorausgesetzt.45 Von einer Einfuhr im umsatzsteuerrechtlichen Sinn, die zur Entstehung der Einfuhr­ umsatzsteuer führt, kann daher nur dann ausgegangen werden, wenn die Waren zum zollrechtlich freien Verkehr überlassen werden oder im Fall der irregulären Einfuhr die Gegenstände in den Wirtschaftskreislauf der Union eingehen. Dies ist dann nicht der Fall, wenn sich die Waren zum Zeitpunkt eines Verstoßes gegen zollrechtliche Bestimmungen noch in einem Zollverfahren befinden.46 Die Einfuhrumsatzsteuer unterscheidet sich in ihrem Wesen allerdings nicht lediglich von der inneren Umsatzsteuer, sondern auch von der Zollabgabe. So ist sie – anders als die Zollabgabe – nicht als Einfuhrabgabe im Sinne des Unionszollrechts anzusehen.47 So gehören gem. § 1 Abs. 1 Satz 3 ZollVG zu den Einfuhr- und Ausfuhrabgaben die im Zollkodex der Union geregelten Abgaben sowie die Einfuhrumsatzsteuer, die offensichtlich damit nicht als Einfuhrabgabe im Sinne des UZK angesehen wird. Der zentrale Unterschied zwischen Zollabgaben und indirekter Steuer ergibt sich aber aus deren Zweck. Die Zollerhebung ist auf eine bewusste Ungleichbehandlung von inländischer und ausländischer Ware ausgerichtet. Zölle werden vor dem Hintergrund der „Eingliederung von Umsatzgütern, die einer fremden nationalen Wirtschaftseinheit entstammen, in den freien inländischen Verkehr“ erhoben, mithin zum Schutz der heimischen Wirtschaft. Somit beruht der Zollanspruch des Staates auf den wirtschaftspolitischen Folgen einer Wareneinfuhr und soll vor allem der Abschöpfung als ungerechtfertigt angesehener Preisvorteile auf Seiten der Einfuhrware dienen, wie dies beispielsweise nicht vergleichbare Lohnkosten oder Produktionsbedingungen sind.48 Eine Zollerhebung für Waren, die nur durchgeführt, im Zollgebiet der Union lediglich gelagert oder vorübergehend verwendet werden und dabei nicht in den Wirtschaftskreislauf eingehen, ist systemwidrig und nach dem Prinzip des Wirtschaftszollrechts nicht zu rechtfertigen.49

45 Jatzke in Sölch/Ringleb, § 21 UStG Rz. 4. 46 Jatzke in Sölch/Ringleb, § 21 UStG Rz. 5. 47 Art. 5 Nr. 20 UZK spricht von „für die Einfuhr von Waren zu entrichtende Abgaben.“ Vgl. dazu auch EuGH, Urt v. 29.7.2010 – C-248/09 – Pakora Pluss SIA, Slg. 2010, I-7697; Lux in Dorsch, Zollrecht, Art. 5 UZK Rz. 72; Schwarz in Schwarz/Wockenfoth, UZK, Art. 5 UZK Rz. 78. 48 Wolffgang in Witte/Wolffgang, Lehrbuch des Europäischen Zollrechts, Rz. 3; Henke in Küffner/Stöcker/Zugmaier, UStG, § 21 UStG Rz. 4. 49 Wolffgang in Witte/Wolffgang, Lehrbuch des Europäischen Zollrechts, Rz. 4.

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Ein Charakter als wirtschaftliches Lenkungsmittel ist der Einfuhrumsatzsteuer fremd. Sie ist als steuerlicher Grenzausgleich anzusehen.50 Die Erhebung der Einfuhrumsatzsteuer stellt die gleichmäßige umsatzsteuerliche Belastung des Gegenstandes im Einfuhrland her. Aus einem Drittland eingeführte Gegenstände unterliegen damit den gleichen Wettbewerbsbedingungen wie Gegenstände, die innerhalb eines Mitgliedstaates oder innerhalb der Europäischen Union gehandelt werden. In seinen Schlussanträgen in der Rechtssache Eurogate51 hat Generalanwalt Campos Sánchez-Bordona auf die Vorlage des Finanzgericht Hamburg52, ob „jegliche Entstehung einer Einfuhrzollschuld automatisch zum Eintritt des Mehrwertsteueran­spruchs führt, ausgeführt, dass „die Einfuhrmehrwertsteuer und die Zölle hinsichtlich ihrer Hauptmerkmale insofern vergleichbar (sind)…, als sie durch die Einfuhr in die Union und die sich anschließende Über­ führung in den Wirtschaftskreislauf der Mitgliedstaaten entstehen“. Diese Parallelität wird „dadurch bestätigt, dass Art. 71 Abs. 1 Unterabs. 2 der Mehrwertsteuerrichtlinie die Mitgliedstaaten ermächtigt, den Steuertatbestand und die Entstehung des Steueranspruchs der Einfuhrmehrwertsteuer mit dem Tatbestand und der Entstehung des Anspruchs bei Zöllen zu verknüpfen“.

Vergleichbar heißt jedoch nicht identisch, weshalb sich der Gerichtshof dafür ausspricht, das Entstehen der Zollschuld und der Mehrwertsteuerschuld unabhängig voneinander zu prüfen. Dies kann auch nicht anders sein, berücksichtigt man, dass sie unterschiedlicher Natur sind und der Unterschied noch verstärkt wird, wenn die Zollschuld in Wirklichkeit nicht infolge der Einfuhr von Waren in das Zollgebiet im ordnungsgemäßen Verfahren entsteht, sondern aufgrund der Nichterfüllung bestimmter Voraussetzungen oder Verpflichtungen. Noch deutlicher wird er in seinen Schlussanträgen in der Rechtssache Wallenborn53 „Entscheidend für den Eintritt des Tatbestands der Einfuhrumsatzsteuer ist, dass die Gegenstände, auf die sie erhoben wird, in den Wirtschaftskreislauf der Union gelangen und damit einem Verbrauch zugeführt werden.“

Mithin führt tatsächlich nur der Sachverhalt zur Entstehung der Einfuhrumsatzsteuer, bei dem die fraglichen Waren in den Wirtschaftskreislauf der Union gelangt sind und damit einem Verbrauch, d. h. dem mit Mehrwertsteuer belasteten Vorgang, zugeführt werden konnten. Eine generelle Konnexität zwischen Zoll und Einfuhrumsatzsteuer ist daher insbesondere in Fällen irregulärer Einfuhren nicht gegeben, so dass in jedem Fall isoliert die Entstehung der Einfuhrumsatzsteuer auf der Grundlage der vom EuGH aufgestellten Kriterien zu hinterfragen ist – bevor überhaupt die Frage 50 Henke in Küffner/Stöcker/Zugmaier, UStG, § 21 UStG Rz. 5; Westenberger in Offerhaus/ Söhn/Langer, UStG, § 21 UStG Rz. 1; Jatzke in Sölch/Ringleb, § 21 UStG Rz. 1. 51 Schlussanträge des GA Campos Sánchez-Bordona v. 12.1.2016 – C-226/14 und C-228/14, ECLI:EU:C:2016:1, Rz. 90 und 91. 52 FG Hamburg 4. Senat, EuGH-Vorlage v. 18.2.2014 – 4 K 130/12 und 4 K 150/12. 53 Schlussanträge GA Campos Sánchez-Bordona v. 12.12.2016  – C-571/15  – Wallenborn, ECLI:EU:C:2016:944, Rz. 67.

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nach der sinngemäßen Anwendung der Zollvorschriften zu stellen ist. So kommt es dann nicht zur Anwendung von Zollschriften, wenn bereits der Tatbestand der Einfuhr nicht gegeben ist. Mithin ist im Rahmen der Anwendung des § 21 Abs. 2 UStG zunächst zu überprüfen, ob überhaupt ein Tatbestand der Einfuhr vorliegt. Ist der Tatbestand der Einfuhr im konkreten Fall erfüllt, bedeutet dies aber dennoch nicht ohne weiteres die Anwendbarkeit sämtlicher Zollvorschriften auf die EUSt. Die Anwendung einer einzelnen Zollvorschrift scheidet insbesondere aus, wenn sie dem Sinn und Zweck der Einfuhrumsatzsteuer als Teil der Mehrwertsteuer widerspräche54 oder sie mit dem Steuergegenstand der Einfuhrumsatzsteuer nicht in Einklang gebracht werden kann.55 Daher bedarf die Frage, ob und inwieweit eine Vorschrift des Zollrechts im Einklang mit Sinn und Zweck der Einfuhrumsatzsteuer steht, für jede Bestimmung einer eigenen Prüfung.56 2. Ausschluss der sinngemäßen Anwendung Gem. § 21 Abs. 2 Satz 2 UStG sind die Regelungen der passiven Veredelung von der sinngemäßen Anwendung auf die Einfuhrumsatzsteuer ausgeschlossen. Im Rahmen der passiven Veredelung werden Unionswaren zur Durchführung von Veredelungsvorgängen vorübergehend aus dem Zollgebiet der Union ausgeführt, in einem Drittland veredelt, um anschließend unter teilweiser oder vollständiger Befreiung von den Einfuhrabgaben in den zollrechtlich freien Verkehr übergeführt zu werden, Art. 259 UZK. Der Einfuhrabgabenbetrag bemisst sich gem. Art.  86 Abs.  5 UZK auf der Grundlage der Kosten für den außerhalb des Zollgebiets der Union vorgenommenen Veredelungsvorgang, sog. Mehrwertverzollung. Die Bemessung der Einfuhrumsatzsteuer in Veredelungsfällen richtet sich hingegen ausschließlich nach §  11 Abs.  2 UStG. Nach dieser Bestimmung wird der Umsatz bei der Einfuhr im Fall der passiven Veredelung nach dem für die Veredelung zu entrichtenden Entgelt oder, falls ein solches Entgelt nicht gezahlt wird, nach der durch die Veredelung eingetretenen Wert­ steigerung bemessen. Eines Rückgriffes auf zollrechtliche Bestimmungen bedarf es daher nicht. Nach derzeitiger (nicht an den UZK angepasster) Fassung des § 21 Abs. 2 Satz 2 UStG sind auch die Vorschriften über die aktive Veredelung nach dem Verfahren der Zollrückvergütung von der sinngemäßen Anwendung ausgeschlossen. Die Zollrückvergütung ist jedoch mit dem UZK am 1.5.2016 aufgehoben worden. Der Anwendungs54 Jatzke in Sölch/Ringleb, UStG, § 21 UStG Rz. 26. 55 Schwarz in Schwarz/Widmann/Radeisen, UStG, § 21 UStG Rz. 37. 56 BFH, Urt. v. 26.4.1988 – VII R 124/85, BFHE 153, 463; BFH, Urt. v. 3.5.1990 – VII R 71/88, BFHE 161, 260 = UR 1991, 178; BFH, Urt. v. 23.5.2006 – VII R 49/05, DStRE 2007, 39. Zur  vergleichbaren Rechtslage bei den besonderen Verbrauchsteuern vgl. BFH, Urt. v. 12.9.1989 – VII R 24/87, BFHE 158, 185; Henke in Küffner/Stöcker/Zugmaier, UStG, § 21 UStG Rz. 23; Zimmermann in Hartmann/Metzenmacher, UStG, § 21 UStG Anm. 50; a.A. Schwarz in Schwarz/Widmann/Radeisen, UStG, § 21 UStG Rz. 38: die sinngemäße Geltung der Zollvorschriften sei auf die EUSt zu übertragen, soweit sie nicht bereits in § 21 Abs. 2 Satz 1 UStG ausgenommen sei.

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bereich des Ausschlusses der sinngemäßen Anwendung der Vorschriften für Zölle für Fälle der aktiven Veredelung ist somit entfallen.57 3. Sinngemäße Anwendung Zu den sinngemäß anzuwenden Vorschriften gehören alle gesetzlichen Bestimmungen, die das Zollrecht regeln, d.h. das Unionszollrecht wie insb. der UZK, die DelVO und DVO als auch das nationale Zollrecht wie das ZollVG und die ZollV, ferner die Dienstvorschriften zu den zollrechtlichen Vorschriften einschließlich ihrer Vorbemerkungen.58 Bei der Verweisung des § 21 Abs. 2 UStG handelt es sich um eine „dynamische“ Verweisung, d.h. die jeweils geltenden Vorschriften für Zölle werden für sinngemäß anwendbar erklärt.59 Von der sinngemäßen Anwendung der Zollvorschriften auf die Einfuhrumsatzsteuer erfasst60 werden gem. § 21 Abs. 2 UStG insbesondere die Vorschriften über ȤȤ das Abfertigungsverfahren, ȤȤ die Entstehung der Abgabenschuld (teilweise) sowie ȤȤ die Person des Abgabenschuldners a) Entstehung der EUSt-Schuld und Abgabenschuldner aa) Reguläre Einfuhr Die Regelung des Art. 77 Abs. 1 Buchst. a UZK zur Abgabenschuld bei Überlassung zum zollrechtlich freien Verkehr gilt gem. § 21 Abs. 2 UStG sinngemäß auch für die Einfuhrumsatzsteuer.61 Gem. § 13 Abs. 2 UStG i.V.m. § 21 Abs. 2 UStG gelten Art. 77 Abs. 1 und 2 UZK auch für die Entstehung der Einfuhrumsatzsteuer.62 Ausgeschlossen ist hingegen die sinngemäße Anwendung von Art. 77 Abs. 1 Buchst. b UZK.63 Nach dieser Bestimmung entsteht eine Einfuhrzollschuld, wenn Nicht-Unionswaren in das Zollverfahren der vorübergehenden Verwendung unter teilweiser Befreiung 57 Jatzke in Sölch/Ringleb, UStG, § 21 UStG Rz. 29. 58 VSF Z 8101 – Dienstvorschrift Einfuhrumsatzsteuer, Abs. 6. BFH, Urt. v. 3.5.1990 – VII R 71/88, BFHE 161, 260; vgl. die Aufzählung bei Jatzke in Sölch/Ringleb, UStG, § 21 UStG Rz. 20 ff. 59 BFH, Urt. v. 3.5.1990 – VII R 71/88, BFHE 161, 260. 60 Ausgenommen sind – nach wie vor – die Vorschriften über die aktive Veredelung nach dem Verfahren der Zollrückvergütung (obgleich es dieses seit der Einführung des UZK nicht mehr gibt) sowie die passive Veredelung. 61 Deimel in Dorsch, Zollrecht, Art. 77 UZK Rz. 5; Schwarz in Schwarz/Widmann/Radeisen, UStG, § 21 UStG Rz. 129 ohne Unterscheidung zwischen den verschiedenen Tatbeständen des Art. 77 ff. UZK. 62 BFH, Urt. v. 23.9.2009 – VII R 44/08, BFHE 226, 205 = UR 2010, 120. 63 Schwarz in Schwarz/Widmann/Radeisen, UStG, § 21 UStG Rz. 138; Jatzke in Sölch/Ringleb, UStG, §  21 UStG Rz.  57; Westenberger in Offerhaus/Söhn/Lange, UStG, §  21 UStG Rz. 42, 55.

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von den Einfuhrabgaben übergeführt werden. Wie sich allerdings aus §  1 Abs.  2 EUStBV ergibt, sind die Vorschriften über die vorübergehende Verwendung bei teilweiser Befreiung von Einfuhrabgaben von der sinngemäßen Anwendung auf die ­Einfuhrumsatzsteuer ausdrücklich ausgeschlossen. Systematisch betrachtet ist dies konsequent, da eine nur teilweise Erhebung der Steuer dem Wesen der Einfuhrumsatzsteuer als Verbrauchsteuer fremd ist. Mithin wird die Einfuhrumsatzsteuer bei Abfertigung zur vorübergehenden Verwendung bei nur teilweiser Abgabenbefreiung in voller Höhe erhoben. Wer Schuldner der Einfuhrumsatzsteuer ist, bestimmt sich gemäß § 13a Abs. 2 i.V.m. § 21 Abs. 2 UStG sinngemäß nach den Vorschriften für Zölle.64 Mit diesem Verweis auf das Zollrecht hat der deutsche Gesetzgeber von der Befugnis des Art. 201 MwStSystRL65 Gebrauch gemacht, der bestimmt, dass Schuldner der Einfuhrumsatzsteuer die Person ist, die der Mitgliedstaat der Einfuhr als Steuerschuldner bestimmt oder anerkennt. bb) Irreguläre Einfuhr In den Fällen irregulärer Einfuhren war über die Verweisung in § 21 Abs. 2 UStG im Fall der Entstehung der Zollschuld nach bislang gefestigter Auffassung in Rechtsprechung und Literatur auch von der Entstehung der Einfuhrumsatzsteuerschuld auszugehen.66 Nach Auffassung der Rechtsprechung war für die Annahme einer Einfuhr die infolge des Wegfalls der Überwachung nicht mehr auszuschließende Möglichkeit ausreichend, dass der Gegenstand in den freien Verkehr gelangt oder wie ein Gegenstand im freien Verkehr verwendet wird. Auch das Bundesministerium für Finanzen ging in seinem BMF-Schreiben vom 15.11.201367 davon aus, dass eine Einfuhrum-

64 BFH, Urt. v. 21.3.2007  – V R 32/05, BStBl.  II 2008, 153 = UR 2007, 768; BFH, Urt. v. 29.1.2015 – V R 5/14, BFHE 249, 283 = UR 2015, 466; BFH, Urt. v. 16.6.2015 – XI R 17/13, BFHE 250, 470 = UR 2015, 835. 65 Richtlinie 2006/112/EG des Rates v. 28.11.2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. L 347 v. 11.12.2006, S. 1). 66 BFH, Urt. v. 26.4.1972  – VII R 109/69, BFHE 105, 545; BFH, Urt. v. 26.4.1988  – VII R 124/85, BFHE 153, 463; BFH, Urt. v. 3.5.1990 – VII R 71/88, BFHE 161, 260; BFH, Urt. v. 13.11.2001 – VII R 88/00, BFHE 196, 383 = UR 2002, 376; BFH, Urt. v. 23.5.2006 – VII R 49/05, BFHE 213, 446; BFH, Urt. v. 6.5.2008 – VII R 30/07, BFHE 221, 325 = UR 2008, 896; BFH, Urt. v. 23.9.2009 – VII R 44/08, BStBl. II 2010, 334 = UR 2010, 120; FG Hamburg, Urt. v. 25.11.2010, 4 K 284/09; BFH, Beschl. v. 22.2.2012 – VII B 17/11, ZfZ 2012, 134; FG München, Urt. v. 28.6. 2012 – 14 K 298/11, ZfZ Beilage 2013, Nr 1, 1-3; EuGH, Urt. v. 11.7.2013 – C-273/12 – Harry Winston, ZfZ 2014, 22; EuGH, Urt. v. 15.5.2014 – C-480/12 – X, ZfZ 2014, 221. Zur generellen Ablehnung der Vorschriften über die Endverwendung auf die Einfuhrumsatzsteuer, da es sich um eine tarifliche Abgabenbegünstigung handelt, die keine Bedeutung für die Einfuhrumsatzsteuer hat Schwarz in Schwarz/Widmann/Rad­eisen, UStG, § 21 UStG Rz. 133. 67 BMF v. 15.11.2013 – IV D 2-S 7300/12/10003, Änderungen des § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, Nr.  3 und Abs.  3 UStG durch das Amtshilferichtlinie-Umsetzungsgesetz, BStBl.  I 2013, 1475.

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satzsteuerschuld in sinngemäßer Anwendung der Vorschriften für Zölle mit der Zollschuld nicht nur bei regulären, sondern auch in Fällen irregulärer Einfuhren entsteht. Wie bereits dargestellt, soll nur noch dann eine Entstehung auch der EUSt anzunehmen sein, wenn die Gegenstände in den freien Verkehr der Union, d.h. zu einem „Verbrauch“ in den Wirtschaftskreislauf gelangt sind. Liegt kein Eingang in den Wirtschaftskreislauf vor, kommt es nicht zur Einfuhr und damit auch nicht zu einer die EUSt auslösenden Einfuhr. Ausgeschlossen ist ferner die sinngemäße Anwendung der Vorschriften zur Zollentstehung bei Pflichtverletzung nach Art. 79 Abs. 1 Buchst. b UZK. Hier geht es um Verfehlungen in Bezug auf die Endverwendung von Waren innerhalb des Zollgebietes der Union. Im Rahmen der Endverwendung unterliegen die Waren aufgrund bestimmter Umstände einem ermäßigten Abgabensatz. Systematisch ist der Einfuhr­ umsatzsteuer aber die Anwendung eines ermäßigten Steuersatzes aufgrund einer bestimmten Verwendung fremd. Vielmehr hängt dieser von der Beschaffenheit des Gegenstandes im Einfuhrzeitpunkt ab.68 Die Anwendung von Vorschriften über einen ermäßigten Zollsatz sind daher vor dem Hintergrund, dass im Rahmen der Endverwendung die Einfuhrumsatzsteuer in voller Höhe erhoben wird, bedeutungslos. b) Erlöschen der EUSt-Schuld Wie sich aus der Dienstanweisung der Zollverwaltung zur Zollschuld ergibt, soll nach Art. 124 UZK (ggf. i.V.m. Artikel 103 DelVO) nicht nur die Zollschuld, sondern auch die EUSt-Schuld – ohne weitere Differenzierung zwischen den einzelnen Erlöschens­ tatbeständen – über die sinngemäße Anwendung der Zollvorschriften in § 21 Abs. 2 UStG erlöschen.69 Wiederholend sei anzumerken, dass sich bei Verfehlungen zollrechtlicher Natur nach vom EuGH bestätigter systematischer Sichtweise die Annahme einer Konnexität zwischen Zoll- und EUSt-Schuld verbietet. Darüber hinaus stellt sich generell die Frage, ob aufgrund des Vorsteuerabzugs der Einfuhrumsatzsteuer in § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 UStG für vorsteuerabzugsberechtigte Unternehmer überhaupt eine Notwendigkeit besteht, bei erfolgter Einfuhr die zollrechtlichen Erlöschenstatbestände sinngemäß auf die EUSt anzuwenden oder ob dies nicht für vorsteuerabzugsberechtigte Unternehmer entsprechend der Systematik in § 14 Abs. 2 EUStBV70 ausgeschlossen sein sollte. 68 Schwarz in Schwarz/Widmann/Radeisen, UStG, § 21 UStG Rz. 180. 69 VSF Z 1102 – Dienstvorschrift Zollschuldrecht – Abs. 401. So auch Bartone in Krentzler/ Herrmann/Niestedt, UZK, Art. 124 UZK Rz. 1; Differenzierend Deimel in Hübschmann/ Hepp/Spitaler, AO/FGO, Art. 124 UZK Rz. 19 ff. 70 Vgl. dazu § 14 Abs. 2 EUStBV, wonach Erstattung oder der Erlass der Einfuhrumsatzsteuer davon abhängig sind, dass der Antragsteller hinsichtlich der Gegenstände nicht oder nicht in vollem Umfang nach § 15 Abs. 1 Nr. 2 UStG zum Vorsteuerabzug berechtigt ist. Eine Ausnahme stellen lediglich Erlass bzw. Erstattung nach Art. 117 UZK bei zu hoch bemes-

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Ungeachtet dessen wird im Folgenden untersucht, ob tatsächlich in Fällen der Zollschuld mit anschließendem Erlöschen immer auch in Form eines Automatismus das Erlöschen der EUSt-Schuld gegeben ist oder ob sich dies nicht bereits aus systematischen Gründen verbietet. Aufgrund der Diversität der Erlöschenstatbestände lässt sich diese Frage nicht generell, sondern lediglich bei differenzierter Betrachtung der einzelnen Tatbestände des Art. 124 UZK beantworten, wobei im Folgenden auf die wesentlichen Erlöschensgründe abgestellt wird. aa) Einziehung oder Beschlagnahme (Art. 124 Abs. 1 Buchst. e UZK) Art. 124 Abs. 1 Buchst. e UZK stellt sicher, dass keine Zollabgaben erhoben werden, wenn die Waren zwar vorschriftswidrig in die Union verbracht worden sind, aber noch nicht vermarktet werden konnten und deshalb unter dem Gedanken des Wirtschaftszolls aus Wettbewerbsgesichtspunkten keine Gefahr für die Unionswaren darstellen.71 Bereits 2010 hatte der EuGH72 zur Entstehung der EUSt in Fällen der Einziehung noch wie folgt differenziert: „Waren, die von den örtlichen Zoll- und Steuerbehörden bei ihrem vorschriftswidrigen Verbringen in das Gebiet der Gemeinschaft beschlagnahmt und gleichzeitig oder später von ­diesen Behörden vernichtet worden sind, ohne dass sie dem Besitz der Behörden entzogen gewesen sind, (sind) als nicht in die Gemeinschaft eingeführt anzusehen, so dass der Mehrwertsteuertatbestand hinsichtlich dieser Waren nicht eingetreten und der Mehrwertsteueranspruch daher nicht entstanden ist. … hinsichtlich der Waren, die nach ihrem vorschriftswidrigen Verbringen in dieses Gebiet, d. h. von dem Zeitpunkt an, zu dem sie die Zone verlassen haben, in der sich die erste innerhalb der Gemeinschaft liegende Zollstelle befindet, von diesen Behörden beschlagnahmt und gleichzeitig oder später vernichtet worden sind, ohne dass sie dem Besitz der Behörden entzogen gewesen sind, der Mehrwertsteuertatbestand und der Mehrwertsteueranspruch eingetreten sind, auch wenn die Waren später einer Zollregelung unterstellt werden.“

Da es nach der Regelung in Art. 124 Abs. 1 Buchst. e UZK aber nicht mehr auf den Zeitpunkt der Beschlagnahme ankommt, führt jedwede Einziehung zum Erlöschen der Zollschuld. Wie dargestellt, versteht man unter einer zollschulderlöschenden Einziehung den dauernden Entzug der Verfügungsmacht über Waren, damit mit diesen im Wirtschaftskreislauf der Union ohne Entrichtung der Einfuhrabgaben nicht gehandelt werden kann. Auch wenn zollrechtlich nun nicht mehr zu hinterfragen ist, zu welchem Zeitpunkt die Beschlagnahme und die sich anschließende Einziehung stattgefunden haben, ist dies für die Einfuhrumsatzsteuer weiterhin von Relevanz. Haben Beschlagnahme und Einziehung im Zeitpunkt des vorschriftwidrigen Verbringens stattgefunden, so besteht zu keinem Zeitpunkt die Gefahr, dass die Gegensenen Abgabenbeträgen dar. Die Bedeutung des § 17 Abs. 3 UStG zur Korrektur des Vorsteuerabzugs der Einfuhrumsatzsteuer ist daher eher marginal. 71 EuGH, Urt. v. 2.4.2009 – C-459/07 – Elshani, Slg. 2009, I-2759, Rz. 29. 72 EuGH, Urt. v. 29.4.2010 – C-230/08 – Dansk Transport og Logistik, Slg. 2010, I-3799.

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stände einem unversteuerten Letztverbrauch zugeführt werden. Mithin kann die EUSt bereits nicht entstehen73, so dass es eines Erlöschenstatbestandes nicht bedarf. Werden die Waren hingegen erst zu einem wesentlich späteren Zeitpunkt, z.B. Jahre nach der erfolgten Einfuhr als Nebenfolge einer Straftat eingezogen,74 ist die Ware zunächst in den Wirtschaftskreislauf der Union gelangt, so dass die Einfuhrumsatzsteuer entstanden ist.75 Systemgerecht ist dann, eine Konnexität von Zollschuld und EUSt-Schuld anzunehmen. Wurde in diesen Fällen ein Vorsteuerabzug durchgeführt, ist fraglich, ob es allein aus ökonomischen Gründen sinnhaft erscheint, die EUStSchuld zum Erlöschen zu bringen. Im Falle einer Erstattung der Einfuhrumsatzsteuer wäre ansonsten der Vorsteuerabzug nach § 17 Abs. 3 UStG zu korrigieren. bb) Unvorhergesehene Ereignisse und höhere Gewalt (Art. 124 Abs. 1 Buchst. g UZK) Werden Waren aus in ihrer Natur liegenden Gründen, durch unvorhersehbare Ereignisse und damit zufällig, aufgrund höherer Gewalt oder auf Anweisung der Zollbehörden vollständig zerstört oder gehen sie aus den genannten Gründen unwiederbringlich verloren, so ist ein Eingang der Gegenstände in den Wirtschaftskreislauf der Union aus tatsächlichen Gründen nicht mehr möglich. Allen in Art.  124 Abs.  1 Buchst. g UZK genannten Fallgruppen ist gemein, dass der Wirtschaftsbeteiligte über die Ware nicht mehr verfügen kann, sie mithin unter keinen Umständen in den Wirtschaftskreislauf der Union gelangt, ein unversteuerter Letztverbrauch ist mithin nicht möglich. Wie der EuGH76 mit Urt. v. 18.5.2017 entschieden hat, kann eine Ware, die nicht mehr existiert oder von niemandem mehr verwendet werden kann, allein deshalb nicht mehr in den Wirtschaftskreislauf der Union eingehen.77 Folglich kann eine Ware, die vernichtet oder zerstört wurde oder unwiederbringlich verlorengegangen ist, bevor sie zum freien Verkehr überlassen worden ist, weder als „eingeführt“ im Sinne von Art. 2 Abs. 1 Buchst. d der MwStSystRL angesehen werden noch nach dieser Bestimmung der Mehrwertsteuer unterliegen, da sie nicht in den Wirtschaftskreislauf der Union eingehen kann.

73 EuGH, Urt. v. 29.4.2010  – C-230/08  – Dansk Transport og Logistik, Slg. 2010, I-3799; EuGH, Urt. v. 2.6.2016  – C-226/14 und C-228/14, ECLI:EU:C:2016:405  – Eurogate und DHL, UR 2016, 557; Schlussanträge des GA Niilo Jääskinen v. 13.2.2014 – C-480/12, Rz. 70, ECLI:EU:C:2014:84. 74 Witte in Gerda Koszinowski (Hrsg.), Unionszollkodex und Entwicklungen im interna­ tionalen Handel, Tagungsband des 26. Europäischen Zollrechtstags des EFA am 26. und 27.6.2014 in Esslingen, Köln, 2015, S. 17 (20). 75 So differenzierend auch Schwarz in Schwarz/Widmann/Radeisen, UStG, § 21 UStG Rz. 191. 76 EuGH, Urt. v. 18.5.2017 – C-154/16 – Latvijas dzelzcels, UR 2017, 472 = ZfZ 2017, 241; Rehberg/Kurzrock, EU-UStB 2017, 65 ff. 77 In diesem Sinne EuGH, Urt. v. 29.4. 2010  – C-230/08  – Dansk Transport og Logistik, EU:C:2010:231, Rz. 93 und 96.

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Erlöschenstatbestände im Zollrecht

Da Voraussetzung eines Erlöschenstatbestandes ist, dass die Abgabenschuld zunächst entsteht, hier aber aufgrund der Tatsache, dass es aufgrund Eintretens der in den Fallgruppen des Art. 124 Abs. 1 Buchst. g UZK genannten tatsächlichen Ereignisse nicht zu einem Entstehen der Einfuhrumsatzsteuer kommt, auch kein Erlöschen gegeben sein kann. Eine sinngemäße Anwendung des Art. 124 Abs. 1 Buchst. g UZK auf die Einfuhrumsatzsteuer scheidet daher mangels Einfuhr bereits aus.78 cc) Verstöße ohne erhebliche Auswirkungen (Art. 124 Abs. 1 Buchst. h UZK) Ist die Zollschuld aufgrund einer Unregelmäßigkeit (Art. 79, 82 UZK) entstanden, so erlischt diese, wenn die folgenden Voraussetzungen kumulativ vorliegen: ȤȤ der Verstoß hat sich nicht erheblich auf die ordnungsgemäße Abwicklung des Verfahren ausgewirkt ȤȤ es liegt kein Täuschungsversuch vor ȤȤ es werden nachträglich alle notwendigen Formalitäten erfüllt, um die Situation der Ware zu bereinigen. Die Frage, ob die Einfuhrumsatzsteuerschuld in den oben genannten Fällen in sinngemäßer Anwendung der Zollvorschriften erlischt, ist davon abhängig, ob im konkreten Sachverhalt die fraglichen Gegenstände einem unversteuerten Letztverbrauch zugeführt werden können. Mithin ist die Anwendung dieses Erlöschenstatbestandes im Einzelfall unter vorheriger Prüfung des Tatbestandes der Einfuhr zu hinterfragen und kann nicht generell beantwortet werden. Es bedarf der individuellen Untersuchung der einzelnen Erlöschenstatbestände nach Art. 103 DelVO. So kann z.B. in der Fallgruppe nach Art. 103 Buchst. a DelVO, in der eine Fristüberschreitung um einen Zeitraum vorliegt, der nicht länger war als die Verlängerung, die bei einem Antrag auf Verlängerung gewährt worden wäre, davon ausgegangen werden, dass die Ware nicht in den Wirtschaftskreislauf eingegangen ist. Dann gibt es auch keinen Grund für das Entstehen einer EUSt-Schuld. dd) Verbringen aus dem Zollgebiet (Art. 124 Abs. 1 Buchst. k UZK) Die Zollschuld erlischt bei Verbringen der Waren aus dem Zollgebiet der Union, wenn sie auf der Grundlage einer Verfehlung nach Art. 79 UZK entstanden ist, den Zollbehörden nachgewiesen wird, dass die Waren nicht verwendet oder verbraucht worden ist und kein Täuschungsversuch vorliegt. Da maßgebliche Voraussetzung für die Anwendung dieses Erlöschenstatbestandes ist, dass kein Eintritt der Ware in den Wirtschaftskreislauf erfolgte, kommt es bereits nicht zur Entstehung der EUSt, so dass ein Erlöschen nicht zur Disposition steht.

78 So auch Schwarz in Schwarz/Widmann/Radeisen, UStG, §  21 UStG Rz.  132; Deimel in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO, Art. 124 UZK Rz. 20.

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V. Fazit Die Einfuhr von Gegenständen in Inland unterliegt gem. § 1 Abs. 1 Nr. 4 UStG der Umsatzsteuer – eine Begrifflichkeit, die weder das deutsche noch das Mehrwertsteuerrecht der Union legal definiert haben. Da die Verwirklichung des Tatbestandes der Einfuhr Voraussetzung für die Entstehung der EUSt ist und die Anwendungsmöglichkeit der zollrechtlichen Vorschriften erst dann eröffnet wird, wenn eine Einfuhr tatbestandlich gegeben ist, ist die aktuelle Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes zur Aufgabe der generellen Konnexität in Ermangelung einer unionseinheitlichen Begriffsbestimmung zu begrüßen. Der EuGH hat inzwischen mehrfach festgestellt, dass der Tatbestand der Einfuhr ein Gelangen der Gegenstände in den freien Verkehr durch entweder förmliche Überführung im Fall regulärer Einfuhren oder aber aufgrund eines zollrechtlichen Fehlverhaltens voraussetzt. Ihrem Charakter als Verbrauchsteuer Rechnung tragend, kann ein derartiges Gelangen der Gegenstände in den freien Verkehr nur durch einen „Verbrauch“ im Wirtschaftskreislauf der Union zur Entstehung der EUSt gerechtfertigt werden. Ist ein unversteuerter Letztverbrauch gänzlich ausgeschlossen, so widerspräche es dem Wesen der EUSt, für ihre Entstehung allein an das Verbringen in den Wirtschaftskreislauf anzuknüpfen. Wie sich den Ausführungen des EuGH in der Rs. Wallenborn79 entnehmen lässt, reicht für die Entstehung der EUSt eine bloße Gefährdungslage nicht aus, sondern die Waren sind dem Wirtschaftskreislauf der Union tatsächlich zuzuführen.80 Angesichts der aktuellen Rechtsprechung des EuGH ist daher festzuhalten, dass die Entstehung der EUSt dann gegeben ist, wenn Gegenstände in das Steuergebiet der Union verbracht werden und einem Verbrauch im Wirtschaftskreislauf zugeführt werden, sei es durch Überlassung zum freien Verkehr oder aufgrund einer Pflichtverletzung. Der bislang angenommene Automatismus zwischen Zoll und Einfuhr ist daher im Einzelfall auf der Grundlage der genannten Kriterien auf den Prüfstand zu stellen. Ist ein Verbrauch im Sinne der Umsatzsteuer im mehrwertsteuerlichen Unionsgebiet ausgeschlossen, ist der Tatbestand der Einfuhr nicht erfüllt – eine sinngemäße Anwendung der Zollvorschriften systemwidrig. Ein Erlöschen der Abgabenschuld, welches tatbestandlich zunächst deren Entstehung voraussetzt, braucht daher nicht angedacht zu werden. Ein Erlöschenstatbestand kann gem. § 21 Abs. 2 UStG i.V.m. Art. 124 UZK nur dann auch zu einem Erlöschen der EUSt führen, wenn der Tatbestand der 79 EuGH, Urt. v. 1.6.2017 – C-571/15 – Wallenborn, ECLI:EU:C:2017:417 = UR 2017, 513. 80 Vgl. dazu auch Vorlagebeschluss des Hess. FG v. 2.11.2017 – 7 K 1158/14. Das Hess. FG hat dem EuGH die Frage vorgelegt, ob für die Entstehung der Einfuhrmehrwertsteuer die durch das zollrechtlich vorschriftswidrige Verbringen hervorgerufene Gefahr ausreicht, dass der in das Gebiet der Union verbrachte Gegenstand im Steuergebiet des Mitgliedstaats des Verbringens in den Wirtschaftskreislauf der Union gelangt, oder ob die Entstehung der Einfuhrmehrwertsteuer voraussetzt, dass der betreffende Gegenstand in diesem Mitgliedstaat tatsächlich in den Wirtschaftskreislauf eingeht.

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Erlöschenstatbestände im Zollrecht

Einfuhr im konkreten Fall positiv festgestellt worden ist.81 Ist die Möglichkeit des unversteuerten Letztverbrauchs vom Sachverhalt her bereits ausgeschlossen, weil die Waren – ohne zu irgendeinem Zeitpunkt in den Wirtschaftskreislauf eingegangen zu sein – eingezogen worden (Art. 124 Abs. 1 Buchst. e UZK) oder untergegangen sind (Art. 124 Abs. 1 Buchst. g UZK) oder diese aus dem Gebiet der Union verbracht worden sind (Art. 124 Abs. 1 Buchst. k UZK), besteht bereits in Ermangelung einer tatbestandlich erforderlichen Einfuhr keine Notwendigkeit der weiteren Auseinandersetzung mit den Zollschulderlöschenstatbeständen für Zwecke der EUSt. Sofern die Einfuhr aufgrund Eingang der Waren in den Wirtschaftskreislauf vorliegt und über eine grundsätzlich mögliche sinngemäße Anwendung der Zollvorschriften ein Erlöschen auch der EUSt herbeigeführt werden kann, könnte diskutiert werden, ob es aus verfahrensökonomischen Gründen nicht sinnvoll erscheint, die Anwendung der Erlöschensvorschriften ähnlich den Erlass- und Erstattungsvorschriften in der EUStBV zu konzipieren und ein Erlöschen mit etwaigen Rückerstattungsverpflichtungen nur dann zuzulassen, wenn der Beteiligte nicht zum vollen Vorsteuerabzug der EUSt berechtigt ist.

81 So auch Nieskens in Rau/Dürrwächter, UStG, § 1 UStG Rz. 1190, der die Erlöschenstatbestände des Art. 124 UZK über § 21 Abs. 2 UStG grds. auch für die EUSt anwendet.

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Einfuhrumsatzsteuer – Herausforderungen des digitalen Handels Inhaltsübersicht I. Erhebung der Einfuhrumsatzsteuer durch die Zollverwaltung II. Veränderungsdruck durch den digitalen Handel und Perspektiven für die Zukunft

III. Das „Digital Package“ der EU IV. Resümee

I. Erhebung der Einfuhrumsatzsteuer durch die Zollverwaltung Die Einfuhrumsatzsteuer ist eine Verbrauchsteuer nach der Abgabenordnung und eine Einfuhrabgabe im Sinne der zollrechtlichen Vorschriften. Sie wird im Einfuhrprozess durch die Zollverwaltung erhoben. Waren, die aus dem Drittland eingeführt und an den inländischen Abnehmer geliefert werden, werden in umsatzsteuerlicher Hinsicht den im Inland produzierten und gehandelten Waren gleichgestellt. So sichert die Erhebung der Einfuhrumsatzsteuer gleiche Wettbewerbsbedingungen im Inland. Im Vergleich zu der Umsatzsteuer folgt die Besteuerung im Rahmen der Einfuhr einer anderen Steuersystematik, denn für die Einfuhrumsatzsteuer wird auf das Zollrecht verwiesen. Alle Einfuhrabgaben und so auch die Einfuhrumsatzsteuer entstehen nach den Zollvorschriften durch das Verbringen von Waren über die Zollgrenze und machen damit ausschließlich an dem Weg der Ware selbst fest. Auf die vorangegangenen wirtschaftlichen Hintergründe des Verbringens kommt es für die Steuer­ entstehung nicht an. Auf sie wird erst bei der Feststellung des Zollwertes zurückgegriffen. Und hinsichtlich der Beteiligten im Zollverfahren gilt, dass nur im EU-Inland Ansässige oder Fiskalvertreter – neben dem allerdings immer in der Verantwortung stehenden Verbringer der Waren – Zollbeteiligte sein können. So ergibt sich für das Zollverfahren zwangsläufig ein in wirtschaftlicher und tatsächlicher Hinsicht Verantwortlicher im zollrechtlichen Inland. In dieser Hinsicht unterscheidet sich die Einfuhrumsatzsteuer von der Umsatzsteuer. Denn schon heute wird die Umsatzsteuer in bestimmten Fällen der grenzüberschreitenden Lieferung durch den im Drittland ansässigen und in einem Mitgliedstaat registrierten liefernden Unternehmer geschuldet. Anknüpfungspunkt der Besteuerung ist dann, entsprechend der Lieferung im Inland, die zugrunde liegende Lieferbeziehung. Die Zuständigkeit der deutschen Zollverwaltung für die Erhebung der Einfuhrumsatzsteuer im Rahmen der Wareneinfuhr trägt zur Zusammenfassung der Einfuhrmodalitäten in einem Prozess bei. Gleichermaßen wird in Deutschland mit der Prü261

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fung der Einhaltung von Verboten und Beschränkungen bei der Einfuhr von Waren verfahren. Kontrollen anderer Behörden oder Kontrollen der Zollverwaltung im eigenen oder fremden Auftrag, welche an dem Lebenssachverhalt der Wareneinfuhr anknüpfen, werden im zollrechtlichen Einfuhrprozess durch- oder zusammengeführt. Dies birgt für die Verwaltung und die Beteiligten einige Vorteile. Daten werden zusammengefasst erhoben, Risiken auf der Basis dieser Daten umfassend bewertet, und für den Verpflichteten ergibt sich ein weitgehend einheitlicher Prozess und Ansprechpartner. Der Verwaltungsprozess weist weniger Schnittstellen und Brüche auf und bietet damit auch eine niedrigere Fehleranfälligkeit. Und schließlich können die für Verbote und Beschränkungen zuständigen Behörden auf das Vorhalten eigener Ressourcen bei der Einfuhrabwicklung weitgehend verzichten oder sich auf die Durchführung und Dokumentation der in ihrem Bereich liegenden Prüfungen und deren Weiterleitung in den Zollprozess beschränken. Im Ergebnis prüft oder dokumentiert die deutsche Zollverwaltung damit die Einhaltung aller mit der Einfuhr einer Ware in Zusammenhang stehenden Regeln und gibt die Ware erst zur Verwendung im Binnenmarkt frei, wenn die Voraussetzungen hierfür vorliegen. Diese weitgehende Zusammenfassung aller bei der Einfuhrabfertigung an Waren durchzuführenden Prüfungen und Kontrollen im Zollprozess ist überwiegend für den rein gewerblichen Handel modelliert und durch Informationstechnik gestützt ausgestaltet, wobei derzeit die Umstellung der Prozesse und Informationstechnik auf den seit Mai 2016 geltenden Unionszollkodex (UZK) erfolgt. Für die Wirtschaft sind dabei die Digitalisierung und die weitere Verbesserung des Zusammenspiels der Prozesse der Verwaltung und der Wirtschaft bei der Einfuhr – und auch über die beteiligten Verwaltungen hinaus – von besonderer Bedeutung. Daher arbeitet die Wirtschaft beispielsweise in großen Häfen an Plattformlösungen, die die verschiedenen Prozesse der Hafenwirtschaft mit denjenigen der beteiligten Logistiker, aber auch der Verwaltungen bei der Einfuhr über den betroffenen Hafen bedient und virtuell zu einem fortlaufenden Prozess zusammenfasst. Anders verhält es sich derzeit noch im Bereich der Kleinsendungen. Als „Kleinsendungen“ werden Sendungen mit einem Wert von unter 150 Euro bezeichnet, die häufig nicht im Geschäftsverkehr (B2B) sondern von einem Unternehmen an einen ­inländischen Kunden (B2C) oder von privat an privat (C2C) durch Post- oder Expressdienstleister und Kurierdienste aus dem Drittland in die Europäische Union transportiert werden. Für Kleinsendungen gelten einige Besonderheiten. Derzeit werden Zölle erst ab dem europaweit geltenden Schwellenwert von 150 Euro und Einfuhr­ umsatzsteuer in Deutschland erst ab einem Schwellenwert von 22 Euro erhoben. Es gelten aber verschiedene Besonderheiten für die Zollanmeldung und die Anwendung des Schwellenwertes für die Erhebung der Einfuhrumsatzsteuer führt dazu, dass für Sendungen unter einem Wert von 22 Euro derzeit keine Anmeldepflicht besteht. Dies wird sich mit dem UZK ändern, da ab dem Jahr 2021 für alle Einfuhren eine elektronische Anmeldung abzugeben ist. Da solche Sendungen aber ebenfalls den Einfuhrbestimmungen unterliegen, werden sie insbesondere hinsichtlich der Einhaltung der Verbote und Beschränkungen durch die Zollverwaltung stichprobenweise schon immer kontrolliert. 262

Einfuhrumsatzsteuer – Herausforderungen des digitalen Handels

Diese Ausgestaltung der Erhebung der Einfuhrumsatzsteuer und des zollrechtlichen Einfuhrprozesses ist über die Jahre gewachsen, wurde immer wieder angepasst und erfüllt die Bedürfnisse der Wirtschaft und der Gesellschaft in Deutschland und Europa bei den Wareneinfuhren bis heute. Selbstverständlich bedarf dieser Prozess auch in Zukunft der weiteren Anpassung. Vor allem vor dem Hintergrund steigender Sicherheitserfordernisse bei gleichzeitiger Notwendigkeit zur Beschleunigung und Europäisierung der Prozesse, sind Anpassungen wie die elektronische Abwicklung auch der Prozesse im Bereich von Kleinsendungen abzusehen und bestmöglich in die Abläufe zu integrieren. Aber auch Entwicklungen im Rahmen der Digitalisierung zwingen zu Veränderungen.

II. Veränderungsdruck durch den digitalen Handel und Perspektiven für die Zukunft Durch die vielfältigen Möglichkeiten des Warenhandels über das Internet hat sich das Konsumverhalten der europäischen und der deutschen Bevölkerung nachhaltig verändert. Die Bestellung von Waren im Internet ist für inländische Konsumenten zunehmend eine Alternative zum Kauf in Ladengeschäften. Konsequent entwickeln sich digitale Händlerstrukturen innerhalb und außerhalb Europas in rasanter Geschwindigkeit. Sendungen von Händlern aus Drittländern an private Abnehmer in der Europäischen Union nehmen beständig zu. Und es werden neben der Einfuhr von Waren in großen Gebinden und anschließender Einlagerung in europäischen Lagern, aus denen dann der Versand und die gesamte Bestellabwicklung an den Kunden erfolgt, zunehmend auch Waren aus dem Drittland als Kleinsendung direkt an den Kunden in Deutschland versandt. Dies gilt für unterschiedliche Konstellationen. So gibt es die einfuhrumsatzsteuerfreie Sendung mit einem Wert von unter 22 Euro ebenso wie die zollfreie, aber einfuhrumsatzsteuerpflichtige Sendung mit einem Wert von 22 bis 150 Euro und schließlich Sendungen oberhalb beider Schwellenwerte. Ebenso variantenreich sind die Konstellationen, in denen der inländische Kunde seine Waren bestellt. Vom Kauf über einen digitalen Marktplatz in Deutschland über die Nutzung europäischer oder weltweiter Internetangebote bis hin zum Kauf direkt beim im Drittland ansässigen Hersteller sind schon heute viele Varianten denkbar und es werden sich in Zukunft sicher weitere Varianten entwickeln. Auf die Anzahl der zoll- und einfuhrumsatzsteuerrechtlich zu behandelnden Sendungen in Europa wird sich dies auch künftig mit deutlich steigenden Zahlen auswirken. Dieses veränderte Käuferverhalten hat auch die Haltung der inländischen Wirtschaft zu den Schwellenwerten bei der Einfuhrumsatzsteuer nachhaltig verändert. Während in der Vergangenheit der Schwellenwert von 22 Euro für Kleinsendungen aus dem Drittland an Kunden in Deutschland unter Wettbewerbsgesichtspunkten als eher unproblematisch betrachtet wurde, wird dieser Schwellenwert vom deutschen und europäischen Handel zwischenzeitlich als wettbewerbsverzerrend empfunden. Das drastisch zunehmende Sendungsvolumen der Post- und Expressdienstleister, vor allem auch im Bereich der Kleinsendungen mit einem Wert unter 22 Euro zeigt, dass sich die Anzahl der Bestellungen von Waren aus dem Drittland durch die Kunden in Deutschland beständig weiter nach oben entwickelt. Dieses veränderte Kundenverhalten und damit verbun263

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dene starke Anwachsen des Sendungsaufkommens hat darüber hinaus die Befürchtung geschürt, in diesem Sendungsbereich sei zunehmend mit unterfakturierten Sendungen und damit auch mit steigenden Steuerausfällen und Steuerbetrug zu rechnen. So spricht die Europäische Kommission in diesem Zusammenhang immer wieder von entgangenen Steuereinnahmen in Höhe von europaweit rd. 1 Mrd. Euro, ohne dass sie allerdings auf konkrete Erhebungen der europäischen Zollverwaltungen zurückgreifen könnte. Angesichts dieser dramatischen Schätzungen lohnt ein Blick auf die bisherigen Erkenntnisse der deutschen Zollverwaltung im Bereich der Kleinsendungen bis 150 Euro. Auch aktuelle Kontrollmaßnahmen bestätigen weder diese Größenordnung, noch die befürchtete Menge an Falschdeklarationen, Unterfakturierungen und anderer zollrechtlicher Verstöße. Im Rahmen von Kontrollmaßnahmen im Bereich der Kleinsendungen mit einem erklärten Wert bis 150 Euro ergaben sich auch keine auffälligen Zahlen bezogen auf die Sendungen im Wert unter 22 Euro. Bestätigt wurden allerdings Erkenntnisse, dass die Qualität der die Sendungen begleitenden Anmeldedaten von unterschiedlichen weiteren Faktoren abhängig ist. Neben dem Versendungsland können dies Versendungsart oder Kosten der Versendung sein. Des Weiteren bestätigte sich, dass bei den Feststellungen neben der Einfuhrumsatzsteuerverkürzung auch Verstöße gegen Verbote und Beschränkungen und Verstöße im Bereich der Produktpiraterie im Vordergrund stehen. Bei den Feststellungen der Zollverwaltung muss im Einzelfall leider zudem davon ausgegangen werden, dass der Versender im Drittland mit seinen teilweise falschen oder unvollständigen Angaben zur Sendung die Zollverwaltung bewusst über Inhalt und Wert der Sendung täuschen wollte, ohne hierfür den Auftrag oder die Billigung der Beteiligten im Zollverfahren  zu haben. Denn regelmäßig haben weder Spediteur noch Empfänger der Sendung hiervon Kenntnis. Dabei dürfte Grund für diese Täuschung häufig nicht alleine eine beabsichtigte Vermeidung von Einfuhrabgaben sein. Vielmehr geschieht sie im Einzelfall wohl durchaus mit dem Ziel, mittels unrichtiger Angaben die zollrechtliche Behandlung der Sendung sowie die Einziehung oder Grenzbeschlagnahme produktgefälschter Waren durch die Zollverwaltung zu umgehen. In solchen Fällen macht der Versender die falschen Angaben auch oder überwiegend im eigenen Inte­ resse. Diese Fallkonstellation verdeutlicht zugleich, dass die für den Bereich der Kleinsendungen unter 22 Euro nach UZK bereits vorgesehene europaweit einheitliche elektronische Zollanmeldung dazu beiträgt, die bestehende Risikoanalyse und damit die gezielte Kontrolle einzelner verdächtiger Sendungen in diesem ständig wachsenden Sendungsbereich weiter zu verbessern. Vor dem Hintergrund der geschilderten Entwicklung stellt sich aber die Frage, wie die Prozesse der Zoll- und Steuerverwaltungen über die bisherigen Planungen hinaus ­angepasst werden müssen, um diese ständig wachsende Zahl an Kleinsendungen bis 150 Euro an Verbraucher in Europa zukünftig unter fiskalischen Gesichtspunkten und der Sicherstellung der Einhaltung der Produktstandards des europäischen Binnenmarktes bei der Einfuhr behandeln und kontrollieren zu können.

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Einfuhrumsatzsteuer – Herausforderungen des digitalen Handels

III. Das „Digital Package“ der EU Die Europäische Kommission hat den fiskalischen Gesichtspunkt aufgegriffen und für die Erhebung der Umsatzsteuer bei der Lieferung von Waren aus dem Drittland an private Kunden in der Europäischen Union (B2C) eigene Schlussfolgerungen gezogen. Diese hat sie am 1. Dezember 2016 mit ihrem Vorschlag zur „Modernisierung der MwSt. für den grenzüberschreitenden elektronischen Geschäftsverkehr zwischen Unternehmen und Verbrauchern (B2C)“ vorgelegt, der aus mehreren Legislativvorschlägen besteht. An dieser Stelle werde ich mich auf die Regelungen zur Einfuhrumsatzsteuer beschränken, welche die Einführung eines neuen Systems zur Besteuerung der Importe (B2C) bis 150 Euro verbunden mit der Streichung der MwSt.-Befreiung für Importe von Kleinsendungen bis 22 Euro aus Drittstaaten zum Inhalt haben und mit der vorgenannten Richtlinie (EU) des Rates vom 5. Dezember 2017 verabschiedet wurde.1 Mit diesem Regelungspaket wird bezogen auf Lieferungen aus dem Drittland zum einen die Möglichkeit für den im Drittland ansässigen Unternehmer geschaffen, für Kleinsendungen an Verbraucher (B2C) bis 150 Euro den europäischen Kunden von der Einfuhrumsatzsteuer zu entlasten, indem er die Zahlung der Steuer für von ihm an europäische Kunden veranlasste Sendungen übernimmt. Hierfür soll der bereits für elektronisch erbrachte Dienstleistungen geschaffene „one-stop-shop“ auf die ­Lieferung von Waren ausgeweitet werden. Ein im Drittstaat ansässiger Unternehmer, der Waren an europäische Konsumenten liefern will, kann sich in diesem „one-stopshop“ – im weiteren der Klarheit halber als „Import-one-stop-shop“ bezeichnet – in einem Mitgliedstaat seiner Wahl EU-weit registrieren lassen und sodann die Einfuhr­ umsatzsteuer für seine Warenlieferung aus dem Drittland in einem der Einfuhr nachgelagerten Erhebungsprozess in Form von Umsatzsteuer übernehmen. Durch entsprechenden Eintrag seiner Registriernummer zum „Import-one-stop-shop“ in die Zollanmeldung weist er dies bei der Einfuhr gegenüber der Zollverwaltung nach, wodurch die Sendung von der Einfuhrumsatzsteuer frei gestellt und der inländische Kunde von seiner Verpflichtung zur Zahlung der Einfuhrumsatzsteuer befreit wird. Die Umsatzbesteuerung der Lieferung erfolgt dann nachgelagert in dem „Importone-stop-shop“, wogegen der inländische Kunde für den Einfuhrprozess weiterhin verantwortlich bleibt. Dieser Vorschlag sieht somit für die Erhebung der Umsatzsteuer bei der Einfuhr einen zweiten Prozess vor, der optional durch den Händler genutzt werden kann. Er stellt die Erhebung der Umsatzsteuer im der Einfuhr nachgelagerten „Import-onestop-shop“ als Möglichkeit neben die Erhebung der Einfuhrumsatzsteuer in dem Einfuhrprozess. Diese Wählbarkeit der Steuererhebung im „Import-one-stop-shop“ und Parallelität der Prozesse in diesem Fall stellt eine besondere Herausforderung dar, worauf später noch eingegangen wird. 1 „Richtlinie (EU) 2017/2455 des Rates vom 5.12.2017 zur Änderung der Richtlinie 2006/112/ EG und der Richtlinie 2009/132/EG in Bezug auf bestimmte mehrwertsteuerliche Pflichten für die Erbringung von Dienstleistungen und für Fernverkäufe von Gegenständen“ (ABl. L 348 v. 29.12.2017, S. 7).

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Zum anderen wird der Schwellenwert von 22 Euro für die Erhebung der Einfuhrumsatzsteuer, unterhalb dessen bisher auf deren Erhebung in Deutschland aus Gründen des wirtschaftlichen Verwaltungshandelns verzichtet wurde, künftig wegfallen. Um bei der Einfuhr von Sendungen mit einem Wert unter 22 Euro, für die die Umsatzsteuer nicht im nachgelagerten „Import-one-stop-shop“ erhoben wird, die notwendige Wirtschaftlichkeit des Verwaltungshandelns bei der Erhebung der Einfuhrumsatzsteuer sicherzustellen, wird auch im Einfuhrprozess bei Kleinsendungen der Aufwand deutlich angepasst werden müssen. Diese Anpassungen sind nun im Rahmen der Umstellung auf den Unionszollkodex und der damit verbundenen Digitalisierung der Datenübermittlung auch für Kleinsendungen vorzunehmen. Vor dem Hintergrund weiter steigender Sendungszahlen, werden dabei weitere Vereinfachungen nötig sein. Entsprechende Forderungen aus der Logistikbranche gibt es bereits und müssen ernst genommen werden. An dieser Stelle sei angemerkt, dass der Vorschlag der Europäischen Kommission zur Herabsetzung des Schwellenwertes für die Erhebung der Einfuhrumsatzsteuer für die Zollverwaltung vor allem deshalb überraschend war, als die Europäische Kommission hinsichtlich der Zölle die Auswirkung von Schwellenwerten auf die Wettbewerbssituation in Europa gänzlich anders bewertet und eine Anhebung des für den Zoll geltenden Schwellenwertes auf 150 Euro bereits vorgenommen hatte. Insofern ist die Entwicklung bei der Einfuhrumsatzsteuer im Vergleich zu den Zöllen gegenläufig. Ob dies der Tatsache geschuldet ist, dass Zölle nur noch bezogen auf bestimmte Waren und Länder eine Rolle spielen und daher bezogen auf die in Kleinsendungen enthaltenen Waren von den europäischen Unternehmen nicht so deutlich wahrgenommen werden, oder ob die Bewertung bezogen auf die Zölle nur wegen des deutlich früheren Zeitpunktes der Entscheidung und den damals noch nicht erkennbaren drastischen Entwicklungen des digitalen Handels anders ausfiel, kann dahinstehen. Hinsichtlich der Auswirkungen der Zölle auf die Wettbewerbssituation dürften diese mit denen der Einfuhrumsatzsteuer allerdings vergleichbar sein. Insofern wird die hierzu getroffene Bewertung und Heraufsetzung des Schwellenwertes für Zölle auf 150 Euro, abhängig von der weiteren Entwicklung der Zölle, möglicherweise einer erneuten Prüfung zu unterziehen sein. Zu der weiter oben bereits aufgeworfenen Frage der besonderen Herausforderung, welche sich aus der Parallelität der Prozesse bei der Einfuhr und späteren Besteuerung im „Import-one-stop-shop“ ergibt, lohnt der Blick auf bisherige Erfahrungen. Das Zusammenspiel von Zollprozessen und europaweiten Besteuerungsprozessen zeigt, dass Schwachstellen für Betrugszwecke immer wieder ausgenutzt wurden. Wesentliche Schwachstellen ergeben sich regelmäßig aus einem unzureichenden Informationsaustausch. Empfehlungen zielen daher zumeist darauf ab, auf nationaler wie auch auf internationaler Ebene einen intensivierten, wenn möglich IT gestützten und automatisierten Informationsaustausch zwischen der mit der Einfuhr der Waren betrauten Zollverwaltung und der mit der Besteuerung befassten Steuerverwaltung vorzusehen. Dabei sollte der Informations­austausch nicht nur bezogen auf die einzelne Transaktion verbessert und beschleunigt werden, sondern auch den Austausch von Erkenntnissen für die Risikoanalyse und den Austausch von Informationen bei der 266

Einfuhrumsatzsteuer – Herausforderungen des digitalen Handels

Bewertung der Beteiligten umfassen. Die Umsetzung eines derartigen Informationsaustausches bezogen auf Kleinsendungen setzt angesichts der sich abzeichnenden Fallzahlen aber unbedingt einen automatisierten Abgleich zwischen den Zollverwaltungen und den die Umsatzsteuer im „Import-one-stop-shop“ erhebenden Steuerverwaltungen voraus. Für die Registrierung, welche nur in einem Mitgliedstaat erfolgen wird, wird ein Abgleich der Erkenntnisse der Steuer- und der Zollverwaltung sogar europaweit erforderlich sein, da die Einfuhr der Waren in allen Mitgliedstaaten ­möglich sein, die nachgelagerte Umsatzbesteuerung hingegen allein im Registrierungs-Mitgliedstaat durchgeführt wird. Deshalb sollten Erkenntnisse der Zollver­ waltungen über die Zuverlässigkeit der registrierten und im Drittland ansässigen Unternehmen europaweit bei der Registrierung ebenso berücksichtigt werden, wie auch bei der Entscheidung über den Entzug der Zulassung zum „Import-one-stopshop“. Vor allem die gemeinsame Bewertung der Risiken durch Zoll- und Steuerverwaltungen, das Verfahren zur Zulassung, und – im Falle des Missbrauchs – zur Sperrung von Unternehmen in diesem „Import-one-stop-shop“, bedarf noch der genaueren Ausgestaltung, so dass diese Erfordernisse entsprechend Berücksichtigung finden können. Zentrale Frage für die Einfuhrumsatzsteuererhebung und damit für die Zollverwaltung bleibt nun, inwieweit die Möglichkeit zur Teilnahme am „Import-one-stopshop“ für Lieferungen bis 150 Euro aus dem Drittland an europäische Kunden durch die im Drittland ansässigen Unternehmen überhaupt angenommen und genutzt werden wird. Derzeit ist für eine Lieferung aus dem Drittland mittels einer Kleinsendung der Kunde steuerpflichtig. Mit seiner Bestellung im Ausland beauftragt er zugleich die Versendung an ihn. Seitens der versendenden Unternehmen werden die notwendigen Angaben auf den Sendungen vorbereitet und je nach Versendungsart mittels Postoder Express- und Kurierdiensten die beauftragten Transporteure gegebenenfalls mit der Einfuhrabfertigung –häufig auch auf Kosten des Empfängers der Sendung – beauftragt. Die Teilnahme an dem „Import-one-stop-shop“ bei Sendungen bis 150 Euro wird, wie bereits dargelegt, eine für das im Drittland ansässige Unternehmen optionale Möglichkeit sein. Sie führt für das Unternehmen zu zusätzlichem Aufwand und damit zusätzlichen Kosten, da einerseits die Übernahme der Umsatzsteuer erfolgt und andererseits die Anmeldung im „Import-one-stop-shop“ für das Unternehmen mit zusätzlichem Verwaltungsaufwand verbunden ist. Dies gilt umso mehr, als bei Störungen im Rahmen der Lieferabwicklung, bis hin zu einer Rückabwicklung der Einfuhr, welche beispielsweise durch Rückgabe der Ware entstehen, weiterer administrativer Aufwand entsteht, der heute ausschließlich beim Kunden liegt. Denn zur Rückabwicklung der gezahlten Umsatzsteuer wird nun der Nachweis der Wiederausfuhr erbracht werden müssen. Dieser zusätzliche finanzielle und administrative Aufwand muss für das im Drittland ansässige Unternehmen wirtschaftlich sein. Sicher könnten sich auf Dauer Wettbewerbsvorteile durch diesen „Service am Kunden“ ergeben, sofern mit diesem Vorteil aktiv geworben und dem Kunden dieser Vorteil deut267

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lich gemacht werden kann. Gleichfalls könnte das Unternehmen seine Teilnahme am „Import-one-stop-shop“ als Nachweis seiner steuerlichen Zuverlässigkeit für Werbezwecke gegenüber den europäischen Kunden nutzen. Ob diese Aspekte in der Praxis für die unternehmerische Entscheidung zur Teilnahme an dem „Import-one-stopshop“ ausreichen, ist angesichts des zu erwartenden zusätzlichen Aufwandes allerdings offen. Der Erfolg des „Import-one-stop-shop“ im Bereich der Einfuhr ist deshalb sicher von weiteren Faktoren abhängig. Maßgeblich könnten hierbei weitere Regelungen der Richtlinie sein, wonach die steuerliche Inanspruchnahme der digitalen Marktplätze vorgesehen ist. Diese Maßnahme hat entsprechend Absatz 7 der Erwägungsgründe in erster Linie das Ziel, „(…) die Steuerpflichtigen, die Fernverkäufe von Gegenständen durch die Nutzung einer (…) elektronischen Schnittstelle unterstützen, bei der Erhebung der Mehrwertsteuer auf diese Verkäufe einzubeziehen, indem vorgesehen wird, dass sie als die Personen gelten, die diese Verkäufe getätigt haben.“

Dies wird auf Sendungen aus dem Drittland nur bis zu einer Höhe von 150 Euro angewendet werden, wobei verbrauchsteuerpflichtige Sendungen ausgenommen sind. Durch diese Inanspruchnahme der Marktplätze wird möglicherweise Druck auf die im Drittland ansässigen Unternehmen zur Registrierung und Abwicklung der Umsatzsteuer über den „Import-one-stop-shop“ entstehen, zumindest soweit sie ihre Verkäufe über europäische Plattformen und Marktplätze durchführen. Die Betreiber von Plattformen und Marktplätzen dürften die Nutzung ihrer Angebote durch im Drittland ansässige Unternehmen zumindest von deren Registrierung und Teilnahme an dem „Import-one-stop-shop“ abhängig machen. Dies gilt vor allem wegen der weiteren Maßgabe, dass ein im Drittland ansässiger Unternehmer für die Registrierung im „Import-one-stop-shop“ immer einen in der EU ansässigen Fiskalvertreter benötigt. Die Regelung zur Inanspruchnahme der digitalen Marktplätze wurde im Vorfeld der Verabschiedung der Vorschläge im Rat am 5. Dezember 2017 durch die betroffene Wirtschaft heftig kritisiert. Dabei wurde vorgetragen, dass eine solche Regelung für die Plattformbetreiber ungleich schwerer in die Praxis umzusetzen sein würde, als international bereits andernorts praktizierte Regelungen. Vor allem die in England bereits geltende „Haftungsregelung“, bei der die Plattformbetreiber für die Steuern von als unzuverlässig erkannten Händlern haften, aber auch die im internationalen Raum verschiedentlich geltende „Einzugsregelung“, bei der die Plattformbetreiber die Umsatzsteuer für die über ihre Plattform getätigten Verkäufe für die Steuerverwaltung einziehen, wurden von den betroffenen Plattformbetreibern als deutlich besser umsetzbar beschrieben. Dennoch hat die europäische Regelung Eingang in die Richtlinie gefunden und bedarf nun der näheren Ausgestaltung in den Durchführungsbestimmungen. Angesichts der guten Erfahrungen des Vereinigten Königreiches mit der dortigen nationalen Regelung, dem in der Richtlinie vorgesehenen Umsetzungszeitpunkt im Jahr 2021 und vor dem Hintergrund der oben geschilderten jüngsten Entwicklungen hat  auch das Bundesministerium der Finanzen die nationalen Möglichkeiten der ­Inanspruchnahme der digitalen Marktplätze für die Zeit bis Inkrafttreten der euro­ 268

Einfuhrumsatzsteuer – Herausforderungen des digitalen Handels

päischen Regelung frühestens 2021 einer genaueren Prüfung unterzogen. Im Ergebnis kommt eine gesetzliche Regelung in Betracht, die sicherstellt, dass die Plattformund Marktplatzbetreiber nur solche Händler auf ihrem Marktplatz zulassen, welche ihre steuerliche Registrierung nachweisen. Sofern die Plattform- und Marktplatzbetreiber dieser Verpflichtung nicht nachkommen oder sie nach Aufforderung durch die Finanzverwaltung bestimmte Händler vom Handel über ihren Marktplatz nicht ausschließen, wird angestrebt, die Plattform- und Marktplatzbetreiber für die entgangene Umsatzsteuer in Anspruch zu nehmen. Auch diesen nationalen Regelungsvorschlag sehen die digitalen Marktplätze eher kritisch. Für die Zollverwaltung und die Einfuhrumsatzsteuer bleibt zusammenfassend festzuhalten, dass das in der Richtlinie enthaltene Regelungspaket der Europäischen Kommission in Fällen des digitalen Handels mit Waren bis zu einem Wert von 150 Euro über die Europäische Außengrenze durch einen neuen und parallel zum Einfuhrprozess gestalteten Prozess zur Erhebung der Umsatzsteuer und gleichzeitig die Absenkung des Schwellenwerts für die Erhebung der Einfuhrumsatzsteuer auf 0 Euro auswirkt, wobei die Folgen für die Arbeit der Zollverwaltung bei der Erhebung der Einfuhrumsatzsteuer weitreichend sein werden. Die zusätzliche und optionale Möglichkeit für im Drittland ansässige Unternehmen, sich zum „Import-one-stop-shop“ zu registrieren verbunden mit der Abkehr von der bisherigen Systematik der Einfuhr­ umsatzsteuererhebung, führt im Bereich der Kleinsendungen zu zwei alternativen Prozessen bei der Einfuhr, für die ein intensiver Austausch von Daten und Informationen notwendig sein wird, um nicht neue Möglichkeiten des Steuerbetruges zu schaffen. Unklar bleibt zunächst, ob und welcher der beiden Prozesse sich für die Erhebung der Umsatzsteuer bei Lieferungen des digitalen Marktes aus dem Drittland auf Dauer durchsetzen wird. Fest steht dagegen, dass die Einfuhr aller Waren, unabhängig vom gewählten Besteuerungsprozess, weiterhin und zunehmend unter den Gesichtspunkten der Sicherheit, der Einhaltung der Verbote und Beschränkungen und der Produktpiraterie durch die Zollverwaltung kontrolliert werden wird. Denn durch die Diskussion um den besten und sichersten Prozess für die Erhebung der Umsatzsteuer bei der Einfuhr, sollte nicht der Eindruck entstehen, die notwendigen Maßnahmen bei der Abfertigung von Sendungen bis 150 Euro beschränkten sich auf die potentielle Hinterziehung der Einfuhrumsatzsteuer, weshalb vor allem der Gefahr des Umsatzsteuerausfalls Rechnung getragen werden müsse. Mindestens in gleichem Maße betreffen die Feststellungen der Zollverwaltung bei der Einfuhr Verstöße gegen Verbote und Beschränkungen und den Schutz geistigen Eigentums (Produktpiraterie). Zum Schutze der europäischen Wirtschaft und Bevölkerung werden im Einfuhrprozess deshalb weiterhin risikoorientiert Prüfungen und Kontrollen durchgeführt. Die im Rahmen der Teilnahme am „Import-one-stop-shop“ durchaus erwünschte Beschleunigung des Einfuhrprozesses durch die Abwicklung der Einfuhrumsatzsteuer in dem nachgelagerten „Import-one-stop-shop“ wird deshalb nur eingeschränkt erreicht werden können. Für eine weitere Beschleunigung der Einfuhr von Kleinsendungen wird es vielmehr notwendig sein, den klassischen Einfuhrprozess für Kleinsendungen an die stetig weiter steigenden Abfertigungszahlen anzupassen. Dies ist bereits in der Vorberei269

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tung; vor dem Hintergrund der Absenkung des Schwellenwertes für die Erhebung der Einfuhrumsatzsteuer und der lediglich optionalen Möglichkeit der Nutzung des „Import-one-stop-shop“ werden diese Arbeiten umso wichtiger und dringlicher. Hierzu sind Möglichkeiten zum digitalisierten, vereinfachten Anmeldeverfahren für alle Post-, Express-und Kurierdienstleister ebenso nötig, wie die Prüfung weiterer Möglichkeiten, wie z.B. die Übermittlung der Transaktionsnummer zu dem Kauf im Internet. Diese Arbeiten werden nun, in Vorbereitung auf den Wegfall des Schwellenwertes, gemeinsam mit der betroffenen Wirtschaft beschleunigt vorangebracht werden müssen.

IV. Resümee Es ist offenkundig, dass die durch die Veränderung gesellschaftlicher Realitäten notwendige Veränderung von Prozessen im Handel und in der Verwaltung keine leichte Aufgabe ist. Unterschiedliche Aspekte und Interessen spielen eine Rolle und müssen Berücksichtigung finden. Die durch den digitalen Handel steigenden Mengen an Kleinsendungen führen schon heute zu unterschiedlichen Schlussfolgerungen auf die Prozesse der Zoll- und der Steuerverwaltung bei der Erhebung der Umsatzsteuer im Anschluss an die Einfuhr. Zukünftig sollten wir bei der Entwicklung der Verfahren noch mehr im Auge behalten, dass beide Prozesse an dem gleichen Lebenssachverhalt anknüpfen, dem Verbringen von Waren über die EU-Außengrenze. Wirtschaft und Bevölkerung erwarten von den Verwaltungen Europas schlanke und möglichst unbürokratische Prozesse, die alle an einem Lebenssachverhalt anknüpfenden Verpflichtungen auch möglichst mit einem Prozess bedienen. Dabei bewegen wir uns – und so auch bei der Einfuhr von Waren  – immer im Spannungsfeld zwischen Beschleu­ nigung von Prozessen und Erleichterungen für die Beteiligten einerseits, und dem legitimen und wachsenden Interesse der Gesellschaft an der Einhaltung von vor allem der Sicherheit dienenden Verboten und Beschränkungen, dem Schutz des geis­ tigen  Eigentums und Sicherung der Staatseinnahmen andererseits. Während sich die Beschleunigung im Bereich der Kleinsendungen und die Verringerung des Verwaltungsaufwandes bei der Erhebung der Einfuhrumsatzsteuer auch mit der vorgeschlagenen Besteuerung im „Import-one-stop-shop“ erreichen ließe, kann dem Sicherheitsinteresse der Wirtschaft und der Gesellschaft damit nicht gedient werden. Hierfür bedarf es weiterhin des zollrechtlichen Einfuhrprozesses und der darin durchgeführten Prüfungen und Kontrollen. Sofern die Zahlung der Umsatzsteuer zukünftig überwiegend durch Registrierung im „Import-one-stop-shop“ durch die im Drittland ansässigen Unternehmer erfolgt, kann sich die Zollverwaltung bei den Kleinsendungen stärker auf die Verhinderung der Produktpiraterie und die Einhaltung der Verbote und Beschränkungen fokussieren. Allerdings werden hierdurch die Prozesse gedoppelt und es entsteht die Notwendigkeit, drohende Schwachstellen durch systematischen und digitalen Daten- und Informationsaustausch auszuschließen und die beiden Prozesse miteinander zu verzahnen. Die in beiden Prozessen ­vorliegenden Daten und Erkenntnisse müssen dem jeweils anderen Prozess im notwendigen Umfang zur Verfügung stehen und für die Risikoanalyse genutzt werden können. 270

Einfuhrumsatzsteuer – Herausforderungen des digitalen Handels

Im Rahmen der Diskussion des Regelungspaketes der Europäischen Kommission auf europäischer Ebene hat Deutschland deshalb darauf hingewiesen, dass die Abschaffung der Kleinsendungsfreigrenze von 22 Euro erst sinnvoll und administrierbar ist, wenn die zur Anwendung der neuen Regelungen notwendigen IT Systeme zur Verfügung stehen und die Anmeldungen für alle Sendungen in der Einfuhr europaweit zwingend in elektronischer Form abgegeben werden. Vor diesem Hintergrund hat der Rat bei seiner Zustimmung in einer gemeinsamen Protokollerklärung mit der Europäischen Kommission deutlich gemacht, dass die notwendigen rechtlichen und technischen Rahmenbedingungen für die Anwendung der Änderungen rechtzeitig zu schaffen sind. Spätestens Ende des Jahres 2019 prüft die Europäische Kommission entsprechend, ob die notwendigen Durchführungsbestimmungen und die IT-Systeme rechtzeitig geschaffen werden können, um eine korrekte Anwendung der Änderungen ab dem 1. Januar 2021 zu gewährleisten. Der Rat behält sich vor, die Euro­ päische Kommission gegebenenfalls aufzufordern, einen Richtlinienvorschlag zur teilweisen oder vollständigen Verschiebung des Anwendungszeitpunkts der betreffenden Artikel der Änderungsrichtlinie vorzulegen.

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Gestaltungen bei der Tarifierung Inhaltsübersicht I. Die Kunst der richtigen Einreihung II. Die Einreihungskunst am Praxisfall ­ausgeübt 1. Ziel: Einreihung als Arzneiware

2. Ziel: Einreihung als Lebensmittel­ zubereitung, genauer gesagt als ­Nahrungsergänzungsmittel 3. Die unverbindliche Zolltarifauskunft III. Zusammenfassung

I. Die Kunst der richtigen Einreihung Unter Einreihung versteht man die Zuordnung einer Ware zu einer bestimmten (Unter-) Position der Kombinierten Nomenklatur (KN), also letztlich einer Zolltarifnummer in den Zolltarif (dazu weiter unten). Der Begriff Ware ist weder im Zoll- noch im Umsatzsteuerrecht definiert. Im Zollrecht erfolgt der Rückgriff auf eben diese Kombinierte Nomenklatur, in der alle Waren eingereiht werden können. Wie jede Rechtsanwendung ist auch diese Anwendung des Zollrechts die Prüfung und Beantwortung der Frage, ob die Voraussetzungen des gesetzlichen Tatbestands erfüllt sind, so dass die Rechtsfolge eintritt. Wird die Frage verneint, kann oder muss je nach Rechtsgebiet noch eine analoge Anwendung geprüft werden. Bei der Einreihung, oft auch aus dem früheren Zollrecht heraus „Tarifierung“ genannt, entfällt diese Analogie-Prüfung, weil es immer eine Auffangposition gibt („andere“), in welche die Ware eingereiht werden kann. Es existiert also keine Lücke im Gesetz, die über eine Analogie zu füllen wäre. Die Bedingung oder die Bedingungen, die erfüllt sein müssen, damit die Rechtsfolge (Zuordnung zu einer Unter-/Position) eintritt, können unterschiedlich komplex sein. Das soll das folgende Beispiel zeigen, welches in der Folge einer Verfügung der OFD Frankfurt1 im Internet2 auch gerne genutzt wird, um den „Steuerirrsinn“3 anzuprangern:

1 OFD Frankfurt, Vfg. v. 4.4.2014 – S 7222 A-7-St 16, DStR 2014, 1173, dazu Kauffmann-Braun [damals publiziert unter Kauffmann], https://www.ebnerstolz.de/de/2/6/0/6/5/2014_8_Latte_​ Macchiato.pdf; geprüft 5.6.2018. 2 Instruktiv: http://www.stb-dethlefs.eu/coffee-to-go-steuerberater-die-baristas-2/; geprüft 5.6.2018. 3 So Schäffler, Steuerirrsinn an Weihnachten, in https://www.tichyseinblick.de/kolumnen/ schaefflers-freisinn/steuerirrsinn-an-weihnachten/ v. 6.12.2017, geprüft 5.6.2018.

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Ralph E. Korf / Thomas Peterka Beispiel: Wenn die einzureihende Ware noch nicht zubereiteter Kaffee ist, also „Kaffee; auch geröstet oder entkoffeiniert; Kaffeeschalen und -häutchen; Kaffeemittel mit beliebigem Gehalt von Kaffee“, dann fällt sie unter die KN-Position 0901. Wenn dagegen Kaffee bereits als Getränk „zubereitet“ ist, dann gilt etwas anderes: „Die Abgabe von Kaffeegetränken aus Automaten unterliegt dem allgemeinen Steuersatz. Das gilt auch dann, wenn sich der Automatenbenutzer das Getränk aus Kaffeepulver mit heißem Wasser selbst herzustellen hat. Gegenstand der Lieferung ist auch in einem solchen Fall bei wirtschaftlicher Betrachtung das nicht begünstigte fertige Kaffeegetränk“  – dann ist diese Ware der KN-Position 2202 zuzuordnen.4 Der deutsche Durchschnittsverbraucher wird vermutlich auch den beliebten Latte Macchiato den Kaffeegetränken zuordnen, obwohl die italienische Bezeichnung „befleckte Milch“ bedeutet und damit den Hauptbestandteil verrät. Wenn der Milchanteil mindestens 75 % erreicht, dann handelt es sich um ein Milchmixgetränk der KN-Pos. 2202, dessen Lieferung dem ermäßigten Steuersatz unterfällt.

Dieses Beispiel zeigt nicht nur die unterschiedlich komplexe Prüfung bei der Einreihung, sondern auch, dass diese nicht nur für Zollzwecke relevant ist, sondern auch für den anwendbaren Steuersatz bei Einfuhren, innergemeinschaftlichen Erwerben und inländischen Lieferungen sowie der Vermietung bestimmter Gegenstände.5 §  12 Abs. 2 UStG verweist auf die Anlage 2 zum UStG und enthält die Liste der dem ermäßigten Steuersatz unterliegenden Gegenstände. In dieser dreispaltigen Liste sind aufgeführt: Eine laufende Nummer, eine Warenbezeichnung und ein Verweis zum „Zolltarif (Kapitel, Position, Unterposition)“. Dieser Verweis ist tatsächlich ein solcher auf das Gliederungsschema der Kombinierten Nomenklatur (KN).6

4 BMF v. 5.8.2004 – IV B 7-S 7220-38/04, BStBl. I 2004, 638 – Rz. 59; bestätigt durch BFH v. 29.8.2013 – XI B 79/12, BFH/NV 2013, 1953. Diese enthält: „Wasser, einschließlich Mineralwasser und kohlensäurehaltiges Wasser, mit Zusatz von Zucker, anderen Süßmittel oder Aromastoffen, und andere nicht alkoholhaltige Getränke, ausgenommen Frucht- und Gemüsesäfte der Position 2009“. Der (in Deutschland) servierte fertige Espresso ist also Wasser mit Aromastoffen. Man kann noch sinnieren, wie ein „Caffè corretto“ einzureihen ist. Dabei handelt es sich um einen mit Alkohol (meistens Grappa) „korrigierter“ Espresso, so dass auch die Einreihung als alkoholisches Getränk in die KN-Pos. 2208 zu prüfen wäre. Allerdings verbleiben Getränke in der KN-Pos. 2202, soweit sie einen Alkoholgehalt von 0,5% vol oder weniger haben (siehe Anmerkung 3 zu KN-Kap. 22). Es dürfte aber immer beim Regelsteuersatz enden. Zwar ist nicht ausgeschlossen, aber ziemlich unwahrscheinlich, dass die Verabreichung eines Caffè corretto eine Lieferung darstellt, so dass deswegen der ermäßigte Steuersatz ohnehin nicht in Frage kommt. Er ist aber per Definition ein zubereiteter Kaffee, der ebenfalls auch im Falle der Lieferung der Regelbesteuerung unterliegt, vom alkoholischen Korrekturmittel ganz zu schweigen (auch wenn Espresso und Grappa getrennt serviert würden, was kein echter Caffè corretto wäre). 5 Vgl. § 12 Abs. 2 Nr. 1, 2 und 13 UStG. In Nr. 13 sind zusätzliche alternative Bedingungen genannt, welche erfüllt sein müssen, damit der ermäßigte Steuersatz anwendbar ist. 6 Vgl. dazu Schmölz in Weymüller, UStG, 1. Aufl. 2015, § 12 UStG Rz. 22 ff.

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Gestaltungen bei der Tarifierung

Die KN ist ein EU-rechtliches7 Warenverzeichnis, das auf dem „Harmonisierten System zur Bezeichnung und Codierung von Waren (HS)“8 beruht. Diese von der Weltzollorganisation entwickelte Warennomenklatur ist gegliedert in Abschnitte, Kapitel (die ersten zwei Stellen der Tarifnummer), Positionen (die ersten vier Stellen) und Unterpositionen (die ersten sechs Stellen). In der KN werden dieser Gliederung zur genaueren Abgrenzung und Einreihung von Waren zwei weitere Stellen hinzugefügt, so dass dort der sog. „Achtsteller“ zu finden ist (auch Unterposition genannt). Diesem Achtsteller werden insbesondere für die Einfuhr von Waren in die EU noch zwei weitere Stellen auf der EU-Ebene hinzugefügt, so dass die EU-Unterposition zehn Stellen ausmacht.9 In Deutschland erfolgt schließlich die Erweiterung um die elfte Stelle, so dass dann die so geschaffene nationale Codenummer bei der Einfuhr schließlich diese elf Stellen umfasst.10 Die Gliederung der Warennomenklatur orientiert sich einerseits nach dem Stoff oder den Stoffen, aus welchem die Ware gemacht ist, andererseits aber auch nach der Produktionstiefe und dem Verwendungszweck11 der Ware.12 Zurück zur Anlage 2 zum UStG: Es ist streitig – und vom BFH13 offen gelassen – ob die Verweisung auf den „Zolltarif “ in der Anlage 2 zum UStG eine dynamische oder 7 Vgl. Verordnung (EWG) Nr. 2658/87 des Rates v. 23.7.1987 über die zolltarifliche und statistische Nomenklatur sowie den Gemeinsamen Zolltarif, ABl EG L 256 v. 7.9.1987, 1.; letzte konsolidierte Fassung v. 1.6.2016: http://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/?​ qid=1512984726990&uri=CELEX:01987R2658-20160601, geprüft 5.6.2018. Die ab 1.1.2018 geltende Fassung findet man im ABl EU L 282, v. 31.10.2017, 1; http://eur-lex.europa.eu/ legal-content/DE/TXT/?uri=OJ:L:2017:282:TOC, geprüft 5.6.2018. 8 https://ec.europa.eu/taxation_customs/business/calculation-customs-duties/what-is-com​ mon-customs-tariff/harmonized-system-general-information_de, geprüft 5.6.2018. Das ab 1.1.2017 geltende HS findet man (auf Englisch und Französisch) unter http://www.wcoomd. org/en/topics/nomenclature/instrument-and-tools/hs-nomenclature-2017-edition/hs-­ nomenclature-2017-edition.aspx, geprüft 5.6.2018. 9 Siehe den entsprechenden Arbeitstarif der EU (TARIC): http://ec.europa.eu/taxation_ customs/dds2/taric/taric_consultation.jsp?Lang=de, geprüft 5.6.2018. 10 Siehe den Elektronischen Zolltarif (EZT): http://auskunft.ezt-online.de/ezto/, geprüft 5.6.2018. 11 Ein sehr bekanntes (und oft belächeltes) Beispiel ist das berühmte BMF-Schreiben zu getrockneten Schweineohren (BMF v. 16.10.2006 – IV A 5-S 7221 – 1/06, BStBl. I 2006, 594), deren Einreihung davon abhängt, ob sie zum menschlichen Verzehr geeignet sind (nicht notwendigerweise bestimmt). Es gibt aber keinen Grund, das Schreiben lächerlich zu machen. Die deutsche Finanzverwaltung hat ihre frühere abweichende Auffassung an die Sichtweise des EU-Rechts angepasst, und die betroffenen Steuerpflichtigen haben ein Recht auf eine solche Klarstellung. 12 Instruktiv mit Beispielen zum „Aufbau der Codenummer“ und „Einreihung von Waren in den Zolltarif “ erklärt auf der Internetseite des Zolls: http://www.zoll.de/DE/Fachthemen/ Zoelle/Zolltarif/Allgemeines/allgemeines_node.html#doc26028bodyText4; geprüft 5.6.2018. Lesenswert ist auch der Entscheidungsbaum der britischen Finanzverwaltung zum Steuersatz von Pelzbekleidung, vgl. „Items made of Fur: The fur skin flowchart”, https://www.gov. uk/hmrc-internal-manuals/vat-clothing/vclothing3100; geprüft 5.6.2018. 13 BFH v. 20.2.1990 – VII R 172/84, BFHE 160, 342 = BStBl. II 1990, 760; BFH v. 1.4.2008 – VII R 8/07, BStBl. II 2008, 898 = UR 2008, 623.

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eine statische ist. Im ersten Fall würde jede Änderung einer Position der KN, auf welche die Anlage verweist, automatisch auch eine Änderung des Inhalts der Anlage 2 zur Folge haben. Bei einer statischen Verweisung müsste die Anlage 2 zum UStG durch den Gesetzgeber angepasst werden.14 Das kann für die Zwecke dieses Beitrags aber dahinstehen.15 Schon aus dem Text der Anlage wird aber deutlich, dass die Verweisungen unterschiedlich wirken. Heißt es in der dritten Spalte nur „Kapitel“, „Position“ oder „Unterposition“, so sind alle in diesen Gliederungsstufen enthaltenen Gegenstände von § 12 Abs. 2 Nr. 1, 2 oder ggf. 13 UStG erfasst. Enthält die dritte Spalte dagegen das Wort „aus“ (beispielsweise „aus Position 0106“, eine sogenannte Exposition), unterliegen nicht alle in Position 0106 aufgelisteten Waren dem ermäßigten Steuersatz, sondern nur die in der mittleren Spalte der Anlage bezeichneten Waren.16 Die Art und Weise der Bezugnahme hat wesentlichen Einfluss auf die zulässige Auslegung der Vorschrift: Im Fall einer uneingeschränkten Verweisung (ohne „aus“) dürfen ausschließlich die zollrechtlichen Auslegungsmethoden17 angewendet werden, im anderen Fall auch die umsatzsteuerlichen.18 14 Vgl. dazu Schmölz in Weymüller, UStG, 1. Aufl. 2015, § 12 UStG Rz. 22.2. 15 Hingewiesen sei nur auf eine Verweisungstechnik bei den besonderen Verbrauchsteuern, bei denen der deutsche Gesetzgeber sich mit der Definition des Begriffs Kombinierte Nomenklatur in den Verbrauchsteuergesetzen eindeutig für eine statische Verweisung entscheiden hat: vgl. in § 1a Nr. 2 EnergieStG: „Kombinierte Nomenklatur… in der am 1.1.2002 geltenden Fassung“; so auch in § 1 Abs. 6 KaffeeStG und § 1 Abs. 2 StromStG; in den § 1 Abs. 3 BierStG, § 1 Abs. 3 SchaumwZwStG und § 1 Abs. 4 AlkStG (bis zum 31.12.2017: § 130 Abs. 5 BranntwMonG) wird hingegen auf die KN-Fassung am 19.10.1992 verwiesen; das Tabaksteuergesetz wie auch das Alkopopsteuergesetz wiederum kennen keinen Verweis auf die KN, da dort die Steuergegenstände unabhängig von der zolltariflichen Einreihung definiert werden, vgl. § 1 TabakStG, wobei in § 1 AlkopopStG wiederum auf die Erzeugnisse des § 1 Abs. 1 AlkStG verwiesen wird. 16 Vgl. dazu Kraeusel, FS 100 Jahre Umsatzsteuer, S. 629 ff. 17 Ständige Rechtsprechung seit BFH v. 20.2.1990 – VII R 172/84, BFHE 160, 342 = BStBl. II 1990, 760. 18 „In Expositionen verwendete Begriffe sind umsatzsteuerrechtlich auszulegen, wenn sie eigenständige Begriffe verwenden, die zolltariflich ohne Belang sind. Verwendet aber die Exposition –wie hier – Begriffe der KN, sind auch diese zolltariflich auszulegen…“; BFH v. 18.12.2008 – V R 55/06, BFHE 223, 539 = UR 2009, 243. Zur umsatzsteuerlichen Auslegung gehört auch die grammatisch-teleologische Auslegung bei inhaltlichen Unterschieden der verschiedenen Sprachfassungen eines EU-Rechtsakts; vgl. dazu die EuGH-Urteile zur Anwendung des ermäßigten Steuersatzes auf die Lieferung von Rennpferden; EuGH v. 3.3.2011 – C-41/09 – Kommission vs. Königreich der Niederlande, UR 2012, 114 und v. 12.5.2011  – C-453/09  – Kommission vs. Bundesrepublik Deutschland, UR 2011, 827. Zu den dahinter stehenden sprachlichen Unterschieden s. Korf, Der essbare Blindenhund und der Wallach als Zuchthengst  – Betrachtungen zum Sprachfaktor im europäischen Steuerrecht, in Lang/Weinzierl (Hrsg.), Europäisches Steuerrecht, Festschrift für Friedrich Rödler zum 60. Geburtstag, 2010, S. 459. Alle zitierten Entscheidungen des EuGH sind unter Eingabe des Aktenzeichens unter ­https://curia.europa.eu/jcms/jcms/j_6/de/ auffindbar.

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Gestaltungen bei der Tarifierung

Die Weltzollorganisation (WZO) selbst erklärt die Zuordnung von Waren im HS in ihren „Erläuterungen“ (Explanatory Notes), welche eine Kommentierung zu den Positionen und die Nennung von möglichen dort einzureihenden Waren einschließlich ihrer Merkmale enthalten.19 Daneben gibt es sogenannte „Avise“ der WZO. Sie betreffen Einzelfälle der Einreihung bestimmter Waren, die von den WZO-Mitgliedstaaten zur Entscheidung eingebracht wurden. Auf europäischer Ebene werden Er­ läuterungen zur KN veröffentlicht,20 welche die Erläuterungen zum HS ergänzen. Entscheidungen europäischer Institutionen (EuGH, EU-Kommission) zu Einzelfällen sowie die „Leitlinien zur Einreihung von für den Einzelverkauf aufgemachten Warenzusammenstellungen in die Kombinierte Nomenklatur“ der Kommission sind ebenfalls für die Einreihung hilfreich.21 Schließlich finden auch nationale Entscheidungen Eingang in die Erläuterungen zur KN. Diese Zusammenstellung unterschiedlicher Quellen ist in Deutschland im Elektronischen Zolltarif (EZT) der Zollverwaltung zu finden.22 Auch ist es möglich, im EZT eine Einreihung über eine systematische Suche über die Warennomenklatur oder eine einfache Suche mittels Stichwortverzeichnis vorzunehmen.23 Zusätzlich steht noch die EU-weite Entscheidungsdatenbank zu allen erteilten und gültigen verbindlichen Zolltarifauskünften (EBTI) zur Verfügung.24 Die Rechtsnatur dieser Erläuterungen zum HS wie zur KN ist im Detail streitig. Einigkeit besteht dahin gehend, dass es sich nicht um Rechtsnormen handelt. Ausgehend von der früheren Sichtweise der deutschen Finanzverwaltung25 wird vertreten, sie hätten „allerdings nur den Charakter von Verwaltungsanweisungen“.26 Nach gefestigter Rechtsprechung27 sind die Erläuterungen und die Avise zum HS ebenso wie die Erläuterungen zur KN ein wichtiges, aber nicht verbindliches Mittel zur Auslegung der Tarifpositionen. Hierbei ist unbedingt zu beachten, dass diese Er19 Siehe http://www.wcoomd.org/en/topics/nomenclature/instrument-and-tools/tools-to-as​ sist-with-the-classification-in-the-hs/explanatory-notes.aspx, geprüft 5.6.2018. 20 Zunächst im Abl. EG C 256 v. 23.10.2002, später bei ihrem jeweiligen Erscheinen. 21 Abl. EU C 105 v. 11.4.2013, 1. 22 Siehe unter http://auskunft.ezt-online.de/ezto/, dort „Texte“, dann „Inhaltsverzeichnis Erläuterungen“. 23 Siehe unter http://auskunft.ezt-online.de/ezto/, dort „Einfuhr“ oder „Ausfuhr“ auswählen, dann „Einreihung“ und „Warennomenklatur“ oder „Stichwortverzeichnis“ auswählen. 24 Diese wird von der EU-Kommission betrieben: http://ec.europa.eu/taxation_customs/ dds2/ebti/ebti_home.jsp?Lang=de 25 BMF v. 28.4.1970 – III B/5-Z 1243-8/70, BStBl. I 1970, 440. Dieses Schreiben wurde allerdings inzwischen aufgehoben; vgl. BMF v. 21.3.2017 – IV A 2-O 2000/16/10001 – zur „Anwendung von BMF-Schreiben und gleich lautenden Erlassen der obersten Finanzbehörden der Länder; BMF-Schreiben und gleich lautende Erlasse, die bis zum 20.3.2017 ergangen sind“; BStBl. I 2017, 486. 26 So Kraeusel in Reiß/Kraeusel/Langer, UStG, § 12 UStG Rz. 409; a.A. Schmölz in Weymüller, UStG, 1. Aufl. 2015, § 12 UStG Rz. 25.1, nach dessen Ansicht ihre Bedeutung „weit über die einer Verwaltungsanweisung“ hinausgeht. 27 Zuletzt EuGH v. 20.5.2016 – C-198/15 – Invamed und andere; BFH v. 30.3.2010 – VII R 35/09, UR 2010, 497; zuletzt BFH v. 21.2.2017 – VII R 2/15, BFH/NV 2017, 1066.

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läuterungen ohne Rechtscharakter von den „Anmerkungen“ zu den Abschnitten und Kapiteln der KN zu unterscheiden sind. Denn diese Anmerkungen sind rechtverbindlich und daher bei der Einreihung zwingend anzuwenden. Diese Rechtsverbindlichkeit der Anmerkungen wird in den allgemeinen Vorschriften (AV) für die Auslegung der Kombinierten Nomenklatur geregelt.28 Sie sind sozusagen vor die Klammer gezogen. Sie stellen klar, dass die Überschriften der Abschnitte, Kapitel und Teilkapitel nur Hinweise sind, denn maßgebend für die Einreihung sind der Wortlaut der Positionen (also der 4-Steller) und der Anmerkungen zu den Abschnitten oder Kapiteln und – soweit in den Positionen oder in den Anmerkungen zu den Abschnitten oder Kapiteln nichts anderes bestimmt ist – die weiteren Allgemeinen Vorschriften (AV 1). Die AV 2 enthält Regeln für die Einreihung von unvollständigen und unfertigen Waren sowie von zerlegten oder noch nicht zusammengesetzten Waren und für die Einreihung gemischter oder aus mehreren Stoffen bestehender Waren. AV 3 ist einer der wichtigsten dieser allgemeinen Vorschriften, denn sie regelt, wie Einreihungskonkurrenzen, also das Vorhandensein von mindestens zwei denkbaren Positionen für eine Ware, aufzulösen sind.29 Die AV 4, die eine Einreihung über eine Ähnlichkeitsbetrachtung von Waren ermöglicht30, ist in der Praxis eine der am wenigsten angewandten Normen, weil in der Regel schon die AV 3 zu einem Einreihungsergebnis führt. Die AV 5 regelt dann noch die Einreihung von wiederverwendbaren Behältnissen und sonstigen Verpackungen. 28 Dazu im Detail Schmölz in Weymüller, UStG, 1. Aufl. 2015, § 12 UStG Rz. 28 ff. 29 Kommen für die Einreihung von Waren bei Anwendung der Allgemeinen Vorschrift 2 b) oder in irgendeinem anderen Fall zwei oder mehr Positionen in Betracht, so wird wie folgt verfahren: a) Die Position mit der genaueren Warenbezeichnung geht den Positionen mit allgemeiner Warenbezeichnung vor. Zwei oder mehr Positionen, von denen sich jede nur auf einen Teil der in einer gemischten oder zusammengesetzten Ware enthaltenen Stoffe oder nur auf einen oder mehrere Bestandteile einer für den Einzelverkauf aufgemachten Warenzusammenstellung bezieht, werden im Hinblick auf diese Waren als gleich genau betrachtet, selbst wenn eine von ihnen eine genauere oder vollständigere Warenbezeichnung enthält. b) Mischungen, Waren, die aus verschiedenen Stoffen oder Bestandteilen bestehen, und für den Einzelverkauf aufgemachte Warenzusammenstellungen, die nach der Allgemeinen Vorschrift 3 a) nicht eingereiht werden können, werden nach dem Stoff oder Bestandteil eingereiht, der ihnen ihren wesentlichen Charakter verleiht, wenn dieser Stoff oder Bestandteil ermittelt werden kann. c) Ist die Einreihung nach den Allgemeinen Vorschriften 3 a) und 3 b) nicht möglich, wird die Ware der von den gleichermaßen in Betracht kommenden Positionen in dieser Nomenklatur zuletzt genannten Position zugewiesen. 30 AV 4: Waren, die nach den vorstehenden Allgemeinen Vorschriften nicht eingereiht werden können, werden in die Position der Waren eingereiht, denen sie am ähnlichsten sind.

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Gestaltungen bei der Tarifierung

Schließlich regelt die AV 6 die Einreihung der Ware in die Unterposition der KN (also beginnend ab dem 6-Steller).

II. Die Einreihungskunst am Praxisfall ausgeübt Die Anwendung dieses zoll- und umsatzsteuerlichen Handwerkszeugs auf einen im Grundsatz31 praktischen Fall soll anhand des nachfolgenden Beispiels gezeigt werden: Beispiel: In einer tropischen Pflanze wird ein neuer Wirkstoff32 Abezehlis entdeckt. Dieser bewirkt oral eingenommen eine Stärkung des Immunsystems und eine Steigerung des Wohlbefindens. Wird er über die Nase in den Körper eingebracht, bewirkt er gegebenenfalls ein Abschwellen der Nasenschleimhaut, verbessert den Sekret-Abfluss bei Nebenhöhlenentzündungen und mindert Kopfschmerzen. Die in Deutschland ansässigen Unternehmer A und L möchten die Wirkungen von Abezehlis für ihr jeweiliges Unternehmen nutzen und (unter anderem) den deutschen Markt beliefern. A will das Endprodukt im Herkunftsland der Pflanze produzieren, L dagegen in Deutschland. Das heißt, A muss das Endprodukt in die EU einführen. Das Unternehmen des L ist ein Direktvertrieb mit voraussichtlich überwiegend nichtunternehmerischen Endkunden.

Daraus ergeben sich für die beiden Unternehmer gegenläufige Interessen. A wird erreichen wollen, dass auf sein Fertigprodukt kein Zoll erhoben wird. L dagegen wird eine Einreihung anstreben, die zur Anwendung des ermäßigten Steuersatzes33 führt. 1. Ziel: Einreihung als Arzneiware A überlegt, wie sein Zielprodukt vom Durchschnittsverbraucher eingeschätzt werden wird. Da es gegen Kopfschmerzen und Nebenhöhlenentzündungen wirkt, liegt der Gedanke an ein Medikament nahe. Also sucht er nach der zollrechtlichen Einreihung 31 Das Beispiel entspricht insofern nicht der Realität, weil Fragen des Arzneimittelrechts, des Lebensmittelrechts und des Nahrungsmittelergänzungsrechts nicht angesprochen werden. Sie spielen aber nach ganz einhelliger Auffassung für die zollrechtliche Einreihung keine Rolle; vgl. BFH v. 30.3.2010 – VII R 35/09, UR 2010, 497; instruktiv auch FG Düsseldorf, Urt. v. 20.2.2013 – 4 K 2960/12 U; juris. Selbst Waren, die EU-rechtlich Arzneimittel im Sinne der Richtlinie 2001/83* sind, werden nicht automatisch als Arzneiware im zollrechtlichen eingereiht; EuGH v. 15.12.2016  – 700/15 (LEK). *Richtlinie 2001/83/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 6.11.2001 zur Schaffung eines Gemeinschaftskodexes für Humanarzneimittel (ABl. 2001, L 311, S. 67) in der durch die Richtlinie 2011/62/EU des Europäischen Parlaments und des Rates v. 8.6.2011 (ABl. 2011, L 174, S. 74) geänderten Fassung. Es wird unterstellt, dass die erforderlichen Zulassungen und Genehmigungen erteilt werden. 32 Dieser fiktive Wirkstoff soll weder ein Vitamin, ein Mineralstoff, eine essentielle Aminosäuren oder eine Fettsäure sein. Der Grund dafür erschließt sich bei der weiteren Lektüre. 33 Eine Steuerfreiheit auf Inlandsumsätze wäre dagegen wegen des Vorsteuerausschlusses kontraproduktiv.

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von Medikamenten. Er findet heraus, dass seit 200234 auf Arzneiwaren kein Zoll (mehr) erhoben wird, wenn bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind. Hierzu lautet der maßgebende Wortlaut der KN-Position 3004: „Arzneiwaren (ausgenommen Erzeugnisse der Position 3002, 3005 oder 3006), die aus gemischten oder ungemischten Erzeugnissen zu therapeutischen oder prophylaktischen Zwecken bestehen, dosiert (einschließlich solcher, die über die Haut verabreicht werden) oder in Aufmachungen für den Einzelverkauf “. Somit muss zunächst ausgeschlossen werden, dass das Zielprodukt in eine der genannten Positionen 300235, 300536 oder 300637 eingereiht wird. Das lässt sich bewerkstelligen. Zumindest dem Wortlaut der Position nach kann A diese Voraussetzung erfüllen, 34 „Titel II Besondere Bestimmungen Buchstabe C. Pharmazeutische Erzeugnisse“ der Verordnung (EG) Nr. 2031/2001 der Kommission v. 6.8.2001 zur Änderung des Anhangs I der Verordnung (EWG) Nr. 2658/87 des Rates über die zolltarifliche und statistische Nomenklatur sowie den Gemeinsamen Zolltarif; ABl EG L 279 v. 23.10.2001, mit Detailregelungen im Anhang 1. 35 Menschliches Blut; tierisches Blut, zu therapeutischen, prophylaktischen oder diagnostischen Zwecken zubereitet; Antisera, andere Blutfraktionen und immunologische Erzeugnisse, auch modifiziert oder in einem biotechnologischen Verfahren hergestellt; Vaccine, Toxine, Kulturen von Mikroorganismen (ausgenommen Hefen) und ähnliche Erzeugnisse. 36 Watte, Gaze, Binden und ähnliche Erzeugnisse (z.B. Verbandzeug, Pflaster zum Heilgebrauch, Senfpflaster), mit medikamentösen Stoffen getränkt oder überzogen oder in Aufmachungen für den Einzelverkauf zu medizinischen, chirurgischen, zahnärztlichen oder tierärztlichen Zwecken. 37 Pharmazeutische Zubereitungen und Waren im Sinne der Anmerkung 4 zu Kapitel 30 [Diese Anmerkung lautet:] 4. Zu Position 3006 gehören nur die nachstehend aufgeführten Erzeugnisse, die dieser Position und keiner anderen Position der Nomenklatur zuzuweisen sind: a) steriles Catgut, ähnliches steriles Nahtmaterial und sterile Klebstoffe für organische Gewebe, die in der Chirurgie zum Schließen von Wunden verwendet werden; b) sterile Laminariastifte und-tampons; c) sterile resorbierbare Blut stillende Einlagen zu chirurgischen oder zahnärztlichen Zwecken; d) Röntgenkontrastmittel sowie diagnostische Reagenzien zur Verwendung am Patienten, soweit es sich um ungemischte dosierte oder für die gleichen Zwecke verwendbare, aus zwei oder mehr Stoffen gemischte Erzeugnisse handelt; e) Reagenzien zum Bestimmen der Blutgruppen oder Blutfaktoren; f) Zahnzement und andere Zahnfüllstoffe; Zement zum Wiederherstellen von Knochen; g) Taschen und andere Behältnisse mit Apothekenausstattung für erste Hilfe; h) empfängnisverhütende chemische Zubereitungen auf der Grundlage von Hormonen, von anderen Erzeugnissen der Position 2937 oder von Spermiziden; ij) Zubereitungen in Form von Gelen, die in der Human-oder Veterinärmedizin als Gleitmittel für Körperteile bei chirurgischen Operationen oder medizinischen Untersuchungen oder als Kontaktmittel zwischen dem Körper und den medizinischen Geräten verwendet werden; und k) pharmazeutische Abfälle, d. h. pharmazeutische Erzeugnisse, die für den eigentlichen Verwendungszweck nicht mehr geeignet sind, z. B. weil das Verfallsdatum überschritten ist.

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weil sein Produkt nicht in die genannten Positionen einzureihen ist. Ob das Zollrecht so einfach ist? Dann gäbe es wohl nicht so viele Prozesse um die richtige Einreihung. Der EuGH38 hat den Begriff Arzneiware definiert als „Erzeugnisse [sind], die genau umschriebene therapeutische oder prophylaktische Eigenschaften aufweisen und deren Wirkungen auf ganz bestimmte Funktionen des menschlichen Organismus konzentriert sind“. „Zum anderen hat der Gerichtshof entschieden, dass die Darbietung solcher Erzeugnisse in dosierter Form oder ihre Aufmachung für den Einzelverkauf, wie schon aus dem Wortlaut der Position 3004 hervorgeht, eine Voraussetzung für die Anwendung dieser Bestimmung ist“.39 Das Zielprodukt des A weist genau umschriebene therapeutische Eigenschaften auf, denn es mindert Kopfschmerzen, lässt erforderlichenfalls die Nasenschleimhäute abschwellen und unterstützt den Sekretabfluss bei Nebenhöhlenentzündungen. Daraus ergibt sich ebenfalls, dass die Wirkungen des Zielprodukts auf Kopf und Nasaltrakt konzentriert sind. A muss also noch sicherstellen, dass das Zielprodukt in dosierter Form oder in einer Aufmachung für den Einzelverkauf dargeboten wird. Daneben muss A, um die Einreihung des Produkts als Arzneiware zu erreichen, auch noch die Anmerkungen zum Kapitel 30 der KN erfüllen, denn diese sind neben dem Wortlaut der Position ebenfalls maßgebend für die Einreihung (vgl. AV 1). Das KN-Kapitel 30 hat zunächst wie viele andere Kapitel eine sog. Ausweisungsanmerkung, die bestimmte Waren von vornherein vom Kapitel ausschließt, siehe Anmerkung 1 zu Kapitel 30.40 38 EuGH v. 9.1.2007  – C-40/06  – Juers Pharma  – Rz.  22 m.w.N.; bestätigt durch Urt. v. 15.12.2016 – C-700/15 (LEK); zu als Arznei aufgemachten Nahrungsergänzungsmitteln). 39 EuGH v. 9.1.2007  – C-40/06  – Juers Pharma  – Rz.  23 m.w.N; bestätigt durch Urt. v. 30.4.2014 – C‑267/13 (Nutricia NV; zur Sondennahrung). 40 1. Zu Kapitel 30 gehören nicht: a) Nahrungsmittel oder Getränke (wie diätetische, diabetische oder angereicherte Lebensmittel, Nahrungsergänzungsmittel, tonische Getränke und Mineralwasser), andere nicht intravenös zu verabreichende Nährstoffzubereitungen (Abschnitt IV); b) Zubereitungen wie Tabletten, Kaugummis oder Pflaster (transdermale Systeme), zur Unterstützung bei der Raucherentwöhnung (Position 2106 bzw. 3824); c) besonders gebrannter oder fein gemahlener Gips, von der in der Zahnheilkunde verwendeten Art (Position 2520); d) destillierte aromatische Wässer und wässrige Lösungen ätherischer Öle, von der für medizinische Zwecke verwendeten Art (Position 3301); e) Zubereitungen der Positionen 3303 bis 3307, auch mit therapeutischen oder prophylaktischen Eigenschaften; f) Seifen oder andere Erzeugnisse der Position 3401 mit medikamentösen Zusätzen; g) Zubereitungen auf der Grundlage von Gips, von der in der Zahnheilkunde verwendeten Art (Position 3407); h) Blutalbumin, nicht zu therapeutischen oder prophylaktischen Zwecken zubereitet (Position 3502).

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Die Fertigware des A wird von diesen Ausweisungen nicht erfasst, sofern er die therapeutische Wirkung seines Pflanzenauszuges als Arzneimittel hervorhebt, so dass seine Ware in der KN-Position 3004 verbleiben kann. Eine Erhaltung der Gesundheit oder des Wohlbefindens allein reichen für die Einreihung in die Position 3004 nicht aus.41 Des Weiteren hat A die Anmerkung 3 zu Kapitel 30 zu beachten42. Nach dem vorliegenden Sachverhalt dürfte die Anmerkung 3 Buchst. a) Nr. 3 erfüllt sein, weil der Wirkstoff aus einer tropischen Pflanze gewonnen wird, so dass auch hiernach das Produkt des A in KN-Pos. 3004 verbleibt. Schließlich hat A noch die Zusätzliche Anmerkung43 1 zu Kapitel 30 der KN zu beachten44. Diese lautet: 1. Zu Position 3004 gehören pflanzliche Arzneizubereitungen und Zubereitungen auf der Grundlage folgender Wirkstoffe: Vitamine, Mineralstoffe, essentielle Aminosäuren oder Fettsäuren, in Aufmachungen für den Einzelverkauf. Diese Zubereitungen sind in Position 3004 einzureihen, wenn auf dem Etikett, der Verpackung oder dem Beipackzettel folgende Angaben gemacht werden: a) die spezifischen Krankheiten, Leiden oder deren Symptome, bei denen diese Erzeugnisse verwendet werden sollen; b) die Konzentration der aktiven Wirkstoffe oder der darin enthaltenen Stoffe; c) die Dosierung und d) die Art der Anwendung. In diese Position gehören homöopathische Arzneizubereitungen, vorausgesetzt, sie erfüllen die unter den Buchstaben a), c) und d) genannten Bedingungen. Bei Zubereitungen auf der Grundlage von Vitaminen, Mineralstoffen, essentiellen Aminosäuren oder Fettsäuren muss die Menge eines dieser Stoffe pro auf dem Etikett angegebener emp-

41 Vgl. ErlKN zu Pos. 3004 (HS) Rz. 20.0. 42 3. Im Sinne der Positionen 3003 und 3004 und der Anmerkung 4 d) dieses Kapitels gelten: a) als ungemischte Erzeugnisse: 1) wässrige Lösungen ungemischter Erzeugnisse; 2) alle Erzeugnisse des Kapitels 28 oder 29; 3) einfache Pflanzenauszüge der Position 1302, nur auf einen bestimmten Wirkungswert eingestellt oder in einem beliebigen Lösemittel gelöst; b) als gemischte Erzeugnisse: 1) kolloide Lösungen und kolloide Suspensionen (ausgenommen kolloider Schwefel); 2) Pflanzenauszüge, durch Behandlung von Mischungen pflanzlicher Stoffe erhalten; 3) Salze und konzentrierte Wässer, durch Eindampfen natürlicher Mineralwässer erhalten. 43 Nach der EuGH-Rechtsprechung sind (neben dem Wortlaut, aber anders als die Erläu­ terungen der Kommission und der WZO) die Anmerkungen rechtsverbindlich; EuGH, Urt. v. 12.7.2012 – C 291/11 – TNT Freight Management – Rz. 31. 44 Zusätzliche Anmerkung 1 zu Kapitel 30 der KN; eingeführt durch Verordnung (EG) Nr. 1777/2001 der Kommission v. 7.9.2001 zur Änderung des Anhangs I der Verordnung (EWG) Nr. 2658/87 des Rates über die zolltarifliche und statistische Nomenklatur sowie den Gemeinsamen Zolltarif, ABl EG v. 8.9.2001, Nr. L 24.

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Gestaltungen bei der Tarifierung fohlener Tagesdosis deutlich höher sein, als die für den Erhalt der allgemeinen Gesundheit oder des allgemeinen Wohlbefindens empfohlene Tagesdosis.

Diese Anmerkung stellt einige sprachliche Herausforderungen. Schon der Wortlaut des ersten Satzes ist nicht eindeutig. Es ist nicht erkennbar, ob der Zusatz „auf der Grundlage folgender Wirkstoffe: Vitamine, Mineralstoffe, essentielle Aminosäuren oder Fettsäuren“ sich nur auf das vorangehende Wort „Zubereitungen“ bezieht oder auch auf die diesem vorangestellten (pflanzlichen) Arzneizubereitungen. Aus Satz45 4 folgt aber, dass die „Zubereitungen auf der Grundlage von Vitaminen, Mineralstoffen, essentiellen Aminosäuren oder Fettsäuren“ eine eigene Gruppe neben den „pflanzlichen Arzneizubereitungen“ darstellen, denn nur letztere müssen eine weitere Voraussetzung erfüllen, um in Position 3004 eingereiht zu werden. Bezieht sich der Begriff „Diese Zubereitungen“ in Satz 2 sowohl auf die „pflanzlichen Arzneizubereitungen“ als auch die Zubereitungen „auf der Grundlage folgender Wirkstoffe: Vitamine, Mineralstoffe, essentielle Aminosäuren oder Fettsäuren“? Es spricht einiges dafür, dass der Begriff in Satz 2 sich auf beide Arten bezieht. Andernfalls wären die „pflanzlichen Arzneizubereitungen“ die einzige Warengruppe in dieser Anmerkung, welche außer der Aufmachung für den Einzelverkauf keine weitere Bedingung erfüllen müsste, um in Position 3004 eingereiht zu werden. Das ist zwar nicht ausgeschlossen. Es hätte dann aber näher gelegen, diese Besonderheit mit einer eigenen Aufzählungsebene anzuzeigen. Auch das Verhältnis zwischen den „pflanzlichen Arzneizubereitungen“ in Satz 1 und den „homöopathischen Arzneizubereitungen“ in Satz 3 erschließt sich nicht aus dem Wortlaut. Homöopathische Arzneimittel können auf einer pflanzlichen Substanz beruhen, müssen aber nicht.46 Ist also Satz 3 nur eine Detailbeschreibung der in Satz 1 genannten pflanzlichen Arzneizubereitungen, oder eröffnet er den Anwendungsbereich der Position 3004 für nicht-pflanzliche Arzneizubereitungen, welche auch nicht „auf der Grundlage von Vitaminen, Mineralstoffen, essentiellen Aminosäuren oder Fettsäuren“ basieren? Das ist weder dem deutschen noch dem englischen47 Text der Anmerkung zweifelsfrei zu 45 Hier ist unklar, ob es sich um einen Unterabsatz der Anmerkung 1 handelt oder um einen Satz (wenn die Anmerkung keine Unterabsätze hat). 46 „Das Ausgangsmaterial kann eine konzentrierte Zubereitung pflanzlichen, tierischen oder menschlichen Ursprungs sein (wie etwa die Urtinktur) oder aber auch eine chemische oder mineralische Substanz.“, https://de.wikipedia.org/wiki/Hom%C3%B6opathisches_Arznei mittel; geprüft 5.6.2018. 47 Additional note: 1. Heading 3004 includes herbal medicinal preparations and preparations based on the following active substances: vitamins, minerals, essential amino-acids or fatty-acids, in packings for retail sale. These preparations are classified in heading 3004 if they bear on the label, packaging or on the accompanying user directions the following statements of: (a) the specific diseases, ailments or their symptoms for which the product is to be used; (b) the concentration of active substance or substances contained therein; (c) dosage; and (d) mode of application.

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entnehmen. Die Zweifel reduzieren sich nach einem Blick in die französische Ver­ sion – dort48 heißt es. „Cette position comprend également…“, „diese Position umfasst auch…“.49 Die Anmerkung 1 Unterabsatz 1 Satz 3 zu KN-Kapitel 30 erweitert also den Anwendungsbereich der Position 3004. Daraus ergibt sich, dass folgende Waren in die KN-Position 3004 einzureihen sind:50 ȤȤ Pflanzliche Arzneizubereitungen in Aufmachungen für den Einzelverkauf, wenn auf dem Etikett, der Verpackung oder dem Beipackzettel kumulativ51 die Angaben nach den Buchstaben a) bis d) gemacht werden; ȤȤ Zubereitungen auf der Grundlage folgender Wirkstoffe: Vitamine, Mineralstoffe, essentielle Aminosäuren oder Fettsäuren, in Aufmachungen für den Einzelverkauf, wenn auf dem Etikett, der Verpackung oder dem Beipackzettel kumulativ die Angaben nach den Buchstaben a) bis d) gemacht werden; und die Menge eines dieser Stoffe pro auf dem Etikett angegebener empfohlener Tagesdosis deutlich höher ist als die für den Erhalt der allgemeinen Gesundheit oder des allgemeinen Wohlbefindens empfohlene Tagesdosis. ȤȤ Homöopathische Arzneizubereitungen unabhängig von ihrer Darreichungsform, wenn auf dem Etikett, der Verpackung oder dem Beipackzettel kumulativ die Angaben nach den Buchstaben a), c) und d) gemacht werden. This heading includes homeopathic medicinal preparations when they meet the above mentioned conditions of (a), (c) and (d). In the case of preparations based on vitamins, minerals, essential amino-acids or fatty-acids, the level of one of these substances per recommended daily dose indicated on the label must be significantly higher than the recommended daily intake to maintain general health or well-being. 48 Note complémentaire: 1. Le nº 3004 comprend des préparations à base de plantes et des préparations à base des substances actives suivantes: vitamines, minéraux, acides aminés essentiels et acides gras, conditionnés pour la vente au détail. Ces préparations sont à classer dans Le nº 3004 si l’étiquette, l’emballage ou le mode d’emploi porte les indications suivantes: a) les maladies, affections ou leurs symptômes, contre lesquels elles doivent être em­ployées; b) la concentration de la substance active ou des substances actives qu’elles contiennent; c) la posologie, et d) le mode d’administration. Cette position comprend également les préparations homéopathiques à usage médical à condition qu’elles remplissent les conditions a), c) et d) mentionnées ci-dessus. Dans le cas des préparations à base de vitamines, minéraux, acides aminés essentiels et acides gras, le niveau d’une de ces substances par dose journalière recommandée figurant sur l’étiquette doit être significativement plus élevé que l’apport journalier recommandé nécessaire pour garder la santé en général ou le bien-être. 49 Entsprechend im Italienischen (Tale voce include ugualmente le preparazioni medicinali omeopatiche quando rispondono alle summenzionate condizioni a), c) e d); ); im Portugiesischen (igualmente); und im Niederländischen (eveneens). Das „auch” oder „ebenfalls“ fehlt wie im Deutschen und Englischen im Spanischen. 50 Vgl. auch die ErlKN zu Kap. 30 (KN) Rz. 02.0 ff. 51 Das ergibt sich aus dem „und“ am Ende von Buchstabe c).

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Nachdem A alle sprachlichen Herausforderungen gemeistert und das vorstehende Ergebnis gefunden hat, erkennt er: Das Zielprodukt könnte zwar eine homöopathische Arzneizubereitung sein, für die dann auf dem Etikett, der Verpackung oder dem Beipackzettel die Angaben nach den Buchstaben a), c) und d) gemacht werden müssten. Das könnte aber denjenigen Teil der Zielgruppe vom Kauf abhalten, der der klassischen Schulmedizin anhängt und der Homöopathie nichts abgewinnen kann. Die Angabe der dreifachen Tagesdosis als Vitamin- oder Mineralstoffzubereitung52 scheitert aus zwei Gründen: Zum einen ist der Wirkstoff weder ein Vitamin, ein Mineralstoff, eine essentielle Aminosäuren oder eine Fettsäure.53 Zum anderen ist nicht davon auszugehen, dass es für einen neu entdeckten Wirkstoff so schnell eine empfohlene Tagesdosis54 geben wird, dass A diese für Einreihungszwecke nutzen könnte. Das Zielprodukt ist aber eine pflanzliche Arzneizubereitung. Wenn A diese in Aufmachungen für den Einzelverkauf auf den Markt bringt, und wenn auf dem Etikett, der Verpackung oder dem Beipackzettel kumulativ die Angaben nach Satz 2 Buchstaben a) bis d) gemacht werden, dann ist diese Ware als Arzneiware in Position 3004 der KN einzureihen. Ihre Einfuhr ist dann zollfrei. Da es A ja tatsächlich um eine zollrechtlich relevante Einfuhr geht, kann er sich dieses Ergebnis der Untersuchung auch durch eine verbindliche Zolltarifauskunft (vZTA) bestätigen und damit absichern lassen. Warum das sinnvoll ist55 und wie es geht, schildert die Zollverwaltung anschaulich auf ihrer Webseite. Größter Vorteil ist hierbei die Bindung der Zollverwaltung (und letztlich auch der Finanzverwaltung) an diese vZTA, so dass die Verwaltung an einer nachträglichen Erhebung der Zölle bei der Wahl einer anderen Tarifposition grundsätzlich gehindert bzw. dies nur in be52 Vgl. ErlKN zu Pos. 3004 (KN) Rz. 02.0, 06.1. 53 Vgl. Sachverhaltsvorgabe in Fn. 34. 54 Es gibt unterschiedliche empfohlene Tagesdosen oder Referenzwerte; die Erläuterungen KN zu Kapitel 30 (KN) in den Rz. 07.2 bei der Tagesdosis (RDA) bezüglich bestimmter Vitamine und Mineralstoffe verweisen auf den Anhang der Richtlinie 90/496/EWG des Rates v. 24.9.1990 über die Nährwertkennzeichnung von Lebensmitteln (ABl. L 276 v. 6.10.1990, S. 40), geändert durch die Richtlinie 2008/100/EG der Kommission v. 28.10.2008 (ABl. L 285 v. 29.10.2008, S. 9, Originalüberschrift im Amtsblatt „Umrechnungsfaktoren“); vgl. auch http://www.efsa.europa.eu/en/topics/topic/food-supplements, geprüft 5.6.2018. Bei den Tagesdosen für die Aminosäuren und Fettsäuren wird wiederum auf die WHO/ FAO/UNU-Konsultation von Sachverständigen im Jahr 2007 verwiesen, siehe ErlKN zu Kap. 30 (KN) Rz.  07.3 und 07.4.; vgl. auch Protein And Amino Acid Requirements, In: Human Nutrition; Report of a Joint WHO/FAO/UNU Expert Consultation; WHO Technical Report Series 935; ISBN 978 92 4 120935 9, derzeit nicht lieferbar, http://apps.who.int/ book​orders/anglais/detart1.jsp?codlan=1&codcol=10&codcch=935, geprüft 5.6.2018. Siehe für empfohlene Tagesdosen auch: Referenzwerte für die Nährstoffzufuhr; Deutsche Gesellschaft für Ernährung, Österreichische Gesellschaft für Ernährung, Schweizerische Gesellschaft für Ernährungsforschung, Schweizerische Vereinigung für Ernährung: 1. Auflage, 5. korrigierter Nachdruck, 2013. 55 http://www.zoll.de/DE/Fachthemen/Zoelle/Zolltarif/verbindliche-Zolltarifauskunft/ver​ bindliche-zolltarifauskunft_node.html, geprüft 5.6.2018.

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stimmten Fällen möglich ist.56 Andererseits ist auch der Unternehmer an diese vZTA drei Jahre lang gebunden – auch in den Fällen, in denen die begehrte Tarifnummer doch nicht erteilt wurde und das Einspruchs- und Klageverfahren dagegen erfolglos verlief. Auf die Möglichkeit der Recherche in der vZTA-Datenbank der EU-Kommission (EBTI) wurde oben bereits kurz eingegangen. Soweit zu Unternehmer A. Welches Ziel ist für den Unternehmer L nun interessant? 2. Ziel: Einreihung als Lebensmittelzubereitung, genauer gesagt als Nahrungsergänzungsmittel Obwohl es nach EU-Recht57 erlaubt wäre, hat die Bundesrepublik Deutschland die Lieferung von Arzneiwaren nicht dem ermäßigten Steuersatz unterworfen. L ist also nicht damit geholfen, die gleiche Strategie zu verfolgen wie A, wenn er eine ermäßigte Umsatzbesteuerung erreichen will. Die Lieferung des Zielprodukts kann aber ermäßigt besteuert werden, wenn es als Lebensmittelzubereitung in die KN-Position 2106 eingereiht wird.58 Vor die endgültige Einreihung haben die Götter aber die Allgemeinen Vorschriften gesetzt. L muss sein Zielprodukt zunächst negativ von Arzneiwaren abgrenzen, indem er möglichst viele Tatbestandsmerkmale nicht erfüllt, deren Rechtsfolge die Einreihung als Arzneiware in die KN-Position 3004 wäre. Er hat also die für A wichtigen Einreihungsmerkmale gerade nicht zu erfüllen, um in die gewünschte KN-Position 2106 zu gelangen. Zu beachten ist, dass zwar ein Konkurrenzverhältnis von Position 3004 zu Position 2106 der KN betrachtet wird, für eine unmittelbare Anwendung der AV 3, die ein solches Konkurrenzverhältnis auflösen soll, ist es aber an dieser Stelle noch zu früh. Es ist erst zu klären, ob ein und dieselbe Ware in ihrer entsprechenden Aufmachung denkbar in zwei verschiedene Positionen einzureihen ist. Erst wenn man diese Frage bejahen kann und somit zwei mögliche Positionen erhalten hat, ist die AV 3 zu prüfen. Die AV 3 gibt dann drei Einreihungsmethoden (Buchst. a, b, c) vor, und zwar in der Reihenfolge, in der sie in der Allgemeinen Vorschrift aufgeführt sind – also lautet die Reihenfolge: a) genauere Warenbezeichnung, b) wesentlicher Charakter, c) in der Nomenklatur zuletzt genannte Position. Folglich ist jede einzelne Methode der AV 3 genau zu prüfen. Die AV 3 wird aber nur angewendet, wenn sie dem Wortlaut der 56 Vgl. Art. 34 Abs. 4 VO (EU) 952/2013 – Unionszollkodex: Abweichend von Artikel 23 Absatz 3 und Artikel 27 werden vZTA- und vUA-Entscheidungen [für die Vergangenheit] zurückgenommen, wenn sie auf unrichtigen oder unvollständigen Informationen des Antragstellers beruhen. 57 Art. 98 Abs. 2 mit Anhang III Nr. 3 MwStSystRL. 58 § 12 Abs. 2 Nr. 1 mit Anlage II Lfd. Nr. 33 UStG „Kapitel 21“. Wie oben erläutert, bedeutet dieser Verweis, dass alle Waren, die in Kapitel 21 KN eingereiht werden, dem ermäßigten Umsatzsteuersatz unterworfen sind.

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Gestaltungen bei der Tarifierung

Positionen und der Anmerkungen zu den Abschnitten oder Kapiteln nicht widerspricht (vgl. deren Vorrang gemäß AV 1). Die Einreihung als Arzneiware in die KN-Position 3004 wird L nicht durch eine andere als die „Aufmachung für den Einzelverkauf “ vermeiden können, da sein Zielprodukt ja für Endverbraucher gedacht ist. Jeder Hinweis auf eine Verwendung „zu therapeutischen oder prophylaktischen Zwecken“ sowie auf „konzentrierte Wirkungen auf ganz bestimmte Funktionen des menschlichen Organismus“ ist aber zu unterlassen, denn solche Angaben heben das Produkt in den Rang eines Arzneimittels. Das gilt gleichermaßen für die Angaben nach der Zusätzlichen Anmerkung 1 zu KN-Kapitel 30, die zwingend eine Einreihung in die Position 3004 zur Folge haben. Lebensmittelzubereitungen, wozu auch Nahrungsergänzungsmittel gehören, fallen unter die Position 210659, sofern nicht eine andere Einreihung vorrangig ist. Für flüssige, aber alkoholfreie Lebensmittelzubereitungen hat der BFH bereits entschieden60, dass für diese Position 220261 nach AV 3a genauer62 ist als Position 2106. Aus der Position 2202 befinden sich nur Milchmischgetränke mit einem Milch- oder Milcherzeugnis (z.B. Molke) von mindestens 75 Prozent des Fertigerzeugnisses im Anhang 2 zum UStG (lfd. Nr. 35). L könnte also sein Zielprodukt als Milchmischgetränk auf den Markt bringen, wenn die weiteren Ausschlussgründe63 nicht vorliegen. Alternativ ist zu prüfen, ob die Voraussetzungen der Position 2106 erfüllt werden können. Eine Einreihung in diese Position kommt nur in Betracht, wenn es sich nicht 59 Vgl. Positionswortlaut von 2106 der KN: Lebensmittelzubereitungen, anderweit weder genannt noch inbegriffen; vgl. ErlKN zu Pos. 2106 (HS) Rz. 05.0, 29.0. 60 BFH v. 30.3.2010 – VII R 35/09, BStBl. II 2011, 74 = UR 2010, 497. In diesem Urteil hat der BFH unter Berufung auf eine EuGH-Entscheidung (v. 26.3.1981, Rs. 114/80, Slg. 1981, 896) auch betont, dass es für die zollrechtliche Einreihung keine Bindung an die Festlegung in der Nahrungsmittelergänzungsverordnung gebe. 61 Wasser, einschließlich Mineralwasser und kohlensäurehaltiges Wasser, mit Zusatz von Zucker, anderen Süßmitteln oder Aromastoffen, und andere nicht alkoholhaltige Getränke, ausgenommen Frucht- und Gemüsesäfte der Position 2009. 62 Selbst wenn die Position 2202 nicht genauer wäre als Position 2106, würde die Ware bei Erfüllung der Voraussetzungen beider Positionen in die numerisch höhere eingereiht, also 2202. 63 Siehe BMF v. 5.8.2004 – IV B 7-S 7220-38/04, BStBl. I 2004, 638 – Rz. 121 und 122 (Auszug): „Die Position 2202 umfasst ausschließlich Getränke, d. h. unmittelbar trinkbare Zubereitungen, auch gezuckert, mit Zusatz von Aromen (z. B. Vanille- oder Fruchtessenzen) oder fein zerkleinerten Früchten (z. B. Erdbeeren, Himbeeren, Mandeln). [Dies schließt im ­Übrigen weitere/andere Zusätze in Getränken dieser Position nicht aus, vgl. ErlKN zu Pos. 2202 (HS) Rz. 01.0, 02.2, 02.4, und (AV) Rz. 01.0 ff.] Nach Nr. 35 der Anlage 2 sind nicht begünstigt: – Milchmischgetränke mit Zusatz von Alkohol (Position 2206), auch wenn der zugesetzte Alkohol lediglich eine Geschmackszugabe darstellt und mengenmäßig nicht ins Gewicht fällt, – Getränke, die aus Soja hergestellt sind und als Milchersatz dienen, – andere nichtalkoholhaltige Getränke der Position 2202 (z.B. Limonaden).“

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Ralph E. Korf / Thomas Peterka

um ein Arzneimittel der KN-Position 3003 oder 3004 handelt.64 Das ist der Fall, sofern es sich beispielsweise um ein Nahrungsergänzungsmittel in Kapseln, Tabletten, Pastillen oder Pillen handelt. Nahrungsergänzungsmittel gelten nicht als Arzneiwaren die Zusätzliche Anmerkung 5 zu KN-Kapitel 21 weist solche der Position 2106 unmittelbar zu.65 Auch im BMF-Schreiben heißt es in Rz. 116 nach der Einleitung „Im Einzelnen sind nach Nr. 33 der Anlage 2 begünstigt:“ in der laufenden Nummer 6 unter Buchstabe n) bis p): n) Erzeugnisse, die bestehen aus einer Mischung von Pflanzen oder Pflanzenteilen, Samen oder Früchten verschiedener Arten oder aus Pflanzen oder Pflanzenteilen, Samen oder Früchten einer Art oder mehrerer Arten in Mischung mit anderen Stoffen (z. B. einem oder mehreren Pflanzenauszügen), die nicht unmittelbar verzehrt werden, sondern von der zum Herstellen von Aufgüssen oder Kräutertees verwendeten Art (z. B. mit abführenden, harntreibenden oder entblähenden Eigenschaften) sind, einschließlich Erzeugnisse, von denen behauptet wird, dass sie bei bestimmten Krankheiten Linderung bieten oder zur allgemeinen Gesundheit und zum Wohlbefinden beitragen, nicht jedoch Erzeugnisse, deren Aufguss eine therapeutische oder prophylaktische Dosis eines gegen eine bestimmte einzelne Krankheit spezifisch wirkenden Bestandteils ergibt (Position 3003 oder 3004), o) Mischungen von Pflanzen, Pflanzenteilen, Samen oder Früchten (ganz, in Stücken, als Pulver oder sonst zerkleinert), die nicht unmittelbar verzehrt werden, sondern von der Art sind, wie sie unmittelbar zum Aromatisieren von Getränken oder zum Gewinnen von Auszügen zum Herstellen von Getränken verwendet werden, p) Zubereitungen, häufig als „Ergänzungslebensmittel“ bezeichnet, auf der Grundlage von Pflanzenauszügen, Fruchtkonzentraten, Honig, Fructose usw., denen Vitamine und manchmal sehr geringe Mengen Eisenverbindungen zugesetzt sind, z. B. Aloe-vera-Tabletten oder Multivitamin-Brausetabletten (soweit es sich nicht um Arzneiwaren handelt). Auf den Packungen dieser Zubereitungen ist häufig angegeben, dass sie allgemein der Erhaltung der Gesundheit oder des Wohlbefindens dienen. Nicht begünstigt sind jedoch ähnliche Zubereitungen, die zum Verhüten oder Behandeln von Krankheiten oder Leiden bestimmt sind (Position 3003 oder 3004). Erzeugnisse, die bestehen aus einer Mischung von Pflanzen oder Pflanzenteilen, Samen oder Früchten verschiedener Arten oder aus Pflanzen oder Pflanzenteilen, Samen oder Früchten einer Art oder mehrerer Arten in Mischung mit anderen Stoffen (z.B. einem oder mehreren Pflanzenauszügen), die nicht unmittelbar verzehrt werden, sondern von der zum Herstellen von Aufgüssen oder Kräutertees verwendeten Art (z.B. mit abführenden, harntreibenden oder entblähenden Eigenschaften) sind, einschließlich Erzeugnisse, von denen behauptet wird, dass sie bei bestimmten Krankheiten Linderung bieten oder zur allgemeinen Gesundheit und zum Wohlbefinden beitragen, nicht jedoch Erzeugnisse, deren Aufguss eine therapeutische oder prophylaktische Dosis eines gegen eine bestimmte einzelne Krankheit spezifisch wirkenden Bestandteils ergibt (Position 3003 oder 3004). 64 Vgl. Anmerkung 1 f) zu Kapitel 21 der KN. 65 Vgl. Zus. Anmerkung 5 zu Kapitel 21 der KN: 5. Andere Lebensmittelzubereitungen, dosiert aufgemacht, wie Kapseln, Tabletten, Pastillen und Pillen, die zur Verwendung als Nahrungsergänzungsmittel bestimmt sind, werden, sofern anderweitig weder genannt noch inbegriffen, in Position 2106 eingereiht.

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Gestaltungen bei der Tarifierung

Wenn L darauf achtet, dass er nicht die dreifache Menge der empfohlenen Tagesdosis überschreitet, kann er durch Zugabe von einer geringen Menge von Vitaminen genau die Beschreibung in Buchstabe p) erfüllen. Zu beachten ist hierbei aber zusätzlich, dass er nicht die Voraussetzungen für eine Einreihung als Arzneimittel in die Position 3004 erfüllt, weil er die für Arzneimittel geforderten Angaben auf dem Etikett, der Verpackung oder dem Beipackzettel nicht anbringt (siehe Zusätzliche Anmerkung 1 zu KN-Kapitel 30). Fehlen also diese Angaben bei seinem Fertigprodukt, scheitert eine Einreihung in Position 3004 der KN. Folglich muss eine andere Position greifen, die im Beispielsfall die KN-Position 2106 wäre. Damit zeigt sich, dass eine Konkurrenzsituation zwischen diesen Positionen nicht vorliegt (die über die Anwendung der AV 3 zu lösen wäre), wenn das Fertigerzeugnis entsprechend aufgemacht ist. Im Ergebnis wird also deutlich, dass hier eine Gestaltung bei der Einreihung denkbar ist, wenn die für die jeweilige Einreihung erforderlichen Voraussetzungen im Einzelfall erfüllt werden. A wie auch L können also bei entsprechender Sachverhaltslage bzw. Anpassung ihres Endproduktes an die zolltariflichen Gegebenheiten zu unterschiedlichen Einreihungsergebnissen gelangen. 3. Die unverbindliche Zolltarifauskunft Die bisherige Analyse hat gezeigt, wie wichtig das Zolltarifrecht für den Umsatzsteuersatz ist. Von dem Expertenwissen des Zolls können Finanzämter und Steuerpflichtiger Nutzen ziehen, indem sie eine unverbindliche Zolltarifauskunft66 beantragen. Zuständig ist das Bildungs- und Wissenschaftszentrum der Bundesfinanzverwaltung. Es verfügt über verschiedene Dienstsitze mit unterschiedlichen sachlichen Zuständigkeiten.67 Zuständig für Waren der Kapitel 17, 26, 28 bis 31 – also auch Arzneiware nach Position 3004 ist der Dienstsitz in Köln, für Waren der Kapitel 1, 4, 7, 8, 19 und 21 das Bildungs- und Wissenschaftszentrum der Bundesfinanzverwaltung mit Dienstsitz in München (präziser: in Markt Schwaben bei München). Es ist daher sinnvoll, einen Antrag auf eine unverbindliche Zolltarifauskunft dann direkt am Dienstsitz in Markt Schwaben zu stellen, wenn das Ziel ist, eine Einreihung als Nahrungsergänzungsmittel zu erreichen.

III. Zusammenfassung Am Beispiel der Abgrenzung zwischen Arzneiware und Lebensmittelzubereitung wurde gezeigt, dass es sinnvoll sein kann, vor dem eigentlichen Produktdesign die mögliche zollrechtliche Einreihung zu prüfen. Das Ergebnis einer solchen Prüfung kann Anpassungen des Produktdesigns und Auswirkungen auf die Zollabgabe selbst, aber auch auf den Umsatzsteuersatz haben. 66 http://www.zoll.de/DE/Fachthemen/Steuern/Einfuhrumsatzsteuer/Zolltarifauskunft-fuer-­ umsatzsteuerzwecke/zolltarifauskunft_fuer_umsatzsteuerzwecke.html, geprüft 5.6.2018. 67 Vgl. http://www.zoll.de/SharedDocs/Boxen/DE/Fragen/0005_zustaendigkeiten_uvzta.html​ ?nn=34244, geprüft 5.6.2018.

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Die „einheitliche Leistung“, ein Instrument zur gebotenen Steuergerechtigkeit, zur Besteuerungsvereinfachung oder zur willkommenen Erhöhung des Umsatzsteueraufkommens? Inhaltsübersicht I. Vorbemerkung II. Entwicklung ab dem UStG 1918 zur Brutto-Allphasensteuer 1. Erfassung „zusammengesetzter Vorgänge“ als Lieferung oder sonstige Leistung (Werklieferung) in wirtschaftlicher ­Betrachtungsweise 2. Rechtsprechung des RFH zu „einheit­ lichen wirtschaftlichen Vorgängen“: Wirtschaftliche Betrachtungsweise, Volksanschauung, Verkehrsauffassung – oder doch Missbrauch? 3. Grundsätze der folgenden BFH-Rechtsprechung a) Fortsetzung der wirtschaftlichen ­Betrachtungsweise b) Abkehr von der wirtschaftlichen ­Betrachtung des Sachverhalts „als wirtschaftlich einheitlichem Vorgang“ bei Götterdämmerung des Brutto-­ Allphasensystems

c) Wechsel der Terminologie: Vom „einheitlichen wirtschaftlichen Vorgang“ zur „einheitlichen Leistung“ aufgrund zusammenhängender Leistungen oder Nebenleistung zur Hauptleistung d) Haupt- und Nebenleistung als zweiter Unterfall einer einheitlichen Leistung III. Einheitlichkeit der Leistung im „­gemeinsamen Mehrwertsteuersystem“ der EG/EU ab 1968 1. Begriffsbestimmung durch den EuGH 2. Entwicklung der EuGH-Rechtsprechung zur „einheitlichen Leistung“ a) Beurteilungsunsicherheiten bei ­wichtigen Praxisfragen b) Bestimmung des Leistungsorts bei grenzüberschreitenden Leistungs­ bündeln c) Keine Ausweitung der einheitlichen Leistung durch Einbeziehung von Leistungen Dritter IV. Zusammenfassung und Würdigung

I. Vorbemerkung Unter dem Begriff der sog. „einheitlichen Leistung bzw. Einheitlichkeit der Leistung“ versteht man allgemein die Zusammenfassung mehrerer Leistung im Rahmen eines Geschäfts zu einer Lieferung oder einer sonstigen Leistung und deren umsatzsteuerrechtliche Qualifizierung.1 Soweit zu dem Thema in den letzten Jahren zusammenfassende Übersichten veröffentlicht wurden, gehen sie zwar davon aus, dass das Thema „seit Jahren zu den Grundfragen des Umsatzsteuerrechts“ gehört und „erhebliche praktische Bedeutung“ 1 Z.B. Martin in Sölch/Ringleb, UStG, § 1 UStG Rz. 13 ff., EL 82 März 2018; sowie die hier folgenden Ausführungen.

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hat2 bzw. dass die Frage „so alt wie das Umsatzsteuerrecht“ ist3; behandelt wird aber nur (für die Praxis insoweit sinnvoll) die Rechtsentwicklung der letzten Jahre zum Mehrwertsteuerrecht durch BFH und EuGH. Die Besonderheit, dass diese als so bedeutsam beurteilte Umsatzsteuerrechtsfrage seit jetzt 100 Jahren, also seit dem „ersten“ deutschen Umsatzsteuergesetz (UStG), dem UStG 19184, bis zur heute geltenden unionsrechtlichen Regelung der jeweiligen Einzelfall-Lösung „durch die Praxis“ – in erster Linie durch die Rechtsprechung – überlassen wird und nicht allgemein gesetzlich geregelt ist, verdient gleichwohl Aufmerksamkeit. Das gilt insbesondere für die Gründe und Ziele die zur Einführung des „Rechtsinstituts“ der einheitlichen Leistung durch „Richterrecht“ in das damalige Umsatzsteuerrecht der Brutto-Allphasen-Besteuerung führten (die „ersten 50 Jahre“ bis 1967), und für die weitere Entwicklung bis zum heutigen gemeinsamen Mehrwertsteuer maßgebend sind oder sein könnten (die „zweiten 50 Jahre“ seit dem seit 1968 eingeführten UStG 1967). Als Eingriff in die Gestaltungsfreiheit der Umsatzparteien sollten die Auslegungsgrundsätze zur einheitlichen Leistung, die Grundsätze der steuerlichen Neutralität und der Verhältnismäßigkeit beachtet werden.

II. Entwicklung ab dem UStG 1918 zur Brutto-Allphasensteuer 1. Erfassung „zusammengesetzter Vorgänge“ als Lieferung oder sonstige Leistung (Werklieferung) in wirtschaftlicher Betrachtungsweise Eine Suche nach den heute gängigen Begriffen „einheitliche Leistung“, „Einheit der Leistung“ oder „Haupt- und Nebenleistung“ bleibt allerdings zunächst in der begleitenden Kommentarliteratur zu den ersten gesetzlichen Umsatzsteuer-Regelungen ohne Treffer. Das gilt insbes. auch für die Kommentierung des neuen Rechtsgebiets den „Altvater“ der Umsatzsteuer in Deutschland: Johannes Popitz5 verwendet die Begriffe nicht im Stichwortverzeichnis seines Kommentars6. Andererseits findet sich in der ersten Auflage des „Popitz“ zum UStG 1918 folgender Ansatz zur Frage, wie Verbindungen von Lieferungen und sonstigen Leistungen umsatzsteuerrechtlich zu erfassen sind, als eine Lieferung oder eine sonstige Leistung7: 2 Lange, Umsatzbesteuerung von Leistungsbündeln, UR 2009, 289 (290). 3 Von Streit, Der Begriff der Leistungseinheit und Leistungsmehrheit in der Rechtsprechung des EuGH, EU-UStB 2010, 9. 4 UStG 1918 v. 26.7.1918, RGBl. I 1918, 779 – UStG 1918. 5 Er hat den Gesetzentwurf zum Umsatzsteuergesetz v. 26.7.1918 vorformuliert, vgl. sein Vorwort zur ersten Auflage 1918 seines Kommentars zu diesem Gesetz (s. nächste Fn.) und gilt als der Schöpfer und Gestalter der „neuen Steuer“, vgl. Weiß, UR 1993, 329. 6 Johannes Popitz, „Kommentar zum Umsatzsteuergesetze v. 26.7.1918“, Berlin 1918, Verlag von Otto Liebmann (1. Aufl., ebenso z.B. 3. Aufl. „nach dem Stande von Ende Juli 1928“ zum Umsatzsteuergesetz i.d.F. v. 8.5.1926). 7 Johannes Popitz, a.a.O., s. vorstehende Fn. 6, § 1, IV. 3. B).

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Die „einheitliche Leistung“ „Besondere Bedeutung für die Unterscheidung zwischen Lieferung und sonstiger Leistung hat die Feststellung, ob das zugrunde liegende Rechtsgeschäft ein bloßer Werkvertrag oder ein dem Kaufe entsprechender Werklieferungsvertrag ist. Es liegt in solchen Fällen eine Vereinigung von Lieferungen und Leistungen in einem untrennbaren Rechtsverhältnis vor, und es fragt sich, welcher Bestandteil überwiegt.“

Mit dem Begriff der „Werklieferung“8 kam es somit zu einem ersten Ansatz zur umsatzsteuerrechtlichen Zusammenfassung einer Mehrheit von Lieferungen und sonstigen Leistung zu einem einheitlichen Umsatz. Mit § 5 Abs. 1 UStG 19199 kam es zur gesetzlichen Definition des Begriffs: „Als Lieferung ist auch eine Leistung aus einem Vertrag über die Bearbeitung und Verarbeitung einer Sache anzusehen, wenn der Unternehmer die Stoffe, die er beschafft, verwendet, und es sich hierbei nicht nur um Zutaten oder Nebensachen handelt.“

Diese wird im Wesentlichen derzeit noch in § 3 Abs. 4 UStG verwendet10. Popitz weist in der Kommentierung zu der ab dem UStG 191911 neu in das Gesetz aufgenommenen Definition der Werklieferung als Lieferung darauf hin, dass sie die „schlechte Formulierung der früheren Vorschriften“ vermeidet, „die das erst durch die Vorschrift Festzustellende (dass es sich um eine Lieferung handelt)“ in die Begriffsbestimmung brachten. Aufschlussreich für die Rechtsentwicklung sind die weiteren Ausführungen von Popitz zur Auslegung der Vorschrift: „Für die Auslegung kommen in Betracht: AuslGrunds. 1916 IV und die Rechtslehre zu § 651 BGB. Die Rechtsprechung hat aber den Begriff der Werklieferung schließlich vom bürgerlichen Rechte ganz losgelöst…“.

In diesen Sätzen spiegelt sich der Meinungsstand zur damals heftig umstrittenen Frage wieder, ob das (gerade „aufstrebende“, neu kodifizierte) Steuerrecht – insbes. bei Verwendung „zivilistischer Begriffe“ – grundsätzlich von den herkömmlichen zivilis 8 RGBl. 1919, 2157. 9 Das UStG 1918 hatte den Begriff „Werklieferung“ – mit der Fiktion als Lieferung – nicht als allgemeine Begriffsbestimmung verwendet, sondern lediglich eine bereits im „Gesetz über einen Warenumsatzstempel“ (WUStG 1916) v. 26.6.1916, RGBl. 1916, 639, enthaltene Regelung für Lieferungen aus Werkverträgen entspr. bei der sog. Luxussteuer verwendet. Die Regelung im Zusatz 2 zum WUStG lautete: „Den Warenlieferungen stehen Lieferungen aus Werkverträgen gleich, wenn der Unternehmer das Werk aus von ihm zu beschaffenden Stoffen herzustellen verpflichtet ist, und es sich hierbei nicht bloß um Zutaten oder Nebensachen handelt.“ In § 8 Abs. 3 UStG 1918 war für die Luxussteuer bestimmt, dass als Lieferung auch die Werklieferung zu gelten habe. 10 Dass die gesetzliche Regelung von Werklieferung oder Werkleistung nach heutiger Auffassung keine bindende Vorgaben für die Einstufung von Leistungsbünden als Lieferung oder sonstige Leistung ist – und auch nicht mit dem Unionsrecht konform ist (insoweit zutr. Lange, UR 2009, 289, 300, unter Hinweis auf BFH, Urt. v. 9.6.2005 – V R 50/02, BFHE 210, 182 = BStBl. II 2006, 98 = UR 2005, 679), spielt für die hier angesprochene Rechtsentwicklung keine Rolle. 11 Popitz, 3. Aufl. 1928 zum Umsatzsteuergesetz i.d.F. v. 8. Mai 1926, § 6, II.1.

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tischen Regeln ausgehen sollte oder ob das Steuerrecht vollständig vom Privatrecht zu lösen sei12. Wie von Popitz erwähnt (s.o.), kam es insbes. durch die Rechtsprechung des RFH zu grundsätzlichen Lösung von zivilistischen Bindungen bei der Auslegung von zivilrechtsähnlichen Begriffen z.B. im UStG. Im Ergebnis entwickelte sich aus den Entscheidungen des RFH zu Einzelfällen der Umsatzsteuer die sog. wirtschaftliche Betrachtungsweise im Steuerrecht13 (dazu unten II.2.). Beeinflusst war diese Entwicklung wohl auch durch Popitz 14, der bei den im UStG (seit dem UStG 1918) verwendeten Begriffen von „steuerrechtlichen Wirtschaftsbegriffen“ sprach15. Hinzu kam die Reichs­ abgabenordnung von 1919. Mit § 4 AO 1919 brachte der Gesetzgeber die erste Vorschrift über die Auslegung der Steuergesetze16 Sie lautete: „Bei der Auslegung der Steuergesetze sind ihr Zweck, ihre wirtschaftliche Bedeutung und die Entwicklung der Verhältnisse zu berücksichtigen.“

Mit dieser –unter dem Einfluss insbes. von Enno Becker17 entstandenen – gesetzlichen Stütze wurde die Verbreitung der „wirtschaftlichen Betrachtungsweise“, vor allem im Umsatzsteuerrecht, gefördert. Von den Bereichen, in denen die „wirtschaftlichen Betrachtungsweise“ bereits im „alten“ Umsatzsteuerrecht zu besonderer Bedeutung kam, hat Walter Eckhardt18 – anlässlich des Wechsels zum Mehrwertsteuersystem – insbes. Grundsatz der Einheitlichkeit der Leistung u.a. Einheitlichkeit der Werklieferung) hervorgehoben. 12 Dazu die eingehendere Darstellung bei Popitz, 3. Aufl., § 6, II., 5. A.E. (S. 687). 13 Anschaulich die ausführliche Kommentierung der Rechtsentwicklung anhand des Tauschbegriffs – insbes Müllerei – bei Popitz, 3. Aufl., § &, II.5. b ff (S. 687 ff., S. 695 ff.). 14 Popitz, „Kommentar zum Umsatzsteuergesetze“ vom 24.12.1919, 2. Aufl. 1921, Einleitung, S. 60 – auch wenn das oben stehende Zitat „neutral“ gefasst ist und beide Ansätze zuläßt. 15 Diese eigenständige Behandlung der Begriffe des Umsatzsteuergesetzes gegenüber vergleichbaren Zivilrechtsbegriffen wurde durch die steigende Bedeutung des Steuerrechts (aufgrund der Finanznot durch den 1. Weltkrieg) bestärkt. Die wachsende Zahl der „Reichs­abgaben“ – dominant das UStG 1918- die nach einheitlicher Auslegung im Deutschen Reich verlangten, führten bereits 1918 zur Gründung des Reichsfinanzhofs, vgl. Gesetz über die Errichtung eines Reichsfinanzhofs … v. 26.7.1918, (RGBl. 959) – anstelle der zahlreichen bisherigen Landesinstanzen. Vgl. dazu Der Bundesfinanzhof und seine Rechtsprechung, Festschrift für Hugo von Wallis, 1985, darin: Alfons Pausch, Vom Reichskammergericht zum Reichsfinanzhof, S. 3, 10 ff. und Heinrich List, Vom Reichsfinanzhof zum Bundesfinanzhof, S. 15 f. 16 Aber auch die einzige Vorschrift des deutschen Rechts zur Auslegung. 17 Vgl. die Hinweise bei Popitz, UStG, Kommentar, 3. Aufl., S. 687. 18 Eckart – später Eckart-Weiß, Umsatzsteuergesetz – Mehrwertsteuer –, bereits im „Stammwerk“ 1968, Einleitung Tz. 77: „Besondere Bedeutung in der Steuerpraxis hat die wirtschaftliche Betrachtungsweise auf den Gebieten der Unternehmereinheit, der Organschaft und der Materialbeistellung erlangt. Allgemein gilt der Grundsatz der Einheitlichkeit der Leistung, wonach eine wirtschaftlich einheitliche Leistung für die Umsatzbesteuerung nicht in verschiedene Bestandteile zerlegt werden darf. Wirkt der Werkunternehmer wesentlich an der Beschaffung des Stoffes mit, so kann je nach Lage des Einzelfalles angenommen werden, dass er eine einheitliche Werklieferung ausgeführt hat…“

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Die „einheitliche Leistung“

2. Rechtsprechung des RFH zu „einheitlichen wirtschaftlichen Vorgängen“: Wirtschaftliche Betrachtungsweise, Volksanschauung, Verkehrsauffassung – oder doch Missbrauch? Für die oben wiedergegebene Beurteilung durch Popitz: „ Die Rechtsprechung hat aber den Begriff der Werklieferung schließlich vom bürgerlichen Rechte ganz losgelöst“ wurde leider nicht Zitaten aus der Rechtsprechung des Reichsfinanzhofs (RFH) belegt (was auch an der Zurückhaltung des RFH mit Veröffentlichungen liegen könnte). Aus späteren Rechtsprechungsübersichten19 können folgende RFH-Urteile zur Beurteilung sog. „einheitlicher wirtschaftlicher Vorgänge“ als Beispiele gebracht werden, in denen es – aufgrund wirtschaftlicher Betrachtungsweise – um einheitliche Werklieferung oder Werkleistung ging: Im RFH-Urteil vom 12.8.1927 V A 348/2720 war zu klären, ob ein einheitlicher Lieferungsgegenstand „gerösteter Kaffee“ vorlag oder ob die umsatzsteuerrechtliche Aufteilung in eine Lieferung und eine nachfolgende Bearbeitungsleistung zulässig war. Ein Steuerpflichtiger verkaufte 1925 fristgebunden eingeführten Rohkaffee. Der Käufer hatte die Wahl, den Kaffee ungeröstet oder geröstet abzurufen. Nach Fristablauf sonderte der Steuerpflichtige den verkauften Kaffee auf Lager für den Käufer aus und sandte ihm die Rechnung. Erst danach erteilte der Käufer ihm den Auftrag, den bereits in sein Eigentum übergegangenen Kaffee für ihn zu rösten. Der RFH lehnte die Auffassung des FG ab, der Kaffee sei umsatzsteuerfrei als erster Umsatz nach der Einfuhr geliefert worden. Er sah den Sachverhalt so, dass der Käufer vom einführenden Steuerpflichtigen gerösteten Kaffee erhalten wollte. Gerösteter Kaffen sei eine andere Marktware als eingeführter Rohkaffee. Die Lieferung sei umsatzsteuerpflichtig. Der Steuerpflichtige könne sich für den Preis des Rohkaffees nicht dadurch von der Steuerpflicht befreien, dass er das „einheitliche Geschäft“ in zwei Teile zerlege; „denn nach der ständigen Rechtsprechung des Senats kann die Umsatzsteuerpflicht weder zugunsten noch zuungunsten beeinflusst werden durch Zerlegung eines einheitlichen wirtschaftlichen Vorgangs in seine einzelnen Bestandteile.“

Das Ergebnis beruhte also auf der „wirtschaftlichen Betrachtung“ des Sachverhalts aus der Sicht des Empfängers, ohne einen weiteren ausdrücklich erwähnten Rechtfertigungsgrund für den Eingriff in die vereinbarte Gestaltung21. 19 Z.B. Plückebaum, Umsatzsteuergesetz, Kommentar, 1953, Zu §§ 1-3, Anm. 76. 20 RFH 22, 22. Einen vergleichbaren „Röstkaffee-Fall“ entschied der BFH mit Urteil v. 14.2.1957 – V 265/56 U, BFHE 64, 504 = BStBl. III 1957, 187. 21 So wurde z.B. zwar sinngemäß aber nicht ausdrücklich auf die seit der Reichsabgabenordnung (RAO) 1919 geltende gesetzliche Auslegungsregel des § 4 RAO zurückgegriffen, nach der bei der Auslegung „auch der wirtschaftliche Sinn und Zweck der Gesetze sowie die Entwicklung der Verhältnisse“ zu berücksichtigen waren (anders die spätere RFH-Rechtsprechung nach Geltung des § 1 StAnpG 1934, s. den nächsten Beispielsfall).

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Das Kriterium des „einheitlichen wirtschaftlichen Vorgangs“ wurde dann in langjähriger ständiger Rechtsprechung22 eingesetzt. Im Lauf der weiteren Praxis der Umsatzbesteuerung wurden die dazu entwickelten Kriterien allgemein auf Bündelungen von Umsätzen aller Art (Lieferung/Lieferung, sonstige Leistung/sonstige Leistung ausgedehnt. Da schon UStG 1918/19unterschiedliche Steuersätze23 und auch Steuerbefreiungen für bestimmte Umsätze vorsahen, etablierte sich auch eine Praxis, Geschäfte so zu gestalten, dass steuerlich die geringste USt-Belastung in Betracht kam. So beruhte z.B. auch das spätere RFH-Urteil vom 15.10.37 – V S 93/3724 im Ergebnis  auf dieser Betrachtung, wenn auch mit modifizierter Begründung: Es kam zur Be­urteilung der sog. Grabpflege als eine Gesamtleistung (in Gestalt einer sonstigen Leistung), bei der die Lieferung der Pflanzen gegenüber der „sonstigen Leistung“, der Arbeitsleistung, zurücktrete. Damit wurde die vom Steuerpflichtigen beantragte USt-Begünstigung für Pflanzenlieferung versagt und die Pflanzenlieferung mit dem höheren Steuersatz für die sonstigen Leistungen/Arbeitsleistung erfasst. Trotz der Begriffsverwendung: „zurücktreten“ wandte der RFH hier nicht den Grundsatz von „Haupt- und Nebenleistung“ (dazu unten 3.d) an; denn ausdrücklich fuhr er fort: „Es kommt nicht darauf an, ob im einzelnen Fall dieses oder jenes überwiegt; stets wird nach der Volksanschauung die Arbeitsleistung der Gesamttätigkeit das Gepräge geben.“

Als Rechtfertigungsgrund wird die „Volksanschauung (§ 1 StAnpG)“25 herangezogen, die in solchen Fällen überwiegend eine Werkleistung, nicht eine Pflanzenlieferung sehe werde. Interessanterweise wird dieses Urteil des RFH in der späteren BFH-Recht-

22 Z.B. Koch/Wirckau/Sölch/Ringleb, Umsatzsteuergesetz, 5. Aufl. 1952, § 3, zu 9. 23 Anfangs ein – heute unvorstellbarer – Regelsteuersatz von 0,5 v.H., aber von 10 v.H. auf bestimmte Luxusartikel; bereits mit dem UStG 1919 wurden die Steuersätze erhöht bzw. ausgeweitet: Regelsteuersatz 1,5 v.H.). 24 RFH 41, 180. 25 Interessanterweise verweist der RFH mit dem Zitat der Volksanschauung auf den gesamten § 1 des StAnpG v. 16.10.1934, RGBl. I 1925. § 1 schrieb aber in Abs. 1 vor: Die Steuergesetze sind nach nationalsozialistischer Weltanschauung auszulegen. Auf die Volksanschauung verweist erst Abs. 2: „Dabei sind die Volksanschauung, der Zweck und die wirtschaftliche Bedeutung der Steuergesetze und die Entwicklung der Verhältnisse zu berücksichtigen.“ Abs. 3: Entsprechendes gilt für die Beurteilung von Tatbeständen.“ Nach Kumpf, Kaiserreich, Weimarer Republik und „Drittes Reich“, Der Reichsfinanzhof 1918-1938 aus der Sicht seines ersten Präsidenten, in 75 Jahre Reichsfinanzhof-Bundesfinanzhof 1993, S. 23,40 f., vermied der RFH bis ca. 1936 damit den Hinweis auf „nationalsozialistische Weltanschauung in Abs. 1 und 3. Mit dem Zitat der „nicht typisch nationalsozialistischen“ Volksanschauung (so Tipke/Kruse, Reichsabgabenordnung, Komm. 7. Aufl., StAnpG § 1 Anm. 1, Stand Juni 1974) bewegte sich der RFH mehr auf dem Stand des § 4 Reichsabgabenordnung 1919: „Bei der Auslegung der Steuergesetze sind auch der wirtschaftliche Sinn und Zweck der Gesetze sowie die Entwicklung der Verhältnisse zu berücksichtigen.“

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Die „einheitliche Leistung“

sprechung zu ähnlichen Grabpflegefällen nicht mit dem Begriff „Volksanschauung“, sondern mit „Verkehrsauffassung“ zitiert.26 Unter „Volksanschauung“ waren nach der RFH-Rechtsprechung nicht die wirtschaftlichen/wirtschaftspolitischen Interessen der beteiligten Wirtschaftskreise zu verstehen.27 Der Begriff wurde in der Fassung des § 1 Abs. 2 StAnpG m.W.v. 1.1.194628 noch weiterverwendet.29 Wesentliches Merkmal dieser damals hochgehaltenen „wirtschaftlichen Betrachtungsweise“ war, dass auch der Sachverhalt “wirtschaftlich“ betrachtet wurde30. §  1 Abs.  3 StAnpG v. 1934 wurde als Gebot der „Beurteilung“ des Sacherhalts vor der Subsumtion unter das Gesetz gesehen.31 Die Sachverhaltsauslegung machte von vorneherein den „wirtschaftliche Vorgang“ zum Ausgangspunkt der rechtlichen Einordnung, nicht aber die einzelne Leistung. Einen interessanten Aspekt zu diesen Auslegungsgrundsätzen der RFH-Rechtsprechung enthält die Kommentierung in Plückebaum, Umsatzsteuergesetz.32 Hier wird 1953 – noch zeitnah zur vorangegangenen RFH-Rechtsprechung zum „einheitlichen wirtschaftlichen Vorgang – vermerkt: „Hierbei spielt vor allem §  6 StAnpG, der die Umgehung oder Minderung der Steuer durch mißbräuchliche Anwendung von Formen und Gestaltungsmöglichkeiten des bürgerlichen Rechtsverbietet, eine entscheidende Rolle. Vielfach wird sich der Tatbestand einer einheitlichen Leistung schon aus der Art der Bestellung und der Durchführung des Auftrags ergeben.“

Nach Belegstellen in der Rechtsprechung sucht man aber vergeblich: Weder in der RFH- noch in der BFH-Rechtsprechung zu unserem Thema finden sich Hinweise auf (den seit 1934 geltenden) § 6 StAnpG oder die bereits ab 1919 geltende Vorgängerregelung in § 5 der Reichsabgabenordnung gegen die Umgehung der „Steuerpflicht“. Der seit 1977 geltende§ 42 AO (Abs. 1 Satz 1 „Durch Missbrauch von Gestaltungsmöglichkeiten des Rechts kann das Steuergesetz nicht umgangen werden.“) taucht ebenso wenig auf. Allerdings spricht die von Anfang an übliche Terminologie, es sei unzulässig, einen einheitlichen wirtschaftlichen Vorgang zu zerlegen, für eine generelle Einstellung der Rechtsprechung, Umgehung der Steuerpflicht durch Umgehungsgestaltungen zu verhindern.

26 Vgl. BFH, Urt. v. 10.9.1959 – V 204/57 U, BStBl. III 1959, 440 = Slg. Bd. 69 S. 483; ferner v. 1.12.1960 – V 301/58 U, BStBl. III 1961, 148 = BFHE 72, 403. 27 Vgl. RFH, Urt. v. 9.2.1940 – V 156/38, RStBl 1940, 478, 480 re.o. 28 Aufgrund des Kontrollratsgesetzes Nr. 12. 29 Allerdings wurde die Auslegungsregel –als überflüssig – nicht in die AO 1977 übernommen, weil für Steuergesetze gelten die allgemeinen Auslegungsgrundsätze (vgl. z.B. Klein/Gersch, AO, § 4 Rz. 23 f., Tipke/Kruse, Reichsabgabenordnung, 7. Aufl., StAnpG § 1 Anm. 1a). 30 Vgl. z.B. Klein/Gersch, AO, § 4 AO Rz. 24. 31 S. z.B. Tipke/Kruse, Reichsabgabenordnung, 7. Aufl., StAnpG § 1; Stand Juni 1975. 32 Komm. 5. Aufl. 1953, Zu §§ 1-3 Anm. 76, S. 278 f.

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3. Grundsätze der folgenden BFH-Rechtsprechung a) Fortsetzung der wirtschaftlichen Betrachtungsweise Der BFH übernahm nach seiner Gründung33 die einschlägige RFH-Rechtsprechung und führte sie – für das UStG 1951 – zunächst massiv, dann aber, mit der „Götterdämmerung“ des Brutto-Allphasensystems immer zurückhaltender (s. unten b), bis in die 1970er-Jahre fort. Aus der erwähnten Rechtsprechung des BFH (insbes. zum UStG 1951) ist insoweit z.B. folgende frühe BFH-Entscheidung für das Thema informativ: BFH, Urteil vom 27.4.1953 – V 132/52 U:34 Eine Motorenfabrik, befasste sich mit dem Ausbohren und Ausschleifen der Zylinder von gebrauchten Motoren; sie liefert die für die ausgeschliffene Zylinderweite passenden neuen Kolben mit. Streitig war, ob sie neben einer Werkleistung, dem Ausschleifen der Zylinder, eine hiervon umsatzsteuerlich getrennt zu beurteilende Lieferung bewirkt hat. Der BFH bestätigte die Vorentscheidung, die Kolben und Zylinder als Sachgesamtheit betrachtet und den gesamten Vorgang einheitlich als Werklieferung beurteilt hatte mit der Begründung: „Dem Besteller kommt es jedoch allein darauf an, den Zylinder so bearbeitet zurückzuerhalten, daß der mitgelieferte Kolben genau in ihn hineinpaßt. Die Auffassung der Vorinstanz, daß es sich deshalb um einen einheitlichen wirtschaftlichen Vorgang handelt, der für steuerliche Zwecke nicht in eine Werkleistung (Ausschleifen der Zylinder) und in eine steuerbegünstigte Großhandelslieferung (Lieferung von Kolben) zerlegt werden darf, läßt einen Rechtsirrtum nicht erkennen. … Im Streitfall kommt es jedoch allein auf den auf der wirtschaftlichen Betrachtungsweise beruhenden Begriff des einheitlichen wirtschaftlichen Vorgangs und der Sachgesamtheit an (Hervorhebung durch mich)“ 35.

b) Abkehr von der wirtschaftlichen Betrachtung des Sachverhalts „als wirtschaftlich einheitlichem Vorgang“ bei Götterdämmerung des Brutto-Allphasensystems Rechtsprechungsmodifizierungen sind ab den 1960er Jahren erkennbar: BFH, Urteil v. 27.10.1966 – V 19/6436, ging zwar noch von den bisherigen Grundsätzen wirtschaftlicher Betrachtung aus, macht aber deutliche Einschränkungen:

33 Durch Gesetz v. 29.6.1950; dazu umfassend die Chronik „60 Jahre Bundesfinanzhof “, 2010. 34 BFHE 57, 682, BStBl. III 1953, 260. 35 So auch z.B. BFH, Urt. v. 27.1.1955 – V 198/54 U, Beurteilung von Mietkaufvorgänge zu Baugeräten als „einen einheitlichen Wirtschaftsvorgang, der in seinen Auswirkungen dem Kauf auf Abzahlung entspricht“. BFHE 60, 241= BStBl. III 1955, 94; nach dem Urteil kam es „darauf an, ob die bürgerlich-rechtlich in die Form der Miete und des nachfolgenden Kaufes gekleideten Vorgänge umsatzsteuerrechtlich als solche und getrennt zu beurteilen oder ob sie nach den gesamten Umständen des Falles umsatzsteuerrechtlich als eine wirtschaftlich zusammengehörige Einheit anzusehen sind.“ 36 BStBl. III 1967, 132.

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Die „einheitliche Leistung“ „Nach dieser Rechtsprechung sollen gleiche wirtschaftliche Vorgänge ungeachtet ihrer bürgerlich-rechtlichen Gestaltung umsatzsteuerlich in gleicher Weise erfaßt werden. Auch die wirtschaftliche Betrachtungsweise geht jedoch von dem gegebenen Sachverhalt aus. Es können deshalb zusammengehörige Vorgänge nicht schon deshalb als eine einheitliche Leistung angesehen werden, weil sie einem einheitlichen Ziel dienen. Das gleiche wirtschaftliche Ziel kann auf verschiedenen Wegen erreicht werden. Die bürgerlich-rechtliche Gestaltung darf deshalb nicht beiseite geschoben werden, wenn sie dem wirtschaftlichen Sachverhalt entspricht und einen vernünftigen wirtschaftlichen Sinn hat.“

Im Streitfall ging es nochmals um die Frage einer „einheitlichen Werklieferung“ durch einen Handelsvertreter, der ein fertiges Garagentor vermittelte und selbst auf Wunsch des Käufers einbaute. Der BFH verneinte die wirtschaftliche Einheit, weil das Tor nach der festgestellten Gestaltung der Beziehungen durch den Hersteller – und nicht durch den Handelsvertreter – geliefert wurde. Nach Auffassung des BFH lagen keine Anhaltspunkte dafür vor, daß die Kunden von dem Handelsvertreter ein fertiges Garagentor hätten geliefert bekommen wollen. c) Wechsel der Terminologie: Vom „einheitlichen wirtschaftlichen Vorgang“ zur „einheitlichen Leistung“ aufgrund zusammenhängender Leistungen oder Nebenleistung zur Hauptleistung Der Begriff „einheitliche Leistung“ für einen aus mehreren zusammengehörenden, aber umsatzsteuerrechtlich einheitlich behandelten Umsatz gehörte als solcher nicht zum Instrumentarium der RFH-Rechtsprechung (diese verwendete den „einheitlichen wirtschaftlichen Vorgang“), er verbreitete sich in der BFH-Rechtsprechung zur Umsatzsteuer wohl erst ab den 1960er Jahren. So heißt es z.B. im BFH-Urteil vom 20.3.1964 – V 156/61 U37: „Ob umsatzsteuerlich eine  einheitliche Leistung anzunehmen ist, hängt von der Beurteilung des gesamten Sachverhalts ab. Dabei kann die Vereinbarung eines Gesamtpreises ein Indiz für das Vorliegen einer einheitlichen Leistung sein. Da aber die Preisvereinbarung nur einen Teil des Sachverhalts ausmacht, kann sie für die rechtliche Beurteilung nicht allein ausschlaggebend sein. Die Vereinbarung eines Gesamtpreises kann hiernach auch nicht Voraussetzung für die Annahme einer einheitlichen Leistung sein.“

Es handelt sich um die Umschreibung der einheitlichen Leistung „im engeren Sinn“ – die Zusammenfassung von nicht über-/untergeordneten Leistungen (wie in der zweiten Fallgruppe – Haupt- und Nebenleistung)38. Die vorbezeichnete Entscheidung bemühte zwar noch die Grundsätze der „wirtschaftlichen Betrachtungsweise“. Allerdings begann zu dieser Zeit (Mitte der 1960er Jahre) bereits die übermäßige Bemühung wirtschaftlichen Betrachtungsweise“ – jedenfalls mit der „wirtschaftlichen Sachverhalts-Auslegung“ – zu bröckeln.

37 BFHE 79, 166, BStBl. III 1964, 291. 38 S. zur Abgrenzung Lange, UR 2009, 289.

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Soweit der BFH z.B. 197139 noch anmerkte, das das BVerfG mehrmals betont hatte, „daß für das Steuerrecht die   wirtschaftliche Betrachtungsweise durchaus legitim sei“40, so handelte es sich wohl um Wegbereitung zu einer mehr „rechtlichen“ statt „wirtschaftlichen“ Betrachtungsweise – wie sie (zurückhaltend) z.B. im BFH-Urteil vom 26.2.1976 – V R 167/7041 (noch zum UStG 1951) formuliert ist: „Auch die wirtschaftliche Betrachtungsweise darf nicht dazu dienen, eine fehlende gesetzliche Grundlage zu ersetzen.“42

Die „neuen Töne“ eines Rechtsprechungswechsels finden sich deutlicher im BFH-­ Urteil vom 28.4.1966 – V 158/6343. Es ging um die Frage, ob die Lieferung und das Aufziehen von Autoreifen und das Abmontieren der alten Reifen (gegen gesondertes Entgelt) ein einheitlicher wirtschaftlicher Vorgang sei, für den die Großhandelsvergünstigung des § 7Abs. 3 UStG 1951 für die Lieferung neuer Reifen nicht gelte. Zum einen verwendet das Urteil – anders als das in Bezug genommene Urteil vom 1. Juli 1954 – V 219/53 U44 – die Begriffe „einheitliche Leistung“ sowie “Haupt- und Nebenleistung“, s. dazu folgend unter d), die bis Ende der 1950er Jahre in der Umsatzsteuer-Rechtsprechung von RFH und BFH jedenfalls als Begriffspaar kaum auftauchten. Zum anderen wird nicht ausdrücklich auf die bisher geltende „wirtschaftliche Betrachtung“ abgestellt. Der BFH führt vielmehr an: „Es ist zwar richtig, daß bei dem Verkauf der neuen Reifen und dem Abmontieren der alten Reifen, die vielfach in Tausch gegeben werden, von einem einheitlichen Geschäft (Hervorhebung durch mich) gesprochen werden kann. Das UStG besteuert jedoch nicht das Geschäft, sondern die einzelnen Leistungen. Bei zusammengehörigen Vorgängen, die auf einem Geschäft beruhen, ist deshalb zu prüfen, ob es sich um eine einheitliche Leistung  handelt, oder um mehrere Leistungen, die zusammengehören, wobei die mehreren Leistungen zueinander im Verhältnis von Hauptleistung und Nebenleistung stehen können. Wie der BFH bereits in dem Urteil V 219/53 U vom 1. Juli 195445 (a.a.O.) ausgeführt hat, kommt es dem Kunden, der einen neuen Reifen kauft, in erster Linie darauf an, einen Reifen zu erhalten. Dem Aufziehen dieses Reifens kommt demgegenüber nur die Bedeutung einer Nebenleistung zu. Es kann deshalb nicht gesagt werden, daß der Käufer einen aufgezogenen Reifen erwerben wolle. Der Verkauf eines neuen Reifens und das Aufziehen des neuen Reifens stellen vielmehr zwei getrennte Leistungen dar, die zueinander im Verhältnis von Haupt- und Nebenleistung stehen können.“

39 BFH, Urt. v. 16.12.1971 – V R 2/69, BFHE 105, 178 = BStBl. II 1972, 508. 40 Z.B. BVerfG, Beschl. v. 15.7.1969 – 1 BvR 457/66, BVerfGE 26, 237, und v. 16.12.1970 – 1 BvR 210/68, BVerfGE 30, 59. 41 BFH, Urt. v. 26.2.1976 – V R 167/70, BStBl. 1976, 443. 42 Unter Hinweis auf BFH, Urt. v. 13.12.1961 – VI 133/60 U, BFHE 74, 331 = BStBl. III 1962, 127 [128 rechte Spalte]. S.  auch BFH, Urt. v. 20.4.1972 – V R 110/71, BFHE 105, 424 = ­BStBl. II 1972, 656. 43 BFHE 85, 565, BStBl. III 1966, 476. 44 BFHE 59, 151, BStBl. III 1954, 267 45 BFHE 59, 151, BStBl. III 1954, 267.

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Die „einheitliche Leistung“

d) Haupt- und Nebenleistung als zweiter Unterfall einer einheitlichen Leistung Mit der Einführung von Umsatzsteuervergünstigungen, insbes. Befreiungen für bestimmte Leistungen im UStG 1918/ 1919, stellte sich die Frage, ob auch sog „unselbständige Nebenleistungen“ zur Leistung mit dieser befreit seien. Es ging – nach dem damaligen System – insoweit also um Auslegung zugunsten der Leistungsempfänger. Praktisch bedeutsam war u.a., ob bzw. welche Nebenleistungen bei der Vermietung von Grundstücken von der Steuerbefreiung nach § 2 Nr. 4 UStG 1918/1919/§ 4 Nr. 10 UStG 193446 mitumfasst waren. Zu dieser Befreiungsregelung war die Frage der Loslösung von zivilistischen Grundsätzen besonders intensiv diskutiert worden. Die RFH-Rechtsprechung hatte für die Frage, ob ein Miet- oder Pachtverhältnis im Sinne der Befreiungsvorschrift vorliegt, die Maßgeblichkeit des bürgerlichen Rechts herausgestellt, während sonst das Umsatzsteuerrecht weitgehend von der wirtschaftlichen Betrachtungsweise beherrscht wurde (zusammenfassend RFH, Urt. v. 19.11.1943 – V 126/4147). Bereits Popitz48 hielt eine Zerlegung bei Nebenleistungen, die mit der Vermietung von Wohnungen verbunden zu sein pflegen, wie Zentralheizung, Warmwasserversorgung, Aufzug „als Akzendenz“ zur Vermietung des Grundstücks „für nicht erforderlich“; sie teilten deren Steuerfreiheit. Der RFH entschied in diesem Sinn, dass bei Wohnungsvermietung zwar Beheizung, Warmwasserversorgung oder Fahrstuhlbetrieb als damit verknüpft sei, nicht aber die Mitvermietung der Einrichtung 49 (vgl. zur EuGH-Rechtsprechung unten III. 2. a) aa). Der BFH formulierte im Anschluss an die RFH-Rechtsprechung die Begriffsbestimmung für eine Nebenleistung: Voraussetzung ist, dass die Leistung im Verhältnis zur Hauptleistung nebensächlich ist, mit ihr eng zusammenhängt und in ihrem Gefolge üblicherweise vorkommt (soweit ersichtlich erstmals im BFH-Urteil vom 14.1.1960 – V 22/58 U50). Sie wurde um das Kriterien verfeinert51, ob die Hauptleistung als solche durch die Leistung „ergänzt, abgerundet oder verbessert“ werde (z.B. BFH, Urteil vom 4.12.1980 – V R 60/7952, demzufolge eine entgeltliche Parkplatzüberlassung durch einen Zoo keine nach von § 12 Abs. 2 Nr. 7 Buchst. e UStG 1973 begünstigte unselbständige Nebenleistung ist).

46 UStG 1934 v. 16.10.1934, RGBl. 1934, 1166. 47 RFHE 54, 17 = RStBl 1944, 38. 48 Kommentar, 2. Aufl. 1921, § 2 Nr, 4, III. a); entsprechend schon 1. Aufl. 1918, zu § 2 Nr. 4. 49 V. 5.5.1939 – V 498/38, RStBl 1939, 806. 50 BFHE 70, 394 = BStBl. III 1960, 147, so zitiert in BFH, Urt. v.27.10.1966 – V 19/64, ­BStBl. III 1967, 132. 51 Insbes. ab Geltung des Mehrwertsteuersystems ab dem UStG 1967. 52 BFHE 132, 124 = BStBl. II 1981, 231.

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III. Einheitlichkeit der Leistung im „gemeinsamen Mehrwertsteuersystem“ der EG/EU ab 1968 Über das Schicksal der für die „alte“ Allphasen-Umsatzsteuer von UStG 1918 bis zum UStG 1951 gefundenen „wirtschaftlichen Betrachtungsweise in dem ab 1968 in Deutschland geltenden „neuen“ Mehrwertsteuerrecht machte Walter Eckhardt folgende Vorhersage:53 „Künftig wird nach neuem Umsatzsteuerrecht die wirtschaftliche Betrachtungsweise mindestens innerhalb der Unternehmerkette angesichts der Systematik des Vorsteuerabzugs nicht mehr dieselbe gewichtige Bedeutung haben wie nach altem UStG. Sie wird entsprechend dem Charakter der neuen USt als einer Endphasenbesteuerung im Wesentlichen nur für Umsatzgeschäfte zwischen Unternehmern und Nichtunternehmern in Betracht kommen.“

Der vorhergesagte Bedeutungsschwund der wirtschaftlichen Betrachtungsweise im Mehrwertsteuersystem ist zwar grundsätzlich eingetreten, es kam aber nicht zum Wegfall des Rechtsprechungsinstituts der „einheitlichen Leistung“. Dass der „Systemwechsel“ zur Mehrwertsteuer keine grundsätzliche Rolle spielte, ergab sich daraus, dass es nur um die Trennung oder Bündelung von Umsätzen desselben Unternehmers geht54, also die Frage von Steuerkaskaden bei Folgeumsätzen ausscheidet. 1. Begriffsbestimmung durch den EuGH Der EuGH hat im Lauf seiner Rechtsprechung eine zusammenfassende Begriffsbestimmung zum einheitlichen Umsatz getroffen, die er je Einzelfall konkretisiert. Eigentlich hat sich dazu nichts gegenüber den Auslegungsproblemen der RFH- und BFH-­ Rechtsprechung zur Entwicklung dieser Auslegungsregeln geändert. Und letztlich sind die Hintergrunderwägungen – zum Rechtfertigungsgrund dieser Auslegung – nach wie vor stark einzelfallorientiert. Gegenwärtig geht der EuGH in ständiger Rechtsprechung zur Prüfung der maßgebenden Leistung bei „komplexen Umsätzen“ nach folgender Reihenfolge und Definition der einheitlichen Leistung vor55: „Zunächst ist zu beachten, dass im Hinblick auf die Mehrwertsteuer jede Leistung in der Regel als eigene und selbständige Leistung zu betrachten ist, wie sich aus Art. 1 Abs. 2 Unterabs. 2 der Mehrwertsteuerrichtlinie ergibt… (Rz. 31) Allerdings sind nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs mehrere formal eigenständige Leistungen, die getrennt erbracht werden und damit jede für sich zu einer Besteuerung 53 Eckart – später Eckart-Weiß, Umsatzsteuergesetz – Mehrwertsteuer –, bereits im „Stammwerk“ 1968, Einleitung Tz. 77; ähnlich Ringleb/List in Sölch/Ringleb/List/Müller, UStG, § 1 UStG Rz. 24, Stand Sept. 1968. 54 S. unten II. 2. c). 55 Z.B. EuGH, Urt. v. 16.4.2015 – C-42/14 – Wojskowa Agencja Mieszkaniowa w Warszawie, MwStR 2015, 413, m. Anm. Grube = UR 2015, 427, Rz. 30 ff.

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Die „einheitliche Leistung“ oder Befreiung führen könnten, unter bestimmten Umständen als einheitlicher Umsatz anzusehen, wenn sie nicht voneinander unabhängig sind. Ein einheitlicher Umsatz liegt namentlich vor, wenn die Leistung des Steuerpflichtigen aus zwei oder mehreren Elementen oder Handlungen besteht, die so eng miteinander verbunden sind, dass sie objektiv eine einzige untrennbare wirtschaftliche Leistung bilden, deren Aufspaltung wirklichkeitsfremd wäre. Dies ist auch dann der Fall, wenn eine oder mehrere Leistungen die Hauptleistung und der oder die anderen Leistungen Nebenleistungen darstellen, die steuerlich ebenso zu behandeln sind wie die Hauptleistung … Eine Leistung ist insbesondere dann als Nebenleistung zu einer Hauptleistung anzusehen, wenn sie für die Kunden keinen eigenen Zweck, sondern das Mittel darstellt, um die Hauptleistung des Leistungserbringers unter optimalen Bedingungen in Anspruch zu nehmen.“

Die wiedergegebene Definition wandte der EuGH – soweit ersichtlich – erstmals im Urteil vom 22.10.1998 – C-308/96 Madgett & Baldwin56 an. Zu der Formulierung bezüglich der „Haupt- und Nebenleistung“ sei angemerkt, ȤȤ dass es sich zum einen in diesem Verfahren um die Beurteilung eines Leistungspakets gegen Pauschalpreis nach der Sonderregelung für Reiseleistungen57 handelte. Dabei spielt die Vereinfachung der Besteuerung der Leistungsbündelung eine besondere Rolle. M.E. ist die Heranziehung dieses Kriteriums „wenn sie für die Kunden keinen eigenen Zweck, sondern das Mittel darstellt, um die Hauptleistung des Leistungserbringers unter optimalen Bedingungen in Anspruch zu nehmen“ allgemein für eine Nebenleistung eher missverständlich. Dass bestimmte Zusatzleistungen dem Empfänger einer sog Hauptleistung – also des maßgeblichen Leistungsgegenstands – „optimale Empfangsbedingungen“ bereiten, mag für den Empfänger angenehm sein; das sollte aber kein umsatzsteuerrechtliches Kriterium sein, um solche Leistungen  – entgegen dem Neutralitätsgebot  – einer anderen Besteuerungsqualität zu unterwerfen, als gesetzlich für sie vorgesehen. ȤȤ Zum anderen dürfte dieser Definitionsversuch auf die bisherigen vereinzelten Entscheidungen zur Leistungszusammenfassung reagieren, denen letztlich systematische Begründungskriterien fehlten. Mit der (m.E. zu) weit gefassten Formulierung zur Nebenleistung konnten diese Fälle gestützt werden. 2. Entwicklung der EuGH-Rechtsprechung zur „einheitlichen Leistung“ Die (m.W.) erste Entscheidung des EuGH zum Thema betrifft die „Frühzeit“ der MwSt in der (damals) Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. In dem Urteil v.12.6.1979 –

56 UVR 1998, 430 = UR 1999, 38; dazu auch von Streit, EU-UStB 2010, 9, 10. Sie war von Generalanwalt Philippe Leger in seinen Schlussanträgen v. 30.4.1998 zu diesem Verfahren eingeführt worden. 57 Innerhalb des Anwendungsbereichs dieser Sonderregelung gem. Art. 306 ff. MwStSystRL/​ §  25 UStG als einheitliche Leistung sind die allgemeinen Grundsätze der umsatzsteuerrechtlichen Beurteilung von zusammengesetzten Leistungen nicht anwendbar, vgl. BFH, Urt. v. 19.10.2011 – XI R 18/09, BFH/NV 2012, 887 = BFHE 236, 222 = UR 2012, 455; s. Oelmaier in Sölch/Ringleb, UStG, § 1 UStG Rz. 15.

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Rs. 126/7858 ging es um die Frage, ob der vom Absender einer Lieferung mit einem Frachtführer vereinbarte Kaufpreiseinzug bei Nachnahmelieferung „Nebenleistung der Beförderung“ i.S. des Anhangs B der 2. Richtlinie59 war. Während der Frachtführer die Steuerfreiheit nach Niederländischem Recht für die Einziehung vermeiden wollte und eine Nebenleistung zur steuerpflichtigen Fracht annahm (wodurch ihm das volle Recht auf Vorsteuerabzug blieb), hielt die Verwaltung an der gesonderten Behandlung der steuerfreien Einziehung fest. Die dazu ergangene Entscheidung des EuGH – es handle sich um eine „Nebenleistung der Beförderung“ i.S. der Richtlinienbestimmung – erging ersichtlich im Bestreben des EuGH, das Richtlinienrecht in allen Mitgliedstaaten verbindlich durchzusetzen. Es stehe den Mitgliedstaaten nicht frei, eine derartige Nebenleistung „gesondert zu behandeln“. Die Begründung dafür lässt systematisch sehr zu wünschen übrig: Der EuGH unterstellt einen Vertrag „über zwei Dienstleistungen, von denen die zweite (die Nachnahevereinbarung) nach dem Willen der Parteien so eng mit der ersten (der Beförderung) verbunden ist, dass die eine Dienstleistung nicht ohne die andere erbracht werden kann.“

Die Einziehung des Preises sei daher eine „Nebenleistung“ der Beförderung. Zutreffend merkt Weiß60 dazu an, dass der EuGH offenbar von einer Gleichrangigkeit der beiden Leistungen ausgehe, weshalb der Schluss auf eine untergeordnete Leistung überraschend sei. Im Ergebnis entspräche die Beurteilung der Einziehung als unselbständige Nebenleistung aber der nationalen Praxis. Nicht weniger systematisch „schief “ (jedenfalls aus jetziger Sicht) wirkt m.E. das spätere Urteil vom 13.7.1989 Rs. 173/88 Henriksen61: (Wohnungs- und Stellplatzvermietung): Hintergrund war eigentlich die Frage, ob die Ausnahmeregelung von der Steuerbefreiung für die Vermietung von Grundstücken für die Vermietung von „Plätzen für das Abstellen von Fahrzeugen“ gem. Art. 3 Teil B Buchstabe b der Sechsten Richtlinie62 auch die Vermietung von Garagen betraf. Letzteres bejahte der EuGH, meinte aber auch “klarstellen“ zu müssen, „daß der Begriff der „Vermietung von Grundstücken“, die nach Artikel 13 Teil B Buchstabe b von der Mehrwertsteuer befreit ist, neben den Gegenständen, die den Hauptgegenstand dieser Vermietung bilden, notwendigerweise auch deren Zubehör umfaßt… Daher kann die Vermie58 UR 1980, 13 m. krit. Anm. Weiß. 59 Des Rates der EG v. 11.4.1967 zur Harmonisierung der –Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern. 60 Weiß, UR 1980, 15. 61 UR 1991, 42. 62 Sechste Richtlinie des Rates v. 17.5.1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage (77/388; ABl. L 145, S. 1).

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Die „einheitliche Leistung“ tung von Plätzen für das Abstellen von Fahrzeugen von diesem Befreiungstatbestand nicht ausgenommen werden, wenn sie mit der steuerfreien Vermietung von für einen anderen Gebrauch bestimmten Grundstücken, z. B. von Grundstücken für Wohnzwecke oder für gewerbliche Zwecke, eng verbunden ist, so daß beide Vermietungen einen einheitlichen wirtschaftlichen Vorgang darstellen.“

Z.B. gilt das lt. EuGH, wenn es sich um Teile ein und desselben Gebäudekomplexes handelt und diese beiden Gegenstände von ein und demselben Vermieter an ein und denselben Mieter vermietet werden. Zu diesen rudimentären Ausführungen sei vermerkt: ȤȤ Zum einen erscheint die Anbindung der Stellplätze an Zubehör der Wohnung etwas gekünstelt und ȤȤ zum anderen fehlt insbesondere die in späterer ständiger EuGH-Rechtsprechung eingefügte Betonung des Grundsatzes der Steuerneutralität sowie der Notwendigkeit, Steuerbefreiungen eng, die Ausnahmen davon aber weit auszulegen63. Die weite Auslegung der Befreiung über das Institut eines „einheitlichen wirtschaftlichen Vorgangs“ passt m.E. nicht, s. unten IV. Jedoch ist auch der EuGH-Rechtsprechung – wie auch der oben behandelten RFHund BFH-Rechtsprechung – zugute zu halten, dass die Bestimmung des Leistungs­ gegenstands bei Leistungsbündeln in besonderer Weise von den Gesamtumständen des Einzelfalls abhängt und jede dabei zu treffende Sachverhaltswürdigung – aus der Sicht des „Durchschnittsverbrauchers“64  – nur in engem Rahmen verallgemeinert werden darf65. a) Beurteilungsunsicherheiten bei wichtigen Praxisfragen Welche „Schwankungen“ dabei – auch in der Rechtsprechung des EuGH oder aufgrund dieser – auftreten können, soll im Folgenden nur beispielsweise zu praktisch interessanten Vorgängen herausgegriffen werden (wie sie auch schon die frühere Rechtsprechung von RFH und BFH beschäftigt hatten): aa) Grundstücksvermietung und Mietnebenkosten Die Frage, ob und welche – an sich steuerpflichtigen – Zusatzleistungen („Nebenkosten“) zur steuerfreien Grundstücksvermietung (insbes. Vermietung von Wohn- und Geschäftsräumen) in die Steuerbefreiung einbezogen werden können, dürfte ein in allen Mitgliedstaaten relevantes Thema sein. Aus der EuGH-Rechtsprechung liegen inzwischen drei Entscheidungen vor, deren Begründungswege und Ergebnisse nicht gerade deckungsgleich sind. Der EuGH ver63 Z.B. EuGH, Urt. v. 17.3.2016 – C-40/15 – Aspiro SA, MwStR 2016, 334, Rz. 25 ff. 64 S. auch unten, III. 65 Vgl. dazu Martin in Sölch/Ringleb, UStG, § 3 UStG Rz. 18 ff., Stand EL 82, März 2018.

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suchte, diese Rechtsentwicklung im bislang letzten Urteil66 zusammenzufassend zu glätten: „Der jeweilige Ausgangspunkt ist gemäß den Prüfungsgrundsätzen zur einheitlichen Leistung, dass „zur Klärung der Frage, ob die erbrachten Leistungen mehrere voneinander unabhängige Leistungen oder eine einheitliche Leistung darstellen, die charakteristischen Merkmale des betreffenden Umsatzes zu ermitteln sind.“

ȤȤ Im Urteil vom 11.6.2009 – C-572/07 RLRE Tellmer Property67 hat der Gerichtshof festgestellt, dass bei der Reinigung der Gemeinschaftsräume eines Gebäudes die Dienstleistung in unterschiedlicher Weise vorgenommen werden kann, nämlich u. a. durch einen Dritten, der die Kosten für diese Dienstleistung den Mietern unmittelbar in Rechnung stellt, oder durch den Vermieter, der sich hierzu seines eigenen Personals bedient oder ein Reinigungsunternehmen in Anspruch nimmt. Da die Dienstleistung in dem betreffenden Fall separat zu der Miete vom Vermieter in Rechnung gestellt wurde und die beiden Leistungen voneinander getrennt werden konnten, hat der Gerichtshof entschieden, dass sie nicht als einheitliche Leistung angesehen werden können (Rz. 22 und 24). ȤȤ Im nächsten Urteil vom 27.9.2012 – C-392/11 Field Fisher Waterhouse68, hat der EuGH allerdings den Begründungsansatz des zuvor behandelten Urteils für eine Eigenständigkeit der Zusatzleistungen revidiert. Der Umstand, dass solche Leistungen, für sich gesehen, von unterschiedlichen Unternehmern erbracht werden könnten, dass der Mieter also über die Möglichkeit verfügt, diese Leistungen bei einem Lieferanten seiner Wahl zu erhalten, sei nicht entscheidend; denn die Möglichkeit, dass Teile einer einheitlichen Leistung unter anderen Umständen getrennt erbracht werden, gehöre zum Konzept des zusammengesetzten einheitlichen Umsatzes. Das Urteil erging zu Warmwasserversorgung, Heizung, Gebäudereinigung, Reinigung von Gemeinschaftsräumen aufgrund eines Mietvertrags über Geschäftsräume einer Anwaltskanzlei. Der EuGH entnahm dem Vertrag, dass der Vermieter neben der Vermietung der Räumlichkeiten auch eine Reihe bestimmter Dienstleistungen an den Mieter erbringt, für die Nebenkosten anfallen, deren Nichtzahlung eine Kündigung des Mietvertrags nach sich ziehen kann. Er nahm an, dass der wirtschaftliche Grund für den Abschluss dieses Vertrags nicht nur darin bestand, das Recht auf Nutzung der betreffenden Räumlichkeiten zu erhalten, sondern auch darin, dass der Mieter eine Gesamtheit von Dienstleistungen erhält. Daraus folgerte der EuGH, dass der Mietvertrag eine einheitliche Leistung zwischen dem Vermieter und dem Mieter darstellt. Er stellte sich in seiner Beurteilung auf den Standpunkt eines durchschnittlichen Mieters der betreffenden Geschäftsräume, mithin von Anwaltskanzleien.

66 V. 16.4.2015  – C-42/14  – Wojskowa Agencja Mieszkaniowa w Warszawie, MwStR 2015, 413, m. Anm. Grube = UR 2015, 427. 67 BFH/NV 2009, 1368. 68 UR 2012, 964.

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Die „einheitliche Leistung“

ȤȤ Im zuletzt ergangenen Urteil vom 16.4.2015 – C-42/14, Wojskowa Agencja Mieszkaniowa Warszawie69 resümierte der EuGH (Rz. 36 ff.): „Diese beiden Urteile beziehen sich auf Leistungen, die … grundsätzlich für die Nutzung einer gemieteten Immobilie nützlich oder sogar notwendig sind. Aus dieser Rechtsprechung ergibt sich, dass diese Leistungen unabhängig von der Vermietung einer Immobilie bestehen können. Sie können allerdings im Einzelfall, insbesondere in Anbetracht des Vertragsinhalts, Nebenleistungen darstellen oder von der Vermietung untrennbar sein und mit dieser eine einheitliche Leistung bilden.“

Das Urteil betrifft die Vermietung von Immobilien und deren Versorgung mit Wasser, Elektrizität und Wärme sowie die Abfallentsorgung. Aufgrund der Prüfung der charakteristischen Leistungsmerkmale kam der EuGH zum Ergebnis, es könnten zwei Fallgruppen unterschieden werden: ȤȤ Von der Vermietungsleistung getrennte Leistungen können angenommen werden, „wenn der Mieter über die Möglichkeit verfügt, die Lieferanten und/oder die Nutzungsmodalitäten der in Rede stehenden Gegenstände oder Dienstleistungen auszuwählen …. Insbesondere wenn der Mieter über seinen Verbrauch von Wasser, Elektrizität oder Wärme, die durch die Anbringung von individuellen Zählern kontrolliert und in Abhängigkeit dieses Verbrauchs abgerechnet werden können, entscheiden kann.“

ȤȤ Dagegen kann von einer mit der Vermietung einheitliche Leistung angenommen werden, „wenn ein zur Miete angebotenes Gebäude in wirtschaftlicher Hinsicht offensichtlich mit den begleitenden Leistungen objektiv eine Gesamtheit bildet. Das kann u. a. bei der Vermietung schlüsselfertiger, mit der Lieferung von Versorgungsleistungen und bestimmten anderen Leistungen einsatzbereiter Büroräume der Fall sein, und bei der Vermietung von Immobilien für kurze Zeiträume, insbesondere für die Ferienzeit oder aus beruflichen Gründen, die mit diesen Leistungen angeboten wird, ohne dass diese davon getrennt werden können.“

Preisbildungs- und Rechnungsstellungsmodalitäten können berücksichtigt werden (Rz. 37 des Urteils). Diese neu geordneten Erwägungen werden wieder die Praxis beschäftigen  – insbes. auch die deutsche Praxis, die letztlich nach wie vor sämtliche der angesprochenen  Leistungen als Nebenleistung zur steuerfreien Vermietung behandelt (s. Abschn.  4.12.1 Abs.  5 UStAE)  – mit der Folge, dass dem Vermieter ein Recht auf Vorsteuerabzug zu diesen Leistungen versagt wird. bb) Versicherungsleistungen zu anderen Leistungen Während im EuGH-Urteil vom 29.2.1999 – C-349/96 Card Protection Plan (cpp)70 noch ergebnisoffen anhand der Kriterien von Haupt- und Nebenleistung! erörtert wurde, ob die Kunden (eines „Kreditkartenschutzplans“) bei Zahlung eines einheitlichen Preises eine einheitliche (steuerpflichtige) Leistung empfangen oder trotz des 69 MwStR 2015, 413, m. Anm. Grube = UR 2015, 427. 70 UVR 1999, 157, Rz. 26 ff.

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Preises aus ihrer Sicht zwei gesonderte Dienstleistungen erwerben (steuerfreie Versicherungsleistung und steuerpflichtige Kartenregistrierungsleistung), ging es in späteren Entscheidungen zu solchen Konstellationen um die Frage zweier zum einheitlichen Umsatz „eng verbundenen“ Leistungen: Nach dem EuGH Urteil vom 17.1.2013 – C-224/11 BGZ Leasing71 sind eine Leasingleistung und die Bereitstellung einer Versicherung72 für das Leasingobjekt grundsätzlich nicht als derart eng miteinander verbunden anzusehen, dass sie einen einheitlichen Umsatz bilden. Der EuGH berücksichtigt, dass naturgemäß jeder Versicherungsumsatz eine Verbindung zu dem Gegenstand aufweist, auf den er sich erstreckt. Würde dieser Zusammenhang zur Annahme einer einheitlichen Leistung mit dem steuerpflichtigen versicherten Umsatz führen, würde „der Zweck von Art. 135 Abs. 1 Buchst. a MwStSystRL, nämlich die Befreiung der Versicherungsumsätze, in Frage gestellt.“ Damit folgt der EuGH seiner „Richtschnur“, wonach jede Leistung in der Regel als eigene und selbständige Leistung zu betrachten ist. Ferner ist das Urteil darauf gestützt, dass der Grundsatz der steuerlichen Neutralität es nicht zulässt, gleichartige und deshalb miteinander in Wettbewerb stehende Waren oder Dienstleistungen hinsichtlich der Mehrwertsteuer unterschiedlich zu behandeln. Entsprechend dürfte nach dem EuGH-Urteil vom 16.7.2015 – C-584/13 Mapfre warranty73 ein Versicherungsschutz für Reparaturrisiken durch Dritte beim Gebrauchtwagenkauf – auch falls er vom Verkäufer verschafft wird – i.d.R. ein eigenständiger Versicherungsumsatz gegenüber der Fahrzeuglieferung sein. Diese unionsrechtlichen Vorgaben dürften auch auf die deutsche Praxis Auswirkungen zur Beurteilung der Versicherungsleistungen in den Fällen der sog. Car-Garantie haben: Nachdem der BFH zunächst (u.a. mit Urteil vom 16.1.2003 – V R 16/0274) die „Garantieleistung“ des Autoverkäufers (Reparaturkostenersatzansprüche gegenüber einem Versicherer aufgrund einer von ihm mit einer Versicherung abgeschlossenen Versicherung) beim Kauf eines Wagens als eigenständige, nach § 4 Nr. 10 UStG steuerfreie Leistung behandelt hatte, gab er mit Urteil vom 10.2.2010 – XI R 49/0775 diese Rechtsprechung auf. Er entschied unter Berufung auf EuGH-Grundsätze, die Garantiezusage sei eine einheitliche steuerpflichtige Leistung, weil nicht die Verschaffung von Versicherungsschutz, sondern die eigene Einstandspflicht des Verkäufers das dominierende Element der Garantie sei.

71 EuGH v. 17.1.2013 – C-224/11, UR 2013, 262; MwStR 2013, 81, m. Anm. Grube. 72 Darunter fällt auch der Abschluss einer Gruppenversicherung durch den Leasinggeber, der den Parteien des Leasingvertrags die sie betreffenden Kosten weitergibt (Rz. 59 ff. des Urteils). 73 MwStR 2015, 762 m. Anm. Grube. 74 BFH/NV 2003, 734. 75 BStBl. II 2010, 1109.

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Ob diese Beurteilung nach den Grundsätzen der oben wiedergegebenen EuGH-Entscheidung C-224/11 aufrechterhalten werden kann, ist fraglich.76 b) Bestimmung des Leistungsorts bei grenzüberschreitenden Leistungsbündeln Die Bedeutung der Besteuerungshoheit bei grenzüberschreitenden Leistungen (insbes. innerhalb der EU) für die Prüfung einheitlicher Leistungen darf nicht außer Acht gelassen werden. Soweit ersichtlich erging als erste Entscheidung dazu das Urteil vom 2.5.1996  – C-231/94, Faaborg-Gelting Linien A/S77 auf Vorlage des BFH. Es ging es um den Leistungsort nach der 6. EG-Richtlinie bei der „Abgabe von Speisen und Getränken zum Verzehr an Ort und Stelle“ auf Fährschiffen, die zwischen Deutschland und Dänemark verkehren. Nach deutschem UStG handelte es sich um Lieferungen, nach dem Recht anderer Mitgliedstaaten um Dienstleistungen. Daraus konnten sich unterschiedliche Bestimmungen des Orts der Leistungen und mögliche Doppelbesteuerungen ergeben. Ohne den Begriff der „einheitlichen Leistung“ zu erwähnen, ging der EuGH von dem Grundsatz aus (Rz. 12 f.): „Ob bestimmte Umsätze Lieferungen von Gegenständen oder Dienstleistungen sind, richtet sich nach ihrem Wesen. Dieses ist im Rahmen einer Gesamtbetrachtung zu ermitteln. Die Abgabe von Speisen und Getränken zum sofortigen Verzehr ist das Ergebnis einer Reihe von Dienstleistungen vom Zubereiten bis zum Darreichen der Speisen … Somit ist der Restaurationsumsatz durch eine Reihe von Vorgängen gekennzeichnet, von denen nur ein Teil in der Lieferung von Nahrungsmitteln besteht, während die Dienstleistungen bei weitem überwiegen. Er ist daher als Dienstleistung im Sinne von Artikel 6 Absatz 1 der Sechsten Richtlinie zu betrachten.“

Diese sehr knappe aber klare unionsrechtliche Beurteilung der Restaurationsumsätze als Dienstleistung enthielt zwar keine Definitionsausflüge zur einheitlichen Leistung, ergab aber eine einfache Bestimmung des Orts der Leistung mit dem Sitz der wirtschaftlichen Tätigkeit des Dienstleisters.78 Das deutsche UStG lag mit seiner Definition als Lieferung daneben und musste geändert werden79. Im Urteil vom 25.1.2001  – C-429/97, Kommission gegen Französische Republik80 ging es um den Ort der „komplexen Leistung“ des Einsammelns und der Beseitigung von Abfall durch sog. Hauptunternehmer für verschiedene Abnehmer. Die Französi76 Zutreffend m.E. Grube, Anm. zum EuGH-Urteil, MwStR 2013, 81, 86. 77 UVR 1996, 169 m. Anm. Wagner = UR 1996, 220. 78 Artikel 9 Abs. 1 der 6. EG-Richtlinie. 79 Aufhebung der „Lieferungs-Regel“ in § 12 Abs. 2 Satz und Neuregelung in § 3 Abs. 9 Satz 4 f. m.W. v. 27.6.1998, BGBl. I 1998, 1496. 80 UR 2001, 265 = UVR 2001, 142 m. Anm. Wagner.

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sche Regierung meinte, es handle sich um „eine Arbeit an beweglichen körperlichen Gegenständen“ (Art. 9 Abs. 2 Buchst. c vierter Gedankenstrich der 6. EG-Richtlinie). Danach müssten Teile der „komplexen“ Leistung in den Mitgliedstaaten besteuert werden, in denen sie „tatsächlich“ ausgeführt wurden. Dass es sich um eine „komplexe Leistung“ handelte, wurde vom EuGH nicht weiter begründet, sondern als übereinstimmende Ansicht aller Beteiligten übernommen. Der EuGH ging auf die Leistungsqualifizierung nicht ein. Ersichtlich ging es ihm um Vermeidung von Doppelbesteuerung und Sicherheit bei der Leistungsabrechnung (mit welchen Steuersatz welches Mitgliedstaats?). Er legte sich daher (wieder) auf die einfache allg. Ortsregelung in Art. 9 Abs. 1 der 6 EG-Richtlinie als Leistungsort fest, den Sitz der wirtschaftlichen Tätigkeit des Dienstleistenden. Etwas mehr an Differenzierungsarbeit verlangte der Fall des späteren Urteils vom 27.10.2005 – C-41/04 Levob Verzekeringen BV81. Es ging darum, ob zum Zweck der Mehrwertsteuererhebung die Überlassung einer von einem Lieferanten entwickelten, auf einem Datenträger gespeicherten Standard-Software und die anschließend von diesem Lieferanten vorgenommene Anpassung der Software an die besonderen Bedürfnisse des Erwerbers gegen Zahlung getrennter Preise als zwei getrennte Leistungen anzusehen sind oder als eine einheitliche Leistung, und ob im letztgenannten Fall diese einheitliche Leistung als Dienstleistung einzustufen ist. Dazu wies der EuGH zunächst auf die Besonderheit hin, dass die Frage nach dem Umfang eines Umsatzes aus mehrwertsteuerlicher Sicht sowohl für die Lokalisierung des Ortes der steuerbaren Umsätze als auch für die Anwendung des Steuersatzes oder gegebenenfalls der in der Sechsten Richtlinie vorgesehenen Befreiungen von besonderer Bedeutung ist. Anhand der Grundsätze zur einheitlichen Leistung bestätigte der EuGH die Ansicht des vorlegenden Gerichts, wenn ein Steuerpflichtiger einem Verbraucher eine speziell an dessen Bedürfnisse angepasste einsatzfähige Software überlasse, wäre es wirklichkeitsfremd anzunehmen, dass ein solcher Verbraucher bei ein und demselben Lieferant zunächst eine bestehende Software erwerbe, die in diesem Zustand jedoch für seine wirtschaftliche Tätigkeit nutzlos sei, und erst später die Anpassungen, die diese Software erst nützlich werden ließen. Die Überlassung der Basissoftware und deren Anpassung zu vertraglich vereinbarten getrennten Preisen änderten nicht an einem einheitlichen wirtschaftlichen Vorgang. Schließlich bestätigte der EuGH die Ansicht, eine solche einheitliche sei Leistung als „Dienstleistung“ einzustufen, weil die fragliche Anpassung weder unbedeutend noch nebensächlich, sondern vielmehr von ausschlaggebender Bedeutung war; insbesondere weil diese Anpassung angesichts von Umständen wie ihrem Umfang, ihren Kos-

81 BFH/NV Beilage 2006, 38 = UR 2006, 20.

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ten oder ihrer Dauer entscheidend dafür war, dass der Erwerber eine auf ihn zugeschnittene Software nutzen konnte. Dagegen hielt der EuGH im Fall des Urteils vom 29.3.2007 C-111/0582 bei Verlegung eines Hochseekabels zwischen zwei Mitgliedstaaten über die hohe See die Annahme mehrerer Lieferungen entsprechend der territorialen Abgrenzung für geboten. Er ging zwar davon aus, dass alle Einzelleistungen, die der Umsatz umfasste, zum einen zu seiner Verwirklichung erforderlich und zum anderen eng miteinander verbunden waren: „Unter diesen Voraussetzungen wäre es wirklichkeitsfremd, anzunehmen, dass der Kunde zunächst das Glasfaserkabel erwirbt und dann bei demselben Lieferanten die mit der Verlegung dieses Kabels zusammenhängenden Dienstleistungen“. Lieferung und Verlegung Kabels waren sonach als ein einheitlicher Umsatz anzusehen. Entscheidend für die Annahme eines einheitlichen komplexen Umsatzes dürfte dabei gewesen sein, dass die Lieferung des Kabels, d.h. der Übergang des Eigentums an dem Gegenstand, nach dessen Installation (Verlegen) erfolgte.83 So kam der EuGH hier zum Ergebnis, dass der „komplexe Vorgang“ von Lieferung und Verlegung eines Glasfaserkabels, das zwei Mitgliedstaaten verbindet und teilweise außerhalb des Hoheitsgebiets der Gemeinschaft liegt, als eine Lieferung von Gegenständen im Sinne des Art. 5 Abs. 1 der Sechsten Richtlinie anzusehen ist, zumal der Preis des Kabels den eindeutig überwiegenden Teil der Gesamtkosten dieser Leistung ausmachte und die Dienstleistungen des Lieferers sich auf die Verlegung des Kabels beschränkten, ohne dieses der Art nach zu verändern oder den besonderen Bedürfnissen des Kunden anzupassen. Nach der dafür einschlägigen Regelung des Leistungsorts (Art. 8 Abs. 1 Buchst. a der 6. EG-Richtlinie) stand die Befugnis zur Besteuerung der Lieferung und Verlegung eines Glasfaserkabels, das zwei Mitgliedstaaten verbindet und teilweise außerhalb des Hoheitsgebiets der Gemeinschaft liegt, dem einzelnen Mitgliedstaat sowohl in Bezug auf den Preis für das Kabel und das übrige Material als auch in Bezug auf die Kosten der mit der Verlegung dieses Kabels zusammenhängenden Dienstleistungen anteilig nach der Länge des sich auf seinem Hoheitsgebiet befindlichen Kabels zu. Letztlich zeigt die Prüfung „komplexer Leistungen“ durch den EuGH, wenn es um die Bestimmung des Besteuerungsorts bei grenzübergreifenden Teilen geht, dass der EuGH hier das Ziel der Steuervereinfachung im weiten Sinn voranstellt, u.a. i.S. der Vermeidung von Doppelbesteuerung in der EU und des Besteuerungsverfahrens. Die Grundsätze der einheitlichen Leistung wurden letztlich i.S. von einheitlichen Dienstleistungen dann als vorgegeben angesehen, wenn dies dem Vereinfachungsziel diente. Im letztgenannten Fall der Verlegung des Hochseekabels bot die „Lieferungsqualifikation“ die einfachere Besteuerung.

82 UR 2007, 420. 83 Vgl. die Analyse des Urteils in den Schlussanträgen des Generalanwalts Paolo Mengozzi v. 29.6.2017 Rz. 63 ff. zur Rs. C-303/16 – Solar Electric Martinique (lt. Urteil v. 19.10.2017 zu einer nicht entscheidungserheblichen Frage).

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c) Keine Ausweitung der einheitlichen Leistung durch Einbeziehung von Leistungen Dritter Im Hinblick auf die Frage, ob Leistungen „Dritter“ in die Beurteilung von Leistungsbündeln als einheitliche Leistung einbezogen werden dürfen, knüpft die EuGH-Rechtsprechung fast nahtlos an die frühere BFH-Rechtsprechung an. Gegenstand der Auslegungsgrundsätze zur umsatzsteuerrechtlich „einheitlichen wirtschaftlichen Vorgängen“ bzw. einheitlichen Leistungen“, „komplexen Umsätzen“ war von Anfang nur die Konstellation mehrerer Leistungen ein und desselben Unternehmers zur Erfüllung der Bestellung durch den Leistungsempfänger. Das war bereits Hintergrund der ersten „gesetzlichen“ Zusammenfassung mehrerer verschiedener Leistungen zur „Werklieferung“ und Fallgrundlage zur folgenden ständigen Rechtsprechung von RFH und BFH (vgl. z.B. BFH-Urteil vom 17.10.1958 – V 5/58 U84), auch wenn zwischendurch vereinzelte „Unsicherheiten“ auftauchten: So meinte der BFH im o.g. Urteil V 5/58 U obiter dictum: „Eine einheitliche Beurteilung eines Vorgangs, bei dem ein dritter Unternehmer eingeschaltet ist, wird deshalb nur Platz greifen können, wenn dieser dritte Unternehmer, der… die Werkleistung ausführt, als Erfüllungsgehilfe des Großhändlers anzusehen ist.“ Im Entscheidungsfall verneinte der BFH die Annahme eines einheitlich zu beurteilenden Vorgangs, unter Hinweis auf die getrennte Auftragserteilung des Abnehmers an Lieferer und Dienstleistenden sowie auf die Grenzen der wirtschaftlichen Betrachtungsweise: die Gestaltung des Bearbeitungsvorgangs (als Leistung des Dritten gegenüber dem Abnehmer) könne „weder ungewöhnlich noch als mißbräuchlich“ i.S. des & 6 StAnpG angesehen werden. Der BFH hatte später im Urteil v. 27.10.1966 – V 19/6485, (dazu oben II. 3. b) – Lieferung und Montage eines Garagentors als einheitlicher Vorgang?  – auf diese Argumentation zu reagieren: Er kam aber auch hier zur Anerkennung der Selbständigkeit der Lieferung des Tors einerseits durch den Unternehmer und der Montage andererseits durch einen Dritten. Nach Auffassung des BFH lagen keine Anhaltspunkte dafür vor, daß die Kunden von dem Handelsvertreter ein fertiges Garagentor hätten geliefert bekommen wollen. Zur eingangs erwähnten Einheitlichkeitsargumentation führte er nur aus: „Bei dieser Sach- und Rechtslage … braucht zu der vom FA aufgeworfenen Frage, ob die Grundsätze über die wirtschaftliche Betrachtungsweise auch dann angewendet werden können, wenn zwischen dem Lieferer und dem die Leistung ausführenden Unternehmer Personenverschiedenheit besteht, nicht Stellung genommen zu werden“ (Hervorhebungen durch mich).

Zu einer „Ausweitung“ der Einheitlichkeitsbetrachtung kam es allerdings (im Ergebnis) im Rahmen der Rechtsprechung zur „Lieferung von Speisen und Getränken zum Verzehr an Ort und Stelle“ nach der bis 1998 geltenden Regelung in § 12 Abs. 2 Nr. 2

84 BStBl. II 1958, 475, mit Nachweisen zur Rechtsprechung von RFH und BFH. 85 BStBl. III 1967, 132.

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Satz 2 UStG. In den Urteilen vom 10.8.2006 – V R 38/0586 und vom 26.10.2006 – V R 58, 59/0487 hatte der BFH noch die Auffassung vertreten, Verzehrvorrichtungen eines Dritten könnten berücksichtigt werden, wenn diese auch im Interesse des leistenden Unternehmers zur Verfügung gestellt worden seien. Diese Begründung war nicht auf den Grundsatz der „einheitlichen Leistung“ gestützt, sondern war wohl (entspr. dem dabei zitierten BFH-Urteil vom 7.5.1975 – V R 136/72 a.E.88) noch von der bisherigen – weiten – Formulierung „zum Verzehr an Ort und Stelle“ beeinflusst. Mit Urteil vom 30.6.2011 – V R 18/1089 hat der BFH diese Rechtsprechung zutreffend aufgegeben und mit Urteil vom 3.8.2017 – V R 15/1790 ebenso zutreffend entschieden, dass der Verkauf von „Wiesnbrezn“ in einem Festzelt durch vom Festzeltbetreiber verschiedene Personen („Brezn“-Verkäuferinnen) eine Lieferung zum ermäßigten Steuersatz ist, weil der Verkäuferin die Bierzelteinrichtung nicht als Verzehrgelegenheit zuzurechnen sind. Es handelt sich um keine Dienstleistung der „Brezn“-Lieferantin zur Erleichterung des Verzehrs, die insgesamt zum einheitlichen Vorgang einer sonstigen Leistung führen könnte. Ferner ging der BFH im Urteil vom 11.4.2013 – V R 28/1291 davon aus, dass bei der Abgrenzung von Lieferungen und sonstigen Leistungen auch im Bereich der Restaurationsumsätze auf die vom einzelnen Unternehmer erbrachte Leistung abzustellen ist und dass Leistungen mehrerer Unternehmer nur bei Vorliegen eines Gestaltungsmissbrauchs (§ 42 AO) zusammengefasst werden können. Er führte insoweit die vorstehend in diesem Abschnitt wiedergegebenen BFH-Rechtsprechung (zur Anwendbarkeit von § 6 StAnpG) fort. Der EuGH geht gleichfalls in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass nur mehrere Leistungen ein und desselben Unternehmers die Prüfung als einheitliche Leistung rechtfertigen. Deutlich wird dies z.B. im Urteil vom 16.04.2015 – C-42/14, Wojskowa Agencja Mieszkaniowa Warszawie92, das eingangs darauf abstellt, dass die mehreren Leistungen vom selben Leistenden stammen müssen. Auch Grenzfälle mit dem Hintergrund missbräuchlicher Gestaltung werden vergleichbar zur BFH-Rechtsprechung93 behandelt: Im Fall des EuGH-Urteils vom 21.2.2008  – C-425/06 Part Service94 hatte das vor­ legende italienische Gericht angefragt, ob die Aufteilung eines Leasing- bzw. Miet86 BFHE 214, 480 = BStBl. II 2007, 482. 87 BFHE215, 360 = BStBl. II 2007, 487. 88 BFHE 116, 294 = BStBl. II 1975, 796. 89 BFHE 234, 496 = BStBl. II 2013, 246. 90 MwStR 2017, 881 m. Anm. Grube. 91 MwStR 2013, 592. 92 Z.B. EuGH, Urt. v. 16.4.2015 – C-42/14 – Wojskowa Agencja Mieszkaniowa w Warszawie, MwStR 2015, 413, m. Anm. Grube = UR 2015, 427; s. dort die Abgrenzung zu personenverschiedenen Leistungen, Rz. 23 ff. 93 S. oben II.2.c). 94 BFH/NV Beilage 2008, 202 = UR 2008, 461.

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kaufgeschäfts auf zwei Gesellschaften, wobei eine die steuerfreien Finanzierungs-, Ver­sicherungs- und Vermittlungsleistung, und eine andere nur die steuerpflichtige Gebrauchsüberlassung übernahm, rechtsmissbräuchlich sei, wenn nach nationalem Recht bei einem einheitlichen Leasingvertrag auch die Finanzierungsleistung mit unter die Steuerpflicht falle. Der EuGH machte dazu folgende klarstellende Hinweise: beide tätigen Unternehmen gehörten derselben Unternehmensgruppe an; die steuerpflichtigen Leasingumsätze (Gebrauchsüberlassung) überstiegen kaum den Kaufpreis des Gegenstands, das überlassende Unternehmen sei kaum überlebensfähig; erwartetes Ergebnis sei die Steuerbefreiung der Finanzierungs- und Versicherungsumsätze. Dieses Ergebnis könne –auch unter Berücksichtigung des willkürlichen Charakters und der rechtlichen, wirtschaftlichen und persönlichen Verbindung der Wirtschaftsteilnehmer auf einer missbräuchlichen Praxis beruhen. Ohne dass der EuGH insoweit Stellung nahm, könnte Folge einer solchen Beurteilung sein, dass das Geschäft als einheitliche steuerpflichtige Leistung zu behandeln sei. Die missbräuchliche Gestaltungsteilung spielte dann keine Rolle. Soweit aber von Streit95 dazu meint, im Ergebnis lege der EuGH nahe, dass eine einheitliche Leistung auch durch zwei oder mehrere Unternehmer erbracht werden könne, scheint mir das eine überdehnte Betrachtung zu sein. Es handelt sich um Kriterien zu missbräuchlicher Gestaltung: liegt Missbrauch vor, kommt es ggf. zum einheitlichen Umsatz aus der vereinbarten gemeinsamen Tätigkeit durch missbräuchlich „vermehrte“ Leistende, aber umsatzsteuerrechtlich korrekt zu sehen „aus einer Hand“. Soweit der EuGH im Urteil vom 16.7.2015 – C-584/13 Mapfre warranty96 abschließend formulierte, eine Garantie (ein Versicherungsschutz für Reparaturrisiken) sei nicht als so eng mit dem Verkauf des Gebrauchtfahrzeugs anzusehen, dass diese Leistungen, „die noch dazu von zwei verschiedenen Dienstleistern erbracht werden“, eine untrennbare wirtschaftliche Verbindung (i.S. einer einheitlichen Leistung) bildeten, kann daraus m.E. nicht gefolgert werden, der EuGH erwäge eine Einbeziehung von Leistungen Dritter in die Grundsätze der einheitliche Leistung. Die Äußerung beruhte vielmehr darauf, dass insoweit jegliche Feststellungen vermisste, und der EuGH lediglich Prüfungsanregungen gegeben hatte.

IV. Zusammenfassung und Würdigung Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die umsatzsteuerrechtlichen Auslegungskriterien zur „einheitlichen Leistung“ bzw. zum „einheitlichen wirtschaftlichen Vorgang“ offensichtlich das notwendige Korrekturinstrument zur systemgerechten umsatzsteuerrechtlichen Erfassung des tatsächlichen Ergebnisses der zugrundeliegenden (i.d.R. schuldrechtlichen) Gestaltungsvereinbarungen sind. Während der Zweck der den Umsätzen zugrundeliegenden Vereinbarungen insbes. die sachgerechte Durchführung der gewollten Leistungen ist, reagiert die Umsatzbe95 EU-UStB 2010, 9, 14. 96 MwStR 2015, 762 m.Anm. Grube.

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steuerung nur auf die tatsächliche Durchführung der Vereinbarungen und deren Erfassung mit den ihr eigenen Steuertatbeständen und Begriffen “Lieferung und sonstige Leistung/Dienstleistung“. Sie ist hingegen (regelmäßig) nicht Gestaltungszweck. Da diese beiden umsatzsteuerrechtlichen Begriffe als solche nicht stets gleiche umsatzsteuerrechtliche Folgen haben (siehe insbes. zum Leistungsort), und zusätzlich für bestimmte Umsätze ein Wust von Steuerbefreiungen und Steuersatzunterschieden gilt, hat die Zuordnung der Leistungen zum (objektiv) richtigen Umsatztyp besonders Gewicht. Diese umsatzsteuerrechtlichen Besonderheiten können natürlich auch Grund für bestimmte Gestaltung der Leistungsvereinbarungen sein, um die Steuerbelastung mit Umsatzsteuer möglichst günstig zu halten. Dass der Unternehmer das Recht hat, seine Tätigkeit so zu gestalten, dass er seine Steuerschuld in Grenzen hält, ist seit Einführung der Umsatzsteuer ein allgemein anerkannter Grundsatz, der auch das Unionsrecht beherrscht.97 Andererseits verlangt nach der EuGH-Rechtsprechung98 die zutreffende Umsatzbesteuerung (gleichartige und deshalb miteinander in Wettbewerb stehende Waren oder Dienstleistungen dürfen hinsichtlich der Umsatzsteuer nicht unterschiedlich behandelt werden99) bei Umsätzen, die aus mehreren Leistungen bestehen, ggf. eine Umqualifizierung der Gestaltung nach zwei Methoden: Als die eine Methode nimmt der EuGH auf die Grundsätze der einheitlichen Leistung. Diese greife ein, wenn schon nach einer nur objektiven Analyse festgestellt werde, dass entweder das Verhältnis von Haupt- und Nebenleistung vorliege oder dass zwei oder mehrere Handlungen aufgrund enger Verbindung eine einzige untrennbare wirtschaftliche Einheit bildeten. Als die andere Methode sieht der EuGH die Prüfung auf eine missbräuchliche Praxis bei Gestaltung der Leistungsbeziehungen an. Die „objektive Analyse“ im Rahmen der „einheitlichen Leistung beruht – auch unionsrechtlich – (wie schon nach der RFH-Praxis) auf der Sicht des Empfängers der zusammengesetzten Leistung: Diese Empfängersicht ist nicht auf das jeweilige Individuum bezogen sondern ist objektiviert. An die Stelle der früheren Begriffe Volksanschauung/ Verkehrsauffassung ist der Begriff des „Durchschnittsverbrauchers“ getreten. Er soll den objektivierten Empfängerstandpunkt dokumentieren, ist aber – als jeweiliges Ergebnis einer Gesamtwürdigung aller Umstände in jedem Einzelfall100 – keine „feste Größe“ zur unionsrechtlich einheitlichen Leistungsbestimmung.

97 Z.B. EuGH, Urt. v. 17.1.2013 – C-224/11 – BGZ Leasing, MwStR 2013, 81 = UR 2013, 262; und v. 21.2.2008 – C-425/06 – Part Service Srl, BFH/NV Beilage 2008, 202. 98 Z.B. das vorstehend zitierte EuGH-Urteil v. 21.2.2008  – C-425/06  – Part Service Srl, Rz. 47 f. 99 Z.B. EuGH, Urt. v. 14.6.2017 – C-38/16 – Compass Contract Services, MwStR 2017, 663, Rz. 21. 100 Vgl. Martin in Sölch/Ringleb, UStG, § 3 UStG Rz. 18 ff., Stand EL 82, März 2018.

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Die Prüfung einer „missbräuchlichen Gestaltung“ wird bislang nur als Kriterium jenseits der – wie der EuGH meint – „objektiven Analyse“ der Leistungen angewandt. M.E. sollte dieses Kriterium generell bei Prüfung „einheitlicher Vorgänge“ gelten. Denn auch die Grundsätze zur einheitlichen Leistung sind ein Instrument zur Korrektur von vereinbarten Gestaltungen. Sie greifen in die Gestaltungsfreiheit der Unternehmer ein, sei es zur Zusammenfassung als getrennt vereinbarter Leistungsbeziehungen, sei es zur Trennung von als einheitlich vereinbarter Leistungsbündel. Ferner ist mit der EuGH-Rechtsprechung die Maßgeblichkeit des einzelnen Umsatzes für die umsatzsteuerrechtliche Würdigung wieder ganz in den Vordergrund gerückt. Gegenüber der ursprünglichen RFH- und BFH-Rechtsprechung mit ihrer „wirtschaftlichen“ Sachverhaltswürdigung kam es insoweit zu einer „Umkehrung“ der Ausgangsformeln zur Anwendung der Leistungszusammenfassung. Die Zusammenführung mehrerer Leistung zu einem anders qualifizierten Umsatz muss daher m.E. insbes. gegenüber dem Grundsatz der steuerlichen Neutralität101 (Wettbewerbsneutralität) gerechtfertigt sein, dem das gemeinsame Mehrwertsteuersystem seit der 6. EG-Richtlinie unterworfen ist. Insoweit halte ich eine engere Konkretisierung der „objektiv untrennbaren wirtschaftlichen Verbindung“ für angebracht: M.E. kann eine „enge Verbindung“ dann insbes. angenommen werden, wenn sie dazu führt, dass mehrere verschiedene Leistungen (Lieferungen/Dienstleistungen) „technisch“ zu einer besonderen, vom Besteller für seine Zwecke in Auftrag gegebenen, eigenständigen Leistung verbunden werden (z.B. zubereitete Speisen in Restaurants, die spezielle Anpassung von Standardsoftware, die Lieferung bearbeiteter Gegenstände (wie gerösteter Kaffee), ggf. auch Lieferung und Verlegung eines Hochseekabels102 o.ä.). Das gilt aber nicht für die lockere Aneinanderreihung verschiedener Leistung – insbes. im Rahmen der Beurteilung als Haupt- und Nebenleistung- soweit hier die Zusammenfassung lediglich auf der m.E. „überschießenden“ Voraussetzung beruht, „um die Hauptleistung unter optimalen Bedingungen in Anspruch zu nehmen“ (s. oben zu II. 1.). Für eine „Umqualifizierung“ an die sog. Hauptleistung dürfte insoweit kein vernünftiger Rechtfertigungsgrund bestehen. Zu nennen sind dabei z.B. sog. Nebenleistungen zu Hotelübernachtung (außerhalb der Sonderregelung für Reiseleistungen)103;

101 Z.B. EuGH, Urt. v. 14.6.2017 – C-38/16 – Compact Services, UR 2017, 602, Rz. 21. 102 Würde man hingegen der Abgrenzung zu diesem Sachverhalt in den Schlussanträgen – hilfsweise Prüfung zum Vorliegen eines einheitlichen Umsatzes – folgen, der bei Abstellen auf den Übergang des Eigentums an den gelieferten Gegenständen nach oder vor ihrer Installation (Verlegen oder Montieren) dazu kommt, dass bei „Übereignung“ der Gegenstände vor Montage von zwei getrennten Leistungen auszugehen sei. Damit würde die Selbständigkeit der einzelnen Leistung zu Lasten der Einheitlichkeit verstärkt. Danach wäre allerdings auch ggf. auch der „klassische“ Röstkaffe-Fall anders zu würdigen. 103 S.o. zu II. 1.

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Die „einheitliche Leistung“

die Sonderregel in § 12 Abs. 2 Nr. 11 UStG104 zu Zusatzleistungen wie Hotelfrühstück usw. belegt wohl deutlich genug, dass hier „Steuervereinfachung“ nicht geboten sein dürfte; ferner sog. „Nebenkosten“ zur Vermietung von Wohnungen (von Stellplätzen für Fahrzeuge); sog. Dinner-shows105, aber auch zweckgebundene Darlehen nur zum Erwerb des gelieferten Gegenstands, wie z.B. lt. EuGH Urt. v. 8.12.2017 – C-208/15106. In allen diesen Fällen handelt es sich um Umsätze, die aus Gründen der steuerlichen Neutralität mit konkurrierenden Anbietern nach den für sie speziell vorgesehenen gesetzlichen Regeln behandelt werden sollten. Leider hat der EuGH zuletzt im Urteil vom 18.1.2018 – C-463/16 Stadion Amsterdam CV107 die Chance zu einer entsprechenden Zurückhaltung bei Aufteilung sog. Hauptund Nebenleistungen nicht so genutzt, wie es wohl auch vom vorlegenden Hoge Raad der Nederlanden für möglich gehalten wurde (vgl. Rz. 17 des Urteils). Nicht zuletzt führt einerseits die Einheitlichkeitsbesteuerung bei Einbeziehung steuerpflichtiger Leistungen in die Steuerfreiheit der Hauptleistung zur „Erweiterung von Steuerbefreiungen“, was dem Gebot der engen Auslegung der Steuerbefreiungen entgegensteht108 – und wodurch dem Unternehmer das entsprechende Recht auf Vorsteuerabzug genommen wird. Zum anderen wird bei der Zusammenfassung steuerfreier/steuerermäßigter Leistungen mit steuerpflichtigen Leistungen in einheitliche Leistungen zum Regelsteuersatz ggf. den Befreiungen/Steuerermäßigungen die gesetzlich vorgesehene Wirkung109 genommen. Insbes. führt dies zu eine höheren Besteuerung des Verbrauchers. Dieses höhere Steueraufkommen mag eine willkommene Nebenfolge der „Einheitlichkeit“ für den Fiskus sein. Sie ist aber als nicht systemrelevant verzichtbar. Immerhin scheint sich die EuGH-Rechtsprechung in einer Reihe der genannten Beispiele – auch aufgrund des Wandels der wirtschaftlichen Umstände – in die Richtung einer differenzierteren Anwendung der „einheitlichen Leistung“ zu bewegen.

104 Dazu Klenk in Sölch/Ringleb, UStG, § 12 UStG Rz. 900 ff.; diese dank starker Lobby eingefügte Ausnahmeregelung – entgegen der h.M. – wäre bei m.E. richtiger Eigenständigkeit solcher bloßen „Annehmlichkeiten“ überflüssig. 105 BFH, Urt. v.10.1.2013 – V R 31/10, BStBl. II 13, 532 = BFH/NV 2013, 871. 106 MwStR 2017, 26 m. Anm. Grube. Dass lt. EuGH „kein besonderes Empfängerinteresse“ an der Darlehensgewährung nach den Umständen des Streitfalls (wegen der Zweckbindung) bestanden habe, und dass Gegenstandslieferung und Darlehen demselben wirtschaftlichen Zweck gedient habe, klingt wirklich nicht nach einem tragenden Rechtfertigungsgrund, zu einheitlicher steuerpflichtiger Leistung zu kommen. 107 EuGH, Urt. v. 18.1.2018 – C-463/16 – Stadion Amsterdam, UR 2018, 200. 108 Z.B. EuGH, Urt. v. 22.10.2015 – C-264/14 – David Hedqvist, Rz. 34, MwStR 2015, 930, Rz. 34. 109 S. das vorstehende EuGH-Urteil, Rz. 35.

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Heidi Friedrich-Vache

Das „ABC“ des Leistungsaustauschs – Verständnis von steuerbaren und nicht steuerbaren Umsätzen Inhaltsübersicht I. Einleitender Abriss über die Veränderung ökonomischer Strukturen und ­industrieller Leitbranchen mit Auswirkungen auf die Umsatzsteuerbarkeit II. Begriff des steuerbaren Umsatzes 1. Sog. Leistungsaustausch als eine Voraussetzung der Steuerbarkeit a) Leistungsaustausch nach deutscher Auffassung und im Wandel der Zeit b) Unionsrechtliche Voraussetzung einer auch wirtschaftlichen Tätigkeit („economic activity“) 2. Allgemeine Abgrenzungsdefinitionen zur Nichtsteuerbarkeit III. Einzelfälle des Leistungsaustauschs – ex post betrachtet und mit künftiger Brisanz

1. Gesellschafterbeiträge und Leistungen der Gesellschafter gegen (Sonder-)Entgelt – Beispiel Haftungsvergütung und Geschäftsführung 2. Ausgleichs- und Vergleichszahlungen in Abgrenzung zu nicht steuerbarem, echtem Schadensersatz 3. Dienstleistungen im Zeitalter des „­Internet-powered“-Kapitalismus 4. Datenbank- und sog. „Plattform“-Leistungen – Tauschgeschäfte mit Daten? IV. Fazit – Ist die Umsatzsteuer nach 100 Jahren Gesetzesanwendung und -auslegung trotz verstärktem case-law zum Leistungsaustausch gerüstet für die weiteren wirtschaftlichen Entwicklungen?

I. Einleitender Abriss über die Veränderung ökonomischer Strukturen und industrieller Leitbranchen mit Auswirkungen auf die Umsatzsteuerbarkeit In der Phase der Hochindustrialisierung als industrielle Entwicklung, die praktisch 1914 abgeschlossen war, verwandelte sich Deutschland von einem agrarisch geprägten Land in einen modernen Industriestaat.1 Im Wirtschaftssektor „Industrie / Handwerk“ waren zu dieser Zeit knapp die Hälfte der deutschen Gesamtbevölkerung erwerbstätig oder diesem zugehörig, gefolgt von Landwirtschaft, Handel / Verkehr, öffentlicher Dienst / freie Berufe und sog. häusliche Dienste.2 Neben der Privatwirtschaft entwickelte sich während des Kaiserreichs verstärkt ein öffentlicher Dienstleistungssektor. Seit den 1870er Jahren wurden die Eisenbahnen in Deutschland weitgehend verstaatlicht. Ihr Schienennetz wuchs zwar nicht mehr so stark wie in den Jahrzehnten zuvor, aber die Beförderungsleistungen nahmen deut1 Vgl. Ziegler, Die industrielle Revolution, Darmstadt 2005, S. 101. 2 Vgl. aus Petzina/Abelshauser/Faust, Sozialgeschichtliches Arbeitsbuch Bd. III, Materialien zur Statistik des Deutschen Reiches 1914–1945, München 1978.

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lich zu. Gerade auch in der hochmodernen Nachrichtentechnik wie Telegrafen-, Postund immer stärker dem Telefondienst war die Öffentliche Hand aktiv. Dies hatte zur Folge, dass der öffentliche Beschäftigungssektor stark anwuchs. Mit der Urbanisierung stieg zudem die Bedeutung des Einzelhandels. Es entstanden „Kolonialwarenläden“ und Spezialgeschäfte. Vor allem in den Großstädten wurden die ersten Warenhäuser gegründet. Genossenschaften und Einheitspreisgeschäfte verstärkten die Konkurrenz im Einzelhandel. Im Bankgewerbe entstanden – neben den als preußische Landschaften bezeichneten älteren Instituten für Agrarkredite – moderne Hypothekenbanken zur Finanzierung von Immobilien und die für den regionalen Mittelstand großen Kreditbanken.3 In diesem wirtschaftlichen Umfeld wurde noch im ersten Weltkrieg am 26.6.19164 das Gesetz über eine Warenumsatzsteuer eingeführt. Gegenstand der Besteuerung waren lediglich „Warenumsätze“, d.h. „Warenlieferungen von Gewerbetreibenden“ (gegen Bezahlung), womit der Grundstein für ein deutsches Umsatzsteuerrecht gelegt wurde.5 Im Frühsommer 1916 führte der massive Anstieg der Kriegskosten zu einer militärischen, politischen und wirtschaftlichen Krise. Aus unterschiedlichen Gründen, unter anderem wegen der Aufrechterhaltung des sozialen Friedens – wohl auch im Rahmen der konzeptionellen Überlegungen und der Pläne zur Gemeinwirtschaft6 – sollte die Kriegsfinanzierung zunächst nicht durch Steuern, sondern durch Kreditaufnahmen erfolgen. Ab 1918 wurde nach dem Kriegsende durch die angespannte Finanzlage und in erster Linie zur Finanzierung des Staatshaushalts diese Warenumsatzsteuer i.S.  einer Stempelsteuer auf Warenlieferungen von der Allphasen-Bruttoumsatzsteuer abgelöst, wobei Popitz selbst schrieb, dass der „Gedanke einer Umsatzsteuer nicht etwa [eine] aus der Not der Zeit geborene Eingebung der Gesetzgeber von 1916 bis 1918 ist“, sondern „eine lange Vorgeschichte“ hat.7 Während das alte Stempelrecht noch auf bürgerlich-rechtlichen Begriffen beruhte, nahm Popitz die Sichtweise des öffentlichen Rechts ein und definierte Begriffe wie „Lieferung“ oder „gewerbliche Tätigkeit“ für Zwecke des Umsatzsteuerrechts neu.8 Besonders ist dabei die erstmalige Erwähnung des Begriffs der „sonstigen Leistung“.9 Neben der auch schon vom Warenstempelgesetz erfassten Lieferung eines selbständigen Gewerbetreibenden wurden gem. § 1 Abs. 1 UStG 191810 mit einer Erhebung der Umsatzsteuer seit 1.8.1918 auch die im Inland ausgeführten sonstigen Leistungen der Umsatzsteuer (in einem eigenständigen UStG) unterworfen, soweit sie als Bestandteil 3 Vgl. Munro, German Banking and commercial organizations, The Economic History of Modern Europe to 1914, 2013, abrufbar unter http://www.economics.utoronto.ca/munro5/. 4 Gesetz über eine Warenumsatzsteuer, RGBl. 1916, 639. 5 Vgl. Lucassen, Der Künstler im internationalen Steuerrecht, Wiesbaden 2004, S. 100 f.; Birkenfeld, UR 2002, 153 ff. 6 Vgl. Fisch in Abelshauser/Fisch/Hoffmann/Ritschl, Wirtschaftspolitik in Deutschland 1917–1990, Bd. 1, Oldenburg, 2016, S. 96 ff. 7 Vgl. Popitz in Popitz/Kloß/Grabower, UStG 1926, 8. 8 Vgl. Pausch, SteuerStud 1990, 44. 9 Vgl. Nonnenmacher, Ort der sonstigen Leistung, Diss., Erlangen-Nürnberg 1973, 5. 10 Vgl. UStG v. 26.7.1918, RGBl. 1918, 779.

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der gewerblichen Tätigkeit einzustufen waren. Ausgenommen war damals noch die freiberufliche Tätigkeit.11 Die Vorschrift über den Steuergegenstand „Lieferungen und sonstige Leistungen“ wurde unverändert aus dem damaligen Recht in das UStG 1980 übernommen sowie grundsätzlich das weitere Kriterium für die Steuerbarkeit, nämlich die Leistungserbringung gegen Entgelt. Entsprechend der Systematik und dem Sprachgebrauch des Umsatzsteuerrechts ist zu dieser Zeit seitens der Finanzverwaltung noch in Satz 2 zu § 1 Abs. 1 Nr. 1 der UStR klarstellend das Wort „Steuerpflicht“ durch das Wort „Steuerbarkeit“ (ohne materiell-rechtliche Auswirkung) ersetzt worden.12 Die Veränderung ökonomischer Strukturen mit der Verschiebung der industriellen Leitbranchen und die ständige (Weiter-) Entwicklung von Wirtschaftssektoren und Technologien, von der Hochindustrialisierung zu neuen Leistungen im elektronischen bzw. IT- / internetbasierten Bereich wie E-Commerce sowie „Automatisierung und Digitalisierung“, von einer sog. Old zu einer New Economy bis nun hin zu einer Sharing Economy, vom Einzelhandel zu einem ausgefeilten Dienstleistungsbereich (mit Datensammeln und -auswerten / -verwerten) und zu heutigen weiteren Geschäftsideen wie Cloud Computing, Crowdfunding und -investing, Streaming und Download, App Download und App Use, 3Dprinting, elektronische Bezahlsysteme, neue digitale bzw. virtuelle Währungen, Blockchain-Technologie allgemein (mit seinem Anwendungsbeispiel Bitcoin) und diffizile Bonusprogramme, Einsatz von Robotern und künstlicher Intelligenz13, ist in den letzten 100 Jahren doch beachtlich. Dementsprechend wurde auch in der umsatzsteuerlichen Kommentarliteratur das so beliebt verwendete „ABC des Leistungsaustauschs“ um weitere spannende Umsatzarten immer wieder ergänzt. Denn die Umsatzsteuer musste sich, auch wenn sie als Verbrauchsteuer „lediglich und schlicht“ einen privaten Endverbrauch erfassen will, in den Jahren und Jahrzehnten auf das jeweils moderne unternehmerische Handeln einstellen und eine zur steuerbaren Grundkonzeption möglichst zutreffende umsatzsteuerliche Behandlung für „neu entwickelte“ Umsätze im Wirtschaftsverkehr und im unionsrechtlichen Kontext finden. Dabei wird nach wie vor die konzeptionelle Abgrenzung in Lieferung und sonstige Leistung beibehalten sowie ein Grundverständnis dahingehend, dass ein Umsatz (eine Leistung) vor allem nur dann der Umsatzbesteuerung unterliegt, wenn für die Leistung eine Gegenleistung erbracht wird. Nachfolgend sind Einzelfälle im „ABC“ des Leistungsaustauschs ausgewählt, die diese Anpassungsfähigkeit, aber auch -notwendigkeit für die Umsatzbesteuerung aufgreifen. 11 Vgl. RT-Drucks. 1914/1918 Nr. 1461, 29 und Nr. 1745, 11. 12 Vgl. BMF-Schreiben v. 11.7.1980 – IV A 2-S 7100-65/80, BStBl. I 1980, 426. 13 Zu der Frage, ob eine Lieferung oder Dienstleistung, da autonome Technologien dabei genutzt werden, die menschliche Tätigkeiten ersetzen, vorliegt oder ob ein Roboter selbst etwa auch Unternehmer sein kann, vgl. Oberso, World Tax Journal 2017, 247  ff.; Euro­ päisches Parlament, Committee on Legal Affairs: Draft report with recommendations to the Commission on Civil Law Rules on Robotics (2015/2103 [INL]), 2016.

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II. Begriff des steuerbaren Umsatzes Bezahlte Lieferungen von Gewerbebetrieben (auch Land- und Forstwirtschaft, Viehzucht, Fischerei, Gartenbau, Bergwerkbetrieb) wurden bereits als „Warenumsatz“ (nach dem Warenumsatzstempel von 1916) erfasst, so dass nach § 76 RStempelG als Bezahlung der Lieferung jede Leistung des Gegenwerts gilt. Als Warenlieferung galt bereits damals beispielsweise auch im Gesetzeswortlaut die Lieferung von Gas, elek­ trischem Strom, Leitungswasser; nicht als Waren hingegen galten Forderungen, Urheber- oder ähnliche Rechte, Wertpapiere, Schecks, Grundstücke und den Grund­ stücken gleichgestellte Rechte. Lieferungen aus Werkverträgen standen dagegen den Warenlieferungen gleich. Der Grundtatbestand im dem Stempelgesetz folgenden UStG 1918 war in § 1 Abs. 1 Satz 1 so beschrieben: „Der Umsatzsteuer unterliegen die im Inland gegen Entgelt ausgeführten Lieferungen und sonstigen Leistungen solcher Personen, die eine selbständige Tätigkeit mit Einschluss der Urerzeugung des Handels ausüben, soweit die Lieferungen und Leistungen innerhalb dieser gewerblichen Tätigkeit liegen.“

Das UStG in seiner aktuellen Fassung mit der Überschrift „steuerbare Umsätze“ enthält keine ebenfalls einheitliche Begriffsbestimmung des Umsatzes. § 1 Abs. 1 UStG umschreibt (lediglich) die Tatbestände, die der Umsatzsteuer unterliegen. Steuerbar ist immer nur der einzelne Umsatz, bei dem alle Tatbestandsmerkmale des § 1 UStG erfüllt sind. Auch Art.  2 MwStSystRL beschreibt als unionsrechtliche Grundlage den Steueranwendungsbereich, wonach Lieferungen von Gegenständen und Dienstleistungen, die ein Steuerpflichtiger als solcher im Inland gegen Entgelt ausführt, grundsätzlich der Besteuerung unterliegen sollen. Art. 9 Abs. 2 MwStSystRL zählt die in Art. 9 Abs. 1 MwStSystRL genannten wirtschaftlichen Tätigkeiten beispielhaft als Tätigkeiten eines Erzeugers, Händlers, Dienstleistenden, Urproduzenten, Landwirts, Angehörigen eines freien Berufs oder diesen Gleichgestellten auf. Nach Art. 9 Abs. 2 Satz 2 MwStSyst­ RL gilt als wirtschaftliche Tätigkeit auch die Nutzungsüberlassung zur nachhaltigen Erzielung von Einnahmen.14 1. Sog. Leistungsaustausch als eine Voraussetzung der Steuerbarkeit a) Leistungsaustausch nach deutscher Auffassung und im Wandel der Zeit Im Regelfall beruhen umsatzsteuerrechtliche Leistungen auf zivilrechtlichen Verträgen, z.B. Kauf-, Miet-, Pacht-, Werk-, Fracht-, Maklerverträgen oder sonstigen Service Agreements. Nach Auffassung des BFH liegt bei gegenseitigen Verträgen der erforderliche Leistungsverbrauch grundsätzlich vor. Das versprochene (positive) Tun, 14 Vgl. Giesberts, UR 1989, 257; Friedrich-Vache in Reiß/Kraeusel/Langer, UStG, §  1 UStG Rz. 58 (Mai 2017).

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Dulden oder Unterlassen ist der Vorteil, den der Leistungsempfänger erhält. Ein Verzicht auf die weitere Durchführung eines längerfristigen Vertrags gegen eine Entschädigungszahlung soll nach Auffassung des BFH15 ebenso ein steuerbarer Umsatz sein (siehe noch unter Punkt III.2.). Der Abschluss der schuldrechtlichen Verträge ist dabei grundsätzlich kein steuerbarer Vorgang, es sei denn, der Abschluss eines solchen Vertrags ist die Erfüllung eines anderen schuldrechtlichen Vertrags. Ein zivilrechtlicher Vertrag ist also für die Steuerbarkeit einer Leistung keine Voraussetzung.16 Steuerbar ist letztlich die Erfüllung eines schuldrechtlichen Vertrags. Soweit es trotz bestehender Verpflichtung nicht zu einer Leistung kommt, ist kein steuerbarer Vorgang gegeben.17 Eine steuerbare Leistung ist auch möglich beim Fehlen jeglicher rechtsgeschäftlicher Grundlagen, wenn das der Leistung zugrunde liegende Rechtsgeschäft nichtig, anfechtbar oder wegen Formmangels oder der Geschäftsunfähigkeit einer Vertragspartei unwirksam ist.18 Für die Steuerbarkeit ist die tatsächlich erbrachte Leistung entscheidend. Unerheblich ist demnach, ob eine Leistung genau entsprechend der rechtsgeschäftlichen Verpflichtung erfolgt oder tatsächlich einen anderen Inhalt oder Umfang hat. Dass der zivilrechtliche Begriff Leistung i.S.d. § 241 BGB dabei nicht mit dem Leistungsbegriff des UStG identisch ist, dürfte gesicherte Rechtserkenntnis sein.19 In der Begründung zum Entwurf des UStG 1967 wird zwar ausgeführt, der Leistungsbegriff sei „dem §  241 BGB entlehnt“.20 Der RFH hat jedoch schon in seiner frühesten Rechtsprechung dem umsatzsteuerrechtlichen Leistungsbegriff einen eigenständigen Inhalt beigemessen. Diese Rechtsprechung hat der BFH fortgeführt. „Die freie Stellung des Umsatzsteuerrechts gegenüber den herkömmlichen Rechtsbegriffen habe schon seit Jahren dazu geführt, von der Selbständigkeit der steuerlichen Begriffe zu sprechen und diese neuen Begriffe als steuerrechtliche Wirtschaftsbegriffe zu bezeichnen; diese Begriffe können nur durch den Sinn und Zweck des Umsatzsteuerrechts ausgelegt werden (…).“21

Leistung i.S.d. Umsatzsteuerrechts als ein Kriterium der Steuerbarkeit setzt voraus, wirtschaftlich relevante Werte (Konsumgüter im weitesten Sinne) vom Unternehmer zum Verbraucher „rüberzubringen“.22 Leistung ist, wie Walden es formuliert, das 15 Vgl. BFH v. 18.1.2005 – V R 17/02, BFH/NV 2005, 1394; v. 6.5.2004 – V R 40/02, BStBl. II 2004, 854; v. 7.7.2005 – V R 34/03, UR 2005, 663 m. Anm. Hummel; v. 16.1.2014 – V R 22/13, BFH/NV 2014, 736; so auch Martin, UR 2006, 56. 16 Vgl. Friedrich-Vache in Reiß/Kraeusel/Langer, UStG, § 1 UStG Rz. 59 ff. (Mai 2017). 17 Vgl. BFH v. 11.7.1968 – V 31/65, BStBl. II 1968, 789; vgl. auch Nieskens in Rau/Dürrwächter, UStG, § 1 UStG Rz. 182 (Januar 2016). 18 Vgl. BGH v. 6.8.2008 – XII ZR 67/06, UR 2009, 155; v. 24.1.2008 – VII ZR 280/05, UR 2008, 784; BFH v. 6.12.1979 – V R 87/72, BStBl. II 1980, 279 = UR 1980, 73 m. Anm. Weiss; vgl. auch Nieskens in Rau/Dürrwächter, UStG, § 1 UStG Rz. 181 ff. (Januar 2016). 19 Vgl. Giesberts, StuW 1991, 175 m.w.N. 20 Vgl. BT-Drucks. V/1581, Teil B zu § 1. 21 Vgl. BFH v. 17.7.1952 – V 17/52-S, BStBl. III 1952, 234; v. 3.6.1954 – V 262/53-U, BStBl. III 1954, 238; v. 11.12.1969 – V R 129/68, BStBl. II 1970, 358; v. 7.5.1987 – V R 56/79, BStBl. II 1987, 582 = UR 1987, 229 m. Anm. Weiss. 22 Vgl. Giesberts, StuW 1991, 175.

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„Spiegelbild des Verbrauchs.“23 Giesberts24 kehrt das Bild um: „Der Verbrauch spiegelt die Leistung des Unternehmers wider“. Nieskens definiert teleologisch unter Beachtung des Verbrauchsteuercharakters, dass „Leistung im Sinne des Umsatzsteuerrechtes (.) die willentliche Zuwendung des wirtschaftlichen Vorteils eines konkreten, verkehrsfähigen Wirtschaftsguts (einschließlich der Nutzung von Gütern) an einen bestimmten individualisierbaren Empfänger [ist], deren wirtschaftliche Bedeutung sich nicht in einer Entgeltsentrichtung (z.B. einer Geldzahlung) oder Rückgängigmachung einer Leistung erschöpft.“25 Der Begriff „Leistung im wirtschaftlichen Sinn“, so wie er aktuell insbesondere vom EuGH und BFH verwendet wird, ist ohne die dahinterstehende, eben angedeutete Auslegung verwirrend. Die deutsche Finanzverwaltung stellt zutreffend in Abschn. 1 Abs. 3 Satz 3 UStAE fest: „Die bloße Entgeltentrichtung, insbesondere die Geldzahlung oder Überweisung ist keine Leistung im wirtschaftlichen Sinne“. Nicht, weil die Geldzahlung wirtschaftlich irrelevant wäre, stellt sie keine Leistung i.S.d. UStG dar, sondern weil sie keinen Konsumguttransfer bewirkt.26 Die schlichte Entgeltentrichtung durch Geldzahlung, deren wirtschaftliche Bedeutung sich in der Tilgung einer Geldschuld durch Geldzahlung erschöpft, stellt nach nahezu einhelliger Meinung keine Leistung dar.27 Dies gilt auch für den „Umtausch“ eines Zahlungsmittels in ein anderes (z.B. Banknoten in Münzen oder einheimische in fremde Zahlungsmittel). Der Umtausch einer virtuellen Währung (z.B. Kryptowährung Bitcoin) in eine konventionelle Währung soll jedoch nach heutiger Auffassung – im Ergebnis wohl nachvollziehbar, da Kryptowährungen keine Zahlungsmittel (sondern ein immaterielles Wirtschaftsgut) sein sollen, wenngleich aber (und dann m.E. nicht nachvollziehbar) damit natürlich beispielsweise auch Waren oder Dienstleistungen bezahlt werden können – eine (ggf. nach Art. 135 Abs. 1 Buchst. e MwStSystRL steuerfreie) Leistung sein.28 23 Vgl. Walden, Die Umsatzsteuer als indirekte Verbrauchsteuer, Diss., Berlin 1988, S. 59. 24 Vgl. Giesberts, StuW 1991, 175. 25 Vgl. Nieskens in Rau/Dürrwächter, UStG, §  1 UStG Rz.  350  ff. (Januar 2016); Peltner in Weymüller, UStG, 2015, § 1 UStG Rz. 69.1. 26 Vgl. so wohl letztlich auch Giesberts, StuW 1991, 175. 27 Vgl. Abschn. 1 Abs. 1 Satz 3 UStAE; Friedrich-Vache in Reiß/Kraeusel/Langer, UStG, § 1 UStG Rz. 62 (Mai 2017); Nieskens in Rau/Dürrwächter, UStG, § 1 UStG Rz. 430 (Januar 2016); Oelmaier in Sölch/Ringleb, UStG, § 1 UStG Rz. 6 (April 2014). 28 Vgl. EuGH v. 22.10.2015 – C-264/14 – David Hedqvist, DStR 2015, 2433. Davor noch als nicht steuerbare Transaktion im Sinne einer reinen Verwendung von Geld (zur Zahlung einer Leistung), jedoch bei Umtausch in andere, nicht-virtuelle Währungen dann als steuerbar, aber steuerfrei angenommen z.B. Wolf, International VAT Monitor 2014, 254 (256), der dennoch für eine „steuerfrei“ angenommene „Leistung“ die Formulierung „outside the scope of VAT“ gebraucht; vgl. auch Bal, Derivates & Financial Instruments, 2015 (Vol. 17), No. 5, veröffentlicht online. Vgl. zuletzt auch BMF-Schreiben v. 27.2.2018  – III C 3  – S  7160-b/13/10001, wonach zutreffend einerseits i.S.d. EuGH-Rechtsprechung zwischen dem steuerbaren und steuerfreien Umtausch von konventionellen Währungen in Kryptowährung und umgekehrt und der bloßen (damit nicht steuerbaren) Verwendung / Hingabe einer Kryptowährung als Entgelt andererseits differenziert wird. Zur Behandlung von Bitcoin-Mining vgl. auch Dietsch, MwStR 2018, 250.

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Weiter muss ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen Leistung und Gegenleistung bestehen.29 Ein sog. synallagmatischer Zusammenhang zwischen Leistung und Entgelt wird hingegeben nicht (mehr) vorausgesetzt.30 Diese Notwendigkeit einer Finalität, d.h. zu leisten, um eine Gegenleistung zu erhalten, hat der BFH zwischenzeitlich aufgegeben. Es kommt demnach für das Vorliegen eines Leistungsaustauschs nicht auf eine finale Verknüpfung von Leistung und Entgelt an.31 Auch für den EuGH reicht für die Annahme eines Leistungsaustauschs nunmehr, aber mindestens aus, dass zwischen dem Leistenden und dem Leistungsempfänger ein Rechtsverhältnis besteht, in dessen Rahmen gegenseitig bestimmbare Leistungen ausgetauscht werden, und wenn zwischen der erbrachten Leistung und der Gegenleistung ein unmittelbarer Zusammenhang besteht, was an späterer Stelle des Beitrags (v.a. unter III.4.) bedeutend sein wird.32 b) Unionsrechtliche Voraussetzung einer auch wirtschaftlichen Tätigkeit („economic activity“) Da die Besteuerung des Verbrauchs sich als Gesetzesziel konkret im Gesetzestatbestand niederschlägt, die Umsatzsteuer materiell-rechtlich allgemeine Verbrauchsteuer ist, bildet der Verbrauch als Belastungsgrund den alleinigen Auslegungsmaßstab.33 Nach den Grundsätzen des EuGH setzt etwa eine Dienstleistung beim Leistungsempfänger einen Verbrauch i.S.d. gemeinsamen Mehrwertsteuersystems voraus.34 Fehlt es an einem Verbrauch im realen Sinn, ist eine Steuerbarkeit zu verneinen.35 Nur solche ausgeführten Tätigkeiten unterliegen zudem der Umsatzsteuer, die wirtschaftlicher Natur sind.36

29 Vgl. Robisch in Bunjes, UStG, 2017, § 1 UStG Rz. 7-8. 30 Vgl. Abschn. 1.1 Abs. 1 Satz 2 und Satz 3 UStAE; BFH v. 15.4.2010 – V R 10/08, BStBl. II 2010, 879 = UR 2010, 657. 31 Vgl. BFH v. 16.1.2003 – V R 92/01, BStBl. II 2003, 732 = UR 2003, 245; v. 5.12.2007 – V R 60/05, BStBl. II 2009, 486 = UR 2008, 616. 32 Vgl. EuGH v. 3.3.1994 – C-16/93 – Tolsma, UR 1994, 388; v. 17.9.2002 – C-498/99 – Town and County Factors Ltd, UR 2002, 510; Robisch in Bunjes, UStG, 2017, § 1 UStG Rz. 7-8. 33 Vgl. EuGH v. 20.10.1993 – C-10/92 – Balocchi, UR 1994, 116; v. 3.10.2006 – C-475/03 – Banca popolare di Cremona, UR 2007, 545; v. 21.2.2008 – C-271/06 – Netto Supermarkt, DStR 2008, 450 m. Anm. Langer/Zugmaier. 34 Vgl. EuGH v. 29.2.1996 – C-215/94 – Mohr, UR 1996, 119 m. Anm. Widmann = UVR 1996, 129 m. Anm. Lange. 35 So auch FG München v. 22.11.2000 – 3 K 476/97, EFG 2001, 465 (rkr.). 36 Vgl. EuGH v. 29.10.2009 – C-29/08 – AB SKF, UR 2010, 107, Rz. 27, in der englischen Fassung „(…) only activities of an economic nature are subject to VAT (…)”, und weiter in Rz. 28: „According to settled case-law (…) constitute[s] economic activities within the meaning of the Sixth Directive (…).”

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Der Leistungsbegriff des UStG ist dabei weit auszulegen. Nur so kann der Zweck des Gesetzes, die allgemeine Verbrauchsbesteuerung durch eine umfassende Besteuerung unternehmerischer Leistungen, verwirklicht werden.37 Grundtatbestand der Umsatzbesteuerung ist ebenso unionsrechtlich der Leistungsaustausch, an dem als Leistender ein Steuerpflichtiger im Rahmen seines Unternehmens im Inland beteiligt ist. Der Leistende muss an einen Leistungsempfänger eine Leistung erbringen, der eine Gegenleistung (Entgelt) gegenübersteht. Steuerobjekt der Umsatzbesteuerung ist also die Leistung, die nicht in der MwStSystRL oder im UStG definiert ist. Art. 9 Abs. 1 MwStSystRL verlangt zudem eine wirtschaftliche Tätigkeit des Steuerpflichtigen. Als „wirtschaftliche Tätigkeit“ gelten alle Tätigkeiten eines Erzeugers, Händlers oder Dienstleistenden. Nach den Grundsätzen des EuGH setzt eine Leistung i.S.d. Mehrwertsteuerrechts beim Leistungsempfänger einen Verbrauch i.S.d. gemeinsamen Mehrwertsteuersystems voraus,38 was also eine solche wirtschaftliche Tätigkeit für die Folge des Verbrauchs bedingt. Fehlt es an einem Verbrauch im realen Sinn (und zuvor an einer wirtschaftlichen Tätigkeit), ist eine Steuerbarkeit zu verneinen.39 Eine Leistung gegen Entgelt – im Leistungsaustausch – liegt unionsrechtlich auch vor, wenn ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen der erbrachten Leistung und dem erhaltenen Entgelt besteht, der sich regelmäßig aus dem der Leistung zugrunde liegenden „Rechtsverhältnis“ zwischen Leistendem und Leistungsempfänger ergibt.40 Dieses Rechtsverhältnis kann – ohne notwendige Finalität eines Handelns – vertraglicher oder gesetzlicher Natur sein.41 Einem Leistungsaustausch steht daher auch nicht entgegen, dass Leistung und Gegenleistung nicht vertragsmäßig vollzogen werden, solange eine entsprechende Gegenleistung – in welchem Umfang auch immer – vom Leistungsempfänger erbracht wird.42 So ist für die Annahme einer Leistung 37 Vgl. EuGH v. 26.3.1987  – C-235/85  – Kommission/Niederlande, UR 1988, 164; v. 20.6.1991 – C-60/90 – Polysar BV, UR 1993, 119 m. Anm. Weiß; v. 12.9.2000 – C-359/97 – Kommission/Großbritannien und Nordirland, UR 2000, 518 m. Anm. Huschens; v. 26.6.2003 – C-305/01 – MGK-Kraftfahrzeuge-Factoring GmbH, BStBl. II 2004, 688 = UR 2003, 399 m. Anm. Wäger; v. 26.6.2007 – C-284/04 – T-Mobile Austria GmbH, UR 2007, 607 m. Anm. Burgmaier; vgl. auch Stadie in Rau/Dürrwächter, UStG, § 2 UStG Rz. 55 ff. (Juli 2014). 38 Vgl. EuGH v. 29.2.1996 – C-215/94 – Mohr, UR 1996, 119 m. Anm. Widmann = UVR 1996, 129 m. Anm. Lange. 39 So auch FG München v. 22.11.2000 – 3 K 476/97, EFG 2001, 465 (rkr.). 40 Vgl. EuGH v. 8.3.1989 – 102/86 – Apple and Pear, UR 1989, 275; v. 21.3.2002 – C-174/00 – Kennemer Golf & Country Club, BFH/NV Beilage 2002, 95, Rz. 39; v. 3.3.1994 – C-16/93 – Tolsma, UR 1994, 388; so auch übernommen durch BFH v. 19.2.2004  – V R 10/03, UR 2004, 468; v. 6.5.2004 – V R 40/02, BStBl. II 2004, 854 = UR 2004, 470; so auch EuGH v. 22.6.2016 – C-11/15 – Český rozhlas, UR 2016, 632, Rz. 21. 41 Vgl. EuGH v. 17.9.2002 – C-498/99 – Town & County Factors, UR 2002, 510, wonach ein Straßenmusikant keine steuerbare Tätigkeit gegenüber Passanten erbringt, wenn keine Vergütung vereinbart wurde, eine solche also weder bestimmt noch bestimmbar ist. 42 Vgl. z.B. BFH v. 1.2.2007 – V R 69/05, UR 2007, 448; v. 18.3.2004 – V R 101/01, BStBl. II 2004, 798 = UR 2004, 428; v. 20.8.2009 – V R 32/08, BStBl. II 2010, 88 = UR 2009, 766.

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ohne Belang, ob eine Äquivalenz von Leistung und Gegenleistung angestrebt und tatsächlich erreicht wird. Das Entgelt ist demnach auch dann Bemessungsgrundlage, wenn es dem objektiven Wert der bewirkten Leistung nicht entspricht.43 Noch im Sitzungsbericht der EU-Kommission44 zur Rechtssache Apple and Pear wurde etwa ein unmittelbarer Zusammenhang für den vorliegenden Sachverhalt angenommen, wonach die Pflichtbeiträge von Mitgliedern an eine Einrichtung steuerbar sein sollten, die den Gewerbezweig „Anbau von Äpfeln und Birnen in England und Wales zum gewerbsmäßigen Verkauf “ vertritt, indem sie Untersuchungen und verkaufsfördernde Tätigkeiten unternimmt, die für die gewerblichen Apfel- und Birnenerzeuger von Interesse sein können, einschließlich der Verbreitung von Informationen, der Beratung bei Fragen und sonstigen Themen, um die Leistungsfähigkeit und Produktivität dieses Gewerbezweigs zu steigern. Denn die Beiträge errechneten sich durch Aufteilung der jährlichen Kosten (Verwaltungskosten) der Einrichtung bei Erbringung ihrer Dienstleistungen. Deshalb sah die EU-Kommission damals zwischen den erbrachten Dienstleistungen und dem erhaltenen Entgelt einen unmittelbaren Zusammenhang. Es sei unerheblich, dass es sich um pauschale Beiträge handele, weil viele Gewerbezweige auf dieser Grundlage abrechneten. Es sei ebenfalls ohne Belang, dass es sich um Pflichtbeiträge handele, da die (damals betroffene) 6. EG-­ Richtlinie diesen Gesichtspunkt nur insoweit betrifft, als er deutlich mache, dass alle Steuern auf Gegenstände und Dienstleistungen außer der Mehrwertsteuer selbst Teil des Entgelts seien und somit zur steuerlichen Bemessungsgrundlage gehörten. Der EuGH45 hat darin – wie später in seiner weiteren Rechtsprechung zu Mitgliederbeiträgen – keinen unmittelbaren Zusammenhang gesehen, da die Vorteile, die sich aus diesen Dienstleistungen ergeben, dem gesamten betroffenen Wirtschaftszweig zugutekommen. Falls einzelne Apfel- und Birnenerzeuger Vorteile haben, leiten sie diese mittelbar aus den Vorteilen ab, die allgemein dem gesamten Wirtschaftszweig erwachsen. Außerdem besteht keine Beziehung zwischen dem Umfang der Vorteile, die einzelnen Erzeugern aus den Dienstleistungen der Einrichtung erwachsen, und der Höhe der Pflichtbeiträge, die sie gemäß der Verordnung zahlen müssen. Die Beiträge, die nicht aufgrund vertraglicher, sondern gesetzlicher Verpflichtungen erhoben werden, können jederzeit als Forderung der Einrichtung von dem einzelnen Erzeuger eingezogen werden, unabhängig davon, ob eine bestimmte Dienstleistung der Einrichtung ihm einen Vorteil verschafft.

43 Vgl. Abschn. 10.1 Abs. 2 Satz 1 UStAE. Ungewöhnliche und künstlich wirkende Vertragsbeziehungen können jedoch einen Gestaltungsmissbrauch darstellen, so dass in diesen Einzelfällen die umsatzsteuerlichen Leistungsbeziehungen von den zivilrechtlichen Beziehungen abweichen, vgl. EuGH v. 20.6.2013 – C-653/11 – Paul Newey, UR 2013, 628. Wie im Einzelnen solche Konstellationen tatsächlich zu behandeln sind, wirft schwierige Fragen auf und ist nicht vollends geklärt, vgl. Wäger, UR 2014, 83. 44 Vgl. ABl. EU 1988, 1444 ff., Sitzungsbericht v. 11.6.1987, Dokument 61986CJ0102. 45 Vgl. EuGH v. 8.3.1989 – 102/86 – Apple and Pear, UR 1989, 275, mit Verweis auf das bereits vorliegende Urteil v. 5.2.1981 – 154/80 – Coöperatieve Aardappelenbewaarplaats, Slg. 1981, 445.

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In einem seiner aktuellen Urteile zum Leistungsaustausch stellt der EuGH fest, dass beispielsweise keine Dienstleistung von Urhebern und Künstlern an Hersteller und Importeure vorliegt, die Vergütungen auf Verkäufe von unbespielten Speichermedien an Verwertungsgesellschaften entrichten müssen.46 Hierbei ging es um die Frage, ob die Abgaben auf unbespielte Datenträger und Geräte zur Aufzeichnung und Vervielfältigung, die von den Herstellern und Importeuren solcher Geräte und Datenträger gem. Urheberrecht und verwandten Schutzrechten an die Inhaber der Vervielfältigungsrechte (über eine Verwertungsgesellschaft) entrichtet würden, z.B. als Dienstleistung (i.S.d. Abtretung eines nicht körperlichen Gegenstands) der Umsatzsteuer unterlägen. Die polnische Finanzverwaltung sah die von den Herstellern und Importeuren entrichteten Beträge an die SAWP47 als eine Zahlung für die Nutzung der Urheberrechte oder verwandten Schutzrechte an. Diese sollen mit dem Verkauf von Ausstattung zum Kopieren und Aufzeichnen von Werken zusammenhängen, also als Entgelt für Dienstleistungen gelten, die von den Inhabern der Urheberrechte oder verwandten Schutzrechte erbracht würden. Das hat der EuGH abgelehnt. Im Ergebnis nimmt der EuGH zwischen erbrachter Dienstleistung und erhaltenem Gegenwert einen unmittelbaren Zusammenhang nur dann an, wenn die gezahlten Beträge die tatsächliche Gegenleistung für eine bestimmbare Leistung darstellen, die im Rahmen eines solchen Rechtsverhältnisses erbracht wurde, für die auch ein unmittelbarer Gegenwert besteht.48 Das weitere Augenmerk muss also im Sinne des EuGH – auch für die Beurteilung „neuer, digitaler Formen“ (siehe noch unter III.4.) – auf der bestimmbaren Leistung und Gegenleistung mit unmittelbarem Gegenwert liegen. Im vorgenannten Streitfall bestand die Vergütungspflicht unabhängig von der Erbringung einer Dienstleistung und diente der Ausgleichsfinanzierung zugunsten der Urheber, so dass nicht angenommen werden konnte, dass die Abgabenentrichtung auf der Erbringung einer Dienstleistung beruht, für die sie den unmittelbaren Gegenwert darstellt. Die entrichteten Abgaben im Streitfall dienten dazu, den gerechten Ausgleich zugunsten der Inhaber von Vervielfältigungsrechten zu finanzieren. Der gerechte Ausgleich stellt aber nicht den unmittelbaren Gegenwert irgendeiner Dienstleistung dar, denn er steht im Zusammenhang mit dem Schaden, der sich für die Rechtsinhaber aus der ohne ihre Genehmigung erfolgenden Vervielfältigung ihrer geschützten Werke ergibt.49 Der hohe Abstraktionsgrad zur Definition des Leistungsaustauschs hat sich nun da­ ran zu messen, ob dieser dazu dienlich ist, auf das Wirtschaftsleben mit seinen (aus Sicht der Millenials und Nicht-Millenials, d.h. eines nicht Digital Native) immer fas46 Vgl. EuGH v. 18.1.2017  – C-37/16  – Stowarzyszenie Artystów Wykonawców Utworów ­Muzycznych i Słowno-Muzycznych SAWP, UR 2017, 230. 47 Künstlervereinigung von Aufführenden musikalischer Werke mit oder ohne Text [SAWP] mit Sitz in Warschau. 48 Vgl. EuGH v. 18.1.2017  – C-37/16  – Stowarzyszenie Artystów Wykonawców Utworów ­Muzycznych i Słowno-Muzycznych SAWP, UR 2017, 230, Rz. 26 und 29; so auch EuGH v. 18.7.2007 – C-277/05 – Société thermale d’Eugénie-les-Bains, UR 2007, 643, Rz. 19. 49 Vgl. in diesem Sinne auch EuGH v. 21.10.2010 – C-467/08 – Padawan, MMR 2010, 828 = BeckRS 9998, 93382 m. Anm. Hoeren, Rz. 40.

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zinierenderen, i.d.R. technisch basierten Geschäftsmodellen eine umsatzsteuerlich zutreffende und einfache Lösung anzubieten. Ist also der seit 100 Jahren entwickelte Begriff geeignet, auch künftige Geschäftsvorfälle zu lösen oder wird sich für die einzelnen Fälle – mangels konkreter oder greifbarer Definition – mehr und mehr ein case-law auch im Bereich der Umsatzsteuer entwickeln? Dazu soll nochmals ausgeholt werden und anhand von zwei ganz unterschiedlichen Fällen aus der aktuellen Praxis und aus der Vergangenheit – vorgreiflich der unten noch dargestellten Einzelfälle – die sich entwickelte Beurteilung zum Vorliegen einer wirtschaftlichen Leistung illustriert werden: Dem EuGH liegt derzeit die Frage vor, ob die Ausgabe von Guthaben an Nutzer gegen Zahlung von Geld ein nicht steuerbarer „Zwischenschritt“50 ist oder eine steuerbare Dienstleistung, nämlich die Gewährung einer Berechtigung zur Teilnahme an einer Online-Auktion.51 Um bei einer Auktion teilnehmen zu können, müssen sich Nutzer bei einer „Auktionsplattform“ (hier MadBid) anmelden. Denn anders als bei den schon seit längerer Zeit bekannten „Auktionshäusern“ (wie z.B. Ebay) gibt es zwischenzeitlich auch Anbieter sog. Cent-Auktionen.52 Hierbei werden Auktionen angeboten, bei denen Kunden für jedes Gebot zahlen müssen und zwar in Bids, die nach dem Kauf ihrem Kundenkonto gutgeschrieben werden. Je nach Artikel – das Angebot des betreffenden Unternehmens der Vorlagefrage reicht von Elektronikartikeln bis hin zu Urlaubsreisen (Paketreisen) – verlangt die Auktionsplattform pro Gebot Bids. Da jede Auktion bei 0 Euro startet und jedes Gebot den Kaufpreis z.B. um 1 Cent ­erhöht, dürften die Einnahmen der Auktionsplattformen die jeweils abgegebenen ­Gebote sein. Geht ein „Produkt“ etwa für 39,99 Euro an den Meistbietenden, sind 50 Laut vorlegendem Gericht unter Beachtung der bisherigen Rechtsprechung, vgl. EuGH v. 16.12.2010 – C-270/09 – MacDonald Resorts, UR 2011, 462, Rz. 23 bis 42. 51 Vgl. EuGH, Gerichtsmitteilung v. 26.1.2017 – C-544/16 – Marcandi Limited (firmiert unter „MadBid“), ABl. EU 2017, Nr. C 14, 26. Laut Schlussantrag v. 7.3.2018 nimmt der Generalanwalt eine eigenständige Dienstleistung an, nämlich die Gewährung der Berechtigung zur Teilnahme an Madbid-Auktionen. Durch die Teilnahme an Madbid-Auktionen erhalten die Nutzer die Chance, Gegenstände zu einem unter ihrem Marktwert liegenden Preis zu erwerben, da der Preis, zu dem der Zuschlag erfolgt, typischerweise unter dem Marktwert des versteigerten Artikels liegt. Im Gegensatz hierzu wird den Nutzern der Marktpreis des Artikels in Rechnung gestellt, wenn sie diesen unmittelbar im Madbid-Shop erwerben. Folglich sei der Erwerb von Guthabenpunkten nicht als ein (nicht steuerbarer) Zwischenschritt anzusehen, der zum Zweck der Lieferung von Gegenständen erfolgt. Da das Entgelt der Betrag sein soll, den Nutzer für die Ausgabe von Guthaben bezahlt, dieses Entgelt aber nicht auf das Entgelt für die bezahlten (ersteigerten) Leistungen anrechenbar sein soll (im Sinne einer Anzahlung darauf), fragt man sich schon, ob dies richtig sein kann und nicht doppelt dadurch Umsatzsteuer (für den gleichen Vorgang auf Ebene des „Gewinners“ der Auktion) ausgelöst würde. Zudem könnte das Entgelt auch anders ermittelt werden, etwa durch Annahme einer unentgeltlichen Wertabgabe / analog zu einer abgegebenen Prämie (also wenn kein Gewinnspiel hier anzunehmen ist), dann aber mit der weiteren Frage eines Entgelts im Sinne aller Gebote oder eben nur des bietenden „Gewinners“ der Auktion. 52 Z.B. MadBid, Bison, Bidclash und Snipster.

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3.999 Gebote erforderlich, um diesen Preis darzustellen. Fraglich ist, ob und zwischen wem – letztlich wohl unter dem recht jung auch niedergeschriebenen Beurteilungs­ aspekt der wirtschaftlichen Betrachtungsweise des EuGH – eine wirtschaftliche Leistung vorliegt. Das vorlegende Gericht (Vorlage durch First-tier Tribunal, Tax Chamber, United Kingdom) fragt dabei auch  – was künftig im Bereich der Digitalisierung und des E-Commerce zur Sicherstellung der Besteuerung immer stärker relevant werden wird –, inwieweit im Fall einer unterschiedlichen umsatzsteuerlichen Behandlung eines Umsatzes durch zwei EU-Mitgliedstaaten von den Gerichten eines dieser Mitgliedstaaten bei der Auslegung der einschlägigen Bestimmungen des Unionsrechts und des nationalen Rechts das Ziel zu berücksichtigen ist, eine Doppelbesteuerung und / oder eine Nichtbesteuerung des Umsatzes zu vermeiden. Das vorlegende Gericht fragt, ob das in der EuGH-Rechtssache MacDonald Resorts vorgesehene „Optionen-Programm“ mit seinen zur Art des Umsatzes  – wenn auch nicht damals zum Ort – bereits bestimmbaren Umsätzen bei Ausgabe der Guthaben zur hier vorliegenden Ausgabe von Guthaben vergleichbar ist, auch wenn vorliegend eben zur Art und zum Ort damit erwerbbarer „Produkte“ noch keine Bestimmbarkeit gegeben ist. Zudem muss man natürlich m.E. erwähnen, dass überhaupt schon bei Ausgabe der Guthaben gar keine gesicherten Käufe für die Bieter, ggf. nur für einen aller Bieter, der jedoch auch selbst noch während des Bietens den Zuschlag nicht voraussieht, vorliegen. Dies ist insofern mit dem Straßenmusiker vergleichbar, der laut EuGH53 keine Vergütung mit Passanten vereinbart hat und bereits infolgedessen keine bestimmbare Leistung vorliegt. Dies ist daher auch ein umsatzsteuerlicher Unterschied zur Ausgabe von Telefonkarten und andererseits vergleichbar mit den künftigen Qualifizierungen zu Einzweckund Mehrzweckgutscheinen, wonach eben nur bei bestimmbarer/m Art und Ort der Leistung bereits ein Umsatz durch die Ausgabe des Gutscheins (oder der Telefonkarte) selbst vorliegen soll. Gem. EuGH54 müssen alle maßgeblichen Elemente des Steuertatbestands, d.h. der künftigen Warenlieferung oder der künftigen Dienstleistung, bekannt und somit insbesondere die Gegenstände oder die Dienstleistungen zum Zeitpunkt der „Anzahlung“ oder wie hier irgendeiner Art der „Vorauszahlung“ genau bestimmt sein. Allerdings stellt sich im Fall von MadBid sicher die Frage, ob nicht ein Kaufvertrag zum Erwerb eines Bidpakets zustande kommt bezüglich der angebotenen Bidpakete, wie dies unter den AGBs auf der Internetseite von MadBid zu finden ist. Jedoch geben laut AGBs die Bids sog. Registrierten Nutzern nicht automatisch das Recht, an Auktionen teilzunehmen. Fraglich ist ferner, ob die Bezeichnung „Auktion“ zutreffend ist, da eben in einer bestimmten Zeit nicht der letzte Höchstbietende den Zuschlag erhält (wie bei gewöhnlicher oder eBay-Auktion), das kann auch nur der Letzte sein, der nur einmal zu einem Cent geboten hat. Zudem wäre es nicht mit einem Glücksspiel ver53 Vgl. EuGH v. 17.9.2002 – C-498/99 – Town & County Factors, UR 2002, 510. 54 Vgl. EuGH v. 21.2.2006 – C-419/02 – BUPA Hospitals und Goldsborough Developments, UR 2006, 289.

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gleichbar, da wohl Bids getauscht werden, nicht um des reinen Spielens willen (und um Geld als Zahlungsmittel z.B. zu erzielen), sondern um bestimmte Produkte, für die man bietet, zu erhalten. Vergleichbar scheint dies damit wohl dann eher zum Losen im Rahmen einer Tombola. Als Beurteilungskriterium wäre wohl wie in Rechtssache RCI Europe55 heranzuziehen, welche Absicht die Mitglieder mit der Bezahlung der empfangenen Dienstleistungen letztlich verfolgt haben. In den AGBs etwa von MadBid etwa findet man bei Hinweisen zur Kundenbeziehung zum Unternehmen, dass die Registrierung auf der Webseite dem Anwender den Status eines Registrierten Nutzers verleiht; ein Rücktausch in Geld ist, soweit ersichtlich, nicht möglich. Würde also separat etwas in einer Leistungsbeziehung zwischen MadBid und dem Registrierten Nutzer von letzterem entgolten werden, dieser also letztlich durch die Registrierung auch eine Leistung von der Auktionsplattform erwarten, was sich bisher aus der Vorlage zum Sachverhalt nicht ergibt, wäre von einer Leistung der Plattform auszugehen; diese Frage stellt sich auch bei sonstigen „Netzwerk-Plattformen“ (siehe unter III.4.), die ohne Entgeltlichkeit ein „Basis-Netzwerken“ der angemeldeten Teilnehmer ermöglichen. Da sich laut Internetauftritt die Plattform MadBid jedoch als E-Commerce Auktionswebsite versteht, welche Auktionen führt, ihre eigenen Produkte „liefert“, und weitere Dienstleistungen anbietet, sollte es sich bei für Auktionen erworbenen Bids, mit denen „Produkte“ dieser Plattform erworben werden, nur um einen besonderen Zahlungsprozess für die später erworbenen Produkte handeln. Darin etwaig zusätzlich noch enthaltene „Gebühren“ für die Kunden sollten nur Nebenkosten sein, die in Aussicht auf ein möglichst günstig ersteigertes „Produkt“ mitbezahlt werden, so dass bei Ausgabe der Guthaben von einem nicht steuerbaren Umsatz im Zeitpunkt dieses „Geldumtauschs“ auszugehen ist. Denn die Nutzer (Durchschnittsverbraucher) wollen nicht die Bids um der Bids wegen erwerben, sondern die dadurch bestehende / erreichte Möglichkeit des (günstigen) Produkterwerbs (bei Annahme von MadBid als Lieferer der Produkte). Das ist ein aktueller Fall. Zu einem älteren Fall in einem ganz anderen Bereich hatte der RFH56 es beispielsweise abgelehnt, die entgeltliche Tätigkeit einer Prostituierten als umsatzsteuerrechtlich relevantes Verhalten zu werten, weil die Hingabe des menschlichen Körpers nach der (damaligen?) Verkehrsauffassung keine wirtschaftliche Leistung darstelle. Der BFH57 hat diese Rechtsprechung mit der Begründung aufgegeben, die Annahme einer wirtschaftlichen Leistung i.S.d. Umsatzsteuerrechts hänge davon ab, dass der Leistende mit seiner Tätigkeit ein eigenes wirtschaftliches Ziel verfolgt. Da das gegeben sei, seien Prostituierte Unternehmerinnen, die steuerbare (und -pflichtige) Leistungen erbringen. Es geht nicht um die Besteuerung oder Nichtbesteuerung von moralischen oder amoralischen Verhaltensweisen des Leistenden 55 Vgl. EuGH v. 3.9.2009 – C-37/08 – RCI Europe, UR 2009, 887, Rz. 29. 56 Vgl. RFH v. 23.3.1923 – V A 323/22, RStBl. I 1923, 196. 57 Vgl. BFH v. 4.6.1987 – V R 9/79, BStBl. II 1987, 653 = UR 1987, 263, Zur Zurechnung der Einkünfte der Prosituierten bei dem Zuhälter im Falle deren Abhängigkeit vgl. FG Nürnberg v. 3.11.2015 – 2 K 1038/13, StEd 2016, 215.

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oder Leistungsempfängers. Es geht auch nicht (so sehr) um die Frage, ob der Leistende mit seiner Tätigkeit eine wirtschaftliche Leistung oder ein eigenes wirtschaftliches Ziel verfolgt, es geht schlicht um die Frage, ob eine umsatzsteuerliche Leistung vorliegt, d.h. eine Leistung, die beim Empfänger zu einem Verbrauch führt, oder anders, für die der Empfänger bereit ist, Einkommen oder ein Entgelt aufzuwenden.58 Da das außer Streit stehen dürfte, ist dem BFH im Ergebnis zu folgen, dass also Prostituierte umsatzsteuerlich Leistungen erbringen, die sie zu Unternehmerinnen machen.59 Mit diesen Kriterien kann dann aber auch vorheriges Beispiel der Online-Auktionsplattformen gelöst werden, da bei der Ausgabe der Guthaben noch kein Verbrauch erfolgt, sondern erst zu einem späteren Zeitpunkt ein solcher erreicht werden kann. Zugleich sind die Motive des Leistenden zu beachten (i.S. eines subjektiven Leistungsaustauschs; siehe noch unter III.3. und III.4.) sowie vermeintliche Leistungen von Plattformen (siehe noch unter III.4.), bei denen bei kostenloser Nutzungsmöglichkeit die Plattform aber an die User in diesem Verhältnis eben kein eigenes wirtschaftliches Ziel verfolgt, sondern diese nur für andere wirtschaftliche Ziele benötigt / nutzt. Folglich sind für die technischen Entwicklungen über die letzten 100 Jahre heute die gleichen Fragen zu stellen, die sich bereits der RFH stellte, wenngleich deren Beantwortung in vielen Aspekten mehr und mehr verfeinert und herausgearbeitet wurde, so dass etwa zusammenfassend vorliegen muss: ȤȤ der identifizierbare Leistungsempfänger, ȤȤ eine Leistung von wirtschaftlicher Natur, die zu einem Verbrauch führt und die im Gegenwert objektiv bestimmbar und bezifferbar sein muss, ȤȤ ein eigenes wirtschaftliches Ziel und ein Motiv zur unmittelbaren Leistungserbringung an eine Person, zu der ein Rechtsverhältnis besteht und letztlich zwischen den Beteiligten m.E. damit auf einen subjektiven Begriff des Leistungsaustauschs abstellt, weil ein solcher beim Empfänger aus dessen Sicht zu einem Verbrauch führen muss. Dieser kurze Abriss soll zeigen, dass steuerbare und nicht steuerbare Umsätze vielfach durch Rechtsentwicklung bzw. Rechtsfortbildung und Änderungen in der Auffassung der Rechtsprechung und Finanzverwaltung im Laufe der Zeit und des Wirtschaftslebens abgegrenzt, manchmal genau vica versa qualifiziert wurden, was auch für die Einordnung einer Leistung als Lieferung oder sonstige Leistung selbst gilt.60 Vorliegender Beitrag konzentriert sich im Bereich der Steuerbarkeit damit weiter auf das 58 Vgl. EuGH v. 29.2.1996 – C-215/94 – Mohr, UR 1996, 119. So auch in Abschn. 1.1 Abs. 3 Satz 2 UStAE, wonach solche wirtschaftlichen Leistungen betroffen sein sollen, bei denen ein über die reine Entgeltentrichtung hinausgehendes eigenes wirtschaftliches Interesse des Entrichtenden verfolgt wird; vgl. ebenso Friedrich-Vache in Reiß/Kraeusel/Langer, UStG, § 1 UStG Rz. 76 (Mai 2017); als Grundsatzbeispiel auch bei Nieskens in Rau/Dürrwächter, UStG, § 1 UStG Rz. 185 (Januar 2016). 59 Vgl. BFH v. 4.6.1987 – V R 9/79, BStBl. II 1987, 653 = UR 1987, 263; vgl. auch Wagner, StuW 1991, 61; Giesberts, StuW 1991, 175. 60 Z.B. im Bereich der Abgrenzung der Leistungsformen im Kommissionsbereich, dass eben keine Dienstleistung im Sinne einer Geschäftsbesorgung des Kommissionärs vorliegt, son-

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Kriterium des Leistungsaustauschs und daher auf die Abgrenzung, wann mangels eines solchen ein nicht steuerbarer Umsatz anzunehmen wäre. 2. Allgemeine Abgrenzungsdefinitionen zur Nichtsteuerbarkeit Nach Auffassung der deutschen Finanzverwaltung mit Referenzierung auf die EuGHund BFH-Rechtsprechung umfasst der Leistungsaustausch alles, was Gegenstand eines Rechtsverkehrs sein kann.61 Leistungen im Rechtssinne unterliegen aber nur insoweit der Umsatzsteuer, als sie auch Leistungen im wirtschaftlichen Sinne sind, d.h. Leistungen, bei denen ein über die reine Entgeltentrichtung hinausgehendes, eigenes wirtschaftliches Interesse des Entrichtenden verfolgt wird. Nicht steuerbar sind in diesem Zusammenhang dann auch beispielsweise echte Zuschüsse und Beihilfen, Schadensersatzzahlungen oder auf einer Gesellschafterstellung beruhende Zahlungen, so dass in dieser Zusammenstellung aller gängigen Aspekte für einen Leistungsaustausch die nachfolgenden Einzelfälle noch genauer betrachtet werden sollten.

III. Einzelfälle des Leistungsaustauschs – ex post betrachtet und mit künftiger Brisanz Nachfolgend sind ausgewählt einige Beispiele an Zahlungen und Vergütungen dargestellt, für die es im Laufe der Zeit zu einer geänderten Auffassung zum Leistungsaustausch kam bzw. für die wohl in Zukunft stark zu diskutieren und schwer abzugrenzen sein wird, ob ein steuerbarer Leistungsaustausch vorliegt oder nicht; letzteres wird vielleicht dann in einigen Jahren auch einhellige Meinung oder zu einem späteren Zeitpunkt gegenteilig umsatzsteuerlich aufgefasst werden, wie nachfolgende Beispiele in ex post-Betrachtung zeigen. 1. Gesellschafterbeiträge und Leistungen der Gesellschafter gegen (Sonder-) Entgelt – Beispiel Haftungsvergütung und Geschäftsführung In diesem Bereich von sog. Gesellschafterbeiträgen zeigt sich sehr eindringlich und mit teils erheblichen Auswirkungen in der Praxis, wie sich im Laufe der Zeit Änderungen der Auffassungen zum Leistungsaustausch ergaben.62 Der Beitrag des Gesellschafters ist dadurch gekennzeichnet, dass er aufgrund gesellschaftsvertraglicher Verpflichtung zur Förderung des gemeinsamen Zwecks an die Gesellschaft geleistet wird. Betreibt die Gesellschaft ein Unternehmen, besteht der gemeinsame Zweck in der Erbringung von Leistungen durch die Gesellschaft gegen Entgelt. Soweit die Gesellschaft auf Gewinnerzielung angelegt ist, besteht als weiterer dern etwa im Fall des Leistungsverkaufs eine Lieferung des Kommissionärs, vgl. BFH v. 31.1.2002 – V R 40, 41/00, DStR 2002, 719. 61 Vgl. Abschn. 1.1 Abs. 3 UStAE; BFH v. 31.7.1969 – V 94/65, BStBl. II 1969, 637. 62 Die Finanzverwaltung folgte dabei dem BFH, vgl. BMF-Schreiben v. 14.11.2011, IV D 2-S 7100/07/10028 :003, DStR 2011, 2201.

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Zweck auch die Absicht der gemeinsamen Gewinnerzielung. Inhalt der Beitragspflicht kann dabei jede Leistung sein, die auch Gegenstand eines schuldrechtlichen Austauschvertrags sein kann, u.a. die Erbringung von Diensten (§ 706 Abs. 3 BGB), die Überlassung von Gegenständen zur Nutzung (§ 733 Abs. 2 Satz 3 BGB) und die Übertragung von Sachen, Geld, Rechten und sonstigen materiellen wie immateriellen Vermögensgegenständen.63 Bereits 1959 entschied der BFH, dass zwischen Personen- und Kapitalgesellschaften und ihren Gesellschaftern ein Leistungsaustausch möglich ist.64 Ein Gesellschafter kann an die Gesellschaft sowohl Leistungen erbringen, die ihren Grund in einem gesellschaftsrechtlichen Beitragsverhältnis haben, als auch Leistungen, die auf einem gesonderten schuldrechtlichen Austauschverhältnis beruhen.65 Die umsatzsteuerrechtliche Behandlung dieser Leistungen soll sich einhellig danach richten, ob es sich um Leistungen handelt, die als Gesellschafterbeitrag durch die Beteiligung am Gewinn oder Verlust der Gesellschaft abgegolten werden, oder um Leistungen, die gegen sog. (Sonder-)Entgelt ausgeführt werden und damit auf einen Leistungsaustausch gerichtet sind. Diese Unterscheidung entspricht der Rechtsprechung des EuGH.66 Steuerbar ist ein nach der konkreten Leistung berechnetes (Sonder-)Entgelt, das im Rahmen der Ergebnisermittlung in der Handelsbilanz als Aufwand behandelt wird. Die Bezeichnung „(Sonder-)Entgelt“ scheint ertragsteuerlich in Abgrenzung zur Beteiligung am Gewinn und Verlust abgeleitet zu sein. Der BFH67 verwendet hierbei die Schreibweise „(Sonder-)Entgelt“, so dass schlichtweg die Erzielung von Einnahmen, der Erhalt eines Entgelts bzw. der Aufwendungen des Leistungsempfängers, maßgeblich ist.68 1967 hat der BFH69 zu einem Fall, in dem die Gesellschafter einer Arbeitsgemeinschaft (Arge) des Baugewerbes dieser für die Ausführung des Bauauftrags Baugeräte entsprechend ihrem Beteiligungsverhältnis unentgeltlich überlassen ha63 Vgl. Friedrich-Vache in Reiß/Kraeusel/Langer, UStG, § 1 UStG Rz. 373 ff. (Mai 2017). 64 Vgl. BFH v. 23.7.1959 – V 6/58 U, BStBl. III 1959, 379. 65 So auch in Abschn. 1.6 Abs. 3 Satz 1 UStAE. 66 Vgl. EuGH v. 27.1.2000  – C-23/98  – Heerma, UVR 2000, 141 m. Anm. Wagner; v. 27.9.2001 – C-16/00 – Cibo Participations, UR 2001, 500 m. Anm. Wäger. 67 Vgl. z.B. BFH v. 10.5.1990 – V R 47/86, UR 1991, 13 m. Anm. Husmann, in dem – soweit ersichtlich – zuerst der Begriff „(Sonder-)Entgelt“ formuliert wurde, bereits aber im Urteil des BFH v. 20.11.1970 – V R 132/67, UR 1971, 74, umschrieben wurde; so auch BFH v. 18.12.1975 – V R 131/73, BStBl. II 1976, 265; v. 17.7.1980 – V R 5/72, BStBl. II 1980, 622 = UR 1980, 202 m. Anm. Weiss; v. 18.3.1988 – V R 178/83, BStBl. II 1988, 646 = UR 1988, 312 m. Anm. Stadie. 68 Vgl. BFH v. 5.12.2007 – V R 60/05, UR 2008, 616; v. 16.1.2003 – V R 92/01, BStBl. II 2003, 732; v. 6.6.2002 – V R 43/01, BStBl. II 2003, 36; v. 25.5.2000 – V R 66/99, BStBl. II 2004, 310; v. 18.4.1996 – V R 123/93, BStBl. II 1996, 387; vgl. auch FG Rheinland-Pfalz v. 9.10.2014 – 6 K 1704/12, EFG 2015, 86, nachfolgend BFH v. 11.6.2015 – V B 140/14, BFH/NV 2015, 1442. So nun auch das Argument beim (Berufs-)Pokerspieler, der keine Leistung gegen Entgelt erbringt, wenn er an Spielen fremder Veranstalter teilnimmt und ausschließlich im Erfolgsfall Preisgelder oder Spielgewinne erhält, vgl. BFH v. 30.8.2017 – XI R 37/14, UR 2017, 956 m. Anm. Egner/Geissler; davor EuGH v. 10.11.2016 – C-432/15 – Baštová, UR 2016, 913. 69 Vgl. BFH v. 7.12.1967 – V R 88/67, UR 1968, 318. Der Begriff „Sonderleistung“ fand sich bereits in der Rechtsprechung des RFH zur umsatzsteuerrechtlichen Beurteilung von in-

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ben, entschieden, dass die Überlassung entweder als nicht steuerbarer Gesellschafterbeitrag oder als entgeltliche Sonderleistung der Gesellschafter zu beurteilen sei. Da ein Bauunternehmer Baugeräte der Arge in einem größeren Umfang, als ihm der Arge-­ Vertrag auferlegte, überlassen hat, wurde hinsichtlich der gesamten Gerätegestellung ein steuerbarer Leistungsaustausch angenommen, wenn die Gerätegestellung abgerechnet und kostenmäßig ausgeglichen wird. Die Vereinbarung einer kostenlosen Gerätegestellung bewirkt auch nicht, dass hinsichtlich des vertragsgemäßen Teils eine nicht steuerbare Gesellschafterleistung und nur hinsichtlich des überschießenden Teils eine steuerbare Leistung angenommen werden kann. In der weiteren Folge ergaben sich für bestimmte Leistungen, Geschäftsführer- und Vertreterleistungen sowie Haftungsübernahme durch (bestimmte, unternehmerische) Gesellschafter ebenfalls diametrale Änderungen. Mit Urteilen aus den Jahren 2002 und 200570 hat der BFH seine alte Rechtsprechung71 zu Gesellschafter-Geschäftsführerleistungen aufgegeben. Geschäftsführungsleistungen der Gesellschafter und Anteilseigner werden demnach unter den üblichen Voraussetzungen für einen Leistungsaustausch als steuerbar und steuerpflichtig eingestuft.72 Nach der alten Rechtsprechung sollten sich der zur Geschäftsführung und Vertretung berufene Gesellschafter und die Gesellschaft nicht in dem Sinne gegenüberstehen, dass der Gesellschafter eine Leistung erbringt und die Gesellschaft diese empfängt. Denn nach – vom BFH verstärkt herangezogener  – wirtschaftlicher Betrachtungsweise realisiere sich der Gesellschaftszweck, zu dessen Erreichung sich die Gesellschafter verbunden hätten, mangels eigener Handlungsfähigkeit der Gesellschaft durch das Tätigwerden ihrer Gesellschafter. Wenn der Gesellschafter seine Rechte ausübt, habe er sich zugleich als Gesellschaft betätigt. Eine Leistung an einen anderen erbringe er nicht, weil der Erfolg der eigenen Betätigung des Gesellschafters der Gesellschaft als Reflex zugutekomme. Diese Betrachtungsweise steht mit den mittlerweile – auch unionsrechtlich  – anerkannten Voraussetzungen für die Annahme eines Leistungsaustauschs nicht mehr im Einklang. Danach setzt ein Leistungsaustausch (lediglich) voraus, dass ein Leistender und ein Leistungsempfänger vorhanden sind und der Leistung eine Gegenleistung (ein Entgelt) gegenübersteht, also ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen Leistung und Gegenleistung besteht.73 Ob der Gesellschafter bei der Führung der Geschäfte einer Gesellschaft zugleich auch Mitgliedsrechte ausübt, ist mithin nicht erheblich, wenn er dafür ein Entgelt erhält.

nergesellschaftlichen Vorgängen (Sonderleistungen der Gesellschaft) in Bezug auf die Ausgabe von Gesellschaftsanteilen, vgl. in BFH v. 18.12.1975 – V R 131/73, BStBl. II 1976, 265. 70 Vgl. BFH v. 6.6.2002  – V R 43/01, BStBl.  II 2003, 36, zu Personengesellschaften; v. 10.3.2005 – V R 29/03, BStBl. II 2005, 730, zu Kapitalgesellschaften, UR 2005, 440 m. Anm. Heidner. 71 Vgl. z.B. BFH v. 17.7.1980 – V R 5/72, BStBl. II 1980, 622 = UR 1980, 202 m. Anm. Weiss. 72 Vgl. auch Wäger, UR 2008, 69; Hiller, UR 2009, 477; Robisch in Bunjes, UStG, 2017, § 1 UStG Rz. 78-83. 73 Vgl. Oelmaier in Sölch/Ringleb, UStG, § 1 UStG Rz. 36 m.w.N. (Juni 2017).

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Der BFH hatte danach 2011 entgegen der Auffassung der Finanzverwaltung entschieden,74 dass die Festvergütung, die der geschäftsführungs- und vertretungsberechtigte Komplementär einer KG von dieser für seine Haftung nach §§ 161, 128 HGB erhält, als Entgelt für eine einheitliche Leistung, die Geschäftsführung, Vertretung und Haftung umfasst, umsatzsteuerpflichtig ist. Die Haftungsübernahme besitzt ihrer Art nach Leistungscharakter und kann  – auch im Fall einer isolierten Erbringung und Vergütung75  – Gegenstand eines umsatzsteuerbaren Leistungsaustauschs zwischen Gesellschaft und Gesellschafter sein. Damit ist schön und im Bereich der Umsatzsteuer auch beachtlich, dass nach diesen geänderten Grundsätzen des BFH die Gesellschafter bei Leistungen an die Gesellschaft ein Gestaltungsrecht haben. Die Gesellschafter können die Verhältnisse so gestalten, dass sie zu einer möglichst geringen steuerlichen Belastung führen, v.a. bei einer beteiligten (reinen) Finanzholding.76 Dies gilt auch im Bereich der damit zusammenhängenden Aufwendungen und darin etwaig enthaltenen Vorsteuerbeträgen, für die ein Abzugsrecht begehrt wird. Ob sich in diesem Bereich weitere Änderungen ergeben, bleibt abzuwarten. Diese deuten sich jedoch bereits bei Fragestellungen in der Praxis an, etwa inwieweit (betragsmäßig) ein Vorsteuerabzug aus Eingangsleistungen erfolgen darf, wenn zwar an Beteiligungsgesellschaften Leistungen gegen (Sonder-)Entgelt erbracht, aber z.B. nicht alle (laufenden) Kosten aus Eingangsleistungen „weiterberechnet“ oder im Rahmen des sonst erfolgenden Leistungsaustauschs eingepreist werden, sondern beispielsweise gemäß so abgeschlossener Dienstleistungs- oder Kostenumlagevereinbarungen mit den Beteiligungsgesellschaften einige (originäre) und / oder bestimmte Kosten „zurückbehalten“ werden.77 Für die Sphärentheorie wird derzeit scheinbar ein neues Feld entworfen, indem eine Beteiligungsgesellschaft im unternehmerischen Bereich zwar bei Leistungserbringung gegen Entgelt gehalten werden kann und zugleich daneben – wohl nach Auffassung des V. Senats des BFH78 im Fall der Kapitalbeschaffung und scheinbar auch im Fall laufender Kosten nach Ansicht einiger Finanzämter – noch mit dieser eine nichtunternehmerische Sphäre bestehen soll. Die Finanzverwaltung greift dies mit BMF-Schreiben vom 26.5.2017 auf.79 Danach soll für alle offenen und künftigen Fälle ein Recht auf Vorsteuerabzug aus Leistungen im Zusammenhang mit dem Einwerben von Kapital zur Anschaffung einer gesellschafts74 Vgl. BFH v. 3.3.2011 – V R 24/10, UR 2011, 585. 75 Zuvor war nach Auffassung der Finanzverwaltung die Haftungsvergütung einer Personengesellschaft an einen persönlich haftenden Gesellschafter grundsätzlich nicht als im Rahmen eines eigenen Leistungsaustauschverhältnisses gewährt aufgefasst worden. Nur im Fall, dass dieser zudem steuerbare Geschäftsführungs- und Vertretungsleistungen erbrachte, war die pauschale jährliche Haftungsvergütung (zusätzliches) Entgelt. 76 Vgl. BFH v. 16.3.1993 – XI R 45/90, BStBl. II. 1993, 530 = UR 1993, 248; Abschn. 1.6 Abs. 7 Satz 1 UStAE. 77 Vgl. Friedrich-Vache/Endres-Reich, UR 2017, 649. 78 Vgl. BFH v. 6.4.2016 – V R 6/14, BStBl. II 2017, 577 = UR 2016, 770. 79 III C 2-S 7105/15/10002, BStBl. I 2017, 790 mit Anpassung in Abschn. 15.22 Abs. 1 Satz 4 UStAE. Zitiert werden dabei die sich m.E. widersprechenden Urteile des V. als auch des XI. Senats des BFH, mithin v. 6.4.2016 – V R 6/14, UR 2016, 770 und v. 1.6.2016 – XI R 17/11, UR 2016, 673, die zwischenzeitlich beide im Bundessteuerblatt veröffentlicht wurden.

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rechtlichen Beteiligung für den Unternehmer (insbesondere für eine Holding) also nicht bestehen, soweit das eingeworbene Kapital in keinem Verhältnis zu der im unternehmerischen Bereich gehaltenen gesellschaftsrechtlichen Beteiligung steht, oder wenn die Umsätze, die dieses Recht begründen sollen, eine missbräuchliche Praxis darstellen. Dadurch wird – unzutreffenderweise – ein direkter und unmittelbarer Zusammenhang zwischen den Eingangsleistungen und den zum Abzug berechtigenden Ausgangsleistungen davon abhängig gemacht, ob die Kosten für die Eingangsleistung in voller Höhe bzw. zumindest entsprechend der betragsmäßigen Größenordnung zu besteuerten Ausgangsumsätzen weiterbelastet und eingepreist werden. Anders he­ rum könnte der Vorsteuerabzug versagt werden, wenn es keine betragsmäßig adäquate – im Sinne des FG Baden-Württemberg80 im Verhältnis zu den vorsteuerbelasteten Aufwendungen  – Weiterbelastung der Kosten für Eingangsleistungen gäbe. Damit würde eine Kausalitätsprüfung zur Darlegung einer gerechtfertigten Größenordnung und Qualifizierung dadurch als „Investitionskosten“ nötig werden. Derartige Schlussfolgerungen sind nicht nur aus unternehmerischer / betriebswirtschaftlicher und investitionsorientierter Sicht abzulehnen, sondern auch aus rein materiell-rechtlicher Sicht zumindest kritisch. Bereits vor dem V. Senat hat der XI. Senat des BFH81 entschieden, dass ein voller Vorsteuerabzug für eine Holding möglich ist, wenn eine geschäftsleitende Holding, die an der Verwaltung einer Tochtergesellschaft teilnimmt und insoweit – zu verstehen im Sinne einer Schlussfolgerung und eben nicht als weitere Voraussetzung neben dem vorgenannten Eingreifen in die Verwaltung der Beteiligungsgesellschaft – eine wirtschaftliche Tätigkeit ausübt (und besteuerte Ausgangsumsätze erbringt). Wenngleich diese Thematik primär letztlich den Vorsteuerabzug und die Eingangs­ seite beschreibt, zeigt dies dennoch, dass die Qualifizierung und der Umfang des ­Leistungsaustauschs bzw. steuerbarer (und steuerpflichtiger) Umsätze auf der Ausgangsseite zum Rückschluss für einen Vorsteuerabzug gerade in der Praxis von Konzernstrukturen und Beteiligungsverhältnissen wichtig bleiben werden. 2. Ausgleichs- und Vergleichszahlungen in Abgrenzung zu nicht steuerbarem, echtem Schadensersatz Grundlage für den Leistungsaustausch ist – wie oben erwähnt – ein Kausalzusammenhang, eine innere Verknüpfung von Leistung und Gegenleistung.82 Ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen Leistung und Gegenleistung kann bei Entschädigungen oder Schadensersatz fehlen.83 Echte Entschädigungs- oder Schadensersatzleistungen 80 Vgl. Vorinstanz FG Baden-Württemberg v. 28.11.2012 – 14 K 2735/10, juris. 81 Vgl. BFH v. 19.1.2016 – XI R 38/12, BStBl. II 2017, 567 = UR 2016, 312 m. Anm. Heinrichshofen und Sterzinger; v. 1.6.2016 – XI R 17/11, BStBl. II 2017, 581 = UR 2016, 673. 82 Daher wurde die Rechtsprechung des BFH v. 13.11.1997 – V R 11/97, BStBl. II 1998, 169 = UR 1998, 105, und ein synallagmatischer Zusammenhang zwischenzeitlich aufgegeben bzw. der Leistungsaustausch anders pointiert. 83 Vgl. Auffassung der deutschen Finanzverwaltung in Abschn. 1.3 Abs. 1 UStAE.

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sind kein Entgelt im Sinne des Umsatzsteuerrechts, wenn die Zahlung nicht für eine Lieferung oder sonstige Leistung an den Zahlungsempfänger erfolgt, sondern weil der Zahlende nach Gesetz oder Vertrag für den Schaden und seine Folgen einzustehen hat.84 Daher haben beispielsweise auch Vertragsstrafen, die wegen Nichterfüllung oder wegen nicht gehöriger Erfüllung (§§ 340, 341 BGB) geleistet werden, Schadensersatzcharakter.85 In der jüngeren Rechtsprechung gibt es zahlreiche Einzelfälle, die die Abgrenzung zwischen steuerbarem Umsatz und reinem (nicht steuerbarem) Schadensersatzcharakter nicht einfach erscheinen lassen, in der – gerade bei Vertragsauflösungen gegen Entschädigungszahlungen – auch die Finanzgerichte86 unterschiedliche Meinungen hatten, ob etwa ein Verzichten ebenfalls als ein wirtschaftliches Tätigwerden qualifiziert. Denn der Verzicht auf Vertragserfüllung kann eine sonstige Leistung sein.87 So wird etwa die Zustimmung zur vorzeitigen Auflösung eines Beratervertrags gegen (so zwischen den Parteien bezeichneten) „Schadensersatz“ nach Auffassung des BFH als (steuerbare) sonstige Leistung eingeordnet.88 Entsprechend wird dies auch bei vorzeitiger Auflösung eines Mietvertrags gegen Zahlung einer Abstandssumme für den Mieter, bei Ablösesummen für Sportler für die Freigabe zum Spielbetrieb bei einem anderen Verein89 oder bei Ausgleichszahlungen an Handelsvertreter bei Beendigung des Vertragsverhältnisses90 angenommen. Ein steuerbarer Leistungsaustausch wurde von der Rechtsprechung auch beim entgeltlichen Verzicht eines IT-Leistungserbringers bejaht, wonach im Rahmen eines Vergleichs der Kunde vorzeitig aus dem IT-Dienstleistungsvertrag entlassen wurde.91 Zur Begründung führt der BFH aus, dass bei Leistungen, zu deren Ausführung sich 84 Vgl. BFH v. 30.6.2010 – XI R 22/08, BStBl. II 2010, 1084 = UR 2010, 941; v. 17.12.2009 – V R 1/09, BFH/NV 2010, 1869; v. 15.4.2015 – V R 46/13, BStBl. II 2015, 947 = UR 2015, 762, Rz. 39; Abschn. 1.2 Abs. 1 UStAE; vgl. EuGH v. 18.7.2007 – C-277/05 – Société thermale d‘Eugénie-les-Bains, BFH/NV Beilage 2007, 424, Rz. 32 = UR 2007, 643. 85 Vgl. auch BFH v. 10.7.1997 – V R 94/96, BStBl. II 1997, 707 = UR 1997, 473 m. Anm. Stadie; v. 27.4.1961 – V 263/58 U, BStBl. III 1961, 300. 86 Vgl. z.B. FG Hamburg v. 13.2.2013 – 5 K 280/10 (rkr.), MwStR 2013, 488, und dagegen FG München v. 20.2.2013 – 3 K 1620/12, DStRE 2014, 290, was nach BFH-Rechtsprechung nun eigentlich gelöst scheint, vgl. BFH v. 16.1.2014 – V R 22/13, MwStR 2014, 333, wenngleich noch ein Verfahren beim BFH anhängig ist, vgl. BFH, Az. XI R 3/16. 87 Vgl. EuGH v. 15.12.1993 – C-63/92 – Lubbock Fine, BStBl. II 1995, 480 = UR 1994, 225; BFH v. 7.7.2005 – V R 34/03, BStBl. II 2007, 66 = UR 2005, 663 m. Anm. Hummel. 88 Vgl. BFH v. 7.7.2005 – V R 34/03, BStBl. II 2007, 66 = UR 2005, 663 m. Anm. Hummel; v. 24.8.2006 – V R 19/05, BStBl. II 2007, 187; Abschn. 3.1 Abs. 4 UStAE; vgl. auch Martin, UR 2006, 56. So auch im Weiteren BFH v. 6.5.2004 – V R 40/02, BStBl. II 2004, 854 = UR 2004, 470; vgl. auch BFH v. 16.1.2014 – V R 22/13, BFH/NV 2014, 736. 89 Der freigebende Verein verzichtet auf die Ausübung des vertraglichen Rechts, den Sportler selbst einzusetzen, vgl. bereits BFH v. 31.8.1955 – V 108/55 U, BStBl. III 1955, 333; Abschn. 1.1 Abs. 11 UStAE; a.A. Mümmler, UR 1984, 132. 90 Vgl. Abschn. 1.3 Abs. 12 UStAE; Robisch in Bunjes, UStG, 2017, § 1 UStG Rz. 53. 91 BFH v. 16.1.2014 – V R 22/13, MwStR 2014, 333; a.A. noch Vorinstanz FG München v. 20.2.2013 – 3 K 1620/12, DStRE 2014, 290.

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die Vertragsparteien in gegenseitigen Verträgen verpflichten, der erforderliche Leistungsverbrauch grundsätzlich vorliege; das versprochene Tun, Dulden oder Unterlassen sei der Vorteil, den der Leistungsempfänger erhält. Ob die Auffassung des BFH den Grundsätzen des EuGH entspricht, erscheint zweifelhaft. Nach den Grundsätzen des EuGH setzt die Besteuerung u.a. das Bestehen eines unmittelbaren Zusammenhangs zwischen der erbrachten Leistung und dem empfangenen Gegenwert voraus. Der Leistungsempfänger muss dabei identifizierbar sein; er muss einen Vorteil erhalten, der zu einem Verbrauch i.S.d. gemeinsamen Mehrwertsteuerrechts führt.92 Bei einer vorzeitigen Vertragsauflösung im Interesse der Berechtigten dient eine vereinbarte Entschädigung vorrangig dazu, einen entgangenen Gewinn des Verpflichteten auszugleichen.93 Nach rechtskräftiger Auffassung des FG Baden-Württemberg94 soll die Auflösung eines Mietgarantievertrags gegen Abstandssumme keinen steuerbaren Umsatz darstellen, wenn der Verzicht des Garantienehmers auf den Garantieanspruch darauf beruht, dass der Garantiegeber wirtschaftlich nicht in der Lage ist, die Mietgarantie tatsächlich zu erfüllen. Da die Mietgarantie zum Zeitpunkt der Zustimmung wirtschaftlich praktisch wertlos war und nicht hätte durchgesetzt werden können, konnte mit dem Verzicht darauf kein wirtschaftlicher Nutzen (Verbrauch) zugewandt werden. Somit liegt keine umsatzsteuerrechtliche Leistung vor, die zu einem steuerbaren Umsatz führen kann. Eine Aufhebungsvereinbarung, die im Anschluss an einen für mindestens eine Vertragsseite wirtschaftlich nicht durchführbaren Vertrag getroffen wird, ist ebenso als Entschädigungsregelung einzuordnen und deswegen nach Auffassung des FG Berlin-Brandenburg95 nicht umsatzsteuerbar.96 Dagegen wiederum stellt die Vergütung für einen Mietgarantieverzicht Entgelt für einen steuerbaren Umsatz dar und ist ggf. steuerpflichtig, sofern auf die Steuerbefreiung nach §  4 Nr.  8g UStG (infolge des

92 Vgl. EuGH v. 16.10.1997 – C-258/95 – Fillibeck, UR 1998, 61; v. 18.12.1997 – C-384/95 – Landboden Agrardienste, UR 1998, 102 m. Anm. Stapperfend. 93 So auch Anm. Hummel, UR 2005, 665; ebenso Nieskens in Rau/Dürrwächter, UStG, §  1 UStG Rz. 534 „Verzicht“ (Januar 2016); vgl. auch Stadie, 3. Aufl. 2015, § 1 UStG, Rz. 49; Reiß, UR 2008, 58. 94 Vgl. FG Baden-Württemberg v. 7.11.2006 – 1 K 15/04, EFG 2007, 454 (rkr.). 95 Vgl. FG Berlin-Brandenburg v. 20.3.2009 – 7 V 7249/08, EFG 2009, 1151 (rkr.); FG München v. 27.6.2014 – 2 K 596/12, MwStR 2014,737 m. Anm. Mausch. 96 Nach FG Hamburg v. 13.2.2013 – 5 K 280/10 (rkr.), MwStR 2013, 488 m. Anm. Caspar, ist die einvernehmliche Aufhebung eines streitigen vertraglichen Anspruchs gegen Leistung einer Zahlung des zur vertraglichen Leistung Verpflichteten als entgeltlicher Verzicht des Berechtigten umsatzsteuerbar, hier die Vertragsaufhebung eines Verlags mit Zahlung an den Autor. Zur gleichen Zeit noch gegenteilig FG München v. 20.2.2013 – 3 K 1620/12, DStRE 2014, 290, zu dem der BFH v. 16.1.2014 – V R 22/13, MwStR 2014, 333, dagegen in der Revision aber Steuerbarkeit annahm, wenn ein Steuerpflichtiger auf eine ihm, sei es auf gesetzlicher oder vertraglicher Grundlage, zustehende Rechtsposition gegen Entgelt verzichtet.

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Rechtsverzichts betreffend die Übernahme einer Vermietungsgarantie, nicht aufgrund einer Gebrauchsüberlassung) verzichtet wird.97 Bei Leistungsstörungen ist demnach zu unterscheiden, ob der Leistende oder der Leistungsempfänger einen Anspruch hat. Ansprüche des Leistenden, soweit damit der Schaden aufgrund der untergegangenen Vergütungsforderung für tatsächlich erbrachte Leistungen abgedeckt wird, sind Entgelt für diese Leistungen.98 Bei Leistungsstörungen, welche der Leistungsempfänger geltend macht, ist der (echte) Schadensersatz, der sich umsatzsteuerrechtlich nicht auswirkt, von einer Minderung der Bemessungsgrundlage nach § 17 UStG abzugrenzen, die beim Leistungsempfänger den Vorsteuerabzug und beim Leistenden die Umsatzsteuer verringert.99 Dient eine Zahlung des Leistenden an den Leistungsempfänger dazu, einen Minderwert der erbachten Leistung auszugleichen, so ist die Zahlung kein echter Schadensersatz oder eine nicht steuerbare Entschädigung.100 Spannend ist dieser Themenbereich in der Praxis auch bei zivilrechtlichen Vergleichen, z.B. im Rahmen von (gegenseitigen) Ansprüchen, die dem Grunde nach unsicher und deren betragsmäßigen Höhen daher und per se nicht klar bezifferbar sind, z.B. im normalen zivilrechtlichen Streit mit gegenseitigen Ansprüchen und nicht abschätzbarem Prozessrisiko, aber auch typisch und beliebt etwa in Insolvenzverfahren zur „Verschlankung der Insolvenztabelle“, um gegenseitige Ansprüche „abzugelten“. Fraglich ist, ob es sich bei der Zahlung, die im Vergleich der einen Vertragspartei auferlegt wird, um „echten“ Schadensersatz, der nicht der Umsatzsteuer unterliegt, oder um einen steuerbaren Leistungsaustausch, dem sog. „unechten“ Schadensersatz, handelt. Umsatzsteuerlich ist es zunächst unerheblich, ob eine Leistung zivilrechtlich als Schadensersatz bezeichnet wird. Die Tatsache, dass eine Zahlung Gegenstand bzw. Folge eines (gerichtlichen) Vergleichs ist, genügt weder für die Annahme von Schadensersatz noch für einen Leistungsaustausch. Schwierigkeiten bereitet Zivilrechtlern die Unterscheidung häufig deshalb, weil sich die Beurteilung, ob die Voraussetzungen für einen steuerbaren Leistungsaustausch vorliegen, nicht nach zivilrechtlichen, sondern ausschließlich nach den vom Unionsrecht geprägten umsatzsteuerlichen Maßstäben richtet. Ein Vergleich über einen streitigen Schadensersatzanspruch begründet i.d.R. keine Leistung gegen Entgelt (wenn Anspruch auf Vertragserfüllung101 bestand). Jedoch sollte mit Blick auf die Rechtsprechung m.E. der vergleichsweise Verzicht auf einen behaupteten Beschäftigungsanspruch bzw. ein Vergleich an sich, d.h. eine Partei gibt gegen Entgelt eine bestimmte vertragliche Position auf, einen steuer 97 Vgl. BFH v. 15.4.2015 – V R 46/13, UR 2015, 762. Anhängig aber BFH, Az. XI R 3/16 zur Frage des Leistungsaustauschs der Entschädigungszahlung eines Pächters an seinen Verpächter für vorzeitige Vertragsauflösung. Die Vorinstanz, FG München v. 26.8.2015 – 2 K 1687/14, DStRE 2016, 1323, sieht einen Leistungsaustausch als gegeben, wenn ein Pächter auf eine ihm auf vertraglicher Grundlage zustehende Rechtsposition gegen ein vom Verpächter zu erbringendes Entgelt verzichtet. 98 Vgl. BGH v. 17.7.2001 – X ZR 71/99, NJW 2001, 3535 = UR 2001, 535 für § 326 BGB. 99 Vgl. Robisch in Bunjes, UStG, 2017, § 1 UStG Rz. 22-25. 100 Vgl. Oelmaier in Sölch/Ringleb, UStG, § 1 UStG Rz. 101-105 (April 2014). 101 Vgl. BFH v. 18.1.1990 – V R 6/85, BFH/NV 1991, 130.

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baren Vorgang darstellen.102 Dies ist deshalb in der Praxis so bedeutend: Stellt sich bei der nach Abschluss der Vergleichsvereinbarung durchgeführten umsatzsteuerlichen Prüfung heraus, dass eine steuerbare Lieferung oder sonstige Leistung i.S.d § 1 Abs. 1 Nr.  1 UStG vorliegt und wurde dies von den Parteien beim Abschließen des Vergleichs nicht berücksichtigt, kann dies dazu führen, dass dem Zahlungsempfänger lediglich die Differenz zwischen der Vergleichssumme und der zu zahlenden Um­ satzsteuer verbleibt, so dass sich die Vertragsparteien auch fragen müssen, ob die ­Vergleichssumme ein Brutto- oder ein Nettobetrag ist. Die andere Vertragspartei ist häufig nicht mehr zu Nachverhandlungen oder zur zusätzlichen Übernahme der Umsatzsteuer gewillt. Unter Berücksichtigung des Vorstehenden muss also das Motiv der Leistung weiter untersucht werden. Ein Vergleich geht in der Regel auf alle zivilrechtlich umstrittenen Punkte ein. Vertragsparteien wählen einen zivilrechtlichen Vergleich, um den Streit, die Ungewissheit über ein Rechtsverhältnis oder den Ausgang eines Zivilprozesses im Wege gegenseitigen Nachgebens zu beenden.103 Durch das Abschließen eines Vergleichs können in der Regel alle Parteien Zeit und Kosten einsparen (beispielsweise durch Vermeiden eines Zivilprozesses oder eines möglichen Rechtsmittels) und ihren Blick sowie ihre Ressourcen wieder auf die Gegenwart und Zukunft richten. Durch das beiderseitige Nachgeben stellt ein Vergleich einen Teilsieg für beide Parteien dar, da das Ergebnis immer einen Kompromiss und nicht „Alles-oder-Nichts“ bedeutet. Vergleichbar ist dies auch zu sog. „Abmahnungsfällen“, in denen ein Unternehmer von einem seiner Wettbewerber aufgrund wettbewerbsrechtlicher Abmahnungen Aufwendungsersatz erhält. Laut BFH104 – wenn nach Wäger105 auch schwach in der Argumentation – ist der Aufwendungsersatz Leistungsentgelt und nicht Schadensersatz, da der Abmahnende dem Abgemahnten „einen Weg“ weist, den Abmahnenden „ohne Inanspruchnahme der Gerichte klaglos zu stellen“. 3. Dienstleistungen im Zeitalter des „Internet-powered“-Kapitalismus Sharing Online Plattformen (z.B. Uber, Airbnb, BlaBlaCar etc.) oder sonstige neue Phänomene wie Cloud Computing (als Technologie, Server zu verbinden, um Daten und Computer-Applikationen zu speichern und Rechenkapazitäten auszulagern) oder Crowdfunding (als Gruppenfinanzierung), organisiert durch Internet-Plattformen, bringen derzeit die etablierten Industrien durcheinander und fordern auch das europäische Umsatzsteuersystem. Der philosophische Ansatz der Sharing Economy beispielsweise ist der: Warum einen Gegenstand oder eine Dienstleistung kaufen, wenn man diese(n) einfach und zu ei102 Vgl. auch BFH v. 10.12.1998 – V R 58/97, BFH/NV 1999, 987; Oelmaier in Sölch/Ringleb, UStG, § 1 UStG Rz. 105 (April 2014); so auch BFH v. 16.1.2014 – V R 22/13, BFH/NV 2014, 736; kritisch Hummel, MwStR 2014, 335; so aber auch Friedrich-Vache in Reiß/ Kraeusel/Langer, UStG, § 1 UStG Rz. 539 (Mai 2017). 103 Vgl. auch de Feo, DStR 2016, 848. 104 Vgl. BFH v. 21.12.2016 – XI R 27/14, UR 2017, 383. 105 Vgl. Wäger, UR 2018, 45 (54).

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nem günstigen Preis auch für die Dauer des zeitlichen Nutzungsbedarfs mieten kann, also kurz „Zugang“ erlangen kann anstelle von „Eigentum“ erwerben muss. Dies wird in der englisch-sprachigen Literatur als neue Form des „Internet-powered“-Kapitalismus106 bezeichnet und setzt die Nutzung eines elektronischen / online Kommunikations-Netzwerkens bzw. eine digitale Infrastruktur mit eigenem Online-Marktplatz voraus. Im Bereich der Umsatzbesteuerung hat die Europäische Kommission im September 2015107 ein Arbeitspapier veröffentlicht, das die umsatzsteuerliche Behandlung der Sharing Economy beinhaltet und zusammen mit einem weiteren aus Februar 2015 zum Crowdfunding108, was auf einem vergleichbaren Businessmodell beruhe, da es eine Plattform nutzt und daher die gleichen Herausforderungen impliziert, die europäische Richtung anzeigt. Danach sollen solche Plattformen, die bereits keine Gebühr für ihre „Services“ verlangen, bereits „outside of scope of VAT“ sein. Die, die eine Gebühr verlangen, sollen grundsätzlich einer Umsatzbesteuerung unterliegen.109 In der Regel liegen hier also „Vermittlungsgebühren“ vor und Gebühren für technische Aufbereitung, wobei im Bereich des Crowdfunding dann insofern weiter zu fragen ist, wenn der Umsatz steuerbar ist (und die weiteren Gebühren der technischen Möglichkeiten als Nebenkosten zu einer Hauptleistung „Vermittlung“ rechnen), ob dieser auch als „Kreditvermittlung“ steuerfrei sein kann, was gegenüber den Privatanlegern natürlich einen wirtschaftlichen Effekt hat.110 106 Vgl. z.B. Grlica, International VAT Monitor 2017, 124; Owyang, Sharing is the new buying, http://www.web-strategist.com/blog/ (aufgerufen am 28.1.2017). 107 Vgl. Europäische Kommission, VAT treatment of sharing economy, taxud.c.1(2015)​ 4370160  – EN, Working Paper No. 878, abrufbar unter https://circabc.europa.eu/sd/ a/878e0591-80c9-4c58-baf3-b9fda1094338/878%20-%20VAT%20treatment%20of%20 sharing%20economy.pdf. Zuletzt sog. Digitalpaket zur Vereinfachung im E-Commerce v. 5.12.2017, Richtlinie (2017/2455) und Verordnungen (2017/2454 und 2017/2459). 108 Vgl. Europäische Kommission, VAT treatment of crowdfunding, taxud.c.1(2015)576037 – EN, Working Paper No. 836, abrufbar unter https://circabc.europa.eu/sd/a/878e0591-80c9-​ 4c58-baf3-b9fda1094338/878%20-%20VAT%20treatment%20of%20sharing%20eco​ nomy.pdf. Derzeit gibt es eine Entscheidung des First-tier Tribunal Tax Chamber (UK), hier in Rechtssache Lunar Missions Limited gegen The Commissioners for Her Majesty‘s Revenue & Customs [2018] UKFTT 0007 (veröffentlicht am 4.1.2018): Die Finanzbehörde sah in der Ausgabe eines Vouchers im Rahmen eines Crowdfunding-Projekts („Erkundungsmodul, um Gestein vom Mond zu bohren“; diejenigen, die Mittel für das Projekt zugesagt hatten, erhielten einen „Gutschein“, den die Käufer nutzen konnten, um Platz in einer Zeitkapsel zu kaufen, die in das vom Mondmodul geschaffene Bohrloch gesteckt werden sollte. Der Raum könnte entweder für eine Haarsträhne und / oder für digitale Daten verwendet werden) eine Anzahlung für eine Leistung gesehen, was das Gericht ablehnte. 109 Unter Punkt 3.2 des Working Paper No. 878 der Europäischen Kommission v. 22.9.2015 heißt es: „Where they supply services for consideration, such services are subject to VAT. These services would typically constitute intermediation to the extent that the platforms do not act in their own name. Some of the services supplied may in fact constitute financial services, where the platforms handle the payments.” 110 Vgl. hierzu z.B. Merkx, International VAT Monitor 2016, 12, zu den verschiedenen Formen von Crowdfunding (z.B. Donation-based, Reward-based, Credit-based, Equity-­

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Dies kann bei bestimmten Formen des Crowdfunding der Fall sein. Denn eine umsatzsteuerfreie Kreditvermittlung führt aus, wer die künftigen Vertragspartner unmittelbar oder mittelbar zusammenführt; d.h. sie ist nur dann gegeben, wenn auf den Abschluss eines konkreten Geschäfts hingewirkt wird,111 also alles Erforderliche unternommen wird, damit zwei (oder ggf. mehrere) Parteien einen Vertrag abschließen, an dessen Inhalt der Vermittler kein über das Zustandekommen selbst hinausgehendes Eigeninteresse hat.112 Für die (steuerfreie) Kreditvermittlung ist es dabei nicht erforderlich, dass es tatsächlich zu einem Vertragsabschluss kommt.113 Die Vermittlungstätigkeit setzt allgemein ein Handeln in fremdem Namen für fremde Rechnung voraus.114 In der Praxis wird meist aus dem Wortlaut und der Beschreibung der Leistungen, in der Vorbemerkung und den vorgesehenen Vertragsabschlüssen zwischen Kapitalanlegern und Projektentwicklern beim Crowdfunding deutlich, dass jedenfalls die Plattform selbst nicht Darlehensgeber oder -nehmer wird und hier lediglich eine Darlehensgewährung „vermitteln“ wird. Diese muss darauf gerichtet sein, dass die eine Person der anderen Person eine Finanzdienstleistung gegen Entgelt erbringt. Insofern kann eine umfassende Information und Beratung des Interessenten unselbständiger Teil der Hauptleistung „steuerfreie Kreditvermittlung“ sein, da nur so die Wahrscheinlichkeit zum Abschluss eines entsprechenden Vertrags erhöht wird. In diesen Fällen ist zu prüfen, welcher Leistungsbestandteil (aus Sicht des Leistungsempfängers) die einheitliche Leistung prägt.115

based) und deren Auswirkung auf den Status als Steuerpflichtiger und etwaiger Steuerbefreiungen. 111 Vgl. Philipowski in Rau/Dürrwächter, UStG, § 4 Nr. 8 UStG Rz. 620 (Februar 2013). 112 Vgl. Sobotta in Reiß/Kraeusel/Langer, UStG, § 4 Nr. 8 UStG Rz. 50 (Februar 2012); Birkenfeld in Birkenfeld/Wäger, USt-Handbuch, § 93 Rz. 92 (Oktober 2005). 113 Vgl. BFH v. 3.11.2005 – V R 21/05, BStBl. II 2006, 282 = UR 2006, 121; Sobotta in Reiß/ Kraeusel/Langer, UStG, §  4 Nr.  8 UStG Rz.  50; Huschens in Vogel/Schwarz, UStG, §  4 Nr. 8a UStG Rz. 66 (November 2015). 114 Vgl. Sobotta in Reiß/Kraeusel/Langer, UStG, § 4 Nr. 8 UStG Rz. 50 (Februar 2012); so auch Birkenfeld in Birkenfeld/Wäger, USt-Handbuch, § 93 Rz. 92 und Rz. 223 (Oktober 2005); Handzik in Offerhaus/Söhn/Lange, UStG, § 4 Nr. 8 UStG Rz. 33 ff. (Januar 2017). 115 Vgl. Philipowski in Rau/Dürrwächter, UStG, § 4 Nr. 8 UStG Rz. 600, 606 (Februar 2013). Abzugrenzen von reinen Beratungsleistungen, vgl. Huschens in Vogel/Schwarz, UStG, § 4 Nr. 8a UStG Rz. 60, 66 (November 2015), oder vertriebsunterstützenden Aufgaben wie etwa die Administration einer Vertriebsorganisation ohne Beteiligung an der konkreten einzelfallbezogenen Maklertätigkeit der angeschlossenen Vermittler, vgl. Handzik in Offerhaus/Söhn/Lange, UStG, § 4 Nr. 8 UStG Rz. 41 (Januar 2017); dies sind keine steuerbefreiten Finanzdienstleistungen, ebenso nicht wie Marketing- und Werbungsleistungen, die darin bestehen, dass sich ein Vertriebsunternehmen nur in allgemeiner Form an die Öffentlichkeit wendet, vgl. BFH v. 6.12.2007 – V R 66/05, BStBl. II 2008, 638 = UR 2008, 273; Handzik in Offerhaus/Söhn/Lange, UStG, § 4 Nr. 8 UStG Rz. 41 ff. (Januar 2017). Eine Marketing- und Werbeaktivität stellt gegebenenfalls keine Nebenleistung zur Vermittlung dar, wenn die Leistung ein im Großen und Ganzen eigenständiges Ganzes zu erfüllen hat, das die spezifischen und wesentlichen Funktionen einer Vermittlungsleistung gewährleistet, vgl. EuGH v. 21.6.2007 – C-453/05 – Ludwig, UR 2007, 617 m. Anm. Philipowski.

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Für einen erfolgreichen Produktvertrieb bedienen sich Vermittler zusätzlich des Internets als Absatzmedium, um einen möglichst breiten Kundenkreis erreichen und bedienen zu können. Im Rahmen dessen stellt sich die Frage, unter welchen Voraussetzungen die vom Betreiber der Internet-Plattform erbrachten Leistungen ggf. einer Steuerbefreiung unterliegen. Der BFH hat entschieden, dass die Tätigkeit eines Tippgebers (im Urteilsfall eine Versicherungsvermittlung, was aber m.E. auch für bestimmte Formen des Crowdfunding i.S. einer Kreditgewährungen gelten muss) die spezifischen und wesentlichen Merkmale einer Vermittlungsleistung aufweist, da der Tippgeber potentielle Kunden sucht und Interessenten mit dem Versicherer oder eben Darlehensgeber zusammenbringt, wobei die Leistung „in einer Nachweis-, Kontaktaufnahme- oder in einer Verhandlungstätigkeit bestehen“ kann, sich aber die Tätigkeit auf ein einzelnes Geschäft, das vermittelt werden soll, beziehen muss.116 Die im Urteil aufgeführten Kriterien können auch auf Dienstleistungen eines Internetportalbetreibers übertragen werden, denn eine Online-Plattform dient nicht ausschließlich der Produktpräsentation und der damit einhergehenden (zumeist erforderlichen) Werbemaßnahmen, sondern ermöglicht u.U. auch die Erfassung personenspezi­ fischer Daten (hier der potentiellen Kapitalgeber) sowie entsprechende Beratungsleistungen zu den jeweils angebotenen Produkten, die insgesamt den Interessenten beim Abschluss oder der Handhabung eines (Darlehens-)Vertrags unterstützen. Wenn Produkte ausführlich präsentiert und angeboten werden, Verträge vorgeschlagen werden und der Kontakt zum Finanzdienstleister hergestellt wird, fördert das Unternehmen ausdrücklich die Willensbildung des Besuchers der Internetseite zum Vertragsabschluss. Das Unternehmen muss (nicht tatsächlich, aber nach außen hin für den Kunden erkennbar) maßgeblich in die konkrete Vertragsanbahnung eingebunden sein, was jedenfalls der Fall ist, wenn der Vertrag direkt auf der „Vermittler-Website“ abgeschlossen wird.117 Letzteres impliziert neben der Steuerbefreiungsmöglichkeit aber bereits auf der Stufe davor das unmittelbare Motiv des Leistenden, der also im Bereich Crowdfunding via Angebot, Investoren und Kapitalsuchende über eine Online-Plattform zusammenzubringen möchte und dabei eine steuerbare Leistung ausführt, wenn er gegenüber diesen Parteien eine Gebühr / ein Entgelt verlangt bzw. von diesen erhält. Dies ist anders als bei den nachfolgend dargestellten Plattformen, die (unentgeltlich) ein Netzwerken zwischen Usern anbieten bzw. ermöglichen und dabei (zwangsläufig) Daten der User „einsammeln“ und ggf. anderweitig nutzen. 4. Datenbank- und sog. „Plattform“-Leistungen – Tauschgeschäfte mit Daten? Stellt man auf die umsatzsteuerlichen Grundprinzipien der Besteuerung des Verbrauchs ab, so ist fraglich, ob bei „kostenlosen“ Internetdiensten und Smartphone-­ Apps gegen die Einwilligung des Nutzers zur Verwendung der von ihm generierten

116 Vgl. BFH v. 28.5.2009 – V R 7/08, BStBl. II 2010, 80 = UR 2009, 846. 117 Vgl. Grambeck, UR 2011, 365 (368).

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Daten und gerade durch diese Datenverwendungsmöglichkeit im Bestimmungsland von einer Umsatzsteuerbarkeit (und -pflicht) auszugehen ist.118 Da steuerbar nur ein Leistungsaustausch ist, womit eine Gegenleistung (Entgelt) benötigt wird, ist fraglich, ob eine solche Gegenleistung an die Plattform dennoch an­ genommen werden kann, auch wenn diese ihre „Dienste“ kostenlos den Usern zur Verfügung stellt. Nach Art. 73 MwStSystRL zählt zur Bemessungsgrundlage der Umsatzsteuer alles, was den Wert der Gegenleistung bildet, die der Leistende vom Leistungsempfänger oder einem Dritten erhält. Das deutsche Gesetz formuliert das Entgelt in § 10 Abs. 1 UStG in umgekehrter und den Verbrauchsteuercharakter treffender Sichtweise: Alles, was der Leistungsempfänger aufwendet, um die Leistung zu erhalten. Daten haben in der heutigen Zeit – und künftig sicherlich noch mehr, denkt man an Big Data / Massendaten-Verarbeitungsmöglichkeiten als Sammelbegriff für digitale Technologien, die durch mehr Auswertungen neue Formen von Geschäft ermöglichen, wenn Daten in Datenbanken fließen und strukturiert verarbeitet bzw. semantisch miteinander in Kontext gebracht werden können – einen nicht unerheblichen Wert. Rein technisch gesehen, könnte ein unmittelbares Gegenseitigkeitsverhältnis der beiden „Vorgänge“, d.h. die Plattform stellt Dienste zur Verfügung und der User Daten, vorliegen und damit Umsätze. Dabei kommt es nicht darauf an, ob der Betreiber mit dem Benutzer einen zivilrechtlichen Vertrag über die Nutzung der Daten schließt oder nicht. Entscheidend wäre allein die Herbeiführung einer Verbrauchssituation. Eine solche wird aber in dieser Unmittelbarkeit durch Datenhingabe nicht erreicht. Es wird im Ergebnis nur mittelbar durch Beistellung ein Verbrauch beim User geschaffen, nämlich das Sehen anderer User und das Sich-Vernetzen-Können mit anderen Usern. Für solche „moderne“ Leistungen etwa von Suchmaschinenbetreibern, Internetdiensten (wohl dann auch Online-Netzwerke und Online-Plattformen für Social Networking)119 und Smartphone-Apps hat das LG Berlin (zu Suchmaschinenbetreibern) 118 So bislang bejahend bei Melan/Wecke, DStR 2015, 2267; Melan/Wecke, DStR 2015, 2811; Bräutigam, MMR 2012, 635; Lamensch, Value Added Tax in the Digital Era, Vol. 36 (IBFD 2015, Online Books IBFD), S.  67  ff.; Pfeiffer, International VAT Monitor 2016, 158  ff.; Melan/Pfeiffer, DStR 2017, 1072 ff.; Ehrke-Rabel/Pfeiffer, SWK 2017, 532; a.A. aber Grambeck, DStR 2016, 2026; Looks/Bergau, MwStR 2016, 864. Mit einer Arbeitsgruppe auf deutscher Bundesfinanzverwaltungsebene wird derzeit die Diskussion darüber begonnen. Auch Österreich zieht die Erhebung der Umsatzsteuer auf kostenlose Online-Dienste in Erwägung, vgl. Hoke, Tax Notes International 2017, 458. Vgl. auch Hinweise und erwägende Möglichkeiten der OECD, in BEPS Action 1: 2015 Final Report, Adressing the tax challenges of the Digital Economy, S. 171 ff. 119 Dieser Frage der Vergleichbarkeit der angebotenen Dienste müsste jedoch ebenso noch genauer nachgegangen werden (und damit, ob dieses Urteil des LG Berlin überhaupt auf andere Online-Dienste Anwendung findet), da es schon vom Leistungswillen her auch einen Unterschied machen kann, ob sich User beispielsweise eine App extra herunterladen müssen und wollen, ob man etwa bei kostenlosten E-Mail-Accounts (Messagingoder (Video-)Telefonie-Dienste) ein konkreteres Rechtsbewusstsein und Motiv einer

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festgestellt, dass die „kostenlosen“ Internetdienste und Smartphone-Apps nicht als (unentgeltliche) Schenkung anzusehen seien. Stattdessen seien die IT-Dienstleistungen mit der Einwilligung des Nutzers  – zumindest bei persönlicher Anmeldung  – beim IT-Dienstleister verknüpft, um die von ihm generierten Daten zu Werbezwecken verwenden zu lassen. Damit stünden sie in einem Gegenseitigkeitsverhältnis.120 Die umsatzsteuerlichen Auswirkungen für derartige Geschäftsmodelle in der Praxis – insbesondere in den jeweiligen kostenlosen (Basis-)Modulen – wären enorm. Nach dem Urteil des LG Berlin könne es dahingestellt bleiben, ob die Plattform einzelne Dienste – möglicherweise auch ohne Abschluss eines Vertrags – kostenlos zur Verfügung stellt. Jedenfalls bei einer persönlichen Anmeldung des Verbrauchers mittels Erstellen eines Kontos unterliegen die dann vereinbarten Nutzungsbedingungen der AGB-Kontrolle. Bei der Zurverfügungstellung der Dienste solle es sich nicht, wie erwähnt, um Schenkungen i.S.d. § 516 BGB handeln, wie dies eben der BGH in seiner Entscheidung v. 28.5.2009121 festgestellt habe. Denn ein Suchmaschinen-Betreiber wolle die aus der Zurverfügungstellung seiner Dienste erlangten Informationen – insbesondere für Werbemaßnahmen (z.B. Verkauf der Daten an Werbeindustrie) – weiterverwenden. Insofern läge hier ein Gegenseitigkeitsverhältnis in der Weise vor, dass der Verbraucher sein Einverständnis mit der Nutzung der von ihm generierten Daten erklärt. Dass diese Qualifizierung auch umsatzsteuerliche Auswirkung habe, sei doch dahingestellt. Im vom LG zitierten Urteil des BGH – was man sich in diesem Zusammenhang genauer ansehen muss – ging es darum, dass eine zugesagte Zuwendung für den Fall, dass ein bestimmtes Ereignis eintritt, auf das der Zuwendungsempfänger hinarbeiten soll, keine Schenkung ist. Es liegt danach nur dann ein formbedürftiges Schenkungsversprechen (§ 516 Abs. 1 BGB) vor, wenn sich die Parteien darüber einig gewesen wären, dass die Zuwendung unentgeltlich erfolgen sollte.122 Eine Zuwendung ist dann unentgeltlich, wenn sie rechtlich von einer den Erwerb ausgleichenden Gegenleistung unabhängig ist. Der Eintritt eines bestimmten Ereignisses (hier war das im BGH-Urteilsfall der Gewinn der Deutschen Meisterschaft im Ringersport, für den dem Trainer eine Bonuszahlung versprochen wurde) stellt für sich allerdings, wie das Berufungsgericht noch zutreffend angenommen hatte, keine Gegenleistung dar; der Eintritt des Ergebnisses kann daher, wenn er als Voraussetzung für den Anfall der Zuwendung vereinbart wird, keine Abhängigkeit von einer Gegenleistung begründen und steht damit der Bejahung einer Schenkung nicht entgegen. Allerdings kann eine entgeltliche Leistung auch dann vorliegen, wenn sie als Entlohnung für besondere Bemühungen des Zuwendungsempfängers erfolgt, die in dem zukünftigen Eintritt eines bestimmten Erfolgs (hier des Gewinns der Meisterschaft) sichtbar werden. Wer für derartige Bemühungen eine Zuwendung zusagt, beabsichtigt – jedenfalls in der „Datenhingabe“ hat als etwa bei einer Online-Registrierung auf einer Social Networking Plattform. 120 Vgl. LG Berlin v. 19.11.2013 – 15 O 402/12, MMR 2014, 563 ff.; so auch Melan/Wecke, DStR 2015, 2267. 121 Vgl. BGH v. 28.5.2009 – Xa ZR 9/08, WM 2009, 1760. 122 Vgl. auch BGH v. 17.6.1992 – XII ZR 145/91, NJW 1992, 2566, 2567.

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Regel – keine belohnende Schenkung, sondern schließt einen entgeltlichen Vertrag über die Entlohnung einer noch zu erbringenden besonderen Leistung.123 Dass die Zuwendung nur unter der Voraussetzung erfolgt, dass ein bestimmtes Ereignis in der Zukunft eintreten wird, und die vorzunehmende Handlung vor diesem Ereignis liegt, steht dem nicht entgegen. Denn auch ein einseitiges Rechtsgeschäft nach Art eines Preisausschreibens (§ 661 BGB) oder einer Auslobung (§ 657 BGB) bindet den Verpflichteten nach Vornahme der Handlung (§ 658 BGB); nichts Anderes gilt bei einem entsprechenden zweiseitigen Rechtsgeschäft. Eine zu entlohnende Leistung soll also die Tätigkeit des Trainers der Ringermannschaft (Kläger im Revisionsverfahren) darstellen, die er (jedenfalls auch) mit dem Ziel des Gewinns der Meisterschaft durch die von ihm trainierte Mannschaft erbringen sollte. Das Versprechen einer erfolgsabhängigen Zuwendung wird in einem solchen Zusammenhang regelmäßig zur Schaffung eines besonderen Leistungsanreizes gegeben. Für die Bejahung der Entgeltlichkeit der erfolgsabhängigen Zuwendung ist es ausreichend, dass die Leistung des einen Teils Bedingung für die Verpflichtung der anderen Seite sein soll; es kommt nicht darauf an, ob es sich um eine gleichwertige Gegenleistung handelt.124 Mit der vom Erfolg der Ringermannschaft abhängig gemachten Zuwendung schuf der Sportclub einen Leistungsanreiz für den Trainer, sich durch eine besondere Trainerleistung, die ihren objektiven Ausdruck im Erringen der Meisterschaft durch die von ihm trainierte Mannschaft finden sollte, eine zusätzliche Vergütung erarbeiten zu können. Dass der Trainer nicht für den Sportclub tätig war, war für den BGH ebenso unerheblich wie der Umstand, dass der Bedingungseintritt nicht allein von der Leistung des Trainers abhing. Fraglich ist dann aber, wie dies mit der Auffassung des BFH zum (Berufs-)Pokerspieler zusammengebracht werden kann, der keine Leistung gegen Entgelt erbringt, wenn er an Spielen fremder Veranstalter teilnimmt und ausschließlich im Erfolgsfall Preisgelder oder Spielgewinne erhält.125 Die Referenzierung auf dieses BGH-Urteil ist m.E. nicht geeignet, um einen steuerbaren Umsatz der Plattform anzunehmen und nicht nur eine unentgeltliche (daher nicht steuerbare) Dienstleistung, die im Rahmen ihres Unternehmens erbracht wird. Denn die User, die sich auf der Plattform anmelden, haben bereits nicht das unmittelbare Ziel (wie der Trainer der Ringermannschaft zum Erhalt eines Bonus) mit der Anmeldung, die Dienste zu erhalten, sondern es ist gerade umgekehrt: Die Dienste sind bereits da und können (unter bestimmten Bedingungen zwar) einfach und kostenlos genutzt werden; es ist auch lediglich ein überschaubares Mindestmaß an Daten

123 Vgl. BGH v. 11.11.1981 – IVa ZR 182/80, NJW 1982, 436. 124 Vgl. BGH v. 10.1.1951 – II ZR 18/50, NJW 1951, 268. 125 Vgl. BFH v. 30.8.2017 – XI R 37/14, UR 2017, 956 (siehe vorne auch Fn. 69); der BFH stützt sich bei seiner diesbezüglichen Begründung maßgeblich auf die Entscheidung des EuGH in Rechtssache Baštová, vgl. EuGH v. 10.11.2016 – C-432/15, UR 2016, 913. Hier hat der EuGH die Steuerbarkeit eines Preisgelds bei der Teilnahme an einem Pferderennen verneint. Der BFH weist abschließend darauf hin, dass neben der Finanzgerichtsbarkeit auch die Finanzämter verpflichtet sind, die Rechtsprechung des EuGH zu beachten.

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überhaupt von den Usern „preiszugeben“.126 Die kostenlose Zugänglichmachung (hier also in den unentgeltlich nutzbaren Social Media / Networking Plattformen), d.h. ohne monetäre Entgeltzahlung, und Nutzung eines Netzwerks „online“ stellt keinen Leistungsaustausch durch tauschähnlichen Umsatz im Sinne von „Daten gegen Dienste“, d.h. keine steuerbare Leistung des Plattform- / Networking-Anbieters dar. Der Austausch von Dienstleistungen gegen „Preisgabe von Daten“ wird in bestimmten Fällen, also ohne explizite Entgeltzahlung der User, nicht vom Tatbestandsmerkmal des Umsatzes in Art. 2 Abs. 1 lit. a und lit. c MwStSystRL erfasst. Denn: ȤȤ Auch bei nicht „online“ organisierten Netzwerken, z.B. Frauennetzwerken, die sich zum beruflichen oder fachlichen Austausch „vernetzen“ und im Rahmen einer Vereinigung organisiert sind, sich physisch treffen bzw. austauschen und zu diesem Zweck ebenfalls ihre Daten der Gruppe zur Verfügung stellen, wird keine umsatzsteuerbare Leistungserbringung vor allem durch die Vereinigung angenommen; auf den Status als „Verein“ kommt es auch sonst zur Begründung einer Unternehmereigenschaft oder wirtschaftlicher Tätigkeiten nicht an. So kann es keinen Unterschied machen, ob das Netzwerk – für eine bestimmte Gruppe / „Mitglieder“ – sich klassisch physisch trifft und vernetzt oder „online“ via Internet-Plattform, über die man sich registrieren kann und so als „Anmelder“ Zugang zu anderen registrierten Personen des Netzwerks (und auch eines dafür in der Praxis vorliegenden passgenauen Sponsoring beispielsweise) erlangt. Die einschlägigen Plattformen bezeichnen sich selbst als Betreiber sozialer Netzwerke; auf den Internetauftritten finden sich auch „Mitgliederverzeichnisse“ und in den AGBs z.B. der Hinweis, dass ein Nutzer, der sich für das soziale Netzwerk registriert, zunächst eine unentgeltliche Mitgliedschaft im sozialen Netzwerk erwirbt. Zur Wahrung des Neutralitätsprinzips ist es geboten, alle Verbrauchsituationen, unabhängig von der Rechts- oder Organisationsform und unabhängig vom „Vertriebsweg“, gleich zu erfassen. Daher kann es sich „online“ nicht um ein tauschähnliches Geschäft handeln und seitens der Plattformen um eine Dienstleistung an die User, die gegen eine Dienstleistung in Form der Duldung der Nutzung und Auswertung von Daten ausgetauscht wird.127 ȤȤ So ist diese Nichtsteuerbarkeit auch vergleichbar mit der Teilnahme an Gewinnspielen gegen Preisgabe von Daten für Zwecke der Datenerhebung. Diese Vorgänge wurden bisher umsatzsteuerrechtlich nicht erfasst, obwohl es einen „Markt“ für den Handel von Daten gibt und eine gewisse (mittelbare) Verbrauchsituation entsteht.128 126 Dass es auch „Fake Daten“ sein können bzw. zu einer Leistung der Plattform gegenüber anderen nicht auf ein davor bestehendes Rechtsverhältnis über eine Datenhingabe kommt, zeigt letztlich das Urteil des OLG Frankfurt a.M. v. 24.1.2018  – 13 U 165/16, becklink 2008928, in Bezug auf einen Adressenkauf mit Mängeln, wonach der, der bei einem Händler E-Mail-Adressen kauft, für deren Nutzung die Einwilligung fehlt, keinen Schadensersatz bekommt. 127 So auch Stadie in Rau/Dürrwächter, Einf. Rz. 145 und 226 ff. (März 2017). 128 Vgl. Melan/Wecke, DStR 2015, 2267 (2269), unter Verweis u.a. auf Federal Trade Com­ mission v. Mai 2014, abrufbar unter https://www.ftc.gov/system/files/documents/reports/

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Seit jeher werden personenbezogene Daten von bereits gewonnenen oder potentiellen Kunden von Unternehmen dazu verwendet, ihr Waren- und Dienstleistungsangebot zu verbessern und optimierter zu vermarkten. Das Sammeln, Speichern, Verarbeiten und Analysieren von Daten zu kommerziellen und anderen Zwecken hat sich in den letzten Jahren sehr verstärkt, unterliegt aber beim Datensammler im Verhältnis zum Datenübermittler eben nicht der Umsatzbesteuerung.129 ȤȤ In den Fällen, in denen in einem etwaigen Basis-Modul eines Online-Netzwerks keinerlei Entgelt von den Anmeldern gezahlt wird, um die „Kontaktbörse“ im Internet zu nutzen, d.h. in einem Standard-Modul bestimmte Aktionen ausführen zu können, z.B. andere Mitglieder zu sehen, diese anschreiben zu können, nach „bestätigter Vernetzung“ mehr Daten von den vernetzten Usern einsehen zu können, liegt auch keine tauschähnliche Entgeltlichkeit vor. Dies ist gerade bei vielen Plattformen / „Netzwerkanbietern“ die Unterscheidung, da der Umfang des „Vernetzens“ und „Datensehens“ in dem kostenlosen Basis-Modell im Vergleich zu einem zu bezahlenden Upgrade-Modul vom Anmelder / User bewusst entschieden werden kann. Dem normalen User ist eben nicht bewusst (mit eigenem Leistungswillen, sondern allenfalls aus Sicht des „Durchschnitts-Users“ in einem in Kauf genommenen Bereitstellen der Daten, um das Funktionieren des Vernetzens zu gewährleisten / zu ermöglichen), Daten hinzugeben, gerade wenn es auf einer Plattform zwei Möglichkeiten der Nutzung gibt, eine unentgeltliche und eine entgeltliche mit mehr Features. Der User will bei der kostenlosen Anmeldung das standardmäßige Vernetzen und Networking nutzen. So kann sich der User mit dem eigenen Nutzerprofil präsentieren und mit anderen Nutzern und Dritten in Echtzeit interagieren. Das ist sein Motiv. Eine konkludente Willenserklärung im Sinne des für den Leistungsaustausch erforderlichen (gegenseitigen) Rechtsverhältnisses liegt in einem kostenlosen Basis-Modul nicht vor, da die Daten „freiwillig“ und mittelbar zur Erreichung eines anderen Zwecks von den Usern hingegeben werden. Üblicherweise wird entsprechend den Nutzungsbedingungen der Plattform-Anbieter die Zustimmung mit Einwilligung der User des Online-Dienstes gegeben, die Daten zu nutzen.130 Nach Looks/Bergau131 sowie Englisch132 muss es sich gegebenenfalls wohl nur dann anders verhalten, wenn die (Durchschnitts-)User sich voll im Klaren über die Folgen und Verwicklungen sowie Reichweite einer solchen Einwilligung sind und in dieser Konsequenz auch die „Höhe ihres Entgelts“ erahnen können oder diesen selbst – was in der Regel nicht der Fall ist – einen relevanten wirtschaftlichen Wert data-brokers-call-transparency-accountability-report-federal-trade-commission-may-­ 2014/140527databrokerreport.pdf (abgerufen am 14.1.2018). 129 Vgl. Englisch, UR 2017, 875 ff. mit Hinweis auf OECD, Data-driven innovation for growth and well-being, 2015, S. 20. 130 Vgl. Grambeck, NWB 2016, 3931 (3937), bereits für die Datenerhebung ohne Zustimmung der User; EuGH v. 22.6.2016 – C-11/15 – Ceský rozhlas, UR 2016, 632. Dies muss wohl allemal im Zeitalter der neuen Datenschutz-Grundverordnung 2018, hier der Verordnung (EU) 2016/679, als Maßstab gelten. 131 Vgl. Looks/Bergau, MwStR 2016, 864. 132 Vgl. Englisch, UR 2017, 875 ff.

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beimessen dürften. Damit fehlt es – wie oben erwähnt – am Leistungswillen bzw. eines subjektiven unmittelbaren Ziels der User; auch die Plattformen selbst, fragt man verschiedene, haben rein wirtschaftlich und geschäftsausrichtend nicht das ausschließliche / vordergründige Interesse, einen Online-Dienst (kostenlos) an User anzubieten, sondern dies stellt nur das Mittel dar, um v.a. mit Blick auf den im Rahmen der Digitalisierung den Ausbau künstlicher Intelligenz und von Big Data zu erreichen. Damit fehlt es auch an einer unmittelbaren Verknüpfung in der Gegenrichtung eines vermeintlichen (heutigen) tauschähnlichen Umsatzes. Der BFH133 hat für Kontaktbörsen (Communities) im Internet entschieden, dass im Fall der entgeltlichen Mitgliedschaft, wonach ihre Kunden (User) der Zugriff auf persönliche Informationen anderer Mitglieder ermöglicht wird und eine Kontaktaufnahme i.S.  einer Partnervermittlung berechtigt sind, mit der Gewährung des Zugangs zu ihren Online-Communities an die zahlenden Mitglieder „auf elektronischem Weg“ sonstige Leistungen gegen Entgelt ausgeführt werden. Bisher wurde die Zurverfügungstellung von „kostenlosen“ IT-Dienstleistungen gegen Einwilligung zur Datenverwertung daher im Ergebnis zutreffend überwiegend als unentgeltliche Schenkung eingestuft.134 Man kann dies auch als vorliegende nicht steuerbare Leistungsbeistellung des Users sehen, denn es fehlt an der Leistungsqualität der Kundendaten.135 Denn höchstenfalls wird der User zur Erbringung der Leistung der Plattform, jedoch nicht für eine an sich, sondern an Dritte / Drittanbieter (z.B. zu Werbezwecken) beitragen.136 Wie z.B. Melan/Wecke selbst feststellen, obwohl diese letztlich einen steuerbarer Leistungsaustausch durch tauschähnliche Umsatz sehen, werden – selbst wenn dem User bewusst ist, dass seine Daten für Werbezwecke hingegeben werden, er also für einen Online-Dienst damit „bezahlt“ – die Daten für die Leistungserbringung an Dritte verwendet, also etwa zu Werbezwecken, worauf das Geschäftsmodell der Internet- / App-Anbieter u.a. basiert. Also nicht für eine unmittelbare Leistungserbring des Online-Dienstleisters an seine Nutzer. Das kostenlose Anbieten des Online-Dienstes stellt nur das Mittel zum Zweck dar, andere Leistungen gegen Entgelt an andere erbringen zu können.

133 Vgl. BFH v. 1.6.2016 – XI R 29/14, BStBl. II 2016, 905 = UR 2016, 789 m. Anm. Luther. 134 Vgl. Grambeck, DStR 2016, 2026 ff. 135 A.A. Melan/Wecke, DStR 2015, 2811 (2812); Baur-Rückert, Die Einheitlichkeit des Umsatzes im Mehrwertsteuerrecht, Diss., Erlangen-Nürnberg (noch nicht veröffentlicht), S. 104 ff. A.A. wie hier Englisch, UR 2017, 875 (878), der keine Beistellung annimmt, da bei Einwilligung des Users die Erhebung und Speicherung der Daten Voraussetzung für die Inanspruchnahme der Dienste durch den User ist. 136 Sofern man eine Leistungsbeistellung im Sinne der Finanzverwaltung, vgl. Abschn. 1.1 Abs. 6, 3.8 Abs. 2-4 UStAE, streng genommen nur für den Fall einer Leistungserbringung des Auftragnehmers an den Auftraggeber annehmen will, sollte keine „Beistellung“ vorliegen, was aber zu diskutieren wäre. Auch im Rahmen der Anhörung zum „Datenverwendungsmissbrauch bei Facebook“ vor dem US-Senat am 10.4.2018 stellte der Vorsitzende des US-Justizausschusses Grassley fest, dass es eben nicht das Geschäftsmodell von Facebook sei, Daten zu verkaufen und dass der Vielzahl der User eben nicht bewusst sei, dass etwa Datenhingabe zur individuell geschaltete Werbung führt.

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Das „ABC“ des Leistungsaustauschs

Zwar stellt der Steuerpflichtige mit seiner Plattform oder der Organisation eine gewisse gebrauchs- und verkehrsfähige Dienstleistung zur Verfügung und erhält dafür vom Benutzer Daten. Diese nutzt er jedoch – insbesondere im Bereich kostenlosen Nutzens der Plattform – beispielsweise für sich selbst, um Einnahmen aus Werbung137 zu erzielen, die auf der Internetseite geschaltet wird, um einen „Netzwerk-Effekt“138 (Vergrößerung der Gruppe als zentraler Faktor des wirtschaftlichen Erfolgs der Plattform) oder Daten in Bezug auf die Weiterentwicklung künstlicher Intelligenz zu erlangen (um zukünftig Daten für andere Leistungsformen zu nutzen und bereits davor als Anfangsform von Big Data rein ein Reporting zu ermöglichen) usw. Folglich ist entgegenzuhalten, dass etwa der Weiterverkauf der Daten an einen Dritten besteuert wird und somit die Einkünfte aus dem Tausch in die Gesamteinnahmen der Plattform einfließen. Die Beistellung ist nur mittelbar, nicht unmittelbar Voraussetzung, dass der User die vorgesehenen Online-Dienste in Anspruch nehmen kann. Die Daten des Users werden „beigestellt“, damit die Plattform andere (eigenständige) Leistungen gegenüber anderen Parteien erbringen kann. Englisch nennt dies die Besonderheiten „multilateraler Geschäftsmodelle“.139 Damit fehlt es zum einen an der Bestimmbarkeit der Leistung (und hier des Entgelts), zum anderen stellt das Hingeben von Daten lediglich eine (umsatzsteuerlich nicht beachtliche) Beistellung dar. Ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen der hingegebenen Leistung und der erhaltenen Gegenleistung fehlt. Wie oben dargestellt, muss für den unmittelbaren Zusammenhang Leistung und Gegenleistung innerlich derartig miteinander verknüpft sein, dass sich die Leistung auf den Erhalt einer Gegenleistung (zwischen diesen Parteien) ausrichtet und damit die gewollte, erwartete oder zu erwartende Gegenleistung auslöst. Ein „ungewisser“ Vorteil, den die Plattform als vermeintlicher Leistender erhält, soll nach Auffassung des EuGH140 in sonstigen Fällen nicht ausreichen. Besteht ferner kein tatsächlicher Gegenwert oder ist der Geldwert „schwierig zu beziffern“ oder ungewiss / schwankend, so dass der Wert einer als Gegenleistung empfangenen Dienstleistung nicht erforderlicherweise in einem Geldbetrag ausgedrückt werden kann, liegt kein Tauschgeschäft vor. Zudem ist diesbezüglich zu bedenken, dass die Daten nicht (wollte man deren Wert bemessen) im Zeitpunkt der Hingabe durch User über Einwilligungserklärung wohl ihren Wert erhalten, sondern erst zusammen mit vielen anderen Daten – nach derartigen Geschäftsmodellen – einen gewissen Wert erhalten und diese gesammelten Daten dann auch erst zu einem späteren Zeit137 So aber gerade im Fall des LG Berlin v. 19.11.2013 – 15 O 402/12, MMR 2014, 563 ff., und damit von den kostenlosen Basis-Modulen bei Social Media / Networking Plattformen zu unterscheiden. In diesem Sinne auch Bräutigam, MMR 2012, 640, der bei sozialen Netzwerken von einer – im Ergebnis m.E. abzulehnenden – „lizenzähnlichen Einräumung der Nutzung(srechte der) personenbezogenen Daten für Werbezwecke“ nennt, wenn damit eine steuerbare Gegenleistung für kostenlose Online-Dienste gemeint sein soll. 138 Vgl. Englisch, UR 2017, 875 ff. 139 Vgl. Englisch, UR 2017, 875 (880). 140 Vgl. EuGH v. 26.9.2013 – C-283/12 – Serebryannay vek, UR 2015, 864 m. Anm. König; v. 10.11.2016 – C-432/15 – Baštová, UR 2016, 913, Rz. 28 und 35.

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punkt einer „Bewertung“ zugänglich sind (und nicht im Zeitpunkt der Hingabe seiner Daten durch den User). Der Ansatz eines objektiven Werts (ggf. für eine angenommene Einwilligung oder Datenhingabe als Leistung) widerspricht der EuGH-Rechtsprechung. Der User misst seiner Einwilligung keinen Wert bei, zudem werden die Grenzkosten des Anbieters gegen Null gehen. Wie auch Pfeiffer feststellt, fehlt es bei kostenlosen Online-Diensten an dem „monetären Entgelt“, so dass auf einen User heruntergebrochen nicht bzw. nur sehr schwer und damit letztlich unbestimmbar im Rahmen eines tauschähnlichen Umsatzes die Kosten (der gemeine Wert) der eigenen Leistung für die Plattform ermittelbar sind.141 In diesem Zusammenhang ist das vom EuGH aufgestellte Kriterium einer Asymmetrie des Entgelts zu beachten. Eine Gebietskörperschaft, die eine Schülertransportdienstleistung erbringt, übt danach keine wirtschaftliche Tätigkeit aus. Auch wenn für Einrichtungen der öffentlichen Hand besonderen umsatzsteuerlichen Fragstellungen, gegebenenfalls besonderen sozialpolitischen Aspekten usw. nachzugehen ist, ist in der diesbezüglichen Rechtsprechung des EuGH142 für die Frage der Steuerbarkeit auf ein Rechtsverhältnis abzustellen, in dessen Rahmen gegenseitige Leistungen ausgetauscht werden, wobei die vom Leistenden empfangene Vergütung den tatsächlichen Gegenwert für die dem Leistungsempfänger erbrachte Dienstleistung bilden muss. Da der einzelne Wert der Daten (zumal die User auch einen unterschiedlichen Detailierungsgrad an Daten frei wählen können, eine Überprüfung der Richtigkeit der Daten seitens der Online-Dienste-Anbieter nicht im Detail erfolgt) nicht bestimmbar ist, an sich dann das Entgelt zu unterscheiden wäre bzw. dadurch schlichtweg nicht bestimmbar ist, ist ein etwaiger Beitrag der User (wie der im Urteilsfall der Eltern für den Schülertransport) eher einer Gebühr als einem Entgelt gleichzusetzen und folglich nicht wirtschaftlich bzw. steuerbar als Gegenleistung für einen vermeintlich empfangenen Online-Dienst. Es fehlt demnach bei der Hingabe von Daten bzw. durch die Einwilligung der User, ihre Daten nutzen zu dürfen – ob eine tatsächliche Nutzung und in welcher Form stattfindet, wurde vom Geschäftsmodell her bisher noch nicht beleuchtet, was ebenfalls vorzunehmen und mitentscheidend ist, denn tatsächlich ist vom Sachverhalt her zu differenzieren, dass manche Social Media / Networking Plattformen diese Daten eben gerade nicht verwenden, um z.B. „personalisierte“ Werbung zu schalten –, an der inneren Verknüpfung und Kausalität, an einem hinreichend konkreten positiven Wert. Denn, wie feststehend und soweit wiederholend, ist ein Leistungsaustausch (nur) anzunehmen, wenn zwischen Leistendem und Leistungsempfänger ein Rechtsverhältnis besteht, in dessen Rahmen gegenseitige Leistungen ausge141 Vgl. Pfeiffer, International VAT Monitor 2016, 158 (162), mit Verweis auf EuGH v. 2.6.1994  – C-33/93  – Empire Store, UR 1995, 64 m. Anm. Rothenberger; v. 3.7.2001  – C-380/99 – Bertelsmann, IStR 2001, 508. 142 Vgl. EuGH v. 12.5.2016 – C-520/14 – Gemeente Borsele, UR 2016, 520 m. Anm. Küffner = UR 2016, 543 m. Anm. Sterzinger, Rz. 24, unter Verweis auf die allgemeine Rechtsprechung außerhalb der öffentlichen Hand, z.B. EuGH v. 3.3.1994 – C-16/93 – Tolsma, UR 1994, 388, Rz. 14; v. 5.6.1997 – C-2/95 – SDC, DStRE 1997, 688, Rz. 45; v. 26.6.2003 – C-305/01 – MKG-Kraftfahrzeuge-Factoring, DStR 2003, 1253, Rz. 47.

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Das „ABC“ des Leistungsaustauschs

tauscht werden, wenn ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen der erbrachten Leistung und dem erhaltenen Entgelt besteht, wenn der Leistungsempfänger einen Gegenstand oder sonstigen Vorteil erhält, aufgrund dessen er als Empfänger einer Lieferung oder Dienstleistung angesehen werden kann und wenn (beim Leistungsempfänger oder am Ende der Unternehmerkette) ein Verbrauch im Sinne des europäischen Umsatzsteuerrechts vorliegt. Eine solche unmittelbare innere Verknüpfung und ein sich unmittelbar daraus entstehender Verbrauch ergibt sich durch etwa hingegebene Daten oder die kostenlose Nutzung eines Online-Netzwerks beim User nicht. Denn die Daten an sich sind nicht werthaltig, sondern nur die Verknüpfung der Daten, also was mit den Daten gemacht wird. Die innere Verknüpfung ist im Zweifel nicht im Sinne eines „um … zu“ zu verstehen ist. Es kommt vielmehr auf die Motive und das Ziel entscheidend an,143 was einen subjektiven Leistungsaustausch beschreibt und notwendig macht. Nach der früheren Ansicht des BFH setzte ein Leistungsaustausch voraus, dass die Leistung um der Gegenleistung willen erbracht wird.144 Entscheidend ist die Gesamtbetrachtung aus der Sicht des Durchschnittsverbrauchers.145 Soweit diese Gesamtbetrachtung nach frühere Auffassung der Finanzverwaltung einzig unter maßgeblicher Beteiligung des Willens der am Leistungsaustausch Beteiligten erfolgen sollte,146 ist diese Sichtweise durch die EuGH- und BFH-Rechtsprechung147, wie oben erwähnt, überholt. Entscheidend ist im Rahmen der Gesamtbetrachtung nunmehr das Wesen des Umsatzes aus der Sicht des Durchschnittsverbrauchers, was dieser als Leistungsinhalt beimisst. Hierbei ist jedoch Nieskens zu folgen, der auch die Sichtweise der am Leistungsaustausch beteiligten Personen zutreffend mit einbezieht, zumal auch die beteiligten Personen per se bereits auch als ein solcher Durchschnittsverbraucher gelten können.148 Im Ergebnis fehlt es neben dem Leistungswillen oder einem Rechtsbewusstsein der User insbesondere an der Bestimmbarkeit und Bewertbarkeit der Gegenleistung mit Blick auf die vom EuGH auch geforderte subjektive Bestimmung des Entgelts (was bisher im Sinne der Rechtssache Bertelsmann vorliegend noch nicht detailliert betrachtet wurde); wenn es aber eine solche, auf den einzelnen User heruntergebrochene Wertermittlung nicht gibt, gibt es auch schon keinen identifizierbaren Leistungsempfänger (zumal auch die Daten eines Users allen anderen Usern „zugute kommen“, nicht nur der Plattform) – vergleichbar zu den Zuhörern des Straßenmusikers, der 143 Vgl. hierzu EuGH v. 29.10.2009  – C-246/08  – Kommission/Finnland, UR 2010, 224, Rz. 40; so auch Robisch in Bunjes, UStG, 2017, § 1 Rz. 15-19. 144 Vgl. grundlegend BFH v. 7.5.1981 – V R 47/76, BStBl. II 1981, 495 = UR 1981, 147 m. Anm. Weiss. 145 Vgl. kritisch zum Durchschnittsverbraucher Nieskens in Rau/Dürrwächter, UStG, §  1 UStG Rz. 403 ff. (Januar 2016), § 3 Rz. 2875 (Oktober 2015). 146 Vgl. noch Abschn. 27 Abs. 1 Satz 4, 5 UStR 2005. 147 Vgl. EuGH v. 2.5.1996  – C-231/94  – Faaborg-Gelting, UR 1996, 220; v. 17.5.2001  – C-322/99 und C-323/99 – Fischer und Brandenstein, UR 2011, 2001, 293; dem folgend BFH v. 31.5.2001 – V R 97/98, BStBl. II 2001, 658; v. 9.10.2002 – V R 5/02, UR 2003, 145 m. Anm. Nieskens. 148 Vgl. Nieskens in Rau/Dürrwächter, UStG, § 3 UStG Rz. 2875, 3361 (Oktober 2015).

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seine Musik „bereits einfach so“ anbietet. So wird seit Langem vom EuGH in nun ständiger Rechtsprechung der Gegenwert als ein subjektiver Wert definiert, da die Besteuerungsgrundlage die tatsächlich erhaltene Gegenleistung ist, nicht aber ein nach objektiven Maßstäben geschätzter Wert.149 Dieser Wert muss als subjektiver Wert derjenige Wert sein, den der Empfänger der Dienstleistung den Dienstleistungen beimisst, die er sich verschaffen will, und dem Betrag entsprechen, den er zu diesem Zweck aufzuwenden bereit ist. Damit ergibt sich in dieser Folge einer definierten subjektiven Gegenleistung, dass es ein subjektiver Leistungsaustausch sein muss, der bei kostenloser Nutzung von Online-Diensten eben – wie oben beschrieben – mangels unmittelbaren Motiven „Online-Dienste gegen Daten“ fehlt. Eine Wert­ ermittlung sollte z.B. bei Englisch nur bei zahlungspflichtigen Online-Diensten eher unproblematisch sein bzw. eine Entgeltlichkeit „eindeutig bejahen oder verneinen,150 was m.E. nicht ganz der Fall ist, wenngleich im Ergebnis natürlich Bemessungsgrundlage der Umsatzsteuer dieses Entgelt (und nur dieses) für den Online-Dienst insgesamt ist. Denn denkt man das Problem im Vergleich zur bezahlten Plattform weiter, ist ein „Grundmodul“ dort ebenfalls enthalten und auch dort willigt der User in eine Datennutzungsmöglichkeit ein, wie übrigens auch sonst auf jeder Online-Seite, auf der ein „OK“ für Cookies abzugeben ist. Die Angabe der Daten ist nur notwendige Information und Mittel (ggf. „Beistellung“), um bestimmte Dienste / Apps überhaupt aufrufen zu können, kein Leistungswille und auch kein Dulden der Datenverwertung als „Duldensleistung“. Soll dann fiktiv daneben (neben der Bezahlung für ein „bezahltes Upgrade-Modul“) – sollte man einen tauschähnlichen Umsatz im kostenlosen Basismodul annehmen  – auch noch eine weitere Besteuerung auf Ebene der Plattform vorgenommen werden, um auch in diesem Modul die Datenhingabe des Users zu erfassen? Eine solche Besteuerung ein und desselben Vorgangs („kostenpflichtige Nutzung des Online-Dienstes“) mit Aufspaltung in zwei verschiedene umsatzsteuerlich qualifizierte Entgelte gebietet sich nicht. Betrachtet man vor diesem Gedanken dann aber die kostenlosen Online-Dienste, kann dort ebenfalls im Sinne der Gleichbehandlung keine Datenhingabe im tauschähnlichen Umsatz vorliegen. Derartige kostenlose Leistungen werden in Zukunft sehr wahrscheinlich eines der wichtigen Themen des Leistungsaustauschs und der Umsatzbesteuerung sein. Denn sie betrifft kostenlose Suchmaschinenbetreiber, unentgeltliche Accounts für Emails, Kurznachrichten oder sonstige Messaging-Dienste, Plattformen für soziale Netzwerke, Dating-Portale, Cloud-Speicherplätze, Teilnahme an Online-Spielen usw. Zu bedenken – und bisher hier nicht weiter problematisiert – ist dann natürlich für „private User“, ob bei Annahme eines tauschähnlichen Umsatzes, also eines unmittelbaren Zusammenhangs zwischen User und Plattform beim kostenlosen Online-Dienst, durch das Datenhingeben eine wirtschaftliche Tätigkeit des einzelnen Users begründet würde, die die User ab den bestimmten Umsatzschwellen dann zu Unternehmern i.S.d. Umsatzsteuerrechts macht. Eine solche dann nicht anzunehmen, würde schwer 149 Vgl. EuGH v. 23.11.1988 – 230/87 – Naturally Yours Cosmetics, Slg. 1988, 6365, Rz. 16, und v. 2.6.1994 – C-33/93 – Empire Stores, UR 1995, 64 m. Anm. Rothenberger, Rz. 18; v. 3.7.2001 – C-380/99 – Bertelsmann, DStRE 2001, 936, Rz. 22. 150 Vgl. Englisch, UR 2017, 875 (885).

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Das „ABC“ des Leistungsaustauschs

fallen, da ja die Argumentationslinie derer „pro Steuerbarkeit“ der Plattformleistung gerade sein soll, dass die User ihre Daten bewusst – dann aber wohl auch konsequenterweise wirtschaftlich, also gerade nicht passiv – hingeben.151 Auf der anderen Seite ist, selbst bei Annahme eines tauschähnlichen Umsatzes, natürlich als Gegenargument denkbar, dass wie etwa bei Sacheinlage des per se nichtunternehmerischen Gesellschafters gegen Anteilsgewährung seinerseits eben eine nicht steuerbare Gegenleistung und dennoch ein tauschähnlicher Umsatz vorliegt.

IV. Fazit – Ist die Umsatzsteuer nach 100 Jahren Gesetzesanwendung und -auslegung trotz verstärktem case-law zum Leistungsaustausch gerüstet für die weiteren wirtschaftlichen Entwicklungen? Die Fokusfrage des Beitrags war, ob die Umsatzsteuer bereits auf dieses moderne Handeln im ausgerufenen Zeitalter und Zeitgeist der Digitalisierung bzw. Digital Economy eingestellt ist, um „leicht und einfach“ anhand der bestehenden Abgrenzungskriterien das Vorliegen eines Leistungsaustauschs beantworten zu können. Die beschriebenen Einzelfälle zeigen auf, dass die Umsatzsteuer fit ist für das beschleunigte Wachstum von unterschiedlichsten Internet-Diensten.152 Denn sicher ist dies kein Modetrend, sondern zeichnet die Zukunft vor. Im ertragsteuerlichen Bereich werden etwa auch für Cloud Server virtuelle Betriebsstätten angedacht, so dass letztlich ein Ort der Besteuerung durch bewusste Qualifizierung einer digitalen Tätigkeit vorgegeben wird. Die Möglichkeit eines Unternehmens, trotz bedeutender Geschäftsaktivitäten mit digitalen Waren oder Dienstleistungen in einem Land keiner Besteuerung zu unterliegen, ist eines der mit der digitalen Wirtschaft verbundenen Besteuerungsprobleme unserer Zeit. Dieser Herausforderung stellt sich u.a. die OECD mit ihrem Diskussionspapier im Rahmen des Aktionsplans gegen BEPS (Base Erosion Profit Shifting). Sofern ein Unternehmen sog. „völlig entmaterialisierte digitale Aktivitäten“ ausführt und über eine „erhebliche digitale Präsenz“ in diesem Land verfügt, würde danach eine Betriebsstätte in diesem Land begründet werden. Für die Umsatzsteuer muss im Schritt vor einer Bestimmung des Leistungsorts geklärt werden, ob „digitale Aktivitäten“ auch „wirtschaftliche Aktivitäten“ sind und zwischen wem steuerbare Leistungen in einem Rechtsverhältnis erbracht werden.

151 Zuletzt zur Frage, wann eine wirtschaftliche Tätigkeit vorliegt, EuGH v. 2.6.2016, C-263/15 – Lajvér, UR 2016, 525, wonach dafür zu prüfen ist, ob die Höhe der als Gegenleistung erhaltenen oder zu erhaltenden Gebühr auf das Vorliegen eines unmittelbaren Zusammenhangs zwischen erhaltener Dienstleistung und Gebühr schließen lässt. Dies fragt man sich derzeit im Übrigen schon im ertragsteuerlichen Bereich, nämlich ob der „Kunde“ / User an der Wertschöpfung mitgewirkt hat. Nur durch Eingeben von Daten soll dies nach derzeitigem Diskussionsstand dort noch keine Wertschöpfung sein. 152 So auch gesehen im Zusammenhang mit der Schaffung des Mini-One-Stop-Shops von Kogels, International VAT Monitor 2015, 365.

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Dafür sollte an sich nach 100 Jahren Definierung des Leistungsaustauschs und den damit grundlegend und allgemeingültig vorliegenden Ausführungen das Handwerkszeug vorliegen, um auch für den weiteren strukturellen Wandel eine Einordnung in „steuerbar ja / nein“ vornehmen zu können. Allerdings zeigt die historische (Weiter-) Entwicklung der Definition zum Leistungsaustausch [formal weg vom sog. synallagmatischen Zusammenhang zwischen Leistung und Entgelt hin zum unmittelbaren Zusammenhang zwischen Leistung und Gegenleistung ohne die Notwendigkeit einer Finalität, d.h. leisten, um eine Gegenleistung zu erhalten], dass es darauf hinauslaufen muss, weitere Konkretisierungen und inhaltliche Anpassungen mit weiteren Verfeinerungen und Nuancen vorzunehmen. Scheinbar war dies zuletzt in der Vergangenheit durch case-law geschehen, wodurch etwa aus einem nicht steuerbaren Umsatz ein steuerbarer wurde, z.B. im Rahmen von Haftungsvergütungen oder Geschäftsführerleistungen von Gesellschaftern oder Aufhebungsverträgen. Dahinter steht jedoch im Ergebnis die weitere Formung des Leistungsaustauschs an die wirtschaftlichen Gegebenheiten und branchen- / bereichsspezifischen Besonderheiten, die auch in Zukunft erforderlich sein wird – trotz 100 Jahre Umsatzsteuer. Diese Anpassungen bzw. Konkretisierungen des bestehenden Gerüsts sollten dabei in Richtung eines subjektiven Leistungsaustauschs gehen, d.h. in Richtung des wirtschaftlichen Gehalts und Willens / Motivs der beteiligten Parteien (z.B. des beteiligten Durchschnitts-Users) und der Bestimmbarkeit der Leistung, der Gegenleistung und Bewertbarkeit der Gegenleistung, was die Frage zur Steuerbarkeit freilich nicht einfacher macht. Klar ist, dass „Online-Aktionen“ zu einer Vielzahl wirtschaftlicher, rechtlicher und technischer Probleme führen, die „weiter untersucht werden müssen“,153 idealerweise nicht an einzelnen Fällen, sondern durch den (europäischen) Gesetzund Verordnungsgeber.154

153 Vgl. Lamensch, Value Added Tax in the Digital Era, Vol. 36 (IBFD 2015, Online Books IBFD); Hellerstein, International VAT Monitor 2016, 118 (119). 154 So auch Englisch, UR 2017, 875 (885), der diese Frage nach der Steuerbarkeit infolge deren enormen fiskalischen und volkswirtschaftlichen Tragweite nicht von den Gerichten beantwortet wissen will.

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Mehrwertsteuerlicher Leistungsaustausch bei Umwandlungsvorgängen am Beispiel der Verschmelzung Inhaltsübersicht

I. Ausgangspunkt



II. Umwandlungsvorgänge III. Besonderheiten der Umwandlungs­ vorgänge IV. Leistungsaustausch bei Verschmel­ zungen 1. Leistungen und Gegenleistungen 2. „Grundfall“: Verschmelzung gegen ­Gewährung von Anteilen (Seitwärtsverschmelzung) 3. Austauschbeziehungen

V. Übertragung des Vermögens bei ­Verschmelzungen 1. Wesentliches Element der Verschmelzung 2. Leistung a) Keine Leistung b) Existenz von Leistendem und ­Leistungsempfänger c) Leistung kraft Gesetzes d) Geschäftsveräußerung setzt ­Leistung voraus



3. Inhalt der Leistung a) Übertragung des Vermögenssaldos b) Vielzahl von Umsätzen c) Andere Auffassung des EuGH? 4. Gegenleistung a) Übernahme der Verbindlichkeiten b) Gewährung von Gesellschafts- bzw. Anteilsrechten c) Bare Zuzahlung d) Aufgabe der Anteile durch die ­Anteilseigner des übertragenden Rechtsträgers

VI. Leistungen des Übernehmenden und der Anteilseigner 1. Übernahme der Verbindlichkeiten und Gewährung von Anteilen durch den Übernehmenden a) Übernahme der Verbindlichkeiten b) Gewährung von Anteilen 2. Aufgabe der Anteile durch die ­Anteilseigner des übertragenden Rechtsträgers VII. Zusammenfassung

I. Ausgangspunkt Die Frage, ob eine Leistung gegen Entgelt erbracht wird, ob also ein steuerbarer Leistungsaustausch i.S.d. § 1 Abs. 1 Nr. 1 UStG, Art. 2 Abs. 1 Buchst. a und c MwStSystRL vorliegt, ist eines der zentralen Themen des Mehrwertsteuerrechts. Die Fragen, die sich in diesem Zusammenhang stellen, sind ausgesprochen vielschichtig und so hatten in 100 Jahren Umsatzsteuer sowohl der Reichs- bzw. Bundesfinanzhof als auch der Europäische Gerichtshof bereits vielfach die Gelegenheit, sich dem Thema unter verschiedensten Gesichtspunkten zu nähern.1

1 Überblick z.B. bei Nieskens in Rau/Dürrwächter, UStG, 176. Lieferung 3.2018, §  1 UStG Rz. 906; Robisch in Bunjes, UStG, 16. Aufl. 2017, § 1 Rz. 58. S. auch Friedrich-Vache, 321 ff.

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Georg von Streit / Stefan Behrens

Bei all der Vielfalt dieser Entscheidungen hatten die Gerichte allerdings relativ selten die Gelegenheit, Feststellungen dazu zu treffen, inwieweit bei gesellschaftsrechtlichen Umwandlungsvorgängen ein Leistungsaustausch vorliegt.2 Die (wenigen) Urteile, die sich mit diesem Thema befassen, sind meist älteren Datums und beziehen sich weitestgehend nicht auf die heutige Rechtslage.3 Inwieweit also bei den heutzutage gesetzlich geregelten Umwandlungen des Umwandlungsgesetzes bzw. den nicht spezialgesetzlich geregelten Umstrukturierungsmaßnahmen ein steuerbarer Leistungsaustausch vorliegt, ist nicht abschließend geklärt. Dies ist u.E. ein guter Grund, zum Wiegenfest der Umsatzsteuer wieder einmal einen Blick auf diese Thematik zu werfen.

II. Umwandlungsvorgänge Restrukturierungsmaßnahmen können aus verschiedenen Gründen erforderlich oder sinnvoll für ein Unternehmen sein. Wesentliche Motivation sind häufig z.B. organisatorische Erfordernisse oder die Nachfolgeplanung. Eine Reorganisation erfolgt nicht selten aber auch zur Verminderung der persönlichen Haftung der Beteiligten, zur Sicherstellung der Kapitalausstattung und auch zum Zweck der steuerlichen Optimierung.4 Abhängig von den konkreten Rahmenumständen und insbesondere dem jeweiligen Ziel der Maßnahme können sich Unternehmen zum Zweck der Neuorganisation zum einen der im Umwandlungsgesetz vorgesehenen Formen der Restrukturierung bedienen. Bei diesen handelt es sich, cum grano salis, um einen abschließend geregelten5 Katalog von gesellschaftsrechtlichen Vorgängen, mittels derer entweder Unternehmensvermögen  – mit unterschiedlichen Konsequenzen6  – von einem Rechtsträger auf einen anderen übertragen oder Rechtsträger ohne Vermögensübergang in eine andere Rechtsform umgewandelt werden können. Zu den Umwandlungen nach dem Umwandlungsgesetz zählen gem. § 1 Abs. 1 UmwG – für jeweils näher bezeichnete

2 Auch in der Literatur steht die Thematik bislang eher selten im Fokus; so bereits Horn, UR 1995, 472. 3 Das Umwandlungsgesetz v. 28.10.1994, BGBl. I, 3210 (ber. am 22.3.1995, BGBl. I, 428) gilt seit 1995. Vor 1995 waren einzelne Möglichkeiten der Umwandlung in unterschiedlichen Gesetzen  – z.B. UmwG (1934, 1956 bzw. 1969), AktG, KapErhG, GenG, VAG  – geregelt. Verschiedene Formen der Umwandlung wurden durch das UmwG 1994  – unter Aufhebung  der jeweiligen Vorgängervorschriften  – zusammengefasst und systematisch vereinheitlicht. Zur Historie vgl. u.a. Lutter/Bayer in Lutter, Umwandlungsgesetz, 5. Aufl. 2014, Einleitung I, Umwandlungsrecht Rz. 5 ff. 4 Vgl. Lutter/Bayer (Fn. 3), Einleitung I – Umwandlungsrecht Rz. 1 ff; vgl. auch Schwedhelm in Schwedhelm, Die Unternehmensumwandlung, 8. Aufl. 2016, Einleitung. 5 Zum „numerus clausus“ des § 1 Abs. 1 und 2 UmwG vgl. Drygala in Lutter, Umwandlungsgesetz, 5. Aufl. 2014, § 1 UmwG Rz. 50. 6 Der übertragende Rechtsträger wird aufgelöst oder besteht weiter; die Übertragung führt zu einer Gesamt- oder einer Sonderrechtsnachfolge etc.

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Mehrwertsteuerlicher Leistungsaustausch bei Umwandlungsvorgängen

Rechtsträger – die Verschmelzung, die Spaltung (Abspaltung, Aufspaltung, Ausgliederung), der Formwechsel und die Vermögensübertragung. Zum anderen können die Unternehmen aber auch auf andere – nicht im UmwG geregelte – Umstrukturierungsmittel zurückgreifen. Mit diesen lässt sich zum Teil der gleiche wirtschaftliche Erfolg erreichen, allerdings ohne die strengen formellen Vorgaben des UmwG beachten zu müssen. Dies kann, abhängig vom Einzelfall, ein Vorteil sein.7 Zu diesen Umwandlungsvorgängen „im weiteren Sinne“ werden insbesondere die Anwachsung bei Ausscheiden eines Gesellschafters aus einer Personengesellschaft (§ 738 BGB)8 oder die Einbringung der Aktiva und Passiva in einen anderen Rechtsträger gegen Gewährung von Anteilen an diesem im Wege der Einzelübertragung gezählt.9

III. Besonderheiten der Umwandlungsvorgänge Die vorgenannten Umwandlungsvorgänge stellen recht komplexe Rechtsinstitute dar. Mit Abschluss der jeweils rechtlich erforderlichen Schritte kommt es zu einer Reihe von Rechtsänderungen, die durch gesetzliche Regelungen ex- oder implizit angeordnet werden. Die Änderungen treten, zumindest in den im UmwG geregelten Fällen, erst mit der Eintragung der Umwandlung ins Handelsregister ein. Außerdem sind an den Transaktionen – außer beim Formwechsel – im Regelfall mehr als zwei Parteien beteiligt. Dies sind auf jeden Fall der (alte und neue) Rechtsträger sowie beliebig viele Anteilseigner (beider Rechtsträger); außerdem kommt insbesondere bei Verschmelzungen und Spaltungen auch in Betracht, dass mehrere Unternehmen als übertragende bzw. übernehmende Rechtsträger involviert sind. Schließlich fließt zwischen den Beteiligten – anders als üblicherweise bei mehrwertsteuerlich relevanten Umsätzen – auch nicht notwendigerweise Geld. Es ergibt sich daher eine Reihe von Fragestellungen in Bezug darauf, ob und inwieweit der Eintritt der jeweiligen gesetzlichen Rechtsfolgen im Rahmen eines mehrwertsteuerlichen Leistungsaustauschs stattfindet und zwischen wem die Leistungsbeziehungen bestehen. Eine abschließende Klärung dieser Fragen im Rahmen dieser Festschrift verbietet sich bereits aus Platzgründen. Sie sollen daher am Beispiel der Verschmelzung diskutiert werden.

7 Vgl. hierzu z.B. Stengel in Semler/Stengel, Umwandlungsgesetz, 4. Aufl. 2017, Einleitung A Rz. 5. 8 Zum Begriff der Anwachsung sowie dem der Abwachsung bei Eintritt eines neuen Gesellschafters vgl. Schäfer in Münchener Kommentar zum BGB, 7. Aufl. 2017, BGB § 718 Rz. 7 f. 9 Zu diesen Umwandlungen „anderer Art“ vgl. Drygala (Fn. 5), § 1 UmwG Rz. 51 ff.

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IV. Leistungsaustausch bei Verschmelzungen 1. Leistungen und Gegenleistungen Voraussetzung für einen steuerbaren Leistungsaustausch ist zunächst, dass überhaupt eine Leistung ausgeführt wird, die in den Anwendungsbereich des Mehrwertsteuerrechts fällt. Zunächst muss also festgestellt werden, dass im Rahmen der wirtschaftlichen Tätigkeit i.S.d. Art. 9 MwStSystRL eine Leistung ausgeführt wird, die einen Verbrauch10 i.S.d. Mehrwertsteuersystems zur Folge hat. Der Leistende muss darüber hinaus ein über die reine Entgeltsentrichtung hinausgehendes eigenes wirtschaftliches Interesse verfolgen.11 Erst wenn geklärt ist, dass überhaupt eine solche Leistung vorliegt, ist die Frage zu prüfen, ob dem Tätigwerden des jeweiligen Unternehmers eine Gegenleistung gegenübersteht. Diese muss in einem unmittelbaren Zusammenhang mit der erbrachten Leistung stehen,12 was dann der Fall ist, wenn zwischen dem Leistenden und dem Leistungsempfänger ein Rechtsverhältnis besteht, in dessen Rahmen gegenseitige Leistungen ausgetauscht werden.13 2. „Grundfall“: Verschmelzung gegen Gewährung von Anteilen (Seitwärtsverschmelzung) Überträgt ein Rechtsträger A durch Verschmelzungsvertrag14 sein Vermögen unter Auflösung ohne Abwicklung auf den (bestehenden) Rechtsträger B, geht mit der ­Eintragung der Verschmelzung im Handelsregister das Vermögen des A einschließlich der Verbindlichkeiten auf B über.15 A als übertragender Rechtsträger erlischt und die vormaligen Anteilseigner des A (AntE-A) erhalten Anteile des aufnehmenden

10 Vgl. z.B. EuGH v. 29.2.1996  – C-215/94, ECLI:EU:C:1996:72  – Mohr, Slg 1996, I-959; EuGH v. 18.12.1997 – C-384/95, ECLI:EU:C:1997:627 – Landboden-Agrardienste, Slg 1997, I-7387; BFH v. 30.1.1997 – V R 133/93, BStBl. II 1997, 335 = UR 1997, 309. 11 Vgl. BFH v. 31.7.1969 – V 94/65, BStBl. II 1969, 637; vgl. auch Robisch (Fn. 1), § 1 Rz. 10. Nieskens (Fn. 1), § 1 UStG Rz. 425 ff. 12 Vgl. EuGH v. 5.2.1981 – 154/80, ECLI:EU:C:1981:38 – Coöperatieve Aardappelenbewaarplaats, Slg. 1981, 445, Rz. 12; EuGH v. 8.3.1988 – 102/86, ECLI:EU:C:1988:120 – Apple and Pear Development Council, Slg. 1988, 1443, Rz. 12. 13 Vgl. EuGH v. 3.3.1994 – C-16/93, ECLI:EU:C:1994:80 – Tolsma, Slg. 1994, I-743, Rz. 14. 14 Der Verschmelzungsvertrag wird gem. § 4 Abs. 1 UmwG durch die Vertretungsorgane der Rechtsträger geschlossen; die Anteilseigner beider Rechtsträger müssen ihm gem. §  13 Abs. 1 UmwG zustimmen. Anders bei der Neugründung: Der durch die Verschmelzung entstehende Rechtsträger ist nicht Vertragspartner des Verschmelzungsvertrages, da er bei Vertragsschluss noch nicht existiert; vgl. Grunewald in Lutter, Umwandlungsgesetz, 5. Aufl. 2014, § 36 Rz. 4. S. auch V.2.c. 15 Vgl. § 20 Abs. 1 Nr. 1 UmwG. Mit dieser Regelung wird die Gesamtrechtsnachfolge des übernehmenden Rechtsträgers in die Rechtspositionen des oder der übertragenden Rechtsträger angeordnet, die gem. § 2 UmwG mit einer Verschmelzung unabdingbar verbunden ist; Grunewald (Fn.14), § 20 Rz. 7.

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Rechtsträgers B.16 Diese Anteile können aus einer Kapitalerhöhung bei B stammen; möglich ist aber auch, bestehende Anteile zu übertragen. Die Eintragung der Verschmelzung hat also diverse Vermögensumschichtungen zur Folge. Wirtschaftlich gesehen geschieht Folgendes: Die AntE-A geben ihre Anteile auf, A überträgt sein gesamtes Vermögen auf B, B übernimmt die Wirtschaftsgüter und Verbindlichkeiten des A, A erlischt und B gibt Anteile an die AntE-A aus.17 3. Austauschbeziehungen Bei dieser Mehrzahl von Einzelvorgängen sind nun unter Berücksichtigung des wirtschaftlichen Gehalts18 der Vorgänge verschiedene Konstellationen von (Leistungs-) Austauschverhältnissen denkbar. So könnte die gesamte Transaktion so verstanden werden, dass die AntE-A ihre Anteile aufgeben, um die Anteile, die von B ausgegeben werden, zu erhalten.19 Die Anteilsaufgabe durch die AntE-A und die Gewährung der Anteile durch B stünden dann in einem Austauschverhältnis.20 Sähe man in diesen Anteilsvorgängen den wirtschaftlichen Hauptzweck der Verschmelzung, könnte man sogar im Weiteren die Vermögensübertragung von A auf B (einschließlich der Übernahme der Aktiva und Passiva des A durch B) als gesetzlich angeordnete, notwendige Voraussetzung für die vorgenannte Änderung in den Beteiligungsverhältnissen ansehen, die aber keinen eigenen wirtschaftlichen Zweck verfolgt. Sie könnte – ähnlich einer Beistellung – als mehrwertsteuerlich unbeachtlich betrachtet werden. Der Gesamtvorgang könnte aber auch so angesehen werden, dass die Übertragung des Vermögens von A auf B den wesentlichen Zweck der gesamten Transaktion darstellt. Dann wiederum wäre die Frage zu beantworten, ob hierfür eine Gegenleistung i.S.d. Mehrwertsteuerrechts erbracht wird. In diesem Fall könnte die Veränderung der Beteiligungsverhältnisse eine notwendige und vom Gesetz gewollte Folge ohne eigenen wirtschaftlichen Gehalt sein. 16 Vgl. § 20 Abs. 1 Nr. 2 und 3 UmwG. Der Wert der Anteile, die die (vormaligen) Anteilseigner des beendeten Rechtsträgers A nun am Rechtsträger B haben, entspricht im Prinzip wertmäßig ihren (früheren) Anteilen an A. 17 Es besteht außerdem die Möglichkeit, dass eine bare Zuzahlung geleistet wird; vgl. §  5 Abs. 1 Nr. 3 UmwG. 18 Das Mehrwertsteuersystem besteuert die wirtschaftlichen Realitäten. Es ist daher das „Wesen der Umsätze“ zu untersuchen. Vgl. z.B. EuGH v. 7.10.2010  – C-53/09 und C-55/09, ECLI:EU:C:2010:590  – Loyalty Management UK Ltd und Baxi Group Ltd, Slg. 2010, I-9187-9216, UR 2010, 857, Rz. 39. 19 So könnten die Ausführungen in BFH v. 13.3.1986  – V R 155/75, BFH/NV 1986, 500, Ziff. 2.b. der Entscheidungsgründe, verstanden werden. 20 Wobei damit noch nicht gesagt wäre, dass diese Tätigkeiten Leistungen i.S.d. Mehrwertsteuerrechts darstellen oder in den Anwendungsbereich der Mehrwertsteuer fallen bzw., wenn es sich um Aktivitäten handelt, die zu den wirtschaftlichen Tätigkeiten zu zählen wären, ob sie steuerpflichtig oder möglicherweise steuerfrei wären (z.B. nach §  4 Nr.  8 Buchst. f UStG).

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Sogar ein Austauschverhältnis zwischen A und den AntE-A wäre denkbar: Die AntE-A geben ihre Anteile auf, damit A sein Vermögen auf B überträgt und die AntE-A, wegen der daraus folgenden Verpflichtung der B zur Ausgabe der Anteile, schlussendlich Inhaber der Anteile an B werden. Es sind noch weitere Gedankenmodelle vorstellbar, wie die wirtschaftlichen Vorgänge miteinander zusammenhängen könnten. Wie dies u.E. sinnvollerweise tatsächlich zu sehen sein sollte, wird im Folgenden untersucht.

V. Übertragung des Vermögens bei Verschmelzungen 1. Wesentliches Element der Verschmelzung Nach Sinn und Zweck des Rechtsinstituts dürfte die Übertragung des Vermögens vom übertragenden auf den übernehmenden Rechtsträger das Kernstück einer Verschmelzung darstellen. Hierfür spricht schon der Wortlaut des §  2 UmwG (Verschmelzung „durch Übertragung des Vermögens“). Der Wegfall der Anteile am übertragenden und die Gewährung der Anteile am übernehmenden Rechtsträger sollen hingegen gewährleisten, dass das übertragene Vermögen weiterhin den „richtigen“ Anteilseignern zugerechnet wird.21 Diese Schritte sind, wirtschaftlich gesehen, also lediglich die Folge der Vermögensübertragung, nicht aber der essentielle Kern einer Verschmelzung. Dies zeigt sich u.a. darin, dass Anteile am übernehmenden Rechtsträger gar nicht zwingend zu gewähren sind – so z.B. bei einer Aufwärts- oder Abwärtsverschmelzung (§ 54 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 bzw. Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 UmwG), bei einer (Seitwärts-)Verschmelzung, bei der gem. §§ 54 Abs.  1 Satz 3, 68 Abs.  1 Satz 3 UmwG auf die Gewährung von Anteilen verzichtet wird, oder bei einer Verschmelzung auf eine natürliche Person (§  3 Abs.  2 Nr.  2 UmwG). Gleichwohl geht auch in diesen Fällen das Vermögen vom Übertragenden auf den Übernehmenden über. Im Folgenden wird daher als erstes untersucht, wie die Vermögensübertragung mehrwertsteuerlich einzuordnen ist. 2. Leistung a) Keine Leistung Zum Teil wird in der Literatur vertreten, dass es sich bei der Vermögensübertragung nicht um eine Leistung22 i.S.d. Mehrwertsteuerrechts handele. Eine solche Leistung sei zu verneinen, weil zum einen (von den Fällen der Abspaltung und Ausgliederung abgesehen) der übertragende Rechtsträger untergehe und der übernehmende Rechtsträ21 Hierzu und zu eventuellen Ausnahmen vgl. Schröer in Semler/Stengel, Umwandlungsgesetz, 4. Aufl. 2017, § 5 Rz. 9 ff. 22 Bzw. eine Leistungsmehrheit (vgl. unten V.3.).

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ger (vom Fall der Verschmelzung bzw. Spaltung durch Aufnahme abgesehen) erst eine logische Sekunde später entstehe, so dass es an dem Erfordernis eines Leistenden und eines Leistungsempfängers mangele (hierzu nachfolgend b). Zum anderen gehe das Vermögen kraft gesetzlicher Anordnung über (hierzu nachfolgend c).23 b) Existenz von Leistendem und Leistungsempfänger Es ist allerdings nicht ersichtlich, woraus sich ergeben soll, dass erforderlich ist, dass der leistende Unternehmer nach Ausführung der Leistung weiterbestehen muss bzw. der Leistungsempfänger bereits vor Empfang der Leistung bestehen muss. Im Gegenteil, wenn zivilrechtlich eine Vermögensübertragung vom einen Rechtsträger auf den anderen möglich ist, spricht nichts dagegen, dass auch für die Zwecke der Mehrwertsteuer ein Leistender und ein Leistungsempfänger vorhanden sind.24 Aus dem Gesetzestext ergeben sich auch keine Anhaltspunkte dafür, dass die Wirkungen der Eintragung im Register des übernehmenden Rechtsträgers25 durch „logische Sekunden“ getrennt nacheinander eintreten sollen. Die Regelungen sind u.E. vielmehr so zu verstehen, dass sämtliche Vorgänge im gleichen Zeitpunkt stattfinden. Dies zeigt im heutigen Recht insbesondere § 20 UmwG, der für die Wirkungen der Eintragung keinerlei (zeitliche) Rangfolge vorgibt. Es ist nicht ersichtlich, dass dies für mehrwertsteuerliche Zwecke anders zu sehen sein müsste.26 Auch der EuGH stellte in seinem Faxworld-Urteil vom 29.4.200427 nicht in Frage, dass die Übertragung des Vermögens einer Vorgründungsgesellschaft auf eine Vorgesellschaft grundsätzlich aus steuerbaren Umsätzen besteht28, obwohl die Vorgründungsgesellschaft danach gem. § 726 BGB wegen Erreichung des Gesellschaftszwecks endet.29

23 Vgl. Stadie in Rau/Dürrwächter, UStG, 176. Lieferung 3.2018, §  2 UStG Rz.  730  ff. und Stadie, UStG, 3. Aufl., Köln 2015, § 1 UStG Rz. 138 und § 2 Rz. 248. 24 Auch der BFH hatte – noch zu Umwandlungen vor Inkrafttreten des UmwG – nicht das Vorliegen einer Leistung des sich auflösenden übertragenden Rechtsträgers hinterfragt; vgl. BFH v. 22.4.1976 – V R 54/71, BStBl. II 1976, 518. BFH v. 13.3.1986 – V R 155/75, BFH/ NV 1986, 500, geht für den Fall der Umwandlung einer GmbH in eine OHG gem. § 24 i.V.m. § 16 UmwG 1956 vom Vorhandensein zweier Rechtsträger aus, obwohl der Übertragende mit der Eintragung des Umwandlungsbeschlusses aufgelöst wurde (§ 5 UmwG 1956) und der Übernehmende erst mit der Eintragung entstand (§ 18 Abs. 2 UmwG 1956). 25 Gem. § 19 UmwG erfolgt bei der Verschmelzung zur Aufnahme zunächst mit aufschiebender Wirkung die Eintragung im Register des/der übertragenden Rechtsträger/s, danach im Register des übernehmenden Rechtsträgers. Zur Verschmelzung durch Neugründung vgl. § 36 Abs. 1 UmwG. 26 So auch Reiß, UR 1996, 357 (367). 27 Vgl. EuGH v. 29.4.2004 – C-137/02, ECLI:EU:C:2004:267 – Faxworld, UR 2004, 362. 28 Die ggf. wegen § 1 Abs. 1a UStG nicht der Mehrwertsteuer unterliegen. 29 Zur sofortigen Vollbeendigung der GbR vgl. Schäfer in Münchener Kommentar zum BGB, 7. Aufl. 2017, BGB § 726 Rz. 8.

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Mit Blick auf den übernehmenden Rechtsträger ist es letztendlich aber auch bei der Verschmelzung durch Neugründung gar nicht zwingend richtig, dass er erst eine logische Sekunde später entsteht. Auf die Gründung sind vielmehr gem. §  36 Abs.  2 UmwG die allgemeinen Gründungsvorschriften anzuwenden. Demnach können z.B. offene Handelsgesellschaften und Kommanditgesellschaften gem. §§ 105, 161 Abs. 2 HGB auch bereits als solche vor der Eintragung ins Handelsregister bestehen.30 Auch Aktiengesellschaften und GmbHs sind – zumindest wirtschaftlich und darauf kommt es aus mehrwertsteuerlicher Sicht an31  – als sog. Vorgesellschaften schon vor der Eintragung ins Handelsregister vorhanden. Sie sind als Steuerpflichtige mit der später eingetragenen Kapitalgesellschaft identisch.32 c) Leistung kraft Gesetzes Zum anderen stünde dem Vorliegen einer Leistung auch nicht entgegen, wenn die Herbeiführung des Leistungserfolgs lediglich eine gesetzlich angeordnete Rechtsfolge wäre. Dies bestätigt schon § 1 Abs. 1 Nr. 1 Satz 2 UStG, dem zufolge die Steuerbarkeit nicht entfällt, wenn der Umsatz auf Grund gesetzlicher oder behördlicher Anordnung ausgeführt wird oder nach gesetzlicher Vorschrift als ausgeführt gilt.33 An der Richtlinienkonformität der vorgenannten Vorschrift (insb. deren 2. Alternative „nach gesetzlicher Vorschrift als ausgeführt gilt“) könnten sich zwar aus der Rechtsprechung des EuGH Zweifel ergeben. So hat der EuGH entschieden, dass keine gegenseitigen Leistungen erbracht würden, wenn sich die Pflicht, bestimmte Zahlungen zu leisten, aus dem Gesetz ergebe und nicht aus einem (individuell vereinbarten, vertraglichen) Rechtsverhältnis (vgl. IV.1.). In diesen Fällen könne zwischen einer gesetzlich zu einem Tätigwerden verpflichteten Einrichtung und den Personen, die im Gegenzug gesetzlich zur Zahlung einer Abgabe, Gebühr o.ä. verpflichtet seien, kein Leistungsaustausch stattfinden.34 Diese Rechtsprechung steht dem Vorliegen einer Leistung bei Verschmelzungen aber nicht entgegen. Der Vermögensübergang in den Fällen des UmwG ist nämlich nicht ausschließlich eine gesetzlich angeordnete Rechtsfolge, sondern beruht primär auf einem willentlichen Verhalten der beteiligten Rechtsträger. Nach § 13 und § 4 UmwG sind nämlich zunächst einmal sowohl Umwandlungsbeschlüsse der Rechtsträger als 30 Vgl. Bärwaldt in Semler/Stengel, Umwandlungsgesetz, 4. Aufl. 2017, § 36 Rz. 23. Betreiben sie kein Handelsgewerbe iSd § 1 Abs. 2 HGB, können sie bereits als GbR existieren. 31 S. auch EuGH v. 29.4.2004 – C-137/02, ECLI:EU:C:2004:267 – Faxworld, UR 2004, 362, Rz. 41 f. 32 Stadie in Rau/Dürrwächter, UStG, 176. Lieferung 03.2018, § 2 UStG Rz. 641; Fastrich in Baumbach/Hueck, GmbHG, 21. Aufl. 2017, § 11 Rz. 56.; jeweils m.w.N. 33 Vgl. hierzu auch von Streit/Behrens in Lademann, Umwandlungssteuergesetz, 2. Aufl. 2016, Umsatzsteuer Rz. 86 f.; allg. hierzu Peltner in BeckOK UStG, 16. Ed. 16.2.2018, UStG § 1 Rz. 136 ff. 34 Vgl. EuGH v. 18.1.2017 – C-37/16, ECLI:EU:C:2017:22 – SAWP, UR 2017, 230; EuGH v. 22.6.2016 – C-11/15, ECLI:EU:C:2016:470 – Český rozhlas, UR 2016, 632. Vgl. auch Tipke, DB 1968, Beilage 17, 1 (5), demzufolge keine Leistung vorliegt, die nach gesetzlicher Vorschrift als ausgeführt gilt, wenn Vermögen kraft Gesetzes übergeht.

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auch ein zwischen ihnen geschlossener Verschmelzungsvertrag erforderlich (vgl. oben IV.2.). Die Eintragung und ihre Wirkungen (§§ 19, 20 Abs. 1 Nr. 1 UmwG) stellen folglich lediglich den letzten Akt in einer Reihe von rechtlich relevanten Schritten dar. Auch der BFH hat daher – noch zur Verschmelzung nach den §§ 93a ff. GenG35 (die in den Grundzügen den Regelungen des UmwG 1994 entsprachen) – festgestellt, dass die Folgen der rechtsgeschäftlichen Maßnahmen zwar erst mit der Eintragung der Verschmelzung kraft Gesetzes einträten. Dies sei jedoch ohne Bedeutung, da die Eintragung lediglich die rechtliche Folge der zuvor entfalteten Tätigkeit – d.h. deren „technischer Vollzug“ – sei. Es finde also bei der Verschmelzung zweier Genossenschaften ein Leistungsaustausch statt.36 Es sind keine Gründe ersichtlich, warum diese Aussagen nicht auch für Verschmelzungen nach dem UmwG 1994 gelten sollen.37 Bei der Verschmelzung durch Neugründung könnte man ggf. entgegenhalten, dass gar nicht die Übertragenden und der Übernehmende handeln. Beteiligte des Rechts­ verhältnisses sind nämlich zunächst nur die übertragenden Rechtsträger, da der neue Rechtsträger z. Zt. des Abschlusses des Verschmelzungsvertrags noch nicht existiert.38 Der Verschmelzungsvertrag hat allerdings Drittwirkung,39 da die Folgen der Verschmelzungsakte den neuen Rechtsträger mit der Eintragung der Verschmelzung automatisch treffen (er braucht nicht selbst zu handeln und kann es auch gar nicht; selbst die Anmeldung der Verschmelzung zum Handelsregister wird gem. § 38 Abs. 2 UmwG durch die übertragenden Rechtsträger vorgenommen). Wirtschaftlich könnte man bei dem Verschmelzungsvertrag im Fall der Neugründung also von einem Vertrag zu Gunsten (Aktivvermögen) und zu Lasten (Passivvermögen) Dritter sprechen. Das dem Leistungsaustausch mit dem Übernehmenden zugrunde liegende Rechtsverhältnis dürfte sich also auch bei einer Verschmelzung durch Neugründung aus dem Verschmelzungsvertrag und den gesetzlich hieran geknüpften Rechtsfolgen ergeben.40

35 Diese Regelungen sind mit dem Inkrafttreten des UmwG zum 1.1.1995 außer Kraft getreten. 36 Vgl. BFH v. 22.4.1976 – V R 54/71, BStBl. II 1976, 518; bestätigend für die Verschmelzung nach §  339 AktG a.F., BFH v. 24.4.1980  – V B 35/79, UR 1980, 185, und FG Bremen v. 5.10.1978 – II 106/76, EFG 1979, 154; ebenso für Umwandlungen nach dem UmwG 1956, BFH v. 13.3.1986 – V R 155/75, BFH/NV 1986, 500. So auch Schaumburg, StuW 1973, 15 (16); Lippross, UR 2009, 118 (121); Pyszka, DStR 2011, 545. 37 Nach der Ansicht von Schwarz, UR 1990, 374, (noch zu den Regelungen des UmwG 1969) sollte kein Umsatz der übertragenden Gesellschaft vorliegen, weil die Umwandlung durch Beschluss der Gesellschafter, nicht durch die Gesellschaft (handelnd durch ihre Geschäftsführer), in Gang gesetzt wurde. Dieses Argument greift nach heutiger Rechtslage, wie vorstehend gesagt, schon deswegen nicht mehr, weil die Rechtsträger, nicht die Gesellschafter, einen Verschmelzungsvertrag schließen. 38 Vgl. Bärwaldt (Fn. 30), § 36 Rz. 10. 39 Er enthält ja auch gem. § 37 UmwG den Gesellschaftsvertrag des neuen Rechtsträgers oder stellt ihn fest. 40 Zum Verschmelzungsvertrag in diesen Fällen s. Schröer in Semler/Stengel, Umwandlungsgesetz, 4. Aufl. 2017, § 4 Rz. 1 und § 37 Rz. 1 ff.

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Des Weiteren unterfielen, würde man bei der Verschmelzung das Vorliegen steuerbarer Umsätze verneinen, weil das Vermögen kraft gesetzlicher Anordnung übergeht, letztendlich diverse Leistungen nicht der Mehrwertsteuer. So z. B. die Übereignung eines Grundstücks – auch hier schließen Verkäufer und Käufer zwar einen Kaufvertrag und erklären die Auflassung. Das Eigentum geht aber erst mit der Eintragung im Grundbuch (kraft Gesetzes) über.41 Insofern unterscheiden sich die vorgenannten Fälle (Verschmelzung, Grundstücksübertragung) auch von den o.g. vom EuGH entschiedenen Fällen.42 In diesen fehlte es an jeglichen individuellen Vereinbarungen zwischen den beteiligten Parteien. Selbst die Höhe der Abgaben wurde gesetzlich festgelegt. Dies ist aber bei Umwandlungsvorgängen, wie vorstehend dargestellt, mit Verschmelzungsbeschluss und -vertrag anders. Die Ausführungen des Gerichtshofs in diesen Urteilen sind daher nicht auf Verschmelzungsvorgänge übertragbar. d) Geschäftsveräußerung setzt Leistung voraus Abschließend ist anzumerken, dass die Übertragung von Vermögen in vielen Verschmelzungsfällen letztendlich gem. § 1 Abs. 1a UStG als Geschäftsveräußerung im Ganzen nicht der Mehrwertsteuer unterliegen wird.43 Dies spricht aber nicht gegen das vorstehend Gesagte, da § 1 Abs. 1a UStG voraussetzt, dass die Umsätze ohne diese Regelung der Mehrwertsteuer unterlägen. Die Vorschrift kann also nur dann eingreifen, wenn zuvor das Vorliegen einer Leistung bejaht worden ist.44

41 Vgl. von Streit/Behrens (Fn. 33), Umsatzsteuer Rz. 86 f. S. auch Püschel, UStR 1970, 181 (183). Ähnlich auch Reiß, StVj 1989, 103 (111), mit dem Hinweis auf Werklieferungen, bei denen das Eigentum nach § 946 BGB übergeht. 42 Vgl. EuGH v. 18.1.2017 – C-37/16, ECLI:EU:C:2017:22 – SAWP, UR 2017, 230; EuGH v. 22.6.2016 – C-11/15, ECLI:EU:C:2016:470 – Český rozhlas, UR 2016, 632 43 Was begriffsnotwendig bei einer (Voll-)Vermögensübertragung häufig der Fall sein wird, aber nicht zwingend der Fall sein muss. So z.B. wenn der Erwerber nicht die Absicht hat, das Unternehmen fortzuführen; vgl. EuGH v. 27.11.2003 – C-497/01, ECLI:EU:C:2003:644 – Zita Modes, UR 2004, 19; EuGH v. 10.11.2011 – C-444/10, ECLI:EU:C:2011:724 – Christel Schriever, Slg. 2011, I-11071. Auch bei grenzüberschreitenden Verschmelzungen ist nicht gesagt, dass § 1 Abs. 1a UStG (bzw. Art. 19, 29 MwStSystRL) Anwendung findet; insbesondere bei Beteiligung eines EWR-Staats oder wenn der andere Mitgliedstaat von dem Wahlrecht der Art. 19, 29 MwStSystRL keinen Gebrauch gemacht hat. Zur Anwendbarkeit der vorgenannten Vorschriften, wenn die Umsätze im Rahmen der Vermögensübertragung in mehr als einem Mitgliedstaat stattfinden, vgl. von Streit/Behrens (Fn.  33), Umsatzsteuer Rz. 31. 44 Weswegen nach der unter V.2.a. dargestellten Ansicht von Stadie z.B. Verschmelzungen nicht unter § 1 Abs. 1a UStG fallen können. Bei ihnen handele es sich nicht um Vermögens­ übertragungen durch Umsätze, sondern, wie beim Erbfall, um einen Fall der Gesamtrechtsnachfolge (der allerdings wiederum nicht von § 45 AO erfasst werde); vgl. Stadie in Rau/ Dürrwächter, UStG, 176. Lieferung 3.2018, § 2 UStG Rz. 731, und Stadie, UStG, 3. Aufl., Köln 2015, § 1 Rz. 43 und § 2 UStG Rz. 248; u.E. richtigerweise kritisch hierzu Reiß in FS Schaumburg, 2009, 1165 (1175).

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3. Inhalt der Leistung a) Übertragung des Vermögenssaldos Soweit das Vorliegen einer Leistung bejaht wird, wird diskutiert, welchen Inhalt die Leistung hat, die der übertragende Rechtsträger erbringt. Eine Auffassung verweist darauf, dass das Vermögen als Ganzes im Wege der Gesamtrechtsnachfolge übertragen werde. Übertragungsgegenstand sei daher auch für die Mehrwertsteuer das Reinvermögen, d.h. der Saldo von Aktiva und Passiva. Eine Aufteilung in Aktiva und Passiva (oder  – wie auch gesagt wird  – in ein Aktiv- und Passivvermögen) sei nicht möglich.45 Mit der Übertragung der diversen Wirtschaftsgüter und Verbindlichkeiten lägen daher keine einzeln zu beurteilende Umsätze vor, das Vermögen gehe vielmehr im Wege der Gesamtrechtsnachfolge als Einheit über.46 Diese Ansicht hat für sich, dass sie den zivilrechtlichen Grundlagen entspricht. Die zivilrechtliche Anordnung der Gesamtrechtsnachfolge, d.h. die Übertragung des Vermögens gem. § 2 UmwG „als Ganzes“47, soll eben gerade die einzelvertragliche Übertragung von Wirtschaftsgütern und Verbindlichkeiten entbehrlich machen.48 Mit der Eintragung der Verschmelzung besteht ein konkreter einheitlicher Zeitpunkt, zu dem das gesamte Vermögen, d.h. Aktiv- und Passivposten, übergeht. Bei Zugrundelegung dieser Auffassung, wäre allerdings zu klären, ob es sich bei der Gesamtleistung (Übertragung des Saldos von Aktiva und Passiva) um eine Lieferung oder eine sonstige Leistung handelt.49 Dies wäre für den Leistungsort, eventuelle Steuerbefreiungen etc. von Bedeutung. Im Übrigen stellte sich die Frage, ob §  1 Abs. 1a UStG auf diesen Umsatz Anwendung finden könnte.50 45 Vgl. Schaumburg, UStR 1974, 269 (270). 46 Vgl. Schaumburg, StuW 1973, 15 (18); Schaumburg, UStR 1974, 269 (270). Stadie in Rau/ Dürrwächter, UStG, 176. Lieferung 3.2018, § 2 UStG Rz. 731, und Stadie, UStG, 3. Aufl., Köln 2015, § 1 Rz. 43 und § 2 UStG Rz. 248, verneint wegen der Übertragung im Wege der Gesamtrechtsnachfolge überhaupt das Vorliegen einer Leistung; vgl. V.2.; kritisch auch Schwarz, UR 1990, 374. Die Gesamtrechtsnachfolge für die Bestimmung der Leistung als unbeachtlich ansehend BFH v. 13.3.1986 – V R 155/75, BFH/NV 1986, 500. 47 D.h. nicht per Einzelübertragung der einzelnen Vermögensgegenstände und Verbindlichkeiten; vgl. Kallmeyer/Marsch-Barner in Kallmeyer, UmwG, 6. Aufl. 2017, § 1 Rz. 7. 48 Das Eigentum an Grundstücken z.B. geht daher nicht erst mit der Eintragung des übernehmenden Rechtsträgers als Eigentümer im Grundbuch über, sondern mit der Eintragung der Verschmelzung im Handelsregister; es besteht dann ein grundbuchrechtlicher Berichtigungsanspruch. Vgl. Stratz in Schmitt/Hörtnagl/Stratz, 7. Aufl. 2016, UmwG § 20 Rz. 77. 49 Zur Einordnung als Lieferung oder sonstige Leistung vgl. z.B. BFH v. 18.2.2016 – V R 53/14, UR 2016, 436 m. Anm. Küffner = BFH/NV 2016, 811, wonach die Veräußerung eines Miteigentumsanteils an einer Sache (Buch) Gegenstand einer Lieferung sein kann. 50 Vgl. Schaumburg, UStR 1974, 269 (270), hat dies, zumindest mit Blick auf § 10 Abs. 4 UStG 1967 (§ 10 Abs. 3 UStG 1980), der bis zum 31.12.1993 die Bemessungsgrundlage für Geschäftsveräußerungen regelte, verneint, da dieser nur auf rechtsgeschäftliche Veräußerungen anwendbar sei, nicht auf Vermögensübertragungen kraft Gesetzes. Eine solche Beschränkung ergab sich u.E. weder aus dem früheren § 10 Abs. 4 UStG 1967 noch ergibt sie sich aus dem heutigen § 1 Abs. 1a UStG. Der EuGH hat die Anwendbarkeit der Art. 19, 29

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b) Vielzahl von Umsätzen U.E. ist aber ohnehin fraglich, ob das vorgenannte Verständnis des Leistungsinhalts auch für die Zwecke der Mehrwertsteuer Gültigkeit haben kann. Zwar vermeidet diese Auffassung das Erfordernis, die unterschiedlichen Umsätze jeweils im Hinblick auf eventuelle Steuerbefreiungen oder Steuersätze zu prüfen und die Bemessungsgrundlage51 auf diese Umsätze aufzuteilen. Es wäre also ein gewisser Vereinfachungseffekt gegeben.52 Gegen ein solches Verständnis sprechen aber bereits die Prinzipien, die der Regelung in § 10 Abs. 4 UStG 1967 (§ 10 Abs. 3 UStG 1980) zugrunde lagen. Diese Vorschrift regelte bis zum Inkrafttreten des § 1 Abs. 1a UStG, wie die Gegenleistung für eine (steuerbare) Geschäftsveräußerung im Ganzen  – also dem mehrwertsteuerlichen Pendant zur Übertragung des Vermögens als Ganzes gem. § 2 UmwG – zu bestimmen war. Nach § 10 Abs. 4 UStG 1967 sollte die Bemessungsgrundlage für die Geschäftsveräußerung „das Entgelt für die auf den Erwerber übertragenen Gegenstände (Besitzposten)“ sein, die Befreiungsvorschriften sollten unberührt bleiben und die übernommenen Schulden sollten nicht abgezogen werden können. Diese Regelung ging also davon aus, dass die Geschäftsveräußerung als Übertragung der einzelnen Wirtschaftsgüter und Verbindlichkeiten zu verstehen ist. Eine Saldierung der Aktiva und Passiva zur Ermittlung der Bemessungsgrundlage sollte nicht zulässig sein.53 Der in §  10 Abs.  4 UStG 1967 enthaltene Begriff der Geschäftsveräußerung sollte durch die Einführung des § 1 Abs. 1a UStG nicht geändert werden. Der Gesetzgeber des Jahres 1993 wies vielmehr explizit darauf hin, dass „(d)er Begriff Geschäftsveräußerung … im wesentlichen aus dem bisherigen § 10 Abs. 3 UStG [d.h. § 10 Abs. 4 UStG 1967] übernommen worden“ sei.54 Der Gesetzgeber ging also weiterhin davon aus, dass eine Geschäftsveräußerung aus (vielen) einzelnen Umsätzen des Übertragenden sowie der Übertragung der Verbindlichkeiten besteht. Es gibt keinen Grund, warum dies für eine Vermögensübertragung nach dem UmwG – auch wenn sie nicht unbedingt dem § 1 Abs. 1a UStG unterfällt – anders zu sehen sein sollte. Darüber hinaus darf nicht vergessen werden, dass der Leistungsinhalt für mehrwertsteuerliche Zwecke ohnehin nicht anhand der zivilrechtlichen Vorgaben zu bestim-

MwStSystRL sogar bei Übertragung von (allen) Anteilen an einer Gesellschaft potentiell für möglich gehalten; vgl. EuGH v. 29.10.2009 – C-29/08, AB SKF, Slg 2009, I-10413; EuGH v. 30.5.2013 – C-651/11, X BV, UR 2013, 618. Vgl. auch BFH v. 27.1.2011 – V R 38/09, UR 2011, 307 = BStBl. II 2012, 68. 51 Zur Gegenleistung vgl. unten V.4. 52 Für Verschmelzungsfälle wäre die Vorschrift des § 1 Abs. 1a UStG, deren Sinn und Zweck u.a. darin liegt, diese praktischen Schwierigkeiten zu vermeiden, daher zumindest in dieser Hinsicht nicht erforderlich. 53 Vgl. hierzu auch Klenk, UR 1982, 114 (115); Püschel, UStR 1970, 181 (185). 54 BT-Drucks. 12/5630 v. 7.9.1993, Entwurf eines Gesetzes zur Bekämpfung des Missbrauchs und zur Bereinigung des Steuerrechts, 84.

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men ist.55 Das Zivilrecht hat für die Mehrwertsteuer grundsätzlich keine Bedeutung.56 Dies gilt  – seit der Harmonisierung des Mehrwertsteuersystems innerhalb der Europäischen Union  – schon deswegen, weil die Begriffe des Mehrwertsteuerrechts unionsweit einheitlich auszulegen sind.57 Welches der Rechtsgrund für einen Umsatz ist und in welcher (zivil-)rechtlichen Form der Umsatz abgewickelt wird, kann folglich keine Rolle spielen. Wird z.B. ein Leasingvertrag über einen Gegenstand abgeschlossen, erbringt der Leasinggeber zivilrechtlich eine – einer Vermietungsleistung ähnliche – Dienstleistung.58 Mehrwertsteuerlich kann diese Dienstleistung aber als Lieferung zu werten sein.59 Es kommt daher mehrwertsteuerlich nicht darauf an, ob Vermögen zivilrechtlich aufgrund einer Vermögensübertragung uno actu oder auf der Grundlage konkreter Vereinbarungen durch eine Vielzahl von Einzelakten („asset deal“) übereignet wird.60 Mehrwertsteuerlich sind beide Fälle gleich zu behandeln. Es gilt also die Grundregel, dass jede Dienstleistung als eigene, selbständige Leistung zu betrachten ist.61 Da die einzelnen Übertragungsvorgänge keine einheitliche Leistung darstellen62, tätigt der übertragende Rechtsträger in beiden Fällen mit dem Übergang der Aktiva (Besitzpos55 Speziell zum Verhältnis von Mehrwertsteuer- und Umwandlungsrecht vgl. Reiß in FS Schaumburg, 2009, 1165 (1176). Zum Vorliegen eines Leistungsaustauschs vgl. BFH v. 16.1.2014 – V R 22/13, BFH/NV 2014, 736; zur zivilrechtlichen Abgrenzung von Leistung und Schadensersatz vgl. BFH v. 21.12.2016  – XI R 27/14, UR 2017, 459 m. Anm. Döring-Pauckert = BFH/NV 2017, 866. 56 Vgl. z.B. BFH v. 24.2.2005 – V R 1/03, HFR 2005, 887; BFH v. 6.12.2007 – V R 24/05, BFHE 219, 476. = UR 2008, 334 Im Einzelfall können die zivilrechtlichen Grundlagen hilfsweise für die mehrwertsteuerliche Beurteilung herangezogen werden. Vgl. Nieskens (Fn. 1), § 1 UStG Rz. 188 f.; Oelmaier in Sölch/Ringleb, 82. EL März 2018, UStG § 1 Rz. 45; Stadie in Rau/Dürrwächter, UStG, 176. Lieferung 3.2018, Einführung zum Umsatzsteuergesetz Rz. 703 ff. 57 Vgl. z.B. EuGH v. 8.2.1990  – C-320/88, ECLI:EU:C:1990:61  – Shipping and Forwarding Enterprise Safe BV, Slg. 1990, I-285, Rz.  7; EuGH v. 8.5.2003  – C-269/00, ECLI:EU:C:2003:254  – Seeling, UR 2003, 288, Rz.  46; EuGH v. 25.4.2013  – C-480/10, ECLI:EU:C:2013:263  – Kommission/Schweden, UR 2013, 423, Rz.  33. Vgl. auch Stadie, UStG, 3. Aufl., Köln 2015, § 1 UStG Rz. 9. 58 Vgl. Zehelein in BeckOK BGB, 45. Ed. 1.11.2017, BGB § 535 Rz. 68. 59 Vgl. z.B. EuGH v. 16.2.2012  – C‑118/11, ECLI:EU:C:2012:97  – Eon Aset Menidjmunt OOD, UR 2012, 230, Rz.  33  ff. EuGH v. 4.10.2017  – C‑164/16, ECLI:EU:C:2017:734  – Mercedes-Benz Financial Services UK Ltd, UR 2018, 14. 60 Ähnlich bei Forderungsabtretungen: Ob die Forderungen im Wege der Globalzession oder konkret im Einzelfall übertragen werden, macht für die mehrwertsteuerliche Behandlung keinen Unterschied; es handelt sich immer um gesonderte Umsätze. Für jede einzelne Übertragung einer Forderung kann der Zedent z.B. separat gem. § 9 UStG zur Steuerpflicht optieren; beim Zessionar ist für jede Forderung zu prüfen, inwieweit die Voraussetzungen des § 13c UStG gegeben sind. S. aber unten V.3.c). 61 EuGH v. 25.2.1999 – C-349/96, ECLI:EU:C:1999:93 – CPP, UR 1999, 254, Rz. 29. 62 Zum Begriff EuGH v. 27.10.2005 –C-41/04, ECLI:EU:C:2005:649 – Levob Verzekeringen BV und OV Bank NV, UR 2006, 20, Rz. 22. S. auch Wagner, 293 ff. Es ist nicht ersichtlich, dass die einzelnen Übertragungen eine einzige untrennbare wirtschaftliche Leistung bilden, deren Aufspaltung wirklichkeitsfremd wäre.

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ten)63 folglich eine Vielzahl separater Umsätze.64 Für diese ist u.a. jeweils gesondert der Leistungsort zu bestimmen. Außerdem können die Umsätze, sofern nicht §  1 Abs. 1a UStG (oder eine entsprechende Vorschrift im Ausland) eingreift, unterschiedlichen Steuerbefreiungen oder Steuersätzen unterfallen. Auch die Option zur Steuerpflicht kann separat ausgeübt werden. c) Andere Auffassung des EuGH? Zweifel an den vorstehenden Ausführungen könnte das Urteil des EuGH im Fall Swiss Re Germany Holding GmbH aufwerfen.65 Swiss Re übertrug 195 Rückversicherungsverträge entgeltlich auf eine Schweizerische Gesellschaft. Bei der Berechnung des Entgelts wurde für 18 der 195 Verträge ein negativer Wert angesetzt. Für die Bestimmung des Endpreises der Übertragung wurde der Wert dieser 18 Verträge von dem Gesamtwert der anderen 177 Verträge abgezogen. Der Generalanwalt, dessen Ausführungen der Gerichtshof in seinem Urteil folgte, führte in seinen Schlussanträgen aus, in den Verhandlungen zwischen Swiss Re und der Erwerberin seien die 195 Verträge in ihrer Gesamtheit betrachtet worden. Für ihre Übertragung habe die Erwerberin einen einheitlichen Preis für alle 195 Verträge gezahlt. Da eine wirtschaftlich einheitliche Dienstleistung im Interesse eines funktionierenden Mehrwertsteuersystems nicht künstlich aufgespalten werden dürfe, sei es aus mehrwertsteuerlicher Sicht nicht möglich, die Übertragung der Verträge, die einen positiven Wert hätten, von derjenigen der Verträge mit einem negativen Wert zu trennen, da der betreffende Umsatz als ein einheitlicher Umsatz angesehen werden müsse.66 Diese Ausführungen könnten auch bei einer Vermögensübertragung daran denken lassen, die Wirtschaftsgüter (mit einem positiven Wert) und die Verbindlichkeiten (mit einem negativen Wert) – wie unter V.3.a) dargestellt – zu saldieren. Auch der 63 Der Übergang der Verbindlichkeiten stellt naturgemäß keinen Umsatz des übertragenden Rechtsträgers dar. Die Übernahme der Verbindlichkeiten kommt aber als Gegenleistung des übernehmenden Rechtsträgers in Betracht (vgl. V.4.a.). Dazu, ob sie selbst eine Leistung darstellen kann, vgl. unten VI. 64 So, explizit für die Verschmelzung zweier Genossenschaften nach §§ 93 a ff. GenG, BFH v. 22.4.1976 – V R 54/71, BStBl. II 1976, 518, Ziff. 1.b. der Entscheidungsgründe; ebenso – noch zum UmwG 1956 – BFH v. 22.4.1971 – V R 86/67, BStBl. II 1971, 657. Zur Geschäftsveräußerung BFH v. 13.11.2003 – V R 79/01, BStBl. II 2004, 375. Vgl. auch Reiß, UR 1996 357 (367); Reiß, StVj, 1989, 103 (112); Pyszka, DStR 2011, 545; Klenk, UR 1982, 114 (116). Denkbar ist, dass einzelne der Umsätze im Rahmen des Vermögensübergangs zu einheitlichen wirtschaftlichen Vorgängen zusammengefasst werden können (z.B. die Lieferung einer zum Vermögen gehörigen Maschine mit den immateriellen Rechten, die die Herstellung der Produkte mit dieser Maschine rechtlich ermöglichen). Das ändert aber nichts daran, dass die übrigen Umsätze als separate Leistungen zu behandeln sind. 65 EuGH v. 22.10.2009 – C-242/08, ECLI:EU:C:2009:647 – Swiss Re, UR 2009, 891. 66 Schlussanträge des GA Mengozzi v. 13.5.2009 – C-242/08, ECLI:EU:C:2009:300 – Swiss Re, Slg. 2009, I-10099, Rz. 63; ihm folgend EuGH v. 22.10.2009 – C-242/08, ECLI:EU:C:2009:​ 647 – Swiss Re, UR 2009, 891, Rz. 56.

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übertragende und der übernehmende Rechtsträger bei einer Verschmelzung verhandeln im Regelfall über die Gesamtheit des Vermögens und der Übernehmer zahlt einen einheitlichen Preis, d.h. einen Preis für das gesamte Vermögen.67 Auch hier könnte man also sagen, der einheitliche Leistungsgegenstand dürfe nicht künstlich aufgespalten werden. Ob dies so ist oder nicht, kann anhand dieser einen Entscheidung allerdings nicht abschließend geklärt werden. Abgesehen davon, dass die Antworten des Gerichtshofs in den Entscheidungsgründen u.E. nicht den Kern der Fragen betrafen, die der BFH gestellt hatte68, wird nicht wirklich begründet, warum die Übertragung von Forderungen und die Übernahme von Verbindlichkeiten eine einheitliche Leistung darstellen.69 Da es auch keine weiteren Entscheidungen des Gerichtshofs zu ähnlichen Sachverhalten gibt, die die Ausführungen in Swiss Re besser verständlich machen, bleibt es vorläufig dabei, dass man die zugrunde liegende Gedankenführung und den möglichen Anwendungsbereich in weiten Teilen nur erahnen kann. Möglicherweise war die Annahme einer einheitlichen Leistung deswegen möglich, weil alle Forderungen und Verbindlichkeiten auf gleichartigen Verträgen beruhten. U.E. gibt dieses Urteil (noch) keinen Anlass, die Bestimmung des Leistungsinhalts bei der Übertragung von Unternehmensvermögen anders zu beurteilen als dies vorstehend getan worden ist. Es zeigt sich aber auch, dass die oben dargestellten Grundsätze nicht in Stein gemeißelt sind. 4. Gegenleistung a) Übernahme der Verbindlichkeiten Fraglich ist, ob es sich bei der Vermögensübertragung im Rahmen der Verschmelzung um eine Leistung handelt, der eine Gegenleistung gegenübersteht. Geld wendet der übernehmende Rechtsträger jedenfalls nicht auf.70 Auch Anteile gewährt der übernehmende Rechtsträger nicht zwingend.71 In erster Linie ist daher daran zu denken, dass der übernehmende Rechtsträger eine Gegenleistung dadurch erbringt, dass er die Verbindlichkeiten des Übertragenden übernimmt (§ 3 Abs. 12 UStG72). 67 Vgl. hierzu unten V.4. 68 Vgl. hierzu im Einzelnen von Streit, UR 2012, 293 (295). 69 Ob die Übertragung der Verträge eine Geschäftsveräußerung i.S.d. Art. 19, 29 MwStSystRL darstellte, hatte der EuGH mangels Vorlagefrage nicht zu prüfen; der BFH hatte dies im Vorlagebeschluss bereits verneint. Vgl. BFH v. 16.4.2008 – XI R 54/06, BFHE 221, 464 = UR 2008, 499, Buchst. B. der Entscheidungsgründe; hierzu auch Besson/Kunz, BB 2010, 165 (166). 70 Vgl. oben III. Abgesehen vom Fall der baren Zuzahlung gem. § 5 Abs. 1 Nr. 3 UmwG (s. unten V.4.c). 71 Vgl. oben V.1. 72 Stadie, UR 2009, 745, hat zwar mit Gründen, die in der Unternehmenspraxis durchaus ihre Berechtigung haben, ausgeführt, dass Tausch bzw. tauschähnliche Umsätze mit der Systematik des Mehrwertsteuerrechts nicht zu vereinbaren seien. Es dürfte aber durch die Rspr. geklärt sein, dass auch in diesen Konstellationen Umsätze i.S.d. Mehrwertsteuerrechts vor-

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Diese Möglichkeit scheidet der unter V.3.a) dargestellten Auffassung zufolge von vornherein aus. Wenn nämlich Gegenstand der Vermögensübertragung für mehrwertsteuerliche Zwecke der Saldo des Vermögens ist, sind die Verbindlichkeiten bereits Bestandteil der Leistung, ihre gesonderte Übernahme durch den übernehmenden Rechtsträger als Gegenleistung kommt nicht mehr in Betracht.73 Selbst wenn aber die Übertragung der Verbindlichkeiten nicht Bestandteil der Leistung wäre74, wurde eingewendet, dass gleichwohl keine Schuldübernahme durch den übernehmenden Rechtsträger vorliegen könne. Eine Schuldübernahme könne nämlich gem. §§ 414, 415 BGB nur durch Vertrag erfolgen und ein solcher werde nicht geschlossen.75 Abgesehen davon, dass diese Ausführungen zur übertragenden Umwandlung einer AG auf eine andere nach §  15 UmwG 1969 gemacht wurden und Umwandlungen i.S.d. § 1 Abs. 1 Nr. 1 – 3 UmwG 1994 auf Vertrag beruhen76, ist es aus mehrwertsteuerlicher Sicht gleichgültig, ob der Erwerber die Verbindlichkeiten aufgrund eines Vertrages i.S.d. §§ 414, 415 BGB übernimmt oder ob sie aufgrund der (Eintragung der) Verschmelzung auf ihn übergehen. Ausreichend ist, dass zwischen dem Leistenden und dem Leistungsempfänger ein „Rechtsverhältnis“ besteht, in dessen Rahmen gegenseitige Leistungen ausgetauscht werden.77 Welcher Art dieses Rechtsverhältnis ist, ist, wie unter V.3.b) ausgeführt, für die Mehrwertsteuer grundsätzlich ohne Bedeutung.78 Es müssten also (auch bei Zugrundelegung der Rechts­lage des UmwG 1969) der Umwandlungsbeschluss und dessen Eintragung – die bewirkte,  dass die Verbindlichkeiten auf den übernehmenden Rechtsträger übergingen  – ausreichen. Auf jeden Fall liegt aber bei Zugrundelegung des UmwG 1994 mit dem Verschmelzungsvertrag und dem Verschmelzungsbeschluss (und den sich an die Eintragung der Verschmelzung qua Gesetz anknüpfenden Folgen) ein solches Rechtsverhältnis vor, aufgrund dessen zwischen den Beteiligten Leistungen (Übertragung Aktiva) und Gegenleistung (Übernahme Passiva) ausgetauscht werden (vgl. V.2.c). Fraglich könnte dann zwar noch sein, ob zwischen der Übertragung (der Aktiva) des Vermögens und der Übernahme der Verbindlichkeiten ein unmittelbarer Zusammenhang besteht.79 Wie oben dargestellt besteht der Übergang des Vermögens als liegen; vgl. BFH v. 11.7.2012 – XI R 11/11, UR 2013, 330 = BFH/NV 2013, 326; EuGH v. 26.9.2013 – C-283/12, ECLI:EU:C:2013:599 – Serebryannay vek EOOD, HFR 2013, 1164. 73 Vgl. Schaumburg, StuW 1973, 15 (18); Schaumburg, UStR 1974, 269 (270). Möglicherweise ähnlich der EuGH, vgl. V.3.c. 74 Vgl. oben V.3.b). Vgl. hierzu auch Püschel, UStR 1970, 181 (185). 75 Vgl. Schaumburg, StuW 1973, 15 (18). 76 Vgl. oben IV.2. und V.2.c). Der Formwechsel i.S.d. § 1 Abs. 1 Nr. 4 UmwG ist mehrwertsteuerlich ohnehin unbeachtlich; vgl. Rasche in Rödder/Herlinghaus/van Lishaut, UmwStG, 2. Aufl. 2013, Anhang 10 Rz. 47. Bei Verschmelzungen war aber auch nach der alten Rechtslage z.B. nach § 340 AktG a.F. oder § 93c GenG a.F. ein Vertrag vorgeschrieben. 77 Vgl. IV.1. 78 Vgl. auch BFH v. 5.12.2007 – V R 60/05, UR 2008, 616 = BStBl. II 2009, 486, wonach es nicht darauf ankommt, ob sich das Rechtsverhältnis aus schuld- oder gesellschaftsrechtlichen Vereinbarungen ergibt. 79 Zu diesem vgl. IV.1.; vgl. auch BFH v. 21.12.2016 – XI R 27/14, UR 2017, 459 m. Anm. Döring-Pauckert = BFH/NV 2017, 866, m.w.N.

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Ganzes nämlich aus mehrwertsteuerlicher Sicht aus einer Vielzahl von Einzeltransaktionen, denen die Übernahme einer Vielzahl von Verbindlichkeiten gegenübersteht. An dem unmittelbaren Zusammenhang könnte es deswegen fehlen, weil im Verschmelzungsvertrag nicht geregelt wird, welche Verbindlichkeit vom übernehmenden Rechtsträger konkret für die Übertragung welches Besitzpostens übernommen wird. Dies ist, da das Vermögen gem. § 2 UmwG als Ganzes übertragen wird, zivilrechtlich schon nicht möglich.80 Dies bedeutet aber nicht, dass die Gegenleistung nicht den getätigten Leistungen zugeordnet werden kann. Der Fall ist vielmehr mit demjenigen vergleichbar, dass für mehrere Leistungen ein Gesamt- oder Pauschalentgelt entrichtet wird. Auch beim Vorliegen eines solchen wird nicht bezweifelt, dass der erforderliche unmittelbare Zusammenhang besteht, obwohl nicht von vornherein feststeht, welcher Anteil des gesamten Entgelts welchem Teil der Leistung zuzurechnen ist. Das Entgelt muss dann sachgerecht auf die einzelnen Leistungen aufgeteilt werden (was in der Praxis eine recht komplexe Übung darstellen kann). Die Aufteilung kann mehrwertsteuerlich insbesondere dann von Bedeutung sein, wenn die Übertragung der Aktiva – wie im Regelfall  – unterschiedlichen Steuersätzen oder -befreiungen unterliegt oder wenn die Besteuerung sogar an verschiedenen Orten stattfindet. Hierfür sollten aber auch im Fall der Verschmelzung die von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze zur Aufteilung von Gesamtentgelten Anwendung finden.81 Damit stellt die Übernahme der Verbindlichkeiten durch den übernehmenden Rechtsträger die mehrwertsteuerliche Gegenleistung für die Übertragung der einzelnen Wirtschaftsgüter des (Aktiv-)Vermögens dar.82 Unerheblich ist, ob die Übernahme der Verbindlichkeiten ihrerseits eine Leistung i.S.d. Mehrwertsteuerrechts darstellt.83 Die Gegenleistung muss keine Leistung i.S.d. § 1 UStG sein.84 Sie ist vielmehr, wie sich aus §§ 1 und 10 UStG ergibt, als Entgelt die Grundlage für die Bemessung der anfallenden Steuer. So stellt auch die Bezahlung mit Geld normalerweise keine Leistung dar.85 Letztendlich wurde zwar noch eingewendet, der übertragende Rechtsträger könne schon deshalb keine Gegenleistung mehr empfangen, weil er mit der Eintragung im 80 Vgl. BFH v. 23.7.1964 – V 290/61, BFHE 80, 172. 81 D.h. der Gesamtwert der Verbindlichkeiten wird nach einer sachgerechten Methode auf die übertragenen Aktiva aufgeteilt; vgl. hierzu Abschn. 10.1. Abs.  11 UStAE m.w.N. Soweit zusätzlich Anteile gewährt werden (vgl. unten V.4.b), ist der Wert dieser Anteilsgewährung in die Berechnung des Gesamtentgelts einzubeziehen. Zur Aufteilung vgl. auch BFH v. 22.4.1971 – V R 86/67, BStBl. II 1971, 657; BFH v. 23.7.1964 – V 290/61, BFHE 80, 172. 82 Vgl. u.a. BFH v. 22.4.1971 – V R 86/67, BStBl. II 1971, 657; BFH v. 24.4.1980 – V B 35/79, UR 1980, 185; BFH v. 13.3.1986 – V R 155/75, BFH/NV 1986, 500, Ziff. 3. der Entscheidungsgründe. Ebenso Pyszka, DStR 2011, 545 (546); Reiß, FS Schaumburg, 2009, S. 1176. 83 Vgl. hierzu unten VI. 84 So auch BFH v. 22.4.1976 – V R 54/71, BStBl. II 1976, 518, Ziff. 2.b. der Entscheidungsgründe. A.A. wohl Seer, DStR 1988, 367 (368) für den insoweit vergleichbaren Fall der Einbringung eines Unternehmens. 85 Vgl. hierzu Abschn. 1.1. Abs. 3 UStAE m.w.N. S. hierzu auch V.4.b.

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Handelsregister aufgelöst sei. Damit liege auf keinen Fall eine Leistung gegen Entgelt vor.86 Die Frage, ob eine Gegenleistung tatsächlich dann nicht vorliegen kann, wenn der Leistungsempfänger zwar die vereinbarten Aufwendungen tätigt (also die Verbindlichkeiten übernimmt), der Leistende hierdurch aber keinen Vorteil mehr erlangt (weil der Leistende aufgrund seiner Auflösung und Beendigung den Vorteil nicht mehr nutzen kann), kann hier dahingestellt bleiben.87 Diese Auffassung geht nämlich u.E. zu Unrecht offenbar davon aus, dass zunächst die Übertragung des Vermögens stattfindet, der übertragende Rechtsträger sich danach auflöst und der übernehmende Rechtsträger erst dann die Verbindlichkeiten übernimmt. Wie unter V.2.a) dargestellt, ergeben sich allerdings für ein solches Verständnis aus den zugrunde liegenden Vorschriften keine Anhaltspunkte. Die Vorgänge sind u.E. vielmehr so zu verstehen, dass sämtliche Vorgänge im gleichen Zeitpunkt stattfinden.88 b) Gewährung von Gesellschafts- bzw. Anteilsrechten Neben der Übernahme der Verbindlichkeiten kann die Gegenleistung des übernehmenden Rechtsträgers zusätzlich in der Gewährung von Anteilen an die vormaligen Gesellschafter des Übertragenden bestehen.89 Ebenso wie die Übernahme der Verbindlichkeiten (s. oben V.4.a) erfolgt die Gewährung der Anteile auf der Grundlage eines Rechtsverhältnisses in einem Austauschverhältnis.90 Die ausgegebenen Anteile sind das, was der übernehmende Rechtsträger vereinbarungsgemäß aufwendet. Bei Zugrundelegung des § 10 UStG stellen die ausgegebenen Anteile Entgelt i.S. dieser Vorschrift dar.91 Für den – vergleichbaren – Fall der Einbringung eines Einzelunternehmens in eine neu gegründete Gesellschaft gegen Erhalt von Gesellschafterrechten wurde zwar eingewendet, dass gar nicht die Gesellschaft dem Einbringenden die Anteile gewähre. Vielmehr erlange der Gesellschafter seine Gesellschafterstellung durch den Abschluss des Gesellschaftsvertrages als Gründungsakt. Selbst bei Anwendung einer wirtschaftlichen Betrachtungsweise verschaffe also nicht die in Gründung befindliche Gesell86 Vgl. Tipke, DB 1968, Beilage 17, 1 (6). 87 Logische Folge wäre an sich, dass sich die Bemessungsgrundlage für die Vermögensübertragung nachträglich auf „Null“ ändert. 88 Auch für den BFH, der das Vorliegen von Leistung und Gegenleistung bejahte, schien es ohne Bedeutung zu sein, dass der Übertragende sich mit der Verschmelzung auflöste. Vgl. BFH v. 22.4.1971 – V R 86/67, BStBl. II 1971, 657. Vgl. aber auch unten V.4.d). 89 Vgl. BFH v. 22.4.1971 – V R 86/67, BStBl. II 1971, 657; BFH v. 23.7.1964 – V 290/61 U, BFHE 80, 172. Wie unter IV.2. gesagt, können auch bestehende Anteile übertragen werden; dies führt aber mehrwertsteuerlich zu keinen anderen Ergebnissen. 90 Zur Gewährung der Anteile „verpflichtet“ er sich im Gegenzug dafür, dass er das Vermögen des Übertragenden erhält. Zum kausalen Zusammenhang vgl. auch BFH v. 22.4.1976 – V R 54/71, BStBl.  II 1976, 518, Ziff. 2.a. der Entscheidungsgründe; BFH v. 13.3.1986  – V R 155/75, BFH/NV 1986, 500, Ziff. 2.b. der Entscheidungsgründe. Vgl. auch FG Bremen v. 5.10.1978 – II 106/76, EFG 1979, 154. 91 Vgl. BFH v. 22.4.1976 – V R 54/71, BStBl. II 1976, 518, Ziff. 2.a. der Entscheidungsgründe.

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schaft dem Einbringenden seine Gesellschafterstellung92, er verschaffe sie sich vielmehr selbst. Damit erlange er seine Gesellschafterstellung nicht als Gegenleistung der Gesellschaft.93 Diese Einwände, die gegen das Vorliegen einer Gegenleistung bei Einbringungen vorgebracht wurden, müssten entsprechend bei einer Verschmelzung durch Neugründung greifen.94 Für die Einbringung eines Einzelunternehmens in eine bestehende Gesellschaft geht die vorgenannte Auffassung allerdings davon aus, dass die Ausgabe der Anteile eine (Gegen-)Leistung der Gesellschaft darstelle. Dies entspricht auch der Auffassung des EuGH zur Ausgabe neuer Anteile.95 Würde man nun im Fall der Verschmelzung durch Aufnahme von einer Gegenleistung der Gesellschaft (und damit einem Leistungsaustausch) ausgehen, im Fall der Verschmelzung durch Neugründung aber nicht, ergäbe sich ein mehrwertsteuerlich unzulässiger Wertungswiderspruch. Da wirtschaftlich vergleichbare Vorgänge nach dem auch im Europarecht verankerten Grundsatz der Gleichbehandlung96 nicht ohne sachlichen Grund unterschiedlich behandelt werden dürfen, wäre eine solche voneinander abweichende Behandlung nicht statthaft. Ein sachlicher Grund ist aus mehrwertsteuerlicher Sicht nicht erkennbar97, so dass in beiden Fällen davon auszugehen ist, dass eine Gegenleistung der Gesellschaft vorliegt. Zweifel daran, dass die Ausgabe der Anteile eine Gegenleistung für die Vermögensübertragung darstellt, könnten sich außerdem deswegen ergeben, weil Art. 73 MwStSystRL bei der Definition der Gegenleistung nicht wie § 10 Abs. 1 Satz 2 UStG darauf abstellt, was der Leistungsempfänger aufwendet, sondern darauf, was der Leistende erhält oder erhalten soll. In der vorgenannten Situation sollte diese unterschiedliche Formulierung aber ohne Bedeutung sein.98 Letztendlich erhält der übertragende Rechtsträger mit der Gewährung der Anteile das, was ihm aus dem zugrunde liegenden Rechtsverhältnis zusteht. Bei dem Verschmelzungsvertrag handelt es sich inso92 Der Gesellschafter erlange die Rechte in einem Zeitpunkt, in dem die Gesellschaft mangels Existenz noch gar nicht an ihn leisten konnte. 93 Seer, DStR 1988, 367. 94 Beteiligte der Verschmelzung durch Neugründung sind nur die übertragenden Rechtsträger als Gesellschafter der übernehmenden Gesellschaft; vgl. V.2.c. 95 Vgl. EuGH v. 26.5.2005 – C-465/03, ECLI:EU:C:2005:320 – Kretztechnik AG, UR 2005, 382 = DStR 2005, 965, auch wenn es sich hierbei nicht um eine Leistung im Rahmen der wirtschaftlichen Tätigkeit handelt (s. auch unten VI.). 96 Zu diesem vgl. z.B. EuGH v. 7.3.2017 – C‑390/15, ECLI:EU:C:2017:174 – RPO, ABl. EU 2017, Nr. C 144, 5-6; UR 2017, 393 m. Anm. Dobratz, Rz. 38 ff; vgl. auch von Streit/Streit, UStB 2017, 174. 97 Insbesondere da der neu gegründete Rechtsträger im Zeitpunkt der Vermögensübertragung (d.h. im Zeitpunkt der Eintragung gem. § 36 Abs. 1 Satz 2 UmwG im Handelsregister) existiert. Es ist u.E. eher formalistisch, darauf abzustellen, dass die Anteile (an der GbR bzw. der Vorgesellschaft; vgl. V.2.b.) bereits vorher durch den Abschluss des Gesellschaftsvertrages entstanden sind – zumal sie ja auch erst im Zeitpunkt der Eintragung zu Anteilen an einer Personenhandels- bzw. Kapitalgesellschaft „erstarken“. 98 Nach Ansicht des BFH führen beide Vorschriften ohnehin zum selben Ergebnis; vgl. BFH v. 6.5.2010 – V R 15/09, UR 2010, 741 = BStBl. II 2011, 142. Vgl. hierzu Feil in BeckOK UStG, 15. Ed. 15.2.2018, UStG, § 10 UStG Rz. 27 ff.; Stadie in Rau/Dürrwächter, UStG, 176. Lieferung 3.2018, § 17 UStG Rz. 7.

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weit nämlich um einen Vertrag zugunsten Dritter.99 Dritte sind die vormaligen Anteilseigner des Übertragenden, die unmittelbar einen Anspruch auf Beteiligung an dem übernehmenden Rechtsträger erwerben.100 Nur an diese können die Anteile folglich mit befreiender Wirkung gegenüber dem Übertragenden gewährt werden. Da dies in dem Verschmelzungsvertrag so vereinbart wird, erhält der Übertragende mit der Gewährung der Anteile an seine vormaligen Anteilseigner die vertraglich vereinbarte Gegenleistung.101 Bei einer anderen Sichtweise ergäbe sich sonst z. B. auch in den Fällen der Spaltung ein nur schwer zu begründender Unterschied zwischen der Behandlung der Ausgliederung gemäß §  123 Abs.  3 UmwG und den anderen Arten der Spaltung. Bei der Ausgliederung werden die Anteile am übernehmenden Rechtsträger dem übertragenden Rechtsträger gewährt. Hier dürfte also der Kausalzusammenhang zwischen Vermögensübertragung und Anteilsgewährung unstreitig gegeben sein. Würde man dies bei der Auf- bzw. der Abspaltung anders sehen, käme es zu einer unterschiedlichen Behandlung wirtschaftlich vergleichbarer Vorgänge, die – wie vorstehend dargestellt – mehrwertsteuerlich nicht zulässig ist. Letztlich spricht auch nicht gegen den Charakter der Ausgabe der neuen Anteile als Entgelt, dass sie eine nichtwirtschaftliche Tätigkeit darstellt.102 Im Zusammenhang mit Sacheinlagen wurde in der Literatur zwar angemerkt, dass sich aus der EuGH-Entscheidung KapHag Renditefonds103 möglicherweise ergeben könnte, dass Sacheinlagen gegen Gewährung von Gesellschafterrechten als unentgeltliche Wertabgaben zu behandeln seien104, weil die Personen- oder Kapitalgesellschaft bei der Ausgabe der Anteile keine steuerbare Leistung an den Gesellschafter erbringe.105 Nach Auffassung des BFH ist eine solche Sacheinlage jedoch ein entgeltlicher Vorgang.106 Das EuGH-­ Urteil KapHag Renditefonds betreffe lediglich die Frage eines Leistungsaustausches aus der Sicht der Gesellschaft. Weder Wortlaut noch Sinn von § 1 Abs. 1 Nr. 1 UStG 99 BFH v. 22.4.1976 – V R 54/71, BStBl. II 1976, 518. 100 Sie müssen der Verschmelzung ohnehin durch Verschmelzungsbeschluss gemäß §  13 UmwG zustimmen. 101 Vgl. Reiß, UR 1996, 357 (368); Wohlschlegel, UStR 1975, 247 (248); von Streit/Behrens (Fn. 33), Umsatzsteuer Rz. 74 ff. 102 Vgl. EuGH v. 26.5.2005 – C-465/03, ECLI:EU:C:2005:320 – Kretztechnik AG, UR 2005, 382 = DStR 2005, 965. Werden bestehende Anteile übertragen (vgl. IV.2.), kann es sich entweder um Umsätze im Rahmen der wirtschaftlichen Tätigkeit handeln oder um nichtwirtschaftliche Tätigkeiten; vgl. z.B. EuGH v. 29.10.2009 – C-29/08, ECLI:EU:C:2009:665 – SKF, UR 2010, 107, Rz. 28 ff. S. hierzu auch VI.1.b. 103 Vgl. EuGH v. 26.6.2003  – C-442/01, ECLI:EU:C:2003:381  – KapHag Renditefonds, UR 2003, 443. 104 Was zum Ausschluss des Abzugs von Vorsteuern führen könnte, die im Zusammenhang mit diesem Vorgang gezahlt würden; vgl. BFH v. 9.12.2010 – V R 17/10, UR 2011, 313 = BStBl.  II 2012, 53; BFH v. 13.1.2011  – V R 12/08, UR 2011, 295 m. Anm. Filtzinger = ­BStBl. II 2012, 61. 105 Vgl. Jorde/Grünwald, BB 2004, 743 (744); s. hierzu auch Korf, DB 2003, 1705 (1708). Ähnlich bereits Seer, DStR 1988, 367 (368). 106 Vgl. BFH v. 13.11.2003 – V R 79/01, UR 2004, 312 = BStBl. II 2004, 375.

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und § 10 Abs. 1 UStG in richtlinienkonformer Auslegung verlangten, den Entgeltsbegriff dahingehend einzuengen, dass auch der Leistungsempfänger eine Leistung im umsatzsteuerlichen Sinne erbringen müsse.107 Diese Überlegungen gelten ebenso für den Fall der Verschmelzung. Soweit in Art. 73 MwStSystRL vom „Wert der Gegenleistung“ die Rede ist, ist damit lediglich gemeint, dass der Leistende für seine Leistung ein vermögenswertes Gut erhält.108 Dies ist mit den Anteilen, die der übernehmende Rechtsträger an den Übertragenden bzw. an dessen Anteilseigner ausgibt (oder mit den bestehenden Anteilen, die übertragen werden), der Fall. c) Bare Zuzahlung Wie bereits unter IV.2. angedeutet, kann der übernehmende Rechtsträger an die Anteilseigner des übertragenden Rechtsträgers auch eine bare Zuzahlung (vgl. § 5 Abs. 1 Nr. 3 UmwG) leisten.109 Diese ist – aus den gleichen Gründen wie die Gewährung der Anteile (vgl. V.4.b)  – als Gegenleistung für die Vermögensübertragung anzusehen. Dies hat auch der BFH ohne weitere Begründung als selbstverständlich angenommen.110 d) Aufgabe der Anteile durch die Anteilseigner des übertragenden Rechtsträgers Schließlich kommt noch in Frage, dass der „Verzicht“ der Anteilseigner des übertragenden Rechtsträgers auf ihre Anteile111 eine Gegenleistung für die Übertragung des Vermögens darstellt. Dies hatte der BFH in früherer Rechtsprechung so gesehen.112 Entgelt (i.S.d. § 10 Satz 2 UStDB 1951) sei nämlich auch, was ein anderer als der Empfänger dem Unternehmer für die Lieferung oder sonstige Leistung gewähre. Hiervon 107 Dies war zumindest vor dem Hintergrund des Gesetzeswortlauts von § 3 Abs. 12 UStG fraglich. Vgl. auch Wohlschlegel, UStR 1975, 247 (248), mit Hinweis auf § 10 Abs. 3 S. 2 UStG 1967 (heute § 10 Abs. 2 S. 2 UStG). 108 Vgl. Reiß, FS Schaumburg, 2009, 1165 (1182); es sei noch nie bezweifelt worden, dass eine Geldzahlung Entgelt und „Gegenleistung“ sei, obwohl Geld als Leistungsgegenstand nicht in Betracht komme. Reiß, UR 1996, 357 (363). 109 Zur baren Zuzahlung vgl. Schröer (Fn. 21), § 5 Rz. 31ff. 110 Vgl. BFH v. 22.4.1971 – V R 86/67, BStBl. II 1971, 657. Gleiches muss gelten, wenn der Anspruch durch Sachwerte erfüllt wird oder die Zuzahlung durch einen Gesellschafter geleistet wird; vgl. hierzu Stratz (Fn. 48), § 5 Rz. 66; Lanfermann in Kallmeyer, UmwG, 6. Aufl. 2017, § 5 Rz. 22. 111 Gem. § 20 Abs. 1 Nr. 2 UmwG erlöschen die übertragenden Rechtsträger. Die Anteile an ihnen gehen automatisch unter; vgl. Leonard/Simon in Semler/Stengel, Umwandlungsgesetz, 4. Aufl. 2017, § 20 Rz. 73a. Diese Rechtsfolge führen die Anteilseigner durch willentliches Handeln (Umwandlungsbeschlüsse und Verschmelzungsvertrag) herbei; vgl. oben V.2.c). 112 Zwar waren im entschiedenen Fall die formellen Anforderungen einer Umwandlung (nach dem UmwG 1934) nicht eingehalten worden. Wirtschaftlich sah der BFH (dem FG folgend) diesen Vorgang aber wie eine (formelle) Umwandlung an. Vgl. BFH v. 9.7.1964 – V 287/61 S, BFHE 79, 633.

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nahm er allerdings später Abstand. Er war nun der Ansicht, die Annahme einer Gegenleistung durch die Gesellschafter (als Dritte), die notwendigerweise dem übertragenden Rechtsträger gegenüber zu erbringen wäre, entfalle schon deswegen, weil der Übertragende infolge seiner Auflösung nicht Empfänger sein könne.113 Diese Begründung wird allerdings nicht weiter ausgeführt und kann eigentlich auch nicht überzeugen. Da alle Vorgänge gleichzeitig, d.h. im Zeitpunkt der Eintragung der Verschmelzung im Register des Übernehmenden stattfinden,114 kann auch der sich auflösende Übertragende noch Gegenleistungen empfangen. Ansonsten wäre auch nicht erklärbar, warum der BFH die Übernahme der Verbindlichkeiten als Gegenleistung für die Vermögensübertragung anerkennt.115 Könnte der übertragende Rechtsträger aufgrund seiner Auflösung nicht Empfänger einer Gegenleistung sein, wäre dies nämlich weder mit Blick auf die Aufgabe der Anteile noch hinsichtlich der Übernahme der Verbindlichkeiten möglich. Der „Verzicht“ auf die Anteile ist also nicht per se als Gegenleistung ausgeschlossen. Andererseits heißt dies aber auch nicht, dass er generell eine Gegenleistung für die Vermögensübertragung darstellt. U.E. muss hier differenziert werden. Bei der hier im Fokus stehenden Seitwärtsverschmelzung (Vermögensübertragung unter Gewährung von Anteilen) macht es keinen Sinn, die Aufgabe der Anteile durch die vormaligen Anteilseigner als Gegenleistung für die Vermögensübertragung anzusehen. So stellt nämlich, wie unter V.4.b) dargestellt, bereits die Gewährung der Anteile durch den Übernehmenden an die vormaligen Anteilseigner des Übertragenden eine Gegenleistung für die Vermögensübertragung dar. Der Wegfall der Anteile am Übertragenden geht wirtschaftlich in dieser Gewährung von Anteilen durch den Übernehmenden auf. Die vom Übernehmenden ausgegebenen Anteile (oder bei Übertragung bestehender Anteile116, deren Übergang) ersetzen wirtschaftlich den Wert der wegfallenden Anteile am Übertragenden. Sie sollen „weitgehend die gleichen Rechte verkörpern, die [der Anteilseigner] am übertragenden Rechtsträger hatte“.117 Da der Anteilseigner also im Prinzip nach der Verschmelzung wirtschaftlich die gleichen Anteile hält wie vorher, wendet er mit dem „Verzicht“ nichts im Gegenzug  für die Vermögensübertragung auf.118 Sähe man sowohl die Gewährung der ­Anteile durch den Übernehmenden als auch die Aufgabe der Anteile am Übertragen113 Vgl. BFH v. 13.3.1986 – V R 155/75, BFH/NV 1986, 500, Ziff. 2.b. der Entscheidungsgründe. 114 Dies war auch unter der der Geltung des UmwG 1956, das der Entscheidung zugrunde lag, nicht anders. 115 Vgl. oben V.4.a). 116 Vgl. oben IV.2. 117 Vgl. Schröer (Fn. 21), § 5 Rz. 9 ff. zur Mitgliederidentität, Quoten- und Wertidentität sowie zur Gattungsidentität. Nach OLG Stuttgart v. 8.3.2006  – 20 W 5/05, BeckRS 9998, 40600, Ziff. C.I.1.a., stellen die Vorgaben der §§ 12, 15 UmwG sicher, dass „sich der Gehalt aller bisherigen Mitgliedschaften in den Mitgliedschaften an der verschmolzenen Gesellschaft im Wesentlichen und unter Berücksichtigung der Belange aller Anteilseigner fortsetzt“. 118 Im Ergebnis wohl ähnlich BFH v. 13.3.1986 – V R 155/75, BFH/NV 1986, 500, Ziff. 2.b. der Entscheidungsgründe.

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den durch die Anteilseigner als Gegenleistung für die Vermögensübertragung an, fände wirtschaftlich eine „Doppelbesteuerung“ statt. Überträgt also der übernehmende Rechtsträger im Gegenzug für die Vermögensübertragung Anteile an die vormaligen Anteilseigner des übertragenden Rechtsträgers, stellt dies eine Gegenleistung dar; der „Verzicht“ der Anteilseigner auf ihre Anteile am übertragenden Rechtsträger geht hierin wirtschaftlich auf. Anders ist dies bei einer Seitwärtsverschmelzung, bei der gem. §§ 54 Abs. 1 Satz 3, 68 Abs. 1 Satz 3 UmwG auf die Gewährung von Anteilen verzichtet wird.119 Dies ist insbesondere bei der Verschmelzung beteiligungsidentischer Schwestergesellschaften von praktischer Relevanz. Bei diesen ist eine Anteilsgewährung aus Sicht der Anteils­ inhaber nicht nur häufig unerwünscht (zusätzliche Kosten etc.). Sie ist vielmehr auch entbehrlich, da der „innere Wert der Anteile des übernehmenden Rechtsträgers nach der Verschmelzung der Summe der inneren Werte der Anteile am übertragenden Rechtsträger und am übernehmenden Rechtsträger vor der Verschmelzung entspricht“.120 Die vormaligen Anteilseigner des Übertragenden partizipieren also über bereits bestehende Anteile am Übernehmenden (weiterhin) am übertragenen Vermögen. In diesem Fall wird der wirtschaftliche Gehalt des „Verzichts“ der Anteilseigner auf ihre Anteile am übertragenden Rechtsträger nicht durch die Gewährung der Anteile durch den übernehmenden Rechtsträger aufgebraucht. Er allein stellt vielmehr das dar, was aufgewendet wird (nämlich durch die Anteilseigner als Dritte an Stelle des übernehmenden Rechtsträgers), damit der sich auflösende Rechtsträger sein Vermögen überträgt.121 Damit hat der „Verzicht“ auf die Anteile am Übertragenden keine wirtschaftliche Entsprechung in der Gewährung von Anteilen am Übernehmenden. Er ist in dieser Situation also als Gegenleistung für die Vermögensübertragung anzusehen. Gewährt der übernehmende Rechtsträger keine Anteile und keine bare Zuzahlung und hatte der übertragende Rechtsträger keine Verbindlichkeiten, so dass auf den übernehmenden Rechtsträger keine Verbindlichkeiten übergehen, besteht das Entgelt ausschließlich aus dem „Verzicht“ der Anteilseigner des übertragenden Rechtsträgers auf ihre Anteile am übertragenden Rechtsträger.

VI. Leistungen des Übernehmenden und der Anteilseigner Der Vollständigkeit halber sei noch angemerkt, dass im Rahmen einer Verschmelzung auch der Übernehmende oder die Anteilseigner der beteiligten Rechtsträger Umsätze ausführen können, die der Umsatzsteuer unterliegen, insbesondere durch die Übernahme der Verbindlichkeiten und die Gewährung bzw. Übertragung von 119 Vgl. oben in V.1. 120 Vgl. Reichert in Semler/Stengel, 4. Aufl. 2017, UmwG § 54 Rz. 19. 121 Vgl. auch Pyszka, DStR 2011, 545. Es erhöht sich zwar, wie gesagt, der innere Wert der bestehenden Anteile, dies ist allerdings lediglich eine finanzielle Folge der Vermögensübertragung; einen Aufwand von Seiten des übernehmenden Rechtsträgers stellt dies nicht dar.

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Anteilen an die Anteilseigner des Übertragenden durch den Übernehmenden oder durch die Aufgabe der Anteile am übertragenden Rechtsträger durch dessen Anteilseigner.122 1. Übernahme der Verbindlichkeiten und Gewährung von Anteilen durch den Übernehmenden a) Übernahme der Verbindlichkeiten Die Schuldübernahme durch den Empfänger einer Lieferung oder sonstigen Leistung ist in der Regel reine Entgelterbringung, keine Leistung im Rahmen eines tauschähnlichen Umsatzes.123 Die Schuldübernahme kann nur dann selbst eine sonstige Leistung sein, wenn es sich bei ihr nicht um einen besonderen Zahlungsmodus handelt, sondern mit ihr ein eigenes wirtschaftliches Interesse verfolgt wird.124 Davon, dass die Übernahme der Verbindlichkeiten nicht nur Entgeltcharakter, sondern den Charakter einer wirtschaftlichen Leistung hat, ist im Falle der Verschmelzung, durch deren Eintragung die Verbindlichkeiten des übertragenden Rechtsträgers auf den Übernehmenden übergehen, nicht auszugehen. Bei der Verschmelzung steht die Übertragung des Vermögens des übertragenden Rechtsträgers auf den Übernehmenden im Vordergrund.125 Dieses Gesamtziel überlagert etwaige vom Übernehmenden mit der Schuldübernahme verfolgte Interessen, so dass die Schuldübernahme grundsätzlich nicht als umsatzsteuerliche Leistung des Übernehmenden an den übertragenden Rechtsträger zu bewerten ist.126 b) Gewährung von Anteilen Bei der Gewährung bzw. Übertragung von Anteilen im Rahmen von Verschmelzungsvorgängen ist aus Sicht des Umwandlungsrechts unerheblich, ob die Anteile durch Kapitalerhöhung neu geschaffen worden sind, ob der übernehmende Rechtsträger sie als eigene Anteile gehalten hat oder ob sie sich im Vermögen eines der übertragenden Rechtsträger befanden. Im letzteren Fall vollzieht sich der Übergang zivil122 Vgl. oben V.4.a), b) und d) (die bare Zuzahlung dürfte als bloße Geldzahlung keine Leistung i.S.d. § 1 UStG darstellen; vgl. oben V.4.a). Auch wenn es sich bei den genannten Vorgängen um die gesetzlichen Folgen der Eintragung der Verschmelzung im Handelsregister handelt, steht dies dem Vorliegen von Leistungen i.S.d. Mehrwertsteuerrechts nicht entgegen (vgl. V.2.c). Zu eventuellen Leistungen des Übernehmenden, u.a. auch der Zahlung eines „negativen Kaufpreises“, vgl. von Streit/Behrens (Fn. 33), Umsatzsteuer Rz. 91 ff.; Robisch (Fn. 1), § 1 Rz. 122a. 123 So BFH v. 31.7.1969 – V 94/65, BStBl. II 69, 637; v. 31.7.1969 – V R 149/66, BStBl. II 70, 73. 124 So für die Übernahme der Rentenverpflichtung einer Versorgungskasse gegen Verrechnung mit einer Darlehensschuld des Unternehmers, weil der Unternehmer damit die Zukunftssicherung seiner Angestellten und damit ihre Bindung an seinen Betrieb verfolgt; vgl. BFH v. 18.4.1962 – V 246/59 S, BStBl. III 62, 292. S. hierzu auch Nieskens (Fn. 1), § 1 UStG Rz. 534 („Verbindlichkeit“). 125 Vgl. oben in V.1. unter Hinweis auf den Wortlaut von § 2 UmwG. 126 Vgl. BFH v. 31.7.1969 – V 94/65, BStBl. II 1969, 637.

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rechtlich unmittelbar zwischen dem übertragenden Rechtsträger und den neuen Anteilseignern. Zivilrechtlich findet kein Durchgangserwerb beim übernehmenden Rechtsträger statt.127 Aufgrund der Vielzahl der möglichen Konstellationen ist es im Rahmen dieser Abhandlung nicht möglich, im Einzelnen darauf einzugehen, wer hierbei an wen ggf. eine Leistung erbringt. Mehrwertsteuerlich ist jedenfalls darauf hinzuweisen, dass die Gewährung von neuen Anteilen durch den übernehmenden Rechtsträger eine sog. nichtwirtschaftliche Tätigkeit darstellt, die nicht in den Anwendungsbereich des Mehrwertsteuerrechts fällt.128 Werden bestehende Anteile übertragen, kann dies ebenso sein, es kann sich aber auch unter bestimmten Voraussetzungen um – gem. § 4 Nr. 8 Buchst. f UStG steuerfreie oder, aufgrund einer Option gem. § 9 Abs. 1 UStG, steuerpflichtige – Umsätze im Rahmen der wirtschaftlichen Tätigkeit handeln.129 2. Aufgabe der Anteile durch die Anteilseigner des übertragenden Rechtsträgers Theoretisch kommt auch in Betracht, den „Verzicht“ der Anteilseigner des übertragenden Rechtsträgers auf ihre Anteile am übertragenden Rechtsträger als umsatzsteuerrechtliche Leistung an den übertragenden Rechtsträger (oder an den übernehmenden) zu werten.130 Eine abschließende Beurteilung dessen (soweit überhaupt möglich) würde den Rahmen dieser Abhandlung sprengen. Daher soll nur Folgendes angemerkt werden: Voraussetzung für das Vorliegen einer Leistung ist stets, dass eine Leistung ausgeführt wird, die einen Verbrauch i.S.d. Mehrwertsteuersystems zur Folge hat (vgl. IV.1.). Es ist nicht ersichtlich, dass die Aufgabe bzw. der „Verzicht“ auf die Anteile am übertragenden Rechtsträger für diesen oder für den übernehmenden einen wirtschaftlichen Vorteil darstellen sollte. Der Wegfall der Anteile am übertragenden Rechtsträger führt weder bei diesem noch beim übernehmenden Rechtsträger zu einem besteuerungswürdigen Verbrauch. Die Anteilseigner verzichten lediglich auf eine ihnen zustehende Rechtsposition, diese wird aber nicht auf die Gesellschaft

127 Vgl. Leonard/Simon (Fn. 111), § 20 UmwG Rz. 74 f. 128 Vgl. EuGH v. 26.6.2003  – C-442/01, ECLI:EU:C:2003:381, KapHag Renditefonds, UR 2003, 443; EuGH v. 26.5.2005 – C-465/03, ECLI:EU:C:2005:320 – Kretztechnik AG, UR 2005, 382 = DStR 2005, 965. S. auch oben V.4.b). 129 Der bloße Erwerb, das bloße Halten und der bloße Verkauf von Anteilen sind keine wirtschaftlichen Tätigkeiten; EuGH v. 29.10.2009  – C-29/08, ECLI:EU:C:2009:665  – SKF, UR  2010, 107, Rz.  28; EuGH v. 30.5.2013  – C-651/11, ECLI:EU:C:2013:346, X BV, UR 2013, 582, Rz. 36 ff.; jeweils m.w.N. Zu den Fällen des wirtschaftlichen Tätigwerdens s. Abschn. 2.3. Abs. 3 UStAE. 130 Weil das Erwerben und Halten der Anteile am übertragenden Rechtsträger nur unter bestimmten Voraussetzungen eine wirtschaftliche Tätigkeit begründet (vgl. VI.1.b.), wäre dann allerdings zu klären, ob auch der Verzicht grundsätzlich als nichtwirtschaftliche Tätigkeit zu behandeln wäre und nur dann als Leistung im Rahmen der wirtschaftlichen Tätigkeit, wenn auch der Erwerb und das Halten der Anteile als solche zu qualifizieren wären.

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übertragen.131 Im Gegenteil, letztendlich kommt der Verzicht (wirtschaftlich) wieder dem Anteilseigner zugute, weil er neue Anteile am übernehmenden Rechtsträger erhält oder (bei einer Verschmelzung unter Verzicht auf die Gewährung von Anteilen) weil sich der innere Wert der ihm zustehenden Anteile am übernehmenden Rechtsträger erhöht. Soweit in der letztgenannten Konstellation mit dem „Verzicht“ auf die Anteile eine Gegenleistung für die Vermögensübertragung vorliegt (vgl. V.4.d), verfolgen die Anteilseigner kein über die Entgeltfunktion hinausgehendes wirtschaftliches Interesse. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen ist grundsätzlich davon auszugehen, dass die Anteilseigner des übertragenden Rechtsträgers keine Leistungen i.S. des Mehrwertsteuerrechts ausführen.

VII. Zusammenfassung Bei der Verschmelzung stellt die Übertragung des Vermögens vom übertragenden auf den übernehmenden Rechtsträger die Erbringung einer Vielzahl von Lieferungen und sonstigen Leistungen des übertragenden an den übernehmenden Rechtsträger dar.132 Der Verzicht auf die Anteile am übertragenden Rechtsträger durch dessen Anteilseigner sowie die Ausgabe von Anteilen und die Übernahme von Verbindlichkeiten durch den übernehmenden Rechtsträger133 sind umsatzsteuerrechtlich in aller Regel Entgelt. Sie stellen aber nicht selbst umsatzsteuerbare Leistungen dar. Diverse Fragen bei dem Thema der mehrwertsteuerlichen Behandlung von Verschmelzungsvorgängen bleiben allerdings weiterhin offen. Soweit die Beantwortung dieser Fragen nicht in der Zwischenzeit durch Rechtsprechung oder gesetzgeberische Maßnahmen erfolgt, werden sich die Autoren ihrer in der Festschrift zum 150. Jubiläum der Umsatzsteuer annehmen.

131 Aufschlussreich zum Verbrauch Hummel, UR 2015, 663 (665). 132 Die allerdings nicht der Umsatzsteuer unterliegen, wenn die Voraussetzungen des §  1 Abs. 1a UStG erfüllt sind. 133 Und die bare Zuzahlung.

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Vorsteuerabzug bei Beteiligungsbesitz Inhaltsverzeichnis

I. Einleitung

II. Der Begriff der Holding III. Unternehmereigenschaft als Voraus­ setzung für den Vorsteuerabzug 1. Die Finanzholding als Unternehmerin 2. Die Führungsholding als Unternehmerin IV. Bezug der Leistungen für das Unternehmen 1. Direkter und unmittelbarer Zusammenhang zwischen Eingangs- und Ausgangsumsätzen 2. Kosten für die Dienstleistungen als Kostenelemente der Lieferungen und Leistungen

V. Aufteilung der Vorsteuer 1. Anwendungsfälle 2. Die Vorlagebeschlüsse des Bundes­ finanzhofs vom 1.12.2013 3. Die Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 16.7.2015 4. Folgerungen aus der Rechtsprechung a) Umfang des Vorsteuerabzugs der Holdinggesellschaft

b) Schlüssel für die Aufteilung der Vorsteuer weiterhin ungeklärt VI. Einschränkung des Vorsteuerabzugs durch die Rechtsprechung 1. Einschränkung des Vorsteuerabzugs bei Kreditumsätzen a) Urteil des Bundesfinanzhofs vom 19.1.2016 b) Kritik an der Subsumtion der gewährten Darlehen unter § 43 UStDV c) Auswege aus der Aufteilung der Vorsteuer bei Kreditumsätzen 2. Einschränkung des Vorsteuerabzugs bei unverhältnismäßig hoher Kapitaleinwerbung a) Urteil des Bundesfinanzhofs vom 6.4.2016 b) Widerspruch der Entscheidung zur bisherigen Rechtsprechung des EuGH 3. Mögliche Begrenzung des Vorsteuerabzugs der Höhe nach durch die Steuer auf Leistungsentgelte VII. Ausblick

I. Einleitung Die Frage, ob und in welchem Umfang eine Holdinggesellschaft Vorsteuerbeträge geltend machen kann, die auf Eingangsleistungen beruhen, die die Beteiligungen der Holdinggesellschaft an ihren Tochtergesellschaften betreffen, gehört zu den umstrittensten Problemen im Umsatzsteuerrecht. Dies ist zum einen darauf zurückzuführen, dass die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union zwar weitgehend eine klare Linie verfolgt, die jeweiligen Entscheidungen aber stets noch zahlreiche Einzelfragen offen lassen oder dem nationalen Gesetzgeber überantworten. Dies ist für die nationalen Finanzverwaltungen und Gerichte ein Einfallstor dafür, der Holdinggesellschaft den Vorsteuerabzug letztendlich doch zu verweigern oder ihn zumindest stark einzuschränken. Das hat zur Folge, dass fast 20 Jahre nach den grundlegenden Entscheidungen des Gerichtshofs in den Rechtssachen Floridienne und 387

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Berginvest1 und Cibo Participations SA2 noch weitgehend ungeklärt ist, welche qualitativen und quantitativen Anforderungen an eine von der Holdinggesellschaft gegenüber ihren Tochtergesellschaften ausgeübte wirtschaftliche Betätigung zu stellen sind, die Voraussetzung für die Unternehmereigenschaft der Holding und folglich auch für das Recht auf Vorsteuerabzug für bezogene Eingangsleistungen ist. Ebenso ist nach wie vor offen, nach welchem Schlüssel eine Vorsteueraufteilung vorzunehmen ist, wenn die Holdinggesellschaft nur zum Teil eine wirtschaftliche Betätigung gegenüber ihren Tochtergesellschaften ausübt. Diese Fragen – um nur zwei herauszugreifen – werden auch in den nächsten Jahren Gegenstand der Auseinandersetzung in Wissenschaft und Praxis sein.

II. Der Begriff der Holding Der Begriff der Holding ist im Umsatzsteuerrecht nicht definiert. Aus dem Wortsinn lässt sich entnehmen, dass es sich um einen Rechtsträger handeln muss, dessen Unternehmensgegenstand darin besteht, unmittelbar oder mittelbar auf Dauer Beteiligungen an einem oder mehreren rechtlich selbständigen Unternehmen zu halten und zu verwalten.3 Zu unterscheiden ist dabei zwischen der Finanzholding und der Führungsholding. Die Finanzholding beschränkt sich auf das Halten und Verwalten von Beteiligungen, ohne eine eigene Führungsfunktion über die Beteiligungsgesellschaft auszuüben. Die Führungsholding, die auch als geschäftsleitende Holding bezeichnet wird, ist demgegenüber dadurch gekennzeichnet, dass sie über die Finanzierungs- und Verwaltungsfunktionen hinaus die einheitliche Leitung ihrer Beteiligungsgesellschaften wahrnimmt. Die Führungsfunktion umfasst dabei im Sinne einer einheitlichen Konzernleitung insbesondere die strategische Steuerung und die Konzernkoordinierung.4 Die Finanzverwaltung hat in Abschn. 2.3. Abs. 3 Satz 4 UStAE einen weiteren Begriff geschaffen, nämlich denjenigen der „gemischten Holding“. Darunter ist eine Holdinggesellschaft zu verstehen, die nur gegenüber einigen Tochtergesellschaften geschäftsleitend tätig wird, während sie Beteiligungen an anderen Tochtergesellschaften lediglich hält und verwaltet. Diesen Begriff der gemischten Holding verwendet inzwischen auch der Bundesfinanzhof.5 Die vorgenommene Unterscheidung geht auf § 15 Abs. 4 Satz 1 UStG zurück, der eine Aufteilung der Vorsteuer für den Fall anordnet, dass der Unternehmer einen für sein Unternehmen gelieferten, eingeführten oder innergemeinschaftlich erworbenen Gegenstand oder eine von ihm in Anspruch genommene sonstige Leistung zum Teil zur Ausführung von Umsätzen verwendet, die den Vorsteuerabzug ausschließen. Die unionsrechtliche Grundlage hierfür ist Art. 173 1 EuGH, Urt. v. 14.11.2000 – C-142/99 – Floridienne und Berginvest, Slg. 2000, I-9567 = UR 2000, 530. 2 EuGH, Urt. v. 27.9.2001 – C-16/00 – Cibo Participations SA, Slg. 2001, I-6663. 3 BFH, Urt. v. 11.12.2013 – XI R 38/12, BStBl. II 2014, 428 = UR 2014, 323, Rz. 31 unter Hinweis auf Lutter in Lutter, Holding-Handbuch, 4. Aufl., § 1 Rz. 11; Karsten Schmidt, Gesellschaftsrecht, 4. Aufl., § 3 II.2.c, S. 52. 4 Eggers/Korf, DB 2001, 298 mit weiteren Nachweisen; ähnlich Dannecker/Steger, BB 2005, 1028 f. 5 BFH, Urt. v. 11.12.2013 – XI R 38/12, BStBl. II 2014, 428 = UR 2014, 323, Rz. 32.

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Abs. 1 MwStSystRL, der ebenfalls eine Vorsteueraufteilung vorsieht. Wird eine Holding in diesem Sinne tätig, so liegt eine gemischte Holding vor. Ausgehend von der nationalen Regelung des § 15 Abs. 4 UStG hatte der Bundesfinanzhof bereits im Jahr 1984 die sog. Sphärentheorie entwickelt. Danach sah er es als möglich an, dass bei einem Unternehmer gleichzeitig sowohl ein umsatzsteuerrechtlich relevanter als auch ein umsatzsteuerrechtlich irrelevanter Bereich existierte.6 Bezogen auf eine (gemischte) Holdinggesellschaft hat dies zur Folge, dass die Beteiligungen an den Tochtergesellschaften, denen gegenüber die Holdinggesellschaft keine entgeltlichen Dienstleistungen erbringt, zu ihrem nichtunternehmerischen Bereich gehören.7 Diese vom Bundesfinanzhof vorgenommene Aufteilung in unterschiedliche Sphären hat der Gerichtshof der Europäischen Union mit seinem Urteil vom 12.2.2009 in der Rechts­ sache VNLTO erweitert und unterscheidet fortan zwischen dem unternehmerischen Bereich, dem nichtunternehmerischen Bereich und dem nichtwirtschaftlichen Bereich.8 Für den Vorsteuerabzug bedeutet dies, dass Vorsteuerbeträge nur insoweit abgezogen werden dürfen, als sie den unternehmerischen Bereich betreffen.9

III. Unternehmereigenschaft als Voraussetzung für den Vorsteuerabzug 1. Die Finanzholding als Unternehmerin Der Vorsteuerabzug setzt nach § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Satz 1 UStG voraus, dass derjenige, der den Vorsteuerabzug begehrt, Unternehmer im Sinne des § 2 Abs. 1 Satz 1 UStG ist, also eine gewerbliche oder berufliche Tätigkeit selbständig ausübt. Art. 168 MwStSystRL spricht in diesem Zusammenhang nicht vom Unternehmer, sondern von „dem Steuerpflichtigen“. Dieser ist berechtigt, die Vorsteuer abzuziehen. Für die Finanzholding hat der Gerichtshof der Europäischen Union bereits in seiner Entscheidung vom 14.11.2000 in der Rechtssache Floridienne und Berginvest10 entschieden, dass diese kein Steuerpflichtiger im Sinne der MwStSystRL ist, weil das bloße Halten und Verwalten von Beteiligungen keine gewerbliche oder berufliche Tätigkeit darstellt, die aber Voraussetzung für die Unternehmereigenschaft ist. Das gilt selbst dann, wenn sich die Finanzholding im Einzelfall in die Verwaltung der Beteiligungsgesellschaft einmischt, weil dies noch nicht ausreicht, um den Tatbestand von §  2

6 BFH, Urt. v. 20.12.1984 – V R 25/76, BStBl. II 1985, 176 (178) = UR 1985, 57 m. Anm. Weiß. 7 Zur Streitfrage, ob die Beteiligung an der Gesellschaft, der gegenüber die Holding Dienstleistungen erbringt, ebenfalls zu ihrem nichtunternehmerischen Bereich gehört, siehe bejahend Dannecker/Steger, BB 2005, 1028 (1030) und verneinend Österreichischer VwGH, Erkenntnis v. 29.1.2003 – ZI 97/13/0012-6, IStR 2003, 245 (246); Klenk, IStR 2003, 247 a.E. 8 EuGH, Urt. v. 12.2.2009 – C- 515/07 – VNLTO, Slg. 2009, I-839; siehe dazu auch Pull, MwStR 2013, 611 mit weiteren Differenzierungen. 9 Zur Aufteilung der Vorsteuer siehe unter V.; siehe insgesamt zur Bedeutung der Tätigkeits­ sphären für den Vorsteuerabzug auch Wäger in Festschrift für Reiß, 2008, 229; Treiber in Sölch/Ringleb, UStG, § 2 Rz. 331 ff. (10/2017). 10 EuGH, Urt. v. 14.11.2000 – C-142/99 – Floridienne und Berginvest, Slg. 2000, I-9567 = UR 2000, 530.

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Abs. 1 UStG zu erfüllen.11 Damit ist die Finanzholding auch keine Unternehmerin im Sinne von § 2 Abs. 1 Satz 1 UStG. Sie ist folglich weder nach § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Satz 1 UStG noch nach Art. 168 MwStSystRL berechtigt, einen Vorsteuerabzug geltend zu machen. 2. Die Führungsholding als Unternehmerin Anders als die Finanzholding greift die Führungsholding unbeschadet ihrer Rechte als Aktionärin oder Gesellschafterin unmittelbar oder mittelbar in die operative Tätigkeit der Beteiligungsunternehmen ein. Wird sie im Rahmen von gesonderten schuldrechtlichen Verträgen im administrativen, finanziellen, kaufmännischen oder technischen Bereich tätig und erhält sie für ihre Dienstleistungen ein gesondertes, von Dividenden oder sonstigen Gewinnanteilen unabhängiges Entgelt, so ist sie nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union Unternehmerin im Sinne des Umsatzsteuerrechts.12 Die Tätigkeit muss dabei – anders als es der Begriff der Führungsholding vermuten lässt – keine Geschäftsführungstätigkeit sein.13 Es genügen außerhalb der Geschäftsführung auch Dienstleistungen im Bereich der Verwaltung, Buchführung und Informatik.14 Erforderlich ist allerdings, dass die Holdinggesellschaft diese Dienstleistungen gegen Entgelt erbringt. Darauf weist der Gerichtshof der Europäischen Union in seinem

11 EuGH, Urt. v. 14.11.2000 – C-142/99 – Floridienne und Berginvest, Slg. 2000, I-9567 = UR 2000, 530, Rz. 19; Urt. v. 27.9.2001 – C-16/00 – Cibo Participations SA, Slg. 2001, I-6663, Rz. 18; dazu auch Eggers/Korf, DB 2001, 298 (301). 12 EuGH, Urt. v. 14.11.2000 – C-142/99 – Floridienne und Berginvest, Slg. 2000, I-9567 = UR 2000, 530, Rz. 18 f.; Urt. v. 27.9.2001 – C- 16/00 – Cibo Participations, Slg. 2001, I-6663, Rz. 20 f.; BFH, Urt. v. 9.10.2002 – V R 64/99, BStBl. II 2003, 375, 377 = UR 2003, 74; v. 16.5.2002 – V R 15/00, BFH/NV 2002, 1349, 1349; zur Kritik an der Rechtsprechung siehe Stadie in Rau/Dürrwächter, UStG, § 2 Rz. 248 ff. (7/2017) und § 15 Rz. 228 ff. sowie Rz. 527 (1/2017), nach dessen Auffassung die geforderten Tätigkeiten noch keinen „Eingriff in die Verwaltung“ darstellen; beherrsche die Holdinggesellschaft ihre Tochtergesellschaften, so gebiete es der Neutralitätsgrundsatz, der Holding den Vorsteuerabzug zu gewähren, weil sich ihre wirtschaftliche Betätigung bereits daraus ergebe, dass ihr die wirtschaftlichen Betätigungen ihrer Tochtergesellschaften und auch deren Umsätze zuzurechnen seien, so auch Stadie, a.a.O. § 15 Rz. 92 (1/2017). Dies geht m.E. zu weit, weil Stadie für die geschäftsführende Holding damit von den Rechtsfolgen einer Organschaft ausgeht, ohne dass deren Voraussetzungen erfüllt sind. 13 Zur Darlehensgewährung als wirtschaftliche Tätigkeit, die aber nach Art. 13 Teil B Buchstabe d Nr.  1 und 5 der Richtlinie 77/388/EWG von der Umsatzsteuer befreit ist, siehe EuGH, Urt. v. 29.4.2004  – C-77/01  – EDM, Slg. 2004, I-4295 = UR 2004, 292 m. Anm. Wäger, Rz. 65 ff. mit weiteren Nachweisen sowie zur Beschränkung des Vorsteuerabzugs auf diese wirtschaftliche Betätigung Stadie in Rau/Dürrwächter, UStG, §  15 Rz.  248 (1/2017). 14 EuGH, Urt. v. 14.11.2000 – C-142/99 – Floridienne und Berginvest, Slg. 2000, I-9567 = UR 2000, 530, Rz.  19; zur Darlehensgewährung siehe EuGH, Urt. v. 29.4.2004  – C-77/01  – EDM, Slg. 2004, I-4295 = UR 2004, 292 m. Anm. Wäger.

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Beschluss vom 12.1.201715 ausdrücklich hin. Er leitet dies zutreffend aus Art. 2 MwStSystRL ab, wonach nur diejenigen im Gebiet eines Mitgliedstaats erbrachten Dienstleistungen der Mehrwertsteuer unterliegen, die ein Steuerpflichtiger als solcher gegen Entgelt erbracht hat.16 Greife die Holdinggesellschaft in die Verwaltung ihrer Tochtergesellschaften ein, ohne dass es sich dabei um Transaktionen handele, die nach Art. 2 MwStSystRL der Mehrwertsteuer unterlägen, so liege keine wirtschaftliche Tätigkeit vor, die in den Anwendungsbereich der Richtlinie falle.17 Das gelte auch dann, wenn die Holdinggesellschaft Dritten gegenüber wirtschaftliche Tätigkeiten ausübe, weil insoweit kein direkter und unmittelbarer Zusammenhang zu den die (unentgeltlichen) Dienstleistungen gegenüber den Tochtergesellschaften betreffenden Vorsteuerbeträgen bestehe.18 Der Versagung des Vorsteuerabzugs stehe nicht entgegen, dass die Holdinggesellschaft die Dienstleistungen im Interesse der gesamten Unternehmensgruppe erbringe; maßgeblich für die Versagung des Vorsteuerabzugs sei allein die fehlende Entgeltlichkeit der Dienstleistungen.19 Trotz der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union und des Bundesfinanzhofs ist nach wie vor ungeklärt, welche qualitativen und/oder quantitativen Anforderungen an die von der Holding gegenüber ihren Tochtergesellschaften zu erbringenden Dienstleistungen zu stellen sind und wie hoch das vereinbarte Entgelt hierfür bemessen sein muss. Diese Fragen haben die Gerichte bislang nicht beantwortet. Einer solchen Antwort hätte sich der Gerichtshof wahrscheinlich auch verweigert, weil es Sache der nationalen Gerichte ist, insoweit Maßstäbe aufzustellen. M.E. reichen zur Begründung der wirtschaftlichen Betätigung alle gegenüber den Tochtergesellschaften erbrachten Dienstleistungen aus20, sofern sie nicht von völlig untergeordneter Bedeutung sind, so dass von einer missbräuchlichen Gestaltung im Sinne von § 42 AO auszugehen ist.21 Die zu § 42 AO ergangene Rechtsprechung dürfte auch insoweit Prüfungsmaßstab sein.22 Gleiches gilt für die Höhe des vereinbarten Entgelts. Mit dieser Frage wird sich der Gerichtshof der Europäischen Union allerdings im Rahmen des bei ihm am 18.8.201723 eingegangen Verfahrens auseinandersetzen müssen, da der Vestre Landsret (Dänemark) in seinem Vorlagebeschluss die Frage aufwirft, ob es für den Vorsteuerabzug der Holdinggesellschaft ausreichend ist, dass der 15 EuGH, Beschl. v. 12.1.2017 – C-28/16 – MVM, ABl. EU 2017, Nr. C 112, 12; dazu auch Höink/Langenhövel, BB 2018, 727, 728 f. 16 EuGH, Beschl. v. 12.1.2017 – C-28/16 – MVM, ABl. EU 2017, Nr. C 112, 12, Rz. 24. 17 EuGH, Beschl. v. 12.1.2017 – C-28/16 – MVM, ABl. EU 2017, Nr. C 112, 12, Rz. 33 ff. 18 EuGH, Beschl. v. 12.1.2017 – C-28/16 – MVM, ABl. EU 2017, Nr. C 112, 12, Rz. 38 mit dem Hinweis auf eine mögliche Aufteilung der Vorsteuerbeträge in Rz. 46 f. 19 EuGH, Beschl. v. 12.1.2017 – C-28/16 – MVM, ABl. EU 2017, Nr. C 112, 12, Rz. 43 f. 20 I.E. ebenso Nieskens in Rau/Dürrwächter, UStG, § 1 Rz. 956 (7/2016). 21 Hierzu auch Eggers/Korf, MwStR 2015, 710, 712; Eggers, NWB 2015, 2666, 2570; siehe zum Gesichtspunkt des Missbrauchs auch BFH, Urt. v. 1.6.2016 – XI R 17/11, BStBl. II 2017, 581, Rz. 36, wonach ein solcher nicht bereits dann gegeben ist, wenn die Voraussetzungen von Abschn. 2.3 Abs. 4 UStAE nicht vorliegen, weil die Beteiligungen nicht als Hilfsumsatz für die wirtschaftliche Tätigkeit der Holdinggesellschaft anzusehen sind. 22 So wohl auch BFH, Urt. v. 19.1.2016 – XI R 38/12, BStBl. II 2017, 567 = UR 2016, 312 m. Anm. Heinrichshofen und Sterzinger, Rz. 45. 23 EuGH, anhängiges Verfahren C-502/17, ABl. EU 2017, Nr. C 347, 20.

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Preis für die mehrwertsteuerpflichtigen Verwaltungs- und IT-Dienstleistungen, die die Holdinggesellschaft im Rahmen ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit erbringt, so festgesetzt ist, dass er ihren Lohnkosten zuzüglich eines „mark-up“ von 10 % entspricht.24 Sofern der Gerichtshof bei seiner bisherigen Rechtsprechungslinie verbleibt, wird er die Beantwortung dieser Frage allerdings – wie ausgeführt – den nationalen Gerichten überantworten.

IV. Bezug der Leistungen für das Unternehmen 1. Direkter und unmittelbarer Zusammenhang zwischen Eingangs- und Ausgangsumsätzen § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 UStG setzt für den Vorsteuerabzug voraus, dass der leistende Unternehmer die Lieferungen und sonstigen Leistungen „für das Unternehmen“ des vorsteuerabzugsberechtigten Unternehmers ausgeführt hat. Art.  168 MwStSystRL nennt für den Vorsteuerabzug ähnliche Voraussetzungen. Danach ist erforderlich, dass die Gegenstände und Dienstleistungen „für die Zwecke seiner (des Steuerpflichtigen) besteuerten Umsätze verwendet werden“. Das liegt nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union vor, wenn zwischen dem fraglichen Eingangsumsatz und einem oder mehreren Ausgangsumsätzen ein direkter und unmittelbarer Zusammenhang besteht.25 Wann dies der Fall ist, lässt sich der Rechtsprechung des Gerichtshofs nicht eindeutig entnehmen.26 Im Urteil vom 27.9.2001 in der Rechtssache Cibo Participations27 hat der Gerichtshof lediglich ausgeführt, dass zwischen den von einer Holding bei Erwerb einer Beteiligung an einer Tochtergesellschaft erworbenen Dienstleistungen und einem oder mehreren zum Abzug berechtigenden Ausgangsumsätzen kein direkter und unmittelbarer Zusammenhang besteht. In seinem Urteil vom 21.2.2013 in der Rechtssache Becker28 hat der Gerichtshof seine Rechtsprechung zum Erfordernis des unmittelbaren und direkten Zusammenhangs mit den Ausgangsumsätzen fortgeführt und klargestellt, dass das Fehlen eines solchen unmittelbaren und direkten Zusammenhangs nicht durch einen Rückgriff auf den Entstehungsgrund für die bezogenen Lieferungen und sonstigen Leistungen geheilt werden kann.29 Der Entstehungsgrund kann danach vielmehr umgekehrt nur heran24 Siehe dazu auch Stadie in Rau/Dürrwächter, UStG, §  15 Rz.  246 (1/2017), wonach eine Kostenumlage ausreicht. 25 EuGH, Urt. v. 14.11.2000 – C-142/99 – Floridienne und Berginvest, Slg. 2000, I-9567 = UR 2000, 530, Rz. 28 ff.; Urt. v. 27.9.2001 – C-16/00 – Cibo Participations, Slg. 2001, I-6663, Rz. 28; Urt. v. 29.10.2009 – C-29/08 – SKF – Slg. 2009, I-10413 = UR 2010, 107, Rz. 57; kritisch zum Merkmal des unmittelbaren Zusammenhangs Stadie in Rau/Dürrwächter, UStG, § 2 Rz. 197 (7/2017). 26 Ebenso Stadie in Rau/Dürrwächter, UStG, § 2 Rz. 247 (7/2017). 27 EuGH, Urt. v. 27.9.2001 – C-16/00 – Cibo Participations, Slg. 2001, I-6663, Rz. 32. 28 EuGH, Urt. v. 21.2.2013 – C-104/12 – Becker, Abl. EU 2013, 412 = UR 2013, 220, Rz. 21. 29 Mit dieser Schlussfolgerung auch Nieskens, EU-UStB 2013, 34.

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gezogen werden, um den Vorsteuerabzug zu versagen, wenn bei einem direkten und unmittelbaren Zusammenhang aufgrund des objektiven Inhalts der Eingangsleistung keine Kausalität zwischen dem Eingangsumsatz und der wirtschaftlichen Tätigkeit besteht.30 Aus beiden Entscheidungen lassen sich im Ergebnis aber keine konkreten Rückschlüsse für die Frage ziehen, wie der Gerichtshof die Merkmale „direkter und unmittelbarer Zusammenhang“ im Einzelnen definiert. Auch die übrige Rechtsprechung des Gerichtshofs trägt kaum zu einer Klärung bei, weil der Gerichtshof das Erfordernis des direkten und unmittelbaren Zusammenhangs darin zwar stets als feststehenden Rechtsprechungsgrundsatz herausstellt, ohne aber konkrete Anforderungen zu definieren.31 2. Kosten für die Dienstleistungen als Kostenelemente der Lieferungen und Leistungen Dass der Gerichtshof der Europäischen Union das von ihm verwendete Merkmal des direkten und unmittelbaren Zusammenhangs zwischen einem Eingangsumsatz und einem oder mehreren Ausgangsumsätzen bislang nicht klar definiert hat, ist wohl darauf zurückzuführen, dass er in seinen Entscheidungen stets betont, dass ein Recht auf Vorsteuerabzug auch dann besteht, wenn es einerseits zwar an diesem direkten und unmittelbaren Zusammenhangs fehlt, andererseits aber die Kosten für die fraglichen Lieferungen und Leistungen zu den allgemeinen Aufwendungen des Unternehmers gehören und als solche Kostenelemente der von ihm gelieferten Gegenstände oder erbrachten Dienstleistungen sind. Derartige Kosten hängen nämlich nach der Auffassung des Gerichtshofs direkt und unmittelbar mit der wirtschaftlichen Gesamttätigkeit des Steuerpflichtigen zusammen.32 Exemplarisch hierfür sind die grundlegenden Urteile vom 14.11.2000 in der Rechtssache Floridienne und Berginvest 33 und vom 27.9.2001 in der Rechtssache Cibo Participations.34 In beiden Entscheidungen stellt der Gerichtshof bereits darauf ab, dass die streitigen Kosten der Dienstleistungen Teil der allgemeinen Kosten des Steuerpflichtigen sind und damit zu den Preiselementen aller Produkte seines Unternehmens gehören. Erweitert hat der Gerichtshof seine diesbezügliche Rechtsprechung mit dem Urteil vom 26.5.2005 in der Rechtssache Kretztechnik35, in dem er der Kretztechnik AG den Vorsteuerabzug für die Leistungen, die im Zusammenhang mit ihrer Börseneinführung standen mit der Begründung zubilligte, dass die Ausgabe von Aktien zwar ein von der Umsatzsteuer befreiter Umsatz sei, die Kretztechnik AG den Umsatz aber gleichwohl ausgeführt habe, um ihr Kapital zugunsten ihrer wirtschaftlichen Tätig30 Ebenso Nieskens, EU-UStB 2013, 34. 31 Siehe zu Kritik insbesondere Stadie in Rau/Dürrwächter, UStG, § 15 Rz. 512 ff. (1/2017). 32 EuGH, Urt. v. 29.10.2009 – C-29/08 – SKF, Slg. 2009, I-10413 = UR 2010, 107, Rz. 58. 33 EuGH, Urt. v. 14.11.2000 – C-142/99 – Floridienne und Berginvest, Slg. 2000, I-9567 = UR 2000, 530, Rz. 33. 34 EuGH, Urt. v. 27.9.2001 – C-16/00 – Cibo Participations, Slg. 2001, I-6663, Rz. 33. 35 EuGH, Urt. v. 26.5.2005 – C-465/03 – Kretztechnik, Slg. 2005, I-4357 = UR 2005, 382.

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keit im Allgemeinen zu stärken, so dass die Kosten der Dienstleistungen, die sie im Rahmen des betreffenden Umsatzes bezogen habe, Teil ihrer allgemeinen Kosten seien und damit zu den Preiselementen ihrer Produkte gehörten.36 Der Gerichtshof leitet diese Rechtsprechung aus Art. 2 Abs. 1, 2. Unterabsatz MwStSystRL ab.37 Dort ist geregelt, dass der Steuerpflichtige diejenige Mehrwertsteuer  schuldet, die sich bei allen Umsätzen nach dem auf den Gegenstand oder die Dienstleistung anwendbaren Steuersatz auf den Preis errechnet, abzüglich des Mehrwertsteuerbetrags, der die verschiedenen Kostenelemente unmittelbar belastet hat. Stadie38 wendet in diesem Zusammenhang allerdings zutreffend ein, dass „Art.  1 MwStSystRL nur das Mehrwertsteuersystem als Prinzip anhand der typischen Kon­ stellation beschreibt“, während es beim Vorsteuerabzug um die Frage geht, ob der Steuerpflichtige die Eingangsleistungen – abweichend von der missglückten Regelung in Art.  168 MwStSystRL, die auf die Verwendung für die besteuerten Umsätze abstellt – für unternehmerische (wirtschaftliche) Zwecke verwendet hat.39 Diesbezüglich – so Stadie weiter – könne die Frage, ob die für die Eingangsleistungen getätigten Aufwendungen als Kosten in den Preis der Umsätze Eingang gefunden hätten, nicht weiterhelfen, weil die Formel das erforderliche Kriterium der Zuordnung nicht nenne und dem Steuerpflichtigen insoweit kein subjektives Bestimmungsrecht zustehe, sondern es alleine auf einen objektiven Maßstab ankomme.40 Der damit umschriebene fragliche Ansatz des Gerichtshofs hat zur Folge, dass sich aus den jeweiligen Entscheidungen keine greifbaren und klaren Abgrenzungskriterien für die Frage ableiten lassen, in welchen Fällen tatsächlich ein Bezug der Eigangsleistungen für die steuerbaren und steuerpflichtigen Umsätze der Holding vorliegen.

V. Aufteilung der Vorsteuer 1. Anwendungsfälle Verwendet der Unternehmer einen für sein Unternehmen gelieferten, eingeführten oder innergemeinschaftlich erworbenen Gegenstand oder eine von ihm in Anspruch genommene sonstige Leistung nur zum Teil zur Ausführung von Umsätzen, die den Vorsteuerabzug ausschließen, so ist nach § 15 Abs. 4 Satz 1 UStG der Teil der jeweiligen Vorsteuerbeträge nicht abziehbar, der den zum Ausschluss vom Vorsteuerabzug führenden Umsätzen wirtschaftlich zuzurechnen ist.41 Diese Regelung beruht auf Art. 173 Abs. 1 MwStSystRL. Soweit Gegenstände und Dienstleistungen von einem Steuerpflichtigen sowohl für Umsätze verwendet werden, für die ein Recht auf Vor36 EuGH, Urt. v. 26.5.2005  – C-465/03  – Kretztechnik, Slg. 2005, I-4357 = UR 2005, 382, Rz. 36; ablehnend mangels der Unmittelbarkeit des Zusammenhangs Stadie in Rau/Dürrwächter, UStG, § 15 Rz. 250 und Rz. 526 (1/2017). 37 EuGH, Urt. v. 8.6.2000 – C-98/98 – Midland Bank, Slg 2000, I-4177-4215, Rz. 21. 38 Stadie in Rau/Dürrwächter, UStG, § 15 Rz. 514 (1/2017). 39 Stadie in Rau/Dürrwächter, UStG, § 15 Rz. 516 (1/2017). 40 Stadie in Rau/Dürrwächter, UStG, § 15 Rz. 517 (1/2017). 41 Zur Anwendung der Norm siehe unter V.4.b.bb.

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steuerabzug besteht, als auch für Umsätze, für die kein Recht auf Vorsteuerabzug besteht, darf nach dieser Norm nur der Teil der Mehrwertsteuer abgezogen werden, der auf den Betrag der erstgenannten Umsätze entfällt. Angesprochen ist damit die Aufteilung der Vorsteuer. Bezogen auf die Holding ist diese insbesondere bei gemischten Holdinggesellschaften geboten, also dann, wenn die Holdinggesellschaft nur gegenüber einigen Tochtergesellschaften geschäftsleitend tätig wird, während sie Be­tei­ ligungen an anderen Tochtergesellschaften lediglich hält und verwaltet.42 Zudem kommt eine Aufteilung der Vorsteuer auch in Betracht, wenn die Holding gegenüber allen oder zumindest einigen Tochtergesellschaften als bloße Finanzholding fungiert, sich darüber hinaus aber gegenüber Dritten wirtschaftlich betätigt, so dass ihr insoweit ebenfalls der Vorsteuerabzug zusteht. 2. Die Vorlagebeschlüsse des Bundesfinanzhofs vom 1.12.2013 Wie in diesen Fällen eine Aufteilung vorzunehmen ist, war lange Zeit umstritten und ist nach wie vor ungeklärt. § 15 Abs. 4 Satz 2 UStG sieht insoweit vor, dass der Unternehmer die nicht abziehbaren Teilbeträge im Wege einer sachgerechten Schätzung ermitteln kann, wobei eine Ermittlung des nicht abziehbaren Teils der Vorsteuerbeträge nach dem Verhältnis der Umsätze, die den Vorsteuerabzug ausschließen, zu den Umsätzen, die zum Vorsteuerabzug berechtigen, nach Satz 3 der zitierten Norm nur zulässig ist, wenn keine andere wirtschaftliche Zurechnung möglich ist. Aus diesen Regelungen lässt sich gleichwohl nicht eindeutig entnehmen, welche Berechnungsmethode zur Vorsteueraufteilung anzuwenden ist. Dies hat den XI. Senat des Bundesfinanzhofs dazu bewogen, mit zwei inhaltsgleichen Beschlüssen vom 1.12.201343 dem Gerichtshof der Europäischen Union die Frage vorzulegen, nach welcher Berechnungsmethode der anteilige Vorsteuerabzug einer Holding aus Eingangsleistungen im Zusammenhang mit der Kapitalbeschaffung zum Erwerb von Anteilen an Tochtergesellschaften zu berechnen ist, wenn die Holding später verschiedene steuerpflichtige Dienstleistungen gegenüber diesen Gesellschaften erbringt. Dabei stellt der Bundesfinanzhof nicht in Frage, dass der klagenden Aktiengesellschaft ein Recht auf Vorsteuerabzug zustehe, soweit sie Eingangsleistungen für die gegenüber den Tochtergesellschaften erbrachten Geschäftsführungsleistungen bezogen habe.44 Da die anlässlich der Kapitalbeschaffung bezogenen Dienstleistungen aber zumindest auch – wenn nicht sogar in erster Linie – dem nicht steuerbaren Erwerb und dem nicht steuerbaren Halten der Beteiligungen an den Tochtergesellschaften gedient hätten, hätten die Eingangsleistungen nicht – wie für einen vollständigen Vorsteuerabzug erforderlich  – ihren „ausschließlichen Entstehungsgrund“ in der späteren Erbringung der steuerbaren und steuerpflichtigen Dienstleistungen an ihre Tochtergesellschaften, wie der Gerichtshof dies in der Entscheidung in der 42 Siehe dazu oben unter II. 43 BFH, Beschl. v. 11.12.2013 – XI R 38/12, BStBl. II 2014, 428 = UR 2014, 323 und XI R 17/11, BStBl. II 2014, 417 = UR 2014, 313 m. Anm. Marchal; Aktenzeichen des EuGH: C-108/14, siehe dazu unter V. 3. 44 BFH, Beschl. v. 11.12.2013 – XI R 38/12, BStBl. II 2014, 428 = UR 2014, 323, Rz. 38.

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Rechtssache Investrand45 als erforderlich angesehen habe46. Damit sei eine Aufteilung der Vorsteuer vorzunehmen. Wie diese Aufteilung vorzunehmen ist, ergebe sich – so der BFH weiter – weder aus dem nationalen Recht noch aus dem Gemeinschaftsrecht. Auch in der Literatur und in der Finanzverwaltung werde hierzu keine einheitliche Auffassung vertreten. Es fänden sich vielmehr folgende Lösungsansätze:47 ȤȤ Aufteilung nach dem Verhältnis der Erlöse aus der operativen Tätigkeit zu den Erlösen aus der Beteiligung;48 ȤȤ Aufteilung nach den Investitionen in die wirtschaftlichen Tätigkeiten einerseits und in den Bereich der nichtwirtschaftlichen Tätigkeiten andererseits;49 ȤȤ Aufteilung anhand betriebswirtschaftlicher Größen, so z.B. nach der Anzahl der mit der Beteiligung befassten Personen, der im Zusammenhang mit der Beteiligung anfallenden Arbeitszeit oder der Einzelkosten für das Halten der Beteiligungen;50 ȤȤ Aufteilung nach der Verwendung des eingeworbenen Kapitals;51 Welchen dieser Lösungsansätze der XI. Senat des BFH favorisiert, legt er nicht dar. 3. Die Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 16.7.2015 Mit Urteil vom 16.7.201552 hat der Gerichtshof in der Rechtssache Larentia + Minerva auf die Vorlagebeschlüsse des Bundesfinanzhofs vom 1.12.201353 entschieden, dass Art. 17 Abs. 2 und 5 der Richtlinie 77/388/EWG dahingehend auszulegen ist, dass eine Holdinggesellschaft die Vorsteuern aus den Kosten, die sie im Zusammenhang mit dem Erwerb von Beteiligungen an ihren Tochtergesellschaften getragen hat, dann in vollem Umfang abziehen darf, wenn sie an der Verwaltung der Tochtergesellschaf45 EuGH, Urt. v. 8.2.2007  – C-435/05  – Investrand, Slg. 2007, I-01315 = UR 2007, 225 m. Anm. Hahne, Rz. 38. 46 BFH, Beschl. v. 11.12.2013 – XI R 38/12, BStBl. II 2014, 428 = UR 2014, 323, Rz. 41. 47 BFH, Beschl. v. 11.12.2013 – XI R 38/12, BStBl. II 2014, 428 = UR 2014, 323, Rz. 49 ff. 48 So Österreichischer Verwaltungsgerichtshof, Urt. v. 29. 1.2003 – 97/13/0012, abrufbar unter www.ris.bka.gv.at; kritisch dazu Beiser, Steuer und Wirtschaftskartei 2009, 330, 334; Beiser, BB 2009, 1324, 1326; Eggers/Ahrens, DB 2013, 2528, 2532 ff.; Pamperl, ÖStZ 2012, 251, 254; Pernegger, ÖStZ 2008, 478, 482 f.; Robisch, UR 2008, 881, 883. 49 So Niedersächsisches FG, Urt. v. 12.5.2011  – 16 K 411/07, EFG 2011, 1751, unter I.1.d; Beiser, Steuer und Wirtschaftskartei 2009, 330, 334; Pamperl, ÖStZ 2012, 251, 254; Per­ negger, ÖStZ 2008, 478, 482. 50 Siehe dazu Robisch, UR 2008, 881, 884 und Eggers/Ahrens, DB 2013, 2528, 2532 ff. 51 So die Auffassung der Finanzverwaltung in dem dem Vorlagebeschluss zugrundeliegenden Fall. 52 EuGH, Urt. v. 16.7.2015 – C-108/14 und C-109/14 – Larentia + Minerva, ABl. EU 2015, Nr. C 302, 7 = UR 2015, 671. 53 BFH, Beschl. v. 11.12.2013 – XI R 38/12, BStBl. II 2014, 428 = UR 2014, 323 und XI R 17/11, BStBl. II 2014, 417 = UR 2014, 313 m. Anm. Marchal.

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ten teilnimmt und insoweit eine wirtschaftliche Tätigkeit ausübt und wenn die nachgelagerten Umsätze nicht von der Mehrwertsteuer befreit sind.54 Nimmt sie nur bei einigen Tochtergesellschaften an der Verwaltung teil und übt sie gegenüber anderen Tochtergesellschaften keine wirtschaftliche Tätigkeit aus, so ist eine Aufteilung der Vorsteuer geboten, deren Maßstab die Mitgliedstaaten festzulegen haben. Der Gerichtshof setzt mit seiner Entscheidung seine bisherige Rechtsprechung fort und verweist darauf, dass eine Führungsholding im Unterschied zur bloßen Finanzholding Mehrwertsteuerpflichtiger im Sinne der Richtlinie 77/388/EWG sei, so dass ihr grundsätzlich ein Recht zum Vorsteuerabzug zustehe.55 Dieser erfordere allerdings, dass der Eingangsumsatz in einem direkten und unmittelbaren Zusammenhang mit einem zum Abzug berechtigenden Ausgangsumsatz stehe. Sei dies nicht der Fall, so komme ein Vorsteuerabzug gleichwohl dann in Betracht, wenn die Kosten für die fraglichen Dienstleistungen zu den allgemeinen Aufwendungen des Steuerpflichtigen gehörten und als solche Kostenelemente der von ihm gelieferten Gegenstände oder erbrachten Leistungen seien. In diesem Fall sei ein direkter und unmittelbarer Zusammenhang mit der wirtschaftlichen Gesamttätigkeit des Steuerpflichtigen anzunehmen.56 Bezogen auf die Holdinggesellschaft führt der Gerichtshof weiter aus, dass dieser dann der Vorsteuerabzug aus den Kosten, die im Zusammenhang mit dem Erwerb der Beteiligungen an den Tochtergesellschaften anfielen, in vollem Umfang zustehe, wenn sie an der Verwaltung dieser Tochtergesellschaften teilnehme und insoweit eine wirtschaftliche Tätigkeit ausübe, sofern nicht nachgelagerte Umsätze mehrwertsteuerfrei seien.57 Aufzuteilen sei die Vorsteuer allerdings dann, wenn die Holdinggesellschaft die von ihr bezogenen Gegenstände und Dienstleistungen sowohl für wirtschaftliche Tätigkeiten verwende, für die ein Recht auf Vorsteuerabzug bestehe, als auch für solche wirtschaftlichen Tätigkeiten, für die dieses Recht nicht bestehe. Die Festlegung der Methoden und Kriterien zur Aufteilung der Vorsteuerbeträge zwischen wirtschaftlichen und nichtwirtschaftlichen Tätigkeiten stehe allerdings – wie bereits im Urteil zur Rechtssache Securenta58 dargelegt – im Ermessen der Mitgliedstaaten, die bei der Ausübung ihres Ermessens Zweck und Systematik der Richtlinie zu berücksichtigen hätten und daher eine Berechnungsweise vorsehen müssten, die objektiv widerspiegele, welcher Teil der Eingangsaufwendungen den un54 Siehe dazu Stadie in Rau/Dürrwächter, UStG, § 15 Rz. 237 (1/2017), der den Begriff der nachgelagerten Umsätze auf die Umsätze der Tochtergesellschaften bezieht. Dazu geben die Ausführungen in der Entscheidung allerdings keinen Anlass. Diese sprechen vielmehr dafür, dass der EuGH einen Umsatz der Holding gesellschaft meint, der dem zum Vorsteuerabzug führenden Eingangsumsatz nachgelagert ist. 55 EuGH, Urt. v. 16.7.2015 – C-108/14 und C-109/14 – Larentia + Minerva, ABl. EU 2015, Nr. C 302, 7 = UR 2015, 671, Rz. 18 ff. 56 EuGH, Urt. v. 16.7.2015 – C-108/14 und C-109/14 – Larentia + Minerva, ABl. EU 2015, Nr. C 302, 7 = UR 2015, 671, Rz. 27 unter Hinweis auf EuGH, Urt. v. 27.9.2001 – C- 16/00 – Cibo Participations, Slg. 2001, I-6663 und EuGH, Urt. v. 6.9.2012 – C-496/11, UR 2012, 762 – Portugal Telekom, ABl. EU 2012, Nr. C 331, 12. 57 EuGH, Urt. v. 16.7.2015 – C-108/14 und C-109/14 – Larentia + Minerva, ABl. EU 2015, Nr. C 302, 7 = UR 2015, 671, Rz. 25 und Rz. 28 a.E. 58 EuGH, Urt. v. 13.3.2008 – C-437/06 – Securenta, Slg. 2008, I-1597 = UR 2008, 344 m. Anm. Eggers.

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terschiedlichen Tätigkeiten der Holdinggesellschaft tatsächlich zuzurechnen sei.59 In Betracht kämen dabei ein Investitionsschlüssel, ein Umsatzschlüssel oder auch jeder andere geeignete Aufteilungsschlüssel, wobei sich die Mitgliedstaaten nicht auf die Anwendung einer einzigen Aufteilungsmethode beschränken müssten.60 4. Folgerungen aus der Rechtsprechung a) Umfang des Vorsteuerabzugs der Holdinggesellschaft aa) Abweichung des XI. Senats des Bundesfinanzhofs von der bisherigen Rechtsprechung des Gerichtshofs Die Vorlagebeschlüsse des XI Senats des Bundesfinanzhofs vom 11.12.201361 führten im Schrifttum überwiegend zu Verwunderung, stand die dort geäußerte Auffassung doch im Widerspruch zu der bisherigen Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union.62 Der Gerichtshof hatte – wie bereits ausgeführt63 – in seinem Urteil vom 27.9.2001 in der Rechtssache Cibo Participations ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die Kosten, die einer Holding für die bei Erwerb einer Beteiligung an einer Tochtergesellschaft erworbenen Dienstleistungen entstanden sind, zu ihren allgemeinen Kosten gehören und deshalb grundsätzlich direkt und unmittelbar mit ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit zusammenhängen.64 Dies hatte der Gerichtshof im Urteil vom 26.5.2005 in der Rechtssache Kretztechnik nochmals ausdrücklich bestätigt und ausgeführt, dass es sich bei der Ausgabe von Aktien zwar um einen Umsatz handele, der nicht in den Anwendungsbereich der Richtlinie 77/388/EWG falle, dass die Kosten der in diesem Zusammenhang angefallenen Dienstleistungen aber gleichwohl Teil der allgemeinen Kosten der Klägerin seien und damit zu den Preiselementen ihrer Produkte gehörten, so dass letztendlich der Vorsteuerabzug zu gewähren sei.65 Lediglich dann – so der Gerichtshof in der Rechtssache Cibo Participations weiter –, wenn die Holding sowohl Umsätze tätige, für die ein Recht auf Vorsteuerabzug bestehe, als auch Umsätze, für die dieses Recht nicht bestehe, könne der Vorsteuerabzug nur für den Teil der Mehrwertsteuer vorgenommen werden, der dem Betrag der erstgenannten Umsätze entspreche.66 In den vom XI. Senat zu entscheidenden Fällen hatte die  klagende Holding aber gerade keine Umsätze getätigt, für die kein Recht auf ­Vorsteuerabzug bestand. Denn die klagende Holding hatte gegenüber allen Tochter59 EuGH, Urt. v. 16.7.2015 – C-108/14 und C-109/14 – Larentia + Minerva, ABl. EU 2015, Nr. C 302, 7 = UR 2015, 671, Rz. 24 f. 60 EuGH, Urt. v. 16.7.2015 – C-108/14 und C-109/14 – Larentia + Minerva, ABl. EU 2015, Nr. C 302, 7 = UR 2015, 671, Rz. 30. 61 BFH, Beschl. v. 11.12.2013 – XI R 38/12, BStBl. II 2014, 428 = UR 2014, 323 und XI R 17/11, BStBl. II 2014, 417; Aktenzeichen des EuGH: C-108/14, siehe dazu unter V. 3. 62 So auch von Streit/Behrens, UR 2014, 833, 840; Marchal, UR 2014, 321 f.; Grünwald, MwStR 2014, 208, 209; a.A. Bleschick, MwStR 2014, 357, 358. 63 Siehe dazu unter IV.2. 64 EuGH, Urt. v. 27.9.2001 – C-16/00 – Cibo Participations, Slg. 2001, I-6663, Rz. 35. 65 A.A. Bleschick, MwStR 2014, 357, 358. 66 EuGH, Urt. v. 27.9.2001 – C-16/00 – Cibo Participations, Slg. 2001, I-6663, Rz. 35.

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gesellschaften Geschäftsführungsleistungen ausgeübt. Ausgehend von der bisherigen Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union hätte der XI. Senat daher eigentlich zu einer vollständigen Anerkennung der Vorsteuern gelangen müssen.67 bb) Keine Rechtfertigung aus der Entscheidung des Gerichtshofs in der Rechtssache Investrand Auch aus der Entscheidung des Gerichtshofs in der Rechtssache Investrand68 ließ sich die Auffassung des XI. Senats nicht rechtfertigen. Der XI. Senat führt in den Vorlagebeschlüssen aus, dass die Eingangsleistungen der klagenden Aktiengesellschaften nicht – wie für einen vollständigen Vorsteuerabzug erforderlich – ihren „ausschließlichen Entstehungsgrund“ in der späteren Erbringung der steuerbaren und steuerpflichtigen Dienstleistungen an ihre Tochtergesellschaften gehabt hätten.69 Wie der Gerichtshof in der Entscheidung zur Rechtssache Becker70 in Abgrenzung zum Urteil in der Sache Investrand klargestellt hat, kann der für den Vorsteuerabzug erforderliche unmittelbare und direkte Zusammenhang mit den Ausgangsumsätzen nicht durch einen Rückgriff auf den Entstehungsgrund für die bezogenen Lieferungen und sonstigen Leistungen geheilt werden. Der Entstehungsgrund kann danach vielmehr umgekehrt nur herangezogen werden, um den Vorsteuerabzug zu versagen, wenn bei einem direkten und unmittelbaren Zusammenhang aufgrund des objektiven Inhalts der Eingangsleistungen keine Kausalität zwischen dem Eingangsumsatz und der wirtschaftlichen Tätigkeit besteht. Dem lässt sich indes keine Aussage des Gerichtshofs dahingehend entnehmen, dass der Entstehungsgrund für die im Zusammenhang mit Aktienemissionen anfallenden Kosten nicht in der späteren Erbringung der steuerbaren und steuerpflichtigen Dienstleistungen an die Tochtergesellschaften zu erblicken ist, zumal sich der Gerichtshof mit einer solchen Aussage in Widerspruch zu seiner früheren Rechtsprechung in den Rechtssachen Cibo Participations, Kretztechnik und Securenta setzen würde. cc) Klärung der Streitfrage durch den Gerichtshof Nach der Entscheidung des Gerichtshofs dürfte nun ein für alle Mal geklärt sein, dass Holdinggesellschaften, die gegenüber allen Tochtergesellschaften steuerpflichtigen Dienstleistungen erbringen, grundsätzlich in vollem Umfang zum Vorsteuerabzug berechtigt sind.71 Dies hat der Bundesfinanzhof nunmehr in der Folgeentscheidung vom 19.1.2016 eingeräumt.72 67 Ebenso Marchal, UR 2014, 321 f. 68 EuGH, Urt. v. 8.2.2007  – C-435/05  – Investrand, Slg. 2007, I-01315 = UR 2007, 225 m. Anm. Hahne, Rz. 38. 69 BFH, Beschl. v. 11.12.2013 – XI R 38/12, BStBl. II 2014, 428 = UR 2014, 323, Rz. 41. 70 EuGH, Urt. v. 21.2.2013 – C-104/12 – Becker, Abl. EU 2013, 412 = UR 2013, 220, Rz. 21. 71 Zu weiteren Einschränkungen des Vorsteuerabzugs siehe aber unter VI. 72 BFH, Urt. v. 19.1.2016 – XI R 38/12, BStBl. II 2017, 567 = UR 2016, 312 m. Anm. Heinrichshofen und Sterzinger, Rz. 41 ff.; ebenso auch BFH, Urt. v. 1.6.2016 – XI R 17/11, BFH/NV 2016, 1410.

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Dieses Recht auf vollständigen Abzug der Vorsteuer muss einer Führungsholding auch im Fall von vergeblich getätigten Eingangsumsätzen zustehen. Mit dieser Frage wird sich der Gerichtshof der Europäischen Union im Rahmen des bei ihm am 18.8.2017 eingegangenen Vorabentscheidungsersuchens des Vestre Landsret (Dänemark) auseinandersetzen müssen. Das vorlegende Gericht hat danach gefragt, ob Art. 168 der Richtlinie 2006/112/EG dahin auszulegen ist, dass eine Holdinggesellschaft auch dann zum vollen Abzug der Mehrwertsteuer auf Eingangsleistungen im Zusammenhang mit „Due diligence“-Untersuchungen vor einer geplanten, aber nicht durchgeführten Veräußerung von Anteilen an einer Tochtergesellschaft, der sie mehrwertsteuerpflichtige Verwaltungs- und IT-Dienstleistungen erbringt, berechtigt ist.73 Dies dürfte auf der Grundlage der bisherigen Rechtsprechung des Gerichtshofs zu bejahen sein.74 Der Gerichtshof hat bereits in seiner Entscheidung vom 29.2.1996 in der Rechtssache Inzo75 festgelegt, dass selbst die ersten Investitionsausgaben, die für die Zwecke eines Unternehmens getätigt werden, als wirtschaftliche Tätigkeiten angesehen werden können, sofern die erklärte Absicht des Unternehmens besteht, mehrwertsteuerpflichtige Tätigkeiten aufzunehmen. Dies hat in der Weiterentwicklung zur Folge, dass ein Vorsteuerabzug auch aus vergeblich getätigten Eingangsumsätzen möglich ist, sofern diese in einem direkten und unmittelbaren Zusammenhangs mit einer (geplanten oder bereits ausgeübten) wirtschaftlichen Betätigung des Steuerpflichtigen stehen. Dies ist in dem dem Gerichtshof nunmehr vorgelegten Verfahren wohl der Fall. b) Schlüssel für die Aufteilung der Vorsteuer weiterhin ungeklärt aa) Fehlende Aussagen in der Rechtsprechung Weiterhin ungeklärt ist die Frage, nach welchem Schlüssel eine Vorsteueraufteilung vorzunehmen ist, wenn die Holdinggesellschaft nur teilweise wirtschaftlich tätig ist, weil sie etwa nur gegenüber einigen Tochtergesellschaften administrative Aufgaben wahrnimmt. Der Gerichtshof hat insofern darauf verwiesen, dass die Festlegung der Kriterien für die Vorsteueraufteilung Sache der Mitgliedstaaten ist.76 Dies ist insofern konsequent, als der Gerichtshof diese Auffassung bereits in der Rechtssache BLC Baumarkt77 vertreten hatte. Der Bundesfinanzhof hat sich bislang nicht dazu positioniert, welchen Aufteilungsschlüssel er in welchen Fallkonstellationen für anwendbar hält. In den Vorlagebe-

73 EuGH, anhängiges Verfahren C- 502/17, ABl. EU 2017, Nr. C 347, 20. 74 So allgemein zu Anteilsveräußerungen im Zusammenhang mit einer wirtschaftliche Betätigung der Holding auch Nieskens in Rau/Dürrwächter, UStG, § 1 Rz. 974 (7/2016). 75 EuGH, Urt. v. 29.2.1996 – C-110/94 – Inzo, BStBl. II 1996, 655 = UR 1996, 116 m. Anm. Widmann. 76 EuGH, Urt. v. 16.7.2015 – C-108/14 und C-109/14 – Larentia + Minerva, ABl. EU 2015, Nr. C 302, 7 = UR 2015, 671, Rz. 24 f. 77 EuGH, Urt. v. 8.11.2012 – C-511/10 – BLC Baumarkt, ABl. EU 2013, Nr. C 9, 6 = UR 2012, 968 m. Anm. Marchal/Salder, Rz. 22.

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schlüssen vom 1.12.201378 hat er lediglich verschiedene denkbare Aufteilungsschlüssel aufgezählt, ohne aber darzulegen, welchen er in dem konkreten Fall selbst für einschlägig ansieht.79 Auch in dem Folgeurteil vom 19.1.201680 in der Rechtssache Larentia + Minerva musste der Bundesfinanzhof diese Frage nicht entscheiden, weil er den Rechtsstreit im Hinblick auf die durchzuführende Aufteilung zur Durchführung einer weiteren Aufklärung an das Finanzgericht Hamburg zurückverwiesen hat. Dort hat sich der Rechtsstreit in der Hauptsache erledigt81, so dass in der Sache keine weitere Entscheidung mehr ergehen wird. In einem weiteren Urteil vom 6.4.201682 hat der Bundesfinanzhof zum richtigen Aufteilungsschlüssel ebenfalls nicht Stellung genommen, obwohl sich dies eigentlich aufgedrängt hat. In dem zu entscheidenden Fall ging es darum, dass die klagende inländische KG zum einen an einer Besitz-S.A. und einer Betriebs-S.A. beteiligt war, denen gegenüber sie kaufmännische Dienstleistungen gegen Entgelt erbrachte. Zum anderen schloss sie mit der Q-GmbH drei Verträge. Mit dem ersten Vertrag beauftragte sie diese mit der Vermittlung von KG-Anteilen und der Durchführung von Marketingmaßnahmen. Nach dem zweiten Vertrag sollte die Q-GmbH für die Klägerin die Projektentwicklung wahrnehmen. Mit dem dritten Vertrag vermietete die Klägerin Büroräume an die Q-GmbH. In ihrer Umsatzsteuererklärung machte die Klägerin Vorsteuern geltend aus der Einwerbung des KG-Kapitals, aus den beauftragten Projektentwicklungsleistungen, aus Büroausstattung und aus sonstigen Aufwendungen. Das Finanzgericht berücksichtigte davon nur die Vorsteuer aus den sonstigen Aufwendungen in voller Höhe und aus der Büroausstattung im Schätzungswege zu 15 %. In der Revisionsentscheidung kam der Bundesfinanzhof zu dem Ergebnis, dass hinsichtlich der Kosten der Klägerin für die Einwerbung von Kapital der Bezug für das Unternehmen der Klägerin fehle, so dass eine Vorsteueraufteilung analog § 15 Abs. 4 UStG vorzunehmen sei.83 Das Finanzgericht habe insoweit insgesamt Vorsteuern i.H.v. 11.664,00 Euro anerkannt, was einem Anteil von etwa 25 % entspreche. Dies sieht der erkennende Senat als ausreichend an, weil der Klägerin jedenfalls kein hie­ rüber hinausgehender Vorsteueranspruch zustehe.84 Wie sich aus dieser Formulierung ersehen lässt, nimmt der erkennende Senat lediglich eine griffweise Schätzung der Vorsteuer vor. Dabei berücksichtigt er, dass die aufgrund des Projektentwicklungsvertrages bezogenen Leistungen zu einem nicht unerheblichen Teil im Zusammenhang mit der Ausgabe der Kommanditanteile gestanden hätten und für einen weiteren Teil ungeklärt sei, ob sie der unternehmeri-

78 BFH, Beschl. v. 11.12.2013 – XI R 38/12, BStBl. II 2014, 428 = UR 2014, 323, Rz. 49 ff. 79 Kritisch dazu Marchal, UR 2014, 321 f. 80 BFH, Urt. v. 19.1.2016 – XI R 38/12, BStBl. II 2017, 567 = UR 2016, 312 m. Anm. Heinrichshofen und Sterzinger. 81 FG Hamburg, Beschl. v. 31.8.2016 – 2 K 67/16, nicht veröffentlicht. 82 BFH, Urt. v. 6.4.2016 – V R 6/14, BStBl. II 2017, 577 = UR 2016, 770. 83 Siehe dazu ausführlich unter V.4.b)bb). 84 BFH, Urt. v. 6.4.2016 – V R 6/14, BStBl. II 2017, 577 = UR 2016, 770, Rz. 38.

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schen Beratungstätigkeit oder der Ausgabe von Kommanditanteilen zuzuordnen seien.85 Dies ist in zweierlei Hinsicht bedenklich. Wenn der erkennende Senat es für ungeklärt hält, ob die bezogenen Leistungen der unternehmerischen Beratungstätigkeit oder der Ausgabe von Kommanditanteilen zuzuordnen sind, dann hätte er das Urteil des Finanzgerichts nach § 126 Abs. 3 Satz 1 Nr.  2 FGO aufheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung sowie insbesondere zu weiteren Sachverhaltsaufklärung zurückverweisen müssen. Denn die Frage der Verwendung der bezogenen Leistungen war entscheidungserheblich, wie sich dies auch aus der Formulierung in Rz. 38 der Entscheidung ergibt, in der der erkennende Senat ausführt, dass „davon auszugehen ist, dass die Klägerin die übrigen Leistungen sowohl für ihre wirtschaftliche als auch für ihre nichtwirtschaftliche Tätigkeit verwendet hat“.86 Dies führt – wie der Senat im Folgenden weiter darlegt – erst zur Aufteilung der Vorsteuer. Zum anderen hätte der Senat darlegen müssen, wie er zu dem Ergebnis gelangt, dass der klagenden Holdinggesellschaft jedenfalls kein höherer Vorsteuerabzug zusteht als die vom Finanzgericht zuerkannten 25 %. Dies hätte einer Offenlegung der Berechnung und damit auch einer Aussage zu dem anzuwendenden Aufteilungsschlüssel bedurft. Dem ist der Senat nicht nachgekommen.87 bb) Rechtsgrundlage für die Aufteilung Der Gerichtshof der Europäischen Union betont in seiner Entscheidung vom 16.7.2015, dass die Bestimmung des Aufteilungsschlüssels Sache der Mitgliedstaaten ist.88 Soweit der Bundesfinanzhof in seinem Vorlagebeschluss vom 1.12.2013 bemängelt, dass der nationale Gesetzgeber keine Regelungen für eine solche Aufteilung geschaffen habe89, ist dem zu widersprechen. § 15 Abs. 4 Satz 1 UStG ordnet an, dass dann, wenn der Unternehmer einen für sein Unternehmen gelieferten, eingeführten oder innergemeinschaftlich erworbenen Gegenstand oder eine von ihm in Anspruch genommene sonstige Leistung nur zum Teil zur Ausführung von Umsätzen verwendet, die den Vorsteuerabzug ausschließen, der Teil der jeweiligen Vorsteuerbeträge nicht abziehbar ist, der den zum Ausschluss vom Vorsteuerabzug führenden Umsätzen wirtschaftlich zuzurechnen ist. Dem Wortlaut nach ist dies nicht nur dann der Fall, wenn der Steuerpflichtige sowohl steuerbare und steuerpflichtige als auch von der Umsatzsteuer befreite Umsätze ausübt, sondern auch dann, wenn – wie im Fall der gemischten Holding – die Betätigung teilweise als wirtschaftlich und teilweise als nichtwirtschaftlich einzuordnen ist. Folglich ist § 15 Abs. 4 Satz 1 UStG auch in Bezug auf den Vorsteuerabzug der Holdinggesellschaft anwendbar.90 Zumindest kommt 85 BFH, Urt. v. 6.4.2016 – V R 6/14, BStBl. II 2017, 577 = UR 2016, 770, Rz. 39. 86 BFH, Urt. v. 6.4.2016 – V R 6/14, BStBl. II 2017, 577 = UR 2016, 770, Rz. 38. 87 Kritisch auch Heinrichshofen, UStB 2016, 201, 202. 88 EuGH, Urt. v. 16.7.2015 – C-108/14 und C-109/14 – Larentia + Minerva, ABl. EU 2015, Nr. C 302, 7 = UR 2015, 671, Rz. 24 f. 89 BFH, Beschl. v. 11.12.2013 – XI R 38/12, BStBl. II 2014, 428 = UR 2014, 323, Rz. 47. 90 So auch Michel, DB 2014, 639; Marchal, UR 2014, 321 f.

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aber eine analoge Anwendung der Vorschrift in Betracht, von der wohl auch der Bundesfinanzhof ausgeht.91 Dies führt allerdings dazu, dass auch die Regelung in § 15 Abs. 4 Satz 2 UStG in diesen Fällen Anwendung findet, wonach der Unternehmer die nicht abziehbaren Teilbeträge im Wege einer sachgerechten Schätzung ermitteln kann. Dies bedeutet, dass auch der Holdinggesellschaft hinsichtlich der Aufteilung des Vorsteuerabzugs ein Ermessen zusteht. Dies ist insofern sachgerecht, als die vorzunehmende Aufteilung im Einzelfall schwierig ist. cc) Mögliche Aufteilungsschlüssel Welchen Aufteilungsschlüssel die Holdinggesellschaft im Rahmen des ihr zustehenden Ermessens anzuwenden hat, ergibt sich aus § 15 Abs. 4 UStG nicht, sieht man einmal von der in Satz 3 geregelten Subsidiarität des Umsatzschlüssels ab. Der Gerichtshof hat in seiner Entscheidung vom 16.7.2015 allerdings darauf hingewiesen, dass dieser den Zweck und die Systematik der Richtlinie berücksichtigen und objektiv widerspiegeln muss, welcher Teil der Eingangsaufwendungen den unterschiedlichen Tätigkeiten der Holdinggesellschaft tatsächlich zuzurechnen ist.92 Ergänzend kann man die Entscheidung des Gerichtshofs in der Rechtssache BLC Baumarkt heranziehen. Wenngleich diese Entscheidung nicht zur Vorsteueraufteilung bei Holdinggesellschaften ergangen ist, so lässt sich aus ihr gleichwohl entnehmen, dass die gewählte Aufteilungsmethode eine präzise Bestimmung des Pro-rata-Satzes des Vorsteuerabzugs gewährleisten muss.93 Bezogen auf die Holdinggesellschaften bedeutet dies, dass der Aufteilungsschlüssel so genau wie möglich abbilden muss, welche Vorsteuerbeträge auf den Bereich der wirtschaftlichen Betätigung entfallen und welche auf denjenigen der nichtwirtschaftlichen Betätigung. Ausgehend von diesem Maßstab kann es allerdings keinen Aufteilungsschlüssel geben, der bei allen Sachverhaltsvarianten zu zutreffenden Ergebnissen führt.94 Es hängt vielmehr von den jeweiligen Umständen des Einzelfalls ab, welche Aufteilungsmethode zur Bestimmung der abzugsfähigen anteiligen Vorsteuer am präzisesten ist. Hiervon ausgehend lassen sich folgende Aufteilungsschlüssel unterscheiden:95 ȤȤ Der Investitionsschlüssel führt in der Regel zu sachgerechten Ergebnissen bei Kapitalbeschaffungsmaßnahmen, weil dieser die Kapitalverwendung und damit die Verursachung der Aufwendungen durch den unternehmerischen und nichtunternehmerischen Bereich zutreffend abbildet. 91 BFH, Urt. v. 9.2.2012  – V R 40/10, BStBl.  II 2012, 844 = UR 2012, 394, Rz.  25; Urt. v. 3.3.2011 – V R 23/10, BStBl. II 2012, 74, Rz. 31; ebenso Oelmaier in Sölch/Ringleb, UStG, § 15 Rz. 686, 687 a.E. (10/2017). 92 EuGH, Urt. v. 16.7.2015 – C-108/14 und C-109/14 – Larentia + Minerva, ABl. EU 2015, Nr. C 302, 7 = UR 2015, 671, Rz. 27 ff. 93 EuGH, Urt. v. 8.11.2012 – C-511/10 – BLC Baumarkt, Abl. EU 2013, Nr. C 9, 6 = UR 2012, 968 m. Anm. Marchal/Salder, Rz. 24. 94 So auch Eggers/Korf, MwStR 2015, 710, 716. 95 Siehe dazu Eggers/Korf, MwStR 2015, 710, 715.

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ȤȤ Betriebswirtschaftliche Größen sind als Aufteilungsschlüssel für laufende Gemeinkosten, die die Holding nicht an die Tochtergesellschaften weiter belastet, zugrunde zu legen, weil nur anhand der betriebswirtschaftlichen Größen, wie z.B. der Kosten- und Leistungsrechnung oder der Arbeitszeiten für die jeweiligen Bereiche bemessen werden kann, wie sich die Gemeinkosten auf die einzelnen Bereiche aufteilen. ȤȤ Der Umsatzschlüssel ist bei Holdinggesellschaften in der Regel kein tauglicher Aufteilungsschlüssel, weil die nicht wirtschaftlichen Tätigkeiten regelmäßig nicht zu steuerbaren Umsätzen führen und die Höhe von Dividenden oftmals von externen Faktoren abhängt.96 Hinzu kommt, dass der Umsatzschlüssel nach § 15 Abs. 4 Satz 3 UStG nur dann zulässig ist, wenn keine andere wirtschaftliche Zurechnung möglich ist. Dies hat der Gerichtshof der Europäischen Union in seiner Entscheidung in der Rechtssache BLC Baumarkt für mit dem Unionsrecht vereinbar angesehen, sofern ein anderer Aufteilungsschlüssel zu präziseren Ergebnissen führt.97 Wann sich die Rechtsprechung hierzu positionieren wird, bleibt abzuwarten.

VI. Einschränkung des Vorsteuerabzugs durch die Rechtsprechung 1. Einschränkung des Vorsteuerabzugs bei Kreditumsätzen a) Urteil des Bundesfinanzhofs vom 19.1.2016 Eine Einschränkung des Vorsteuerabzugs hat der Bundesfinanzhof mit Urteil vom 19.1.2016 für den Fall vorgenommen, dass die Holdinggesellschaft auch Kreditumsätze ausführt.98 Es handelt sich dabei um die abschließende Entscheidung in der Rechtssache Larentia + Minerva.99 In dem entschiedenen Fall ging es darum, dass die klagende Aktiengesellschaft im Jahr 2006 eine Aktienemission durchführte, in deren Rahmen Emissionskosten anfielen, die mit Umsatzsteuer belastet waren. Die Aktiengesellschaft gründete anschließend vier GmbH & Co. KGs, an denen sie jeweils zu mindestens 99 % beteiligt war und denen gegenüber sie Geschäftsführungsaufgaben wahrnahm. Darüber hinaus erzielte sie Zinseinnahmen aus Darlehen, die sie den Tochtergesellschaften gewährt hatte sowie daraus, dass sie das eingeworbene Kapital zum Teil bei Banken angelegt hatte. 96 Diesen gleichwohl bevorzugend Oelmaier in Sölch/Ringleb, UStG, §  15 Rz.  687 a.E. (10/2017). 97 EuGH, Urt. v. 8.11.2012 – C-511/10 – BLC Baumarkt, Abl. EU 2013, Nr. C 9, 6 = UR 2012, 968 m. Anm. Marchal/Salder, Rz. 24. 98 BFH, Urt. v. 19.1.2016 – XI R 38/12, BStBl. II 2017, 567 = UR 2016, 312 m. Anm. Heinrichshofen und Sterzinger. 99 Der Bundesfinanzhof hat mit dem Urteil den Rechtsstreit an das Finanzgericht Hamburg zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen. Dort hat sich der Rechtsstreit in der Hauptsache erledigt, siehe FG Hamburg, Beschl. v. 31.8.2016  – 2 K 67/16, nicht veröffentlicht.

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In dem Urteil räumt der Bundesfinanzhof zunächst ein, dass einer gegenüber ihren Tochtergesellschaften wirtschaftlich tätigen Holdinggesellschaft nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs100 der Vorsteuerabzug zwar grundsätzlich in voller Höhe zustehe. Im konkret zu entscheidenden Fall sei jedoch eine Aufteilung vorzunehmen, weil „die Anlagen der Klägerin bei ihren Tochtergesellschaften und Kreditinstituten keine Hilfsumsätze im Sinne des § 43 Nr. 3 UStDV“ seien.101 Dies hat folgenden Hintergrund: Nach § 4 Nr. 8 Buchst. a UStG ist die Gewährung und die Vermittlung von Krediten steuerfrei. § 15 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 UStG bestimmt, dass die Steuer für die Lieferungen, die Einfuhr und den innergemeinschaftlichen Erwerb von Gegenständen sowie für die sonstigen Leistungen, die der Unternehmer zur Ausführung steuerfreier Umsätze verwendet, vom Vorsteuerabzug ausgeschlossen ist. Für Fälle von geringer steuerlicher Bedeutung sieht § 15 Abs. 5 Nr. 3 UStG eine Ermächtigung zur Schaffung von näheren Bestimmungen durch Rechtsverordnung dazu vor, wann in Fällen von geringer steuerlicher Bedeutung zur Vereinfachung oder zur Vermeidung von Härten bei der Aufteilung der Vorsteuerbeträge (Abs. 4) Umsätze, die den Vorsteuerabzug ausschließen, unberücksichtigt bleiben können oder von der Zurechnung von Vorsteuerbeträgen zu diesen Umsätzen abgesehen werden kann. Davon hat der Verordnungsgeber in § 43 Nr. 3 UStDV Gebrauch gemacht. Danach sind die Vorsteuerbeträge, die den steuerfreien Umsätzen aus ȤȤ sonstigen Leistungen, die im Austausch von gesetzlichen Zahlungsmitteln bestehen, ȤȤ Lieferungen von im Inland gültigen amtlichen Wertzeichen sowie ȤȤ Einlagen bei Kreditinstituten zuzurechnen sind, nur dann vom Vorsteuerabzug ausgeschlossen, wenn diese Umsätze als Hilfsumsätze anzusehen sind. Ist dies der Fall, so ist keine Aufteilung der Vorsteuer vorzunehmen; die diesbezüglichen Vorsteuerbeträge sind in voller Höhe abziehbar.102 Bezogen auf den zu entscheidenden Fall verneint der Bundesfinanzhof Hilfsumsätze der Klägerin in Bezug auf die Zinsen, die sie von den Banken aus dem eingeworbenen Kapital und aus den von ihr an die Tochtergesellschaften gewährten Darlehen be­ zogen hatte. Der erkennende Senat bezieht sich dabei auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs, wonach eine wirtschaftliche Tätigkeit nicht als Hilfsumsatz im Sinne von Art. 19 Abs. 2 der Richtlinie 77/388/EWG eingestuft werden könne, wenn sie die unmittelbare, dauerhafte und notwendige Erweiterung der steuerbaren Tätigkeit des Unternehmens darstelle.103 Dies sei bei der Klägerin der Fall gewesen. Die Zinsen, die 100 EuGH, Urt. v. 16.7.2015 – C-108/14, C-109/14 – Larentia + Minerva, UR 2015, 671, Rz. 25. 101 BFH, Urt. v. 19.1.2016 – XI R 38/12, BStBl. II 2017, 567 = UR 2016, 312 m. Anm. Heinrichshofen und Sterzinger, Rz. 46 ff. 102 BFH, Urt. v. 19.1.2016 – XI R 38/12, BStBl. II 2017, 567 = UR 2016, 312 m. Anm. Heinrichshofen und Sterzinger, Rz. 49. 103 So BFH, Urt. v. 19.1.2016 – XI R 38/12, BStBl. II 2017, 567 = UR 2016, 312 m. Anm. Heinrichshofen und Sterzinger, Rz. 52 unter Hinweis auf EuGH, Urt. v. 11.7.1996 – C-306/94 – Régie dauphinoise, ABl EG 1996, Nr. C 354, 1, Rz. 22; Urt. v. 29.10.2009 – C-174/08 – NCC

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die Klägerin als Entgelt für Darlehen an ihrer Tochtergesellschaften erhalten habe, fielen in den Anwendungsbereich der Mehrwertsteuer. Die Klägerin habe als geschäftsleitende Holding auch als Unternehmerin gehandelt, soweit sie Mittel, die sie mit der Kapitalerhöhung eingeworben habe, zur Vergabe von Darlehen genutzt habe.104 Die Umsätze seien aber schon deshalb keine Hilfsumsätze, weil sie zur Haupttätigkeit der Klägerin gehört hätten, die den Erwerb und die Verwaltung von in- und ausländischen Finanzanlagen umfasst habe.105 b) Kritik an der Subsumtion der gewährten Darlehen unter § 43 UStDV Der Bundesfinanzhof geht davon aus, dass es sich bei von Holdinggesellschaften an die Tochtergesellschaften gewährten Darlehen jedenfalls dann nicht mehr um Hilfsumsätze im Sinne von § 43 UStDV handelt, wenn der Geschäftszweck der Holdinggesellschaft den Erwerb und die Verwaltung von in- und ausländischen Finanzanlagen umfasst. Englisch106 wendet dagegen zu Recht ein, dass der Wortlaut von § 43 UStDV es nicht zulasse, die Kreditvergabe an ein verbundenes Unternehmen hierunter zu subsumieren. § 43 Nr. 3 UStDV erfasst drei Varianten, nämlich 1. sonstige Leistungen, die im Austausch von gesetzlichen Zahlungsmitteln bestehen, 2. Lieferungen von im Inland gültigen amtlichen Wertzeichen und 3. Einlagen bei Kreditinstituten. Bezogen auf die von einer Holdinggesellschaft an die Tochtergesellschaften gewährten Darlehen steht fest, dass es sich dabei weder um den Austausch von gesetzlichen Zahlungsmitteln noch um Lieferungen von gültigen amtlichen Wertzeichen handelt. Damit bleibt nur die letzte Variante, die ausdrücklich auf die Einlage bei Kreditinstituten beschränkt ist, so dass die Kreditvergabe an ein verbundenes Unternehmen nur dann hierunter subsummiert werden kann, wenn es sich bei diesem verbundenen Unternehmen um ein Kreditinstitut handelt,107 was in dem zu entscheidenden Sachverhalt eindeutig nicht der Fall war. Das hat zur Folge, dass nach der von Englisch vertretenen Auffassung immer eine Vorsteueraufteilung vorzunehmen ist, wenn eine Holdinggesellschaft verzinsliche Darlehen an ihre Tochtergesellschaften gewährt, die keine Kreditinstitute sind, weil die Ausnahmeregelung des § 43 UStDV gerade nicht eingreift.

Construction Danmark, Slg 2009, I-10567, Rz. 30 und 31; Urt. v. 6.3.2008 – C-98/07 – Nordania Finans und BG Factoring, Slg 2008, I-1281, Rz 22, 24 und 26. 104 BFH, Urt. v. 19.1.2016 – XI R 38/12, BStBl. II 2017, 567 = UR 2016, 312 m. Anm. Heinrichshofen und Sterzinger, Rz. 54. 105 BFH, Urt. v. 19.1.2016 – XI R 38/12, BStBl. II 2017, 567 = UR 2016, 312 m. Anm. Heinrichshofen und Sterzinger, Rz. 56. 106 Englisch, MwStR 2016, 401, 405. 107 So auch Englisch, MwStR 2016, 401, 405.

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Auch die vom Bundesfinanzhof vertretene richtlinienkonforme Auslegung des Begriffs des Hilfsumsatzes108 bietet nach Auffassung von Englisch keine hinreichende Erklärung dafür, warum die Fremdkapitalvergabe an eine operativ tätige Konzerngesellschaft einer Einlage bei einem Kreditinstitut gleichzusetzen sein soll.109 Dem ist insofern zuzustimmen, als Art. 19 Abs. 2 Satz 2 der Richtlinie 77/388/EWG,110 auf den der Bundesfinanzhof bei der richtlinienkonformen Auslegung Bezug nimmt,111 bei der Berechnung des Pro-rata-Satzes zur Vorsteueraufteilung lediglich festschreibt, dass „auch die Hilfsumsätze im Bereich der Grundstücks- und Finanzgeschäfte sowie die in Art. 13 Teil B Buchstabe d genannten Umsätze“ außer Ansatz bleiben, „wenn es sich um Hilfsumsätze handelt“. Wenn der nationale Gesetzgeber dies in § 43 Nr. 3 UStDV im Hinblick auf Kreditgewährungen auf „Einlagen bei Kreditinstituten“ begrenzt, kann diese Begrenzung nicht über eine richtlinienkonforme Auslegung des Begriffs des Hilfsumsatzes korrigiert werden. Allerdings räumt Englisch den Konzerngesellschaften das Recht ein, sich über den zu eng gefassten Wortlaut des § 43 UStDV hinaus unmittelbar auf Art. 174 Abs. 2 Buchst. c MwStSystRL112 zu berufen, um auf diesem Wege die als Hilfsumsätze ausgestalteten Finanzgeschäfte nicht in die Berechnung der Vorsteueraufteilung einzubeziehen, sofern diese Aufteilung nach dem Umsatzschlüssel erfolgt.113 Diese Beschränkung auf die Aufteilung nach dem Umsatzschlüssel leitet er aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ab, wonach Art. 174 Abs. 2 Buchst. c MwStSystRL nur dann zur Anwendung gelangt, wenn der betreffende Mitgliedstaat die Vorsteueraufteilung nach dem richtlinienrechtlichen Regelmaßstab des Art. 173 Abs. 1 i.V.m. Art. 174 Abs. 1 MwStSystRL vornimmt;114 dies ist die Aufteilung nach dem Verhältnis der zum Vorsteuerabzug berechtigenden Umsätze zu denjenigen, die nicht zum Vorsteuerabzug berechtigen. Bezogen auf das nationale Recht ist insoweit aber anzumerken, dass der Umsatzschlüssel nach § 15 Abs. 4 Satz 3 UStG subsidiär ist und nur dann zur Anwendung gelangt, wenn keine andere wirtschaftliche Zurechnung möglich ist.115 c) Auswege aus der Aufteilung der Vorsteuer bei Kreditumsätzen aa) Option zur Umsatzsteuer Sofern die Kreditumsätze nach § 4 Nr. 8 UStG steuerfrei sind, kann sich die Holdinggesellschaft der daraus folgenden Aufteilung der Vorsteuer dadurch entziehen, dass 108 BFH, Urt. v. 19.1.2016 – XI R 38/12, BStBl. II 2017, 567 = UR 2016, 312 m. Anm. Heinrichshofen und Sterzinger, Rz. 50. 109 Englisch, MwStR 2016, 401, 405. 110 Heute Art. 174 Abs. 2 Buchst. b MwStSystRL. 111 BFH, Urt. v. 19.1.2016 – XI R 38/12, BStBl. II 2017, 567 = UR 2016, 312 m. Anm. Heinrichshofen und Sterzinger, Rz. 50. 112 Früher Art. 19 Abs. 2 Satz 2 der Richtlinie 77/388/EWG. 113 Englisch, MwStR 2016, 401, 405. 114 EuGH, Urt. v. 18.12.2008  – C-488/07  – Royal Bank of Scotland, Slg 2008, I-10409, Rz. 20 ff.; Urt. v. 8.11.2012 – C-511/10 – BLC Baumarkt, ABl. EU 2013, Nr. C 9, 6 = UR 2012, 968 m. Anm. Marchal/Salder, Rz. 20 ff. 115 Siehe dazu unten unter V.4.b)cc).

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sie nach § 9 UStG zur Umsatzsteuer optiert. Das setzt allerdings voraus, dass die Darlehensnehmerin, also die Tochtergesellschaft, ebenfalls Unternehmerin ist.116 Die Option kann auch noch nachträglich erfolgen, solange die Steuerfestsetzung für das Jahr der Leistungserbringung anfechtbar oder aufgrund eines Vorbehalts der Nachprüfung gemäß § 164 AO noch änderbar ist.117 Gegenüber ausländischen Tochtergesellschaften kann die Holdinggesellschaft allerdings nur dann optieren, wenn das ausländische Recht eine Option vorsieht.118 bb) Kreditumsatz ist ein Hilfsumsatz im Sinne von § 43 Nr. 3 UStDV Folgt man der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs zur Steuerschädlichkeit von Kreditumsätzen119, so kann die Holdinggesellschaft die Aufteilung der Vorsteuer bei nach § 4 Nr. 8 UStG steuerfreien Kreditumsätzen auch dadurch verhindern, dass sie eine Gestaltung wählt, die den Kreditumsatz als Hilfsumsatz im Sinne von § 43 Nr. 3 UStDV erscheinen lässt. Das setzt voraus, dass Finanzanlagen nachweislich nicht zu ihrem Unternehmensgegenstand gehören und dass sie keine umfangreichen, vorsteuerbelasteten Eingangsumsätze für die Ausgangsumsätze verwendet.120 Hinsichtlich des Unternehmensgegenstandes müssen klare Regelungen im Gesellschaftsvertrag erfolgen. Vorsicht ist bei Verrechnungskonten und Cashpoolings wegen der anfallenden Zinsen geboten.121 cc) Umsatzsteuerrechtliche Organschaft Die Vorsteueraufteilung kann auch dadurch verhindert werden, dass zwischen der Holdinggesellschaft und der Tochtergesellschaft eine umsatzsteuerrechtliche Organschaft konstruiert wird.122 In diesem Fall stellen die Zinseinnahmen nicht steuerbare Innenumsätze dar.123 Zu beachten ist bei der Organschaft allerdings, dass diese auf inländische Gesellschaften beschränkt ist.124

116 Wäger in Birkenfeld/Wäger, Das große Umsatzsteuer-Handbuch, Rz.  180 (Lieferung 9/2016). 117 BFH, Urt. v. 19.12.2013 – V R 6/12, BFH/NV 2014, 1126. 118 BFH, Urt. v. 6.5.2004 – V R 73/03, BStBl. II 2004, 856, 858. 119 Siehe unter VI.1.a). 120 Küffner/Rust, DB 2016, 728, 730. 121 Küffner/Rust, DB 2016, 728, 730. 122 Die Frage einer umsatzsteuerrechtlichen Organschaft war auch Gegenstand des Urteils des BFH, Urt. v. 19.1.2016 – XI R 38/12, BStBl. II 2017, 567 = UR 2016, 312 m. Anm. Heinrichshofen und Sterzinger. Da die Frage der Organschaft nicht hatte geklärt werden können, hatte der Bundesfinanzhof den Rechtsstreit an das Finanzgericht Hamburg zurückverwiesen. 123 Englisch, MwStR 2016, 401, 404; Küffner/Rust, DB 2016, 728, 730. 124 Dazu auch Stadie in Rau/Dürrwächter, UStG, § 15 Rz. 239 f. (1/2017).

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dd) Ansässigkeit der darlehensempfangenden Tochtergesellschaft im Drittland Zu einer Aufteilung der Vorsteuer kommt es schließlich ebenfalls nicht, wenn die darlehensempfangende Tochtergesellschaft im Drittland ansässig ist. Der Ausschluss des Vorsteuerabzugs greift in diesem Fall nach § 15 Abs. 3 Nr. 2 Buchst. b UStG nicht ein.125 2. Einschränkung des Vorsteuerabzugs bei unverhältnismäßig hoher Kapitaleinwerbung a) Urteil des Bundesfinanzhofs vom 6.4.2016 Mit Urteil vom 6.4.2016126 hat der V. Senat des Bundesfinanzhofs entschieden, dass Vorsteuer, die im Zusammenhang mit dem Einwerben von Kapital anfällt, dann nicht abgezogen werden darf, wenn das eingeworbene Kapital in keinem Verhältnis zu dem Beteiligungserwerb steht. In dem entschiedenen Fall ging es darum, dass die klagende inländische KG ein Kommanditkapital i.H.v. 862.500,00 Euro hatte und an einer Besitz-S.A. und einer Betriebs-S.A. beteiligt war, die beide im Drittland ansässig waren. Diesen Gesellschaften gegenüber erbrachte die Klägerin kaufmännische Dienstleistungen gegen Entgelt. Die Klägerin beauftragte einen Dritten mit der Vermittlung von KG-Anteilen, was dazu führte, dass sich ihr Kommanditkapital auf 7,8 Millionen Euro erhöhte. In ihrer Umsatzsteuererklärung machte die Klägerin unter anderem Vorsteuern aus der Einwerbung des Kommanditkapitals geltend. In den Entscheidungsgründen geht der erkennende Senat unter Hinweis auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union zunächst davon aus, dass Kosten, die im Zusammenhang mit dem Erwerb von Beteiligungen an Tochtergesellschaften anfallen, grundsätzlich für die Holdinggesellschaft, die an deren Verwaltung teilnimmt und insoweit eine wirtschaftliche Tätigkeit ausübt, ein Recht auf vollständigen Vorsteuerabzug begründen.127 Hinsichtlich der Kosten der Klägerin für die Einwerbung von Kapital verneint der Bundesfinanzhof indes einen Bezug für das Unternehmen der Klägerin. Angesichts des Stammkapitals der Tochtergesellschaften von jeweils 10.000,00 US-$ habe es – so die Begründung – des eingeworbenen Kapitals jedenfalls nicht in dieser Größenordnung bedurft.128 Aus diesem Grunde sei davon auszugehen, dass die Klägerin die Leistungen sowohl für ihre wirtschaftliche als auch für ihre nichtwirtschaftliche Tätigkeit verwendet habe, so dass eine Vorsteueraufteilung analog § 15 Abs. 4 UStG vorzunehmen sei.129

125 Englisch, MwStR 2016, 401, 404. 126 BFH, Urt. v. 6.4.2016 – V R 6/14, BStBl. II 2017, 577 = UR 2016, 770. 127 BFH, Urt. v. 6.4.2016 – V R 6/14, BStBl. II 2017, 577 = UR 2016, 770, Rz. 34. 128 BFH, Urt. v. 6.4.2016 – V R 6/14, BStBl. II 2017, 577 = UR 2016, 770, Rz. 34. 129 Siehe zu dieser Aufteilung unter V.

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b) Widerspruch der Entscheidung zur bisherigen Rechtsprechung des EuGH Abgesehen davon, dass es angesichts der Ausführungen des Senats in den Entscheidungsgründen nahegelegen hätte, das finanzgerichtliche Urteil aufzuheben und den Rechtsstreit zur weiteren Sachaufklärung, nämlich der Frage, ob die bezogenen Leistungen der unternehmerischen Beratungstätigkeit oder der Ausgabe von Kommanditanteilen zuzuordnen sind, an das Finanzgericht zurückzuverweisen,130 steht die vom Bundesfinanzhof vorgenommene Beschränkung des Vorsteuerabzugs im Widerspruch zur bisherigen Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union. Dieser hat – wie der erkennende Senat dies selbst ausführt131 – bislang immer dann einen vollständigen Vorsteuerabzug bejaht, wenn die Holdinggesellschaft  – ebenso wie in dem vom Bundesfinanzhof zu entscheidenden Fall – gegenüber ihren Tochtergesellschaften wirtschaftlich tätig geworden ist. Der Gerichtshof hat dabei darauf abgestellt, ob die Kosten der bezogenen Dienstleistungen Teile der allgemeinen Kosten der Holdinggesellschaft sind und damit zu den Preiselementen ihrer Produkte gehören.132 Dies prüft der Bundesfinanzhof in seinem Urteil vom 6.4.2016 indes nicht.133 Anders als der Gerichtshof geht der Bundesfinanzhof demgegenüber nach wie vor davon aus, dass auch die Führungsholding neben ihrem wirtschaftlichen Bereich einen nichtwirtschaftlichen Bereich unterhält, der das bloße Halten der Beteiligungen betrifft.134 In diesem Sinne hatte bereits der XI. Senat in seinen Vorlagebeschlüssen vom 1.12.2013 die Auffassung vertreten, dass hinsichtlich der Eingangsleistungen der Holding eine Aufteilung vorzunehmen sei, weil diese zumindest auch – wenn nicht sogar in erster Linie – dem nicht steuerbaren Erwerb und dem nicht steuerbaren Halten der Beteiligungen an den Tochtergesellschaften gedient hätten.135 Dem ist der Gerichtshof in der nachfolgenden Entscheidung vom 16.7.2015136 in der Rechtssache Larentia + Minerva allerdings entgegengetreten und hat betont, dass eine Holdinggesellschaft die Vorsteuern aus den Kosten, die sie im Zusammenhang mit dem Erwerb von Beteiligungen an ihren Tochtergesellschaften getragen hat, dann in vollem Umfang abziehen darf, wenn sie an der Verwaltung der Tochtergesellschaften teilnimmt und insoweit eine wirtschaftliche Tätigkeit ausübt und wenn die nachgelagerten Umsätze nicht von der Mehrwertsteuer befreit sind. Hätte der Gerichtshof eine Aufteilung der Vorsteuer befürwortet, wie sie der Bundesfinanzhof nunmehr vornimmt, so hätte er dies in der Entscheidung zum Ausdruck gebracht. Stattdessen hat er für die 130 Siehe dazu unter V.4.b)aa). 131 BFH, Urt. v. 6.4.2016 – V R 6/14, BStBl. II 2017, 577 = UR 2016, 770, Rz. 34. 132 Siehe speziell zur Kapitaleinwerbung: EuGH, Urt. v. 26.5.2005 – C-465/03 – Kretztechnik, Slg. 2005, I-4357 = UR 2005, 382, Rz. 36; siehe ferner EuGH, Urt. v. 16.7.2015 – C-108/14 und C-109/14 – Larentia + Minerva, ABl. EU 2015, Nr. C 302, 7 = UR 2015, 671, Rz. 25 und Rz. 28 a.E.; kritisch daher zu jetzigen Entscheidung des BFH Friedrich-Vache/Endres-­ Reich, UR 2017, 649 (652 ff.). 133 Siehe dazu auch schon oben unter V.4.b)aa). 134 Mit diesem Verständnis auch Brinkmann/Walter-Yadegardjam, DStR 2016, 2190, 2195. 135 Siehe BFH, Beschl. v. 11.12.2013 – XI R 38/12, BStBl. II 2014, 428 = UR 2014, 323, Rz. 41; siehe dazu auch unter V. 2. 136 EuGH, Urt. v. 16.7.2015 – C-108/14 und C-109/14 – Larentia + Minerva, ABl. EU 2015, Nr. C 302, 7 = UR 2015, 671.

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Führungsholding die Koexistenz von einem wirtschaftlichen und einem nichtwirtschaftliche Bereich verworfen, so dass bei strikter Befolgung dieser Rechtsprechung auch in dem vom Bundesfinanzhof am 6.4.2016 entschiedenen Fall der Vorsteuerabzug in voller Höhe zu gewähren gewesen wäre. Wollte der Bundesfinanzhof dem nicht folgen, so hätte er wegen der Divergenz zur Rechtsprechung des Gerichtshofs den Fall nach Art. 267 Abs. 3 AEUV erneut vorlegen müssen. 3. Mögliche Begrenzung des Vorsteuerabzugs der Höhe nach durch die Steuer auf Leistungsentgelte In seinem Urteil vom 6.4.2016 deutet der Bundesfinanzhof eine weitere Einschränkung des Vorsteuerabzugs an, die er aber letztendlich offen lässt.137 Angesprochen ist die Frage, ob die Steuer auf die Leistungsentgelte eine Obergrenze für den Vorsteuerabzug darstellt. Diesen Gesichtspunkt hatte der Bundesfinanzhof bereits in seiner Entscheidung vom 9.2.2012138 aufgegriffen, nachdem das Finanzgericht München in seiner erstinstanzlichen Entscheidung139 eine solche Obergrenze unter Hinweis auf die Entscheidung des Gerichtshofs in der Rechtssache Investrand140 bejaht hatte. Sowohl in der Entscheidung vom 9.2.2012141 als auch in derjenigen vom 6.4.2016142 lässt der Bundesfinanzhof diese Frage allerdings unentschieden, weil der wirtschaftlichen Tätigkeit gegenüber der nicht wirtschaftlichen Tätigkeit nur eine untergeordnete Bedeutung zugekommen sei. Gleichwohl ist nach den Ausführungen in den genannten Entscheidungen nicht auszuschließen, dass der Bundesfinanzhof letztendlich eine Begrenzung des Vorsteuerabzugs im vorstehenden Sinne bejahen wird. Eine solche Begrenzung lässt sich auf der Grundlage der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union allerdings kaum rechtfertigen. Insbesondere aus der vom Finanzgericht München herangezogenen Entscheidung in der Rechtssache Investrand lässt sich eine solche Begrenzung nicht ableiten. In dem Urteil in dieser Rechtssache ging es darum, dass die Investrand als Finanzholding Beteiligungen an diversen Gesellschaften hielt und unter anderem zu 43,5 % an der Covex BV beteiligt war. Die Anteile an dieser Gesellschaft verkaufte sie am 3.8.1989 an die HiTec Sports plc. Neben einem festen Betrag sollte sich der Kaufpreis für die Anteile nach der Gewinnentwicklung der Covex BV in den Jahren 1989-1992 bemessen. Ab dem 1.1.1993 übernahm die Investrand gegenüber der HiTec Sports plc entgeltliche Managementleistungen und wurde damit erstmals gegen Entgelt tätig. Im Jahr 1996 entstand zwischen der Investrand und der HiTec Sports plc Streit über die Gewinnentwicklung der Covex BV in den Jahren 1989-1992 und damit über das Entgelt für den Anteilsverkauf vom 3.8.1989. Die Investrand holte sich Rechtsrat bei einem Rechtsanwalt und 137 BFH, Urt. v. 6.4.2016 – V R 6/14, BStBl. II 2017, 577 = UR 2016, 770, Rz. 40. 138 Siehe dazu BFH, Urt. v. 9.2.2012 – V R 40/10, BStBl. II 2012, 844, Rz. 33. 139 FG München, Urt. v. 28.1.2009 – 3 K 3141/05, EFG 2009, 1153. 140 EuGH, Urt. v. 8.2.2007  – C-435/05  – Investrand, Slg. 2007, I-01315 = UR 2007, 225 m. Anm. Hahne. 141 BFH, Urt. v. 9.2.2012 – V R 40/10, BStBl. II 2012, 844, Rz. 33. 142 BFH, Urt. v. 6.4.2016 – V R 6/14, BStBl. II 2017, 577 = UR 2016, 770, Rz. 40.

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machte aus der diesbezüglichen Rechnung die ausgewiesene Umsatzsteuer als Vorsteuer geltend. Diesen Vorsteuerabzug lehnt die Finanzverwaltung ab. Der Gerichtshof gelangte bei der Prüfung des Vorsteuerabzugs zu der Frage, ob es sich bei den fraglichen Kosten um allgemeine Aufwendungen handele, die deshalb direkt und unmittelbar mit der wirtschaftlichen Gesamttätigkeit der Steuerpflichtigen zusammenhingen, weil die Forderung, auf die sie sich bezögen, zum Vermögen des von ihr betriebenen Unternehmens gehörten.143 Dies verneinte der Gerichtshof mit der Begründung, dass nach Aktenlage nicht angenommen werden könne, dass Invest­ rand die Kosten der Beratungsdienste für die Zwecke der von ihr ausgeübten steuerpflichtigen Tätigkeiten aufgewendet habe. Da sie ihren ausschließlichen Entstehungsgrund nicht in diesen Tätigkeiten hätten, stünden diese Kosten in keinem direkten und unmittelbaren Zusammenhang mit diesen Tätigkeiten.144 Damit setzt der Gerichtshof lediglich seine bisherige Rechtsprechung fort, wonach es maßgeblich auf den direkten und unmittelbaren Zusammenhang zwischen den Eingangs- und den Ausgangsumsätzen ankommt. Eine allgemeine Begrenzung des Vorsteuerabzugs der Höhe nach durch die Steuer auf die Leistungsentgelte lässt sich der Entscheidung indes nicht entnehmen.145 Abgesehen davon widerspräche eine solche Beschränkung dem System, welches der Mehrwertsteuersystemrichtlinie zugrunde liegt, weil danach die Höhe der Leistungsentgelte für den Vorsteuerabzug ohne Bedeutung ist.146

VII. Ausblick Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass nach wie vor zahlreiche Unsicherheiten bestehen, in welchen Fällen und vor allem in welchem Umfang eine Holdinggesellschaft Vorsteuern abziehen darf. Von besonderem Interesse dürfte dabei die Frage sein, ob der Bundesfinanzhof den Vorsteuerabzug zukünftig nur bis zur Höhe der Steuer auf die jeweiligen Leistungsentgelte zulassen wird. Sollte dies der Fall sein, wird letztendlich eine Klärung durch den Gerichtshof der Europäischen Union erforderlich sein. Ebenso bleibt abzuwarten, ob sich die Rechtsprechung im Einzelnen der Vorsteueraufteilung annehmen und hierfür Maßstäbe und Kriterien entwickeln wird.

143 EuGH, Urt. v. 8.2.2007 – C-435/05 – Investrand, Slg. 2007, I-01315 = UR 2007, 225 m. Anm. Hahne, Rz. 29. 144 EuGH, Urt. v. 8.2.2007 – C-435/05 – Investrand, Slg. 2007, I-01315 = UR 2007, 225 m. Anm. Hahne, Rz. 33. 145 Ebenso Brinkmann/Walter-Yadegardjam, DStR 2016, 2190, 2195. 146 So auch Brinkmann/Walter-Yadegardjam, DStR 2016, 2190, 2195.

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Organschaft in der Umsatzsteuer Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Vorgaben höherrangigen Rechts III. Deutsche Organschaft 1. Über-/Unterordnung 2. Beteiligte Personen 3. Ausfüllung der Präzisierungsspielräume bei den Eingliederungsvoraussetzungen IV. Rechtspolitische Perspektive 1. Rechtfertigung der Beibehaltung der ­Organschaft durch unechte Steuerbefreiungen im Kontext des internationalen Steuerwettbewerbs

2. Abschaffung des mitgliedstaatlichen Wahlrechts durch unionseinheitliche ­Regelung 3. Keine Beschränkung auf Sektoren mit unecht steuerbefreiten Umsätzen 4. Zugewinn an Rechtssicherheit durch ­Anerkennungsverwaltungsakt V. Zusammenfassung und Ausblick

I. Einleitung In Abweichung von der zivilrechtlichen Lage nimmt die umsatzsteuerliche Organschaft der Organgesellschaft ihre umsatzsteuerliche Selbständigkeit und ordnet ihre Umsätze dem Organträger zu. Sie ist als Kind der Allphasenbruttosteuer noch in der Weimarer Zeit entstanden1 und damit fast so betagt wie die Umsatzsteuer selbst. Trotz ihres hohen Alters ist die umsatzsteuerliche Organschaft immer noch hochproblematisch: Gerade bei nachträglich entdeckten „Überraschungsorganschaften“ oder umgekehrt vermeintlichen Organschaften kommt es zu einer Verschiebung der Zahlungslast, die sich durch die Haftungsvorschriften der Abgabenordnung und die zivil1 Vgl. RFH v. 26.9.1927 – VA 417/27, RFHE 22, 69; RFH v. 23.2.1934 – V A 480/33, RFHE 36, 39. Erste Anklänge finden sich zudem bereits in RFH v. 5.5.1922 – VA 218/21, RFHE 10, 101 (102). Anders zuvor RFH v. 10.11.1921 – VA 12/21, RFHE 7, 207. Sie wurde allerdings erstmalig kodifiziert im § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG 1934. Danach wurde „die gewerbliche oder berufliche Tätigkeit […] nicht selbständig ausgeübt, wenn eine juristische Person dem Willen eines Unternehmers derart untergeordnet ist, dass sie keinen eigenen Willen hat.“ Die Vorschrift wurde durch Art. II des Kontrollratsgesetzes Nr. 15 weitgehend (aber unter Außerachtlassung von Organschaften mit natürlichen als Organträgern, vgl. BFH v. 26.5.1955 – V 104/54 S, BStBl. III 1955, 234) aufgehoben, um die Entflechtung zu befördern (vgl. dazu BFH v. 17.7.1952 – V 17/52 S, BStBl. III 1952, 234), dann aber durch Art. 2 des Neunten Gesetzes zur Änderung des Umsatzsteuergesetzes v. 18.10.1957, BGBl. I S. 1743 wieder eingeführt. Zur Gesetzgebungsgeschichte näher etwa BVerfG v. 20.12.1966 – 1 BvR 320/57 und 70/63, BVerfGE 21, 12 (43) sowie eingehend Ritschl, Finanzarchiv – N.F. 16 (1955/56), 399; Spindler, Recht und Konzern : Interdependenzen der Rechts- und Unternehmensentwicklung in Deutschland und den USA zwischen 1870 und 1933, 18 ff.

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rechtlichen Ausgleichsvorschriften nicht immer überzeugend bewältigen lassen. Dies gilt namentlich in der Insolvenz eines der an der Organschaft beteiligten Unternehmen. Die involvierten Summen können dann überaus hoch sein. Zusätzliche Schwierigkeiten entstehen aus der Tatsache, dass sich der Richtliniengesetzgeber nicht für eine unionsweit einheitliche Regelungen entschieden hat, sondern den Mitgliedstaaten ein Umsetzungswahlrecht eingeräumt hat. Angesichts dieser Probleme, aber auch der involvierten Summen verwundert es nicht, dass sich Rechtsprechung und Kommission, aber auch die wissenschaftliche Literatur sich intensiv mit der Organschaft in allen ihren Facetten auseinandergesetzt haben. Aus der erst spät einsetzenden Rechtsprechung des EuGH ist die grundlegende Entscheidung in den verbundenen Rechtssachen Larentia+Minerva/Marenave2 hervorzuheben. Daneben sind relevant3 auch die vorangegangenen Entscheidungen in den Rechtssachen Ampliscientifica4 und Skandia America5 sowie in diversen Vertragsverletzungsverfahren.6 Die deutsche Rechtsprechung hat sich über die Zeit hinweg stetig um eine Konkretisierung der Anforderungen an die Organschaft bemüht, dabei allerdings durchaus auch vermeintlich gefestigte Rechtsfiguren wieder aufgegeben. Derzeit ist im Übrigen auch noch keine einheitliche Linie des BFH dazu erkennbar, wie mit der Grundsatzentscheidung des EuGH in den verbundenen Rechtssachen Larentia+Minerva/Marenave umzugehen ist.7 Hinsichtlich der Kommission ist zum einen das Vertragsverletzungsverfahren gegen die Bundesrepublik Deutschland hervorzuheben, mit dem die seinerzeit im deutschen Recht vorgesehene grenzüberschreitende Reichweite der Organschaft beanstandet wurde. Zum anderen hat die Kommission 2 EuGH v. 16.7.2015  – verb. Rs. C‑108/14 und C‑109/14, ECLI:EU:C:2015:496, BStBl II 2017,604. 3 S. zur Frage der Konsultation des Mehrwertsteuerausschusses neben EuGH v. 22.5.2008 – C-162/07, ECLI:EU:C:2008:301  – Ampliscientifica ferner EuGH v. 12.6.1979, verb. Rs. 181/78 und 222/78, ECLI:EU:C:1979:151 – Ketelhandel van Paasen und Denkavit Dienst­ betoon sowie EuG v. 6.12.1999 – T-178/99, ECLI:EU:T:1999:307 – Elder. 4 EuGH v. 22.5.2008 – C-162/07, ECLI:EU:C:2008:301. 5 EuGH v. 17.9.2014 – C-7/13, ECLI:EU:C:2014:2225. 6 EuGH v. 25.4.2013 – C-480/10, ECLI:EU:C:2013:263 – Kommission/Schweden; v. 25.4.2013 – C-74/11, ECLI:EU:C:2013:266 – Kommission/Finnland (zur Beschränkung der Mehrwertsteuergruppe auf einen bestimmten Sektor); sowie EuGH v. 9.4.2013 – C‑85/11, ECLI:EU:C:​ 2013:217 – Kommission/Irland; v. 25.4.2013 – C-95/11, ECLI:EU:C:2013:268 – Kommission/Dänemark; v. 25.4.2013  – C-74/11, ECLI:EU:C:2013:266  – Kommission/Finnland; v. 25.4.2013  – C-65/11, ECLI:EU:C:2013:265  – Kommission/Niederlande; v. 25.4.2013  – C-109/11  – ECLI:EU:C:2013:269  – Kommission/Tschechien; v. 25.4.2013  – C-86/11, ECLI:EU:C:2013:267  – Kommission/Vereintes Königreich (zur Einbeziehung von Nichtsteuerpflichtigen in die Mehrwertsteuergruppe). 7 Namentlich widersprechen sich die Entscheidungen des V. und XI. Senats des BFH zu Personengesellschaften als Organgesellschaften, vgl. BFH v. 2.12.2015  – V R 25/13, BStBl.  II 2017, 547 = UR 2016, 185; v. 2.12.2015 – V R 36/13, BStBl. II 2017, 563 = UR 2016, 204; v. 2.12.2015 – V R 15/14, BStBl. II 2017, 553 = UR 2016, 192; v. 2.12.2015 – V R 67/14, BStBl. II 2017, 560 = UR 2016, 199 einerseits und v. 19.1.2016 – XI R 38/12, BStBl. II 2017, 567; v. 1.6.2016 –XI R 17/11, BStBl. II 2017, 581 andererseits. Sehr kritisch zur Uneinheitlichkeit der Rechtsprechung beispielsweise Winter, MwStR 2016, 331.

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mit einer Mitteilung8 aus dem Jahre 2009, der der Charakter von soft law beizumessen ist, ihr Verständnis der Regelung über die Mehrwertsteuergruppen dargelegt. In der wissenschaftlichen Literatur sind in jüngerer Zeit neben einer überaus großen Zahl von Aufsätzen9 insbesondere einige Monographien zu verzeichnen, die sich mit den unionsrechtlichen Vorgaben auseinandersetzen.10 Dabei wird in rechtspolitscher Hinsicht die Organschaft in diesen Beiträgen immer wieder in Zweifel gezogen.11 Die runden Geburtstage von Umsatzsteuer und Mehrwertsteuer bieten Gelegenheit, noch einmal ganz grundsätzlich über die Organschaft nachzudenken und namentlich den Fragen nach ihrer Berechtigung und nach Möglichkeiten zu ihrer künftigen Ausgestaltung nachzugehen. Dabei erweisen sich drei miteinander verbundene Herausforderungen als zentral, nämlich erstens die Problematik der überschießenden Reichweite jenseits der unechten Steuerbefreiungen, zweitens die aus der begrenzten territorialen Reichweite resultierende Fragmentierung des Binnenmarkts und schließlich drittens die Bewältigung der Rechtsunsicherheiten aus der derzeit im deutschen Recht bei Erfüllung der Tatbestandsvoraussetzungen des § 2 Abs.2 Nr. 2 UStG ex lege von selbst eintretenden Organschaft. Diese drei Herausforderungen sind auf unterschiedlichen Zuständigkeitsebenen zu bewältigen, wobei sich durchaus auch methodische Grundsatzfragen mit Blick auf die unionsrechtskonforme Auslegung stellen. Zu diesem Zweck sollen nachfolgend zunächst die Vorgaben des Unions- und Verfassungsrechts als höherrangigen Rechts skizziert werden (II.). Darauf wird den Konkretisierungen und Ausgestaltungsspielräumen des deutschen Rechts nachgegangen (III.). Anschließend wird die grundlegende Diskussion aus rechtspolitischer Perspektive über das Für und Wider der Organschaft nachgezeichnet. Dabei wird erheblicher Reformbedarf deutlich, und zwar sowohl auf unionsrechtlicher Ebene, wo jedenfalls 8 Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat über die Option der MwSt-Gruppe gemäß Artikel 11 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem, KOM(2009) 325 endgültig v. 2.7.2009. 9 Aus der Vielzahl seien hervorgehoben: Jacobs, BB 2017,424; Kruth, MwStR 2017, 73; Erdbrügger, MwStR 2017, 243; Erdbrügger, MwStR 2017, 291; Wäger, UR 2017, 664; Wäger, UR 2016, 173; Wäger, FS Wilhelm Haarmann, 2015, 949; Rauch, UR 2017,885; Höink/Langenhövel, Der Konzern 2017, 469; Hartmann, Stbg 2016, 18; Grünwald, DStR 2016, 225; Feldgen, BB 2016, 606; Heuermann, DB 2016, 608; Korf, MwStR 2016, 257; Küffner/Rust, Der Konzern 2016, 163; Lange, UR 2016, 297; Sterzinger, UR 2016, 326; Endres-Reich, UR 2016, 660; Englisch, UR 2016, 822; Eggers/Korf, MwStR 2015, 710. 10 Vgl. Boor, Die Gruppenbesteuerung im harmonisierten Mehrwertsteuerrecht  – Analyse unter besonderer Berücksichtigung der unionsrechtlichen Vorgaben für das deutsche Organschaftsrecht, 2014; Endres, Mehrwertsteuergruppe nach Art. 11 MwStRL – Entwicklung einer Gruppenbesteuerung in Deutschland, 2016; Hartman, Die Vereinbarkeit der umsatzsteuerrechtlichen Organschaft mit dem Europäischen Unionsrecht, 2013; Hoff, Die Anwendung der Umsatzsteuerorganschaft im nationalen Recht: Entwicklung, Voraussetzungen, Wirkungen und Bedeutung, 2016. S. ferner auch die englischsprachige Monographie von Pfeiffer, VAT Grouping from a European Perspective, 2015. 11 S. etwa dazu Pohmer, Finanzarchiv – N.F. 16 (1955/56), 409 (413 ff.); Reiß, StuW 1979, 343; Reiß, UR 2016, 739 (752 ff.). Für eine Beibehaltung hingegen etwa Winter, MwStR 2016, 331 (334).

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das mitgliedstaatliche Wahlrecht aufgegeben werden sollte, als auch auf innerstaatlicher Ebene (IV.) Eine kurze Zusammenfassung beschließt den Beitrag (V.).

II. Vorgaben höherrangigen Rechts In der Mehrwertsteuersystemrichtlinie findet sich mit Art. 11 MwStSystRL eine ausdrückliche Regelung zu den Mehrwertsteuergruppen. Die gegenüber ihren Vorgängervorschriften in Punkt 2 UAbs. 4 S. 2 des Anhangs A der zweiten Mehrwertsteuerrichtlinie12 und in Art.  4 Abs.  4 UAbs.  2 und 3 der Sechsten Richtlinie13 lediglich redaktionell angepasste und geringfügig sprachlich modifizierte Vorschrift14 statuiert in ihrem Unterabsatz 1 ein Wahlrecht der Mitgliedstaaten, eine Bestimmung über Mehrwertsteuergruppen zu schaffen für in seinem Gebiet ansässige Personen, die zwar rechtlich unabhängig, aber durch gegenseitige finanzielle, wirtschaftliche und organisatorische Beziehungen eng miteinander verbunden sind. Als Rechtsfolge entsteht – insoweit konzeptionell sowohl vom deutschen Recht als auch vom Zivilrecht abweichend – die Mehrwertsteuergruppe als eigenständiger Steuerpflichtiger. Dies kann, wenn man diesen Befund ernst nimmt, zu erheblichen praktischen Pro­ blemen mit Blick auf die Bestimmung der Person des Schuldners führen. Explizite unionsrechtliche Vorgaben dazu, wie der zivilrechtlich als Träger einer eigenen Vermögensmasse nicht existente Steuerpflichtige der „Mehrwertsteuergruppe“ als solcher denn für „seine Steuerschulden“ in Anspruch zu nehmen ist und wie ihm und an wen seine Vorsteuervergütungsansprüche zu vergüten sind, fehlen. Insoweit bedarf es erkennbar einer näheren Ausgestaltung durch die Rechtsetzung des jeweiligen (nationalen) Mitgliedstaates, der von der Option des Art. 11 MwStSystRL zur Einführung einer Gruppenbesteuerung Gebrauch macht. Namentlich für den Fall der Insolvenz einzelner oder aller Gruppenmitglieder bedarf es einer Regelung darüber, auf das 12 Zweite Richtlinie 67/228/EWG des Rates v. 11.4.1967 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Struktur und Anwendungsmodalitäten des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems (ABl. 1967, 71, S.  1303). Die Vorschrift sprach allerdings davon, „Personen … nicht getrennt als mehrere Steuerpflichtige, sondern zusammen als einen Steuerpflichtigen zu behandeln.“ 13 Sechste Richtlinie 77/388/EWG des Rates zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage (RL 77/388/EWG) v. 17.5.1977 (Abl. EG Nr. L 145 S. 1, ber. Nr. L 157 S. 23, Nr. L 173 S. 27, Nr. L 242 S. 22, Nr. L 262 S. 44). 14 Die Vorschrift lautet derzeit: „Nach Konsultation des Beratenden Ausschusses für die Mehrwertsteuer (nachstehend „Mehrwertsteuerausschuss“ genannt) kann jeder Mitgliedstaat in seinem Gebiet ansässige Personen, die zwar rechtlich unabhängig, aber durch gegenseitige finanzielle, wirtschaftliche und organisatorische Beziehungen eng miteinander verbunden sind, zusammen als einen Steuerpflichtigen behandeln. Ein Mitgliedstaat, der die in Absatz 1 vorgesehene Möglichkeit in Anspruch nimmt, kann die erforderlichen Maßnahmen treffen, um Steuerhinterziehungen oder -umgehungen durch die Anwendung dieser Bestimmung vorzubeugen.“ Zur Entstehungsgeschichte etwa Swinkels, International VAT Monitor 2010, 36 ff.

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Vermögen welcher Gruppenmitglieder denn, ggfls. zwangsweise, der Fiskus überhaupt und in welchem Umfange zugreifen darf, um die Begleichung der von der Gruppe als Steuerpflichtiger geschuldeten Steuer zu erlangen, und dem Vermögen wessen Gruppenmitgliedes eine vom Fiskus geschuldete Vorsteuervergütung zuzuführen ist. Darüberhinausgehend ist eine Entscheidung auch darüber erforderlich, welche Auswirkungen sich für die weitere Mitgliedschaft/Zugehörigkeit zur Mehrwertsteuergruppe ergeben, wenn über das Vermögen eines Gruppenmitgliedes ein Insolvenzverfahren eingeleitet und eröffnet wird. Seit 2006 ist es zudem Mitgliedstaaten durch die ausdrückliche, aber letztlich deklaratorische15 Vorschriften der Art. 4 Abs. 4 UAbs. 3 der Sechsten Richtlinie bzw. Art. 11 Abs. 2 MwStSystRL erlaubt, Maßnahmen zu treffen, um Steuerhinterziehungen oder -umgehungen durch die Anwendung dieser Bestimmung vorzubeugen.16 In territorialer Hinsicht beschränkt Art. 11 MwStSystRL die Rechtsfolgen auf das Gebiet des Mitgliedstaates, der die Entscheidung zur Bildung einer (nationalen) Mehrwertsteuergruppe getroffen hat. Dementsprechend hatte die Kommission Deutschland vor dem EuGH verklagt, was den deutschen Gesetzgeber zur Änderung der deutschen Regeln durch Beschränkung der Organschaft auf das Inland bewog.17 Überzeugend ist diese Änderung allerdings nicht. Letztlich wird infolge des Wahlrechts der Mitgliedstaaten, eine Mehrwertsteuergruppe einzuführen oder auch nicht, eine unentrinnbare Quelle von Verzerrungen eröffnet: Entweder wirkt sich die Entscheidung eines Mitgliedstaates unmittelbar auf die jenseits seines Territoriums getätigten Umsätze aus, was aber sowohl mit Blick auf den Übergriff auf die Steuersouveränität des betroffenen anderen Mitgliedstaats kaum hinnehmbar wäre als auch zu Doppelbesteuerungen und Doppelnichtbesteuerungen führen könnte. Oder die Be15 EuGH v. 16.7.2015 – verb. Rs. C‑108/14 und C‑109/14, ECLI:EU:C:2015:496 – Larentia + Minverva/Marenave, Rz. 42. 16 Durch Art. 1 Nr. 1 der Richtlinie 2006/69/EG des Rates vom 24.7.2006 zur Änderung der Richtlinie 77/388/EWG hinsichtlich bestimmter Maßnahmen zur Bekämpfung der Steuerhinterziehung oder -umgehung, zur Vereinfachung der Erhebung der Mehrwertsteuer sowie zur Aufhebung bestimmter Entscheidungen über die Genehmigung von Ausnahmeregelungen (ABl. L 221, 12.8.2006, S.  9) wurde noch die Sechste Richtlinie geändert. Eine entsprechende Regelung findet sich aber nunmehr auch in Art. 11 UAbs. 2 MwStSystRL. Zur Regelung s. etwa Vyncke, International VAT Monitor 2007, 250 (257 ff.). 17 Geändert durch Steuerbereinigungsgesetz 1986 v. 19.12.1985, BGBl. 1985 I, 2436. Zur knappen Begründung s. den Bericht des Finanzausschusses, BT-Drucks. 10/4513, S.  29: „Durch die Änderung wird die Organschaft in ihren Wirkungen auf das Erhebungsgebiet beschränkt. Grenzüberschreitende Umsätze innerhalb eines Organkreises, die bisher als Innenumsätze nicht der Umsatzsteuer unterlagen, können dadurch steuerbar werden. Artikel 4 Abs. 4 Unterabsatz 2 der 6. EG-Richtlinie zur Harmonisierung der Umsatzsteuern läßt nach Auffassung der EG-Kommission keine Regelung zu, die die Wirkungen der Organschaft über das Erhebungsgebiet hinaus erstreckt.“ Hintergrund war eine im Rahmen eines Vertragsverletzungsverfahrens gegen Deutschland erhobene Klage der Kommission beim EuGH Rs. 298/85, ABl. EG 1985 Nr. C 285, S. 6; dazu Birkenfeld in Birkenfeld/Wäger, Umsatzsteuer-Handbuch, §  45 Fn.  2 (Stand: November 2017); Schlienkamp, UR 1984, 6 (6f.); Tüchelmann, UR 1989, 109 (111).

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schränkung der Reichweite der Mehrwertsteuergruppe auf das Territorium des Staates führt umgekehrt zu erheblichen Spannungen mit den Grundfreiheiten, werden doch Umsätze auf dem Territorium anderer Staaten nicht in den Anwendungsbereich der Mehrwertsteuergruppe einbezogen. Diese Ungleichbehandlung führt mit Blick auf die Grundfreiheiten zu nicht gerechtfertigten Diskriminierungen.18 Insbesondere scheidet eine Rechtfertigung aus dem Grund der Territorialität aus, handelt es sich angesichts der notwendigen Rechtsfolgen des Kupierens der zivilrechtlich einheitlichen Rechtsträger und ihrer Rekonstitution zur neuen ganzen Mehrwertsteuergruppe doch um eine fromme Lüge. Denn die Beschränkung der Gruppe auf das Inland bedeutet zugleich, dass aus Sicht des Staates, der die Mehrwertsteuergruppe anerkennt, bei grenzüberschreitenden Leistungsbeziehungen innerhalb eines einzigen (zivilrechtlichen) Rechtsträgers zwingend Innenleistungen in umsatzsteuerliche (Außen-) Umsätze umqualifiziert werden. Treffen also Staaten, die eine Mehrwertsteuergruppe anerkennen, mit solchen zusammen, die dies wie Frankreich19 nicht tun, kommt es bezüglich der „Leistungen“ innerhalb desselben Rechtsträgers zwingend zu einer divergierenden Bewertung. Will man diese divergierende Bewertung nicht im Sinne eines bloßen Nebeneinanders der Bewertungen durch die beiden beteiligten Staaten belassen, sondern durch eine einheitliche Einordnung auflösen, so kommt es zwingend zu der Auswirkung der Entscheidung des einen Staates über die Mehrwertsteuergruppe zu einer Auswirkung auf den anderen Staat. Mit anderen Worten: Die Territorialität erreicht ihre angestrebte souveränitätsschonende Wirkung gerade nicht. Die Territorialität lässt sich auch nicht überzeugend mit dem Bestimmungslandprinzip auch für nichtabzugsfähige Eingangsleistungen bei unechten Steuerbefreiungen rechtfertigen. Denn derartige Verlagerungen sind in einem Einheitsunternehmen ohnehin die vorgesehene Rechtsfolge, solange der Mitgliedstaat nicht von Art. 18 und 27 MwStSystRL Gebrauch gemacht hat. Warum dies innerhalb der Gruppe anders sein sollte, ist nicht ersichtlich.20 Die von der MwStSystRL vorgeschriebene Beschränkung der territorialen Wirkung der Mehrwertsteuergruppe/Organschaft auf das Gebiet des jeweiligen Mitgliedstaates führt selbst dann, wenn die Mitgliedstaaten übereinstimmende gesetzliche Regelungen für die Bildung einer territorial beschränkten nationalen Mehrwertsteuergruppe vorsehen dazu, dass es für zu einer Mehrwertsteuergruppe gehörende Steuerpflichtige nachteilig ist, wenn sie im jeweils anderen Mitgliedstaat eigene unselbständige Niederlassungen unterhalten oder wenn im anderen Mitgliedstaat konzernangehörige eigenständige zivilrechtliche Rechtsträger anstelle im selben Mitgliedstaat vorhanden sind. Auch wenn die territoriale Beschränkung der Mehrwertsteuergruppe auf den jeweiligen Mitgliedstaat bereits vom unionsrechtlichen Recht vorgeschrieben ist, lässt sich diese Benachteiligung einer unternehmerischen Betätigung im Rahmen einer 18 Ausführlich Boor, Die Gruppenbesteuerung im harmonisierten Mehrwertsteuerrecht S.  70  f.; Eskildsen, EC Tax Review 2011, 114; Reiß, UR 2016, 739 (757  ff.). A.A. Endres, Mehrwertsteuergruppe nach Art. 11, S. 234 f.; a.A. auch Ehrke-Rabel/Kettisch, SWK/Steuern, 806  f.; siehe auch Ehrke-Rabel, Umsatzsteuer und Internationales Steuerrecht, 2012, 179 f. 19 Schlösser, MwStR 2017, 569 (574). 20 A.A. wohl Amand, International VAT Monitor 2010, 20 (23 f.).

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grenzüberschreitenden Gruppe eng verbundener Personen in einem „Binnenmarkt“ nur schwer rechtfertigen und ist mit dem Grundgedanken eines Binnenmarktes als eines Raumes ohne Binnengrenzen, in dem der freie Verkehr von Waren und Dienstleistungen gemäß Art. 26 AEUV gewährleistet ist, nur schwerlich zu vereinbaren. Mit dem Verbot des Art. 110 AEUV, auf Waren aus anderen Mitgliedstaaten weder unmittelbar noch mittelbar höhere inländische Abgaben zu erheben als gleichartige inländische Waren zu tragen haben, erscheint es nur schwerlich vereinbar, dass die Wertschöpfung, die durch im selben Mitgliedstaat ansässige verbundene Gruppenmitglieder erfolgt, unbesteuert bleibt, während sie – vermittels nicht abziehbarer Vorsteuer – der Besteuerung unterliegt, wenn die Wertschöpfung durch an sich ebenso wirtschaftlich, finanziell und organisatorisch verbundene „Gruppenmitglieder“ erfolgt, die aber in einem anderen Mitgliedstaat ansässig sind. Unzweifelhaft wird die grenzüberschreitende Gründung von (unselbständigen) Niederlassungen und eng verbundenen Tochter- und Schwestergesellschaften behindert und unattraktiv gemacht. Die Rechtsprechung des EuGH zur Mehrwertsteuergruppe hat sich, wie bereits an­ gedeutet, eher schleppend entwickelt.21 Am Anfang stand die Entscheidung in den verbundenen Rechtssachen Ketelhandel van Paasen und Denkavit Dienstbetoon22, wonach an die Konsultation vor Einführung einer Mehrwertsteuergruppe keine weiter­ gehenden formalen Anforderungen zu stellen sind. Auch in der Rechtssache Ampli­ scientifica,23 die bisweilen zu weitgehend interpretiert wurde, ging es primär um das Erfordernis einer Konsultation vor Einführung einer Mehrwertsteuergruppe. Zudem wurde rechtsfolgenseitig klargestellt, dass die Mitglieder der Gruppe zu einem Steuerpflichtigen verschmolzen werden und daher weder Steuererklärungen abgeben noch weiter als Steuerpflichtige angesehen werden können. Spannend erscheint die Entscheidung aber vor allem wegen ihrer weitergehenden Ausführungen, dass den Vorschriften über die Mehrwertsteuergruppen in verfahrensrechtlicher Hinsicht keine Sperrwirkung beizumessen ist. Die Mitgliedstaaten können daher nationale Regelungen für ein System vereinfachter Mehrwertsteuererklärung und -zahlung auch jenseits der Bildung von Mehrwertsteuergruppen schaffen. Erste Auseinandersetzungen mit den materiellen Voraussetzungen fanden sich dann erst in den Entscheidungen zu diversen Vertragsverletzungsverfahren, die die Kommission zur Vereinheitlichung der Regelungen über die Mehrwertsteuergruppen gegen die Mitgliedstaaten angestrengt hatte. Hier zeigte sich der EuGH, allerdings durchaus auch vor dem Hintergrund der spezifischen verfahrensrechtlichen Situation des Vertragsverletzungsverfahrens, vergleichsweise großzügig gegenüber den Mitgliedstaaten. Im Verfahren Kommission/Irland24 entschied seine Große Kammer unter Verweis auf Wortlaut und Systematik von Art. 11 MwStSystRL, dass auch Nicht21 Vgl. auch den Überblick bei Terra/Kajus, Introduction to European VAT, 2017, Kap. 9.4.1 (S. 429 ff.). 22 EuGH v. 12.6.1979 – verb. Rs. 181/78 und 222/78, ECLI:EU:C:1979:151. Zu Auskunftsrechten der Steuerpflichtigen mit Blick auf die Frage, ob die Konsultation erfolgt ist, s. EuG v. 6.12.1999 – T-178/99, ECLI:EU:T:1999:307 – Elder. 23 EuGH v. 22.5.2008 – C-162/07, ECLI:EU:C:2008:301. 24 EuGH v. 17.9.2014 – C‑7/13, ECLI:EU:C:2013:217.

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steuerpflichtige Mitglied der Mehrwertsteuergruppe sein können.25 Dies ist etwa mit Blick auf nicht unternehmerisch tätige (Zwischen-) Holdings von Bedeutung. Im Verfahren Kommission/Schweden26 ging es um die im schwedischen Recht vorgesehene Begrenzung der Mehrwertsteuergruppe auf Unternehmen, die unmittelbar oder mittelbar der Überwachung der Finanzaufsicht unterliegen, also auf Unternehmen des Finanz- und Versicherungssektors. Dabei sprach sich der EuGH zwar gegen eine restriktive Auslegung von Art. 11 Abs. 1 MwStSystRL aus; insbesondere handele es sich nicht, wie Schweden vorgetragen hatte, um eine Ausnahme- oder Sondervorschrift. Allerdings unterlag die Kommission gleichwohl, weil sie trotz ihrer dahingehenden  Beweislast nicht nachweisen konnte, dass die Beschränkung im Hinblick auf den Kampf gegen Steuerhinterziehung und Steuerumgehung nicht begründet wäre. Gleichwohl erstaunt das Ergebnis denn doch ein wenig, wenn man es mit der deutschen Regelung vergleicht. Glaubt man der schwedischen Regierung und dem EuGH, so verlangt der Kampf gegen Steuerhinterziehung und Steuerumgehung in Schweden, dass die Mehrwertsteuergruppe nur im Bereich des Finanz- und Versicherungssektors zugelassen wird. In Deutschland haben wir es demgegenüber offenkundig auch außerhalb des Finanz- und Versicherungssektors mit ehrbaren Steuerpflichtigen zu tun, bei denen auch ohne spezielle (Finanz)Aufsichtsbehörden keine Steuerhinterziehung und -umgehung droht. Das ist denn doch sehr erfreulich. Armes Schweden. Die im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens ergangene Entscheidung in der Rechtssache Skandia America27 betraf Leistungen einer in einem Drittstaat ansässigen Hauptniederlassung an eine in Schweden ansässige Zweigniederlassung. An sich wäre dies eine nichtsteuerbare Innenleistung gewesen. Jedoch gehörte die Zweigniederlassung in Schweden zu einer Mehrwertsteuergruppe. Der EuGH hielt die Zugehörigkeit der Zweigniederlassung zur Mehrwertsteuergruppe für vorrangig gegenüber der zivilrechtlichen Zugehörigkeit zum selben Rechtssubjekt wie die Hauptniederlassung an. Dementsprechend lehnte er eine bloße Innenleistung ab, die nach den Grundsätzen in der Entscheidung FCE Bank28 nicht steuerbar gewesen wäre. Vielmehr kon­ struierte er eine Leistungsbeziehung zwischen der Hauptniederlassung und der Mehrwertsteuergruppe in Bezug auf die der Zweigniederlassung erbrachten Leistungen, auf die dann konsequenterweise eine Umkehrung der Steuerschuldnerschaft zur Anwendung kam. Der EuGH verrät uns freilich nicht, welches Mitglied der schwedischen Mehrwertsteuergruppe denn diese Steuerschuld aus seinem Vermögen an den schwedischen Fiskus zu entrichten hat. Das zu bestimmen, obliegt dann offenbar dem nationalen (schwedischen) Umsatzsteuergesetzgeber.

25 Gleichlaufend dann die auch die Folgeentscheidungen EuGH v. 25.4.2013 – C-95/11, ECLI:​ EU:C:2013:268 – Kommission/Dänemark; v. 25.4.2013 – C-74/11, ECLI:EU:C:2013:266 – Kommission/Finnland; v. 25.4.2013 – C-65/11, ECLI:EU:C:2013:265 – Kommission/Niederlande; v. 25.4.2013  – C-109/11  – ECLI:EU:C:2013:269  – Kommission/Tschechien; v. 25.4.2013 – C-86/11, ECLI:EU:C:2013:267 – Kommission/Vereintes Königreich. 26 EuGH v. 25.4.2013 – C-480/10, ECLI:EU:C:2013:263. Gleichlaufend EuGH v. 25.4.2013 – C-74/11, ECLI:EU:C:2013:266 – Kommission/Finnland. 27 EuGH v. 17.9.2014 – C-7/13, ECLI:EU:C:2014:2225. 28 EuGH v. 23.3.2006 – C-210/04, ECLI:EU:C:2006:196.

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Noch bedeutender als die vorgehend geschilderten Entscheidungen ist jedoch die teilweise sybillinisch formulierte Entscheidung in den verbundenen Rechtssachen Larentia+Minerva/Marenave,29 die auf Vorlage des XI. Senats des BFH30 ergangen war. Neben der hier nicht weiter interessierenden Frage nach dem Vorsteuerabzug von Holdinggesellschaften hatte der EuGH Gelegenheit ganz grundsätzlich zu den Vo­ raussetzungen der Mehrwertsteuergruppen Stellung zu nehmen: Dabei ging es zum einen um die Frage der Beschränkung der deutschen Organschaft auf juristische Personen und die erforderliche Verbindung mit dem Organträger durch ein Unterordnungsverhältnis. Der EuGH antwortete, dass Personengesellschaften durch Art. 11 Abs. 1 MwStSystRL nicht per se ausgeschlossen würden.31 Auch das Bestehen eines Unterordnungsverhältnisses ist grundsätzlich keine zwingende Vo­ raussetzung für das Vorliegen einer Mehrwertsteuergruppe.32 Beide Einschränkungen können, wenn überhaupt, vielmehr nur auf Art. 11 Abs. 2 MwStSystRL gestützt werden. Dies setzt, was von den mitgliedstaatlichen Gerichten zu prüfen (nicht aber: eigenständig abschließend zu beurteilen) ist, voraus, dass die Beschränkungen zur Verhinderung missbräuchlicher Praktiken oder Verhaltensweisen oder zur Vermeidung von Steuerhinterziehung oder ‑umgehung erforderlich und geeignet sind.33 Zum anderen stellte sich die Frage der unmittelbaren Anwendung der Richtlinien­ vorschrift. Der EuGH lehnte diese ab. Zur Begründung verwies er hier etwas über­ raschend auf die Erforderlichkeit einer Präzisierung durch die Mitgliedstaaten.34 ­Daher sei die unionsrechtliche Vorschrift nicht unbedingt und könne daher nicht unmittelbar angewandt werden. Unausgesprochener Hintergrund dafür dürfte sein, dass die Mitgliedstaaten für ihre Mehrwertsteuergruppen klare, aber stark divergierende Voraussetzungen aufgestellt haben hinsichtlich der erforderlichen finanziellen, wirtschaftlichen und organisatorischen Beziehungen. Wären die Begriffe der Richtlinie autonom auszulegen, so würde eine dahingehende richtlinienkonforme Auslegung oftmals ausscheiden. Mit Blick auf das dann resultierende Wahlrecht, was zudem von den beteiligten Personen hätte unterschiedlich ausgeübt werden können, ist diese souveränitätsschonende Auslegung durchaus überzeugend. Im Ergebnis hat das Unionsrecht im Bereich der Mehrwertsteuergruppen auf Tatbestandsebene bisher nur eine eingeschränkt harmonisierende Wirkung entfaltet. Dies ist nicht zuletzt der Tatsache geschuldet, dass in den Mitgliedstaaten stark divergierende Ansätze zu verzeichnen sind; auch hätte der EuGH im zentralen Bereich des Steuerpflichtigen erhebliche Rechtsunsicherheit hervorgerufen durch eine weitgehend autonome Auslegung der Tatbestandsvoraussetzungen. Der EuGH ist daher in seiner Entscheidung in den Rechtssachen Larentia+Minerva/Marenave35 durchaus zu 29 EuGH v. 16.7.2015 – verb. Rs. C-108/14 und C-109/14, ECLI:EU:C:2015:496. 30 BFH v. 11.12.2013 – XI R 17/11 und XI R 38/12, BStBl. II 2014, 417. 31 EuGH v. 16.7.2015 – verb. Rs. C‑108/14 und C‑109/14, ECLI:EU:C:2015:496, Rz. 37. 32 EuGH v. 16.7.2015 – verb. Rs. C‑108/14 und C‑109/14, ECLI:EU:C:2015:496, Rz. 45 33 EuGH v. 16.7.2015 – verb. Rs. C‑108/14 und C‑109/14, ECLI:EU:C:2015:496, Rz. 43. 34 EuGH v. 16.7.2015 – verb. Rs. C‑108/14 und C‑109/14, ECLI:EU:C:2015:496, Rz. 50. 35 EuGH v. 16.7.2015 – verb. Rs. C‑108/14 und C‑109/14, ECLI:EU:C:2015:496.

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Recht vor einer unmittelbaren Anwendbarkeit der Vorschrift und einem dahingehenden Wahlrecht des Steuerpflichtigen zurückgeschreckt und hat stattdessen die den Mitgliedstaaten gewährten Umsetzungsspielräume betont. Allerdings bestehen die Spielräume nicht gleichermaßen in Bezug auf alle Tatbestandsmerkmale, sondern in erster Linie auf die Ausgestaltung der Anforderungen an die finanziellen, wirtschaftlichen und organisatorischen Voraussetzungen. Dementsprechend erscheint bezüglich der weiteren Kriterien durchaus eine richtlinienkonforme Auslegung des innerstaatlichen Rechts möglich und insoweit dann auch geboten.

III. Deutsche Organschaft Im Vergleich zu den unionsrechtlichen Vorgaben weicht die Organschaft nach deutschem Recht in verschiedener Hinsicht ab. Dies gilt zunächst für die grundlegende dogmatische Konstruktion, kennt doch das deutsche Recht keine (u.U. sogar aus gleichgeordneten Mitgliedern bestehende) Mehrwertsteuergruppe, sondern verlangt ein Über-/Unterordnungsverhältnis. Denn nach deutschem Recht wird zwischen dem „übergeordneten“ herrschenden Organträger einerseits und den „untergeordneten“ eingegliederten Organgesellschaften unterschieden, wobei die Organgesellschaften als „Unternehmensteil“ des Unternehmens des Organträgers zu behandeln sind. Damit ist für das deutsche Recht klar geregelt, dass nur der Organträger im Verhältnis zum Fiskus allein der Steuerpflichtige und der Steuerschuldner ist, der die nur von ihm für die getätigten Außenumsätze aller Organschafts-./Gruppenmitglieder geschuldete Umsatzsteuer an den Fiskus zu entrichten hat. Bei Nichtentrichtung der von ihm geschuldeten Steuer haben die Steuerbehörden gegen ihn zu vollstrecken. Die Organgesellschaften hingegen können (nur) als Haftungsschuldner nach § 73 AO für die vom Organträger geschuldete Umsatzsteuer in Anspruch genommen werden. Das Unionsrecht schweigt sich in Art. 11 MwStSystRL zu diesen Fragen erkennbar aus. Es überlässt die Regelung im Detail insoweit erkennbar den Mitgliedstaaten. In Deutschland jedenfalls ist dann – ausweislich Art. 20 Abs.3 GG – dafür der Gesetzgeber und nicht die Rechtsprechung oder Verwaltung zuständig. Zudem bestehen bei den beteiligten Rechtsträgern hinsichtlich der Einbeziehung von Nichtsteuerpflichtigen und von Personengesellschaften Unterschiede, die sich im Ergebnis aber jedenfalls nicht durch richtlinienkonforme Auslegung beseitigen lassen. Schließlich sind die Präzisierungsanforderungen hinsichtlich der finanziellen, organisatorischen und wirtschaftlichen Voraussetzungen zu erfüllen. 1. Über-/Unterordnung Das deutsche Recht legt der Organschaft seit jeher keine aus gleichberechtigten Mitgliedern bestehende Gruppenkonstruktion zugrunde, sondern eine abweichende dogmatische Konstruktion: Nicht die Gruppe ist der Steuerpflichtige, sondern der (beherrschende, übergeordnete) Organträger. Zugleich erfordert das deutsche Recht in preußischer Tradition36 eine hierarchische Beziehung, keine Gleichordnung. Nimmt 36 PrOVG v. 18.6.1896 – V 3/96, OVGE 5, 163 (zur Einkommen- und Gewerbesteuer).

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man indessen die – freilich nicht weiter begründete – Entscheidung des EuGH hin, dass trotz des mitgliedstaatlichen Wahlrechts grundsätzlich eine Vollumsetzung geboten ist, falls der Mitgliedstaat überhaupt eine Mehrwertsteuergruppe zulassen will, so eröffnet Art. 11 Abs. 1 MwStSystRL keinen Weg dafür, eine Gleichordnung aus dem Anwendungsbereich von Organschaften auszunehmen. Aber auch auf Art. 11 Abs. 2 MwStSystRL lässt sich das Ergebnis dann kaum überzeugend stützen. Denn Rechtssicherheit kann nicht notwendig gleichgesetzt werden mit Verhinderung von Missbrauch.37 Vielmehr gilt es hier den Kontext der vom V. Senat überraschenderweise nicht rezipierten Rechtsprechung zum unionsrechtlichen Konzept des Missbrauchs zu berücksichtigen. Insbesondere im Bereich der direkten Steuern stellt der EuGH vergleichsweise strenge Anforderungen an nationale Missbrauchsvorschriften. Jedenfalls ist den Steuerpflichtigen dort die Möglichkeit eines Gegenbeweises im Einzelfall (sogenannter „motive test“) einzuräumen. Vor diesem Hintergrund können gleichgeordnete Gesellschaften im Kontext der Organschaft nur selten, jedenfalls aber nicht als generelle Regel per se ohne Gegenbeweis als missbräuchlich gewertet werden.38 2. Beteiligte Personen Hinsichtlich der beteiligten Rechtsträger ist das deutsche Recht ebenfalls enger als die Richtlinie. Dies gilt zunächst mit Blick auf die Rechtsform: Personengesellschaften waren nach deutschem Recht bisher keine tauglichen Organgesellschaften. Zwar hielt die frühere Rechtsprechung entsprechende Rechtsfolgen für Personengesellschaften zeitweilig unter Berufung auf § 2 Abs. 2 Nr. 1 UStG in zwei Fällen für möglich: Zum einen im Falle von organschaftsähnlichen Verhältnissen, wonach auch Personengesellschaften ihre umsatzsteuerliche Selbständigkeit verlieren konnten, wenn unter entsprechender Heranziehung der Kriterien in § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG eine organisa­ torische, wirtschaftliche und finanzielle Eingliederung bestand.39 Zum anderen im Falle einer sogenannten Unternehmereinheit zwischen mehreren Personen- oder Kapitalgesellschaften bei Gleichheit der Gesellschafter, Einheitlichkeit ihrer Willensbildung und Nebenordnung der einzelnen Gesellschaften sowie gleichen Beteiligungsverhältnissen der Gesellschafter.40 Indessen handelte es sich hierbei gerade nicht um Organschaften zwischen einem herrschenden Organträger und beherrschten, eingegliederten Organgesellschaften.41 Die beiden Rechtsfiguren Unternehmereinheit und 37 Kritisch etwa auch von Streit/Streit, DStR 2016, 1448 (1453 ff.). 38 Vgl. etwa jüngst EuGH v. 20.12.2017  – verb. Rs. C‑504/16 und C‑613/16, ECLI:EU:​ C:2017:1009 – Deister und Juhler Holding. Zur Konvergenz der Missbrauchskriterien bei direkten und indirekten Steuern s. etwa Cordewener, EC Tax Review 2017, 60. 39 RFH v. 13.12.1940 – V 25/39, RFHE 50, 34. 40 BFH v. 15.6.1951 – II 36/50 U, BStBl. III 1951, 215; v. .23.7.1959 – V 47/56 U, BStBl. III 1959, 394; v. 19.11.1964 – V 245/61 S, BStBl. III 1965, 182; v. 2.2.1967 – V 35/64, BStBl. III 1967, 499. 41 So ausdrücklich BFH v. 15.6.1951 – II 36/50 U, BStBl. III 1951, 215 für die Unternehmer­ einheit: Die Unternehmereinheit „hat mit der in § 2 Absatz 2 Ziffer 2 geregelten Organschaft, die sich nur auf Rechtspersonen erstreckt, keinen Zusammenhang. Hieran ändert auch nichts der Umstand, daß gewisse bei der Organtheorie angewandte Auslegungsregeln auch bei der Vorschrift des § 2 Absatz 2 Ziffer 1 zu beachten sind und beiden Vorschriften

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organschaftsähnliche Verhältnisse wurden zudem Ende 1978 auch zutreffend aufgegeben.42 Zugleich wurde klargestellt, dass nichtrechtsfähige Personenvereinigungen, unter denen der BFH seinerzeit auch Personengesellschaften verstand, nicht Organgesellschaften sein konnten.43 Die Rechtsfolgen der Organschaft konnten daher in der Folgezeit nur noch dann eintreten, wenn die Organgesellschaften den Status als juristische Person aufweisen. Durch die Entscheidung des EuGH in den Rechtssachen Larentia+Minerva/Marenave44 ist wieder Bewegung in die Frage der Eignung von Personengesellschaften als eingegliedert Organe gekommen: Der V. Senat45 hält zwar grundsätzlich am Ausschluss von Personengesellschaften fest und begründet dies mit der nach Art.  11 Abs.  2 MwStSystRL zulässigen Missbrauchsbekämpfung. Er verweist dabei darauf, dass die Organschaft ein ausreichendes Durchgriffsrecht des Organträgers bei der Personengesellschaft erfordere, was angesichts des grundsätzlich bestehenden Einstimmigkeitsprinzips regelmäßig nicht der Fall sei. Abweichende Regelungen in Gesellschaftsverträgen seien grundsätzlich nicht beachtlich, weil sich solche Verträge bei Personengesellschaften formfrei errichten und formfrei ändern ließen. Er erlaubt von diesem Verständnis allerdings dann eine Ausnahme (im Wege einer teleologischen Extension46), wenn Gesellschafter der Personengesellschaft neben dem Organträger nur Personen sind, die nach § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG in das Unternehmen des Organträgers finanziell eingegliedert sind. Der XI. Senat hingegen hegt Zweifel, ob er sich dem anschließen kann, und will jedenfalls kapitalistische Personengesellschaften als Organgesellschaft zulassen.47 Bei der Bewertung wird deutlich, dass im Ergebnis letztlich keinem der Senate zu folgen ist.48 Dies wird deutlich, wenn man zwei Fragen unterscheidet, nämlich zum einen die Frage nach der unionsrechtlich gebotenen Rechtslage und zum anderen die gemeinsam ist, daß ein Eingliederungsverhältnis bestehen muß.“ Das Urteil ist freilich vor dem Hintergrund zu sehen, dass die Organschaft des UStG 1934 nach dem geltenden Recht durch die Siegermächte weitgehend suspendiert worden war und durch die Annahme einer Unternehmereinheit dieses Verbot der Organschaft eben dann nicht eingriff. 42 BFH v. 7.12.1978 – V R 22/74, BStBl. II 1979, 356 für das organschaftsähnliche Verhältnis; BFH v. 16.11.1978 – V R 22/73, BStBl. II 1979, 347; v. 23.11.1978 – V R 36/78, BStBl. II 1979, 350; v. 30.11.1978 – V R 40/78, BStBl. II 1979, 354; v. 8.2.1979 – V R 114/74, BStBl. II 1979, 358 für die Unternehmereinheit. Dazu Schuhmann, GmbHR 1979, 209; Weiß, UR 1979, 97. Krit. zur Unternehmereinheit zuvor bereits Pohmer, Finanzarchiv – N.F. 16 (1955/56), 409 (417  ff.); Vogel, Die Rechtswirkungen der Unternehmereinheit, 1966; Reiß, StuW 1978, 126 ff. 43 BFH v. 8.2.1979 – V R 101/78, BStBl. II 1979, 362 unter Berufung auf die amtliche Begründung des UStG 1934 (RStBl. II 1934, S. 1549 ff.) 44 EuGH v. 16.7.2015 – verb. Rs. C‑108/14 und C‑109/14, ECLI:EU:C:2015:496. 45 BFH v. 2.12.2015 – V R 25/13, BStBl. II 2017, 547. 46 Erstmals dafür Endres, Mehrwertsteuergruppe nach Art. 11, S. 99 f. 47 BFH v. 16.1.2016 – XI R 38/12, BStBl. II 2017, 567; v. 1.6.2016 – XI R 17/11, BStBl. II 2017, 581. 48 So bereits Reiß in R/K/L, UStG, § 2 Rz. 106.1 (Stand Mai 2016), allerdings mit zum Teil abweichender Begründung.

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Frage nach der Umsetzbarkeit dieser Vorgaben im deutschen Recht. Beim generellen Ausschluss von Personengesellschaft erscheint aus unionsrechtlicher Sicht erneut zweifelhaft, ob der Einsatz von Personengesellschaften wirklich zu Missbräuchen führen würde, zumal der Ausschluss nur dann zulässig wäre, wenn er verhältnismäßig wäre.49 Dies gilt umso mehr, als der Ansatz des V. Senats ohnehin nicht ganz konsequent erscheint, weil ja auch die Aufnahme neuer Gesellschafter und damit der Wegfall der Voraussetzungen der Ausnahme formfrei möglich sind. Die Probleme werden noch gravierender, wenn man die Möglichkeiten zur Begründung einer organisatorischen Eingliederung betrachtet: Der BFH und ihm folgend die Finanzverwaltung50 lassen hier in einem gestaffelten System eine organisatorische Eingliederung nicht nur dann zu, wenn eine Personenidentität vorliegt; vielmehr reicht eine arbeitsvertragliche Bindung ebenfalls aus, wobei der Arbeitsvertrag ja aber auch formfrei ist. Zwar mag man angesichts der Entscheidungen des EuGH in den Vertragsverletzungsverfahren zweifeln, ob der EuGH in einem Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland hier einen Verstoß gegen die Richtlinie feststellen würde, dies erscheint aber in Anbetracht seiner Ausführungen in der Rechtssache Larentia+Minerva durchaus möglich.51 Umgekehrt dürfte aber die Aufnahme von Personengesellschaften in den Kreis der Organgesellschaften jedenfalls de lege lata scheitern.52 Die Unterscheidung zwischen juristischen Personen und Personengesellschaften entspricht dem im Zivilrecht üblichen Sprachgebrauch.53 Zwar ist eine Maßgeblichkeit zivilrechtlicher Begriffsbildung nicht zwingend.54 Wie oben aufgezeigt wurde der Begriff aber während der gesamten Dauer, die er sich im Gesetz befand, dahingehend ausgelegt, dass er Personengesellschaften gerade nicht einschließen sollte; dies entsprach auch der Intention des historischen Gesetzgebers und unterliegt insoweit auch keinem Zweifel. Diese gewohnheitsrechtlich verfestigte Konkretisierung bedeutet, dass die Grenze der richtlinienkonformen Auslegung erreicht wird; insoweit lässt sich auch die vom V. Senat angeführte Rechtssicherheit als Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips und damit als Grundsatz des nationalen Verfassungsrechts heranziehen. Auch eine unmittelbare Anwendung der Richtlinie scheidet schon mangels Unbedingtheit aus. Die deutsche Rechtsprechung kann und darf damit im Ergebnis dem nach dem EuGH Urteil Larentia+Minerva vorliegenden Verstoß gegen das Unionsrecht nicht abhelfen. Gefragt ist 49 Dagegen auch Brinkmann/Walter-Yadegardjam, DStR 2016, 650 (652), Eggers/Korf, MwStR 2015, 717. 50 BFH v. 12.10.2016 – XI R 30/14, UR 2017, 178 = BStBl. II 2017, 597; v. 7.7.2011 – V R 53/10, UR 2011, 943 = BStBl II 2013, 218; v. 28.10.2010 – V R 7/10, UR 2011, 256 m. Anm. von Streit/Duyfjes = BStBl II 2011, 391; Abschn. 2.8 Abs. 8 bis 11 UStAE i.d.F. BMF v. 13.12.2017, BStBl I 2017,1667. 51 Kritisch Reiß, UR 2016, 739 (751 f.). 52 Ausführlich Reiß, UR 2016, 739 (744 f.). Für eine Möglichkeit zur richtlinienkonformen Auslegung aber etwa Hummel, UR 2015, 671 (680); Nieskens, BB 2015, 2074 (2076). 53 Vgl. etwa §  14 BGB. S.  auch die vom V. Senat angeführte Entscheidung des BFH v. 29.1.2001 – II ZR 331/00, BGHZ 146, 341 sowie Wäger, UR 2016, 173 (177). 54 Vgl. BFH v. 19.1.2016 – XI R 38/12, BStBl. II 2017, 567, Rz. 82 ff.; Lange, UR 2016, 297 (301).

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vielmehr der deutsche Gesetzgeber, der im Übrigen handeln muss, will er kein Vertragsverletzungsverfahren riskieren.55 Eine weitere potentielle Diskrepanz zwischen Richtlinie und nationalem Recht besteht mit Blick auf die Beteiligung von Nichtunternehmern als Organträger und Organgesellschaften. Zwar reicht der Hinweis auf den entgegenstehenden Wortlaut des § 2 Abs. 2 S. 1 UStG für den Organträger56 noch nicht zwingend aus.57 Auch ist nicht gesichert, dass die Richtlinie ein solches Ergebnis zulässt, was der V. Senat erneut, aber wiederum nicht zweifelsfrei mit Missbrauchsüberlegungen begründen will.58 Es ist aber erneut davon auszugehen, dass das nationale Recht eine wirksame Sperre gegen eine richtlinienkonforme Rechtsfindung enthält. Denn auch hier spricht in der Tat einiges dafür, wie bei den Personengesellschaften auf den Grundsatz der Rechtssicherheit als nationale Grenze der richterlichen Rechtsfortbildung abzustellen und eine richtlinienkonforme Rechtsfortbildung in diesem Bereich abzulehnen, weil eine lange Übung bestand und es sich auch nicht nur um eine punktuelle Korrektur im Wege der Analogie handelt, sondern das Rechtsinstitut der Organschaft grundlegend und losgelöst vom Gesetz fortentwickelt würde. Eine unmittelbar auf Art. 11 gestützte Unanwendbarkeit des § 2 Abs.2 Nr. 2 UStG, soweit dieser die Einbeziehung von Nichtunternehmern, in die Organschaft/Mehrwertsteuergruppe als Organ oder Or­ ganträger ausschließt, kann daher nicht in Betracht kommen. Nur der deutsche Gesetzgeber könnte und dürfte § 2 Abs.2 Nr. 2 UStG entsprechend erweitern59. 3. Ausfüllung der Präzisierungsspielräume bei den Eingliederungsvoraussetzungen Die nähere Konkretisierung der finanziellen, organisatorischen und finanziellen Eingliederung hat der deutsche Gesetzgeber der Rechtsprechung überantwortet. Während die wirtschaftliche Eingliederung vergleichsweise wenig konturiert ist – für sie genügt ein vernünftiger wirtschaftlicher Zusammenhang i. S. einer wirtschaftlichen Einheit, Kooperation oder Verflechtung60 – ist umgekehrt die finanzielle Eingliederung als weitgehend geklärt anzusehen. Insbesondere reichen bloß schuldrechtliche Stimmbindungsverträge für die finanzielle Eingliederung nicht aus. Eine restriktive Tendenz lässt sich schließlich in jüngster Zeit mit Blick auf die organisatorische Eingliederung beobachten. Zur organisatorischen Eingliederung ist erforderlich, dass der Organträger die mit der finanziellen Eingliederung einhergehende Möglichkeit der Beherrschung in der laufenden Geschäftsführung wahrnimmt, 55 So zu Recht Lange, UR 2016, 297 (301). 56 So auch BFH v. 10.8.2016 – XI R 41/14, BStBl. II 2017, 590. 57 Ismer/Keyser, UR 2011, 81 (85 f.). 58 BFH v. 2.12.2015 – V R 67/14, BStBl. II 2017, 560. Zweifelnd auch at, DStR 2016, 2964 f. 59 So im Ergebnis zutreffend auch BFH v. 12.10.2016 – XI R 30/14, UR 2017, 178 = BStBl II 2017, 597; siehe auch BFH v. 2.12.2015 – V R 67/14, UR 2016, 199 = BStBl II 2017,560. Verfassungsbeschwerde dagegen nicht zur Entscheidung angenommen, BVerfG v. 11.1.2017 – 1 BvR 482/16. 60 Vgl. Treiber in Sölch/Ringleb, UStG, § 2 Rz. 190 ff. (Stand: März 2016).

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wobei er die Organgesellschaft durch die Art und Weise der Geschäftsführung beherrschen muss.61 Es bedarf der institutionell abgesicherten unmittelbaren Eingriffsmöglichkeiten in den Kernbereich der laufenden Geschäftsführung. Ausreichend ­dafür ist eine Personenidentität in den Leistungsgremien von Organträger und Organgesellschaft. Jenseits dessen hat der BFH klargestellt, dass ein wirksamer Beherrschungsvertrag gemäß oder entsprechend § 291 AktG ausreicht, nicht aber die bloße Möglichkeit aus § 46 Nr. 6 GmbHG, Weisungen in Bezug auf Beschlüsse der Gesellschafterversammlung zu geben.62 Auch die Weisungsunterworfenheit aufgrund der ausdrücklichen Regelung eines Anstellungsvertrags soll ausreichen.63 Eine bei Erfüllung der gesetzlichen Eingliederungsvoraussetzungen in § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG bestehende Organschaft endet ex nunc, wenn diese entfallen. Das hat nicht nur Folgen dahingehend, dass ab diesem Zeitpunkt dann Umsätze zwischen den früheren Mitgliedern der Organschaft wieder ganz normal der Umsatzbesteuerung unterliegende „Außenumsätze“ der ehemaligen einzelnen Mitglieder des früheren Organschaftskreises (der Mehrwertsteuergruppe nach deutschem Recht) sind und keine nicht zu besteuernden „Innenumsätze“ mehr. Es hat vor allem auch erhebliche Folgen im Hinblick auf die Steuerschuldnerschaft. Für die nach dem Entfallen der Eingliederungsvoraussetzungen ausgeführten Umsätze der früheren Organschaftsmitglieder wird die Steuer wieder von demjenigen früheren Organschaftsmitglied als Unternehmer und Steuerpflichtigem geschuldet, das diesen Umsatz ausführt. Umgekehrt steht auch nur diesem Steuerpflichtigen ein Vorsteuerabzug aus den an ihn ausgeführten Umsätzen wieder selbst zu. Für die vor Entfallen der Eingliederungsvoraussetzungen ausgeführten und empfangenen Umsätze bleibt es hingegen bei der Steuerschuldnerschaft nur des Organträgers und dessen Gläubigerschaft bezüglich des Vorsteuerabzugsrechtes. Diese nach deutschem Umsatzsteuerrecht bestehende Rechtslage wird besonders bedeutsam, wenn es zur Eröffnung eines Insolvenzverfahrens über das Vermögen einer Organgesellschaft oder des Organträgers kommt. Denn nach der zutreffenden Rechtsprechung entfallen spätestens ab der Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen des Organs oder des Organträgers die gesetzlichen Eingliederungsvoraussetzungen für eine umsatzsteuerliche Organschaft.64 Die Rechtsprechung begründet 61 St. Rspr. seit BFH v. 7.7.2011 – V R 53/10, UR 2011, 943 = BStBl.2013, II 218. 62 BFH v. 10.5.2017 – V R 7/16, BStBl. II 2017, 1261. 63 BFH v. 12.10.2016 – XI R 30/14, UR 2017, 178 = BStBl II 2017, 597; v. 7.7.2011 – V R 53/10, UR 2011, 943 = BStBl II 2013, 218; v. 28.10.2010 – V R 7/10, UR 2011, 256 m. Anm. von Streit/Duyfjes = BStBl. II 2011, 391; Abschn. 2.8 Abs. 8 bis 11 UStAE. 64 Vgl. BFH v.15.12.2016 – V R 14/16, UR 2017, 305 = BStBl. II 2017, 600 (Ende der Organschaft mit Insolvenzeröffnung über das Vermögen des Organträgers) mit Anm. de Weerth, NZI 2017, 363; Onusseit, EWiR 2017, 311; Kruth, MwStR 2017, 73; Heuermann, DStR 2017, 603; Wagner/Fuchs, BB 2017, 2202; BFH v. 26.8.2016 – V R 36/15, UR 2017, 117 = BStBl. II 2017, 595; v. 8.8.2013 – V R 18/13, UR 2013, 785 m. Anm. Slapio = BStBl. II 2017, 543 (Ende mit Eröffnung über das Vermögen der Organgesellschaft, sogar schon mit Bestellung eines vorläufigen Insolvenzverwalters mit Zustimmungsvorbehalt) ; siehe auch bereits zur ­KonkursO BFH v. 13.3.1997 – V R 96/96, UR 1997, 396 = BStBl. II 1997, 580; v. 28.1.1999 –

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dies zutreffend damit, dass spätestens ab diesem Zeitpunkt der Fiskus seinen Steueranspruch aus auf die Umsatztätigkeit der Organgesellschaft entfallenden Umsätze gegenüber dem Organträger weder als Masseverbindlichkeit noch überhaupt diesem gegenüber noch durchsetzen könnte. Die mit Eröffnung des Insolvenzverfahrens zu beachtende Trennung der Vermögensmassen führe vielmehr zwingend dazu, dass der Umsatzsteueranspruch aus der Umsatztätigkeit der früheren Organgesellschaft ab diesem Zeitpunkt sich nur noch gegen diese selbst als Steuerschuldner richten kann. Das ist die Folge dessen, dass es im deutschen Recht kein Konzerninsolvenzrecht gibt. Auch dem Unionsrecht sind keinerlei zwingende Vorgaben für ein etwaiges Konzerninsolvenzrecht zu entnehmen. Art.  11 MwStSystRL regelt jedenfalls nicht, wie hinsichtlich der Steuerschuldnerschaft der Mehrwertsteuergruppe zu verfahren ist, wenn einzelne Mitglieder dieser Gruppe oder gar alle in die Insolvenz fallen. Der Vorschrift lässt sich bestenfalls entnehmen, dass die Mitgliedstaaten in ihrer Ge­ setzgebung regeln könnten und sollten, inwieweit und auf welche Weise eine vom Mitgliedstaat als Mehrwertsteuergruppe anerkannte Gruppe selbst als Insolvenzschuldner mit welchem/wessen Vermögen für Umsatzsteuerschulden in Anspruch genommen werden kann und/oder in welchem Umfange für diese Schuld die einzelnen Mitglieder der Gruppe mit ihrem Vermögen einstehen müssen. Für das deutsche Recht ist dies, wie ausgeführt, geregelt, und zwar im Gesetz!, nämlich in § 2 Abs.2 Nr. 2, § 13a, § 13b Abs.5 UStG. Bis zum Eintritt der Insolvenz ist Schuldner allein der Organträger, Spätestens mit Insolvenzeröffnung endet die Organschaft und damit die Steuerschuldnerschaft des (früheren) Organträgers für erst danach ausgeführte Umsätze der Organe. Hingegen bleibt es bei der Steuerschuldnerschaft des Organträgers (und der Haftung der Organgesellschaften) für die noch vor Eröffnung des Insolvenz­ verfahrens (respektive schon vor Bestellung eines starken Insolvenzverwalters) ausgeführten Umsätze der Mitglieder des Organkreises. Nicht zu verkennen ist freilich, dass die Rechtsanwendung für die Durchsetzung von Umsatzsteueransprüchen und Vorsteuervergütungsansprüchen im Rahmen einer Organschaft nicht gerade dadurch erleichtert wird, dass mit/ab Eröffnung von Insolvenzverfahren oder sogar schon mit Bestellung eines vorläufigen (starken) Insolvenzverwalters über das Vermögen des Organträgers oder/und eines Organs die Organschaft endet und deshalb die ab diesem Zeitpunkt entstandenen Ansprüche getrennt gegenüber den früheren Mitgliedern der Organschaft geltend zu machen sind, die die Umsätze ausgeführt haben, respektive an die die Umsätze ausgeführt worden sind. Speziell in diesem Kontext kann keine Rede davon sein, dass durch die Organschaft eine beachtliche verfahrensrechtliche Erleichterung für alle Beteiligten erreicht worden ist. Das Gegenteil ist der Fall. Schon die erforderliche Differenzierung danach, ob und wer Umsätze vor oder nach Eröffnung eines Insolvenzverfahrens, respektive der Bestellung des vorläufigen Insolvenzverwalters ausgeführt hat, respektive an wen vor oder nach Insolvenzeröffnung Umsätze ausgeführt worden sind, erleichtert nicht gerade die Rechtsdurchsetzung und eröffnet eine Quelle von Rechtsstreitigkeiten über die Frage, wer denn (noch oder schon) die Steuer schuldet, weil die Organschaft V R 32/98, UR 1999, 251 = BStBl. II 1999, 258 und v. 21.6.2001 – V R 68/00, UR 2002, 29 = BStBl. II 2002, 255.

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schon beendet war oder noch bestand.65 Das kann freilich Nichts daran ändern, dass eine entsprechende Klärung nach geltendem Recht erforderlich ist, solange die Organschaft vom Gesetzgeber, wie in § 2 Abs.2 N r. 2 UStG geregelt, aufrechterhalten wird. Kommt hinzu, dass es auch materiell als nicht besonders gelungen erscheint, wenn gerade im Falle einer Insolvenz es zu Änderungen hinsichtlich der Steuerschuldnerschaft des maßgeblichen Unternehmers/Steuerpflichtigen für nachfolgend ausgeführte Umsätze gegenüber den vor der Insolvenzeröffnung ausgeführten Umsätzen kommt mit allen Konsequenzen für die Steuerfestsetzung und Durchsetzung des Steueranspruches.

IV. Rechtspolitische Perspektive Die vorstehende Erläuterung der unionsrechtlichen Vorgaben und der Rechtslage in Deutschland haben gravierende Probleme zu Tage gefördert, die eine ganz grundsätzliche rechtspolitische Auseinandersetzung mit der Organschaft angezeigt erscheinen lassen. Im Folgenden soll dargelegt werden, dass das Fortbestehen unechter Steuer­ befreiungen im Kontext des internationalen Steuerwettbewerbs aus nationaler Sicht entscheidend für die vorläufige Beibehaltung der Organschaft durch den nationalen Gesetzgeber spricht (1.). Allerdings sollte das dahingehende Wahlrecht der Mitgliedstaaten in Art. 11 MwStSystRL abgeschafft und stattdessen eine unionsweit einheitliche Regelung vorgegeben werden, wie sie ja bei den Kostenteilungsgemeinschaften nach Art. 132 Buchst. f) MwStSystRL auch schon besteht (2.). Diese Gruppen sollten sich wegen der andernfalls hervorgerufenen Abgrenzungsprobleme nicht nur auf Sektoren mit unecht steuerbefreiten Umsätzen beschränken (3.). Schließlich sollte ein Anerkennungsverwaltungsakt für den Organkreis geschaffen werden, um Rechtssicherheit zu erreichen (4.). 1. Rechtfertigung der Beibehaltung der Organschaft durch unechte Steuerbefreiungen im Kontext des internationalen Steuerwettbewerbs Als Ausgangspunkt der rechtspolitischen Bewertung gilt es festzuhalten, dass die Organschaft einer materiellen Rechtfertigung bedarf, da eine überzeugende verfahrensrechtliche Rechtfertigung nicht ersichtlich ist.66: Insbesondere genügt die Senkung von Verwaltungskosten durch eine geringere Zahl von Erklärungen67 und der Befolgungskosten der Unternehmen durch eine geringere Zahl von Erklärungen und Eli65 Siehe dazu beispielsweise FG Münster v. 7.9.2017 – 5 K 3123/15 U (Rev XI R 35/17), EFG 2017, 2335; BFH v. 15.12.2016 – V R 14/16, UR 2017, 305 = BStBl. II 2017, 600; BFH v. 24.8.2016 – V R 36/15, UR 2017, 117 = BStBl. II 2017, 595. Siehe auch zur Problematik Anfechtung von Zahlungen der Organgesellschaft auf die Schuld des Organträgers nach der InsO Sächs. FG v. 10.9.2015 – 2 K 195/15 (Rev VII R 28/15), EFG 2016, 175 und zur Pro­blematik, wem Erstattungsansprüche bei Zahlungen durch die vermeintliche Organgesellschaft zustehen BFH v. 26.8.2014 – VII R 16/13, HFR 2015, 105. 66 Kritisch bereits Reiß, in R/K/L, UStG, § 2 Rz. 98.3 (Stand Mai 2016). 67 Korf, MwStR 2016, 257.

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minierung von Umsätzen mit entsprechend geringerer Zahl an Rechnungen68 nicht. Ebenfalls kein wirklicher Grund für die Schaffung der Organschaft liegt in den Cash-­ flow-Vorteilen, die dadurch entstehen, dass bei der Organschaft eine Verrechnung im Organkreis erfolgt und daher keine Erstattung und anderweitige Zahlung bestehen. Denn dies mag zwar ein praktisches Problem darstellen, könnte aber genereller dadurch gelöst werden, dass die Schwierigkeiten bei der schnelleren Vorsteuererstattung gelöst werden. Dasselbe gilt schließlich auch für die anfangs vorgetragene Rechtfertigung der Mehrwertsteuergruppe, dass die Zusammenfassung zu einem Steuerpflichtigen der Bekämpfung von Missbrauch durch Atomisierung einer wirtschaftlichen Einheit in verschiedene rechtliche Einheiten diene.69 Eine solche Rechtfertigung überzeugt heute aus zwei Gründen nicht mehr: Zum einen bedeutet die praktische Ausgestaltung der Organschaft, dass wenn nicht formal, so doch der Sache nach über die Voraussetzung der organisatorischen Eingliederung ein Wahlrecht besteht. Zum anderen hat sich seither die Rechtsprechung zur Bekämpfung von Missbräuchen weiterentwickelt. Insbesondere kennt die Rechtsprechung des EuGH seit der Entscheidung in der Rechtssache Halifax70 ein allgemeines Missbrauchsbekämpfungsverbot, mit dem derartigen unerwünschten Gestaltungen entgegengetreten werden kann. Schließlich dient die Organschaft heute wie auch bereits damals de facto allenfalls am Rande dazu, eine missbräuchliche Steuerersparnis durch rechtliche Aufspaltung wirtschaftlicher Einheiten auf von der Umsatzbesteuerung ausgenommene Kleinunternehmer im Sinne des § 19 UStG zu verhindern. Sie soll vielmehr umgekehrt zu einer geduldeten und gewollten Steuerersparnis durch Nichtbesteuerung innerunternehmerischer Wertschöpfung zwischen konzernmäßig verbundenen Unternehmensträgern in Sektoren führen, bei denen ein Vorsteuerabzug wegen bestehender Steuerbefreiungen nach der Richtlinie und diese umsetzendem nationalem Steuerrecht nicht zu gewähren ist, namentlich im Finanz- Versicherungs- und Gesundheitssektor. Dementsprechend gilt es nach einer anderweitigen materiellen Rechtfertigung zu suchen. Grundlage dafür ist, dass die die Umsatzsteuer als allgemeine Verbrauchsteuer durch Transaktionen in der unternehmerischen Leistungskette eigentlich nicht berührt werden sollte. Seit Einführung der Mehrwertsteuer als Allphasensteuer mit Vorsteuerabzug dürfte die Länge der unternehmerischen Leistungskette auf dem Weg zum materiell letztlich allein zu belastenden nichtunternehmerischen Endverbrauch für die Belastungshöhe an sich keine Rolle spielen. Damit wird im Ideal eine gleiche Besteuerung von Einheitsunternehmen, Konzernen und marktbasierten Transaktionen mit fremden Dritten („outsourcing“) in der unternehmerischen Leistungskette angestrebt. Soweit das Ideal verwirklicht wird, ist die Umsatzsteuer, wie vom Bun­ desverfassungsgericht in seiner bahnbrechenden Entscheidung vom Dezember 1966 gefordert,71 wettbewerbsneutral. Das Mittel dazu, um diese (Wettbewerbs)Neutralität  zu erreichen, stellt bei einer Allphasenbesteuerung auch der Umsätze zwischen

68 Winter, MwStR 2016, 331 69 Vgl. KOM [73] 950. 70 EuGH v. 21.2.2006 – C-255/02, ECLI:EU:C:2006:121. 71 BVerfG v. 20.12.1966 – 1 BvR 320/57 und 70/63, BVerfGE 21, 12 – Allphasenumsatzsteuer.

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(vorsteuerabzugsberechtigten) Unternehmern der Vorsteuerabzug dar, wie zu betonen namentlich der EuGH geradezu gebetsmühlenartig nicht müde wird. Dies war bekanntlich nicht immer so, gab es doch zu Zeiten der kumulativen All­ phasenumsatzsteuer ohne Vorsteuerabzug eine systematische Verzerrung zu Lasten von  externen Leistungsbezügen am Markt und zugunsten von unternehmensinterner Wertschöpfung. Während die unternehmensinterne Wertschöpfung unbesteuert blieb,72 unterlagen die externen Leistungsbezüge am Markt der definitiv wirkenden Umsatzsteuer. Daraus ergab sich zunächst eine Privilegierung der Einheitsunternehmen sowohl gegenüber der Leistungsbeschaffung am Markt als auch gegenüber Leistungsbeschaffung innerhalb von Konzernstrukturen. Unter Berufung auf den Grundsatz der wirtschaftlichen Einheit schuf die erst später kodifizierte Rechtsprechung73 zumindest zugunsten der Konzerne die Rechtsfigur der Organschaft. Durch diese Kategorie wurden in Abweichung vom Zivilrecht Kapitalgesellschaften bei Vorliegen  der drei Voraussetzungen wirtschaftlicher, finanzieller und organisatorischer Ein­gliederung, die zu ihrer „vollständige[n] Abhängigkeit“ führen sollten,74 ihrer ­umsatzsteuerlichen Selbständigkeit beraubt. Außenumsätze der Organgesellschaft wurden dem Organträger zugerechnet. Transaktionen mit dem Organträger oder zwischen den Gesellschaften des Organkreises waren demnach als reine Innenum­ sätze nicht steuerbar. Über die körperschaftsteuerliche und gewerbesteuerliche Organschaft hinaus kam es also im Ergebnis zu einer Konsolidierung durch umsatz­ steuerliche Elimination der zivilrechtlich vorhandenen Umsätze. Die Rechtsfigur der umsatzsteuerlichen Organschaft ermöglichte damit eine Minimierung der Verzerrungen im Verhältnis von Einheitsunternehmen und Konzernen, dies allerdings um den Preis, dass nunmehr Leistungsbeschaffungen innerhalb von Einheitsunternehmen und Konzernen gegenüber solchen bei fremden Dritten privilegiert wurden. Mit anderen Worten: Aus der kumulativen Allphasenumsatzsteuer ohne Vorsteuerabzug folgt logisch zwingend, dass im Spektrum Einheitsunternehmen – Konzern –Transaktionen mit fremden Dritten irgendwo eine Verzerrung liegen muss. Die Rechtsfigur der Organschaft konnte die damalige Verzerrung nicht beseitigen, sondern nur anders verorten. Mit der Einführung der Mehrwertsteuer wäre eigentlich der Weg frei gewesen, derartige Verzerrungen ein für alle Mal zu beseitigen und die Wettbewerbsneutralität der Umsatzsteuer zu sichern. Damit hätte sich dann auch der Bedarf nach einer Organschaft als Kind des Bruttoumsatzsteuersystems erledigt, zumal eine rein verfahrensrechtliche Vereinfachung für Steuerpflichtige und Verwaltung weitgehend auch ohne Organschaft möglich gewesen wäre.75 Indessen blieb diese Chance teilweise unge72 Die vom Umsatzsteuergesetz eröffnete Möglichkeit, auch Innenlieferung der Umsatzsteuer zu unterwerfen, wurde nicht genutzt. 73 S. dazu bereits Fn. 1. 74 So ausdrücklich RFH v. 23.2.1934 – V A 480/33, RFHE 36, 39 (43). 75 Vgl. EuGH v. 22.5.2008 – C-162/07, ECLI:EU:C:2008:301 – Ampliscientifica, Rz. 24 ff., wonach nationale Regelungen für ein System vereinfachter Mehrwertsteuererklärung und -zahlung auch jenseits der Bildung von Mehrwertsteuergruppen zulässig sein können. Damit bliebe allein der vereinfachende Effekt der Eliminierung der (inländischen) Transakti-

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nutzt, da der Gesetzgeber schon auf der Ebene der Union an den unechten Steuerbefreiungen ohne Vorsteuerabzugsrecht festhalten wollte. Durch die Versagung des Vorsteuerabzugs bestehen im Bereich der unecht befreiten Umsätze damit weiterhin materielle Belastungsunterschiede zwischen nicht steuerbaren Innenumsätzen einerseits und steuerbaren Umsätzen andererseits. Die fortbestehende Organschaft hat vor diesem Hintergrund nach wie vor die Funktion, die Verzerrungen im Spektrum Einheitsunternehmen  – Konzern  – Transaktionen mit fremden Dritten durch die Gleichbehandlung bestimmter Konzerne mit Einheitsunternehmen zu verschieben. Zugleich werden damit Transaktionen mit fremden Dritten gegenüber Leistungs­ beziehungen innerhalb eines Konzerns freilich benachteiligt.76 Dabei sind zudem Personengesellschaften herkömmlich nicht organschaftsfähig, was anders als bei der Körperschaftsteuer, wo diese Einheiten ohnehin transparent sind, zu Belastungs­ unterschieden nach der Rechtsform führen kann. Zudem hat der Gesetzgeber an der ex lege unabhängig von einer ausdrücklichen Entscheidung des Steuerpflichtigen eintretenden Organschaft festgehalten. Die Organschaft ist vom deutschen Gesetzgeber, anders als vom schwedischen, auch nicht auf Steuerpflichtige beschränkt worden, die unecht steuerbefreite Leistungen erbringen. Weiter verschärft mit Blick auf die Wettbewerbsneutralität hat sich die Lage dadurch, dass der EuGH in jüngster Zeit die Kostenteilungsgemeinschaften als Konkurrenzinstrument  – manche sprachen sogar von einer „kleinen Organschaft“  – zurückgeschnitten hat auf dem Gemeinwohl dienende Umsätze im Sinne des Art. 132 MwStSystRL.77 Damit hat der EuGH im Bereich der Umsätze nach Art. 135 MwStSystRL im tatsächlichen Ergebnis eine Verzerrung zu Lasten kleiner und zugunsten größerer Unternehmen gebilligt: Während größere Unternehmen Leistungen oftmals im Einheitsunternehmen oder zumindest im als Mehrwertsteuergruppe ausgestalteten Konzern erbringen können, vermögen dies kleinere Unternehmen häufig gerade nicht. Sie werden dann bei der Erbringung unecht steuerbefreiter Umsätze mit endgültig nicht abziehbarer Vorsteuer belastet. Letztlich besteht also eine Friktion, die aus den unechten Steuerbefreiungen folgt: Solange bei unechten Steuerbefreiungen die innerhalb des Unternehmens erbrachte Wertschöpfung anders behandelt wird als die Leistungsbezüge von außen, kommt es irgendwo im Spektrum Einheitsunternehmen – Konzern – Leistungsbeschaffung am Markt notwendigerweise zu einer Verzerrung. Mit Blick auf die Positionierung im außerunionsrechtlichen internationalen Steuerwettbewerb könnten dabei gute Grünonen innerhalb der Gruppe, der allerdings angesichts der territorialen Beschränkung der Gruppe auf das Inland umgekehrt andere fingierte Transaktionen innerhalb der Gesellschaft gegenüberstehen. 76 Krit. dazu Pohmer, Finanzarchiv – N.F. 16 (1955/56), 409 (413 ff.). 77 EuGH v. 4.5.2017 – C-274/15, ECLI:EU:C:2017:333 – Kommission/Luxemburg; v. 21.9.2017 – C-616/15, ECLI:EU:C:2017:721  – Kommission/Deutschland; v. 21.9.2017  – C-605/15, ECLI:EU:C:2017:718 – Aviva; v. 21.9.2017 – C-326/15, ECLI:EU:C:2017:719 – DNB Banka; in Abkehr von der vorangegangenen Entscheidung in der Rechtssache Taksatorringen. S. zur Problematik näher etwa Diskussion der Schlussanträge Ismer/Piotrowski/Reiß, MwStR 2017, 345 bzw. zur Entscheidung Ismer/Piotrowski, MwStR 2017, 829 (835).

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de noch für eine vorläufige Beibehaltung der Mehrwertsteuergruppe innerhalb der Union sprechen: Andernfalls könnten Wettbewerber von außerhalb der europäischen Union unecht steuerbefreite Leistungen in der Union mit erheblichen Kostenvorteilen anbieten und erbringen, wenn sie in ihrem Herkunftsstaat – anders als ihre Wettbewerber innerhalb der Union – keinem Vorsteuerabzugsausschluss unterliegen oder die von ihnen bezogenen Leistungen ihrerseits nicht steuerpflichtig waren.78 Dieses Argument erscheint umso beachtlicher, als der (Konzern-/Mehrwertsteuer) Gruppe nicht immer vorgehalten werden kann, die zivilrechtliche Struktur basiere auf einer eigenen Entscheidung, so dass die Intensität der Ungleichbehandlung weniger groß sei. Denn es kann durchaus valide Gründe für eine zivilrechtliche Trennung trotz wirtschaftlicher Einheit geben, etwa aufsichtsrechtliche Gründe oder das Erfordernis einer strukturellen Subordination mit resultierendem Rangverhältnis der Gläubiger. Der bessere Weg zur Beseitigung von Wettbewerbsvorteilen für von außerhalb der Union angebotene unecht steuerbefreite Leistungen läge freilich darin, schlicht innerhalb der Union den Vorsteuerabzug auch bei Erbringung bisher unecht befreiter Leistungen zuzulassen, respektive die unechten Befreiung durch Besteuerung zu ermäßigten Steuersätzen zu ersetzen. Damit würde dann auch anderen in der Union ansässigen Anbietern als konzernmäßig verbundenen Gruppenmitgliedern geholfen, einem Wettbewerb durch außerunionsrechtliche Anbieter standhalten zu können. 2. Abschaffung des mitgliedstaatlichen Wahlrechts durch unionseinheitliche Regelung Es bleibt dann allerdings das Problem, dass auch die Rechtslage in der Union derzeit uneinheitlich ist. Dies erscheint doppelt misslich: Zum einen führt die unionsweit uneinheitliche Rechtslage zu den oben im Kontext der Grundfreiheiten aufgezeigten Zuordnungsproblemen: Treffen Staaten, die eine Mehrwertsteuergruppe anerkennen, mit solchen zusammen, die dies nicht tun, kommt es bezüglich der Leistungen innerhalb des Rechtsträgers zwingend zu einer divergierenden Zuordnung der Umsätze. Zum anderen lässt sich das soeben für den außerunionsrechtlichen Kontext ent­ wickelte Argument auch innerhalb der Union heranziehen, wenn und solange dort noch keine vollständig einheitlichen Regeln bezüglich unecht befreiter Leistungen bestehen. Denn auch in der Union resultieren vergleichbare grenzüberschreitende Wettbewerbsverzerrungen, wenn ein Wettbewerber konzerninterne Wertschöpfung steuerneutral kreieren kann, während ein anderer in einem Staat, in dem es keine 78 Zu entsprechenden Überlegungen im Kontext der Kostenteilungsgemeinschaften vgl. GA Kokott, Schlussanträge v. 1.3.2017 – C-605/15, ECLI:EU:C:2017:150. Zu bedenken ist freilich, dass bei konsequenter Beachtung des Bestimmungslandprinzips die vollständige Entlastung von der Umsatzsteuer des Herkunftslandes nur konsequent ist. Daher erscheint es eher problematisch, auf die an sich konsequente Entlastung von einer Steuer im Herkunftsland im Bestimmungsland damit zu reagieren, dass zur Herstellung der Wettbewerbsgleichheit für Anbieter im Bestimmungsland nur für Konzernunternehmen eine Entlastung in Gestalt der Bildung einer Mehrwertsteuergruppe geboten wird. Der konsequente Weg auch und gerade zur Herstellung von Wettbewerbsneutralität kann letztlich dauerhaft nur darin bestehen, den Vorsteuerausschluss bei unechten Befreiung zu beseitigen.

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Mehrwertsteuergruppe gibt, dies nicht kann. Deutschland sollte daher auf die Organschaft nicht isoliert verzichten.79 Es besteht vielmehr Bedarf nach einer unionsweit einheitlichen Regelung. Das mitgliedstaatliche Wahlrecht gehört abgeschafft. Zumindest theoretisch ist dies mit Blick auf den Grundfreiheitenverstoß auch rechtlich relevant. Das mitgliedstaatliche Wahlrecht ließe sich freilich auch dadurch schon sehr einfach beseitigen, dass Art. 11 MwStSystRL ersatzlos aufgehoben wird und den Mitgliedstaaten nicht mehr gestattet wird, in ihrem Gebiet ansässige Personen als Mehrwertsteuergruppe und Steuerpflichtigen zu behandeln. Für eine entsprechende Änderung der Vorgaben in Art. 11 MwStSystRL könnte und sollte der Mitgliedstaat Bundesrepublik sich auf Unionsebene einsetzen. Ein nur auf die Bundesrepublik beschränkter Verzicht auf die Nutzung von Art. 11 MwStSystRL durch bloße Aufhebung von § 2 Abs.2 Nr.  2 UStG und eine damit bewirkt ersatzlose Abschaffung der Organschaft kann freilich dem deutschen Gesetzgeber nicht empfohlen werden. Denn dadurch würden in Deutschland ansässige Unternehmer mit unecht befreiten Umsätzen gegenüber in andern Mitgliedstaaten ansässigen Unternehmern benachteiligt, wenn und solange dort die Bildung von Mehrwertsteuergruppen auch und gerade für Unternehmer mit unecht befreiten Umsätzen zugelassen wird. 3. Keine Beschränkung auf Sektoren mit unecht steuerbefreiten Umsätzen Zugleich ist zu verzeichnen, dass von der derzeitigen Ausgestaltung der Organschaft als globale, für alle Sektoren gleichermaßen anwendbare Organschaft Kollateralschäden hervorgerufen werden: Auch wenn die Organschaft letztlich allein für die Steuerpflichtigen mit unecht steuerbefreiten Umsätzen von materieller Bedeutung ist und insoweit (noch) ihre Berechtigung behält, tritt sie in allen Sektoren von Gesetzes wegen ein und damit auch dort, wo dafür eigentlich keine Rechtfertigung zu erkennen ist. Die Organschaft ist also mit Blick auf ihre ratio überschießend ausgestaltet. Das Problem der überschießenden Reichweite ließe sich durch eine partielle Implementierung beschränken, dies allerdings dann nur unionsweit. Denn das den Mitgliedstaaten eingeräumte Wahlrecht zur Umsetzung; beinhaltet – folgt man der Auffassung des EuGH – nicht notwendig das Recht zur teilweisen Umsetzung.80 Vielmehr besteht nach Auffassung des EuGH grundsätzlich eine Vollumsetzungspflicht der Mitgliedstaaten, falls sie vom Wahlrecht überhaupt Gebrauch machen wollen. Dies gilt umso mehr, als sich eine partielle Umsetzung als Ausnahme von der Regelbesteuerung jedenfalls theoretisch auch am Beihilferecht messen muss,81 wenn der Mitgliedstaat die Organschaft nicht vollständig auf alle Steuerpflichtigen in unecht steuerbefreiten Sektoren erstreckt. Schließlich ist die partielle Implementierung auch nicht durch die Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Kommission/Schweden zugelassen. Denn die Beschränkung der schwedischen Regelung ließ sich nicht über79 Reiß, UR 2016, 739 (761). 80 Bomer, Intertax 2016, 657; Endres, Mehrwertsteuergruppe nach Art. 11 MwStSytRL, S. 64 f. Krit. Reiß, UR 2016, 739 (746 f.). 81 Grundlegend dazu Englisch, EC Tax Review 2013, 9.

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zeugend auf den Gedanken der Missbrauchsverhinderung stützen.82 Sie lässt sich eigentlich, wenn überhaupt, wohl nur durch die spezifische prozessuale Situation erklären. Aber auch unionsweit eingeführt wäre die sektoriell beschränkte Mehrwertsteuergruppe nicht überzeugend. Zwar wären die beihilferechtlichen Bedenken damit hinfällig. Jedoch wäre sie ein Fremdkörper in der Umsatzsteuer. Denn die Mehrwert­ steuergruppe setzt, anders als die Kostenteilungsgemeinschaft nach Art. 132 Buchst. f MwStSytRL, aber auch die Regelungen über die Körperschaften des öffentlichen Rechts in Art. 13 MwStSystRL nicht an der Steuerbarkeit oder Steuerpflicht von bestimmten Umsätzen an, sondern verfolgt einen personalen Ansatz, indem sie die Eigenschaft als Steuerpflichtige neu zuschneidet. Probleme der Bestimmung der Reichweite der Gruppe würden daher nicht nur die Fragen der Steuerpflicht des jeweiligen Umsatzes betreffen, sondern die Zuordnung der Umsätze zur Gruppe oder dem von der Gruppe zu trennenden Rechtsträger. 4. Zugewinn an Rechtssicherheit durch Anerkennungsverwaltungsakt Stattdessen erscheint eine verfahrensrechtliche Absicherung geboten, um dadurch einen Zuwachs an Rechtssicherheit zu erzielen. Hier sollte ein konstitutives Verfahren durch einen Anerkennungsverwaltungsakt erwogen werden. Derartige Verwaltungsakte haben genau dann Bedeutung, wenn sie unrichtig sind. Diese Möglichkeit sollte genutzt werden. Das Verfahren sollte aber nicht notwendig nur von einem Antrag des Steuerpflichtigen abhängen, da andernfalls unerwünschte Gestaltungen eröffnet werden. Es lässt sich zwar das löbliche Bestreben der deutschen Rechtsprechung, namentlich des V. Senats des BFH, verzeichnen, dem entgegenzutreten und auf eine rechtssichere Ausgestaltung der Organschaft hinzuwirken. Indessen ist die Rechtsprechung an die gesetzgeberische Entscheidung zugunsten der globalen Organschaft gebunden, kann sie also nicht zielgenau auf den Zusammenhang mit unechten Steuerbefreiungen zurückschneiden. Zudem ist zu beachten, dass der angestrebte Zugewinn an Rechtssicherheit nur dann auch wirklich erreicht wird, wenn die deutsche Rechtsprechung mit den unionsrechtlichen Vorgaben und namentlich der Rechtsprechung des EuGH im Einklang steht. Andernfalls ist die Rechtssicherheit nur eine scheinbare, was mit Blick auf die fehlenden zeitlichen Rückwirkungsgrenzen für die das bestehende Recht ihrem Anspruch nach nur erkennende EuGH-Rechtsprechung besonders misslich wäre. Der deutsche Gesetzgeber sollte daher handeln und ein konstitutives rechtsverbind­ liches Verfahren für die Anerkennung von Organschaften schaffen. Ein solches ­Verfahren sollte allerdings nicht zwingend vom Antrag des Steuerpflichtigen abhängen. Vielmehr sollte die Einleitung des Verfahrens mit Blick auf die anderweitig gegebenen Gestaltungsmöglichkeiten83 auch durch die Finanzverwaltung von Amts we82 Ausführlich dazu Reiß, UR 2016, 739 (747 ff.). 83 Swinkels, International VAT Monitor 2010, 36 (39 ff.).

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gen möglich sein. Ein Weg könnte hier ein Anerkennungsverwaltungsakt sein, der, wenn er nicht gerade nichtig ist, nach Bestandskrafterwachsung gerade auch im Falle seiner Rechtswidrigkeit bindend ist und damit Rechtsfrieden und Rechtssicherheit schafft.84 Namentlich auch im Hinblick auf den Eintritt einer Insolvenz bei einem Mitglied einer Organschaft bedarf es freilich dann auch einer Regelung dahingehend, dass bei einer nachträglich eintretenden Änderung der für die Organschaft maßgeblichen finanziellen, wirtschaftlichen und organisatorischen Verhältnisse der Anerkennungsverwaltungsakt mit Wirkung ab dem Eintritt der ändernden Umstände aufgehoben werden darf, kann und muss.

V. Zusammenfassung und Ausblick Im Vergleich zu den unionsrechtlichen Vorgaben weicht die Organschaft nach deutschem Recht in verschiedener Hinsicht ab. Dies gilt zunächst für die grundlegende dogmatische Konstruktion, kennt doch das deutsche Recht keine (u.U. sogar aus gleichgeordneten Mitgliedern bestehende) Mehrwertsteuergruppe, sondern verlangt ein Über-/Unterordnungsverhältnis. Zudem bestehen bei den beteiligten Rechtsträgern hinsichtlich der Einbeziehung von Nichtsteuerpflichtigen und von Personengesellschaften Unterschiede, die sich im Ergebnis jedenfalls nicht durch bloße richtlinienkonforme Auslegung beseitigen lassen. In rechtspolitischer Hinsicht erweist sich die Organschaft als Adoptivkind des Strukturfehlers der unechten Steuerbefreiungen. Zumindest theoretisch vorzugswürdig wäre daher die Anpassung des Mehrwertsteuerrechts dahingehend, dass die unechten Steuerbefreiungen in echte umgewandelt würden. Solange dies nicht geschieht, sollte man mit der isolierten rein nationalen Abschaffung der Organschaft, auch wenn für sie gute Gründe sprechen, mit Blick auf den internationalen Steuerwettbewerb vorsichtig sein. Jedenfalls aber bedarf es einer unionseinheitlichen Regelung: Die derzeitige fragmentierte Regelung mit den Entscheidungsspielräumen der Mitgliedstaaten ist mit dem Blick auf die Grundfreiheiten bedenklich. Auch wird der vermeintliche Zweck, die Souveränität der anderen Mitgliedstaaten zu schonen, ohnehin verfehlt. Die unionseinheitliche Zulassung der Bildung einer Mehrwertsteuergruppe oder einer Organschaft sollte sich wegen der andernfalls hervorgerufenen Abgrenzungsprobleme nicht auf Sektoren mit unecht steuerbefreiten Umsätzen beschränken, obgleich nur insoweit eine materielle Rechtfertigung für die Mehrwertsteuergruppe/Organschaft zu erkennen ist. Bis dahin sollten auf innerstaatlicher Ebene die bestehenden Möglichkeiten zur Verbesserung der Organschaft genutzt werden. Zutreffenderweise wird das Erfordernis 84 Für ein Antrags- oder Feststellungsverfahren auch Brinkmann/Walter-Yadegardjam, DStR 2016, 650; ebenso auch Reiß, in R/K/L, UStG, § 2 Rz. 98.7 (Stand Mai 2016) (aber nicht nur zugunsten des StPfl.), sondern auch, allerdings ohnehin für Vorrang der rechtssicheren Ausgestaltung der materiellen Voraussetzungen; für Anerkennungsverwaltungsakt Endres, 64 f.; Hudasch/Höink, UVR 2016, 106 sowie für die körperschaftsteuerliche Organschaft Ismer, DStR 2012, 821.

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Organschaft in der Umsatzsteuer

der Rechtssicherheit bezüglich der Voraussetzungen der Organschaft betont. Dazu sollte de lege ferenda ein Anerkennungsverwaltungsakt für den Organkreis geschaffen werden, um Rechtssicherheit zu erreichen. Im Übrigen sollten die beteiligten Senate des BFH bestrebt sein, dort, wo wie bei den Eingliederungsvoraussetzungen nationale Präzisierungsspielräume bestehen, diese einheitlich und rechtssicher zu füllen. Dazu sollte es weder zu einem Wettrennen der Senate noch zu einer nach Anfangsbuchstaben des Steuerpflichtigen gespaltenen Rechtsprechung kommen. Vielmehr sollte, wenn sich Uneinigkeiten abzeichnen, für die Anrufung des Großen Senats nicht das Entstehen einer entscheidungserheblichen offen zutage getretener Divergenzen abgewartet werden, sondern die informelle Abstimmung weiter verbessert oder die Möglichkeit zur Anrufung des Großen Senats nach §  11 Abs.  4 FGO bei grundlegender Bedeutung zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung proaktiv genutzt werden.85

85 Vielleicht noch besser, wenn aus beiden Umsatzsteuersenaten gebildeter „kleiner“ Großer Senat, vgl. Ismer, MwStR 2017, 687 (693).

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Umsatzsteuerliche Organschaft: Erforderliche Neuausrichtung der finanziellen, wirtschaftlichen und organisatorischen Eingliederungskriterien Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Organschaft im unionsrechtlichen ­Kontext 1. Rechtsgrundlagen 2. Rechtsprechung des EuGH 3. Harmonisierungsbestrebungen der ­Europäischen Kommission 4. Zwischenfazit I II. Eingliederungskriterien im UStG 1. Eingliederung mit Durchgriffsrechten

2. Finanzielle Eingliederung 3. Wirtschaftliche Eingliederung 4. Organisatorische Eingliederung a) Grundsätzliches b) Gesellschaftsrechtliche Ausgangslage bei GmbH und AG c) Kritik und Handlungsbedarf d) Zwischenfazit 5. Exkurs: Eingliederung von Personen­ gesellschaften IV. Zusammenfassung

I. Einleitung Die umsatzsteuerliche Organschaft weist eine lange Historie auf. In Deutschland ist sie seit über 80 Jahren gesetzlich normiert. Als kodifizierte Rechtsprechung des preußischen OVG und des Reichsgerichtshofs wurde sie 1934 in das Umsatzsteuergesetz eingefügt.1 Und der Wortlaut des § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG normiert bereits seit Einführung der Allphasen-Nettoumsatzsteuer mit Vorsteuerabzug durch das UStG 19672, dass die gewerbliche oder berufliche Tätigkeit nicht selbstständig ausgeübt wird, wenn eine juristische Person nach dem Gesamtbild der tatsächlichen Verhältnisse finanziell, wirtschaftlich und organisatorisch in das Unternehmen des Organträgers eingegliedert ist. Seit den 1970er Jahren3 steht die mehrwertsteuerliche Gruppenbesteuerung (Organschaft)4 den europäischen Mitgliedstaaten als optionale Regelung zur Verfügung. Im Jahr 20085 beschäftigte sich der EuGH erstmals grundlegend mit der unionsrechtlichen Vorschrift der Mehrwertsteuergruppe und tat dies unter ande1 Vgl. im Einzelnen Stadie in Rau/Dürrwächter, UStG, § 2 UStG Rz. 780 ff., Stand Oktober 2017. 2 UStG 1967 v. 29.5.1967, BStBl. I 1967, 224. 3 Art. 4 Abs. 4 der 6. EG-Richtlinie; jetzt Art. 11 MwStSystRL. 4 Die Begriffe Organschaft, Gruppe, Mehrwertsteuer-Gruppe werden im Folgenden synonym verwendet. 5 EuGH, Urt. v. 22.5.2008 – C-162/07, ECLI:EU:C:2008:301 – Ampliscientifica und Amplifin, UR 2008, 534.

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rem in mehreren Entscheidungen zur Einbindung von Nichtunternehmern6 und Beschränkung auf bestimmte Wirtschaftszweige.7 Auf Vorlage des Bundesfinanzhofs8 befasste sich der EuGH zudem mit der Ausgestaltung der Organschaftsvoraussetzungen im deutschen Recht. Er verwarf diese zumindest teilweise als nicht mit dem ­Unionsrecht vereinbar, verneinte jedoch die unmittelbare Anwendbarkeit der Richtlinienvorschrift und setzte dieser das Erfordernis einer Präzisierung der Eingliederungskriterien durch die Mitgliedstaaten entgegen.9 In der Literatur wurde dies bereits vielfach zum Anlass genommen, legislative Maßnahmen zur Anpassung des UStG und auch unionsrechtliche Schritte zur Vereinheitlichung und Klärung der Rechtslage anzumahnen.10 So wichtig die Aussicht auf eine zukünftig hoffentlich rechtssichere Gesetzeslage ist, so wenig hilft dies aktuell. Spätestens seitdem unter – für den Rechtsanwender unklaren – Voraussetzungen auch Personengesellschaften in den Organkreis einzubeziehen sind, ist die verlässliche Bestimmung eines umsatzsteuerlichen Organkreises vor dem Hintergrund inkonsistenter höchstrichterlicher Rechtsprechung und Verwaltungsanweisungen eine Herausforderung für alle Betroffenen. Dabei geht es nicht nur um die Frage, Personengesellschaften welcher Rechtsform als Organgesellschaft berücksichtigt werden können, sondern auch um die konkreten Voraussetzungen der Eingliederung. Der nachfolgende Beitrag betrachtet vor diesem Hintergrund die Voraussetzungen der finanziellen, wirtschaftlichen und organisatorischen Eingliederung nach derzeit geltendem Recht und stellt eine notwendige Neuausrichtung in der Auslegung dieser Tatbestandsmerkmale zur Diskussion. Dabei werden auch die Harmonisierungsbestrebungen der Europäischen Kommission in die Überlegungen einbezogen.

6 EuGH, Urt. v. 9.4.2013 – C-85/11, ECLI:EU:C:2013:217 – Kommission vs. Irland, UR 2013, 418; EuGH, Urt. v. 25.4.2013  – C-65/11, ECLI:EU:C:2013:265  – Kommission vs. Königreich der Niederlande, www.curia.europa.eu; EuGH, Urt. v. 25.4.2013  – C-109/11, ECLI:EU:C:2013:269  – Kommission vs. Tschechische Republik, www.curia.europa.eu; EuGH, Urt. v. 25.4.2013 – C-95/11, ECLI:C:2013:268 – Kommission vs. Dänemark, www. curia.europa.eu; EuGH, Urt. v. 25.4.2013 – C-86/11, ECLI:EU:C:2013:267 – Kommission vs. Vereinigtes Königreich, www.curia.europa.eu. 7 EuGH, Urt. v. 25.4.2013 – C-480/10, ECLI:EU:C:2013:263 – Kommission vs. Königreich Schweden, UR 2013, 423; EuGH, Urt. v. 25.4.2013 – C-74/11, ECLI:EU:C:2013:266 – Kommission vs. Finnland, www.curia.europa.eu. 8 BFH, Beschl. v. 11.12.2013 – XI R 17/11, BStBl. II 2014, 417 = UR 2014, 313 m. Anm. Marchal. 9 EuGH, Urt. v. 16.7.2015 – C-108/14 und C-109/14, ECLI:EU:C:2015:496 – Larentia + Minerva, Marenave, BStBl. II 2017, 604 = UR 2015, 671 m. Anm. Hummel; Anm. Heinrichshofen, UR 2015, 722. 10 Vgl. z.B. Englisch, UR 2016, 822; Reiß, UR 2016, 739; Ismer, DStR 2012, 821.

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Organschaft: Finanzielle, wirtschaftliche und organisatorische Eingliederung

II. Organschaft im unionsrechtlichen Kontext 1. Rechtsgrundlagen Der Wortlaut des § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG normiert, dass die gewerbliche oder berufliche Tätigkeit nicht selbstständig ausgeübt wird, wenn eine juristische Person nach dem Gesamtbild der tatsächlichen Verhältnisse finanziell, wirtschaftlich und organisatorisch in das Unternehmen des Organträgers eingegliedert ist. Aus unionsrechtlichen Gründen wurde die Vorschrift in ihren Sätzen 2 bis 4 dahingehend ergänzt, dass die Wirkungen der Organschaft auf Innenleistungen zwischen den im Inland gelegenen Unternehmensteilen beschränkt sind. Diese Unternehmensteile sind als ein Unternehmen zu behandeln. Hat der Organträger seine Geschäftsleitung im Ausland, gilt der wirtschaftlich bedeutendste Unternehmensteil im Inland als der Unternehmer.11 Die unionsrechtliche Grundlage der Organschaft ist in Art. 11 MwStSystRL (vormals Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der 6. EG-Richtlinie) geregelt. Danach kann jeder Mitgliedstaat optional in seinem Gebiet ansässige Personen, die zwar rechtlich unabhängig, aber durch gegenseitige finanzielle, wirtschaftliche und organisatorische Beziehungen eng miteinander verbunden sind, nach Konsultation des Mehrwertsteuerausschusses12 (Art. 398 MwStSystRL, vormals Art. 29 der 6. EG-Richtlinie) zusammen als einen Steuerpflichtigen behandeln. Ein Mitgliedstaat, der diese vorgesehene Möglichkeit in Anspruch nimmt, kann die erforderlichen Maßnahmen treffen, um Steuerhinterziehungen oder -umgehungen durch die Anwendung dieser Bestimmung vorzubeugen. 2. Rechtsprechung des EuGH Der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) befasste sich insbesondere in den Jahren 2008 und 2013 mit den unionsrechtlichen Regelungen zur Mehrwertsteuergruppe, wobei die Einbindung von Nichtsteuerpflichtigen sowie eine Beschränkung  auf bestimmte Wirtschaftszweige im Vordergrund standen, nicht jedoch die inhaltlich notwendige Ausgestaltung der finanziellen, wirtschaftlichen und organisatorischen Beziehungen.13 Der EuGH betonte, dass die Mitgliedstaaten die unionsrechtlichen Regelungen optional einführen und im Rahmen ihres Ermessensspielraums auch Beschränkungen einführen können, sofern diese den Zielen der Richtlinie entsprechen, die auf die Verhinderung missbräuchlicher Praktiken oder Verhaltens-

11 Vgl. Steuerbereinigungsgesetz 1986 v. 19.12.1985, BStBl. I 1985, 735. 12 Der Mehrwertsteuerausschuss wurde nach Artikel 398 der Mehrwertsteuerrichtlinie eingerichtet, um die koordinierte Anwendung der Bestimmungen der Mehrwertsteuerrichtlinie zu fördern. Da es sich um einen ausschließlich beratenden Ausschuss handelt, dem keine Rechtsbefugnisse übertragen wurden, kann der Mehrwertsteuerausschuss keine rechtsverbindlichen Entscheidungen treffen. Er kann jedoch einige Hinweise zur Anwendung der Richtlinie geben und ist deshalb geeignet, Anhaltspunkte für die weitere Diskussion der Eingliederungsvoraussetzungen einer Mehrwertsteuergruppe zu bieten. 13 Vgl. Fn. 5, 6, 7.

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weisen und die Vermeidung von Steuerhinterziehung oder –umgehung abzielt.14 Demnach besteht, wenn sich ein Mitgliedstaat für die Regelungen zur Mehrwertsteuergruppe entscheidet, die Pflicht zur Vollumsetzung, soweit nicht zur Vermeidung von Missbrauch Einschränkungen erforderlich sind. Auf der Basis dieser Entscheidungen erschienen nunmehr auch dem Bundesfinanzhof die deutschen Regelungen zur Organschaft nicht länger eindeutig unionsrechtskonform. So führte der BFH in seiner Vorlage an den EuGH vom 11.12.2013 aus, dass die von § 2 Abs. 2 Nr. 2 Satz 1 UStG geforderte Eingliederung nach ständiger Rechtsprechung des BFH voraussetzt, dass ein Über- und Unterordnungsverhältnis zwischen dem Organträger und der Organgesellschaft als „untergeordneter Person“ besteht. Dies sei aber vor dem Hintergrund der neueren Rechtsprechung des EuGH zweifelhaft.15 Zweifel an der Vereinbarkeit des deutschen Rechts mit den unionsrechtlichen Vorgaben ergeben sich bereits daraus, dass die Richtlinienbestimmungen nicht wortlautgetreu im Umsatzsteuergesetz wiedergegeben sind. Dies ist zwar für sich betrachtet weder notwendig noch ungewöhnlich, denn auch an anderer prominenter Stelle werden unionsrechtliche Systematik und Begrifflichkeit  – zulässigerweise  – der althergebrachten Herangehensweise des deutschen Umsatzsteuergesetzes angeglichen.16 Im Fall der Organschaft klafft aber neben dem Wortlaut auch der inhaltliche Regelungsbereich auseinander. So formuliert Art. 11 MwstSystRL in erster Linie, dass Mitglieder der Gruppe zusammen als ein – eigenständiger – Steuerpflichtiger behandelt werden. Als Mitglied der Gruppe qualifizieren sich Personen durch gegenseitige enge finanzielle, wirtschaftliche und organisatorische Beziehungen. Diese Grundsätze werden sowohl von der Kommission17 als auch vom EuGH18 entsprechend formuliert. Als Ergebnis bzw. Zielsetzung der Vorschrift wird nämlich die Behandlung der Mehrwertsteuergruppe als ein Steuerpflichtiger bezeichnet; die Voraussetzungen hierfür bilden gegenseitige enge Beziehungen. Die deutsche Vorschrift weicht hiervon ab. § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG beschreibt das Ergebnis der Organschaft mit der Rechtsfolge, dass die gewerbliche oder berufliche Tätigkeit der Organgesellschaft nicht selbstständig ausgeübt wird. Als Voraussetzung wird die finanzielle, wirtschaftliche und organisatorische Eingliederung der Organgesellschaft in das Unternehmen des Organträgers definiert. Die Formulierung der Rechtsfolge ist demnach nicht vom unionsrechtlichen Gedanken des einheitlichen, gemeinsamen Steuerpflichtigen geprägt, sondern von einem Über- und Unterord14 EuGH, Urt. v. 25.4.2013 – C-480/10, ECLI:EU:C:2013:263 – Kommission vs. Königreich Schweden, UR 2013, 423 m. Anm. Hamacher/Dahm – Rz. 38 und 39. 15 BFH, Beschl. v. 11.12.2013 – XI R 38/12, UR 2014, 323, Rz. 65–70. 16 Ausführlich hierzu Wäger, DStR 2011, 433 ff. am Beispiel des Vorsteuerabzugs. 17 Mitteilung der Europäischen Kommission an das Europäische Parlament v. 2.7.2007, KOM (2009) 325 endgültig, UR 2009, 632 ff. unter 3.2. 18 Vgl. EuGH, Urt. v. 22.5.2008  – C-162/07, ECLI:EU:C:2008:301  – Ampliscientifica und Amplifin, UR 2008, 534, Rz. 19.

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Organschaft: Finanzielle, wirtschaftliche und organisatorische Eingliederung

nungsprinzip, das die Organgesellschaft – vergleichbar mit einem abhängig beschäftigten Arbeitnehmer  – nicht selbstständige Tätigkeiten ausüben lässt. Dies spiegelt sich auch in der Formulierung der Voraussetzungen der Organschaft wieder. Aus den unionsrechtlich normierten engen Beziehungen wird im nationalen Recht die Eingliederung in das Unternehmen des Organträgers. Wiederum ist das Über- und Unterordnungsverhältnis von Organträger und Organgesellschaft prägendes Element. Zwar hat auch der EuGH den Gedanken von Über- und Unterordnung in der Rechtssache van der Steen19 in seine Rechtsfindung einbezogen. Ausgangspunkt der vom nationalen Gericht vorgelegten Fragen war die Regelung zur niederländischen Organschaft. Allerdings war der Sonderfall zu betrachten, dass Herr van der Steen als ehemaliger Einzelunternehmer nunmehr Geschäftsführer und einziger Gesellschafter einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung wurde, welche die Tätigkeit des Einzelunternehmens übernahm und fortführte. Die niederländische Finanzverwaltung wollte, wohl wegen zwischenzeitlicher Insolvenz der Gesellschaft, eine Organschaft zwischen dieser und Herrn van der Steen annehmen. Die Frage nach der Über- und Unterordnung von Personen war für den EuGH in diesem Kontext notwendig um festzustellen, dass Herr van der Steen Arbeitnehmer der Gesellschaft war, und somit keine Organschaft bestehen konnte. Aus dieser Betrachtung sind jedoch keine grundsätzlichen Rückschlüsse auf die Notwendigkeit einer Über- und Unterordnung von Organträger und Organgesellschaft zu ziehen. Hierzu führt auch der EuGH in seinem Urteil zu den Vorlagebeschlüssen des BFH20 aus, ein Unterordnungsverhältnis lasse zwar vermuten, dass zwischen den verbundenen Personen eine enge Beziehung besteht. Jedoch kann ein solches Unterordnungsverhältnis nicht grundsätzlich als eine für die Bildung einer Mehrwertsteuergruppe notwendige Voraussetzung angesehen werden. Eine Ausnahme kann wiederum nur dann gelten, wenn sie zur Vermeidung von Missbrauch bzw. Steuerhinterziehung oder -umgehung erforderlich und geeignet ist.21 Eine weitergehende, genauere Definition von Eingliederungsvoraussetzungen, die eine enge, finanzielle, wirtschaftliche und organisatorische Beziehung im unionsrechtlichen Sinne begründen, gibt der EuGH nicht vor. Vielmehr betont der Gerichtshof, dass die unionsrechtliche Vorschrift insoweit lediglich einen bedingten Charakter hat, als sie die Anwendung nationaler Rechtsvorschriften voraussetzt, die den konkreten Umfang der notwendigen Verbindungen bestimmen.22

19 EuGH, Urt. v. 18.10.2007 – C-355/06 – van der Steen, UR 2007, 589 Rz. 21. 20 Siehe oben Fn. 15. 21 EuGH, Urt. v. 16.7.2015 – C-108/14 und C-109/14, ECLI:EU:C:2015:496 – Larentia + Minerva, Marenave, BStBl. II 2017, 604 = UR 2015, 671 m. Anm. Hummel; Anm. Heinrichshofen, UR 2015, 722, Rz. 44, 45. 22 EuGH, Urt. v. 16.7.2015 – C-108/14 und C-109/14, ECLI:EU:C:2015:496 – Larentia + Minerva, Marenave, BStBl. II 2017, 604 = UR 2015, 671 m. Anm. Hummel; Anm. Heinrichshofen, UR 2015, 722, Rz. 50.

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3. Harmonisierungsbestrebungen der Europäischen Kommission Wie die Europäische Kommission bereits in der Vergangenheit festgestellt hatte, sind die Mitgliedstaaten zunehmend an einer Einführung der optional vorgesehenen Regelungen der Mehrwertsteuer-Gruppe (Organschaft) in nationales Recht interessiert. Aus einer Konsultation der Mitgliedstaaten im Rahmen des Mehrwertsteuerausschusses ging für die Kommission eindeutig hervor, dass es zwischen den Regelungen für Mehrwertsteuer-Gruppen in den einzelnen Mitgliedstaaten große Unterschiede gibt. Zudem bedeuten die Regelungen für die Wirtschaftsbeteiligten zwar eine Vereinfachung, könnten aber, laut Kommission, auch zu Steuerhinterziehung führen. Daher schlug die Kommission in einer Mitteilung vom 2.7.2009 an das Europäische Parlament und den Rat Leitlinien für eine korrekte, kohärente und einheitliche Anwendung der Option zur Mehrwertsteuer-Gruppe vor.23 Die Vorschläge beinhalteten insbesondere die folgenden Kernpunkte. ȤȤ Nur Steuerpflichtige können Mitglied einer Mehrwertsteuer-Gruppe werden und ihr angehören. ȤȤ Die Gruppe ist selbst Steuerpflichtiger und gibt als solcher Steuererklärungen und Zusammenfassende Meldungen ab. Sie erhält nur eine einzige Mehrwertsteuer-Identifikationsnummer (Art. 214 MwStSystRL). ȤȤ Für die engen gegenseitigen finanziellen, wirtschaftlichen und organisatorischen Beziehungen schlägt die Kommission eine Definition der drei Beziehungen als Leitlinien vor. ȤȤ Finanzielle Beziehung: Diesbezüglich wird der Prozentanteil der Kapitalbeteiligung oder der Stimmrechte (mehr als 50 %) oder aber das Bestehen eines Franchisevertrags berücksichtigt. Damit wird gewährleistet, dass ein Unternehmen ein anderes tatsächlich kontrolliert. ȤȤ Wirtschaftliche Beziehung: Sie beruht auf zumindest einer der folgenden Situationen einer wirtschaftlichen Zusammenarbeit: Die Gruppenmitglieder üben die gleiche Haupttätigkeit aus, oder die Tätigkeiten der Gruppenmitglieder ergänzen einander oder hängen voneinander ab, oder ein Mitglied der Gruppe übt Tätigkeiten aus, die den übrigen Mitgliedern in vollem oder in wesentlichem Umfang zugutekommen. ȤȤ Organisatorische Beziehung: Sie liegt bei einer gemeinsamen oder zumindest teilweise gemeinsamen Managementstruktur vor. Auch in jüngerer Zeit scheint das Interesse der Mitgliedstaaten an den Regelungen zur Mehrwertsteuer-Gruppe ungebrochen zu sein. Nachdem bereits einige Staaten die Umsetzung in teilweise ganz unterschiedlicher Art und Weise vollzogen haben24 23 Mitteilung der Europäischen Kommission an das Europäische Parlament v. 2.7.2007, KOM (2009) 325 endgültig, UR 2009, 632 ff. 24 Vgl. auch im Einzelnen VAT Expert Group, draft discussion paper Meaning of „financial, economic and organisational links” among VAT group members v. 18.1.2018, taxud.c.1​ (2018)339756.

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Organschaft: Finanzielle, wirtschaftliche und organisatorische Eingliederung

folgen weitere Mitgliedstaaten, wie zum Beispiel Luxemburg mit Wirkung zum 31.7.201825 Italien mit Wirkung zum 1.1.2019.26 Aus den Leitlinien im Working Paper 933 und 948 des Mehrwertsteuerausschuss vom 8.11.2017 bzw. 16.4.2018, die den Stand der Konsultationsverfahren wiederspiegeln ist abzuleiten, dass sich die Position der Kommission zur (möglichen) Definition von Eingliederungskriterien seit 2009 zwar nicht wesentlich geändert hat, jedoch die neuere Rechtsprechung des EuGH27 berücksichtigt. Wie der Mehrwertsteuerausschuss ausführt, wurden die damaligen Vorschläge zuletzt im Working Paper No 91828 im Verlauf des 108. Treffens des Mehrwertsteuerausschusses weitergehend besprochen, ohne dass jedoch weitere Leitlinien hierzu verabschiedet wurden. Die nunmehr überarbeiteten Kernpunkte für eine einheitliche Definition der Voraussetzungen einer Mehrwertsteuergruppe lauten: ȤȤ Nicht nur Steuerpflichtige sondern jede im Mitgliedstaat ansässige Person kann Mitglied einer Mehrwertsteuergruppe werden. Insofern wird der Rechtsprechung des EuGH gefolgt und der ursprüngliche Standpunkt revidiert. ȤȤ Auch weiterhin soll die Gruppe selbst Steuerpflichtiger sein und gibt als solche Steuererklärungen und Zusammenfassende Meldungen ab. Sie erhält nur eine einzige Mehrwertsteuer-Identifikationsnummer (Art. 214 MwStSystRL). Offensichtlich sollen die Mitglieder der Gruppe gesamtschuldnerisch für die Steuerschuld einstehen.29 ȤȤ Für die engen gegenseitigen finanziellen, wirtschaftlichen und organisatorischen Beziehungen überdenkt die Kommission eine mögliche Definition der drei Beziehungen auf Basis der Rechtsprechung des EuGH. ȤȤ Finanzielle Beziehung: Für eine rechtssichere Definition von Mindestvoraussetzungen wird zum einen der Prozentanteil der Kapitalbeteiligung oder der Stimmrechte (mehr als 50 %) in Betracht gezogen, wobei eine indirekte Eingliederung problematisiert wird, bei der der Organträger (zum Beispiel wegen Ansässigkeit im Ausland) nicht Teil der Mehrwertsteuergruppe ist oder die indirekte Beteiligung zu einem Anteil von nicht mehr als 50% beim Organträger führt. Denkbar wäre zum anderen die Eingliederung als eine finanzielle Abhängigkeit zu interpretieren, die zu einem konsolidierten Abschluss im Sinne der Bilanz-Richtlinie30 verpflichtet.

25 Vgl. Working Paper Nr.  948 REV der Europäischen Kommission v. 16.4.2018, taxud.c.1​ (2018)2251441. 26 Vgl. Working Paper Nr.  933 der Europäische Kommission v. 8.11.2017, taxud.c.1(2017)​ 6142196. 27 Vgl. Fn. 5, 6, 7, 9. 28 Doc. taxud.c.1(2017)982178 – Working paper No 918. 29 VAT Expert Group, draft discussion paper Meaning of „financial, economic and organisational links” among VAT group members v. 18.1.2018, taxud.c.1.(2018)339756, Seite 2. 30 Richtlinie 2013/34/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.6.2013, ABl. L 182, 19.

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Das Bestehen eines Franchisevertrags wird zwar immer noch erwähnt31, aber nunmehr wohl allenfalls als wirtschaftliche oder organisatorische Beziehung zwischen Personen in Betracht gezogen, ohne dass hierdurch eine finanzielle Verbundenheit rechtssicher begründet werden kann. ȤȤ Wirtschaftliche Beziehung: Auch weiterhin geht die Kommission davon aus, dass Gruppenmitglieder eine wirtschaftliche Beziehung begründen, wenn sie die gleiche Haupttätigkeit ausüben, oder die Tätigkeiten der Gruppenmitglieder einander ergänzen oder voneinander abhängen, oder ein Mitglied der Gruppe Tätigkeiten ausübt, die den übrigen Mitgliedern in vollem oder in wesentlichem Umfang zugutekommen. Auch wenn es sich dabei nicht zwingend um eine unternehmerische Tätigkeit (Art. 9 MwStSystRL) handeln muss, geht die Kommission davon aus, dass Nichtunternehmer – also Personen, die nicht Steuerpflichtige sind – nur schwerlich die Voraussetzungen erfüllen können. ȤȤ Organisatorische Beziehung: Hier bleibt die Kommission bei ihrer Auffassung, dass eine gemeinsame oder zumindest teilweise gemeinsame Managementstruktur vorliegen muss. Dabei bezieht sie sich auf die strategische Führung durch eine zur Mehrwertsteuer-Gruppe gehörende Person, die durch hierarchische Strukturen (zum Beispiel gemeinsames Top-Management) oder durch die Art und Weise der Entscheidungsfindung (zum Beispiel gemeinsames Management der Rechtsan­ gelegenheiten, oder gemeinsame Finanzentscheidungen) ausgeübt werden kann. Auch Franchiseverträge, die zum Beispiel sogar Betriebsabläufe vorgeben und weitreichend in das operative Geschäft eingreifen, können demnach eine organisatorische Eingliederung bewirken.32 4. Zwischenfazit Die unionsrechtlichen Vorschriften zur Mehrwertsteuergruppe können von den Mitgliedstaaten optional umgesetzt werden. Dabei gilt grundsätzlich das Prinzip der Vollumsetzung, eine nur teilweise Umsetzung ist nicht zulässig. Einschränkungen dürfen dann in nationales Recht implementiert werden, wenn sie der Vermeidung des Missbrauchs dienen. Lediglich die Vorgaben der MwStSystRL hinsichtlich der Kriterien einer finanziellen, wirtschaftlichen und organisatorischen Beziehung der im Organkreis verbundenen Personen müssen von den Mitgliedstaaten bei der Umsetzung in nationales Recht spezifiziert werden. Die Europäische Kommission hat hierzu Überlegungen mit dem Ziel einer möglichst rechtssicheren und einheitlichen Herangehensweise angestellt, die jedoch nicht verbindlich sind. Wie die nachfolgende Betrachtung zeigen wird, hat Deutschland bei der Definition der Eingliederungskriterien in den letzten Jahren einen Ansatz gewählt, der nicht vollumfänglich durch die unionsrechtlichen Vorgaben gedeckt ist. 31 A.A. VAT Expert Group, draft discussion paper Meaning of „financial, economic and or­ ganisational links” among VAT group members v. 18.1.2018, taxud.c.1.(2018)339756, Seite 14. 32 A.A. VAT Expert Group, discussion paper: Meaning of „financial, economic and organisational links” among VAT group members v. 19.3.2018, taxud.c.1.(2018)1668166, Seite 16.

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Organschaft: Finanzielle, wirtschaftliche und organisatorische Eingliederung

III. Eingliederungskriterien im UStG 1. Eingliederung mit Durchgriffsrechten Eine umsatzsteuerliche Organschaft im Sinne des § 2 Abs. 2 Nr. 2 Satz 1 UStG besteht nach dem Wortlaut des Gesetzes, wenn eine juristische Person nach dem Gesamtbild der tatsächlichen Verhältnisse finanziell, wirtschaftlich und organisatorisch in das Unternehmen des Organträgers eingegliedert ist. Art.  11 Abs.  1 MwStSystRL normiert dagegen eine enge Verbundenheit durch gegenseitige finanzielle, wirtschaftliche und organisatorische Beziehungen. Der EuGH betont, dass die unionsrechtliche Regelung insoweit lediglich einen bedingten Charakter hat, als sie die Anwendung nationaler Rechtsvorschriften voraussetzt, die den konkreten Umfang der notwendigen Verbindungen bestimmen.33 Das strikte Erfordernis der Über- und Unterordnung von Organträger und Organgesellschaft ist jedoch klar zu verneinen.34 Der BFH nimmt dies bislang jedoch nicht zum Anlass, die konkrete Ausgestaltung der Einbindungskriterien zu überdenken. Der V. Senat des BFH verwendet nunmehr lediglich eine abweichende Formulierung, indem er von einem Erfordernis der Eingliederung mit Durchgriffsrechten statt einer Über- und Unterordnung ausgeht.35 Im Ergebnis hält der BFH eine richtlinienkonforme Auslegung des deutschen Rechts im Sinne einer engen Verbundenheit jedoch nur dann für möglich, wenn die Voraussetzungen der Organschaft im Rahmen eines Feststellungsverfahrens rechtssicher abgeprüft werden. Dies ist nach geltendem Recht nicht der Fall, so dass ein Abweichen von der unionsrechtlich gebotenen Auslegung gerechtfertigt sein soll. Diese Sicht des V. Senats wird den Vorgaben des EuGH nicht gerecht. Denn der Aspekt der Rechtssicherheit ist weder geeignet mit der Verhinderung von Missbrauch im Sinne des Art. 11 Abs. 2 MwStSystRL gleichgesetzt zu werden, noch kann sie dem eindeutigen Gebot des Gerichtshofs zur Vollumsetzung der Organschaftsregelung entgegengehalten werden, die lediglich die konkrete Ausgestaltung der engen Verbindungen zur Disposition durch die Mitgliedstaaten freigibt.36 Der XI. Senat scheint dem Ansatz des V. Senats bislang nicht folgen zu wollen 37 und bewertet zwecks Umsetzung der EuGH-Rechtsprechung in Sachen Larentia + Minerva, Marenave 38 jedenfalls die GmbH & Co KG als juristische Person, die somit auch nach dem Wortlaut des deutschen Gesetzes Organgesellschaft sein kann, wenn die Eingliederungskriterien erfüllt sind. Eine diesbezügliche Abkehr vom Über- und Un33 EuGH, Urt. v. 16.7.2015 – C-108/14 und C-109/14, ECLI:EU:C:2015:496 – Larentia + Minerva, Marenave, BStBl. II 2017, 604 = UR 2015, 671 m. Anm. Hummel; Anm. Heinrichshofen, UR 2015, 722, Rz. 50. 34 Siehe oben Fn. 21. 35 BFH, Urt. v. 2.12.2015 – V R 15/14, BStBl. II 2017, 553 = UR 2016, 192. 36 Vgl. ausführlich Ismer/Reiß, Organschaft und Umsatzsteuer, in dieser Festschrift, unter III.1., S. 422 f. 37 BFH, Urt. v. 19.1.2016 – XI R 38/12, BStBl. II 2017, 567 = UR 2016, 312 m. Anm. Heinrichshofen und Sterzinger, Rz. 104. 38 Vgl. Fn. 9.

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terordnungsprinzip lässt die Urteilsbegründung nicht erkennen. Die Finanzverwaltung39 schließt sich hinsichtlich der Eingliederungsvoraussetzungen einer umsatzsteuerlichen Organschaft weitestgehend der Rechtsprechung des V. Senats an 40 ohne die Rechtsprechung des XI. Senats in dieser Hinsicht überhaupt zu erwähnen. Dazu kommt, dass die Voraussetzungen der Eingliederung weiterhin nach den althergebrachten Grundsätzen einer Über- und Unterordnung und der hierzu ergangenen Rechtsprechung beurteilt werden. Dieser Ansatz ist unzutreffend. Zwar besteht für die Mitgliedstaaten ein Ermessensspielraum, wie sie die Eingliederungskriterien ausgestalten. Dabei dürfen sie jedoch nicht die Grundprinzipien der Regelungen zur Mehrwertsteuergruppe unbeachtet lassen. Und diese Prinzipien gehen eben nicht davon aus, dass die Einheiten eines Organkreises zwingend in einem Über- und Unterordnungsverhältnis zueinander stehen, wie der EuGH ausdrücklich anmerkt.41 Daher dürfen auch die Eingliederungskriterien nicht so ausgestaltet sein, dass sie ausschließlich dann erfüllbar sind, wenn eben ein solches Über- und Unterordnungsverhältnis besteht. Dieser Aspekt ist auch im Rahmen einer notwendigen richtlinienkonformen Interpretation der Eingliederungsvoraussetzungen des UStG nach geltendem Recht zu berücksichtigen. Daraus ergeben sich die folgenden Überlegungen. 2. Finanzielle Eingliederung Für die finanzielle Eingliederung ist nach bisheriger Rechtsprechung des BFH eine gesellschaftsrechtliche Beteiligung entscheidend. Eine Anteilsmehrheit an der Organgesellschaft ermöglicht es dem Organträger seinen Willen durchzusetzen. Gegenüber der früheren, auf dem Prinzip der Über- und Unterordnung basierenden Rechtsprechung ändert sich insoweit durch die neue Terminologie der Eingliederung mit Durchgriffsrechten nach Auffassung des BFH und der Finanzverwaltung nichts.42 Eine Beteiligung von mehr als 50% reicht somit aus, wenn keine höhere qualifizierte Mehrheit für die allgemeine Beschlussfassung in der Organgesellschaft notwendig ist.43 Dabei ist auf die Regelung der jeweiligen Satzung abzustellen. Stimmrechtsvollmachten, Stimmbindungsvereinbarungen oder andere rechtsgeschäftliche Regelungen sind dagegen laut BFH unbeachtlich.44

39 Vgl. BMF v. 26.5.2017, BStBl. I 2017, 790 mit einer Übergangsregelung für Umsätze bis zum Ablauf des 31.12.2018. 40 Zu Unschlüssigkeiten bei Personengesellschaften als Organgesellschaft vgl. unten unter 5. 41 EuGH, Urt. v. 16.7.2015 – C-108/14 und C-109/14, ECLI:EU:C:2015:496 – Larentia + Minerva, Marenave, BStBl. II 2017, 604 = UR 2015, 671 m. Anm. Hummel; Anm. Heinrichshofen, UR 2015, 722, Rz. 44. 42 BFH, Urt. v. 2.12.2015 – V R 15/14, BStBl. II 2017, 553 = UR 2016, 192, Rz. 25 f.; Abschn.2.8 Abs. 5 Satz 1 UStAE. 43 BFH, Urt. v. 1.12.2010 – XI R 43/08, BStBl. II 2011, 600 = UR 2011, 456 m. Anm. Eberhard/ Mai; Abschn. 2.8 Abs. 5 Satz 3 UStAE. 44 BFH, Urt. v. 2.12.2015 – V R 25/13, BStBl. II 2017, 547 = UR 2016, 185; Abschn. 2.8. Abs. 5 Satz 3 UStAE.

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Auch die Kommission stellt in ihren Überlegungen zu einer einheitlichen und rechtssicheren Regelung der Mindestvoraussetzungen einer Organschaft bei der finanziellen Eingliederung insbesondere auf die Kapitalbeteiligung bzw. Stimmrechte ab. Dies dürften im Regelfall geeignete und im Übrigen auch praxistaugliche Kriterien sein, um die Eingliederung im Sinne einer engen Verbindung festzustellen. Allerdings dürfen rechtsgeschäftliche Regelungen wie Stimmrechtsvollmachten und Stimmbindungsvereinbarungen nicht grundsätzlich unbeachtlich sein. Vielmehr kommt es auf die konkrete Ausgestaltung der Vereinbarung an. So dürfte zum Beispiel eine Spezialvollmacht nur für einen bestimmten Beschluss oder nur für eine bestimmte Versammlung wohl kaum geeignet sein, während eine über den Einzelfall hinausgehende nach den Textformerfordernissen des § 126b BGB erteilte (General-)Vollmacht durchaus eine Anteilsmehrheit begründen kann. Wird mehreren Vertretern Gesamtvertretungsmacht gegeben, die dann nur gemeinsam abstimmen können, wird darauf abzustellen sein, wie diese Vertreter ihrerseits direkt oder indirekt im Verhältnis zum Organträger finanziell eingebunden sind. Denn eine Anteilsmehrheit kann auch bereits nach bisheriger Rechtsprechung mittelbar bestehen, sogar ohne dass die in der Kette zwischengeschaltete Gesellschaft selbst Unternehmer oder Organgesellschaft sein muss.45 Diese grundsätzliche Anerkennung der Mittelbarkeit, die im Übrigen auch von der Kommission geteilt wird, sollte auch auf rechtsgeschäftliche Vereinbarungen, wie zum Beispiel Stimmrechtsvollmachten, übertragbar sein. Unbeachtlich ist zudem, dass eine Stimmrechtsvollmacht widerrufbar ist. Der tatsächliche Widerruf kann allenfalls eine bis dahin bestehende finanzielle Eingliederung beseitigen, indem die Anteilsmehrheit für den Organträger nicht mehr besteht. Die mittelbare finanzielle Eingliederung findet nach bisheriger Rechtsprechung in bestimmten Konstellationen ihre Grenzen. Dies gilt zum Beispiel, wenn sie zwischen Schwestergesellschaften hergestellt werden soll. Die Eingliederung mit Durchgriffsrechten kann laut BFH nur unter Einbeziehung des gemeinsamen Gesellschafters erfolgen.46 Auch diese Auslegung basiert auf der Annahme, dass die erforderliche Eingliederung in ein anderes Unternehmen ein Verhältnis der Über- und Unterordnung der beteiligten Gesellschaften voraussetzt.47 Sie widerspricht somit den Vorgaben des EuGH, weil unzutreffend die Gleichordnung organschaftlich verbundener Unternehmen ausgeschlossen wird.

45 BFH, Urt. v. 2.12.2015 – V R 25/13, BStBl. II 2017, 547 = UR 2016, 185, Rz. 47; Abschn. 2.8. Abs. 5b Satz 1 UStAE. 46 BFH, Urt. v. 22.4.2010 – V R 9/09, BStBl. II 2011, 597 = UR 2010, 579 m. Anm. Korf; BFH, Urt. v. 1.12.2010 – XI R 43/08, BStBl. II 2011, 600 = UR 2011, 456 m. Anm. Eberhard/Mai; BFH, Urt. v. 24.8.2016 – V R 36/15, BStBl. II 2017, 595 = UR 2017, 117; Abschn. 2.8 Abs. 5b Satz 4 ff. UStAE. 47 Vgl. BFH, Urt. v. 22.4.2010 – V R 9/09, BStBl. II 2011, 597 = UR 2010, 579 m. Anm. Korf, Rz. 19 ff. m.w.N.

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3. Wirtschaftliche Eingliederung Um die erforderliche wirtschaftliche Eingliederung darstellen zu können, muss eine Verflechtung zwischen den Unternehmensbereichen von Organträger und Organgesellschaft oder auch zwischen zwei Organgesellschaften bestehen.48 Allerdings ist es nicht erforderlich, dass die Mitglieder des Organkreises wirtschaftlich voneinander abhängig sind.49 In der Regel reicht es aus, dass nicht nur unwesentliche Leistungen ausgetauscht werden.50 Insofern bewegt sich die höchstrichterliche Rechtsprechung in einem Rahmen, der nicht auf eine Über- und Unterordnung der organschaftlich verbundenen Unternehmen abzielt, sondern auch gleichgeordnete Strukturen akzeptiert. Eine grundsätzliche Neuausrichtung der Rechtsprechung dürfte daher nicht erforderlich sein. Die wirtschaftliche Eingliederung ist in der Praxis als potentieller Streitpunkt zwischen Steuerpflichtigen und Finanzverwaltung zumeist weniger relevant, wenn die Beteiligten zum vollen Vorsteuerabzug berechtigt sind. Anders ist es jedoch, wenn nicht (vollumfänglich) zum Vorsteuerabzug Berechtigte beteiligt sind. Dies ist zum Beispiel im Gesundheitssektor der Fall, wenn Krankenhausbetreiber und Serviceunternehmen die personal- und kostenintensiven Leistungen (zum Beispiel Reinigung, eigenbetriebliche Küche) in einem Joint-Venture-Unternehmen bündeln, das Organgesellschaft des Krankenhausbetreibers als Organträger wird. Die kostenintensiven Leistungen werden dann als nicht steuerbare Innenleistungen ohne Mehrwertsteuer in Rechnung gestellt. Soweit diese Folgewirkung in der Literatur teilweise als ungerechtfertigter Steuervorteil betrachtet wird51, trifft dies allenfalls dann zu, wenn im Einzelfall nachweislich und ausschließlich zum Zweck der Steuerumgehung gehandelt wird. Auch der EuGH geht in seiner Entscheidung Kommission/Schweden davon aus, dass eine Entlastung von nichtabzugsfähiger Vorsteuer, die ohne Organschaftsverhältnis nicht möglich wäre, nicht zu beanstanden und letztlich auch systemimmanent ist.52 4. Organisatorische Eingliederung a) Grundsätzliches Die organisatorische Eingliederung ist in der Praxis das streitanfälligste Tatbestandsmerkmal der umsatzsteuerlichen Organschaft. Im Wesentlichen geht es gemäß derzeitiger Rechtsauffassung des BFH darum, dass die mit der finanziellen Eingliederung verbundene Möglichkeit der Beherrschung der Organgesellschaft durch den 48 BFH, Urt. v. 20.8.2009 – V R 30/06, BStBl. II 2010, 863 = UR 2009, 800; Abschn. 2.8 Abs. 6 Satz 1, 4 UStAE. 49 BFH, Urt. v. 3.4.2003 – V R 63/01, BStBl. II 2004, 434 = UR 2003, 394; Abschn. 2.8 Abs. 6 Satz 3 UStAE. 50 BFH, Urt. v. 7.7.2011 – V R 53/10, BStBl. II 2013, 218 = UR 2011, 943; vgl. auch Abschn. 2.8 Abs. 6 UStAE m.w.N. 51 Vgl. hierzu Leonard, DStR 2010, 721. 52 EuGH, Urt. v. 25.4.2013 – C-480/10, ECLI:EU:C:2013:263 – Kommission vs. Königreich Schweden, UR 2013, 423.

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Organträger in der laufenden Geschäftsführung tatsächlich wahrgenommen wird.53 Dabei reicht es nach der neueren Rechtsprechung des BFH nicht mehr aus, dass eine abweichende Willensbildung bei der Organgesellschaft ausgeschlossen werden kann (sog. Patt-Situation). Vielmehr muss die Möglichkeit zur aktiven Durchsetzung des Willens in der Geschäftsführung bestehen.54 Wie die finanzielle muss auch die organisatorische Eingliederung der Organgesellschaften nicht unmittelbar zum Organträger oder durch die Beteiligungskette bestehen. Die organisatorische Eingliederung kann über jede, finanziell in den Organträger eingegliederte Gesellschaft vermittelt werden.55 Im Regelfall soll laut BFH eine personelle Verflechtung der Geschäftsführung von Organträger und Organgesellschaft Voraussetzung einer organisatorischen Eingliederung sein.56 Dies bedeutet jedoch nicht, dass eine Personalunion erforderlich ist.57 Zudem reicht es aus, wenn ein leitender58 Mitarbeiter des Organträgers in der Geschäftsführung der Organgesellschaft tätig wird.59 Eine Verflechtung über den Beirat, einen Prokuristen oder den Aufsichtsrat einer Aktiengesellschaft sollen dagegen nicht ausreichen.60 Die bisherige Rechtsprechung des BFH zur organisatorischen Eingliederung erfolgte zeitlich vor der Entscheidung des EuGH in Sachen Larentia+ Minerva, Marenave. Sie basiert daher auf dem Wortlaut des UStG zur Eingliederung von Kapitalgesellschaften in der Rechtsform der juristischen Person. GmbH und AG sind hierbei die in der Praxis häufigsten Anwendungsfälle, wobei die gesellschaftsrechtliche Ausgangssituation teilweise unterschiedlich ist. b) Gesellschaftsrechtliche Ausgangslage bei GmbH und AG Die Regelungen des GmbHG können in weiten Bereichen abbedungen werden. Jedenfalls nach den gesetzlichen Vorgaben (§ 37 Abs. 1 GmbHG) hat die Gesellschafterversammlung gegenüber der Geschäftsführung ein uneingeschränktes Weisungsrecht. Sie entscheidet auch über Be- und Abberufung von Geschäftsführern. Der Mehrheitsgesellschafter hat somit in der Gesellschafterversammlung die Möglichkeit, die Geschäftsführung umfassend zu lenken. Das Weisungsrecht nach § 48 GmbHG allein begründet jedoch keine organisatorische Eingliederung. Vielmehr stellt die Rechtsprechung des BFH und die ihr folgende Auffassung der Finanzverwaltung für 53 Vgl. BFH, Urt. v. 5.12.2007 – V R 26/06, BStBl. II 2008, 451 = UR 2008, 259 m. Anm. Hidien. 54 BFH, Urt. v. 8.8.2013 – V R 18/13, BStBl. II 2017, 543 = UR 2013, 785 m. Anm. Slapio. 55 Vgl. Abschn. 2.8 Abs. 10a UStAE mit Beispielen. 56 BFH, Urt. v. 2.12.2015 – V R 15/14, BStBl. II 2017, 553 = UR 2016, 192. 57 BFH, Urt. v. 12.10.2016 – XI R 30/14, BStBl. II 2017, 597 = UR 2017, 178, Rz. 26 f. 58 Die Finanzverwaltung nennt in Abschn. 2.8 Abs. 9 UStAE nicht das Tatbestandsmerkmal „leitend“. 59 BFH, Urt. v. 20.8.2009 – V R 30/06, BStBl. II 2010, 86 = UR 2009, 8003 60 BFH, Urt. v. 29.10.2010 – V R 7/10, BStBl. II 2011, 391 = UR 2011, 256 m. Anm. von Streit/ Duyfjes; Abschn. 2.8 Abs. 11 Satz 4, Abs. 9 Satz 3 und Abs. 8 Satz 10 UStAE.

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die organisatorische Eingliederung auf die Art der Geschäftsführungsbefugnis der Geschäftsführer der GmbH und deren Einbindung in das Unternehmen des Mehrheitsgesellschafters ab. Bei mehreren einzelgeschäftsführungsbefugten Geschäftsführern ist entscheidend, dass einer von ihnen eine geschäftsführungsbefugte Person oder ein leitender Mitarbeiter des Organträgers ist, der Organträger über ein umfassendes Weisungsrecht verfügt und alle Geschäftsführer der Organgesellschaft bestellen oder abberufen kann.61 In der Praxis weicht die Satzung einer GmbH häufig von den dargestellten gesetzlichen Bestimmungen ab, so dass der Mehrheitsgesellschafter auch bei Einzelgeschäftsführungsbefugnis im Ergebnis nicht durch einen, in seiner Geschäftsführung verankerten oder zu seinem leitenden Personal gehörenden Mitarbeiter in die Geschäftsführung der (potentiellen) Organgesellschaft durchgreifen kann. Er muss in diesem Fall die Mehrheit der Geschäftsführer stellen, um seinen Willen durchzusetzen. Zumindest jedoch muss für den dem Organträger zuzurechnenden Geschäftsführer der Organgesellschaft ein Letztentscheidungsrecht bestehen, dass sich aus der für die Geschäftsführer verbindlichen Geschäftsordnung ergibt.62 Sind die Geschäftsführer der Organgesellschaft gesamtgeschäftsführungsbefugt, kann die organisatorische Eingliederung ebenfalls durch ein in der Geschäftsführerordnung manifestiertes Letztentscheidungsrecht für den Geschäftsführer des Organträgers erreicht werden. Sind die dem Organträger zuzurechnenden Geschäftsführer in der Mehrheit und erfordern Entscheidungen einen Mehrheitsbeschluss, reicht dies ebenfalls aus.63 Die Aktionäre einer AG haben kein Weisungsrecht gegenüber der Geschäftsführung (vgl. § 119 Abs. 2 AktG). Entscheidend ist daher für die derzeitige Auslegung der Erfordernisse einer organisatorischen Eingliederung, dass die Mehrheit der Vorstandsmitglieder dem Organträger zuzurechnen sind, also bei ihm geschäftsführungsbefugt ist oder zu seinem leitenden Personal gehört. Zwar hat der Vorstand die Gesellschaft unter eigener Verantwortung zu leiten (§ 76 Abs. 1 AktG). Im Außenverhältnis ist die Vertretungsbefugnis des Vorstands auch nicht beschränkbar (§ 82 Abs. 1 AktG). Im Innenverhältnis kann der Vorstand jedoch in der Satzung oder durch Beschluss des Aufsichtsrats oder der Hauptversammlung (zum Beispiel in einer Geschäftsordnung) angewiesen werden, Beschränkungen in seiner Geschäftsführung zu beachten, zum Beispiel durch einen Zustimmungskatalog. Dem Vorstandsvorsitzenden steht zudem eine Letztentscheidungsbefugnis zu, die er jedoch nicht gegen die Stimmenmehrheit ausüben kann (§ 77 Abs. 1 Satz 2 AktG).

61 Vgl. hierzu BFH, Urt. v. 7.7.2011 – V R 53/10, BStBl. II 2013, 218 = UR 2011, 943; BFH, Urt. v. 8.8.2013 – V R 18/13, BStBl. II 2017, 543 = UR 2013, 785 m. Anm. Slapio; BFH, Urt. v. 2.12.2015 – V R 15/14, BStBl. II 2017, 553 = UR 2016, 192; Abschn. 2.8 Abs. 8 Satz 8 UStAE. 62 Vgl. auch Abschn. 2.8 Abs. 8 Satz 9 UStAE. 63 Vgl. Abschn. 2.8 Abs. 8 Satz 6 UStAE.

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c) Kritik und Handlungsbedarf In seiner bisherigen Rechtsprechung geht der BFH, basierend auf dem Prinzip der Über- und Unterordnung bzw. Erfordernis der Eingliederung mit Durchgriffsrechten, davon aus, dass der Organträger in der täglichen Geschäftsführung seine bestehende Entscheidungskompetenz in den Organgesellschaften durchsetzt. Damit schränkt er die organisatorische Eingliederung unzulässig ein, indem wiederum – wie bereits bei der finanziellen Eingliederung – ausschließlich Mechanismen anerkannt werden, die im Rahmen einer Über- und Unterordnung von Organträger und Organgesellschaften wirken. Hingegen geht es bei gleichgeordneten Mitgliedern des Organkreises, deren Ausschluss der EuGH ausdrücklich nicht gestattet, keineswegs um die alleinige Durchsetzung eines zentral und einseitig vorgegebenen Geschäftsführungswillens. Dies bringt auch die Kommission zutreffend zum Ausdruck, wenn sie auf eine strategische Führung abstellt, die durch hierarchische Strukturen (zum Beispiel gemeinsames Top-Management) oder durch die Art und Weise der Entscheidungsfindung (zum Beispiel gemeinsames Management der Rechtsangelegenheiten, oder gemeinsame Finanzentscheidungen) eine gemeinsame und abgestimmte Vorgehensweise begründet. aa) Aktive Willensdurchsetzung Zweifelhaft ist vor diesem Hintergrund bereits die Ausgangsüberlegung des BFH, dass der Organträger zur aktiven Durchsetzung seines Willens befähigt sein muss. Zutreffend ist hingegen, dass lediglich eine einheitliche Willensbildung aller Mitglieder des Organkreises sichergestellt sein muss, die nicht durch Einzelne verhindert oder umgangen werden kann. Die frühere Rechtsprechung des BFH orientierte sich in diese Richtung, indem zumindest durch die Gestaltung der Beziehungen – zwischen Organträger und Organgesellschaft – sichergestellt sein musste, dass eine abweichende Willensbildung nicht möglich ist.64 Diese Vorgaben tragen dem Aspekt der Gleichordnung von Mitgliedern des Organkreises Rechnung. Denn eine Patt-Situation führt im Ergebnis zu einer neuen, gemeinsamen Entscheidungsfindung sowie zu einer gleichlaufenden Umsetzung durch gleichrangig organisierte Organschaftsmitglieder. bb) Beherrschung im Kernbereich der laufenden Geschäftsführung Ebenso wenig überzeugt, dass die Wahrnehmung der Beherrschungsmöglichkeit sich auf den Kernbereich der laufenden Geschäftsführung erstrecken soll. Ausgehend von §  37 Abs.  1 GmbHG ist es Aufgabe der Geschäftsführer, die aktuell anstehenden und zum gewöhnlichen Betrieb des Handelsgewerbes erforderlichen organisatorischen Maßnahmen und Leitungsentscheidungen im Sinne einer lau­ fenden Geschäftsführung zu treffen, sofern nicht die Gesellschafterversammlung durch einzelne Beschlüsse eine bestimmte Geschäftsangelegenheit an sich zieht.65 Ge64 BFH, Urt. v. 5.12.2007 – V R 26/06, BStBl. II 2008, 451 = UR 2008, 259 m. Anm. Hidien. 65 Zöllner/Noack in Baumbach/Hueck, GmbHG, 20. Aufl. 2013, § 37 Rz. 6.

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schäftsangelegenheiten, die über den gewöhnlichen Betrieb eines Handelsgewerbes hinausgehen, sind ungewöhnliche Geschäfte und gehören nicht zur laufenden Geschäftsführung. Das kann zum einen in der Art des Geschäfts begründet sein, zum Beispiel wenn ein Geschäft außerhalb des Gesellschaftszwecks liegt. In der Regel dürften die möglichen Folgen und Risiken eines bestimmten Geschäfts dafür entscheidend sein, ob es sich noch um laufende Geschäftsführung handelt oder diese Grenze überschritten wird. Dabei ist zu betonen, dass es allein um die Frage geht, welche Befugnis der Geschäftsführer im Innenverhältnis gegenüber der Gesellschafterversammlung hat. Das Außenverhältnis, also die gesetzliche Vertretungsmacht (vgl. § 37 Abs. 2 GmbHG), ist davon unberührt.66 Wenn das GmbHG lediglich zwischen laufender Geschäftsführung und ungewöhnlichen Geschäften unterscheidet, stellt sich zunächst einmal die Frage, auf welcher Rechtsgrundlage und in welcher inhaltlichen Ausprägung der Kernbereich der laufenden Geschäftsführung überhaupt definiert sein soll. Begreift man zudem die organisatorische Eingliederung – wie auch zutreffend die Kommission – im Sinne einer gemeinsamen strategischen Ausrichtung, kann ein (aktiver) Eingriff in den Kernbereich der laufenden Geschäftsführung erst gar nicht erforderlich sein. Denn durch eine einheitliche Willensbildung und ihre gleichlaufende Umsetzung67 werden die Parameter der laufenden Geschäftsführung – inklusive ihres wie auch immer definierten Kernbereichs  – bereits ausreichend festgeschrieben. Allenfalls im Hinblick auf ungewöhnliche Geschäfte, die über eine laufende Geschäftsführung hinaus gehen, kann auch für die organisatorische Eingliederung gefordert werden, eine diesbezügliche einheitliche Willensbildung gesondert herbeizuführen bzw. zu dokumentieren, wie sich dies auch bereits aus § 37 Abs. 1 GmbHG ergibt. Soweit solche Geschäfte ausschließlich aufgrund möglicher Folgen und Risiken bestimmbar sind, richtet sich die Definition der laufenden oder ungewöhnlichen Geschäfte nach den individuellen bzw. branchenüblichen Gegebenheiten. So kann zum Beispiel der An- oder Verkauf einer Immobilie oder deren Sanierung für ein mittelständisches Handelsunter­nehmen ein Sondersachverhalt sein, der unstreitig nicht als laufende Geschäftsführung zu qualifizieren ist. Für ein Immobilienunternehmen mag hingegen selbst der An- und Verkauf größerer Immobilienkomplexe und deren umfassende Instandhaltung erst dann außerhalb der laufenden Geschäftsführung liegen, wenn bestimmte Größenordnungen überschritten sind, die im Gesamtgefüge der verbundenen Unternehmen einvernehmlich und bindend festgelegt sind. Diese festgelegten Größenordnungen sind dann aber auch für die Finanzbehörden und Gerichte der Entscheidungsmaßstab. Denn die Unternehmen selbst entscheiden im Rahmen zivil- bzw. gesellschaftsrechtlicher Vorgaben, wie sie sich geschäftlich organisieren. Davon abweichende steuerliche Beurteilungen können allenfalls bei missbräuchlicher Gestaltung greifen.

66 A.A. möglicher weise BFH, Urt. v. 5.12.2007 – V R 26/06, BStBl. II 2008, 451 = UR 2008, 259 m. Anm. Hidien, der bei Einzelvertretungsberechtigung die Eingliederung versagt, wenn nur einer von zwei Geschäftsführern dem Organträger zuzurechnen ist. 67 Vgl. oben unter aa).

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Organschaft: Finanzielle, wirtschaftliche und organisatorische Eingliederung

cc) Weisungsrechte und andere, institutionell abgesicherte Eingriffsmöglichkeiten Wie bereits oben ausgeführt erkennt die Rechtsprechung68 die organisatorische Eingliederung einer GmbH aufgrund sachlicher Weisungsrechte eines Mehrheitsgesellschafters in der Gesellschafterversammlung nicht an. Anders verhält es sich bei einem Beherrschungsvertrag (§ 308 AktG) zwischen Organträger und Organgesellschaft, der ab seiner Eintragung im Handelsregister die organisatorische Eingliederung69 sicherstellt.70 Die Unterscheidung rechtfertigt der BFH damit, dass sich aus dem Beherrschungsvertrag ein Weisungsrecht hinsichtlich der Leitung des Unternehmens – und dies auch außerhalb einer Gesellschafterversammlung – ergibt, während die Gesellschafterversammlung lediglich eine Überwachungsfunktion für die Gesellschaft hat. Dass ein Beherrschungsvertrag nach seinem Regelungsinhalt stets eine organisatorische Eingliederung zur Folge hat, lässt sich wohl kaum bestreiten. Das rein formalistische Anknüpfen an gesellschaftsrechtliche Vorgaben scheint dabei jedoch nicht (mehr) zwingend zutreffend. Wird zum Beispiel eine Personenhandelsgesellschaft grundsätzlich als Organgesellschaftstauglich betrachtet71, gelten nicht alle aktiengesetzlichen Regelungen vollumfänglich. Beherrschungsverträge mit abhängigen Personengesellschaften bedürfen zum Schutz der Mitgesellschafter nicht der Schriftform analog § 293 Abs. 3 AktG. Die Vorschrift findet keine Anwendung auf Personenhandelsgesellschaften. Umstritten ist zudem, ob analog § 294 AktG eine Eintragung in das Handelsregister zu erfolgen hat, denn eine ausdrückliche gesetzliche Regelung besteht nicht. Soweit in Kommentierung und Literatur eine Eintragung in das Handelsregister dennoch als geboten erachtet wird, soll ihr jedoch nur deklaratorischer Charakter beizumessen sein.72 Legt man diese handelsrechtlichen Regelungen zugrunde, um die organisatorische Eingliederung durch Beherrschungsvertrag für umsatzsteuerliche Zwecke zu beurteilen, führt dies in der bisherigen Herangehensweise von BFH und Finanzverwaltung demnach zu einer rechtsformabhängigen Unterscheidung. Ob dies zulässig ist, darf bezweifelt werden. Schließlich lässt der BFH auch bei einer institutionell abgesicherten unmittelbaren Eingriffsmöglichkeit in den Kernbereich der laufenden Geschäftsführung die orga­ nisatorische Eingliederung zu.73 Was darunter zu verstehen sein könnte, ist in der 68 Vgl. oben unter 4.b) 69 nicht jedoch die finanzielle Eingliederung, vgl. BFH, Urt. v. 1.12.2010 – XI R 43/08, B ­ StBl. II 2010, 600 = UR 2011, 456 m. Anm. Eberhard/Mai. 70 BFH, Urt. v. 10.5.2017 – V R 7/16, BStBl. II 2017, 1261 = UR 2017, 620; Abschn. 2.8 Abs. 10 Satz 4 bis 7 UStAE. 71 Vgl. hierzu unten unter 5. 72 Vgl. im Einzelnen Wertenbruch/Nagel in Ebenroth/Boujong/Joost/Strohn, HGB, Zweites Buch. Handelsgesellschaften und stille Gesellschaft, Erster Abschnitt. Offene Handelsgesellschaft Erster Titel. Errichtung der Gesellschaft Anhang Rz. 51 ff., 3. Aufl. 2014. 73 BFH, Urt. v. 12.10.2016  – XI R 30/14, BStBl.  II 2017, 597 = UR 2017, 178; BFH, Urt. v. 3.4.2008 – V R 76/05, BStBl. II 2008, 905 = UR 2008, 549.

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Rechtsprechung bislang unklar geblieben.74 Die Finanzverwaltung zählt den Beherrschungsvertrag zu solchen Eingriffsmöglichkeiten75 sowie schriftlich fixierte Vereinbarungen wie zum Beispiel Geschäftsführerordnung oder Konzernrichtlinie, aufgrund derer Geschäftsführer der Organgesellschaft bei Verstößen gegen Anweisungen haftbar gemacht werden können.76 Welche Anspruchsgrundlagen die Finanzverwaltung vor Augen hat, auf Basis derer der Geschäftsführer haftbar gemacht werden kann, wird nicht näher beschrieben. Ob zum Beispiel auch allgemeine arbeitsrechtliche Grundsätze herangezogen werden können, bleibt offen. Soweit die Kommission neben der personellen Verbindung im Sinne einer strategischen Führung durch gemeinsame Unternehmensleitung auch die sachliche Verbindung, zum Beispiel durch gemeinsame Leitung rechtlicher Angelegenheiten oder Finanzen, als enge organisatorische Verbindung betrachten möchte, dürfte dies allenfalls in Ausnahmefällen zutreffen. So bezieht sich die Kommission auf die Rechtsprechung des EuGH in der Sache DFDS77, in der eine Betrachtung der einzelnen, wirtschaftlich relevanten Funktionen von Mutter- und Tochtergesellschaft dazu führte, trotz eigener Rechtspersönlichkeit keine eigenständige Unternehmereigenschaft sondern eine unselbständige feste Niederlassung anzunehmen. Im Urteilsfall hat der EuGH jedoch nur die Sonderregelung des jetzigen Art. 307 Abs. 2 MwStSystRL zur Besteuerung von Reisebüros ausgelegt, so dass das Urteil nicht verallgemeinerungsfähig ist.78 d) Zwischenfazit Die derzeitige Rechtsprechung des BFH zur organisatorischen Eingliederung ist auch unter Berücksichtigung der unionsrechtlichen Vorgaben des EuGH insoweit zutreffend, als die Entscheidungskompetenz über die Geschäftsführung bei einer Einheit des Organkreises, zumindest teilweise, zusammengeführt wird. Soweit damit im Ergebnis aber auch stets der Wille dieses Organträgers aktiv durchsetzbar sein muss, ist diese Anforderung nicht gerechtfertigt. Denn sie manifestiert wiederum den unzulässigen Anspruch einer Über- und Unterordnung, wenn auch abgeschwächt als Eingliederung mit Durchgriffsrechten formuliert. Vor dem Hintergrund sollte bereits jede Form der personellen Eingliederung ausreichen, mit der zumindest eine Patt-Situation hergestellt werden kann. Dadurch wird zutreffend dem Aspekt der Gleichordnung von im Organkreis verbundenen Einheiten, wie sie der EuGH vorgibt, Rechnung getragen. Eine Abkehr von der derzeit strengen Rechtsprechung des BFH ist mithin erforderlich.

74 So Wäger, Das große Umsatzsteuer-Handbuch, Kap. 3 – § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG, Rz. 212, Stand August 2017. 75 Abschn. 2.8 Abs. 10 Satz 4 ff. 76 Abschn. 2.8 Abs. 10 Satz 3 UStAE m.w.N. 77 EuGH, Urt. v. 20.2.1997 – C-260/95, ECLI:EU:C:1997:20 – DFDS A/S, UR 1997, 179. 78 So ausdrücklich EuGH, Urt. v. 25.10.2012 – C-318/11 und 319/11, ECLI:EU:C:2012:666 – Daimler und Widex, UR 2012, 932, Rz. 47 bis 49 .

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Organschaft: Finanzielle, wirtschaftliche und organisatorische Eingliederung

5. Exkurs: Eingliederung von Personengesellschaften Nach dem Wortlaut des § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG kann nur eine juristische Person Organgesellschaft sein. Den generellen Ausschluss von Personengesellschaften hat der EuGH jedoch als nicht unionsrechtskonform verworfen.79 Welche Voraussetzungen von Personengesellschaften zu erfüllen sind, wird jedoch in der Rechtsprechung des BFH unterschiedlich bewertet. Der V. Senat80 stellt darauf ab, dass alle Mitgesellschafter der Personengesellschaft direkt oder indirekt in den Organträger finanziell eingegliedert sind. Ausgangspunkt der Urteilsbegründung ist, dass bereits die finanzielle Eingliederung einer Personengesellschaft aufgrund der gesellschaftsrechtlichen Gegebenheiten zu verneinen und dies grundsätzlich auch unionsrechtskonform sei.81 Bei der finanziellen Eingliederung kommt es auf eine Mehrheitsbeteiligung an, die bei der Beschlussfassung eine Willensdurchsetzung ermöglicht. Eine solche scheitert bei der Personenhandelsgesellschaft am gesetzlich durch § 119 Abs. 1 HGB vorgesehenen Regelfall der einstimmigen Beschlussfassung. Selbst wenn ein Gesellschaftsvertrag hiervon abweichende Mehrheitsentscheidungen vorsieht, ist die finanzielle Eingliederung zu verneinen, wenn entsprechend der Vermutungsregelung in § 119 Abs. 2 HGB dann von einer Mehrheitsentscheidung nach Köpfen auszugehen ist. Die Möglichkeit einer aktiven Willensdurchsetzung des Organträgers besteht dagegen, wenn alle Gesellschafts­ anteile der Organgesellschaft beim Organträger zusammengeführt sind. Ist neben dem Organträger zum Beispiel eine Personengesellschaft Mitgesellschafter, kommt es dementsprechend laut BFH darauf an, dass auch in Bezug auf deren Gesellschafter eine finanzielle Eingliederung ausnahmslos – in einer bis zum Organträger reichenden Organkette – zu bejahen ist. Die finanzielle bewirkt in diesem Fall automatisch auch die organisatorische Eingliederung, ohne dass es weiterer organisatorischer Maßnahmen bedarf. Denn im Hinblick auf den Grundsatz der Selbstorganschaft können nur die Gesellschafter und damit der Organträger und die in ihn finanziell eingegliederten Mitgesellschafter geschäfts- und vertretungsbefugt sein. In der Praxis weicht der Gesellschaftsvertrag einer Personengesellschaft häufig vom Einstimmigkeitsprinzip ab. Zum Beispiel kann die Beschlussfassung durch Mehrheitsentscheidung nach den Kapitalanteilen erfolgen. In diesem Fall ist wohl im Einzelfall zu prüfen, ob nur der Organträger direkt oder indirekt geschäftsführungs- und vertretungsbefugt ist, um die laut BFH erforderliche aktive Willensdurchsetzung zu gewährleisten. Keine organisatorische Eingliederung dürfte demnach anzunehmen sein, wenn (ein) weitere(r) Gesellschafter geschäftsführungsbefugt ist und Gesamtgeschäftsführung vorgegeben ist. Gleiches dürfte gelten, wenn Einzelgeschäftsführungsbefugnis besteht und der Mitgeschäftsführer nur aus wichtigem Grund abberufen werden darf. 79 EuGH, Urt. v. 16.7.2015 – C-108/14 und C-109/14, ECLI:EU:C:2015:496 – Larentia + Minerva, Marenave, BStBl. II 2017, 604 = UR 2015, 671 m. Anm. Hummel; Anm. Heinrichshofen, UR 2015, 722. 80 BFH, Urt. v. 2.12.2015 – V R 25/13, BStBl. II 2017, 547 = UR 2016, 185. 81 Ausführlich hierzu Wäger, UR 2017, 664.

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Ursula Slapio

Der XI. Senat bewertet die kapitalistisch geprägte GmbH & Co KG als juristische Person für Zwecke der umsatzsteuerlichen Organschaft.82 Diese Rechtsform ist somit grundsätzlich als Organgesellschaft geeignet. Gleichwohl sind die Tatbestandsmerkmale der finanziellen, wirtschaftlichen und organisatorischen Eingliederung nach der bisherigen, oben dargestellten Rechtsprechung83 zu den „echten“ juristischen Personen zu prüfen. Ein Gleichlaufen von finanzieller und organisatorischer Eingliederung, wie sie der V. Senat sieht, gibt es demnach nicht. Die Finanzverwaltung folgt insoweit der Sichtweise des V. Senats als sie sich ausschließlich auf seine Rechtsprechung zur Eingliederung von Personengesellschaften bezieht.84 Somit ist erforderlich, dass der Organträger alle Anteile an der Organgesellschaft direkt oder indirekt innehat. Eine Beschränkung auf bestimmte Rechtsformen, wie die GmbH & Co KG besteht nicht. Allerdings sieht die Verwaltungsauf­ fassung wohl vor, dass trotz der vollumfänglichen finanziellen Eingliederung die organisatorische Eingliederung stets zusätzlich erforderlich ist. Dies steht im Widerspruch zu der oben dargestellten Rechtsprechung des V. Senats, der sich die Finanzverwaltung also wohl nur teilweise anschließt. Die Rechtsauffassung der Finanzverwaltung führt zudem zu weiterer Rechtsunsicherheit für betroffene Einheiten. So ist – weit über die bisherige Rechtsprechung der beiden Umsatzsteuersenate des BFH hinaus  – nunmehr bei jeder Personengesellschaft zu prüfen, ob sie als Organgesellschaft Bestandteil eines Organkreises ist. Jedenfalls sieht der Wortlaut der Verwaltungsanweisung keine Einschränkung vor.

IV. Zusammenfassung Die Regelungen zur Organschaft blicken auf eine lange Geschichte zurück. Wenn sie auch bereits lange vor Gründung der Europäischen Union in das UStG eingeführt wurden, müssen sie sich heute dennoch an unionsrechtlichen Grundsätzen messen lassen. Die Definition der Eingliederungskriterien durch die Rechtsprechung des BFH wird dem teilweise nicht gerecht. Denn diese orientiert sich immer noch an dem historisch begründeten Über- und Unterordnungsprinzip, wenn auch neuerdings als Eingliederung mit Durchgriffsrechten bezeichnet. Bei der finanziellen und insbesondere organisatorischen Eingliederung sind ein Umdenken und eine Neuausrichtung erforderlich, hin zu unionsrechtkonformen und weniger formalistischen Anforderungen. So gilt auch für die Organschaft frei nach Schiller85: Alles was man im Leben lernen kann, ist in drei Worte zu fassen: „Es geht weiter!“

82 BFH, Urt. v. 19.1.2016 – XI R 38/12, BStBl. II 2017, 567 = UR 2016, 312 m. Anm. Heinrichshofen und Sterzinger. 83 Siehe oben unter III. 2. bis 4. 84 Vgl. BMF v. 26.5.2017, BStBl I 2017, 790 mit einer Übergangsregelung für Umsätze bis zum Ablauf des 31.12.2018. 85 Friedrich von Schiller (1759–1805), deutschsprachiger Dichter, Philosoph und Historiker.

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Entnahme und Zuwendung – Objektive Tatbestandsmerkmale und ihre Abgrenzungen Inhaltsübersicht I. Entnahmen und Zuwendungen in der Umsatzsteuer II. Die Entnahmebesteuerung 1. Grundsatz und Zweck 2. Entnahme in der Umstrukturierung a) Unentgeltliche Nutzung durch die ­Gesellschaft: Entnahme aus dem ­Einzelunternehmen b) Maschinenüberführung gegen ­Gesellschaftsrechte c) Überlassung zur Nutzung gegen ­Entgelt 3. Entnahme und Bruchteilsgemeinschaft a) Das Problem b) Bruchteilsbetrachtung statt Bruchteilsgemeinschaft c) Keine wirtschaftliche Tätigkeit der Gemeinschaft III. Zuwendungsbesteuerung 1. Grundsatz und Zweck 2. Zuwendung

a) Zivilrechtliche Gestaltung prägt ­wirtschaftliche Realität b) Besondere Vorschrift in § 3 Abs. 5 UStG 3. Zuwendung in der Leistungskette I: ­Unentgeltliche Leistung an Unternehmer a) Das Problem: Zuwendungsbesteuerung des Unternehmers in der Leistungskette b) Teleologische Einschränkung der ­Versteuerung auf die Endverbrauchersituation? 4. Zuwendungen in der Leistungskette II: Sachzuwendung als Rabatt a) Unterschied zwischen Prämiengewähr und Bierlieferung b) Entgeltsminderung aufgrund der ­Elida-Gibbs-Grundsätze c) Folgerungen IV. Zusammenfassung und Fazit

I. Entnahmen und Zuwendungen in der Umsatzsteuer Hundert Jahre Umsatzsteuer bedeuten auch 100 Jahre Besteuerung der Gegenstandsentnahme. Die Entnahme wurde bereits durch § 1 Abs. 2 UStG 19181 der Besteuerung unterworfen und unterliegt seitdem ununterbrochen der Steuer. Wenn wir uns in diesem Beitrag mit den steuerbaren Wertabgaben beschäftigen, meinen wir vor allem diese Entnahmebesteuerung (§ 3 Abs. 1b Satz 1 Nr. 1 UStG), aber auch die Zuwendungsbesteuerung des § 3 Abs. 1b Satz 1 Nr. 3 UStG. Denn der Begriff der Wertabgabe ist kein gesetzlicher Begriff. Das Gesetz versteuert Entnahmen und Zuwendungen. Insbesondere diesen Begriffen werden wir uns widmen und wir werden sehen, dass diese Besteuerung trotz ihrer hundertjährigen Tradition ebenso aktuelle wie auch ungelöste Fragen aufwirft. In den folgenden Ausführungen sollen einige problematische Themen der Entnahme- und Zuwendungsbesteuerung anhand von instruktiven Fäl1 RGBl. 1918, 779.

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len dargestellt werden. Dabei werden wir uns insbesondere mit den Abgrenzungsfragen beschäftigen, bei der Entnahme z.B. mit Umstrukturierungen, Einheit und Vielheit von Unternehmern, Bruchteilsgemeinschaften und bei der Zuwendung z.B. mit unentgeltlichen Leistungen in einer Unternehmerkette oder mit der Gewährung von Prämien. Denn gerade an den Schnittstellen zeigt sich, ob eine Interpretation mit den Grundprinzipien der Besteuerung (noch) übereinstimmt.

II. Die Entnahmebesteuerung 1. Grundsatz und Zweck Steuerbar ist nach § 3 Abs. 1b Satz 1 Nr. 1 UStG die Entnahme eines Gegenstandes durch einen Unternehmer aus seinem Unternehmen für Zwecke, die außerhalb des Unternehmens liegen. Sie liegt nur vor, wenn der Vorgang bei entsprechender Ausführung an einen Dritten als Lieferung oder Werklieferung anzusehen wäre.2 Der Begriff der Entnahme i. S. des § 3 Abs. 1b Satz 1 Nr. 1 UStG ist deckungsgleich mit dem Begriff der Entnahme in Art. 16 MwStSystRL.3 Steuerbare Entnahme zu unternehmensfremden Zwecken (Art.  16 MwStSystRL) meint insoweit dasselbe wie die Entnahme für Zwecke, die außerhalb des Unternehmens liegen (§ 3 Abs. 1b Satz 1 Nr. 1 UStG), und zwar in richtlinienkonformer Auslegung des § 3 Abs. 1b Satz 1 Nr. 1 UStG, indem man „außerhalb des Unternehmens“ i. S.  von „unternehmensfremd“ versteht und die unternehmenseigene, aber nicht-wirtschaftliche Aktivität nicht einbezieht. In der Voraussetzung einer Entnahme „aus seinem Unternehmen“ liegt der Unterschied zur Entnahme in der Einkommensbesteuerung. Denn nach § 4 Abs. 1 Satz 2 EStG sind Entnahmen z. B. Gegenstände, die der Steuerpflichtige „aus dem Betrieb“ für betriebsfremde Zwecke entnimmt. „Unternehmen“ statt „Betrieb“: Darin liegt die Differenz im Begriffsverständnis des nur gleich klingenden Ausdrucks „Entnahme“. In beiden Fällen ist Entnahme eine Art von negativer Zuordnung: Der Steuerpflichtige hebt die Zuordnung des Gegenstandes zum Unternehmen auf;4 der Gegenstand gehört nach der Entnahme nicht mehr zum Unternehmen. Wenn Art. 16 MwStSystRL bestimmte Umsätze, für die der Steuerpflichtige keine tatsächliche Gegenleistung erhalten hat, entgeltlich ausgeführten Lieferungen von Gegenständen gleichstellt, die der Mehrwertsteuer unterliegen, so besteht der Zweck dieser Bestimmung zunächst darin sicherzustellen, dass der Steuerpflichtige, der für seinen privaten Bedarf oder den seines Personals einen Gegenstand entnimmt, und der Endverbraucher, der einen Gegenstand gleicher Art erwirbt, gleich behandelt

2 BFH v. 28.8.2014 – V R 49/13, BFHE 247, 283 = UR 2014, 974, Rz 22; dazu Michel, HFR 2015, 67. 3 BFH v. 18.1.2012 – XI R 13/10, BFH/NV 2012, 1012; BFH v. 21.5.2014 – V R 20/13, BFHE 246, 226 = BStBl. II 2014, 1029 = UR 2014, 769; zum Problem auch Heuermann in Sölch/ Ringleb, UStG, Rz. 306. 4 Probst in Hartmann/Metzenmacher, UStG, § 3 Abs. 1b, Rz. 122: Heuermann, MwStR 2014, 597 ff.

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werden.5 Das ist aber nicht alles: Wie der EuGH dies in seiner Entscheidung Wollny v. 14.9.20066 formuliert, soll der Zusammenhang zwischen Vorsteuerabzug und Erhebung der Mehrwertsteuer sichergestellt werden. Was der EuGH darunter versteht, ergibt sich konkret erst auf den Verweis auf die Schlussanträge des Generalanwalts Jacobs in der Rechtssache Charles und Charles-Tijmens7. Danach führt die Entnahmebesteuerung zu einer Berichtigung der Vorsteuer. 2. Entnahme in der Umstrukturierung In Bezug auf die Umstrukturierungen von Unternehmen von Einzelunternehmen in Gesellschaften sollen hier drei Fallgruppen unterschieden werden: Erstens die Überlassung eines Gegenstandes unentgeltlich zu Nutzung, zweitens die Überführung eines Gegenstandes gegen Gewährung von Gesellschaftsrechten und drittens die Vermietung eines Gegenstandes. a) Unentgeltliche Nutzung durch die Gesellschaft: Entnahme aus dem Einzelunternehmen Der BFH musste sich mit dem Begriff der Entnahme bei einer Umstrukturierung auseinandersetzen.8 Danach liegt eine Entnahme i.S. des § 3 Abs. 1b Satz 1 Nr. 1 UStG vor, wenn ein Steuerpflichtiger einen bislang seinem Einzelunternehmen zugeordneten Gegenstand einer sein Unternehmen fortführenden Personengesellschaft, an der er beteiligt ist, unentgeltlich zur Nutzung überlässt. Man kann den Sachverhalt auf den folgenden Beispielsfall vereinfachen: Beispiel: K ist Ingenieur und hat eine Verseilmaschine entwickelt, um damit Drahtseile zu produzieren. Er ließ sie von anderen Unternehmern herstellen, montieren und nahm sie im Jahr 01 für sein Einzel-Unternehmen in Betrieb. Ein Jahr später stellte er seine Seilproduktion als Einzelunternehmer ein. Die K-KG setzte die Produktion fort. An dieser KG war K als Komplementär beteiligt. Die Verseilmaschine übertrug er der KG nicht, sondern überließ sie ihr unentgeltlich zur Nutzung. Das FA und FG9 vertraten die Auffassung, K habe seine Maschine steuerbar entnommen.

Der BFH bestätigt diese Auffassung. Es liegt eine nach § 3 Abs. 1b Satz 1 Nr. 1 UStG steuerbare Entnahme vor. Denn K hat seine Unternehmereigenschaft beendet. Indem er die Maschine der KG unentgeltlich zur Nutzung überlässt, handelt er nicht als Unternehmer. Denn das unentgeltliche Überlassen ist keine Dienstleistung gegen Entgelt. Steuerbar ist die Entnahme eines Gegenstandes durch den Steuerpflichtigen aus 5 EuGH v. 17.7.2014 – C-438/13, ECLI:EU:C:2014:2093 – BCR Leasing, UR 2014, 924, Rz. 23, m.w.N.; EuGH v. 30.9.2010 – C-581/08, ECLI:EU:C:2010:559 – EMI Group, UR 2010, 816, Rz. 17, m.w.N. 6 EuGH v. 14.9.2006 – C-72/05, ECLI:EU:C:2006:573 – Wollny, UR 2006, 638 m. Anm. Widmann und Stadie, Rz. 33. 7 Schlussanträge des GA Jacobs v. 20.1.2005 – C-434/03, ECLI:EU:C:2005:48 – Charles und Charles-Tijmens, Rz. 60, 61. 8 BFH v. 21.5.2014 – V R 20/13, BFHE 246, 226 = BStBl. II 2014, 1029 = UR 2014, 769. 9 FG Sachsen-Anhalt v. 22.11.2011 – 4 K 1497/06, EFG 2012, 1505.

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seinem Unternehmen für unternehmensfremde Zwecke. Das Unternehmen umfasst die gesamte gewerbliche Tätigkeit des Unternehmers (§ 2 Abs. 1 Satz 2 UStG, Art. 9 Abs. 1 MwStSystRL). An ertragsteuerliche Maßstäbe kann man umsatzsteuerrechtlich nicht anknüpfen: Das UStG kennt kein Sonderbetriebsvermögen10; es fragt nach der Art der Leistung. Es kommt also nur darauf an, ob der Gesellschafter in seiner Person die Voraussetzungen der Steuerbarkeit erfüllt, also Unternehmer ist. Bringt ein Einzel­ unternehmer – wie K – sein Betriebsvermögen in sein Sonderbetriebsvermögen bei einer KG ein, bei der er beteiligt ist und überlässt er es der Gesellschaft ohne Gegenleistung, ist er als solcher (also als Überlassender) kein Unternehmer, so dass eine Entnahme aus „seinem Unternehmen“ (nämlich dem bisherigen Einzelunternehmen) vorliegt, und zwar für Zwecke, die „außerhalb“ seines „Unternehmens“ liegen11. Unternehmerin ist ab jetzt allein die KG. Die Unternehmerstellung des K ist auch für die Frage der Steuerbarkeit seiner Leistungen maßgebend; sie leitet sich nicht aus der Tätigkeit der KG ab. Indessen erbringt K keine steuerbaren Leistungen, wenn er der Gesellschaft die Maschine unentgeltlich überlässt. So formuliert auch der EuGH in der Rechtssache Malburg12: Überlässt der Gesellschaft seiner Gesellschaft den Gegenstand „unentgeltlich“, fällt diese Tätigkeit nicht in den Anwendungsbereich der MwStSystRL, die nur entgeltliche Lieferungen und Dienstleistungen oder die Nutzung von körperlichen oder nicht körperlichen Gegenständen zur nachhaltigen Erzielung von Einnahmen erfasst (Art. 9 Abs. 1 MwStSystRL). b) Maschinenüberführung gegen Gesellschaftsrechte Wandeln wir den Grundfall etwas ab: Jetzt überträgt der Gesellschafter seiner Gesellschaft eine Maschine und dafür erhöhen sich seine Gesellschaftsrechte. Abwandlung: K ist Komplementär der K-KG. Er überträgt der KG die Verseilmaschine. Seine Einlage wird seinem Kapitalkonto gutgeschrieben.

Das Kapitalkonto entscheidet darüber, in welcher Höhe K am Gewinn zu beteiligen ist. Das Zivilrecht kennt den Begriff des Kapitalkontos zwar nicht. Es verwendet den Ausdruck Kapitalanteil. Die Gewinnzurechnung und die Entnahmeberechtigung richten sich an den Kapitalanteilen aus (vgl. §§ 121 Abs. 1, 168 Abs. 1 HGB; §§ 122 Abs. 1, 161 Abs. 2, 169 Abs. 1 HGB).13 Der Kapitalanteil und damit auch das Kapitalkonto vermitteln dem Gesellschafter also Rechte. Wird die Einlage auf dem Kapitalkonto verbucht, erhöht sich der gesellschaftsrechtliche Anspruch des Gesellschafters, am Gewinn der Gesellschaft teilzuhaben: Diese Gesellschaftsrechte sind die Gegenleistung für die Einbringung und mithin das Entgelt eines tauschähnlichen Umsatzes14. Damit liegt in der Person des K keine steuerbare Entnahme vor. 10 Zum Sonderbetriebsvermögen vgl. z.B. BFH v. 19.9.2012 – IV R 11/12, BFHE 239, 76. 11 Anders die Rechtslage im Ertragssteuerrecht, vgl. BFH v. 19.9.2012 – IV R 11/12, BFHE 239, 76. 12 EuGH v. 13.3.2014 – C-204/13, ECLI:EU:C:2014:147 – Malburg, UR 2014, 353, Rz. 35 f. 13 Vgl. dazu Heuermann in Blümich, EStG, § 15a Rz. 33, m.w.N. 14 Z.B. BFH v. 8.11.1995 – XI R 63/94, BFHE 179, 189 = BStBl. II 1996, 114 = UR 1996, 384; BFH v. 13.11.2003 – V R 79/01, BFHE 204, 332 = BStBl. II 2004, 375 = UR 2004, 312.

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Nichts anderes ergibt sich aus der Rechtsprechung des EuGH. In seiner Entscheidung KapHag15 hat er sich nicht mit der Qualität einer Einbringung als Leistung beschäftigt, sondern lediglich erkannt, dass allein das Halten von Gesellschaftsanteilen nicht als wirtschaftliche Tätigkeit im Sinne der Vorschriften über die Steuerpflicht (Art. 9 Abs. 1 MwStSystRL) angesehen werden kann. In anderen Entscheidungen, z.B. in seinem Urteil Polski Trawertyn geht der EuGH indes von der Entgeltlichkeit des Einbringungsvorgangs aus16. Die Leistung der Gesellschaftsrechte durch die KG ist als Umsatz von Gesellschaftsanteilen zwar steuerfrei (§ 4 Nr. 8 Buchst. f UStG)17, schließt aber den Vorsteuerabzug nach § 15 Abs. 3 Nr. 2 Buchst. b UStG nicht aus. Interessant ist, dass auch das EStG von einer entgeltlichen Leistung ausgeht. Wenn nämlich § 6 Abs. 5 Satz 3 EStG neben dem unentgeltlichen Übertragen eines Wirtschaftsguts auch die Übertragung gegen Gewährung von Gesellschaftsrechten hervorhebt, so deshalb, weil diese Gesellschaftsrechte eine Gegenleistung für das eingebrachte Wirtschaftsgut bildet, die Einbringung damit nicht unentgeltlich vollzogen wird. c) Überlassung zur Nutzung gegen Entgelt Wandelt man den Fall noch weiter ab, indem K seine Maschine der KG gegen Entgelt (Miete) überlässt, bleibt er Unternehmer. Seinem Unternehmen ist die Maschine nach wie vor zuzuordnen. K führt zunächst Ingenieurleistungen mit der Maschine aus, danach, also nachdem er sie der KG zu entgeltlichen Nutzung überlassen hat, führt er Vermietungsleistungen aus. Die Zuordnung zu seinem Unternehmen wird nicht aufgehoben. Anders im Einkommensteuerrecht, wo die Maschine – statt dem Einzelbetrieb verhaftet zu bleiben – der aus K (Sonderbetriebsvermögen) und der KG gebildeten Mitunternehmerschaft zugerechnet wird. Das ergibt sich aus § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG. Eine derartige Vorschrift fehlt im Umsatzsteuerrecht: Das UStG trennt folglich zwischen den Steuerpflichtigen: Nicht die KG, sondern allein K führt mit der entgeltlichen Überlassung der Maschine eine steuerbare (und steuerpflichtige) Leistung aus. 3. Entnahme und Bruchteilsgemeinschaft a) Das Problem Im Zusammenhang mit dem soeben abgehandelten Thema der Umstrukturierungen vom Einzelunternehmen zu einer Personengesellschaft steht auch der Fall eines gemeinschaftlich angeschafften Gegenstandes. Entsteht durch das gemeinschaftliche Halten ein eigenständiger Rechtsträger? Mit diesem besonderen Fall der Entnahme beschäftigt sich das BFH-Urteil V R 49/1318:

15 EuGH v. 26.6.2003 – C-442/01, ECLI:EU:C:2003:381 – KapHag, UR 2003, 443. 16 Wäger, UR 2012, 915; dazu auch Heuermann, jM 2014, 117. 17 Heidner in Bunjes, UStG, 16. Aufl. 2017, § 4 Nr. 8 Rz. 47. 18 BFH v. 28.8.2014 – V R 49/13, BFHE 247, 283 = UR 2014, 974; dazu instruktiv Michel HFR 2015, 67 und HFR 2016, 558.

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Bernd Heuermann Fall („Mähdrescher III“): Es geht um zwei Landwirte und einen Mähdrescher. K betrieb eine Gastwirtschaft und unterhielt daneben einen landwirtschaftlichen Betrieb. 2004 erwarb er zusammen mit B einen Mähdrescher. Sein Anteil betrug 20 %, der des B 80 %. K ordnete seinen Miteigentumsanteil seinem Unternehmensvermögen zu. Am 7.12.2008 erwarb K den Miteigentumsanteil des B und machte die von diesem gesondert ausgewiesene Umsatzsteuer als Vorsteuer geltend. K veräußerte den Mähdrescherspäter steuerfrei an eine Abnehmerin in Österreich (§ 4 Nr. 1 Buchst. b), § 6a UStG). Das FA erhöhte die Umsatzsteuer wegen einer Entnahme des Miteigentumsanteils von 20 % und kürzte den Vorsteuerabzug aus dem Erwerb des Miteigentumsanteils von 80 %. Die Erhöhung der steuerpflichtigen Umsätze wegen einer Entnahme des Miteigentumsanteils um 24.000 Euro (Umsatzsteuer: 4.560 Euro) begründete das FA damit, dass dem steuerfreien Verkauf des Mähdreschers an die österreichische Abnehmerin eine Lieferung des Mähdreschers der Bruchteilsgemeinschaft (K,B) an K vorausgegangen sein müsse; hierfür wiederum sei die vorherige Entnahme des jeweiligen Anteils aus dem Unternehmensvermögen der beiden Landwirte und eine Rückgabe an die Bruchteilsgemeinschaft zwingend erforderlich gewesen. Dies führe bei K zur Besteuerung einer unentgeltlichen Wertabgabe. Die Kürzung der Vorsteuern beruhe darauf, dass K den Miteigentumsanteil von 80% von der nichtunternehmerisch tätigen Gemeinschaft erworben habe. Zusammen gefasst macht das FA aus dem Geschehen einen mehraktigen Vorgang: 1. Zunächst entnehmen beide Landwirte ihre Anteile an dem Mähdrescher aus ihrem jeweiligen Unternehmensvermögen. 2. Sodann geben sie ihren Miteigentumsanteil an die Bruchteilsgemeinschaft zurück. 3. Die Bruchteilsgemeinschaft liefert den Mähdrescher an K. 4. K liefert dann den Mähdrescher an den österreichischen Abnehmer.

Die Gerichte, also FG und BFH, haben diese Interpretation durch die Finanzverwaltung nicht nachvollzogen. Danach fehlt es an einer steuerbaren Entnahme. Der Zwischenschritt 1. entfällt. Auch wenn der Mitunternehmeranteil als Gegenstand anzu­ sehen ist19, hat K seinen Miteigentumsanteil am Mähdrescher jedenfalls nicht aus seinem Unternehmensvermögen für außerunternehmerische Zwecke entnommen. Er hat nur einen Miteigentumsanteil des B erworben und dann den Mähdrescher veräußert. Anders als die Finanzverwaltung haben nur K und B den Mähdrescher erworben – eine Zwischenschaltung der Bruchteilsgemeinschaft war m.E. sogar abwegig. b) Bruchteilsbetrachtung statt Bruchteilsgemeinschaft Bestellen wie im Streitfall zwei Landwirte gemeinschaftlich einen Mähdrescher (Gegenstand) und besitzt die aus ihnen bestehende Bruchteilsgemeinschaft keine Rechtspersönlichkeit und übt sie selbst keine wirtschaftliche Tätigkeit im Sinne der Mehrwertsteuerrichtlinie aus, so sind die Miteigentümer je für sich als Leistungsempfänger anzusehen20. Nur wenn die Gemeinschaft einer eigenen wirtschaftlichen Tätigkeit 19 BFH v. 18.2.2016 – V R 53/14, BFHE 252, 551 = UR 2016, 436 m. Anm. Küffner; dazu auch BFH v. 28.8.2014 – V R 49/13, BFHE 247, 283 = UR 2014, 974, Rz. 22 mit Überblick über den Streitstand; eingehend zur Problematik Michel, HFR 2016, 558. 20 Vgl. dazu EuGH v. 21.4.2005 – C-25/03, ECLI:EU:C:2005:241 – HE, BStBl. II 2007, 24 = UR 2005, 324 m. Anm. Widmann, Rz. 59 ff.

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nachginge, wäre sie auch mehrwertsteuerpflichtig. Dann bedürfte es bei einer Umstrukturierung wiederum einer Entnahme aus ihrem Unternehmen, und zwar genau nach den Maßstäben, wie sie oben unter I. 2. dargelegt wurden. Indem die Landwirte K und B den Mähdrescher gemeinsam anschaffen, bilden sie noch keine Gesellschaft mit eigener Rechtspersönlichkeit und gründen insbesondere keine Gesellschaft bürgerlichen Rechts. Zwischen ihnen ist lediglich eine Bruchteilsgemeinschaft entstanden, weil sie über den Erwerb des Mähdreschers hinaus keinen gemeinsamen wirtschaftlichen Zweck i.S. von § 705 BGB verfolgten und – als Bruchteils- oder Interessengemeinschaft – keine eigene wirtschaftliche Tätigkeit ausübten. c) Keine wirtschaftliche Tätigkeit der Gemeinschaft Eine wirtschaftliche Tätigkeit i.S. der Art. 2 Abs. 1 Buchst. a und Art. 9 Abs. 1 MwStSystRL übt nur aus, wer entgeltlich Lieferungen oder Dienstleistungen ausführt.21 Die Gemeinschaft zwischen K und B vermietete den Mähdrescher aber weder an Dritte noch an die beiden Gemeinschafter. Soweit K und B den Mähdrescher jeweils für ihre eigene unternehmerische Tätigkeit als Landwirt nutzten, verwandten sie ihn im Rahmen des § 743 Abs. 2 BGB. Danach ist jeder Teilhaber zum Gebrauch des Gemeinschaftseigentums insoweit befugt, als nicht der Mitgebrauch der übrigen Teilhaber beeinträchtigt wird. Jeder Teilhaber hat somit ein originäres Nutzungsrecht, welches ihm nicht erst im Rahmen eines Leistungsaustausches von der Gemeinschaft überlassen wird. Es begründet auch keine eigene Rechtspersönlichkeit der Gemeinschaft. Allein die beiden Gemeinschafter K und B sind mithin als Leistungsempfänger des jeweiligen Miteigentumsanteils anzusehen. Daraus folgt, dass sie ihren Anteil am Gegenstand ohne Zwischenerwerb durch die Gemeinschaft veräußern können. Zusammenfassend lässt sich die Lösung des BFH als zweiaktiger Vorgang beschreiben: 1. K erwirbt den Miteigentumsanteil des B hinzu, d.h. B liefert den Miteigentumsanteil entgeltlich an K. 2. K liefert den Mähdrescher entgeltlich an den österreichischen Abnehmer; K kann die Vorsteuerbeträge abziehen (§ 15 Abs. 1 i.V.m. Abs. 3 Nr. 1 Buchst. a UStG).

III. Zuwendungsbesteuerung 1. Grundsatz und Zweck Das Gesetz stellt in § 3 Abs. 1b Satz 1 Nr. 2 und 3 UStG einer Lieferung gegen Entgelt unter den weiteren Voraussetzungen „die unentgeltliche Zuwendung“ eines Gegenstandes gleich. Diese Zuwendung ist von der entgeltlichen Lieferung abzugrenzen, insbesondere dann, wenn das Entgelt höher wäre als der für die unentgeltliche Zu21 Ständige Rechtsprechung, vgl. EuGH v. 13.3.2014 – C-204/13, ECLI:EU:C:2014:147 – Malburg, UR 2014, 353, Rz. 36.

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wendung anzusetzende Einkaufspreis (vgl. § 10 Abs. 4 Nr. 1 UStG). Außerdem kommt es auf eine genaue Unterscheidung an, wenn der zugewendete Gegenstand oder seine Bestandteile nicht zum vollen oder teilweisen Vorsteuerabzug berechtigt haben. In diesem Fall unterliegt nur die entgeltliche Lieferung der Umsatzsteuer (§  1 Abs.  1 Nr. 1 Satz 1 UStG), nicht hingegen die unentgeltliche Zuwendung (§ 3 Abs. 1b Satz 2 UStG).22 2. Zuwendung Zunächst gilt es herauszufinden, was überhaupt eine Zuwendung ist. Das hängt maßgebend davon ab, was der Gegenstand der Lieferung ist. Hiermit musste sich der BFH in seiner Entscheidung zu einer Biogasanlage beschäftigen. Fall: Der Bauer B erntet sein Maisfeld ab und bringt die Biosubstanz zu dem Betreiber der Biogasanlage K, der nach den vertraglichen Grundlagen aus der Bio-Substanz bestimmte Kohlenwasserstoffe entziehen darf, also das Gas. An der Substanz selbst ist er nicht interessiert und gibt sie dem B wieder zurück.

Das FA vertrat hier die Auffassung, es liege eine Zuwendung der Gärreste vor; denn der Betreiber der Biogasanlage hatte sie an den Landwirt unentgeltlich übergeben. Das überzeugte weder das FG noch den BFH.23 a) Zivilrechtliche Gestaltung prägt wirtschaftliche Realität Im Biogasfall fehlte es schon an der Zuwendung der Biomassesubstanz. Auch hier muss der Vorgang – würde er entgeltlich ausgeführt – als Lieferung oder Werklieferung anzusehen sein24. Das bedeutet, der Zuwendende muss dem Zuwendungsempfänger die Befähigung verschaffen, über den Gegenstand wie ein Eigentümer zu verfügen (Art. 14 Abs. 1 MwStSystRL)25. Das ist hier aber nicht der Fall; denn nach der vertraglichen Vereinbarung hat der Betreiber dem Landwirt keinen Vermögensvorteil verschafft, indem er ihm die Gärreste nach Abschluss der Biogasproduktion überließ. Die Biomassesubstanz sollte von vornherein im Eigentum des Landwirts verbleiben. Der Biogas-Produzent durfte sie zur Energieerzeugung lediglich nutzen und musste sie nach der energetischen Verwertung zurückgeben. Zwar ist das Zivilrecht für die Auslegung des autonomen Begriffs der Zuwendung (Art.  16 MwStSystRL) nicht ausschlaggebend. Aber es sind das vertraglich Vereinbarte und dessen tatsächliche Durchführung, die die wirtschaftliche Realität26 abbilden, an die das Steuerrecht anknüpft. Das von den Parteien gewollte wirtschaftliche Ergebnis wird durch die zivilrechtliche Gestaltung bewirkt.27

22 Dazu EuGH v. 8.3.2001 – C-415/98, ECLI:EU:C:2001:136 – Bakcsi, UR 2001, 149, Rz. 44. 23 BFH v. 10.8.2017 – V R 3/16, BFHE 258, 573 = BStBl. II 2017, 1264 = UR 2017, 914. 24 Vgl. zur Entnahme BFH v. 28.8.2014 – V R 49/13, BFHE 247, 283 = UR 2014, 974, Rz. 22. 25 So auch Nieskens in Rau/Dürrwächter, § 3 Anm. 1583 (Stand September 2013). 26 Z.B. EuGH v. 2.6.2016 – C-263/15, ECLI:EU:C:2016:392 – Lajvér, UR 2016, 525, Rz. 50. 27 BVerfG v. 27.12.1991 – 2 BvR 72/90, BStBl. II 1992, 212, Rz. 12.

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Entnahme/Zuwendung – Objektive Tatbestandsmerkmale und Abgrenzungen

So ist der Liefergegenstand im Rahmen einer Gesamtbetrachtung aus der Sicht des Durchschnittsverbrauchers nach dem wirtschaftlichen Zweck zu bestimmen28. Steht von vornherein fest, dass der Abnehmer einen Teil der übergebenen Biomasse wieder zurückgeben muss, beschränkt sich der wesentliche wirtschaftliche Zweck der Lieferung auf den dem Abnehmer nach Inhalt der Leistungsvereinbarungen verbleibenden Teil, also auf den Gehalt oder den Extrakt29, hier auf das Biogas, das nach Art. 15 Abs. 1 MwStSystRL einem körperlichen Gegenstand gleichsteht. b) Besondere Vorschrift in § 3 Abs. 5 UStG Das so gefundene Ergebnis konnte der BFH mit einem Verweis auch auf § 3 Abs. 5 UStG stützen.30 Diese Vorschrift ist zwar nicht durch die Richtlinie vorgegeben. Sie drückt aber nur das aus, was bereits unter a) erarbeitet wurde: Denn danach beschränkt sich die Lieferung auf den Gehalt des Gegenstands an den Bestandteilen, die dem Abnehmer verbleiben, wenn ein Abnehmer dem Lieferer die Nebenerzeugnisse oder Abfälle, die bei der Bearbeitung oder Verarbeitung des ihm übergebenen Gegenstands entstehen, zurückzugeben hat. Umgekehrt folgt daraus aber: Die Rückgabe der Abfälle oder Nebenerzeugnisse (hier der Gärreste oder der Biomasse) führt weder zu einer Zuwendung noch zu einer Lieferung. § 3 Abs. 5 UStG erfasst also in seiner negativen Geltungsanordnung den Biogasfall. Denn wenn sich die Lieferung des Landwirts an den Anlagenbetreiber auf die Kohlenwasserstoffe (das Gas) beschränkt, verschafft jener ihm keine Verfügungsmacht an den Resten. Deshalb ist die Rückgabe keine Zuwendung. 3. Zuwendung in der Leistungskette I: Unentgeltliche Leistung an Unternehmer Wir nehmen die Biogasproduktion noch einmal auf und beschäftigen uns mit einer Fallkonstellation, in der es um eine Zuwendung von Wärme und Energie an Unternehmer geht.31 Hier stellt sich das Problem der telelogischen Rechtsanwendung. Fall: Die Biogasanlage des K produzierte Strom, der überwiegend in das Stromnetz eingespeist und nach dem Gesetz für den Vorrang Erneuerbarer Energien – Erneuerbare-Energien-Gesetz i.d.F. vom 7.11.2006 (BGBl I 2006, 2550) von dem Stromnetzbetreiber vergütet wurde. Die durch diesen Prozess ebenfalls erzeugte Wärme diente zu einem Teil der eigenen landwirtschaftlichen Produktion. Den überwiegenden Teil der Wärme überließ K aber „kostenlos“ auf vertraglicher Grundlage dem Unternehmer B, der mit der Wärme seine Spargelfelder beheizte.

28 Vgl. z.B. EuGH v. 2.5.1996  – C-231/94, ECLI:EU:C:1996:184  – Faaborg-Gelting-Linien A/S, UR 1996, 220 m. Anm. Weiß, Rz. 12, und EuGH v. 11.2.2010 – C-88/09, ECLI:EU:​ C:2010:76 – Graphic Procédé, UR 2010, 230, Rz. 20 ff.) 29 Zutreffend Martin in Sölch/Ringleb, UStG, § 3 Rz. 442; Michl in Offerhaus/Söhn/Lange, § 3 Rz. 112. 30 BFH v. 10.8.2017 – V R 3/16, BFHE 258, 573 = UR 2017, 914, Rz. 13. 31 BFH v. 31.5.2017 – XI R 2/14, BFHE 258, 191= BStBl. II 2017, 1024 = UR 2017, 754.

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Bernd Heuermann

Ganz unzweifelhaft liegen hier die Voraussetzungen des § 3 Abs. 1b Satz 1 Nr. 3 UStG vor, wonach „jede andere unentgeltliche Zuwendung eines Gegenstands … für Zwecke des Unternehmens“ steuerbar ist. Wärme ist nach Art. 15 Abs. 1 MwStSystRL ein möglicher Gegenstand. K hat diese Energie dem Spargelproduzenten B unentgeltlich zugewandt. Wo liegt nun das Problem? Immerhin hat der Fall den XI. Senat zu der bedeutungsschweren Aussage veranlasst, dass „eine Zuwendung i.S. des § 3 Abs. 1b Satz 1 Nr. 3 UStG … nicht unentgeltlich ist, wenn sie gegen Entgelt erfolgt“.32 Das ist nicht nur eine Tautologie, dahinter steckt – was wir sehen werden – das ganze Programm. Wenden wir uns nun aber nicht der vom BFH wohl zutreffend gelösten (und verneinten) Frage zu, ob der KWK-Bonus auch Entgelt von dritter Seite für die abgegebene Wärm ist, sondern dem grundsätzlichen Problem, ob hier überhaupt die Zuwendungsbesteuerung eingreift. a) Das Problem: Zuwendungsbesteuerung des Unternehmers in der Leistungskette Die zwar vom Wortlaut der Norm gedeckte Besteuerung ist insofern problematisch, als hier die Zuwendungsbesteuerung von ihrem Zweck her eigentlich nicht passt. Sie soll ja wie ihre unionsrechtliche Grundlage des Art. 16 MwStSystRL den umsatzsteuerlich unbelasteten Letztverbrauch verhindern33 – ein Regelungsziel, das bei der Auslegung der Unionsvorschrift zu berücksichtigen ist.34 Um den Letztverbrauch geht es in unserem Fall aber nicht. Denn B produziert mit der erhaltenen Wärme ja Spargel und veräußert ihn steuerbar an Letztverbraucher oder wiederum an Gemüsehändler. Damit wird bei einer Versteuerung der Zuwendung die Wertschöpfung sozusagen doppelt erfasst, einmal bei der Zuwendung und zum anderen beim Verkauf des Spargels (höhere Wertschöpfung durch geringere Energiekosten)35, ohne dass B Vorsteuer abziehen könnte.36 K wird mit der Zuwendungsbesteuerung wie ein Endverbraucher behandelt, ist es aber nicht. Es sind die Spargelkonsumenten, die die Umsatzsteuer als allgemeine Verbrauchssteuer tragen sollen. Die (finale) Besteuerung auf einer Zwischenstufe, bemessen nach dem Einkaufspreis (§  10 Abs.  4 Satz 1 Nr.  1 UStG) für Wärme37, gerät mithin in Konflikt mit dem Neutralitätsprinzip.38 Ganz abgesehen da32 So BFH v. 31.5.2017 – XI R 2/14, BFHE 258, 191 = BStBl. II 2017, 1024 = UR 2017, 754, Rz. 24. 33 EuGH v. 27.4.1999  – C-48/97, ECLI:EU:C:1999:203, Kuwait Petroleum, UR 1999, 278, Rz. 22; zum nationalen Recht vgl. Heuermann in Sölch/Ringleb, UStG, § 3 Rz. 371, m.w.N. 34 Ständige Rechtsprechung des EuGH, vgl. z.B. EuGH v. 15.11.2017 – C-374/16, C-375/16 – Geissel und Butin, ECLI:EU:C:2017:867, UR 2017, 970 m. Anm. Jacobs/Zitzl, Rz. 33, m.w.N. 35 Das ist evident: Mit der unentgeltlichen Wärmelieferung hat der Spargelproduzent geringere Kosten und dadurch (neben einer höheren Gewinnspanne) geringere Vorsteuerbeträge. Auf das Entgelt greift der Steuerstaat voll zu, obschon er einen Teil dessen mit dem Versteuern des Einkaufspreises für Wärme bereits mit der Zuwendungsbesteuerung erfasst hat. Dadurch kommt es zu einer Steuerkumulation. 36 Zur Kritik an dieser Vorschrift auch Lippross, Umsatzsteuer, 24. Aufl., S. 368, m.w.N. 37 Zur Bemessungsgrundlage Wagner in Sölch/Ringleb, UStG, § 10 Rz. 347. 38 So auch Klenk, UVR 1999, 222; eingehend und instruktiv dazu Nieskens in Rau/Dürrwächter, § 3 Anm. 1567 ff.; kritisch auch Völlemke, BFH-PR 2008, 438; a.A. aber Stadie, UStG, 3.

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Entnahme/Zuwendung – Objektive Tatbestandsmerkmale und Abgrenzungen

von, dass es für B an einer (entgeltlichen) Eingangsleistung fehlt (die Wärme wurde ihm ja unentgeltlich geliefert), würde K schon ein geringes Entgelt in die Normalversteuerung führen und B zum Vorsteuerabzug berechtigen.39 Das sind m.E. hinreichende Aspekte, um eine teleologische Reduktion zu rechtfertigen. b) Teleologische Einschränkung der Versteuerung auf die Endverbrauchersituation? Gleichwohl hält sich der EuGH an den Wortlaut der Vorschrift: Art. 16 Satz 1 MwStSystRL differenziere nicht nach dem steuerlichen Status des Empfängers.40 Hinzu kommt ein systematischer Gesichtspunkt: Wenn nämlich Art. 16 Satz 2 MwStSystRL Entnahmen z.B. für Geschenke von geringem Wert zu Zwecken des Unternehmens von der Steuer ausnimmt, hätte es keinen Sinn, wenn Art. 16 Satz 1 MwStSystRL Entnahmen, die der Steuerpflichtige – für die Zwecke des Unternehmens – unentgeltlich weitergibt, nicht der Mehrwertsteuer unterwerfen würde41. Diesem Argument kann man sich nur schwer verschließen.42 Indes mag Art. 16 Satz 2 MwStSystRL der Normzweck zugrunde liegen, bei den dort genannten Fallvarianten (Geschenken, Warenmuster) sei der Zuwendungsempfänger trotz des Zusammenhangs mit seinem Unternehmen insoweit Endverbraucher, so dass Art. 16 Satz 1 MwStSystRL nach seinem Zweck eingreifen würde und deshalb ausgeschlossen werden müsste. Genau darum ging es übrigens in den Fällen des EuGH, dessen Aussagen mithin nicht überinter­ pretiert werden sollten. Die Endverbrauchersituation ist in dem hier besprochenen Fall der Leistungskette (Wärme – Spargelproduzent – Endverbraucher) aber anders zu bewerten. Deshalb lässt sich m.E. trotz Wortlaut und Systematik eine Normeinschränkung auf die Endverbrauchersituation aus teleologischen Erwägungen durchaus vertreten.43 4. Zuwendungen in der Leistungskette II: Sachzuwendung als Rabatt Wenden wir uns nun dem letzten und sicherlich bedeutsamsten Punkt unserer Erörterung der Zuwendungsbesteuerung zu und beschäftigen uns mit Sachprämien und ihrer Abgrenzung zum Entgelt. Einen derartigen Fall hatte das FG Rheinland-Pfalz44 zu entscheiden:

Aufl., 2015, Rz. 80. Die Umsatzsteuer ist eine Endverbrauchssteuer: Sie darf nicht höher sein als der in dem Gesamtbetrag enthaltene Umsatzsteuerbetrag, den der Endverbraucher letztlich aufwendet (vgl. auch unten 4. b.bb). 39 BFH v. 14.1.2016 – V R 63/14, BFHE 253, 279 = BStBl. II 2016, 360 = UR 2016, 279, Rz. 20. 40 EuGH v. 30.9.2010 – C-581/08, ECLI:EU:C:2010:559 – EMI Group, UR 2010, 816, Rz. 52. 41 EuGH v. 27.4.1999  – C-48/97, ECLI:EU:C:1999:203  – Kuwait Petroleum, UR 1999, 278, Rz. 22. 42 Auch nicht der BFH, BFH v. 31.5.2017 – XI R 2/14, BFHE 258, 191 = BStBl. II 2017, 1024 = UR 2017, 754. 43 Heuermann in Sölch/Ringleb, UStG § 3 Rz. 377; a.A. Leonard in Bunjes, UStG, § 3 Rz. 157. 44 FG Rheinland-Pfalz v. 15.9.2015 – 6 K 1844/13, EFG 2015, 2114.

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Bernd Heuermann Fall: Die Brauerei K vertreibt ihre Produkte ausschließlich über den Groß- und Einzelhandel. Sie führte eine Verkaufsfördermaßnahme im Zeitraum von je vier Wochen aus. Dabei bestand für die Kunden die Möglichkeit, die auf jeder Bierflasche angebrachten Treupunkte abzulösen, in einem Sammelheft einzukleben und dieses nach Erreichen der jeweiligen Mindestpunktzahl an K zu senden und im Gegenzug von K eine Sachprämie zu erhalten. Aus dem vorgegebenen Prämiensortiment konnte der Teilnehmer bestimmte Artikel mit K-Logo wählen (z.B. T-Shirt, Kühltasche oder Saunatuch). Das FA erfasste die abgegebenen Artikel als unentgeltliche Zuwendungen.

Die Besteuerung ergab sich für das FA aus § 3 Abs. 1b Satz 1 Nr. 3 UStG, während das FG die Sachprämien als Geschenke von geringem Wert beurteilte, so dass eine Besteuerung nach § 3 Abs. 1b Satz 1 Nr. 3 UStG ausscheide. Um den Fall sachgerecht zu lösen, muss man die Rechtsverhältnisse unterscheiden. Es liegt hier – wie im Fall zuvor (Ausführungen zu II. 3.) – eine sogenannte Leistungskette vor: Die Brauerei liefert das Bier an den Großhändler aus, dieser wiederum an den Einzelhändler, der das Bier an die Konsumenten verkauft. Die Brauerei gewährt die Prämien aufgrund der vom Verbraucher gesammelten Treuepunkte unmittelbar an den Verbraucher. a) Unterschied zwischen Prämiengewähr und Bierlieferung Nach der Rechtsprechung des EuGH mindert die Ausgabe von Treuepunkten nicht das Entgelt des Kunden für die Bierlieferungen und führt deshalb nicht zu einer Entgeltlichkeit der Prämiengewährung. Das vom Verbraucher-Abnehmer der Bierlieferung entrichtete Entgelt ist mithin nicht auf die Bierlieferung und die Prämiengewährung aufzuteilen. Denn, wie der EuGH im Urteil Kuwait Petroleum Rz. 28 zu einem Vergleichsfall entschieden hat, bleiben die Warenlieferung und die „die Weitergabe von Gegenständen gegen Gutscheine zwei getrennte Vorgänge“45. b) Entgeltsminderung aufgrund der Elida-Gibbs-Grundsätze Diese Unterscheidung und Trennungsthese des EuGH lässt aber außer Acht, dass hier eine Lieferkette vorliegt. Es geht also nicht nur um die Lieferung von Bier an den Verbraucher, sondern auch um die Lieferung der Brauerei an die Händler. Deshalb muss man erwägen, ob nicht aufgrund der Prämiengewährung die Voraussetzungen für eine Entgeltminderung gemäß § 17 Abs. 1 Satz 1 UStG vorliegen. aa) Rechtsgrundlage für die Entgeltminderung Hat sich danach die Bemessungsgrundlage für einen steuerpflichtigen Umsatz im Sinne von § 1 Abs. 1 Nr. 1 UStG geändert, hat der Unternehmer, der diesen Umsatz ausgeführt hat, den dafür geschuldeten Steuerbetrag zu berichtigen. Unionsrechtliche Grundlage hierfür ist Art. 90 Abs. 1 MwStSystRL, der im Falle der Annullierung, der 45 EuGH v. 27.4.1999  – C-48/97, ECLI:EU:C:199:203  – Kuwait Petroleum, UR 1999, 278, Rz. 28.

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Entnahme/Zuwendung – Objektive Tatbestandsmerkmale und Abgrenzungen

Rückgängigmachung, der Auflösung, der vollständigen oder teilweisen Nichtbe­ zahlung oder des Preisnachlasses nach der Bewirkung des Umsatzes dazu berechtigt, unter den von den Mitgliedstaaten festgelegten Bedingungen entsprechend die Besteuerungsgrundlage (Steuerbemessungsgrundlage) zu vermindern. Steuerbemessungsgrundlage ist nach §  10 Abs.  1 Sätze 1 und 2 UStG als Entgelt alles, was der Leistungsempfänger aufwendet, um die Leistung zu erhalten, jedoch abzüglich der Umsatzsteuer. Diese Norm beruht auf Art. 73 MwStSystRL. Danach umfasst die Steuerbemessungsgrundlage bei der Lieferung von Gegenständen und Dienstleistungen alles, was den Wert der Gegenleistung bildet, die der Lieferer oder Dienstleistende für diese Umsätze vom Abnehmer (Erwerber) oder Dienstleistungsempfänger oder von einem Dritten erhält oder erhalten soll, einschließlich der unmittelbar mit dem Preis dieser Umsätze zusammenhängenden Subventionen. Nicht in die Besteuerungsgrundlage einzubeziehen sind Rabatte und Rückvergütungen auf den Preis, die dem Abnehmer oder Dienstleistungsempfänger eingeräumt werden und die er zu dem Zeitpunkt erhält, zu dem der Umsatz bewirkt wird (Art. 79 Buchst. b MwStSystRL) sind. Werden Rabatte gewährt, nachdem der Umsatz ausgeführt wurde, ist die Bemessungsgrundlage entsprechend zu berichtigen (§ 17 Abs. 1 Satz 1 UStG). Danach mindern die von der Brauerei K den Endkunden zugewandten Sachprämien als Rabatte die Steuerbemessungsgrundlage und berechtigen K dazu, die Bemessungsgrundlage nach § 17 Abs. 1 Satz 1 UStG zu korrigieren. Dies geschieht unabhängig davon, ob diese Sachprämien an die Abnehmer (hier die Groß- oder Einzelhändler als Kunden der K) oder aber  – wie im Fall  – an die Endkunden (Verbraucher) abgegeben werden. bb) Entgeltminderungen in der Leistungskette Ein Preisnachlass oder eine Preiserstattung – z.B. wie hier über einen „Gutschein“ – muss nicht in der unmittelbaren Leistungsbeziehung gewährt werden, um sich entgeltmindernd auszuwirken; auch der vom Hersteller direkt an den Endverbraucher eingeräumte Preisnachlass mindert die Bemessungsgrundlage für die Umsatzsteuer des Herstellers für seinen Umsatz an seinen unmittelbaren Abnehmer (Zwischenhändler). Es verstieße nach übereinstimmender Rechtsprechung von EuGH und BFH gegen den Grundsatz der Neutralität der Mehrwertsteuer, wäre der Betrag, der als Bemessungsgrundlage für die vom Hersteller als Steuerpflichtigen geschuldete Mehrwertsteuer dient, höher als der Betrag, den er letztlich erhalten hat.46 Danach vermindert sich das „Entgelt“ i. S. des § 10 Abs. 1 Satz 1 und 2 UStG auch um solche Preisnachlässe, die ein in der Leistungskette beteiligter Unternehmer direkt dem Endverbraucher gewährt. Diese Auslegung des Begriffes „Entgelt“ folgt aus dem 46 EuGH v. 24.10.1996  – C-317/94, ECLI:EU:C:1996:400  – Elida Gibbs, UR 1997, 265 m. Anm. Weiß, Rz.  28  ff. m.w.N.; EuGH v. 15.10.2002  – C-427/98, ECLI:EU:C:2002:581  – Kommission/Deutschland, UR 2002, 523, Rz. 41 ff.; dazu auch BFH v. 12.1.2006 – V R 3/04, BFHE 213, 69 = BStBl. II 2006, 479 = UR 2006, 285 m. Anm. Stadie – Rz. 22; allerdings unter Ausschluss der Vermittlungsleistungen, vgl. BFH v. 27.2.2014 – V R 18/11, BFHE 245, 268 = BStBl. II 2015, 306 = UR 2014, 667.

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materiellen Charakter der Umsatzsteuer als Endverbrauchssteuer; sie darf daher nicht höher sein als der in dem Gesamtbetrag enthaltene Umsatzsteuerbetrag, den der ­Endverbraucher letztlich aufwendet. Erstattet damit der erste Unternehmer in einer Leistungskette dem Endverbraucher einen Teil des von diesem gezahlten Leistungsentgelts oder gewährt er ihm einen Preisnachlass, mindert sich dadurch die Bemessungsgrundlage für den Umsatz des ersten Unternehmers (an seinen Abnehmer der nächsten Stufe). Der erste Unternehmer hat deshalb den für seinen Umsatz geschuldeten Steuerbetrag zu berichtigen. Im hier vorgestellten Fall haben die Endkunden für den Bezug des Bieres nach Einlösung der Treueprämie im Ergebnis ein geringeres Entgelt aufgewendet und die Brauerei K hat letztlich nur entsprechend geminderte Entgelte im Rahmen der von ihr erbrachten Lieferungen vereinnahmt. Es stünde daher nicht im Einklang mit dem umsatzsteuerrechtlichen Neutralitätsprinzip, wenn sie die Umsatzsteuer auf ihre als Entgelt vereinnahmten Beträge in vollem Umfang entrichten müsste, ohne die Anschaffungskosten der an die Endkunden im Rahmen der Treueaktionen ausgehändigten Sachprämien abziehen zu können. Für die steuerrechtliche Beurteilung kommt es nicht darauf an, ob es sich bei den Prämien um Sachprämien oder um Geld handelt.47 Etwas anderes ergibt sich nicht aus dem EuGH-Urteil Kuwait Petroleum.48 Auch wenn der EuGH hier die Warenlieferung und die Weitergabe von Gegenständen gegen Gutscheine als zwei unterschiedliche Vorgänge voneinander trennt, und zwar derart, dass es sich bei der Prämiengewährung nicht um einen entgeltlichen Vorgang handelt (s. aber unten c), hat er sich eben nicht zur Bedeutung seines damals schon bekannten Urteils Elida Gibbs49 und zur Frage der Entgeltsminderung in der Kette geäußert. Das lag auch daran, dass Kuwait Petroleum selbst oder über ihre Tankstellen den Kraftstoff vertrieb, eine Leistungskette wie im hier diskutierten Fall also nicht vorlag. Der EuGH hat insbesondere die Entgeltminderung durch Gutscheinabgabe an nachfolgende Abnehmer in einer Leistungskette nicht auf Geldgutscheine unter Ausklammerung von Sachgutscheinen beschränkt. Schließlich betraf der EuGH-Fall Kuwait Petroleum ebenfalls einen Geschenk-Katalog50. cc) Ergebnis Damit können wir als Ergebnis festhalten: Gewährt eine Brauerei im Rahmen einer den Verkauf fördernden Treuepunktaktion demjenigen Bierkonsumenten eine Sachprämie, der beim Bezug von Bier beim Einzelhändler Treuepunkte einlöst, so mindert 47 In diesem Sinne bereits BFH v. 28.6.1995 – XI R 66/94, BFHE 178, 257 = BStBl. II 1995, 705 = UR 1996, 54 m. Anm. Widmann betreffend die Zuwendung des Wertes einer Reise als Preisnachlass. 48 EuGH v. 27.4.1999 – C-48/97, ECLI:EU:C:199:203 – Kuwait Petroleum, UR 1999, 278. Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus BFH v. 11.5.2006 – V R 33/03, BFHE 213, 264 = BStBl. II 2006, 699 = UR 2006, 477, denn dort ging des mit den Parkchips um einen verbilligten Bezug von Leistungen eines an der Leistungskette nicht beteiligten „Dritten“. 49 EuGH v. 24.10.1996  – C-317/94, ECLI:EU:C:1996:400  – Elida Gibbs, UR 1997, 265 m. Anm. Weiß. 50 EuGH v. 27.4.1999 – C-48/97, ECLI:EU:C:199:203 – Kuwait Petroleum, UR 1999, 278, Rz. 8.

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die Zuwendung dieser Sachprämie die Bemessungsgrundlage für den Umsatz der Brauerei an ihre Kunden (Händler). Es muss nicht besonders erwähnt zu werden, dass dieses Ergebnis auch auf alle anderen Prämien zu übertragen ist, die in vergleichbarer Weise gewährt werden (Treuepunkte, Pay-Back-Bonus-Punkte u.s.w.).51 c) Folgerungen Mindert also die Zuwendung die Bemessungsgrundlage der ersten Lieferung der Brauerei an ihre Händler-Kunden, so ist damit noch nicht entschieden, ob die Zuwendung der Prämien an die Bierkonsumenten steuerbar ist. Dafür könnte zunächst die EuGH-Entscheidung Kuwait Petroleum52 mit ihrer Trennung zwischen der Warenlieferung und Prämie sprechen. Indes geht es in Art. 16 MwStSystRL um eine unentgeltliche Zuwendung. Die Prämien wirken sich aber – wie dargelegt – im Zusammenhang mit der Leistungsbeziehung auf das Entgelt aus, werden mithin nicht unentgeltlich gewährt. Denn im Gegenzug zur Hingabe der Prämien mindert sich die Bemessungsgrundlage der Bierlieferung der Brauerei an ihre Kunden. Das Ergebnis ist so, wie wenn von vornherein ein geringeres Entgelt vereinbart gewesen wäre. Deshalb sind m.E. die Korrekturbestimmungen gegenüber der Zuwendungsbesteuerung vorrangig, ja, sie schließen es – mit anderen Worten – aus, dass eine steuerbare Zuwendung tatbestandlich überhaupt vorliegt. Der Zusammenhang mit dem Entgelt lässt das Tatbestandsmerkmal „unentgeltlich“ entfallen. Führt eine Prämie zu einer Minderung der Bemessungsgrundlage, kommt es mithin nicht zu einer Zuwendungsbesteuerung. Wenn man hier anders entscheidet, gerät man in Konflikt mit dem Neutralitätsprinzip. Die Besteuerung der Zuwendung würde die Verminderung der Bemessungsgrundlage geradezu konterkarieren, nämlich aufheben. Deshalb stellt sich die Entscheidung des FG Rheinland-Pfalz aus anderen Gründen als von ihm hervorgehoben als richtig dar (§ 126 Abs. 4 FGO). Denn jedenfalls kompensierte oder saldierte die Minderung der Bemessungsgrundlage nach § 17 Abs. 1 Satz 1 UStG die vom FA durchgeführte Zuwendungsbesteuerung. Jenseits dessen muss man aber noch weiter denken: Nach meiner Auffassung darf es überhaupt nicht zu einer Zuwendungsbeteuerung nach § 3 Abs. 1b Satz 1 Nr. 3 UStG kommen. Ist die Bemessungsgrundlage des Umsatzes der Brauerei mit ihren Händler-Kunden zu mindern, wenn sie den Bierkonsum prämiert, steht – wie schon dargelegt – die Prämie im Zusammenhang mit dem Entgelt und führt mithin nicht zu einer steuerbaren Zuwendung. Ob das Gleiche nicht auch zu gelten hat, wenn die Prämie in einem zweiaktigen Geschäft gewährt wird, die EuGH-Rechtsprechung mit ihrer Trennungstheorie mithin zu hinterfragen ist, steht auf einem anderen Blatt – und bedarf ganz neuer Fragestellungen, die an dieser Stelle nur angeregt werden.

51 Ähnlich Kessler/Reingen, DStR 2018, 889 ff. 52 EuGH v. 27.4.1999 – C-48/97, ECLI:EU:C:199:203 – Kuwait Petroleum, UR 1999, 278, Rz. 28.

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Bernd Heuermann

IV. Zusammenfassung und Fazit Die Tour d’Horizon durch die Entnahme- und Zuwendungsbesteuerung hat mithin ergeben, dass trotz ihrer nunmehr hundertjährigen Tradition viele Fragen noch nicht hinreichend beantwortet worden sind. Das beginnt bei der Entnahmebesteuerung insbesondere bei Mehrpersonenverhältnissen im Changieren zwischen der Einheit und Vielheit der beteiligten Unternehmer und setzt sich fort bei der Zuwendungsbesteuerung. Hier insbesondere haben unsere Überlegungen gezeigt, dass das Verhältnis von Zuwendung und Entgeltsminderung noch nicht hinreichend (d.h. höchstrichterlich) durchdacht worden ist. Soll durch die Zuwendungsbesteuerung der Unternehmer als Endverbraucher besteuert werden, passt es nicht, wenn er in einer Leistungskette sozusagen kumulativ mit Mehrwertsteuer belastet wird, obschon der zugewandte Gegenstand in eine Ausgangsleistung an einen Unternehmer einfließt und sie dann vom Endverbraucher vergütet wird. Ferner sind Sach-Prämien innerhalb der Kette nach den sog. Elida-Gibbs-Grundsätzen steuerrechtlich zu behandeln, nicht anders, als wäre ein ganz normaler Preisnachlass gewährt worden. Damit harmoniert nun aber die strenge Trennung durch den EuGH zwischen Prämie und Preis keineswegs. Möglicherweise ist die Prämisse zu hinterfragen. Aber dahin ist noch ein weiter Weg – auf die nächsten hundert Jahre!

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Christoph Wäger

Entnahme, Einlage und Berichtigung Inhaltsübersicht

I. Einleitung



II. Gesetzliche Regelungen 1. Vorsteuerabzug, -aufteilung und -­berichtigung 2. Entnahmen und Einlagen III. Auch nach 100 Jahren … der Traum von der einfachen Besteuerung 1. Aufteilung entsprechend der jeweiligen Nutzung 2. Verringerung des unternehmerischen Nutzungsanteils 3. Erhöhung des unternehmerischen Nutzungsanteils IV. Die real existierende Welt der ­Besteuerung 1. Vorsteuerabzug als Unternehmer für Privatverwendung a) Private Mitverwendung mit ­Vorsteuerabzug b) Mitverwendung bei Grundstücken c) Rechtsprechung in der Folgezeit 2. Folgenlosigkeit der Einlage

V. Würdigung 1. Überblick





2. Vorsteuerabzug und Berichtigung ­aufgrund besteuerter Umsätze anstelle unternehmerischen Leistungsbezugs a) EuGH-Rechtsprechung b) Vorsteuerabzug nach Maßgabe ­besteuerter Umsätze c) Vorsteuerberichtigung 3. Private Mitverwendung kein ­besteuerter Umsatz a) Befreiung aus einem selbst­ geschaffenen Dilemma b) Untauglicher Lösungsweg 4. Keine gewillkürte Zuordnungs­ entscheidung 5. Keine Unterscheidung zwischen ­privater und außerunternehmerischer Verwendung 6. Einlagenentlastung durch Vorsteuer­ berichtigung a) Erfordernis einer Entlastung b) Vorsteuerberichtigung c) Kein Widerspruch zur Beschränkung der Berichtigung auf recht­ mäßigen Vorsteuerabzug

VI. Änderung der EuGH-Rechtsprechung? VII. Ergebnis

I. Einleitung Der Unternehmer sollte es mit der Umsatzsteuer nicht zu schwer haben. Die Umsatzsteuer soll nicht ihn, sondern seinen Kunden als Endverbraucher belasten. Bedingt durch das Entstehen der Umsatzsteuer auf allen Produktions- und Handelsstufen wird die steuerliche Entlastung des Unternehmers aus Vorbezügen durch den Vorsteuerabzug gewährleistet. Dabei kommt es darauf an, dass er bei seiner Tätigkeit steuerpflichtige Leistungen erbringt. Unternehmer sind allerdings häufig auch anderweitig tätig. Der Einzelunternehmer ist als natürliche Person auch Endverbraucher. Juristische Personen mit Unternehmer­ eigenschaft können daneben in Verfolgung satzungsmäßiger Zwecke außerunterneh477

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merisch tätig sein.1 Dies kann auf die ideelle Tätigkeit eines Vereins oder die Ausübung von Hoheitstätigkeiten zutreffen. Ebenso kann z.B. eine Holding über einen nur eingeschränkten Unternehmerstatus verfügen und daneben außerunternehmerisch tätig sein. Unproblematisch ist dabei die Beurteilung, wenn der Unternehmer Leistungen ausschließlich für diesen anderen Bereich bezieht. Nutzt der Einzelunternehmer einen erworbenen Gegenstand ausschließlich privat, ist er nicht zum Vorsteuerabzug berechtigt. Entsprechendes gilt für den Verein, den Hoheitsträger oder die Holding. Beurteilungsschwierigkeiten entstehen aber, wenn gemischte Leistungsbezüge für das Unternehmen und den z.B. privaten Bereich vorliegen. Eine derart gemischte Verwendung kann in unterschiedlicher Reihenfolge vorliegen. Was ausschließlich für das Unternehmen erworben wurde, kann später ebenso private Verwendung finden oder wie das zunächst ausschließlich privat Erworbene im Unternehmen benötigt werden kann. Dem soll im Folgenden nachgegangen werden.

II. Gesetzliche Regelungen 1. Vorsteuerabzug, -aufteilung und -berichtigung Der Unternehmer ist aus Leistungsbezügen anderer Unternehmer zum Vorsteuerabzug berechtigt.2 Er muss eine Verwendung für eigene steuerpflichtige Umsätze beabsichtigen. Das Recht auf Vorsteuerabzug entsteht mit dem Leistungsbezug3, wobei er für die Ausübung dieses Rechts über eine ordnungsgemäße Rechnung verfügen muss.4 Sind seine eigenen Leistungen steuerfrei, ist er aufgrund dieser Steuerfreiheit nicht zum Vorsteuerabzug berechtigt.5 Verwendet er Leistungsbezüge teilweise für steuerpflichtige Umsätze und teilweise für steuerfreie Umsätze ohne Recht auf Vorsteuerabzug kommt es zu einer Vorsteueraufteilung.6 Ändern sich die für den Vorsteuerabzug maßgeblichen Faktoren, ist der Vorsteuerabzug zu berichtigen.7 Dies gilt insbesondere für Investitionsgüter wie etwa bebaute Grundstücke, Maschinen oder Pkws, für die auf einen mehrjährigen Berichtigungszeitraum im Interesse einer möglichst präzisen Anwendung des Vorsteuerabzugs abgestellt wird.8 1 Zur Begrifflichkeit vgl. Wäger in: Birkenfeld/Wäger, USt-Hbd, Abschn. 1, Kap. 2 A (§  2 Abs. 1 und Abs. 2 Nr. 1 UStG) Rz. 354 ff. und 380 f. 2 Art. 168 MwStSystRL und § 15 Abs. 1 und 2 UStG. 3 Art. 167 MwStSystRL. 4 Art. 178 MwStSystRL. 5 Vgl. Art. 169 MwStSystRL und § 15 Abs. 2 und 3 UStG. 6 Art. 173 ff. MwStSystRL und § 15 Abs. 4 UStG. 7 Art. 185 MwStSystRL. 8 Art. 187 MwStSystRL und § 15a UStG.

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Entnahme, Einlage und Berichtigung

2. Entnahmen und Einlagen Der Gesetzgeber hat auch den Fall bedacht, dass der Unternehmer einen Gegenstand des Unternehmens für andere z.B. private Zwecke entweder vollständig entnimmt oder zeitabschnittsweise verwendet. Dies führt zu einer gegenstandsbezogenen Entnahmebesteuerung, wenn der Gegenstand zum Vorsteuerabzug berechtigt hatte.9 Für den umgekehrten Fall der Verwendungsänderung von einer z.B. privaten zu einer unternehmerischen Nutzung enthält die Richtlinie keine über die allgemeinen Regelungen hinausgehenden Bestimmungen. Insbesondere besteht keine dem Entnahmefall entsprechende Regelung für Einlagen wie etwa eine Einlagenentsteuerung10.

III. Auch nach 100 Jahren … der Traum von der einfachen Besteuerung 1. Aufteilung entsprechend der jeweiligen Nutzung Errichtet der Unternehmer z.B. ein Gebäude, das er zugleich für seine steuerpflichtige Umsatztätigkeit als auch für private Wohnzwecke verwenden will, nutzt er das Gebäude für zwei Zwecke, von denen bei isolierter Betrachtung nur einer zum Vorsteuerabzug berechtigt. Würde er zwei Gebäude errichten, von denen er das eine unternehmerisch und das andere privat nutzt, wäre er nur für das Unternehmensgebäude zum Vorsteuerabzug berechtigt. Treffen beide Nutzungen in einem Gebäude zu­ sammen, rechtfertigt dies – wie bei einer Verwendung für steuerpflichtige und steuerfreie Umsätze im Unternehmen – keine zusammenfassende Beurteilung. Der Unternehmer sollte daher nur zu einem anteiligen Vorsteuerabzug im Umfang der unternehmerischen Verwendung berechtigt sein. Der abziehbare Teil der Vorsteuer kann entsprechend den Regelungen zur Vorsteueraufteilung im Unternehmen bestimmt werden. Nach der Art der außerunternehmerischen Verwendung ist dabei nicht zu unterscheiden. Es kommt daher nicht darauf an, ob die unternehmerische Verwendung mit einer Privatnutzung oder einer Verwendung für außerunternehmerische Satzungszwecke zusammentrifft. 2. Verringerung des unternehmerischen Nutzungsanteils Mindert sich der unternehmerische Verwendungsanteil zugunsten einer erhöhten Nutzung für z.B. private Zwecke, führt dies zu einer Vorsteuerberichtigung, da sich ein dem Vorsteuerabzug zugrunde liegender Faktor geändert hat. Dies gilt für Investitionsgüter während des jeweiligen Berichtigungszeitraums. Im Anwendungsbereich dieses Berichtigungssystems kommt es nicht zur Besteuerung einer Verwendungsentnahme, da die Berichtigung des Vorsteuerabzugs Teil der Abzugsregelung ist, so dass 9 Art. 16 und Art. 26 Abs. 1 Buchst. a MwStSystRL und § 3 Abs. 1b und Abs. 9a Nr. 1 UStG. 10 Vgl. hierzu insbesondere de lege ferenda Dziadkowski, DStR 2012, 486 und Heffinger/Heck, MwStR 2017, 812.

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es aufgrund des im Rahmen der Vorsteuerberichtigung entfallenden Vorsteuerabzugs an dem für die Verwendungsentnahme erforderlichen Gegenstand, der zum Vorsteuerabzug berechtigt hat, fehlt. Eine Entnahmebesteuerung durch Gegenstands- oder Verwendungsentnahme ist daher nur dann möglich, wenn eine Vorsteuerberichtigung nicht in Betracht kommt. So ist es z.B., wenn ein Landwirt mit Regelbesteuerung seine mit Vorsteuerabzug hergestellten Erzeugnisse der Urproduktion auch privat verwendet. Eine Vorsteuerberichtigung kommt hier nicht Betracht, da es zum einen an einem Investitionsgut fehlt. Zum anderen kann sich die Vorsteuerberichtigung nur auf Vorsteuerbeträge beziehen, die in einem direkten und unmittelbaren Zusammenhang mit einzelnen Gegenständen stehen. Dies trifft auf allgemeine Betriebskosten nicht zu. 3. Erhöhung des unternehmerischen Nutzungsanteils Bei einer von Anfang an bestehenden unternehmerischen und anderweitigen Verwendung führt die Erhöhung des unternehmerischen Nutzungsanteils zu einer Vorsteuerberichtigung nach den für Investitionsgüter geltenden Regelungen. Zu betrachten ist aber auch der Fall der vollständigen Einlage, bei der der Unternehmer einen zunächst ausschließlich für private oder außerunternehmerische Satzungszwecke erworbenen Gegenstand später im Unternehmen verwendet. Es kommt auch hier kein nachträglicher Vorsteuerabzug in Betracht, da es beim Leistungsbezug an einer Verwendung für das Unternehmen fehlt. Möglich ist aber wiederum eine Vorsteuerberichtigung, wenn die Einlage noch in den Berichtigungszeitraum für Investitionsgüter fällt. Aufgrund der Nutzungsänderung kommt es zu einer Änderung der dem Vorsteuerabzug zugrunde liegenden Faktoren.

IV. Die real existierende Welt der Besteuerung 1. Vorsteuerabzug als Unternehmer für Privatverwendung a) Private Mitverwendung mit Vorsteuerabzug Der EuGH vermag immer wieder zu verblüffen. Dies gilt insbesondere für das EuGH-­ Urteil Lennartz11 zum Vorsteuerabzug bei von Anfang an gemischt unternehmerisch und privat genutzten Investitionsgütern. Dem EuGH gelingt hier das Kunststück, für den Vorsteuerabzug auf einen Leistungsbezug als Unternehmer abzustellen und zugleich einen Vorsteuerabzug im Umfang einer privaten Mitverwendung zu bejahen. Diese Annahme einer als Unternehmer für den privaten Verbrauch bezogenen Leistung wird weitergehend durch das EuGH-Urteil Armbrecht12 im Rahmen einer sog. 11 EuGH, Urt. v. 11.7.1991 – C-97/90, ECLI:EU:C:1991:315 – Lennartz, UR 1991, 291, Rz. 15. 12 EuGH, Urt. v. 4.10.1995 – C-291/92, ECLI:EU:C:1995:304 – Armbrecht, BStBl. II 1996, 392 = UR 1995, 485, Rz. 20.

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Zuordnungsentscheidung zur Disposition des Unternehmers gestellt. Dem Unternehmer ist es demnach gestattet, den gemischt unternehmerisch und privat verwendeten Gegenstand ganz, teilweise oder überhaupt nicht dem Unternehmen zuzuordnen. Der BFH folgt dieser Rechtsprechung.13 Bei seiner Entscheidung hat der Unternehmer allerdings zu beachten, dass der EuGH Verwendungsänderungen nur im Rahmen der unternehmerischen Zuordnung berücksichtigt, da nur insoweit das Mehrwertsteuer- und Berichtigungssystem anzuwenden sein soll. Damit wird der Unternehmer geradezu dazu verpflichtet, sich für eine volle Zuordnung zum Unternehmen zu entscheiden. b) Mitverwendung bei Grundstücken Breitenwirkung erlangte diese Betrachtungsweise dadurch, dass der EuGH die private Mitverwendung eines Gebäudes nicht als Gebäudevermietung steuerfrei, sondern als steuerpflichtig ansieht.14 Hierdurch kam es zum sog. Seeling-Modell, bei dem der Unternehmer den Vorsteuerabzug – im Hinblick auf eine zu versteuernde Verwendungsentnahme – auch im Umfang der privaten Wohnnutzung in Anspruch nehmen kann.15 Dem wurde in der Folgezeit durch zwei Maßnahmen des Gesetzgebers der Zahn gezogen. Zuerst ordnete der nationale Gesetzgeber an, dass sich die Erfassung der Verwendungsentnahme nicht nach der AfA, sondern nach einer Verteilung der Anschaffungs- und Herstellungskosten auf einen Zeitraum von zehn Jahren richtet.16 Dann wurde der Unionsgesetzgeber – und ihm folgend nochmals der nationale Gesetzgeber tätig – und verbot durch eine Neureglung den Vorsteuerabzug im Umfang der Privatverwendung bei Grundstücken bereits dem Grunde nach.17

13 Vgl. z.B. BFH v. 7.7.2011 – V R 42/09, BStBl. II 2014, 76 = UR 2011, 870; ebenso die Finanzverwaltung. Die verwunderlichen Folgen, die sich aus dieser Zuordnungsrechtsprechung ergeben, kann man bei der Lektüre von Abschn. 15.2c UStAE mit im Schlussteil 15 zur ­Illustration als erforderlich angesehen Beispielsfällen besichtigen. 14 EuGH, Urt. v. 8.5.2003 – C-269/00, ECLI:EU:C:2003:254 – Seeling, BStBl. II 2004, 378 = UR 2003, 288 m. Anm. Burgmaier. 15 Vgl. hierzu z.B. Paukstadt/Matheis, UR 2005, 83 ff. 16 § 10 Abs. 4 UStG in der Fassung des Gesetzes zur Umsetzung von EU-Richtlinien in nationales Steuerrecht und zur Änderung weiterer Vorschriften v. 9.12.2004, BGBl. I 2004, 3310. Hierfür besteht in der Richtlinie keine ausdrückliche Grundlage. Die Vorschrift ist gleichwohl unionsrechtskonform, vgl. EuGH, Urt.v. 14.9.2006 – C-72/05, ECLI:EU:C:2006:573 – Wollny, BStBl. II 2007, 32 = UR 2006, 638 m. Anm. Widmann und Stadie. 17 Art.  168a Abs.  1 MwStSystRL beschränkt bei Grundstücken den Vorsteuerabzug bei Grundstücken auf den Teil der Steuer, der auf die Verwendung des Grundstücks für unternehmerische Zwecke des Steuerpflichtigen entfällt; vgl. im nationalen Recht § 15 Abs. 1b UStG. Von der in der Richtlinie zudem eingeräumten Ermächtigung dies auch für sonstige Gegenstände anzuordnen, hat der nationale Gesetzgeber keinen Gebrauch gemacht.

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c) Rechtsprechung in der Folgezeit Der EuGH hat sein Besteuerungsmodell später im Urteil Puffer18 einerseits gegen Kritik verteidigt, es andererseits im Urteil VNLTO19 auf den Fall einer privaten Mitverwendung eingeschränkt, so dass es bei einer Mitverwendung für außerunternehmerische Satzungszwecke nicht eingreift. Der BFH hat sich auch dem angeschlossen.20 2. Folgenlosigkeit der Einlage Nebenfolge der EuGH-Rechtsprechung ist, dass Einlagen steuerrechtlich unberücksichtigt bleiben. Muss der Unternehmer beim Leistungsbezug als Unternehmer handeln, beschränkt sich aus Sicht des EuGH die Vorsteuerberichtigung gegenständlich auf Leistungsbezüge in dieser Eigenschaft.21 Danach hat z.B. eine Einrichtung des öffentlichen Rechts, die als Nichtunternehmer Investitionsgüter erwirbt und diese später als Steuerpflichtiger veräußert, im Rahmen dieses Verkaufs kein Recht auf Vorsteuerberichtigung.22 Eine später erweiterte oder erstmalige unternehmerische Nutzung eines nicht als Unternehmer erworbenen Gegenstandes rechtfertigt somit nicht die Annahme geänderter Faktoren, die zu einer Vorsteuerberichtigung führen. Der BFH folgt auch dem.23 Die Erschwernisse, die sich hieraus ergeben, mildert der EuGH dadurch ab, dass er an den Erwerb für das Unternehmen nur geringe Anforderung stellt. Er verlangt für die Unternehmenszuordnung keine sofortige Verwendung für das Unternehmen. Der EuGH bejaht bei Gründungssachverhalten die Unternehmereigenschaft bereits für den Zeitpunkt der ersten Vorbereitungshandlung, so dass Leistungsbezüge für eine beabsichtigte Unternehmenstätigkeit auch dann zum Vorsteuerabzug berechtigen,

18 EuGH, Urt. v. 23.4.2009 – C-460/07, ECLI:EU:C:2009:254 – Puffer, UR 2009, 410, Rz. 45. 19 EuGH, Urt. v. 12.2.2009 – C-515/07, ECLI:EU:C:2009:88 – VNLTO, UR 2009, 199. 20 Vgl. z.B. BFH v. 3.3.2011 – V R 23/10, BStBl. II 2012, 74 = UR 2011, 617 m. Anm. Küffner; ebenso die Finanzverwaltung in Abschn. 15a.1 Abs. 6 UStAE. 21 EuGH, Urt. v. 4.10.1995 – C-291/92, ECLI:EU:C:1995:304 – Armbrecht, BStBl. II 1996, 392 = UR 1995, 485, Rz. 32: Da sich das Recht auf Vorsteuerabzug nur auf den dem Unternehmen zugeordneten Teil des fraglichen Gegenstands bezieht, ist die Berichtigung des Vorsteuerabzugs ebenfalls auf diesen Teil des Gegenstands zu beschränken 22 EuGH, Urt. v. 2.6.2005 – C-378/02, ECLI:EU:C:2005:335 – Waterschap Zeeuws Vlaanderen, UR 2005, 437. In Rz. 38 begründet er dies unter Bezugnahme auf das Urteil Lennartz wie folgt: Die Vorsteuerberichtigung enthalte keine Regelung über die Entstehung des Rechts auf Vorsteuerabzug. Sie beschränke sich darauf, das Verfahren für die Berechnung der Berichtigung des Vorsteuererstabzugs festzulegen und könne daher kein Recht auf Vorsteuerabzug entstehen lassen oder die von einem Unternehmer im Zusammenhang mit seinen nicht besteuerten Umsätzen entrichtete Steuer in eine abzugsfähige Steuer verwandeln könne. 23 Vgl. z.B. BFH v. 11.4.2008 – V R 10/07, BStBl. II 2009, 741 = UR 2008, 750 und BFH v. 1.12.2010 – XI R 28/08, BStBl. II 2011, 994 = UR 2011, 678.

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wenn es zu eigenen entgeltlichen Leistungen erst sehr viel später kommt oder aber die Unternehmensgründung scheitert.24

V. Würdigung 1. Überblick Die in sich verwobene Rechtsprechung des EuGH ist in mehrfacher Hinsicht fehlerhaft.25 An erster Stelle ist es unzutreffend, Vorsteuerabzug wie auch Vorsteuerberichtigung dem Umfang nach auf Leistungsbezüge zu verengen, die der Unternehmer in dieser Eigenschaft bezieht. Das sich hieraus ergebende Problem, wie mit der Erhöhung des unternehmerischen Nutzungsanteils bei einem gemischt unternehmerisch und privat verwendeten Gegenstand zu verfahren ist, löst der EuGH zwar durch die Behandlung der privaten Mitverwendung als besteuerten Umsatz. Auch diese Folgebeurteilung ist aber verfehlt. Gleiches gilt für die Annahme einer gewillkürten Zuordnungsentscheidung. Aufgrund seiner unzutreffenden Ausgangsannahme ist der EuGH schließlich nicht in der Lage, die Einlageproblematik einer sachgerechten Lösung zuzuführen. 2. Vorsteuerabzug und Berichtigung aufgrund besteuerter Umsätze anstelle unternehmerischen Leistungsbezugs a) EuGH-Rechtsprechung Aus den Regelungen zur Entstehung und zum Umfang des Rechts auf Vorsteuerabzug leitet der EuGH seit seinem Urteil Lennartz26 eine Unterscheidung zwischen dem Bestehen und dem Umfang des Vorsteuerabzugs ab. Das Bestehen (Entstehen) erfordere ein Handeln als Unternehmer für wirtschaftliche Tätigkeiten, während die Verwendung der bezogenen Leistung nur den Umfang des Vorsteuerabzugs und seine Berichtigung bestimme, wofür es auf besteuerte Umsätze ankomme.27 In der Folgezeit hat der EuGH in ständiger Rechtsprechung dann daran festgehalten, dass die Anwendung des Mehrwertsteuersystems wie auch des Berichtigungsmecha24 EuGH, Urt. v. 19.7.2012 – C-334/10, ECLI:EU:C:2012:473 – X, UR 2012, 726, Rz. 27: Danach ist ein Zeitraum von 23 Monaten, in dem ein Investitionsgut zu Wohnzwecken ausschließlich privat verwendet worden ist, im Hinblick auf die Haltbarkeit dieses Investitionsgutes und seine voraussichtliche Lebensdauer kein Gesichtspunkt, der den Schluss zulässt, dass der Unternehmer nicht die Absicht hatte, dieses Gut für den Bedarf seines Unternehmens zu verwenden. 25 Zur Kritik, vgl. z.B. Stadie, in Rau/Dürrwächter, UStG, § 15 Rz. 1860 ff. und Wäger, UR 2012, 25 ff. und DB 2012, 1288 ff. 26 EuGH, Urt. v. 11.7.1991 – C-97/90, ECLI:EU:C:1991:315 – Lennartz, UR 1991, 291. 27 EuGH, Urt. v. 11.7.1991 – C-97/90, ECLI:EU:C:1991:315 – Lennartz, UR 1991, 291, Rz. 8 und 15; EuGH, Urt. v. 4.10.1995 – C-291/92, ECLI:EU:C:1995:304 – Armbrecht, BStBl. II 1996, 392 = UR 1995, 485, Rz. 20.

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nismus vom Erwerb durch einen als solchen handelnden Unternehmer abhänge. Die tatsächliche oder beabsichtigte Verwendung eines Gegenstands oder einer Dienstleistung bestimme demgegenüber nur den Umfang des ursprünglichen Vorsteuerabzugs und den Umfang etwaiger Berichtigungen während der darauffolgenden Zeiträume.28 Lediglich in den Urteilen Schloßstraße und Breitsohl hat der EuGH dies mit dem zusätzlichen Hinweis rechtfertigt, dass jede andere Auslegung dem Neutralitätsgrundsatz zuwiderlaufen würde, da dann der Wirtschaftsteilnehmer mit den Mehrwertsteuerkosten im Rahmen seiner wirtschaftlichen Tätigkeiten belastet würde, ohne dass er sie abziehen könnte, und willkürlich zwischen Investitionsausgaben vor der tatsächlichen Aufnahme des Betriebes eines Unternehmens und während des Betriebes unterschieden würde.29 b) Vorsteuerabzug nach Maßgabe besteuerter Umsätze aa) Keine weitergehende Einschränkung aus Gründen des Vorsteuerabzugs Die Differenzierung zwischen dem Erfordernis, dass der Unternehmer als solcher beim Leistungsbezug zu handeln hat, und den besteuerten Umsätzen überzeugt nicht und begründet nicht, weshalb die spätere Erhöhung des unternehmerischen Nutzungsanteils bei einem gemischt unternehmerisch und privat verwendeten Investitionsgut nicht zu einer Vorsteuerberichtigung führen sollte. Die Regelung zum Entstehen des Vorsteuerabzugs legt lediglich fest, zu welchem Zeitpunkt der Vorsteuerabzug in Anspruch genommen werden kann, so denn auch die Ausübungsvoraussetzungen vorliegen. Aus dieser rein zeitbezogenen Regelung ergeben sich keinerlei inhaltliche Bedingungen für den Vorsteuerabzug. Der Regelung ist weder zu entnehmen, wer zur Inanspruchnahme des Vorsteuerabzugs berechtigt ist noch welchen Voraussetzungen diese Person hierfür zu erfüllen hat. Beides und damit sowohl die personen- als auch die sachbezogene Voraussetzung ergibt sich abschließend aus der Regelung zum Umfang des Vorsteuerabzugs. Danach muss es sich beim Leistungsempfänger um einen Unternehmer handeln, der die Leistung für besteuerte Umsätze verwendet.

28 EuGH, Urt. v. 8.6.2000 – C‑396/98, ECLI:EU:C:2000:303 – Schloßstraße, UR 2000, 336 m. Anm. Widmann, Rz.  37  f.; EuGH, Urt. v. 8.6.2000  – C-400/98, ECLI:EU:C:2000:304  – Breitsohl, BStBl. II 2003, 452 = UR 2000, 329 m. Anm. Widmann, Rz. 35 f.; EuGH, Urt. v. 30.3.2006 – C-184/04, ECLI:EU:C:2006:214 – Uudenkaupungin kaupunki, UR 2006, 530, Rz. 38 f.; EuGH, Urt. v. 16.2.2012 – C-118/11, ECLI:EU:C:2012:97 – Eon Aset Menidjmunt, UR 2012, 230 m. Anm. Wäger, Rz.  57; EuGH, Urt. v. 29.11.2012  – C-257/11, ECLI:EU:​ C:2012:759 – Gran Via Moinesti, UR 2013, 224, Rz. 28; EuGH, Urt. v. 19.7.2012 – C-334/10, ECLI:EU:C:2012:473  – X, UR 2012, 726, Rz.  17; EuGH, Urt. v. 28.2.2018  – C-672/16, ECLI:EU:C:2018:134 – Investimentos Imobiliáros, UR 2018, 440, Rz. 9. 29 EuGH, Urt. v. 8.6.2000 – C-396/98, ECLI:EU:C:2000:303 – Schloßstraße, UR 2000, 336 m. Anm. Widmann, Rz.  39 und EuGH, Urt. v. 8.6.2000  – C-400/98, ECLI:EU:C:2000:304  – Breitsohl, UR 2000, 329 m. Anm. Widmann, Rz. 37.

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Entnahme, Einlage und Berichtigung

Auf dieser Grundlage lassen sich alle Fragen zur Abgrenzung von Unternehmensund Privatbereich klären. Dabei ist insbesondere die Privatverwendung kein besteuerter Umsatz für Zwecke des Vorsteuerabzugs. bb) Keine weitergehende Einschränkung aus Gründen der Steuerbarkeit Der EuGH könnte seine Sichtweise allerdings mit einer Anleihe aus dem Bereich der Steuerbarkeit begründen. Hier kommt es bereits nach dem gesetzlichen Tatbestand darauf an, dass der Unternehmer als solcher und damit in seiner Eigenschaft als Unternehmer entgeltliche Leistungen erbringt. Damit wird es z.B. dem Einzelunternehmer ermöglicht, einen ausschließlich privat verwendeten Gegenstand nichtsteuerbar zu liefern. Somit werden Leistungen umsatzbezogen, nicht aber unternehmerbezogen vom Anwendungsbereich der Steuer erfasst. Eine Übertragung von der Steuerbarkeit zum Vorsteuerabzug kommt demgegenüber nicht in Betracht. Denn die erforderliche umsatzbezogene Betrachtungsweise, mit der ein unternehmerbezogener Vorsteuerabzug verhindert wird, ergibt sich beim Vorsteuerabzug aus dem Kriterium der Leistungsverwendung für besteuerte Umsätze. Diese besteuerten Ausgangsumsätze setzen für ihre Steuerbarkeit auch ein Handeln als Unternehmer bei der Leistungserbringung auf der Ausgangsseite voraus. Es ist überflüssig, daneben gesondert auch noch für den Leistungsbezug auf ein eigenständiges Handeln als Unternehmer abzustellen. Für die hier vertretene Sichtweise sprechen auch die ergänzenden Hinweise in den Urteilen Schloßstraße und Breitsohl zur Bedeutung des Neutralitätsgrundsatzes.30 Dieser erfordert neben der Maßgeblichkeit besteuerter Umsätze kein gesondertes Abstellen auf einen Leistungsbezug als Unternehmer. c) Vorsteuerberichtigung Somit ist entgegen dem EuGH auch die Vorsteuerberichtigung nicht dem Umfang nach auf Leistungsbezüge als Unternehmer einzugrenzen. Wird ein Investitionsgut gemischt einerseits für private Zwecke und andererseits für besteuerte Umsätze im Unternehmen verwendet, führt die Erhöhung des unternehmerischen Verwendungsanteils für besteuerte Umsätze daher problemlos zu einer Vorsteuerberichtigung zugunsten des Unternehmers. Ebenso kann die Minderung des unternehmerischen Verwendungsanteils als Vorsteuerberichtigung erfasst werden, der gegenüber einer Entnahmebesteuerung bereits deshalb Vorrang zukommen sollte, da die Verwendungsentnahme31 einen Gegenstand voraussetzt, der zum Vorsteuerabzug berechtigt hat, dessen Vorsteuerabzug aber im Rahmen der Berichtigung entfällt.

30 S. oben V.2.a). 31 Art. 26 Abs. 1 Buchst. b MwStSystRL.

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Gegen die Annahme einer Vorsteuerberichtigung insbesondere zugunsten des Unternehmers sprechen auch keine sonstigen Gründe. Auch der EuGH geht davon aus, dass sich die Berichtigungsbestimmungen nicht mit der Entstehung des Rechts auf Vorsteuerabzug befassen. Richtig ist weiter, dass die Berichtigung kein Recht auf Vorsteuerabzug entstehen lässt, sondern zur Ermittlung eines Berichtigungsbetrages führt. Soweit der EuGH weitergehend meint, dass die Berichtigung die vom Unternehmer im Zusammenhang mit seinen nicht besteuerten Umsätzen entrichtete Steuer nicht in eine abzugsfähige Steuer verwandeln kann32, ist fraglich, was er damit zum Ausdruck bringen will. Dies ist jedenfalls nicht dahingehend zu verstehen, dass die Vorsteuerberichtigung nicht zugunsten des Unternehmers wirken kann, wie das Beispiel des Übergangs von einer steuerfreien zu einer steuerpflichtigen Vermietung zeigt. Hier kommt es unbestritten während des Berichtigungszeitraums zu einem Berichtigungsbetrag zugunsten des Unternehmens.33 Verzichtet man auf das verfehlte Kriterium des Leistungsbezugs als Unternehmer gilt dies ebenso bei einem Übergang von einer z.B. privaten zur unternehmerischen Nutzung. 3. Private Mitverwendung kein besteuerter Umsatz a) Befreiung aus einem selbstgeschaffenen Dilemma Ausgehend von der fehlerhaften Annahme, dass Vorsteuerabzug und Vorsteuerberichtigung einen Leistungsbezug als Unternehmer erfordern34, steht der EuGH vor dem Problem, wie er bei einem gemischt unternehmerisch und privat verwendeten Gegenstand mit der späteren Erhöhung des unternehmerischen Nutzungsanteils umgehen soll. Nach seinen Annahmen kommt eine Vorsteuerberichtigung nicht in Betracht, da es für den Erhöhungsanteil an einem Leistungsbezug als Unternehmer fehlt. Der Ausweg aus diesem selbstgeschaffenen Dilemma besteht für den EuGH darin, die private Mitverwendung des Unternehmensgegenstandes in eine Verwendungsentnahme zu kleiden35, die dann als besteuerter Umsatz den Vorsteuerabzug ermöglicht, 32 EuGH, Urt. v. 11.7.1991 – C-97/90, ECLI:EU:C:1991:315 – Lennartz, UR 1991, 291, Rz. 11 und 12. 33 So sieht es auch der EuGH, Urt. v. 30.3.2006 – C-184/04, ECLI:EU:C:2006:214 – Uudenkaupungin kaupunki, UR 2006, 530, Rz. 30. 34 S. oben V.2.a). 35 EuGH, Urt. v. 11.7.1991 – C-97/90, ECLI:EU:C:1991:315 – Lennartz, UR 1991, 291, Rz. 26: Danach wird bei einer Person, die einen Gegenstand teilweise für Zwecke ihrer besteuerten Umsätze und teilweise für private Zwecke verwendet und die zum Zeitpunkt des Erwerbs des Gegenstands die gezahlte Vorsteuer ganz oder zum Teil zurückerhalten hat, angenommen, dass sie den Gegenstand in vollem Umfang für Zwecke ihrer besteuerten Umsätze verwendet und demgemäß grundsätzlich ein Recht auf vollständigen und sofortigen Abzug der beim Erwerb der Gegenstände geschuldeten Vorsteuer hat; ebenso: EuGH, Urt. v. 8.5.2003 – C-269/00, ECLI:EU:C:2003:254 – Seeling, BStBl. II 2004, 378 = UR 2003, 288 m. Anm. Burgmaier, Rz.  41; EuGH (Große Kammer), Urt. v. 14.7.2005  – C-434/03,

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Entnahme, Einlage und Berichtigung

wie er im Urteil Puffer selbst offenlegt36. Damit eröffnet sich im Hinblick auf die Besteuerung der Verwendungsentnahme ein voller Vorsteuerabzug für den gemischt verwendeten Gegenstand, so dass die spätere Erhöhung des unternehmerischen Verwendungsanteils dem Unternehmer durch eine verminderte Entnahmebesteuerung zugutekommt. b) Untauglicher Lösungsweg Die Erfassung einer von Anfang an beabsichtigten privaten Mitverwendung als Verwendungsentnahme, die im Umfang der Privatverwendung zum Vorsteuerabzug berechtigen soll, ist nicht nur --wie vorstehend dargelegt-- überflüssig, sondern zudem auch für sich betrachtet unzutreffend. Dies ergibt sich aus gleich mehreren Gründen. Gegen die Sichtweise des EuGH spricht als erstes, dass der Vorsteuerabzug eine steuerliche Belastung der Unternehmenstätigkeit verhindern soll. Im Umfang einer privater Mitverwendung fehlt es hieran. Zweitens soll die Besteuerung der Verwendungsentnahme einen zuvor in Anspruch genommenen Vorsteuerabzug wieder rückgängig machen, nicht aber einen Vorsteuerabzug ermöglichen. Es ist widersinnig, einen Vorsteuerabzug mit der Anwendung einer Regelung zu begründen, die diesen Vorsteuerabzug wieder entfallen lässt. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass die Regelungen zur gegenstandsbezogenen Entnahme und zur Vorsteuerberichtigung demselben Zweck, der Rückgängigmachung des Vorsteuerabzugs dienen.37 Die Ausgestaltung der Entnahmebesteuerung als fiktive Leistung rechtfertigt es nicht, diese im Gegensatz zur Vorsteuerberichtigung als abzugsbegründend anzusehen.

ECLI:EU:C:2005:463  – Charles und Charles-Tijmens, UR 2005, 563, Rz.  25 und EuGH, Urt. v. 18.7.2013 – C-210/11 und C-211/11, ECLI:EU:C:2013:479 – Medicom und Maison Patrice Alard, UR 2014, 404, Rz. 22. 36 EuGH, Urt. v. 23.4.2009 – C-460/07, ECLI:EU:C:2009:254 – Puffer, UR 2009, 410, Rz. 45: Danach könnte bei Investitionsgütern, bei denen die gemischte Nutzung im Lauf der Zeit variiert, eine vom EuGH abweichende Sichtweise zur Folge haben, dass dem Unternehmer der Vorsteuerabzug für spätere besteuerte unternehmerische Verwendungen verweigert würde, obwohl er den fraglichen Gegenstand ursprünglich im Hinblick auf künftige Umsätze zur Gänze seinem Unternehmen zuordnen wollte. 37 EuGH, Urt. v. 30.3.2006 – C-184/04, ECLI:EU:C:2006:214 – Uudenkaupungin kaupunki, UR 2006, 530, Rz.  30: Danach sollen Entnahmebesteuerung und Vorsteuerberichtigung gleichermaßen eingreifen, wenn ein Gegenstand, dessen Verwendung zum Vorsteuerabzug berechtigt, später einer Verwendung zugeordnet wird, die kein Abzugsrecht eröffnet; die Vorsteuerberichtigung kann dabei zusätzlich auch zugunsten des Unternehmers wirken. Nach EuGH , Urt.v. 14.9.2006 – C-72/05, ECLI:EU:C:2006:573 – Wollny, BStBl. II 2007, 32 = UR 2006, 638 m. Anm. Widmann und Stadie, Rz. 35 darf ein Mitgliedstaat in Anbetracht der übereinstimmenden Zielsetzung von Entnahmebesteuerung und Vorsteuerberichtigung die Besteuerungsgrundlage für die private Nutzung eines Unternehmensgegenstands entsprechend den Regeln für die Vorsteuerberichtigung festlegen.

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Drittens führt der Vorsteuerabzug vorbehaltlich von Änderungen, die sich aus einer geänderten Verwendung ergeben können, zu einer dauerhaften Entlastung. Zu dieser kommt es auf der Grundlage der EuGH-Rechtsprechung nicht. Ergibt sich der Vorsteuerabzug aus einer Verwendungsentnahme, eröffnet der EuGH nur ein Steuerstundungsmodell, bei dem sich der Vorsteuerabzug systemwidrig ohne Leistungs­ erbringung an andere ergibt, sondern aus der Eigenbelastung des Unternehmers aufgrund der zu seinen Lasten vorzunehmenden Besteuerung der nachfolgenden Verwendungsentnahme. Viertens liegen die Voraussetzungen für die Besteuerung einer Verwendungsentnahme nicht vor. Hierfür kommt es darauf an, dass ein Gegenstand „zum Vorsteuerabzug berechtigt hat“. Entscheidend ist dabei der zeitliche Ablauf. Für den Gegenstand muss zuerst ein Vorsteuerabzug aus anderen Gründen als der Besteuerung einer Verwendungsentnahme gewährt worden sein. War dies der Fall, führt dieser Vorsteuerabzug zur Erfassung einer Verwendungsentnahme, wenn die zum Vorsteuerabzug berechtigende Verwendung durch eine Privatverwendung ersetzt wird. Eine sofortige private Mitverwendung nach dem Erwerb eines Unternehmensgegenstandes reicht demgegenüber nicht aus. Schließlich ist dem Vorsteuerabzug eine ganzheitliche Betrachtung fremd, wie sich bereits aus der Verwendung der Konjunktion soweit in Art. 168 MwStSystRL ergibt. Der Vorsteuerabzug ist bei einer mehrfach kausalen Verwendung grundsätzlich auf eine nur anteilige Inanspruchnahme ausgelegt. 4. Keine gewillkürte Zuordnungsentscheidung Auch für die vom EuGH38 in ständiger Rechtsprechung angenommene gewillkürte Zuordnungsentscheidung besteht keine Grundlage. Über den Vorsteuerabzug ist nach dem direkten und unmittelbaren Zusammenhang zwischen der bezogenen Leistung und den besteuerten Umsätzen des Unternehmers zu entscheiden. Dieser Zusammenhang bestimmt sich nach der beim Unternehmer bestehenden Verwendungsabsicht. Ein Entscheidungsrecht des Unternehmers besteht dabei naturgemäß insoweit, als er entscheidet, wofür er eine bezogene Leistung verwenden will. Er bestimmt mit seiner Verwendungsentscheidung den Sachverhalt, an den das Steuer38 EuGH, Urt. v. 4.10.1995 – C-291/92, ECLI:EU:C:1995:304 – Armbrecht, BStBl. II 1996, 392 = UR 1995, 485, Rz. 19 f.; EuGH, Urt. v. 8.3.2001 – C-415/98, ECLI:EU:C:2001:136 – Bakcsi, UR 2001, 149, Rz. 25 ff.; EuGH, Urt. v. 8.5.2003 – C-269/00, ECLI:EU:C:2003:254 – Seeling, BStBl. II 2004, 378 = UR 2003, 288 m. Anm. Burgmaier, Rz. 40 ff.; EuGH, Urt. v. 21.4.2005 – C-25/03, ECLI:EU:C:2005:241 – HE, BStBl. II 2007, 24 = UR 2005, 324 m. Anm. Widmann, Rz.  46; EuGH (Große Kammer), Urt. v. 14.7.2005  – C-434/03, ECLI:EU:C:2005:463  – Charles und Charles-Tijmens, UR 2005, 563, Rz. 23; EuGH, Urt. v. 30.3.2006 – C-184/04, ECLI:EU:C:2006:214 – Uudenkaupungin kaupunki, UR 2006, 530, Rz. 34; EuGH, Urt. v. 16.2.2012 – C-118/11, ECLI:EU:C:2012:97 – Eon Aset Menidjmunt, UR 2012, 230 m. Anm. Wäger, Rz. 53 ff.; EuGH, Urt. v. 22.3.2012 – C-153/11, ECLI:EU:C:2012:163 – Klub, UR 2012, 606, Rz. 38; EuGH, Urt. v. 18.7.2013 – C-210/11 und C-211/11, ECLI:EU:C:2013:479 – Medicom und Maison Patrice Alard, UR 2014, 404, Rz.  21  ff.; EuGH, Urt. v. 9.7.2015  – C-331/14, ECLI:EU:C:2015:456 – Petar Kezić s.p. Trjovina Prizma, UR 2015, 621, Rz. 20.

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recht anknüpft. Für eine gewillkürte Zuordnungsentscheidung, die dem Unternehmer ein rechtliches Bestimmungsrecht einräumt, über die Rechtsfolgen eines in tatsächlicher Hinsicht unveränderten Sachverhalts zu disponieren, findet sich in der Richtlinie beim Vorsteuerabzug – anders als etwa beim Verzicht auf Steuerbefreiungen – kein Anhaltspunkt. Daher ist die private Mitverwendung entweder immer – mit der Folge eines Vorsteuerabzugs – als Verwendungsentnahme zu besteuern oder – entsprechend der hier vertretenen Auffassung – nie als zum Vorsteuerabzug berechtigend anzusehen. So denn überhaupt der Begriff der Zuordnung zu verwenden ist, sollte sich dies auf die vom Unternehmer getroffene Entscheidung zur Verwendung der bezogenen Leistung beschränken. 5. Keine Unterscheidung zwischen privater und außerunternehmerischer Verwendung Trotz der Verteidigung seiner Rechtsprechung im Urteil Puffer39 hat der EuGH in Bezug auf das von ihm entwickelte Besteuerungs- und Gestaltungsmodell selbst kalte Füße bekommen. Die Frage nach einer abzugsbegründenden Wirkung der Verwendungsentnahme stellt sich nicht nur bei einer privaten Mitverwendung, sondern auch bei Mitverwendung für Satzungszwecke einer juristischen Person. Ist z.B. ein Verein als juristische Person des Zivilrechts oder eine juristische Person des öffentlichen Rechts einerseits in einem Teilbereich als Unternehmer andererseits bei der Verfolgung ideeller Zwecke im Rahmen der Vereinssatzung oder als Hoheitsträger in Verfolgung öffentlich-rechtlicher Aufgaben außerunternehmerisch tätig, stellt sich ebenso wie bei der privaten Mitverwendung auch im Hinblick auf eine Mitverwendung für derartige außerunternehmerische Satzungszwecke die Frage, ob auch diese Art der Mitverwendung vorsteuerabzugsbegründend ist. Der EuGH hat dies in seinem Urteil VNLTO40 bekanntlich verneint, indem er auf eigenartiger Grundlage die Voraussetzung der Verwendungsentnahme tatbestandlich verneint. Es ging ihm hier ersichtlich darum, den Anwendungsbereich des von ihm geschaffenen Steuerstundungsmodells nicht um die Mitverwendung für außerunternehmerische Satzungszwecke zu erweitern. Auf der Grundlage der hier vertretenen Auffassung erübrigt sich diese Differenzierung, da das Vorliegen einer Verwendungsentnahme allgemein zu verneinen ist.41 Demgegenüber stellt sich für den EuGH die Folgefrage, welche Rechtsfolgen bei späteren Nutzungsänderungen im Zusammenhang mit einer außerunternehmerischen Verwendung eintreten. Ist es dem Unternehmer verwehrt, hier eine abzugsbegründende Zuordnungsentscheidung zu treffen, könnte dies dafür sprechen, hier das gesetzliche Regelungssystem entsprechend dem hier vertretenen Verständnis anzuwen39 EuGH, Urt. v. 23.4.2009 – C-460/07, ECLI:EU:C:2009:254 – Puffer, UR 2009, 410, Rz. 45. 40 EuGH, Urt. v. 12.2.2009 – C-515/07, ECLI:EU:C:2009:88 – VNLTO, UR 2009, 199. 41 S. oben V.3.b).

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den und bei einer Minderung ebenso wie bei einer Erhöhung des unternehmerischen Verwendungsanteils von einer Vorsteuerberichtigung auszugehen. Kommt der gewillkürten Zuordnung keine vorsteuerabzugsbegründende Wirkung zu, sollte die Zuordnung auch nicht Voraussetzung für die Vorsteuerberichtigung sein.42 Der EuGH hat allerdings bereits für den Erwerb als Nichtunternehmer bei einer juristischen Person des öffentlichen Rechts die Vorsteuerberichtigung aufgrund einer nachfolgenden Unternehmensverwendung verneint.43 6. Einlagenentlastung durch Vorsteuerberichtigung a) Erfordernis einer Entlastung Soll der Unternehmer durch die Umsatzsteuer bei seiner Tätigkeit nicht belastet werden, bedarf es eines Ausgleichs für die Steuer auch dann, wenn ein ursprünglich ausschließlich privat oder anderweitig außerunternehmerisch erworbener Gegenstand später für das Unternehmen verwendet wird. Dabei bestehen auch bei Fehlen ausdrücklicher Regelungen Entlastungsmöglichkeiten, wie das Beispiel der sog. Restmehrwertsteuer zeigt. Hier hielt es der EuGH44 vor der Schaffung des Binnenmarkts für erforderlich, Endverbraucher zu entlasten, um eine Doppelbesteuerung im Zusammenhang mit der damals im Warenverkehr zwischen den Mitgliedstaaten noch erhobenen EUSt zu vermeiden. Dabei ging es um Endverbraucher, die Gegenstände steuerpflichtig in einem Mitgliedstaat erwarben und später nach zeitweiser Nutzung in einen anderen Mitgliedstaat verbrachten. Eine Doppelbelastung ergab sich hier daraus, dass im Zeitpunkt des Verbringens in dem nunmehr gebrauchten Gegenstand eine aus dem ursprünglichen Erwerb abgeleitete Restmehrwertsteuer noch enthalten war, zu der die mit dem Verbringen verbundene EUSt des Bestimmungsmitgliedstaats hinzutrat. Der EuGH sah hier eine steuerliche Entlastung im Umfang der Restmehrwertsteuer als erforderlich an, um eine Doppelbelastung zu vermeiden.

42 Anders die Finanzverwaltung zu § 15 Abs. 1b UStG in Abschn. 15a.1 Abs. 6 und 7 UStAE; die Finanzverwaltung lässt allerdings eine Vorsteuerberichtigung zugunsten des Unternehmers aus Billigkeitsgründen zu. 43 EuGH, Urt. v. 2.6.2005 – C-378/02, ECLI:EU:C:2005:335 – Waterschap Zeeuws Vlaanderen, UR 2005, 437; allerdings erscheint fraglich, ob es hier tatsächlich zu einer späteren Unternehmensbegründung gekommen ist – s. auch oben IV.2. 44 EuGH, Urt. v. 5.5.1982 – 15/81, ECLI:EU:C:1982:135 – Schul, NJW 1983, 1252: Danach war Art. 2 Nr. 2 der 6. RL, nach dem die Einfuhr von Gegenständen der Mehrwertsteuer unterliegt, dahingehend auszulegen, dass anlässlich der Erhebung der Mehrwertsteuer bei der Einfuhr von durch eine Privatperson gelieferten Waren aus einem anderen Mitgliedstaat, wenn eine solche Steuer bei der Lieferung von gleichartigen Waren durch eine Privatperson innerhalb des Einfuhrmitgliedstaats nicht erhoben wird, den Restbetrag der im Ausfuhrmitgliedstaat entrichteten Mehrwertsteuer zu berücksichtigen, der in dem Wert der Ware im Zeitpunkt ihrer Einfuhr noch enthalten ist.

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Entnahme, Einlage und Berichtigung

b) Vorsteuerberichtigung Folgt man der EuGH-Rechtsprechung45 zum Erfordernis des Leistungsbezugs als Unternehmer und zur Zuordnungsentscheidung nicht, sind die Voraussetzungen einer Vorsteuerberichtigung bei Einlagen problemlos zu bejahen. Wird ein Gegenstand zunächst ausschließlich für private Zwecke erworben, geschieht dies ohne Vorsteuerabzug, während die spätere Verwendung für das Unternehmen bei entsprechender Umsatztätigkeit zum Vorsteuerabzug berechtigt. Erfolgt diese Nutzungsänderung noch während des Berichtigungszeitraums, liegt die für die Berichtigung erforderliche Änderung der für den Vorsteuerabzug beachtlichen Faktoren (Verhältnisse) vor. Ob dabei beim Erwerb eine ausschließliche Privatverwendung oder eine Nutzung für andere außerunternehmerische Zwecke vorlag, ist unerheblich. Als fraglich könnte man es ansehen, ob es für die Vorsteuerberichtigung darauf ankommt, dass der Einlegende im Erwerbszeitpunkt über eine Unternehmereigenschaft (in einem anderen Tätigkeitsbereich) verfügte. Ist vorrangig auf die steuerliche Entlastung abzustellen, kommt eine derartige Differenzierung allerdings nicht in Betracht. Auch die erst nachträgliche Begründung der Unternehmereigenschaft verbunden mit einer nachträglichen Verwendung für besteuerte Umsätze führt dann anders als beim Vorsteuerabzug zu berücksichtigender Faktor zu einer Vorsteuerberichtigung. Erforderlich für die Berichtigung ist allerdings, dass die formellen Voraussetzungen des Vorsteuerabzugs erfüllt sind.46 Geht man davon aus, dass die Ausübung des Vorsteuerabzugs eine wie auch immer geartete Rechnung voraussetzt, kann eine Vorsteuerberichtigung aufgrund einer Einlage infolge einer Veränderungsänderung aus dem privaten in den unternehmerischen Bereich nur in Betracht kommen, wenn – zumindest zum Zeitpunkt dieser Einlage – die für die Ausübung des Abzugsrechts erforderliche Rechnung vorliegt. Ansonsten wäre die Berichtigung aufgrund einer Einlage gegenüber dem Vorsteuerabzug des Unternehmers bei einer bereits beim Erwerb verfolgten unternehmerischen Zielsetzung privilegiert. c) Kein Widerspruch zur Beschränkung der Berichtigung auf rechtmäßigen Vorsteuerabzug aa) EuGH-Rechtsprechung Nach der EuGH-Rechtsprechung ist der Berichtigungsmechanismus nur anwendbar, wenn ein Recht auf Vorsteuerabzug besteht.47 Hieraus leitet der EuGH ab, dass die 45 S. oben V.2.b) und V.4. 46 Zutreffend Abschn. 15a.1 Abs.  5 UStAE für die Berichtigung von einer steuerfreien zur steuerpflichtigen Verwendung. 47 EuGH, Urt. v. 11.4.2018  – C-532/16, ECLI:EU:C:2018:228  – SEB bankas, UR 2018, 526, Rz. 42; ebenso zuvor EuGH, Urt. v. 30.3.2006 – C-184/04, ECLI:EU:C:2006:214 – Uuden­ kaupungin kaupunki, UR 2006, 530, Rz. 37.

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Berichtigung nach Art. 187 MwStSystRL nicht anwendbar ist, wenn der Abzug ursprünglich ohne jedes Abzugsrecht vorgenommen wurde. So ist es z.B. bei der Geltendmachung eines Vorsteuerabzugs aus einer steuerfreien Lieferung.48 bb) Verwendungsänderung kein unrechtmäßiger Vorsteuerabzug Aus der Rechtsprechung des EuGH, nach der die Berichtigung bei Investitionsgütern nicht die Korrektur eines zu Unrecht in Anspruch genommenen Vorsteuerabzugs ermöglicht, folgt für den hier zu beurteilenden Zusammenhang nichts. Zwar besteht bei einer späteren Einlage zum Zeitpunkt des Leistungsbezugs unstreitig kein Recht auf Vorsteuerabzug. Dies wird hier aber auch nicht geltend gemacht. Bei der Einlage geht es vielmehr darum, ob die spätere Nutzungsänderung zu einer Berichtigung führt. Ebendieser Fallkonstellation dient die Berichtigung bei Investitionsgütern, die nach Art. 187 Abs. 2 Unterabs. 2 MwStSystRL entsprechend den Änderungen des Rechts auf Vorsteuerabzug erfolgt, die nach dem Erwerb, der Herstellung oder der erstmaligen Verwendung dieser Güter als nachträgliche Faktorenänderung i.S.v. Art. 185 Abs. 1 MwStSystRL eingetreten sind.49

VI. Änderung der EuGH-Rechtsprechung? Es ist wahrscheinlich ein aussichtsloses Unterfangen, den EuGH von einer einmal getroffenen Beurteilung abzubringen und zu einer Neubewertung unter Aufgabe bisheriger Sichtweisen zu bewegen. Allerdings bietet sich dem EuGH im Hinblick auf die gesetzgeberische Missbilligung seiner Rechtsprechung zur abzugsbegründenden Wirkung der privaten Mitveranlassung und zur Zuordnungsentscheidung durch Art. 168a MwStSystRL die Chance zu einer grundsätzlichen Kehrtwende. Zwar könnte der EuGH hierin auch eine Anerkennung seiner Rechtsprechung dem Grunde nach erblicken, der zugleich aber für die private Mitverwendung von Grundstücken zwingend und bei der privaten Mitverwendung anderer Gegenstände nach dem Ermessen der Mitgliedstaaten die Bedeutung entzogen wird. Erfreulicher wäre es demgegenüber, wenn der EuGH diesen Akt rechtsprechungsüberholender Gesetzgebung zum Anlass nehmen würde, über die abzugsbegründende Wirkung der Verwendungsentnahme, das Erfordernis eines Handelns als Unternehmer beim Leistungsbezug und die gewillkürte Zuordnungsentscheidung noch einmal neu nachzudenken. Die eigene Einschränkung dieser Rechtsprechung durch das Urteil VNLTO50 und die gesetzgeberische Korrektur zwingt derzeit zu einer Fallgruppenbildung, die in ihrer 48 EuGH, Urt. v. 11.4.2018  – C-532/16, ECLI:EU:C:2018:228  – SEB bankas, UR 2018, 526, Rz. 43. 49 EuGH, Urt. v. 11.4.2018  – C-532/16, ECLI:EU:C:2018:228  – SEB bankas, UR 2018, 526, Rz. 41. 50 EuGH, Urt. v. 12.2.2009 – C-515/07, ECLI:EU:C:2009:88 – VNLTO, UR 2009, 199.

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Entnahme, Einlage und Berichtigung

Komplexität angesichts der Schlichtheit der Sachverhalte, um die es geht, völlig unangebracht ist. Auch der EuGH scheint sich im Dickicht seiner Rechtsprechung zu verheddern.51 Im Interesse eines einfachen und effektiven Gesetzesvollzugs sollte sich der EuGH bei sich bietender Gelegenheit von seiner bisherigen Rechtsprechung in diesem Bereich verabschieden.52

VII. Ergebnis Die häufig segensreiche Tätigkeit des EuGH bereitet im Bereich der privaten und außerunternehmerischen Mitverwendung von Unternehmensgegenständen Verdruss. Für die vom EuGH hier als Steuerstundungsmodell ermöglichte vorübergehende Inanspruchnahme des Vorsteuerabzugs besteht keine sachliche Rechtfertigung. Sie beruht darauf, dass der EuGH zu Unrecht Vorsteuerabzug und Vorsteuerberichtigung von einem gegenüber der Leistungsverwendung gesonderten Handeln als Unternehmer beim Leistungsbezug abhängig macht, die private Mitwendung eines Unternehmensgegenstandes als besteuerten Umsatz für Zwecke des Vorsteuerabzugs ansieht und eine gewillkürte Zuordnungsentscheidung ermöglicht. Stattdessen ist der Vorsteuerabzug aus Leistungsbezügen nur im Umfang der Verwendung für entgeltliche Umsatztätigkeiten zu gewähren. Verwendungsänderungen zwischen einerseits dem unternehmerischen und andererseits dem privaten oder außerunternehmerischen Bereich sind im Rahmen der Vorsteuerberichtigung erfassen. Dies gilt auch für Einlagen. Vielleicht braucht es keine weiteren einhundert Jahre bis sich der EuGH diesen Erkenntnissen anschließen kann.

51 Vgl. z.B. EuGH, Beschl. v. 5.6.2014 – C-500/13, Gmina Miedzyzdroje, ECLI:EU:C:2014:1750. Hier ging es um eine Gemeinde, die eine Sporthalle zunächst wohl nichtunternehmerisch für den Grundschulsport verwenden wollte. Während der Errichtung änderte sich die beabsichtige Nutzung dahingehend, die Halle an einen Betreiber zu verpachten. Der EuGH bejahte hier die Vorsteuerberichtigung für Investitionsgüter. Nach seiner Rechtsprechung hätte es vielleicht einen Vorsteuerabzug geben dürfen, nicht aber eine Vorsteuerberichtigung ohne vorherigen Vorsteuerabzug. 52 Eine Vorsteuerberichtigung aufgrund einer Einlage befürwortet die Generalanwältin Kokott in ihren Schlussanträgen in der Rechtssache C-140/17, Gmina Ryjewo v. 19.4.2018, ECLI:EU:C:2018:273: Danach ist eine Gemeinde zu einer Vorsteuerkorrektur auf ihre Investitionsausgaben auch dann berechtigt, wenn das hergestellte oder erworbene Investitionsgut anfangs für Zwecke genutzt wurde, die nicht der Besteuerung unterliegen, aber sich die Art der Nutzung des Investitionsguts innerhalb des Berichtigungszeitraumes geändert hat und die Gemeinde es nunmehr auch für steuerpflichtige Umsätze nutzt. Dabei soll es nicht von Bedeutung sein, ob bereits im Zeitpunkt der Herstellung oder des Erwerbs eine Absicht zum Ausdruck gebracht wurde, diese künftig für steuerpflichtige Umsätze nutzen zu wollen. Zur Begründung verweist die Generalanwältin insbesondere auf einen neuen Wortlaut in Art. 187 Abs. 2 Unterabs. 2 MwStSystRL.

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Das Handeln eines Steuerpflichtigen als solchem Zur Steuerbarkeit der Hingabe eines Gegenstands an Zahlungs statt zur Tilgung von Steuerschulden Inhaltsübersicht I. Einführung II. Steuerbarkeit der Hingabe eines Gegenstands an Zahlungs statt zur Tilgung ­einer Umsatzsteuerschuld? 1. Allgemeines 2. Lieferung gegen Entgelt a) Allgemeines b) Zum Begriff des Rechtsverhältnisses 3. Das Handeln eines Steuerpflichtigen als solchem bzw. als Unternehmer im Rahmen seines Unternehmens a) Allgemeines

b) Bezahlung von Steuerschulden als wirtschaftliche Tätigkeit? c) Exkurs zur finanzverfassungsrecht­ lichen Einordnung des § 224a AO d) Ausnahme aufgrund der Nähe zur steuerpflichtigen Haupttätigkeit? e) Bestätigung durch den Charakter der Mehrwertsteuer f) Gefahr der Bevorteilung des Staates als „Konsument“? III. Zusammenfassung

I. Einführung Dieser Festschriftbeitrag anlässlich des 100. Geburtstags der Umsatzsteuer befasst sich mit einer auf den ersten Blick etwas merkwürdigen Fragestellung: Ist die Hingabe von Gegenständen an Zahlungs statt zur Begleichung von Steuerschulden ein umsatzsteuerpflichtiger Umsatz, wenn der Steuerschuldner zugleich auch ein Steuerpflichtiger im Sinne des Mehrwertsteuerrechts bzw. Unternehmer im Sinne des Umsatzsteuergesetzes ist? Diese Fragestellung basiert auf einem Vorabentscheidungsersuchen aus Polen, zu welchem die deutsche Generalanwältin Kokott Schlussanträge gestellt1 und über das der Europäische Gerichtshof mittlerweile auch schon entschieden2 hat. In dem zugrundeliegenden polnischen Ausgangsverfahren hatte eine Gesellschaft von einer im polnischen Steuerschuldrecht eingeräumten Möglichkeit zur Begleichung von Steuerrückständen durch Naturalien Gebrauch gemacht, indem sie das Eigentum an einem Grundstück auf den Staat übertragen hat. Allerdings war diese Gesellschaft u. a. * Der Beitrag ist nicht in dienstlicher Eigenschaft verfasst und gibt selbstverständlich allein die wissenschaftliche Ansicht des Verfassers als Hochschullehrer wieder. 1 Generalanwältin Kokott v. 16.2.2017  – C-36/16, ECLI:EU:C:2017:134  – Posnania Investment. 2 EuGH v. 11.5.2017 – C-36/16, ECLI:EU:C:2017:361 – Posnania Investment, UR 2017, 461.

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auch als Immobilienhändlerin tätig. Wäre der Steuerpflichtige im Buchhandel tätig und hätte ein (privat) geerbtes Grundstück hingegeben, dann hätte die polnische Finanzverwaltung diesen Fall wohl gar nicht problematisiert. Der Leser könnte nun anmerken, dass dies ja offenbar nur eine den Besonderheiten des polnischen Rechts geschuldete Fragestellung sei, die insbesondere für das deutsche Umsatzsteuerrecht keinerlei Relevanz aufweise. Dem ist allerdings nicht so.3 Auch das deutsche Verfahrensrecht kennt seit einiger Zeit die Möglichkeit, seine Steuern (genauer: die Erbschaft- und Vermögensteuer) gem. § 224a AO durch Naturalien zu bezahlen. Diese Vorschrift (in meinen Vorlesungen zum allgemeinen Steuerschuldrecht habe ich sie gern auch als Lex Thurn und Taxis bezeichnet) regelt, dass für den Fall, dass ein Steuerpflichtiger Erbschafts- oder Vermögenssteuer schuldet, das Land, dem das Steueraufkommen zusteht, durch öffentlich-rechtlichen Vertrag zulassen kann, dass an Zahlungs statt das Eigentum an Kunstgegenständen, Kunstsammlungen, wissenschaftlichen Sammlungen, Bibliotheken, Handschriften und Archiven übertragen wird, wenn an deren Erwerb wegen ihrer Bedeutung für Kunst, Geschichte oder Wissenschaft ein öffentliches Interesse besteht. Der Steuerpflichtige hat dabei gem. § 224a Abs.  2 Satz 2 AO das Vertragsangebot an die örtlich zuständige Finanzbehörde zu richten. Das Angebot wird angenommen durch die oberste Finanzbehörde des Landes. Der Vertrag wird aber erst wirksam mit der Zustimmung der für kulturelle Angelegenheiten zuständigen obersten Landesbehörde. Kommt ein Vertrag zustande, erlischt nach § 224a Abs. 3 AO die Steuerschuld in der im Vertrag vereinbarten Höhe an dem Tag der Übertragung des Eigentums an den Steuergläubiger (d.h. das Land). Folglich stellt sich die oben genannte Frage, wenn ein Unternehmer (z.B. ein Buchhändler) eine Erbschaft erhält und die fällige Erbschaftsteuer mit einem historischen Werk (z.B. einer alten Bibelabschrift) bezahlt. Schuldet er dann für diesen Vorgang (Bezahlung der Erbschaftsteuer durch Hingabe der Bibel an Zahlungs statt) nunmehr Umsatzsteuer? Ändert sich daran etwas, wenn der genannte Buchhändler statt einer Bibel einen geerbten historischen Ring an Zahlungs statt hingeben würde? Die Frage, ob ein Vorgang der Steuerbegleichung erneut besteuert werden kann, mutet auf den ersten Blick bereits eigentümlich an.4 Auch im Hinblick auf den indirekten Charakter der Umsatzsteuer, bei der die Steuerlast auf den Empfänger  – hier den Staat  – übergewälzt werden soll, erscheint die Annahme einer Umsatzsteuerpflicht merkwürdig.

3 Ebenso auch Reiß, UVR 2017, 205 ff. 4 A.A. offenbar Reiß, UVR 2017, 205 (209), der von einer Einladung zur Gestaltung einer „Mehrwertsteuerersparnis“ für die Öffentliche Hand spricht.

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Das Handeln eines Steuerpflichtigen als solchem

II. Steuerbarkeit der Hingabe eines Gegenstands an Zahlungs statt zur Tilgung einer Umsatzsteuerschuld? 1. Allgemeines Damit eine Umsatzsteuerpflicht angenommen werden kann, müsste zunächst ein steuerbarer Umsatz vorliegen. Sowohl Art. 2 Abs. 1 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie als auch § 1 Abs. 1 Nr. 1 UStG enthalten für die Steuerentstehung fünf ­Voraussetzungen. Es muss eine Lieferung oder Dienstleistung/sonstige Leistung (1) vorliegen, die ein Steuerpflichtiger/Unternehmer (2) als solcher/im Rahmen seines Unternehmens (3) gegen Entgelt (4) im Gebiet eines Mitgliedstaats/im Inland (5) ausführt. Von diesen Voraussetzungen liegen drei unstreitig vor. Die Übertragung eines Ge­ genstandes (§  224a AO spricht ausdrücklich von der Übertragung des Eigentums an bestimmten Gegenständen) ist eine Lieferung. An der Verschaffung der Verfügungsmacht an dem hingegeben Gegenstand zu Gunsten des Landes, dem das Steueraufkommen zusteht, bestehen keine Zweifel. Wenn der Erbe oder Beschenkte ein Unternehmer (im Beispiel ein Buchhändler, in der Entscheidung des EuGH ein Immobilienhändler) war, dann erfolgt diese Lieferung auch durch einen Steuerpflichtigen/Unternehmer und im Gebiet eines Mitgliedstaats (im Inland). Die Beantwortung der Vorlagefrage setzt sowohl nach Art.  2 Abs.  1 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie als auch nach § 1 Abs. 1 Nr. 1 UStG daher die Prüfung vo­ raus, ob in diesem Fall eine Lieferung „gegen Entgelt“ angenommen werden kann (dazu unter 2.), bei der der Steuerpflichtige „als solcher“ bzw. der Unternehmer „im Rahmen seines Unternehmens“ gehandelt hat (dazu unter 3.). 2. Lieferung gegen Entgelt a) Allgemeines Zu fragen ist daher zunächst, ob eine Lieferung gegen Entgelt vorliegt. Die dafür in der Praxis häufig anzutreffende Verwendung des Begriffes „Leistungsaustausch“ ist bei genauer Betrachtung verfehlt, soweit – wie in der Regel – die „Gegenleistung“ in Geld entrichtet wird, da die Zahlung von Geld umsatzsteuerrechtlich gerade keine Leistung ist, so dass streng genommen nur dann, wenn die „Gegenleistung“ in Gestalt einer Lieferung oder sonstigen Leistung erbracht wird, von einem Leistungsaustausch gesprochen werden dürfte. Der Begriff wird jedoch allgemein in Anlehnung an das Zivilrecht als (unpräzises) Schlagwort verwendet. Gemeint ist damit die umgangssprachliche Bezeichnung des Entgelts als Gegenleistung. Die Überlassung eines Gegenstandes im Rahmen einer Steuerschuldtilgung nach Maßgabe eines öffentlich-rechtlichen Vertrages erfolgt m.E. zweifellos5 gegen Entgelt (als Gegenleistung) im Sinne von Art. 2 Abs. 1 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie bzw. § 1 Abs. 1 Nr. 1 UStG. Im Regelfall entspricht das Merkmal dem zivilrechtlichen 5 Insofern gleicher Ansicht Reiß, UVR 2017, 205 ff.; unklar Grube in Anm. EuGH v. 11.5.2017 – C 36/16, ECLI:EU:C:2017:361 – Posnania Investment, MwStR 2017, 459 (461) – insbesondere der Hinweis auf § 27 Abs. 19 UStG erschließt sich mir in diesem Zusammenhang nicht.

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Synallagma, wenn sich also zwei Leistungen im gegenseitigen Vertrag wechselbezüglich gegenüberstehen, d. h. ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen der Leistung und einer empfangenen Leistung (Zahlung) besteht. Bei einem gegenseitigen öffentlich-rechtlichen Vertrag scheint mir dies nicht verneint werden zu können. Da der Erlass einer Geldverbindlichkeit im Zuge einer Lieferung nicht anders als die Begründung einer Geldforderung aufgrund einer Lieferung behandelt werden kann, liegt ein Entgelt im Grundsatz vor. Fraglich könnte allenfalls sein, ob der Lieferung und dem Erlass der Steuerschulden ein gegenseitiges Rechtsverhältnis zugrunde liegt. Ein solches hat der Gerichtshof in der Tat in seinen bisherigen Entscheidungen für notwendig erachtet. Eine Lieferung von Gegenständen werde nur dann im Sinne von Art. 2 Abs. 1 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie „gegen Entgelt“ erbracht, wenn zwischen dem Lieferer und dem Leistungsempfänger ein Rechtsverhältnis besteht, in dessen Rahmen gegenseitige Leistungen ausgetauscht werden, wobei die vom Lieferer empfangene Vergütung den tatsächlichen Gegenwert für den an den Leistungsempfänger gelieferten Gegenstand bilde6. Dass der Lieferung des Grundstücks und dem Erlöschen der Steuerschulden im entschiedenen polnischen Fall ein Rechtsverhältnis zugrunde liegt, folgte m.E. schon aus Art. 66 § 1 der polnischen Abgabenordnung. Dieser normiert ein gesetzliches Rechtsverhältnis. Es wird auch durch den in Art. 66 § 2 der polnischen Abgabenordnung vorgesehenen öffentlich-rechtlichen Vertrag bestätigt. Gleiches gilt für §  224a AO. Auch dieser geht von einem gegenseitigen öffentlich-rechtlichen Vertrag aus. Fraglich ist allenfalls, ob bei einem gesetzlichen Erlöschen der Steuerschuld (Art. 66 § 4 der polnischen Abgabenordnung bzw. §  224a Abs.  3 AO) aufgrund der Hingabe eines Gegenstands an Zahlungs statt tatsächlich ein gegenseitiges oder nur ein einseitiges Rechtsverhältnis vorliegt. Letztendlich kann aber auch dies offenbleiben. b) Zum Begriff des Rechtsverhältnisses Mittlerweile hat sich eigentlich überall das zutreffende Verständnis durchgesetzt, dass die Umsatzsteuer eine (allgemeine) Verbrauchsteuer ist.7 Auch der EuGH versteht die Mehrwertsteuer zutreffend als eine Verbrauchsteuer.8 6 EuGH v. 21.11.2013  – C-494/12, ECLI: EU:C:2013:758  – Dixons Retail, MwStR 2013, 774 Rz. 32; EuGH v. 20.6.2013 – C-653/11, ECLI:EU:C:2013:409 – Newey, MwStR 2013, 373 Rz.40; EuGH v. 23.3.2006 – C‑210/04, ECLI:EU:C:2006:196 – FCE Bank, UR 2006, 331 Rz. 34; EuGH v. 17.9.2002 – C-498/99, ECLI:EU:C:2002:494 – Town & County Factors, UR 2002, 510 Rz. 18 und EuGH v. 3.3.1994 – C- v 16/93, ECLI:EU:C:1994:80 – Tolsma, NJW 1994, 1941 Rz. 14. 7 EuGH v. 11.10.2007 – C-283/06, ECLI:EU:C:2007:598 – Kögáz, UR 2007, 906 (909); Reiß in Tipke/Lang, Steuerrecht, 20. Aufl. 2010, § 14 Rz. 1; Stadie in Rau/Dürrwächter, Einf. UStG Rz.  141  f. (März 2017); Kirchhof, DStR 2008, 1 (3); Englisch in Tipke/Lang, Steuerrecht, 22. Aufl. 2015, § 17 Rz. 10 ff.; ähnlich nunmehr der BFH v. 7.7.2005 – V R 34/03, BStBl. II 2007, 66 = UR 2005, 663 m. Anm. Hummel. 8 EuGH v. 24.10.1996 – C 317/94, ECLI:EU:C:1996:400 – Elida Gibbs, UR 1997, 265 Rz. 19; EuGH v. 7.11.2013  – C-249/12 u.a., ECLI:EU:C:2013:722  – Tulică und Plavoşin, MwStR 2014, 58 Rz. 34; EuGH v. 9.12.2011 – C 69/11, ECLI:EU:C:2011:825 – Connoisseur Belgium, Rz. 21 (nicht veröffentlicht).

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Die Anknüpfung an eine Leistung als einem typischen Verkehrsakt ist insofern nur das technische Mittel, um den (möglichen) Verbrauch von Gütern und Dienstleistungen nach Maßgabe des dafür aufgewendeten Vermögens zu besteuern. Der Gedanke der Überwälzung der Umsatzsteuer auf den Endverbraucher wird in §§ 10, 15 und § 29 UStG besonders deutlich und durch die Tatsache, dass konkurrierende Unternehmer mit demselben „Nachteil“ belastet sind, gewährleistet.9 Im Ergebnis sollen daher (nur) die Aufwendungen der Konsumenten für Verbrauchs- und Gebrauchsgüter jeder Art, die ihnen einen Nutzen bringen, materiell besteuert werden.10 Damit soll die Leistungsfähigkeit des Leistungsempfängers (Verbrauchers) besteuert werden, die sich in der Aufwendung von Vermögen zur Verschaffung eines verbrauchbaren Nutzens zeigt.11 Bei präziser Betrachtung wird die Umsatzsteuer sogar als allgemeine Aufwandsteuer zu beurteilen sein, da das Entgelt aufgewendet werden muss. Mithin stellt der Aufwand des Leistungsempfängers, den der Leistende einsammelt, die maßgebliche Größe für die Besteuerung des Konsumenten (vgl. § 10 Abs. 1 S. 2 UStG) dar.12 Bei konsequenter Berücksichtigung dieses Charakters kann dann aber das Vorliegen oder Nichtvorliegen eines Rechtsverhältnisses keine Relevanz für die Annahme eines steuerbaren Umsatzes haben. Aus verbrauchsteuerrechtlicher Sicht ist es völlig irrelevant, ob ein Konsumgut auf Grundlage eines Rechtsverhältnisses oder außerhalb ­eines solchen erworben wird. Entscheidend ist allein, ob für ein Konsumgut Geld aufgewendet wird. Da dies auch der Fall ist, wenn ein Geschäftsunfähiger einen Gegenstand kauft oder ein Dieb die von ihm gestohlene und verzehrte Ware „erstatten“ Anders sieht es derzeit wohl lediglich das Bundessozialgericht, welches für die Frage, ob auch der – offenbar bereits vereinnahmte – Umsatzsteueranteil als anrechenbares Einkommen zu berücksichtigen sei, meint, dass dies bei der Umsatzsteuer als einer Verkehrsteuer der Fall sei (BSG v. 22.8.2013 – B 14 AS 1/13 R, juris). Von diesem „Ausreißer“ abgesehen, dürfte aber Einigkeit bestehen, dass die Umsatzsteuer materiell eine allgemeine Verbrauchsteuer darstellt. 9 Dazu näher Stadie in Rau/Dürrwächter, Einf. UStG Rz. 129 ff. (März 2017). 10 Tipke, StuW 1992, 103 (107  f.); Söhn, StuW 1975, 1 (17); Tiedtke, UR 2005, 237 (238); Ruppe/­Achatz, öUStG, 4. Aufl. 2011, Einf. Rz. 35; Stadie, Vorsteuerabzug, 1989, S. 302; Stadie, UR 2013, 158 (167); ebenso: Tehler, UR 2006, 193 (197); D. Hummel, UR 2006, 614 (616); Englisch in DStJG 32 (2009), S. 165 (170 f.). 11 EuGH v. 11.10.2007 – C-283/06, ECLI:EU:C:2007:598 – Kögáz, UR 2007, 906 (909); EuGH v. 18.12.1997 – C-384/95, ECLI:EU:C:1997:627 – Landboden-Agrardienste GmbH & Co. KG, UR 1998, 102 Rz.  23; Stadie, UR 2009, 745 (746); Stadie in Rau/Dürrwächter, Einf. UStG Rz. 143 (März 2017); ähnlich Englisch in Tipke/Lang, Steuerrecht, 22. Aufl. 2015, § 17 Rz. 11 f. 12 Nicht nachvollziehbar ist daher die Auffassung der Deutschen Kunsthandelsverbände, wonach ein Kunstgegenstand deshalb nicht der Umsatzsteuer als allgemeine Verbrauchsteuer unterfallen dürfe, weil der Gegenstand nicht verbrauchbar sei. Vgl. die Stellungnahme der Deutschen Kunsthandelsverbände zur Konsultation der EU zum Thema „Grünbuch zur Zukunft der Mehrwertsteuer“  – abrufbar unter: http://www.bvdg.de/sites/default/files/ Stellungnahme.EU-Gruenbuch.Konsultation.Mehrwertsteuer%202011.pdf (letzter Zugriff am 9.1.2018).

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muss, ist es unerheblich, ob ein wirksames, vertragliches, gesetzliches, einseitiges, zweiseitiges oder gar kein Rechtsverhältnis vorliegt. Wenn demgegenüber tatsächlich ein Rechtsverhältnis für notwendig erachtet wird, dann muss der Begriff des Rechtsverhältnisses sehr weit verstanden werden. Weder kann es auf die zivilrechtliche Gültigkeit noch auf die zivilrechtliche oder öffentlich-rechtliche Grundlage noch auf die Gegenseitigkeit dieser Grundlage ankommen. Entscheidend ist allein, ob der Empfänger für einen verbrauchbaren Vorteil (eine Lieferung oder Dienstleistung), der ihm durch einen Steuerpflichtigen zugewendet wird, Vermögen aufwendet13. Maßgebend ist mithin die Gegenseitigkeit zwischen dem Aufwand und dem verbrauchbaren Vorteil und nicht die Gegenseitigkeit der ziviloder öffentlich-rechtlichen Grundlagen. Bei diesem verbrauchsteuerrechtlich gebotenen weiten Verständnis eines entgeltlichen Umsatzes ist eine Lieferung gegen Entgelt hier zu bejahen. Dies gilt auch dann, wenn die Steuerschulden kraft Gesetzes mit Übertragung des Eigentums an dem Gegenstand (so in Polen nach Art. 66 § 4 der polnischen Abgabenordnung) bzw. mit Zustandekommen des öffentlich-rechtlichen Übertragungsvertrages (in Deutschland nach § 224a Abs. 3 AO) erlöschen. Der Gerichtshof sah dies im oben angesprochenen Vorabentscheidungsersuchen jedoch anders.14 Er meinte, dass zwar ein Rechtsverhältnis vorlag, die Steuerzahlungsverpflichtung des Unternehmers aber nur einseitiger Natur sei. Diese Aussage überrascht doch etwas, weil auch in Polen die Hingabe eines Gegenstandes an Zahlungs statt durch einen zweiseitigen öffentlich-rechtlichen Vertrag geregelt ist. Darüber hinaus verwundert die doch recht knapp gehaltene Begründung des Gerichtshofs. Sie beschränkt sich nämlich auf nur eine Randnummer und auch dort eigentlich nur auf den letzten Satz. So meint der EuGH in der angesprochenen Randnummer seines Urteils15: „Eine Steuer stellt nämlich eine obligatorische Abgabe dar, die hoheitlich vom Staat auf die Ressourcen der seiner Steuerhoheit unterliegenden Personen erhoben wird. Sie ist dazu bestimmt, über den öffentlichen Haushalt für im Allgemeininteresse liegende Dienste verwendet zu werden. Eine solche Abgabe führt unabhängig davon, ob sie auf einen Geldbetrag oder, wie im vorliegenden Fall, auf einen körperlichen Gegenstand erhoben wird, zu keiner Leistung der öffentlichen Hand und folglich auch zu keiner Gegenleistung des Steuerpflichtigen.“

Dies ist alles wenig überzeugend, denn es geht nicht darum, ob die öffentliche Hand eine Leistung erbringt. Die öffentliche Hand erlässt nur eine Verbindlichkeit und der Erlass einer Verbindlichkeit ist genau das Gegenteil von einer Leistung im Sinne des Mehrwertsteuerrechts. Auch der Schluss, weil keine Leistung der öffentlichen Hand 13 Auch das nach Erfüllung des Bewirtungsvertrags einseitig und freiwillig gezahlte Trinkgeld in einem Restaurant stellt daher ein Entgelt für eine Dienstleistung dar. 14 Gewohnt kritisch dazu Reiß, UVR 2017, 205 (212 ff.) – „erscheint diese Schlussfolgerung verfehlt“. 15 EuGH v. 11.5.2017 – C-36/16, ECLI:EU:C:2017:361 – Posnania Investment, UR 2017, 461 Rz. 34.

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vorläge, läge auch keine Gegenleistung des Steuerpflichtigen vor, ist wenig verständlich, da der Steuerpflichtige gerade keine Gegenleistung, sondern mit der Hingabe des Gegenstandes eine Leistung erbracht hat. Diese recht rudimentäre Begründung des Gerichtshofs verwundert insbesondere, weil der EuGH bislang bei der Annahme eines Rechtsverhältnisses eher großzügig war und weil die Generalanwältin in ihren Schlussanträgen16 völlig zu Recht darauf hingewiesen hatte, dass die Problematik an einer ganz anderen Stelle (nämlich bei der  Frage, ob der Steuerpflichtige als solcher agiert, wenn er Steuern zahlt  – dazu unter 3. mehr) liegt. Offenbar wollte sich aber der Gerichtshof mit der letzteren Problematik nicht auseinandersetzten, denn mit der Verneinung eines gegenseitigen Rechtsverhältnisses kommt er auch zum zutreffenden Ergebnis und braucht damit dieses letzte Tatbestandsmerkmal  – bei genauer Lektüre stellt man fest, dass er dieses anders als die übrigen drei17 gerade nicht bejaht hatte – nicht mehr anzusprechen. Eventuell schien dem Gerichtshof dieser Weg auch nur deshalb als der vorzugswürdige, weil sich alle Beteiligten im Verfahren (insbesondere die Kommission und Polen) allein mit dem Vorliegen des Rechtsverhältnisses beschäftigt und ein Handeln als Steuerpflichtiger ohne weiteres unterstellt hatten. Aus Sicht eines Universitätsprofessors ist diese „dogmatische Unschärfe“ des Urteils sicherlich bedauerlich. Insbesondere besteht die Gefahr, dass diese Randziffer über die am Gerichtshof (schon aus übersetzungstechnischen Gründen nützliche) praktizierte Technik der Verwendung von Textbausteinen auch Eingang in andere Entscheidungsbegründungen findet. Bei aller Kritik an der Begründung ist aber auch festzuhalten, dass der Gerichtshof zum zutreffenden Ergebnis18 gelangt. Da seine Urteile  – und dies wird von vielen Steuerrechtlern in Deutschland übersehen – sich von Urteilen einer reinen Fachin­ stanz unterscheiden, da „nur“ eine Vorlagefrage beantwortet wird und nicht darüber entschieden wird, ob der angefochtene Steuerbescheid aufzuheben ist, ist es verständlich, wenn in den Entscheidungen des EuGH immer etwas mehr Wert auf das Ergebnis (Beantwortung der Frage) und manchmal etwas weniger auf die dogmatische Begründung gelegt wird. Auch diese Tatsache ist ein Argument dafür, nicht Aussagen in einzelnen Randnummern eines Urteils des Gerichtshofs isoliert und verallgemeinert als „die Aussage“ des EuGH zu betrachten und auf völlig unterschiedliche Konstellationen zu übertragen. Die rechtliche Begründung des Gerichtshofs ist meines Erachtens immer kontextabhängig und auf die Vorlagefrage bezogen zu verstehen.

16 Generalanwältin Kokott v. 16.2.2017  – C-36/16, ECLI:EU:C:2017:134  – Posnania Investment. 17 EuGH v. 11.5.2017 – C-36/16, ECLI:EU:C:2017:361 – Posnania Investment, UR 2017, 461 Rz. 29, 30 und 31. 18 Wohl ebenso Grube in Anm. EuGH v. 11.5.2017 – C 36/16, ECLI:EU:C:2017:361 – Posnania Investment, MwStR 2017, 459 (461); a.A.: Reiß, UVR 2017, 205 ff.

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Für ein besseres Verständnis und eine einheitliche Umsetzung der Rechtsprechung des Gerichtshofs innerhalb Europas dürfte allerdings eine überzeugende dogmatische Begründung auf lange Sicht hilfreicher sein. Es besteht aber nicht zu befürchten, dass der Gerichtshof dafür keine Gelegenheiten mehr haben wird, da die mehrwertsteuerrechtlichen Vorabentscheidungsersuchen derzeit einen beachtlichen Anteil aller am Gerichtshof anhängigen Vorabentscheidungsersuchen ausmachen. Dass sich dies in absehbarer Zeit ändern wird, ist dabei kaum zu erwarten. 3. Das Handeln eines Steuerpflichtigen als solchem bzw. als Unternehmer im Rahmen seines Unternehmens a) Allgemeines Anders als der Gerichtshof meinte und in Übereinstimmung mit der Generalanwältin19 ist daher primär zu klären, ob ein Mehrwertsteuerpflichtiger, der als Steuerschuldner seine Steuern nicht mit Geld, sondern mit Naturalien bezahlt, insoweit auch als Mehrwertsteuerpflichtiger, d. h. „als solcher“, im Sinne von Art.  2 Abs.  1 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie handelt. Nach der Terminologie des UStG müsste der Unternehmer dabei im Rahmen seines Unternehmens gehandelt haben. Ein Steuerpflichtiger handelt in dieser Eigenschaft („als solcher“) nur, wenn er Umsätze im Rahmen seiner steuerbaren Tätigkeit ausführt20. Wie sich des Weiteren aus Art. 9 der Mehrwertsteuerrichtlinie ergibt, genügt dafür allein eine entgeltliche Tätigkeit nicht. Vielmehr verlangt die Richtlinie eine gewisse Qualität, nämlich eine wirtschaftliche Tätigkeit im Moment des Handelns. Letztendlich trägt dieses Merkmal (ebenso im UStG die Formulierung: „im Rahmen seines Unternehmens“) dem Umstand Rechnung, dass ein Unternehmer – jedenfalls als natürliche Person – immer auch als Privatperson handeln kann.21 Der selbständige Rechtsanwalt, der im Wege einer Kleinanzeige seine Briefmarkensammlung auflöst, handelt sicherlich nicht im Rahmen seiner Tätigkeit als Rechtsanwalt. Er kann dennoch unternehmerisch (als Briefmarkenhändler) oder nichtunternehmerisch (als Privatverkäufer) handeln, was im Einzelfall zu entscheiden ist und nicht von der Höhe der Verkaufserlöse22 abhängen kann. Der Bundesfinanzhof hatte sich bereits mit ähnlichen Abgrenzungsfragen in Fällen beschäftigen müssen, bei denen ein Nichtunternehmer seine Briefmarkensammlung 19 Generalanwältin Kokott v. 16.2.2017 – C-36/16, ECLI:EU:C:2017:134 – Posnania Investment. 20 Vgl. in diesem Sinne EuGH v. 4.10.1995 – C-291/92, ECLI:EU:C:1995:304 – Armbrecht, UR 1995, 485 = NJW 1996, 41 Rz. 17 ff.; EuGH v. 29.4.2004 – C-77/01, ECLI:EU:C:2004:243 – EDM, UR 2004, 292 Rz. 66 und EuGH v.12.1.2006 – C-354/03, C-355/03 und C-484/03, ECLI:EU:C:2006:16 – Optigen u.a., UR 2006, 157 Rz. 42. 21 Zum insofern missverständlichen Urteil des EuGH (EuGH v. 13.6.2013  – C-62/12, ECLI:EU:C:2013:39 – Kostov, UR 2013, 626) siehe unter II.3.d. 22 Zutreffend EuGH v. 20.6.1996 – C-155/94, ECLI:EU:C:1996:243 – UR 1996, 423 Rz. 37; EuGH v. 15.9.2011 – C-180/10 und C-181/10, ECLI:EU:C:2011:589 – Slaby, UR 2012, 519 Rz. 37.

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von nicht unerheblichem Wert auflöste.23 Auch in dieser – umgedrehten – Konstellation stellt sich nämlich die Frage, ob die Eigenschaft als Nichtunternehmer auf diese Tätigkeit „abfärbt“. Im hier behandelten Fall stellt sich die Frage ob die Unternehmer­ eigenschaft (im Beispiel des Buchhändlers) auf die Hingabe des Gegenstandes an Zahlungs statt abfärbt oder ob nicht diese Tätigkeit isoliert zu untersuchen ist. Der BFH hat sich in der umgedrehten Konstellation völlig zu Recht für letzteres entschieden.24 Wenn das Tatbestandsmerkmal „im Rahmen des Unternehmens“ (bzw. „als solcher“) einen eigenständigen Sinn behalten soll, dann muss jede Leistung gegen Entgelt isoliert daraufhin untersucht werden. b) Bezahlung von Steuerschulden als wirtschaftliche Tätigkeit? Damit ist die hier entscheidende Frage, ob die Begleichung von Steuerschulden eine wirtschaftliche Tätigkeit des Steuerschuldners im Sinne des Art. 9 der Mehrwertsteuerrichtlinie bzw. eine unternehmerische Tätigkeit im Sinne des § 2 Abs. 1 UStG darstellt. Wenn dies verneint wird, wäre noch zu fragen, ob sich daran etwas ändert, wenn die Steuerschulden nicht mittels Geldes, sondern mittels Naturalien beglichen werden. Der Begriff „wirtschaftliche Tätigkeiten“ umfasst nach Art. 9 Abs. 1 Satz 2 der Mehrwertsteuerrichtlinie alle Tätigkeiten eines Erzeugers, Händlers oder Dienstleistenden und schließt nach der Rechtsprechung sämtliche Stadien der Erzeugung, des Handels und der Erbringung von Dienstleistungen ein.25 Art. 9 Abs. 1 Satz 2 der Mehrwertsteuerrichtlinie umschreibt die wirtschaftlichen Tätigkeiten mit Berufsbildern. Hierbei handelt es sich bei genauer Betrachtung um eine typologische Umschreibung, indem Typen (Berufsbilder) von Unternehmen aufgezählt werden.26 Im Gegensatz zu einem abstrakten Begriff ist eine typologische Um23 Vgl. BFH v. 29.6.1987 – X R 23/82, BStBl. II 1987, 744 = UR 1987, 321; BFH v. 16.7.1987 – X R 48/82, BStBl. II 1987, 752 = UR 1987, 324 m. Anm. Stadie (Münzsammlung); BFH v. 27.1.2011 – V R 21/09, BStBl. II 2011, 524 = UR 2011, 379 (Fahrzeugsammlung); A.A. jedoch BFH v. 24.11.1992 – V R 8/89, BStBl. II 1993, 379 = UR 1993, 196 – für die Veräußerung einer geerbten privaten Kunstsammlung; vgl. auch BFH v. 26.4.1979  – V R 46/72, BStBl. II 1979, 530 und BFH v. 18.7.1991 – V R 86/87, BStBl. II 1991, 776 = UR 1991, 288 – zur Veräußerung von sog. Jahreswagen durch Arbeitnehmer eines Automobilherstellers; BFH v. 9.9.1993 – V R 24/89, BStBl. II 1994, 57 = UR 1994, 119. 24 Vgl. BFH v. 29.6.1987 – X R 23/82, BStBl. II 1987, 744 = UR 1987, 321; BFH v. 16.7.1987 – X R 48/82, BStBl. II 1987, 752 = UR 1987, 324 m. Anm. Stadie; BFH v. 27.1.2011 – V R 21/09, BStBl. II 2011, 524 = UR 2011, 379; BFH v. 24.11.1992 – V R 8/89, BStBl. II 1993, 379 = UR 1993, 196; BFH v. 26.4.1979 – V R 46/72, BStBl. II 1979, 530; BFH v. 18.7.1991 – V R 86/87, BStBl. II 1991, 776 = UR 1991, 288. 25 Vgl. u.a. EuGH v. 4.12.1990 – C-186/89, ECLI:EU:C:1990:429 – Van Tiem, UR 1992, 141 Rz. 17; EuGH v. 26.6.2003 – C-305/01, ECLI:EU:C:2003:377 – MKG-Kraftfahrzeuge-Factoring, UR 2003, 399 Rz. 41 und EuGH v. 12.1.2006 – C-354/03, C-355/03 und C-484/03, ECLI:EU:C:2006:16 – Optigen u.a., UR 2006, 157 Rz. 41. 26 Ebenso Generalanwältin Kokott v. 16.2.2017 – C-36/16, ECLI:EU:C:2017:134 – Posnania Investment, Rz. 25.

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David Hummel

schreibung offener. Die Zugehörigkeit zum Typus muss nicht durch logisch-abstrakte Subsumtion, sondern kann nach dem Grad der Ähnlichkeit mit dem Urbild (Muster) bestimmt werden. Die für den Typus charakteristischen Merkmale müssen nicht alle vorliegen, sondern das eine oder andere Merkmal kann im Einzelfall fehlen. Der zu beurteilende Einzelfall wird lediglich dem Typus im Wege des Ähnlichkeitsvergleichs wertend zugeordnet. Diese Zuordnung verlangt eine Gesamtbildbetrachtung im Einzelfall, die die Verkehrsanschauung berücksichtigt und auf den Grad der Ähnlichkeit mit dem Typus (Urbild) abstellt. Nichts anderes gilt für den Unternehmerbegriff des § 2 UStG, worauf mein akademischer Lehrer Stadie stets mit Nachdruck hingewiesen hat.27 Die vor allem in der Vergangenheit anzutreffenden Versuche des BFH über die Auslegung des Begriffs der Nachhaltigkeit dem Unternehmerbegriff Konturen zu verleihen,28 konnten insofern auch noch nie richtig überzeugen und sind meines Erachtens auch zum Scheitern verurteilt. Mittlerweile neigt sich auch der BFH wieder einer mehr typologischen Betrachtungsweise zu, wenn er danach fragt, ob die unternehmerische Tätigkeit „dem Bild entspricht, das nach der Verkehrsanschauung einer wirtschaftlichen Tätigkeit, vergleichbar der eines Händlers, Güterproduzenten etc. entspricht.“29 Auch wenn der Begriff der wirtschaftlichen Tätigkeit im Ergebnis recht weit auszulegen ist30, ist die Bezahlung von Steuerschulden keine solche wirtschaftliche Tätigkeit. Vielmehr ist die Steuerzahlung schlicht die Erfüllung einer öffentlich-rechtlichen, persönlichen Pflicht, die für jeden Steuerschuldner besteht, selbst wenn er keine mehrwertsteuerpflichtige Person ist. Dabei bleibt es auch dann, wenn es sich um Steuern aufgrund einer wirtschaftlichen Tätigkeit  – wie z. B. der Bezahlung von Mehrwertsteuerschulden – handeln sollte. Der reine Zahlungsakt ist keine wirtschaftliche Tätigkeit, sondern der Vollzug einer öffentlich-rechtlichen Verpflichtung.31

27 Stadie, UStG, 3. Aufl. 2015, §  2 Rz.  86  ff.; Stadie in Rau/Dürrwächter, §  2 UStG Rz.  55, 330 ff. (Oktober 2017). 28 BFH v. 18.7.1991 – V R 86/87, BStBl. II 1991, 776 = UR 1991, 288; BFH v. 24.11.1992 – V R 8/89, BStBl. II 1993, 379 = UR 1993, 196; BFH v. 26.8.1993 – V R 20/91, BStBl. II 1994, 54 = UR 1994, 117; BFH v. 9.9.1993 – V R 24/89, BStBl. II 1994, 57 = UR 1994, 119; BFH v. 27.10.1993 – XI R 86/90, BStBl. II 1994, 274 = UR 1994, 120; BFH v. 9.7.1998 – V B 143/97, UR 1999, 489 = BFH/NV 1999, 221. 29 BFH v. 27.1.2011 – V R 21/09, BStBl. II 2011, 524 = UR 2011, 379 Rz. 28. 30 EuGH v. 12.9.2000  – C-359/97, ECLI:EU:C:2000:426  – Kommission/Vereinigtes Königreich, UR 2000, 518 Rz.  39; EuGH v. 26.6.2003  – C-305/01, ECLI:EU:C:2003:377  – MKG-Kraftfahrzeuge-Factoring, UR 2003, 399 Rz.  42; EuGH v. 26.6.2007  – C-284/04, ECLI:EU:C:2007:381 – T-Mobile Austria u.a., UR 2007, 607 Rz. 35 und EuGH v. 20.6.2013 – C-219/12, ECLI:EU:C:2013:413  – Finanzamt Freistadt Rohrbach Urfahr, UR 2013, 620 Rz. 17. 31 Aus diesem Grund ist – anders als unlängst auf einer internationalen VAT-Conference geäußert  – der Vorsteuerabzug aus den Kosten eines Steuerberaters für die Erstellung der Umsatzsteuererklärung ungefährdet. Ob der Steuerpflichtige für sein Unternehmen einen Steuerberater einschaltet, ist eine unternehmerische Entscheidung im Rahmen seines Unternehmens. Ob er Umsatzsteuern bezahlt hingegen nicht.

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An diesem Befund ändert sich auch nichts, wenn die Steuerschuld durch Naturalien bezahlt wird. Die Hingabe der Naturalien stellt letztendlich nur einen besonderen Zahlungsmodus im Rahmen der Steuererhebung dar. Wie in einem normalen Steuerverfahren auch wird die gesetzlich entstandene Steuerschuld statt durch Geld durch einen Naturalgegenstand in Höhe von dessen objektivem Wert – der im Steuerrecht wohl im Rahmen eines objektiven Bewertungsverfahrens und nicht im Rahmen von Kaufpreisverhandlungen bestimmt werden wird – bezahlt. Ein solches Handeln im Rahmen der öffentlich-rechtlichen Steuererhebung kann daher nicht als wirtschaftliche Tätigkeit bezeichnet werden. Mit der Tätigkeit eines typischen Mehrwertsteuerpflichtigen im Sinne des Art. 9 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie (z. B. mit einem Händler, der Gegenstände ankauft, um sie zu verkaufen) ist die Hingabe von Vermögensgegenständen zur Bezahlung der eigenen Steuerschuld nicht ansatzweise vergleichbar.32 Daran ändert auch der in § 224a AO vorgesehene öffentlich-rechtliche Vertrag nichts. Er sichert lediglich das Einverständnis der Beteiligten über diese besondere Zahlungsmodalität ab. Der Steuergläubiger erklärt damit nur sein Einverständnis, dass die Steuerschuld mit diesen Naturalien getilgt werden kann. §  224a AO erlaubt es dem Fiskus insbesondere nicht, über diesen Weg bestimmte Gegenstände anzukaufen, die andernfalls am Markt (und dann mit Umsatzsteuer belastet) erworben werden müssten. § 224a Abs. 1 AO zeigt deutlich, dass die Hingabe eines Gegenstandes an Stelle einer Geldzahlung nur eine Ausnahme ist, die vom Steuerpflichtigen angeboten werden und durch den Steuergläubiger zugelassen werden kann. Damit hat es allein der Steuerschuldner in der Hand, ob und durch welche Naturalien er seine Steuern bezahlen möchte. Der Fiskus kann sich dann allenfalls damit einverstanden erklären, nicht aber eine solche Bezahlung verlangen. Mithin versorgt sich nicht der Fiskus mit Gütern, sondern ihm werden statt Geld Naturalien übereignet. Insbesondere erlischt die Steuerschuld kraft Gesetzes mit der Übertragung in Höhe des Wertes des Gegenstands. Sie ist nicht von dem Willen bzw. der Verhandlung der Parteien des öffentlich-rechtlichen Vertrags abhängig. Der Wert des Gegenstands wird in einem rechtsstaatlichen Steuerstaat wohl auch anhand abstrakter  – für alle Steuerschuldner gleichermaßen geltender – Bewertungsmaßstäbe bestimmt werden. Unter diesen Prämissen kann bei der Bezahlung von Steuerschulden durch Hingabe eines Gegenstands grundsätzlich nicht von einer (typischen) wirtschaftlichen Tätigkeit gesprochen werden.33

32 Generalanwältin Kokott v. 16.2.2017  – C-36/16, ECLI:EU:C:2017:134  – Posnania Investment, Rz. 27. 33 Generalanwältin Kokott v. 16.2.2017  – C-36/16, ECLI:EU:C:2017:134  – Posnania Investment, Rz. 30. Die von Reiß insoweit geübte Kritik, überzeugt mich hingegen nicht, da sie zum einen auf einer falschen Auslegung des § 224a AO fußt und sich darüberhinaus nur gegen eine ggf. notwendige Korrektur des Vorsteuerabzugs im Wege einer Entnahmebesteuerung wendet – vgl. Reiß, UVR 2017, 205 ff.

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c) Exkurs zur finanzverfassungsrechtlichen Einordnung des § 224a AO Die Existenz des § 224a AO ist meines Erachtens den Besonderheiten unseres modernen Steuerstaates geschuldet. In den Art. 104–115 GG ist deutlich zu erkennen, dass das Grundgesetz von einer Finanzierung des Staates durch Steuern, mithin von einem Steuerstaat, ausgeht.34 Im Unterschied zu früheren Zeiten finanziert sich der derzeitige Verfassungsstaat sich nicht mehr aus Kriegsbeuten oder Zwangsanleihen.35 Entscheidend ist dabei, dass er mit der Ausbildung einer Geldwirtschaft auch nicht mehr auf Naturalleistungen in Sinne von Arbeitsleistungen (Frondienste) oder anderen Naturalleistungen (wie z.B. 10 % aller geernteten Äpfel) zurückgreift.36 Im Gegenteil, der derzeitige Verfassungsstaat kann nur ganz ausnahmsweise durch Enteignung auf konkrete materielle Güter zurückgreifen, wie sich auch aus Art. 14 Abs. 3 GG ergibt. Aus der Betrachtung der Art. 105 ff. GG ergibt sich daher, dass das Grundgesetz von einer Steuer ausgeht, die in Geld besteht und als (teilbare) Geldschuld zu leisten ist, andernfalls wären die komplexen Regelungen des Finanzausgleiches (Ertragsverteilung) bei nichtteilbaren Naturalleistungen obsolet. All dies ergäbe keinen Sinn, wenn Steuern im Sinne des Grundgesetzes als Naturalleistungen geschuldet werden könnten. „Folgerichtig“ stellt § 3 Abs. 1 AO auch fest, dass Steuern Geldleistungen sind. Aus dieser quantitativen und qualitativen Sonderbehandlung der Steuerertragshoheit, der Steuerverwaltungs- und Steuergesetzgebungskompetenz kann wohl eine Grundsatzentscheidung der Verfassung für die Finanzierung des Staates durch Steuern als Geldabgaben entnommen werden,37 der – entgegen Reiß38 – nicht (mehr) auf Naturalien zurückgreifen kann.39 Mit § 224a AO trägt der Gesetzgeber dem Umstand Rechnung, dass die Erbschaftund Vermögenssteuer an die Bewertung von Naturalien anknüpft, mit denen die 34 Dies ist m.W. unstreitig – vgl. statt Vieler BVerfG v. 10.12.1980 – 2 BvF 3/77, BVerfGE 55, 274 (299); siehe zum Steuerstaat: umfassend Vogel in GS Martens, 1987, S. 265 (266 ff.); Isensee in FS Ipsen, 1977, S. 409 (409 ff.); P. Kirchhof in Isensee/Kirchhof, HdbStR Bd. V, 3. Aufl. 2007, § 118 Rz. 6 ff.; Birk, StuW 1989, 212 (212 f.); Isensee in Isensee/Kirchhof, HdbStR Bd. V, 3. Aufl. 2007, § 122 Rz. 71 f.; Weber-Grellet in FS Posser, 1997, S. 395 ff.; Hufeld in FS Stober, 2008, S. 717 (719); vgl. auch Heun in Dreier, 2. Aufl. 2008, Art. 105 GG Rz. 1; Seiler, Gutachten F für den 66. DJT, 2006, F7 (F9 f); Stern, Staatsrecht, Bd. II, 1980, § 46, S. 1090; Jachmann, Steuergesetzgebung, 2000, S. 9 ff.; Musil, DVBl. 2007, 1526 (1527 ff). 35 Letzteres war im Römischen Reich („tributum“) üblich – vgl. Isensee/Kirchhof/P. Kirchhof, HdbStR Bd. V, 3. Aufl. 2007, § 118 Rz. 5 m.w.N.; P. Kirchhof, StbJb. 1999/2000, S. 17 (18 f.); P. Kirchhof, DStJG 24 (2001), S. 9 (12); P. Kirchhof, JbFStR 1992/93, S. 11 (12). 36 Für einen prägnanten Überblick über einige Stationen der Steuergeschichte vgl. Birk/ Desens/Tappe, Steuerrecht, 19. Aufl. 2016, Rz. 11 ff. 37 So auch Siekmann in Sachs, 8. Aufl. 2018, Vor Art. 104a GG Rz. 71; Weber-Grellet in FS Posser, 1997, S. 395 (395); Heun in Dreier, 2. Aufl. 2008, Art. 105 GG Rz. 11; Tipke, Die Steuerrechtsordnung, Bd. II, 2. Aufl. 2003, S.  571; Stern, Staatsrecht, Bd. II, 1980, §  46, S. 1091; ähnlich Jachmann, DStJG 23 (2000), S. 9 (11). 38 Reiß, UVR 2017, 205 (211). 39 Ebenso Heun in Dreier, 2. Aufl. 2008, Art. 105 GG Rz. 13; Stern, Staatsrecht, Bd. II, 1980, § 46, S. 1096; Isensee in FS Ipsen, 1977, S. 409 (415, 423); Lehner, DStR 2009, 185 (189); P. Kirchhof, VVDStRL 39 (1981), S. 213 ff.

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Steuerschuld aber aus oben genannten Gründen grds. nicht gezahlt werden kann. Um zu verhindern, dass Gegenstände vom öffentlichen Interesse deswegen in Geld umgewandelt werden müssen (Alternativ käme eine Stundung der Steuer in Betracht), erlaubt § 224a AO ausnahmsweise auch eine Zahlung von diesen Steuern mittels Naturalien. Anders als Reiß40 meint, kann daher § 224a AO ohne gesetzliche Grundlage nicht auf andere Steuerarten ausgedehnt werden. d) Ausnahme aufgrund der Nähe zur steuerpflichtigen Haupttätigkeit? Wenngleich bei der Bezahlung von Steuerschulden durch Hingabe eines Gegenstands grundsätzlich nicht von einer wirtschaftlichen Tätigkeit gesprochen werden kann, so stellt sich dennoch die Frage, ob die Tatsache, dass im Vorabentscheidungsverfahren die Übertragung des Grundstücks durch einen Grundstückshändler erfolgte (bzw. im hier gebildeten Beispiel die Übertragung der Bibel durch einen Buchhändler) etwas an dieser Beurteilung ändert. Denn hier ist eine gewisse Nähe der Tätigkeit (Hingabe des Grundstücks bzw. der Bibel an Zahlungs statt) zu der ausgeübten wirtschaftlichen Tätigkeit (dem Grundstückshandel bzw. dem Buchhandel) nicht von der Hand zu weisen. Mit einer ähnlichen Konstellation hatte sich der Gerichtshof in der Rechtssache Kostov41 befasst. Hier hatte ein Steuerpflichtiger (ein selbständiger Gerichtsvollzieher) einzelne Geschäftsbesorgungsverträge zur Ersteigerung von Grundstücken für Dritte abgeschlossen, die in einer gewissen inhaltlichen Nähe zu seiner Haupttätigkeit (Versteigerung) standen. Der Gerichtshof bejahte deren Steuerpflichtigkeit. Der Gerichtshof führte aus, „dass Art. 9 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie dahin auszulegen ist, dass eine natürliche Person, die bereits für ihre Tätigkeit als selbständiger Gerichtsvollzieher mehrwertsteuerpflichtig ist, für jede weitere, gelegentlich ausgeübte wirtschaftliche Tätigkeit als „Steuerpflichtiger“ anzusehen ist, sofern diese Tätigkeit eine Tätigkeit im Sinne von Art. 9 Abs. 1 Unterabs. 2 der Mehrwertsteuerrichtlinie darstellt“42. Dies kann aber nicht dahin gehend verstanden werden, dass alle Handlungen eines Steuerpflichtigen gegen Entgelt plötzlich auch in seiner Eigenschaft als Steuerpflichtiger erfolgen. In dem konkret entschiedenen Fall bestand nämlich ein enger Zusammenhang der „Nebentätigkeit“ des Gerichtsvollziehers mit seiner steuerpflichtigen Haupttätigkeit. Daher war bei der gebotenen typisierenden Betrachtungsweise die dort streitige, nur gelegentlich ausgeübte Geschäftsbesorgung für fremde Dritte in der Tat auch eine wirtschaftliche Tätigkeit.43 Diese Aussage dahingehend zu verallgemeinern, dass jegliche (eigentlich nichtwirtschaftliche) Nebentätigkeit eines Steuerpflichtigen per se als eine wirtschaftliche (bzw. unternehmerische) Tätigkeit zu betrachten 40 Reiß, UVR 2017, 205 (211). 41 EuGH v. 13.6.2013 – C-62/12, ECLI:EU:C:2013:39 – Kostov, UR 2013, 626. 42 EuGH v. 13.6.2013 – C-62/12, ECLI:EU:C:2013:39 – Kostov, UR 2013, 626 Rz. 31. 43 Generalanwältin Kokott v. 16.2.2017  – C-36/16, ECLI:EU:C:2017:134  – Posnania Investment, Rz. 34.

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sei, halte ich bei einem kontextbezogenen Verständnis der EuGH-Entscheidung nicht für zutreffend. Dagegen liegt bei der Bezahlung von Steuerschulden eines Unternehmers (Steuerpflichtigen) durch die Hingabe eines Gegenstandes an Zahlungs statt bei typisierender Betrachtung gerade keine wirtschaftliche Tätigkeit im Sinne von Art.  9 Abs.  1 Unterabs. 2 MwStSystRL vor. Zwar verlangt das Gebot der Wettbewerbsneutralität, dass alle konkurrierenden Verbraucherversorger in gleicher Weise der Mehrwertsteuer unterliegen. Bei der Bezahlung von Steuerschulden durch Naturalien liegt aber gar keine Konkurrenzsituation mit anderen Steuerschuldnern vor. Der seine Steuerschuld bezahlende Steuerschuldner konkurriert in diesem Moment auch nicht mit einem anderen Mehrwertsteuerpflich­ tigen (z. B. anderen Grundstückshändlern oder Buchhändlern). Er besitzt nämlich keine Verhandlungsmacht bei der „Kaufpreisfindung“ des hinzugebenden Gegenstands. Vielmehr erfolgt die Bewertung des hinzugebenden Gegenstandes im Rahmen der Steuererhebung nach objektiven Kriterien. Damit kann ein Wettbewerb über den Preis gerade nicht stattfinden. Die Hingabe eines Gegenstands zur Begleichung von Steuerschulden findet insofern außerhalb eines jeden Marktes statt. Dies gilt für „normale“ Steuerschuldner gleichermaßen wie für Steuerschuldner, die zugleich auch mehrwertsteuerpflichtige Personen sind. Auch der Staat hat als Leistungsempfänger keine Wahlmöglichkeit, ob er dieses Grundstück oder ein anderes „erwirbt“. Er hat nur die Wahl, ob er statt Geldmittel auch Naturalien in Höhe deren objektiven Wertes zur Steuertilgung akzeptiert.44 Entsprechend hält der Gerichtshof sogar einen unumstritten wirtschaftlichen und entgeltlichen Vorgang (den Verkauf von Drogen) für nicht steuerbar, wenn jeder (legale) Wettbewerb innerhalb eines Wirtschaftssektors ausgeschlossen ist.45 Ich halte diese Rechtsprechung zwar nicht für zutreffend, da der Mehrwertsteuer die Legalität des Wettbewerbs eigentlich egal ist. Jedenfalls für die hier vorliegende Konstellation kann der Ansatz jedoch fruchtbar gemacht werden. Bei dem Erlöschen der persönlichen Steuerschuld durch die Übereignung von Naturalien auf den Steuergläubiger (d.  h. bei der Steuererhebung) ist ebenfalls jeder Wettbewerb der Steuerpflichtigen untereinander ausgeschlossen.

44 Ebenso Generalanwältin Kokott v. 16.2.2017 – C-36/16, ECLI:EU:C:2017:134 – Posnania Investment, Rz. 37; a.A. Reiß, wenn er meint, dass es nunmehr für den Staat „reizvoll erscheinen“ könne, „sich Dienstwagen für das leistende Personal (Bürgermeister, Ministerpräsidenten, Kanzler) an Erfüllungs statt zur Tilgung von Steuerschulden vom Steuerschuldner (Autohändler und/oder Autohersteller) liefern zu lassen“ – Reiß, UVR 2017, 205 (207). 45 Vgl. u.a. EuGH v. 29.6.1999 – C-158/98, ECLI:EU:C:1999:334 – Coffeeshop „Siberië“, UR 1999, 364 Rz. 14 und 21; EuGH v. 29.6.2000 – C-455/98, ECLI:EU:C:2000:352 – Salumets u.a., UR 2000, 379 Rz.  19 und EuGH v. 12.1.2006  – C-354/03, C-355/03 und C-484/03, ECLI:EU:C:2006:16 – Optigen u.a., UR 2006, 157 Rz. 49.

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Entscheidend ist damit allein, ob es das nationale Recht (hier über den vorgesehenen öffentlich-rechtlichen Vertrag im Rahmen des § 224a AO) im Rahmen einer öffentlich-rechtlichen Steuererhebung den Beteiligten erlaubt, den hinzugebenden Gegenstand und den Preis – wie bei einem Kauf – einvernehmlich zu bestimmen. Solange dies nicht der Fall ist, handelt der Mehrwertsteuerpflichtige bei der Begleichung seiner Steuerschuld nicht im Rahmen seiner wirtschaftlichen Tätigkeit. Er handelt dann nicht „als solcher“ im Sinne des Art. 2 Abs. 1 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie. Das gilt auch, wenn der Mehrwertsteuerpflichtige ein Buchhändler ist und statt Geld eine wertvolle Bibel an Zahlungs statt dem Steuergläubiger übereignet. e) Bestätigung durch den Charakter der Mehrwertsteuer Der bereits oben dargelegte Charakter der Mehrwertsteuer als indirekte Verbrauchsteuer bestätigt dieses Ergebnis. Im Ergebnis ist die Mehrwertsteuer vom Endverbraucher zu tragen46, wobei der Steuerpflichtige „nur“ als Steuereinnehmer für Rechnung des Staates47 agiert. Auch dies spricht im vorliegenden Fall gegen die Annahme einer wirtschaftlichen Tätigkeit. Eine wirtschaftliche Tätigkeit im Sinne des Art. 9 der Mehrwertsteuerrichtlinie geht erkennbar davon aus, dass der Steuerpflichtige mittels seiner Gegenleistung – die er mit seinem Vertragspartner aushandelt – die Mehrwertsteuer auf den Leistungsempfänger überwälzen und von diesem einsammeln kann. Dieser Gedanke verträgt sich nicht mit einem kraft Gesetzes erlöschenden Steueranspruch und der Tatsache, dass der empfangende Staat Steuer einnehmen und nicht weitere Steuern (hier die auf ihn über zu wälzende Mehrwertsteuer) tragen will. f) Gefahr der Bevorteilung des Staates als „Konsument“? Dagegen wurde im Verfahren vor allem durch die EU-Kommission Bedenken geäußert, dass damit eine Gefahr einer Bevorteilung des Steuerschuldners bzw. des Staates bestünde.48 Dem kann ich mich in Übereinstimmung mit den Schlussanträgen der Generalanwältin49 nicht anschließen. Der Steuerschuldner erhält keinen Vorteil, da die Hingabe eines Gegenstands zum Zweck der Steuerzahlung von einer Mehrwertsteuerpflicht nicht tangiert würde. Denn eine solche Pflicht würde sich wie folgt auswirken: Wenn ein Steuerschuldner 46 EuGH v. 24.10.1996 – C-317/94, ECLI:EU:C:1996:400 – Elida Gibbs, UR 1997, 265 Rz. 19 und EuGH v. 7.11.2013  – C-249/12 und C-250/12, ECLI:EU:C:2013:722  – Tulică und ­Plavoşin, MwStR 2014, 58 Rz. 34, sowie EuGH-Beschl. v. 9.12.2011 – C-69/11, ECLI:EU:​ C:2011:825 – Connoisseur Belgium, Rz. 21 (nicht veröffentlicht). 47 EuGH v. 20.10.1993 – C-10/92, ECLI:EU:C:1993:846 – Balocchi, UR 1994, 116 Rz. 25 und EuGH v. 21.2.2008 – C-271/06, ECLI:EU:C:2008:105 – Netto Supermarkt, UR 2008, 508 Rz. 21. 48 Ebenso offenbar auch Reiß, UVR 2017, 205 (207). 49 Generalanwältin Kokott v. 16.2.2017  – C-36/16, ECLI:EU:C:2017:134  – Posnania Investment, Rz. 41 ff.

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eine Steuer in Höhe von X schuldet, das Grundstück einen Wert von X besitzt und der Vorgang steuerbar ist, dann würde die Steuer in Höhe von X erlöschen und der Staat müsste dem Steuerschuldner noch die Mehrwertsteuer zusätzlich zahlen, damit der Steuerpflichtige sie (wieder an den Staat) abführen kann. Der Staat hingegen würde auch keine Mehrwertsteuer sparen, da er die Naturalien unabhängig von seinem eigenen Konsumbedarf erhält, mithin nicht anderweitige, mit Mehrwertsteuer belastete Aufwendungen erspart. Sofern das Umsatzsteueraufkommen  – so wie in Deutschland – noch einem anderen Steuergläubiger zusteht, würde die Steuerzahlung mittels Naturalien den Staatshaushalt des Empfängers belasten. Auch die unterschiedliche Behandlung der Steuerzahlung – je nachdem, ob die Steuern durch Geld (keine zusätzliche Steuerbelastung) oder durch Naturalien (hier volle Steuerbelastung) bezahlt werden – würde nicht einleuchten. Gleiches gilt für die unterschiedliche Behandlung der Steuerzahlungen durch Naturalien, je nachdem, ob sie durch mehrwertsteuerpflichtige oder nicht mehrwertsteuerpflichtige Personen erfolgen. Für die Höhe des Steueraufkommens (aus den anderen Steuerarten, aus denen die Steuerschulden resultieren) kann diese mehrwertsteuerrechtliche Qualifikation keine Rolle spielen. Insofern verbleibt letztendlich allein die Gefahr eines unversteuerten Letztverbrauchs, wenn die Hingabe von Naturalien an Zahlungs statt nicht als wirtschaftliche Tätigkeit betrachtet werden würde. Diese Gefahr besteht aber nur, wenn der Leistende (hier die Gesellschaft) aufgrund seiner Eigenschaft als Mehrwertsteuerpflichtiger bereits einen Vorsteuerabzug bezüglich des hingegebenen Gegenstands (z.B. hat er die geerbte Bibel restaurieren lassen; für einen geerbten Ring scheint ein Buchhändler hingegen schon kaum einen Vorsteuerabzug geltend machen zu können) vorgenommen hatte. Dieser Gefahr beugen jedoch systemkonform die Vorschriften von Art. 16 (und auch Art. 26) der Mehrwertsteuerrichtlinie bzw. § 3 Abs. 1b UStG (und auch § 3 Abs. 9a UStG) vor. Wenn die Bezahlung von Steuern mittels Naturalien keine wirtschaftliche Tätigkeit ist, dann werden die Gegenstände mit der Hingabe an Zahlungs statt zu unternehmensfremden Zwecken aus dem Unternehmen entnommen. Über §  3 Abs. 1b UStG bzw. Art. 16 der Mehrwertsteuerrichtlinie wird dann ein vorgenommener Vorsteuerabzug korrigiert und damit ein unversteuerter Letztverbrauch verhindert.50 Der Mehrwertsteuerpflichtige wird dann so behandelt, wie eine Privatperson, welche einen Gegenstand zur Begleichung von Steuerschulden an den Staat abgibt. Damit wird im Ergebnis eine Gleichbehandlung aller Steuerzahlungen aller Steuerschuldner sichergestellt, unabhängig davon, ob sie (mehr oder weniger zufällig) zugleich auch noch eine mehrwertsteuerpflichtige Person sind.

50 Dass bei der Korrektur des vorgenommenen Vorsteuerabzugs eine andere Bemessungsgrundlage als bei einem Verkauf anzusetzen ist, liegt in der Natur der Sache und berücksichtigt zutreffend, dass der Steuerpflichtige gerade nicht als Steuerpflichtiger handelt, wenn er den Gegenstand zur Bezahlung seiner Steuerschulden hingibt. Die diesbezügliche Kritik bei Reiß, UVR 2017, 205 (209 und 212 f.) kann ich insoweit nicht ganz nachvollziehen.

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Das Handeln eines Steuerpflichtigen als solchem

III. Zusammenfassung Im Ergebnis ist die Hingabe eines Gegenstands aus dem Vermögen des Steuerpflichtigen (Unternehmers) zur Bezahlung seiner Steuerschulden an Zahlungs statt keine wirtschaftliche Tätigkeit, bei der der Steuerpflichtige „als solcher“ im Sinne des Art. 2 Abs.  1 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie (bzw. im Rahmen seines Unternehmens i.S.v. § 1 Abs. 1 Nr. 1 UStG) handelt. Das gilt auch dann, wenn er einen Gegenstand hingibt, mit dem er normalerweise im Rahmen seines Unternehmens handeln würde. Insofern fehlt es an einem der Mehrwertsteuer unterliegenden Umsatz im Sinne des Art.  2 Abs.  1 Buchst. a der Mehr­ wertsteuerrichtlinie, mithin auch an einem steuerbaren Umsatz nach § 1 Abs. 1 Nr. 1 UStG.

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Thomas Küffner/Alena Kirchinger

Die öffentliche Hand als Steuerpflichtiger – (fast unlösbare) Herausforderungen nach 100 Jahren Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Historische Entwicklung der Besteuerung der öffentlichen Hand vor Schaffung von § 2b UStG 1. Besteuerung unabhängig von der ­Qualifizierung als privatrechtliche oder öffentlich-rechtliche Tätigkeit 2. Ausklammerung der Ausübung der ­öffentlichen Gewalt vom Unternehmerbegriff 3. Besteuerung nach den Grundsätzen des Körperschaftsteuerrechts 4. Umsatzsteuerrechtliche Gleichstellung der jPöR mit privaten Rechtsträgern durch richtlinienkonforme Auslegung

III. Rückkehr zum Wettbewerbskriterium durch § 2b UStG und Folgewirkungen 1. Allgemeine Auswirkungen der Neu­ konzeption durch § 2b UStG a) Abgrenzung anhand der rechtlichen Handlungsform b) Kritik am gewählten Maßstab 2. Große Herausforderung für jPöR a) Der Bund als Steuerpflichtiger i.S.d. MwStSystRL b) Entwicklung maßgeschneiderter ­Organisationsstrukturen c) Fernwirkungen im Zusammenhang mit der Umstellung IV. Abschließendes Resümee

I. Einleitung Dem Unternehmer kommt im Umsatzsteuerrecht eine ganz maßgebliche Rolle zu. Er ist als „Steuereinnehmer für Rechnung des Staates und im Interesse der Staatskasse“1 tätig. Dabei gilt im Umsatzsteuerrecht prinzipiell der Grundsatz der Rechtsformneutralität.2 Hinsichtlich der Behandlung der öffentlichen Hand sehen sowohl das Umsatzsteuergesetz (im Folgenden: UStG) als auch die Mehrwertsteuersystemrichtlinie (im Folgenden: MwStSystRL) eine Durchbrechung dieses Grundsatzes vor. Art.  13 MwStSystRL und § 2b UStG bzw. § 2 Abs. 3 UStG a.F. enthalten eine jeweils unterschiedlich ausgestaltete Privilegierung der öffentlichen Hand. Auch nach einer 100-jährigen Entwicklung zum Ausmaß dieser Privilegierung bietet die (Nicht-)Besteuerung der öffentlichen Hand einen anscheinend nicht versiegen wollenden Diskussionsstoff.

1 EuGH v. 21.2.2008 – C-271/06 – Netto Supermarkt, Slg. 2008, I-771 = UR 2008, 508, Rz. 21. 2 Vgl. z.B. BFH v. 11.12.2013 – XI R 38/12, BStBl. II 2014, 428 = UR 2014, 323, Rz. 69.

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Thomas Küffner/Alena Kirchinger

II. Historische Entwicklung der Besteuerung der öffentlichen Hand vor Schaffung von § 2b UStG Sobald Einrichtungen des öffentlichen Rechts sich wirtschaftlich betätigen, erlangt die Frage der persönlichen Steuerpflicht eine für indirekte Steuern recht untypische Gewichtung.3 Einrichtungen des öffentlichen Rechts sind janusköpfig, wenn man so will. Bereits der RFH erkannte zum damals unionsrechtlich noch nicht überformten UStG:4 „Der Gesetzgeber hat eine solche Regelung getroffen aus der Erwägung heraus, daß der private Unternehmer nicht durch den steuerlich begünstigten Wettbewerb öffentlicher Körperschaften benachteiligt werden darf. Dabei war jedoch zu bedenken, daß Körperschaften des öffentlichen Rechts öffentlich-rechtliche Aufgaben zu erfüllen haben, die in keiner Beziehung zum privatwirtschaftlichen Verkehr stehen, vielmehr in das Eigenleben dieser Körperschaften fallen. Eine derartige Tätigkeit musste von der Umsatzbesteuerung ausgenommen werden.“

1. Besteuerung unabhängig von der Qualifizierung als privatrechtliche oder öffentlich-rechtliche Tätigkeit Seit Schaffung des Reichsumsatzsteuergesetzes vom 26.7.19185 unterliegen grundsätzlich sämtliche Arten der Bedarfsdeckung der Umsatzsteuer. Demgegenüber beschränkte sich das Gesetz über den Warenumsatzstempel vom 26.6.19166 noch darauf, nur Warenlieferungen der Besteuerung zu unterwerfen. Wegen dieses bedeutsamen Wechsels von der Warenumsatzbesteuerung zur allgemeinen Leistungsbesteuerung stellt das UStG 1918 die „eigentliche Grundlage der allgemeinen Umsatzbesteuerung in Deutschland“7 dar. Bei der Vorbereitung des Umsatzsteuergesetzes wirkte besonders Popitz mit, der hierdurch zum „Vater der Umsatzsteuer“ wurde. Eine besondere Regelung für die Tätigkeiten der öffentlichen Hand sah das Umsatzsteuergesetz 1918 nicht vor. 2. Ausklammerung der Ausübung der öffentlichen Gewalt vom Unternehmerbegriff Zum ersten Mal wurde mit dem UStG 1934 die Ausübung öffentlicher Gewalt vom Unternehmerbegriff ausgenommen. Das UStG sprach in § 1 von steuerbaren Umsätzen und in § 2 wurde der Unternehmer definiert: „§ 2 Unternehmer, Unternehmen (1) Unternehmer ist, wer eine gewerbliche oder berufliche Tätigkeit selbständig ausübt. Das Unternehmen umfaßt die gesamte gewerbliche oder berufliche Tätigkeit des Unterneh3 Vgl. zu dieser Feststellung bereits Reimer, DStJG 32 (2009), S. 325 (358). 4 RFH v. 9.7.1937 – V D 1/37, RFHE 42, 253. 5 RGBl. 1918, S. 779 ff. 6 RGBl. I 1916, S. 639 ff. 7 BT-Drucks. II/1924, S. 5.

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Die öffentliche Hand als Steuerpflichtiger mers. Gewerblich oder beruflich ist jede nachhaltige Tätigkeit zur Erzielung von Einnahmen, auch wenn die Absicht, Gewinn zu erzielen, fehlt oder eine Personenvereinigung nur gegenüber ihren Mitgliedern tätig wird. (2) … (3) Die Ausübung der öffentlichen Gewalt ist keine gewerbliche oder berufliche Tätigkeit.“

Nach der amtlichen Begründung zu § 2 Abs. 3 UStG wollte der Gesetzgeber am bisherigen Rechtszustand nichts ändern, vielmehr sollte die Vorschrift nur klarstellend wirken:8 „§ 2 Abs. 3 ist neu in das Gesetz aufgenommen worden. Die Ausübung der öffentlichen Gewalt ist schon immer nicht als gewerbliche oder berufliche Tätigkeit angesehen worden. Dieser aus § 2 Abs. 1 sich ergebende Grundsatz ist mit Rücksicht auf die besondere Bedeutung der öffentlich-rechtlichen Tätigkeit im neuen Staat im Umsatzsteuergesetz selbst verankert worden. Bei den Körperschaften des öffentlichen Rechts ist wie bisher zu unterscheiden zwischen der öffentlich-rechtlichen und der privatwirtschaftlichen Tätigkeit. Die öffentlich-rechtliche Tätigkeit fällt nicht unter das Gesetz. Dagegen besteht für die öffentlich-rechtlichen Körperschaften insoweit Steuerpflicht, als sie sich wie andere Unternehmer am privatwirtschaftlichen Geschäftsverkehr beteiligen. Nähere Bestimmungen über die Abgrenzung der öffentlich-rechtlichen und der privatrechtlichen Tätigkeit sind in § 3 der neuen Durchführungsbestimmungen enthalten. An dem bisherigen Rechtszustand ändert sich dadurch nichts.“

Der Entwurf des Bundestages zum UStG 1963 sah in § 2 Abs. 3 UStG eine Legaldefinition der öffentlichen Gewalt vor:9 „Der Bund, die Länder, die Gemeinden, die Gemeindeverbände, die Zweckverbände und andere juristische Personen des öffentlichen Rechts sind insoweit nicht gewerblich oder beruflich tätig, als sie öffentlich-rechtliche Aufgaben erfüllen (Ausübung der öffentlichen Gewalt).“

Aus der Formulierung „öffentlich-rechtliche Aufgaben erfüllen“ geht hervor, dass der Gesetzgeber zumindest damals die öffentliche Gewalt tätigkeitsbezogen verstanden wissen wollte. Dass auch 1963 schon unklar war, wie der Begriff der öffentlichen Gewalt denn genau zu verstehen ist, ergibt sich aus der Stellungnahme des Bundesrates zum Gesetzesentwurf.10 In diesem Votum sprach sich der Bundesrat für die Schaffung einer Steuerbefreiung in § 4 Nr. 21 UStG für bestimmte kulturelle Angebote aus. Begründet wurde der Vorschlag unter anderem mit Zweifelsfragen zum Begriff der öffentlichen Gewalt:11 „Auch aus dem Sozialstaatsprinzip des Artikels 20 Abs. 1 GG ist zu folgern, daß der Staat die Versorgung des Volkes mit Kulturgütern nicht verteuern und damit den wirtschaftlich schwächeren Teil des Volkes von ihr ausschließen darf. Soweit Gebietskörperschaften und andere Körperschaften des öffentlichen Rechts Unternehmer oder Veranstalter sind, wären die Leistungen an sich schon deswegen von der Umsatzsteuer ausgenommen, weil die Körperschaften insoweit öffentlich-rechtliche Aufgaben erfüllen (§ 2 Abs. 3 Satz 1 des Gesetzentwurfs), doch 8 RStBl. II 1934, S. 1549 ff. (1550). 9 Siehe dazu BT-Drucks. IV/1590, S. 2. 10 BT-Drucks. IV/1590, S. 42 ff. 11 BT-Drucks. IV/1590, S. 45.

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Thomas Küffner/Alena Kirchinger würde hier der Klammerzusatz in der Entwurfsbestimmung „(Ausübung der öffentlichen Gewalt)“ zu Zweifelsfragen führen […].“

3. Besteuerung nach den Grundsätzen des Körperschaftsteuerrechts Mit dem Umsatzsteuergesetz vom 29.5.196712 (im Folgenden: UStG 1967) ging der Gesetzgeber dann einen anderen Weg und versuchte die Abgrenzung des steuerpflichtigen vom nichtsteuerpflichtigen Bereich über eine Anknüpfung des Umsatzsteuergesetzes an das Körperschaftsteuergesetz in den Griff zu bekommen. Der Begriff der Ausübung öffentlicher Gewalt wurde in § 2 Abs. 3 des UStG 1967 nicht mehr verwendet: „(3) Die Körperschaften des öffentlichen Rechts sind nur im Rahmen ihrer Betriebe gewerblicher Art (§ 1 Abs. 1 Nr. 6 des Körperschaftsteuergesetzes) und ihrer land- oder forstwirtschaftlichen Betriebe gewerblich oder beruflich tätig. Die Tätigkeit der Rundfunkanstalten gilt als gewerbliche oder berufliche Tätigkeit im Sinne dieses Gesetzes.“

Hoheitsbetriebe, also Betriebe, die überwiegend der Ausübung öffentlicher Gewalt dienen, gehören nach §  4 Abs.  5 S.  1 KStG nicht zu den Betrieben gewerblicher Art. Bezweckt wurde mit der Anknüpfung an das KStG eine bessere Trennung des Hoheitsbereichs vom unternehmerischen Bereich der Körperschaften des öffentlichen Rechts.13 Die entscheidende Abgrenzung danach, ob die juristische Person des öffentlichen Rechts (im Folgenden: jPöR) in den privatrechtlichen Rechtsverkehr eintritt oder nicht14, hatte sich in der Praxis als äußerst schwierig erwiesen. Zur weiteren Konturierung der Abgrenzung zwischen privatrechtlicher und öffentlich-rechtlicher Tätigkeit hatte die Rechtsprechung die eingängige Formel „eigentümlich und vorbehalten“ geprägt.15 Tätigkeiten der öffentlichen Hand sollten demnach dann nicht steuerbar sein, wenn sie der Körperschaft des öffentlichen Rechts in ihrer Eigenschaft als Träger öffentlicher Gewalt „eigentümlich und vorbehalten“ waren. Im Ergebnis wurde mit der Formel wenig an Kontur gewonnen. Durch die Anknüpfung an das KStG versprach man sich eine bessere Handhabung. Allerdings wurden mit der Anknüpfung an das KStG ertragsteuerrechtliche Besonderheiten und schillernde Begrifflichkeiten wie „sich wirtschaftlich herausheben“ (§ 4 Abs. 1 S. 1 KStG) oder „(nicht steuerbare) Vermögensverwaltung“ in das Umsatzsteuerrecht hineingetragen.16 Lange hat deshalb treffend festgestellt: „Der Satz, öffentliche (= hoheitliche) Gewalt werde durch Tätigkeiten ausgeübt, die den juristischen Personen des öffentlichen Rechts als Träger öffentlicher Gewalt ‚eigentümlich und vor12 BGBl. I 1967, S. 545 ff. 13 Schriftlicher Bericht des Finanzausschusses zu BT-Drucks. V/1581, S. 11. 14 Zu diesem Maßstab vgl. RFH v. 16.6.1920 – II A 120/20, RFHE 3, 95 (96). 15 RFH v. 9.7.1937 – V D 1/37, RFHE 42, 253; diese Formulierung geht auf Popitz zurück, vgl. Popitz, Johannes, Kommentar zum Umsatzsteuergesetz, 3. Aufl. 1928, S. 343 f. und 350. 16 Vgl. hierzu Wagner, DStJG 13 (1990), S. 59 (70 f.).

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Die öffentliche Hand als Steuerpflichtiger behalten‘ sind, ist überholt. Die entsprechende Rechtsprechung ist eigentümlich; ihr sollte man mit Vorbehalten begegnen.“17

Spätestens mit Inkrafttreten der 6. EG-Richtlinie18 führte die Anknüpfung an das KStG zu Disharmonien. Die 6. EG-Richtlinie sah vor, dass Einrichtungen des öffentlichen Rechts grundsätzlich als Steuerpflichtige behandelt werden, wenn sie eine wirtschaftliche Tätigkeit im Sinne des Art. 4 Abs. 2 der 6. EG-Richtlinie ausüben. Führen sie dagegen Tätigkeiten aus, die ihnen im Rahmen der öffentlichen Gewalt obliegen, so sollten sie gemäß Art. 4 Abs. 5 Uabs. 1 der 6. EG-Richtlinie nicht als Steuerpflichtige gelten. Etwas anderes sollte wiederum nur dann gelten, falls eine Behandlung als Nicht-Steuerpflichtige zu größeren Wettbewerbsverzerrungen führen würde (Art. 4 Abs. 5 Uabs. 2 der 6. EG-Richtlinie). Der Gedanke der Wettbewerbsgleichheit spielte bei der Schaffung der 6. EG-Richt­ linie folglich eine gewichtige Rolle. Die MwStSystRL übernahm die Regelung der 6. EG-Richtlinie zur öffentlichen Hand weitestgehend unverändert. Eine Einstufung nach bestimmten Einkunftsarten, wie sie im deutschen Ertragsteuerrecht vorhanden ist und über die Brücke zwischen § 2 Abs. 3 UStG a.F. und § 4 KStG in das UStG zum Teil hineingetragen wurde19, kannte weder die 6. EG-Richtlinie noch kennt sie die MwStSystRL. Aus der Perspektive des Unionsrechts lässt sich die auf nationaler Ebene praktizierte Unterscheidung zwischen gewerblicher und vermögensverwaltender Tätigkeit daher nur bedingt nachvollziehen. Für die MwStSystRL ist vielmehr der Wettbewerbsgedanke prägend.20 Bereits Wagner erkannte das Wettbewerbskriterium als Fundamentalprinzip an:21 „Von entscheidender Bedeutung für die Besteuerungsvorstellung der Richtlinie ist m. E. der nachfolgende Satz 2 der Bestimmung, wonach die öffentlichen Einrichtungen trotz Ausübung öffentlicher Gewalt (nach Regelung des Mitgliedstaates) als Steuerpflichtige gelten, „sofern eine Behandlung als Nicht-Steuerpflichtiger zu größeren Wettbewerbsverzerrungen führen würde“. Daraus kann man folgern: Jeder Mitgliedstaat kann öffentliche Einrichtungen mit bestimmten Tätigkeiten als Nicht-Steuerpflichtige behandeln, soweit er mag; kommt es aber gerade bei diesen Tätigkeiten zu „größeren Wettbewerbsverzerrungen“, greift Steuerpflicht ein.“

Das Wettbewerbskriterium in Art.  13 MwStSystRL ist als Rückausnahme von der Ausnahme konzipiert.22 Weil das Mehrwertsteuerrecht eine weitestgehend gleichmäßige und wettbewerbsneutrale Besteuerung anstrebt, müssen Ausnahmen eng ausgelegt werden. Als grundsatzwiederherstellende Rückausnahme ist das Kriterium der fehlenden größeren Wettbewerbsverzerrungen dagegen wiederum weit auszulegen. 17 Lange, USt-Kongreß-Bericht 2001/2002, S. 93, 102. 18 Sechste Richtlinie des Rates zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern v. 17.5.1977, 77/388, ABI. EG Nr. L145/1. 19 Dies betrifft vor allem die sog. nicht steuerbare Vermögensverwaltung. 20 Vgl. dazu Erwägungsgrund Nr. 4 und Nr. 5 der MwStSystRL. 21 Wagner, DStJG 13 (1990), S. 59 (63). 22 EuGH v. 16.9.2008 – C-288/07 – Isle of Wight, UR 2008, 816 m. Anm. Küffner, Rz. 60 ff., dort auch zum Folgenden.

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Thomas Küffner/Alena Kirchinger

4. Umsatzsteuerrechtliche Gleichstellung der jPöR mit privaten Rechtsträgern durch richtlinienkonforme Auslegung Unter Berücksichtigung des Fundamentalprinzips der Wettbewerbsgleichheit führte § 2 Abs. 3 UStG a.F. zu Problemen. Die auf Grundlage von § 2 Abs. 3 UStG a.F. gegebene weitgehende Nichtbesteuerung der öffentlichen Hand förderte Wettbewerbsverzerrungen zwischen öffentlich-rechtlichen Einrichtungen und privaten Unternehmern. Der BFH sah sich vor diesem Hintergrund und mangels Tätigwerden des Gesetzgebers genötigt, § 2 Abs. 3 UStG a.F. richtlinienkonform auszulegen.23 Ausübung öffentlicher Gewalt liegt nach der Rechtsprechung des BFH nur bei solchen Tätigkeiten vor, bei denen die jPöR im Rahmen einer öffentlich-rechtlichen Sonderregelung und nicht unter den gleichen rechtlichen Bedingungen wie ein privater Wirtschaftsteilnehmer tätig wird. Maßgeblich sollen die im nationalen Recht vorgesehenen Ausübungsmodalitäten sein, wobei das Gebrauchmachen von hoheitlichen Befugnissen für eine Tätigkeit spricht, die einer öffentlich-rechtlichen Sonderregelung unterliegt. Unerheblich sind demgegenüber Gegenstand oder Zielsetzung der Tätigkeit.24 Es soll daher ohne Belang sein, ob die jPöR durch ihre Tätigkeit öffentliche Aufgaben wahrnimmt, die ihr aus Gründen des Gemeinwohls und unabhängig von jedem unternehmerischen oder geschäftlichen Ziel durch Gesetz zugewiesen sind.25 Im Ergebnis geht der BFH davon aus, dass eine jPöR keine öffentliche Gewalt ausübt, wenn sie auf privatrechtlicher Grundlage durch Vertrag tätig wird. Erfolgt ihre Tätigkeit hingegen auf öffentlich-rechtlicher Grundlage (z.B. öffentlich-rechtlicher Vertrag, Verwaltungsakt), ist sie nur dann Unternehmer, wenn eine Behandlung als Nichtunternehmer zu größeren Wettbewerbsverzerrungen führen würde.26 Anstatt zu prüfen, ob die jPöR öffentliche Gewalt ausübt, ist nunmehr regelmäßig zu fragen, ob es sich um einen öffentlich-rechtlichen oder einen zivilrechtlichen Vertrag handelt, auf dessen Grundlage ein Leistungsaustausch stattfindet. Dies bestimmt nach h. M. aber gerade der Vertragsgegenstand.27 Insbesondere das FG Münster nennt eine 23 BFH v. 20.8.2009 – V R 30/06, BStBl. II 2010, 863, Rz. 36; v. 15.4.2010 – V R 10/09, BStBl. II 2017, 863; v. 2.3.2011 – XI R 65/07, BStBl. II 2017, 831, Rz. 17; v. 3.3.2011 – V R 23/10, BStBl. II 2012, 74, Rz. 21; v. 10.11.2011 – V R 41/10, BStBl. II 2017, 869 = UR 2012, 272 m. Anm. Küffner, Rz. 26; v. 14.3.2012 – XI R 8/10, BFH/NV 2012, 1667, Rz. 27; v. 13.2.2014, V R 5/13, BStBl. II 2017, 846, Rz. 15; v. 10.2.2016 – XI R 26/13, Rz. 34; BStBl. II 2017, 857; v. 15.12.2016 – V R 44/15, UR 2017, 302, Rz. 10 m. Anm. Küffner. 24 BFH v. 15.4.2010 – V R 10/09, UR 2010, 646, Rz. 36 f.; v. 2.9.2010 – V R 23/09, BFH/NV 2011, 458, Rz. 32 f. jeweils unter Bezugnahme auf EuGH v. 14.12.2000 – C-446/98 – Fazenda Pública, UR 2001, 108, Rz. 16 ff. 25 BFH v. 15.4.2010 – V R 10/09, UR 2010, 646, Rz. 37; v. 2.9.2010 – V R 23/09, BFH/NV 2011, 458, Rz. 33. 26 BFH v. 3.3.2011 – V R 23/10, BStBl. II 2012, 74, Rz. 21; v. 1.12.2011 – V R 1/11, UR 2012, 363, Rz. 23 f.; v. 13.2.2014 – V R 5/13, UR 2014, 566, Rz. 15; v. 19.3.2014 – XI B 126/13, n.v., Rz. 16, zit. nach juris. 27 GmS-OBG, Beschl. v. 10.4.1986 – GmS-OBG 1/85, BVerwGE 74, 368, Rz. 11; BVerwG v. 15.12.1989 – 7 C 6/88, BVerwGE 84, 236, Rz. 7; FG Münster v. 16.4.2013 – 15 K 227/10, EFG 2013, 1266, Rz. 55; Ramsauer in Kopp/Ramsauer, 14. Aufl. 2013, § 54 Rz. 29.

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Die öffentliche Hand als Steuerpflichtiger

Reihe konkreter Abgrenzungskriterien, die den Vertragsgegenstand kennzeichnen.28 Damit entscheidet doch der Gegenstand des Vertrags und somit die Tätigkeit, ob es sich um einen öffentlich-rechtlichen Vertrag und demnach  – nach Auffassung des BFH – um die Ausübung öffentlicher Gewalt handelt. Dies steht im Widerspruch zu der Rechtsprechung des BFH, wonach Gegenstand und Zielsetzung der Tätigkeit bei der Bestimmung, ob eine jPöR eine Tätigkeit im Rahmen der öffentlichen Gewalt ausübt, eigentlich irrelevant sein sollen. Auch stellt sich die Frage, ob der EuGH bei seiner Abgrenzung strikt die jeweilige nationale Differenzierung von öffentlich-rechtlichem und privatrechtlichem Handeln vor Augen hat oder ob es Fälle geben kann, in denen sich (nationales) privatrechtliches Handeln als Ausübung öffentlicher Gewalt darstellt. Nach der Rechtsprechung des EuGH steht lediglich fest, dass sich die Abgrenzung nicht ausschließlich an Gegenstand oder Zielsetzung dieser Tätigkeit orientiert.29 Vielmehr müsse das nationale Finanzgericht bei seiner Entscheidung, ob diese Tätigkeit im Rahmen einer öffentlich-rechtlichen Sonderregelung oder unter den gleichen rechtlichen Bedingungen wie bei privaten Wirtschaftsteilnehmern ausgeübt wird, alle im nationalen Recht vorgesehenen Modalitäten der Ausübung der fraglichen Tätigkeit berücksichtigen.30 Ein Indiz für ein Tätigwerden im Rahmen der öffentlichen Gewalt ist dabei das Gebrauchmachen von hoheitlichen Befugnissen.31 Der EuGH betont in diesem Zusammenhang aber, dass diese Prüfung in Anbetracht der Natur der vorzunehmenden Prüfung Sache des nationalen Gerichts sei.32 Das einzige Kriterium, das eine sichere Unterscheidung dieser beiden Arten von Tätigkeiten ermöglicht, sei folglich die nach dem nationalen Recht anwendbare rechtliche Regelung. Hiervon abweichend hat das Finanzgericht Rheinland-Pfalz eine jPöR nicht als Unternehmer angesehen, obwohl sie privatrechtliche Verträge abgeschlossen hatte.33 Das Gericht bewegt sich damit tendenziell auf der Linie des UStG 1963 und legt einen tätigkeitsbezogenen Maßstab anstelle eines rechtgrundlagebezogenen Maßstabs zu Grunde.

III. Rückkehr zum Wettbewerbskriterium durch § 2b UStG und Folgewirkungen Angesichts der Entwicklung in der Rechtsprechung34 und der lauter werdenden Forderung nach einer Gesetzesänderung35 wurde der Gesetzgeber schließlich doch aktiv. 28 FG Münster v. 16.4.2013 – 15 K 227/10, EFG 2013, 1266, Rz. 55. 29 EuGH v. 14.12.2000 – C-446/98 – Fazenda Pública, UR 2001, 108, Rz. 19. 30 EuGH v. 14.12.2000 – C-446/98 – Fazenda Pública, UR 2001, 108, Rz. 21. 31 EuGH v. 14.12.2000 – C-446/98 – Fazenda Pública, UR 2001, 108, Rz. 22. 32 EuGH v. 15.5.1990 – C-4/89 – Comune di Carpaneto Piacentino u.a., DB 1991, 80, Rz. 11. 33 FG Rheinland-Pfalz v. 22.8.2013 – 6 K 1961/09, rkr. 34 Vgl. neben der genannten Rechtsprechung des BFH die EuGH-Rechtsprechung wie z.B. EuGH v. 16.9.2008 – C-288/07 – Isle of Wight, UR 2008, 816 m. Anm. Küffner; v. 4.6.2009 – C-102/08 – Salix, UR 2009, 484 m. Anm. Küffner. 35 Vgl. z.B. Widmann, UR 2006, 462 (463); Seer/Klemke, BB 2010, 2015; Unterrichtung durch den Präsidenten des Bundesrechnungshofes in BT-Drucks. 15/4081, S.  16; Bardt/Fuest/

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Durch das Steueränderungsgesetz 201536 wurde mit § 2b UStG die umsatzsteuerliche Behandlung von jPöR vom Körperschaftsteuerrecht abgekoppelt. 1. Allgemeine Auswirkungen der Neukonzeption durch § 2b UStG §  2b UStG darf als Besinnung auf die unionsrechtliche Grundlage des UStG, die MwStSystRL, verstanden werden. Dabei entspricht § 2b Abs. 1 UStG weitestgehend Art. 13 Abs. 1 MwStSystRL. Die Auswüchse des Besteuerungsprivilegs der öffentlichen Hand werden durch die Gesamtkonzeption des § 2b UStG jedoch eher behutsam zurückgeschnitten. Als Rudiment der früheren sog. Beistandsleistungen trifft beispielsweise § 2b Abs. 3 Nr. 2 UStG eine Regelung zur Zusammenarbeit von jPöR. Unter bestimmten Voraussetzungen bleibt danach die entgeltliche Zusammenarbeit wie bislang nicht steuerbar. Die Vereinbarkeit dieser Vorschrift mit Unionsrecht ist allerdings umstritten.37 Insgesamt werden ab Geltung von § 2b UStG38 jPöR dennoch deutlich umfassender als bisher der Umsatzbesteuerung unterliegen. a) Abgrenzung anhand der rechtlichen Handlungsform Ausdrücklich spricht sich die Gesetzesbegründung dafür aus, dass eine öffentlich-rechtliche Tätigkeit i.S.v. § 2b UStG nur dann gegeben ist, wenn Handlungsgrundlage eine öffentlich-rechtliche Norm ist. Diskutiert und angezweifelt wurde diese Sichtweise bereits im Gesetzgebungsverfahren.39 Es wird nun zwar nicht mehr an das KStG angeknüpft. Allerdings werden die im allgemeinen Verwaltungsrecht existierenden Abgrenzungstheorien40 letztlich in das UStG hineinkatapultiert. Folge ist, dass eine Tätigkeit, die auf privatrechtlicher Grundlage erbracht wird, nicht unter § 2b Abs. 1 UStG fällt.41 Da den jPöR zum Teil ein Wahlrecht zusteht, ob sie auf öffentlich-rechtlicher oder auf privatrechtlicher Grundlage tätig werden, ermöglicht ihnen das Abstellen auf eine öffentlich-rechtliche Sonderregelung, sich „zum Richter in eigener Sache aufzu­

Lichtblau, Kommunale Unternehmen auf Expansionskurs, Sept. 2010, S. 9 f., abrufbar unter: https://www.iwkoeln.de/fileadmin/publikationen/2010/53496/trends03_10_5.pdf. 36 BGBl. I 2015, S. 1843. 37 Vgl. Widmann, ifo Schnelldienst 2/2017, 13 (14); Hidien, ifo Schnelldienst 2/2017, 22 (26); Heidner, UR 2016. Der Bundesverband der Deutschen Entsorgungs-, Wasser- und Rohstoffwirtschaft e.V. hat insoweit eine förmliche Beschwerde bei der Europäischen Kommission eingereicht, vgl. BDE Bundesverband der Deutschen Entsorgungs-, Wasser- und Rohstoffwirtschaft e.V., Europaspiegel, Mai 2016, S. 4. 38 Vgl. hierzu § 27 Abs. 22 UStG. 39 Vgl. die Äußerungen des Verbands der Universitätsklinika Deutschland e.V. im Wortprotokoll der 46. Sitzung des Finanzausschusses des Dt. Bundestags, Protokoll-Nr. 18/46, S. 26 f.; Heber, UR 2014, 957 (967). 40 Vgl. dazu Schenke in Kopp/Schenke, VwGO, 21. Aufl. 2015, § 40 Rz. 11. 41 Siehe dazu etwa FinMin Schleswig-Holstein, Vfg. v. 23.3.2018 – VI 3510-S 7107-001; Musil, GewArch Beilage WiVerw Nr. 01/2018, 45.

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Die öffentliche Hand als Steuerpflichtiger

schwingen“.42 Das BMF treibt dieses Prinzip in seinem Schreiben vom 16.12.2016 auf die Spitze. Zunächst erläutert das BMF, dass öffentliche Gewalt vorliege, wenn die jPöR auf Grundlage einer öffentlich-rechtlichen Sonderregelung tätig werde.43 Anschließend führt es aus, dass nach dem Grundsatz der Rechtmäßigkeit des Verwaltungshandelns davon ausgegangen werden könne, die von der jPöR gewählte Handlungsform sei auch die rechtlich zulässige.44 Damit beschränkt das BMF die Notwendigkeit einer Prüfung seitens der Finanzverwaltung, ob eine gewählte öffentlich-rechtliche Handlungsform auch rechtmäßigerweise gewählt wurde, auf Sonderfälle. Der vom BMF ins Feld geführte Grundsatz der Rechtmäßigkeit des Verwaltungshandelns ist Ausfluss von Art. 20 Abs. 3 GG.45 Er bezieht sich zunächst einmal auf die Bindung der Verwaltung an Recht und Gesetz. Aus der Bindung an Recht und Gesetz die Vermutung der Rechtmäßigkeit des Verwaltungshandelns abzuleiten, ist jedoch absurd. Ob sich das BMF insoweit von der Rechtsprechung im Verwaltungsrecht hat leiten lassen, wissen wir nicht. Eine Parallele drängt sich allerdings gewissermaßen auf. Auch die Verwaltungsgerichtsbarkeit geht partiell – ohne dies so zu bezeichnen – von einem ähnlichen Verständnis des Grundsatzes der Rechtmäßigkeit des Verwaltungshandelns aus. So entspricht es beispielsweise ständiger Rechtsprechung, dass der Subsidiaritätsgrundsatz der verwaltungsgerichtlichen Feststellungsklage gegenüber einer Leistungsklage dann nicht greift, wenn es sich beim Beklagten um eine öffentlich-rechtliche Körperschaft handelt.46 In ständiger Rechtsprechung unterstellen die Gerichte in einer solchen Konstellation, es sei von der Behörde zu erwarten, dass sie auch ohne Vollstreckbarkeit der Rechtserkenntnis des Gerichts nachkommen werde. Die Antwort auf die Frage, wie dieses Verständnis zu Vorschriften über die Vollstreckung gegen die öffentliche Hand47 passt, bleibt die Rechtsprechung allerdings schuldig. Die dogmatische Herleitung beiseitegestellt: Jedenfalls für jPöR ist die vom BMF aufgestellte Vermutung der Rechtmäßigkeit des Verwaltungshandelns günstig. b) Kritik am gewählten Maßstab Insgesamt problematisch am Abstellen auf eine öffentlich-rechtliche Sonderregelung ist, dass der EuGH bislang nicht umfassend dazu Stellung genommen hat, wann eine Regelung als eine solche öffentlich-rechtliche Vorschrift zu qualifizieren ist.48 Zwar stellte auch der EuGH schon darauf ab, ob die jPöR im Rahmen der eigens für sie geltenden rechtlichen Regelungen tätig wird.49 Jedoch müssen zudem alle im natio42 Kritik hieran äußern vor allem Hidien/Schwarz, UR 2017, 338 (345). 43 BMF, Schr. v. 16.12.2016, III C 2-S 7107/16/10001, BStBl. I 2016, 1451. 44 BMF, a.a.O., Rz. 17. 45 Vgl. z.B. VGH München, Beschl. v. 24.7.2017 – 20 B 15.313, juris, Rz. 31. 46 BVerwG v. 27.10.1970 – VI C 8/69, NJW 1971, 1284; VGH Mannheim v. 28.10.1999 – 5 S 2149/97, NVwZ 2000, 1304. 47 Vgl. § 170 VwGO. 48 Hierzu Küffner/Rust in Hidien/Jürgens, Die Besteuerung der öffentlichen Hand, § 9 Rz. 251. 49 EuGH v. 17.10.1989  – 231/87, 129/88  – Comune di Carpaneto Piacentino, EuZW 1991, 120, Rz. 19; v. 14.12.2000 – C-446/98 – Fazenda Pública, UR 2001, 108, Rz. 17; v. 29.10.2015 – C-174/14 – Saudaçor, UR 2015, 901 m. Anm. Küffner, Rz. 70.

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nalen Recht zur Ausübung der Tätigkeit vorgesehenen Modalitäten berücksichtigt werden.50 Die Mitgliedstaaten verfügen nach Auffassung des EuGH über einen Spielraum.51 Der EuGH entnimmt diesen Spielraum Art. 288 Abs. 3 AEUV, wonach die Wahl der Form und der Mittel zur Umsetzung einer Richtlinie den Mitgliedstaaten freisteht. Der deutsche Gesetzgeber hat diesen Spielraum nur partiell genutzt.52 Das Finanzgericht Rheinland-Pfalz bezweifelt, dass für die Beantwortung der Frage, ob öffentliche Gewalt ausgeübt wird, auf die rechtliche Handlungsform abzustellen ist.53 Kann eine auf privatrechtlicher Grundlage ausgeübte Tätigkeit gar nicht von einem Privaten wahrgenommen werden, sei das Kriterium der öffentlichen Gewalt trotz einer privatrechtlich getroffenen Vereinbarung erfüllt. Im konkret entschiedenen Fall bejahte das Finanzgericht die öffentliche Gewalt, da aus Sicherheits- sowie Geheimhaltungsgründen die streitgegenständliche Tätigkeit nicht von Privaten wahrgenommen werden konnte. Besonders virulent wird das Abgrenzungsproblem anhand der rechtlichen Handlungsform, wenn Rechtsvorschriften der öffentlichen Hand ein Wahlrecht eröffnen. Ein solcher Fall liegt beispielsweise beim Kommunalabgabengesetz für das Land Brandenburg (im Folgenden: KAG) vor. So sind nach §  6 Abs.  1 S.  1 KAG Benutzungsgebühren zu erheben, wenn eine Einrichtung oder Anlage überwiegend dem Vorteil einzelner Personen oder Personengruppen dient, sofern nicht ein privatrechtliches Entgelt gefordert wird. § 8 Abs. 9 KAG bestimmt, dass bei leitungsgebundenen Einrichtungen und Anlagen, die der Versorgung dienen, anstelle von Beiträgen auch Baukostenzuschüsse aufgrund privatrechtlicher Vereinbarung verlangt werden können. Wählt die Gemeinde die Gebühr oder den Beitrag, wäre sie öffentlich-rechtlich tätig. Bei Wahl einer privatrechtlichen Vereinbarung dagegen nicht. Zu dieser Problematik haben die Finanzministerinnen und -minister der Bundesländer bereits gegen den Bund entschieden, dass unabhängig von der gewählten Handlungsform zumindest bei Abwasser- und Abfallentgelten öffentliche Gewalt anzunehmen sei.54 Eine tiefergehende Begründung ist bislang nicht bekannt. Der Wasserverbandstag e. V. Bremen, Niedersachsen, Sachsen-Anhalt begründet seine (mit der Auffassung der Finanzministerinnen und -minister der Bundesländer identische) Position wie folgt:55 „Da es für die Wettbewerbsfrage auf das öffentlich-rechtliche Grundverhältnis ankommt, führt die Verwendung privater Verträge als reine Durchführungshilfe bei einer grundsätzlich hoheitlichen Beziehung zwischen Verband und Anschlussnehmern nicht zu einer Umsatzsteuerpflicht.“

50 EuGH, Fazenda Pública, Rz. 21. 51 EuGH v. 17.10.1989  – 231/87, 129/88  – Comune di Carpaneto Piacentino, EuZW 1991, 120, Rz. 17 ff. 52 Hierzu Küffner/Rust in Hidien/Jürgens, Die Besteuerung der öffentlichen Hand, § 9 Rz. 252. 53 FG Rheinland-Pfalz v. 22.8.2013 – 6 K 1961/09, MwStR 2015, 471. 54 Vgl. Senatsverwaltung für Finanzen Berlin, Presseerklärung Nr. 17-011 v. 22.6.2017. 55 Vgl. Wasserverbandstag e.V. Bremen, Niedersachsen, Sachsen-Anhalt, Positionspapier 2017, Siedlungswasserwirtschaft in Sachsen-Anhalt, 2016, S. 10.

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Die öffentliche Hand als Steuerpflichtiger

Jedenfalls soweit ein Anschluss- und Benutzungszwang besteht, ist nicht von der Hand zu weisen, dass der Einzelne sich dem Vertragsabschluss nicht entziehen kann. Die Leistungsbeziehung ist bereits vor Abschluss des privatrechtlichen Vertrags durch die Satzung vorgezeichnet. Die Übertragung der Verwaltungsrechtsdogmatik auf das Umsatzsteuerrecht führt jedoch dazu, dass es darauf nicht ankommt. Das entscheidende Stichwort lautet an dieser Stelle „Zwei-Stufen-Theorie“. Während die erste Stufe (sog. Entscheidungsstufe: das „Ob“) öffentlich-rechtlich ausgestaltet ist, kann die zweite Stufe (sog. Umsetzungsstufe: das „Wie“) öffentlich-rechtlich oder privatrechtlich wahrgenommen werden.56 Mit dem ursprünglichen Zweck der Theorie, die Verwaltung auch bei der Nutzung privatrechtlicher Handlungsformen den Bindungen des öffentlichen Rechts zu unterwerfen57, hat dies dann nichts mehr zu tun. Während im Verwaltungsrecht über die erste Stufe noch der Fuß in die Tür des öffentlichen Rechts gelangen konnte, funktioniert dies im Umsatzsteuerrecht nicht. Im Umsatzsteuerrecht kommt es nach der Konzeption der Zwei-Stufen-Theorie immer auf die zweite Stufe an. Letztlich zeigt sich hier einmal mehr, dass die Übertragung der Verwaltungsrechtsdogmatik auf die umsatzsteuerrechtliche Bewertung der Tätigkeiten der öffentlichen Hand nicht der Königsweg ist. Als Fazit bleibt festzuhalten: Aufgrund der vom BMF eingenommenen Position zum Kriterium der öffentlichen Gewalt muss davon ausgegangen werden, dass ein Tätigwerden auf privatrechtlicher Grundlage ab dem ersten Euro steuerbar und – sofern keine Steuerbefreiung in Frage kommt – auch steuerpflichtig ist. All diese Fälle frühzeitig herauszufiltern und frühzeitig auf die rechtliche Umstellung zu reagieren, ist eine Herausforderung, der sich die öffentliche Hand stellen muss. 2. Große Herausforderung für jPöR Für die jPöR besteht angesichts der geänderten Rechtslage Bedarf, sich vorzubereiten. Wenngleich bei Ausübung der Option nach § 27 Abs. 22 UStG die Vorschrift des § 2b UStG – vorbehaltlich eines vorzeitigen Widerrufs – erst ab 1.1.2021 zur Anwendung kommt, müssen bereits jetzt Vorbereitungsmaßnahmen getroffen werden. Am Beispiel des Bundes soll nachfolgend aufgezeigt werden, welche Dimension § 2b UStG trotz ausgeübter Optionserklärung bereits jetzt entfaltet: Da die Bundesrepublik Deutschland vielfach wirtschaftlich tätig ist58, kommen durch die Gesetzesänderung nicht unerhebliche Änderungen auf den Bund zu. Die Betätigungsfelder des Staates sind zumindest teilidentisch mit den Betätigungsfeldern privater Unternehmen. Auch wenn es auf den ersten Blick abwegig erscheinen mag, dass der Bund eine Umsatzsteuerjahreserklärung abzugeben hat, ist dies nur konsequente Folgerung aus seiner wirtschaftlichen Tätigkeit am Markt. Dies lässt sich auch nicht mit der Argumentation bestreiten, es erfolge lediglich eine Verschiebung von der 56 Vgl. hierzu Kopp/Ramsauer, VwVfG, 16. Aufl. 2015, § 35 Rz. 77. 57 Vgl. z.B. VG Regensburg v. 2.5.2005 – RN 3 E 05.00476, BeckRS 2005, 34347. 58 Beispielhaft sei hier die Tätigkeit der Kompetenz- und Dienstleistungszentren des Bundes angeführt; siehe hierzu auch BMF v. 24.8.2015 – Z A 5-H 1200/14/10085:002, DStR 2015, 2288.

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„rechten Tasche in die linke Tasche“.59 Aufgrund der Selbständigkeit der Haushaltswirtschaft bei den einzelnen Einrichtungen liegt regelmäßig auch kein reines „Null­ summenspiel“ vor.60 Der Bund ist in seiner Rolle als „Steuereinnehmer für Rechnung des Staates“ auch nicht für sich selbst tätig. Daher liegt auch keine Art Konfusion vor. Denn das Umsatzsteueraufkommen steht dem Bund nicht alleine zu, vgl. Art.  106 Abs. 3 GG. Zudem schöpft die Umsatzsteuer nicht die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des Unternehmers (hier also des Bundes) ab, sondern die des Endverbrauchers.61 a) Der Bund als Steuerpflichtiger i.S.d. MwStSystRL Für den Bund dürfte die Vorbereitung auf die Anwendung von § 2b UStG zum Mammutprojekt werden. Seit der Rs. Gmina Wrocław ist hinreichend geklärt, dass haushaltsgebundenen Einrichtungen die Selbständigkeit fehlt.62 Selbständigkeit liegt nach dem EuGH vor, wenn kein Unterordnungsverhältnis gegeben ist.63 Um dies beurteilen zu können, ist zu prüfen, ob die betroffene Einrichtung ihre Tätigkeiten im eigenen Namen, auf eigene Rechnung und in eigener Verantwortung ausübt. Des Weiteren ist maßgeblich, ob die Einrichtung das mit der Ausübung dieser Tätigkeiten einhergehende wirtschaftliche Risiko selbst trägt. Für den Bund bedeutet dies, dass er eine Umsatzsteuerjahreserklärung abzugeben hat, die eine Vielzahl von unselbständigen Behörden mitberücksichtigt. Alleine wenn man die unteren Bundesbehörden zählt, kommt man auf 157 bundesbehördliche Einrichtungen.64 Inwieweit diese und alle weiteren unselbständigen Bundesbehörden einer wirtschaftlichen Tätigkeit nachgehen, müsste in jedem Einzelfall geprüft werden. Die Finanzverwaltung schlägt bislang freilich einen anderen Weg ein: Sie ist der Auffassung, dass auch einzelne unselbständige Organisationseinheiten als Steuerpflichtige behandelt werden können.65 Schon unter Anwendung von §  2 Abs.  3 UStG a.F. entsprach es zwar dem tradierten Grundsatz der Finanzverwaltung, dass eine jPöR mit mehreren Betrieben gewerblicher Art nur eine Umsatzsteuererklärung bzw. Umsatzsteuervoranmeldung abzugeben habe.66 Eine Ausnahme sollte jedoch gelten, so59 Vgl. zur Dreifachrolle der öffentlichen Hand als Steuergläubiger, Steuerschuldner und Steuerträger: Reimer, DStJG 32 (2009), S. 325 (326). 60 Reimer, DStJG 32 (2009), S. 325 (333); a.A. wohl Seer/Klemke, BB 2010, 2015 (2016), die sogar von einem Minusgeschäft sprechen. 61 Vgl. zum Charakter der Mehrwertsteuer: EuGH v. 11.10.2007 – C-283/06 und C-312/06 – Kögáz, UR 2007, 906, Rz. 51 ff.; EuGH v. 18.12.1997 – C-384/95 – Landboden-Agrardienste GmbH & Co. KG, UR 1998, 102 m. Anm. Stapperfend, Rz. 23; Hummel, UR 2015, 213 (216 f.); Stadie in Rau/Dürrwächter, UStG, 174. Lfg. 2017, Einf. Anm. 143. 62 EuGH v. 29.9.2015 – C-276/14 – Gmina Wrocław, BFH/NV 2015, 1662. 63 EuGH v. 29.9.2015 – C-276/14 – Gmina Wrocław, BFH/NV 2015, 1662, Rz. 34, dort auch zum Folgenden. 64 Vgl. zu den Behörden des Bundes die Rubrik „Behörden“ unter www.service.bund.de. 65 Siehe Abschn. 1a.1 Abs. 3 UStAE. 66 Vgl. BayLfSt, Ertrags- und Umsatzbesteuerung der öffentlichen Hand, Feb. 2018, S. 13, dort auch zum Folgenden.

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weit es um die Umsatzsteuer von Betrieben gewerblicher Art des Bundes und der Länder geht. Deren Veranlagung sollte gesondert für jeden einzelnen Betrieb beim jeweils zuständigen Finanzamt erfolgen. Auch wenn die Finanzverwaltung bislang noch nicht geneigt scheint, die Rechtsprechung des EuGH zu berücksichtigen und umzusetzen, wird sie sich dem auf lange Sicht nicht entziehen können. Nach Überzeugung des EuGH existiert nur „ein“ Steuerpflichtiger.67 Dieser hat die Erklärungspflichten nach Art. 250 ff. MwStSystRL zu erfüllen. Der Status des Steuerpflichtigen nach Art.  9 Abs.  1 MwStSystRL setzt die Fähigkeit voraus, wirtschaftliche Tätigkeiten auszuüben.68 Insoweit ist der Auffassung von Stadie zuzustimmen, dass dies nur derjenige kann, der rechtlich dazu befähigt ist, Austauschverträge abzuschließen.69 Konsequente Folgerung ist, dass deshalb richtigerweise einzelnen unselbständigen Organisationseinheiten auch keine Umsatzsteuer-Identifikationsnummer zugeteilt werden kann.70 Bezogen auf die Bundesrepublik Deutschland ergibt sich aus Art. 65 GG, wem die Befugnis zur Vertretung zusteht. Nach der Vorschrift leitet jeder Bundesminister seinen Geschäftsbereich selbständig und unter eigener Verantwortung. Konsequenterweise wäre daher vom Finanzminister die Umsatzsteuererklärung der Bundesrepublik abzugeben. Dass die Sichtweise, nur beim Bund handle es sich um einen Unternehmer, nicht aber bei seinen unselbständigen Einrichtungen, praktische Probleme nach sich zieht, vermag nichts an dieser Einschätzung zu ändern.71 Insbesondere der Problemkreis „Abgabe einer einzigen Umsatzsteuererklärung“ stellt Großkonzerne regelmäßig vor dieselben Herausforderungen. Im Vergleich zu diesen eine Privilegierung der öffentlichen Hand anzunehmen, wäre nicht sachgerecht. Gerade durch die Neuregelung der umsatzsteuerrechtlichen Behandlung jPöR sollte eine Annäherung an die umsatzsteuerrechtliche Behandlung von Personen des Privatrechts erfolgen. Spätestens wenn ein Gericht über die Fragestellung zu entscheiden haben wird, ist zu prognostizieren, dass insoweit ein Wandel eingeleitet werden wird. Die Finanzgerichtsbarkeit hat auch in der Vergangenheit, bezogen auf § 2 Abs. 3 UStG a.F., einen langen Atem bewiesen. Und: „Ein pflichtbewußter Richter kann sich der Aufgabe, das Recht notfalls fortzuentwickeln, nicht entziehen.“72

67 Vgl. dazu auch Korn in Bunjes, UStG, 16. Aufl. 2017, § 2b Rz. 6; a.A. Klenk, UR 2016, 180, der Betriebe mit Sondervermögen als Steuerpflichtige einstuft. 68 Vgl. zu dieser Argumentationslinie Stadie in Rau/Dürrwächter, UStG, 175. Lfg. 2018, § 2b Rz. 71. 69 Stadie, a.a.O. 70 Vgl. hierzu. Küffner, UR 2015, 834, Anm. zu EuGH v. 29.9.2015  – C-276/14  – Gmina Wrocław. 71 A.A. wohl Klenk, UR 2016, 180. 72 BGH v. 1.4.1953 – II ZR 235/52, NJW 1953, 780.

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b) Entwicklung maßgeschneiderter Organisationsstrukturen Wichtig für dezentral geführte Gebietskörperschaften (wie beispielsweise den Bund) wird es sein, Organisationsstrukturen zu entwickeln und zu leben, die den Anforderungen an die Neuregelung und deren steuerrechtliche Auswirkungen genügen. Der Anpassungsbedarf dürfte insoweit nicht zu überschätzen sein. Die Abgabe einer einzigen Umsatzsteuererklärung respektive Umsatzsteuervoranmeldung für alle unselbständigen Einrichtungen des Bundes dürfte vor allem unter zeitlichen Aspekten zum Problem werden. Situationen, in denen die linke Hand nicht weiß, was die rechte tut, müssen eliminiert werden. Es muss eine Struktur geschaffen werden, die die relevanten Informationen aller dezentralen Einheiten der Gebietskörperschaft zusammenführt. c) Fernwirkungen im Zusammenhang mit der Umstellung Die Schaffung einer straffen Organisation im Zusammenhang mit der Neuregelung des § 2b UStG ist auch unter dem Gesichtspunkt der steuerrechtlichen Verantwortung des gesetzlichen Vertreters von Bedeutung. Nach § 69 i.V.m. §§ 34, 35 AO haften unter anderem die gesetzlichen Vertreter natürlicher und juristischer Personen für Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis. Diese Regelung umfasst auch die gesetzlichen Vertreter von Gebietskörperschaften. Zudem dürfen die Rechtsprechung sowie die Finanzverwaltungsauffassung zum Organisationsverschulden nach § 130 OWiG nicht aus den Augen verloren werden. Nach § 130 OWiG stellt die Unterlassung von Aufsichtsmaßnahmen, die zur Verhinderung einer Zuwiderhandlung gegen betriebsbezogene Pflichten erforderlich sind, eine Ordnungswidrigkeit dar. Über die Brücke des §  9 OWiG gilt die Vorschrift nicht nur für den „Inhaber eines Betriebes oder Unternehmens“, sondern unter anderem auch für den gesetzlichen Vertreter des Unternehmens. Einige Finanzbehörden haben diese Norm bereits bei Kommunen und Universitäten bemüht. Die Verwunderung beim Oberbürgermeister bzw. Präsidenten der Universität war dann groß. Der gleiche Maßstab gilt dann für die gesetzlichen Vertreter von Gebietskörperschaften. Sie sind zukünftig gleichermaßen in der Pflicht. Neben diesen negativen Punkten gibt es jedoch auch Positives zu ergänzen: Im Jahr 2016 erfolgte eine Änderung des AEAO zu § 153.73 Nach Nr. 2.6 S. 6 zu § 153 AEAO kann die Einrichtung eines innerbetrieblichen Kontrollsystems, das der Erfüllung der steuerlichen Pflichten dient, ein Indiz darstellen, das gegen das Vorliegen eines Vorsatzes oder der Leichtfertigkeit sprechen kann. Schaffen jPöR also ein innerbetriebliches Kontrollsystem und leben dieses entsprechend, können sich Leitungsorgane unter Umständen entlasten. Nur in wenigen Fällen allerdings haben Gebietskörperschaften bereits ein eigenes innerbetriebliches Kontrollsystem entwickelt und praktizieren dieses auch. Im Zuge der Entwicklung von Organisationsstrukturen zur Erfüllung der steuerrechtlichen Pflichten kann und sollte diese Thematik mit aufgegriffen werden.

73 Vgl. BMF v. 23.5.2016, BStBl. I 2016, 490.

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IV. Abschließendes Resümee Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die öffentliche Hand mit der Neuregelung in § 2b UStG weit mehr in die Pflicht genommen wird als bisher. Darüber, ob der deutsche Gesetzgeber all die angesprochenen Problemfelder bei der Neuregelung überhaupt im Sinn hatte, kann nur spekuliert werden. Andererseits konnte sich der nationale Gesetzgeber nicht dauerhaft blind stellen und eine nicht unionsrechtskonforme Rechtslage fortbestehen lassen. Jedenfalls sind die betroffenen jPöR nun gefordert, sich vorzubereiten. Wie so oft im Leben gilt auch an dieser Stelle: „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.“ Vor allem darf man gespannt sein, wie sich die Bundes- und Landesregierungen hier zukünftig aufstellen werden. Manch einer wird diese Entwicklung mit Schadenfreude beobachten. Denn jetzt holen den Gesetzgeber und damit die Politiker die eigenen Gesetze ein. Der Grundsatz „Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich“ gewinnt hier eine ganz neue Bedeutung.

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Besteuerung am Ort der Empfängerbetriebsstätte Inhaltsübersicht I. Einleitung II. „Aktive“ vs. „rein passive“ Betriebsstätte 1. Problemstellung 2. Bislang keine klare Positionierung durch den EuGH 3. Wortlaut 4. Genese 5. Systematik 6. Telos a) Verbrauchsortprinzip

b) Praktikabilitätserwägungen 7. Zusammenfassende Würdigung III. Rangfolge der Anknüpfungspunkte des Art. 44 MwStSystRL 1. Kritik der vom EuGH aufgestellten ­Vorrangregel 2. Teleologisch angeleitete Konkretisierung der Vorrangregel IV. Schlussbetrachtung

I. Einleitung Das internationale Mehrwertsteuerrecht orientiert sich seit jeher am Bestimmungslandprinzip bzw. Verbrauchsortprinzip: Im Idealfall soll auf Warenlieferungen oder Dienstleistungen nach Maßgabe der steuerrechtlichen Vorgaben des Verbrauchsortes Mehrwertsteuer erhoben werden und diese soll auch dem entsprechenden Absatzmarktland zufließen1. Das gewährleistet die Wettbewerbsneutralität der Besteuerung sowie eine der Mehrwertsteuer als Verbrauchsteuer2 adäquate zwischenstaatliche Verteilung des Steueraufkommens. Bei einheitlicher Handhabung des Bestimmungslandprinzips lassen sich außerdem die jeweiligen nationalen Besteuerungsansprüche überschneidungsfrei abgrenzen und Doppelbesteuerung oder doppelte Nichtbesteuerung vermeiden. Aus Gründen eines praktikablen und administrierbaren Steuervollzugs sowie angesichts des zunächst relativ geringen Volumens grenzüberschreitender Transaktionen wurde das Verbrauchsortprinzip im Dienstleistungshandel, der keine Möglichkeit eines Grenzausgleichs bietet, in der EU allerdings lange Zeit nur

1 S. zum dahingehenden internationalen Konsens die von der OECD Ende 2016 als Empfehlung verabschiedeten und zuvor im November 2015 von ca. 100 Staaten anlässlich eines OECD Global Forum gebilligten International VAT/GST Guidelines, 2017, Guideline 3.1: „For consumption tax purposes internationally traded services and intangibles should be taxed according to the rules of the jurisdiction of consumption.“ Die Guidelines beschränken sich auf die Formulierung von Standards für die Besteuerung grenzüberschreitender sonstiger Leistungen; für Warenlieferungen gilt jedoch nicht anderes. S. auch Schenk/Thuronyi/Cui, Value Added Tax2, 2015, S. 195 f.; Schaumburg, in Schaumburg (Hrsg.), Internationales Steuerrecht4, 2017, Rz. 10.2 f. 2 S. Art. 1 Abs. 2 MwStSystRL; Stadie, Umsatzsteuerrecht, 2005, Rz. 1.13 f.

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rudimentär verwirklicht3. Das änderte sich jedoch mit dem 2008 verabschiedeten und zum 1.1.2010 in das deutsche UStG umgesetzten sog. „Mehrwertsteuerpaket“4. Seither folgt die Zuweisung von Besteuerungshoheiten für grenzüberschreitend erbrachte Dienstleistungen ganz überwiegend der Leitmaxime einer Besteuerung am Ort ihres mutmaßlichen Verbrauchs, der in Abhängigkeit von der Leistungskategorie durch unterschiedliche Anknüpfungspunkte typisiert wird. Praktisch von besonderer Bedeutung ist insoweit die Grundregel des § 3a Abs. 2 UStG für zwischenunternehmerische (sog. „B2B“) und ihnen gleichgestellte Umsätze. Danach wird die für einen Unternehmer erbrachte sonstige Leistung grds. an dessen Unternehmenssitz5 ausgeführt, § 3a Abs. 2 Satz 1 UStG. Wird sie aber an eine vom Unternehmenssitz verschiedene Betriebsstätte ausgeführt, richtet sich der Leistungsort gemäß § 3a Abs. 2 Satz 2 UStG stattdessen nach der Belegenheit dieser Betriebsstätte. Das UStG setzt damit die Vorgaben des Art. 44 MwStSystRL um und ist entsprechend richtlinienkonform auszulegen. Die maßgebliche Richtlinienbestimmung lautet6: „Als Ort einer Dienstleistung an einen Steuerpflichtigen, der als solcher handelt, gilt der Ort, an dem dieser Steuerpflichtige den Sitz seiner wirtschaftlichen Tätigkeit hat. Werden diese Dienstleistungen jedoch an eine feste Niederlassung des Steuerpflichtigen, die an einem anderen Ort als dem des Sitzes seiner wirtschaftlichen Tätigkeit gelegen ist, erbracht, so gilt als Ort dieser Dienstleistungen der Sitz der festen Niederlassung.“

Durch diese Regelung soll näherungsweise dem Verbrauchsortprinzip Rechnung getragen werden7. Insbesondere die Anknüpfung an eine die Leistung beziehende feste Niederlassung des Leistungsempfängers soll den Leistungsort näher an den mutmaß3 S. die Bestandsaufnahme im Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Änderung der Richtlinie 77/388/EWG bezüglich des Ortes der Dienstleistung v. 23.12.2003, KOM(2003) 822 endg., S.  2. Darüber hinaus entsprach die stattdessen praktizierte Besteuerung nach dem Ursprungslandprinzip auch dem offiziellen Fernziel einer dahingehenden Zuweisung von Besteuerungsbefugnissen für den gesamten Handelsverkehr zwischen den Mitgliedstaaten, s. den nach wie vor geltenden Art. 401 Abs. 1 MwStSystRL. Von dieser Zielsetzung hat sich die EU-Kommission erst 2011 distanziert, s. die Mitteilung der Kommission v. 6.12.2011 zur Zukunft der Mehrwertsteuer, KOM(2011) 851 endg., S. 5 f. Vgl. nunmehr auch den Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Änderung der RL 2006/112/EG bezüglich der Einführung eines definitiven Systems der Besteuerung des Handels zwischen den Mitgliedstaaten v. 4.10.2017, KOM(2017) 569 final. 4 Vgl. hierzu Kuttin/Berger, in FS Nolz, 2008, S. 249 ff.; Huschens, UVR 2008, 272 ff. Für die Hinwendung zum Verbrauchsortprinzip am bedeutsamsten war im Rahmen des seinerzeit verabschiedeten Bündels von Rechtsakten die Richtlinie 2008/8/EG zur Änderung der Richtlinie 2006/112/EG bezüglich des Ortes der Dienstleistung, v. 12.2.2008. 5 S. dazu Art. 10 MwSt-DVO sowie vor dessen Inkrafttreten EuGH v. 28.6.2007 – C-73/06, ECLI:EU:C:2007:397 – Planzer Luxembourg, UR 2007, 654. 6 Wiedergegeben werden nur Art. 44 Sätze 1 und 2 MwStSystRL; Satz 3 ist für die vorlegende Untersuchung ohne Bedeutung. 7 S. Erwägungsgründe 3 und 4 der Präambel zur ÄnderungsRL 2008/8/EG v. 12.2.2008 sowie den zugrunde liegenden Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Änderung der Richtlinie 77/388/EWG bezüglich des Ortes der Dienstleistung v. 23.12.2003, KOM(2003) 822 endg., S. 3.

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lichen Verbrauchsort verlagern8. Das entspricht insgesamt auch den 2016 verabschiedeten Empfehlungen der OECD zur Leistungsortbestimmung bei grenzüberschreitenden B2B-Dienstleistungen9. Die Einbeziehung von Betriebsstätten bzw.  – in unionsrechtlicher Diktion  – festen Niederlassungen in die Leistungsortbestimmung wirft eine Reihe von Fragen auf, die auch zehn Jahre seit Verabschiedung des maßgeblichen Unionsrechtsaktes noch nicht zufriedenstellend beantwortet sind. Erstens ist nach wie vor höchstrichterlich ungeklärt und umstritten, wie das Konzept der „Betriebsstätte“ in diesem Zusammenhang zu definieren ist. Ebenfalls kontrovers erörtert wird zweitens das Verhältnis der beiden Anknüpfungspunkte des Unternehmenssitzes einerseits und der (davon verschiedenen) Betriebsstätte andererseits. Der EuGH postuliert einen grundsätzlichen Vorrang der Ortsbestimmung nach dem Unternehmenssitz10, was vor allem mit Blick auf den Wortlaut des Art. 44 MwStSystRL im Schrifttum teils scharf kritisiert wird11. Drittens schließlich besteht auch noch keine Einigkeit in der Frage, anhand welcher Kriterien im Einzelnen zu bestimmen ist, ob und ggf. inwieweit eine Leistung an eine bestimmte Betriebsstätte des Leistungsempfängers erbracht wurde, und ob hierüber aus Sicht von Leistendem und Leistungsempfänger einheitlich entschieden werden muss12. Der vorliegende Beitrag wird sich darauf konzentrieren herausarbeiten, welche Zielkonflikte den beiden erstgenannten Problemstellungen zugrunde liegen, um im Rahmen des geltenden Rechts zu systematisch-teleologisch überzeugenden Auslegungsergebnissen zu gelangen. Die dritte Fragestellung soll hier einstweilen offenbleiben; die kommenden 100 Jahre Umsatzsteuer werden ausreichend Gelegenheit bieten, sich an späterer Stelle auch noch damit zu befassen.

II. „Aktive“ vs. „rein passive“ Betriebsstätte 1. Problemstellung Weder in §  3a Abs.  2 UStG noch anderweitig im deutschen UStG findet sich eine Definition des Begriffs der „Betriebsstätte“13. Allgemein anerkannt ist ferner, dass für 8 S.  Schippers/Boender, Intertax 2015, 709 (710); Spies, Bulletin for International Taxation 2017, 705 (706). 9 S. OECD, International VAT/GST Guidelines, Guideline 3.1.: „For consumption tax purposes internationally traded services and intangibles should be taxed according to the rules of the jurisdiction of consumption”, Guideline 3.2.: „For the application of Guideline 3.1, for business-to-business supplies, the jurisdiction in which the customer is located has the taxing rights over internationally traded services or intangibles”, sowie Guideline 3.4.: „“[W]hen the customer has establishments in more than one jurisdiction, the taxing rights accrue to the jurisdiction(s) where the establishment(s) using the service or intangible is (are) located”. 10 EuGH v. 16.10.2014 – C-605/12, ECLI:EU:C:2014:2298 – Welmory, UR 2014, 937. 11 Dazu näher unten bei III.1. 12 Erheblichen Diskussionsbedarf erzeugen insoweit schon die weitreichenden Thesen von Merkx, Establishments in European VAT, 2013, S. 102 ff. 13 Zu den terminologischen Unstimmigkeiten zwischen nationalem Steuerrecht und dem unmittelbaren Verordnungsrecht der Union eingehend Lohse, UR 2012, 8.

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die Zwecke des UStG der Betriebsstättenbegriff nicht anhand der allgemeinen Definition des § 12 AO konkretisiert werden kann14. Um in unionsrechtlich harmonisierten Regelungsbereichen eine unionsweit einheitliche Rechtsanwendung sicherzustellen, muss das nationale Recht soweit als möglich unionsrechtskonform interpretiert und das maßgebliche Sekundärrecht seinerseits unionsrechtsautonom ausgelegt werden15. Das gilt in besonderem Maße für die Ortsbestimmungsregeln des harmonisierten Mehrwertsteuerrechts, weil ihre einheitliche Handhabung in allen Mitgliedstaaten eine ebenso lückenlose wie überschneidungsfreie Wahrnehmung nationaler Steuerhoheiten sicherstellen soll16. Der Betriebsstättenbegriff des § 3a Abs. 2 UStG ist daher grundsätzlich in Übereinstimmung mit seinem richtlinienrechtlichen Pendant der „festen Niederlassung“ im Sinne des Art. 44 MwStSystRL auszulegen17. Dieser Terminus wird seinerseits seit dem 1.7.2011 in Art. 11 Abs. 1 MwSt-DVO legal definiert. Nach Ansicht des EuGH ist diese Vorschrift außerdem auch für Zeiträume vor ihrem Inkrafttreten als Richtschnur für die Auslegung des Konzepts der festen Niederlassung zu „berücksichtigen“18. Gemäß Art. 11 Abs. 1 MwSt-DVO gilt als feste Niederlassung im Sinne des Art. 44 MwStSystRL „jede Niederlassung […], die einen hinreichenden Grad an Beständigkeit sowie eine Struktur aufweist, die es ihr von der personellen und technischen Ausstattung her erlaubt, Dienstleistungen, die für den eigenen Bedarf dieser Niederlassung erbracht werden, zu empfangen und dort zu verwenden.“ Diese Legaldefinition verursacht einige Abgrenzungsschwierigkeiten, weil in Grenzfällen zweifelhaft sein kann, welche Anforderungen an die zeitliche und räumliche Dimension hinreichender Beständigkeit zu stellen sind, ob stets sowohl personelle als auch technische Ressourcen vor Ort vorhanden sein müssen, und inwieweit diese ggf. vom Steuerpflichtigen kontrolliert werden müssen. Da diese Merkmale allesamt auf der vorherigen

14 FG Berlin-Brandenburg v. 12.7.2017 – 7 K 7094/16, n.n.v., Rz. 34; Stadie, in Rau/Dürrwächter, UStG, § 3a Rz. 196; Radeisen, in Hartmann/Metzenmacher, UStG, § 3a Rz. 176; Wäger, in Sölch/Ringleb, UStG, § 3a Rz. 86. 15 S. Robisch, in Bunjes, UStG16, 2017, Vor § 1 Rz.10. 16 St. Rspr. des EuGH, s. bspw. EuGH v. 26.1.2012 – C-218/10, ECLI:EU:C:2012:35 – ADV Allround, UR 2012, 175 m. Anm. Burgmaier und Sterzinger, Rz.  27; v. 16.10.2014  – C-605/12, ECLI:EU:C:2014:2298 – Welmory, UR 2014, 937, Rz. 42. 17 Zur Notwendigkeit einer richtlinienkonformen Auslegung des Betriebsstättenbegriffs vor Inkrafttreten des Art. 11 MwSt-DVO s. BFH v. 30.6.2011 – V R 37/09, BFH/NV 2011, 2129 sowie eingehend Becker, Ortsbestimmung von sonstigen Leistungen durch Anknüpfung an die Ansässigkeit von Leistungserbringer bzw. Leistungsempfänger, 2011, S. 116 ff. 18 EuGH v. 16.10.2014 – C-605/12, ECLI:EU:C:2014:2298 – Welmory, UR 2014, 937, Rz. 46. Allerdings kann sich Art. 11 Abs. 2 MwSt-DVO vor dem 1.7.2011 nur mittelbar im Rahmen der richtlinienkonformen Auslegung des § 3a Abs. 2 UStG auswirken, während die Norm seitdem als gemäß Art. 288 Abs. 2 AEUV unmittelbar anwendbares Verordnungsrecht den Betriebsstättenbegriffs des § 3a Abs. 2 UStG überlagert bzw. verdrängt hat. A.A. Stadie, in Rau/Dürrwächter, UStG, § 3a Rz. 197; wohl auch Datzer, Zuordnung von Besteuerungsrechten bei mehrfachansässigen Steuerpflichtigen im Mehrwertsteuerrecht, 2017, S.  93: Berücksichtigung nach wie vor nur im Rahmen der richtlinienkonformen Auslegung des § 3a Abs. 2 UStG. Im Ergebnis macht dies aber keinen Unterschied.

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Rechtsprechung des EuGH zum Niederlassungsbegriff basieren19, kann allerdings ergänzend auf diese Judikatur zurückgegriffen werden20. Im Übrigen stellen sich die vorbezeichneten Fragen gleichermaßen bei jeder Richtlinienbestimmung, die auf das Konzept der festen Niederlassung rekurriert (vgl. insbes. auch die insoweit vergleichbare Legaldefinition des Art. 11 Abs. 2 MwSt-DVO), weshalb sie im Folgenden nicht weiter thematisiert werden. Eine Besonderheit stellt aber das nur in Art. 11 Abs. 1 MwSt-DVO formulierte Erfordernis dar, die Niederlassung müsse so ausgestattet sein, dass sie Eingangsleistungen „für den eigenen Bedarf empfangen und verwenden“ kann. Dieses Merkmal findet kein Vorbild in der Rechtsprechung des EuGH, der sich vor Inkrafttreten der Bestimmung stets nur mit dem Konzept einer leistungserbringenden Niederlassung zu befassen hatte21. Zumindest dem ersten Anschein nach hat der Verordnungsgeber damit eine Dualität des richtlinienrechtlichen Niederlassungsbegriffs geschaffen. Denn Art. 11 Abs. 2 MwSt-DVO definiert die leistungserbringende Niederlassung für die Zwecke des Art. 45 MwStSystRL sowie weiterer Richtlinienbestimmungen davon abweichend – und im Einklang mit der tradierten EuGH-Rechtsprechung22 – als eine solche, die ihrer personellen und technischen Ausstattung nach in der Lage ist, „Dienstleistungen zu erbringen“. Umstritten ist vor diesem Hintergrund namentlich, ob auch eine rein „passive“ Niederlassung, vermittels derer der unternehmerisch tätige Leistungsempfänger keine steuerbaren Außenumsätze abwickelt, im Kontext des Art. 44 MwStSystRL bzw. des § 3a Abs. 2 UStG als Anknüpfungspunkt für die Zuweisung von Besteuerungshoheiten in Betracht kommt23. In der Praxis stehen damit etwa 19 S. auch Erwägungsgrund 14 der Präambel zur MwSt-DVO; Datzer, Zuordnung von Besteuerungsrechten bei mehrfachansässigen Steuerpflichtigen im Mehrwertsteuerrecht, 2017, S. 94. 20 S. insb. EuGH v. 4.7.1985 – C-168/84, ECLI:EU:C:1985:299 – Berkholz, Rz. 18; v. 2.5.1996 – C-231/94, ECLI:EU:C:1996:184 – Faaborg-Gelting Linien, UR 1996, 220 m. Anm. Weiß, Rz. 17; v. 20.2.1997 – C-260/95, ECLI:EU:C:1997:77 – DFDS, UR 1997, 179, Rz. 20 u. 27 ff.; v. 17.7.1997 – C-190/95, ECLI:EU:C:1997:374 – ARO, UR 1998, 185, Rz. 15 f.; v. 7.5.1998 – C-390/96, ECLI:EU:C:1998:206  – Lease Plan, UR 1998, 343, Rz.  24  ff.; v. 28.6.2007  – C-73/06, ECLI:EU:C:2007:397 – Planzer Luxembourg, UR 2007, 654, Rz. 54. 21 S. Datzer, Zuordnung von Besteuerungsrechten bei mehrfachansässigen Steuerpflichtigen im Mehrwertsteuerrecht, 2017, S. 95. 22 S.  EuGH v. 4.7.1985  – C-168/84, ECLI:EU:C:1985:299  – Berkholz, Rz.  18; v. 2.5.1996  – C-231/94, ECLI:EU:C:1996:184 – Faarborg Gelting Linien, UR 1996, 220 m. Anm. Weiß, Rz. 17; v. 17.7.1997 – C-190/95, ECLI:EU:C:1997:374 – ARO Lease, UR 1998, 185, Rz. 15 f.; v. 7.5.1998  – C-390/96, ECLI:EU:C:1998:206  – Lease Plan, UR 1998, 343, Rz.  24; v. 28.6.2007 – C-73/06, ECLI:EU:C:2007:397 – Planzer Luxembourg, UR 2007, 654, Rz. 54. 23 Befürwortend Montfort, UR 2012, 341; Montfort, DStR 2014, 2173; Kern, in Pfeiffer/Ursprung-Steindl (Hrsg.), Global Trends in VAT/GST and Direct Taxes, 2015, S. 217 (221); Van Norden, in van Arendonk/Jansen/van der Paardt (Hrsg.), VAT in an EU and International Perspective, 2011, S. 35 (47); Van Kesteren/Merkx, in Ecker u.a. (Hrsg.), The Future of Indirect Taxation, 2012, S. 621 (637); Tsielepis, IVM 2017, 210 (213); zur dahingehenden Praxis einiger Mitgliedstaaten s. ferner Merkx, Establishments in European VAT, 2013, S.  83. I.E. Ablehnend Heinrichshofen, in Englisch/Nieskens, USt-Kongress-Bericht 2010, S.  109 (122); Merkx, Establishments in European VAT, 2013, S.  96; Stadie, in Rau/Dürrwächter, § 3a Rz. 199; Lippross, USt, 24. Aufl. 2017, S. 269; sowie mit Blick auf die Rechtsla-

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in Rede unselbständige Repräsentationsbüros des Unternehmers, Einrichtungen zur bloßen Kundenbetreuung wie insbesondere sog. „Call Center“, Entwicklungs- und Testabteilungen, sowie administrative „Backoffice“-Strukturen wie ins Ausland ausgelagerte IT- oder Buchführungsabteilungen. Unionsrechtlich eindeutig vorgegeben ist insoweit durch Art. 11 Abs. 3 MwSt-DVO lediglich, dass eine bloße mehrwertsteuerliche Registrierung noch keine feste Niederlassung begründet. 2. Bislang keine klare Positionierung durch den EuGH Der EuGH hatte sich erstmals in der Entscheidung der Rechtssache Welmory mit der Auslegung des Betriebsstättenbegriffs im Kontext des Art. 44 MwSt-DVO unter „Berücksichtigung“24 der für den Ausgangsfall noch nicht unmittelbar anwendbaren Bestimmung des Art. 11 Abs. 1 MwSt-DVO zu befassen. Aus der Entscheidung ist teilweise der Schluss gezogen worden, der Gerichtshof habe das Konzept einer rein passiven festen Niederlassung verworfen25, zumal auch die Generalanwältin in ihren Schlussanträgen Überlegungen in diese Richtung angestellt hatte26. Tatsächlich ist die Entscheidung insoweit aber weniger klar, als es zunächst den Anschein hat. Der Gerichtshof zitierte in seinen Urteilsgründen zunächst die Legaldefinition des Art. 11 Abs. 1 MwSt-DVO und führte dann weiter aus: „Somit muss [der Leistungsempfänger im Niederlassungsstaat] eine Struktur […] aufweisen, die ihrer personellen und technischen Ausstattung nach in der Lage ist, Dienstleistungen, die […] an sie erbracht werden, […] für ihre wirtschaftliche Tätigkeit […] zu empfangen und zu verwenden.“27 In der Arbeitssprache des Gerichtshofs ist dies ebenso deutlich formuliert: “… pour qu’elle soit considérée … comme disposant d’un établissement stable, au sens de l’article 44 de la directive TVA, la société chypriote doit disposer … à tout le moins d’une structure caractérisée par un degré suffisant de permanence, apte, en termes de moyens humains et techniques, à lui permettre de recevoir […] les prestations de services qui lui sont fournies […] et de les utiliser aux fins de son activité économique … “28

Dies geht ferner auch aus der polnischen Sprachfassung – der Verfahrenssprache – sowie aus weiteren amtlichen Übersetzungen der Urteilsgründe hervor.29 Im Fachge vor Inkrafttreten des Art. 11 (1) MwSt-DVO auch S. Becker, Ortsbestimmung von sonstigen Leistungen, 2011, S. 122; FG Sachsen-Anhalt v. 26.4.2006 – 2 K 541/00, EFG 2006, 1945. Unschlüssig Bal, European Taxation 2015, 143 (145 f.); Haller, MwStR 2015, 7 ff. 24 EuGH v. 16.10.2014 – C-605/12, ECLI:EU:C:2014:2298 – Welmory, UR 2014, 937, Rz. 46; s. auch Rz. 58. 25 So Stadie, in Rau/Dürrwächter, UStG, § 3a Rz. 199; Terra/Kajus, A Guide to the European VAT Directives, Vol. 1, 2017, Sec. 11.4.3.1. 26 S. GA Kokott, Schlussanträge v. 15.5.2014 – C-605/12, ECLI:EU:C:2014:340 – Welmory, UR 2014, 937, Rz. 43. 27 EuGH v. 16.10.2014 – C-605/12, ECLI:EU:C:2014:2298 – Welmory, UR 2014, 937, Rz. 59 (Hervorhebung nur hier). 28 EuGH v. 16.10.2014 – C-605/12, ECLI:EU:C:2014:2298 – Welmory, UR 2014, 937, Rz. 59 (Hervorhebung nur hier). 29 S. die polnische Fassung (Verfahrenssprache): “do celów jej działalności gospodarczej“, sowie bspw. auch die italienische und spanische Fassung.

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sprachgebrauch der Mehrwertsteuerrichtlinie und in der dazu ergehenden Judikatur des EuGH ist der Ausdruck der „wirtschaftlichen Tätigkeit“ klar auf die Erbringung steuerbarer Ausgangsleistungen im Sinne des Art. 2 MwStSystRL bezogen.30 Indes geht aus keiner Sprachfassung eindeutig hervor, ob der EuGH die wirtschaftliche Tätigkeit gerade der Niederlassung oder aber des Steuerpflichtigen insgesamt in Bezug genommen hat31. Vor allem aber ist es ohne Weiteres denkbar, dass der Gerichtshof sich schlicht auf die im Ausgangsfall unzweifelhaft mittels der potenziellen Niederlassung ausgeführten steuerbaren Aktivitäten bezog, ohne dieses Kriterium damit zum Definitionsmerkmal erheben zu wollen32. Da es auf die Streitfrage in der Entscheidung nicht ankam, ist vor diesem Hintergrund Zurückhaltung bei der Urteils­ interpretation angezeigt. Von einem höchstrichterlichen Präjudiz kann nach alledem nicht ausgegangen werden. Ergänzend ist festzustellen, dass offenbar auch die EU-Kommission in dieser Frage bislang noch nicht zu einer einheitlichen Linie gefunden hat33. Ambivalent ist auch die Haltung der deutschen Finanzverwaltung34. Worin die Schwierigkeiten einer klaren Positionierung begründet sind, wird deutlich, wenn man es unternimmt den Sinngehalt des Art.  11 Abs.  1 MwSt-DVO anhand der klassischen und auch vom EuGH praktizierten35 Auslegungsmethoden zu erschließen.

30 S. EuGH v. 13.3.2008 – C-437/06, ECLI:EU:C:2008:166 – Securenta, BStBl. II 2008, 727 = UR 2008, 344 m. Anm. Eggers, Rz. 26. 31 So auch Haller, MwStR 2015, 7 (9). 32 S.  Montfort, DStR 2014, 2173; Jovanovic/Merkx, EC Tax Review 2015, 202 (205); Haller, MwStR 2015, 7 (8 f.); Datzer, Zuordnung von Besteuerungsrechten bei mehrfachansässigen Steuerpflichtigen im Mehrwertsteuerrecht, 2017, S. 106 f. 33 Vgl. einerseits den Standpunkt des MwSt-Referats im VAT Committee Working Paper No. 709, v. 15.1.2014, S. 4: rein „passive“ Niederlassung ist von Art. 11 Abs. 1 MwSt-DVO erfasst; sowie andererseits die konträre Rechtsauffassung des Juristischen Dienstes, zitiert in den Schlussanträgen von GA Kokott, v. 15.5.2014  – C-605/12, ECLI:EU:C:2014:340  – Welmory, UR 2014, 937, Rz. 43. Reichlich konfus sodann nachfolgend das MwSt-Referat im VAT Committee Working Paper No. 857, v. 6.5.2015, S.  4: „These two requirements [Anm.: Art. 11 Abs. 1 und Abs. 2 MwSt-DVO] should not be seen as creating two different definitions of the concept of fixed establishment for ‘purchasing’ and ‘supplying’ fixed ­establishments. There is only one single definition of the concept of fixed establishment requiring […] a suitable structure in terms of human and technical resources which how­ ever has to be assessed on a case-by-case basis with regard to the circumstances at stake. This is explained by the fact that in some scenarios the human and technical resources needed for receiving services may not be as important as the resources needed to provide these same services.” 34 S. Abschn. 3a.2 Abs. 4 Satz 1 UStAE, wo einerseits „zum Begriff der Betriebsstätte“ auf das in Abschn. 3a.1 Abs. 3 in Anlehnung an Art. 11 Abs. 2 MwSt-DVO definierte Betriebsstättenkonzept verwiesen, dann aber ergänzend der Wortlaut des Art. 11 Abs. 1 MwSt-DVO referiert wird. 35 Dazu statt aller Stotz, in Riesenhuber, Europäische Methodenlehre, § 22 Rz. 11 ff.

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3. Wortlaut So ist zunächst der Wortlaut des Art. 11 Abs. 1 MwSt-DVO für sich genommen mit Blick auf die Einbeziehung rein „passiver“ Niederlassungen nicht eindeutig. Die Vorschrift betont im Einklang mit Art. 21 Abs. 2 MwSt-DVO, dass die feste Niederlassung von ihr bezogene Eingangsleistungen „für den eigenen Bedarf “ empfangen und verwenden können muss. Was diesen „eigenen Bedarf “ ausmacht, wird aber nicht näher spezifiziert. Einerseits könnte damit jeglicher betrieblicher Aufwand der Niederlassung angesprochen sein, unabhängig davon, ob selbige unmittelbar in ihrem Belegenheitsort in die Ausführung steuerbarer Außenumsätze involviert ist oder nicht. Andererseits könnte als „eigener Bedarf “ aber auch nur ein solcher zu verstehen sein, der mit der Entfaltung einer wirtschaftlichen Tätigkeit im Sinne des Art. 9 MwStSystRL unmittelbar durch Einsatz der personellen und technischen Ressourcen der festen Niederlassung verbunden ist. Dann müsste die feste Niederlassung auch für die Zwecke der Art. 11 Abs. 1 MwSt-DVO, 44 MwStSystRL so ausgestattet sein, dass sie autonom steuerbare Umsätze im Sinne der Art. 2, 14, 24 MwStSystRL tätigen, d.h. im Außenverhältnis zum Kunden des unternehmerischen Leistungsempfängers Warenlieferungen bewirken bzw. Dienstleistungen erbringen kann. Das „Bedarfs“-Konzept des Art. 11 Abs. 1 MwSt-DVO ist für beide Interpretationen offen. Dagegen lässt sich auch nicht anführen, aus Sicht des „durchschnittlichen“ Rechtsanwenders sei eine Verwendung für jeglichen Verbrauch dem Wortlaut nach naheliegender als ein Erfordernis der autonomen Leistungsausführung36. Die fachsprachlichen Begriffe und Definitionsmerkmale der MwSt-DVO sind vielfach teleologisch aufgeladene Zweckschöpfungen37, die einer kontextbezogenen Auslegung bedürfen und nicht zwingend im üblichen lexikalischen Sinne zu verstehen sind. Das zeigt sich nicht zuletzt auch daran, dass bei Befürwortung einer rein „passiven“ Niederlassung der einheitliche Niederlassungsbegriff der Art.  44, 45 MwStSystRL je nach seinem Bezugspunkt unterschiedlich ausgelegt wird, was aus der Sicht eines „durchschnittlichen“ Rechtsanwenders auch nicht eben auf der Hand liegen dürfte. 4. Genese Aufschlussreicher ist die Entstehungsgeschichte des Art. 11 Abs. 1 MwSt-DVO. Schon lange vor dessen Inkrafttreten war im Mehrwertsteuerausschuss wiederholt diskutiert worden, ob sich beim Leistungsempfänger auch rein „passive“ Organisationsstrukturen als feste Niederlassung qualifizieren sollten, um als potenzieller Anknüpfungspunkt für die Bestimmung des Leistungsortes herangezogen zu werden. Da sich die Mitgliedstaaten aber in dieser Frage nicht verständigen konnten38, resignierte die 36 So aber Montfort, DStR 2014, 2173; i.E. ebenso Datzer, Zuordnung von Besteuerungsrechten bei mehrfachansässigen Steuerpflichtigen im Mehrwertsteuerrecht, 2017, S. 107. 37 So wird bspw. in Art. 24a Abs. 1 MwSt-DVO eine Hotellobby mit dem Ansässigkeitsort des Dienstleistungsempfängers gleichgesetzt, wenn dieser die in Rede stehenden elektronischen o.ä. Dienstleistungen dort empfängt. 38 S.  dazu die Schilderungen und Dokumentennachweise in EU-Kommission, VAT Com­ mittee Working Paper No. 619, v. 11.5.2009, taxud.d.1(2009)108658, S. 6 f.

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Kommission zunächst in ihrem Vorschlag zur Neuregelung der Leistungsortregelungen im Rahmen des „Mehrwertsteuerpakets“ und sah von einer gesetzlichen Klarstellung ab39. Nachdem der Vorschlag mehr als vier Jahre später angenommen worden war und damit die Relevanz der Empfängerniederlassung für die Zuweisung von Besteuerungsrechten deutlich zugenommen hatte, unternahm die Kommission einen neuen Anlauf im Mehrwertsteuerausschuss. Sie legte in einem vorbereitenden Arbeitspapier nochmals die unterschiedlichen Positionen dar und wies darauf hin, dass mit der Anerkennung einer rein „passiven“ Niederlassung im Kontext des Art.  44 MwStSystRL eine Zweiteilung des Konzepts der festen Niederlassung verbunden wäre und in der Folge auch Einrichtungen wie Repräsentationsbüros als solche zu qualifizieren wären.40 Die Kommission sprach sich dann für eine solche Auslegung aus und schlug dem Mehrwertsteuerausschuss folgende Beschlussfassung vor: „The VAT Committee […] agrees that to qualify as a fixed establishment, the degree of per­ manence and the adequate structure, in terms of human and technical resources, must be ­sufficient for the establishment supplying services covered by Article 45 of the VAT Directive, in its wording as of 1 January 2010, to be capable of providing those services or for the ­establishment receiving services covered by Article 44 of the VAT Directive, in its wording as of 1 January 2010, to be capable of receiving and making use of those services.”41

In der Folge beschloss der Mehrwertsteuerausschuss nahezu einstimmig eine entsprechende Interpretationsrichtlinie42 („Guideline“).43 Für diesen Fall hatte die Kommission eine Absichtserklärung abgegeben, diese und weitere das „Mehrwertsteuerpaket“ betreffende Norminterpretationen rechtsverbindlich festzuschreiben, und lancierte nur wenige Monate später ihren Vorschlag zur Neufassung der MwSt-DVO44 unter Einschluss des heutigen Art. 11. Dessen Formulierung geht somit unmittelbar auf die Festlegungen des Mehrwertsteuerausschusses zurück. Die Legaldefinitionen des Art. 11 MwSt-DVO sind daher von den Mitgliedstaaten anzunehmender Weise mit dem in der Ausschusssitzung gewonnenen Vorverständnis formuliert worden. 39 S. den Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Änderung der Richtlinie 77/388/EWG bezüglich des Ortes der Dienstleistung, v. 23.12.2003, KOM(2003) 822 endg., S. 10: „Der Begriff ‚feste Niederlassung‘ bereitet offensichtlich Auslegungsprobleme, weshalb angeregt wurde, ihn rechtlich zu klären. Dieser Begriff wurde in mehreren Entscheidungen des Gerichtshofs ausgelegt, die im Wesentlichen darauf hinausliefen, dass eine feste Niederlassung von ausreichender Dauer sein und über eine Struktur verfügen muss, die es hinsichtlich der Personal- und Sachmittel erlaubt, die jeweilige Dienstleistung eigenständig zu erbringen. Die Kommission hält die derzeitige Lage für akzeptabel …”. 40 S.  EU-Kommission, VAT Committee Working Paper No. 619, v. 11.5.2009, taxud.d.1​ (2009)108658, S. 6 f. 41 EU-Kommission, VAT Committee Working Paper No. 619, v. 11.5.2009, taxud.d.1​ (2009)108658, S. 12. 42 Den „Guidelines“ des MwSt-Ausschusses kommt keine Rechtsverbindlichkeit zu, s. auch BMF v. 3.1.2014, IV D 1 – S 7072/13/10005 – 2013/1164285, BStBl I 2014, 67. 43 S. Guidelines resulting from the 88th meeting of 13-14 July 2009, taxud.d.1(2009)358416 – 634, S. 2. 44 Vorschlag für eine Verordnung des Rates zur Festlegung von Durchführungsvorschriften zur Richtlinie 2006/112/EG über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (Neufassung), v. 17.12.2009, KOM(2009) 672.

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Die historische Auslegung legt damit nahe, auch die rein „passive“ Niederlassung als von Art. 11 Abs. 1 MwSt-DVO erfasst anzusehen. Ganz eindeutig ist freilich auch die genetische Auslegung nicht. Ausweislich des Erwägungsgrundes 14 der Präambel zur MwSt-DVO sollte mit den verordnungsrecht­ lichen Legaldefinitionen der für die neuen Ortsbestimmungsregeln des „Mehr­ wertsteuer-Pakets“ maßgeblichen Konzepte „der [bisherigen] Rechtsprechung des Gerichtshofs Rechnung getragen werden“. Im Kontext des Art. 11 MwSt-DVO auslegungsrelevant ist damit u.a. die Entscheidung Planzer Luxembourg. Darin hatte der EuGH festgestellt, dass eine „feste Einrichtung, die nur dazu verwendet wird, für das Unternehmen Tätigkeiten vorbereitender Art oder Hilfstätigkeiten vorzunehmen, wie z.B. das Anwerben von Personal oder den Ankauf von für die Durchführung der Unternehmenstätigkeit erforderlichen Sachmitteln, […] keine feste Niederlassung“ ist45. Auf eben diese Einbeziehung rein interne betriebliche Abläufe unterstützender Organisationseinheiten liefe es aber hinaus, wollte man im Kontext des Art. 11 Abs. 1 MwSt-DVO auf das Erfordernis einer unmittelbaren Beteiligung der Niederlassung an der Erbringung steuerbarer Außenumsätze verzichten46. Betrachtet man die Feststellung des EuGH allerdings in einem etwas größeren Zusammenhang, so ist sie letztlich doch kaum dazu angetan, in Verbindung mit der Präambel zur MwSt-DVO eine restriktive Auslegung auch des Konzepts der Empfängerniederlassung im Sinne einer „aktiv“ in die Leistungserbringung eingebundenen Niederlassung zu stützen. Wie auch in seinen vorherigen Entscheidungen zum Niederlassungsbegriff hatte sich der EuGH nämlich in der Entscheidung Planzer Luxembourg nicht mit einer an die Ansässigkeit des Leistungsempfängers anknüpfenden Ortbestimmungsregel zu befassen; in Rede stand stattdessen die Frage, ob sich der Steuerpflichtige für das Vorsteuervergütungsverfahren nach der Dreizehnten MwSt-­ Richtlinie47 qualifizierte. Deren Art. 1 Nr. 1 stellt jedoch explizit auf das Vorhandensein einer „festen Niederlassung, von wo aus die Umsätze bewirkt worden sind“ ab. Deswegen griff der EuGH zunächst auch konsequent auf seine zur festen Niederlassung des leistenden Unternehmers entwickelte Standardformulierung zurück, wonach selbige über eine Struktur verfügen müsse, „die von der personellen und technischen Ausstattung her eine autonome Erbringung der betreffenden Dienstleistungen ermöglicht.“48 Der Ausschluss reiner Hilfstätigkeiten war dann lediglich eine folgerichtig aus dieser Vorgabe gezogene Schlussfolgerung des Gerichtshofs49. Diese stellt sich damit nicht als eigenständiges Definitionselement des Niederlassungsbegriffs dar. Es würde daher auch keinen Bruch mit der in der Präambel zur MwSt-DVO in Bezug genommenen Rechtsprechung des EuGH implizieren, wenn für die Empfän45 EuGH v. 28.6.2007 – C-73/06, ECLI:EU:C:2007:397 – Planzer Luxemburg, UR 2007, 654, Rz. 56. 46 S. Stadie, in Rau/Dürrwächter, UStG, § 3a Rz. 199. 47 Richtlinie 86/560/EWG des Rates v. 17.11.1986. 48 EuGH v. 28.6.2007 – C-73/06, ECLI:EU:C:2007:397 – Planzer Luxemburg, UR 2007, 654, Rz. 54. 49 S. Bal, European Taxation 2015, 143 (145); ähnlich Spies, Bulletin for International Taxation 2017, 705 (715).

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gerniederlassung im Sinne des Art. 11 Abs. 1 MwSt-DVO abweichende Maßstäbe gelten würden. 5. Systematik Für die Erfassung auch rein „passiver“ Niederlassungen lassen sich ferner einige Erwägungen systematischer Natur anführen. So hat erstens der Unionsverordnungsgeber für die Zwecke der Konkretisierung des Niederlassungsbegriffs in anderen Richtlinienbestimmungen als Art.  44 MwStSystRL durchaus klar und ausdrücklich zu erkennen gegeben, dass die Befähigung zur Erbringung steuerbarer Ausgangsumsätze vorausgesetzt wird. Das zeigt sich nicht nur anhand des Art. 11 Abs. 2 MwSt-DVO, sondern ergibt sich vor allem auch aus Art. 53 Abs. 1 MwSt-DVO. Danach wird eine „feste Niederlassung“ des Steuerpflichtigen für die Zwecke des Art. 192a MwStSystRL nur „berücksichtigt, wenn diese feste Niederlassung […] eine Struktur aufweist, die es ihr […] erlaubt, die Lieferung von Gegenständen oder die Erbringung von Dienstleistungen, an der sie beteiligt ist, auszuführen.“ Damit schränkt Art. 53 Abs. 1 MwStDVO im Ergebnis den Niederlassungsbegriff des Art. 11 Abs. 2 Buchst. d MwSt-DVO nochmals ein, um zu präzisieren, von welcher Natur die Einbeziehung der festen Niederlassung in die Erbringung steuerbarer Ausgangsumsätze sein muss. Das Fehlen jeglichen Hinweises auf eine Befähigung zur Durchführung wirtschaftlicher Aktivitäten in Art. 11 Abs. 1 MwSt-DVO könnte man daher im Umkehrschluss so verstehen, dass selbige eben auch nicht vorausgesetzt werden. Darüber hinaus ist festzustellen, dass Art. 13a Buchst. b MwSt-DVO für die Zwecke der Bestimmung der Ansässigkeit einer nichtsteuerpflichtigen juristischen Person ein Niederlassungskonzept formuliert, das wortlautidentisch mit demjenigen des Art. 11 Abs. 1 MwSt-DVO ist. Da die in Rede stehenden Personen keiner wirtschaftlichen Tätigkeit im Sinne des Art. 9 MwStSystRL nachgehen – ansonsten wären sie keine Nichtsteuerpflichtigen – kann sich der Passus „für ihren eigenen Bedarf “ in Art. 13a Buchst. b MwSt-DVO aber nicht auf den Bereich wirtschaftlicher Aktivitäten bzw. steuerbarer Ausgangsumsätze beziehen50. Liest man demgegenüber ein solches Erfordernis in Art. 11Abs. 1 MwSt-DVO hinein, würden beide Vorschriften trotz übereinstimmender Formulierung je unterschiedliche Anforderungen an das Vorliegen einer festen Niederlassung stellen. Das erscheint zumindest auf den ersten Blick als eher fernliegend51. Allerdings lässt sich gegen die letztgenannten Überlegungen auch einwenden, dass es in jedem Falle zu einer divergierenden Interpretation wortlautidentischer Konzepte des harmonisierten Mehrwertsteuerrechts kommt. Will man durch Einbeziehung rein „passiver“ Niederlassungen in Art. 11 Abs. 1 MwSt-DVO einen Gleichklang mit der Definition des Art. 13a Buchst. b MwSt-DVO herstellen, impliziert dies notwendig eine unterschiedliche Interpretation der wortlautidentischen Niederlassungsbe-

50 S. Haller, MwStR 2015, 7 (10). 51 S. Haller, MwStR 2015, 7 (11): „unerklärliche Ungleichbehandlung“.

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griffe der Art. 44 und 45 MwStSystRL52. Davon abgesehen wäre eine im Vergleich zu Art. 11 Abs. 1 MwSt-DVO extensivere Interpretation des Art. 13a Buchst. b MwStDVO auch teleologisch gut vertretbar, weil der „eigene Bedarf “ von Nichtsteuerpflichtigen nach dem Grundverständnis des harmonisierten Mehrwertsteuerrechts stets als Endverbrauch zu werten ist53. Es entspricht daher dem Sinn und Zweck einer am Verbrauchsortprinzip orientierten Leistungsortbestimmung, Dienstleistungen an solche Personen stets dort zu besteuern, wo sie verwendet werden54. Demgegenüber mündet eine unternehmerische Verwendung von Eingangsleistungen regelmäßig nur über nachfolgende steuerbare Ausgangsleistungen in belastungswürdigen Endverbrauch; hierauf wird nachfolgend noch näher einzugehen sein. Außerdem lässt sich unter dem Gesichtspunkt systematischer Auslegungen auch ein Argument gegen eine Einbeziehung rein „passiver“ Niederlassungen gewinnen. Würden diese von der Definition des Art. 11 Abs. 1 MwSt-DVO umfasst, so wären nämlich die Definitionsmerkmale eines Mindestbestandes an „personeller und technischer Ausstattung“ (engl.: „suitable structure in terms of human and technical resources“) faktisch redundant. Denn jegliche Art von im Unternehmen eingesetzten (menschlichen oder technischen) Ressourcen bedarf zumindest gelegentlich bestimmter von außen bezogener Eingangsleistungen (Büro- und Geschäftsausstattung, Wartung, etc.), um ihre Funktionsfähigkeit herzustellen und zu erhalten. Selbst wenn im Einzelfall tatsächlich sämtliche dieser Leistungen rein unternehmensintern von anderen Niederlassungen bezogen würden, was ein wohl eher theoretisches Szenario darstellen dürfte, würde es jegliche Art von – und sei es auch nur minimaler – betrieblicher Ausstattung doch jedenfalls im Sinne des Art. 11 Abs. 1 MwSt-DVO „erlauben“, externe Dienstleistungen zu empfangen und zu verwenden. Damit würden die Anforderungen des Art. 11 Abs. 1 MwSt-DVO an das Vorliegen einer festen Niederlassung im Ergebnis auf einen hinreichenden Grad an Beständigkeit einer wie auch immer gearteten physischen unternehmerischen Präsenz reduziert. Grundsätzlich sollten Normen aber so ausgelegt werden, dass jedes ihrer Tatbestandsmerkmale praktisch relevant werden kann. Dagegen ließe sich hier auch nicht einwenden, dass der europäische Verordnungsgeber das Leerlaufen der entsprechenden Definitionsmerkmale im Kontext des wortlautgleichen Art. 13a Buchst. b MwSt-DVO ebenfalls hingenommen hätte. Denn auch dort lässt es sich vermeiden, wenn man den „eigenen Bedarf “ der nichtsteuerpflichtigen juristischen Person als unmittelbare Verwirklichung des jeweiligen geschäftlichen, satzungsmäßigen bzw. gesetzlichen Zwecks interpretiert und eine dementsprechende Substanz der Niederlassung fordert. Letztlich liefert somit auch eine kontextbezogene Analyse der relevanten Tatbestandsmerkmale des Art. 11 Abs. 1 MwSt-DVO keine eindeutigen Ergebnisse.

52 So auch der Einwand von Bal, European Taxation 2015, 143 (145). 53 S. Englisch, in Tipke/Lang21, 2015, § 17 Rz. 327 f. 54 Dies konzediert auch Haller, MwStR 2015, 7 (10), die diesen Umstand aber offenbar gleichwohl nicht als hinreichenden sachlichen Grund für eine Differenzierung anerkennen mag.

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6. Telos Angesichts der nach den übrigen Methoden verbleibenden Interpretationsspielräume müsste es an sich entscheidend auf eine objektiv-teleologische Auslegung des Art. 11 Abs. 1 MwSt-DVO ankommen. Dies erweist sich allerdings insofern als problematisch, als die Ortsbestimmungsregel des Art. 44 MwStSystRL und die darauf bezogene Legaldefinition der Durchführungsverordnung ein Bündel von teilweise konträren Zielen verfolgt, die überdies auch je für sich betrachtet unter gegenläufigen Gesichtspunkten gewürdigt werden können. Auslegungsleitend muss einerseits das Bestreben einer möglichst optimalen Verwirklichung des Bestimmungslandprinzips bzw. Verbrauchsortprinzips sein55, wie sie mit der Einfügung der Grundregel des Art.  44 MwStSystRL durch das Mehrwertsteuerpaket 2008 angestrebt wurde. Andererseits muss auch dem in der Präambel der MwSt-DVO ausdrücklich formulierten Anliegen Rechnung getragen werden, die hierfür maßgeblichen Anknüpfungspunkte „klar und objektiv“ zu definieren und ihre Anwendung praktikabel zu gestalten56. Darüber hinaus wird in Teilen der Literatur außerdem noch das Neutralitätsprinzip in seiner Ausprägung der Wettbewerbsneutralität angeführt57. Richtigerweise spielt dieser Aspekt aber zumindest für die Entscheidung über die Einbeziehung von rein „passiven“ Niederlassungen in Art.  11 Abs.  1 MwSt-DVO keine Rolle. Wäre sie zu befürworten, würden sämtliche von der Niederlassung bezogene Eingangsleistungen einheitlich nach den Vorgaben des Niederlassungsstaats besteuert, ansonsten ebenfalls wettbewerbsneutral entsprechend den Bestimmungen des Sitzstaates des Unternehmens58. Das Neutralitätsprinzip ist insoweit indifferent. Lediglich bei nicht voll vorsteuerabzugsberechtigten Leistungsempfängern könnten sich bei Bejahung der rein „passiven“ Niederlassung theoretisch für bestimmte, nicht an einen Absatzmarkt gebundene betriebliche Einheiten wie bspw. Forschungsabteilungen Auswirkungen auf die Standortwahl ergeben. Dieser Einfluss auf unternehmerische Entscheidungen ist aber im Verhältnis zur Bedeutung sonstiger Standortfaktoren regelmäßig nur von untergeordneter und mittelbarer Natur, und jedenfalls vom EuGH bislang nicht als eigenständige Dimension des mehrwertsteuerlichen Neutralitätsprinzips anerkannt worden.

55 S. zu dieser generellen Leitmaxime der Ortbestimmungsregeln bspw. EuGH v. 20.2.1997 – C-260/95, ECLI:EU:C:1997:77  – DFDS, UR 1997, 179, Rz.  22-24; v. 3.9.2009  – C-37/08, ECLI:EU:C:2009:507 – RCI Europe, UR 2009, 887, Rz. 39. 56 S. Erwägungsgrund 14 der Präambel zur MwSt-DVO. S. auch EuGH v. 15.3.1989 – C-51/88, ECLI:EU:C:1989:132  – Hamann, UR 1989, 184 m. Anm. Weiß, Rz.  18; v. 17.7.1997  – C-190/95, ECLI:EU:C:1997:374 – ARO Lease, UR 1998, 185, Rz. 14; v. 25.1.2001 – C‑429/97, ECLI:EU:C:2001:54  – Kommission/Frankreich, Rz.  49; GA Kokott, Schlussanträge v. 15.5.2014 – C-605/12, ECLI:EU:C:2014:340 – Welmory, UR 2014, 937, Rz. 26 und Rz. 30. 57 S. van Norden, in van Arendonk/Jansen/van der Paardt (Hrsg.), VAT in an EU and International Perspective, 2011, 35 (47, 49 f.); Ecker, A VAT/GST Model Convention, 2013, S. 154; Schippers/Boender, Intertax 2015, 709 (710); Spies, Bulletin for International Taxation 2017, 705 (707). 58 S. Merkx, Establishments in European VAT, 2013, S. 95.

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a) Verbrauchsortprinzip In der Literatur wird teilweise aus dem Verbrauchsortprinzip die Notwendigkeit der Anerkennung auch einer rein „passiven“ festen Niederlassung abgeleitet. Verwende ein Unternehmer Eingangsleistungen in einer bestimmten Niederlassung, so finde dort ein belastungswürdiger Verbrauch statt, ohne dass es insoweit auf einen bestimmten  – unternehmerischen  – Verwendungszweck ankomme59. Von ähnlichen Erwägungen ließ sich auch die EU-Kommission in ihrem Plädoyer für eine „passive“ Empfängerniederlassung leiten60. Noch weitergehend wird vereinzelt äquivalenzbzw. nutzentheoretisch argumentiert, dass die Verwendung von Eingangsleistungen in einer räumlich verfestigten Niederlassung stets unter Nutzung von lokaler Infrastruktur und staatlichen Institutionen i.w.S. erfolge und darum auch in der entsprechenden Jurisdiktion besteuert werden sollte61. Dem ist entgegenzuhalten, dass die unternehmerische Verwendung von Eingangsleistungen in einem Allphasen-Mehrwertsteuersystem gerade nicht mit einem belastungswürdigen Endverbrauch gleichgesetzt werden kann. Das stünde auch im eklatanten Widerspruch zum Neutralitätsprinzip, wie es der EuGH in ständiger Rechtsprechung postuliert62. Sie generiert daher im Regelfall eines voll vorsteuerabzugsberechtigten Leistungsempfängers dementsprechend auch gerade kein definitives Mehrwertsteueraufkommen für den erhebungsberechtigten Steuergläubiger. Äquivalenztheoretische Erwägungen zum Beitrag des Niederlassungsstaates zur Schaffung des strukturellen und institutionellen Rahmens für eine unternehmerische Verwendung der jeweiligen Eingangsleistungen sind damit offensichtlich verfehlt. Sie sind nur für die zwischenstaatliche Aufteilung der Befugnisse zur Erhebung direkter Steuern auf den Unternehmensgewinn von Bedeutung63. Nichts anderes gilt letztlich auch in den Fällen, in denen der Leistungsempfänger aufgrund der Verwendung von Eingangsleistungen für steuerfreie Ausgangsumsätze keinen (vollen) Vorsteuerabzug geltend machen kann. Auch in diesen Fällen soll die

59 S. Montfort, UR 2012, 341 (348); Montfort, DStR 2014, 2173; tendenziell ebenso wohl Schippers/Boender, Intertax 2015, 709 (711). 60 S.  EU-Kommission, VAT Committee Working Paper No. 619, v. 11.5.2009, taxud.d.1​ (2009)108658, S. 7: „Consideration of the actual economic situation is a fundamental criterion for the application of the common VAT system. It is consistent with the general principle that VAT should be charged at the place of consumption to regard such an establishment as a fixed establishment. This is best achieved if, when in receipt of services, an establishment is found to be a fixed establishment based on its ability to make use of the services received rather than on its capacity to supply those same services.” 61 S. Merkx, Establishments in European VAT, 2013, S. 94. 62 S. bspw. EuGH v. 6.7.1995 – C-62/93, ECLI:EU:C:1995:223 – Soupergaz, UR 1995, 404 m. Anm. Lohse, Rz. 16; v. 29.10.2009 – C-174/08, ECLI:EU:C:2009:669 – NCC Construction Danmark, UR 2010, 233, Rz.  27; v. 21.9.2017  – C-441/16, ECLI:EU:C:2017:712  – SMS group, UR 2017, 932, Rz. 40. 63 S. dazu statt aller Valta, Das Internationale Steuerrecht zwischen Effizienz, Gerechtigkeit und Entwicklungshilfe, S. 47 ff., m.w.N.

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nicht abziehbare Mehrwertsteuerbelastung nicht den Unternehmer treffen64, denn das stünde im Widerspruch zum Verbrauchsteuercharakter der Mehrwertsteuer. Vielmehr lässt sich die fehlende Abzugsberechtigung – allenfalls65 – unter der Prämisse hinnehmen, dass die nichtabziehbare Vorsteuer implizit auf den Nachfrager der steuerbefreiten Leistungen überwälzt wird. Im außereuropäischen Ausland ist daher teilweise auch treffend von „eingangsbesteuerten“ („input-taxed“) statt von steuerbefreiten Leistungen die Rede66. Richtigerweise gibt das Verbrauchsortprinzip zu einer differenzierten Bewertung Anlass. Die Ortsbestimmungsregel des Art. 44 MwStSystRL ist unter diesem Aspekt idealiter so auszulegen, dass sie dem Ort des mutmaßlichen Endverbrauchs der vom Unternehmer bezogenen Eingangsleistungen möglichst nahe kommt67. Das ist im Lichte der vorstehenden Ausführungen namentlich dann von Bedeutung, wenn die Eingangsleistungen nicht zum (vollen) Vorsteuerabzug berechtigen68. Die Empfängerniederlassung taugt vor diesem Hintergrund – nur – insoweit als Anknüpfungspunkt für die Verortung eines zwischenunternehmerischen Dienstleistungsumsatzes, als typisierend davon ausgegangen werden kann, dass die dortige Verwendung von Eingangsleistungen in derselben Besteuerungsjurisdiktion letztlich auch in einen belastungswürdigen Endverbrauch mündet69. Das kann bei einem Leistungsbezug zwecks Bewirkung von steuerbaren Ausgangsumsätzen unter Nutzung der personellen und technischen Ressourcen der Niederlassung plausibel vermutet werden, weil solche Leistungen mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit im Mitgliedstaat der Niederlassung selbst abgesetzt und konsumiert werden. Jedenfalls ist unter diesen Umständen ein dortiger Endverbrauch regelmäßig naheliegender als ein Endverbrauch im Staat des Unternehmenssitzes, weshalb es unter dieser Prämisse zweckadäquat ist, die Eingangsleistung nach Art. 44 Satz 2 MwStSystRL im Niederlassungsstaat und nicht nach Art. 44 Satz 1 MwStSystRL im Sitzstaat zu besteuern. Bei rein „passiven“ Niederlassungen ist eine dahingehende pauschale Vermutung aber nicht angezeigt70. Vielfach wird es sich allerdings auch bei ihnen so verhalten, dass sie „näher“ am mutmaßlichen Ort des Endverbrauchs belegen sind als der Unternehmenssitz. Das gilt namentlich für betriebliche Einrichtungen, die der Absatzförderung oder Kundenbetreuung dienen, wie beispielsweise Repräsentationsbüros oder Call-Center. Ist die unterstützende Funktion der Niederlassung aber nicht ver64 Missverständlich allerdings EuGH v. 23.4.2009 – C-460/07, ECLI:EU:C:2009:254 – Puffer, UR 2009, 410, Rz. 59. 65 Zur Kritik s. Englisch, in de la Feria (Hrsg.), VAT Exemptions, 2013, S. 37 (81 ff.). 66 S. bspw. Millar, in Lang/Lejeune, Improving VAT/GST, 2014, S. 23 (27 f.). 67 S. dazu auch allgemein Hellerstein, in Lang/Lejeune (Hrsg.), VAT/GST in a Global Digital Economy, 2015, S. 83 (93). 68 S.  GA Kokott, Schlussanträge v. 15.5.2014  – C-605/12, ECLI:EU:C:2014:340  – Welmory, Rz. 25. 69 S. zu vergleichbaren Erwägungen auch EuGH v. 26.9.1996 – C-327/94, ECLI:EU:C:1996:355 – Dudda, UR 1997, 58, Rz. 24. 70 Insoweit wie hier Datzer, Zuordnung von Besteuerungsrechten bei mehrfachansässigen Steuerpflichtigen im Mehrwertsteuerrecht, 2017, S. 109.

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triebsorientiert, wie etwa bei Entwicklungsabteilungen71 oder „Backoffice“-Tätigkeiten, trägt eine solche Vermutung nicht. Hier wird es sich im Gegenteil so verhalten, dass der Ort des Unternehmenssitzes eher Aufschluss über den Ort des mutmaßlichen Endverbrauchs gibt als der Ort der betreffenden Niederlassung. Mangels einschlägiger empirischer Erhebungen lässt sich auch nicht feststellen, ob unionsweit eine der beiden Varianten einer „passiven“ Niederlassung dominiert. Dann aber lässt sich dem Verbrauchsortprinzip keine eindeutige Tendenz für oder gegen die Zweckmäßigkeit der Einbeziehung rein „passiver“ Niederlassungen in die Legaldefinition des Art. 11 Abs. 1 MwSt-DVO entnehmen. b) Praktikabilitätserwägungen Als ambivalent erweisen sich sodann auch die in der Präambel zur MwSt-DVO angesprochenen Praktikabilitätserwägungen. Die Bewertung hängt hier wesentlich davon ab, ob die Perspektive des leistenden Unternehmers oder diejenige des unternehmerischen Leistungsempfängers eingenommen wird. Für den leistenden Unternehmer entfällt bei Anerkennung auch einer rein „passiven“ Empfängerniederlassung die Notwendigkeit Nachforschungen dazu anzustellen, ob sein Kunde in der die Leistung verwendenden Niederlassung eine Struktur vorhält, die auf die Erbringung steuerbarer Ausgangsleistungen gerichtet ist72. Das wird in Grenzfällen für den Leistenden tatsächlich mit zumutbarem Aufwand gar nicht rechtssicher zu beurteilen sein, insbesondere wenn die Durchführung der fraglichen Leistungen keine physische Präsenz beim Kunden erfordert. Der Unternehmer müsste sich dann insoweit auf die Angaben des Leistungsempfängers – seines Kunden – verlassen. Das Bestehen auf einer „aktiven“ Niederlassung für die Zwecke der Leistungsortbestimmung nach Art. 44 MwStSystRL kann somit unter Umständen für den leistenden Unternehmer wenig praktikabel sein73. Es entspricht dann auch nicht dem Bestreben der MwSt-DVO, den Leistungsort allein anhand objektiver Umstände eindeutig zu bestimmen. Von Bedeutung ist dies allerdings nur dann, wenn im Einzelfall die Entscheidung darüber, ob bzw. wo der leistende Unternehmer mehrwertsteuerpflichtig ist, von der territorialen Zuordnung der Leistung zur fraglichen Niederlassung abhängt. Kommt es hingegen unabhängig davon, ob der Leistungsort der Staat der Niederlassung oder der Staat des Unternehmenssitzes des Kunden ist, stets zu einer Verlagerung der Steuerschuld auf ebendiesen, spielt die Abgrenzung für den leistenden Unternehmer keine Rolle. Andererseits darf nicht übersehen werden, dass umgekehrt aus der Zuweisung von Besteuerungsrechten an den Mitgliedstaat einer rein „passiven“ Niederlassung bei entsprechend extensiver Interpretation des Art. 11 Abs. 1 MwSt-DVO nicht unerheb71 S. dazu EuGH v. 25.10.2012 – C-318/11 und 319/11, ECLI:EU:C:2012:666 – Daimler und Widex, UR 2012, 932. 72 S. Merkx, Establishments in European VAT, 2013, S. 96; Datzer, Zuordnung von Besteuerungsrechten bei mehrfachansässigen Steuerpflichtigen im Mehrwertsteuerrecht, 2017, S. 109 f. 73 A.A. Haller, MwStR 2015, 7 (10).

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liche Komplikationen für den Leistungsempfänger resultieren können74. Hat der leistende Unternehmer seinen Unternehmenssitz außerhalb des Staates der „passiven“ Empfängerniederlassung und verfügt er dort auch nicht über eine eigene, in die Leistungserbringung eingebundene feste Niederlassung, kommt es gemäß Art. 192a, 196 MwStSystRL zwingend zu einer Verlagerung der Steuerschuld auf den Leistungsempfänger. Eine bloß passive Niederlassung muss sich dann eigens zu diesem Zweck bei den Finanzbehörden des betreffenden Mitgliedstaates mehrwertsteuerlich registrieren lassen und in der Folge ihren Steuererklärungs- und Steuerentrichtungspflichten nachkommen. Dies kann zudem gerade bei solchen Niederlassungen besonders aufwendig bzw. kostspielig sein, weil sie aufgrund ihrer bloß unterstützenden Funktion vielfach nicht über dafür qualifiziertes Personal verfügen werden und dann in besonderem Maße auf externe mehrwertsteuerliche Expertise angewiesen sind. Kommt die „passive“ Empfängerniederlassung ihren Pflichten nicht nach, ist dies wiederum für die lokale Finanzverwaltung nicht ohne Weiteres festzustellen, weil sie auch sonst (für Mehrwertsteuerzwecke) nicht im Kontakt mit dem betreffenden Steuerpflichtigen steht75. In den Blick zu nehmen sind schließlich noch etwaige flankierende Maßnahmen zur  Eindämmung der bei jeder Auslegungsvariante auftretenden Vollzugsproble­ matiken. Im Hinblick auf die im Falle restriktiver Auslegung des Art.  11 Abs.  1 ­MwSt-DVO beim leistenden Unternehmer in Grenzfällen potenziell auftretenden Abgrenzungsschwierigkeiten bestünde die Möglichkeit, bei Gutgläubigkeit nach den allgemeinen  Rechtsgrundsätzen der Neutralität und Verhältnismäßigkeit76 der Besteuerung Vertrauensschutz zu gewähren77. Namentlich wäre es dann angezeigt, zu seinen Gunsten eine Vermutungswirkung für eine „aktive“ Niederlassung des Kunden an die Übermittlung einer der Niederlassung vom Belegenheitsstaat erteilten (gültigen) MwSt-Identifikationsnummer zu knüpfen. In bestimmten Szenarien, wie etwa bei noch in Gründung befindlichen oder in Drittstaaten belegenen Niederlassungen, schafft freilich auch dies keine Abhilfe. Für den umgekehrten Fall einer weiten Interpretation der Legaldefinition der Empfängerniederlassung lassen sich hingegen generell weder die vorstehend geschilderten administrativen Mehrbelastungen des Leistungsempfängers noch etwaige Kontrolldefizite durch vergleichbare Vorkehrungen abmildern. Damit ergibt sich unter Praktikabilitätserwägungen eine gewisse, aber keinesfalls klare Präferenz für eine enge Auslegung des Art.  11 Abs.  1 MwStDVO.

74 S. zum Folgenden auch schon Merkx, Establishments in European VAT, 2013, S. 95. 75 Zur Bedeutung einer sachgerechten Definition des Niederlassungskonzepts für den Steuervollzug s. auch Spies, BIT 2017, 705 (706 f.). 76 S.  dazu EuGH v. 27.9.2007  – C-409/04, ECLI:EU:C:2007:548  – Teleos, UR 2007, 774, Rz. 47 ff.; v. 21.2.2008 – C-271/06, ECLI:EU:C:2008:105 – Netto Supermarkt, UR 2008, 508, Rz. 18 ff. 77 S. Merkx, Establishments in European VAT, 2013, S. 96 f.

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7. Zusammenfassende Würdigung Der EuGH hat sich bislang noch nicht klar zu der Frage positioniert, ob auch eine rein „passive“ Niederlassung, die nicht unmittelbar in die Erbringung steuerbarer Außenumsätze eingebunden ist, den Anforderungen der Legaldefinition des Art. 11 Abs. 1 MwSt-DVO genügt. Eine Gesamtbetrachtung im Lichte sämtlicher relevanten Auslegungsmethoden verdeutlicht die Schwierigkeiten, hierauf eine klare und eindeutige Antwort zu geben. Namentlich verspricht keine der beiden möglichen Auslegungsvarianten, die multiplen Zielsetzungen der Art.  44 MwStSystRL, Art.  11 MwSt-DVO durchgängig besser zu verwirklichen als die jeweils andere. Insbesondere lässt sich auch unter Praktikabilitätsaspekten nicht klar in die eine oder andere Richtung argumentieren. Der vom Wortlaut belassene Interpretationsspielraum lässt sich auch nicht überzeugend unter Verweis auf systematische Erwägungen zugunsten eines der beiden Interpretationsansätze verengen. Ausschlaggebend muss damit letztlich der historisch-genetische Befund sein. Obschon ebenfalls nicht völlig eindeutig, gibt er doch einen vergleichsweise klaren Fingerzeig auf das Verständnis der Norm, das dem ­Verordnungsgeber beim Erlass der Vorschrift vor Augen gestanden haben dürfte. Danach kommt es für Art. 11 Abs. 1 MwSt-DVO letztlich nicht darauf an, ob die Eingangsleistungen beziehende Niederlassung „aktiv“ bzw. unmittelbar an der Erbrin­ gung steuerbarer Ausgangsumsätze beteiligt ist.

III. Rangfolge der Anknüpfungspunkte des Art. 44 MwStSystRL 1. Kritik der vom EuGH aufgestellten Vorrangregel Vor der Reform der Ortsbestimmungsregeln für Dienstleistungen 2008 hatte der EuGH in ständiger Rechtsprechung postuliert, dass für die Zwecke der Leistungsortbestimmung die Anknüpfung an den Unternehmenssitz grundsätzlich vorrangig gegenüber einer Ortsbestimmung anhand einer davon verschiedenen festen Niederlassung des Unternehmers sei78. Grundlegend hierfür war die Berkholz-Entscheidung, wo der EuGH wörtlich ausführte: „Nach Art. 9 Abs. 1 [6. MwStSystRL] ist der Ort, an dem der Dienstleistende den Sitz seiner wirtschaftlichen Tätigkeit hat, […] ein vorrangiger Anknüpfungspunkt. Die Berücksichtigung einer anderen Niederlassung, von der aus die Dienstleistung erbracht wird, ist nur dann von Interesse, wenn die Anknüpfung an den Sitz nicht zu einer steuerlich sinnvollen Lösung („rational result“) führt oder wenn sie einen Konflikt mit einem anderen Mitgliedstaat zur Folge hat.“79

78 S.  EuGH v. 4.7.1985  – C-168/84, ECLI:EU:C:1985:299  – Berkholz, Rz.  17; v. 2.5.1996  – C-231/94, ECLI:EU:C:1996:184 – Faaborg-Gelting Linien, UR 1996, 220 m. Anm. Weiß, Rz. 16; v. 17.7.1997 – C-190/95, ECLI:EU:C:1997:374 – ARO Lease, UR 1998, 185, Rz. 15; v. 20.2.1997  – C-260/95, ECLI:EU:C:1997:77  – DFDS, UR 1997, 179, Rz.  22-24; v. 10.11.1998 – C-390/96, ECLI:EU:C:1998:525 – Lease Plan, UR 1998, 343, Rz. 24. 79 EuGH v. 4.7.1985 – C-168/84, ECLI:EU:C:1985:299 – Berkholz, Rz. 17.

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Diese Rechtsprechungslinie ist im Schrifttum vielfach auf Kritik gestoßen80, zumal der Gerichtshof gelegentlich zu verstehen gab, dass die mitgliedstaatlichen Finanzbehörden die vom EuGH benannten Kriterien für eine ausnahmsweise Verortung im Niederlassungsstaat nach eigenem Ermessen sollten würdigen können81. Hauptkritikpunkte waren die aus einer solchen Wahlmöglichkeit sowie aus der Konturenlosigkeit der „Rationalitätsprüfung“ resultierende Rechtsunsicherheit für die betroffenen Unternehmer und die damit einhergehende Gefahr gerade derjenigen zwischenstaatlichen Kompetenzkonflikte, die nach dem Bekunden des EuGH vermieden werden sollten82. Allerdings war dem EuGH zuzugestehen, dass der Wortlaut des Art. 9 Abs. 1 der 6. MwStRL ebenfalls vage formuliert war83 und jedenfalls eine richterrechtliche Bestimmung des Verhältnisses zwischen den beiden Anknüpfungspunkten (Unternehmenssitz und feste Niederlassung) erforderte. Mit der Verabschiedung der Art. 44, 45 MwStSystRL verband sich daher die Erwartung einer Rechtsprechungswende, weil diese Vorschriften nunmehr eine klare Stufenfolge vorzugeben schienen84: Grundsätzliche Steuerbarkeit der Leistung im Staat des Unternehmenssitzes, aber abweichend davon bei Leistungserbringung bzw. Leistungsempfang durch eine feste Niederlassung Verortung im Niederlassungsstaat. In der Welmory-Entscheidung hat der EuGH indes auch für die neuen Ortsbestimmungsregeln an seiner Judikatur zur vorrangigen Anknüpfung an den Unternehmenssitz festgehalten85. Zur Begründung verwies der EuGH vor allem auf Systematik und Zweck der Norm: „[D]er Sitz der wirtschaftlichen Tätigkeit als Anknüpfungspunkt als ein objektives, einfaches und praktisches Kriterium [bietet] eine große Rechtssicherheit […], da es sich leichter überprüfen lässt als beispielsweise das Bestehen einer festen Niederlassung. Außerdem ermöglicht es die Vermutung, dass Dienstleistungen an dem Ort erbracht werden, an dem der steuerpflichtige Empfänger den Sitz seiner wirtschaftlichen Tätigkeit hat, sowohl den zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten als auch den Dienstleistungserbringern, komplizierte Nachforschungen zur Bestimmung des steuerlichen Anknüpfungspunkts zu vermeiden. Überdies wird der Sitz der wirtschaftlichen Tätigkeit im ersten Satz von Art. 44 MwStSystRL erwähnt, während die feste Niederlassung erst im nächsten Satz Erwähnung findet. Dieser Satz, der das

80 S. bspw. Vellen, USt-Kongress-Bericht 1999/2000, S. 13 (46 ff.); Stadie, in Rau/Dürrwächter, UStG, § 3a (Stand 2/08), Rz. 21; Englisch, DStJG 32 (2009), S. 165 (209). Zustimmend hingegen Schreib, UR 2007, 437 (439). 81 S.  EuGH v. 4.7.1985  – C-168/84, ECLI:EU:C:1985:299  – BerkholzRz.  16  f.; v. 2.5.1996  – C-231/94, ECLI:EU:C:1996:184 – Faaborg-Gelting Linien, UR 1996, 220 m. Anm. Weiß, Rz. 17 f.; v. 20.2.1997 – C-260/95, ECLI:EU:C:1997:77 – DFDS, UR 1997, 179, Rz. 19 f. 82 S. dazu auch Radeisen, in Hartmann/Metzenmacher, UStG, § 3a Rz. 173. 83 Art. 9 Abs. 1 der 6. MwStSystRL lautete: „Als Ort einer Dienstleistung gilt der Ort, an dem der Dienstleistende den Sitz seiner wirtschaftlichen Tätigkeit oder eine feste Niederlassung hat, von wo aus die Dienstleistung erbracht wird“ (Hervorhebung nur hier). 84 S. Englisch, DStJG 32 (2009), S. 165 (209); S. Becker, Ortsbestimmung von sonstigen Leistungen, 2011, S.  145; Radeisen, in Hartmann/Metzenmacher, UStG, §  3a (EGL 6/14) Rz. 292. 85 S.  EuGH v. 16.10.2014  – C-605/12, ECLI:EU:C:2014:2298  – Welmory, UR 2014, 937, Rz. 53 f.

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Joachim Englisch Adverb „jedoch“ enthält, kann nur so aufgefasst werden, dass er eine Ausnahme von der im vorangegangenen Satz aufgestellten allgemeinen Regel vorsieht.“86

Diese Argumentation vermag nicht zu überzeugen87. Das systematische, auf die Abfolge der Sätze 1 und 2 des Art. 44 MwStSystRL und die Wendung „jedoch“ gestützte Argument des EuGH ist keinesfalls so eindeutig wie vom Gerichtshof angeführt. Es ist im Gegenteil offensichtlich abwegig. Die Abfolge der Anknüpfungspunkte spiegelt sprachlich wie systematisch ein Verhältnis von Auffangtatbestand zu vorrangigem Anknüpfungsmerkmal wider. Ist der Niederlassungstatbestand einschlägig, verdrängt er den Unternehmenssitz. Es ist auch gerade diese Subsidiarität der Leistungsortbestimmung nach dem Unternehmenssitz, die durch die Formulierung „jedoch“ zum Ausdruck gebracht wird88. Ebenso hatte der EuGH im Übrigen auch in ständiger Rechtsprechung zum Verhältnis zwischen der allgemeinen und den speziellen Ortsbestimmungsregeln des Art. 9 der 6. MwStSystRL judiziert89, obwohl die Richtlinie hier ebenfalls das Adverb „jedoch“ verwendete und die Grundregel sogar im ersten Absatz der Vorschrift niedergelegt war. Auch die Praktikabilitätserwägungen des EuGH dringen nicht durch. Erstens liegt es nicht auf der Hand, dass der Unternehmenssitz des Kunden nach den Vorgaben des Kriterienkatalogs des Art. 10 Abs. 2 MwSt-DVO für den leistenden Unternehmer regelmäßig einfacher zu identifizieren und ggf. zu verifizieren ist als das Bestehen einer festen Niederlassung. Dies zumal dann nicht, wenn der leistende Unternehmer den Umsatz im unmittelbaren Zusammenwirken mit einer Zweigniederlassung des Kunden und nicht mit dessen Stammhaus abgewickelt hat, so wie es sich in den Fällen, in denen eine Leistungsortbestimmung nach Art. 44 Satz 2 MwStSystRL überhaupt in Betracht kommt, typischerweise verhalten wird. Zweitens ist zwar zu konzedieren, dass es dem leistenden Unternehmer bei einer generellen Bestimmung des Leistungsortes anhand des Unternehmenssitzes des Kunden erspart bliebe, Überlegungen und ggf. Ermittlungen dazu anzustellen, ob die Leistung stattdessen in einer anderen Niederlassung seines Abnehmers (und ggf. in welcher) genutzt wird. Hätte aber der europäische Gesetzgeber dergestalt der Einfachheit und Rechtssicherheit der Steuererhe86 EuGH v. 16.10.2014 – C-605/12, ECLI:EU:C:2014:2298 – Welmory, UR 2014, 937, Rz. 55 f. 87 Ablehnend auch Stadie, in Rau/Dürrwächter, UStG, § 3a Rz. 194; Datzer, Zuordnung von Besteuerungsrechten bei mehrfachansässigen Steuerpflichtigen im Mehrwertsteuerrecht, 2017, S. 125; i.E. auch Wäger, in Sölch/Ringleb, UStG, § 3a Rz. 91. Zustimmend hingegen Merkx, Establishments in European VAT, 2013, S.  99; Terra in Lamensch/Traversa/van Thiel (Hrsg.), Value Added Tax and the Digital Economy, 2016, S. 107 (115); Terra/Kajus, A Guide to the European VAT Directives, Vol. 1, 2017, Sec. 11.4.3.1. 88 Ähnlich Wäger, in Sölch/Ringleb, UStG, §  3a Rz.  91; Datzer, Zuordnung von Besteue­ rungsrechten bei mehrfachansässigen Steuerpflichtigen im Mehrwertsteuerrecht, 2017, S. 125. 89 S. etwa EuGH v. 26.9.1996 – C-327/94, ECLI:EU:C:1996:355 – Dudda, UR 1997, 58, Rz. 21; v. 6.3.1997  – C-167/95, ECLI:EU:C:1997:105  – Linthorst, Pouwels en Scheres, UR 1997, 217, Rz. 11; v. 12.5.2005 – C-452/03, ECLI:EU:C:2005:289 – RAL (Channel Islands) u.a., UR 2005, 443, Rz.  24; v. 9.3.2006  – C-114/05, ECLI:EU:C:2006:169  – Gillan Beach, UR 2006, 350, Rz. 15.

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bung den Vorzug einräumen wollen vor einer möglichst weitgehenden Verwirklichung des Verbrauchsortprinzips, wie sie durch die Verortung der Leistung in der sie nutzenden Niederlassung typischerweise gewährleistet ist, so hätte das im Tatbestand des Art. 44 MwStSystRL deutlich zum Ausdruck gebracht werden müssen – quod non. Es wäre dann nämlich konsequent gewesen, auf die Alternative des Art. 44 Satz 2 MwStSystRL ganz zu verzichten. So aber gibt der EuGH den Steuerpflichtigen „gezwungenermaßen“ Steine statt Brot: Da er über Art. 44 Satz 2 MwStSystRL nicht gänzlich hinweggehen kann, formuliert er eine Öffnungsklausel, die an Vagheit kaum zu überbieten ist und den Steuerpflichtigen damit erst recht keine Rechtssicherheit zu bieten vermag90. Diese müssen sich derzeit stets Gedanken dazu machen, was (mindestens) zwei betroffene Mitgliedstaaten absehbar als „steuerlich sinnvolle Lösung“ ansehen könnten. Eine solche Analyse bleibt zudem unvollständig, wenn sie nicht auch die steuerlichen Folgen einer alternativen Ortsbestimmung nach Art. 44 Satz 2 MwStSystRL in die Betrachtung mit einbezieht – womit dann doch wieder gerade diejenigen Nachforschungen angestellt werden müssen, die durch die Vorrangregel des EuGH vermeintlich vermieden werden. Nicht zuletzt steht die Rechtsauffassung des EuGH auch in einem eklatanten Wertungswiderspruch zur Zuordnungsregel des Art.  22 MwSt-DVO. Der europäische Verordnungsgeber hat mit der dort festgelegten Reihenfolge von Zurechnungskriterien zwecks Bestimmung der die Dienstleistung nutzenden Empfängerniederlassung klar zu erkennen gegeben, dass eine Besteuerung am Ort des Unternehmenssitzes nur als ultima ratio in Betracht kommen soll. Nur wenn der leistende Unternehmer keinen Anhaltspunkt dafür hat, wo seine Leistung (überwiegend) genutzt wird, darf er berechtigterweise davon ausgehen, dass dies am Unternehmenssitz der Fall sei. Der Verordnungsgeber hält es somit – anders als der EuGH – durchaus gerade für zumutbar, dass der leistende Unternehmer zunächst eingehend prüft, in welcher Niederlassung seine Leistung Verwendung findet, bevor er auf eine Leistungsortbestimmung nach dem Unternehmenssitz rekurrieren darf. Richtigerweise ist daher nach Wortlaut, Systematik und Zweck der Regelung des Art. 44 Satz 2 MwStSystRL im Falle der Verwirklichung dieses Tatbestandes der Ort der die Dienstleistung nutzenden Niederlassung grds. der gegenüber dem Unternehmenssitz des Leistungsempfängers vorrangige Anknüpfungspunkt für die Leistungsortbestimmung. 2. Teleologisch angeleitete Konkretisierung der Vorrangregel Für die mitgliedstaatlichen Finanzverwaltungen und Gerichte ist einstweilen gleichwohl die verfehlte Vorrangregel des EuGH maßgeblich, solange der EuGH seinen Standpunkt nicht revidiert. Im Hinblick darauf soll daher im Folgenden noch der Versuch unternommen werden, der „Rationalitätsklausel“ des EuGH, die seiner An90 S.  auch andeutungsweise die Kritik bei Tsielepis, International VAT Monitor 2017, 210 (211 f.): „[P]aradoxically, the decision of whether or not the use of the place of the establish­ ment leads to a rational result is itself subjective [… and] creates uncertainty.”

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sicht nach dem Rechtsanwender den Anwendungsbereich des Art. 44 Satz 2 MwStSystRL erst erschließt, zumindest etwas klarere Konturen zu verleihen. Der Gerichtshof selbst hat sich zu möglichen Szenarien eines ausnahmsweisen Vorrangs der Leistungsortbestimmung anhand des Niederlassungsortes nur in der Rechtssache DFDS geäußert. Darin hat er hervorgehoben, dass eine Anknüpfung an die feste Niederlassung vorzugswürdig ist, wenn auf diese Weise ein Besteuerung am Absatz- bzw. Verbrauchsort gewährleistet ist91 und auf diese Weise auch Wettbewerbs­ zerrungen und Anreize zur Steuerflucht durch Standortverlagerung vermieden werden könnten92. In den – vom EuGH insoweit nicht aufgegriffenen – Schlussanträgen des Generalanwalts Maduro zur Rechtssache RAL hat dieser darüber hinaus auf die Sicherstellung einer Einmalbesteuerung der fraglichen Leistungen in der EU verwiesen93; auch er hatte sich dabei mit steueroptimierenden Gestaltungen zu befassen. Bemerkenswert ist schließlich, dass der Gerichtshof seine allgemeine Vorrangregel mit Blick auf Sachverhaltskonstellationen entwickelt hat, in denen eine Bestimmung des Leistungsortes nach Maßgabe der jeweils in Rede stehenden potenziellen Niederlassung evident unsachgerecht gewesen wäre: Es ging jeweils um Einrichtungen an Bord von Fährschiffen, die zwischen den Hoheitsgewässern und dem Territorium zweier Mitgliedstaaten und dabei zum Teil auch in internationalen Gewässern verkehrten94. Eine Leistungsortbestimmung für einzelne Umsätze anhand des jeweiligen Aufenthaltsortes des Schiffes hätte hier allenfalls im Schätzungswege erfolgen können und außerdem Steuerausfälle provoziert, solange das Schiff auf hoher See fuhr. In der Gesamtschau fällt auf, dass sämtlichen vom EuGH im Zusammenhang mit der als Ausnahmebestimmung konzipierten „Rationalitätsklausel“ berücksichtigten Gesichtspunkten regelmäßig schon durch eine verständige Auslegung der Art. 44 MwStSystRL, 11 MwSt-DVO Rechnung getragen werden könnte. Die Problematik „mobiler“ Niederlassungen erledigt sich, wenn dem Definitionsmerkmal der „hinreichenden Beständigkeit“ nicht nur eine temporale, sondern auch eine territoriale Dimension beigelegt wird. Eine Annäherung an den mutmaßlichen Verbrauchsort und die Minimierung von Gestaltungsmöglichkeiten und daraus resultierenden Wettbewerbsverzerrungen wiederum ist gerade das Grundanliegen der – richtigerweise vorrangigen – Anknüpfung des Leistungsorts an die Belegenheit der die Leistung verwendenden Empfängerniederlassung. Genuin missbräuchlichen Gestaltungen wiederum kann schon durch die vom EuGH entwickelte allgemeine Missbrauchsdogmatik95 begegnet werden. 91 S. EuGH v. 20.2.1997 – C-260/95, ECLI:EU:C:1997:77 – DFDS, UR 1997, 179, Rz. 22: der Ort, an dem die in Rede stehenden Reiseleistungen „tatsächlich verkauft“ wurden. 92 S. EuGH v. 20.2.1997 – C-260/95, ECLI:EU:C:1997:77 – DFDS, UR 1997, 179, Rz. 23; s. dazu auch Schippers/Boender, Intertax 2015, 709 (711). 93 S. GA Maduro, Schlussanträge v. 27.1.2005 – C-452/03, ECLI:EU:C:2005:65 – RAL (Channel Islands) u.a., Rz. 61. 94 S. EuGH v. 4.7.1985 – C-168/84, ECLI:EU:C:1985:299 – Berkholz; v. 2.5.1996 – C-231/94, ECLI:EU:C:1996:184 – Faaborg-Gelting Linien, UR 1996, 220 m. Anm. Weiß. 95 S. zum MwSt-Recht grundlegend EuGH v. 21.2.2006 – C-255/02, ECLI:EU:C:2006:121 – Halifax, UR 2006, 232 m. Anm. Wäger, Rz. 70 ff.

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Besteuerung am Ort der Empfängerbetriebsstätte

Beharrt man aber auf dem vom EuGH postulierten Vorbehalt, dass die Anknüpfung an den Unternehmenssitz zu „steuerlich nicht sinnvollen Ergebnissen“ führen müsse, um den Weg für eine Anknüpfung an den Niederlassungsort frei zu machen, so sind die vorstehend gewonnenen Erkenntnisse zur Konkretisierung dieser Formel heranzuziehen: Sinnvolle Ergebnisse stellen sich zum einen dann nicht ein, wenn die Wahl oder Ausgestaltung des Unternehmenssitzes als rechtsmissbräuchlich zu erachten ist96. Der Unternehmenssitz ist zum anderen dann kein sinnvoller Anknüpfungspunkt, wenn die Leistungsortbestimmung nach der Belegenheit der die Leistung verwendenden (oder im Kontext des Art. 45 MwStSystRL auch: erbringenden) Niederlassung das Verbrauchsortprinzip besser verwirklicht und auch keinen unzumutbaren Vollzugsaufwand verursacht. Davon ist im Kontext des Art. 44 MwStSystRL regelmäßig auszugehen, es sei denn, eine Zuordnung zu einer bestimmten Niederlassung erweist sich als im Sinne des Art. 22 Abs. 1 UAbs. 3 MwSt-DVO als unpraktikabel, oder die Nutzung durch die feste Niederlassung bietet schon abstrakt keinen aussagekräftigen Anhaltspunkt für den Ort des allein belastungswürdigen späteren Endverbrauchs, in den die bezogenen Leistungen eingehen. Letzteres wiederum ist – außer in den Fällen „beweglicher“ Niederlassungen  – nur dann anzunehmen, wenn die fragliche Struktur als rein „passive“ Niederlassung keinerlei Kundenkontakt pflegt. Auf diese Weise kann die an sich abzulehnende Vorrangregel des EuGH dann wenigstens zur Korrektur der gemessen am Verbrauchsortprinzip überschießenden Wirkungen der Einbeziehung sämtlicher Kategorien von „passiven“ Niederlassungen in die Legaldefinition des Art. 11 Abs. 1 MwSt-DVO genutzt werden97. Zur Vermeidung allfälliger Doppelbesteuerungskonflikte sollte die Finanzverwaltung kurzfristig eine „Vereinfachungsregelung“ nach dem Vorbild des Abschn. 3.15 Abs. 19 UStAE vorsehen und sich mittelfristig um ein koordiniertes Vorgehen im MwSt-Ausschuss bemühen. Absehbar schwieriger zu erlangen, aber klar vorzugswürdig wäre schließlich eine rechtsprechungsbrechende (nochmalige) Klarstellung der Subsidiarität des Art. 44 Satz 1 MwStSystRL in der MwSt-DVO.

IV. Schlussbetrachtung Im Recht der Ortsbestimmungsregeln zeigt sich noch stärker als in sonstigen Bereichen, wo das deutsche Umsatzsteuerrecht nach 100 Jahren angelangt ist: Es wird weitgehend determiniert oder sogar überlagert vom Sekundär- und Tertiärrecht der Uni96 S. auch Tsielepis, International VAT Monitor 2017, 210 (211). 97 So auch Terra in Lamensch/Traversa/van Thiel (Hrsg.), Value Added Tax and the Digital Economy, 2016, S. 107 (115). Ähnliches gälte im Kontext der Art. 45 MwStSystRL, 11 Abs. 2 MwSt-DVO, soweit sich ausnahmsweise die „aktive“ Niederlassung, von der aus die Dienstleistungen ausgeführt werden, nicht als verlässlicher Indikator des mutmaßlichen Verbrauchsortes erweist. Davon ist dann auszugehen, wenn von einer solchen Niederlassung aus lediglich „nichtphysische“ und insbesondere elektronische Dienstleistungen erbracht werden, wie das etwa bei einer „Server-Betriebsstätte“ der Fall wäre. In den meisten Fällen wird hier aber ohnehin die Ortsbestimmungsregel des Art. 58 MwStSystRL vorrangig einschlägig sein.

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on zum gemeinsamen Mehrwertsteuersystem und steht damit auch in weiten Teilen unter dem prägenden Einfluss des EuGH. Dass damit nicht notwendig ein Gewinn an konzeptioneller Klarheit und Folgerichtigkeit verbunden sein muss, zeigt sich exemplarisch anhand der in diesem Beitrag untersuchten Fragestellungen zur Besteuerung von zwischenunternehmerisch erbrachten Dienstleistungen am Ort der Empfängerniederlassung. So lässt sich anhand des einschlägigen Unionsrechts wie auch der Judikatur des EuGH bislang nicht eindeutig beantworten, ob auch rein „passive“ Niederlassungen, die nicht unmittelbar in die Ausführung steuerbarer Außenumsätze eingebunden sind, als „feste Niederlassungen“ einen tauglichen Anknüpfungspunkt für die Bestimmung des Leistungsortes nach § 3a Abs. 2 Satz 2 UStG bzw. Art. 44 Satz 2 MwStSystRL bilden. Bei umfassender Würdigung von Systematik, Genese und Zwecksetzung der genannten unionsrechtlichen Bestimmungen sprechen die besseren – und namentlich die entstehungsgeschichtlichen  – Argumente letztlich für eine Einbeziehung auch dieser Art von Niederlassungen. Zwingend ist eine dahingehende Auslegung jedoch nicht, weshalb eine Klarstellung in der MwSt-DVO oder zumindest eine einstimmige Interpretationsrichtlinie des MwSt-Ausschusses wünschenswert wären. Evident verfehlt ist demgegenüber das Beharren des EuGH auf seiner ständigen Rechtsprechung, wonach ohnehin der Unternehmenssitz den vorrangigen Anknüpfungspunkt für die Leistungsortbestimmung bilde und nur ausnahmsweise eine Verortung im Staat der die Dienstleistung nutzenden Niederlassung in Betracht komme. Richtigerweise verhält es sich genau umgekehrt. Einmal mehr zeigt sich hier die Schwäche des „case law“-Ansatzes des EuGH: „bad cases make bad law“, und zwar vor allem dann, wenn der Gerichtshof den Sonder- zum Regelfall und den Regel- zum Sonderfall erklärt. Der Verfasser ist gleichwohl zuversichtlich, dass auch diese Fehlentwicklung innerhalb der nächsten 100 Jahre einer befriedigenden Korrektur zugeführt werden kann.

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Die feste Niederlassung im Lichte von BEPS – Anforderungen, Rechtsfolgen und Praxisfragen zu umsatzsteuerlichen Betriebsstätten Inhaltsübersicht

I. Einführung

II. Das BEPS-Projekt der OECD III. Die Bedeutung der festen Nieder­ lassung für die Besteuerung im ­Umsatzsteuersystem 1. Digitale Zuweisung des Besteuerungsrechts 2. Zuordnungsprinzipien 3. Konsequenzen der Existenz einer ­festen Niederlassung IV. Die feste Niederlassung im deutschen UStG 1. Verwendung des Begriffes der umsatzsteuerlichen Betriebsstätte 2. Mangelnde (eigenständige) Definition 3. Ursprung & Anwendung

V. Unionsrechtlicher Rahmen 1. Parallelen zum deutschen Recht 2. Verwendung 3. Definition durch die MwSt-DVO

VI. Grundlagenentscheidungen des EuGH 1. Kernkriterien 2. Kein Gleichrang von Stammsitz und fester Niederlassung VII. Erforderliche Ausstattungsmerkmale 1. Hinreichende Sach- und Personalmittel im Rahmen neuartiger Geschäfts­ modelle 2. Die feste Niederlassung ohne eigene Sach- und Personalmittel … 3. … und ganz ohne Sach- oder Personalmittel … 4. … aber im Einklang mit BEPS-­ Prinzipien und dem EU-Recht VIII. Berücksichtigung der Autonomie als entscheidendem Faktor IX. Einführung einer „virtuellen festen Niederlassung“ X. Fazit

I. Einführung Im Rahmen der Besteuerung globaler Geschäftsmodelle kommt der Definition von tatsächlichen und virtuellen Betriebsstätten eine herausragende Bedeutung zu. Im Regelfall führt erst die Existenz einer Betriebsstätte dazu, dass ein volles Besteuerungsrecht begründet wird1. Dies gilt primär vor allem für ertragsbasierte Steuern. So knüpft gerade das OECD-Musterabkommen2 die Zuweisung des Besteuerungsrechts an das Vorliegen einer Betriebsstätte. Gleichsam besteht aber auch eine ebenso hohe Bedeutung für die 1 Vgl. Avi-Yonah/Clausing, in: Lang (Hrsg.), Source versus Residence, Alphen aan den Rijn 2008, 9 ff. 2 OECD (2014), Model Tax Convention on Income and on Capital: Condensed Version 2014, OECD Publishing, Paris. http://dx.doi.org/10.1787/mtc_cond-2014-en.

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Umsatzbesteuerung, hinsichtlich derer eine Vielzahl von Bestimmungen zum Ort der Besteuerung und des Besteuerungsverfahrens ohne vorherige sichere Bestimmung des konkret leistenden und leistungsempfangenden umsatzsteuerlichen Betriebsteils international aufgestellter Unternehmen nicht sicher anwendbar ist. Vor dem Hintergrund der sich nun im Rahmen von BEPS deutlich verändernden Bedingungen für ertragssteuerliche Betriebsstätten stellt sich daher die Frage, welche Anforderungen, Rechtsfolgen und Praxisfragen in Bezug auf umsatzsteuerliche Betriebsstätten, die sog. „festen Niederlassungen“3 bestehen.

II. Das BEPS-Projekt der OECD Bereits seit dem Jahr 2006 haben sich in verschiedenen Initiativen unter dem Dach der OECD und der G20 Staaten Schwellen- und Entwicklungsländer, sowie zwischenstaatliche und supranationale Organisationen wie der Weltbank, dem IWF, der EU und der UNO zusammengeschlossen, um aktualisierte Regeln für den internationalen Steuerwettbewerb zu definieren. Hieraus ist das sog. BEPS-Projekt (Base Erosion and Profit Shifting4) mit dem Ziel entstanden, die nationalen Steuersysteme so aufeinander abzustimmen, dass künstliche Verlagerungen des Steuersubstrats zum Zwecke der Steuervermeidung vermieden und der Steuerwettbewerb zwischen den Staaten erschwert wird5. Im Oktober 2015 haben die OECD und die G20 samt kooperierender Staaten6 einen Katalog von 15 Aktionspunkten vorgestellt, mittels derer die Besteuerung der wirtschaftlichen Tätigkeit am Ort der betriebswirtschaftlichen Wertschöpfung gewährleistet werden soll7. Ein wesentlicher Schwerpunkt auf dem Wege zu einer „gerechteren“ Besteuerung soll dabei neben der Erhöhung von Transparenz8 und Kohärenz9 in der Ausdehnung der Substanzkriterien10 liegen.

3 Die Begrifflichkeit ergibt sich aus Art. 11 MwSt-DVO. 4 Auf deutsch: Gewinnverkürzung und -verlagerung. 5 Im Einzelnen siehe: http://www.bundesfinanzministerium.de/Content/DE/Standardartikel/­ Themen/Steuern/2017-06-07-beps-gewinnkuerzung-und-gewinnverlagerung.html. 6 Eine Liste der aktuell teilnehmen Staaten findet sich hier: http://www.oecd.org/tax/beps/ inclusive-framework-on-beps-composition.pdf. 7 http://www.bundesfinanzministerium.de/Content/DE/Standardartikel/Themen/Steuern/­ 2017-06-07-beps-15-aktionspunkte.html. 8 BEPS Aktionspunkte 11-14, http://www.oecd.org/ctp/beps-erlauterung-2015.pdf. 9 BEPS Aktionspunkte 2-5, http://www.oecd.org/ctp/beps-erlauterung-2015.pdf. 10 BEPS Aktionspunkte 6-10, http://www.oecd.org/ctp/beps-erlauterung-2015.pdf.

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Dies führt dazu, dass die bisherigen ertragssteuerlichen Betriebsstättenkritierien11 des Artikel 5 OECD-MA wie: ȤȤ die feste Geschäftseinrichtung12 ȤȤ eine andauernde Bau- oder Montagetätigkeit13 oder das ȤȤ Vorhandensein eines ständigen abhängigen Vertreters14 erweitert werden sollen um zusätzliche Aspekte, welche die Annahme einer ertragssteuerlichen Betriebsstätte zukünftig deutlich erleichtern würden15. Diese zusätzlichen, Defragmentierung vermeidenden, und dadurch substanzschaffenden Aspekte des BEPS-Aktionspunkts 716 sind unter anderem: ȤȤ Die Begründung einer Vertreterbetriebsstätte bereits bei Übernahme einer wesentlichen Rolle des Vertreters beim Vertragsabschluss (d.h. bereits durch faktisches Handeln). ȤȤ Die Eingrenzung der Ausnahmetätigkeiten, bei denen keine Betriebsstätte begründet wird bzw. Änderung der Regelungen zur Kombination von vorbereitendenoder Hilfstätigkeiten ȤȤ Die Einführung von erweiterten Regelungen zur Vereidung künstlichen Aufspaltung von Geschäftstätigkeiten17.

III. Die Bedeutung der festen Niederlassung für die Besteuerung im Umsatzsteuersystem 1. Digitale Zuweisung des Besteuerungsrechts Während im Bereich der ertragssteuerlichen BEPS-Diskussionen konkurrierende Steuersysteme häufig zu einer mehr oder weniger angemessenen Gewinnverteilung führen sollen, da es im Regelfall im Anschluss an die grundsätzliche Annahme einer 11 Zu aktuellen internationalen Betriebsstättenrisiken siehe im Detail WTS Global PE Study – A high-level overview of most discussed PE issues in EU, OECD and BRICS countries, http://www.wts.de/de/img/wts_PE-study_web.pdf. 12 OECD, (2014) Model Convention on Income and on Capital, 95. 13 Art.5 Abs. 3 OECD-MA. 14 Art.5 Abs. 6 OECD-MA. 15 Vgl. grundlegend zur BEPS-Diskussion Pross/Petzhold, in: Lüdicke (Hrsg.), Neue Grenzen für die internationale Steuerplanung?, Köln 2014; Kahle/Wildermuth, Ubg 2013, 405 ff. 16 Vgl. OECD (2018), Verhinderung der künstlichen Umgehung des Betriebsstättenstatus, Ak­ tionspunkt 7 – Abschlussbericht 2015, OECD Publishing, Paris. http://dx.doi.org/10.1787/­ 9789264287334-de. 17 Eine Gegenüberstellung Anforderungen an eine Betriebsstätte gem. Art. 6 OECD-MA und den Änderungen gem. Aktionspunkt 7 haben Hagel/Köster/Jungen in SteuerStud 2017, 354 veröffentlicht.

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ertragssteuerlichen Betriebsstätte noch zur Aufteilung des erzielten Gesamtgewinns mittels zwischen Betriebsstättenstaat und dem Staat der Ansässigkeit des Stammsitzes kommt, führt das Bestehen oder die Abwesenheit einer festen Niederlassung im Umsatzsteuerrecht im Regelfall zu einem sehr digitalen Resultat. Entweder ist eine feste Niederlassung vorhanden und es besteht ein vollständiges Umsatzbesteuerungsrecht. Alternativ ist beides nicht der Fall und es besteht auch kein anteiliges Besteuerungsrecht. Eine Aufteilung der Zuordnung eines Umsatzes zu verschiedenen Staaten im Sinne einer verrechnungspreisgleichen Risiko- und Funktionsanalyse18 ist dem Umsatzsteuerrecht fremd. 2. Zuordnungsprinzipien Dies liegt darin begründet, dass derzeit weltweit im Rahmen der Zuweisung des Besteuerungsrechte für umsatzsteuerliche Zwecke im wesentlichen vier Zuordnungsprinzipien existieren: ȤȤ Das Ursprungslandprinzip, wonach eine Lieferung oder sonstige Leistung am Ort des leistenden Unternehmers besteuert wird. ȤȤ Das Bestimmungslandprinzip, wonach eine Lieferung oder sonstige Leistung am Ort des leistungsempfangenen Unternehmers besteuert wird. ȤȤ Das Belegenheitsprinzip, wonach eine Lieferung oder sonstige Leistung  – unabhängig von der Ansässigkeit der involvierten Parteien – dort besteuert wird, wo die Lieferung oder sonstige Leistung physisch ausgeführt wird oder etwa eine Eintragung in eine Urkundenrolle erfolgt. ȤȤ Das Tätigkeitsortprinzip, wonach eine sonstige Leistung dort besteuert wird, wo diese tatsächlich erbracht wird. Das Tätigkeitsortprinzip findet im Kontext des EU Mehrwertsteuersystems im wesentlichen Anwendung bezüglich der Erbringung sportlicher, künstlerischer, unterhaltender und ähnlicher Tätigkeiten19, sowie bezüglich Reparatur- und Wartungsarbeiten, die an Nichtunternehmer ausgeführt werden20. Das Belegenheitsprinzip dagegen findet seine (auch weltweiten) Haupanwendungsfälle im Wesentlichen in der Bestimmung des Ortes von Lieferungen21 und der Ortsbestimmung für grundstücksbezogene sonstigen Leistungen22, bei denen jeweils das territoriale Besteuerungsrecht allein nach der Belegenheit des Liefergegenstandes 18 Vgl. OECD (2017), OECD Transfer Pricing Guidelines for Multinational Enterprises and Tax Administrations 2017, OECD Publishing, Paris. http://dx.doi.org/10.1787/tpg-2017-en. 19 Vgl. § 3a Abs. 3 Nr. 3 Buchst. a UStG. 20 Vgl. § 3a Abs. 3 Nr. 3 Buchst. c UStG. 21 Vgl. § 3 Abs. 6 und 7 UStG. 22 Vgl. § 3a Abs. 3 Nr. 1 UStG.

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oder Grundstücks bestimmt wird, und somit selbst auch dann ein lokal umsatzsteuerbarer Umsatz bewirkt wird, wenn weder Veräußerer noch Erwerber einen über das Grundstück hinausgehenden lokalen Anknüpfungspunkt besitzen. Die praktisch bedeutsamsten der genannten Prinzipien der Besteuerung sonstiger Leistungen sind jedoch nicht nur innerhalb der Europäischen Union, sondern im Rahmen der globalen Erhebung von Mehrwertsteuern das Bestimmungslandprinzip oder dem Ursprungslandprinzip23. Beiden Prinzipen ist gemein, dass der tatsächliche Ort der Ausführung einer sonstigen Leistung oder der Ort, an dem sich der Leistungserfolg realisiert für die Zuweisung des Besteuerungsrechtes nicht von Bedeutung sind24 – was dem Grundgedanken des BEPS-Projektes fundamental zuwiderläuft25. 3. Konsequenzen der Existenz einer festen Niederlassung Gerade aber in den Fallgestaltungen, in denen sich das konkrete Besteuerungsrecht insofern virtualisiert, als dass gerade nicht der Ort des Leistungserfolges maßgeblich ist, wird die Auswirkung des Vorhandenseins einer festen Niederlassung bedeutsam. Mittels einer solchen festen Niederlassung wird im Rahmen des Bestimmungslandprinzips oder des Ursprungslandprinzips definiert, in welchem Land die Besteuerung erfolgen soll und damit auch welche nachgelagerten Besteuerungsfolgen  – u.a. im Hinblick auf den anzuwendenden Steuersatz oder unterschiedliche Anwendungsbereiche von Steuerbefreiungen – zur Anwendung kommen. Somit lässt sich die Zuweisung des Besteuerungsrechtes in dreierlei Hinsicht durch die beteiligten Unternehmer steuern. ȤȤ Einerseits durch das bloße Vorhandensein einer festen Niederlassung auf Ebene des Leistenden oder des Leistungsempfänger. ȤȤ Andererseits durch den Umfang der Involvierung unterschiedlicher fester Neiderlassungen in einen konkreten Leistungsbezug oder deren Erbringung. ȤȤ Zusätzlich ist zu beachten, dass der EuGH in seiner Entscheidung zur Rechtssache Skandia America26 noch einen weiteren relevanten Bereich begründet hat. Infolge der Annahme, dass eine ausländische feste Niederlassung, die Teil einer umsatz23 Vgl. Vellen in Nieskens/Scheffler (Hrsg.), Umsatzsteuer-Kongreß-Bericht 1999/2000, Köln 2000, S. 13 ff. 24 Wenngleich über sog. „Use and Enjoyment“ Regelungen in manchen Staaten für abgegrenzte Leistungselemente auch der Ort der tatsächlichen Leistungsausnutzung (Verwendung) Berücksichtigung findet. 25 Zu möglichen Auswegen: OECD (2017), Internationale Leitlinien für die Mehrwertbesteuerung, OECD Publishing, Paris. http://dx.doi.org/10.1787/9789264274426-de. 26 EuGH, Urt. v. 17.9.2014 – C-7/13 – Skandia America, ECLI:EU:C:2014:2225 = UR 2014, 847; Anm. Maunz, UR 2014, 850; Anm. Heinrichshofen, UR 2014, 890.

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steuerrechtlichen Organschaft in einem anderen Staat ist, nicht mehr der umsatzsteuerrechtlichen Unternehmenssphäre des Stammhauses zugerechnet werden soll, erlangt die Abgrenzung zwischen ȤȤ „ausländischer Aktivität“ ohne Niederlassungsqualität, bezüglich deren die Leistungen des Stammhauses als nicht steuerbare Innenumsätze gelten, und ȤȤ ausländischer fester Niederlassung, hinsichtlich deren die Umsätze des Stammhauses wie Umsätze eines fremden Dritten zu behandeln sind, zusätzliche Entscheidungserheblichkeit27. Darüber hinaus ist die Identifikation der Ansässigkeit mittels einer festen Niederlassung aber nicht nur zur Bestimmung des Besteuerungsrechtes und damit der des Ortes einer sonstigen Leistung wesentlich. Gerade auch im Rahmen der Bestimmung des Steuerschuldners ist die Frage des Vorhandenseins einer festen Niederlassung bedeutsam. Infolge der zunehmenden Ausweitung des Reverse Charge Verfahrens in seinen unterschiedlichen Ausprägungen unterliegen zunehmend nicht nur grenzüberschreitend ausgeführte sonstige Leistungen dem Reverse Charge Verfahren28, sondern Gleiches gilt in Anwendung von Art. 199 MwStSystRL auch zunehmend für lokal ausgeführte sonstige Leistungen29, und „Sonderlieferungstatbestbestände“ deren Anzahl als Resultat des EU-Schnellreaktionsmechanismus30 als Antwort auf den zunehmenden Mehrwertsteuerbetrug auf EU-Ebene31 weiterhin deutlich zunimmt. So unterschiedlich die verschiedenen Regelungen zur Anwendung des Reverse Charge Verfahrens in den einzelnen Mitgliedsstaaten dabei auch ausgestaltet sind, so ist ihnen im Regelfall gemein, dass es neben einem gegebenen Besteuerungsrecht des jeweiligen Staates häufig eine Voraussetzung für die Anwendung des Reverse Charge Verfahrens ist, dass der Leistungsempfänger im Bestimmungsland ansässig ist, also eine feste Niederlassung besitzt32.

27 Hierzu ausführlich Scholz/Wiesner, GmbHR 2014, R 331; Anm. Heinrichshofen, UR 2014, 890. 28 Vgl. § 13b Abs. 2 Nr. 1 UStG. 29 Vgl. § 13b Abs. 2 Nr. 6 UStG. 30 Vgl. § 13b Abs. 2 Nr. 2-5 und Nr. 7-1 UStG. 31 https://ec.europa.eu/taxation_customs/sites/taxation/files/study_and_reports_on_the_ vat_gap_2017.pdf. 32 Deutschland stellt hier allerdings eine bedeutsame Ausnahme da, es nach bunderepublikanischem Recht selbst dann zur Anwendung des Reverse Charge Verfahrens kommt, wenn weder der leistende Unternehmer, noch der Leistungsempfänger in Deutschland ansässig sind, also jeweils keine feste Niederlassung im Inland betreiben, vgl. § 13b UStG.

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IV. Die feste Niederlassung im deutschen UStG 1. Verwendung des Begriffes der umsatzsteuerlichen Betriebsstätte So bedeutsam der Begriff der festen Niederlassung für das Umsatzsteuerrecht – wie zuvor dargestellt – auch ist, so wenig wird dieser im deutschen Umsatzsteuergesetz verwendet. Stattdessen wird dort weiterhin an verschiedenen Stellen auf den Begriff der umsatzsteuerrechtlichen Betriebsstätte zurückgegriffen. Betreffend der Bestimmung des umsatzsteuerrechtlichen Ortes der Ausführung sonstiger Leistungen sieht z.B. § 3a Abs. 2 Satz 2 UStG vor, dass der Ort der Leistung im Bereich der sog. „Katalogleistungen“ – in Abweichung zu der Grundfallregelung des § 3a Abs. 2 Satz 1 UStG – soweit die Leistung von einer umsatzsteuerlichen Betriebsstätte des Leistungsempfängers bezogen wird, nicht mehr am Stammsitz des Leistungsempfängers belegen ist, sondern zum Ort bzw. in das Land der Ansässigkeit jener leistungsempfangenden umsatzsteuerrechtlichen Betriebsstätte verlagert wird. Dieses gilt analog auch für „Grundfallleistungen“, hinsichtlich derer der Umsatz am Ort des leistungsausführenden Unternehmens besteuert wird. Gem. § 3a Abs. 1 Satz 2 UStG verlagert sich der Ort der Leistungserbringung vom Stammhaus zur Ansässigkeitsort der umsatzsteuerlichen Betriebsstätte, soweit diese als leistungsausführend gilt (§ 3a Abs. 1 Satz 2 UStG). Eine weitere Ausführung zur umsatzsteuerlichen Betriebsstätte findet sich in § 13b Abs. 7 UStG, wonach hinsichtlich des Übergangs der Steuerschuld im Reverse Charge Verfahren für grenzüberschreitende sonstige Leistungen gilt, dass dieses keine Anwendung findet, wenn ein im Ausland ansässiger Unternehmer eine im Inland steuerbare Leistung ausführt, betreffend derer eine evtl. bestehende inländische umsatzsteuerliche Betriebsstätte konkret in die Leistungserbringung involviert ist33. 2. Mangelnde (eigenständige) Definition Trotz der dargestellten durchaus zahlreichen und bedeutsamen Verwendungen des Betriebsstättenbegriffs enthält das deutsche Umsatzsteuergesetz überraschender Weise weder eine Definition des Betriebsstättenbegriffs im Gesetz selber, noch einen klaren Verweis auf eine Definition in einer anderen gesetzlichen Grundlage. 3. Ursprung & Anwendung Historisch betrachtet basiert der deutsche Betriebsstättenbegriff – auch im umsatzsteuerrechtlichen Sinne – auf der grundlegenden Definition im § 12 AO34 und damit inhaltlich auch auf Art. 5 OECD-MA35. 33 § 13b Abs. 7 Satz 3 UStG. 34 Vgl. Englisch, IStR 2009, 526. 35 Zur Abgrenzung zwischen § 12 AO und Art 5 OECD-MA: Wassermeyer, in: Wassermeyer, Doppelbesteuerung, München, Art.  5 MA Rz.  9 (Stand: 7/2009); Jacobs/Endres/Spengel

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Die in den letzten Jahren erfolgte Spreizung zwischen dieser historischen und auf ertragsteuerrechtlichen Erwägungen basierenden Betriebsstättendefinition und der ­autonomen Auslegung des Unionsrechts ist in den Wortlaut des deutschen Umsatzsteuergesetzes (noch) nicht eingeflossen. Somit erfolgt faktisch eine Auslegung des deutschen Begriffes der Betriebsstätte auf Basis einer nicht nur abweichenden Bezeichnung (der festen Niederlassung), was inhaltlich verschmerzbar wäre), sondern auch auf Basis einer abweichenden Rechtsgrundlage (des Unionsrechts anstelle der deutschen Definition des § 12 AO)36.

V. Unionsrechtlicher Rahmen 1. Parallelen zum deutschen Recht Blickt man nun in das Unionsrecht in Form der MwStSystRL37 lässt sich interessanter Weise eine deutliche Parallele zum deutschen Recht erkennen, die allerdings nicht in der inhaltlichen Kongruenz der Begrifflichkeiten besteht, sondern in der mangelnden Definition. 2. Verwendung Denn auch in der MwStSystRL und deren Vorgängerrichtlinie, der bereits 1977 eingeführten Sechsten Richtlinie38, findet sich keine Definition einer festen Niederlassung sondern lediglich eine Beschreibung von Anwendungsfällen. Art. 45 MwStSystRL beispielsweise (zum Sitzort des Dienstleistungserbringers39) und Art.  44 MwStSystRL (zum Sitzort des Dienstleistungsempfängers40) stellen zur Be(Hrsg.), Internationale Unternehmensbesteuerung, 7. Aufl., München 2011, 294; Ziehr, Einkünftezurechnung im internationalen Einheitsunternehmen, Lohmar/Köln 2008, 12. 36 Siehe hierzu FG München, Urt. v. 28.6.2006 – 3 K 4109/04, EFG 2006, 1545. 37 Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28.11.2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem, Abl. EU L 374/1. 38 Sechste Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17.5.1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern. 39 „Als Ort einer Dienstleistung an einen Nichtsteuerpflichtigen gilt der Ort, an dem der Dienstleistungserbringer den Sitz seiner wirtschaftlichen Tätigkeit hat. Werden diese Dienstleistungen jedoch von der festen Niederlassung des Dienstleistungserbringers, die an einem anderen Ort als dem des Sitzes seiner wirtschaftlichen Tätigkeit gelegen ist, aus erbracht, so gilt als Ort dieser Dienstleistungen der Sitz der festen Niederlassung. In Ermangelung eines solchen Sitzes oder einer solchen festen Niederlassung gilt als Ort der Dienstleistung der Wohnsitz oder der gewöhnliche Aufenthaltsort des Dienstleistungserbringers.“ 40 „Als Ort einer Dienstleistung an einen Steuerpflichtigen, der als solcher handelt, gilt der Ort, an dem dieser Steuerpflichtige den Sitz seiner wirtschaftlichen Tätigkeit hat. Werden diese Dienstleistungen jedoch an eine feste Niederlassung des Steuerpflichtigen, die an einem anderen Ort als dem des Sitzes seiner wirtschaftlichen Tätigkeit gelegen ist, erbracht, so gilt als Ort dieser Dienstleistungen der Sitz der festen Niederlassung. In Ermangelung eines solchen Sitzes oder einer solchen festen Niederlassung gilt als Ort der Dienstleistung der Wohnsitz oder der gewöhnliche Aufenthaltsort des steuerpflichtigen Dienstleistungsempfängers.“

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stimmung des Orts der Leistung maßgeblich auf das Vorhandensein und die Zurechnung eines Umsatzes zu einer festen Niederlassung ab. 3. Definition durch die MwSt-DVO Erst im Jahr 2011 wurde durch die Einführung der Mehrwertsteuer-Durchführungsverordnung41 für den Anwendungsbereich des Unionsrechts die Begrifflichkeit der festen Niederlassung überhaupt erstmals im Rahmen der Rechtssetzung definiert. Seitdem heißt es in Art. 11 MwSt-DVO42: „(1) Für die Anwendung des Artikels 44 der Richtlinie 2006/112/EG gilt als ,feste Niederlassung‘ jede Niederlassung mit Ausnahme des Sitzes der wirtschaftlichen Tätigkeit nach Artikel 10 dieser Verordnung, die einen hinreichenden Grad an Beständigkeit sowie eine Struktur aufweist, die es ihr von der personellen und technischen Ausstattung her erlaubt, Dienstleistungen, die für den eigenen Bedarf dieser Niederlassung erbracht werden, zu empfangen und dort zu verwenden. (2) Für die Anwendung der folgenden Artikel43 gilt als ,feste Niederlassung‘ jede Niederlassung mit Ausnahme des Sitzes der wirtschaftlichen Tätigkeit nach Artikel 10 dieser Verordnung, die einen hinreichenden Grad an Beständigkeit sowie eine Struktur aufweist, die es von der personellen und technischen Ausstattung her erlaubt, Dienstleistungen zu erbringen: … (3) Allein aus der Tatsache, dass eine Mehrwertsteuer-Identifikationsnummer zugeteilt wurde, kann nicht darauf geschlossen werden, dass ein Steuerpflichtiger eine ,feste Niederlassung‘ hat.“

Infolge der unmittelbaren Rechtswirkung der MwSt-DVO, welche explizit keiner nationalstaatlichen Umsetzung bedarf, ist zumindest seit dem Jahr 2011 auch im deutschen Rechts eine gewisse Klarheit darüber gegeben, an welchen Parametern sich die Auslegung des Begriffes der festen Niederlassung orientieren soll44. Der EuGH geht dabei sogar noch einen Schritt weiter (inhaltlich) bzw. zurück (zeitlich) sieht die Definition der festen Niederlassung des Art.  11 MwSt-DVO explizit auch als anwendbar auf Zeiträume vor deren Inkrafttreten dem Jahr 201145. Dies ist rechtssystematisch unzweifelhaft diskussionsfähig, führt aber in inhaltlicher Hinsicht insofern nicht zu größeren Verschiebungen, als dass die Regelung des Art. 11 41 Durchführungsverordnung (EU) Nr. 282/2011 des Rates vom 15.3.2011 zur Festlegung von Durchführungsvorschriften zur Richtlinie 2006/112/EG über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem, ABl. EU Nr. L 77 v. 23.3.2011, 1. 42 Die Hervorhebungen sind durch den Autor erfolgt und kein Bestandteile des Original­textes. 43 Art. 45 MwStSystRL; ab 1.1.2013 Art. 56 Abs. 2 Unterabs. 2 MwStSystRL; bis 31.12.2014 Art. 58 MwStSystRL; Art. 192a MwStSystRL (Anpassungen zum Originaltext zum Zwecke der besseren Lesbarkeit durch den Verfasser). 44 Vgl. Monfort, UR 2012, 172. 45 Im Gegensatz dazu werden solch „klarstellend rückwirkende“ Normen im nationalen Steuerrecht vom BVerfG zunehmend als rechtsstaatlich bedenklich qualifiziert, vgl. BVerfG, Beschl. v. 17.12.2013 –1 BvL 5/08, ECLI:DE:BVerfG:2013:ls20131217.1bvl000508, DStR 2014, 520; ebenso Schönfeld/Bergmann, DStR 2015, 257.

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MwSt-DVO im Gegensatz zu den umfassenden Beratungen der OECD zu BEPS ohnehin nicht als Resultat rechtssystematischer mitgliedstaatlicher Überlegungen angesehen werden kann, sondern eine reine Kodifizierung der vorherigen Rechtsprechung des EuGH darstellt(e). Besonders deutlich wird dies anhand des Schlussantrags der Generalanwältin Kokott46 und der hierauf basierenden Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Welmory47, wonach die Regelungen zur MwSt-DVO48 so zu interpretieren sind, dass hierdurch gerade keine von der ständigen Rechtsprechung des EuGH abweichenden Regelungen geschaffen werden sollen.

VI. Grundlagenentscheidungen des EuGH Inhaltlich basiert Art. 11 MwSt-DVO somit auf den grundlegenden EuGH-Entscheidungen Berkholz49 aus dem Jahr 1985, Faaborg-Gelting Linien50 aus dem Jahr 1996, ARO Lease51 aus dem Jahr 1997 und Planzer Luxembourg52 aus dem Jahr 2007. 1. Kernkriterien Aus der Vielzahl der Einzelurteile des EuGH lassen sich folgende Kernthesen herausdestillieren: ȤȤ Unabhängig von evtl. Sechs- oder Zwölfmonatszeiträumen und sonstigen fixen Zeitvorgaben des Ertragssteuerrechts liegt eine feste Niederlassung dann vor, wenn sie einen hinreichenden Grad an Beständigkeit aufweist53. 46 Schlussanträge der Generalanwältin Kokott, EuGH v. 15.5.2014  – C-605/12  – Welmory, ECLI:EU:C:2014:340 – Rz. 39 ff. 47 EuGH, Urt. v. 16.10.2014 – C-605/12 – Welmory, ECLI:EU:C:2014:2298 = UR 2014, 937 – Rz. 45 ff. 48 Insbesondere Erwägungsgrund 14 MwSt-DVO: „Um die einheitliche Anwendung der Regeln für die Bestimmung des Ortes der steuerbaren Umsätze sicherzustellen, sollten der Begriff des Ortes, an dem ein Steuerpflichtiger den Sitz seiner wirtschaftlichen Tätigkeit hat, und der Begriff der festen Niederlassung, des Wohnsitzes und des gewöhnlichen Aufenthaltsortes klargestellt werden. Die Zugrundelegung möglichst klarer und objektiver Kriterien sollte die praktische Anwendung dieser Begriffe erleichtern, wobei der Rechtsprechung des Gerichtshofs Rechnung getragen werden sollte.“ 49 EuGH, Urt. v. 4.7.1985 – 168/84 – Berkholz, EuGHE 1985, 2251 = ECLI:EU:C:1985:299 = UR 1985, 226. 50 EuGH, Urt. v. 2.5.1996  – C-231/94  – Faaborg-Gelting Linien, EuGHE 1996, I-2395 = ECLI:EU:C:1996:184 = BStBl. II 1998, 282 = UR 1996, 220 m. Anm. Weiß. 51 EuGH, Urt. v. 17.7.1997 – C-190/95 – ARO Lease, EuGHE 1997, I-4383 = ECLI:EU:C:1997:374 = UR 1998, 185. 52 EuGH, Urt. v. 28.6.2007  – C-73/06  – Planzer Luxembourg, EuGHE 2007, I-5655 = ECLI:EU:C:2007:397 = UR 2007, 654. 53 U.a. EuGH, Urt. v. 7.5.1998  – C-390/96  – Lease Plan, EuGHE 1998, I-2553 = ECLI:EU:C:1998:206 = UR 1998, 343; EuGH, Urt. v. 20.2.1997 – C-260/95 – DFDS, EuGHE

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ȤȤ Ihre strukturelle Ausstattung mit Sach- und Personalmitteln muss es ermöglichen, solche Umsätze, die dem Geschäftsmodel des Gesamtunternehmens entsprechen, lokal zu erbringen oder zu verwenden.54 ȤȤ Der primäre Anknüpfungspunkt bzw. Zuordnungsmagnet betreffend der Besteuerung eines Umsatzes im Ursprungsland- oder Bestimmungslandprinzip ist der Stammsitz des Unternehmens55. ȤȤ Lediglich dann, wenn die Zuordnung eines Umsatzes zum Stammsitz des Unternehmens nicht zu einer steuerrechtlich sinnvollen Lösung führt oder hierdurch ein Qualifikationskonflikt zwischen zwei Staaten ausgelöst wird, ist eine abweichende Umsatzzuordnung zu einer festen Niederlassung in einem anderen Mitgliedsstaat zu berücksichtigen.56 ȤȤ Dies gilt umso mehr vor dem Hintergrund des Prinzips der Klarheit des Besteuerungsverfahrens, welches objektive und einfache Kriterien der Zuordnung verlangt, die betreffend des Stammsitzes eher vorliegen sollen als betreffend einer abweichenden festen Niederlassung57. 2. Kein Gleichrang von Stammsitz und fester Niederlassung Als wesentliche Erkenntnis aus der Analyse der ständigen Rechtsprechung des EuGH lässt sich somit feststellen, dass der in der Praxis oft angenommene Gleichrang zwischen fester Niederlassung und Stammsitz im EU-Umsatzsteuerrecht nicht existent ist. Das fehlerhafte Praxisverständnis resultiert dabei aus der missverständlich formulierten Zuordnungsregel von Umsätzen zum Stammhaus bzw. der festen Niederlassung gem. Art. 44 und Art. 45 MwStSystRL (vgl. § 3a Abs. 1 und Abs. 2 UStG wonach es heißt: „Eine sonstige Leistung wird vorbehaltlich der Absätze 2 bis 8 und der §§ 3b, 3e und 3f an dem Ort ausgeführt, von dem aus der Unternehmer sein Unternehmen betreibt. Wird die sonstige Leistung von einer Betriebsstätte ausgeführt, gilt die Betriebsstätte als der Ort der sonstigen Leistung.“58 1997, I-1005 = ECLI:EU:C:1997:77 = UR 1997, 179; EuGH, Urt. v. 6.2.2014 – C-323/12 – E.ON Global Commodities, ECLI:EU:C:2014:53 = UR 2014, 409. 54 EuGH, Urt. v. 16.10.2014 – C-605/12 – Welmory, ECLI:EU:C:2014:2298 = UR 2014, 937 – Rz. 58. 55 EuGH, Urt. v. 4.7.1985 – 168/84 – Berkholz, EuGHE 1985, 2251 = ECLI:EU:C:1985:299 = UR 1985, 226 – Rz. 17. 56 EuGH, Urt. v. 16.10.2014 – C-605/12 – Welmory, ECLI:EU:C:2014:2298 = UR 2014, 937 – Rz. 54 ff. 57 EuGH, Urt. v. 16.10.2014 – C-605/12 – Welmory, ECLI:EU:C:2014:2298 = UR 2014, 937 – Rz. 55. 58 § 3a Abs. 1 UStG: „Eine sonstige Leistung wird vorbehaltlich der Absätze 2 bis 8 und der §§ 3b, 3e und 3f an dem Ort ausgeführt, von dem aus der Unternehmer sein Unternehmen betreibt. Wird die sonstige Leistung von einer Betriebsstätte ausgeführt, gilt die Betriebsstätte als der Ort der sonstigen Leistung.“

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Der Wortlaut lässt vermuten, dass bei Zweifelsfällen der Zuordnung eines Umsatzes, der Zuordnung dieses Umsatzes zu einer festen Niederlassung der generelle Vorrang einzuräumen wäre. Faktisch ist jedoch das Gegenteil der Fall. Eine primäre Zuordnung des Umsatzes zur festen Niederlassung soll nach Auffassung des EuGH 59 nur dann erfolgen, wenn: ȤȤ die feste Niederlassung existiert; ȤȤ sie ausreichend ausgestattet ist um die fraglichen Aktivitäten selbst auszuführen; und sie ȤȤ tatsächlich hinreichend in den relevanten und zuzuordnenden Umsatz involviert ist.60 Im Ergebnis erfolgt die Zuordnung des Umsatzes zur festen Niederlassung also nicht etwa im Zweifelsfall, sondern im Gegenteil ausschließlich dann, wenn deren Existenz und Involvierung ohnehin unzweifelhaft ist.

VII. Erforderliche Ausstattungsmerkmale Somit kommt im Rahmen der Existenzfrage der festen Niederlassung deren ausreichender Ausstattung eine besondere Bedeutung zu. 1. Hinreichende Sach- und Personalmittel im Rahmen neuartiger Geschäftsmodelle Dies gilt gerade vor dem Hintergrund, dass nach der bisherigen Rechtsprechung des EuGH keine feste Definition von Mindestmerkmalen besteht, sondern eine einzelfallbezogene Abgrenzung der Ausstattungsmerkmale notwendig ist, die es ermöglichen, die Kernaktivitäten des Gesamtunternehmens mittels „hinreichender personeller und technischer Ausstattung“61 selbst auszuführen62.



§ 3a Abs. 2 Sätze 1 und 2 UStG: „Eine sonstige Leistung, die an einen Unternehmer für dessen Unternehmen ausgeführt wird, wird vorbehaltlich der Absätze 3 bis 8 und der §§ 3b, 3e und 3f an dem Ort ausgeführt, von dem aus der Empfänger sein Unternehmen betreibt. Wird die sonstige Leistung an die Betriebsstätte eines Unternehmers ausgeführt, ist stattdessen der Ort der Betriebsstätte maßgebend.“ 59 EuGH, Urt. v. 16.10.2014 – C-605/12 – Welmory, ECLI:EU:C:2014:2298 = UR 2014, 937 – Rz. 56; ebenso Anm. Korf, IStR 2012, 979. 60 EuGH, Urt. v. 16.10.2014 – C-605/12 – Welmory, ECLI:EU:C:2014:2298 = UR 2014, 937 – Rz. 52. 61 Art. 11 MwSt-DVO. 62 Entgegen der Auffassung des Verfassers wird durchaus die Position vertreten, dass auch rein passive feste Niederlassungen als leistungsempfangene Einheit auftreten können, vgl. Haller, MwStR 2015, 7.

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Dabei ist es naheliegend, dass Abgrenzungsprobleme weniger in klassischen Indus­ triezweigen wie dem Einzelhandel oder der Produktionsunternehmen auftreten werden, sondern vornehmlich bei solchen Unternehmensmodellen, die per se entweder nahezu ohne Sach- oder nahezu ohne Personalmittel auskommen. Dies können Aktivitäten mit hohem Materialeinsatz aber geringem Personalbedarf wie der z.B. der Betrieb von (nahezu wartungsfreien) Windfarmen sein aber auch personalintensive Aktivitäten im vertriebsnahen Bereich (z.B. eines Handelsvertreters), welche einen hohe personelle Involvierung, aber kaum Sachmittel erfordern. Besonders veranschaulichen lässt sich dies bei Unternehmen der Digital Economy, deren Geschäftsmodelle häufig darin bestehen, im wesentlichen Lizenzen und IT-Infrastruktur bereitzuhalten (z.B. Server zum Download oder Streamen von Inhalten oder zur Bereitstellung von Speicherkapazität) oder die  – nach eigenem Dafürhalten – lediglich Plattformanbieter für Leistungen Dritter sind (z.B. Lieferdienste, Taxiservices)63. Besonders betreffend der dieser zuvor genannten Unternehmensmodelle der Digital Economy ist dabei zusätzlich zu berücksichtigen, dass diese per se über eine geographisch äußerst variable Infrastruktur verfügen und der einzig territoriale Anknüpfungspunkt zum Land des Leistungsverbrauches häufig darin besteht, dass von diesem aus die angebotenen Leistungen online genutzt werden kann. Legt man an die exemplarisch genannten Geschäftsmodelle die Abgrenzungskriterien des EuGH in der weiter zurückliegenden Rechtsprechung an, so ergibt sich hieraus mit einiger Sicherheit keine feste Niederlassung und somit kein Anknüpfungspunkt der Umsatzbesteuerung. Denn, so hatte es der EuGH auf der Basis des grenzüberschreitenden Leasings von Fahrzeugen in den Rechtssachen ARO-Lease64 und Lease Plan65 entschieden, dass: „wenn eine Leasinggesellschaft in einem Mitgliedstaat weder über eigenes Personal noch über eine Struktur mit einem hinreichenden Grad an Beständigkeit verfügt, in deren Rahmen Verträge abgefasst oder Entscheidungen über die Geschäftsführung getroffen werden können, d. h. eine Struktur, die die autonome Erbringung der fraglichen Dienstleistungen ermöglicht, sie keine feste Niederlassung in diesem Mitgliedstaat hat“66. 63 Zumindest in regulatorischer Hinsicht vertritt der EuGH am Beispiel eines Fahrdienstvermittlers per App die abweichende Auffassung, dass insoweit eine Verkehrsdienstleistung angeboten wird (Urteil v. 20.12.2017 – C-434/15, Asociación Profesional Elite Taxi / Uber Systems Spain SL, http://curia.europa.eu/juris/document/document.jsf;jsessionid=9ea7d​ 2dc30d6152be3b74f584af28d2c8b4160c0dec7.e34KaxiLc3qMb40Rch0SaxyNah90?text=​ &docid=198047&pageIndex=0&doclang=DE&mode=lst&dir=&occ=first&part=1&cid=​ 1057303) 64 EuGH, Urt. v. 17.7.1997 – C-190/95 – ARO Lease, EuGHE 1997, I-4383 = ECLI:EU:C:1997:​ 374 = UR 1998, 185. 65 EuGH, Urt. v. 7.5.1998 – C-390/96 – Lease Plan, EuGHE 1998, I-2553 = ECLI:EU:C:1998:​ 206 = UR 1998, 343. 66 EuGH, Urt. v. 17.7.1997 – C-190/95 – ARO Lease, EuGHE 1997, I-4383 = ECLI:EU:C:1997:​ 374 = UR 1998, 185 – Rz. 19; EuGH, Urt. v. 7.5.1998 – C-390/96 – Lease Plan, EuGHE 1998, I-2553 = ECLI:EU:C:1998:206 = UR 1998, 343 – Rz. 26.

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2. Die feste Niederlassung ohne eigene Sach- und Personalmittel … Entgegen dieser Auffassung hatte Generalanwalt Maduro in den Schlussanträgen zur Rechtssache RAL (Channel Islands)67 die Ansicht vertreten, dass zumindest eigenes Personal nicht zwingend umfassend am Ort der festen Niederlassung vorgehalten werden müsse, wenn die Funktionsfähigkeit der ausgeübten wirtschaftlichen Tätigkeit dies nicht erfordere68. Da nach Ansicht von Generalanwältin Kokott weiterhin auch Sachmittel zwar am Ort der potenziellen festen Niederlassung vorhanden sein müssen69, aber sich nicht zwingend im Eigentum des betroffenen Unternehmers befinden müssten und die Ausführungen von Generalanwalt Maduro so verstanden werden können, dass eine wirklich umfassende Autonomie der festen Niederlassung in einer Art und Weise, dass dort wesentliche Entscheidungen über die Geschäftsführung getroffen werden gerade nicht mehr zwingend erforderlich sein soll70, kann m.E. davon ausgegangen werden, dass eine feste Niederlassung es dem Grunde nach lediglich erfordert, dass: ȤȤ Sach- und Personalmittel am Ort der festen Niederlassung überhaupt vorhanden sind, und ȤȤ Diese faktisch von der festen Niederlassung genutzt werden können, ȤȤ ohne dass diese feste Niederlassung infolge ihrer Ausstattungsmerkmale tatsächlich eigenständig handeln können muss. 3. … und ganz ohne Sach- oder Personalmittel … Wenn man nun in einem weiteren Schritt Fallgestaltungen betrachtet, in denen entweder Sach- oder Personalmittel zur Umsetzung des eigenen Geschäftsmodelles nur 67 Siehe Schlussanträge des Generalanwalts Maduro, EuGH v. 27.1.2005 – C-452/03 – RAL (Channel Islands), EuGHE 2005, I-3947 = ECLI:EU:C:2005:65 – Rz. 52. 68 In der Entscheidung des EuGH in der Rechtssache RAL (Channel Islands) finden sich mangels Entscheidungserheblichkeit dieser Fragestellung für das ergangene Urteil keine Informationen dazu, inwieweit das Gericht die Ansicht des Generalanwaltes teilt, vgl. EuGH, Urt. v. 12.5.2005  – C-452/03  – RAL (Channel Islands), EuGHE 2005, I-3947 = ECLI:EU:C:2005:289 = UR 2005, 443. 69 Siehe Schlussanträge der Generalanwältin Kokott, EuGH v. 15.5.2014 – C-605/12 – Welmory, ECLI:EU:C:2014:340 – Rz. 51: „… Denn auch wenn eine feste Niederlassung nicht zwingend eigenes Personal und eine eigene technische Ausstattung erfordert, muss dem Steuerpflichtigen jedoch – aufgrund des Erfordernisses eines hinreichenden Grads an Beständigkeit der Niederlassung – eine vergleichbare Verfügungsgewalt über das Personal und die Sachmittel zustehen. Deshalb sind insbesondere Dienst- oder Mietverträge im Hinblick auf das Personal und die Sachmittel erforderlich, die dem Steuerpflichtigen diese wie eigene zur Verfügung stellen und die daher auch nicht binnen kurzer Zeit wieder auflösbar sind.“ 70 Demgegenüber geht die deutsche Finanzverwaltung weiterhin von einem Autonomieerfordernis der festen Niederlassung aus, vgl. Abschn. 3a.1 Abs. 3 Satz 3 UStAE: „Außerdem muss die Einrichtung oder Anlage einen hinreichenden Grad an Beständigkeit sowie eine Struktur aufweisen, die von der personellen und technischen Ausstattung her eine autonome Erbringung der jeweiligen Dienstleistungen ermöglicht …“

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in geringem Maße, sind, so sollten die Grundaussagen des EuGH71 selbst dann weiter Geltung besitzen, gelten wenn Sach- und Personalmittel zumindest nicht parallel am Ort der potenziellen festen Niederlassung in umfassender Form vorgehalten werden müssen72. Dies erklärt auch zwei Entscheidungen deutscher Finanzgerichte zur Fragestellung, ob der hohe Sachmittel erfordernde, aber nahezu personallos durchführbare, Betrieb eines Windrades eines ausländischen Unternehmens für dieses eine feste Niederlassung in Deutschland begründet. Das FG Münster hatte im Jahr 2013 hinsichtlich der Qualifikation eines Windrads als feste Niederlassung nach sorgfältiger Analyse der zuvor dargestellten Rechtsprechung des EuGH73 entschieden, dass die fehlende personelle Ausstattung durch die stark ausgeprägte sachliche Ausstattung kompensiert werden könne74. Nach Ansicht des Gerichts sei zwar im Regelfall „auch die personelle Ausstattung eines der wesentlichen Elemente einer festen Niederlassung. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die Kriterien der personellen und der technischen Ausstattung stets im gleichen Maße erfüllt sein müssen; vielmehr kann eine gering ausgeprägte – oder in Ausnahmefällen sogar fehlende – personelle Ausstattung durch eine überdurchschnittlich stark ausgeprägte sachliche Ausstattung kompensiert werden. … Es ist nach Auffassung des Senats kaum ein höherer Grad an Beständigkeit einer betrieblichen Niederlassung vorstellbar als bei einem Windrad“75.

Die eingelegte Revision führte leider insofern nicht zu weiteren Erkenntnissen, als dass die Revision bereits an der Wahl des zutreffenden Besteuerungsverfahrens scheiterte und Frage der Ansässigkeit durch den BFH mangels Entscheidungserheblichkeit nicht mehr entschieden werden musste76. Umso mehr wurde im Jahr 2017 die Begründung des FG Köln zu einem sehr ähnlich gelagerten Fall einer in Deutschland belegenen Windenergieanlage erwartet. Das FG Köln hat in diesem Fall festgestellt, dass es sich bei Windrädern um „ortsfeste Einrichtungen von erheblichem Wert (handelt), die einen höchstmöglichen Grad von Beständigkeit aufweisen. Dass die Klägerin über kein eigenes Personal verfügt welches ständig vor Ort bei den Windkraftanlagen tätig ist, steht der Annahme einer festen Niederlas71 EuGH, Urt. v. 16.10.2014 – C-605/12 – Welmory, ECLI:EU:C:2014:2298 = UR 2014, 937 – Rz. 60. 72 Ebenso Anm. Monfort, DStR 2014, 2173. 73 Insbesondere EuGH, Urt. v. 28.6.2007  – C-73/06  – Planzer Luxembourg, EuGHE 2007, I-5655 = ECLI:EU:C:2007:397 = UR 2007, 654; EuGH, Urt. v. 17.7.1997 – C-190/95 – ARO Lease, EuGHE 1997, I-4383 = ECLI:EU:C:1997:374 = UR 1998, 185; EuGH, Urt. v. 7.5.1998 – C-390/96 – Lease Plan, EuGHE 1998, I-2553 = ECLI:EU:C:1998:206 = UR 1998, 343. 74 FG Münster, Urt. v. 5.9.2013 – 5 K 1768/10 U, EFG 2013, 1890. 75 FG Münster, Urt. v. 5.9.2013 – 5 K 1768/10 U, EFG 2013, 1890 – zu 1 a der Gründe. 76 BFH, Urt. v. 19.11.2014 – V R 41/13, BFH/NV 2015, 634 Nr. 4.

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Jürgen Scholz sung bzw. Betriebsstätte nicht entgegen. Zwar ist grundsätzlich auch die personelle Ausstattung eines der wesentlichen Elemente. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die Kriterien der personellen und technischen Ausstattung stets in gleichem Maße erfüllt sein müssen; vielmehr kann eine gering ausgeprägte – oder in Ausnahmefällen sogar fehlende – personelle Ausstattung durch eine überdurchschnittlich ausgeprägte sachliche Ausstattung kompensiert werden. So verhält es sich im Streitfall. Es ist kaum ein höherer Grad an Beständigkeit einer betrieblichen Niederlassung denkbar als bei einem Windrad.77

Auch wenn nicht nur die unterlegene Klägerin überrascht gewesen sein dürfte, dass trotz offenkundiger grundsätzlicher Bedeutung des Falles nicht nur kein Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH erfolgte, sondern selbst die Revision beim BFH nicht zugelassen wurde, so vermögen die Ausführungen des FG Köln m.E. im Ergebnis durchaus zu überzeugen. Gerade wenn man in einem solchen Fall dem Grundgedanken des BEPS-Projektes folgen möchte, dass unternehmerische Erträge an dem Ort versteuert werden sollten, an dem sie erwirtschaftet werden, so müsste für den Fall eines Windrades zwingend eine feste Niederlassung angenommen werden. 4. … aber im Einklang mit BEPS-Prinzipien und dem EU-Recht Gleichwohl ist die Entscheidung des FG Köln insofern nicht unproblematisch, als dass sie zwar gerade vor dem BEPS-Hintergrund als „richtig“ empfunden werden kann, die Kongruenz zwischen ertragssteuerlichen und umsatzsteuerlichen Betriebsstätten aber nicht in die Aktionspunkte des Abschlussberichts eingeflossen ist78 und somit auch nicht durch EU-weite oder nationale gesetzgeberische Maßnahmen in die Rechtsordnungen überführt werden konnte. Mit anderen Worten wurde die bisherige EuGH-Rechtsprechung79 durch die BEPS-Maßnahmen nicht berührt und besitzt weiterhin Gültigkeit – mit der Problematik, dass ein völliger Verzicht auf Personalmittel bei gleichzeitiger Überausprägung von Sachmitteln bislang zumindest nicht Gegenstand einer EuGH-Entscheidung war und eine dermaßen bedeutsame Rechtsentwicklung durch ein Finanzgericht mindestens nicht den Regelfall darstellt. Bei näherer Betrachtung des der Entscheidung des FG Köln80 zugrundeliegenden Sachverhaltes vergegenwärtigt sich jedoch, dass auch das vorliegende Windrad gele77 FG Köln, Urt. v. 14.3.2017 – 2 K 920/14, BB 2017, 1942 Nr. 34. 78 Umsatzsteuerliche Betriebsstättenfragen wurden insoweit nur im Rahmen des Aktionspunktes 1 zur Besteuerung der Digitalwirtschaft erörtert, Vgl. OECD (2015), Addressing the Tax Challenges of the Digital Economy, Action 1 – 2015 Final Report, OECD Publishing, Paris. http://dx.doi.org/10.1787/9789264241046-en. 79 U.a. EuGH, Urt. v. 28.6.2007  – C-73/06  – Planzer Luxembourg, EuGHE 2007, I-5655 = ECLI:EU:C:2007:397 = UR 2007, 654; EuGH, Urt. v. 17.7.1997 – C-190/95 – ARO Lease, EuGHE 1997, I-4383 = ECLI:EU:C:1997:374 = UR 1998, 185; EuGH, Urt. v. 7.5.1998  – C-390/96 – Lease Plan, EuGHE 1998, I-2553 = ECLI:EU:C:1998:206 = UR 1998, 343. 80 FG Köln, Urt. v. 14.3.2017 – 2 K 920/14, BB 2017, 1942 Nr. 34.

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gentlicher Entscheidungen z.B. im Bereich von Wartungs- und Verwaltungsarbeiten bedürfte, die im Urteilsfall (vermutlich) von externen Dienstleistern ausgeführt wurden. Da vergleichbare Anforderungen an das Erfordernis der gelegentlichen Nutzung personeller Ressourcen auch für andere Geschäftsmodelle gelten sollten  – wie z.B. im Inland belegene Serverfarmen81, die seit einigen Jahren einen Schwerpunkt der niederlassungsbezogenen Auseinandersetzungen zwischen Finanzverwaltung und Steuerpflichtigen repräsentieren -, könnte auf der Basis dieses Urteils und ohne hierbei die ständige EuGH-Rechtsprechung uminterpretieren zu müssen, eine konsistente Weiterentwicklung82 der Rechtslage erwachsen, nach der: ȤȤ grundsätzlich eine hinreichend beständige Ausstattung mit Sach- und Personalmitteln zur Annahme einer festen Niederlassung vorliegen muss, ȤȤ jedoch nur geringfügige und ausgelagerte Personalmittel ausreichen können, um bei hinreichend ausgeprägter Sachmittelbeständigkeit eine feste Niederlassung anzunehmen. Der Begriff der festen Niederlassung würde in diesem Fall in der praktischen Anwendung in Übereinstimmung mit den Anforderungen des Art. 11 MwSt-VO und den Zielen des BEPS-Projektes erweitert und könnte dann eine Vielzahl solcher betrieblicher Aktivitäten umfassen, bei denen die Örtlichkeit für den in den Umsatz eingebundenen Handelspartner kaum erkennbar ist, da dieser z.B. nicht Kontakt mit eigenem lokalen Personal steht. Dies wiederum dürfte dann auch mit dem unionsrechtlichen Ziel der für den Handels­ partner bestimmbaren Abgrenzung fester Niederlassungen83 und des grundsätzlichen Vorrangs der Zurechnung von Umsätzen zu dem Stammsitz84 vereinbar sein, wenn beispielsweise im Rahmen der Einrichtung des Registers über „Zertifizierte Steuerpflichtige“85 auch Informationen zu bestehenden festen Niederlassungen öffentlich zur Verfügung gestellt werden.

81 Zur ertragssteuerlichen Einordnung: Kahle/Kindich, in: Lübbehüsen/Kahle (Hrsg.), Brennpunkte der Besteuerung von Betriebsstätten, Herne 2015, Rz. 2.163 ff. 82 BFH, Urt. v. 19.11.2014 – V R 41/13, UR 2015, 276: Nachdem der BFH es in seiner Entscheidung vermieden hat, sich zur Frage der Niederlassungsfähigkeit eines Windrades festzulegen, ist meines Erachtens davon auszugehen, dass diese Fragestellung im Rahmen eines Vorabentscheidungsersuchens durch den BFH an den EuGH vorgelegt werden wird. 83 EuGH, Urt. v. 16.10.2014 – C-605/12 – Welmory, ECLI:EU:C:2014:2298 = UR 2014, 937 – Rz. 55. 84 Siehe Schlussanträge der Generalanwältin Kokott, EuGH v. 15.5.2014 – C-605/12 – Wel­ mory, ECLI:EU:C:2014:340 – Rz. 44. 85 https://ec.europa.eu/taxation_customs/sites/taxation/files/impact_assessment_-_single_ vat_area_en.pdf, hierzu Scholz, Umsatzsteuer direkt digital 20/2017, 13.

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VIII. Berücksichtigung der Autonomie als entscheidendem Faktor Ein anderer Ansatzpunkt zur sichereren Bestimmung des Anknüpfungspunkts der Besteuerung86 läge meines Erachtens darin, den sowohl in den jüngeren EuGH-Entscheidungen87 als auch in dem Wortlaut des Art.  11 MwSt-DVO untergewichteten Aspekt der Fähigkeit der Autonomie der festen Niederlassung wieder stärker zu hervorzuheben. Schließlich erscheint es als durchaus geeignetes Abgrenzungsmerkmal, nur dann eine feste Niederlassung in einem Staat anzunehmen, wenn diese infolge ihrer technischen und personellen Ausstattung – in Abhängigkeit von dem konkret ausgeübten Geschäftsmodell – dazu in der Lage ist, den betrieblichen Alltag im Wesentlichen autonom abzubilden. Dies würde es ermöglichen, unabhängig von der formalen Anknüpfung an einen höheren oder niedrigeren allgemeinen Einsatz von Sach- und Personalmitteln den wirtschaftlichen Wertbeitrag einer unternehmerischen Aktivität – ergänzend zu den Bestimmungen zum Ort des umsatzsteuerrechtlichen Umsatzes – einem Stammsitz oder einer festen Niederlassung in dem Staat zuzuweisen, in dem dieser auch generiert wird. Zudem würde auch die in jüngerer Zeit aufgekommene Abgrenzungsfrage zwischen aktiven und potenziellen passiven festen Niederlassungen88 vermieden werden können, da es eine zum autonomen Handeln fähige feste Niederlassung denknotwendigerweise erfordert, selbständig und damit aktiv die Leistungen, die sie bezieht, für ihre unternehmerische Aktivität zu verwenden und mit empfangenen Eingangsleistungen auch eigene Ausgangsumsätze zu generieren.

IX. Einführung einer „virtuellen festen Niederlassung“ Um dem Gedanken der bestimmungsgemäßen Besteuerung gem. BEPS–Programmatik insofern Rechnung zu tragen, dass zwar dem Grunde und nach den bestehenden Prinzipien der Leistungsortermittlung eine Umsatzbesteuerung in Abhängigkeit vom Bestehen einer festen Niederlassung erfolgen soll, gleichzeitig aber auch – gerade bei Geschäftsmodellen der Digital Economy – eine Umsatzbesteuerung dort sicherzustellen, wo der eigentliche Konsum (Onlineservices) oder der Ressourcenverbrauch (Windfarmen) erfolgt, wäre es hilfreich, neben der präziseren Definition der festen Niederlassung im Allgemeinen und der weitergehenden Ausführung des Kriterium

86 Vgl. EuGH, Urt. v. 26.1.2012 – C-218/10 – ADV Allround, ECLI:EU:C:2012:35 = UR 2012, 175 – Rz. 27; Anm. Burgmaier, UR 2012, 179; Anm. Sterzinger, UR 2012, 182. 87 Unter anderem EuGH, Urt. v. 25.10.2012 – C-318/11 und C-319/11 – Daimler und Widex, ECLI:EU:C:2012:666 = UR 2012, 931 m. Anm. Monfort; EuGH, Urt. v. 16.10.2014  – C-605/12 – Welmory, ECLI:EU:C:2014:2298 = UR 2014, 937. 88 Unter anderem Anm. Grube, MwStR 2014, 833; Haller, MwStR 2015, 7.

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Die feste Niederlassung im Lichte von BEPS

der Autonomie ein weiteres Merkmal der (virtuellen) festen Niederlassung einzuführen. Dies Merkmal sollte die Absicht beinhalten, eine bestimmte Leistung gezielt für einen lokalen Markt anzubieten bzw. auf dessen Ressourcen zuzugreifen. Der virtuellen Betriebsstättendefinition würden dann jedoch nur solche sonstige Leistungen unterfallen, die auch tatsächlich in dem relevanten Zielmarkt erbracht werden. Bezogen auf die zuvor beschriebenen Geschäftsmodelle käme es dann zu folgenden Lösungen: ȤȤ Der in einem Staat weitgehend selbständig agierende, aber nur geringfügig mit Sachmitteln ausgestattete Handelsvertreter würde auch unter dem Dach einer rechtlichen Einheit in einem anderen Staat infolge seiner auf den lokalen Markt zielenden Tätigkeit dort als feste Neiderlassung gelten und entsprechend umsatzbesteuert werden. ȤȤ Das Windrad hinsichtlich dessen nach Inbetriebnahme nur untergeordnete Geschäftsleitungstätigkeiten oder Wartungsservices erforderlich sind, wäre ebenfalls als umsatzsteuerrechtlich feste Niederlassung zu qualifizieren, sofern die erzeugte Energie lokal in das Stromnetz eingespeist wird. ȤȤ Der Onlinecontentanbieter würde mittels des Zurverfügungstellens von Inhalten oder Speicherkapazitäten betreffend der Kunden in einem Zielland auch unabhängig vom (in der Praxis eher problembehafteten89) (M)-OSS Verfahren90 für elektronische Dienstleistungen91 eine feste Niederlassung begründen und sich den lokalen Besteuerungsregeln unterwerfen92. Im Ergebnis käme es zu einer einheitlichen, nachvollziehbaren und nicht mit Doppelbesteuerungskonflikten versehenen Umsatzbesteuerung, die keine grundsätzliche Anpassung des Mehrwertsteuersystems und der Leistungsortbesteuerung erfordert.

X. Fazit Obwohl gerade die präzise Definition einer festen Niederlassung in der unternehmerischen Praxis von signifikanter Bedeutung u.a. zur Bestimmung des umsatzsteuerrechtlichen Leistungsorts sowie im Rahmen des Besteuerungsverfahrens ist, existiert de lege lata weder im Unionsrecht noch im deutschen UStG eine umfassende gesetzliche Definition oder eine einheitliche finanzgerichtliche Auslegung. 89 BT-Drucks. 18/10229 v. 8.11.2016, https://www.bundesanzeiger-verlag.de/fileadmin/Betrifft-Recht/Dokumente/edrucksachen/pdf/1810229.pdf. 90 Vgl. § 18 Abs. 4, § 18h UStG i.V.m. § 3a UStG. 91 Hierzu ausführlicher: Ilsley, Paucksch, Rakhan, Matthes, MwStR 2014, 259. 92 Wenngleich in diesem Falle zusätzliche Maßnahmen wie die Einführung von Split-Payment Prozessen notwendig werden sein, um nicht nur ein theoretisches Steueraufkommen von Offshoreanbietern zu erzeugen, sondern dieses auch faktisch zu realisieren.

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Art. 11 MwSt-DVO enthält zwar seit dem Jahr 2011 eine Kodifizierung der bisherigen EuGH-Rechtsprechung zur festen Niederlassung, in die maßgeblichen Formulierungen sind jedoch bislang keine generellen und über die bisherige einzelfallbezogene Rechtsprechung des EuGH hinausgehenden Überlegungen eingegangen. Im Ergebnis haben sich daher auf der Basis der ständigen EuGH-Rechtsprechung93 mit der Notwendigkeit der Existenz von personellen und materiellen Ressourcen wesentliche Anknüpfungskriterien zur Bestimmung einer festen Niederlassung herausgebildet. Gleichzeitig sind aber auch bedeutsame Fragestellungen zu den notwendigen Ausstattungsmerkmalen einer festen Niederlassung sowie der Korrelation der Ausstattungsmerkmale zum Ressourcenbedarf des Geschäftsmodells unbeantwortet und eine Besteuerung am Ort der betriebswirtschaftlichen Wertschöpfung kann derzeit gerade bei im Personal und Ressourceneinsatz unausgewogenen oder digitalen Geschäftsmodellen nicht durchgängig gewährleistet werden. Da diese Besteuerungsherausforderungen im Rahmen des BEPS-Projektes im Hinblick auf die Umsatzsteuer94 nur in Einzelfragen95 diskutiert wurden, erscheint es m.E. zielführend, die bislang gesetzgeberisch nicht im Mittelpunkt stehende Definition der festen Niederlassung aufzuwerten und um einen zentralen Punkt – die Absicht eine bestimmte Leistung gezielt für einen lokalen Markt anzubieten bzw. auf dessen Ressourcen zuzugreifen – zu ergänzen, um damit gleichzeitig Rechtssicherheit und einheitliche Marktbedingungen zu schaffen.

93 Insbesondere EuGH, Urt. v. 4.7.1985  – 168/84  – Berkholz, EuGHE 1985, 2251 = ECLI:EU:C:1985:299 = UR 1985, 226; EuGH, Urt. v. 17.7.1997 – C-190/95 – ARO Lease, EuGHE 1997, I-4383 = ECLI:EU:C:1997:374 = UR 1998, 185; EuGH, Urt. v. 7.5.1998  – C-390/96  – Lease Plan, EuGHE 1998, I-2553 = ECLI:EU:C:1998:206 = UR 1998, 343; EuGH, Urt. v. 16.10.2014 – C-605/12 – Welmory, ECLI:EU:C:2014:2298 = UR 2014, 937. 94 Vgl. Ismer/Gradl, MwStR 2016, 324. 95 Vgl. OECD (2015), Addressing the Tax Challenges of the Digital Economy, Action 1 – 2015 Final Report, OECD Publishing, Paris. http://dx.doi.org/10.1787/9789264241046-en.

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Finanzdienstleistungen: Steuerbefreiungen – Option – Vorsteuerabzug Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Wechselnder Umfang der Steuer­ befreiungen 1. Immer wieder Änderung der Rechtsgrundlagen a) Nationale Gesetze b) EG-/EU-Richtlinien 2. Wechselnde Motive für die Umsatz­ steuerbefreiung von Finanzdienst­ leistungen

3. Änderungen des Umfangs der ­Befreiungen durch die Rechtsprechung a) Befreiung der Kreditgewährung b) Befreiung der Umsätze im Über­ weisungsverkehr III. Option 1. Ursprünglich: Global-Option 2. In der Folgezeit: Einzel-Option IV. Vorsteuerabzug 1. Ursprünglicher Bankenschlüssel 2. Neuer Bankenschlüssel

I. Einleitung Finanzdienstleistungen wurden von Anfang an von der Umsatzsteuer befreit, sogar schon durch den Vorgänger des UStG 1918, den Warenumsatzstempel 1916.1 Durch eine ganze Reihe von Gesetzesänderungen wurde der Umfang der Befreiungen immer mehr erweitert, später allerdings eingeschränkt. Die Rechtsprechung ihrerseits klärte im Lauf der Jahre, welchen Inhalt wichtige Befreiungstatbestände hatten. Daraufhin blieben Vorgänge steuerfrei, die ursprünglich besteuert wurden. Ab 1968 wurde die Steuerbelastung von Finanzdienstleistungen maßgeblich durch die von der EG / EU erlassenen Richtlinien zur Harmonisierung der Mehrwertsteuer beeinflusst. Als die Möglichkeit der Option und des Vorsteuerabzugs eingeführt wurde, wirkte sich dies bei den steuerfreien Finanzdienstleistungen zwar nicht sofort aus, wohl aber in den Folgejahren (siehe III. und IV. ).

1 Das Reichsstempelgesetz besteuerte „bezahlte Warenlieferungen“ (Tarif Nr. 10). In den Zusätzen dazu hieß es: „Als Warenlieferung gilt die entgeltliche Übertragung beweglicher Sachen. Als Waren gelten nicht Forderungen, Urheber- und ähnliche Rechte, Wertpapiere, Wechsel, Schecks, Banknoten, Papiergeld, Geldsorten und ähnliche Wertzeichen.“

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II. Wechselnder Umfang der Steuerbefreiungen 1. Immer wieder Änderung der Rechtsgrundlagen a) Nationale Gesetze UStG 1918: Im damaligen § 2 Nr. 2 waren befreit: die Kreditgewährungen und die Umsätze von Geldforderungen, insbesondere von Wechseln und Schecks sowie von Wertpapieren, Anteilen an Gesellschaften und sonstigen Vereinigungen, Banknoten, Papiergeld, Geldsorten und von inländischen amtlichen Wertzeichen. Diese Befreiungen galten fast unverändert bis Ende 1967, zuletzt als § 4 Nr. 8 UStG 1951. Ergänzend galten Umsatzsteuer-Durchführungsbestimmungen (UStDB). Sie befreiten bei Banken, nicht aber bei anderen Unternehmern, zusätzlich die Lieferung von Avalen, die Inkassi und den Kontokorrent- bzw. Zahlungs- und Überweisungsverkehr (zuletzt § 33 UStDB 1951). Außerdem wurde es den Banken erspart, ihre Provisionen aufzugliedern in solche aus steuerpflichtigen und in solche aus steuerfreien Geschäften. Es wurde ihnen eine Pauschalversteuerung gestattet. Dabei waren 8 % der Provisionen aus „Bankumsätzen aller Art“ dem allgemeinen Steuersatz (von zuletzt 4 %) zu unterwerfen, so dass sämtliche Provisionen einer Belastung von 0,32 % unterlagen (§ 64 UStDB 1938 = § 68 UStDB 1951). Am 1.1.1968: Das bisherige Pauschalierungsverfahren wurde abgeschafft. Außerdem wurde die in § 33 UStDB enthaltene Sonderregelung inhaltlich in den § 4 Nr. 8 UStG mit aufgenommen. Befreit wurden nunmehr auch: die Übernahme von Verbindlichkeiten, Bürgschaften und ähnlichen Sicherheiten, die Vermittlung der Umsätze von Wertpapieren und gesetzlichen Zahlungsmitteln, die Verwaltung von Krediten sowie die Verwahrung und Verwaltung von Wertpapieren und die sonstigen Leistungen im Emissionsgeschäft. Im UStG 1980 wurde die bis dahin wenig übersichtliche Vorschrift neu gegliedert. Außerdem wurde sie um zusätzliche Befreiungstatbestände erweitert. Befreit waren nunmehr: a) die Gewährung, die Vermittlung und die Verwaltung von Krediten sowie die Verwaltung von Kreditsicherheiten; b) die Umsätze und die Vermittlung der Umsätze von gesetzlichen Zahlungsmitteln; dies gilt nicht,wenn die Zahlungsmittel wegen ihre Metallgehaltes oder ihres Sammlerwertes umgesetzt werden; c) die Umsätze und die Vermittlung der Umsätze von Geldforderungen; d) die Umsätze im Einlagengeschäft, im Kontokorrentverkehr, im Zahlungs- und Überweisungsverkehr und das Inkasso von Handelspapieren; e) die Umsätze von Wertpapieren und die Optionsgeschäfte mit Wertpapieren, die Vermittlung dieser Umsätze, die Verwahrung und Verwaltung von Wertpapieren (Depotgeschäft) sowie die sonstigen Leistungen im Emissionsgeschäft; 580

Finanzdienstleistungen: Steuerbefreiungen – Option – Vorsteuerabzug

f) die Umsätze und die Vermittlung der Umsätze von Anteilen an Gesellschaften und anderenVereinigungen; g) die Übernahme von Verbindlichkeiten, von Bürgschaften und ähnlichen Sicherheiten sowie die Vermittlung dieser Umsätze; h) die Verwaltung von Sondervermögen nach dem Gesetz über Kapitalanlagegesellschaften. Durch das Steuerbereinigungsgesetz 1986 wurde die Befreiung ausgedehnt auf die Optionsgeschäfte mit Geldforderungen und die Vermittlung solcher Optionsgeschäfte (Erweiterung des Buchst. c). Durch das Gesetz über Unternehmensbeteiligungsgesellschaften v. 17.12.1986 wurde auch die Beteiligung als stiller Gesellschafter in den Befreiungskatalog einbezogen (neuer Buchst. j des § 4 Nr. 8 UStG). Das Zweite Gesetz zur Änderung des UStG v. 30.3.1990 änderte drei Befreiungstatbestände: Der Buchst. c befreite seitdem nicht mehr nur die Umsätze und die Vermittlung der Umsätze von Geldforderungen, sondern “die Umsätze im Geschäft mit Geldforderungen sowie die Vermittlung dieser Umsätze” Ausgenommen von der Befreiung wurde aber die Einziehung von Forderungen. Der Buchst. e befreite nunmehr in allgemeiner Form “die Umsätze im Geschäft mit Wertpapieren und die Vermittlung dieser Umsätze”; allerdings wurde die bisherige Steuerbefreiung der Verwahrung und Verwaltung von Wertpapieren aufgehoben. Der Buchst. g befreite jetzt nicht mehr nur die Übernahme von „ähnlichen“, sondern von (allen) „anderen“ Sicherheiten sowie die Vermittlung dieser Umsätze. Durch das Verbrauchsteuer-Binnenmarktgesetz v. 21.12.1992 wurden zusätzlich befreit: “die Umsätze im Geschäft mit Goldbarren, mit Goldmünzen, die als gesetzliche Zahlungsmittel gelten, mit unverarbeitetem Gold und die Vermittlung dieser Umsätze (neuer Buchst. k des § 4 Nr. 8 UStG). Durch das Umsatzsteueränderungsgesetz v. 9.8.1994 wurden zwei Befreiungstatbestände ausgedehnt. Der Buchst. d befreite jetzt nicht nur die Umsätze im Einlagengeschäft usw, sondern auch die Vermittlung dieser Umsätze. Der Buchst. h (Verwaltung von Sondervermögen) befreite nunmehr auch die Verwaltung von Versorgungseinrichtungen iS des Versicherungsaufsichtsgesetzes. Durch das Jahressteuergesetz 1996 wurden Befreiungstatbestände aufgehoben. Die Verwaltung von Krediten und Kreditsicherheiten durch einen anderen als den Kreditgeber (bis dahin steuerfrei nach Buchstabe a) ist seitdem steuerpflichtig. Durch das Steuerbereinigungsgesetz 1999 wurde die Befreiung der Umsätze von Gold und Goldmünzen (bis dahin Buchst. k) aus dem § 4 Nr. 8 UStG herausgenommen und in geänderter Fassung als neuer § 25c in das UStG eingefügt. Durch das Steueränderungsgesetz 2001 wurde im Buchst. c der enge Begriff „Geldforderungen“ durch den weiter gefassten Begriff „Forderungen“ ersetzt. Außerdem wur581

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de die Befreiung ausgedehnt auf Umsätze im Geschäft mit Schecks und anderen Handelspapieren. Durch das Richtlinien-Umsetzungsgesetz v. 9.12.2004 wurde der Buchst. j ersatzlos gestrichen (Wegfall der Befreiung für die Beteiligung als stiller Gesellschafter). Durch das Jahressteuergesetz 2008 vom 20.12.2007 wurde in Buchst. h das Wort „Sondervermögen“ ersetzt durch das Wort „Investmentvermögen“. Mit Wirkung zum 24.12.2013 wurde der Buchst. h erneut geändert. Statt der „Verwaltung von Investmentvermögen nach dem Investmentgesetz“ ist nunmehr befreit: „die Verwaltung von Investmentfonds im Sinne des Investmentsteuergesetzes“. Mit Wirkung zum 1.1.2018 wurde der Buchst. h nochmals geändert. In der Fassung des Investmentsteuerreformgesetzes vom 19.7.2016 lautet er nunmehr: „die Verwaltung von Organismen für gemeinsame Anlagen in Wertpapieren im Sinne des §  1 Absatz 2 des Kapitalanlagegesetzbuchs, die Verwaltung von mit diesen vergleichbaren alternativen Investmentfonds im Sinne des § 1 Absatz 3 des Kapitalanlagegesetzbuchs und die Verwaltung von Versorgungseinrichtungen im Sinne des Versicherungsaufsichtsgesetzes“. b) EG-/EU-Richtlinien Die Erste und die Zweite EG-RL (beide vom 11.4.1967) enthielten neben Strukturvorgaben einige detaillierte Bestimmungen, die von den Mitgliedstaaten bei der Ausgestaltung ihrer nationalen Umsatzsteuergesetze zu beachten waren. Das führte in der Bundesrepublik Deutschland 1968 zu den vorstehend unter II 1 a Abs. 3 genannten Änderungen (sowie zur Möglichkeit der Option und zur Einführung des Vorsteuerabzugs, s. III. und IV.). Die Sechste EG-Richtlinie (77/388/EWG) vom 17.5.1977 bezweckte, dass steuerpflichtige Umsätze in allen Mitgliedstaaten mit einer einheitlichen Bemessungsgrundlage erfasst wurden. In der Bundesrepublik Deutschland wurde die RL aber erst mit einiger Verspätung in nationales Recht umgesetzt, nämlich durch das UStG 1980. Zum 1.1.2007 wurde jene RL ersetzt durch die MwStSystRL (2006/112/EG) vom 28.11.2006. Für die steuerliche Behandlung der Finanzumsätze änderte sich dadurch aber nichts. Denn der Wortlaut des neuen Art.135 Abs. 1 Buchst. b bis g MwStSystRL war teils identisch mit dem bisherigen Art. 13 Teil B Buchst. d Nrn. 1 bis 6 der 6. EG-­ Richtlinie, teils enthielt er nur redaktionelle Änderungen. Gelegentlich wird gesagt, die EU-Richtlinien hätten dem nationalen Gesetzgeber detaillierte Vorgaben für die Ausgestaltung des Umsatzsteuerrechts gegeben. Im Bereich der Steuerbefreiungen für Finanzdienstleistungen verblieb dem nationalen Gesetzgeber aber doch so viel Raum, dass er – bei gleichbleibendem Richtlinientext – in den Jahren 1986 bis 2018 die vorstehend geschilderten Änderungen vornehmen konnte, die in der Praxis durchaus von Gewicht sind. 582

Finanzdienstleistungen: Steuerbefreiungen – Option – Vorsteuerabzug

2. Wechselnde Motive für die Umsatzsteuerbefreiung von Finanzdienstleistungen Als 1918 die Umsatzsteuer eingeführt wurde, war man sich einig, dass die Übertragung von Geldforderungen sowie von Banknoten, Papiergeld und Geldsorten „eine Belastung ihres vollen Umsatzbetrages mit der Umsatzsteuer nicht ertragen könne“2 . Die Besteuerung von Kreditgewährungen hätte vorausgesetzt, dass man sich über den wirtschaftlichen Gehalt dieser Leistung im Klaren gewesen wäre. In diesem Punkt bestand aber Unsicherheit. Außerdem gab es Zweifel, was alles bei Kreditgewährungen zum Entgelt gehöre.3 All‘ diese Schwierigkeiten konnte man durch eine Steuer­ befreiung umgehen. Bei solchen Finanzgeschäften, die bereits mit Rechtsverkehr­ steuern belastet wurden, war man der Überzeugung, dass diese speziellen Steuern geeigneter seien als eine – allgemeine – Umsatzsteuer: ȤȤ Die Wertpapiersteuer erfasste den Ersterwerb von verzinslichen Wertpapieren; sie lief Ende 1964 aus. ȤȤ Die Börsenumsatzsteuer erfasste den Kauf und Verkauf von bereits umlaufenden Wertpapieren; sie lief Ende 1990 aus. ȤȤ Die Gesellschaftsteuer erfasste z.B. den Ersterwerb von Aktien; sie lief Ende 1991 aus. ȤȤ Die Wechselsteuer erfasste u.a. die Aushändigung eines Wechsels durch den Aussteller; sie lief ebenfalls Ende 1991 aus. Als diese Rechtsverkehrsteuern nacheinander aufgehoben wurden, hielt man die bisher belasteten Vorgänge nicht mehr für besteuerungswürdig. Die einschlägigen USt-Befreiungen blieben bestehen. Nach Auffassung des EuGH verfolgte der EU-Richtliniengeber bei der Befreiung der Finanzgeschäfte den Zweck, eine Erhöhung der Kosten des Verbraucherkredits zu vermeiden4 und Schwierigkeiten zu beseitigen, die mit der Bestimmung der Bemessungsgrundlage und der Höhe der abzugsfähigen Mehrwertsteuer verbunden seien5. Der BFH übernahm diese Auffassung.6 – Das entspricht aber nicht der Realität. Nur wenige Tatbestände haben etwas mit den Kosten des Verbraucherkredits zu tun, nämlich die Gewährung und Vermittlung von Krediten sowie die Übernahme von Bürgschaften und anderen Sicherheiten. Auch die geltend gemachten Schwierigkeiten bei 2 Das berichtet Plückebaum, UStG, 5. Aufl. 1953, § 4 Nr. 8, Anm. 1. 3 Vgl. die Ausführungen bei II.3.a) zum Stichwort „Kreditgewährungen“. 4 EuGH, Urt. v. 19.4.2007 – C-455/05 – Velvet & Steel Immobilien, ECLI:EU:C 2007:232 = UR 2007, 379  – Rz.  24; Anm. Grundt/Hamacher, UR 2007, 537; EuGH, Urt. v. 22.10.2009  – C-242/08 – Swiss Re Germany Holding, ECLI:EU:C: 2009:647 = BStBl. II 2011, 559 = UR 2009, 891 m. Anm. Hamacher – Rz. 49. 5 EuGH, Urt. v. 19.4.2007 – C-455/05 – Velvet & Steel Immobilien, ECLI:EU:C 2007:232 = UR 2007, 379  – Rz.  24; Anm. Grundt/Hamacher, UR 2007, 537; EuGH, Urt. v. 12.6.2014  – C-461/12 – Granton Advertising, ECLI:EU:C:2014:1745 = UR 2014, 856 – Rz. 30. 6 BFH, Urt. v. 16.11.2016 – XI R 35/14, BStBl. II 2017, 327 = UR 2017, 194 = MwStR 2017, 326 m. Anm. Hahne – Rz. 22.

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der Bestimmung der Bemessungsgrundlage gibt es in Wirklichkeit nicht. Bei vielen Finanzgeschäften besteht die Bemessungsgrundlage aus einer Gebühr oder Provision und ist leicht bestimmbar. Abgesehen davon: Bei Finanzdienstleistungen ist es nicht schwieriger, die Höhe des Entgelts festzustellen als bei anderen Dienstleistungen. Dass die Umsätze im Zahlungs- und Überweisungsverkehr, die Umsätze von Schecks und anderen Handelspapieren sowie die Umsätze von gesetzlichen Zahlungsmitteln7 befreit sind, hat ganz andere Gründe. Der Richtliniengeber und der deutsche Gesetzgeber wollten im Wesentlichen den Waren- und Dienstleistungsverkehr besteuern, aber den Zahlungsverkehr steuerfrei lassen. Die Behandlung der Wertpapierumsätze hat im Lauf der Jahrzehnte geschwankt; hierfür waren wechselnde wirtschaftspolitische Motive bestimmend. Ursprünglich hielt man diese Umsätze für besteuerungswürdig und ihre Erfassung durch die genannten Rechtsverkehrsteuern für zweckmäßig. Dann hielt man ihre völlige Befreiung für richtig. Inzwischen hat der Rat der Europäischen Union auf Vorschlag der Kommission und mit Zustimmung des Europäischen Parlaments die daran interessierten EU-Mitgliedstaaten (darunter Deutschland)8 ermächtigt, auf ihrem Gebiet eine Finanztransaktionssteuer einzuführen.9 Diese neue (noch nicht beschlossene) Steuer greift Elemente der früheren Börsenumsatzsteuer auf und enthält Vorschriften für die in den letzten Jahrzehnten neu aufgekommenen Finanztransaktionen.10 3. Änderungen des Umfangs der Befreiungen durch die Rechtsprechung Bei der Leistung „Kreditgewährung“ dauerte es Jahrzehnte, bis Klarheit über den ­Inhalt der Befreiungsvorschrift gewonnen wurde und bis man erkannte, welche Handlungen als unselbständige Nebenleistungen zu dieser Leistung gehören. Bei den Umsätzen im Überweisungsverkehr war es die technische Entwicklung, die die Rechtsprechung dazu (ver-) führte, notwendige Bestandteile eines Überweisungsvorgangs nicht mehr als befreite Umsätze anzuerkennen. a) Befreiung der Kreditgewährung Ursprünglich herrschte vielfach die Auffassung, eine Kreditgewährung bestehe in der Ausreichung der Kreditsumme; Gegenleistung sei die Rückzahlung des Kredits.11 Erst im Dezember 1933 stellte der RFH klar12, dass eine Kreditgewährung in der Einräu 7 Soweit diese Umsätze überhaupt steuerbar sind, vgl. Philipowski in Rau/Dürrwächter, UStG, Lfg. Februar 2013, § 4 Nr. 8 Anm. 150 bis 158. 8 Ursprünglich waren es 11 Mitgliedstaaten; Estland ist jetzt nicht mehr beteiligt. 9 Beschluss 2013/52/EU v. 22.1.2013. Hierzu machte die Europäische Kommission am 14.2.2013 einen Richtlinienvorschlag [KOM (2013) 71 endg]. 10 Einen kritischen Überblick geben Kempf/Walter-Yadegarjam, MwStR 2013, 150. 11 Diese Auffassung wirkte sich noch Jahrzehnte später aus. Nach Seuffert, Mitglied des Finanzausschusses des Deutschen Bundestages, war „eine Kreditgewährung in den Begriffen des Umsatzsteuerrechts gesehen nichts anderes als ein Tausch zwischen zwei Geldforderungen verschiedener Fälligkeit“, DStR 1968, 299 f. 12 RFH, Urt. v. 22.12.1933 – V A 395/32, RFHE 35, 104 = RStBl. 1934, 636.

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mung der Kapitalnutzung bestehe und dass zum Entgelt für diese Leistung (nur) die vereinnahmten Zinsen, Provisionen und Gebühren gehören. Aber auch diese Definition konnte in die Irre führen. Sie erweckte nämlich den Anschein, die Kreditgewährung bestehe in einem Einmal-Vorgang. Alle Handlungen des Kreditgebers, die nach Auszahlung der Kreditvaluta vorgenommen und gesondert vergütet werden (Erteilung von Kontoauszügen, Auswechslung von Kreditsicherheiten, Erteilung von Löschungsbewilligungen) könnten schon deshalb nicht Bestandteil oder Nebenleistung der Kreditgewährung sein, weil die Kreditgewährung bereits mit Hingabe der Kreditvaluta abgeschlossen sei. Erst Jahre später setzte sich eine neue Auffassung durch. Danach ist die Kreditgewährung – ähnlich wie die Vermietung – eine Dauerleistung; sie besteht in der Verschaffung und in der fortdauernden Belassung von Kaufkraft.13 Folge dieser geänderten Auffassung: Bei der Übereignung der Geldscheine (Kreditsumme) vom Kreditgeber an den Kreditnehmer zu Beginn der Kreditgewährung und bei der späteren Rückübereignung der Geldscheine handelt es sich lediglich um nicht steuerbare Geldbewegungen. Bei Kreditgewährungen war es vielfach üblich, neben dem Zins noch eine ganze Reihe von Gebühren, Provisionen und Kostenerstattungen zu verlangen. Dieser Trend verstärkte sich ab 1928. Damals wurde zwischen den Spitzenverbänden der Privatbanken, der Sparkassen und der Genossenschaftsbanken ein Zinsabkommen abgeschlossen. Dabei wurden die Zinssätze für Einlagen sowie Zins- und Provisionssätze für Kredite festgelegt. Nach der Bankenkrise 1931 kam am 9.1.1932 erneut ein solches Abkommen zustande, das aufgrund der Notverordnung vom 8.12.1931 von der Bank­ aufsichtsbehörde für allgemein verbindlich erklärt wurde. Die endgültige Rechtsgrundlage für die Zinsabkommen wurde durch § 38 KWG 1934 geschaffen. Da die Zinssätze festgelegt waren, konnten die Kreditinstitute höhere Einnahmen nur durch die zusätzliche Berechnung von Gebühren erzielen. Zu deren Rechtfertigung wurde darauf hingewiesen, dass die Kreditgeber eine ganze Reihe von Nebenhandlungen ausführten. Da diese in §  4 Nr.  8 UStG nicht erwähnt wurden, setzte sich ­allmählich die Auffassung durch, dass es umsatzsteuerlich selbständige Leistungen ­seien, auf die sich die Steuerbefreiung nicht erstrecke. aa) Vergütungen für die Kosten des Geschäftsbetriebes Ein Pfandleiher kann seinem Kunden neben den Zinsen auch „Kosten des Geschäftsbetriebs“ in Rechnung stellen (§ 10 Abs. 1 Nr. 2 PfandlVO). Daraus schloss 1937 der RFM14, dass der Pfandleiher dem Kunden nicht nur Kredit gewähre, sondern ihm auch die Einrichtung seines Pfandleihbetriebs zur Verfügung stelle. In dieser Tätigkeit liege eine selbständige – steuerpflichtige – Leistung.

13 BFH, Urt. v. 21.7.1988 – V R 201/83, BFHE 154, 261 = UR 1989, 117; ebenso schon vorher: Philipowski, UR 1979, 1. 14 RdF, Erlass v. 15.2.1937 – S 4139-13 III, U-Kartei S 4139 Karte 2 Nr. 3.

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Diese Beurteilung war über 30 Jahre lang herrschende Meinung. Erst 1970 wies der BFH15 darauf hin, dass die vom Pfandleiher berechneten „Kosten des Geschäftsbetriebs“ gar kein Entgelt für eine steuerbare Leistung sind. Der Pfandleiher eröffne seinen Betrieb und halte ihn aufrecht, um sich überhaupt erst in den Stand zu setzen, Leistungsaustausche vorzunehmen. Aufgrund dieser Entscheidung stellte die Finanzverwaltung fest,16 dass der RdF-Erlass v. 15.2.1937 insoweit überholt ist. Dieser Vorgang zeigt, wie stark sich hier im Lauf der Jahrzehnte die umsatzsteuerliche Beurteilung wandelte. Wenn ein Unternehmer seinen Betrieb eröffnet und aufrechterhält, trifft er interne Vorbereitungshandlungen, um Leistungen auszuführen. Eine Leistung erbringt er erst dadurch, dass er einem Kunden einen greifbaren Nutzen zuwendet, z.B. dadurch, dass er als Pfandleiher einen Kredit gewährt. Alles, was er dafür erhält, gehört zum Entgelt für Kreditgewährung (§ 10 Abs. 1 Satz 2 UStG), und zwar auch dann, wenn er einzelne Entgeltbestandteile ganz anders begründet und bezeichnet. bb) Aufbewahrung und Versicherung von Pfandstücken Wenn ein Kreditgeber ein Pfandstück aufbewahrt, tut er das zunächst in seinem eigenen Interesse. Denn der unmittelbare Besitz an der Sache ist Voraussetzung für den Fortbestand seines Pfandrechts. Meist versichert er die verwahrten Pfandstücke gegen Feuerschäden, Leitungswasserschäden, Einbruchsdiebstahl und Beraubung. Auch dies tut er zunächst in seinem eigenen Interesse, weil er dann eine Ersatz-Sicherheit in Händen hat. Durch beide Handlungen wendet er aber auch dem Kreditnehmer einen Vorteil zu. Dieser braucht jetzt nicht mehr selbst auf den Gegenstand acht zu geben und ist abgesichert gegen Vermögensschäden. Aufbewahrungstätigkeit und Abschluss der Versicherung wurden jahrzehntelang als selbständige – steuerpflichtige – Hauptleistungen angesehen.17 Begründung: Bei der Kreditgewährung bestehe der Leistungsaustausch in der Überlassung der Kapitalnutzung gegen Entgelt. Eine Leistung, die nur der Sicherung des Anspruchs auf Rückzahlung diene, stehe außerhalb dieses Leistungsaustauschs. Sie werde nur anlässlich der Kreditgewährung erbracht. Diese Beurteilung wurde erst 1970 aufgegeben und zunächst nur für den Pfandleihkredit. Der BFH18 begründete dies damit, dass der Pfandleiher zur Aufbewahrung und Versicherung verpflichtet sei (§§ 7 und 8 PfandlVO). Aus der Sicht des Kredit­ suchenden seien die Verwahrung und die Versicherung des Pfandstücks durch den Pfandleiher Bedingung für die Krediterlangung. In beiden Tätigkeiten liege eine unselbständige (steuerfreie) Nebenleistung zur Kreditgewährung. – Dieser Beurteilung stimmten die USt-Referenten des Bundes und der Länder zu.19 15 BFH, Urt. v. 9.7.1970 – V R 32/70, BStBl. II 1970, 645, Abschn. 2a der Gründe. 16 Besprechung des BMF mit den USt-Referenten der Länder am 10/11.11.1970, Punkt 14 i – S 7160, UStR 1971, 60. 17 OFD Hamburg v. 29.11.1955, UStR 1956, 8; Birkenfeld, UStR 1969, 335 ff., 336 Spalte 2. 18 BFH, Urt. v. 9.7.1970 – V R 32/70, BStBl. II 1970, 645, Abschn. 2 e und f der Gründe. 19 Besprechung am 10.11.1970, UStR 1971, 60.

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In der Folgezeit setzte sich diese Beurteilung auch für vergleichbare Tätigkeiten bei Geschäftsbanken und Sparkassen durch. Zwar gewähren diese auch Blankokredite. Wenn sie aber den Kredit im konkreten Fall nur deshalb gewähren, weil ihnen der Kreditsuchende Wertgegenstände verpfändet (Goldbarren, Goldmünzen, Schmuck, Briefmarkensammlung), dann hängt die Aufbewahrung und Versicherung der Pfandstücke auch bei ihnen untrennbar mit der Kreditgewährung zusammen. cc) Sonstige Kosten der Kreditsicherung Eine städtische Pfandleihanstalt berechnete ihren Kunden die Pfandleihgebühr (den Zins) und außerdem für das Abfassen des Kreditvertrages eine Schreibgebühr und für das Besichtigen des Pfandes eine Besichtigungsgebühr. Der RFH20 kam zu dem Ergebnis, dass diese Gebühren in einem unmittelbaren Zusammenhang mit der Kreditgewährung stehen und deshalb umsatzsteuerfrei sind. Dagegen entschied er, dass die von der Pfandleihanstalt erhobene Erörterungsgebühr (für die Feststellung, wie lange ein Pfand verpfändet war und welche Gebühren entstanden sind) und die Zusendungsgebühr (für eingelöste Pfänder und für verlängerte Pfandscheine) nur in einem mittelbaren Zusammenhang mit der Kreditgewährung stehen. Die mit ihnen entgoltenen Leistungen hätten einen ganz anderen Rechtscharakter als die Kreditgewährung; sie seien steuerpflichtig. Bei der Kreditsicherung durch Grundpfandrechte macht die Bank Aufwendungen für die Schätzung des Grundstückswertes, für die Bestellung und Eintragung einer Hypothek oder Grundschuld, für einen Rangrücktritt, eine Löschungsbewilligung oder eine Abtretung von dinglichen Rechten. Diese Kosten stellt sie dem Kreditnehmer in Rechnung. In der Kreditwirtschaft sprach man von der „Besicherung der Kredite“. Dieser Sprachgebrauch beeinflusste auch die umsatzsteuerliche Beurteilung. 1952 entschied der BFH bei einem allgemeinen Kreditinstitut (einer Sparkasse),21 dass die Schätzung des Grundstückswerts nicht unter die Steuerbefreiung des §  4 Nr. 8 UStG falle. Denn die Schätzung beziehe sich nicht auf die Nutzung des Kapitals durch den Kreditnehmer, sondern auf die dingliche Sicherung des Rückzahlungsanspruchs für den Kreditgeber. Ein Teil des Schrifttums präzisierte und ergänzte diese Begründung: An der Kreditgewährung seien beide Vertragsteile interessiert, an der Kreditsicherung aber nur die Bank; sie wolle das einzugehende Risiko beschränken. Die Einseitigkeit des Interesses zeige sich daran, dass der Kreditsuchende grundsätzlich keinen Schätzauftrag erteile. Hinzu komme: Häufig sei es ein externer Bausachverständiger, der die Schätzung vornehme. Aber auch wenn ein eigener Angestellter der Bank tätig werde, so liege seine Eignung doch nicht auf banktechnischem, sondern auf bautechnischem Gebiet. Schon daraus gehe hervor, dass sein Handeln nur in losem Zusammenhang mit der Kreditgewährung stehe.

20 RFH, Urt.v. 26.4.1940 – V 121/39, RStBl. 1940, 655. 21 BFH, Urt. v. 4.9.1952 – V 19/51 U, BStBl. III 1952, 277.

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Zehn Jahre später hatte der BFH22 die Schätzung des Grundstückswerts bei einem Spezialkreditinstitut (einer Hypothekenbank) zu beurteilen. Für Kredite eines solchen Instituts sei die hypothekarische Beleihung nicht eine von mehreren Kreditsicherungsmöglichkeiten, sondern die einzige. Sie sei bis in die Einzelheiten gesetzlich vorgeschrieben. So sei die Beleihung in der Regel nur zur ersten Stelle zulässig und dürfe grundsätzlich die ersten drei Fünftel des Grundstückswerts nicht übersteigen. Auch für die Art, wie der Verkaufswert und der nachhaltige Ertrag des Grundstücks zu ermitteln seien, gebe es bindende Vorschriften.23 Aus diesen Gründen sei die Schätzung des Grundstücks untrennbar mit der Kreditgewährung verbunden. Sie sei nach § 4 Nr. 8 UStG steuerfrei. Mit einer ähnlichen Begründung sah der BFH in der Schätzungstätigkeit eine steuerfreie Leistung auch ȤȤ bei Versicherungsunternehmen, sofern die Hypothekendarlehen ausschließlich zur Anlage von Deckungsstockvermögen im Sinne der §§ 66 ff Versicherungsaufsichtsgesetz verwandt werden,24 sowie ȤȤ bei Bausparkassen.25 In der Folgezeit verwies der BFH26 auf den unmittelbaren Zusammenhang kraft der wirtschaftlichen Gegebenheiten: Wenn ein Pfandleiher einen Kredit gewähre, könne er sich nur aus dem Pfand befriedigen. Wolle er keinen Verlust erleiden, so müsse er das Pfandobjekt schätzen und sich eine genaue Vorstellung von dessen Wert machen. Diese Besonderheit rechtfertige es, die Schätzung als unselbständige Nebenleistung zur Kreditgewährung anzusehen. Erst im Jahre 1971 wurde ein Schlussstrich unter den jahrzehntelangen Meinungsstreit gezogen. Unter Hinweis auf das eben genannte Pfandleiher-Urteil erklärte der BdF wörtlich27: „Mit der Ermittlung der Beleihungsgrenzen des Sicherungsobjekts werden keine selbständigen wirtschaftlichen Zwecke verfolgt. Diese Tätigkeit dient vielmehr lediglich dazu, die Kreditgewährung zu ermöglichen. Dieser unmittelbare, auf wirtschaftlichen Gegebenheiten beruhende Zusammenhang rechtfertigt es, in der Ermittlung des Wertes der Sicherungsobjekte eine Nebenleistung zur Kreditgewährung zu sehen und sie damit als steuerfrei nach § 4 Nr. 8 UStG zu behandeln.“

22 BFH, Urt. v. 20.6.1962 – V 248/59 U, BStBl. III 1962, 363; Urt. v 30.8.1962 – V 29/60 U, BStBl. III 1962, 544. 23 Dass die Wertermitlung der zu beleihenden Grundstücke so genau vorgeschrieben ist, hängt damit zusammen, dass die Hypothekenbanken auf Grund der erworbenen Hypotheken Schuldverschreibungen ausgeben dürfen (§ 1 Abs. 1 und § 5 Hypothekenbankgesetz). 24 BFH, Urt. v. 10.11.1966 – V 103/64, BStBl. III 1967, 190. 25 BFH, Urt. v. 13.2.1969 – V R 68/67, BStBl. II 1969, 449; anderer Auffassung war wenige Jahre vorher noch der BdF, Erlass v. 16.10.1964 – IV A/2-S 4139-3/64, UStR 1965, 250. 26 BFH, Urt. v. 9.7.1970 – V R 32/70, BStBl. II 1970, 645, Abschn. 2 der Gründe. 27 BdF, Schreiben v. 24.2.1971, BStBl. I 1971, 176.

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Kritische Stellungnahme: Wer als Kreditgeber ein Pfandrecht, ein Grundpfandrecht, eine Sicherungsübereignung, eine Forderungsabtretung oder eine Bürgschaft als Kreditsicherheit entgegen nimmt, verschafft dem Kreditsuchenden dadurch keinen greifbaren Vorteil oder Nutzen. Infolgedessen erbringt er ihm weder eine selbständige Hauptleistung noch eine unselbständige Nebenleistung. Dann aber kann auch eine bloße Vorbereitungshandlung, die Schätzung und Bewertung der Kreditsicherheit, keine Haupt- oder Nebenleistung sein. Das wird besonders deutlich, wenn der Kreditgeber – wie es üblich ist – das Schätzergebnis dem Kunden gar nicht mitteilt. Hätte man sich dies von Anfang an klar gemacht, so hätte der jahrzehntelange Meinungsstreit vermieden werden können. Die dem Kreditnehmer berechneten Schätzungskosten sind ganz einfach Teil des Entgelts für die Kreditgewährung. dd) Verwaltungs-, Bearbeitungs- und Betreuungsgebühren Kreditinstitute führen Kreditverhandlungen mit dem Kunden, legen eine Kreditakte an, nehmen eine Kreditwürdigkeitsprüfung vor, holen ggfls. Auskünfte über den Kreditsuchenden ein und eröffnen für den Kreditsuchenden ein Darlehns-Kontoblatt.28 Haben sie den Kredit gewährt, so werden sie während der Kreditlaufzeit darüber wachen, dass bei Kontokorrentkrediten das eingeräumte Kreditlimit nicht überzogen wird, dass die wirtschaftlichen und persönlichen Verhältnisse des Kreditnehmers nach wie vor eine sichere Grundlage für den Kredit bilden und dass die herein genommenen Kreditsicherheiten nicht an Wert verloren haben. Für diese Handlungen wurden häufig die in der Zwischenüberschrift bezeichneten Gebühren berechnet. Noch 1968 wurde im Schrifttum29 darüber geklagt, dass die Zivilgerichte diese Geschäftsübung „allzu kritiklos hingenommen“ hätten. Aus den Bezeichnungen wurde vielfach geschlossen, dass der Kreditgeber entsprechende steuerpflichtige Leistungen erbringe. Erst allmählich setzte sich die Erkenntnis durch, dass die geschilderten Maßnahmen dem Kunden keinen greifbaren Vorteil oder Nutzen verschaffen. Es sind nur interne Maßnahmen zur Vorbereitung und Durchführung der Kaufkraftüberlassung. Die berechneten Gebühren gehören zum Entgelt für die – steuerfreie – Kreditgewährung. ee) Restkreditversicherung, Restschuldversicherung Vor allem in zwei Fällen haben Kreditgeber diese Versicherungen abgeschlossen und die Kosten hierfür den Kreditnehmern berechnet: bei Bauspardarlehen und bei Teilzahlungskrediten (Ratenkrediten). Gewährt eine Bausparkasse einem Bausparer ein Darlehen, so muss sie sich bei der Absicherung ihres Rückzahlungsanspruchs kraft Gesetzes mit einem nachrangigen Grundpfandrecht begnügen. Zur ratenweisen Tilgung des Darlehns steht dem Darlehnsnehmer ein relativ langer Zeitraum zur Verfügung. Es kommt immer wieder vor, 28 Seit geraumer Zeit geschieht dies nicht mehr manuell, sondern elektronisch. 29 Belke, BB 1968, 1219.

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dass der Darlehnsnehmer innerhalb dieses Zeitraums stirbt. Eine Bausparkasse wollte dieses Risiko absichern. Bei Zuteilung des Darlehns schloss sie für den betreffenden Bausparer mit dessen Zustimmung einen Lebens-Versicherungsvertrag auf den Todesfall. Als Versicherungsnehmerin bezahlte sie die Prämien und zog diese Beträge beim Bausparer wieder ein. Streitig wurde, ob die von ihr eingezogenen Beträge der Umsatzsteuer unterlagen. Der RFH entschied im Jahre 1937 30: Durch den Abschluss des Versicherungsvertrages habe die Bausparkasse dem Bausparer einen Vermögenswert zugewendet. Denn im Falle seines Todes seien seine Erben von der noch offenen Rückzahlungsverbindlichkeit befreit worden. Das Entgelt für diese Leistung habe in den vom Bausparer erstatteten Versicherungsprämien bestanden. Dieser umsatzsteuerbare Leistungsaustausch habe neben der Kreditgewährung gelegen. Er falle nicht unter die Befreiungsvorschrift des § 4 Nr. 8 UStG. Der Begriff „unselbständige Nebenleistung“ wird im Urteil nicht einmal erwähnt. In den 1960er Jahren waren Konsumentenkredite (standardisierte Kleinkredite) bis zu einem Betrag von 2.000 DM üblich. Für sie wurden Laufzeiten von bis zu 24 Monaten und feste Rückzahlungsraten vereinbart. In den folgenden Jahrzehnten erhöhten sich die Kreditbeträge auf bis zu 50.000 DM und die Kreditlaufzeiten auf bis zu 72 Monate. Dadurch stieg auch das Kreditrisiko. Manche Kreditinstitute boten nunmehr Teilzahlungskredite mit Versicherungsschutz an. Sie trafen zunächst Rahmenvereinbarungen mit einem Krankenversicherer und einem Lebensversicherer. Falls ein Kreditinteressent Versicherungsschutz wünschte, schloss das Institut im eigenen Namen je einen Versicherungsvertrag auf das Leben und auf die Gesundheit des Kunden ab. Starb der Kreditnehmer während der Kreditlaufzeit, so erhielt das Institut vom Lebensversicherer eine Versicherungssumme in Höhe der noch offenen Rückzahlungsverbindlichkeit (Restschuld). Wurde der Kreditnehmer arbeitsunfähig krank, so erhielt das Institut vom Krankenversicherer nach Ablauf der vereinbarten Karenzzeit ein Krankentagegeld in Höhe von 1/30 der monatlichen Tilgungsrate. In Höhe dieser Beträge erlosch die Rückzahlungsverbindlichkeit des Kunden. Dieser zahlte dem In­ stitut für die Kaufkraftüberlassung Zinsen und Gebühren; für den Versicherungsschutz zahlte er „Restkreditgebühren“. Das FG Kiel meinte,31 dass das Institut neben der Kreditgewährung eine weitere Leistung erbringe. Auch der Kreditnehmer sehe das so. Wenn er die Restkreditgebühren zahle, so tue er das nicht in erster Linie, um die Bank gegen ein Ausfallrisiko abzuschirmen, sondern um neben der Kaufkraft auch noch die aufschiebend bedingte Befreiung von der Darlehens-Rückzahlungspflicht zu erhalten. Eine unselbständige Nebenleistung zur Kreditgewährung liege nicht vor. Eine Nebenleistung könne nur dann unselbständig neben einer Hauptleistung stehen, wenn die Hauptleistung ohne die Nebenleistung nicht erbracht werden könne. An dieser Voraussetzung fehle es jedoch. Denn die Teilzahlungsbanken seien nicht gezwungen, Kredite nur mit Versicherungsschutz zu gewähren. 30 RFH, Urt. v. 24.8.1937 – V A 452/36, RStBl. 1937, 1091. 31 FG Kiel, Urt. v. 13.6.1972, EFG 1972, 567.

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Ein halbes Jahr vorher hatte das FG Düsseldorf32 einen ähnlichen Fall zu entscheiden. Auch dieses Gericht ging davon aus, dass die Bank dem Kreditnehmer neben der Kaufkraft noch einen weiteren Vorteil zuwende, nämlich die bedingte Befreiung von der Rückzahlungspflicht. Dieser Vorteil hänge aber unmittelbar zusammen mit der Kaufkraftüberlassung und diene ihr. Es handele sich um eine unselbständige Nebenleistung zur Kreditgewährung. Sechs Jahre später kam es zu einer Entscheidung des BFH.33 Im Urteilsfall vergab die Bank neben Teilzahlungskrediten mit Restschuldversicherungsschutz34 auch solche ohne diesen Schutz, und zwar zu sonst gleichen Bedingungen. Wie der BFH hervorhob, kommt der Versicherungsschutz sowohl der Bank als auch dem Kreditnehmer zugute. Wenn nämlich der Kreditnehmer während der Kreditlaufzeit dauerhaft arbeitsunfähig wird oder stirbt, werden die an die Bank abgetretenen Lohn- oder Gehaltsforderungen des Kreditnehmers wertlos. Die Bank müsste dann den noch offenen Restkredit beim arbeitsunfähigen und daher meist einkommenslosen Kreditnehmer oder bei seinen Erben zwangsweise beitreiben. Von diesem Risiko wird sie durch die Verschaffung des Restschuldversicherungsschutzes befreit. Andererseits dient der Versicherungsschutz auch dazu, den Kreditnehmer oder seine Erben von der wirtschaftlich mitunter schwierigen Erfüllung langfristiger Verbindlichkeiten zu entlasten. Für den Abschluss einer Restschuldversicherung sprechen mithin vernünftige wirtschaftliche Erwägungen. Diese machen den Abschluss der genannten Versicherung aber nicht unerlässlich. Eine Leistung, die der Kreditgeber zusätzlich zur Kreditgewährung erbringt, aber nur auf Wunsch des Kreditnehmers, ist keine unselbständige Nebenleistung zur Kreditgewährung. Durch die Veröffentlichung des eben genannten BFH-Urteils im Bundessteuerblatt tat die Finanzverwaltung ihre Absicht kund, die Verschaffung von Restschuldversicherungsschutz nunmehr in allen noch offenen Fällen als umsatzsteuerpflichtig zu behandeln. Daraufhin beantragten Banken, die diese Leistung bisher unter Berufung auf die Entscheidung des FG Düsseldorf umsatzsteuerfrei gelassen hatten, eine Übergangsregelung, um sich auf die neue Rechtslage einstellen zu können. Nach Abstimmung mit den obersten Finanzbehörden der Länder wies das BMF aber darauf hin, dass die Verschaffung von Restschuldversicherungsschutz schon vor Ergehen des BFH-Urteils in zahlreichen Fällen als steuerpflichtig behandelt worden war. Eine allgemeine Übergangsregelung könne deshalb nicht in Betracht gezogen werden.35 Anderthalb Jahre später wurde das Gesetz geändert; seit dem 1.1.1980 sind alle Formen der – entgeltlichen – Verschaffung von Versicherungsschutz steuerfrei (§ 4 Nr. 10 Buchst. b UStG).

32 FG Düsseldorf, Urt. v. 21.12.1971 – IX 262/69 U, EFG 1972, 206. 33 BFH, Urt. v. 23.6.1977 – V R 96,72, BStBl. II 1977, 744 = UR 1977, 179 m. Anm. Weiß = StRK UStG § 4 Ziff. 8 R. 26 m. ablehnender Anm. Philipowski. 34 Als Kostenerstattung erhielt sie von den Versicherungsgesellschaften 5 % der Prämiener­ löse. 35 BMF, Schr. v. 6.6.1978 – IV A 3-S 7160-6/78, UStR 1978, 215.

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ff) Nichtabnahmeentschädigung Bei der Vereinbarung langfristiger Darlehen zum Kauf oder zur Bebauung eines Grundstücks wird üblicherweise ein Vertrag geschlossen, 36 der den Zeitpunkt der Darlehnsauszahlung festlegt und den Kreditinteressenten zur Abnahme des Darlehens verpflichtet. Bis dahin prüft die Bank die Kreditunterlagen, schätzt den Wert der vom Kreditinteressenten zu stellenden Kreditsicherheiten, nimmt Grundpfandrechte herein und stellt die Kreditmittel zum Abruf bereit. Mancher Interessent hat aber inzwischen von einer anderen Bank ein günstigeres Darlehensangebot erhalten, oder er beurteilt kritischer als vorher seine Fähigkeit, das Darlehen zu verzinsen und zu tilgen. Er weigert sich, die Darlehensvaluta abzunehmen. Die Bank könnte ihn zwar auf Abnahme und Verzinsung des Darlehens verklagen. Sie will sich aber die Führung lästiger Prozesse ersparen. Aus diesem Grund nimmt sie die Weigerung des Kunden hin. Sie widerruft ihre Kreditzusage und lässt sich die im Vertrag vereinbarte Nichtabnahmeentschädigung zahlen. Jahrelang haben manche Finanzämter in dem geschilderten Vorgang einen konkludent abgeschlossenen Vertrag gesehen, durch den die Bank den Antragsteller aus dem langfristigen Vertragsverhältnis entlasse. Hierin liege eine selbständige steuerpflich­ tige Leistung. Gegenleistung sei die Nichtabnahmeentschädigung.37 Es wurde aber auch eine ganz andere Auffassung vertreten. Wer entgegen seiner vertraglichen Verpflichtung die Darlehnsvaluta nicht abnehme, begehe eine Vertragsverletzung. Dadurch entstehe der Bank ein Schaden. Denn sie könne die aufgewendeten Kosten der Kreditprüfung nicht mehr durch die vereinbarten Kreditzinsen hereinholen. Das spreche dafür, dass die Nichtabnahmeentschädigung ein pauschalierter Schadensersatz sei. Nach vielen Jahren der Rechtsunsicherheit stellte der BFH 1980 klar38: Soweit es sich nicht um Schadensersatz handelt, gehört die Nichtabnahmeentschädigung zum Entgelt für Kreditgewährung. Denn zur Kreditgewährung i.S. des § 4 Nr. 8 UStG gehören auch die vorbereitenden Leistungen, die die Bank erbringt, um die Darlehensvaluta auszahlen zu können. Die Steuerfreiheit dieser Leistungen geht nicht dadurch verloren, dass es nicht zur geplanten Auszahlung der Valuta kommt. gg) Vorfälligkeitsentschädigung Mancher Kunde hat die Darlehensvaluta abgenommen, bekommt aber nach einiger Zeit genügend Geldmittel, z.B. durch eine Erbschaft. Er kündigt an, den noch nicht getilgten Teil der Darlehnsschuld vorzeitig zurück zu zahlen, um sich künftige Zinszahlungen zu ersparen. Die Bank nimmt die vorzeitige Rückzahlung entgegen und 36 Dieser Vertrag steht ggfls. unter der aufschiebenden Bedingung, dass die Bank nach Prüfung zu dem Ergebnis kommt, dass die vom Interessenten angebotenen Kreditsicherheiten ausreichen. 37 Vgl. Matheja, UStR 1973, 116 ff, 118. 38 BFH, Urt. v. 20.3.1980 – V R 32/76, BStBl. II 1980, 538 = UR 1983, 210; Abschn. 4.8.2 Abs. 6 UStAE.

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lässt sich die im Vertrag vereinbarte Vorfälligkeitsentschädigung zahlen. – Die Rechtsentwicklung verlief hier ebenso wie bei der vorstehend beschriebenen Nichtabnahmeentschädigung. b) Befreiung der Umsätze im Überweisungsverkehr Die Ausführung eines Überweisungsauftrags war und ist ein mehrgliedriger Arbeitsprozess, an dem verschiedene Geldinstitute beteiligt sind. Noch in den 1950er Jahren wurde ein Überweisungsauftrag auf einem dreiteiligen Durchschreibeformular erteilt. Den letzten Durchschlag behielt der Auftraggeber für seine Unterlagen. Das Original und das mittlere Blatt (den Gutschriftsträger) reichte er bei seinem Geldinstitut ein. Das Institut verglich, falls nötig, die auf dem Formular angebrachte Unterschrift mit der in den Kontoeröffnungs-Unterlagen hinterlegten Referenzunterschrift und prüfte, ob das Kontoguthaben mit einer etwaigen Überziehungslinie ausreichte, um den Auftrag auszuführen. Hier interessieren die weiteren Arbeitsgänge. Sie wurden ursprünglich manuell ausgeführt (nachstehend aa), aber in der Folgezeit technisch unterstützt oder automatisiert (nachstehend bb). Das führte zu einer Änderung der umsatzsteuerlichen Beurteilung. aa) Ursprünglich manuelle Ausführung der Arbeiten Die Bank des Auftraggebers prüfte, ȤȤ ob die Angaben auf dem Formular vollständig waren, ob beispielsweise neben der Kontonummer des Zahlungsempfängers auch der Name der Empfängerbank und ihre Bankleitzahl – BLZ – genannt waren. Bei Volksbanken, Raiffeisenbanken und Sparkassen enthält der Firmenname des Geldinstituts meist einen Ortszusatz. Fehlte die BLZ, so ermittelte der Mitarbeiter anhand des Ortszusatzes und eines nach Orten geordneten BLZ-Verzeichnisses, welche BLZ das genannte Geldinstitut hatte, und ergänzte die Angaben auf dem Formular, ȤȤ ob die Angaben plausibel waren, z.B. ob die auf dem Vordruck genannte BLZ überhaupt existierte und ob sie zum Ortsnamen der Empfängerbank „passte“. Dies wurde allerdings nur dann geprüft, wenn ein konkreter Anlass hierfür bestand. Fiel die Prüfung negativ aus, so versuchte der Mitarbeiter, die „richtige“ BLZ he­ rauszufinden, um sie dann anstelle der fehlerhaften in das Formular einzufügen, ȤȤ ob die Angaben auf dem Formular einwandfrei lesbar waren. Das war und ist keineswegs selbstverständlich. Denn viele Bankkunden füllen die Überweisungsformulare handschriftlich aus. Dabei werden die Zahlen häufig nicht deutlich genug geschrieben. So ist oft nicht auf Anhieb zu erkennen, ob es sich bei einer Ziffer um eine 3 oder aber um eine 9 handelt. Obwohl die Formulare eine Kästcheneinteilung haben, die zur Verwendung von Druckbuchstaben einlädt, schreiben viele Kunden undeutlich in Schreibschrift und über die Kästcheneinteilung hinweg. War eine Korrektur nicht möglich, so informierte die Bank den Auftraggeber und gab ihm den Beleg zurück. War aber der Überweisungsauftrag „in Ordnung“ oder konn593

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ten unvollständige Angaben ergänzt, fehlerhafte Angaben korrigiert und kaum lesbare Angaben lesbar gemacht werden, so tat sie den zweiten Schritt. Sie belastete das Konto des Auftraggebers mit dem Überweisungsbetrag und verbuchte in gleicher Höhe eine Gutschrift auf dem von ihr geführten Verrechnungskonto des Empfängerinstituts. Außerdem sandte sie diesem Institut das mittlere Blatt des dreiteiligen Vordrucks (ggfls. in korrigierter und ergänzter Form). Das Institut des Begünstigten leitete seinerseits den Gutschriftsträger an den Zahlungsempfänger weiter und schrieb den Betrag seinem Konto gut. Verrechnungskonten bestanden meist nur zwischen benachbarten Instituten. Hatte der Auftraggeber sein Konto z.B. bei einer Volksbank in Aachen und der Begünstigte sein Konto bei einer Sparkasse in Bonn, so wurde der Gutschriftsträger von der Volksbank zur genossenschaftlichen Zentralkasse Köln gesandt, von dort zur Sparkassen-Girozentrale Köln und von dieser zur Sparkasse. Parallel hierzu verlief der Verrechnungsweg. Die vorstehend beschriebenen Leistungen wurden einhellig als Bestandteil eines in allen Teilen steuerfreien Überweisungsvorgangs angesehen. Dann änderten sich die Verhältnisse. Während ursprünglich fast alle Arbeitgeber Löhne und Gehälter in bar ausgezahlt hatten, zahlten sie in den 1950er Jahren zunehmend bargeldlos. Um dies tun zu können, veranlassten sie ihre Arbeitnehmer, bei einer Bank oder Sparkasse ein Gehaltskonto einzurichten, und übernahmen sogar die Kontoführungsgebühren. Die Arbeitnehmer ihrerseits gewöhnten sich ebenfalls daran, Geld zu überweisen: zur Bezahlung der Wohnungsmiete, der Abschlagsbeträge für Strom und Gas, der Abonnementsgebühren für Zeitung und Zeitschriften usw. 39 Das führte dazu, dass die Zahl der Überweisungsvorgänge stark anstieg. Parallel hierzu machte die Technik Fortschritte. bb) Zunehmend technische Ausführung der Arbeiten (1) Prüfungshandlungen Im Lauf der Jahrzehnte wurden elektronische Belegleser (Schriftenleser) entwickelt. Mit Hilfe dieser Instrumente lassen sich die vorstehend beschriebenen Prüfungen schneller und kostengünstiger ausführen. Die Geräte sind aber teuer. Ihr Einsatz lohnt sich erst bei einem sehr hohen Belegaufkommen. Bei vielen kleinen Geldinstituten wird dieses Belegaufkommen trotz der gestiegenen Zahl der Überweisungsvorgänge nicht erreicht. Diese Institute können rationalisieren, indem sie die Prüfungshandlungen auf einen externen Dienstleister auslagern. Der wird dann für mehrere Institute tätig und kann die Kapazität der Geräte besser auslasten. In Musterprozessen wurde allerdings geltend gemacht, dass Leistungen der elektronischen Datenverarbeitung nicht unter die Befreiung der Umsätze im Überweisungsverkehr fallen. Dieser Einwand befremdet. Denn die einschlägige Richtlinienbestim39 Daueraufträge haben sich erst später eingebürgert.

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mung und auch die nationale Gesetzesvorschrift unterscheiden nicht danach, ob die Leistung manuell, mit technischer Unterstützung oder automatisch erbracht wird. Der EuGH entschied deshalb im Jahre 1997: Die bloße Tatsache, dass eine Leistung vollständig im Weg der elektronischen Datenverarbeitung ausgeführt wird, steht der Anwendung der Steuerbefreiung auf diese Leistung nicht entgegen.40

Diese Ausführungen des EuGH hat der BFH in einem Urteil aus 2016 unerwähnt gelassen. Stattdessen berief er sich auf eine andere Stelle jenes EuGH-Urteils. Dort heißt es, der befreite Umsatz im Zahlungs- und Überweisungsverkehr sei zu unterscheiden „von der Erbringung einer rein materiellen oder technischen Leistung, wenn etwa einer Bank ein EDV-System zur Verfügung gestellt wird“ 41. Unter Berufung auf diese Äußerung kam der BFH zu dem Ergebnis, dass eine technisch unterstützte Datenerfassung nicht befreit, sondern steuerpflichtig sei.42 Hier ist der BFH einem Missverständnis erlegen. Die eben wiedergegebene zweite Äußerung wird nämlich geprägt durch das dort genannte Beispiel: „wenn etwa einer Bank ein EDV-System zur Verfügung gestellt wird“ (durch Lieferung oder durch Vermietung oder in der Form des Leasing). Was kennzeichnet denn eine Leistung, durch die der Bank ein EDV-System zur Verfügung gestellt wird? Sie unterstützt die Bank bei der Ausführung von Überweisungsaufträgen (möglicherweise ist sie dafür sogar unerlässlich). Sie wird aber außerhalb eines konkreten Überweisungsvorgangs erbracht. Liest man den Text des EuGH-Urteils SDC zusammen mit der eben gegebenen Verdeutlichung, so ist der befreite Umsatz zu unterscheiden von einer Leistung, die außerhalb eines konkreten Überweisungsvorgangs erbracht wird. Nur bei dieser Interpretation stehen die beiden wörtlich zitierten Äußerungen des EuGH nicht im Widerspruch zu einander. Das aber bedeutet: Leistungen, die innerhalb eines konkreten Überweisungsvorgangs erbracht werden, sind steuerfrei, unabhängig davon, ob sie manuell oder mit technischer Unterstützung ausgeführt werden; Leistungen außerhalb eines konkreten Überweisungsvorgangs sind dagegen nicht befreit.43 Die Finanzverwaltung schloss sich aber – mit einer leichten Abweichung – der Meinung des BFH an: Die Steuerbefreiung des §  4 Nr.  8 Buchst. d UStG gelte für die Leistungen der Banken und der ihnen zuarbeitenden Dienstleister nicht , wenn sie die ihnen übertragenen Vorgänge sämtlich nur technisch abwickeln.44 40 EuGH, Urt. v. 5.6.1997 – C-2/95 – SDC, EuGHE 1997, I-3017 = UR 1998, 64, Rz. 37 Sätze 1 bis 3 = IStR 1997, 398 m. Anm. Dickopf. 41 EuGH (Fn. 40), Rz. 66 Satz 3. 42 BFH, Urt. v. 16.11.2016 – XI R 35/14, BStBl. II 2017, 327 = UR 2017, 194, Rz. 26, Rz. 30, Rz. 36 letzter Satz; ähnlich schon Urt. v. 13.7.2006 – V R 57/04, BStBl. II 2007, 19 = UR 2006, 699. 43 Wegen weiterer Einzelheiten s. Philipowski, UR 2017, 945. 44 Abschn. 4.8.7 Abs. 2 Satz 5 UStAE.

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(2) Vornahme von Buchungen Umsätze im Überweisungsverkehr sind Leistungen, die im Rahmen des konkreten Überweisungsvorgangs dazu führen, dass Geldbeträge von einem Bankkonto auf ein anderes Bankkonto übertragen werden. Das geschieht dadurch, dass der Geldbetrag auf dem Bankkonto des Zahlenden abgebucht und auf dem Bankkonto des Zahlungsempfängers gutgeschrieben wird und dass entsprechende Buchungen auf den Verrechnungskonten der zwischengeschalteten Geldinstitute vorgenommen werden. Ursprünglich waren es die Institute, die diese Buchungen (manuell) vornahmen. Dann wurden externe Rechenzentren errichtet. Sie führen im Auftrag der Institute die Kundenkonten und die Verrechnungskonten der Institute und nehmen auf diesen Konten elektronisch die erforderlichen Buchungen vor. Zugleich erbringen sie den angeschlossenen Instituten eine Reihe von Nebenleistungen. Rechenzentren erbringen aber auch andere Leistungen. In einem vom BFH ent­ schiedenen Streitfall bot das Rechenzentrum den angeschlossenen Banken ein Leistungsspektrum von 2.623 Einzelpositionen an. Hiervon gehörten die meisten zu steuerpflichtigen Leistungen in den Bereichen Personalwesen, Statistik, Mahnwesen, Unternehmenssteuerung (Controlling) und allgemeine betriebswirtschaftliche Fragen. 145 Positionen bezogen sich aber nach Angaben des Rechenzentrums auf Einzelhandlungen im Bereich des Zahlungsverkehrs, des Einlagengeschäfts und des Kontokorrentverkehrs. Die Übertragung eines Geldbetrags von einem Konto auf ein anderes geschah in mehreren Arbeitsschritten. Für jeden Schritt gab es im Leistungsverzeichnis eine gesonderte Vergütung. Der BFH war der Meinung, dass jeder im Leistungsverzeichnis genannte Arbeitsschritt mit der für ihn vorgesehenen Vergütung eine selbständige Einzelleistung des Rechenzentrums sei. Diese Einzelleistungen seien in § 4 Nr. 8 Buchst. d UStG nicht erwähnt. Nur dann, wenn man im konkreten Fall aus den 145 Einzeltätigkeiten in unterschiedlichen Kombinationen die jeweils passenden Elemente heraussuche, um aus ihnen ein jeweils eigenständiges Ganzes zusammen zu fassen, komme man zu den im Gesetz genannten steuerfreien Umsätzen. Ein solches Konstruieren widerspreche aber dem Grundsatz der richtigen und einfachen Anwendung einer Steuerbefreiung. Viele der 145 Einzelleistungen hätten zudem einen rein materiellen und technischen Charakter, der sich für die Inanspruchnahme der Steuerbefreiung schädlich auswirke. Unter Bezugnahme auf das EuGH-Urteil SDC kam der BFH zu dem Ergebnis, dass die erwähnten 145 Einzelleistungen des Rechenzentrums steuerpflichtig seien.45 Die Finanzverwaltung schloss sich dieser Auffassung an.46 Im Schrifttum wurde diese Beurteilung allerdings höchst kritisch kommentiert.47 Die dort gegen das BFH-Urteil vorgetragenen Argumente wurden bis heute nicht widerlegt.

45 BFH, Urt. v. 12.6.2008 – V R 32/06, BStBl. II 2008, 777 = UR 2008, 731 m. Anm. Philipowski. 46 Abschn. 4.8.7 Abs. 2 Sätze 2 bis 5 UStAE. 47 Philipowski in Rau/Dürrwächter, UStG, Loseblatt, Lfg. Feb. 2013, § 4 Nr. 8, Anm. 280 bis 298.

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III. Option 1. Ursprünglich: Global-Option Als am 1.1.1968 auf EU-Ebene das Mehrwertsteuersystem in Kraft trat (s. II.1.b), wurde durch den deutschen Gesetzgeber das Recht eingeführt, die in § 4 Nr. 8 UStG genannten steuerfreien Leistungen freiwillig zu versteuern (um dann Vorsteuern abziehen zu können). Erforderlich hierfür war eine entsprechende Erklärung gegenüber dem Finanzamt (§ 9 UStG). Sie galt jeweils für einen Veranlagungszeitraum.48 Aber kein einziges Kreditinstitut in Deutschland gab diese Erklärung ab. Die Erklärung hätte nämlich zu höchst unerwünschten Konsequenzen geführt: Das Institut hätte a l l e Leistungen versteuern müssen, die unter § 4 Nr. 8 UStG fallen und die es an andere Unternehmer für deren Unternehmen erbringt. Die Pflicht zur Versteuerung hätte auch gegenüber solchen Unternehmern bestanden, die ihrerseits steuerfreie Leistungen erbringen und deshalb gar keine Vorsteuern abziehen können, z.B. gegenüber Ärzten, Zahnärzten, Krankengymnasten, Hebammen, Vermietern von Wohnungen und Versicherungsvertretern. Auch längerfristige Darlehen, die schon früher ausgereicht worden waren, hätten ab dem 1.1.1980 versteuert werden müssen. Ohne eine Änderung der Darlehensverträge hätten aber die Kreditinstitute nicht verlangen können, dass die Darlehnsnehmer zusätzlich zu den vereinbarten Zinsen noch weitere Geldbeträge zahlen. Der wichtigste Grund war allerdings die Auffassung der Finanzverwaltung zum Umsatzbegriff. Damals war der Wechselkredit weit verbreitet und hatte wirtschaftlich eine enorme Bedeutung. Hersteller und Großhändler lieferten ihre Waren häufig mit einem 3-Monats-Zahlungsziel. Sie ließen den jeweiligen Abnehmer einen 3-Monats-­ Wechsel akzeptieren, unterzeichneten den Wechsel als Aussteller, indossierten ihn (Art. 11 Abs. 1 WechselG) und reichten ihn bei ihrem Kreditinstitut zum Diskont ein. Dadurch wurde die Wechselforderung übertragen (Art. 14 Abs. 1 WechselG). Nahezu alle Institute indossierten ihrerseits den Wechsel und reichten ihn an eine Rediskontstelle weiter: Sparkassen an ihre Girozentrale, Volksbanken und Raiffeisenbanken an ihre Zentralkasse, Privatbanken an die Bundesbank. In der jeweiligen Übertragung der Wechselforderung liegt nach Meinung der Kreditwirtschaft nur eine unselbständige Vorbereitungshandlung (Beistellhandlung) des Wechseleinreichers dafür, dass ihm die (Re-) Diskontstelle durch die Auszahlung der Wechselsumme minus Diskont und minus Spesen einen Kredit gewährt. Die Finanzverwaltung sah das anders. In der Weitergabe eines Wechsels zum Rediskont liege der steuerbare und steuerfreie Umsatz einer Geldforderung. Wenn eine Bank ihre steuerfreien Umsätze versteuere, müsse sie auch die Übertragung der Wechselforderung versteuern. Wegen des ab 1.7.1968 geltenden USt-Satzes von 11 % müsse sie also 9,91 % des (Brutto-) Rediskonterlöses als Umsatzsteuer ans Finanzamt abführen. Es bleibe ihr dann überlassen, diesen Steuerbetrag der Rediskontstelle in Rechnung zu stellen. 48 BdF, Erlass v. 14.2.1968, BStBl. I 1968, 401, Abschn. B 33 Abs. 3.

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Die Rediskontstellen lehnten aber eine solche Ausgestaltung des Rediskontvorgangs ab. Da sie ihrerseits ihre Bankleistungen umsatzsteuerfrei erbrachten, hätten sie die ihnen berechneten Steuerbeträge nicht als Vorsteuern abziehen können. Die Primärinstitute ihrerseits konnten aber nicht auf die Möglichkeit verzichten, sich durch die Weitergabe von Wechseln zu refinanzieren. So kam es, dass kein einziges Kreditinstitut von der Möglichkeit der Option Gebrauch machte. 2. In der Folgezeit: Einzel-Option Die Finanzverwaltung sah sich zu einem radikalen Vorgehen gezwungen: Entgegen dem klaren Wortlaut des Gesetzes erklärte sie sich damit einverstanden, dass Finanzdienstleister (und andere Unternehmer) bei einer Option lediglich solche Leistungen versteuern, bei denen sie eine Rechnung mit offen ausgewiesener Umsatzsteuer erteilen.49 Diese Verwaltungsvorschrift wurde zum 1.1.1980 in das Gesetz übernommen. Die damaligen drei Großbanken erklärten 1969 rundheraus, dass sie die Möglichkeiten, die der neue Erlass biete, nicht in Anspruch nehmen wollten. Begründung: Die Verhandlungen um die Kreditkonditionen seien hart. Mancher Großkreditnehmer kämpfe um Zinsanteile in Höhe von 1/32 % und außerdem um den Wegfall der damals üblichen Postengebühren. Diese Verhandlungen sollten nicht noch durch eine Diskussion über die Umsatzsteuer auf Zinsen belastet werden. Bei den Genossenschaftsbanken sah es anders aus. Wenn sie Steuern sparten, kam das mittelbar auch ihren Mitgliedern zugute. Bestimmte Unternehmerkunden, die ihre Vorsteuern voll abziehen konnten, erklärten sich damit einverstanden, auf die Kreditzinsen Umsatzsteuer zu zahlen. Sie wollten aber keine Liquiditätseinbußen erleiden. Durch Verhandlungen erreichten sie, dass sie bei den am Ende eines Vierteljahres fälligen Zinsen die darauf entfallende Umsatzsteuer erst zum 10. (oder 15.) des Folgemonats zu zahlen brauchten, also zu einem Zeitpunkt, in dem sie die an die Bank zu zahlende Umsatzsteuer als Vorsteuer abziehen konnten. Im Bankbetrieb wurden damals noch relativ wenige Maschinen und Automaten eingesetzt. Im Verhältnis zur Bilanzsumme waren deshalb die Vorsteuern verhältnismäßig gering. Auch die durch Option erzielbaren Vorteile waren überschaubar. Das zeigten Proberechnungen, die damals bei Genossenschaftsbanken angestellt wurden. Bei einer Bank mit einer Bilanzsumme von 240 Mio DM beliefen sich die Vorsteuern 1968 auf 180.000 DM. Wegen ihrer steuerpflichtigen Leistungen außerhalb des Kreditgeschäfts konnte die Bank von diesen Vorsteuern 2,33 % abziehen. Wenn sie aber die 40 größten Kredite versteuerte, erhöhte sich der Vorsteuerabzug um 30.000 DM auf 19 %. Zugleich erhöhte sich allerdings auch ihr Arbeitsaufwand. So mussten die Vorsteuerbeträge heraus gerechnet werden aus den mit Skonto regulierten Eingangsrechnungen, aus den Kleinrechnungen bis 50 DM und aus den Reisekostenabrechnungen der Mitarbeiter. Außerdem waren Verhandlungen mit den Unternehmerkunden zu führen. Im Lauf der Jahre haben allerdings immer mehr Banken und auch einige Sparkassen optiert. Hierfür gab es zwei Gründe. Der USt-Satz stieg von ursprünglich 10 % in meh49 BdF, Erlass v. 28.6.1969, BStBl. I 1969, 363.

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reren Stufen auf 19 %. Außerdem erhöhte sich der Rationalisierungsgrad im Bankgewerbe. Personalaufwendungen wurden immer mehr durch Sachaufwendungen ersetzt. Dadurch stieg die Vorsteuerlast und auch der Anreiz, diese Belastung (zum Teil) in einen beim Finanzamt abzugsfähigen Posten umzuwandeln.

IV. Vorsteuerabzug Verwendet ein Finanzdienstleister eine ihm erbrachte Leistung in vollem Umfang zur Ausführung von steuerpflichtigen Umsätzen, so ist die Vorsteuer abziehbar. Verwendet er die Leistung vollständig zur Ausführung steuerfreier Umsätze, so ist die Vorsteuer nicht abziehbar. Verwendet er die Leistung zum Teil zur Ausführung von steuerfreien Umsätzen, so ist der Teil des Vorsteuerbetrages nicht abziehbar, der jenen Umsätzen wirtschaftlich zuzurechnen ist. Die nicht abziehbaren Teilbeträge können im Weg einer sachgerechten Schätzung ermittelt werden (§ 15 Abs. 4 UStG). 1. Ursprünglicher Bankenschlüssel Auf Veranlassung des BdF ließ die Bundesbetriebsprüfungsstelle im Dezember 1967 bei mehreren Banken verschiedener Größe und Struktur Testuntersuchungen vornehmen. Die Betriebsprüfer versuchten, durch Augenschein und anhand vergleichender Arbeitsplatzbewertungen herauszufinden: In welchem Umfang verwendet ein Kreditinstitut die eingekauften Büromaschinen und Geräte sowie die bezogenen Hilfs- und Betriebsstoffe für steuerpflichtige und für steuerfreie Bankleistungen und in welchem Verhältnis können deshalb die nicht direkt zurechenbaren Vorsteuern den steuerpflichtigen und den steuerfreien Ausgangsleistungen zugeordnet werden? Unter Berücksichtigung des vom BdF vertretenen Umsatzbegriffs zur Wechseldiskontierung kamen die Prüfer zu folgenden Zwischenergebnissen: a) Bei manchen Tätigkeiten der Bank ist das Entgelt relativ hoch; es richtet sich nach dem Verkaufspreis (z.B. bei der Lieferung von Gold oder von Sicherungsgut sowie – nach Auffassung des BdF– bei entgeltlichen Forderungsabtretungen); b) bei manchen Tätigkeiten ist das Entgelt relativ gering (bei der Kreditgewährung ist es nicht der vom Kreditnehmer zurückgezahlte Betrag, sondern nur der Zins plus Nebenkosten; bei Bürgschaftsleistungen besteht das Entgelt nur in der Bürgschaftsprovision und nicht etwa darin, dass der Bürge, wenn er den Gläubiger befriedigt, die Forderung des Gläubigers gegen den Schuldner erwirbt (§ 774 Abs. 1 Satz 1 BGB); c) bei manchen Tätigkeiten vereinnahmt die Bank überhaupt kein Entgelt (diskontiert sie einen Wechsel, so erbringt nur der Wechseleinreicher einen steuerbaren Umsatz – Übertragung einer Geldforderung – nicht aber die Bank); d) es ist aber nicht so, dass die Bank im Fall a) relativ hohe, im Fall b) relativ geringe und im Fall c) überhaupt keine Teilbeträge der zu Gemeinkosten werdenden Vorbezüge verwendet. Daher würde jeder Aufteilungsschlüssel, der die bei a), b) und c) genannten Tätigkeiten mit den dort genannten Entgelten ansetzt, zu einem betriebswirtschaftlich unrichtigen Ergebnis führen. 599

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Auf Grund dieser Untersuchungsergebnisse bestimmte die Finanzverwaltung, dass das jeweilige Finanzamt dem Kreditinstitut gestatten konnte, die nicht ausschließlich zurechenbaren Vorsteuern nach dem Verhältnis aufzuteilen, das sich aus der Gegenüberstellung der nachstehenden Summe A und der Summe B ergibt.50 Abziehbar war der Anteil der Vorsteuerbeträge, der auf die Summe A entfiel. Es gehörten: Zur Summe A 1. Die Erträge (Rohgewinne) aus den zum Vorsteuerabzug berechtigenden Lieferungen, Forderungsabtretungen und Schuldübernahmen. 2. Die Entgelte für die übrigen zum Vorsteuerabzug berechtigenden sonstigen Leistungen. Zur Summe B 1. Die Erträge (Rohgewinne) aus (…) steuerfreien Forderungsabtretungen und Schuldübernahmen sowie aus allen Geldgeschäften, die Umsätze an das Kreditinstitut darstellen (insbesondere Diskont aus dem Ankauf von Wechseln und Erträge aus dem Ankauf von Forderungen). 2. Die Entgelte für die nicht unter die vorstehende Nr. 1 fallenden (…) steuerfreien sonstigen Leistungen. Diese Schätzformel bedarf der Erläuterung. In den Teilsummen 1 der Summen A und B wird der Begriff „Rohgewinn“ verwendet. Das ist die positive Differenz zwischen dem Verkaufserlös und den Anschaffungs- oder Herstellungskosten eines Wirtschaftsguts. Eine solche positive Differenz kommt aber bei Forderungsabtretungen und Schuldübernahmen in der Bankpraxis kaum vor. Mit der Verwendung des Begriffs „Rohgewinn“ bei diesen Leistungen sollte erreicht werden, dass nicht deutlich höhere Beträge (nämlich die Gegenleistungen) anzusetzen waren. In die Teilsumme 1 der Summe B waren auch Erträge aufzunehmen „aus allen Geldgeschäften, die Umsätze an das Kreditinstitut darstellen“. Gemeint war der vorstehend bei III.1. geschilderte Geschäftsablauf: Ein Lieferant überträgt den von seinem Abnehmer erhaltenen 3-Monats-Wechsel durch Indossament auf die Bank. Nach § 15 Abs. 4 UStG sind die nicht direkt zurechenbaren Vorsteuern der Bank in Höhe des Teils nicht abziehbar, der ihren steuerfreien Umsätzen wirtschaftlich zuzuordnen ist. Umsätze eines Dritten hätten also in die Schätzformel (eigentlich) gar nicht aufgenommen werden dürfen. Die Finanzverwaltung erkannte aber, dass Vorsteuern auf Gemeinkosten nicht nur in einen von der Bank gewährten Geschäftskredit einfließen, sondern in gleicher Weise in einen von ihr gewährten Wechselkredit. Die Schätzformel wurde 1985 in die Umsatzsteuer-Richtlinien (Abschn. 208 Abs. 4 UStR) übernommen. Zum 31.12.1991 wurde sie aber aufgehoben. Ab 1992 sollten die Kreditinstitute ihre nicht direkt zurechenbaren Vorsteuern unmittelbar nach §  15 Abs. 4 UStG in einen abziehbaren und einen nicht abziehbaren Teil aufgliedern. Aber 50 BdF, Erlass v. 28.6.1969, BStBl. I 1969, 349 ff, Abschn. F IV.

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der Gesetzeswortlaut lieferte hierfür nur sehr allgemein formulierte Vorgaben, nämlich den unbestimmten Rechtsbegriff „wirtschaftlich zurechnen“ und den ebenfalls unbestimmten Rechtsbegriff „sachgerechte Schätzung“. Mangels konkreter Vorgaben verwendeten die Kreditinstitute den bisherigen Bankenschlüssel auch weiterhin, und dies wurde von den Finanzämtern zunächst toleriert. 2. Neuer Bankenschlüssel Die Finanzverwaltung arbeitete inzwischen an einem neuen detaillierten Aufteilungsschlüssel. So entwickelte sie das sog. Margenmodell.51 Dabei werden die von der Bank ausgeführten Leistungen nicht mit ihren vollen Entgelten angesetzt, sondern nur mit den erzielten Margen, Kreditgewährungen also mit den im Inland und im Ausland unterschiedlich hohen Zinsmargen. Das Modell enthält aber nur allgemein gehaltene Grundsätze. Einzelheiten sollen ausschließlich im Rahmen von Betriebsprüfungen geklärt werden. Einen festen Aufteilungsschlüssel, nach dem sich die Geldinstitute richten können, enthält das Modell nicht. In der Praxis führte es zu Meinungsverschiedenheiten.52 Der BdF53 nannte aber auch noch einen weiteren möglichen Maßstab zur Aufteilung der nicht direkt zurechenbaren Vorsteuern. Bei wesentlichen banktypischen Geschäften sei das die Umrechnung des Mitarbeitereinsatzes auf Ertragseinheiten („Philipowski-­ Methode“). Diese Methode war 1993 vom Verfasser dieses Beitrags entwickelt worden, um den Kreditinstituten einen Ersatz für den bisherigen, aber dann aufgehobenen Bankenschlüssel zur Verfügung zu stellen. Zu den „wesentlichen banktypischen Geschäften“ gehörten vor dem Beginn der Niedrigzinspolitik der Europäischen Zentralbank (EZB) vor allem die Kreditgewährungen und die sog. Eigenanlagen.54 Wenn eine Bank aus den Spar-, Termin- und Sichteinlagen ihrer Kunden Kredite gewährt und dafür Zinsen, Disagiobeträge, Provisionen, Gebühren und Aufwendungsersatz vereinnahmt, wird sie in vielfacher Weise tätig: Sie führt Kreditverhandlungen, nimmt eine Kreditwürdigkeitsprüfung vor, holt Auskünfte über den Kreditsuchenden ein (Schufa-Auskunft), legt eine Kreditakte an, bewertet Kreditsicherheiten, veranlasst die Bestellung und Eintragung von Hypotheken und Grundschulden, nimmt sonstige Kreditsicherheiten entgegen und verwahrt sie, stellt die Kreditvaluta bereit und zahlt sie aus (ggfls. in Teilbeträgen), überwacht den Kredit, prolongiert oder schuldet ihn um, versendet 51 BMF, Schr. v. 12.4.2005  – IV A 5-S 7306-5/05, UR 2005, 574. Hierzu: Weber/Hamacher, Umsatzsteuer im Bank- und Finanzgeschäft, 3. Aufl., Köln 2005, S. 192 ff; Hahne/Hamacher, UR 2006, 129; Hahne, Die Umsatzsteuer in Kreditinstituten, Heidelberg 2007, Seiten 446 bis 484. 52 FG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 24.9.2009 – 2 K 1061/06, EFG 2010, 89 = UR 2010, 343 m. Anm. Hamacher. 53 BdF, Schreiben v. 31.7.1997 – IV C 3-S 7306-4/97 an die kreditwirtschaftlichen Spitzenverbände, n.v., Abschnitt D II 3 der Anlage. 54 In dem nachstehend erwähnten Streitfall erwirtschaftete die Bank 2009 aus diesen beiden Geschäftsarten insgesamt 94 % ihrer Erträge.

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ggfls. Mahnungen und Erinnerungen, nimmt Zins- und Rückzahlungsbeträge entgegen, verbucht diese Beträge und gibt schließlich Kreditsicherheiten zurück. – Überschüssige Liquidität verwendet sie für den Erwerb festverzinslicher Wertpapiere oder für die verzinsliche Anlage bei einem Zentralinstitut. Bei diesen Eigenanlagen ist ihr Arbeitsaufwand deutlich geringer: Auswahl der Anlage; Telefonat zu ihrer Begründung; Verbuchung der Zinserträge. Um jeweils 100.000 Euro Einnahmen zu erzielen, muss die Bank im ersten Fall weitaus mehr Mitarbeiter-Stunden aufwenden als im zweiten Fall. Jede Mitarbeiter-Stunde ist verbunden mit vorsteuerbelasteten Raumkosten (Abnutzung des Gebäudes, Heizung, Beleuchtung, Reinigung) sowie mit den vorsteuerbelasteten Kosten für Einrichtungsgegenstände, Büromaschinen und Büromaterial sowie mit sonstigen Verwaltungsgemeinkosten. Für das Erwirtschaften von 100.000 Euro Entgelten aus Kreditgewährungen „verbraucht“ die Bank weit mehr Vorsteuern als für 100.000 Euro Entgelte aus verzinslichen Eigenanlagen. Wird der Mitarbeitereinsatz als Aufteilungsmaßstab verwendet, so wirkt sich das wie folgt aus: In einem ersten Schritt ist der Gesamtbetrag der nicht direkt zurechenbaren Vorsteuern festzustellen, der in die Erwirtschaftung der Zinsen und zinsähnlichen Erträge eingeflossen ist. In einem zweiten Schritt ist festzustellen, wie viele Mitarbeiterstunden unmittelbar für die Erwirtschaftung dieser Erträge aufgewendet wurden, und zwar getrennt bei Eigenanlagen und bei Krediten. In dem nachstehend genannten Streitfall entfielen im Jahr 2009 von den Mitarbeiterstunden nur 2,66 % auf die Erträge aus Eigenanlagen, aber 97,34 % auf die Erträge aus Krediten. In diesem Verhältnis sind auch die eingangs genannten Vorsteuern aufzuteilen. In einem dritten Schritt sind die auf Kredite entfallenden Vorsteuern (in dem erwähnten Streitfall: die 97,34 %) den steuerfreien und den versteuerten Krediten zuzuordnen, und zwar nach dem Verhältnis der vereinnahmten Entgelte. Dabei ergab sich in dem erwähnten Streitfall, dass 72,41 % der gesamten Vorsteuern auf die steuerfreien Kredite entfiel. Von den Vorsteuern waren somit 2,66 % plus 72,41 % = 75,07 % nicht abziehbar. Abziehbar war der auf versteuerte Kredite entfallende Teil der gesamten Vorsteuern. Das waren 24,93 %.55 Im vorstehend geschilderten zweiten Schritt wird nur die Zahl der Mitarbeiterstunden festgestellt, die unmittelbar für die Erwirtschaftung der Erträge aufgewendet werden. Die Bank beschäftigt aber noch weitere Mitarbeiter. Diese sind entweder im Passivgeschäft tätig (Hereinnahme und Verwaltung der Kundeneinlagen). Oder sie arbeiten im Rechnungswesen, in der Innenrevision, im EDV-Bereich, in der Personalabteilung oder in sonstigen Verwaltungsbereichen. Die im Passivgeschäft tätigen Mitarbeiter sorgen dafür, dass die Bank die Gelder erhält, die sie dann im Aktivgeschäft einsetzt. Die anderen Mitarbeiter sorgen dafür, dass das Bankunternehmen in allen Bereichen „funktioniert“. Im Ergebnis lässt sich sagen, dass alle diese Mitarbeiter ihren im Aktiv­ geschäft tätigen Kollegen zuarbeiten und dass die von ihnen verbrauchten Vorbezüge 55 In dem bereits erwähnten Streitfall ist die klagende Bank zu genau diesen Prozentsätzen gekommen; sie hat die Rechenschritte allerdings in einer anderen Reihenfolge vorgenommen.

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ebenfalls in die erwirtschafteten Zinsen mit eingehen. Auch die auf diesen Vorbezügen lastenden Vorsteuern sind nach dem ermittelten Schlüssel aufzuteilen. Im Lauf der Jahre haben vor allem Volksbanken und Raiffeisenbanken die skizzierte Aufteilungsmethode angewandt. Das wurde von den Finanzämtern gebilligt. In einem Fall kam es aber zum Streit. Das FG München56 meinte, die Bank habe die nicht direkt zurechenbaren Vorsteuern durch die Kombination eines Personalschlüssels mit einem Umsatzschlüssel aufgeteilt. Das sei nicht zulässig. Es fehle an der von der BFH-Rechtsprechung geforderten einheitlichen Methode.57 Wenn im Aufteilungsschlüssel die Entgelte für steuerpflichtige und für steuerfreie Kreditgewährungen jeweils zu 100 % angesetzt werden, müsse dies auch für die Zinsen aus steuerfreien Eigenanlagen gelten. Dadurch sinke im Jahr 2009 die Quote der insgesamt abziehbaren Vorsteuern von 24,93 % auf 17,65 %, aufgerundet: auf 18 %. Das FG hat das Erfordernis der einheitlichen Methode missverstanden. Die Aufteilung der nicht direkt zurechenbaren Vorsteuern nach dem Verhältnis der aufgewendeten Mitarbeiterstunden ist eine Form der wirtschaftlichen Zurechnung im Sinn des § 15 Abs. 4 Satz 1 UStG. Innerhalb der Kreditgewährungen ist die Aufteilung nach Entgelten ebenfalls eine Form der wirtschaftlichen Zurechnung. Denn bei sämtlichen Kreditgewährungen, bei steuerfreien wie bei steuerpflichtigen, sind die vorstehend detailliert geschilderten Arbeitsgänge vorzunehmen. Bei beiden Gruppen von Kreditgewährungen wird pro Ertragseinheit im Prinzip die gleiche Menge an Vorbezügen verbraucht. Bei steuerpflichtigen Krediten ist der Verbrauch sogar noch etwas höher. Denn die Bank wendet zusätzliche Mitarbeiterstunden auf, um durch Verhandlungen die Zustimmung des Kunden zur Umsatzbesteuerung des Kredits zu erreichen. Außerdem muss sie Rechnungen erteilen, die neben den Netto-Zinsen auch die Umsatzsteuer ausweisen. Und auf Verlangen des Kunden muss sie bei vierteljährlicher Abrechnung jeweils zwei Buchungen auf seinem Konto vornehmen lassen: am letzten Tag des Quartals wegen der Netto-Zinsen und einige Tage später wegen der USt. Eine Aufteilungsmethode ist sachgerecht, wenn sie nicht zu einer willkürlichen (zu hohen) Bestimmung der abziehbaren Teilbeträge führt.58 Die Aufteilung der Vorsteuern nach aufgewendeten Mitarbeiter-Stunden erfüllt diese Voraussetzung. Es bleibt abzuwarten, wie der BFH im Revisionsverfahren entscheiden wird. Die Frage, wie Finanzdienstleistungen zu besteuern sind, bleibt spannend.

56 FG München, Urt. v. 29.3.2017 – 3 K 1858/13, EFG 2017, 1042 m. Anm. Kemper, Rev. eingelegt, Az. BFH: XI R 18/17. 57 BFH, Urt. v. 17.8.2001 – V R 1/01, BStBl. II 2002, 833 = UR 2001, 552, Abschn. II 1b der Gründe; Urt. v. 18.11.2004 – V R 16/03, BStBl. II 2005, 503 = UR 2005, 340 m. Anm. Eggers, Abschn. II 3a der Gründe; Urt. v. 7.7.2011 – V R 36/10, BStBl. II 2012, 77, = UR 2012, 64, Rz. 21; Urt. v. 5.9.2013 – XI R 4/10, BStBl. II 2014, 95, = UR 2013, 917 = MwStR 2013, 732 m. Anm. Herbert, Rz. 30. 58 BFH, Urt. v. 12.3.1998 – V R 50/97, BStBl. II 1998, 525 = UR 1998, 392 m. Anm. Klenk, Abschn. II 1 a) cc) der Gründe.

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Heilbehandlungen im Bereich der Humanmedizin Inhaltsübersicht I. Einführung II. Rechtslage bis 1999 III. Die Auswirkungen der Rechtsprechung des BVerfG und des Unionsrechts 1. Der BVerfG-Beschluss vom 8.4.1987 2. Die BVerfG-Beschlüsse vom 29.10.1999 und vom 10.11.1999 IV. Die wesentlichen Änderungen durch den Gesetzgeber 1. Das Steueränderungsgesetz 2003 2. Das Jahressteuergesetz 2009 3. Weitere gesetzliche Änderungen V. Unionsrecht (Art. 132 Abs. 1 Buchst. b und c MwStSyStRL) 1. Auslegungsgrundsätze

2. Art. 132 Abs. 1 Buchst. c MwStSystRL/ § 4 Nr. 14 Buchst. a UStG a) Heilbehandlungen im Bereich der ­Humanmedizin b) Berufliche Qualifikation/Ähnlichkeit der Tätigkeit c) Subunternehmer d) Keine Befreiung „eng verbundener“ Umsätze bei Art. 132 Abs. 1 Buchst. c MwStSystRL/§ 4 Nr. 14 Buchst. a UStG 3. Das Verhältnis zwischen Art. 132 Abs. 1 Buchst. b und Buchst. c MwStSystRL a) Gleichartigkeit der Leistungen b) Eng verbundene Umsätze i.S.d. § 4 Nr. 14 Buchst. b UStG VI. Fazit

I. Einführung Unser Thema – 100 Jahre Umsatzsteuer – gibt Anlass, über den Wandel der Umsatzsteuer in dieser Zeit zu reflektieren. Die Umsatzsteuer ist eine besonders dynamische Steuer, die ständigen Änderungen unterworfen ist. Zum Beleg hierfür mag der Hinweis auf die Flut von Gesetzesänderungen, Urteilen der Finanzgerichte, des BFH, des EuGH und auch des BVerfG sowie zahlloser Verwaltungsanweisungen, mit der sich die Rechtsanwender jährlich auseinandersetzen müssen, genügen. Die Ursachen hierfür sind vielfältig: Wirtschaftliche Lenkungsziele, die europäische Harmonisierung der Umsatzsteuer, ein gewisser Hang zum Perfektionismus, aber auch die Reaktion auf gesellschaftliche und wirtschaftliche Veränderungen spielen eine Rolle. Gerade Letztere haben in einem Bereich vor allem in den vergangenen dreißig Jahren zu vielfältigen Gesetzes- und Rechtsprechungsänderungen geführt. Die Rede ist von medizinischen Heilbehandlungen, deren Beurteilung wir uns im Folgenden zuwenden wollen.

II. Rechtslage bis 1999 Bis zum Jahr 1999 war die umsatzsteuerrechtliche Beurteilung von heilberuflichen Leistungen ein übersichtliches und für den Rechtsanwender kalkulierbares Rechtsgebiet. Die gesetzgeberische Grundentscheidung war klar. Der Gesetzgeber hatte in § 4 605

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Nr. 14 UStG die Umsätze aus den Leistungen der sog. Katalogberufe des Arztes, Zahnarztes, Heilpraktikers, Physiotherapeuten und der Hebamme von der Umsatzsteuer befreit. Daneben hatte er den Zugang zur Steuerbefreiung auch für Leistungen aus einer ­ähnlichen heilberuflichen Tätigkeit eröffnet. Was unter diese Auffangvorschrift fiel, war von der Rechtsprechung zwar stringent, aber auch streng beurteilt worden. Die Annahme eines ähnlichen Berufs erforderte, dass der Beruf in seinen wesentlichen Merkmalen einem der Katalogberufe entsprechen musste. Dazu reichte bei Heil- und Heilhilfsberufen die Ähnlichkeit der Tätigkeit nicht aus. Erforderlich war, dass das typische Bild eines Katalogberufs mit seinen wesentlichen Merkmalen dem Gesamtbild des zu beurteilenden Berufs vergleichbar war. Dazu gehörte neben der Vergleichbarkeit der jeweils ausgeübten Tätigkeit auch eine vergleichbare Regelung der Berufserlaubnis und der Berufsaufsicht1. Neue medizinische Berufe konnten deshalb erst dann in den Genuss der Umsatzsteuerbefreiung kommen, wenn der Gesetzgeber sie als Katalogberufe anerkannte oder ihnen durch entsprechende berufsrechtliche Regelungen die Ähnlichkeit mit einem der Katalogberufe verlieh2. Es reichte auch nicht aus, wenn die betreffende Tätigkeit einige Merkmale des einen und andere Merkmale des anderen Katalogberufs aufwies3. Ausgehend von dem Umstand, dass für die Katalogberufe gesetzliche Berufszugangsund Berufsausübungsregelungen4 bestanden, verlangte die Rechtsprechung für eine „ähnliche heilberufliche Tätigkeit“ das Bestehen einer vergleichbaren gesetzlichen Berufszugangs- und Berufsausübungsregelung5. Es gibt eine ganze Reihe derartiger berufsrechtlicher Regelungen. Hierzu gehören das Altenpflegegesetz6, das Podolo-

1 BFH, Urt. v. 21.7.1994 – V R 134/92, UR 1995, 309; BFH, Urt. v. 26.8.1993 – V R 45/89, BFHE 172, 223 = BStBl. II 1993, 887 = UR 1994, 159. 2 BFH, Urt. v. 21.6.1990  – V R 97/84, BFHE 161, 196 = BStBl.  II 1990,804 = UR 1991, 46 m. Anm. Weiss. 3 BFH, Urt. v. 6.6.1973 – V R 88/72, BFHE 110, 66 = BStBl. II 1975, 522; BFH, Urt. v. 30.1.1975 – V R 102/74, BFHE 115, 292 = BStBl. II 1975, 523; BFH, Urt. v. 14.3.1975 – V R 207/72, BFHE 115, 265 = BStBl. II 1975, 576; BFH, Urt. v. 7.7.1976 – I R 218/74, BFHE 119, 274 = BStBl. II 1976, 621. 4 Bundesärzteordnung i.d.F. v. 16.4.1987, BGBl. I 1987, 1218; Gesetz über die Ausübung der Zahnheilkunde i.d.F. v. 16.4.1987, BGBl. I 1987, 1225; Heilpraktikergesetz v. 17.2.1939, RGBl. I 1939, 251; zuletzt geändert durch Gesetz v. 2.3.1974, BGBl. I 1974, 469; Gesetz über die Ausübung der Berufe des Masseurs und medizinischen Bademeisters und des Krankengymnasten v. 21.12.1958, BGBl. I 1958, 985, zuletzt geändert durch Gesetz v. 25.6.1969, BGBl. I 1969, 645, aufgehoben durch § 19 des Gesetzes über die Berufe in der Physiotherapie (MPhG), BGBl. I 1994, 1084; Gesetz über den Beruf der Hebamme und des Entbindungshelfers (HebG) v. 4.6.1985, BGBl. I 1985, 902; Ausbildungs- und Prüfungsverordnung für Hebammen und Entbindungspfleger in der Bekanntmachung v. 16.3.1987, BGBl. I 1987, 929. 5 BVerfG, Beschl. v. 26.3.1998 – 1 BvR 2341/95, UR 1998, 280; BVerfG, Beschl. v. 29.8.1988 – 1 BvR 695/88, BStBl. II 1988, 975 = UR 1989, 92; BFH, Urt. v. 26.8.1993 – V R 45/89, BFHE 172, 223 = BStBl. II 1993, 887 = UR 1994, 159. 6 Gesetz über die Berufe in der Altenpflege v. 17.11.2000, BGBl. I 2000, 1513.

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gengesetz7, das Diätassistentengesetz8, das Ergotherapeutengesetz9, das Krankenpflegegesetz10, das Orthoptistengesetz11, das Psychotherapeutengesetz12 und das Rettungsassistentengesetz13. Soweit diese Gesetze zum damaligen Zeitpunkt bereits bestanden, führte dies zur Umsatzsteuerfreiheit der Leistungen des jeweiligen Berufsträgers. Diese Rechtsprechung gewährleistete zwar eine klare und sichere Rechtslage, die dem Bedürfnis des Unternehmers, bereits im Zeitpunkt der Ausführung eines Umsatzes Klarheit über dessen umsatzsteuerrechtliche Beurteilung zu haben, Rechnung trug. Sie war aber zumindest aus heutiger Sicht auch ein wenig holzschnittartig und nicht flexibel genug, um auf den dynamischen Prozess des Entstehens immer neuer Berufsbilder im Bereich der Heilberufe angemessen reagieren zu können. So drängten viele Sozialpädagogen, die über eine qualifizierte akademische Ausbildung verfügten, in den Beruf des Sprachheilpädagogen. Während der Gesetzgeber mit dem Logopädengesetz14 eine berufsrechtliche Regelung zur Verfügung stellte, die dazu führte, dass die Leistungen von Logopäden von der Umsatzsteuer befreit waren, war das bei Sprachheiltherapeuten nicht der Fall. Landesrechtliche Regelungen gab es kaum. Eine Ausnahme bildete das niedersächsische Gesetz über die Berufsbezeichnung der Medizinischen Sprachheilpädagoginnen und -pädagogen15. Gegen diese umsatzsteuerrechtliche Ungleichbehandlung formierte sich aus den Reihen der Sprachheiltherapeuten erheblicher Widerstand, der nicht nur in einer Vielzahl von Verfahren vor den Finanzgerichten zum Ausdruck kam, sondern letztlich zu der absurden Sonderregelung in § 27 Abs. 1a UStG führte. Der Gesetzgeber hatte hier, versteckt in den allgemeinen Übergangsvorschriften des § 27 UStG, eine systemwidrige, ansonsten im Umsatzsteuerrecht nicht vorgesehene, Option zur Steuerfreiheit für vor dem 1.1.2000 ausgeführte Umsätze aus der Tätigkeit als Sprachheilpädagoge eingeführt16.

7 Gesetz über den Beruf der Podologin und des Podologen v. 4.12.2001, BGBl. I 2001, 3320. 8 Gesetz über den Beruf der Diätassistentin und des Diätassistenten v. 8.3.1994, BGBl. I 1994, 446. 9 Gesetz über den Beruf der Ergotherapeutin und des Ergotherapeuten v. 25.5.1976, BGBl. l 1976, 1246. 10 Gesetz über die Berufe in der Krankenpflege v. 4.6.1985, BGBl. I 1985, 893, ersetzt durch Gesetz über die Berufe in der Krankenpflege v. 16.7.2003, BGBl. I 2003, 1442. 11 Gesetz über den Beruf der Orthopistin und des Orthopisten v. 28.11.1989, BGBl. I 1989, 2061. 12 Gesetz über die Berufe des Psychologischen Psychotherapeuten und des Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten v. 16.6.1998, BGBl. I 1998, 1311. 13 Gesetz über den Beruf der Rettungsassistentin und des Rettungsassistenten vom 10.7.1989, BGBl. I 1989, 1384 14 Gesetz über den Beruf des Logopäden v. 7.5.1980, BGBl. I 1980, 529. 15 Gesetz über die Berufsbezeichnung der Medizinischen Sprachheilpädagoginnen und -päda­ gogen v. 2.3.1998, NdsGVBl 1998, 126. 16 Zur berechtigten Kritik an dieser Vorschrift im Einzelnen vgl. Robisch in Bunjes, UStG, 16. Aufl., § 27 UStG Rz. 14 ff.

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III. Die Auswirkungen der Rechtsprechung des BVerfG und des Unionsrechts 1. Der BVerfG-Beschluss vom 8.4.1987 Obwohl die 6. EG-Richtlinie bereits 1977 in Kraft getreten war, hat ihrer Durchsetzung im nationalen Recht erst ein Beschluss des BVerfG vom 8.4.198717 zum Durchbruch verholfen. Noch bis Mitte der 1980-er Jahre waren der französische Conseil d‘État und der BFH davon ausgegangen, dass Richtlinienbestimmungen keine unmittelbare Wirkung zukomme18. Mit dem Beschluss vom 8.4.1987 hat das BVerfG das BFH-Urteil vom 25.4.198519 aufgehoben und entschieden, dass sich die Rechtsprechung des EuGH, wonach sich der Einzelne unter bestimmten Umständen unmittelbar auf EU-Richtlinien berufen könne, kompetenz-rechtlich und materiell-rechtlich sowie methodisch im Rahmen des durch das Zustimmungsgesetz zum EWG-Vertrag abgesteckten Integrationsprogramms und der verfassungsmäßig zulässig übertragenen Hoheitsrechte halte. 2. Die BVerfG-Beschlüsse vom 29.10.1999 und vom 10.11.1999 Neben dieser für die Umsatzsteuer insgesamt bedeutsamen Entscheidung sind für die  Beurteilung speziell der medizinischen Heilbehandlungen die Beschlüsse vom 29.10.199920 und vom 10.11.199921 bahnbrechend gewesen. Durch eine zum da­maligen Zeitpunkt überraschende Abkehr von seiner eigenen bisherigen Recht­sprechung22 entschied das BVerfG mit den Beschlüssen vom 29.10.1999 und vom 10.11.1999, dass die Unterscheidung nach Umsatzarten und Unternehmern mit daran anknüpfenden umsatzsteuerrechtlich unterschiedlichen Rechtsfolgen ihre Rechtfertigung in besonderen sachlichen Gründen finden müsse und dass das Fehlen einer berufsrechtlichen Regelung für sich genommen keinen ausreichenden Anhalt dafür biete, eine Ähnlichkeit mit einem in § 4 Nr. 14 UStG genannten Beruf zu verneinen. Da das BVerfG auf den Normzweck des § 4 Nr. 14 UStG abstellte, den es allein in der Entlastung der Sozialversicherungsträger von der Umsatzsteuer sah, hielt es für entscheidend, ob die Leistungen des heilberuflich Tätigen in der Regel von den Sozialversicherungsträgern finanziert würden. Damit hatte die berufsrechtliche Regelung ihre Bedeutung als alleiniges Identifikationsmerkmal einer ähnlichen heilberuflichen Tätigkeit verloren. 17 BVerfG, Beschl. v. 8.4.1987  – 2 BvR 687/85, BVerfGE 75, 223, 240  ff. = UR 1987, 355 m. Anm. Weiss mit zahlreichen Nachweisen aus der Rechtsprechung und Literatur und einer klaren Übersicht über die rechtsgeschichtliche Entwicklung der Problematik. 18 BFH, Beschl. v. 16.7.1981 – V B 51/80, BStBl. II 1981, 692 = UR 1981, 196 m. Anm. Weiss; BFH, Urt. v. 25.4.1985 – V R 123/84, BFHE 143, 383 = UR 1985, 174; Conseil d´Etat, Urt. v. 22.12.1978, no.11604, Cohn-Bendit, RtDE 1979, 168=EuR 1979, 292 m. Anm. Bieber. 19 BFH, Urt. v. 25.4.1985 – V R 123/84, BFHE 143, 383 = UR 1985, 174. 20 BVerfG, Beschl. v. 29.10.1999 – 2 BvR 1264/90, BVerfGE 101, 132 = BStBl. II 2000, 155 = UR 1999, 494 m. Anm. Widmann. 21 BVerfG, Beschl. v. 10.11.1999 – 2 BvR 1820/92, BStBl. II 2000, 158 = UR 2000, 72. 22 BVerfG, Beschl. v. 26.3.1998 – 1 BvR 2341/95, UR 1998, 280; v. 29.8.1988 – 1 BvR 695/88, BStBl. II 1988, 975.

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IV. Die wesentlichen Änderungen durch den Gesetzgeber 1. Das Steueränderungsgesetz 2003 Zu den gesetzgeberisch bedeutsamen Änderungen zählt das Steueränderungsgesetz 2003 vom 15.12.200323, das mit der Streichung der Bezugnahme auf § 18 Abs. 1 Nr. 1 EStG mit Wirkung ab 20.12.2003 auf die Rechtsprechung des BVerfG, des EuGH und des BFH reagierte, der zufolge es nicht auf die Rechtsform ankommt, unter der der heilberuflich Tätige seine Leistungen erbringt. Als steuerfrei beurteilt die Rechtsprechung z.B. auch die Leistungen von juristischen Personen, die heilberufliche Leistungen ausführen und deren Mitglieder oder Gesellschafter Angehörige eines Heilberufs sind. Der Verweis auf die in § 18 Abs. 1 EStG geregelte freiberufliche Tätigkeit war damit obsolet geworden. 2. Das Jahressteuergesetz 2009 Unter heilberufsrechtlichen Gesichtspunkten besonders hervorzuheben ist das Jahressteuergesetz 200924, durch das § 4 Nr. 14 UStG vollständig neu gestaltet worden ist. § 4 Nr. 14 UStG ist nach ständiger Rechtsprechung des BFH richtlinienkonform auszulegen25. Folgerichtig wollte der Gesetzgeber mit der Neufassung des § 4 Nr. 14 UStG durch das Jahressteuergesetz 2009 Art. 132 Abs. 1 Buchst b und c MwStSystRL umsetzen26. Dabei wird Art.  132 Abs.  1 Buchst. b MwStSystRL in etwa von §  4 Nr.  14 Buchst. b UStG und Art. 132 Abs. 1 Buchst. c MwStSystRL von § 4 Nr. 14 Buchst. a UStG umgesetzt. a) § 4 Nr. 14 Buchst. a UStG behandelt die Steuerbefreiung für die einzelnen Heilberufe. Der Katalog der Heilberufe ist dabei mit Ausnahme des klinischen Chemikers aus § 4 Nr. 14 UStG a.F. übernommen worden. b) In § 4 Nr. 14 Buchst. b UStG werden die bisher in § 4 Nr. 16 Buchst. a bis c UStG a.F. behandelten Leistungen zusammengefasst und weiterentwickelt. Die Neuregelung bedient sich dabei zwar der Fassung des Art. 132 Abs. 1 Buchst. b MwStSystRL, stellt aber ausdrücklich heraus, dass zu den Krankenhausbehandlungen und ärztlichen Heilbehandlungen auch die Diagnostik, die Befunderhebung, die Vorsorge, die Rehabilitation, die Geburtshilfe und die Hospizleistungen gehören. Da das Unionsrecht neben Leistungen von Einrichtungen des öffentlichen Rechts auch Leistungen anderer ordnungsgemäß anerkannter Einrichtungen gleicher Art, die in sozialer Hinsicht unter vergleichbaren Bedingungen erbracht werden, befreit, regelt § 4 Nr. 14 Buchst. b Satz 1 Doppelbuchst. aa bis hh und § 4 Nr. 14 Buchst. c UStG ausdrücklich, welche Einrichtungen in Deutschland in diesem Sinne anerkannt sind.

23 Steueränderungsgesetz 2003 v. 15.12.2003, BGBl. I 2003, 2645. 24 Jahressteuergesetz 2009 v. 19.12.2008, BGBl. I 2009, 2794. 25 BFH, Urt. v. 9.9.2015 – XI R 31/13, BFH/NV 2016, 249; BFH, Urt. v. 26.8.2014 – XI R 19/12, BFHE 247, 276 = BStBl. II 2015, 310 = UR 2015, 16. 26 BR-Drucks. 545/08, zu Art. 7 Nr. 2 Buchst. b.

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Die Umsätze des klinischen Chemikers sollen nach dem Willen des Gesetzgebers nunmehr von § 4 Nr. 14 Buchst. b Satz 2 Doppelbuchst. bb UStG erfasst werden 27. Bei dem Hinweis des Gesetzgebers auf § 4 Nr. 14 Buchst. b Satz 2 Doppelbuchst. cc UStG28 handelt es sich dabei anscheinend um ein Redaktionsversehen. c) In § 4 Nr. 14 Buchst. d UStG werden unter bestimmten weiteren Voraussetzungen die sonstigen Leistungen von Gemeinschaften, deren Mitglieder Ärzte, Zahnärzte, Heilpraktiker, Physiotherapeuten oder Hebammen sind oder eine ähnliche heilberufliche Tätigkeit ausüben oder Einrichtungen im Sinne des Buchstaben b sind, gegenüber ihren Mitgliedern von der Steuer befreit. Damit ist im Wesentlichen die Regelung aus § 4 Nr. 14 Satz 2 a.F. UStG übernommen worden. Die Bestimmung verstößt insoweit gegen Unionsrecht in Gestalt von Art. 132 Abs. 1 Buchst. f MwStSystRL, als sie die Mehrwertsteuerbefreiung auf Zusammenschlüsse beschränkt, deren Mitglieder eine berufliche Tätigkeit im Gesundheitswesen ausüben29. Art. 132 Abs. 1 Buchst. f MwStSystRL umfasst vielmehr die selbständigen Zusammenschlüsse von Personen, deren Mitglieder eine in Art. 132 MwStSystRL genannte, dem Gemeinwohl dienende Tätigkeit ausüben30. Das folgert der EuGH aus der systematischen Stellung von Art. 132 Abs. 1 Buchst. f MwStSystRL im mit „Steuerbefreiungen für bestimmte, dem Gemeinwohl dienende Tätigkeiten“ überschriebenen Kapitel 2 von Titel IX der MwStSystRL. Das Unionsrecht erlaubt daher weder eine Ausdehnung der Steuerbefreiung über den dem Gemeinwohl dienenden Bereich hinaus, noch  – wie im deutschen Recht – eine Beschränkung auf den Gesundheitsbereich. 3. Weitere gesetzliche Änderungen a) Geklärt ist durch den durch Art. 10 Nr. 3 Buchst. a Doppelbuchst. bb des Amts­ hilferichtlinie-Umsetzungsgesetzes31 (AmtshilfeRLUmsG) eingefügten §  4 Nr.  14 Buchst. e UStG inzwischen, dass zu den nach § 4 Nr. 14 UStG steuerfreien Heilbehandlungsleistungen eines Arztes auch infektionshygienische Leistungen gehören, die sicherstellen sollen, dass Ärzte und Krankenhäuser die für sie bestehenden Verpflichtungen nach dem Infektionsschutzgesetz im jeweiligen Einzelfall erfüllen32. Befreit werden sollen danach die zur Verhütung von nosokominalen Infektionen und zur Vermeidung der Weiterverbreitung von Krankheitserregern, insbesondere solcher mit Resistenzen, erbrachten Leistungen eines Arztes oder einer Hygienefachkraft, an in den Buchstaben a, b und d genannte Einrichtungen, die diesen dazu dienen, ihre Heilbehandlungsleistungen ordnungsgemäß unter Beachtung der nach dem In27 BT-Drucks. 16/10189, 75. 28 BT-Drucks. 16/10189, 74. 29 EuGH, Urt. v. 21.9.2017 – C-616/15, Kommission / Deutschland, ECLI:EU:C:2017:721, UR 2017, 792. 30 EuGH, Urt. v. 21.9.2017  – C-605/15, Aviva, ECLI:EU:C:2017:718, UR 2017, 801; EuGH, Urt. v. 21.9.2017 – C-326/15, DNB Banka, ECLI:EU:C:2017:719, UR 2017, 806. 31 Gesetz zur Umsetzung der Amtshilferichtlinie sowie zur Änderung steuerlicher Vorschriften v. 26.6.2013, BGBl. I 2013, 1809. 32 BFH, Urt. v. 18.8.2011 – V R 27/10, BFHE 235, 58= UR 2011, 902; Anm. Marchal UR 2011, 905; Anm. Wüst, UR 2011, 906.

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fektionsschutzgesetz und den Rechtsverordnungen der Länder nach §  23 Abs.  8 des Infektionsschutzgesetzes bestehenden Verpflichtungen zu erbringen33. Das entsprach auch bereits vor Inkrafttreten des AmtshilfeRLUmsG der Rechtsprechung des BFH34. b) Durch das ZollkodexAnpG v. 22.12.201435 ist in §  14 Buchst. b Satz 2 Doppelbuchst. hh eingefügt worden, mit dem die Steuerbefreiung auf Einrichtungen ausgedehnt wurde, mit denen Verträge nach § 127 in Verbindung mit § 126 Absatz 3 des SGB V über die Erbringung nichtärztlicher Dialyseleistungen bestehen.

V. Unionsrecht (Art. 132 Abs. 1 Buchst. b und c MwStSyStRL) Gemäß Art. 132 Abs. 1 Buchst. b MwStSystRL befreien die Mitgliedstaaten von der Umsatzsteuer Krankenhausbehandlungen und ärztliche Heilbehandlungen sowie damit eng verbundene Umsätze, die von Einrichtungen des öffentlichen Rechts oder unter Bedingungen, welche mit den Bedingungen für diese Einrichtungen in sozialer Hinsicht vergleichbar sind, von Krankenanstalten, Zentren für ärztliche Heilbehandlung und Diagnostik und anderen ordnungsgemäß anerkannten Einrichtungen gleicher Art durchgeführt beziehungsweise bewirkt werden. Art. 132 Abs. 1 Buchst c MwStSystRL sieht demgegenüber die steuerliche Befreiung für Heilbehandlungen im Bereich der Humanmedizin vor, die im Rahmen der Ausübung der von dem betreffenden Mitgliedstaat definierten ärztlichen und arztähnlichen Berufe durchgeführt werden. 1. Auslegungsgrundsätze Zu den allgemeinen Auslegungsgrundsätzen hierzu gehört, dass Begriffe, mit denen im Unionsrecht Steuerbefreiungen bezeichnet werden, eng auszulegen sind, weil Steuerbefreiungen Ausnahmen von dem allgemeinen Grundsatz darstellen, dass jede Dienstleistung, die ein Steuerpflichtiger gegen Entgelt erbringt, der Mehrwertsteuer unterliegt36. Die Auslegung dieser Begriffe muss jedoch mit den Zielen in Einklang stehen, die mit den Befreiungen verfolgt werden, und den Erfordernissen des Grundsatzes der steuerlichen Neutralität entsprechen, auf dem das gemeinsame Mehrwertsteuersystem beruht. Deshalb entspricht es nicht dem Sinn dieser Regel einer engen Auslegung, wenn die zur Umschreibung der in Art. 132 MwStSystRL genannten Befreiungen verwendeten Begriffe so ausgelegt werden, dass sie den Befreiungen ihre 33 BT-Drucks. 17/10000-Art. 9 Nr. 3. 34 BFH, Urt. v. 5.11.2014 – XI R 11/13, BFHE 248, 389 = UR 2015, 180; BFH, Urt. v. 18.8.2011 – V R 27/10, BFHE 235, 58 = UR 2011, 902 m. Anm. Marchal. 35 BGBl. I 2014, 2417. 36 EuGH, Urt. v. 2.7.2015  – C-334/14, De Fruytier, ECLI:EU:C:2015:437, UR 2015, 636; EuGH, Urt. v. 5.7.2012 – C-259/11, DTZ Zadelhoff, ECLI:EU:C:2012:423, UR 2012, 672; EuGH, Urt. v. 28.7.2011 – C-350/10, Nordea, ECLI:EU:C:2011:532, UR 2011, 747; EuGH, Urt. v. 22.12.2010 – C-116/10, Feltgen/Bacino, ECLI:EU:C:2010:824, UR 2011, 694.

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Wirkung nehmen37. Den Grundsatz, dass Steuerbefreiungen eng auszulegen sind, relativiert der EuGH auch noch speziell für den Begriff der ärztlichen Heilbehandlung i.S.d. Art. 132 Abs. 1 Buchst. b MwStSystRL. Dieser Begriff ist angesichts der mit der Steuerbefreiung verfolgten Zielsetzung, die Heilungskosten zu senken, „nicht besonders eng auszulegen“38. Diese Aussage des EuGH betrifft zwar Art. 132 Abs. 1 Buchst. b MwStSystRL, also die Krankenhausbehandlung und die ärztliche Heilbehandlung, die von Einrichtungen des öffentlichen Rechts oder von ähnlichen näher beschriebenen Einrichtungen durchgeführt werden. Die Argumentation mit der beabsichtigten Senkung der Heilungskosten trifft aber in demselben Umfang auch auf Art. 132 Abs. 1 Buchst. c MwStSystRL zu. Was unter einer engen, aber nicht besonders engen Auslegung zu verstehen ist, gibt Anlass zu vertieftem Nachdenken, nicht zuletzt über die Präzision mancher EuGH-Urteile. 2. Art. 132 Abs. 1 Buchst. c MwStSystRL/§ 4 Nr. 14 Buchst. a UStG Der Steuerpflichtige muss im Rahmen des Art. 132 Abs. 1 Buchst. c MwStSystRL zwei Voraussetzungen erfüllen, nämlich „Heilbehandlungen im Bereich der Humanmedizin“ durchführen und diese „im Rahmen der Ausübung der von dem betreffenden Mitgliedstaat definierten ärztlichen oder arztähnlichen Berufe“ erbringen. a) Heilbehandlungen im Bereich der Humanmedizin Der deutsche Gesetzgeber hat in der Neufassung des § 4 Nr. 14 UStG den Begriff der „Heilbehandlungen im Bereich der Humanmedizin“ aus Art.  132 Abs.  1 Buchst. c MwStSystRL durch den der Tätigkeit als Angehöriger eines Katalogberufs oder aus einer „ähnlichen heilberuflichen Tätigkeit“ definiert. Damit hat er letztlich die alte Sprachregelung fortgeführt. Das führt inhaltlich aber zu keinen unterschiedlichen Ergebnissen im Unionsrecht und im nationalen Recht, zumal § 4 Nr. 14 UStG nach ständiger Rechtsprechung des BFH richtlinienkonform auszulegen ist39. Auf einer ersten Subsumtionsstufe ist daher zu prüfen, ob eine Heilbehandlung im Bereich der Humanmedizin vorliegt.

37 EuGH, Urt. v. 2.7.2015  – C-334/14, De Fruytier, ECLI:EU:C:2015:437, UR 2015, 636; EuGH, Urt. v. 13.3.2014, – C-366/12, Klinikum Dortmund, ECLI:EU:C:2014:143, UR 2014, 271; EuGH, Urt. v. 18.11.2010  – C-156/09, VTSI, ECLI:EU:C:2010:695, UR 2011, 215; EuGH, Urt. v. 10.6.2010 – C-86/09, Future Health Technologies, ECLI:EU:C:2010:334, UR 2010, 540. 38 EuGH, Urt. v. 6.11.2003 – C-45/01, Christoph-Dornier-Stiftung, ECLI:EU:C:2003:595, UR 2003, 584. 39 BFH, Urt. v. 7.2.2013 – V R 22/12, UR 2013, 381 m. Anm. Wüst; BFH, Urt. v. 30.4.2009 – V R 6/07, BFHE 225, 248 = BStBl. II 2009, 679 = UR 2009, 563; BFH, Urt. v. 2.9.2010 – V R 47/09, BFHE 231, 326 = BStBl. II 2011, 195 = UR 2011, 101; BFH, Urt. v. 30.6.2005 – V R 1/02, BFHE 210, 188 = BStBl. II 2005, 675 = UR 2005, 501; BFH, Urt. v. 13.7.2006 – V R 7/05, BFHE 214, 458 = BStBl. II 2007, 412 = UR 2007, 17; BFH, Beschl. v. 31.7.2007 – V B 98/06, BFHE 217, 94 = BStBl. II 2008, 35 = UR 2007, 735.

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Heilbehandlungen im Bereich der Humanmedizin

aa) Allgemeine Grundsätze Eine Heilbehandlung umfasst Tätigkeiten, die zum Zweck der Diagnose, der Behandlung und, soweit möglich, der Heilung von Krankheiten oder Gesundheitsstörungen bei Menschen ausgeführt werden40. Dabei muss das Hauptziel der Leistung im Schutz einschließlich der Aufrechterhaltung oder Wiederherstellung der Gesundheit bestehen41. Auch vorbeugende Maßnahmen können vom Begriff der Heilbehandlung umfasst werden42. Das Gleiche gilt für Folgebehandlungen, d.h. medizinische Maßnahmen, die dazu dienen, die negativen Folgen der Vorbehandlung zu beseitigen43. Keine Heilbehandlung im Bereich der Humanmedizin sind ärztliche Leistungen, Maßnahmen oder medizinische Eingriffe, die zu anderen als therapeutischen Zwecken erfolgen44 . Auch Leistungen zur Prävention und Selbsthilfe i.S. des § 20 SGB V, die keinen unmittelbaren Krankheitsbezug aufweisen, weil sie lediglich den allgemeinen Gesundheitszustand verbessern sollen, sind grundsätzlich umsatzsteuerpflichtig45. Zwar müssen die Heilbehandlungen im Bereich der Humanmedizin einem ­therapeutischen Zweck dienen, doch folgt daraus nicht zwangsläufig, dass die thera-

40 EuGH, Urt. v. 10.9.2002 – C-141/00, Kügler, ECLI:EU:C:2002:473, UR 2002, 513; EuGH, Urt. v. 6.11.2003 – C-45/01, Christoph-Dornier-Stiftung, ECLI:EU:C:2003:595, UR 2003, 584; EuGH, Urt. v. 20.11.2003 – C-212/01, Unterpentinger, ECLI:EU:C:2003:625, UR 2004, 70; EuGH, Urt. v. 8.6.2006 – C-106/05, L.u.P., ECLI:EU:C:2006:380, UR 2006, 464. 41 EuGH, Urt. v. 2.7.2015  – C-334/14, De Fruytier, ECLI:EU:C:2015:437, UR 2015, 636; EuGH, Urt. v. 20.11.2003 – C-212/01, Unterpentinger, ECLI:EU:C:2003:625, UR 2004, 70; BFH, Beschl. v. 31.7.2007 – V B 98/06, BFHE 217, 94 = BStBl. II 2008, 35 = UR 2007, 735; BFH, Urt. v. 28.6.2000 – V R 72/99, BFHE 191, 463 = BStBl. II 2000, 554 = UR 2000, 434. 42 EuGH, Urt. v. 8.6.2006 – C-106/05, L.u.P., ECLI:EU:C:2006:380, UR 2006, 464; EuGH, Urt. v. 6.11.2003  – C-45/01, Christoph-Dornier-Stiftung, UR 2003, 584 m. Anm. Widmann; EuGH, Urt. v. 10.9.2002 – C-141/00, Kügler, ECLI:EU:C:2002:473, UR 2002, 513; BFH, Urt. v. 9.9.2015 – XI R 31/13, BFH/NV 2016, 249; BFH, Urt. v. 18.8.2011 – V R 27/10, BFHE 235, 58 = UR 2011, 902 m. Anm. Marchal = BFH/NV 2011, 2214; BFH, Urt. v. 26.8.2014 – XI R 19/12, BFHE 247, 276 = BStBl. II 2015, 310 = UR 2015, 16; BFH, Urt. v. 5.11.2014 – XI R 11/13, BFHE 248, 389 = UR 2015, 180 = BFH/NV 2015, 297; BFH, Urt. v. 15.3.2007 – V R 55/03, BFHE 217, 48 = BStBl. II 2008, 31 = UR 2007, 214; BFH, Urt. v. 13.7.2006 – V R 7/05, BFHE 214, 458 = BStBl. II 2007, 412 = UR 2007, 17. 43 BFH, Urt. v. 9.9.2015 – XI R 31/13, BFH/NV 2016, 249; BFH, Urt. v. 19.3. 2015 – V R 60/14, BFHE 249, 562 = UR 2015, 480 = BFH/NV 2015, 939. 44 BFH, Urt. v. 9.9.2015 – XI R 31/13, BFH/NV 2016, 249; BFH, Urt. v. 5.11.2014 – XI R 11/13, BFHE 248, 389 = UR 2015, 180; BFH, Urt. v. 18.8.2011 – V R 27/10, BFHE 235, 58 = UR 2011, 902 m. Anm. Marchal = BFH/NV 2011, 2214; BFH, Urt. v. 5.11.2014 – XI R 11/13, UR 2015, 180 = BFHE 248, 389 = BFH/NV 2015, 297; EuGH, Urt. v. 14.9.2000 – C-384/98 – D., ECLI:EU:C:2000:444, UR 2000, 432; BFH, Urt. v. 15.7.2004 – V R 27/03, BFHE 206, 471 = BStBl. II 2004, 862 = UR 2004, 648; BFH, Urt. v. 30.6.2005 – V R 1/02, BFHE 210, 188 = BStBl. II 2005, 675 = UR 2005, 501; BFH, Beschl. v. 6.9.2011 – V B 64/11, UR 2011, 909 = BFH/NV 2011, 2133; BFH, Beschl. v. 24.10.2011 – XI B 54/11, BFH/NV 2012, 279; EuGH, Urt. v. 21.3.2013 – C-91/12, PFC Clinic, ECLI:EU:C:2013:198, UR 2013, 335. 45 BFH, Urt. v. 26.9.2007 – V R 54/05, BFHE 219, 241 = BStBl. II 2008, 262 = UR 2007, 939; BFH, Urt. v. 7.7.2005 – V R 23/04, BFHE 211, 69 = BStBl. II 2005, 904 = UR 2005, 677.

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peutische Zweckbestimmtheit einer Leistung in einem besonders engen Sinne zu verstehen ist46. Bei der Frage, ob eine Leistung therapeutischen oder anderen Zwecken dient, geht es um die Beurteilung einer medizinischen Frage, die auf medizinischen Feststellungen beruhen muss, die von dem entsprechenden Fachpersonal getroffen worden sind; die rein subjektive Vorstellung, die der Patient von der Leistung hat, ist als solche für die Beurteilung, ob diese einem therapeutischen Zweck dient, nicht maßgeblich47. Da Art. 132 Abs. 1 Buchst. c MwStSystRL im Gegensatz zu Art. 132 Abs. 1 Buchst. b MwStSystRL keine Bezugnahme auf Umsätze, die mit ärztlichen Heilbehandlungen „eng verbunden“ sind enthält, umfasst Art. 132 Abs. 1 Buchst. c MwStSystRL grundsätzlich keine mit ärztlichen Heilbehandlungen „eng verbundene Umsätze“48 . bb) Einzelfälle Was vom Begriff „Heilbehandlungen im Bereich der Humanmedizin“ auf der Grundlage dieser allgemeinen Begriffsbestimmungen umfasst wird, ist nicht abschließend geklärt. Allerdings gibt es dazu eine mittlerweile recht umfangreiche Kasuistik. (1) Bereits für die vor Inkrafttreten des § 4 Nr. 14 Buchst. e UStG am 1.7.2013 liegenden Zeiträume hatte der BFH mit Urteil vom 18.8.201149 entschieden, dass auch infektionshygienische Leistungen, die sicherstellen sollen, dass Ärzte und Krankenhäuser die für sie bestehenden Verpflichtungen nach dem Gesetz zur Verhütung und Bekämpfung von Infektionskrankheiten beim Menschen vom 20. Juli 2000 (IfSG)50 im jeweiligen Einzelfall erfüllen, zu den steuerfreien Heilbehandlungsleistungen eines Arztes i.S.v. § 4 Nr. 14 UStG gehören. (2) Der V. Senat des BFH hat mit Urteil vom 24.8.201751 darüber hinaus entschieden, dass medizinische Analysen, die von einem in privatrechtlicher Form organisierten Labor außerhalb der Praxisräume des praktischen Arztes durchgeführt werden, der sie angeordnet hat, nach § 4 Nr. 14 Buchst. b UStG steuerfrei sein können. Der XI. Senat 46 EuGH, Urt. v. 10.6.2010  – C-262/08, CopyGene, ECLI:EU:C:2010:328, UR 2010, 526; EuGH, Urt. v. 18.11.2010 – C-156/09, VTSI, EU:C:2010:695, UR 2011, 215; BFH, Urt. v. 29.7.2015 – XI R 23/13, BFHE 251, 86 = BStBl. II 2017, 733 = UR 2015, 790; BFH, Urt. v. 19.3.2015 – V R 60/14, UR 2015, 480 = BFH/NV 2015, 939. 47 Vgl. EuGH, Urt. v. 21.3.2013 – C-91/12, PFC Clinic, ECLI:EU:C:2013:198, UR 2013, 335; BFH, Urt. v. 1.10.2014 – XI R 13/14, BFHE 248, 367; s. dazu auch BFH, Beschl. v. 19.6.2013 – V S 20/13, BFH/NV 2013, 1643. 48 EuGH, Urt. v. 13.3.2014 – C-366/12, Klinikum Dortmund, ECLI:EU:C:2014:143, UR 2014, 271; BFH, Urt. v. 18.3.2015 – XI R 15/11, BFHE 249, 359 = BStBl. II 2015, 1058 = UR 2015, 542. 49 BFH, Urt. v. 18.8.2011 – V R 27/10, BFHE 235, 58 = UR 2011, 902 m. Anm. Marchal; BFH, Urt. v. 5.11.2014 – XI R 11/13, BFHE 248, 389= UR 2015, 180. 50 BGBl. I 2000, 1045, zuletzt geändert durch Artikel 1 des Gesetzes v. 17.7.2017 (BGBl. I 2017, 2615). 51 BFH, Urt. v. 24.8.2017 – V R 25/16, BFHE 259, 171 = UR 2017, 961.

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des BFH hat hieran allerdings Zweifel und dem EuGH eben diese Frage zur Vorabent­ scheidung vorgelegt, nämlich ob bei medizinischen Analysen die Anwendung des Art. 132 Abs. 1 Buchst. c MwStSystRL durch Art. 132 Abs. 1 Buchst. b MwStSystRL ausgeschlossen ist und dementsprechend medizinische Analysen, die von einem in privatrechtlicher Form organisierten Labor außerhalb der Praxisräume des sie anordnenden praktischen Arztes durchgeführt werden, nur nach § 4 Nr. 14 Buchst. b UStG (Art. 132 Abs. 1 Buchst. b MwStSystRL), nicht aber auch nach § 4 Nr. 14 Buchst. a UStG (Art. 132 Abs. 1 Buchst. c MwStSystRL) steuerfrei sind52. (3) Für den Bereich der sog. Schönheitsoperationen hat der EuGH seine Rechtsprechung dahingehend präzisiert, dass „ästhetische Operationen und ästhetische Behandlungen unter den Begriff ‚ärztliche Heilbehandlungen‘ oder ‚Heilbehandlungen im Bereich der Humanmedizin‘ fallen, wenn diese Leistungen dazu dienen, Krankheiten oder Gesundheitsstörungen zu diagnostizieren, zu behandeln oder zu heilen oder die Gesundheit zu schützen, aufrechtzuerhalten oder wiederherzustellen“53. Die Leistungen müssen dazu dienen, Personen zu behandeln oder zu heilen, bei denen aufgrund einer Krankheit, Verletzung oder eines angeborenen körperlichen Mangels ein Eingriff ästhetischer Natur erforderlich ist54. Dabei können die gesundheitlichen Probleme, die zu einer steuerfreien Heilbehandlung führen, auch psychologischer Art sein55. Erfolgt der Eingriff jedoch zu rein kosmetischen Zwecken, reicht dies nicht aus56. Im Übrigen ist die rein subjektive Vorstellung, die die Person, die sich einem ästhetischen Eingriff unterzieht, von diesem Eingriff hat, als solche für die Beurteilung, ob der Eingriff einem therapeutischen Zweck dient, nicht maßgeblich57. Von Bedeutung ist demgegenüber, dass die Leistungen von einer Person erbracht werden, die zur Ausübung eines Heilberufs zugelassen ist, oder dass der Zweck des Eingriffs von einer solchen Person bestimmt wird58. Denn die Beurteilung medizinischer Fragen muss auf medizinischen Feststellungen beruhen, die von dem entsprechenden Fachpersonal getroffen worden sind59. Der BFH ist der Rechtsprechung des EuGH in mehreren Entscheidungen gefolgt und hat dabei betont, dass sich aus der bisherigen Rechtsprechung des BFH nichts anderes ergibt60.

52 BFH, Vorlagebeschl. v. 11.10.2017 – XI R 23/15, BFHE 259, 567 = BStBl. II 2018, 109 = UR 2018, 114. 53 EuGH, Urt. v. 21.3.2013 – C-91/12, PFC Clinik, ECLI:EU:C:2013:198, UR 2013, 335, Leitsatz erster Gedankenstrich. 54 EuGH, Urt. v. 21.3.2013 – C-91/12, PFC Clinik, ECLI:EU:C:2013:198, UR 2013, 335, Rz 29. 55 EuGH, Urt. v. 21.3.2013 – C-91/12, PFC Clinik, ECLI:EU:C:2013:198, UR 2013, 335, Rz 33. 56 EuGH, Urt. v. 21.3.2013 – C-91/12, PFC Clinik, ECLI:EU:C:2013:198, UR 2013, 335, Rz 29. 57 EuGH, Urt. v. 21.3.2013 – C-91/12, PFC Clinik, ECLI:EU:C:2013:198, UR 2013, 335, Leitsatz zweiter Gedankenstrich. 58 EuGH, Urt. v. 21.3.2013 – C-91/12, PFC Clinik, ECLI:EU:C:2013:198, UR 2013, 335, Leitsatz dritter Gedankenstrich. 59 EuGH, Urt. v. 21.3.2013 – C-91/12, PFC Clinik, ECLI:EU:C:2013:198, UR 2013, 335, Rz 35; BFH, Urt. v. 4.12.2014 – V R 33/12, BFHE 248, 424 = UR 2015, 232. 60 BFH, Urt. v. 4.12.2014 – V R 16/12, BFHE 248, 416 = UR 2015, 225 m. Anm. Wüst; BFH, Urt. v. 4.12.2014 – V R 33/12, BFHE 248, 424 = UR 2015, 232.

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(4) Gesichert ist mittlerweile, dass die Entnahme und Aufbereitung von Nabelschnurblut sowie die Lagerung der in diesem Blut enthaltenen Stammzellen zum Zwecke etwaiger zukünftiger therapeutischer Verwendung nicht unter die Steuerbefreiung fällt61, wohl aber das Herauslösen von Gelenkknorpelzellen aus dem einem Menschen entnommenen Knorpelmaterial und ihre anschließende Vermehrung zur Reimplantation aus therapeutischen Zwecken62. Keine Heilbehandlungen sind Tumormeldungen eines Arztes an ein Krebsregister63 sowie die Beförderung von menschlichen Organen und dem menschlichen Körper entnommenen Sub­stanzen64. Auch Leistungen zur Prävention und Selbsthilfe i.S.d. § 20 SGB V, die keinen unmittelbaren Krankheitsbezug haben, sind nicht steuerfrei, weil sie lediglich „den allgemeinen Gesundheitszustand verbessern und insbesondere einen Beitrag zur Verminderung sozial bedingter Ungleichheiten von Gesundheits­chancen erbringen“ sollen65. Bei der bloßen Überlassung von Praxisräumen nebst Ausstattung durch einen Arzt an andere Ärzte handelt es sich weder um eine ärztliche noch um eine arztähnliche Leistung66. Dasselbe gilt für die Überlassung von Operationsräumen an einen Operateur67. Die Lagerung von im Rahmen einer Fruchtbarkeitsbehandlung eingefrorenen Eizellen durch einen Arzt kann dem­gegenüber unter § 4 Nr. 14 UStG fallen68. Dasselbe gilt für Zahnaufhellungen (Bleaching), die ein Zahnarzt zur Beseitigung behandlungsbedingter Zahnverdunklungen vornimmt69 und infektionshygienische Leistungen eines Fachkrankenpflegers für Krankenhaushygiene an Krankenhäuser70. Bei „medizinisch indizierten“ Leistungen eines Podologen i.S. des § 3 PodG handelt es sich um Heilbehandlungen, während „selbstindizierte Behandlungen“ keine Heilbehandlungen sind71. Bei der Durchführung von Raucherentwöhnungsseminaren kann es sich um Maßnahmen handeln, die –ggf. auch nur vorbeugend- dem Schutz einschließlich der Aufrechterhaltung bzw. Wiederherstellung der Gesundheit dienen und die damit steuerfrei sind72.

61 EuGH, Urt. v. 10.6.2010 – C-86/09, Future Health Technology, ECLI:EU:C:2010:334, UR 2010, 540; EuGH, Urt. v. 10.6.2010 – C-262/08, CopyGene, ECLI:EU:C:2010:328, UR 2010, 526. 62 EuGH, Urt. v. 18.11.2010 – C-156/09, VTSI, ECLI:EU:C:2010:695, UR 2011, 215; BFH, Urt. v. 29.6.2011 – XI R 52/07, BFHE 234, 461 = UR 2011, 818 m. Anm. Marchal/Wagner. 63 BFH, Urt. v. 9.9.2015 – XI R 31/13, BFH/NV 2016, 249. 64 EuGH, Urt. v. 2.7.2015 – C-334/14, De Fruytier, ECLI:EU:C:2015:437, UR 2015, 636. 65 BFH, Beschl. v. 4.10.2012 – XI B 46/12, BFH/NV 2013, 273; BFH, Urt. v. 7.7.2005 – V R 23/04, BFHE 211, 69 = BStBl. II 2005, 904 = UR 2005, 677; BFH, Urt. v. 30.4.2009 – V R 6/07, BFHE 225, 248 = BStBl. II 2009, 679 = UR 2009, 563; BFH, Urt. v. 30.6.2005 – V R 1/02, BFHE 210, 188 = BStBl. II 2005, 675 = UR 2005, 501. 66 BFH, Urt. v. 18.3.2015 – XI R 15/11, BFHE 249, 359 = BStBl. II 2015, 1058 = UR 2015, 542; BFH, Beschl. v. 24.9.2004 – V B 177/02, BFH/NV 2005, 258; BFH, Beschl. v. 29.10.2013 – V B 58/13, BFH/NV 2014, 192. 67 BFH, Urt. v. 18.3.2015 – XI R 15/11, BFHE 249, 359 = BStBl. II 2015, 1058 = UR 2015, 542. 68 BFH, Urt. v. 29.7.2015 – XI R 23/13, BFHE 251, 86 = BStBl. II 2017, 733 = UR 2015, 790. 69 BFH, Urt. v. 19.3.2015 – V R 60/14, BFHE 249, 562 = BStBl. II 2015, 946= UR 2015, 480. 70 BFH, Urt. v. 5.11.2014 – XI R 11/13, BFHE 248, 389 = UR 2015, 180. 71 BFH, Urt. v. 1.10.2014 – XI R 13/14, BFHE 248, 367. 72 BFH, Urt. v. 26.8.2014 – XI R 19/12, BFHE 247, 276 = BStBl. II 2015, 310 = UR 2015, 16.

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Nach § 4 Nr. 14 UStG steuerfreie Leistungen können in Betracht kommen, wenn eine Vorsorge- oder Rehabilitationseinrichtung aufgrund eines Versorgungsvertrages gemäß §§ 11 Abs. 2, 23 Abs. 4, 40, 111 SGB V mit Hilfe von Fachkräften Leistungen zur medizinischen Vorsorge- oder Rehabilitation erbringt. In diesem Fall sind regelmäßig sowohl die Leistungen der Einrichtung als auch die Leistungen der hierzu nach Maßgabe des Versorgungs- oder Rehabilitationsvertrages qualifizierten Fachkräfte an diese Einrichtung steuerfrei73. Geklärt ist auch, dass Leistungen im Rahmen der Grundpflege (Körperpflege, Zubereiten und Hilfe bei der Aufnahme der Nahrung, An- und Auskleiden, Hilfe beim Aufstehen und Zubettgehen) und hauswirtschaftlichen Versorgung (Einkaufen, Kochen, Wohnungsreinigung, Waschen der Kleidung) von der Steuerbefreiung des § 4 Nr. 14 UStG nicht umfasst werden. Diese Leistungen stellen aber eng mit der Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit verbundene Dienstleistungen i.S.v. Art.132 Abs. 1 Buchst. g MwStSystRL dar74. Insoweit kommt die Berufung unmittelbar auf Art. 132 Abs. 1 Buchst. g MwStSystRL in Betracht75. Da Art. 132 Abs. 1 Buchst. c MwStSystRL grds. keine mit ärztlichen Heilbehandlungen eng verbundenen Umsätze umfasst, fällt die Lieferung von Arzneimitteln und anderen Gegenständen nicht unter die Steuerbefreiung76. b) Berufliche Qualifikation/Ähnlichkeit der Tätigkeit Sind die Voraussetzungen einer Heilbehandlung im Bereich der Humanmedizin nicht erfüllt, so sind die Leistungen selbst dann nicht von der Umsatzsteuer befreit, wenn der Unternehmer Angehöriger eines Katalogberufs ist oder die von ihm ausgeführten Leistungen von den Sozialversicherungsträgern finanziert werden. Liegt dagegen eine Heilbehandlung im Bereich der Humanmedizin vor, wird diese aber nicht durch einen Berufsträger der Katalogberufe ausgeübt, stellt sich auf einer zweiten Prüfungsebene die Frage, ob diese Tätigkeit der der Katalogberufe ähnlich i.S.d. § 4 Nr.14 Buchst. a Satz 1 UStG ist. Das ist der Fall, wenn der Unternehmer über die durch einen Befähigungsnachweis dokumentierte Berufsqualifikation verfügt. Dabei können Heilbehandlungen im Bereich der Humanmedizin durch Angehörige arzt­ähnlicher Berufe nur insoweit als gleichwertig angesehen werden, als sie für die Patienten eine gleichwertige Qualität aufweisen, die in der beruflichen Qualifikation des Behandelnden ihren Ausdruck findet77. 73 BFH, Urt. v. 25.11.2004 – V R 44/02, BFHE 208, 80 = BStBl. II 2005, 190 = UR 2005, 252 m. Anm. Heidner. 74 EuGH, Urt. v. 10.9.2002 – C-141/00, Kügler, ECLI:EU:C:2002:473, UR 2002, 513; BFH, Urt. v. 22.4.2004 – V R 1/98, BFHE 205, 514 = BStBl. II 2004, 849 = UR 2004, 475. 75 EuGH, Urt. v. 26.5.2005 – C-498/03, Kingscrest und Montecello, ECLI:EU:C:2005:322, UR 2005, 453; EuGH, Urt. v. 10.9.2002 – C-141/00, Kügler, UR 2002, 513; BFH, Urt. v. 18.8.2005 – V R 71/03, BFHE 211, 543 = BStBl. II 2006, 143 = UR 2006, 166 m. Anm. Heidner. 76 EuGH, Urt. v. 13.3.2014 – C-366/12, Klinikum Dortmund, EU:C:2014:143, UR 2014, 271. 77 EuGH, Urt. v. 27.4.2006 – C-443/04 und C-444/04, Solleveld und van den Hout-van Eijnsbergen, ECLI:EU:C:2006:257, UR 2006, 587.

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Bei den Angehörigen der Katalogberufe ist das unproblematisch; sie erfüllen diese Voraussetzung. Komplizierter wird die Sache bei den arztähnlichen Berufen. Denn bei der Definition der arztähnlichen Berufe und den damit verbundenen Anforderungen ist den Mitgliedstaaten ein Ermessen eingeräumt, bei dessen Ausübung sie aber den Grundsatz der Gleichbehandlung, der im Bereich der Mehrwertsteuer im Grundsatz der steuerlichen Neutralität zum Ausdruck kommt, zu beachten haben78. Dabei können Heilbehandlungen im Bereich der Humanmedizin nur insoweit als gleichwertig angesehen werden, als sie für die Patienten eine gleichwertige Qualität aufweisen, die in der beruflichen Qualifikation des Behandelnden ihren Ausdruck findet. Ein Verstoß gegen den Grundsatz der steuerlichen Neutralität liegt nur dann vor, wenn nachgewiesen werden kann, dass die Personen, die diesen Beruf oder diese Tätigkeit ausüben, für die Durchführung solcher Heilbehandlungen über berufliche Qualifikationen verfügen, die gewährleisten können, dass die Behandlungen denjenigen qualitativ gleichwertig sind, die von Personen erbracht werden, die nach den betreffenden nationalen Rechtsvorschriften in den Genuss der Befreiung gelangen79. Der BFH hat in den vergangenen Jahren in einer Vielzahl von Entscheidungen sukzessive neue Kriterien für den erforderlichen Befähigungsnachweis herausgearbeitet80. 78 EuGH, Urt. v. 27.4.2006 – C-443/04 und C-444/04, Solleveld und van den Hout-van Eijnsbergen, ECLI:EU:C:2006:257, UR 2006, 587; EuGH, Urt. v. 6.11.2003  – C-45/01, Christoph-Dornier-Stiftung, ECLI:EU:C:2003:595, UR 2003, 584. 79 EuGH, Urt. v. 27.4.2006 – C-443/04 und C-444/04, Solleveld und van den Hout-van Eijnsbergen, ECLI:EU:C:2006:257, UR 2006, 587; EuGH, Urt. v. 10.9.2002 – C-141/00, Kügler, ECLI:EU:C:2002:473, UR 2002, 513. 80 BFH, Urt. v. 13.4.2000 – V R 78/99, BFHE 191, 441, Heileurythmist; BFH, Urt. v. 28.6.2000 – V R 72/99, BFHE 191, 463 = BStBl. II 2000, 554 = UR 2000, 434, Gutachtentätigkeit eines Krankenpflegers; BFH-Urt. v. 24.8.2000 – V R 7/99, BFH/NV 2001, 651, Familienhelferin; BFH, Urt. v. 19.12.2002 – V R 28/00, BFHE 201, 330 = BStBl. II 2003, 532 = UR 2003, 284, medizinischer Fußpfleger; BFH, Beschl. v. 27.2.2003 – V B 164/02, BFHE 201, 347 = BStBl. II 2003, 622 = UR 2003, 282, Altenpflegerin; BFH, Urt. v. 22.5.2003 – V R 94/01, BFHE 203, 185 = BStBl.  II 2003, 954, Krankenhaus-Holding; BFH, Urt. v. 23.10.2003  – V R 24/00, BFHE 203, 523 = BStBl.  II 2004, 89 = UR 2004, 92, Altenheimbetreiber; BFH, Urt. v. 18.3.2004 – V R 53/00, BFHE 204, 503 = BStBl. II 2004, 677 = UR 2004, 421, Heilbehandlung durch Krankenhaus; BFH, Urt. v. 1.4.2004 – V R 54/98, BFHE 205, 505 = BStBl. II 2004, 681 = UR 2001, 115, Folgeentscheidung zum Urteil Christoph-Dornier-Stiftung; BFH, Urt. v. 22.4.2004 – V R 1/98, BFHE 205, 514 = BStBl. II 2004, 849 = UR 2004, 475, Pflegeleistungen einer GmbH, Folgeentscheidung zum EuGH-Urteil Kügler; BFH, Urt. v. 15.7.2004 – V R 27/03, BFHE 206, 471 = BStBl. II 2004, 862 = UR 2004, 648, Schönheitsoperation; BFH, Beschl. v. 12.10.2004 – V R 54/03, BFHE 207, 558 = BStBl. II 2005, 106 = UR 2005, 159, Dentalhygienikerin; BFH, Urt. v. 12.8.2004 – V R 18/02, BFHE 207, 381 = BStBl. II 2005, 227 = UR 2005, 102, Fußreflexzonenmassage; BFH, Urt. v. 11.11.2004 – V R 34/02, BFHE 208, 65 = BStBl. II 2005, 316 = UR 2005, 207 m. Anm. Heidner, Heileurythmist; BFH, Urt. v. 25.11.2004 – V R44/02, BFHE 208, 80 = BStBl. II 2005, 190 = UR 2005, 252 m. Anm. Heidner, Sporttherapeut; BFH, Urt. v. 18.1.2005 – V R 99/01, BFH/NV 2005, 1392, Behandlungspflege; BFH, Urt. v. 10.3.2005 – V R 54/04, BFHE 210, 151 = BStBl. II 2005, 669, Ernährungsberatung; BFH, Urt. v. 7.7.2005 – V R 23/04, BFHE 211, 69 = ­BStBl. II 2005, 904 = UR 2005, 677, Ernährungsberatung; BFH, Urt. v. 18.8.2005 – V R 71/03, BFHE

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Heilbehandlungen im Bereich der Humanmedizin

aa) Berufsrechtlichen Regelungen Der Nachweis der Qualifikation kann sich nach ständiger Rechtsprechung des BFH nach wie vor aus berufsrechtlichen Regelungen ergeben81. bb) Kostentragung durch Sozialversicherungsträger Der Nachweis der erforderlichen Berufsqualifikation kann darüber hinaus aber auch durch die regelmäßige Kostentragung durch Sozialversicherungsträger ergeben82. Die Kostentragung durch gesetzliche Krankenkassen ist aber nur dann von Bedeutung,

211, 543 = BStBl. II 2006, 143 = UR 2006, 166 m. Anm. Heidner, Legastheniebehandlung; BFH, Urt. v. 13.7.2006 – V R 7/05, BFHE 214, 458 = BStBl. II 2007, 412 = UR 2007, 17, betriebsärztliche Leistungen; BFH, Urt. v. 1.2.2007 – V R 64/05, UR 2007, 428 = BFH/NV 2007, 1203, Heilpädagoge; BFH, Urt. v. 1.2.2007 – V R 34/05, UR 2007, 425 = BFH/NV 2007, 1201, Legastheniebehandlung; BFH, Urt. v. 30.1.2008 – XI R 53/06, BFHE 221, 399 = BStBl.  II 2008, 647 = UR 2008, 429, Hippotherapie; BFH, Urt. v. 30.4.2009  – V R 6/07, BFHE 225, 248 = BStBl.  II 2009, 679 = UR 2009, 563, Funktionstraining; BFH, Urt. v. 2.9.2010 – V R 47/09, BFHE 231, 326 = BStBl. II 2011, 195 = UR 2011, 101, Kosmetiker; BFH, Urt. v. 1.12.2011 – V R 58/09, BFH/NV 2012, 1186, Vitalogist; BFH, Urt. v. 8.3.2012 – V R 30/09, BFHE 237, 263 = BStBl. II 2012, 623 = UR 2012, 474, Heileurythmist; BFH, Beschl. v. 26.1.2012 – V R 52/10, BFH/NV 2012, 817, heilpädagogisches Reiten; BFH-Urt. v. 7.2.2013 – V R 22/12, UR 2013, 381 m. Anm. Wüst = BFH/NV 2013, 880, Podologe; BFH, Urt. v. 8.8.2013 – V R 8/12, BFHE 242, 548 = UR 2013, 951, Diplom-Betriebswirt; BFH, Urt.  v. 26.8.2014  – XI R 19/12, BFHE 247, 276 = BStBl.  II 2015, 310 = UR 2015, 16, ­Raucherentwöhnung; BFH, Urt. v. 1.10.2014 – XI R 13/14, BFHE 248, 367, Podologe; BFH, Urt. v. 23.10.2014 – V R 20/14, BFHE 248, 376 = BStBl. II 2016, 785 = UR 2015, 235, privater Krankenhausbetreiber; BFH, Urt. v. 5.11.2014 – XI R 11/13, BFHE 248, 389 = UR 2015, 180, Infektionshygiene; BFH, Urt. v. 26.11.2014 – XI R 25/13, BFH/NV 2015, 531, Reiterhof; BFH, Urt. v. 4.12.2014 – V R 16/12, BFHE 248, 416 = UR 2015, 225 m. Anm. Wüst, Schönheitschirurgie, BFH, Urt. v. 4.12.2014 – V R 33/12, BFHE 248, 424 = UR 2015, 232, Schönheitschirurgie; BFH, Urt. v. 18.3.2015 – XI R 15/11, BFHE 249, 359 = BStBl. II 2015, 1058 = UR 2015, 542, Überlassung von Operationsräumen; BFH, Urt. v. 18.3.2015 – XI R 38/13, BFHE 249, 380 = BStBl. II 2016, 793 = UR 2015, 552, privater Krankenhausbetreiber; BFH, Urt. v. 18.3.2015 – XI R 8/13, BFHE 249, 369 = BStBl. II 2016, 788 = UR 2015, 547, privater Krankenhausbetreiber; BFH, Urt. v. 19.3.2015  – V R 60/14, BFHE 249, 562 = ­BStBl.  II 2015, 946 = UR 2015, 480, zahnärztliche Behandlungsleistungen; BFH, Urt. v. 19.7.2015 – XI R 23/13, BFHE 251, 86 = BStBl. II 2017, 733 = UR 2015, 790, Fruchtbarkeitsbehandlung; BFH, Urt. v. 9.9.2015  – XI R 31/13, BFH/NV 2016, 249, Tumormeldungen eines Arztes; BFH, Urt. v. 7.12.2016 – XI R 5/15, BFHE 256, 550 = UR 2017, 385, Eingliederungsleistungen für Behinderte; BFH, Urt. v. 26.7.2017 – XI R 3/15, BFHE 259, 150 = UR 2018, 25, Heileurythmist; BFH, Urt. v. 24.8.2017 – V R 25/16, UR 2017, 961, medizinische Laborleistungen; BFH, Vorlagebeschl. v. 11.10.2017 – XI R 23/15, UR 2018, 114, medizinische Analysen. 81 BFH, Urt. v. 7.2.2013 – V R 22/12, BFHE 240, 428 = BStBl. II 2014, 126 = UR 2013, 381 m. Anm. Wüst; BFH-Urteil 30.4.2009 – V R 6/07, BFHE 225, 248 = BStBl. II 2009, 679 = UR 2009, 563; BFH, Urt. v. 1.12.2011 – V R 58/09, BFH/NV 2012, 1186. 82 BVerfG, Beschl. v. 29.10.1999 – 2 BvR 1264/90, BVerfGE 101, 132 = BStBl. II 2000, 155 = UR 1999, 494 m. Anm. Widmann.

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wenn sie den Charakter eines Befähigungsnachweises hat83. Da die konkrete Kostenübernahme als Abgrenzungsmerkmal schon deshalb ungeeignet ist, weil damit Leistungen an Personen, die nicht der gesetzlichen Krankenversicherung unterliegen, von der Steuerbefreiung ausgeschlossen wären, hat der BFH bereits in dem Folgeurteil zur Heileurythmistenentscheidung des BVerfG dessen Entscheidung präzisiert und entschieden, dass es sich um Leistungen handeln muss, die „ihrer Art nach“ in der Regel von den Sozialversicherungsträgern finanziert werden84. Mit dieser Einschränkung wird mehreren Gesichtspunkten Rechnung getragen. Zum einen ist damit sichergestellt, dass auch Leistungen an Privatpatienten steuerfrei ausgeführt werden, wenn die Sozialversicherungsträger eine entsprechende Leistung für ein Mitglied bezahlen würden. Es kommt außerdem nicht darauf an, ob die Sozialversicherungsträger die konkrete Leistung tatsächlich bezahlt haben85. Und schließlich ist es ohne Belang, wenn im Einzelfall aufgrund besonderer Umstände eine Behandlung erstattet wird, zu deren Erstattung der Sozialversicherungsträger aber nicht verpflichtet ist. Leistungen werden nur dann im Sinne des BVerfG-Beschlusses vom 29.10.199986 und des BFH-Urteils vom 13.4.200087 in der Regel von den Sozialversicherungsträgern finanziert, wenn ein Großteil der Träger gesetzlicher Krankenkassen eine Kostentragung in seiner Satzung regelt88. Da hierüber nicht in jedem Fall eine empirische Erhebung erfolgen kann, hat die Rechtsprechung Fallgruppen herausgearbeitet, in denen eine regelmäßige Kostenerstattung vorliegt. Dabei hat der BFH ausgehend von der regelmäßigen Zulassung einer Berufsgruppe gemäß §  124 Abs.  2 SGB V89 versucht, die Kostentragung durch Sozialversicherungsträger als begriffsbestimmendes Merkmal mit Leben zu erfüllen, und nach und nach sozialrechtliche Kriterien herangezogen, anhand derer die Ähnlichkeit einer Tätigkeit mit den Katalogberufen beurteilt werden kann. (1) Der Nachweis der beruflichen Qualifikation kann sich im Einzelfall auch aus den Beziehungen der Krankenkassen zu den Leistungserbringern nach dem IV. Kapitel SGB V und damit aus den §§ 69 ff. SGB V ergeben90. So gilt als ausreichendes Indiz für das Vorliegen einer ähnlichen heilberuflichen Tätigkeit die Zulassung des Unternehmers oder die regelmäßige Zulassung seiner Berufsgruppe gemäß § 124 Abs. 2 SGB V 83 BFH, Urt. v. 8.3.2012 – V R 30/09, BFHE 237, 263 = BStBl. II 2012, 623 = UR 2012, 474; BFH, Urt. v. 2.9.2010 – V R 47/09, BFHE 231, 326 = BStBl. II 2011, 195 = UR 2011, 101. 84 BFH, Urt. v. 13.4.2000 – V R 78/99, BFHE 191, 441; BFH, Urt. v. 24.8.2000 – V R 7/99, BFH/ NV 2001, 651; BFH, Urt. v. 19.12.2002 – V R 28/00, BFHE 201, 330 = BStBl. II 2003, 532 = UR 2003, 284. 85 BFH, Urt. v. 13.4.2000 – V R 78/99, BFHE 191, 441; BFH, Urt. v. 19.12.2002 – V R 28/00, BFHE 201, 330 = BStBl. II 2003, 532 = UR 2003, 284. 86 BVerfG, Beschl. v. 29.10.1999 – 2 BvR 1264/90, BVerfGE 101, 132 = BStBl. II 2000, 155 = UR 1999, 494 m. Anm. Widmann. 87 BFH, Urt. v. 13.4.2000 – V R 78/99, BFHE 191, 441. 88 BFH, Urt. v. 8.3.2012 – V R 30/09, BFHE 237, 263 = BStBl. II 2012, 623 = UR 2012, 474. 89 BFH, Urt. v. 8.3.2012 – V R 30/09, BFHE 237, 263 = BStBl. II 2012, 623 = UR 2012, 474; BFH-Urteile in BFHE 205, 505, BStBl. II 2004, 681, und in BFHE 205, 514, BStBl. II 2004, 849; BFH, Urt. v. 7.7.2005 – V R 23/04, BFHE 211, 69 = BStBl. II 2005, 904. 90 BFH, Urt. v. 2.9.2010 – V R 47/09, BFHE 231, 326 = BStBl. II 2011, 195 = UR 2011, 101.

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durch die zuständigen Stellen der gesetzlichen Kranken­kassen. Bei dieser Zulassung handelt es sich um eine Art Grundentscheidung, mit der der Behandelnde den Rechtsstatus „zugelassener Leistungserbringer“ erwirbt. Verbunden ist damit die grundsätzliche Berechtigung, gegenüber den Krankenkassen abzurechnen. (2) Ist weder der Unternehmer noch seine Berufsgruppe ein zugelassener Leistungserbringer i.S.d. § 124 Abs. 2 SGB V, ist die Aufnahme der betreffenden Leistungen durch die Bundesausschüsse in den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenkassen (§ 92 SGB V) Indiz für das Vorliegen eines hinreichenden beruflichen Befähigungsnachweises 91. Ähnlich wie bei der Zulassung nach § 124 Abs. 2 SGB V wird die Entscheidung über den erforderlichen Befähigungsnachweis im Ergebnis auf kompetente Gremien der medizinischen Versorgung verlagert. Zugleich führt die Aufnahme in den Leistungskatalog zu einer regelmäßigen Kostenübernahme durch die Sozialversicherungsträger, so dass auch den vom BVerfG aufgestellten Anforderungen Rechnung getragen wird. (3) Darüber hinaus kommt eine Steuerbefreiung auch dann in Betracht, wenn eine Vorsorge- oder Rehabilitationseinrichtung auf Grund eines Versorgungsvertrags gemäß § 11 Abs. 2, §§ 40, 111 SGB V mit Hilfe von Fachkräften Leistungen zur medizinischen Rehabilitation erbringt. In diesem Fall sind regelmäßig sowohl die Leistungen der Rehabilitationseinrichtung als auch die Leistungen der Fachkräfte an die ­Rehabilitationseinrichtung steuerfrei, soweit sie die in dem Versorgungsvertrag benannte Qualifikation besitzen92. (4) Der berufliche Befähigungsnachweis kann sich auch aus einer Kostentragung nach § 43 SGB V in Verbindung mit einer „Gesamtvereinbarung“ ergeben93. Charakteristisch für die Kostentragung in diesen Fällen ist, dass vertragliche Vereinbarungen mit gesetzlichen Krankenkassen geschlossen und zur Leistungserbringung jeweils Fachkräfte eingebunden werden, die bestimmte Qualifikationsanforderungen zu erfüllen haben94. (5) Die für Versorgungsverträge und Gesamtvereinbarungen geltenden Grundsätze gelten auch für integrierte Versorgungsverträge nach den §§ 140a ff. SGB V, die Berufsverbände von Leistungserbringern mit gesetzlichen Krankenkassen abschließen, sofern der jeweilige Berufsverband die Teilnahmeberechtigung der Leistungserbringer davon abhängig macht, dass die in den Verträgen enthaltenen Qualifikationsanforde91 BFH, Urt. v. 8.3.2012 – V R 30/09, BFHE 237, 263 = BStBl. II 2012, 623 = UR 2012, 474; BFH, Urt. v. 2.9.2010 – V R 47/09, BFHE 231, 326 = BStBl. II 2011, 195 = UR 2011, 101; BFH, Urt. v. 12.8.2004 – V R 18/02, BFHE 207, 381 = BStBl. II 2005, 227 = UR 2005, 102; ausführlich BFH-Urteile in BFHE 205, 505, BStBl.  II 2004, 681, und in BFHE 205, 514, BStBl. II 2004, 849. 92 BFH, Urt. v. 8.3.2012 – V R 30/09, BFHE 237, 263 = BStBl. II 2012, 623 = UR 2012, 474; BFH, Urt. v. 7.7.2005 – V R 23/04, BFHE 211, 69 = BStBl. II 2005, 904 = UR 2005, 677; BFH, Urt. v. 25.11.2004 – V R 44/02, BFHE 208, 80 = BStBl. II 2005, 190 = UR 2005, 252 m. Anm. Heidner. 93 BFH, Urt. v. 30.4.2009 – V R 6/07, BFHE 225, 248 = BStBl. II 2009, 679 = UR 2009, 563. 94 BFH, Urt. v. 8.3.2012 – V R 30/09, BFHE 237, 263 = BStBl. II 2012, 623 = UR 2012, 474; BFH, Urt. v. 30.4.2009 – V R 6/07, BFHE 225, 248 = BStBl. II 2009, 679 = UR 2009, 563.

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rungen erfüllt werden. Der Nachweis der erforderlichen Berufsqualifikation kann sich daher z.B. auch aus der Zulassung eines Heileurythmisten zur Teilnahme an den  Verträgen zur integrierten Versorgung mit anthroposophischer Medizin nach §§ 140a ff. SGB V95 ergeben. c) Subunternehmer Die Steuerbefreiung nach § 4 Nr. 14 Buchst. a UStG setzt nicht voraus, dass der Unternehmer seine Leistung gegenüber dem Patienten als Leistungsempfänger erbringt und er darüber mit ihm oder seiner Krankenkasse abrechnet96. Es reicht aus, wenn er seine Leistungen an einen Arzt oder eine sonstige unter § 4 Nr. 14 UStG fallende Person oder Einrichtung erbringt, die die Leistungen ihrerseits an den Patienten weiterleitet und ihm oder seiner Krankenkasse gegenüber abrechnet. Denn die befreiten Umsätze sind nach § 4 Nr. 14 UStG nicht durch die Person des Leistungsempfängers definiert. Vielmehr beschränkt sich das personenbezogene Tatbestandsmerkmal auf den Leistenden, der Träger eines ärztlichen bzw. arztähnlichen Berufs sein muss97. d) Keine Befreiung „eng verbundener“ Umsätze bei Art. 132 Abs. 1 Buchst. c MwStSystRL/§ 4 Nr. 14 Buchst. a UStG Im Gegensatz zur Steuerbefreiung von Krankenhausbehandlungen (§ 4 Nr. 14 Buchst b UStG, Art.  132 Abs.  1 Buchst. b MwStSystRL) enthält Art.  132 Abs.  1 Buchst. c MwStSystRL keine Bezugnahme auf Umsätze, die mit ärztlichen Heilbehandlungen eng verbunden sind. Daraus schließt der EuGH, dass der Begriff der „mit ärztlichen Heilbehandlungen eng verbundenen Umsätze“ für die Auslegung von Art. 132 Abs. 1 Buchst. c MwStSystRL keine Bedeutung hat98. Damit kommt auch im Rahmen des § 4 Nr. 14 Buchst. a UStG eine Steuerbefreiung „eng verbundener“ Umsätze nicht in Betracht.

95 BFH, Urt. v. 26.7.2017 – XI R 3/15, BFHE 259, 150 = UR 2018, 25. 96 BFH, Urt. v. 18.3.2015 – XI R 15/11, BFHE 249, 359 = BStBl. II 2015, 1058 = UR 2015, 542; BFH, Beschl. v. 12.10.2004 – V R 54/03, BFHE 207, 558 = BStBl. II 2005, 106 = UR 2005, 159; BFH, Urt. v. 25.11.2004 – V R 44/02, BFHE 208, 80 = BStBl. II 2005, 190 = UR 2005, 252 m. Anm. Heidner. 97 BFH, Urt. v. 18.8.2011 – V R 27/10, UR 2011, 902 m. Anm. Marchal = BFHE 235, 58 = BFH/ NV 2011, 2214; BFH, Urt. v. 8.8.2013 – V R 8/12, UR 2013, 951 = BFHE 242, 548 = BFH/ NV 2014, 119; BFH, Urt. v. 18.3.2015 – XI R 15/11, BFHE 249, 359 = BStBl. II 2015, 1058 = UR 2015, 542; BFH, Urt. v. 10.3.2005 – V R 54/04, BFHE 210, 151 = BStBl. II 2005, 669; BFH, Urt. v. 25.11.2004 – V R 44/02, BFHE 208, 80 = BStBl. II 2005, 190 = UR 2005, 252 m. Anm. Heidner. 98 EuGH, Urt. v. 2.7.2015  – C-334/14, De Fruytier, ECLI:EU:C:2015:437, UR 2015, 636; EuGH, Urt. v. 13.3.2014 – C-366/12, Klinikum Dortmund, ECLI:EU:C:2014:143, UR 2014, 271.

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Heilbehandlungen im Bereich der Humanmedizin

3. Das Verhältnis zwischen Art. 132 Abs. 1 Buchst. b und Buchst. c MwStSystRL a) Gleichartigkeit der Leistungen Gemäß § 4 Nr. 14 Buchst. b Satz 1 UStG sind steuerfrei „Krankenhausbehandlungen und ärztliche Heilbehandlungen einschließlich der Diagnostik, Befunderhebung, Vorsorge, Rehabilitation, Geburtshilfe und Hospizleistungen sowie damit eng verbundene Umsätze, die von Einrichtungen des öffentlichen Recht erbracht werden“. In § 4 Nr. 14 Buchst. b Satz 2 Doppelbuchst. aa bis hh UStG hat der Gesetzgeber den Versuch unternommen, die in Art. 132 Abs. 1 Buchst. b MwStSystRL genannten „ordnungsgemäß anerkannten Einrichtungen gleicher Art“ zu definieren99. Sowohl der Begriff der „Krankenhausbehandlungen“ bzw. der „ärztlichen Heilbehandlungen“ in Art. 132 Abs. 1 Buchst b MwStSystRL (§ 4 Nr. 14 Buchst. b UStG) als auch der der „Heilbehandlungen im Bereich der Humanmedizin“ i.S.d. Art.  132 Abs. 1 Buchst. c MwStSystRL (§ 4 Nr. 14 Buchst. a UStG) zielt auf Leistungen ab, die der Diagnose, Behandlung und, so weit möglich, der Heilung von Krankheiten oder Gesundheitsstörungen dienen100. Dabei werden von Art.  132 Abs.  1 Buchstabe b MwStSystRL (§ 4 Nr. 14 Buchst. b UStG) Leistungen umfasst, die aus einer Gesamtheit von ärztlichen Heilbehandlungen in Einrichtungen mit sozialer Zweckbestimmung wie der des Schutzes der menschlichen Gesundheit (vornehmlich in Krankenhäusern) bestehen, während sich Art. 132 Abs. 1 Buchst. c MwStSystRL c (§ 4 Nr. 14 Buchst. a UStG) auf Heilbehandlungen bezieht, die außerhalb von Krankenhäusern oder ähnlichen Einrichtungen im Rahmen eines persönlichen Vertrauensverhältnisses zwischen dem Patienten und dem Behandelndem, z.B. in den Praxisräumen des Behandelnden, in der Wohnung des Patienten oder an einem anderen Ort erbracht werden101.

99 Zur Rechtslage bei Umsätzen von Privatkliniken vgl. BFH, Urt. v. 18.3.2015 – XI R 8/13, BFHE 249, 369 = BStBl. II 2016, 788 = UR 2015, 547; BFH, Urt. v. 23.10.2014 – V R 20/14, BFHE 248, 376 = BStBl. II 2016, 785; Sterzinger, UR 2013, 525. 100 Vgl. EuGH, Urt. v. 2.7.2015 – C-334/14, De Fruytier, ECLI:EU:C:2015:437, UR 2015, 636; EuGH, Urt. v. 13.3.2014 – C-366/12, Klinikum Dortmund, EU:C:2014:143, UR 2014, 271; vgl. EuGH-Urteile L.u.P., EU:C:2006:380, UR 2006, 464; EuGH, Urt. v. 10. Juni 2010  – C-262/08, CopyGene, EU:C:2010:328, UR 2010, 526; BFH, Vorlagebeschl. v. 11.10.2017 – XI R 23/15, BFHE 259, 567 = BStBl. II 2018, 109 = UR 2018, 114; BFH, Urt. v. 12.8.2004 – V R 27/02, BFH/NV 2005, 583; BFH, Urt. v. 5.11.2014 – XI R 11/13, BFHE 248, 389, UR 2015, 180. 101 Vgl. in diesem Sinne EuGH, Urt. v. 2.7.2015 – C-334/14, De Fruytier, ECLI:EU:C:2015:437, UR 2015, 636; EuGH, Urt. v. 10.6.2010 – C-86/09, Future Health Technology, ECLI:​ EU:C:2010:334, UR 2010, 540; EuGH, Urt. v. 8.6.2006 – C-106/05, L. und P., ECLI:EU:​ C:2006:380, UR 2006, 464; EuGH, Urt. v. 6.11.2003 – C-45/01, Christoph-Dornier-Stiftung, ECLI:EU:C:2003:595, UR 2003, 584; EuGH, Urt. v. 10.9.2002 – C-141/00, Kügler, EU:C:2002:473, UR 2002, 513; EuGH, Urt. v. 10.6.2010  – C-262/08, CopyGene, EU:C:2010:328, UR 2010, 526; BFH-Urt. v. 30.4.2009 – V R 6/07, BFHE 225, 248 = BStBl. II 2009, 679 = UR 2009, 563; BFH, Urt. v. 8.3.2012 – V R 30/09, BFHE 237, 263 = BStBl. II 2012, 623 = UR 2012, 474; vgl. auch BFH, Vorlagebeschl. v. 11.10.2017 – XI R 23/15, BFHE 259, 567 = BStBl. II 2018, 109 = UR 2018, 114.

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Hans-Hermann Heidner

Der wesentliche Unterschied zwischen den beiden Befreiungsvorschriften besteht deshalb weniger in der Art der befreiten Leistungen, als vielmehr im Ort ihrer Ausführung. Diese Differenzierung der Steuerbefreiung nach ärztlichen Heilbehandlungen und Leistungen von Krankenhäusern ist vom BFH übernommen worden102; sie ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden103. b) Eng verbundene Umsätze i.S.d. § 4 Nr. 14 Buchst. b UStG Ein weiterer Unterschied besteht darin, dass Art. 132 Abs. 1 Buchst. c MwStSystRL im Gegensatz zu Art. 132 Abs. 1 Buchst. b MwStSystRL keine Bezugnahme auf Umsätze, die mit ärztlichen Heilbehandlungen „eng verbunden“ sind, enthält. Deshalb umfasst Art. 132 Abs. 1 Buchst. c MwStSystRL auch grundsätzlich keine mit ärztlichen Heilbehandlungen eng verbundene Umsätze104. Mit dem Vorlagebeschluss des BFH vom 15.5.2012 – V R 19/11105 war die Hoffnung verbunden, dass der EuGH zu einigen interessanten Fragen im Zusammenhang mit „eng verbundenen Umsätzen“ Stellung nehmen würde. So hatte der BFH gefragt, ȤȤ ob es sich bei einem eng verbundenen Umsatz um eine Dienstleistung handeln muss oder ob auch eine Lieferung in Betracht kommt, ȤȤ ob ein mit einer Krankenhausbehandlung oder ärztlichen Heilbehandlung eng verbundener Umsatz nur vorliegt, wenn dieser Umsatz durch denselben Steuerpflichtigen erbracht wird, der auch die Krankenhausbehandlung oder ärztliche Heilbehandlung erbringt, ȤȤ ob ein eng verbundener Umsatz auch dann vorliegt, wenn die Heilbehandlung nicht nach Art. 132 Abs. 1 Buchst. b, sondern nach Buchst. c dieser Bestimmung steuerfrei ist. Der Erkenntnisgewinn aus dem EuGH-Urteil vom 13.3.2014 – C-366/12, Klinikum Dortmund106 war indessen nur gering. Der EuGH weist darin darauf hin, dass Art. 132 Abs. 1 Buchst. b und c MwStSystRL zwar unterschiedliche Anwendungsbereiche haben, sie aber dennoch eine abschließende Regelung der Steuerbefreiungen für Leistungen der Heilbehandlung im engeren Sinne bezwecken. Gleichwohl umfasst Art. 132 Abs. 1 Buchst. c MwStSystRL (Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. c 6. EG-RL) grds. keine mit ärztlichen Heilbehandlungen eng verbundene Umsätze, so dass eine Lieferung von Arzneimitteln und anderen Gegenständen nicht unter die Steuerbefreiung fällt107. Etwas anderes gilt nur im Falle eines therapeutischen Kontinuums, das der 102 BFH, Urt. v. 18.3.2004 – V R 53/00, BFHE 204, 503 = BStBl. II 2004, 677 = UR 2004, 421. 103 BVerfG, Beschl. v. 31.5.2007 – 1 BvR 1316/04, UR 2007, 737. 104 EuGH, Urt. v. 13.3.2014  – C-366/12, Klinikum Dortmund, ECLI:EU:C:2014:143, UR 2014, 271; BFH, Urt. v. 18.3.2015 – XI R 15/11, BFHE 249, 359 = BStBl. II 2015, 1058 = UR 2015, 542. 105 BFH v. 15.5.2012 – V R 19/11, BFHE 237, 525 = UR 2012, 756. 106 EU:C:2014:143, UR 2014, 271. 107 EuGH, Urt. v. 13.3.2014 – C-366/12, Klinikum Dortmund, EU:C:2014:143, UR 2014, 271.

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Heilbehandlungen im Bereich der Humanmedizin

EuGH für gegeben hält, wenn die Abgabe der Arzneimittel in tatsächlicher und in wirtschaftlicher Hinsicht mit der Erbringung der ärztlichen Heilbehandlung untrennbar verbunden ist.

VI. Fazit Die Dynamik, die die Rechtsprechung beim Nachweis der beruflichen Qualifikation durch die Kostentragung seitens der Sozialversicherungsträger entwickelt hat, indem immer neue sozialrechtliche Aspekte in die Betrachtung einbezogen worden sind, dürfte im Wesentlichen ihren Abschluss gefunden haben. Aber gerade das EuGH-Urteil Klinikum Dortmund mit der Kreation eines „therapeutischen Kontinuums“ belegt, dass im Recht der Heilbehandlungen nach wie vor mit Überraschungen zu rechnen ist. Deshalb ist die These, dass das Medizinrecht im Umsatzsteuerrecht auch in Zukunft in Bewegung bleiben wird, nicht allzu gewagt.

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Jörg Kraeusel

Die Bedeutung des Unionsrechts für die Steuersatzermäßigung des § 12 Abs. 2 UStG Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Rechtsgrundlagen im nationalen Recht 1. Steuersätze 2. Anwendungsbereich des ermäßigten Steuersatzes von 7 % a) Lieferung, Einfuhr und innergemeinschaftlicher Erwerb der in der ­Anlage 2 bezeichneten Gegenstände (Abs. 2 Nr. 1) b) Vermietung der in der Anlage 2 bezeichneten Gegenstände (Abs. 2 Nr. 2) c) Umsätze der Vieh- und Pflanzenzucht (Abs. 2 Nr. 3) d) Umsätze aus der Vatertierhaltung, der Förderung der Tierzucht, der künstlichen Tierbesamung oder der Leistungs- und Qualitätsprüfung in der Tierzucht und in der Milchwirtschaft (Abs. 2 Nr. 4) e) Leistungen der Zahntechniker und Zahnärzte (Abs. 2 Nr. 6) f) Leistungen der Theater, Konzerte und Museen sowie der ausübenden Künstler usw. (Abs. 2 Nr. 7 Buchst. a) g) Überlassung von Filmen zur Auswertung und Vorführung sowie bestimmte Filmvorführungen (Abs. 2 Nr. 7 Buchst. b) h) Einräumung, Übertragung und ­Wahrnehmung von Rechten, die sich aus dem Urheberrechtsgesetz ergeben (Abs. 2 Nr. 7 Buchst. c) i) Zirkusvorführungen, Leistungen aus der Tätigkeit als Schausteller sowie unmittelbar mit dem Betrieb der ­zoologischen Gärten verbundenen Umsätze (Abs. 2 Nr. 7 Buchst. d) j) Leistungen der gemeinnützigen ­Körperschaften (Abs. 2 Nr. 8)

k) Umsätze aus dem Betrieb von Schwimmbädern, der Verabreichung von Heilbädern und der Bereitstellung von Kureinrichtungen (Abs. 2 Nr. 9) l) Personenbeförderungen im Kurz­ streckenverkehr (Abs. 2 Nr. 10) m) Beherbergungsleistungen und ­Überlassung von Campingflächen (Abs. 2 Nr. 11) n) Einfuhr von Briefmarken, Kunst­ gegenständen und Sammlungsstücken (Abs. 2 Nr. 12) o) Lieferungen und innergemeinschaft­ licher Erwerb bestimmter Kunst­ gegenstände (Abs. 2 Nr. 13) III. Europarechtliche Vorgaben im Unionsrecht 1. Unterscheidung zwischen Primär-, ­Sekundär- und Tertiärrecht a) Primärrecht b) Ungeschriebenes Europarecht c) Sekundärrecht d) Tertiärrecht 2. MwStSystRL als Sekundärrecht a) Allgemeines b) Grundsätze der Umsetzung in nationales Recht c) Regelungen der MwStSystRL zu den ermäßigten Steuersätzen d) Umsetzung des ermäßigten Steuer­ satzes in nationales Recht auf der Grundlage der in Anhang III genannten Kategorien e) Beachtung von unionsrechtlichen Auslegungsgrundsätzen f) Anwendungsvorrang des Unionsrechts beim ermäßigten Steuersatz g) Anwendungsvorrang des nationalen Rechts beim ermäßigten Steuersatz

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Jörg Kraeusel h) Abgrenzung der Kategorien des ­Anhangs III zur MwStSystRL nach der  kombinierten Nomenklatur (Art. 98 Abs. 3 MwStSystRL) 3. Bedeutung des primären Unionsrechts bei der Anwendung von ermäßigten Steuersätzen a) Grundsätzliches zum Primär- und ­Sekundärrecht b) Bedeutung der Grundfreiheiten c) Bedeutung der Grundrechte-Charta (GrCh)

d) Beachtung der Grundsätze der Rechtssicherheit, der Verhältnis­ mäßigkeit und des Vertrauensschutzes IV. Begrenzung des Einflusses des Unionsrechts durch nationales Verfassungsrecht 1. Kompetenzabgrenzung zwischen ­Bundesverfassungsgericht und EuGH 2. Durchsetzung der Vorlageverpflichtung der nationalen Gerichte vor dem Bundesverfassungsgericht V. Fazit

I. Einleitung Bei der Anwendung des ermäßigten Steuersatzes gilt es, die Tücken des nationalen Rechts und des Unionsrecht nicht in Betracht zu ziehen. In welchem Beziehungsgeflecht die beiden Rechtsquellen zu einander stehen, und worauf der Rechtsanwender dabei achten soll und muss, ist Gegenstand des nachfolgenden Beitrags. Der Beitrag soll verdeutlichen, dass verlässliche Normbefehle häufig Mangelware sind. Grund hierfür ist zunächst die unionsrechtliche Harmonisierung in Form von Richtlinien (auch als sekundäres Unionsrecht bezeichnet), die der nationale Gesetzgeber umzusetzen und die Rechtsprechung und Verwaltung bei der Auslegung des nationalen Rechts zu beachten haben. Als wäre das nicht schon genug, muss aber auch das primäre Unionsrecht, sei es geschriebener und (oder) nicht geschriebener Form, in Betracht gezogen werden. Der Beitrag soll deutlich machen, wie weit der Einfluss des primären und sekundären Unionsrechts die unmittelbare Anwendung des § 12 Abs. 2 UStG beeinflusst und wie sich der Vorrang des Unionsrechts in der Rechtsprechung von EuGH und BFH manifestiert. Soweit bei der Auslegung von § 12 Abs. 2 UStG Umsetzungsdefizite und Unklarheiten auftreten, sind diese nach Maßgabe des im Regelfall bindenden Unionsrechts unter Beachtung des dem EuGH im Bereich des Unionsrechts zukommenden Auslegungsmonopols auszuräumen. Im nachfolgenden Beitrag werden zunächst kurz die nationalen und unionsrechtlichen Rechtsgrundlagen für die Anwendung des ermäßigten Steuersatzes dargestellt, bevor dann auf die Auslegungsgrundsätze eingegangen wird, die bei der Anwendung des §  12 Abs.  2 UStG zu beachten sind und die u.U. sogar zu einer unmittelbaren Anwendung des Unionsrechts führen können, obwohl die unionsrechtliche Ermächtigung zur Einführung ermäßigter Steuersätze den Mitgliedstaaten die Freiheit lässt, von der Ermächtigung überhaupt nicht oder nur fakultativ Gebrauch zu machen.

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Die Bedeutung des Unionsrechts für die Steuersatzermäßigung

II. Rechtsgrundlagen im nationalen Recht 1. Steuersätze § 12 UStG regelt abschließend die Höhe des Steuersatzes für jeden einzelnen Umsatz. Grundsätzlich gilt ein allgemeiner Steuersatz (Normalsatz) von 19 % (§  12 Abs.  1 UStG) und ein ermäßigter Steuersatz von 7 % (§ 12 Abs. 2 UStG)1. Der allgemeine Steuersatz kommt nach der Systematik des Gesetzes dann zur Anwendung, wenn ȤȤ ein Unternehmer einen steuerbaren Umsatz ausführt, ȤȤ der nicht unter eine der Befreiungsvorschriften gem. §§ 4, 5 UStG fällt, ȤȤ für den nicht der ermäßigte Steuersatz gem. § 12 Abs. 2 UStG gilt und ȤȤ für den keine Besteuerung insbesondere nach Durchschnittssätzen (vgl. § 23a, § 24 UStG) zur Anwendung kommt. Der ermäßigte Steuersatz von 7 % kommt nur in Betracht, wenn die Voraussetzungen des § 12 Abs. 2 Nr. 1 bis 13 UStG erfüllt sind. Anzuwenden ist jeweils der Steuersatz, der in dem Zeitpunkt gilt, zu dem der Umsatz ausgeführt wird (§  27 Abs.  1 UStG). Ändert sich also die Höhe der maßgeblichen Steuersätze, dann sind die neuen Steuersätze erstmals auf Umsätze anzuwenden, die vom Inkrafttreten der jeweiligen Änderungsvorschrift an bewirkt werden. Auf den Zeitpunkt der Vereinnahmung des Entgelts kommt es für die Frage, welchem Steuersatz eine Leistung oder Teilleistung unterliegt, ebenso wenig an wie auf den Zeitpunkt der Rechnungserteilung. 2. Anwendungsbereich des ermäßigten Steuersatzes von 7 % a) Lieferung, Einfuhr und innergemeinschaftlicher Erwerb der in der Anlage 2 bezeichneten Gegenstände (Abs. 2 Nr. 1) § 12 Abs. 2 Nr. 1 UStG begünstigt die Lieferung, die Einfuhr und den innergemeinschaftlichen Erwerb der in der Anlage 2 des UStG genannten Gegenstände. Die einer Lieferung gleichgestellte unentgeltliche Abgabe von Gegenständen zu nichtunternehmerischen Zwecken (§ 3 Abs. 1b UStG) fällt ebenfalls unter die Begünstigung. Die in der Anlage 2 aufgeführten Gegenstände lassen sich grob wie folgt gruppieren: ȤȤ Lebensmittel, auch Zubereitungen (vgl. Anlage 2 Nr. 28, 31-33 UStG), mit Ausnahme einiger Nahrungsmittel des „gehobenen“ Bedarfs (vgl. Anlage 2 Nr. 3 und 28 UStG: Langusten, Hummer, Austern und Schnecken, Kaviar); von den Getränken 1 Zur Entstehungsgeschichte der Steuersätze im UStG s. Husmann in: Rau/Dürrwächter, UStG, 158. Lieferung 4.2014, § 12 Abs. 2 Nr. 1 und 2 UStG, Rz. 30 ff.

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sind nur Wasser, Milch und Milchmischgetränke begünstigt (Anlage 2 Nr. 4, 34 und 35 UStG); zu den Abgrenzungsfragen bei der Abgabe von Speisen und Getränken s. III.2.e)ee). ȤȤ lebende Tiere, land- und forstwirtschaftliche Erzeugnisse, Futter- und Düngemittel; zur restriktiven (engen) Auslegung bei der Lieferung von Pferden s. unten III.2.e)gg). Zum Anwendungsvorrang des Unionrechts in Bezug auf die unionsrechtswidrige Begünstigung der Lieferung von Reitpferden s. unten unter III.2.g). ȤȤ Gegenstände des Buch- und Zeitschriftenhandels und Erzeugnisse des graphischen Gewerbes u.Ä. (bis 31.12.2013 auch Kunstgegenstände und Sammlungsstücke; diese fallen nunmehr unter § 12 Abs. 2 Nr. 12 und 13 UStG); zur selektiven Anwendung der Ermächtigung des Unionsrechts in Bezug auf Hörbücher s. unten III.2.d) cc) und zur restriktiven engen Auslegung III.2.e)gg). Bei der Auslegung des Begriffs der Annoncen-Zeitungen hat der BFH Auslegungsgrundsätze des EuGH zum Zolltarif angewandt (vgl. unten unter III.2.h)aa)). ȤȤ orthopädische Hilfsmittel. Die Gegenstände („Waren“) sind in der Anlage 2 zum UStG mit Bezugnahme auf den Zolltarif aufgeführt. Zu den unionsrechtlichen Auslegungsgrundsätzen s. III.2.h. Zu den unionsrechtlichen Auslegungsgrundsätzen bei der Beurteilung von zusammenhängende Leistungen s. unten III.2.e)dd). Die Begünstigung für Lebensmittel erfolgte insbesondere aus sozialpolitischen Gründen. Sie gehören zu den lebensnotwendigen Verbrauchsgütern. Die Steuerermäßigung entlastet deshalb vor allem kleine und mittlere Einkommen. Neben den als Lebensmittel begünstigten landwirtschaftlichen Erzeugnissen werden auch Zierpflanzen, Grünfutter, Tabakpflanzen, Stalldünger, Wolle und Holz u.a.m. begünstigt. Ausgenommen sind lediglich die in der Landwirtschaft erzeugten Getränke, wie Wein, Traubenmost, Obst- und Gemüsesäfte. Mit Wirkung vom 1.1.1997 wurde durch das Umsatzsteuer-Änderungsgesetz 1997 vom 12.12.19962 die Begünstigung für eine Reihe von land- und forstwirtschaftlichen Gegenständen (rohe Bettfedern, Daunen, Hopfen und Hopfenmehl, bestimmte Korbweiden, Schilfe und Binsen, rohes Bienenwachs, Abfälle von Tabakpflanzen und -blättern, bestimmte Holzwaren, rohe Wolle) gestrichen. Diese Streichung beruhte auf der Richtlinie 96/42/EG von 25.6.19963 nach der ein ermäßigter Steuersatz EU-einheitlich nur noch für bestimmte land- und forstwirtschaftliche Erzeugnisse (lebende Pflanzen und sonstige Erzeugnisse des Pflanzenanbaus einschließlich Schnittblumen sowie für Brennholz) gewährt werden darf. Die Steuerermäßigung für Krankenfahrstühle und Körperersatzstücke dient vor allem gesundheits- und sozialpolitischen Gründen. Sie ist im Zusammenhang mit den üb2 UStÄndG 1997 v. 12.12.1996, BGBl. I 1996, 1851 = BStBl. I 1996, 1560. 3 Richtlinie 96/42/EG v. 25.6.1996, ABl.EG 1996 Nr. L 170, 34.

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Die Bedeutung des Unionsrechts für die Steuersatzermäßigung

rigen umsatzsteuerlichen Vergünstigungen im Gesundheitsbereich zu sehen, wie die Befreiung der Heilberufe, Krankenhäuser und Sozialversicherungsträger. Die Ermäßigung beschränkt sich aber nicht auf die Leistungen an die Sozialversicherungsträger, sondern kommt aus Gründen der steuerlichen Gleichbehandlung allen Abnehmern zugute. Begünstigt sind alle Prothesen, orthopädischen Apparate und Vorrichtungen für Menschen, ebenso zahntechnische Erzeugnisse wie Zahnprothesen. Für die Begünstigung von Druckerzeugnissen (sowie seit 1.1.2015 einschließlich Hörbüchern) sowie von Kunstgegenständen und Sammlungsstücken sind kultur- und bildungspolitische Gründe maßgebend. Nicht begünstigt sind jugendgefährdende Schriften, ab 1.1.1994 unabhängig davon, ob sie indiziert sind oder nicht. Auch für Werbedrucke gilt der ermäßigte Steuersatz nicht. Ausgenommen von der Begünstigung bleiben Lebensmittel, soweit sie zum Verzehr an Ort und Stelle geliefert werden. Damit sind weiterhin nur die Umsätze des Lebensmittelhandels, nicht aber die Umsätze im Gastgewerbe begünstigt. Darüber hinaus sind auch bestimmte „Luxusnahrungsmittel” wie Hummer, Austern und Kaviar sowie mit Ausnahme von Wasser, Milch und Milchmischgetränken alle Getränke von der Steuerermäßigung ausgeschlossen. Besteht der Gegenstand der Lieferung aus einer Zusammenstellung von Waren, die isoliert gesehen verschiedenen Steuersätzen unterlägen, so ist grundsätzlich eine getrennte Betrachtung vorzunehmen (Beispiel: Kombination von Süßigkeiten und Spielzeug in einer Packung). Der Pauschalpreis ist grundsätzlich nach Maßgabe der Einzelverkaufspreise aufzuteilen. Sind die Waren hingegen als Einheit bzw. untrennbares Ganzes zu sehen (Beispiele: Schokoladenüberraschungsei; Spaghetti-Zutaten bestehend aus einer Tüte ungekochtem Spaghetti, einer Tüte geriebenem Parmesan und einer Dose Tomatensoße), so kommt es auf den charakterbestimmenden Bestandteil an. Entsprechendes gilt bei Zugaben, die nur Kaufanreize darstellen (Beispiel: Zeitschrift mit beigefügter DVD, oder bei Warenumschließungen, die keinen dauernden selbständigen Gebrauchswert haben (Beispiele: Mit Süßigkeiten gefüllte Weihnachtsmannstiefel oder Osternester). Anders liegt es bei der Lieferung eines Druckerzeugnisses in Verbindung mit dem Zugang zu elektronischen Diensten als sonstige Leistung4. b) Vermietung der in der Anlage 2 bezeichneten Gegenstände (Abs. 2 Nr. 2) § 12 Abs. 2 Nr. 2 UStG begünstigt die Vermietung der in der Anlage 2 des UStG bezeichneten Gegenstände mit Ausnahme der in Nr. 49 Buchst. f der Anlage 2 des UStG genannten Briefmarken einschließlich Sammlerbriefmarken sowie die in den Nummern 53 und 54 der Anlage 2 des UStG genannten Kunstgegenstände und Sammlungsstücke. Sie hat nur Bedeutung für die Gegenstände, die als Gebrauchsgüter in Betracht kommen. Die Vermietung ist gleichzeitig die einzige sonstige Leistung, bei 4 Näheres s. Stadie in: Stadie, Umsatzsteuergesetz, § 12 UStG Rz. 20 m.w.N. sowie Kraeusel in: Reiß/Kraeusel/Langer, § 12 UStG Rz. 390 ff.; Husmann (Fn. 1), § 12 Abs. 2 Nr. 1 und 2 UStG Rz. 46 ff.

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der in der Anlage 2 des UStG genannte Gegenstände begünstigt sind. Alle anderen sonstigen Leistungen im Zusammenhang mit diesen Gegenständen, insbesondere Werkleistungen, sind vom Gesetzgeber nicht in die Steuerermäßigung mit einbezogen worden.5 c) Umsätze der Vieh- und Pflanzenzucht (Abs. 2 Nr. 3) § 12 Abs. 2 Nr. 3 UStG begünstigt die Umsätze aus der Aufzucht und dem Halten von landwirtschaftlichen Nutztieren, aus der Anzucht von Pflanzen (sonstige Leistung) und der Teilnahme an Leistungsprüfungen für Tiere. Die Steuerermäßigung kommt für alle Unternehmer in Betracht, die nicht § 24 UStG anwenden. Die Pferdepensionshaltung unterliegt i.d.R. dem allgemeinen Steuersatz, es sei denn, es kommt §  12 Abs. 2 Nr. 8 Buchst. a UStG zur Anwendung oder es handelt sich um Pensionsleistungen bei Arbeits- bzw. Zuchtpferden.6 Zur restriktiven engen Auslegung dieser Vorschrift s. unten III.2.e)gg). d) Umsätze aus der Vatertierhaltung, der Förderung der Tierzucht, der künstlichen Tierbesamung oder der Leistungs- und Qualitätsprüfung in der Tierzucht und in der Milchwirtschaft (Abs. 2 Nr. 4) § 12 Abs. 2 Nr. 4 UStG begünstigt Leistungen, die der Vatertierhaltung dienen, insbesondere Deckgelder oder Umlagen und Zuschüsse. Als Leistungen, die unmittelbar der Förderung der Tierzucht dienen, gelten z.B. Gebühren für Eintragungen in Zuchtbücher, für die Zuchtwertschätzung von Zuchttieren oder für die Ausstellung und Überprüfung von Abstammungsnachweisen usw. Vor allem die Leistungen der Be­ samungsgenossenschaften, Besamungstechniker und Tierärzte aus der künstlichen Tierbesamung sind begünstigt. Als Leistungen, die der Leistungs- und Qualitätsprüfung unterliegen, sind u.a. die Milchqualitätsprüfungen, Milchleistungsprüfungen oder Eierleistungsprüfungen anzusehen. Die Steuerermäßigung kann von allen Unternehmern in Anspruch genommen werden, die Umsätze dieser Art ausführen.7 Zur restriktiven engen Auslegung dieser Vorschrift s. unten III.2.e)gg). e) Leistungen der Zahntechniker und Zahnärzte (Abs. 2 Nr. 6) Die Steuerermäßigung begünstigt sonstige Leistungen der Zahntechniker und Zahnärzte (entgeltliche und unentgeltliche) sowie die Lieferungen von Zahnersatz durch Zahntechniker, außerdem bestimmte entgeltliche Umsätze der Zahnärzte, die in § 4 Nr. 14 Buchst. a Satz 2 UStG bezeichnet sind. Begünstigt sind vor allem die Prothetik­ umsätze (Lieferung der Wiederherstellung von Zahnprothesen und kieferorthopädi-

5 Näheres s. Kraeusel (Fn. 4) Rz. 567 ff. sowie Husmann (Fn. 1), § 12 Abs. 2 Nr. 1 und 2 UStG Rz. 201 ff. 6 Näheres s. Kraeusel (Fn. 4), Rz. 390 ff. 7 Näheres s. Kraeusel (Fn. 4), Rz. 178 ff.

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Die Bedeutung des Unionsrechts für die Steuersatzermäßigung

schen Apparaten) unabhängig davon, ob sie von Zahnärzten oder von Zahntechnikern ausgeführt werden.8 f) Leistungen der Theater, Konzerte und Museen sowie der ausübenden Künstler usw. (Abs. 2 Nr. 7 Buchst. a) § 12 Abs. 2 Nr. 7 Buchst. a UStG begünstigt die Eintrittsberechtigungen für Konzerte, Orchester oder Kammermusikensembles. Begünstigt sind sowohl Konzertveranstalter und Ticket-Händler als auch ausübende Künstler. Zu den ausübenden Künstlern zählen auch Solisten. Die Leistungen der Regisseure, Bühnenbildner, Tontechniker, Beleuchter, Maskenbildner, Souffleusen, Cutter oder Kameraleute unterliegen hingegen dem allgemeinen Steuersatz. Zur insoweit gebotenen restriktiven engen Auslegung dieser Vorschrift s. unten III.2.e)gg).Das gilt auch für die Leistungen der Gastspieldirektionen, welche im eigenen Namen Künstler verpflichten und im Anschluss daran das von diesen dargebotene Programm an einen Veranstalter in einem gesonderten Vertrag verkaufen. Werden bei Theatervorführungen und Konzerten mehrere Veranstalter tätig, kann nur der Veranstalter die Steuerermäßigung in Anspruch nehmen, der die Eintrittsberechtigung verschafft. Die Veranstalter und ausübenden Künstler unterliegen mit ihren Leistungen dem ermäßigten Steuersatz, soweit nicht die Steuerbefreiung nach § 4 Nr. 20 UStG eingreift. § 4 Nr. 20 UStG betrifft Einrichtungen, die von Gebietskörperschaften betrieben werden und vergleichbare Einrichtungen.9 Solisten dürfen nicht vom Anwendungsbereich des § 12 Abs. 2 Nr. 7 Buchst. a UStG ausgenommen werden. Dies gebietet der Grundsatz der Neutralität (s. unten unter III.2.f)). Zur selektiven Anwendung der Ermächtigung des Unionsrechts s. unten III.2.d)bb). g) Überlassung von Filmen zur Auswertung und Vorführung sowie bestimmte Filmvorführungen (Abs. 2 Nr. 7 Buchst. b) Bei der Überlassung von Filmen zur Auswertung und Vorführung sowie bei Filmvorführungen handelt es sich um Umsätze, die zugleich auch unter §  12 Abs.  2 Nr.  7 Buchst. c UStG fallen können. Auch mit Filmen bespielte Videokassetten, DVDs und Blu-ray Discs sind als Filme i.S.d. § 12 Abs. 2 Nr. 7 Buchst. b UStG anzusehen.

8 Zu den Möglichkeiten des Unionsrechts, statt einer Steuerbefreiung der Prothetikumsätze einen ermäßigten Steuersatz vorzusehen, s. Nieskens in: Rau/Dürrwächter, UStG, 171. Lieferung 3.2017, § 12 Abs. 2 Nr. 6 UStG, Rz. 21 sowie Kraeusel (Fn. 4), Rz. 193 ff. 9 Näheres s. Kraeusel (Fn. 4), Rz. 198 ff sowie Stadie in: Stadie, Umsatzsteuergesetz, § 12 UStG Rz. 39 ff.

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Das Senden von Spielfilmen durch private Fernsehunternehmen oder Hotelbesitzer, z.B. im Rahmen des Pay-TV (Abruf-Fernsehen), ist nicht begünstigt, ebenso wenig die Vorführung eines oder mehrerer Filme oder Filmausschnitte in Einzelkabinen in Erotikläden. Zur restriktiven engen Auslegung dieser Vorschrift s. unten III.2.e)gg). Die Entgelte für Filmvorführungen sind nur begünstigt, wenn die Filme als nicht jugendgefährdend gekennzeichnet sind. Sie müssen für Jugendliche unter 18 Jahren freigegeben sein. Dies gilt nicht für vor dem 1.1.1970 erstaufgeführte Filme. 10 h) Einräumung, Übertragung und Wahrnehmung von Rechten, die sich aus dem Urheberrechtsgesetz ergeben (Abs. 2 Nr. 7 Buchst. c) § 12 Abs. 2 Nr. 7 Buchst. c UStG begünstigt die Einräumung, Übertragung und Wahrnehmung von Rechten nach dem UrhG, also sonstige Leistungen. Die Tatsache, dass der Urheber i.d.R. geschützte Werke herstellt (z.B. Künstler ist), reicht allerdings nicht aus. Begünstigt sind auch die Darbietungen ausübender Künstler und die Um­ sätze  der  Verwertungsgesellschaften, die Nutzungsrechte, Einwilligungsrechte oder ­Vergütungsansprüche aus dem UrhG wahrnehmen. Begünstigt sind z.B. die einem Musikproduzenten zufließenden Anteile am Reinertrag der GEMA-Verwertungsgesellschaft. Auch Leistungen selbständig tätiger Bühnen- und Kostümbildner können je nach Sachlage unter die Voraussetzungen des § 12 Abs. 2 Nr. 7 Buchst. c UStG fallen. Nicht begünstigt sind Leistungen, die mit der Ausführung und Auswertung demo­ skopischer Erhebungen zusammenhängen. Auch die bloße Überlassung von Software ist in der Regel nicht begünstigt. Urheber nach dem UrhG ist der Schöpfer des Werks, begünstigt ist die persönliche geistige Schöpfung. Es kann sich um Werke der Literatur, Wissenschaft oder der Kunst handeln, also um Sprachwerke, Musikwerke oder Werke der ausübenden Kunst (z.B. Tanzwerke), Werke der bildenden Kunst, der Baukunst, Lichtbildwerke, Filmwerke usw. Das ausschließliche Verwertungsrecht, um dessen begünstigter Übertragung es hier geht, steht dem Urheber zu. Die Übertragung umfasst das Vervielfältigungsrecht, das Verbreitungsrecht und das Ausstellungsrecht.11 i) Zirkusvorführungen, Leistungen aus der Tätigkeit als Schausteller sowie unmittelbar mit dem Betrieb der zoologischen Gärten verbundenen Umsätze (Abs. 2 Nr. 7 Buchst. d) Die Begünstigung steht in engem Zusammenhang mit der Befreiungsvorschrift des § 4 Nr. 20 Buchst. a UStG und greift nur dann ein, wenn die fraglichen Leistungen nicht unter § 4 Nr. 20 Buchst. a UStG fallen. Die Leistungen der Schausteller sind in § 30 UStDV geregelt. Die Leistungen umfassen neben Schaustellungen auch Musik­ 10 Näheres s. Kraeusel (Fn. 4), Rz. 212 ff. 11 Näheres s. Kraeusel (Fn. 4), Rz. 229 ff. sowie Stadie (Fn. 9), Rz. 49 ff.

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aufführungen, unterhaltende Vorstellungen oder sonstige Lustbarkeiten auf Jahrmärkten, Volksfesten, Schützenfesten oder ähnlichen Veranstaltungen. Auch Eintrittsgelder, die eine Gemeinde von Besuchern eines von ihr veranstalteten Dorffestes für von ihr organisierte „Schaustellungen, Musikaufführungen, unterhaltende Vorstellungen oder sonstige Lustbarkeiten” verlangt, unterliegen dem ermäßigten Steuersatz. Schausteller zeichnen sich dadurch aus, dass sie von Ort zu Ort ziehen. Deshalb sind nur „fahrenden“ Schausteller begünstigt. Dabei reicht es aus, wenn sie ihre Leistungen im eigenen Namen mit Hilfe ihrer Arbeitnehmer oder sonstigen Erfüllungsgehilfen (z.B. engagierte Schaustellergruppen) an die Besucher dieser Veranstaltungen ausführen. Die begünstigten Leistungen der zoologischen Gärten umfassen vor allem die Um­ sätze gegen Zahlung der Eintrittsgelder einschließlich etwaiger Nebenleistungen. Hilfsumsätze sind nicht begünstigt. Als zoologische Gärten gelten auch Aquarien und Terrarien, nicht aber die Tierparks.12 Zur restriktiven engen Auslegung dieser Vorschrift s. unten III.2.e)gg). j) Leistungen der gemeinnützigen Körperschaften (Abs. 2 Nr. 8) Ausschließlich nach §§ 51 ff. AO begünstigte Körperschaften fallen unter die Begünstigung des § 12 Abs. 2 Nr. 8 UStG. Dabei müssen alle Voraussetzungen der Gemeinnützigkeit i.S.d. §§ 51–68 AO erfüllt sein. Die Leistungen der Körperschaften müssen ausschließlich und unmittelbar gemeinnützige, mildtätige oder kirchliche Zwecke verfolgen. Dies bestimmt sich nach den maßgeblichen Vorschriften der AO. Die Tätigkeit muss außerdem selbstlos sein. Vorrangig ist allerdings zu prüfen, ob nicht eine Steuerbefreiung eingreift (vgl. z.B. § 4 Nr. 16, 17 Buchst. b, 18, 21, 22, 23, 24, 25, 27 UStG). Werden Leistungen im Rahmen eines wirtschaftlichen Geschäftsbetriebes erbracht (vgl. § 14 AO), so entfällt die Steuerermäßigung. Dies gilt allerdings nicht, wenn es sich um einen Zweckbetrieb i.S.d. §§ 65–68 AO handelt. In diesem Fall setzt die Begünstigung aber voraus, dass der Zweckbetrieb nicht in erster Linie der Erzielung zusätzlicher Einnahmen durch die Ausführung von Umsätzen dient, die in unmittelbarem Wettbewerb mit dem allgemeinen Steuersatz unterliegenden Leistungen anderer Unternehmer ausgeführt werden, oder wenn die Körperschaft mit diesen Leistungen ihrer in den §§ 66 bis 68 AO bezeichneten Zweckbetriebe ihre steuerbegünstigten satzungsgemäßen Zwecke selbst verwirklicht. § 12 Abs. 2 Nr. 8 Buchst. a ist teilweise unionrechtswidrig. Zur restriktiven engen Auslegung dieser Vorschrift durch den BFH s. unten III.2.e)gg).

12 Näheres s. Kraeusel (Fn. 4), Rz. 273.26 ff.

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Unter den Zweckbetrieb fallen z.B. Werkstätten für Behinderte. Die Begünstigung gilt auch für Zusammenschlüsse steuerbegünstigter Einrichtungen (§  12 Abs.  2 Nr.  8 Buchst. b UStG).13 k) Umsätze aus dem Betrieb von Schwimmbädern, der Verabreichung von Heilbädern und der Bereitstellung von Kureinrichtungen (Abs. 2 Nr. 9) Der ermäßigte Steuersatz kommt nur in Betracht, wenn das Schwimmbad dazu bestimmt und geeignet ist, eine Gelegenheit zum Schwimmen zu bieten, es muss also mit seiner Wassertiefe und Größe eine sportliche Betätigung ermöglichen. Unter Schwimmbädern sind dabei Freibäder, Hallenbäder oder Lehrschwimmbäder zu verstehen. Auch ein konzessionierter Seebadestrand einer Kurverwaltung kann ein Schwimmbad sein. Die Umsätze müssen unmittelbar sein. Begünstigt sind die mit dem Betrieb verbunden Leistungen, die gegen Eintrittsentgelt erbracht werden, einschließlich der ergänzenden Nebenleistungen. Weiterhin ist begünstigt die Verabreichung von Heilbädern, soweit sie der Behandlung einer Krankheit oder einer anderen Gesundheitsstörung und damit dem Schutz der menschlichen Gesundheit dienen. Davon ist auszugehen, wenn das Heilbad im Einzelfall als Heilmittel verordnungsfähig ist, das gilt z.B. bei Peloidbädern und -packungen, Inhalationen, Elektrotherapie, Heilmassage, Heilgymnastik und Unterwasserdruckstrahl-Massagen. Nicht begünstigt ist die Nutzung von Saunen, das Schwimmen in Thermal- und Warmwasserbädern (soweit nicht die Ermäßigung für Schwimmbäder eingreift), das Body-­ Building oder das Fitness-Training, ebenso wenig wie Fußreflexzonenmassagen, Akupunkturmassagen, Ganzkörpermassagen, Teil- und Wannenbäder, soweit sie nicht nach den Vorgaben des Heilmittelkataloges verordnungsfähig sind. Die Überlassung von Kureinrichtungen gegen Kurtaxe ist ebenfalls begünstig. Es handelt sich hier um eine einheitliche Gesamtleistung. Zu den Kurtaxen zählen auch Kurbeiträge und Fremdenverkehrsbeiträge oder Kurabgaben. Nicht begünstigt sind besondere Einzelleistungen, für die ein gesondertes Entgelt entrichtet wird.14 l) Personenbeförderungen im Kurzstreckenverkehr (Abs. 2 Nr. 10) Personenbeförderungsleistungen sind nur dann begünstigt, wenn ȤȤ sie innerhalb einer Gemeinde durchgeführt werden oder die Beförderungsstrecke nicht mehr als 50 km beträgt und ȤȤ die Beförderung im Schienenbahnverkehr, im Verkehr mit Oberleitungsomnibussen, im genehmigten Linienverkehr mit Kraftfahrzeugen, im Linienverkehr mit

13 Näheres s. Kraeusel (Fn. 4), Rz. 285 ff. 14 Näheres s. Kraeusel (Fn. 4), Rz. 333 ff.

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Die Bedeutung des Unionsrechts für die Steuersatzermäßigung

Schiffen, im Fährverkehr, mit Taxen oder mit Drahtseilbahnen bzw. mechanischen Aufstiegshilfen aller Art durchgeführt wird. Hervorzuheben ist, dass nur die Personenbeförderungen mit Taxen dem ermäßigten Steuersatz unterliegen, nicht dagegen die Personenbeförderungen mit Mietwagen. Zur restriktiven engen Auslegung dieser Vorschrift s. unten III.2.e)gg). Auch Personenbeförderungen mit Drahtseilbahnen und sonstigen mechanischen Aufstiegshilfen aller Art sind nur begünstigt, wenn sie innerhalb einer Gemeinde durchgeführt werden oder wenn die Beförderungsstrecke nicht mehr als 50 km beträgt. Deshalb sind Skilifte in Skihallen oder für Schlittenbahnen nicht begünstigt. Zur selektiven Anwendung der Ermächtigung des Unionsrechts s. unten III.2.d)bb). Die Mitnahme von Gepäck, ist nur begünstigt, wenn es sich um eine unselbständige Nebenleistung handelt. Im Fährverkehr ist dagegen auch die Beförderung von Gegenständen begünstigt, die als eigenständige Leistung anzusehen ist.15 m) Beherbergungsleistungen und Überlassung von Campingflächen (Abs. 2 Nr. 11) § 12 Abs. 2 Nr. 11 UStG begünstigt die klassischen Beherbergungsleistungen in Pen­ sionen, Fremdenzimmern und vergleichbaren Einrichtungen, also z.B. auch die Überlassung von Ferienwohnungen und schließt dabei alle Leistungen aus, die nicht un­ mittelbar der Vermietung dienen. Begünstigt sind nur Leistungen zur kurzfristigen Beherbergung. Zur selektiven Anwendung der Ermächtigung des Unionsrechts in Bezug auf Beherbergungsleistungen s. unten III.2.d) cc) und zur gebotenen engen Auslegung III.2.e)gg). Ungeachtet der Frage, ob es sich um eine Nebenleistung oder eine einheitliche Leistung handelt, sind die Verpflegung, insbesondere das Frühstück, der Zugang zu Kommunikationsnetzen (insbesondere Telefon und Internet), die TV-Nutzung („pay per view”), die Getränkeversorgung aus der Minibar, Wellnessangebote, Überlassung von Tagungsräumen, sonstige Pauschalangebote usw., auch wenn diese Leistungen mit dem Entgelt für die Beherbergung abgegolten sind, vom ermäßigten Steuersatz aus­ genommen. Es handelt sich dabei um ein gesetzliches Aufteilungsgebot. Zur Frage, ob sich durch die EuGH-Entscheidung „Stadion Amsterdam“16 etwas anderes ergibt, s. unten III.2.e)dd). Auch die kurzfristige Überlassung von Campingflächen (z.B. Flächen zum Aufstellen von Zelten und Flächen zum Abstellen von Wohnwagen und Caravans) ist begünstigt. Nicht begünstigt sind Verpflegungsangebote, Zugang zu Kommunikationsnetzen, die TV-Nutzung usw., da diese Leistungen nicht unmittelbar der Vermietung

15 Näheres s. Kraeusel (Fn. 4), Rz. 361 ff. 16 EuGH v. 18.1.2018 – C-463/16 – Stadion Amsterdam, UR 2018, 200.

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dienen. Dies gilt auch dann, wenn die Leistungen mit dem Entgelt für die Vermietung abgegolten sind.17 n) Einfuhr von Briefmarken, Kunstgegenständen und Sammlungsstücken (Abs. 2 Nr. 12) §  12 Abs.  2 Nr.  12 UStG begünstigt nur die Einfuhr von Kunstgegenständen und Sammlungsstücken sowie von Briefmarken einschließlich Sammlerbriefmarken. Als Abgrenzung der bei der Einfuhr begünstigten Gegenstände gilt die Abgrenzung nach dem Zolltarif entsprechend der in Nr. 49 Buchst. f und den Nrn. 53 und 54 der Anlage 2 genannten Zolltarifpositionen.18 o) Lieferungen und innergemeinschaftlicher Erwerb bestimmter Kunstgegenstände (Abs. 2 Nr. 13) §  12 Abs.  2 Nr.  13 UStG begünstigt Lieferungen und den innergemeinschaftlichen Erwerb von Kunstgegenständen, die in Nr. 53 der Anlage 2 des UStG aufgeführt sind und durch den Urheber der Kunstgegenstände oder dessen Rechtsnachfolger bewirkt wurden. Des Weiteren begünstigt diese Vorschrift aber auch Lieferungen und den innergemeinschaftlichen Erwerb durch andere Unternehmer, es darf sich aber nicht um Wiederverkäufer i.S.d. § 25a Abs. 1 Nr. 1 Satz 2 UStG handeln und die Kunstgegenstände müssen ȤȤ vom Unternehmer in das Gemeinschaftsgebiet eingeführt worden sein oder, ȤȤ von ihrem Urheber oder dessen Rechtsnachfolger an den Unternehmer geliefert worden sein oder ȤȤ den Unternehmer zum vollen Vorsteuerabzug berechtigt haben.19

III. Europarechtliche Vorgaben im Unionsrecht 1. Unterscheidung zwischen Primär-, Sekundär- und Tertiärrecht Das Unionsrecht unterscheidet zwischen dem Primär-, dem Sekundär- und dem Tertiärrecht20.

17 Näheres s. Kraeusel (Fn. 4), Rz. 389.7 ff. 18 Näheres s. Kraeusel (Fn. 4), Rz. 389.25 ff. 19 Näheres s. Kraeusel (Fn. 4), Rz. 389.53 ff. 20 Von Streit/Streit, Wirkung der europäischen Grundrechte im deutschen Umsatzsteuerrecht, UStB 2017, 174 unter Bezugnahme auf König in Schulze/Zuleeg/Kadelbach, Europarecht, 3. Aufl., Baden-Baden 2015, § 2 Rz. 1 f.; Ehlers in Schulze/Zuleeg/Kadelbach, Europarecht, 3. Aufl., Baden-Baden 2015, § 11 Rz. 3.

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Die Bedeutung des Unionsrechts für die Steuersatzermäßigung

a) Primärrecht Das Primärrecht besteht aus den zwischen den Mitgliedstaaten geschlossenen Verträgen, insb. aus dem Vertrag über die Europäische Union (EUV) und dem Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV). Beide Verträge sind rechtlich gleichrangig (Art. 1 Abs. 2 AEUV). So enthalten die Verträge insbesondere die grundlegenden Regelungen über die Funktionsweise der EU, z.B. die „Wirtschaftsverfassung“ mit den vier Grundfreiheiten (Freiheit des Warenverkehrs, Art. 28 ff. AEUV; Freizügigkeit von Arbeitnehmern, Art.  45  ff. AEUV; Dienstleistungsfreiheit, Art.  56  ff. AEUV, und Freiheit des Kapitalverkehrs, Art.  63  ff. AEUV). Dazu gehört auch die Kompetenz für die Harmonisierung der Mehrwertsteuer (Art. 113 AEUV) und die Kompetenzen ihrer Organe. Die Verträge sind durch die entsprechenden Zustimmungsgesetze gem. Art. 59 Abs. 2 bzw. Art. 24 Abs. 1 GG Bestandteil der deutschen Rechtsordnung geworden. Verwaltung und Rechtsprechung sind daher gem. Art. 20 Abs. 3 GG an die Regelungen der Verträge gebunden. Auch einzelne Bürger (Steuerpflichtige) können sich u.U. unmittelbar zu ihren Gunsten auf eine Bestimmung des Unionsrechts berufen. Auch die allgemeinen Rechtsgrundsätze können diese Voraussetzungen erfüllen. So kann unter bestimmten Umständen auch der Grundsatz der Neutralität der Mehrwertsteuer gegen eine diesen Grundsatz verletzende Bestimmung des nationalen Rechts geltend gemacht werden. Zur Bedeutung des Primärrechts bei der Anwendung des ermäßigten Steuersatzes s. unten III.3. b) Ungeschriebenes Europarecht Daneben gibt es das ungeschriebene Europarecht als Bestandteil des Primärrechts. Dies sind insbesondere die allgemeinen Rechtsgrundsätze des Unionsrechts, die vom EuGH im Wege der richterlichen Rechtsfortbildung entwickelt worden sind. Zur Bedeutung beim ermäßigten Steuersatz s. unten unter III.3.d). c) Sekundärrecht Das Primärrecht ist die Grundlage für alle Rechtsakte des Sekundärrechts. Das Sekundärrecht besteht aus den auf Grundlage des Primärrechts von den Organen der EU erlassenen Rechtsakten, insb. den Richtlinien, vgl. Art. 288 AEUV. Verstößt Sekundärrecht gegen die Vorgaben des Primärrechts, kann der EuGH das Sekundärrecht für nichtig erklären, u.U. mit weitreichenden Folgen für das nationale Recht. Die unionsrechtliche Regelungsbefugnis für die Umsatzsteuer beruht auf Art.  113 AEUV. Danach erlässt der Rat der EU nach einem besonderen Gesetzgebungsverfahren und nach Anhörung des Europäischen Parlaments und des Wirtschafts- und Sozialausschusses einstimmig die Bestimmungen zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften über die Umsatzsteuern, soweit diese Harmonisierung für die Errichtung 641

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und das Funktionieren des Binnenmarkts und die Vermeidung von Wettbewerbsverzerrungen notwendig ist. Es handelt sich dabei um Sekundärrecht. Von dieser Ermächtigung, die bereits in ähnlicher Form in Art. 99 EGV enthalten war, hat der Rat seit 1967 durch Erlass von Verordnungen und Richtlinien bekanntlich rege Gebrauch gemacht. Solche Richtlinien sind gem. Art. 288 Abs. 3 AEUV für jeden Mitgliedstaat, an den sie gerichtet sind, hinsichtlich des zu erreichenden Ziels verbindlich, überlassen jedoch den innerstaatlichen Stellen die Wahl der Form und der Mittel. Ihre Bestimmungen können aber ausnahmsweise unmittelbar zugunsten der einzelnen Bürger (Steuerpflichtigen) wirken, wenn ein Mitgliedstaat die Richtlinie nicht, nicht rechtzeitig oder fehlerhaft umgesetzt hat und sie inhaltlich unbedingt und hinreichend bestimmt ist21. Bei der Anwendung auf ermäßigte Steuersätze gilt dies aber nur ausnahmsweise. 22 Zur MwStSystRL als sekundäres Gemeinschaftsrecht s. unten III.2. Empfehlungen und Stellungnahmen (im Regelfall der EU-Kommission) sind gem. Art. 288 Abs. 5 AEUV nichtrechtsverbindliche Rechtsakte. Sie können aber durchaus  rechtliche Relevanz besitzen. So können manche Rechtsakte nur „auf Empfehlung“ eines Organs erlassen werden (z.B. werden die „Ermächtigungen“ i.S.d. Art. 395 Abs. 1 MwStSystRL auf „Vorschlag der Kommission“ erlassen). d) Tertiärrecht Zum Begriff des Tertiärrechts vgl. von Streit/Streit. 23 Solche Rechtsakte erlassen die EU-Kommission oder der Rat auf Basis sekundärrechtlicher Ermächtigungen, beispielsweise nach Art. 291 Abs. 2 AEUV i.V.m. Art. 397 MwStSystRL im Bereich des Mehrwertsteuerrechts. In Umsetzung dieser Regelungen hat der Rat z.B. eine Durchführungsverordnung erlassen, die Verordnung (EU) Nr. 282/2011 des Rates zur Festlegung von Durchführungsvorschriften zur Richtlinie 2006/112/EG über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem vom 15.3.2011. Diese Durchführungsverordnung gilt im Gegensatz zur Richtlinie, deren Durchführung die Verordnung dient, unmittelbar. Als sog. Durchführungsverordnung i.S.v. Art. 291 Abs. 4 AEUV darf sie die MwStSyst­ RL allerdings nur präzisieren und ergänzen, nicht jedoch von ihr abweichen24. Mit zwei Vorschriften betrifft die DVO auch Ausführungsvorschriften zur Anwendung von ermäßigten Steuersätzen: Zunächst geht es um Art. 6 MwSt-DVO, der regelt, unter welchen Voraussetzungen Restaurant- und Verpflegungsdienstleistungen als Lieferungen (damit ermäßigter 21 Vgl. z.B. EuGH v. 16.7.2015 – C-108/14 und C-109/14 – Larentia + Minerva und Marenave Schiffahrt, UR 2015, 671, Rz. 48. 22 Näheres s. unter III.2.f). 23 Von Streit/Streit, FN. 19, 174. 24 Monfort, Hintergrund und Rechtswirkung der Durchführungsverordnung (EU) Nr. 282/​ 2011, UR 2012, 172.

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Steuersatz nach Anhang III Nr. 1 zur MwStSystRL) oder als sonstige Leistung (damit allgemeiner Steuersatz) anzusehen sind. Mellinghoff25 hat hier Zweifel, ob diese Regelung im Einklang mit der Rechtsprechung des EuGH in der Rechtssache Bog26 stehen. Schließlich konkretisiert Art. 43 MwSt-DVO den Begriff „Beherbergung in Ferienunterkünften“ in Anhang III Nr. 12 MwStSystRL dahingehend, dass darunter auch „die Vermietung von Zelten, Wohnanhängern oder Wohnmobilen, die auf Campingflächen aufgestellt werden und als Unterkünfte dienen“ fallen. 2. MwStSystRL als Sekundärrecht a) Allgemeines Als wichtigste Richtlinie im Bereich der MwSt gilt die 6. EG-Richtlinie27. Diese unterlag seit ihrem Erlass im Jahr 1977 so zahlreichen Änderungen und Ergänzungen, dass sie mittlerweile – aus Gründen der Klarheit und Wirtschaftlichkeit – durch die Mehrwertsteuersystemrichtlinie (MwStSystRL)28 ersetzt worden ist. Mit der 6. EG-Richtlinie und der ihr nachfolgenden MwStSystRL sind komplexe Vorgaben für das nationale Umsatzsteuerrecht geschaffen worden, die es rechtfertigen, von einem unionsrechtlichen „Umsatzsteuerkodex”29 zu sprechen. b) Grundsätze der Umsetzung in nationales Recht Die MwStSystRL gilt – wie alle Richtlinien – grundsätzlich nicht unmittelbar im innerstaatlichen Bereich, sondern bedarf der Umsetzung in nationales Recht. Sie richtet sich allein an die Mitgliedstaaten (Art. 414 MwStSystRL). Für diese ist sie hinsichtlich des zu erreichenden Ziels verbindlich. Die Wahl der Form und der Mittel, dieses Ziel zu erreichen, bleibt den innerstaatlichen Stellen überlassen (Art. 288 Abs. 3 EUV). c) Regelungen der MwStSystRL zu den ermäßigten Steuersätzen In der zur Zeit gültigen Fassung regelt das Unionsrecht die Struktur und die Höhe der Steuersätze in den Art. 96 bis 129 MwStSystRL. Während die Art. 104, 104a, 105, 109 bis 129 MwStSystRL Sonderregelungen als Übergangsrecht für bestimmte Mitgliedsländer bis zur Besteuerung der Lieferungen und Dienstleistungen im Ursprungsmit-

25 Mellinghoff, Deutsches Umsatzsteuerrecht unter unions- und verfassungsrechtlichem Einfluss, UR 2013, 5 ff. 26 EuGH v. 10.3.2011 – C-497/09, C-499/09, C-501/09 und C-502/09 – Bog u.a., UR 2011, 272 m. Anm. Nieskens. 27 Richtlinie 77/388/EWG des Rates v. 17.5.1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage, ABl. EG 1977 Nr. L 145, S. 1 ff. 28 Richtlinie 2006/112/EG des Rates v. 28.11.2006, ABl.EU 2006 Nr. L 347, S. 1. 29 Birkenfeld in: Birkenfeld/Wäger, Das große Umsatzsteuer-Handbuch, 77. Lieferung 11.2017, § 21 Grundlagen des Gemeinschaftsrechts.

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gliedstaat30 (nach dem zur Zeit noch geltenden Art. 402 MwStSystRL) und die Art. 102 und 103 MwStSystRL fakultative Möglichkeiten für die Anwendung des ermäßigten Steuersatzes auf bestimmte Gegenstände, wie Erdgas, Elektrizität, Fernwärme, Kunstgegenstände, Sammlungsstücke oder Antiquitäten vorsehen, finden sich die grundlegenden Regelungsinhalte zum Steuersatz in den Art. 96 bis 101 MwStSystRL.31 aa) Normalsatz (Art. 97 Abs. 1b MwStSystRL) Art. 97 Abs. 1 MwStSystRL schreibt vor, dass die EU-Mitgliedstaaten einen Normalsatz anwenden, der mindestens 15 % betragen muss. bb) Ermäßigte Steuersätze (Art. 98, 99b MwStSystRL) Neben dem Normalsatz können die EU-Mitgliedstaaten einen oder zwei ermäßigte Steuersätze von mindestens 5 % anwenden (Art. 98, 99 MwStSystRL). Die Gegenstände und Dienstleistungen, die einem ermäßigten Steuersatz unterworfen werden können, sind in einem Verzeichnis enthalten, das der MwStSystRL als Anhang III angefügt ist32. Der Rat ist nach Art. 100 MwStSystRL auf der Grundlage eines Berichts der Kommission verpflichtet, alle zwei Jahre den Anwendungsbereich der ermäßigten Sätze zu überprüfen. Bei der Einfuhr eines Gegenstandes ist stets derselbe Steuersatz anzuwenden, der für die Lieferung dieses Gegenstands im Inland gilt (Art. 94 Abs. 2 MwStSystRL). Dies gilt auch für den innergemeinschaftlichen Erwerb von Gegenständen (Art. 94 Abs. 1 MwStSystRL). Allerdings gibt es nach Art. 94 Abs. 1 MwStSystRL eine Ausnahme, die die Einfuhr von Kunstgegenständen, Sammlungsstücken und Antiquitäten betrifft. cc) Ermäßigter Steuersatz für Erdgas und Elektrizität (Art. 102 MwStSystRL) Auf die Lieferungen von Erdgas und Elektrizität können die EU-Mitgliedstaaten einen ermäßigten Steuersatz anwenden, sofern keine Gefahr von Wettbewerbsverzerrungen besteht. Ob dies der Fall ist, entscheidet die Kommission. Deutschland hat von dieser Regelung keinen Gebrauch gemacht.

30 Im Oktober 2017 hat die EU-Kommission einen RL-Vorschlag für ein endgültiges MwSt-System vorgelegt, nach dem innergemeinschaftliche Umsätze im Bestimmungsland steuerpflichtig sein sollen. Zum Richtlinienvorschlag s. BR-Drucks. 661/17. 31 Ausführlich s. Langer in: Reiß/Kraeusel/Langer, Kommentierung MwStSystRL, Ausführungen zu Art. 93 bis 130. 32 Zum Umfang der von Anhang III Nr.  1 zur MwStSystRL umfassten Gegenstände vgl. Kraeusel (Fn. 4), Rz. 93 ff.

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dd) Sonderregelung für Kunstgegenstände, Sammlungsstücke und Antiquitäten (Art. 103 MwStSystRL) Der Anwendungsbereich des ermäßigten Steuersatzes nach Anhang III zur MwStSyst­ RL erstreckt sich nicht auf Kunstgegenstände, Sammlungsstücke und Antiquitäten. Nach Art. 103 MwStSystRL können die Mitgliedstaaten aber vorsehen, dass der ermäßigte oder ein ermäßigter Steuersatz, den sie gem. den Art. 98 und 99 MwStSystRL anwenden, auch auf die Einfuhr von Kunstgegenständen, Sammlungsstücken und Antiquitäten i.S.d. Art. 311 Abs. 1 Nr. 2, 3 und 4 MwStSystRL anwenden. Wenn die Mitgliedstaaten von dieser Möglichkeit Gebrauch machen, dann dürfen sie diesen ermäßigten Steuersatz auch auf bestimmte inländische Lieferungen anwenden (vgl. Art. 103 Abs. 2 MwStSystRL). Hiervon hat Deutschland in § 12 Abs. 2 Nr. 12 und 13 UStG unionsrechtskonform Gebrauch gemacht33. ee) Beibehaltung oder Einführung von ermäßigten Steuersätzen Art. 104 bis 130 MwStSystRL enthalten Regelungen, die es anderen EU-Mitgliedstaaten ermöglichen, von Art. 98 und 99 MwStSystRL abweichende Steuersätze beizubehalten. Diese Regelungen gelten so lange, bis sie von einer endgültigen Regelung für den Binnenmarkt abgelöst werden (Art. 402 MwStSystRL). Soweit keine solchen Ausnahmeregelungen greifen und auch die Voraussetzungen der Art. 96 ff. MwStSystRL nicht vorliegen, darf ein ermäßigter Steuersatz nicht eingeführt und angewendet werden34. In einigen Mitgliedstaaten besteht die Besonderheit, dass als „ermäßigter“ Steuersatz ein solcher von null beibehalten werden darf (Art. 110 u. 111 MwStSystRL), der dann dazu führt, dass der Umsatz als „besteuert“ behandelt wird und zum Vorsteuerabzug berechtigt (Art. 168 MwStSystRL). Tatsächlich handelt es sich um steuerfreie Umsätze mit Vorsteuerabzug.35 Diese Ausnahmeregelungen sind so umfangreich, dass vom Ziel eines Binnenmarktes, eine Annäherung der Steuersätze zu erreichen, nicht mehr gesprochen werden kann. Die gegenwärtige Rechtslage führt vielmehr zu einer Zerfaserung der eigentlich zum Kern einer Mehrwertsteuerharmonisierung gehörenden harmonisierten Steuersatzstruktur36.

33 Zur Problematik vor der Einführung dieser Vorschriften s. Kraeusel (Fn. 4), Rz. 91. 34 Vgl. z.B. EuGH v. 12.6.2008 – C-462/05 – EU-Kommission/Portugal, UR 2008, 653: danach hat die Portugiesische Republik dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus den Art. 12 und 28 der 6. EG-Richtlinie verstoßen, dass sie bei der Maut für die Straßenbrücken über den Tejo in Lissabon einen ermäßigten Mehrwertsteuersatz von 5 % beibehalten hat. 35 Stadie (Fn. 9), § 12 UStG Rz. 3. 36 Nieskens (Fn. 8), Rz. 85.

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ff) Zukunft der Mehrwertsteuersätze in der EU Mit der von der EU-Kommission vorgeschlagenen Einführung eines endgültigen Systems der Besteuerung des Handels zwischen den Mitgliedstaaten (ein erster Richtli­ nienvorschlag liegt schon vor, in dem das endgültige System in einem geänderten Art. 402 MwStSystRL vorgezeichnet wird,37 dürften aber die Chancen gestiegen sein, die Steuersätze der EU-Mitgliedstaaten zu harmonisieren. Denn nach dem vorgeschlagenen endgültigen System soll grundsätzlich der leistende Unternehmer die Lieferungen nach den Steuersätzen des Bestimmungslandes der Besteuerung unterwerfen. Demzufolge hat es für ihn keinen signifikanten Vorteil mehr, sich in einem Mitgliedstaat mit niedrigeren Steuersätzen niederzulassen. Außerdem dürfte er überfordert sein, das unübersichtliche System der vielfältigen Steuersätze in den EU-Mitgliedstaaten zu überblicken. Dies sieht die EU-Kommission als eine Chance an, die Steuersätze zu vereinheitlichen, wie sie in ihrer Mitteilung an das EP, den Rat und den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss38 ausgeführt hat.39 d) Umsetzung des ermäßigten Steuersatzes in nationales Recht auf der Grundlage der in Anhang III genannten Kategorien aa) Selektive Anwendung Die Regelungen der Mehrwertsteuer-Systemrichtlinie zur Anwendung ermäßigter Steuersätze sind fakultativ, d.h. die Mitgliedstaaten können die in der Richtlinie abschließend beschriebenen Bereiche ganz, teilweise oder auch gar nicht begünstigen. Wegen des fakultativen Charakters dieser Richtlinienbestimmungen sind die EU-Mitgliedstaaten nicht verpflichtet, überhaupt einen ermäßigten Steuersatz anzuwenden. In der Literatur wird allerdings die Auffassung vertreten, dass die Anwendung eines ermäßigten Steuersatzes für bestimmte Lieferungen und Dienstleistungen zur verfassungsrechtlichen Gewährleistung des sozialhilferechtlichen Existenzminimums zwingend geboten sei.40 Die EU-Mitgliedstaaten müssen auch nicht alle Gegenstände und Dienstleistungen des Anhangs III dem ermäßigten Steuersatz unterwerfen. Der nationale Gesetzgeber darf vielmehr von der Möglichkeit, auf Waren und Dienstleistungen einen ermäßigten Steuersatz anzuwenden, einen selektiven Gebrauch machen, soweit er dabei nicht gegen den Grundsatz der Neutralität verstößt.41

37 Vgl. EU-Kommission v. 4.10.2017, COM (2017) 569 final, BR-Drucks. 660/17. 38 EU-Kommission, Mitteilung v. 4.10.2017, COM (2017) 566 final, BR-Drucks. 661/17. 39 Im Einzelnen s. Kraeusel, EU-Kommission legt Vorschläge für ein endgültiges Mehrwertsteuersystem vor, UVR 2017, 366 ff. 40 Englisch, Ermäßigte Steuersätze zwecks Verschonung des existenziellen Bedarfs, UR 2010, 400; gl.A. im Ergebnis Schemmel, 2009, 22 ff. 41 BFH v. 17.11.2009 – XI B 2/09, BFH/NV 2010, 480.

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Die Bedeutung des Unionsrechts für die Steuersatzermäßigung

Der EuGH hat sich in der Vergangenheit mehrmals mit den Grundsätzen zur selektiven Anwendung befasst. Mit Urteil vom 6.5.201042 hat er entschieden, dass ein Mitgliedstaat, der die Beförderung von Leichnamen mit einem Fahrzeug entsprechend Anhang III Nr.  16 zur MwStSystRL einem ermäßigten Mehrwertsteuersatz unterwirft, der sich von dem Steuersatz unterscheidet, der für die anderen, von Bestattungsinstituten üblicherweise erbrachten Dienstleistungen gilt, nicht gegen seine Pflichten aus den Art. 96 und 98 Abs. 1 und 2 MwStSystRL verstößt. Ein Mitgliedstaat kann nämlich, wenn er beschlossen hat, von der ihm in Art. 98 Abs. 1 und 2 MwStSystRL eröffneten Möglichkeit, auf eine Kategorie von Dienstleistungen im Sinne von Anhang III dieser Richtlinie einen ermäßigten Mehrwertsteuersatz anzuwenden, Gebrauch zu machen, unter der Voraussetzung, dass der dem gemeinsamen Mehrwertsteuersystem zugrunde liegende Grundsatz der steuerlichen Neutralität beachtet wird, die Anwendung dieses ermäßigten Mehrwertsteuersatzes auf konkrete und spezifische Aspekte dieser Kategorie von Dienstleistungen beschränken. Die Wahrnehmung dieser Möglichkeit unterliegt der zweifachen Bedingung, ȤȤ dass zum einen für die Zwecke der Anwendung des ermäßigten Satzes nur konkrete und spezifische Aspekte der in Rede stehenden Kategorie von Dienstleistungen herausgelöst werden und ȤȤ dass zum anderen der Grundsatz der steuerlichen Neutralität beachtet wird. Diese Bedingungen sollen sicherstellen, dass die Mitgliedstaaten von dieser Möglichkeit nur unter Umständen Gebrauch machen, die die einfache und korrekte Anwendung des gewählten ermäßigten Satzes gewährleisten und Steuerhinterziehung, Steuerumgehung oder Missbrauch verhindern. Im Urteil vom 9.11.201743 hatte der EuGH eine polnische Regelung zu beurteilen. Der ermäßigte Mehrwertsteuersatz gilt in Polen nur für feine Backwaren (ohne Dauerbackwaren), deren Verfallsdatum eine Haltbarkeitsdauer von 45 Tagen nicht überschreitet. Hierzu hat der EuGH ausgeführt, dass – solange der Grundsatz der Steuerneutralität gewahrt ist, was zu prüfen Sache des vorlegenden Gerichts sei – eine solche nationale Rechtsvorschrift unter Bezugnahme auf Anhang III Nr. 1 (Nahrungsmittel) unionsrechtskonform ist. Polen war also vorbehaltlich der Einhaltung des Grundsatzes der Steuerneutralität befugt, von der Begünstigung nach Anhang III Nr. 1 selektiv Gebrauch zu machen. Hinsichtlich der Anwendung von ermäßigten Mehrwertsteuersätzen ergibt sich aus der Rechtsprechung des EuGH immer wieder, dass es Sache der Mitgliedstaaten ist, genauer zu bestimmen, auf welche der in den Kategorien des Anhangs III der Mehrwertsteuerrichtlinie enthaltenen Lieferungen von Gegenständen und Dienstleis­ tungen der ermäßigte Steuersatz Anwendung findet, sofern der dem gemeinsamen

42 EuGH v. 6.5.2010 – C-94/09, UR 2010, 454. 43 EuGH v. 9.11.2017 – C-499/16, UR 2018, 204.

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Jörg Kraeusel

Mehrwertsteuersystem zugrunde liegende Grundsatz der steuerlichen Neutralität beachtet wird.44 Diese Möglichkeit einer selektiven Anwendung des ermäßigten Mehrwertsteuersatzes wird u. a. durch das Argument verstärkt, dass seine Anwendung in Einklang mit dem Grundsatz steht, dass Befreiungen oder Ausnahmevorschriften eng auszulegen sind.45 Die ständige Rechtsprechung des EuGH lässt sich dahingehend zusammenfassen, dass es zwar einen Grundsatz des selektiven Anwendung von unionsrechtlichen Steuerermäßigungen gibt, dass dieser Grundsatz aber bestimmten Beschränkungen unterliegt. Er lässt es nämlich nicht zu, gleichartige Gegenstände oder Dienstleistungen, die miteinander in Wettbewerb stehen, hinsichtlich der Mehrwertsteuer unterschiedlich zu behandeln.46 Hinsichtlich der Beurteilung der Gleichartigkeit der betreffenden Gegenstände oder Dienstleistungen ergibt sich aus der Rechtsprechung des EuGH, dass in erster Linie auf die Sicht des Durchschnittsverbrauchers abzustellen ist. Gegenstände oder Dienstleistungen sind gleichartig, wenn sie ähnliche Eigenschaften haben und beim Verbraucher nach einem Kriterium der Vergleichbarkeit in der Verwendung denselben Bedürfnissen dienen und wenn die bestehenden Unterschiede die Entscheidung des Durchschnittsverbrauchers zwischen diesen Gegenständen oder Dienstleistungen nicht erheblich beeinflussen.47 Es obliegt daher z.B. in der Rechtssache C-499/1648 dem vorlegenden Gericht in Polen, konkret zu prüfen, ob die Tatsache, dass das Verfallsdatum eine Haltbarkeitsdauer von 45 Tagen nicht überschreitet, aus der Sicht des polnischen Durchschnittsverbrauchers für die Kaufentscheidung bei feinen Backwaren entscheidend ist. Somit muss es prüfen, ob es auf dem polnischen Markt feine Backwaren gibt, deren Haltbarkeitsdauer 45 Tage nicht überschreitet, die jedoch aus Sicht der Verbraucher dennoch feinen Backwaren gleichartig sind, die wie die Erzeugnisse des Klägers eine Mindesthaltbarkeitsdauer von mehr als 45 Tagen haben, und die gegenseitig ersetzbar sind. Sollte festzustellen sein, dass es solche Waren gibt, würde sich die Haltbarkeitsdauer von weniger als 45 Tagen für den polnischen Durchschnittsverbraucher als nicht entscheidend erweisen und könnte seine Entscheidung durch die Anwendung verschiedener Mehrwertsteuersätze beeinflusst werden. In einem solchen Fall stünde der Grundsatz der Steuerneutralität den im Ausgangsverfahren fraglichen nationalen Vorschriften entgegen. Allerdings setzt die selektive Anwendung von unionsrechtlich zulässigen Steuerermäßigungen voraus, dass dies aufgrund einer gesetzlichen Regelung geschieht. Eine bloße Verwaltungsanweisung reicht hierfür nicht aus. Dies war auch der Grund, warum 44 Vgl. z.B. EuGH v. 11.9.2014 – C-219/13, K, HFR 2014, 1032, Rz. 23 sowie EuGH v. 9.3.2017 – C-573/15 – Oxycure Belgium, UR 2017, 276, Rz. 20 und 21. 45 EuGH v. 6.5.2010 – C-94/09 – Kommission/Frankreich, UR 2010, 454, Rz. 29. 46 EuGH v. 11.9.2014 (Fn. 42), Rz. 24 und die dort angeführte Rechtsprechung. 47 EuGH v. 11.9.2014 (Fn. 42), Rz. 25. 48 Fn. 43.

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Die Bedeutung des Unionsrechts für die Steuersatzermäßigung

EuGH49 und BFH50 die nationale Verwaltungsregelung, nach der das Legen eines Hausanschlusses an die Wasserversorgungsleitung dem allgemeinen Steuersatz unterlag, während die Lieferung von Wasser ermäßigt zu besteuern war, für unionsrechtswidrig gehalten haben. Hätte der Gesetzgeber das Legen von Hausanschlüssen ausdrücklich vom ermäßigten Steuersatz ausgenommen, wäre dies als selektive Anwendung der „Lieferung von Wasser“ unionsrechtlich wohl zulässig gewesen. Das Legen eines Hauswasseranschlusses ist auch dann als „Lieferung von Wasser“ i.S. des § 12 Abs. 2 Nr. 1 UStG i.V.m. Nr. 34 der Anlage 2 zum UStG anzusehen, wenn diese Leistung nicht von dem Wasserversorgungsunternehmen erbracht wird, das das Wasser liefert. Die von der Verwaltung51 vorgesehene Beschränkung der Anwendung des ermäßigten Steuersatzes auf die Anschlussleistung von Unternehmern, die das Wasser liefern, kann nicht als selektive Anwendung des ermäßigten Steuersatzes angesehen werden.52 bb) Umfang der selektiven Anwendung im UStG Die Liste in Anhang III zur MwStSystRL abschließend53. Deshalb sind die EU-Mitgliedstaaten nicht befugt, für Gegenstände oder Dienstleistungen, die im Anhang III MwStSystRL nicht aufgeführt sind, eine Steuerermäßigung einzuräumen, es sei denn, es greift eine der in Art. 102 – 130 MwStSystRL aufgeführten Ausnahmeregelungen ein. Im Einklang mit der durch Art. 12 Abs. 3 Buchst. a Unterabs. 1 der 6. EG-Richtlinie (entspricht Art.  97 MwStSystRL) erfolgten Steuersatzneuregelung hat der deutsche Gesetzgeber zunächst den allgemeinen Steuersatz mit Wirkung vom 1.1.1993 von 14 v.H. auf 15 v.H., mit Wirkung vom 1.4.1998 von 15 v.H. auf 16 v.H. und zum 1.1.2007 von 16 v.H. auf 19 v.H. angehoben. Der seit dem 1.7.1983 unverändert mit 7 v.H. belegte ermäßigte Steuersatz steht in Einklang mit Art. 98 Abs. 1, Art. 99 Abs. 1 MwStSystRL (vormals Art. 12 Abs. 3 Buchst. a Unterabs. 3 der 6. EG-Richtlinie). Auf welche Positionen des Anhang III MwStSystRL sich die einzelnen Steuerermäßigungen des § 12 Abs. 2 UStG (einschl. Anlage 2) stützen, und von welchen Ermächtigungen des Anhangs III der deutsche Gesetzgeber keinen Gebrauch bzw. nur selektiven Gebrauch gemacht hat, kann im Einzelnen folgender Übersicht entnommen werden:

49 EuGH v. 3.4.2008 – C-442/05 – Zweckverband zur Trinkwasserversorgung und Abwasserbeseitigung Thorgau-Westelbien, UR 2008, 432. 50 BFH v. 8.10.2008 – V R 61/03, BStBl. II 2009, 321 = UR 2006, 178. 51 BMF v. 7.4.2009 – IV B 8-S 7100/07/10024, BStBl. I 2009, 531. 52 BFH v. 7.2.2018 – XI R 17/17, UR 2018, 357. 53 Englisch, (Fn. 38) S. 400 (411).

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Jörg Kraeusel Gegenstände und Dienstleistungen, auf die Art. 98 Abs. 2 i.V.m. Anhang III der ermäßigte Steuersatz zur Anwendung kommt MwStSystRL

UStG und Anlage 2 UStG

Kategorie 1

Nahrungsmittel, Futtermittel, lebende Tiere, Saatgut, Pflanzen, verwendete Zutaten

§ 12 Abs. 2 Nr. 1 i.V.m. Anlage 2 Nr. 1-7, 10-19, 21-24, 26, 28-33, 35-37, 39, 41-43, 46, 47

Kategorie 2

Wasser

§ 12 Abs. 2 Nr. 1 i.V.m. Anlage 2 Nr. 34

Kategorie 3

Arzneimittel (Human- und Tiermedizin)

Kein ermäßigter ­Steuersatz im UStG

Kategorie 4

Medizinische Geräte bzw. Hilfsmittel wie Roll- § 12 Abs. 2 Nr. 1 i.V.m. Anlage 2 Nr. 51, 52 stühle, Körperersatzstücke, orthopädische ­Apparate und Vorrichtungen einschl. Instandsetzung dieser Geräte, Kindersitze für Kraftfahrzeuge

Kategorie 5

Beförderung von Personen samt mitgeführtem § 12 Abs. 2 Nr. 10 Gepäck im öffentlichen Nahverkehr

Kategorie 5

und darüber hinaus jedwede Personenbeförde- Kein ermäßigter rung ­Steuersatz im UStG

Kategorie 6

Bücher, Zeitungen, Prospekte etc.,

§ 12 Abs. 2 Nr. 1 i.V.m. Anlage 2 Nr. 49 Buchst. a-e, Nr. 50

Kategorie 6

einschließlich Vermietung durch Büchereien

§ 12 Abs. 2 Nr. 2

Kategorie 7

§ 12 Abs. 2 Nr. 7 Eintrittsberechtigungen für Veranstaltungen wie Theaterveranstaltungen, Zirkus, Konzerte, Buchst. a, b und d Museen

Kategorie 8

Empfang von Rundfunk- und Fernsehprogrammen

Kategorie 9

Dienstleistungen von Schriftstellern, Kompo- § 12 Abs. 2 Nr. 7 nisten und ausübenden Künstlern sowie diesen Buchst. c geschuldete urheberrechtliche Vergütungen

Kategorie 10a

Lieferung, Bau, Renovierung von Privatwohnungen

Kategorie 10b

Reinigung von Fenstern und Reinigung in pri- Kein ermäßigter vaten Haushalten ­Steuersatz im UStG

Kategorie 11

Lieferung von Gegenständen und Dienstleistungen, die i.d.R. für den Einsatz in der landwirtschaftlichen Erzeugung bestimmt sind

650

Kein ermäßigter ­Steuersatz im UStG

Kein ermäßigter ­Steuersatz im UStG

§ 12 Abs. 2 i.V.m. ­Anlage 2 Nr. 45

Die Bedeutung des Unionsrechts für die Steuersatzermäßigung Gegenstände und Dienstleistungen, auf die Art. 98 Abs. 2 i.V.m. Anhang III der ermäßigte Steuersatz zur Anwendung kommt MwStSystRL

UStG und Anlage 2 UStG

Kategorie 12

Beherbergung in Hotels und ähnlichen Einrichtungen

§ 12 Abs. 2 Nr. 11

Kategorie 12a

Restaurations- und Verpflegungsdienstleis­ tungen mit der Möglichkeit, die Abgabe von (alkoholischen und/oder alkoholfreien) Getränken auszuklammern

Kein ermäßigter ­Steuersatz im UStG, soweit Verzehr an Ort und Stelle

Kategorie 13

Eintrittsberechtigung für Sportveranstaltungen § 12 Abs. 2 Nr. 8 soweit durch gemeinnützige, mildtätige oder kirchliche Einrichtungen veranstaltet

Kategorie 13

veranstaltet durch sonstige Einrichtungen

Kategorie 14

§ 12 Abs. 2 Nr. 9 Überlassen von Sportanlagen, soweit die mit dem Betrieb von Schwimmbädern verbundenen Umsätze und die Verabreichung von Heilbädern betroffen sind

Kategorie 14

übrige Sportanlagen

Kategorie 15

Leistungen durch Mitglieder anerkannter ge- § 12 Abs. 2 Nr. 8 Buchst. a meinnütziger Einrichtungen für wohltätige Zwecke und im Bereich der sozialen Sicherheit

Kategorie 16

Leistungen von Bestattungsinstituten und ­Krematorien

Kein ermäßigter ­Steuersatz im UStG

Kategorie 17

medizinische Versorgungsleistungen, zahnärztliche Leistungen, Thermalbehandlungen

§ 12 Abs. 2 Nr. 6, 9

Kategorie 18

Leistungen im Zusammenhang mit Straßen­ reinigung, Müllabfuhr und Abfallbeseitigung

Kein ermäßigter ­Steuersatz im UStG

Kategorie 19

kleinere Reparaturdienstleistungen

Kein ermäßigter ­Steuersatz im UStG

Kategorie 20

häusliche Pflegedienstleistungen

Kein ermäßigter ­Steuersatz im UStG

Kategorie 21

Friseurdienstleistungen

Kein ermäßigter ­Steuersatz im UStG

Art. 103 MwStSystRL

Kunstgegenstände und Sammlungsstücke

§ 12 Abs. 2 Nr. 12, 13 i.V.m. Anlage 2 Nr. 49 Buchst. f, Nr. 53, 54

Art. 122 MwStSystRL

land- und forstwirtschaftliche Erzeugnisse, ­soweit nicht in Anhang III Kategorie 1 MwStSyst­RL aufgeführt

§ 12 Abs. 2 Nr. 1 i.V.m. Anlage 2 Nr. 8, 9, 48a, 48b

Insoweit kein ermäßigter Steuersatz im UStG

Insoweit kein ermäßigter Steuersatz im UStG

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Jörg Kraeusel

Der Abgleich der begünstigungsfähigen Gegenstände und Dienstleistungen im Anhang III zu Art. 98 Abs. 2 MwStSystRL mit der Umsetzung durch § 12 Abs. 2 UStG zeigt, dass der nationale Gesetzgeber nur teilweise von den Möglichkeiten des Unionsrechts Gebrauch gemacht hat. So wird z.B. deutlich, in welchen Fällen der Unionsgesetzgeber Möglichkeiten zur Einführung eines ermäßigten Steuersatzes vorsieht, von denen der nationale Gesetzgeber nur teilweise oder überhaupt nicht Gebrauch gemacht hat. Die gesetzgeberische Entscheidung, von einer selektiven Beschränkung ermäßigter Steuersätze Gebrauch zu machen, zeigt sich vor allem in folgenden Bereichen: ȤȤ Die Beschränkung des ermäßigten Steuersatzes auf Filmvorführungen, die nicht nach § 6 Abs. 3 Nrn. 1 bis 5 des Gesetzes zum Schutze der Jugend in der Öffentlichkeit (JÖSchG) gekennzeichnet sind und nicht vor dem 1.1.1970 erstaufgeführt wurden, also keinen pornographischen Inhalt haben, anzusehen (§ 12 Abs. 2 Nr. 7 Buchst. b UStG). Diese selektive Beschränkung hat der BFH für unionsrechtskonform angesehen.54 ȤȤ Die Leistungen der Theater, Orchester, Kammermusikensembles, Chöre und Museen sowie die Veranstaltung von Theatervorführungen und Konzerten durch andere Unternehmernach § 12 Abs. 2 Nr. 7 Buchst. a UStG. Diese Steuerermäßigung umfasst nicht die Inszenierung einer Oper durch einen selbständig tätigen Regisseur. Der BFH hat dies selektive Beschränkung des ermäßigten Steuersatzes angesehen. Die Dienstleistungen der den Theatervorführungen und Konzerten vergleichbaren Darbietungen ausübender Künstler seien weder mit denen eines Regisseurs gleichartig noch stünden sie im Wettbewerb zueinander.55 ȤȤ Besonders hervorzuheben sind die Umsätze mit Arzneimitteln vor allem im Bereich der Humanmedizin (Anhang III Kategorie 3 MwStSystRL) sowie die neu in den Kategorien 10a, 10b, 12a, 19, 20 und 21 aufgenommenen Bereiche der arbeitsintensiven Dienstleistungen und der Restaurations- und Verpflegungsdienstleistungen. Maßgeblicher Grund für die Nichteinführung von diesen Steuerermäßigungen ist vor allem der zu erwartende Steuerausfall. Andererseits wird deutlich, dass die deutsche Regelung zum ermäßigten Steuersatz in § 12 Abs. 2 UStG in sämtlichen Bereichen durch die Bestimmungen in Kategorie 1 bis 17 des Anhangs III zu Art. 98 Abs. 2 MwStSystRL grundsätzlich gedeckt sein dürften.56 cc) Beschränkung und Ausweitung der Anwendung von ermäßigten Steuersätzen Ein Mitgliedstaat kann die selektive Beschränkung einer Steuerermäßigung natürlich jederzeit im zulässigen Rahmen auch ausweiten oder weiter beschränken. So hat der 54 BFH v. 17.11.2009 – XI B 2/09, BFH/NV 2010, 480. 55 BFH, Urt. v. 4.5.2011 – XI R 44/08, BStBl. II 2014, 200 = UR 2011, 859, Rz. 39. 56 Gl. A. Nieskens (Fn. 8), Rz. 98.

652

Die Bedeutung des Unionsrechts für die Steuersatzermäßigung

deutsche Gesetzgeber z.B. in folgenden Bereichen den Anwendungsbereich des ermäßigten Steuersatzes ausgedehnt: ȤȤ Mit dem Jahressteuergesetz 2008 (JStG 2008) vom 20.12.200757 wurde § 12 Abs. 2 Nr. 10 UStG geändert und damit einen weiteren Aspekt der Personenbeförderungen nach Anhang III Nr. 5 MwStSystRL dem ermäßigten Steuersatz unterworfen: die Beförderungen von Personen mit Drahtseilbahnen und sonstigen mechanischen Aufstiegshilfen aller Art innerhalb einer Gemeinde oder wenn die Beförderungsstrecke nicht mehr als 50 Kilometer beträgt. ȤȤ Mit dem Gesetz zur Anpassung des nationalen Steuerrechts an den Beitritt Kroatiens zur EU und zur Änderung weiterer steuerlicher Vorschriften v. 25.7.201458 wurde §  12 Abs.  2 Nr.  1 und 2 i.V.m. Nr.  50 der Anlage 2 geändert und damit der Umsatzsteuersatz für Hörbücher auf 7 % gesenkt hat. Die Einführung dieser Umsatzsteuerermäßigung war durch Art. 98 Absatz 1 und 2 i .V. mit Nr. 6 des Anhangs III der MwStSystRL gedeckt, auch wenn der Bundesrat diese Ausweitung des ermäßigten Steuersatzes kritisiert hat.59 ȤȤ Mit dem Gesetz zur Beschleunigung des Wirtschaftswachstums (Wachstumsbeschleunigungsgesetz) vom 22.12.200960 wurde ein neuer § 12 Abs. 2 Nr. 11 UStG eingefügt. Nach dieser Vorschrift ist die Vermietung von Wohn- und Schlafräumen, die ein Unternehmer zur kurzfristigen Beherbergung von Fremden bereithält, sowie die kurzfristige Vermietung von Campingflächen begünstigt. Allerdings gilt die Steuerermäßigung nicht für Leistungen, die nicht unmittelbar der Vermietung dienen, auch wenn diese Leistungen mit dem Entgelt für die Vermietung abgegolten sind. Die Ermäßigung umfasst sowohl die Umsätze des klassischen Hotelgewerbes als auch kurzfristige Beherbergungen in Pensionen, Fremdenzimmern und vergleichbaren Einrichtungen. Mit dieser Maßnahme wurde von der Option in Anhang IIII Nr. 12 zur MwStSystRL Gebrauch gemacht, allerdings auch wieder nur selektiv, weil Nebenleistungen wie z.B. das Frühstück ausgenommen sind (Aufteilungsgebot), was vom BFH als unionsrechtskonform angesehen wird.61 Zur Frage, ob sich durch die EuGH-Entscheidung „Stadion Amsterdam“62 etwas anderes ergibt, s. unten e)dd). Allerdings gibt es Regelungenbereiche, in denen sich der Wortlaut des nationalen Rechts von dem des Unionsrechts unterscheidet und damit zu unionsrechtswidrigen

57 BGBl. I 2007, 3150. 58 BGBl. I 2014, 1266. 59 Vgl. BR-Drucks. 291/14 (Beschluss). 60 BGBl. I 2009, 3950. 61 BFH v. 24.4.2013 – XI R 3/11, UR 2014, 229 = BStBl. II 2014, 86; vgl. auch Nieskens (Fn. 8), Rz. 31 ff.; Kraeusel (Fn. 4), Rz. 389.16; Beiser, Pauschalpreise und subjektive Äquivalenz in der Umsatzsteuer, DStZ 2010, 568; Kretzer-Moßner/Neeser, Haupt- und Nebenleistungen bei Vermietungsumsätzen  – Reinigung der Gemeinschäftsflächen von Wohnhäusern als Hauptleistung umsatzsteuerpflichtig?, UVR 2010, 153. 62 EuGH v. 18.1.2018 – C-463/16 – Stadion Amsterdam, UR 2018, 200.

653

Jörg Kraeusel

Abweichungen führen kann, wie dies von EuGH und BFH mehrfach festgestellt wurde (vgl. unten unter e)). e) Beachtung von unionsrechtlichen Auslegungsgrundsätzen aa) Bindung von Rechtsprechung und Verwaltung an richtlinienkonforme Auslegung Weicht der Wortlaut des nationalen Rechts vom Unionsrecht ab, oder ist der Wortlaut der Rechtsquellen auslegungsbedürftig, dann sind Verwaltung und Rechtsprechung an die Grundsätze der richtlinienkonforme Auslegung gebunden, die als Sonderform der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung bezeichnet werden kann.63 Diese Bindung basiert auf dem in Art. 4 Abs. 3 EUV niedergelegten Grundsatz der Gemeinschaftstreue. Nach Art. 4 Abs. 3 Satz 2 EUV ergreifen nämlich die Mitgliedstaaten alle geeigneten Maßnahmen allgemeiner oder besonderer Art zur Erfüllung der Verpflichtungen, die sich aus den Verträgen oder den Handlungen der Organe der Union ergeben (Grundsatz der Gemeinschaftstreue). Daraus ist herzuleiten, dass die nationale Rechtsprechung die unionsrechtlichen Pflichten, die sich aus dem primären und sekundären Unionsrecht ergeben, erfüllen muss. Hinsichtlich der MwStSystRL bedeutet dies, dass Steuerrechtsnormen im Lichte der Rechtsprechung des EuGH aus­ gelegt werden müssen64. Man spricht in diesem Zusammenhang auch von der richtlinienkonformen Auslegung. bb) Vorrang des Unionsrechts bei der richtlinienkonformen Auslegung Im Bereich des ermäßigten Steuersatzes nach § 12 Abs. 2 UStG spielen die unionsrechtlichen Auslegungsgrundsätze eine wichtige Rolle. Auslegungsprobleme kann es vor allem deshalb geben, weil einerseits nach ständiger Rechtsprechung des EuGH die Richtlinienvorschriften über eine Steuerbefreiung restriktiv auszulegen sind (s. unten unter III.2.e) ff)), andererseits der Gesetzgeber von seinen Recht Gebrauch machen darf, nur selektiv von den Möglichkeiten des Unionsrechts Gebrauch zu machen, und darüber hinaus der Katalog des Anhangs III zu Art. 98 Abs. 2 MwStSystRL so vage, grob und ungenau ist65, dass er häufig interpretiert werden muss. Dabei stimmen die Maßstäbe der Auslegung nach nationalem Recht mit denen des Unionsrechts häufig überein. So ist die Rechtsprechung sowohl nach nationalem66 als auch nach Unionsrecht67 verpflichtet, den Sinn und Zweck einer Norm unter Berücksichtigung ihrer Einordnung in das Gesetz und damit ihres systematisch-teleolo­gischen Zusammenhangs zu ermitteln. Ein Gericht hat sich bei der Auslegung des nationalen 63 Herrmann, Richtlinienumsetzung durch die Rechtsprechung, Berlin 2003, 103. 64 Vgl. BFH v. 18.10.2001 – V R 106/98, BStBl. II 2002, 551, Rz 18, 25 f. = UR 1999, 411. 65 Nieskens (Fn. 8), Rz. 98. 66 Vgl. z.B. BFH v. 15.4.2010 – IV R 5/08, BStBl. II 2010, 912, Rz. 30; BFH v. 8.9.2010 – XI R 40/08, BStBl. II 2011, 661, Rz. 25, jeweils m.w.N. = UR 2011, 322. 67 Vgl. z.B. EuGH v. 27.11.2003 – C-497/01, Zita Modes, BFH/NV Beilage 2004, 128, Rz. 34, m.w.N.

654

Die Bedeutung des Unionsrechts für die Steuersatzermäßigung

Umsatzsteuerrechts so weit wie möglich am Wortlaut und Zweck der einschlägigen unionsrechtlichen Bestimmungen auszurichten68 und ist bei einem Widerspruch zwischen den Vorschriften des innerstaatlichen Rechts und den Bestimmungen des Unionsrechts gehalten, für die volle Wirksamkeit des Unionsrechts Sorge zu tragen. Es ist alles Erforderliche zu tun, um diejenigen innerstaatlichen Rechtsvorschriften „auszuschalten“, die unter Umständen ein Hindernis für die volle Wirksamkeit der Unionsnormen bilden69. Die hiernach gebotene richtlinienkonforme Auslegung kommt jedoch nur in Betracht, wenn es im konkreten Fall verschiedene Auslegungsmöglichkeiten gibt70. Lässt der Gesetzestext mehrere Auslegungen zu und ist nur eine mit dem Unionsrecht vereinbar, so ist der Auslegung der Vorzug zu geben, nach der die Norm nicht als unionsrechtswidrig einzustufen ist71. Diese Bindung gilt im Übrigen auch für die Finanzverwaltung, die gemäß Art.  20 Abs. 3 GG an Gesetz und Recht gebunden ist. Allen Trägern öffentlicher Gewalt in den Mitgliedstaaten obliegt es, alle Maßnahmen zu treffen, um einer Verpflichtung nachzukommen, die sich aus einer EG-Richtlinie ergibt.72. cc) Anwendungsbereich des ermäßigten Steuersatzes neben anderen Sonderregelungen des Unionsrechts Eine interessante Frage hat der BFH nunmehr an den EuGH gerichtet. Es geht darum, ob auf eine Leistung, die der Sonderregelung für Reisebüros (Art. 306 MwStSystRL) unterliegt, der ermäßigte Steuersatz anzuwenden sein kann. Dies ist Gegenstand eines Vorabentscheidungsersuchens des BFH an den EuGH73. Der BFH will vom EuGH wissen, ob die Vermietung von Ferienwohnungen, die isoliert betrachtet sicherlich unter Anhang III Nr.  12 zur MwStSystRL zu subsumieren ist (im UStG: §  12 Abs.  2 Nr. 11 UStG), im Falle einer Einordung als Reiseleistung i.S.d. Art. 306 MwStSystRL (§ 25 UStG) gleichwohl dem ermäßigten Steuersatz unterliegt, ob also eine kombinierte Anwendung von Sonderregelung und Steuersatzermäßigung in Betracht kommt. Der EuGH hat sich, soweit ersichtlich, noch nie mit dieser Frage beschäftigt.

68 Vgl. z.B. EuGH v. 11.7.2002 – C-62/00, Marks & Spencer, UR 2002, 436, Rz. 24, m.w.N.; ferner BFH v. 8.9.2010 (Fn. 61), Rz. 25; BFH v. 29.6.2011 – XI R 15/10, BStBl. II 2011, 839, Rz. 22 = UR 2011, 837; BFH v. 15.2.2012 – XI R 24/09, BStBl. II 2013, 712, Rz. 17; BFH v. 16.5.2012 – XI R 24/10, BStBl. II 2013, 52, Rz. 41, jeweils m.w.N. = UR 2012, 951. 69 Vgl. dazu EuGH v. 26.2.2013 – C-617/10, Fransson, NJW 2013, 1415, Rz. 45 f. 70 Vgl. z.B. BFH v. 2.4.1998 – V R 34/97, BStBl. II 1998, 695, Rz. 19 = UR 1998, 349 m. Anm. Stadie; BFH v. 22.1.2004 – V R 41/02, BStBl. II 2004, 757, Rz. 14 ff., jeweils m.w.N. = UR 2004, 248. 71 Vgl. z.B. BFH v. 8.9.2010 – XI R 40/08, UR 2011, 322 = BStBl. II 2011, 661, Rz. 21 ff. m.w.N. 72 Ständige Rechtsprechung, vgl. z.B. EuGH v. 14.7.1994 – C-91/92, Paola Faccini Dori, EuGH v. 14.7.1994 – Rs. C-91/92, NJW 1994, 2473, Rz. 26. 73 BFH v. 3.8.2017 – V R 60/16, UR 2017, 893 m. Anm. Dobratz.

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dd) Auslegungsgrundsätze bei der Beurteilung von zusammenhängenden Leistungen Führt ein Steuerpflichtiger mehrere Leistungen aus, die – isoliert betrachtet – unterschiedlichen Steuersätzen unterliegen, stellt sich die Frage, ob es bei dieser isolierten Betrachtung bleibt oder ob die Leistungen zusammen zu fassen sind und welchen Charakter sie dann im Falle einer Zusammenfassung haben. Hierbei spielt die Rechtsprechung des EuGH, an die die nationalen Gerichte gebunden sind, eine wichtige Rolle. Nach dieser Rechtsprechung, der sich der BFH angeschlossen hat, gelten für die Frage, unter welchen Bedingungen mehrere zusammenhängende Leistungen als eine Gesamtleistung zu behandeln sind, folgende Grundsätze:74 ȤȤ Jeder Umsatz ist in der Regel als eigene, selbständige Leistung zu betrachten; allerdings darf eine wirtschaftlich einheitliche Dienstleistung im Interesse eines funktionierenden Mehrwertsteuersystems nicht künstlich aufgespalten werden. Deshalb ist das Wesen des fraglichen Umsatzes zu ermitteln, um festzustellen, ob der Steuerpflichtige dem Verbraucher mehrere selbständige Leistungen oder eine einheitliche Leistung erbringt, wobei auf die Sicht des Durchschnittsverbrauchers abzustellen ist. ȤȤ Eine einheitliche Leistung liegt danach insbesondere dann vor, wenn ein oder mehrere Teile die Hauptleistung, ein oder mehrere andere Teile dagegen Nebenleistungen sind, die das steuerliche Schicksal der Hauptleistung teilen. Eine Leistung ist als Nebenleistung zu einer Hauptleistung anzusehen, wenn sie für den Leistungsempfänger keinen eigenen Zweck erfüllt, sondern das Mittel darstellt, um die Hauptleistung des Leistenden unter optimalen Bedingungen in Anspruch zu nehmen. ȤȤ Das Gleiche gilt, wenn der Steuerpflichtige für den Verbraucher zwei oder mehr Handlungen vornimmt oder Elemente liefert, die so eng miteinander verbunden sind, dass sie objektiv eine einzige untrennbare wirtschaftliche Leistung bilden, deren Aufspaltung wirklichkeitsfremd wäre75. ȤȤ Diese Grundsätze gelten auch im Verhältnis zwischen Lieferungen und sonstigen Leistungen76. Die nach dieser Rechtsprechung erforderliche Gesamtbetrachtung, ob aus Sicht des Durchschnittsverbrauchers eine einheitliche Leistung vorliegt, ist im Wesentlichen das Ergebnis einer tatsächlichen Würdigung. Die Rechtsprechung kommt deshalb je nach Sachverhalt immer wieder zu  – für den Steuerpflichtigen manchmal überraschenden – unterschiedlichen Ergebnissen.

74 Vgl. EuGH v. 25.2.1999 – C-349/96, Card Protection Plan, UR 1999, 254, Rz. 29, 30; EuGH v. 27.10.2005 – C-41/04, Levob, BFH/NV Beilage 2006, 38, Rz. 19 bis 22; EuGH v. 21.6.2007 – C-453/05, Ludwig, UR 2007, 617 m. Anm. Philipowski, Rz. 17, 18; BFH v.13.7.2006 – V R 24/02, UR 2006, 648 = BStBl. II 2006, 935, Rz. 27 ff. 75 Z.B. EuGH v. 27.10.2005 (Fn. 69), Rz. 22. 76 Vgl. BFH v. 4.7.2002 – V R 41/01, UR 2003, 23 = BFH/NV 2002, 1622, Rz. 15 ff.

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So hat der BFH z.B. die Aushändigung von Broschüren im Rahmen eines Seminars als eine unselbständige Nebenleistung der Seminarleistung angesehen und damit den Regelsteuersatz bejaht, weil die Broschüren lediglich ergänzende und vertiefende Funktion hätten77. In einem anderen Fall hat der BFH auf die Umsätze aus dem Verkauf lebender Fische zum Angeln den allgemeinen Steuersatz angewendet, weil er eine sonstige Leistung annahm und keine dem ermäßigten Steuersatz unterliegende Lieferung von Fischen im Sinne der Anlage 2 Nr. 3 zum UStG78. Zum gleichen Ergebnis kam er bei der Beurteilung von im Rahmen einer „Dinner-Show“ erbrachten künstlerischen Leistungen; auch hier sah er dem allgemeinen Steuersatz unterliegende sonstige Leistungen und keine nach § 12 Abs. 2 Nr. 7 Buchst. a dem ermäßigten Steuersatz unterliege Leistungen an. Schließlich hat der BFH in einem Fall, in dem es um die Lieferung und das Einpflanzen von Pflanzen ging, jeweils selbständige Leistungen angenommen. Übernimmt danach der Betreiber einer Baumschule auf Wunsch eines Teils seiner Kunden auch das Einpflanzen der dort gekauften Pflanzen, können die (dem ermäßigten Steuersatz unterliegende) Lieferung der Pflanzen und das (dem Regelsteuersatz unterliegende) Einpflanzen umsatzsteuerrechtlich jeweils selbständige Leistungen sein79. Solche selbständige Leistungen hat der BFH auch angenommen, wenn ein Unternehmer einem Landwirt Saatgut liefert und es einsät80. Dagegen hat der BFH bei der Lieferungen von Pflanzen im Rahmen von Grabpflegeleistungen keine selbständigen Lieferungen angenommen, sondern nur eine einheitliche sonstige Leistung, die dem allgemeinen Steuersatz unterliegt81. Das Gleiche gilt für die Wintereindeckung eines Grabes82. Auch bei der Frage, ob Beförderungsleistungen mit Taxen bis zu 50 km Beförderungsstrecke dem ermäßigten Steuersatz unterliegen, kann es eine wichtige Rolle spielen, ob Hin- und Rückfahrt selbständige Beförderungsleistungen darstellen, oder nur eine einheitliche Beförderungsleistung, falls damit die 50 km-Grenze überschritten wird. Auch hier hat der BFH die Auslegungsgrundsätze des EuGH zugrunde gelegt. Werden bei Fahrtantritt Hin- und Rückfahrt vereinbart, wartet aber das Taxi nach Durchführung der Hinfahrt zum Bestimmungsort vereinbarungsgemäß nicht auf den Kunden, sondern holt der Unternehmer den Kunden später – sei es aufgrund vorheriger Vereinbarung über den Abholungszeitpunkt oder aufgrund telefonischer Bestellung – erneut mit einem (ggf. auch anderen) Taxi ab und befördert ihn zum Ausgangsort zurück, ist nach Auffassung des BFH aus der Sicht des Durchschnittsverbrauchers mit der Ablieferung des Kunden die (erste) Beförderung rechtlich und wirtschaftlich abgeschlossen83. 77 BFH v. 17.4.2008 – V R 39/05, HFR 2008, 1163. 78 BFH v. 4.7.2002 (Fn. 71), S. 23. 79 BFH v. 25.6.2009 –V R 25/07, BStBl. II 2010, 239. 80 BFH v. 9.10.2002 – V R 5/02, UR 2003, 143. 81 BFH v. 21.6.2001 – V R 80/99, UR 2001, 446 = BStBl. II 2003, 810. 82 BFH v. 26.8.2004 – V B 196/03, V S 6/04, BFH/NV 2004, 1677. 83 BFH v. 19.7.2007 – V R 68/05, UR 2007, 903 = BStBl. II 2008, 208.

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Erst jüngst hat der EuGH in der Entscheidung „Stadion Amsterdam“84 entschieden, dass das Unionsrecht dahin auszulegen sei, dass eine einheitliche Leistung, die aus zwei separaten Bestandteilen, einem Haupt- und einem Nebenbestandteil, besteht, für die bei getrennter Erbringung unterschiedliche Mehrwertsteuersätze gälten, nur zu dem für diese einheitliche Leistung geltenden Mehrwertsteuersatz zu besteuern ist, der sich nach dem Hauptbestandteil richtet, und zwar auch dann, wenn der Preis jedes Bestandteils, der in den vom Verbraucher für die Inanspruchnahme dieser Leistung gezahlten Gesamtpreis einfließt, bestimmt werden kann. Es stellt sich deshalb die Frage, ob das o.a. Urteil Auswirkungen auf die Besteuerungspraxis in Deutschland hat, wonach es bei Verwirklichung einiger Lebenssachverhalte, die umsatzsteuerrechtlich als einheitliche Leistung anzusehen sind, zu einer Aufsplittung im Hinblick auf die Anwendung des Steuersatzes kommt. Das betrifft etwa die Hotelübernachtung einschließlich des Frühstücks im Hinblick auf die unterschiedliche Anwendung des Steuersatzes (§ 12 Abs. 2 Nr. 11 UStG). M.E. zwingt die aktuelle EuGH-Entscheidung hier bis auf Weiteres nicht zu einer anderen Betrachtung, da sich die Aufteilung der einheitlichen Leistung bezüglich der Anwendung des Steuersatzes aus der gesetzlichen Vorgabe in § 12 Abs. 2 Nr. 11 Satz 2 UStG ergibt. Damit ist der vom EuGH entschiedene Fall, in dem zwar der Preis jedes Leistungsbestandteils bestimmt werden konnte, für diese Aufteilung in den Niederlanden aber wohl keine gesetzliche Verpflichtung besteht, nicht vergleichbar.85 ee) Abgrenzungsfragen bei der Abgabe von Speisen und Getränken Die Abgrenzung von Lieferungen und sonstigen Leistungen sowie von Haupt- und Nebenleistung hat in der Vergangenheit bei der Abgabe von Speisen und Getränken eine besondere Rolle gespielt und spielt sie auch heute noch. Es geht dabei um die Frage, ob die am Imbissstand erworbene Currywurst mit Pommes frites, das im Kino verzehrte Popcorn oder die von einem Partyservice angerichteten Speisen geliefert worden sind – und damit dem ermäßigten Steuersatz unterliegen oder ob es sich um eine sonstige Leistung handelt, die dem allgemeinen Steuersatz unterliegt. Die Anwendung des ermäßigten Steuersatzes lässt sich nur durch richtlinienkonforme Auslegung am Maßstab des Art. 98 i.V.m. Anhang III Kategorie 1 MwStSystRL begründen sowie am Maßstab der Rechtsprechung des EuGH zur Abgrenzung von Lieferungen von sonstigen Leistungen sowie von Haupt- und Nebenleistung beantworten. Um die Abgrenzungsschwierigkeiten zu klären, hatte der BFH dem EuGH vier unterschiedliche Fälle86 vorgelegt. Mit Urteil vom 10.3.2011 hat der EuGH in der Rechtssache Bog

84 EuGH v. 18.1.2018 – C-463/16 – Stadion Amsterdam, UR 2018, 200. 85 A.A. Nieskens, UR 2018, 181, der die Auffassung vertritt, dass die aus dem Grundsatz der Einheitlichkeit der Leistung folgende Rechtsfolge, wonach die (unselbständige) Nebenleistung stets das Schicksal der Hauptleistung zu teilen hat, das Aufteilungsgebot aus §  12 Abs. 2 Nr. 11 Satz 2 UStG verdränge. 86 BFH v. 27.10.2009 – V R 35/08, BStBl. II 2010, 376 = UR 2011, 696; BFH v. 27.10.2009 – V R 3/07, BStBl. II 2010, 372 = UR 2012, 37; BFH v. 15.10.2009 – XI R 37/08, BStBl. II 2010, 368 = UR 2012, 34; BFH v. 15.10.2009 – XI R 6/08, BStBl. II 2010, 364 = UR 2012, 150.

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u.a.87 daraufhin die Abgrenzung zwischen Lieferungen und sonstigen Leistungen bei Restaurationsleistungen auf ein neues Fundament gestellt88. In der Folge hat der BFH dementsprechend die Abgabe von Bratwürsten, Pommes frites und ähnlichen standardisiert zubereiteten Speisen an einem nur mit behelfsmäßigen Verzehrvorrichtungen ausgestatteten Imbissstand als eine einheitliche Leistung gewertet, die als Lieferung dem ermäßigten Steuersatz unterliegt89. Gleiches gilt für den Verkauf von Nachos und Popcorn an Verkaufstheken im Eingangsbereich zu Kinosälen, wenn das als Dienstleistungselement bereitgestellte Mobiliar des Leistenden nicht ausschließlich dazu bestimmt ist, den Verzehr von Lebensmitteln zu erleichtern90. Ob mit der neueren Rechtsprechung Abgrenzungsprobleme obsolet geworden sind, mag bezweifelt werden. Dass die Abgrenzung zwischen dem ermäßigten Steuersatz unterliegenden Lieferungen und den nach dem Regelsteuersatz zu besteuernden sonstigen Leistungen beim Verzehr von Speisen jemals einer für alle Betroffenen zufriedenstellenden Lösung zugeführt werden kann, ist nach Meinung von Wäger sogar ausgeschlossen91. Allein der Begriff „Standardspeise” wirft Fragen auf. Zudem hat der Unionsgesetzgeber in Art. 6 MwSt-DVO, der am 1.7.2011 in Kraft getreten ist, eine Regelung aufgenommen, die keine Unterscheidung nach der Komplexität der Speisezubereitung enthält. Mellinghoff92 stellt daher zu Recht die Frage, ob es durch diese „Auslegungsverordnung” (vgl. hierzu den Erwägungsgrund 2 MwSt-DVO) zu einer Rechtsänderung zum 1.7.2011 gekommen ist.93 Das Thema beschäftigt die Rechtsprechung weiter, zuletzt z.B. mit BFH-Urteil vom 3.8201794 zur Wiesnbrezn auf dem Oktoberfest. Danach unterliegt die Abgabe von Brezn („Wiesnbrezn“) in Festzelten durch einen vom Festzeltbetreiber personenverschiedenen Unternehmer dem ermäßigten Steuersatz, weil es sich um eine Lieferung und nicht um eine sonstige Leistung handelt. Der BFH hat in dieser Entscheidung auch Art. 6 MwSt-DVO berücksichtigt. ff) Restriktive (enge) Auslegung Im Bereich der ermäßigten Steuersätze spielt auch der Grundsatz eine wichtige Rolle, dass im Rahmen einer richtlinienkonformen Auslegung eine enge Auslegung geboten ist, da grundsätzlich der allgemeine Steuersatz und nur in Ausnahmefällen der ermä-

87 EuGH v. 10.3.2011 – C-497/09, C-499/09, C-501/09 und C-502/09 – Bog u.a., UR 2011, 272 m. Anm. Nieskens. 88 Näheres s. Heidner in Bunjes, UStG, 16. Aufl., München 2017, § 12 UStG Rz. 45 ff. 89 BFH v. 30.6.2011 – V R 35/08, UR 2011, 696. 90 BFH v. 30.6.2011 – V R 3/07, UR 2012, 37. 91 Wäger, Rechtsprechungsauslese 2011, UR 2012, 125 (136). 92 Mellinghoff, FN 26, S. 5 ff. 93 Vgl. auch Wäger, (Fn. 91), 125 (137). 94 BFH v. 3.8.2017 – V R 15/17, UR 2017, 787 m. Anm. Korff/Süß.

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ßigte Steuersatz zur Anwendung kommen soll95. Ob also eine Leistung unter eine der im Anhang III MwStSystRL genannten Kategorien fällt, ist auf der Basis des Wortlauts, seines Kontexts und unter Beachtung des mit der Kategorie verfolgten Ziels vorzunehmen. Den Mitgliedstaaten steht dabei das Recht zu, von den einzelnen Kategorien selektiv Gebrauch zu machen, also die Steuersatzermäßigung nur auf Teile der Kategorien zu beschränken (vgl. oben III.2.d)aa) und bb)). Begrenzt wird dieses Recht allein dadurch, dass hierdurch keine Wettbewerbsverzerrungen entstehen dürfen96. Der EuGH und BFH haben sich in einer ganzen Reihe von Urteilen mit der Frage befasst, ob und inwieweit nationale Regelungen in den EU-Mitgliedstaaten bei der Anwendung des ermäßigten Steuersatzes dem Unionsrecht entsprechen. gg) Bespiele für eine grundsätzlich enge Auslegung ȤȤ Nach § 12 Abs. 2 Nr. 1 UStG i.V.m. Anlage 2 Nr. 1 Buchst. a zum UStG a.F. ermäßigte sich die Steuer auf 7 % für die Lieferung, die Einfuhr und den innergemeinschaftlichen Erwerb von lebenden Pferden einschließlich reinrassiger Zuchttiere, ausgenommen Wildpferde. Nach dem Wortlaut der Vorschrift – die mit Wirkung vom 1.7.2012 aufgehoben wurde – war der ermäßigte Umsatzsteuersatz auch auf die Lieferung von Sportpferden anzuwenden. Gemessen am Unionsrecht war das nationale Recht in Bezug auf die Lieferung von Sportpferden jedoch zu weit97. ȤȤ Mit Urteil vom 2.7.2014 hat der BFH entschieden, dass auch die entgeltliche Übertragung eines Miteigentumsanteils an einem lebenden, nicht für die Zubereitung von Nahrungs- oder Futtermitteln bestimmten Pferd nicht ermäßigt zu besteuern ist98. § 12 Abs. 2 Nr. 1 UStG i.V.m. Anlage 2 Nr. 1 Buchst. a zum UStG a.F. sei richtlinienkonform dahin auszulegen, dass ein Pferd im Sinne dieser Vorschrift nur ein lebendes Tier ist, das gewöhnlich und allgemein für die Zubereitung von Nahrungsmitteln oder Futtermitteln bestimmt ist. ȤȤ Mit Urteil vom 3.12.201599 hat der BFH entschieden, dass digitale oder elektronische Sprachwerke (E-Books) keine Bücher i.S. von § 12 Abs. 2 Nr. 2 UStG i.V.m. Anlage 2 Nr.  49 Buchst. a zum UStG sind. Nach Anhang III Nr.  6 MwStSystRL können die ermäßigten Steuersätze i.S. des Art. 98 MwStSystRL auf die Lieferung von Büchern auf jeglichen physischen Trägern, einschließlich des Verleihs durch Büchereien, angewandt werden. Allerdings sind die ermäßigten Steuersätze nicht anwendbar auf elektronisch erbrachte Dienstleistungen (Art. 98 Abs. 2 Satz 2 MwSt-

95 EuGH v. 17.1.2013  – C-360/11, Kommission/Spanien, UR 2013, 304, Rz.  18; EuGH v. 3.3.2011 – C-41/09, Kommission/Niederlande, UR 2012, 114, Rz. 52. 96 EuGH v. 3.4.2008 – C-422/05, Zweckverband Torgau-Westelbien, BStBl. II 2009, 328. 97 Vgl. dazu EuGH v. 12.5.2011 – C- 453/09, Kommission/Deutschland, UR 2011, 827; BFH v. 24.10.2013 – V R 17/13, UR 2014, 147, Rz. 15 ff. 98 BFH v. 2.7.2014 – XI R 4/13, HFR 2015, 72. 99 BFH v. 3.12.2015 – V R 43/13, BStBl. II 2016, 858 = UR 2016, 241.

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Die Bedeutung des Unionsrechts für die Steuersatzermäßigung

SystRL). Das Überlassen elektronischer Bücher ist eine solche elektronisch erbrachte Dienstleistung100. ȤȤ Auch § 12 Abs. 2 Nr. 3 UStG ist eng auszulegen. Wegen Art. 98 Abs. 2 i.V.m. Anhang III Kategorie 11 MwStSystRL erlaubt diese Vorschrift nur die Ermäßigung bei Dienstleistungen, „die in der Regel für den Einsatz in der landwirtschaftlichen Erzeugung bestimmt sind.“ Folglich ist die Vorschrift richtlinienkonform eng dahingehend auszulegen, dass die Umsätze eines Landwirts aus dem Einstellen, Füttern und Betreuen von nicht zu land- oder forstwirtschaftlichen Zwecken gehaltenen Pferden nicht begünstigt sind101. ȤȤ § 12 Abs. 2 Nr. 4 UStG ist ebenfalls restriktiv auszulegen. Danach sind solche „Tiere“ nicht begünstigt, die nicht in der Landwirtschaft verwendet werden, z.B. Reitund Rennpferde (Abschn. 12.3 Abs. 3 und Abs. 5 UStAE). Die Dienstleistungen müssen unmittelbar den genannten Zwecken dienen, so dass allgemeine Gesundheits- u.ä. Maßnahmen wie z.B. Klauenpflegeleistungen nicht begünstigt sind102. ȤȤ Der Begriff „Filmvorführungen“ in § 12 Abs. 2 Nr. 7 Buchst. b UStG ist richtlinienkonform eng auszulegen, sodass bei Leistungen, die nur zur alleinigen Nutzung bestimmt sind, der Ermäßigungstatbestand nicht erfüllt ist, wie z.B. bei einer Filmvorführung in einer verschließbaren Einzelfilmkabine103. Den in Anhang III Nr. 7 MwStSystRL genannten Ereignissen und Einrichtungen (u.a. Kinos) ist nämlich gemeinsam, dass sie der Öffentlichkeit aufgrund vorhergehender Bezahlung eine Eintrittsberechtigung gewähren, aufgrund derer alle zahlenden Personen gemeinsam die diesen Ereignissen und Einrichtungen eigenen kulturellen Leistungen wie auch die ihnen eigene Unterhaltung in Anspruch nehmen dürfen. ȤȤ Anhang III Kategorie 7 MwStSystRL erlaubt den ermäßigten Steuersatz bei Eintrittsberechtigungen für „Tierparks (…) sowie ähnliche kulturelle (…) Einrichtungen“, so dass die Steuerermäßigung des § 12 Abs. 2 Nr. 7 Buchst. d UStG für zoologische Gärten nur dann richtlinienkonform ist, wenn diese Tierparks oder diesen ähnliche Einrichtungen sind104. ȤȤ Schließlich hat der BFH entschieden, dass § 12 Abs. 2 Nr. 8 Buchst. a UStG nur insoweit dem Unionsrecht entspricht, als es Art. 12 Abs. 3 Buchst. a der 6. EG-Richtlinie i.V.m. Anhang H Nr. 14 (ab 1.1.2007 Art. 98 MwStSystRL i.V.m. Anhang III Nr. 15) den Mitgliedstaaten erlaubt, einen ermäßigten Steuersatz für die „Lieferung von Gegenständen und Erbringung von Dienstleistungen durch von den Mitgliedstaaten anerkannte gemeinnützige Einrichtungen für wohltätige Zwecke und im Bereich der sozialen Sicherheit, soweit sie nicht nach Artikel 13 steuerbefreit sind“

100 Vgl. auch EuGH v. 5.3.2015 – C-479/13, Kommission/Frankreich, UR 2015, 305, Rz. 27 ff., 33, 34, und EuGH v. 5.3.2015 – C-502/13, Kommission/Luxemburg, UR 2015, 308, Rz. 35 ff., 40, 41. 101 Vgl. BFH v. 22.1.2004 – V R 41/02, BStBl. II 2004, 757 = UR 2004, 248. 102 BFH v. 16.1.2014 – V R 26/13, BStBl. II 2014, 350 = UR 2014, 772. 103 EuGH v. 18.3.2010 – C-3/09, Erotic Center BVBA, UR 2010, 315. 104 Stadie (Fn. 9), Rz. 61.

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anzuwenden105. Anhang III Nr. 15 MwStSystRL ist mithin enger gefasst. Folglich ist § 12 Abs. 2 Nr. 8 Buchst. a Satz 1 UStG insoweit richtlinienwidrig, als die Vorschrift nicht nur die Leistungen, die steuerbegünstigte Körperschaften für wohltätige Zwecke und im Bereich der sozialen Sicherheit erbringen, sondern alle Leistungen dieser Körperschaften wie z.B. auch bei der Förderung des Sports (§ 52 Abs. 2 Nr. 2 AO) erfasst. Daher sind die Begriffe, die – unmittelbar oder mittelbar – gemäß § 12 Abs. 2 Nr. 8 Buchst. a Satz 2 UStG zur Anwendung des Regelsteuersatzes führen, weit und die Begriffe, die zur Anwendung des ermäßigten Steuersatzes führen, eng auszulegen. ȤȤ Auch zu § 12 Abs. 2 Nr. 9 UStG hat der BFH entschieden, dass der Anwendungsbereich eng auszulegen ist. Zur restriktiven engen Auslegung dieser Vorschrift s. unten III.2.e)gg). Soweit die Vorschrift die Anwendung des ermäßigten Steuersatzes auf die unmittelbar mit dem Betrieb der Schwimmbäder verbundenen Umsätze anordnet, beruht sie auf Art. 12 Abs. 3 Buchst. a der 6. EG-Richtlinie i.V.m. Anhang H Nr. 13 (ab 1.1.2007 Art. 98 MwStSystRL i.V.m. Anhang III Nr. 14), wonach die Mitgliedstaaten das Überlassen von Sportanlagen einem ermäßigten Steuersatz unterwerfen können. Hierzu gehört zwar auch die Aufrechterhaltung des Schwimmbadbetriebs für die Öffentlichkeit und die diesem Betrieb dienenden Betriebsführungsleistungen106, nicht aber auch der Betrieb und die Errichtung eines Schwimmbades107. ȤȤ Die Verabreichung eines Heilbads i.S.d. § 12 Abs. 2 Nr. 9 UStG muss der Behandlung einer Krankheit oder einer anderen Gesundheitsstörung und damit dem Schutz der menschlichen Gesundheit dienen. Hiervon kann bei der Nutzung einer Sauna in einem Fitnessstudio regelmäßig keine Rede sein; sie dient regelmäßig lediglich dem allgemeinen Wohlbefinden.108 Sowohl der Begriff „Verabreichung von Heilbädern“ in § 12 Abs. 2 Nr. 9 UStG als auch der Begriff „Thermalbehandlung“ in Nr. 16 des Anhangs H zur 6. EG-RL (ab 1.1.2007 Anhang III Nr. 17) ist dahin zu verstehen, dass diese im Rahmen einer medizinischen Heilbehandlung erfolgen müssen (hier: Saunaumsätze eines Fitnessstudios)109. Der im nationalen Recht vorgesehene ermäßigte Umsatzsteuersatz für Personenbeförderungsleistungen im Nahverkehr (§ 12 Abs. 2 Nr. 10 UStG) durch Taxen ist unionsrechtskonform und gilt grundsätzlich nicht für entsprechende von Mietwagenunternehmern erbrachte Leistungen110. Anders kann es sein, wenn von einem Mietwagenunternehmer durchgeführte Krankentransporte auf mit Krankenkassen geschlossenen Sondervereinbarungen, die ebenfalls für Taxiunternehmer gelten, beruhen.

105 BFH v. 8.3.2012 – V R 14/11, UR 2012, 560 = BStBl. II 2012, 630, unter II.2.a bb. 106 BFH v, 19.11.2009 – V R 29/08, UR 2010, 336. 107 BFH v. 11.2.2010 – V R 30/08, BFH/NV 2010, 2125. 108 BFH v. 12.5.2005 – V R 54/02, UR 2005, 561 = BStBl. II 2007, 283. 109 BFH v. 28.8.2006 – V B 180/05, juris. 110 BFH v. 2.7.2014 – XI R 39/10, BStBl. II 2015, 421 = UR 2015, 28.

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Die Bedeutung des Unionsrechts für die Steuersatzermäßigung

ȤȤ Die Steuersatzermäßigung nach § 12 Abs. 2 Nr. 11 Satz 1 UStG setzt bei enger Auslegung eine Vermietung von Wohn- und Schlafräumen zur kurzfristigen Beherbergung voraus. Hieran fehlt es z.B. bei einer Vermietung in einem „Bordell. Damit folgt BFH der Rechtsprechung des EuGH. Nach dessen Urteil111 vom 12.2.1998 ist die Dauer der Beherbergung  – bei der Überlassung „vollständig möblierter und mit Kochgelegenheiten ausgestatteter Zimmer“, bei der der Vermieter „für die Gestellung und Reinigung der Bettwäsche sowie für die Reinigung der Flure, Treppenhäuser, Bäder und WCs“ zu sorgen hatte  – ein geeignetes Kriterium für die Unterscheidung zwischen der Gewährung von Unterkunft im Hotelgewerbe (als steuerpflichtigem Umsatz) einerseits und der Vermietung von Wohnräumen (als befreitem Umsatz) andererseits, da sich die Beherbergung im Hotel u.a. gerade bezüglich der Verweildauer von der Vermietung eines Wohnraumes unterscheidet. ȤȤ Für die Leistungen von Rechtsanwälten gibt es im Unionsrecht keine Begünstigung. Deshalb verstößt ein Mitgliedstaat, der wie Frankreich einen ermäßigten Mehrwertsteuersatz auf Leistungen anwendet, die von bestimmten Rechtsanwälten erbracht werden und für die diese vollständig oder teilweise i.R. der Prozesskostenhilfe durch den Staat entschädigt werden, gegen seine Pflichten aus den Art. 96 und 98 Abs. 2 MwStSystRL112. ȤȤ Auch für die Lieferung von Säuglings- bzw. Kinderbekleidung und Kinderzubehör gibt es im Unionsrecht keine Ermächtigung zur Anwendung eines ermäßigten Steuersatzes, mit Ausnahme der Vorschrift des § 115 MwStSystRL.113 f) Anwendungsvorrang des Unionsrechts beim ermäßigten Steuersatz Im Unterschied zum Bereich der Steuerbefreiungen114 spielt die unmittelbare Wirkung von Richtlinien bei den ermäßigten Steuersätzen nur eine begrenzte Rolle. Dies liegt daran, dass der Gesetzgeber von den Möglichkeiten der Einräumung eines ermäßigten Steuersatzes selektiv Gebrauch machen kann und deshalb eine unmittelbare Berufung auf Unionsrecht außerhalb des vom Gesetzgeber gewählten Anwendungsbereichs grundsätzlich nicht möglich ist. Hat also der nationale Gesetzgeber von der ihm eingeräumten Möglichkeit, eine in Anhang III MwStSystRL genannte Kategorie ermäßigt zu besteuern, nur für einen Teilaspekt der Kategorie Gebrauch gemacht, kann sich der Steuerpflichtige nicht mit Erfolg auf die weitergehende Begünstigungsmöglichkeit der MwStSystRL berufen115. Der EuGH hat das so formuliert: Lässt Wortlaut, Zweck und Ziel der jeweiligen Kategorie des Anhangs III zur MwStSystRL keine Auslegung zugunsten einer Anwendung des ermäßigten Steuersatzes auf die zu beurteilende umsatzsteuerliche Leistung zu, gebietet auch der Grundsatz der steuerlichen Neutralität keine Ausweitung, soweit es 111 EuGH v. 12.2.1998 – C-346/95, Elisabeth Blasi, HFR 1998, 505. 112 EuGH v. 17.6.2010 – C-492/08, EU-Kommission/Frankreich, UR 2010, 662. 113 EuGH v. 28.10.2010 – C-49/09, EU-Kommission/Polen, HFR 2011, 121. 114 S. dazu ausführlich Mellinghoff, Fn. 26, S. 5. 115 BFH v. 11.2.2011 – V B 64/09, BFH/NV 2011, 868; Kraeusel, Fn. 4, Rz. 83.

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an einer eindeutigen Bestimmung im Unionsrecht zugunsten der Anwendung des ermäßigten Steuersatzes fehlt.116 Dies hat der EuGH z.B. in einem Fall entschieden, in dem es darum ging, ob sich ein Regisseur mit seinen Leistungen zur Inszenierung einer Oper unmittelbar auf Unionsrecht berufen kann, um den ermäßigten Steuersatz zu erlangen117. Die selektive Anwendung des ermäßigten Steuersatzes ist hiernach nicht ausgeschlossen, sofern sie keine Gefahr einer Wettbewerbsverzerrung nach sich zieht118. Es steht also im Einklang mit dem Unionsrecht, wenn der nationale Gesetzgeber u.a. die den Theatervorführungen und Konzerten vergleichbaren Darbietungen ausübender Künstler mit dem ermäßigten Steuersatz belegt, diesen hingegen für die Dienstleistungen eines Regisseurs nicht vorsieht. Denn die Dienstleistungen der den Theatervorführungen und Konzerten vergleichbaren Darbietungen ausübender Künstler sind weder mit denen eines Regisseurs gleichartig noch stehen sie im Wettbewerb zueinander. Etwas anderes gilt nur dann, wenn vergleichbaren Leistungen im Wettbewerb mitei­ nander stehen und der Grundsatz der Steuerneutralität verletzt würde. Dies hat in einem Vertragsverletzungsverfahren der Kommission gegen Deutschland eine Rolle gespielt119. Dabei ging es um die Leistungen von Solisten an einen Konzertveranstalter, die nach damaliger Fassung des § 12 Abs. 2 Nr. 7 Buchst. a UStG nicht begünstigt waren. Der EuGH entschied, dass für die Solistenleistungen an Konzertveranstalter – wie für Ensembles – der ermäßigte Steuersatz gewährt werden muss. Er hebt dabei auf den Grundsatz der Steuerneutralität ab, der einer umsatzsteuerlichen Ungleichbehandlung gleichartiger Waren oder Dienstleistungen, die miteinander im Wettbewerb stehen, entgegensteht. Nach Ansicht des EuGH erfasst der Begriff „ausübende Künstler“ in Anhang H Nr. 7 und 8 der 6. EG-Richtlinie (ab 1.1.2007 Anhang III Nr. 7 MwStSystRL) sowohl die Leistungen einzelner ausübender Künstler als auch die Leistungen der zu einer Gruppe zusammengeschlossenen ausübenden Künstler. Die Anzahl der auf der Bühne anwesenden Personen spiele dafür keine Rolle. In diesem Falle kam es somit zu einer unmittelbaren Anwendung des Unionsrechts.120 Auch in einem weiteren Fall hat der BFH eine unmittelbare Anwendung des Unionrechts angenommen. Nach § 12 Abs. 2 Nr. 1 UStG i.V.m. der Anlage 2 Nr. 1 Buchst. a in seiner bis 30.6.2012 geltenden Fassung war nämlich der ermäßigte Steuersatz für „Pferde, einschließlich reinrassiger Zuchttiere, ausgenommen Wildpferde“ anzuwenden, umfasste damit auch die Lieferung von Springpferden. Demgegenüber unterliegt die Lieferung von Springpferden nach dem Unionsrecht dem allgemeinen Steuer116 EuGH v. 5.3.2015 – C-502/13, Kommission/Luxemburg, UR 2015, 308, Rz. 51, und EuGH v. 2.7.2015 – C-334/14, De Fruytier, UR 2015, 636, Rz. 37. 117 EuGH v. 23.10.2003 – C-109/02, Kommission/Deutschland, BStBl. II 2004, 482. 118 EuGH v. 23.20.2003  – C-109/02, BFH/NV Beilage 2004, 37, Rz.  20 m.w.N.; EuGH v. 6.5.2010 – C-94/09, Kommission/Frankreich, UR 2010, 452, Rz. 25 m.w.N. 119 EuGH v. 23.10.2003 – C-109/02, BStBl. II 2004, 337. 120 Der Gesetzgeber hat dann übrigens § 12 Abs. 2 Nr. 7 Buchst. a UStG durch das Gesetz zur Umsetzung von EU-Richtlinien in nationales Steuerrecht und zur Änderung weiterer Vorschriften (Richtlinien-Umsetzungsgesetz – EURLUmsG) v. 9.12.2004, (BGBl. I 2004, 3310) entsprechend angepasst.

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satz121. Fraglich war, ob der Leistungsempfänger den vollen Vorsteuerabzug hat, wenn ihm seiner Zeit der nach Unionsrecht vorgeschriebene allgemeine USt-Satz in Rechnung gestellt wurde. Dies hat der BFH122 bejaht und ausgeführt, dass sich der zum Vorsteuerabzug berechtigte Leistungsempfänger auf den Anwendungsvorrang des Unionsrechts berufen und – bei Vorliegen der weiteren z.B. rechnungsmäßigen Voraussetzungen – den Vorsteuerabzug nach dem für ihn günstigeren Regelsteuersatz in Anspruch nehmen kann. In Bezug auf den Anwendungsvorrang des Unionsrechts sei die Minderung der den Unternehmer treffenden Steuerschuld maßgeblich. Diese verringert sich nicht nur für den Leistenden aufgrund der Anwendung eines unionsrechtlich vorgegebenen ermäßigten Steuersatzes anstelle des vom nationalen Recht vorgesehenen Regelsteuersatzes, sondern im Umkehrfall auch für den Leistungsempfänger, wenn das Unionsrecht die Anwendung des Regelsteuersatzes vorsieht, während der Umsatz nach nationalem Recht dem ermäßigten Steuersatz unterliegt. g) Anwendungsvorrang des nationalen Rechts beim ermäßigten Steuersatz Wenn eine Leistung nach nationalem Recht begünstigt ist, aber nicht unter eine der Kategorien des Anhangs III zur MwStSystRL subsumiert werden kann, auch nicht durch richtlinienkonforme Auslegung, dann stellt sich die Frage, ob die nationalen Gerichte dem Steuerpflichtigen wegen der Unionrechtswidrigkeit die Steuervergünstigung versagen dürfen. Dies ist nicht der Fall. Im Unterschied zur richtlinienkonformen Auslegung kommt nämlich eine unmittelbare Anwendung der Richtlinie nur zugunsten des Steuerpflichtigen in Betracht. Ein Anwendungsvorrang zu Lasten des Steuerpflichtigen wäre mit dem Grundsatz der Rechtssicherheit nicht vereinbar. Solange die Unionrechtswidrigkeit nicht von der EU-Kommission im Wege eines Vertragsverletzungsverfahrens erfolgreich beanstandet wird, geht das für den Unternehmer günstigere nationale Recht vor.123 Der Anwendungsvorrang des nationalen Rechts galt z.B. bei der Lieferung von Reitpferden nach § 12 Abs. 2 Nr. 1 i.V.m. Nr. 1 Buchst. a der Anlage 2 a.F. In mehreren Urteilen hatte der EuGH124 entschieden, dass insoweit nur der allgemeine Steuersatz anzuwenden sei, weil Anhang III Nr. 1 zur MwStSystRL die Anwendung eines ermäßigten Mehrwertsteuersatzes nur für lebende Tiere, die üblicherweise dafür bestimmt sind, für die Zubereitung von Nahrungs- und Futtermitteln verwendet zu werden, gilt. Gleichwohl konnten sich die Steuerpflichtigen in den Mitgliedstaaten, die von 121 EuGH v. 12.5.2011 – C-453/09, Kommission/Deutschland, UR 2011, 827. 122 BFH v. 24.10.2013 – V R 17/13, BStBl. II 2015, 513 = UR 2014, 147. 123 Vgl. BFH v. 19.5.1993 – V R 110/88, BStBl. II 1993, 779, Rz. 32 = UR 1994, 124; BFH v. 25.11.2004 – V R 4/04, BStBl. II 2005, 415, Rz. 37 (zu § 12 Abs. 2 Nr. 7 Buchst. c UStG) = UR 2005, 553; BFH v. 12.5.2005 – V B 119/04, BFH/NV 2005, 1826 (zu § 12 Abs. 2 Nr. 7 Buchst. c UStG, Rz. 20); BFH v. 18.8.2005 – V R 42/03, BStBl. II 2006, 44, Rz. 41 (zu § 12 Abs. 2 Nr. 7 Buchst. c UStG) = UR 2006, 26. 124 EuGH v. 12.5.2011 (Fn. 114); EuGH v. 3.3.2011 (Fn. 88); EuGH v. 12.5.2011 – C-441/09, EU-Kommission/Österreich, DB 2011, 1204; EuGH v. 8.3.2012 – C-596/10, EU-Kommission/Frankreich, HFR 2012, 463; EuGH v. 14.3.2012 – C-108/11, Kommission/Irland, DB 2013, 1398.

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den Urteilen betroffen waren, bis zur Änderung des jeweiligen nationalen Rechts unmittelbar auf ihr richtlinienwidriges nationales Recht berufen. h) Abgrenzung der Kategorien des Anhangs III zur MwStSystRL nach der kombinierten Nomenklatur (Art. 98 Abs. 3 MwStSystRL) aa) Auslegung allein anhand der zolltariflichen Vorschriften und Begriffe Da Deutschland entsprechend Art. 98 Abs. 3 MwStSystRL zur Anwendung des ermäßigten Steuersatzes auf bestimmte Kategorien von Anhang III zur MwStSystRL diese anhand der kombinierten Nomenklatur (KN), also anhand der Zolltarifnummern, abgegrenzt hat, stellt sich die Frage, welche Auslegungsgrundsätze aus Unionssicht dabei zu beachten sind. Zunächst ist festzustellen, dass der Gesetzgeber mit der gleitenden Verweisung auf den Zolltarif in der Anlage 2 des UStG Gesetzesökonomie betrieben und gleichzeitig eine Vereinfachung für die Praxis geschaffen hat125. Der in der Anlage 2 zum UStG zu § 12 Abs. 2 Nr. 1 UStG angesprochene Zolltarif stellt ein systematisch aufgebautes Warenverzeichnis dar, das die Zuordnung der betreffenden Gegenstände verbindlich abgrenzt. Die KN entspricht dem Harmonisierten System zur Bezeichnung und Codierung der Waren (Harmonisiertes System, HS).126 Die KN (das Warenverzeichnis) und der Zolltarif sind als Anlage I dem Zollkodex der Union beigefügt. Dieser Zollkodex beruht auf der Verordnung (EU) Nr.  952/2013 vom 9.10.2013 (genannt: UZK) und ist am 30.10.2013 in Kraft getreten. Er stellt den neuen Basisrechtsakt dar. Die Anlage I wird gem. Art.  12 VO (EWG) Nr.  2658/87 ständig aktualisiert und gilt ab 1.1.2018 in der Fassung der Durchführungsverordnung (EU) 2017/1925 der Kommission vom 12.10.2017127. Grundlage der zolltarifrechtlichen Einreihung ist ein elfstelliger Code: die ersten sechs Stellen dienen der Bezeichnung und Codierung der Ware (verwaltet durch die Weltzollorganisation), die Stellen sieben und acht werden durch die KN der Europäischen Union erweitert, die Stellen neun und zehn verschlüsseln gemeinschaftliche Maßnahmen (z.B. Antidumpingregelungen, sog. TARIC). Die elfte Stelle schließlich dient nationalen Zwecken wie z.B. der Verschlüsselung der Umsatzsteuersätze128. Für die Zuordnung der Waren zu den Kapiteln, Positionen und Unterpositionen gelten die „Allgemeinen Vorschriften für die Auslegung der Kombinierten Nomenklatur“.

125 Kraeusel (Fn. 4), Rz. 406. 126 Zu den rechtlichen Grundlagen des Zolltarifs s. Nieskens (Fn.  8), Rz.  83 und 84 sowie Kraeusel (Fn. 4), Rz. 405. 127 ABl.EU 2017 Nr. L 282, 1. 128 Vgl. hierzu www.zoll.de/DE/Fachthemen/Zoelle/Zolltarif.

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Die Anlage 2 zum UStG stützt sich auf unterschiedliche Kapitel, Positionen oder Unterpositionen des Zolltarifs. Aus der verwendeten Verweisungstechnik wird deutlich, dass die Verweisungen unterschiedlich wirken. Soweit die Warenpositionen der Anlage eine oder mehrere Positionen (oder ein ganzes Kapitel) des Gemeinsamen Zolltarifs umfassen, sind alle zu diesen Positionen oder Kapiteln gehörenden Waren begünstigt. Bei Expositionen („aus Position …“) wie bei Briefmarken (Nr. 49 Buchst. f) oder Sammlungsstücken (Nr. 54) unterliegen nur die ausdrücklich aufgeführten Waren der bezeichneten Tarifstelle dem ermäßigten Steuersatz. Soweit dadurch der Anwendungsbereich gegenüber den Kategorien des Anhangs III zur MwStSystRL eingeschränkt wird, hat der Gesetzgeber von der zulässigen Möglichkeit Gebrauch gemacht, den Anwendungsbereich des ermäßigten Steuersatzes selektiv einzuschränken (s. oben unter III.2.d. aa) und bb)). Für die Auslegung des § 12 Abs. 2 Nr. 1 UStG i.V.m. Anlage 2 kommt es allein auf die zolltariflichen Vorschriften und Begriffe an129. Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH130 ist das entscheidende Kriterium für die zollrechtliche Tarifierung von Waren allgemein in deren objektiven Merkmalen und Eigenschaften zu suchen, wie sie im Wortlaut der Positionen und Unterpositionen der KN und in den Anmerkungen zu den Abschnitten oder Kapiteln rechtsverbindlich festgelegt sind. Dazu gibt es die Erläuterungen zum Harmonisierten System (ErlHS), die ein wichtiges, wenn auch nicht verbindliches Erkenntnismittel für die Auslegung der einzelnen Tarifpositionen darstellen.131 Diese Maßstäbe hat der BFH132 z.B. bei der Auslegung des Begriffs der Annoncen-Zeitungen angelegt. Die Auslegung dieses Begriffs richtet sich nur nach den Regeln und Gesetzen des Zolltarifrechts, also nach § 12 Abs. 2 Nr. 1 Satz 1 i.V.m. Nr. 49 Buchst. b der Anlage zum UStG und auf Position 49.02 des Gemeinsamen Zolltarifs133. Durch die ständige Rechtsprechung des BFH ist geklärt, dass es sich auch um Annoncen-Zeitungen (die nicht den begünstigten Zeitungen aus Position 49.02 GZT entsprechen) handelt, wenn sie überwiegend Kleinanzeigen in der Form von Verkaufsanzeigen durch nicht gewerblich tätige Privatleute enthalten.134 Auch die nichtgeschäftliche private Werbung wird von den in der Tarifst. 49.11 GZT bezeichneten „Drucken, die überwiegend Werbezwecken dienen“, umfasst.135 Ist in der Anlage 2 zum UStG nur eine sechsstellige Unterposition angegeben, kann die Rechtsprechung auch die achtstellige Unterposition zur Auslegung heranziehen,

129 BFH v. 18.12.2008 – V R 55/06, UR 2009, 243 = BFH/NV 2009, 673, 675. 130 EuGH v. 10.10.1985 – 200/84, Slg 1985, 3377. 131 Vgl. etwa EuGH v. 27.11.2008 – C-403/07, Metherma, HFR 2009, 202; EuGH v. 12.7.2012 – C-291/11, TNT Freight Management, AW-Prax 2013, 388, Rz. 30 ff., und BFH v. 7.7.2015 – VII R 65/13, BFH/NV 2015, 1605 = UR 2016, 70. 132 BFH v. 20.3.1998 – V B 138/97, BFH/NV 1998, 1380. 133 Vgl. EuGH v. 9.8.1994 – C-393/93, Stanne, HFR 1994, 688. 134 BFH v. 2.4.1996 – VII R 119/94, UR 1996, 338, m.w.N. 135 BFH v. 26.2.1991 – VII R 127/89, BFH/NV 1991, 779.

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auch wenn auf diese im Gesetz nicht ausdrücklich hingewiesen wird. Dies hat der BFH zu Nr. 52 der Anlage 2 zum UStG entschieden.136 bb) Rechtsqualität der Verweisung auf den Zolltarif Fraglich ist, ob die Verweisung auf den Zolltarif eine statische oder eine dynamische Verweisung darstellt. Da die Verweisung keinen Bezug zur jeweiligen Durchführungsverordnung der Kommission enthält, kann es sich m.E. nur um eine dynamische Verweisung handeln137. Damit gilt der Zolltarif in der jeweils geltenden Fassung. Die Ermächtigungen in § 26 Abs. 1 und 2 UStG stellen dabei sicher, dass der Umfang der Begünstigung in seinem ursprünglichen Umfang bestehen bleiben kann, auch wenn sich der Zolltarif ändert. Außerdem wird das BMF ermächtigt, den Wortlaut der Anlage 2 an etwaige Änderungen des Wortlauts des Zolltarifs anzupassen. cc) Zolltarifauskunft Hat der Unternehmer Zweifel an der zolltarifrechtlichen Einordnung einer Ware, kann er im Einzelfall eine verbindliche Auskunft der Zollbehörden über die Zugehörigkeit einer Ware zu den begünstigten Gegenständen erhalten, wenn dem Auskunftsersuchen eine Einfuhr zu Grunde liegt. Außerdem kann ihm auf Antrag durch die OFD eine (unverbindliche) Zolltarifauskunft über die Zugehörigkeit einer Ware zu einer Position des Zolltarifs erteilt werden138. 3. Bedeutung des primären Unionsrechts bei der Anwendung von ermäßigten Steuersätzen a) Grundsätzliches zum Primär- und Sekundärrecht Sowohl das Umsatzsteuergesetz als nationales Recht als auch Richtlinien und Verordnungen als sog. sekundäres Unionsrecht (vgl. o. III.1.c) müssen sich an den Vorgaben des primären Unionsrechts messen lassen. Hierzu zählen – neben Art. 113 AEUV, der die unionsrechtliche Reglungsbefugnis für die Umsatzsteuer enthält – die Grundfreiheiten und die dem Primärrecht immanenten allgemeinen europarechtlichen Rechtsgrundsätze sowie die Grundrechte der Grundrechtecharta. Diese wirken auf das deutsche Umsatzsteuerrecht und damit auch auf den Bereich der ermäßigten Steuersätze ein. b) Bedeutung der Grundfreiheiten Zu den Grundfreiheiten, die sich nicht nur an den Unionsgesetzgeber wenden, zählt unter anderem die Warenverkehrsfreiheit. Maßnahmen, die die gleiche Wirkung wie 136 BFH v. 28.6.2000 – V R 63/99, UR 2001, 64. 137 A.A. Hummel in: Rau/Dürrwächter, UStG, 160. Lieferung 10.2014, §  12 Abs.  2 Nr.  12 UStG, Rz. 61 ff. 138 Näheres s. Kraeusel (Fn. 4), Rz. 409 ff.

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mengenmäßige Ausfuhr- und Einfuhrbeschränkungen aufweisen, sind danach auch im Umsatzsteuerrecht verboten (vgl. Art. 34 und Art. 35 AEUV). Daneben sind auch die Niederlassungsfreiheit (Art.  49 AEUV) und die Dienstleistungsfreiheit (Art.  56 AEUV) zu erwähnen. Die Grundfreiheiten haben bisher  – soweit erkennbar  – im Bereich der Umsatzsteuer weder in der Rechtsprechung des EuGH noch des BFH eine Rolle gespielt139. c) Bedeutung der Grundrechte-Charta (GrCh) Der Grundrechtecharta wurde durch die Neufassung des EUV Primärrechtsstatus verliehen140. Diese ist im Jahr 2009 in Kraft getreten.141 So regelt Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1 EUV zum einen, dass die EU die Rechte, Freiheiten und Grundsätze der Charta anerkennt, und zum anderen, dass die Charta und die Verträge rechtlich gleichrangig sind. Die Charta gilt allerdings gem. Art. 51 Abs. 1 S. 1 GrCh nur für die Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen142. Für die Mitgliedstaaten gilt die Charta also nur, wenn sie Unionsrecht durchführen. Bei nationalem Handeln ist also im Prinzip nicht zu prüfen, ob es den Grundrechten der Charta entspricht. Bei der Beurteilung, wann Mitgliedstaaten Unionsrecht durchführen, ist der EuGH allerdings, insbesondere wenn das Mehrwertsteueraufkommen betroffen ist, in seinen Entscheidungen relativ weit gegangen143. Die weitreichende Zuständigkeit des EuGH, die Charta auch bei der Prüfung nationaler Maßnahmen zugrunde zu legen, lässt sich immer dann begründen, wenn nur in irgendeiner Form das Mehrwertsteueraufkommen betroffen ist144. Im Bereich der ermäßigten Steuersätze spielt insb. der Gleichheitsgrundsatz des Art. 20 GrCh eine wichtige Rolle. Der Gleichheitssatz hat zwar schon bisher eine herausragende Rolle gespielt, z.B. in Form des Neutralitätsgrundsatzes (s.o. III.2.f), wird aber nunmehr mit der Grundrechtecharta ausdrücklich zum Primärrecht erhoben. Diese Vorschrift hat folgenden Wortlaut: „Alle Personen sind vor dem Gesetz gleich.“ Immer öfter müssen sich deshalb die Gerichte mit der Frage auseinandersetzen, ob mehrwertsteuerlich relevante Regelungen, Entscheidungen etc. von Unionsorganen oder Mitgliedstaaten Grundrechte der Grundrechtecharta verletzten. So hat der EuGH bereits festgestellt, dass ein nationales Gericht gehalten sein kann, nationales

139 Näheres s. Mellinghoff (Fn. 26) S. 5 ff. sowie von Streit/Streit (Fn. 19) S. 174 ff. 140 Streinz, Europarecht, 10. Aufl., Heidelberg 2016, Rz. 750; Weißer in Schulze/Zuleeg/Kadelbach, Europarecht, 3. Aufl., Baden-Baden 2015, § 42 Rz. 103. 141 Vgl. Charta der Grundrechte der Europäischen Union, ABl. EU 2007, Nr. C 303, 1. 142 Näheres s. von Streit/Streit, (Fn. 19) S. 174 ff. 143 Von Streit/Streit (Fn. 19), S. 174 ff. 144 S. hierzu insb. Widmann, Geltung der EU-Grundrechte-Charta bei der Sanktion mehrwertsteuerlicher Verfehlungen – Zum EuGH-Urt.l v. 26.2.2013 –C-617/10, UR 2014, 5; Dobratz, EU-Grundrechte und Umsatzsteuerrecht, UR 2014, 425.

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Recht unangewendet zu lassen, wenn es mit Grundrechten der GrCh nicht vereinbar ist145. Auch der BFH hat jetzt den EuGH mit Beschluss vom 22.6.2016146 erstmalig um eine Auskunft zur Vereinbarkeit bestimmter (Auslegungs-)Grundsätze mit von der Charta gewährten Rechten gebeten. Konkret will er wissen, ob die Rechtsprechung des EuGH zu Preisnachlässen  – die seiner Meinung nach in bestimmten Situationen zu einer Minderung der Steuer führt, in anderen nicht – gegen Unionsrecht (insbesondere den allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatz gem. Art. 20 GrCh) verstößt. In Rz. 27 seines Urteils vom 20.12.2017147 hat der EuGH hierzu ausgeführt, es sei unvereinbar mit dem in Art. 20 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union vorgesehenen allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatz, dass Abschläge an Unternehmen der privaten Krankenversicherung anders als Abschläge im Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung die Besteuerungsgrundlage nicht minderten, obwohl der pharmazeutische Unternehmer durch beide Abschläge in gleicher Weise belastet werde.148 Am Gleichbehandlungsgrundsatz des Art. 20 GrCh muss sich aber in erster Linie der Unionsgesetzgeber bei seiner Gesetzgebung richten. Der EuGH ist berufen, das sekundäre Unionsrecht (also z.B. die MwStSystRL) daraufhin zu überprüfen, ob sie dem Gleichheitssatz des Art. 20 GrCh genügt. Ist das nicht der Fall, kann der EuGH eine Bestimmung der MwStSystRL für nichtig erklären. Der EuGH hat diese Prüfung im Bereich der ermäßigten Steuersätze bereits einmal angewendet: Dabei ging es um die Anwendung ermäßigter Steuersätze auf elektronisch erbrachte Dienstleistungen. Nach Art.  98 Abs.  Satz 2 MwStSystRL ist hier der ermäßigte Steuersatz ausdrücklich ausgeschlossen. Im Bereich der Bücher führt dies dazu, dass die Lieferung digitaler Bücher auf jeglichen physischen Trägern der Steuersatzermäßigung nach Art.  98 Abs.  2 UAbs.  1 i.V.m. Anhang III Nr.  6 MwStSystRL unterliegt, während die Verschaffung digitaler Bücher auf elektronischem Weg von der Steuersatzermäßigung ausgeschlossen ist. Im Urteil RPO149 hat der EuGH diese Regelung am Maßstab des in Art. 20 GrCh verankerten Grundsatz der Gleichbehandlung überprüft. Der EuGH hat dabei einen Gleichheitsverstoß verneint. Dabei billigt der EuGH dem Unionsgesetzgeber ein weites Ermessen zu, da er beim Erlass steuerlicher Maßnahmen Entscheidungen politischer, wirtschaftlicher und sozialer Art zu treffen und dabei divergierende Interessen zu gewichten hat. Die gerichtliche Kontrolle dieses Ermessens beschränkt der EuGH auf die Feststellung offensichtlicher Fehler. Die Bedeutung dieser Entscheidung liegt aber nicht in der sich hieraus ergebenden Bestätigung der maßgeblichen Richtlinienbestimmung, sondern in der vom EuGH anerkannten Möglichkeit, eine Richtlinienbestimmung als gleichheitswidrig anzuse145 EuGH v. 26.2.2013  – C-617/10, Åkerberg Fransson, UR 2014, 27; EuGH v. 8.9.2015  – C-105/14, Taricco u.a., UR 2016, 367. 146 BFH v. 22.6.2016 –V R 42/15, UR 2016, 717. 147 EuGH v. 20.12.2017 – C-462/16, Boehringer Ingelheim Pharma, UR 2018, 166. 148 Nachfolgend s. BFH v. 8.2.2018 – V R 42/15, UR 2018, 322. 149 EuGH v. 7.3.2017 – C-390/15, RPO, UR 2017, 393 m. Anm. Dobratz.

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hen und aufgrund eines derartigen Rechtsverstoßes einen steuerrechtlichen Begünstigungstatbestand entgegen dem Wortlaut der Richtlinie anzuwenden150. d) Beachtung der Grundsätze der Rechtssicherheit, der Verhältnismäßigkeit und des Vertrauensschutzes Neben den Grundfreiheiten und der Grundrechte-Charta sind auch die europarechtlich anerkannten Rechtsgrundsätze zwingendes Unionsrecht, die es sowohl bei der Auslegung der MwStSystRL als auch des deutschen Umsatzsteuergesetzes zu beachten gilt. Sie sind Bestandteile der Unionsrechtsordnung und von den Mitgliedstaaten zu berücksichtigen151. Dazu gehören insbesondere die Grundsätze der Rechtssicherheit, der Verhältnismäßigkeit sowie des Vertrauensschutzes.152 Deren Wirkungsweise hat der EuGH besonders deutlich in seinen Entscheidungen zur Versagung der Steuerbefreiung für innergemeinschaftliche Lieferungen herausgearbeitet.153 Im Bereich der ermäßigten Steuersätze könnte am ehesten der Grundsatz der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes von Bedeutung sein, der z.B. dann Wirksamkeit erlangt, wenn sich ein Steuerpflichtiger vor dem nationalen Gericht auf eine richtlinienwidrige Steuerermäßigung des nationalen Rechts berufen kann, weil eine unmittelbare Anwendung von Unionsrecht zuungunsten des Steuerpflichtigen ausscheidet.

IV. Begrenzung des Einflusses des Unionsrechts durch nationales Verfassungsrecht Zum Schluss seien noch ein paar Worte zum Verhältnis von Unionsrecht zu nationalem Verfassungsrecht erlaubt. Dies ist ein Problem, dass bei der Auslegung aller Normen des UStG zu beachten ist, aber auch im Verhältnis zu den ermäßigten Steuersätzen des § 12 Abs. 2 UStG von Bedeutung ist. Grundsätzlich muss sich das deutsche Umsatzsteuerrecht sowohl an den Vorgaben des Unionsrechts als auch des Verfassungsrechts ausrichten. Dies ist solange un­ problematisch, wie die Anforderungen sich nicht widersprechen. Schwierigkeiten ergeben sich erst dann, wenn das nationale Verfassungsrecht und das Unionsrecht bei der Bewertung derselben Rechtsfrage zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen. Das kann der Fall sein, wenn dieselbe Rechtsfrage sowohl vom EuGH als auch vom BVerfG einmal am Maßstab des Europarechts und einmal am Maßstab des Grundgesetzes zu prüfen ist154. 150 Wäger, Neues aus Europa: Der Gleichbehandlungsgrundsatz und seine Bedeutung für die MwStSystRL, DStR 2017, 2017. 151 Vgl. z.B. EuGH v. 27.9.2007 – C-409/04, Teleos u.a., UR 2007, 774; EuGH v. 21.2.2008 – C-271/06, Netto-Supermarkt, UR 2008, 508. 152 EuGH v. 7.12.2010 – C-285/09, R., BStBl. II 2011, 846. 153 Fn. 142. 154 Mellinghoff, (Fn. 26) S. 5 (11).

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Zumeist haben Verfassungsbeschwerden allerdings von vorne herein keine grundsätzliche Bedeutung (§  93a Abs.  2 Buchstabe a BVerfGG) oder ihre Annahme zur Durchsetzung der Grundrechte der Beschwerdeführer ist nicht angezeigt (§  93a Abs.  2 Buchstabe b BVerfGG). Die in einer Verfassungsbeschwerde aufgeworfenen verfassungsrechtlichen Fragen sind i.d.R. durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts geklärt; teilweise nimmt das Bundesverfassungsgericht seine Prüfungskompetenz insoweit auch zurück. 1. Kompetenzabgrenzung zwischen Bundesverfassungsgericht und EuGH Die gegenseitige Abgrenzung der Zuständigkeitsbereiche der nationalen Verfassungsgerichtsbarkeit einerseits und des gemeinschaftlichen Grundrechtsschutzes andererseits bei der Überprüfung von Unionsrechtsakten richtet sich nach der sogenannten „Solange-Rechtsprechung” des BVerfG.155 Solange in der EU ein wirksamer Schutz der Grundrechte gegenüber der Hoheitsgewalt der Union generell gewährleistet ist, der dem vom Grundgesetz als unabdingbar gebotenen Grundrechtsschutz im Wesentlichen gleich zu achten ist, übt das BVerfG seine Gerichtsbarkeit über die Anwendbarkeit von abgeleitetem Gemeinschaftsrecht, das als Rechtsgrundlage für ein Verhalten deutscher Gerichte oder Behörden in Anspruch genommen wird, nicht mehr aus. Die Sicherung der Grundrechte gegen Rechtsakte der Gemeinschaft ist danach allein Sache der Europäischen Gerichte. Das heißt aber nicht, dass es keine eigenständige Grundrechtsprüfung mehr gibt. Lässt z.B. europäisches Sekundärrecht dem nationalen Gesetzgeber Spielräume bei der Umsetzung, dann kann auch europäisch geprägtes Recht am Maßstab des Grundgesetzes geprüft werden. Diese Spielräume hat der nationale Gesetzgeber eigenständig auszufüllen. Hierbei ist er nicht nur an das europäische Recht, sondern auch an die Vorgaben des Grundgesetzes gebunden.156. Soweit der Gesetzgeber im Umsatzsteuerrecht dagegen ohne eigenen Gestaltungsspielraum Gemeinschaftsrecht umsetzt, prüft das BVerfG die Bestimmungen des UStG grundsätzlich nicht am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes. 2. Durchsetzung der Vorlageverpflichtung der nationalen Gerichte vor dem Bundesverfassungsgericht Das BVerfG behält allerdings eine wichtige Funktion, wenn es darum geht, den Schutz des Unionsrechts zugunsten des Steuerpflichtigen gegenüber den nationalen Gerichten durchzusetzen. Dies geschieht, indem vor dem BVerfG gerügt werden kann, ob die nationalen Gerichte ihrer Vorlageverpflichtung an den EuGH nachkommen. Der

155 BVerfG v. 22.10.1986 – 2 BvR 197/83, BVerfGE 73, 339. 156 BVerfG v. 13.3.2007 – 1 BvF 1/05, NVwZ 2007, 937 (938 f.).

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Die Bedeutung des Unionsrechts für die Steuersatzermäßigung

BFH als letztinstanzlich entscheidendes Gericht157 muss nach Art.  267 AEV den EuGH anrufen, wenn ihm in einem anhängigen Verfahren eine Frage gestellt wird ȤȤ über die Auslegung der Verträge, oder ȤȤ über die Gültigkeit und die Auslegung der Handlungen der Organe, Einrichtungen oder sonstigen Stellen der Union. Die Vorlagepflicht soll verhindern, dass eine solche Frage „in einer nationalen Sackgasse endet” und sich „in einem Mitgliedstaat eine Rechtsprechung bildet, die mit dem Gemeinschaftsrecht nicht in Einklang steht“158. Eine Vorlagepflicht nur des BFH und nicht der Finanzgerichte genügt dazu in aller Regel.159

V. Fazit Die MwStSystRL gilt – wie alle Richtlinien – grundsätzlich nicht unmittelbar im innerstaatlichen Bereich, sondern bedarf grundsätzlich der Umsetzung in nationales Recht. In der zur Zeit gültigen Fassung regelt das Unionsrecht die Struktur und die Höhe der Steuersätze in den Art. 96 bis 129 MwStSystRL. Diese Regelungen sind allerdings nur fakultativ, d. h. die Mitgliedstaaten können die in der Richtlinie abschließend beschriebenen Bereiche ganz, teilweise oder auch gar nicht begünstigen. Die Wahrnehmung dieser Möglichkeit unterliegt der zweifachen Bedingung, dass nur konkrete und spezifische Aspekte der in Rede stehenden Kategorie von Dienstleistungen herausgelöst werden dürfen und dass zum anderen der Grundsatz der steuerlichen Neutralität beachtet wird. Auch der deutsche Gesetzgeber hat bei weitem nicht alle Kategorien von Anhang III zur MwStSystRL in nationales Recht umgesetzt. Andererseits sind die EU-Mitgliedstaaten nicht befugt, für Gegenstände oder Dienstleistungen, die im Anhang III MwStSystRL nicht aufgeführt sind, eine Steuerermäßigung einzuräumen, es sei denn, es greift eine der in Art. 102–130 MwStSystRL aufgeführten Ausnahmeregelungen ein. Soweit der Gesetzgeber von der unionsrechtlichen Befugnis zur Anwendung ermäßigter Steuersätze Gebrauch gemacht hat, unterliegen diese Regelungen der richtlinienkonformen Auslegung, die als Sonderform der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung bezeichnet werden kann. Rechtsprechung und Verwaltung müssen diese befolgen. Diese richtlinienkonforme Auslegung kommt jedoch nur in Betracht, wenn es im konkreten Fall verschiedene Auslegungsmöglichkeiten gibt. Lässt der Gesetzestext mehrere Auslegungen zu und ist nur eine mit dem Unionsrecht vereinbar, so ist 157 Vgl. EuGH v. 4.6.2002 – C-99/00, Lyckeskog, HFR 2002, 945, Rz. 16 f.; BFH v. 31.10.1990 – II R 176/87, BStBl. II 1991, 161, Rz. 15 und 16. 158 EuGH v. 22.2.2001 – C-393/98, Gomes Valente, HFR 2001, 512, Rz. 17; EuGH v. 4.11.1997 – C-337/95, Christian Dior, EuZW 1998, 22, Rz. 25. 159 BFH v. 2.4.1996 – VII R 119/94, UR 1996, 338.

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der Auslegung der Vorzug zu geben, nach der die Norm nicht als unionsrechtswidrig einzustufen ist (Vorrang des Unionsrechts). Im Rahmen einer richtlinienkonformen Auslegung ist außerdem eine enge Auslegung geboten, da grundsätzlich der allgemeine Steuersatz und nur in Ausnahmefällen der ermäßigte Steuersatz zur Anwendung kommen soll. Der Anwendungsvorrang des Unionsrechts ist beim ermäßigten Steuersatz aber insoweit beschränkt, als sich ein Steuerpflichtige nicht mit Erfolg auf eine weitergehende Begünstigungsmöglichkeit der MwStSystRL berufen kann, wenn der nationale Gesetzgeber diese nicht in nationales Recht umgesetzt hat, also von der Möglichkeit der selektiven Anwendung des ermäßigten Steuersatzes Gebrauch gemacht hat. Etwas anderes gilt nur dann, wenn vergleichbaren Leistungen im Wettbewerb miteinander stehen und der Grundsatz der Steuerneutralität verletzt würde. Deshalb dürfen z.B. Solistenleistungen gegenüber den Leistungen eines Ensembles nicht vom ermäßigten Steuersatz nach § 12 Abs. 2 Nr. 7 Buchst. a UStG ausgeschlossen werden. Wenn eine Leistung nach nationalem Recht begünstigt ist, aber nicht unter eine der Kategorien des Anhangs III zur MwStSystRL subsumiert werden kann, auch nicht durch richtlinienkonforme Auslegung, dann kann sich ein Steuerpflichtiger auf das richtlinienwidrige nationale Recht berufen, weil eine unmittelbare Anwendung des Unionsrechts zulasten des Steuerpflichtigen nicht in Betracht kommt. Eine wichtige Rolle spielt das Unionsrecht auch bei der Auslegung der nach der KN abgegrenzten Gegenstände der Anlage 2 zum UStG. Nach der Rechtsprechung des EuGH, der der BFH folgen muss, kommt es für die Auslegung allein auf die zolltariflichen Vorschriften und Begriffe an. Ändert sich eine Vorschrift des Zolltarifs, dann kann dies Auswirkungen auf den ermäßigten Steuersatz haben, weil es sich bei den in Anlage 2 zum UStG zitierten Vorschriften der KN um einen dynamischen Verweis handelt. Bei der Anwendung von ermäßigten Steuersätzen spielt auch das primäre Unionsrecht eine wichtige Rolle. Das betrifft die Grundfreiheiten des Unionsrechts ebenso wie die Grundrechte-Charta (insb. den Gleichheitssatz) und die allgemeinen europarechtlichen Rechtsgrundsätze der Rechtssicherheit, der Verhältnismäßigkeit und des Vertrauensschutzes. Z.B. erhält der EuGH mit der Anwendung der Grundrechte-Charta die Möglichkeit, eine Richtlinienbestimmung als gleichheitswidrig anzusehen und aufgrund eines derartigen Rechtsverstoßes einen steuerrechtlichen Begünstigungstatbestand entgegen dem Wortlaut der Richtlinie anzuwenden. Aber auch nationales Recht hat der EuGH schon am Maßstab der Grundrechte-Charta, z.B. Art. 20 GrCh, gemessen. Der Einfluss des nationalen Verfassungsrechts ist im Verhältnis zum Unionsrecht begrenzt. Soweit der Gesetzgeber im Umsatzsteuerrecht ohne eigenen Gestaltungsspielraum Gemeinschaftsrecht umsetzt, prüft das BVerfG die Bestimmungen des UStG grundsätzlich nicht am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes. Das BVerfG behält allerdings eine wichtige Funktion, wenn es darum geht, den Schutz des Unionsrechts zugunsten des Steuerpflichtigen gegenüber den nationalen Gerichten dadurch durchzusetzen, dass der BFH seiner Vorlagepflicht an den EuGH nachkommt. 674

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Das Entgelt als Determinante der Steuer Inhaltsübersicht

I. Einleitung



3. Zahlungen Dritter a) Entgelt von dritter Seite b) Zuschuss/Subvention



V. Minderung des Entgelts Geringes ­Entgelt – BMG für Umsatz 1. Gestörtes Leistungsaustauschverhältnis 2. Mangelhafte Leistung a) Entgeltminderung b) Schadensersatz c) Vertragsstrafe d) Vergleich 3. Mangelhafte Gegenleistung 4. Rückzahlungen Boni Rabatte a) Im Leistungsaustauschverhältnis b) Geldzahlungen außerhalb der ­Leistungskette

II. Gesetzliche Grundlagen III. Entgelt 1. Doppelfunktion des Tatbestands­ merkmals „Entgelt“ 2. Entgelt als Tatbestandsmerkmal des Leistungsaustauschs a) Unmittelbarer Zusammenhang b) Ungewöhnlich geringes Entgelt 3. Entgelt als Bemessungsgrundlage a) Vereinbarung zwischen den ­Beteiligten b) Soll-/Ist Besteuerung c) Entgelt als Gegenstand der Steuergestaltung d) Einschränkung der Maßgeblichkeit der Parteivereinbarung – Mindestbemessungsgrundlage e) Entgelt als Gegenstand der Steuerpolitik IV. Erhöhung des Entgelts 1. Vertragliche Vereinbarung 2. Freiwillige Mehrzahlungen





VI. Fehlen eines Entgelts 1. Tausch a) Voraussetzungen b) Bemessungsgrundlage beim Tausch 2. Unentgeltliche Wertabgaben VII. Fazit

I. Einleitung Die Bemessungsgrundlage bestimmt neben dem auf einen bestimmten Umsatz anzuwendenden Steuersatz die Höhe der Steuer. Während die Anwendung des einschlägigen Steuersatzes als normative Größe bei der Berechnung der Steuer regelmäßig unproblematisch ist, knüpft das Tatbestandsmerkmal der Bemessungsgrundlage an tatsächliche Umstände an, die im Rahmen in der Regel1 zivilrechtlicher Rechtsverhältnisse vereinbart oder verwirklicht werden. Was der leistende Unternehmer im Sinne von Art. 73 MwStSystRL als Gegenleistung erhält oder erhalten soll, bestimmt sich danach, was an ihn bezahlt wird oder was als Gegenleistung vereinbart wurde 1 Vgl. hierzu Stadie, in Stadie, UStG, § 1 Rz. 9, 76, der zu Recht darauf hinweist, dass Leistungsaustausch ein Rechtsverhältnis nicht zwingend voraussetzt, sondern dass es allein da­ rauf ankomme, dass eine Leistung vorliegt und der Empfänger wegen dieser etwas aufwendet.

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und bezahlt werden soll. Dieser Betrag kann sich erhöhen oder reduzieren und muss ggf. berichtigt werden, bevor er als Ausgangsgröße der Steuerberechnung zugrunde gelegt wird. Zuschüsse, Rabatte, Sicherheitseinbehalte, Zahlungsausfälle, Tausche, unternehmensfremde Verwendungen  – um nur einige zu nennen  – bilden die tatsächlichen Lebenssachverhalte, die die Ermittlung der Bemessungsgrundlage als nicht einfach erscheinen lassen. Das Hinzutreten von dritten Personen erschwert die Ermittlung der zutreffenden Bemessungsgrundlage zusätzlich. Fehlt eine Gegenleistung, so muss als Bemessungsgrundlage eine Ersatzgröße ermittelt bzw. bestimmt werden. Im Rahmen dieses Beitrags werden einige Sachverhalte angesprochen, bei denen trotz klärender höchstrichterlicher Rechtsprechung die Bestimmung der jeweiligen gesetzlichen Bemessungsgrundlage praktischen Schwierigkeiten begegnet.

II. Gesetzliche Grundlagen Die Mehrwertsteuer ist nach Art. 1 Abs. 2 MwStSystRL als allgemeine, zum Preis der Gegenstände und Dienstleistungen genau proportionale Verbrauchsteuer konzipiert. Nach Art. 73 MwStSystRL umfasst die Steuerbemessungsgrundlage regelmäßig alles, was den Wert der Gegenleistung bildet, die der Unternehmer für seinen Umsatz vom Erwerber oder Dienstleistungsempfänger oder einem Dritten erhält oder erhalten soll. § 10 UStG formuliert aus Sicht des Leistungsempfängers und definiert als Bemessungsgrundlage bzw. Entgelt alles, was der Leistungsempfänger aufwendet, um die Leistung zu erhalten, jedoch abzüglich der Umsatzsteuer. Es ist bemerkenswert, dass die Begrifflichkeit des ersten deutschen Umsatzsteuergesetzes der Formulierung der MwStSystRL ähnelt und von der des UStG abweicht. Demnach wird die Steuer nach dem Gesamtbetrage der Entgelte berechnet, die das Unternehmen im Laufe eines Kalenderjahrs für steuerpflichtige Leistungen erhalten hat.2 Nach einem Diskussionsentwurf zum Entwurf eines Jahressteuergesetzes 2018 des Bundesministeriums der Finanzen vom 15. Mai 20183 soll der Wortlaut des § 10 Abs. 1 Satz 2 UStG wie folgt geändert werden: „Entgelt ist alles, was den Wert der Gegenleistung bildet, die der leistende Unternehmer vom Leistungsempfänger oder von einem anderen als dem Leistungsempfänger für die Leistung erhält oder erhalten soll, einschließlich der unmittelbar mit dem Preis dieser Umsätze zusammenhängenden Subventionen, jedoch abzüglich der für diese Leistung gesetzlich geschuldeten Umsatzsteuer.“

Als Begründung führt das BMF aus, dass der Begriff des Entgelts stärker an die Formulierung in Artikel 73 MwStSystRL angepasst werden soll. Der Entgeltbegriff im nationalen Recht werde bisher aus der Sicht des Empfängers bestimmt, während das Unionsrecht auf die Sicht des leitenden Unternehmers und auf den Wert der Gegenleistung abstellt. Eine materiell-rechtliche Änderung sei mit dieser Neuregelung nicht verbunden, da bereits die bisherige Regelung unionsrechtskonform ausgelegt werde. 2 § 16 UStG 1918 in der Fassung v. 26.7.1918, RGBl. 1918, 779. 3 Bundesministerium der Finanzen, Diskussionsentwurf eines Jahressteuergesetzes 2018, Bearbeitungsstand 15.5.2018.

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Unmittelbar mit dem Preis der Umsätze zusammenhängende Subventionen4, Zuwendungen Dritter5, sowie Abgaben und Nebenkosten6 erhöhen, Preisnachlässe, Rabatte, Rückvergütungen7, durchlaufende Posten8 etc. mindern die steuerliche Bemessungsgrundlage bzw. sind nicht in diese einzubeziehen. Vereinbaren die Parteien eines Leistungsaustausches zulasten des Fiskus aus persönlichen Gründen ein geringeres Entgelt als sie bei Außerachtlassung dieser persönlichen Gründe vereinbart hätten, so ist die Bemessungsgrundlage von Gesetzes wegen9 zu erhöhen. Wird im Rahmen des konkreten Leistungsaustausches als Gegenleistung nicht ein Geldbetrag, sondern eine Leistung vereinbart, so ist diese zur Ermittlung der Bemessungsgrundlage zu bewerten. Wird eine steuerbare Leistung unentgeltlich erbracht, so bestimmt das Gesetz eine Ersatzgröße für die Besteuerung des Endverbrauchs in Gestalt der Wertabgabe aus dem unternehmerischen Bereich.

III. Entgelt 1. Doppelfunktion des Tatbestandsmerkmals „Entgelt“ Das Entgelt, in § 2 Abs. 2 Satz 3 UStG auch als Einnahme bezeichnet, ist Tatbestandsmerkmal mehrerer umsatzsteuerlicher Tatbestände. Bevor es als Bemessungsgrundlage der Steuerberechnung zugrunde gelegt wird, bildet es jeweils einen Teil der jeweiligen Definitionen der Begriffe des Leistungsaustausches und des Unternehmers. Der Umsatzsteuer unterliegen nach § 1 Abs. 1 Nr. 1 UStG bzw. Art. 2 Abs. 1 Buchst. a MwStSystRL Leistungen, die ein Unternehmer im Rahmen seines Unternehmens gegen Entgelt ausführt.10 Als Teil des Unternehmerbegriffs in § 2 UStG wird gewerbliches Handeln im Sinne des UStG als auf Einnahmeerzielung gerichtetes Tätigwerden definiert. Es beschreibt das treibende Motiv unternehmerischen Handels, das darauf ausgerichtet ist eine Gegenleistung, ein Entgelt – regelmäßig in Form von Geld – zu erhalten. Dementsprechend wir der Umsatz als Anknüpfungspunkt der Umsatzsteuer als Leistung gegen Entgelt bezeichnet. Erst nachdem das Vorliegen eines entgeltlichen Leistungsaustausches, der von einer Person mit nachhaltiger Einnahmeerzielungsabsicht – einem Unternehmer – bewirkt wird, bejaht worden ist, wird das Entgelt als umsatzsteuerliche Bemessungsgrundlage zum Gegenstand der Betrachtung. 4 Art. 73 MwStSystRL. 5 § 10 Abs. 1 Satz 3 UStG. 6 Art. 78 MwStSystRL. 7 Art. Art. 79 Buchst. a, b MwStSystRL. 8 § 10 Abs. 1 Satz 6 UStG, Art. 79 Buchst. c MwStSystRL. 9 § 10 Abs. 5 UStG, Art. 394 MwStSystRL; siehe auch Art. 80 MwStSystRL, auf dem die deutsche Regelung allerdings nicht beruht, vgl. hierzu Korn in Bunjes, § 10 Rz. 95; Slapio, UR 2012, 429. 10 § 1 Abs. 1 UStG.

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2. Entgelt als Tatbestandsmerkmal des Leistungsaustauschs a) Unmittelbarer Zusammenhang Zwischen Leistung und Gegenleistung muss ein unmittelbarer Zusammenhang bestehen.11 Eine Dienstleistung wird nur dann gegen Entgelt erbracht und ist somit steuerpflichtig, wenn zwischen dem Leistenden und dem Leistungsempfänger ein Rechtsverhältnis besteht, in dessen Rahmen gegenseitige Leistungen ausgetauscht werden, wobei die vom Leistenden empfangene Vergütung den tatsächlichen Gegenwert für die dem Leistungsempfänger erbrachte Dienstleistung bildet.12 Die Leistung muss um der Gegenleistung willen, die Gegenleistung um der Leistung willen erbracht werden. Dies gilt für sämtliche Leistungsbestandteile. D.h. eine (Geld) Leistung rechnet nur zur Bemessungsgrundlage, wenn für diese konkrete Zuwendung die genannten Voraussetzungen erfüllt sind. Dies ist bei Schadensersatzzahlungen und Zuschusszahlungen nicht der Fall, wobei bei der Verwendung dieser Begriffe Vorsicht geboten ist, da sie für umsatzsteuerliche Zwecke nicht definiert sind. Eine Zahlung ist nicht deshalb nicht steuerbar, weil es sich um Schadensersatz oder einen Zuschuss handelt. Vielmehr ist zunächst nach allgemeinen umsatzsteuerlichen Kriterien zu bestimmen, ob eine bestimmte Zahlung im oben beschriebenen Sinn als Gegenleistung für eine Leistung d.h. um der Leistung willen bezahlt wird. Ist dies nicht der Fall, so ist der Vorgang nicht steuerbar. Zur Bezeichnung dieses Ergebnisses werden die Begriffe Schadensersatz und Zuschuss jeweils in Verbindung mit dem Adjektiv „echt“ verwendet.13 Echter Schadensersatz und echte Zuschüsse in diesem Sinn sind kein umsatzsteuerliches Entgelt und bilden daher keinen Teil der Bemessungsgrundlage. b) Ungewöhnlich geringes Entgelt Haben die Parteien, die keine nahestanden Personen14 sind, ein marktunüblich geringes Entgelt vereinbart, so stellt sich die Frage, ob die fragliche Leistung überhaupt um dieses geringen Entgelts willen erbracht wurde. Handelt der Leistende aus einem anderen Grund als dem, eine Gegenleistung zu erlangen, so fehlt es entweder – bezogen auf den konkreten Umsatz  – an einem entgeltlichen Handeln oder generell an der Unternehmereigenschaft. Bei einem ungewöhnlich geringen Entgelt ist daher zu prüfen, ob die handelnde Person als Unternehmer handelt, ob die erhaltene Gegenleistung das Entgelt für diese Leistung darstellt und ob der Unternehmer neben diesem Entgelt etwas Anderes im Sinne des § 10 Abs. 1 Satz 2 UStG erhält bzw. der Leistungs11 EuGH v. 8.3.1988  – C-102/86  – Apple and Pear Development Council, HFR 1989, 452, Rz. 11, 12. 12 EuGH v. 3.3.1994 – C-16/93 – Tolsma, NJW 1994, 1941; EuGH v. 21.3.2002 – C-174/00, UR 2002, 320, Rz. 39. 13 Vgl. zum Begriff „echter Schadensersatz“ Abschn. 1.3.Abs. 3 UStAE, zum Begriff „echter Zuschuss“ Abschn. 10.2 Abs. 7 UStAE. 14 Zur Mindestbemessungsgrundlage bei nahestehenden Personen siehe die Ausführungen unter Ziffer III. 3 d.

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empfänger oder ein Dritter im Zusammenhang mit der Leistung etwas im Sinne des Art. 73 MwStSystRL aufwendet. Der EuGH hatte kürzlich in zwei Sachverhalten15 über die umsatzsteuerlichen Konsequenzen eines sehr geringen Entgelts zu entscheiden. Während das Gericht in der Rechtssache Gemeente Woerden weder das Vorliegen eines Leistungsaustausches noch die Unternehmereigenschaft der Gemeinde problematisierte und ihr den vollen Vorsteuerabzug aus Eingangsleistungen für die Errichtung eines Gebäudes, das sie zu einem weit unter den Baukosten liegenden Preis veräußerte, verneinte er eine wirtschaftliche Tätigkeit der Gemeinde in der Rechtssache Borsele. Diese führte Schülertransportleistungen durch und vereinnahmte dafür Entgelte, die nur einen geringen Teil der im Zusammenhang mit diesen Leistungen anfallenden Kosten deckte. Im Fall der Gemeinde Borsele hatten die vereinnahmten Entgelte lediglich 3% der gesamten Transportkosten gedeckt. Ein solcher Unterschied zwischen den Betriebskosten und den als Gegenleistung für die angebotenen Dienstleistungen erhaltenden Beträgen deutet nach Ansicht des Gerichts darauf hin, dass der für den Schülertransport zu leistenden Betrag eher einer Gebühr als einem Entgelt gleichzusetzen ist. Aus einer solchen Asymmetrie folge, dass es an einem tatsächlichen Zusammenhang zwischen dem gezahlten Betrag und der Erbringung der Dienstleistungen fehlt. Damit weise der Zusammenhang zwischen der von der Gemeinde erbrachten Transportdienstleistungen und der von den Eltern zu entrichtenden Gegenwert nicht die erforderliche Unmittelbarkeit auf, um diesen Gegenwert als ein Entgelt für diese Dienstleistung und diese als eine wirtschaftliche Tätigkeit im Sinne von Art. 9 Abs. 1 MwStSystRL ansehen zu können.16 Die Annahme eines unternehmerischen Leistungsaustausches setzt daher in einem ersten Schritt eine entgeltliche Leistung voraus, wobei es an dieser Stelle noch unschädlich ist, wenn das Entgelt geringer ist als die Selbstkosten. In einem zweiten Schritt ist eine wirtschaftliche Tätigkeit nach Art. 9 MwStSystRL erforderlich, die bei einem signifikanten Missverhältnis zwischen Einnahmen und Kosten verneint wird. Im Hinblick auf den zweiten Schritt legt der EuGH einen strengeren Maßstab an als für den ersten Schritt.17 3. Entgelt als Bemessungsgrundlage a) Vereinbarung zwischen den Beteiligten Die an einem Umsatz Beteiligten sind, solange ein Gestaltungsmissbrauch nicht vorliegt, frei, den Leistungsaustausch nach Belieben bzw. ihren wirtschaftlichen Interessen zu gestalten. Das USt bringt dies dadurch zum Ausdruck, dass es unternehmerisches Handeln für Zwecke des Mehrwertsteuerrechts nicht durch Gewinnerzielungs- son15 EuGH v. 22.6.2016 – C-267/15 – Gemeente Woerden, MwStR 2016, 660 = UR 2016, 646; EuGH v. 12.5.2016 – C-520/14 – Gemeente Borsele, MwStR 2016, 492 = UR 2016, 520. 16 EuGH v. 12.5.2016  – C-520/14  – Gemeente Borsele, MwStR 2016, 492 = UR 2016, 520, Rz. 34. 17 Ismer, MwStR 2016, 654 [660].

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dern durch Einnahmeerzielungsabsicht definiert. Regelmäßig wird der Unternehmer das Ziel verfolgen, mit den erzielten Einnahmen auch Gewinn zu erwirtschaften. Ob ihm dies gelingt oder ob er gegen seinen Willen als so genannter erfolgloser Unternehmer18 wirtschaftlich scheitert, ist für die Umsatzbesteuerung irrelevant. Dies gilt sogar dann, wenn der Unternehmer planmäßig ohne Gewinnstreben handelt und seine wirtschaftliche Aktivität ertragsteuerlich als so genannte Liebhaberei zu beurteilen ist.19 Irreführend ist daher die Verwendung des zwar gleichlautenden aber bedeutungsverschieden Begriffs „gewerblich“ in §  2 UStG einerseits und in §  15 Abs.  2 EStG, § 2 GewStG und § 8 KStG anderseits. Auch ein Entgelt, mit dem auf Dauer ein Gewinn nicht erwirtschaftet werden kann oder das noch nicht einmal die Kosten im Zusammenhang mit den jeweiligen Leistungen deckt, ist, sofern eine wirtschaftliche Tätigkeit nach den oben genannten Kriterien vorliegt, das für die Berechnung der USt maßgebliches Entgelt und damit Bemessungsgrundalge für die Steuer. Die zivilrechtliche Gegenleistung, das Bruttoentgelt, teilt sich umsatzsteuerlich in Entgelt und Umsatzsteuer. Haben die Parteien, wie unter Unternehmern üblich, erkennbar ein Nettoentgelt vereinbart (zzgl. gesetzlicher Umsatzsteuer, zzgl. 19%, zzgl. ggf. anfallender USt etc.), so ist die Steuer auf dieses Entgelt zu berechnen. Haben die Parteien hingegen, wie gegenüber Verbrauchern üblich, ein Bruttoentgelt vereinbart, so ist die gesetzliche Steuer aus diesem Betrag herauszurechnen. Wurde weder ausdrücklich noch konkludent eine Vereinbarung hinsichtlich der Umsatzsteuer getroffen, so liegt auch unter Unternehmern eine Bruttovereinbarung vor.20 Die zwischen den Parteien eines Leistungsaustausches vereinbarte Gegenleistung bildet somit die Bemessungsgrundlage für die Umsatzsteuer. Die Umsatzsteuer selbst ist der Disposition der Parteien entzogen. Sie ist in jedem Zahlungsbetrag zwingend in gesetzlicher Höhe enthalten. Unterliegt eine Leistung beim Leistenden der Umsatzsteuer, d.h. ist sie weder von der Steuer befreit, noch die Steuerschuld nach §  13b UStG auf den Leistungsempfänger übergegangen, so enthält jede (Teil)Zahlung (anteilig) die Steuer in gesetzlicher Höhe. Die Bemessungsgrundlage aus einem beliebigen Zahlungsbetrag ergibt sich durch Herausrechen der gesetzlichen Steuer aus dem Zahlbetrag und zwar auch dann, wenn der Zahlende ausdrücklich nur den Nettobetrag, d.h. die Bemessungsgrundlage, nicht aber die Umsatzsteuer zahlen wollte. b) Soll-/Ist Besteuerung Die Steuer ist nach § 16 Abs. 1 Satz 1 UStG nach vereinbarten Entgelten zu berechnen, sofern das Finanzamt dem Unternehmer nicht nach § 20 UStG die Berechnung nach vereinnahmten Entgelten gestattet. Es handelt sich hierbei nicht um zwei unterschiedliche Bemessungsgrundlagen. Tatsächlich wird die Steuer endgültig nach Maßgabe 18 Zur Unternehmereigenschaft des erfolglosen Unternehmers vgl. EuGH v. 29.2.1996  – C-110/94 – Inzo, UR 1996, 116; EuGH v. 15.1.1998 – C-37/95 – Ghent Coal Terminal, UR 1998, 149; EuGH v. 8.6.2000  – C-396/98  – Grundstücksgemeinschaft Schlossstraße, UR 2000, 336; EuGH v. 8.6.2000 C-400/98 – Breitsohl, UR 2000, 329. 19 Vgl. § 2 Abs. 1 Satz 3 UStG. 20 Ellenberger in Palandt, Bürgerliches Gesetzbuch, 77. Aufl. 2018, § 157 Rz. 13.

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dessen, was der Leistungsempfänger aufwendet21 bzw. was der Leistende erhält,22 und somit des vereinnahmten Entgelts festgesetzt. Die Sollbesteuerung ist lediglich eine vereinfachte vorläufige Steuerberechnung auf der Grundlage des vereinbarten Entgelts, die, wenn das vereinnahmte von dem vereinbarten Entgelt abweicht, auf der Grundlage des vereinnahmten Entgelts nach § 17 UStG berichtigt wird. Dies gilt nicht nur für den Fall, dass das vereinnahmte Entgelt endgültig vom vereinbarten Sollbetrag abweicht, sondern auch dann, wenn dies für einen nicht unbeachtlichen Zeitraum der Fall ist.23 c) Entgelt als Gegenstand der Steuergestaltung Während die Bemessungsgrundlage – die tax base – im Ertragsteuerrecht ein beliebtes Objekt der Steuergestaltung einerseits und gesetzgeberischer Überlegungen andererseits darstellt – hier seien nur die Überlegungen der OECD zur Vermeidung von Base Erosion and Profit Shifting (BEPS) und die findigen Überlegungen zur (grenz­ überschreitenden) Steuergestaltung genannt, die Anlass für diese Reaktionen waren – steht die umsatzsteuerliche Bemessungsgrundlage weder im Mittelpunkt steuergestalterischer Überlegungen noch gesetzgeberischer Kontroll- oder Reaktionsmaßnahmen. Dies mag daran liegen, dass die Interessen des Unternehmers und des Fiskus bei der Bemessungsgrundlage prinzipiell gleichgerichtet sind. Es ist das Ziel unternehme­ rischen Strebens, Leistungen zu einem möglichst hohen Entgelt auf dem Markt an­ zubieten. Die Steuer knüpft unmittelbar an den unternehmerischen Erfolg, einem vereinbarten höchstmöglichen Entgelt an. Anders als das Ertragsteuerrecht, das es ermöglicht, die steuerliche Bemessungsgrundlage durch im Steuerrecht selbst angelegte Instrumente zu gestalten (Kostenallokation, Abschreibungen, Übertragung stiller Reserven etc.), sind derartige Möglichkeiten im Mehrwertsteuerrecht begrenzt bzw. nicht vorhanden. Gegenstand der Steuergestaltung ist allenfalls die Beeinflussung des Ortes der Leistung. Kann hierdurch doch die Steuerbelastung bei nicht voll zum Vorsteuerabzug berechtigten Unternehmern reduziert werde. Lücken in der Harmonisierung ermöglichen es zudem die Steuerlast entgegen den mehrwertsteuerlichen Prinzipien der Proportionalität und der Neutralität zu verringern. Die Bemessungsgrundlage selbst gerät nur dann in den Blickwinkel gestalterischer und gesetzgeberischer Maßnahmen, wenn ihre Bestimmung von Motiven beeinflusst wird, die nicht dem Grundprinzip unternehmerischen Handelns entsprechen. Anhaltspunkte dafür sind ein „ungewöhnlich“ geringes Entgelt und die Involvierung Dritter in den Leistungsaustausch. Eine besondere Herausforderung stellt die Bestimmung des Entgelts dar, wenn dieses nicht in einem Geldbetrag bemessen wird.

21 Vgl. § 10 Abs. 1 Satz 2 UStG. 22 Vgl. Art. 73 MwStSystRL. 23 Vgl. hierzu die Ausführungen unter V. 3.

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d) Einschränkung der Maßgeblichkeit der Parteivereinbarung – Mindestbemessungsgrundlage Vereinbaren die an einem Umsatz Beteiligten aus Gründen der persönlichen Nähe der handelnden Personen zueinander ein geringeres Entgelt, als unter fremden Dritten vereinbart worden wäre, so ist nicht dieses Entgelt, sondern die gesetzlich bestimmte objektive Mindestbemessungsgrundlage Maßstab für die festzusetzende Steuer. Die gesetzliche Regelung der Mindestbemessungsgrundlage in 10 Abs. 5 UStG stellt eine Sondermaßnahme i.S.d. Art. 394 MwStSystRL dar. Diese Sondermaßnahme ist jedoch gemäß Art. 395 Abs. 1 MwStSystRL in ihrer Wirkungsweise begrenzt auf den Zweck derartiger Maßnahmen, nämlich die Steuererhebung zu vereinfachen oder Steuerhinterziehungen oder -umgehungen zu verhindern. Die Mindestbemessungsgrundlage kommt daher nur dann zur Anwendung, wenn das vereinbarte geringe Entgelt marktunüblich ist.24 Veräußert ein Unternehmer Waren zu einem unter den Einstandskosten liegenden Preis sowohl an nahestehende Personen als auch an fremde Dritte, so beruht die entsprechende Entgeltvereinbarung gegenüber nahestehenden Personen nicht auf der persönlichen Nähe sondern auf wirtschaftlichen Überlegungen. Ein Missbrauch liegt daher insoweit nicht vor, so dass für die Anwendung einer Missbrauchsverhinderungsvorschrift kein Raum ist. e) Entgelt als Gegenstand der Steuerpolitik Auch von Seiten der Politik werden Überlegungen angestellt, die Umsatzsteuer als Mittel zur Korrektur unerwünschter Steuergestaltungen zu nutzten. Der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages wurde beauftragt zu prüfen, ob vor dem Hintergrund von Gewinnverlagerungen in Staaten mit niedriger Ertragsbesteuerung mit dem Ziel der Steuervermeidung die Möglichkeit der Einführung eines Aufschlags zur Mehrwertsteuer zum Ausgleich von Einnahmeverlusten des Fiskus besteht. Die Gutachter ließen in ihrer Antwort jedoch keinen Zweifel daran, dass ein derartiges Ansinnen den Prinzipien der Umsatzsteuer widersprechen würde und damit unionsrechtswidrig wäre.25

IV. Erhöhung des Entgelts 1. Vertragliche Vereinbarung Eine Entgelterhöhung, sei sie bereits vor Leistungserbringung als Preisanpassungsklausel, oder nach Leistungserbringung durch eine Vertragsänderung vereinbart, erhöht das umsatzsteuerliche Entgelt. Für langfristige Verträge enthält das Gesetz in § 29 UStG eine Regelung, wonach der Unternehmer im Falle einer gesetzlichen Änderung der Steuerbarkeit, der Steuerpflicht bzw. einer Steuerbefreiung oder des Steu24 EuGH v. 29.5.1997 – C-63/96 – Skripalle, BStBl. II 1997, 841. 25 https://www.bundestag.de/blob/535296/7727bb6bfc51d42a9aa6564e9c0f595f/wd-4-09417-pdf-data.pdf.

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ersatzes eine Preisanpassung verlangen kann. Die auf der Grundlage dieser Vorschrift angepasste Gegenleistung ist dann der Entgeltberechnung zugrunde zu legen. 2. Freiwillige Mehrzahlungen Bei einer freiwilligen Mehrzahlung stellt sich, ebenso wie bei der Entgeltlichkeit selbst, die Frage, ob diese um der Gegenleistung willen geleistet wird. Gleichgültig, ob der Zahlende zur Zahlung verpflichtet ist oder nicht, kommt es für den Entgeltcharakter ausschließlich darauf an, ob die freiwillige Zahlung als bewusste und gewollte Gegenleistung für eine empfangene Leistung hingegeben wird. Nach der Rechtsprechung des BFH ist eine auf einen Leistungsaustausch gerichtete Handlung gegeben, wenn der Unternehmer in der erkennbaren Erwartung auf eine Gegenleistung leistet. Einer solchen Erwartung steht gleich, wenn der leistende Unternehmer eine Leistung erbringt, die ihrer Art nach üblicherweise vergütet wird oder die nach den Umständen eine Vergütung erwarten lässt.26 Hieran fehlt es regelmäßig bei so genannten Trinkgeldern. Trinkgelder z.B. an Taxifahrer oder Angestellte im Gastronomiegewerbe werden zwar regelmäßig gemeinsam mit der Gegenleistung für eine Leistung hingegeben, dies auch regelmäßig gegenüber der Person, die namens und im Auftrag des Geschäftsherrn die vereinbarte Gegenleistung vereinnahmt. Dessen ungeachtet ist das Trinkgeld jedoch nach der Verkehrs­ auffassung nicht für den Geschäftsherrn, sondern für die handelnde Person, den Taxifahrer oder den Kellner, bestimmt. Es wird mit der konkludenten Bestimmung hingegeben, dass dies nicht an den leistenden Unternehmer weitergegeben wird, sondern behalten werden darf. Es handelt sich daher um eine Zahlung an einen Dritten, die lediglich anlässlich eines Leistungsaustausches nicht aber um der Leistung des Unternehmer willen, sondern, ähnlich wie im Sachverhalt in der Rechtssache Tolsma,27 ohne zugrundeliegendes Rechtsverhältnis und freiwillig für die über das vom Unternehmer geschuldete hinausgehende persönliche Serviceleistung oder einfach um der betreffenden Person etwas zuzuwenden, geleistet wird. Etwas anderes gilt jedoch, wenn es sich bei der leistenden Person um den Unternehmer selbst handelt und zwar unabhängig davon, ob der Zahlende sich dessen bewusst ist.28 In diesem Fall erhöht die freiwillige Zahlung die Bemessungsgrundlage. 3. Zahlungen Dritter a) Entgelt von dritter Seite Die Tatsache, dass das vereinbarte Entgelt nicht vom Leistungsempfänger, sondern von einem Dritten bezahlt wird, oder dass von vornherein eine Zahlung durch einen Dritten vereinbart wurde, schließt einen Leistungsaustausch nicht aus. 26 BFH v. 7.5.1981 – V R 47/76 BStBl. II 1981, 495 = UR 1981, 147 m. Anm. Weiss, Rz. 10. 27 EuGH v. 3.3.1994 – C-16/93, UR 1994, 399. 28 Schuhmann in Rau/Dürrwächter, 174. Lieferung 10.2017, §  10 Rz.  65 Stichwort Bedienungszuschlag.

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Eine Zahlung von dritter Seite gehört unabhängig von der Bezeichnung zum Entgelt für eine Leistung des Zahlungsempfängers, wenn sie mit dieser in unmittelbarem Zusammenhang steht.29 Das vom Dritten geleistete Entgelt bildet die bzw. einen Teil der Bemessungsgrundlage für die Umsatzsteuer. Sowohl Art.  73 MwStSystRL als auch § 10 Abs. 1 Satz 3 UStG stellen dies ausdrücklich klar. b) Zuschuss/Subvention Jenseits vertraglicher Vereinbarungen, auf in der Regel öffentlich-rechtlicher Grundlage, werden als Zuschuss oder Subvention bezeichnete Zahlungen geleistet, die in einem Zusammenhang mit unternehmerischen Leistungen stehen können. Auch bei derartigen Zahlungen sind Leistungen im Rahmen des Leistungsaustausches von Zahlungen abzugrenzen, die nur anlässlich dieses Leistungsaustausches aber nicht um der Leistung willen erbracht werden. Im deutschen Recht spricht man insoweit von „echten Zuschüssen“. Die Finanzverwaltung erläutert im Umsatzsteueranwendungserlass, dass Zahlungen unter den Bezeichnungen „Zuschuss“, „Zuwendung“, „Beihilfe“, „Prämie“, „Ausgleichsbetrag“ entweder Entgelt für eine Leistung an den Zuschussgeber (Zahlenden), (zusätzliches) Entgelt eines Dritten oder echter Zuschuss sein können.30 So genannte echte Zuschüsse liegen vor, wenn die Zahlungen nicht auf Grund eines Leistungsaustauschverhältnisses erbracht werden. Dies ist der Fall, wenn die Zahlungen nicht an bestimmte Umsätze anknüpfen, sondern unabhängig von einer bestimmten Leistung gewährt werden, weil z.B. der leistende Unternehmer (Zahlungsempfänger) einen Anspruch auf die Zahlung hat oder weil sie in Erfüllung einer öffentlich-rechtlichen Verpflichtung bzw. im überwiegenden öffentlich-rechtlichen Interessen an ihn gezahlt werden.31 Obgleich dieser Aspekt in der Regel im Rahmen der Kommentierung der Vorschrift des § 10 UStG diskutiert wird,32 handelt es sich hierbei nicht um eine Frage der Bemessungsgrundlage i.S.d. § 10 Abs. 1 UStG, sondern um die Frage, ob die Zahlung im Rahmen eines Leistungsaustausches um der Erlangung der Leistung willen geleistet wird.33 Die Verwendung des Begriffs Zuschuss bringt keinen Erkenntnisgewinn, da dieser Entgelt im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 1 UStG und damit Bemessungsgrundlage im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 2 UStG sein kann, oder, wenn er die Tatbestandsmerkmale des 29 BHF v. 29.3.2007 – V B 208/05, BFH/NV 2007, 1542. 30 Abschn. 10.2.Abs. 1 UStAE. 31 Vgl. Abschn. 10.2. Abs. 7 UStAE. 32 Vgl. Wagner in Sölch/Ringleb, EL 77 Juni 2016, §  10 Rz.  208; Schuhmann in Rau/Dürrwächter, Lfg. 167 Mai 2016 § 10 Rz. 245 ff.; Tehler in Reiß/Kraeusel/Langer, 103. Erg.-Lfg. Januar 2013, § 10 Rz. 118 ff.; Schwarz in Schwarz/Widmann/Radeisen, 192. Lfg. 4/2017, § 10 Rz. 179 ff.; Probst in Hartmann/Metzenmacher, Lfg. 7/2017, § 10 Rz. 177; Handzik in Offerhaus/Söhn/Lange, 277. Aktualisierung, März 2015, § 10 Rz. 88a ff.; Hundt-Eßwein in Küffner/Stöcker/Zugmaier, 128. Lfg. 3/2017, § 10 Rz. 30. 33 Vgl. Nieskens in Rau/Dürrwächter, Lfg. 165 Januar 2016, § 1 Rz. 901 ff.

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Entgelts nicht erfüllt, umsatzsteuerlich unbeachtlich ist. Ein Zuschuss bildet daher – unabhängig von seiner Bezeichnung – die oder einen Teil der Bemessungsgrundlage, wenn er nach den o.g. allgemeinen Kriterien Entgelt, d.h. Gegenleistung für eine Leistung ist. Art.  73 MwStSystRL nennt ausdrücklich „Subventionen“ als Teil der Bemessungsgrundlage. Der letzte Halbsatz der genannten Vorschrift „einschließlich der unmittelbar mit dem Preis dieser Umsätze zusammenhängenden Subventionen“ hat allerdings keine eigenen Regelungsgehalt, sondern lediglich erläuternden Charakter. Eine Subvention wird nicht als Subvention Teil der Bemessungsgrundlage für einen Umsatz, sondern nur dann, wenn sie unmittelbar mit dem Preis der Umsätze zusammenhängt. Eine Zahlung, die unmittelbar mit dem Preis eines Umsatzes zusammenhängt, ist jedoch bereits nach den allgemeinen Kriterien als Entgelt bzw. Bemessungsgrundlage zu beurteilen. Daran ändert sich nach Art. 73 MwStSystRL auch dann nichts, wenn die Zahlung als Subvention bezeichnet wird. Damit stellt die Richtlinie klar, dass eine Zahlung unabhängig von ihrer Bezeichnung, allein nach ihrem wirtschaftlichen Gehalt, dahingehend zu beurteilen ist, ob sie Entgelt und Bemessungsgrundlage für einen Umsatz anzusehen ist oder nicht. Subventionen, die einen Teil der Betriebskosten decken, wirken sich praktisch immer auf den Selbstkostenpreis der Leistungen der subventionierten Einrichtung aus. Die Möglichkeit allein, dass eine Subvention sich auf die Preise der von der subventionierten Einrichtung gelieferten Gegenstände oder erbrachten Dienstleistungen auswirkt, macht diese Subvention nicht schon steuerbar. Für einen unmittelbaren Zusammenhang der Subvention mit dem Preis dieser Umsätze ist darüber hinaus erforderlich, dass die Subvention an die subventionierte Einrichtung gerade für die Lieferung eines bestimmten Gegenstandes oder die Erbringung einer bestimmten Dienstleistung gezahlt wird. Nur in diesem Fall kann die Subvention als Gegenleistung der Lieferung eines Gegenstandes oder der Erbringung einer Dienstleistung angesehen werden.34 Der Begriff „unmittelbar mit dem Preis zusammenhängende Subventionen“ im Sinne von Art. 73 MwStSystRL umfasst daher nur die Subventionen, die vollständig oder teilweise die Gegenleistung für die Lieferung von Gegenständen oder von Dienstleistungen sind und dem Verkäufer oder Dienstleistungserbringer von einem Dritten gezahlt worden sind.35

V. Minderung des Entgelts Geringes Entgelt – BMG für Umsatz 1. Gestörtes Leistungsaustauschverhältnis Die Minderung der Bemessungsgrundlage kann ihre Ursache sowohl auf der Leistungs- als auch auf der Gegenleistungsseite haben. Häufig führt die mangelhafte Ausführung der Leistung zu einer Minderung des Entgelts. Auch die mangelhafte Aus34 EuGH v. 22.11.2001 – C 184/00, UR 2002, 177, Rz. 11, 12. 35 EuGH v. 22.11.2001 – C 184/00, UR 2002, 177, Leitsatz.

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führung der Gegenleistung – insbesondere die rechtzeitige oder die nicht vollständige Zahlung des Entgelts – kann eine Anpassung der Bemessungsgrundlage als sachgerecht erscheinen lassen. 2. Mangelhafte Leistung a) Entgeltminderung Wird eine Leistung nicht in der vertraglich geschuldeten Weise erbracht, hat dies im Leistungsaustauschverhältnis regelmäßig Auswirkungen auf die Gegenleistung. Verursacht eine Partei der anderen einen Schaden, so kann auch dies die Höhe des Entgelts beeinflussen. Ob sich die umsatzsteuerliche Bemessungsgrundlage ändert, hängt davon ab, ob die Gegenleistung um des Mangels der Leistung willen reduziert wird, oder ob aufgrund der mangelhaften Leistung ein zum Ersatz verpflichtender Schaden entstanden ist. Rechtsgrundlage hierfür ist entweder eine Vereinbarung der Parteien oder das für das Leistungsaustauschverhältnis maßgebliche Recht sieht die Minderung des vereinbarten Preises als gesetzliche Rechtsfolge bei einer Leistungsstörung vor. In beiden Fällen tritt das verminderte Entgelt an die Stelle des ursprünglich vereinbarten Entgelts. b) Schadensersatz Zahlt der leistende Unternehmer in Zusammenhang mit dem Leistungsaustausch an den Leistungsempfänger, so kann dies eine teilweise Rückzahlung der Gegenleistung, eine Vertragsstrafe oder Schadensersatz sein. Für eine steuerwirksame Minderung des Entgelts gelten grundsätzlich dieselben Kriterien, wie für den Entgeltbegriff generell. Die Minderung muss ihren Grund im Leistungsaustauschverhältnis selbst haben. Sie muss um der Leistung willen, d.h. wegen deren zu geringer Quantität oder Qualität Platz greifen.36 Schadensersatz, der keinen unmittelbaren Bezug zum Leistungsaustausch hat, beeinflusst die Höhe der umsatzsteuerlichen Bemessungsgrundlage nicht. Die zivilrechtliche Betrachtung ist nur eingeschränkt geeignet, einen Sachverhalt auch umsatzsteuerlich zutreffend zu würdigen. Das Umsatzsteuerrecht kennt den Begriff des Schadensersatzes nicht. Ob die Voraussetzungen für einen Leistungsaustausch vorliegen, ist nicht nach zivilrechtlichen, sondern ausschließlich nach den vom Unionsrecht geprägten umsatzsteuerrechtlichen Maßstäben zu beurteilen.37 In der Praxis werden häufig Begriffe wie „Entschädigung“, „Schadensausgleich“, Ersatzzahlung, „Wiedergutmachung etc. verwendet, ohne dass hiermit aber eine umsatzsteuerlich belastbare rechtliche Bewertung verbunden ist.38

36 Vgl. Nieskens in Rau/Dürrwächter, 174. Lieferung 10.2017, § 1 UStG Rz. 847; Lippross, Umsatzsteuer, 2.2.6.1 – S. 118. 37 BFH, v. 16.1. 2014 – V R 22/13, MwStR 2014, 333, Rz. 22. 38 Nieskens in Rau/Dürrwächter, UStG, 174. Lieferung 10.2017, § 1 UStG.

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Das Entgelt als Determinante der Steuer

Der Begriff des Schadensersatzes ist ebenso wenig, wie der Begriff des Zuschusses, geeignet, Zahlungen mit Entgeltcharakter von solchen abzugrenzen, die nicht im Rahmen eines Leistungsaustauschverhältnisses bezahlt werden. Auch das jeweils in diesem Zusammenhang verwendete Adjektiv „echt“ löst das Dilemma nicht, sondern führt lediglich einen weiteren Begriff ein. Echter Schadensersatz soll der Schadensersatz sein, bei dem es an einem Leistungsaustausch fehlt.39 Wird eine Geldzahlung um der Leistung willen bewirkt, liegt ein Entgelt vor. Wird ein Entgelt um des Mangels der Leistung willen reduziert, so ändert sich die Bemessungsgrundlage, gleichgültig, ob dies die Parteien ausdrücklich vereinbaren oder ob die Voraussetzungen eines Schadensersatzes in Gestalt der Minderung oder einer vertraglichen vereinbarten Vertragsstrafe vorliegen. Werden echte Schadenersatzzahlungen mit der Gegenleistung verrechnet, mindern sie nicht die umsatzsteuerliche Bemessungsgrundlage. c) Vertragsstrafe Auch bei einer vereinbarten Vertragsstrafe kommt es auf die Vereinbarungen im Einzelnen an, ob diese die Höhe der umsatzsteuerlichen Bemessungsgrundlage beeinflussen. Eine Vertragsstrafe kann einerseits eine Vertragsanpassungsklausel für den Fall einer quantitativen oder qualitativen Soll-Ist-Abweichung, andererseits eine Pauschalierung des Ersatzes für bestimmte Schäden darstellen. Erstere wäre regelmäßig als Minderung der Bemessungsgrundlage, letztere als Zahlung außerhalb des Leistungsaustauschverhältnisses und damit als nicht steuerbarer Schadensersatz zu beurteilen. Soweit vertreten wird, dass der auf die Erfüllung der Hauptverpflichtung gerichtete Leistungsaustausch durch eine Vertragsstrafe unberührt bleibt und daher die Bemessungsgrundlage der Hauptleistung durch eine verwirkte Vertragsstrafe nicht berührt wird,40 erscheint dies zu eng. Werden durch den Hersteller eines Werkes bestimmte Eigenschaften dieses Werkes, wie Kapazität, produzierte Stückzahlen, Menge-Zeit-Relation etc. zugesichert und für den Fall, dass der Vertragsgegenstand diese Eigenschaften nicht aufweist, entsprechende Vertragsstrafen vereinbart, liegt die Annahme einer Entgeltminderung nahe, da es zwar grundsätzlich bei der Gegenleistung für die Leistung bleibt, allerdings hat der Leistende neben seiner – qualitativ minderwertigeren Leistung  – einen Geldbetrag zu leisten. Dieser entspricht wirtschaftlich der teilweisen Rückzahlung des Entgelts und damit einer Minderung der Gegenleistung, so dass insoweit auch umsatzsteuerlich von einer Entgeltminderung auszugehen ist. Ist eine Vertragsstrafe zur leisten, weil eine im Übrigen vertragsgerechte Leistung nicht fristgerecht erbracht wird, gilt sie den Verzugsschaden ab und bildet keinen – das Entgelt mindernden – Teil des Leistungsaustausches.41 39 Abschn. 1.3 Abs. 1 Satz 1 UStAE; zum „echten“ Zuschuss vgl. Abschn. 10.2 Abs. 7 UStAE. 40 Birkenfeld in Birkenfeld/Wäger, 47. Lieferung 8.2008, § 32a Rz. 121. 41 BFH v. 4.5.1994 – XI R 58/93, UR 1994, 403 = BStBl. II 1994, 589; ebenso Birkenfeld in Birkenfeld/Wäger, 47. Lieferung 8.2008, § 32a Rz. 131, 141, der zwischen echter und unechter Vertragsstrafe unterscheidet.

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d) Vergleich Einen Vergleich schließen Parteien zur Beilegung eines Rechtsstreits. Er dient dazu, diesen in einem Verfahrensstadium zu beenden, in dem er regelmäßig noch nicht entscheidungsreif ist. In der Regel ist der Sachverhalt nicht vollständig bewiesen bzw. beweisbar und/oder dessen rechtliche Bewertung streitig. Die Parteien schließen den Vergleich zum Zweck der Beendigung der Rechtsunsicherheit und zur Vermeidung weiterer Kosten durch einen Kompromiss, der häufig in der Zahlung einer Geldsumme zur Abgeltung des oder der – ggf. auch wechselseitigen – Ansprüche besteht. Hatte der Streit Leistungen aus einem umsatzsteuerbaren Leistungsaustauschverhältnis zum Gegenstand, so kann der Vergleich auch umsatzsteuerrechtliche Konsequenzen haben. Auch hier stellt sich die Frage, ob die vergleichsweise Zahlung Entgelt- oder Schadensersatzcharakter hat. Insoweit kann auf die obenstehenden Ausführungen verwiesen werden. Typischerweise beendet ein Vergleich Streitigkeiten über mehrere streitige Ansprüche. Die vergleichsweise Zahlung eines Geldbetrages kann daher Entgelt, Entgeltminderung, Schadensersatz und/oder Entgelt für eine Leistung, die zu erbringen, Gegenstand des Vergleichs ist, sein. Eine Zahlung ist daher ggf. für Zwecke der umsatzsteuerlichen Beurteilung nach Maßgabe der Umstände des konkreten Falles und insbesondere des Streitstands in Entgelt/Entgeltminderung und nichtsteuerbaren Schadenersatz aufzuteilen. Dies wird regelmäßig auf Schwierigkeiten stoßen, da sich die Parteien, ungeachtet der vereinbarten „Pauschalzahlung“, über deren rechtliche Beurteilung uneinig sind, was ja gerade der Grund für die vergleichsweise Beendigung des Rechtsstreits ist. Häufig mündet daher die Beilegung eines Zivilrechtstreits in eine streitige Auseinandersetzung mit der Finanzverwaltung über deren um­ satzsteuerrechtliche Beurteilung. Es empfiehlt sich daher, Vergleichsvereinbarungen dahingehend zu konkretisieren, dass Entgeltminderungen und Schadensersatzzahlungen betragsmäßig bezeichnet werden. Auch wenn diese Beurteilung die Finanzverwaltung nicht bindet, wird sie dem – sofern Anzeichen für steuerrechtlich missbräuchliches Handeln nicht vorliegen – mangels besserer Kenntnis folgen. 3. Mangelhafte Gegenleistung Erbringt der Leistungsempfänger die von ihm geschuldete Gegenleistung nicht vereinbarungsgemäß, sei es, dass er nicht zum vereinbarten Zeitpunkt, sei es, dass er nicht den vereinbarten Betrag bezahlt, so kann dies Einfluss auf die Höhe der Be­ messungsgrundlage haben. Nach dem gesetzlichen Grundsatz richtet sich die steuerliche Bemessungsgrundlage gemäß § 16 Abs. 1 Satz 1 UStG nach dem vereinbarten Soll-Entgelt. Tatsächlich bemisst sich die Steuer jedoch nach dem Ist-Entgelt.42 Für Unternehmer, denen nach § 20 UStG die Besteuerung nach vereinnahmten Entgelten gestattet wurde, gilt dies unmittelbar. Die Vereinbarung der Parteien hinsichtlich der Gegenleistung und die darauf basierende Besteuerung nach vereinnahmten Entgelten

42 Vgl. die Ausführungen unter Ziffer III. 3 b.

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Das Entgelt als Determinante der Steuer

sind für die Besteuerung nur „vorläufig“43 und nur insoweit maßgeblich, als diese nicht wegen eines gegenüber den ursprünglichen Parteivereinbarung tatsächlich vereinnahmten geringeren Entgelts berichtigt wird. Mit dem tatsächlich vereinnahmten Entgelt ändert sich auch die Bemessungsgrundlage, sofern der vereinnahmte vom geschuldeten Betrag abweicht. Der Grund hierfür liegt darin, dass der Unternehmer lediglich die Steuer für den Staat vereinnahmt, mit ihr jedoch nicht selbst belastet werden soll. Nach dem Konzept der USt soll er sie auf den Verbraucher abwälzen. Gelingt ihm dies – teilweise – nicht, ist die Bemessungsgrundlage für die vom Unternehmer zu entrichtende Steuer entsprechend anzupassen. Dies gilt nicht nur für den Fall der endgültigen Minderung der Bemessungsgrundlage, sondern auch dann, wenn Leistungserbringung und Zahlung zeitlich nicht unerheblich auseinanderfallen. Nach Ansicht des BFH ist ein Entgelt nach §  17 Abs.  2 Nr.  1 UStG uneinbringlich, wenn bei objektiver Betrachtung damit zu rechnen ist, dass der Leistende die Entgeltforderung ganz oder teilweise jedenfalls auf absehbare Zeit rechtlich oder tatsächlich nicht durchsetzen kann.44 Gegenwärtig ist beim EuGH ein vom BFH initiiertes Verfahren anhängig, anlässlich dessen der Gerichtshof darüber zu entscheiden hat, ob es Voraussetzung der Besteuerung nach vereinbarten Entgelten ist, dass der vereinbarte Betrag fällig oder zumindest unbedingt geschuldet wird.45 Aus Sicht des BFH ist die Sollbesteuerung prinzipiell gerechtfertigt. Zum einen bestehe im Regelfall die berechtigte Erwartung, dass der Steuerpflichtige die Vergütung, die er für seine entgeltliche Leistung beansprucht, auch zeitnah vereinnahmen kann, zum anderes könne es als typisierende Vereinfachung angesehen werden, dass Steuerpflichtige mit einer ohnehin vorhandenen Forderungsbuchhaltung, die Steuer bei Leistungserbringung ohne weiteren technischen Aufwand abführen. Diese Überlegungen rechtfertigen es nach Ansicht des BFH jedoch nicht, Steuerpflichtige im Rahmen der Steuerentstehung nach Leistungserbringung zu einer mehrjährigen Vorfinanzierung der Steuer zu zwingen.46 Nach Ansicht des BFH erscheint es angesichts der Tatsache, dass der Unternehmer lediglich als Steuereinnehmer des Staates fungiert, als fragwürdig, ob der Steuerpflichtige die von ihm bereits für den Zeitraum der Leistungserbringung geschuldete Steuer über einen Zeitraum 43 „Vorläufig“: Nicht im Sinne einer vorläufigen Steuerfestsetzung gem. § 165 AO mit einer Berichtigungsmöglichkeit ex tunc, sondern im Sinne Steuerfestsetzung vorbehaltlich einer Berichtigung nach § 17 UStG. 44 BFH v. 15.12.2016 – V R 26/16, BStBl. II 2017, 735 = UR 2017, 279, Rz. 13; in diesem Sinne bereits BFH v. 24.10.2013 – V R 31/12, UR 2014, 238 = BStBl. II 2015, 674. In diesem Verfahren war die Berichtigung der „Soll-Steuer“ auf einen Entgeltbestandteil streitig, der vereinbarungsgemäß zur Absicherung von Gewährleistungsansprächen über einen Zeitraum von zwei bis fünf Jahren nicht vereinnahmt werden konnte. 45 BFH v. 21.6.2017 – V R 51/16, MwStR 2017, 267 = UR 2017, 810 m. Anm. Nücken; Az. des EuGH – C-548/17. 46 BFH v. 21.6.2017 – V R 51/16, MwStR 2017, 884 = UR 2017, 810 m. Anm. Nücken, Rz. 57, 58.

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von mehreren Jahren vorzufinanzieren hat, wenn er einzelne Teile der ihm zustehenden Vergütung erst nach geraumer Zeit beanspruchen und vereinnahmen kann.47 Schuldet der Leistungsempfänger wegen verspäteter Zahlung der Gegenleistung Verzugszinsen, so handelt es sich hierbei nicht um einen Teil der Bemessungsgrundlage im Leistungsaustauschverhältnis, sondern um so genannten echten Schadensersatz.48 4. Rückzahlungen Boni Rabatte a) Im Leistungsaustauschverhältnis Häufig vereinbaren Parteien im Rahmen eines Leistungsaustauschverhältnisses Klauseln, wonach die Gegenleistung in Abhängigkeit von der innerhalb eines bestimmten Zeitraums abgenommenen Menge variiert bzw. der leistende Unternehmer Rabatte, Rückvergütungen etc. gewährt. Diese mindern die steuerliche Bemessungsgrundlage zum Zeitpunkt der Rückzahlung. Innerhalb des Leistungsaustauschverhältnisses ist dies in der Regel unproblematisch. b) Geldzahlungen außerhalb der Leistungskette Werden derartige Rabatte, Rückvergütungen oder wie auch immer die Bezeichnung lauten mag, an eine vom Leistungsempfänger der vom Zahlenden erbrachten Leistung verschiedene Person erbracht, so stellt sich die Frage, ob diese Zahlung die Bemessungsgrundlage für den Umsatz des Zahlenden reduziert ober ob es sich insoweit lediglich um eine für die umsatzsteuerrechtliche Beurteilung irrelevante Verwendung des vereinnahmten Entgelts handelt. Die vertraglichen Gestaltungen von Vertriebsfördermaßnahmen sind vielfältig. Beispielsweise gibt ein Hersteller eines Produkts einen Preisnachlassgutschein aus, den der Erwerber dieses Produkts auf der Einzelhandelsstufe einlösen kann. Der den Gutschein akzeptierende Händler erhält den Nennwert des Gutscheins vom Hersteller erstattet.49 Häufig gewähren Hersteller Händlern, die sie über Großhändler beliefert haben, unmittelbar Zahlungen, wenn diese bestimmte Umsatzgrenzen überschreiten, oder wenn diese ausgewählte Kunden beliefern, für die mit dem Hersteller Sonderbedingungen vereinbart wurden. All diesen Modellen ist gemein, dass im Zusammenhang mit entgeltlichen Leistungen Zahlungen erbracht werden, wobei Zahlender und Zahlungsempfänger nicht unmittelbare Vertragspartner bzw. Beteiligte an demselben Leistungsaustauschverhältnis sind, sondern lediglich indirekt miteinander verbunden sind.

47 BFH v. 21.6.2017 – V R 51/16, MwStR 2017, 267 = UR 2017, 810 m. Anm. Nücken, Rz. 25. 48 EuGH v. 1.7.1982 – C-222/81, UR 1982, 159 m. Anm. Weiss = NJW 1983, 505. 49 Ein derartiger Sachverhalt lag der Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Elida Gibbs zugrunde. EuGH v. 24.10.1996 – C-317/94, BStBl. II 2004, 324 = UR 1997, 265 m. Anm. Weiss.

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Das Entgelt als Determinante der Steuer

Zahlungen, die das Entgelt für einen Umsatz zu mindern in der Lage sind, waren nach früherem deutschem Verständnis nur innerhalb eines Leistungsaustauschverhältnisses möglich. Diesen Standpunkt behielt Deutschland auch noch nach der Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Elida Gibbs50 bei, bis die Europäische Kommis­ sion diese Rechtsauffassung zum Gegenstand eines Vertragsverletzungsverfahrens51 machte. In diesem Verfahren hat der EuGH entschieden, dass die Bundesrepublik Deutschland dadurch gegen Ihre Pflichten aus der 6. Mehrwertsteuerrichtlinie verstoßen hat, dass sie keine Vorschriften erlassen hat, die im Fall der Erstattung von Preisnachlassgutscheinen eine Berichtigung der Besteuerungsgrundlage des Steuerpflichtigen, der die Erstattung vorgenommen hat, zulassen. Die Mehrwertsteuer soll nach Auffassung des EuGH nur den Endverbraucher belasten, während sie auf den Zwischenhandelsstufen neutral ist. Die Besteuerungsgrundlage kann daher nicht höher sein als die Gegenleistung, die der Endverbraucher tatsächlich erbracht hat. Danach stand fest, dass eine Zahlung auch dann die Bemessungsgrundlage für eine Leistung mindern kann bzw. mindern muss, wenn sie nicht von einer Partei des Leistungsaustauschverhältnisses geleistet wurde. Die Voraussetzungen, unter denen eine Zahlung zur Minderung der Bemessungsgrundlage für den Umsatz des Zahlenden führt, blieben jedoch auch nach zwei weiteren Entscheidungen des EuGH  – beide nach Vorlage durch den BFH – unscharf. In der Rechtssache Ibero Tours52 versagte der EuGH einem eine Reise vermittelndem Reisebüro die Minderung der Bemessungsgrundlage für seine Vermittlungsleistung. Das Reisebüro hatte dem Reisenden einen vermindernden Reisepreis, berechnet, indem es einen Teil der ihm vom Reiseveranstalter gewährten Provision dem Reisenden zugutekommen ließ. Im Ergebnis erhielt der Reiseveranstalter den vollen Reisepreis obwohl der Reisende diesen nicht vollständig bezahlte. Die Differenz ging zu Lasten des die Reise vermittelnden Reisebüros. Der aus Sicht des EuGH maßgebliche Unterschied zwischen den Sachverhalten Elida Gibbs und Ibero Tours lag darin, dass im Falle Elida Gibbs Zahlender und Zahlungsempfänger Glieder einer Leistungskette sind, was im Sachverhalt der Rechtssache Ibero Tours nicht der Fall war. In der dem Urteil Elida Gibbs zugrundeliegenden Rechtssache wurde nämlich die Gegenleistung, die der Steuerpflichtige erhalten hatte, der das erste Glied einer Kette von Umsätzen war, in der Tat um den Nachlass vermindert, die dieser Steuerpflichtige dem Endverbraucher unmittelbar gewährt hatte. Im Sachverhalt der Rechtssache Ibero Tours war der Reiseveranstalter jedoch nicht das erste Glied einer Kette von Umsätzen, da er seine Dienstleistungen unmittelbar an den Endverbraucher erbringt. Ibero Tours wurde lediglich als Vermittler dieses Umsatzes tätig und war kein Glied innerhalb der Leistungskette vom Reiseveranstalter an den Endverbraucher. Dagegen erbringt Ibero Tours eine Dienstleistung, nämlich die

50 EuGH v. 24.10.1996 – C-317/94, BStBl. II 2004, 324 = UR 1997, 265 m. Anm. Weiss. 51 EuGH v. 15.10.2002 – C- 427/98 – Kommission gegen Deutschland, BStBl. II 2004, 328 = UR 2002, 523. 52 EuGH v. 16.1.2014 – C-300/12 – Ibero Tours, BStBl. II 2015, 317 = UR 2014, 234.

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Vermittlung, die von der vom Reiseveranstalter erbrauchten Dienstleistung völlig getrennt ist.53 Wegen des vom EuGH aufgestellten Erfordernisses, nach dem der Preisnachlass innerhalb der Leistungskette gewährt werden muss, um steuermindernd wirken zu können, war die Entscheidung in der Rechtssache Boehringer Ingelheim54 mit großer Spannung erwartet worden, da in dem dieser Entscheidung zugrundeliegenden Sachverhalt das den Rabatt gewährende Pharmaunternehmen und das den Rabatt empfangende private Krankenversicherungsunternehmen nicht Glieder einer Leistungskette waren. Die Medikamente wurden von Boehringer Ingelheim über Apotheken an Versicherte geliefert. Die Krankenversicherung erstattete den Versicherten den Betrag, den diese gegenüber den Apotheken aufwenden mussten. Die private Krankenversicherung war nicht Empfänger dieser Lieferungen. Gleichwohl scheint das Gericht sie als solche zu betrachten: Der Umstand, dass nicht das Unternehmen der privaten Krankenversicherung, das eine Erstattung an die Versicherten erbringt, sondern die Versicherten selbst unmittelbare Empfänger der fraglichen Arzneimittellieferungen sind, vermag den unmittelbaren Zusammenhang zwischen der getätigten Lieferung von Gegenständen und der empfangenen Gegenleistung nicht zu beseitigen.55 Die beim Kauf der Arzneimittel geleisteten Zahlungen der Versicherten seien als Gegenleistung eines Dritten anzusehen, wenn die betreffenden Dritten, also die Versicherten, Erstattung von den Unternehmen der privaten Krankenversicherung begehren und Letztere gemäß den Abschlag erhalten, den ihnen das pharmazeutische Unternehmen gewähren muss. Somit sind die Unternehmen der privaten Krankenversicherung als Endverbraucher einer Lieferung durch ein mehrwertsteuerpflichtiges pharmazeutisches Unternehmen anzusehen.56 Diese offensichtlich vom erstrebten Ergebnis der Gleichbehandlung von Zwangsrabatten nach dem Gesetz über Rabatte für Arzneimittel (Arzneimittelrabattgesetz, AMRabG) sowohl an gesetzliche als auch private Krankenversicherung getragene Argumentation wirkt gekünstelt und überzeugt nicht. Inhaltlich hat das Gericht das ­Erfordernis aufgegeben, dass die Rabattgewährung innerhalb der Leistungskette erfolgen muss, um Einfluss auf die Bemessungsgrundlage haben zu können. Die Eingliederung des Versicherungsunternehmens als Endverbraucher in die Leistungskette ist nur schwer nachvollziehbar. Auch der BFH sah sich in seiner Nachfolgeentscheidung offensichtlich außer Stande, dieses Ergebnis systematisch zu begründen. In seiner Urteilsbegründung zitierte er daher lediglich die Entscheidung des EuGH und schloss sich dieser ohne weitere Begründung an.57 Stellt man die entschiedenen Konstellationen nebeneinander, so ergibt sich folgendes Bild:

53 EuGH v. 16.1.2014 – C-300/12 – Ibero Tours, BStBl. II 2015, 317 = UR 2014, 234, Rz. 30. 54 EuGH v. 20.12.2017 – C-462/16 – Boehringer Ingelheim Pharma, UR 2018, 166. 55 EuGH v. 20.12.2017 – C-462/16 – Boehringer Ingelheim Pharma, UR 2018, 166, Rz. 40. 56 EuGH v. 20.12.2017 – C-462/16 – Boehringer Ingelheim Pharma, UR 2018, 166, Rz. 41. 57 BFH v. 8.2.2018 – V R 42/15, UR 2018, 322.

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Das Entgelt als Determinante der Steuer

Die Sachverhalte in den Rechtssachen Elida Gibbs und Boehringer Ingelheim gleichen sich insoweit, als in beiden Fällen der ursprünglich Leistende im Zusammenhang mit seiner Leistung einen Rabatt an eine Person gewährt, die nicht sein Leistungsempfänger ist. Die Sachverhalte der Rechtssachen Elida Gibbs und Ibero Tours haben gemeinsam, dass in beiden Fällen der Endverbraucher aufgrund des gewährten Rabatts im Ergebnis weniger für die empfangene Leistung aufwenden musste, als er ohne den Rabatt hätte aufwenden müssen. Die Rechtssachen Boehringer Ingelheim und Ibero Tours haben gemeinsam, dass die Zahlung – auch wenn der EuGH dies in der Rechtssache Boehringer Ingelheim anderes sieht  – nicht innerhalb der Leistungskette gewährt wurden. Im Falle von Ibero Tours stand der Leistende, im Falle Boehringer Ingelheim der Leistungsempfänger außerhalb der Kette. Der Aufwand des Endverbrauchers hat sich einzig im Falle Boehringer Ingelheim nicht reduziert. Nach Würdigung der Entscheidungen des EuGH in den Rechtssachen Elida Gibbs, Kommission gegen Deutschland, Ibero Tours und Boehringer Ingelheim scheint daher weder das Erfordernis der Rabattgewährung innerhalb der Leistungskette, noch die endgültige Entlastung des Endverbrauchers maßgeblich zu sein, sondern allein die Tatsache, dass der Liefernde einen Teil des vereinnahmten Entgelts in unmittelbarem Zusammenhang mit seiner Leistung aufwendet, so dass er es wirtschaftlich nicht im Sinne des Art. 73 MwStSystRL erhält. Es bleiben Zweifel, ob diese Schlussfolgerung des Gerichts, wonach die Unternehmen der privaten Krankenversicherung als Endverbraucher einer Lieferung durch ein mehrwertsteuerpflichtiges pharmazeutisches Unternehmen anzusehen sind,58 zutreffend ist. Deutlich wird jedoch das Postulat des EuGH, dass die Minderung der Bemessungsgrundlage auf der Grundlage einer Zahlung voraussetzt, dass diese Zahlung zwar nicht zwischen den Parteien eines Leistungsaustauschverhältnisses wohl aber innerhalb der Leistungskette fließen muss.

VI. Fehlen eines Entgelts 1. Tausch a) Voraussetzungen Werden im Rahmen eines Leistungsaustausches anstelle von Geld Leistungen als Gegenleistung für eine bestimmte Leistung gewährt, so spricht man von einem Tausch oder einem tauschähnlichen Umsatz. Ein Tausch oder ein tauschähnlicher Umsatz liegt jedoch nur vor, wenn die jeweiligen Leistungen sich synallagmatisch gegenüber58 EuGH v. 20.12.2017 – C-462/16 – Boehringer Ingelheim Pharma, UR 2018, 166, Rz. 41.

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stehen, d.h. die Leistung gerade um des Erhalts der aus einer Lieferung oder Dienstleistung bestehenden Gegenleistung willen erbracht wird. Dies ist nicht der Fall, wenn wechselseitige Leistungen gegen ein vereinbartes Entgelt erbracht werden und die wechselseitigen Zahlungen lediglich verrechnet werden. Im letztgenannten Fall waren für beide Leistungen jeweils in Geld bezifferte Gegenleistungen vereinbart, die die Bemessungsgrundlagen für die Umsatzsteuer der wechselseitigen Leistungen bilden. b) Bemessungsgrundlage beim Tausch Liegt dagegen ein Tausch oder ein tauschähnlicher Umsatz vor, stellt sich die Frage nach der Bewertung der jeweiligen Gegenleistung. Der EuGH hat insoweit den jeweils subjektiven Wert der eigenen Leistung als Wert der empfangenen Gegenleistung bestimmt, weil dies der Wert ist, den der jeweilige Unternehmer für die jeweils empfangene Gegenleistung aufwendet.59 Dabei ist davon auszugehen, dass die von zwei, sich als fremde Dritte gegenüberstehenden Unternehmern wechselseitig ausgetauschten Leistungen aus Sicht der handelnden Personen gleichwertig sind bzw. den gleichen Preis haben. Die Parteien tauschen Leistungen aus, die in den Augen einer jeden von ihnen in dem Sinne einander mindestens gleichwertig sind, dass jede für ihre eigene Leistung eine ihrer Wertschätzung nach mindestens gleichwertige Gegenleistung, ein „Äquivalent“ erhält. Für das Vorliegen eines „gegenseitigen“ Schuldvertrages ist es nicht erforderlich, dass die beiderseitigen Leistungen, an einem objektiven Maßstab gemessen, einander gleichwertig sind. Es genügt, dass jede Partei in der Leistung der anderen ein hinreichendes Entgelt für ihre eigene Leistung erblickt. Es kommt also insoweit auf das subjektive Urteil einer jeden Vertragspartei an.60 Veräußert ein Unternehmer einen Gegenstand, dessen Wert ein unabhängiger Sachverständiger mit 100 bewertet hat, für einen Preis von 90 bzw. 110, so stellt das jeweils vereinbarte Entgelt die Bemessungsgrundlage für die USt dar. Auch wenn der Unternehmer im ersten Fall ein schlechteres und im zweiten Fall ein besseres Geschäft gemacht hat, bestehen keine Zweifel, dass das vereinbarte Entgelt maßgeblich für die Bestimmung der auf den Umsatz anfallenden Umsatzsteuer ist. Tauscht hingegen A einen Gegenstand, den ein unabhängiger Sachverständiger mit 90 bewertet hat, gegen einen Gegenstand des B, den ein unabhängiger Sachverständiger mit 110 bewertet hat, ohne dass eine Ausgleichszahlung vereinbart wird, so stellt sich die Frage nach der Höhe der umsatzsteuerlichen Bemessungsgrundlage. Bei der Betrachtung beider Umsätze jeweils für sich läge die Annahme einer Bemessungsgrundlage in Höhe von 90 bzw. 110 nahe. Der Annahme unterschiedlicher Bemessungsgrundlagen stünde jedoch der Tatsache entgegen, dass die Parteien das Geschäft ohne Vereinbarung einer Ausgleichszahlung vereinbart haben und daher von der Gleichwertigkeit der getauschten Zahlungen ausgegangen sind.

59 EuGH v. 23.11.1988 – 230/87, UR 1990, 307 m. Anm. Weiß = HFR 1990, 276; v. 2.6.1994 – C-33/93, DB 1995, 256. 60 Schuhmann in Rau/Dürrwächter, 174. Lieferung 10.2017, § 10 Rz. 40.

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Das Entgelt als Determinante der Steuer

Derartige Fälle stellen die Beteiligten vor praktische Schwierigkeiten. Weisen sie in den auszutauschenden Rechnungen den geringeren Wert aus, so besteht das Risiko, dass das Finanzamt dies beanstandet und den höheren Betrag der Besteuerung zugrunde legt. Stellen sie dagegen den höheren Betrag in Rechnung, besteht das Risiko der Beanstandung des Vorsteuerabzugs. Für den Fall, dass einer der Beteiligten kein Unternehmer oder ein Kleinunternehmer ist, die beiden Lieferungen unterschiedlichen Steuerätzen unterliegen oder einer der Beteiligten zwar Unternehmer aber nur teilweise zum Vorsteuerabzug berechtigt ist, führen diese Geschäftsvorfälle auch zu einer unterschiedlichen Steuerbelastung. Nach der Rechtsprechung des EuGH ist die steuerliche Bemessungsgrundlage derjenige Wert, den der Empfänger der Leistung der Leistung beimisst, die er sich verschaffen will und dem Betrag entspricht, den er zu diesem Zweck aufzuwenden bereit ist.61 Im Beispielsfall wendet A den  – durch das Sachverständigengutachten objektivierten – subjektiven Wert von 90 auf, währen B einen ebensolchen von 110 aufwendet. Hätten die Parteien die für sie erkennbare bzw. erkannte Differenz der Werte ausgleichen wollen, so hätten sie eine entsprechende Zuzahlung vereinbart. Tun sie dies nicht, so gehen sie von einer Gleichwertigkeit der ausgetauschten Zahlungen aus. Nachdem derjenige – im Beispielsfall A – der den geringwertigeren Gegenstand aufgewendet hat, nicht bereit war eine Zuzahlung zu leisten, wäre das Geschäft zu einem höheren Wert nicht zustande gekommen. Somit bildet dieser geringere Wert den Wert, der als umsatzsteuerliche Bemessungsgrundlage anzusetzen ist. 2. Unentgeltliche Wertabgaben Werden ein dem Unternehmen zugeordneter Gegenstand oder sonstige unterneh­ merische Ressourcen unentgeltlich an Endverbraucher abgegeben oder vom Unternehmer nichtunternehmerisch verbraucht, käme es zu einem unversteuerten End­ verbrauch, wenn der Vorgang mangels Entgelt als Anknüpfungspunkt nicht der Umsatzsteuer unterliegt. Um dies zu vermeiden, unterwirft das Gesetz die unentgeltliche Wertabgabe, sowohl in Gestalt einer Gegenstandsentnahme, als auch einer Leistungsentnahme, der Umsatzsteuer. Die Besteuerung dieses unentgeltlichen Vorgangs ist dadurch gerechtfertigt, dass unternehmerisch genutzte und dadurch typischer­ weise vorsteuerentlastete Gegenstände bzw. Dienstleistungen vom Unternehmer für nichtunternehmerische Zwecke verwendet und damit verbraucht werden. Mangels eines Entgelts bedarf es in diesen Fällen einer Ersatzbemessungsgrundlage. Wie beim Tausch muss ein Wert ermittelt werden, mit dem der Verbrauch der Umsatzsteuer unterliegt. Anders als beim Tausch, fehlt es bei unentgeltlichen Wertabgaben an einem Interessensgensatz der Beteiligten, aufgrund dessen sich bei entgeltlichen Transaktionen ein Preis am Markt bildet. Als Ansatzpunkt für die Bemessungsgrundlage bietet sich entweder die Vorsteuerentlastung beim Erwerb, d.h. die Umsatzsteuer auf die Eingangsleistung oder die Um61 Tehler in Reiß/Kraeusel/Langer, 103. Lfg. Januar 2013, § 10 Rz. 206.

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satzsteuer auf den Wert des Verbrauchs an. Je nachdem ob mit der Besteuerung die Steuerentlastung des Erwerbsvorgangs rückgängig gemacht werden oder der Verbrauch der unternehmerischen Leistung besteuert werden soll, kann die Umsatzsteuer entweder an der Eingangsleistung, die der Unternehmer für die Ausführung unentgeltlicher Wertabgaben verwendet oder bei der unentgeltlichen Leistung an den Endverbraucher ansetzen. Das Gesetz folgt technisch dem letztgenannten Ansatz, indem es in § 3 Absätze 1b und 9a UStG die unentgeltlichen Wertabgaben als eigene steuerbare Umsätze definiert. Dementsprechend wird als Hilfsbemessungsgrundlage der Wert des Verbrauchs auf der Handelsstufe des Unternehmers, d.h. der Wiederbeschaffungspreis bestimmt. Nur hilfsweise bilden die Selbstkosten die Bemessungsgrundlage für die Entnahme. Nach der Rechtsprechung des BFH soll der Unternehmer, der einen Gegenstand aus seinem Unternehmen für Zwecke entnimmt, die außerhalb des Unternehmens liegen, mit der Steuer belastet werden, die im Zeitpunkt des Verbrauchs tatsächlich auf einem derartigen Gegenstand oder einem gleichartigen Gegenstand anhand der aktuellen Marktsituation lastet. Die Bemessungsgrundlage für die Gegenstandsentnahme knüpft an den jeweiligen Gegenstand und dessen aktuelle Bewertung an. Der sich selbst versorgende Unternehmer wird damit systemgerecht nicht wie ein Verkäufer, sondern wie ein sich fremd versorgender Käufer – allerdings auf der Handelsstufe des Unternehmers  – behandelt, der den, je nach Marktsituation, niedrigeren oder höheren aktuellen Preis bezahlen würde. Dieser fiktive Einkaufspreis entspricht in der Regel dem Wiederbeschaffungspreis zum Zeitpunkt der Entnahme.62

VII. Fazit Die Bemessungsgrundlage der Umsatzsteuer ist in der Mehrzahl der Fälle ein verhältnismäßig einfach zu handhabendes Tatbestandsmerkmal, ist die Bemessungsgrundlage doch durch die sich am Markt orientierende Preisvereinbarung der Parteien vorgegeben. Lediglich in Fällen, in denen die persönliche Nähe von Leistendem und Leistungsempfänger eine Preisvereinbarung zum Zwecke der Steuervermeidung nicht ausschließt, bedarf es aus Sicht des Fiskus einer Kontrolle und ggf. Korrektur der vertraglich vereinbarten Bemessungsgrundlage. Fehlt es für einen vom Gesetz als steuerbar geregelten Umsatz an einer Preisvereinbarung, so ist die Bestimmung der Ersatzbemessungsgrundlage regelmäßig nicht unproblematisch. So ist für den Tausch trotz mehrfacher Befassung der obersten Gerichte mit der Rechtsfrage eine überzeugende Lösung noch nicht gefunden. Das gleiche gilt für Rabattgewährungen außerhalb eines konkreten Leistungsaustauschverhältnisses. Die hierzu ergangenen Entscheidungen des EuGH insbesondere in der Rechtssachen Ibero Tours und Boehringer Ingelheim erscheinen nicht völlig konsistent. Insbesondere bleibt fraglich, ob Zahlender und Zahlungsempfänger Glieder einer Leistungskette sein müssen, damit die Zahlung die Bemessungsgrundlage mindert. Es steht daher zu erwarten, dass die Rechtsprechungsreihe Elida Gibbs, Kommission gegen Deutschland, Ibero Tours, Boehringer Ingelheim bei geeigneter Gelegenheit eine Fortsetzung erfährt. 62 BFH v. 12.12. 2012 – XI R 3/10, BStBl. II 2014, 809, Rz. 24 = UR 2013, 460.

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Umsatzsteuer im Wandel: Umgang mit „kostenlosen“ digitalen Dienstleistungen Inhaltsübersicht

I. Einleitung

II. Digitale Geschäftsmodelle 1. Soziale Netzwerke 2. Nutzung von mobilen Apps 3. Sharing Economy 4. Kostenlose Musik- und Video­ streaming-Angebote 5. Zivilrechtliche Einordnung III. „Kostenlose“ Dienstleistungen in der Umsatzsteuer 1. Vorbemerkungen 2. Vorliegen eines Leistungsaustauschs a) Begriff der Leistung b) Unmittelbarkeitszusammenhang c) Zwischenergebnis



3. Exkurs: Unternehmereigenschaft des Internetnutzers?

IV. Bemessungsgrundlage 1. Vorbemerkungen 2. Allgemeiner Bewertungsansatz 3. Anwendung auf Datenverwertungsrechte 4. Kein Rückgriff auf die Mindest­ bemessungsgrundlage 5. Ergebnis

V. Umsetzung- und Vollzugsfragen

VI. Überlegungen de lege ferenda VII. Zusammenfassung und Ausblick

I. Einleitung Die Umsatzsteuer ist seit Jahren die größte Steuereinnahmequelle für den deutschen Fiskus. 2016 beliefen sich die Steuereinnahmen aus ihr auf rund 217 Mrd. Euro und damit knapp 31 % der gesamten Steuereinnahmen von Bund, Ländern und Gemeinden.1 Bei dem derzeit prognostizierten Wirtschaftswachstum wird sie diese Spitzenposition auch in kommenden Jahren voraussichtlich beibehalten. Doch auch die Umsatzsteuer wird sich den veränderten Rahmenbedingungen stellen müssen, die unter den Stichwörtern Industrie 4.0, Digitalisierung etc. diskutiert werden. Eine grundlegende Umstellung der Wirtschaft hat begonnen, in der der Austausch von Daten im Vergleich zum Warenaustausch immer mehr an Bedeutung gewinnt. Mit Hilfe dieser Daten und rund um den Datenaustausch herum entstehen zahlreiche neue Geschäftsmodelle, deren disruptiver Charakter etablierte Märkte und Marktteilnehmer vor neue Herausforderungen stellt. Wenn Daten, wie teilweise verlautet, zu einer neuen „Währung“ werden, mit deren Hingabe beispielsweise ein Endverbraucher für die Inanspruchnahme digitaler Leistungen „bezahlt“, ist zu untersuchen, ob und wie ein solcher Austausch umsatzsteuer1 Statistisches Bundesamt unter https://www.destatis.de/DE/ZahlenFakten/GesellschaftStaat/ OeffentlicheFinanzenSteuern/Steuern/Steuerhaushalt/AktuellSteuereinnahmen.html.

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lich zu fassen und zu besteuern ist. Die Diskussion in der Literatur und die Befassung der Rechtsprechung mit dieser Frage stehen erst am Anfang. Der folgende Beitrag soll aufzeigen, was für Geschäftsmodelle es bereits gibt und untersuchen, welche Fragen für den umsatzsteuerlichen Umgang mit den neuen Entwicklungen beantwortet werden müssen und vor allem, ob und wie die Bemessungsgrundlage für eine Besteuerung ermittelt werden könnte.

II. Digitale Geschäftsmodelle 1. Soziale Netzwerke Die Finanzierung von sozialen Netzwerken erfolgt über Mitgliedsbeiträge2 bzw. über verschiedene Formen von Werbung. Facebook als eines der größten kostenlosen sozialen Netzwerke sieht vor, dass die Nutzer private Profile zur Darstellung der eigenen Person bzw. Unternehmen Profile zur geschäftlichen Präsenz erstellen. Facebook ermöglicht es, dass die Profile durch Freundschaftsanfragen untereinander vernetzt werden können. Darüber hinaus offeriert Facebook einen Messengerdienst. Facebook hatte im Juni 2017 rund 2 Mrd. Mitglieder.3 Da die Zahlungsbereitschaft der Nutzer sehr gering ist, setzen die großen sozialen Netzwerke grundsätzlich auf kostenlose Mitgliedschaften. Es ist allgemein bekannt, dass sich Facebook & Co. über Werbeeinnahmen finanzieren. Facebook erzielt Milliardengewinne. Hinter den vermeintlich kostenlosen Dienstleistungen, die jeder Facebook-Nutzer erhält, steckt also ein komplexes Geschäftsmodell, welches auf den Daten des Nutzers basiert. Ausgehend vom anonymisierten Surfverhalten von Internetnutzern werden deren Interessen zu Nutzerprofilen zusammengefasst. Entsprechend den angenommenen Nutzerinteressen wird dann passende Werbung eingeblendet. Soziale Netzwerke richten Werbeanzeigen anhand anderer Informationen individuell auf den Nutzer aus, z.B. aus den Profil-Informationen, den Standortinformationen des Mobilgeräts, der IP-Adresse oder der Apps, die auf dem Mobilgerät installiert sind. Dadurch kann Werbung so gezielt wie möglich ausgeliefert werden. Das funktioniert mithilfe sog. „Cookies“, die das Surfverhalten des Browsers dokumentieren und speichern. Den meisten Nutzern von kostenlosen Dienstleistungen ist durchaus bewusst, dass man für kostenlose Online-Angebote mit seinen persönlichen Daten zahlt.4 2. Nutzung von mobilen Apps Eine mobile App (englische Abkürzung für application) ist eine Anwendungssoftware für Mobilgeräte. Diese können für die verschiedensten Bedürfnisse des Nutzers her2 Z.B. Xing, LinkedIn. 3 Siehe unter http://socialmedia-institute.com/uebersicht-aktueller-social-media-nutzerzahlen/. 4 DIVSI, Studie „Daten – Ware und Währung“, Eine repräsentative Bevölkerungsbefragung, Hamburg 2014, 11.

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untergeladen werden, z.B. Dienstprogramme, Spaßanwendungen, Ratgeber, Fitness-­ Apps, Produkt-Apps usw. Die Entwicklung und die regelmäßige Aktualisierung von Apps kosten Zeit und Geld. Auf den verschiedenen „App-Stores“, auf denen die Apps heruntergeladen werden können, existieren grundsätzlich drei Arten von Apps: ȤȤ Bezahl-Apps sind kostenpflichtig. Nach dem Download kann die App ohne Einschränkung genutzt werden. ȤȤ Kostenlose Apps ermöglichen es, eine möglichst große Nutzerzahl an sich zu binden. Im Regelfall wird dann personalisierte Werbung geschaltet. Wenn ein Nutzer auf diese klickt, dann zahlt der Werbende einen kleinen Betrag an den App-Betreiber. Die Systeme sind geschickt programmiert, so dass es häufig vorkommt, dass Nutzer versehentlich auf die Werbebanner klicken. ȤȤ Beim Geschäftsmodell Freemium oder Free-to-Play (Free2Play) kann die App kostenlos heruntergeladen und installiert werden. Sie kann dann in einer Basisvariante oder für eine bestimmte Zeit genutzt werden. Für mehr Funktionalitäten haben Nutzer die Möglichkeit sog. „In-App-Käufe“ vorzunehmen. Je nach Nutzung können bei Freemium oder Free2Play also Kosten anfallen. Gemeinsam ist den Apps, die man kostenlos herunterladen und nutzen kann, dass sie sich durch den Verkauf der Nutzerdaten finanzieren. 3. Sharing Economy Einen großen Zuwachs verzeichnen auch Angebote der „Sharing Economy“. Öffentlich diskutiert werden u.a. das Angebot von Uber und das Angebot der Plattform Airbnb. Mittels einer Smartphone-Anwendung macht es Uber seinen Nutzern möglich, eine Fahrt mit einem Fahrer zu buchen. Uber zufolge sind alle Fahrer auf der Uber-Plattform entweder unabhängige Unternehmer oder Privatpersonen. Uber unterhält keine eigene Fahrzeugflotte und tritt ausschließlich als Vermittler auf. Laut den AGB bietet Uber verschiedene Technologie-Plattformen an und stellt dem po­ tentiellen Fahrgast darüber Vermittlungsdienstleistungen zur Verfügung. Die In­ anspruchnahme dieser Vermittlungsdienstleistungen erfolgt für den Privatkunden kostenlos, sofern nichts anderes vereinbart ist. Geschäftskunden müssen für diese Dienstleistungen Gebühren entrichten. Airbnb ist ein Marktplatz für die Buchung und Vermietung von Unterkünften mittels eines Online-Reservierungssystems. Sowohl private als auch gewerbliche Vermieter vermieten Zimmer oder ihr komplettes Heim. Airbnb tritt in diesem Zusammenhang als Vermittler auf und übernimmt keinerlei rechtliche Verpflichtungen. Vermittlungsbzw. Servicegebühren werden sowohl dem Gastgeber als auch dem Gast in Rechnung gestellt.5 Airbnb erbringt also kostenpflichtige Dienstleistungen an seine Vertragspartner.

5 https://www.airbnb.de/help/article/1857/what-are-airbnb-service-fees (Stand: 14.12.2017).

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Auch diese Plattformen verwenden Cookies und Pixels, die mit Hilfe der generierten Daten des Nutzers relevante Werbeanzeigen platzieren und die Performance und Effektivität von Werbekampagnen verfolgen.6 4. Kostenlose Musik- und Videostreaming-Angebote Auch Video- und Musikstreaming-Angebote boomen im Internet. Hier handelt es sich um Video- und Musikdatenbanken, die ein großes Repertoire an Werken im ­Angebot haben. Diese können während des Downloads auf dem mobilen Gerät des Nutzers abgespielt werden. Das Geschäftsmodell ist bei allen Anbietern ähnlich. Neben kostenlosen werbefinanzierten Streams existieren auch zahlungspflichtige Premiumangebote mit einem breiten Angebotsspektrum. 5. Zivilrechtliche Einordnung Mit der zivilrechtlichen Einordnung digitaler Geschäftsmodelle befassen sich internationale und nationale Gremien bereits seit längerem. So liegt ein Vorschlag für eine „Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über bestimmte vertragsrechtliche Aspekte der Bereitstellung digitaler Inhalte“ vom 9. Dezember 2015 vor.7 Gemäß Art. 3 dieses Vorschlags sollen die darin befindlichen Regelungen für alle Verträge gelten, „auf deren Grundlage ein Anbieter einem Verbraucher digitale Inhalte bereitstellt oder sich hierzu verpflichtet und der Verbraucher als Gegenleistung einen Preis zahlt oder aktiv eine andere Gegenleistung als Geld in Form personenbezogener oder anderer Daten erbringt.“ In Deutschland haben sich die Justizministerinnen und Justizminister der Länder auf ihrer Frühjahrskonferenz im Juni 2015 mit den Folgen der Digitalisierung auf das Zivilrecht befasst und beschlossen, eine Arbeitsgruppe einzurichten, die der Frage nachgeht, ob gesetzgeberischer Handlungsbedarf besteht. Die Arbeitsgruppe „Digitaler Neustart“ hat der Justizministerkonferenz am 21./22. Juni 2017 ihren Bericht vorgelegt. Hier wurde u.a. das „Bezahlen mit Daten“ am Beispiel der sozialen Netzwerke näher untersucht. 8 Im Bericht wird davon ausgegangen, dass auch langfristig „kostenlose“ soziale Netzwerke den Regelfall darstellen werden, bei denen der Betreiber Erlöse über die Monetarisierung von persönlichen und sonstigen Daten oder Inhalten erzielt, die sich aufgrund von Registrierung und Kommunikation über ein Nutzerkonto unmittelbar der Person eines Nutzers zuordnen lassen. Die Verfasser des Berichts kommen zu der Auffassung, dass die vertragsrechtlichen Fragen, die mit der Nutzung personenbezo6 Vgl. https://www.uber.com/legal/privacy/cookies/de/ (Stand 14.12.2017) sowie https://www.​ airbnb.de/terms/privacy_policy (Stand 14.12.2017). 7 COM(2015) 634 final vom 9.12.2015, abrufbar unter https://ec.europa.eu/transparency/reg​ doc/rep/1/2015/DE/1-2015-634-DE-F1-1.PDF. 8 https://www.justiz.nrw.de/JM/schwerpunkte/digitaler_neustart/zt_bericht_arbeitsgruppe/ bericht_ag_dig_neustart.pdf; zu den folgenden Ausführungen vgl. S. 199 ff.

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gener Daten für personalisierte Werbung einhergehen, sich mit den geltenden Regelungen des bürgerlichen Rechts im Ergebnis angemessen bewältigen lassen. Aus schuldrechtlicher Sicht werde dem Internetanbieter durch die Leistung des Nutzers ein wirtschaftlicher Wert – ein Entgelt – zugewendet. Die datenschutzrechtliche Einwilligung des Nutzers wird als synallagmatisch mit der Leistung des Diensteanbieters verbundene Gegenleistung eingestuft. Klargestellt wird weiter, dass die Leistung des Nutzers nicht in der Übermittlung seiner Daten gesehen werden könne, sondern dass das Interesse des Onlineanbieters auf die datenschutzrechtliche Einwilligung des Nutzers in die kommerzielle Verwendung seiner Daten gerichtet sei. Der Bericht empfiehlt verschiedene gesetzliche Anpassungen des Schuldrechts in Bezug auf Nutzungsverhältnisse ohne finanzielle Gegenleistung. So sollte etwa erwogen werden, im allgemeinen Schuldrecht allgemein klarzustellen, dass ein Entgelt auch in der Erteilung einer Einwilligung in die Verarbeitung personenbezogener Daten für kommerzielle Zwecke des Vertragspartners bestehen kann. Zum Schutz von Verbrauchern wird für das „Bezahlen mit Daten“ eine „Button-Lösung“ angeregt, bei welcher der Mustertext für die elektronische Schaltfläche (den „Button“) lauten könnte: „Bestellen gegen Einwilligung zu einer Verarbeitung personenbezogener Daten für kommerzielle Zwecke des Anbieters.“ Die tatsächlich schwierige Frage nach dem wirtschaftlichen Wert personenbezogener Daten, der auf fundamental komplexen Faktoren beruht und je nach Kontext der beabsichtigten Datenverwendung sehr unterschiedlich sein kann, musste allerdings bei der schuldrechtlichen Einordnung nicht entschieden werden. Dazu enthält der Bericht daher keine Überlegungen.

III. „Kostenlose“ Dienstleistungen in der Umsatzsteuer 1. Vorbemerkungen Zivilrechtliche Überlegungen können nicht die umsatzsteuerliche Behandlung bestimmter Sachverhalte vorgeben. Weder national noch im EU-Recht gibt es insoweit einen Grundsatz der Einheit der Rechtsordnung. Damit muss im Zusammenhang mit den dargestellten „kostenlosen“ Dienstleistungen gesondert geprüft werden, ob es sich hier um einen umsatzsteuerbaren Vorgang handelt. Derzeit findet keine Umsatzbesteuerung auf diese Leistungen statt. Anstelle eines Entgeltes erhalten die Online-Plattformen Nutzerdaten. Oftmals stimmen die Nutzer aktiv zu, dass sie mit der Nutzung ihrer Daten für bestimmte Zwecke – meistens Werbezwecke – einverstanden sind. Die Nutzerdaten haben dementsprechend eine erhebliche wirtschaftliche Bedeutung für die Online-Plattformen. Daten stellen ein wertvolles Gut dar; so spricht Grützmacher vom „Rohstoff des 21. Jahrhunderts“9. Daraus leitet sich die Frage ab, wie die Nutzung von elektronischen Leistungen im Austausch gegen Daten umsatzsteuerlich einzuordnen ist. 9 Grützmacher, Dateneigentum – ein Flickenteppich, CR 2016, 485.

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Zu untersuchen ist, ob die Zurverfügungstellung von Daten gegen elektronisch erbrachte Dienstleitungen als Leistungsaustausch zu definieren ist. Von einem Bezahlen mit Daten kann insoweit nicht ausgegangen werden, als Daten allgemein nicht als Währung definiert sind. Es könnte jedoch ein tauschähnlicher Umsatz vorliegen, bei dem das Entgelt für die auf elektronischem Weg erbrachte sonstige Leistung in einer Leistung besteht, sofern ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen Leistung und Gegenleistung vorliegt und ihr Wert in Geld ausgedrückt werden kann. Die Gegenleistung selbst muss nicht der Umsatzbesteuerung unterliegen, so dass auch zwischen einem Unternehmer und einem Nichtunternehmer ein tauschähnlicher Umsatz vorliegen kann. Beispiele sind etwa die im Kfz-Handel verbreitete Inzahlunggabe, die Gewährung von Sachleistungen an Arbeitnehmer, die Überlassung von Fahrzeugen gegen Werbeleistungen oder die Übernahme einer Entsorgungsleistung gegen Überlassung des werthaltigen Abfalls.10 2. Vorliegen eines Leistungsaustauschs Der Umsatzsteuer unterliegen Lieferungen und sonstige Leistungen, die ein Unternehmer im Rahmen seines Unternehmens gegen Entgelt ausführt. Das Vorliegen eines Leistungsaustauschs ist ein konstitutives Merkmal eines umsatzsteuerpflichtigen Vorgangs. Leistung und Gegenleistung müssen dabei in einem unmittelbaren Zusammenhang stehen. In der Mehrzahl der Anwendungsfälle besteht die Gegenleistung in einer schlichten Geldzahlung.11 Das Entgelt kann jedoch auch in Form einer Gegenleistung erbracht werden. a) Begriff der Leistung Wie oben dargelegt bauen zahlreiche Geschäftsmodelle darauf auf, dass der Nutzer für die Zurverfügungstellung elektronisch erbrachter Leistungen der Nutzung seiner Daten durch den Onlineanbieter zustimmt. Eine eigenständige Legaldefinition der Leistung fehlt im Umsatzsteuerrecht. Der Begriff muss daher in Übereinstimmung mit der Mehrwertsteuer-Systemrichtlinie ermittelt und ausgelegt werden. Einigkeit besteht darüber, dass der zivilrechtliche Leistungsbegriff nicht unverändert in das Umsatzsteuerrecht übernommen werden kann. Vielmehr muss die Auslegung unter Beachtung einer an wirtschaftlichen Vorgaben ausgerichteten Betrachtung unter Berücksichtigung des Verbrauchsteuercharakters der Umsatzsteuer erfolgen.12

10 Stadie, Tauschvorgänge und Umsatzsteuer, UR 2009, 745. 11 Eine wesentliche Tatbestandsvoraussetzung ist das Entgelt. Zur Ermittlung der Steuerbarkeit eines Umsatzes, wird der Begriff Entgelt häufig als Leistungsaustausch definiert. Wird die Gegenleistung in einer Geldzahlung erbracht, wird die Verwendung des Begriffs Leistungsaustausch häufig als verfehlt kritisiert, da die Zahlung von Geld umsatzsteuerlich keine Leistung darstellt. In Anlehnung an das Zivilrecht und die umgangssprachliche Verwendung des Entgeltes als Gegenleistung wird diese Ungenauigkeit geduldet. Nieskens in Rau/ Dürrwächter, § 1 UStG Rz. 801 (Januar 2016). 12 Nieskens (Fn. 11), § 1 UStG Rz. 243 f.

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Als Begriffsmerkmale der Leistung ergeben sich13: ȤȤ Zuwendung des wirtschaftlichen Gehalts eines konkreten verkehrsfähigen Wirtschaftsgutes, deren wirtschaftliche Bedeutung sich nicht in einer Entgeltsentrichtung oder Neutralisierung einer früheren Leistung erschöpft, ȤȤ Leistungswille (Ausnahme: § 1 Abs. 1 Nr. 1 Satz 2 UStG), d.h. die Zuwendung muss freiwillig im Sinne von bewusst und willentlich erfolgen, ȤȤ mindestens 2 Beteiligte, nämlich ein Leistender und ein Leistungsempfänger, und ȤȤ es darf keiner der Sondertatbestände des § 3 Abs. 1b Nr. 1, 2 oder 3 bzw. § 3 Abs. 9a Nr. 1, 2 UStG vorliegen, die nur im Wege einer Fiktion als Leistung gegen Entgelt definiert werden. aa) Leistungsgegenstand und wirtschaftlicher Gehalt Der Leistungsgegenstand liegt nicht in der Lieferung bzw. der Zurverfügungstellung von Daten, sondern es handelt sich um die Zurverfügungstellung von Datenverwertungsrechten.14 Diese sind grundsätzlich Gegenstand des zivilrechtlichen Vertrages zwischen Online-Anbieter und Nutzer. Die eingeräumten Verwertungsrechte sind durch die Nutzungsbedingungen, Datenschutzerklärungen, Cookie-Richtlinien und AGB‘s bestimmt. Hierbei muss unterschieden werden, ob es sich um eine bloße Leistungsbeistellung zur fremden Verwendung handelt, etwa wenn die Nutzerdaten für die eigentliche Nutzung des Online-Angebotes benötigt oder zur Produktverbesserung genutzt werden. Die Fachliteratur ist sich einig, dass in solchen Fällen kein umsatzsteuerbarer Vorgang begründet wird.15 Anders verhält es sich bei der Einwilligung in die Weiterverwertung der Daten für Werbezwecke. Ob diese Duldungsleistung des Internetnutzers einen wirtschaftlichen Gehalt hat, wird unterschiedlich beurteilt. Looks/Bergau verneinen den wirtschaftlichen Gehalt dieser Leistungen.16 Es sei aus umsatzsteuerlicher Sicht zu fragen, ob die Nutzer bewusst, willentlich und wirtschaftlich motiviert einen Eingriff in eine vermögenswerte Rechtsposition duldeten. Dies wird dann mangels genauer Kenntnis der eigenen Rechte und geduldeten Eingriffe im Weiteren verneint, da die entsprechende Kenntnis als Grundvoraussetzung für eine wirtschaftlich motivierte Verwendung einer eigenen Rechtsposition betrachtet wird. Zudem hätten die Nutzer nicht die Möglichkeit, die Duldung der Sammlung und Verwertung ihrer Daten in einer anderen Art und Weise wirtschaftlich zu verwerten. 13 Nieskens, (Fn. 11), § 1 UStG Rz. 357. 14 So LG Berlin v. 19.11.2013 – 15 O 402/12. 15 Vgl. Melan/Wecke, Einzelfragen der Umsatzsteuerpflicht „kostenloser“ Internetdienste und Smartphone-Apps, DStR 2015, 2811 (2813), Englisch, „Kostenlose“ Online-Dienstleistungen: tauschähnlicher Umsatz?, UR 2017, 875 (878). 16 Looks/Bergau, Tauschähnlicher Umsatz mit Nutzerdaten – Kein Stück vom Kuchen, MwStR 2016, 864 (867 f.).

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Nach Dietsch kann es jedoch auf einen wirtschaftlichen Gehalt nicht ankommen, da der Netzwerknutzer regelmäßig nicht unternehmerisch handele und die Daten nur ein Äquivalent zum Entgelt darstellten.17 bb) Leistungswille Von einem Leistungswillen des Nutzers kann nicht ausgegangen werden, wenn er keine Kenntnis von der Nutzung und Weiterverwertung seiner Daten erlangt.18 Dies ist beispielsweise der Fall, wenn ein potentieller Kunde eine Webseite ohne aktive Nutzung sofort wieder schließt und seine Daten trotzdem verwertet werden. Ein Leistungswillen, ohne die Möglichkeit die Datenschutzerklärung zumindest zur Kenntnis zu nehmen, ist schwer zu begründen. Auch der Rechtsprechung des EuGH lässt sich nach Englisch entnehmen, dass dem Leistungsempfänger bewusst sein muss, eine Gegenleistung zu erbringen; denn ohne diese Kenntnis fehle es am Leistungsaustausch im Rahmen eines gegenseitigen Rechtsverhältnisses. Er führt weiter aus, dass der durchschnittliche Nutzer dieser Dienstleistungen sich darüber bewusst ist, dass im Zusammenhang mit der Nutzung der Dienste personenbezogene Daten erhoben werden.19 Nutzerdaten seien zwingende Voraussetzung für die Nutzung des Internetangebots. Der Nutzer müsse daher seine Daten wie ein Zahlungsmittel verwenden, um Zugang zu erhalten. Die Daten sind beispielsweise bei sozialen Netzwerken zudem zwingende Voraussetzung, damit das Netzwerk Bedeutung erlangen kann. Der Onlineanbieter habe deshalb stets den erkennbaren Willen, für seine Leistung eine Gegenleistung zu erhalten.20 Im Regelfall ist davon auszugehen, dass dem Nutzer bewusst ist, dass er die auf elek­ tronischem Weg erbrachte sonstige Leistung nur erhält, wenn er der Nutzung seiner Daten zustimmt. Andernfalls würde dieser beim elektronischen Registriervorgang auf der Anwendung oder Webseite nicht vorankommen. Melan/Wecke konstatieren daher zu recht „Niemand stellt seine Daten völlig ohne Grund fremden Dritten zur Verfügung.“21 Im Weiteren kennt der Nutzer die Art der zu erhebenden Daten und legt diese im wesentlichen Umfang selbst fest. Ein Leistungswille des Nutzers wird jedoch teilweise auch bezweifelt. Dieser fehlt laut Looks/Bergau, da der Nutzer den Daten selbst keinen hohen Wert beimesse. Schließlich sei der Nutzer im Regelfall nicht bereit, etwas für die angebotenen Leistungen zu bezahlen, somit fände bei ihm auch keine wirtschaftliche Abwägung statt.22

17 Dietsch, Umsatzsteuerpflicht von kostenlosen sozialen Netzwerken, MwStR 2017, 868 (871). 18 Grambeck, Keine Umsatzsteuerpflicht bei kostenlosen Internetdiensten und Smartphone-­ Apps, DStR 2016, 2026 (2029). 19 Englisch, UR 2017, 875 (877 m. w. N.). 20 Dietsch, MwStR 2017, 868 (870). 21 Melan/Wecke, DStR 2015, 2811 (2812). 22 Looks/Bergau, MwStR 2016, 864, (868).

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cc) Beteiligte Mindestens zwei Beteiligte, ein Leistender und ein identifizierbarer Leistungsempfänger sollten in einem Verhältnis zueinander regelmäßig vorhanden sein, um einen Leistungsaustausch zu begründen.23 Hat der Nutzer ein Konto angelegt und hinreichende personenbezogene Daten angegeben, ist die Identifizierbarkeit ohne Weiteres gegeben. Technisch und rechtlich ist die anonyme Nutzung der Online-Dienste ebenfalls möglich. Während Looks/Bergau argumentieren, dieser Umstand spreche grundsätzlich gegen einen Leistungsaustausch24, hält Englisch es für unerheblich, ob die Person des Nutzers bekannt ist. Auch anonymisierte oder pseudonomisierte Daten seien von wirtschaftlichem Interesse, da sie oft über IP-Adressen zu Nutzerprofilen verknüpft werden könnten.25 In vielen Fällen „kostenloser“ Internetdienste sind allerdings mehr als 2 Beteiligte vorhanden, z.B. wenn die Daten des Nutzers direkt einem Dritten zur Verarbeitung überlassen werden. Hier sind die einzelnen Leistungsbeziehungen genauer zu untersuchen.26. Wenn personenbezogene Daten nicht vom Dienstanbieter, sondern von einem Dritten erhoben werden, könnte der erforderliche Zusammenhang zwischen Leistung und Gegenleistung zweifelhaft sein.27 Eine solche Konstellation ist etwa bei der Verwendung von sog. ad tags gegeben, bei denen sämtliche Internetkunden eines Onlineanbieters automatisch zum Server eines Werbeonlinevermarkters geleitet werden, der dann personalisierte Werbung beim Kunden platzieren kann. Umsatzsteuerlich besteht in diesen Fällen nur ein Leistungsaustausch zwischen dem Onlineanbieter und dem Werbeonlinevermarkter. dd) Vorliegen von Sondertatbeständen Die o. g. Sondertatbestände sind bei den im Fokus der Betrachtungen stehenden digitalen Leistungen nicht erfüllt; sie werden daher nicht näher betrachtet. b) Unmittelbarkeitszusammenhang Umsatzsteuerlich ist erforderlich, dass zwischen Leistung und Gegenleistung ein unmittelbarer Zusammenhang besteht. Grambeck28 verneint diesen Zusammenhang für die beschriebenen Geschäftsmodelle. Zum einen sei fraglich, ob der Nutzer überhaupt wie ein Eigentümer über diese Daten verfügen könne. Zudem sei zu beachten, dass der Online-Anbieter keine konkrete „Vergütung“ in Form einer bestimmten

23 Nieskens (Fn. 11), § 1 UStG Rz. 451. 24 Looks/Bergau, MwStR 2016, 864 (868f.). 25 Englisch, UR 2017, 875 (878). 26 Siehe dazu genauer Melan/Wecke, DStR 2015, 2811 (2813 ff.). 27 Englisch, UR 2017, 875 (877). 28 Grambeck, Auf elektronischem Wege erbrachte Dienstleistungen, NWB 2016, 3931 (3937).

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Qualität und Quantität an Daten bekomme. Gleichzeitig hänge die Kostenfreiheit auch nicht von der Qualität und der Quantität der gesammelten Daten ab. Diese Argumentation lassen Melan/Pfeiffer29 nicht gelten. Denn Qualität und Quantität der Daten ständen fest. Insbesondere sei die Reichweite der Datenverwertungsrechte (eigentlicher Leistungsgegenstand) durch die Nutzungsbedingungen und Datenschutzbestimmungen von Beginn an vorgegeben. Grambecks Argumentation gelte selbst dann nicht, wenn sich der Einwand nur auf die Unsicherheit über den Verkehrswert der Datenverwertungsrechte beziehen sollte, denn diese Unsicherheit treffe auf die meisten tauschähnlichen Umsätze zu. Auch Looks/Bergau verneinen den unmittelbaren Zusammenhang, denn die Leistung des Online-Anbieters und die Duldung der Datenverwertungsrechte bedingten sich untereinander und könnten nicht losgelöst voneinander existieren.30 c) Zwischenergebnis Die Diskussion zeigt, dass an verschiedenen Stellen hinsichtlich von Einzelheiten des Leistungsaustausches noch weiterer Klärungsbedarf besteht. Die überwiegende Meinung geht jedoch wohl dahin, dass bei der Erbringung von elektronischen Dienst­ leistungen gegen Einräumung von Datenverwertungsrechten im Rahmen einer Einzelfallbetrachtung grundsätzlich ein umsatzsteuerbarer Leistungsaustausch vorliegen kann. Derzeit entspricht diese Sichtweise jedoch weder der deutschen Verwaltungspraxis noch wird derzeit  – soweit bekannt  – innerhalb der EU eine systematische Besteuerung dieser Geschäftsmodelle vorgenommen. 3. Exkurs: Unternehmereigenschaft des Internetnutzers? Wenn es sich bei dem Austausch von Internetanwendungen gegen Datenverwertungsrechte um einen steuerbaren Leistungsaustausch handelt, könnte man auch ­danach fragen, ob die Gegenleistung des Nutzers nachhaltig erbracht wird, ob der private Nutzer also dadurch wirtschaftlich tätig und damit schließlich auch zum Unternehmer wird. Eine allgemeine Tendenz in diese Richtung kann darin gesehen werden, dass auch bei privater Stromerzeugung durch Photovoltaikanlagen eine umsatzsteuerliche Unternehmereigenschaft bejaht wird. Wird in diese Richtung argumentiert, darf jedoch nicht übersehen werden, dass mit der Bejahung der Unternehmereigenschaft auch die Möglichkeit zum Vorsteuerabzug verbunden sein müsste; andernfalls läge ein Systembruch vor. Nach § 2 Abs. 2 UStG ist u.a. derjenige Unternehmer, der eine gewerbliche Tätigkeit ausübt. Als solche gilt jede nachhaltige Tätigkeit zur Erzielung von Einnahmen. Nach 29 Melan/Pfeiffer, Bezahlen mit Rechten, nicht mit Daten: Weitere offene Fragen zur Umsatzsteuerpflicht „kostenloser“ Internetdienste und Smartphone-Apps, DStR 2017, 1072 (1073 f.); vgl. auch Englisch, UR 2017, 875, (882). 30 Looks/Bergau, MwStR 2016, 864 (869).

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der MwStSystRL dient das Merkmal der Nachhaltigkeit als Kriterium, um wirtschaftliche (umsatzsteuerpflichtige) Tätigkeiten von nicht wirtschaftlichen Tätigkeiten abzugrenzen. Entscheidend ist die Frage, ob eine Privatperson durch das Dulden einer Datenverwertung eine wirtschaftliche Tätigkeit ausübt, die der eines Händlers oder eines Dienstleisters gleichkommt. Während Grambeck davon ausgeht, dass der Datenlieferant zwangsläufig als Unternehmer handelt31, hält er selbst die daraus zu ziehenden Folgerungen für absurd und lehnt in der Konsequenz das Vorliegen eines tauschähnlichen Umsatzes ab. Schwarz hingegen geht davon aus, dass mit der einmaligen Erbringung einer Duldungsleistung, nämlich dem Zulassen der Verwertung persönlicher Daten, bei einer Privatperson mangels einer nachhaltigen (wirtschaftlichen) Tätigkeit und mangels des subjektiven Tatbestandsmerkmals der Einnahmenerzielungsabsicht keine wirtschaftliche Tätigkeit vorliegt.32 Für „normale“ Internetnutzer wird diese Ansicht auch von Melan/Pfeiffer geteilt. Sie verweisen darauf, dass ein Internetnutzer zwar die Verwertung seiner Daten z.B. über eine Auktion oder über die freiwillige Vollüberwachung sämtlicher Internet- und Smartphonebewegungen aktiv in die Hand nehmen könne. Hier könnte die Grenze zum umsatzsteuerlichen Unternehmer überschritten werden, nicht aber bei Personen, die lediglich Einkäufe erledigten, Computerspiele spielten oder sich Preisvergleiche ansähen.33 Von einer Unternehmereigenschaft des Internetnutzers ist u. E. nicht auszugehen. Für diese Ansicht sprechen auch Praktikabilitätserwägungen. Anderenfalls wäre nämlich von einem sprunghaften Anstieg der Anzahl von Unternehmern auszugehen, von ­denen viele noch minderjährig wären. Zwar dürfte es sich in vielen Fällen um Kleinunternehmer i.S.v. § 19 UStG handeln. Ein Verzicht auf die Anwendung der Kleinunternehmerregelung wäre jedoch oftmals vorteilhaft, weil dann ein Recht auf Vorsteuerabzug bestünde (z.B. Anschaffungskosten des Smartphones). Während daraus ein erheblich steigender Verwaltungsaufwand resultieren würde, wäre jedoch aus der Besteuerung der Datenerhebung faktisch kaum ein Steuermehraufkommen zu erwarten.34

IV. Bemessungsgrundlage 1. Vorbemerkungen Nach § 1 UStG ist die Entgeltlichkeit ein Erfordernis der Steuerbarkeit.35 Besteht die Gegenleistung des Leistungsempfängers für eine Lieferung ebenfalls in einer Lie­ ferung, spricht man vom Tausch (§  3 Abs.  12 Satz 1 UStG). Wenn das Entgelt für 31 Grambeck, DStR 2016, 2026 (2031). 32 Schwarz, Werden Privatpersonen durch das Dulden einer Datenverwertung im digitalen Sektor wirtschaftlich tätig?, UR 2017, 782 (786). 33 Melan/Pfeiffer, DStR 2017, 1072 (1076). 34 Grambeck, NWB 2016, 3931 (3939). 35 Nieskens (Fn.11), § 1 UStG Rz. 501 (Januar 2016).

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eine  sonstige Leistung in einer Lieferung oder sonstigen Leistung besteht, liegt ein tauschähnlicher Umsatz vor (§ 3 Abs. 12 Satz 2 UStG). Dabei stehen sich zwei steuerlich selbstständig zu beurteilende Umsätze gegenüber. Leistungspartner eines Tauschgeschäfts können Unternehmer und Nichtunternehmer sein. Nur für den Unternehmer ergibt sich eine steuerbare Leistung. Die Leistung des Nichtunternehmers ist nicht steuerbar, ihr Wert stellt aber die Bemessungsgrundlage für die Leistung des Unternehmers dar.36 Besteht die Gegenleistung des Leistungsempfängers nicht in Geld, folgt daraus eine Bewertungsproblematik. Zwar muss das Entgelt nicht von vornherein zahlenmäßig festgelegt werden; es soll ausreichen, wenn die Vertragspartner die Bestimmung ganz oder teilweise einer späteren Festlegung vorbehalten haben, vorausgesetzt, dass es durch Parteien, Dritte, Verkehrssitte oder Handelsbrauch nach objektiven Merkmalen bestimmbar ist.37 Der EuGH fordert jedoch, dass es möglich sein muss, den Wert der erbrachten Dienstleistungen in einem konkreten Geldbetrag auszudrücken.38 Wie dies in der Praxis erreichbar ist, stellt damit eine weitere Kernfrage für die umsatzsteuerliche Behandlung von „kostenlosen“ digitalen Leistungen dar. 2. Allgemeiner Bewertungsansatz Die deutsche Rechtsprechung ging für die Bewertung von Tauschvorgängen zunächst davon aus, dass jeweils der gemeine Wert zu ermitteln ist. Dieser wird nach § 9 Abs. 2 BewG durch den Preis bestimmt, der im gewöhnlichen Geschäftsverkehr nach der Beschaffenheit des Wirtschaftsgutes bei einer Veräußerung zu erzielen wäre.39 Nach der ständigen Rechtsprechung des EuGH, die auch für das deutsche Recht maßgeblich ist, ist jedoch der subjektive Wert für die tatsächlich erhaltene und in Geld ausdrückbare Gegenleistung entscheidend. Der subjektive Wert sei derjenige, den der Empfänger den Dienstleistungen beimisst, die er sich verschaffen will und deren Wert dem Betrag entspricht, den er zu diesem Zweck aufzuwenden bereit ist. Der Wert der als Gegenleistung bezogenen Leistung (dem Datenverwertungsrecht) ist damit aus der Sicht des Empfängers der elektronischen Dienstleistung (Sicht des App-Nutzers) zu bestimmen.40 Die Finanzverwaltung hat diese Rechtsauffassung übernommen. Der gemeine Wert der Gegenleistung soll aber dann anzusetzen sein, wenn der Leistungserbringer keine konkreten Aufwendungen für den Erhalt der Gegenleistung getätigt hat.41

36 Nieskens (Fn. 11), § 3 UStG Rz. 4465 (Juli 2014). 37 Schuhmann in Rau/Dürrwächter, § 10 UStG Rz. 52 (Mai 2016). 38 Englisch, UR 2017, 875 (877 m. w. N.). 39 Schuhmann (Fn. 37), Rz. 336 (Mai 2016). 40 EuGH v. 2.6.1994 – Rs. C-33/93 – Empire Stores Ltd., UR 1995, 64 m. Anm. Rothenberger = HFR 1994, 561; für die Entwicklung der EuGH-Rechtsprechung vgl. Lippross, Bemessungsgrundlage beim Tausch, UR 2017, 821 (823 f.) m. w. N. 41 Abschn. 10.5 Abs. 1 Satz 6 UStAE.

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Die vom EuGH bisher entschiedenen Fälle waren dadurch gekennzeichnet, dass für eine Lieferung eine Dienstleistung als Gegenleistung erbracht wurde und die Bemessungsgrundlage für die Lieferung ermittelt werden musste. Für die bezogenen Dienstleistungen war jeweils kein „Marktwert“ erkennbar. Der EuGH hat daher zur Bewertung der Dienstleistung, d.h. der Gegenleistung des Leistungsempfängers, auf die Aufwendungen des Leistungserbringers zurückgegriffen; denn diese stellten den subjektiven Wert der Gegenleistung dar, auf die es dem Leistungserbringer ankomme.42 Noch nicht entschieden ist jedoch die Frage, wie die Bemessungsgrundlage für Dienstleistungen zu bestimmen ist, wenn die Gegenleistung ebenfalls in einer Dienstleistung besteht. Genau diese Konstellation liegt aber in vielen der neuen „digitalen“ Geschäftsmodelle vor, in denen ein Nutzer einem Anbieter von digitalen Dienstleistungen Datenverwertungsrechte einräumt, um im Gegenzug „kostenlos“ eine App zu erhalten. 3. Anwendung auf Datenverwertungsrechte In den vorliegend betrachteten Fällen geht es i.d.R. um die Einräumung von Datenverwertungsrechten. Diese sind Gegenstand eines zivilrechtlichen Vertrags zwischen Internetanbieter und Nutzer. Diese Rechte selbst sind im Vorwege genau bekannt; unbekannt ist lediglich der Verkehrswert der aufgrund dieser Rechte erhobenen und weiterverwerteten Daten. 43 Die Ungewissheit über Quantität und Qualität der Nutzerdaten wird teilweise als Argument gegen eine Umsatzsteuerpflicht angeführt.44 Doch dürfte den Anforderungen des EuGH für den Regelfall Genüge getan werden, da nie gefordert wurde, dass sich Leistung und Gegenleistung wirtschaftlich genau entsprechen müssen und da das Entgelt im Zeitpunkt der Entstehung der Steuerschuld der Höhe nach auch noch nicht feststehen muss.45 Die eigentliche Problematik besteht in der Frage, ob eine Bewertbarkeit der Datenverwertungsrechte überhaupt gegeben ist. Von Englisch wird dies aktuell als fraglich angesehen. Unproblematisch wäre die Wertermittlung lediglich dann, wenn dem Nutzer eine kostenlose und eine kostenpflichtige Version eines Dienstes oder einer Anwendung parallel angeboten würden, und er sich entscheiden könnte, ob er die kostenlose Version gegen Überlassung seiner Daten wählt oder ob er stattdessen eine Gegenleistung in Geld entrichtet. Solche Vergütungsmodelle liegen derzeit jedoch kaum vor. Im Regelfall werde es daher bei dem traditionellen Ansatz bleiben, wonach der Geldwert der Gegenleistung anhand der Selbstkosten des Unternehmers für seine eigene Leistung zu bestimmen sei. 46 42 Im bereits genannten Urteil Empire Stores Ltd. (Fn. 40) bestand die Gegenleistung des Leistungsempfängers für eine nicht berechnete Lieferung darin, dass er sich selbst oder eine andere Person als potentiellen neuen Kunden darstellte. Als „subjektiven Wert“ der erhaltenen Gegenleistung nahm der EuGH den Einkaufspreis für den nicht berechneten Liefergegenstand an; vgl. Lippross, UR 2017, 821 (823, 825). 43 Melan/Pfeiffer, DStR 2017, 1072 (1073). 44 Grambeck, DStR 2016, 2026 (2030). 45 Englisch, UR 2017, 875 (883). 46 Englisch, UR 2017, 875 (883).

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Diese Leistung des Internetanbieters könnte beispielsweise in seinen Programmierund Bereitstellungskosten bestehen. Es wird kontrovers diskutiert, ob diese Kosten unabhängig von der Nutzerzahl sind, d.h. ob die Grenzkosten eines zusätzlichen Nutzers gegen null tendieren.47 Dem hält Dietsch entgegen, dass die Aufwendungen sozialer Netzwerke sehr wohl mit der Nutzerzahl zunähmen. Dies betreffe steigende Kosten bei höherem Datenverkehr, welcher bei zunehmenden Nutzerzahlen exponentiell wachse. Allerdings besteht hier das Problem, dass diese Aufwendungen nicht unmittelbar einem einzelnen Nutzerprofil zugeordnet werden können. Der Nutzer erteilt dem Netzwerkanbieter das Datenverwertungsrecht, um das Netzwerk als solches nutzen zu können. Aus diesem Ansatz heraus wären dann alle Kosten des gesamten Netzwerkes für die Leistung des Anbieters relevant.48 Die Gesamtkosten müssten dann jedoch wieder pauschalierend oder im Schätzungsweg auf die einzelnen Nutzer verteilt werden. Ein solches Vorgehen stünde aber an der Schwelle zur objektivierenden Schätzung, die der EuGH in der Vergangenheit explizit abgelehnt hat. Alternativ wird vorgeschlagen, den Wert für das Datenverwertungsrecht einer Person aus dem Datenhandel zwischen gewerblichen Anbietern abzuleiten. Bei Heranziehen von Preiskatalogen für bestimmte Nutzerdaten könnte der Wert eines Nutzerprofils in einem sozialen Netzwerk bei 40 Euro bis 50 Euro liegen.49 Dieselben persönlichen Daten werden von verschiedenen Marktteilnehmern in Abhängigkeit von ihrem ­Verwendungszweck allerdings oft sehr unterschiedlich bewertet; dies wird auch als Kontextabhängigkeit bezeichnet. Wenn überhaupt, könnten für Rohdaten allenfalls Durchschnittswerte ermittelt werden.50 Ob und inwieweit ein Wert der personenbezogenen Daten bzw. der Verwertungsrechte also konkret zu beziffern ist, ist bisher noch nicht abschließend zu beantworten. Man würde mit einem solchen Bewertungsansatz zwar dem Ansatz des EuGH folgen. Dieser folgt jedoch lediglich Praktikabilitätsaspekten und weicht von der Verbrauchsteuerteleologie der Umsatzsteuer ab, welche ein Anknüpfen an die an seinen konkreten Aufwendungen abzulesende Wertschätzung des Leistungsempfängers fordert, der die Verbrauchsteuer tragen soll. Die Besteuerung der Leistung des leistenden Unternehmers ist lediglich Mittel zum Zweck.51 Die Steuer ist auf Überwälzung ausgelegt. Da Steuern nach § 3 Abs. 1 AO, Art. 63 Abs. 2 MwStSystRL als Geldleistung definiert sind, und da bei einem Tausch oder tauschähnlichen Umsatz der leistende Unternehmer keine Umsatzsteuer als Teil einer in Geld erbrachten Gegenleistung vereinnahmt, lehnt Stadie sogar eine Steuerpflicht auf Tauschumsätze grundsätzlich ab: „Wird der Unternehmer, obwohl aus dem Vorgang keine Zahlung von Geld erlangt, gleichwohl gezwungen, Umsatzsteuer für die von ihm erbrachte Lieferung oder Dienstleistung zu zahlen, so muss er diesen Betrag auf Dauer aus eigenen Mitteln bestreiten. Eine derartige Definitivbelastung des Unternehmers verstößt ersichtlich gegen den Neutralitätsgrundsatz der Umsatzsteuer. Dieser 47 So etwa Grambeck, DStR 2016, 2026 (2027); Englisch, UR 2017, 875 (883). 48 Dietsch, MwStR 2017, 868 (872). 49 Dietsch, MwStR 2017, 868 (873). 50 Englisch, UR 2017, 875 (884 m. w. N.). 51 Nieskens (Fn. 11), § 1 UStG Rz. 356 (Januar 2016).

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besagt entsprechend dem o.g. Besteuerungszweck u.a., dass der Staat vom Steuerpflichtigen (Unternehmer) keinen Betrag erheben darf, der den vom Endverbraucher gezahlten Betrag übersteigt.“52 Wenn dem Unternehmer im Rahmen eines Tauschgeschäfts keine Liquidität zufließe, aus der er die Steuer abführen könne, so müsse er einen Eingriff in sein Vermögen vornehmen, um daraus die Steuerschuld zu begleichen. Dies verletze die Handlungsfreiheit des Unternehmers (Art. 2 Abs. 1 GG) und verstoße als Sondersteuer gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz (Art. 3 Abs. 1 GG).53 Seine Auffassung leitet Stadie auch aus der MwStSystRL ab. Sie kennt weder den Tausch noch den tauschähnlichen Umsatz. Die Richtlinie bezeichnet die Mehrwertsteuer als eine zum Preis der Gegenstände und Dienstleistungen genau proportionale Verbrauchsteuer (Art. 1 Abs. 2 MwStSystRL) und spricht im Weiteren vom „Preis“ oder von der „Zahlung“. Diese Begrifflichkeiten passen nicht zu einem Tausch. Der EuGH hat diese Sichtweise jedoch bisher nicht bestätigt. Unter Berufung auf den Gleichbehandlungsgrundsatz, wonach Unternehmer, die gleichartige Umsätze tätigen, bei der Erhebung der Mehrwertsteuer nicht unterschiedlich behandelt werden dürfen, hat er vielmehr eine Sachleistung als Zahlung und als Bemessungsgrundlage angesehen. Nach Auffassung von Stadie ist diese Sichtweise wohl darauf zurückzuführen, dass dem EuGH das Problem bislang nicht deutlich gemacht worden sei. Seine Auslegung der eindeutigen Begriffe und Formulierungen in der MwStSystRL sei auch nicht durch Art. 113 AEUV gedeckt, da diese Bestimmung nur für die Harmonisierung der indirekten Steuern die Richtlinienkompetenz vorsehe. Die Besteuerung der Tauschvorgänge führe hingegen zu einer endgültigen direkten Besteuerung der Steuerpflichtigen (Unternehmer). Für eine direkte Steuer, welche nicht abwälzbar sei und folglich die Gewinne der Unternehmer schmälere, fehle die Richtlinienkompetenz der Union. Englisch geht demgegenüber zwar davon aus, dass der Mechanismus der Steuerüberwälzung nicht von vornherein ausscheidet, wenn die Gegenleistung nicht in Geld besteht. Sollte sich jedoch auch eine nur „wirtschaftliche“ Überwälzung einer auf kostenlose Onlinedienste erhobenen Umsatzsteuer als typischerweise impraktikabel erweisen, so sieht er darin de lege ferenda einen gewichtigen Einwand gegen eine Besteuerung.54 Zudem können die oben angesprochenen Praktikabilitätsaspekte seiner Ansicht nach ohne gesetzliche Grundlagen kein Abgehen von der steuerlichen Systematik rechtfertigen; es bedürfte hier gesetzlicher Neujustierungen.55 Angesichts der rechtlichen und tatsächlichen Ungewissheit bei der Bewertbarkeit der Gegenleistung wirft Englisch weiter die Frage auf, ob dem Nutzer eines Online-Dienstes im Zusammenhang mit seiner Einwilligung in die Datenüberlassung überhaupt ein belastungswürdiger Konsumaufwand erwächst. Weder generiere er selbst aktiv Daten noch sei er an einer weiteren Nutzung seiner Daten gehindert. Damit würden von ihm weder Erwerbshandlungen vorgenommen noch Vermögenswerte eingesetzt 52 Stadie in Rau/Dürrwächter, Einführung zum UStG Rz. 227, Hervorhebungen im Original. 53 Stadie (Fn. 52), Einführung zum UStG Rz. 232.1. 54 Englisch, UR 2017, 875 (879). 55 Englisch in Tipke/Lang, Steuerrecht, 22. Aufl. 2015, § 17 Anm. 252.

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oder geschmälert. Er schließt: „Bei folgerichtiger Interpretation der MwStSystRL anhand ihres eigentlichen Belastungsgrundes sollte somit in den meisten Fällen schon de lege lata, und zwar gerade auch bei verständiger Würdigung der vom EuGH geforderten subjektiven Bestimmung des Entgelts, ein steuerbarer Leistungsaustausch mit dem Diensteanbieter von vornherein ausgeschlossen sein.“56 4. Kein Rückgriff auf die Mindestbemessungsgrundlage Folgt man dem Ansatz, dass bei der Ermittlung der Bemessungsgrundlage von der Sicht des Leistungsempfängers auszugehen ist, der von einer kostenlosen Überlassung der Leistung ausgeht und der Zurverfügungstellung seiner Daten keinen oder einen verhältnismäßig zu geringen Wert beimisst, könnte eine Anwendung der Mindestbemessungsgrundlage geprüft werden. Das aktuelle Umsatzsteuerrecht arbeitet bei steuerbaren unentgeltlichen Wertabgaben mit den Ersatzwerten Einkaufspreis zuzüglich Nebenkosten oder Selbstkosten (§ 10 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 UStG) bzw. den entstandenen Ausgaben (§ 10 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2, 3 UStG). Ist die so bestimmte Bemessungsgrundlage größer als das Entgelt, ist diese der Besteuerung zugrunde zu legen. Die Mindestbemessungsgrundlage soll damit sicherstellen, dass bestimmte Umsätze, wenn sie zu unangemessen niedrigen Entgelten ausgeführt werden, ebenso besteuert werden wie die entsprechenden unentgeltlichen Leistungen. Es handelt sich auch um eine Missbrauchsvermeidungsregelung. Die Anwendung wird entsprechend nach § 10 Abs. 5 UStG beschränkt auf ȤȤ Umsätze von Gesellschaften an ihre Gesellschafter oder diesen nahe stehenden Personen, ȤȤ Umsätze von Unternehmern an Angehörige und ȤȤ Umsätze von Unternehmern an das Personal oder deren Angehörige aufgrund des Dienstverhältnisses. Laut EuGH darf die Mindestbemessungsgrundlage nur angewandt werden, soweit es zur Verhütung von Steuerhinterziehungen und -umgehungen unbedingt erforderlich ist; als bloße Vereinfachungsregelung für die Steuererhebung darf sie hingegen nicht herangezogen werden, da Deutschland dafür keine Ermächtigung bei der EU beantragt und erhalten hat.57 Da keiner der gesetzlich definierten Fälle vorliegt, scheidet die Anwendung der Mindestbemessungsgrundlage auf die dargestellten digitalen Umsätze aus. 5. Ergebnis Selbst wenn grundsätzlich ein Leistungsaustausch zwischen einem Onlineanbieter und dem Internetnutzer vorliegen könnte, ist es fraglich, ob dieser steuerlich fassbar 56 Englisch, UR 2017, 875 (884). 57 EuGH v. 29.5.1997 – C-63/96 – Skripalle, BStBl. II 1997, 841 = UR 1997, 301 m. Anm. Widmann; Schuhmann (Fn. 37) § 10 UStG Rz. 583–587 (Mai 2016).

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ist oder überhaupt als steuerbar behandelt werden sollte. Bevor sinnvolle Regelungen durch den Gesetzgeber überhaupt möglich wären, müssten weitere Überlegungen zur Bewertbarkeit der Datenüberlassung angestellt werden. Dabei sollten die steuersystematischen Grundlagen Vorrang von rein fiskalisch motivierten Interessen genießen.

V. Umsetzung- und Vollzugsfragen Bei den geschilderten Dienstleistungen, die von den Online-Plattformen erbracht werden, handelt es sich grundsätzlich um elektronisch erbrachte Dienstleistungen und zwar um das Herunterladen oder die Nutzung von Spielen, Software, Filmen oder Musik. Nach der bis zum 31. Dezember 2014 geltenden Regelung war die umsatzsteuerliche Behandlung dieser Leistungen im B2C-Bereich (Unternehmer an Privatpersonen) vom Sitzort des Dienstleistungserbringers in der EU abhängig. Dies führte dazu, dass sich entsprechende Dienstleistungserbringer vermehrt in Gebieten mit niedrigen Umsatzsteuersätzen angesiedelt haben. Seit dem 1. Januar 2015 fällt die Umsatzsteuer auf alle Telekommunikationsdienst­ leistungen, Rundfunkdienstleistungen und elektronisch erbrachten Dienstleistungen dort an, wo der Kunde ansässig ist – und nicht mehr am Ort des Dienstleistungserbringers. Parallel dazu wurde eine kleine einzige Anlaufstelle (KEA) eingerichtet. Damit muss der Unternehmer nicht in jedem einzelnen Mitgliedstaat, in dem er Kunden hat, eine Umsatzsteuererklärung abgeben und die Umsatzsteuer entrichten, sondern kann im eigenen Mitgliedstaat eine einzige Umsatzsteuererklärung einreichen und die Steuer zahlen. Zur Abrechnung der Umsatzsteuer auf Dienstleistungen, die in anderen Mitgliedstaaten erbracht werden, nutzen die Dienstleistungserbringer in dem Mitgliedstaat, in dem sie ansässig sind, ein Webportal. Die betreffenden Angaben und Einnahmen werden von der Steuerbehörde des Mitgliedstaats, in dem der Unternehmer ansässig ist, weitergeleitet. Auf diese Weise hat der Unternehmer nur mit einer einzigen Steuerverwaltung zu tun, mit der er vertraut ist, und nicht mit bis zu 28 verschiedenen Verwaltungen. Auf der anderen Seite muss sich der Unternehmer mit dem Umsatzsteuerrecht verschiedener Mitgliedstaaten befassen, um beispielsweise den anzuwendenden Steuersatz zu ermitteln. Die Besteuerung dieser Dienstleistungen  – auch wenn sie gegen Entgelt erbracht ­werden – ist mit vielen Problemen behaftet.58 Fiskalisch betrachtet ist auch aus deutscher Sicht nicht sichergestellt, dass die auf elektronischem Weg erbrachten Dienstleistungen europäischer Unternehmer an deutsche Nichtunternehmer tatsächlich in Deutschland steuerlich erfasst werden. Hierzu bedarf es eines großen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten. Der andere europäische Mitgliedstaat muss gewährleisten, ȤȤ dass die entsprechenden Unternehmer eine Steuererklärung abgeben, ȤȤ dass die Daten durch diesen Mitgliedstaat ordnungsgemäß verarbeitet und ȤȤ dass die vereinnahmten Steuern an Deutschland abgeführt werden. 58 Kemper, Das Internet als „Steueroase“ bei digitalen Dienstleistungen?, UR 2017, 169 (173).

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Vor dem Hintergrund, dass es für dieses Verfahren keine Kontrollmöglichkeiten gibt, ist der Vollzug in diesem Bereich stark gefährdet. Auch der Bundesrechnungshof hat in seinem Bericht aus dem Jahr 2015 festgestellt, dass es den Finanzbehörden an einem Konzept fehlt, wie sie die Anbieter solcher Leistungen systematisch steuerlich kontrollieren können. Die Finanzverwaltung setzt zur Beobachtung von elektronisch angebotenen Dienstleistungen das Xpider-System ein, um Steuerquellen zu erschließen und die Wettbewerbsgerechtigkeit im Internet herzustellen. Dabei handelt es sich um einen mit einer Wissensmanagementkomponente verbundenen Internet-Crawler. Dieser kann an einer beliebigen Stelle im Internet aufgesetzt werden und von dort allen Links nachgehen, die er dort und auf den folgenden Seiten findet. Das Xpider-System ist in der Lage, automatisiert Internetseiten zu identifizieren, die auf eine unternehmerische Tätigkeit schließen lassen.59 Pressemitteilungen kann man entnehmen, dass mit ­Hilfe dieser Methode deutsche Unternehmer wie Ebay-Verkäufer, Airbnb-Vermieter usw. aufgespürt werden sollen. Das Aufspüren und Aufgreifen von Dienstleistungen ausländischer Unternehmer ist höchst problematisch, da diese Dienstleistungen über das Internet praktisch von jedem Punkt der Welt über die unterschiedlichsten mobilen (Laptops, Handys, Tablets) und immobilen Endgeräte (Desktop-PCs) bezogen werden können. Gerade wenn die Dienstleistungserbringer in Drittstaaten ansässig sind, ist die Erfassung und Verfolgung dieser Umsätze nur mit viel Personaleinsatz und vor allem mit einer Verbesserung der zwischenstaatlichen Zusammenarbeit möglich. Bereits die Besteuerung von elektronischen Dienstleistungen mit klar definiertem Entgelt ist nicht ohne Probleme umsetzbar. Vor diesem Hintergrund erscheint es fraglich, ob eine schnelle Ausweitung der Besteuerung auch auf die oben vorgestellten digitalen Geschäftsmodelle möglich und ratsam wäre. Erstaunlich ist allerdings, dass die Frage der Steuerbarkeit der Erhebung von Nutzer- und Nutzungsdaten erst jetzt im Zuge der Digitalisierung aufkommt. Denn Kundendaten werden auch außerhalb des Internets aufgrund kommerzieller Überlegungen erhoben.60 Neben den rein praktischen Problemen der Auffindung der Dienstleistungen und der anschließend erforderlichen Ermittlung oder Schätzung des Wertes der anstelle des Entgelts überlassenen Datenverwertungsrechte ist auch aus systematischen Gründen zu hinterfragen, ob eine aus der Datenerhebung resultierende Umsatzbesteuerung überhaupt gerechtfertigt wäre. Wenn die Daten aufgrund der Verwertung durch den Anbieter der elektronischen Dienstleistung in andere Wertschöpfungsprozesse einfließen – nur dann haben sie offenbar einen wirtschaftlichen Wert – und damit (z.B. durch die Zurverfügungstellung an Werbetreibende) Gegenstand eines in den Anwendungsbereich der Umsatzsteuer fallenden Leistungsaustauschs werden, würde es dadurch faktisch zu einer Doppelbesteuerung kommen.61 59 http://www.bzst.de/DE/Steuern_International/USt_Betrugsbekaempfung/Internet_Ermit​t​ lung/Internet_Ermittlung.html?nn=23442. 60 Grambeck, NWB 2016, 3931 (3938). 61 Looks/Bergau, MwStR 2016, 864 (870); Grambeck, NWB 2016, 3931 (3937 f.).

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VI. Überlegungen de lege ferenda Auf der europäischen Ebene schreiten aktuell Überlegungen voran, wie die digitale Wirtschaft im Steuerbereich zutreffend erfasst und behandelt werden kann. Wie die Kommission zutreffend hervorhebt, ist Rechtssicherheit im Steuerbereich sowohl für Unternehmensinvestitionen erforderlich als auch um der Entstehung neuer Steuerschlupflöcher im Binnenmarkt vorzubeugen.62 Am 21. März 2018 hat die EU-Kommission daher Vorschläge für ein Maßnahmenpaket zur fairen und wirksamen Besteuerung der Digitalwirtschaft vorgelegt. Diese Maßnahmen bestehen aus zwei einzelnen Richtlinienvorschlägen: 1. Richtlinienvorschlag zur Festlegung von Vorschriften für die Unternehmensbesteuerung einer signifikanten digitalen Präsenz (langfristige Maßnahme) und 2. Richtlinienvorschlag zum gemeinsamen System einer Digitalsteuer auf Erträge und Erbringung bestimmter digitaler Dienstleistungen (kurzfristige Maßnahme). In diesem Zusammenhang ist insbesondere der zweite Vorschlag interessant. Dieser besteht aus einer Übergangssteuer für digitale Tätigkeiten, die derzeit in der EU überhaupt nicht besteuert werden. Damit hat die EU-Kommission erstmals einen kon­ kreten Vorschlag erarbeitet, wie digitale Geschäftsmodelle künftig besteuert werden sollen. Die Steuer soll als indirekte Steuer erhoben werden. Die Besteuerung soll zunächst nur für große Unternehmen insbesondere für Unternehmen mit jährlichen weltweiten Gesamterträgen in Höhe von 750 Mio. Euro und EU-Erträgen in Höhe von 50 Mio. Euro gelten. Der Steuersatz soll 3 % betragen. Die Steuer erfasst Erträge aus Tätigkeiten, bei denen die Nutzer eine wichtige Rolle bei der Wertschöpfung spielen und die mit den derzeitigen Steuervorschriften sehr schwierig zu erfassen sind, z.B.: ȤȤ Erträge aus dem Verkauf von Online-Werbeflächen, ȤȤ Erträge aus digitalen Vermittlungsgeschäften, die Nutzern erlauben, mit anderen Nutzern zu interagieren und die den Verkauf von Gegenständen und Dienstleistungen zwischen ihnen ermöglichen und ȤȤ Erträge aus dem Verkauf von Daten, die aus Nutzerinformationen generiert werden. Damit wählt die EU-Kommission den Weg einer indirekten, am Umsatz anknüpfenden Steuer – also eine zweite Umsatzsteuer. Wie dies mit der MwStSystRL zu vereinbaren ist, bliebe zu untersuchen. In jedem Fall bestünde aber das oben bereits angerissene Problem einer entstehenden Doppelbesteuerung. Wie die Einführung einer 62 Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat „Ein faires und effizientes Steuersystem in der Europäischen Union für den digitalen Binnenmarkt“, Brüssel, den 21.9.2017, COM(2017) 547 final, S. 2; abrufbar unter https://ec.europa.eu/taxation_​ customs/sites/taxation/files/communication_taxation_digital_single_market_de.pdf.

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europäischen „Ausgleichsteuer“ die oben kurz angesprochenen Umsetzungs- und Vollzugsprobleme vermeiden könnte, bleibt ebenfalls mehr als fraglich. Diese Vorschläge befinden sich derzeit noch in der Diskussion zwischen den EU-Mitgliedstaaten. Es bleibt abzuwarten, ob und wie eine Einigung erfolgt.

VII. Zusammenfassung und Ausblick Die Digitalisierung mit ihren neuen Geschäftsmodellen stellt nicht nur die Unternehmen vor neue Herausforderungen, sondern auch das Steuerrecht, nicht zuletzt die Umsatzsteuer. Die zahlreichen digitalen Dienst- und Vermittlungsleistungen sind zwar vom Grundsatz her im Rahmen des Umsatzsteuersystems erfassbar, dennoch lassen sich derzeit nicht alle in diesem Zusammenhang auftretenden Fragestellungen abschließend oder zufriedenstellend beantworten. Aus unserer Sicht festzuhalten ist: 1. Grundsätzlich liegen die Voraussetzungen für einen Leistungsaustausch zwischen den Anbietern digitaler Dienste und ihren Nutzern vor. 2. Private Internetnutzer werden durch die Einwilligung in die Verwertung ihrer Daten nicht selbst zu umsatzsteuerlichen Unternehmern. 3. Das Entgelt für die Inanspruchnahme digitaler Angebote besteht häufig nicht in Geld, sondern in einer Duldungsleistung; diese besteht in der Einwilligung des Internetnutzers in die Nutzung seiner Daten durch den Anbieter. 4. Die Bewertung der Duldungsleistung ist ein wesentlicher Stolperstein bei der Bemessung und Erhebung der Umsatzsteuer auf digitale Leistungen. Liegt auf Seiten des Nutzers kein Aufwand vor, so fehlt es an einer Begründung für eine Umsatzbesteuerung. 5. Eine gleichmäßige Besteuerung ist derzeit aufgrund von Bewertungsschwierigkeiten sowie Vollzugsdefiziten nicht umsetzbar. 6. Die zugrundeliegenden Probleme sind nicht durch gesetzgeberische Schnellschüsse zu beheben; gleichwohl wird eine zielgerichtete Umsatzbesteuerung von digitalen Inhalten nicht ohne gesetzgeberische Änderungen oder Klarstellungen auskommen. So steht die Umsatzsteuer zu ihrem 100. Geburtstag vor neuen Aufgaben. Die richtigen Antworten auf die neuen Probleme können nur gemeinsam gefunden werden; nationale Alleingänge, soweit sie sich nicht europarechtlich ohnehin verbieten, würden nur in die Sackgasse führen. Damit die Umsatzsteuer auch in Zukunft ein vitaler und verlässlicher Bestandteil unseres Steuersystems bleibt, müssen Lösungen sowohl steuersystematische Aspekte wie auch die Praktikabilität in der Umsetzung berücksichtigen. Daran gilt es zu arbeiten.

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Tina Ehrke-Rabel

Missbrauch und Vorsteuerabzug1 Inhaltsübersicht I. Missbrauchsverbot als allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts II. Die Funktion des Vorsteuerabzugs im allgemeinen Mehrwertsteuersystem 1. Der objektive Charakter des Mehrwertsteuertatbestandes 2. Allphasenumsatzsteuer mit Vorsteuer­ abzug 3. Missbrauch als Hindernis: Rechte aus der MwStSystRL I II. Missbrauch im Umsatzsteuerrecht 1. Hinterziehung, Betrug, Umgehung und Missbrauch – Begriffsvielfalt?

2. Missbrauch a) Definition b) Abgrenzung zu Betrug und Hinter­ ziehung 3. Rechtsfolgen des Missbrauchs 4. Betroffene Steuerpflichtige a) Wer eine Hinterziehung begeht oder sich missbräuchlich verhält b) Wer von einer Hinterziehung wusste oder wissen hätte müssen c) Wer von einem Missbrauch wusste oder wissen hätte müssen? 5. Nachweis von Missbrauch 6. Sanktionen IV. Fazit

I. Missbrauchsverbot als allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts Mit dem Urteil Cussens hat der EuGH definitiv bestätigt, was im Schrifttum bisweilen schon aufgeworfen wurde:2 Der Grundsatz des Verbots missbräuchlicher Praktiken, wie er in ständiger Rechtsprechung formuliert wird, weist den generellen Charakter auf, der den allgemeinen Rechtsgrundsätzen des Unionsrechts naturgemäß innewohnt.3 Das Missbrauchsverbot zählt daher auch für das Umsatzsteuerrecht zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen.4 Eine betrügerische oder missbräuchliche Berufung

1 Die Verfasserin dankt Ass.-Prof. Dr. Barbara Gunacker-Slawitsch und Mag. Karoline Rumpf für die Durchsicht und kritische Diskussion des Manuskripts. Florian Simon dankt sie für die Unterstützung bei der Fertigstellung des Anmerkungsapparats. 2 Etwa De la Feria, Prohibition of Abuse of (Community) Law: The Creation of a New General Principle of EC Law Through Tax, Common Market Law Review 45, 2008, 395; Schammo, Arbitrage and Abuse of Rights in the EC Legal System, European Law Journal 2008/3, 351 ff.; Bergmann, Missbrauch im Anwendungsbereich der Mutter-Tochter-Richtlinie, StuW 2010, 246 (247  f.); Heuermann, Mit Italmoda auf den Schultern von Larenz, DStR 2015, 1416 (1418). 3 Für die Abgrenzung eines allgemeinen Rechtsgrundsatzes des Unionsrechts von einem konkreten einer Richtlinie innewohnenden Grundsatz verweist der EuGH v. auf EuGH v. 15.10.2009 – C-101/08 – Audiolux SA ua. 4 EuGH v. 22.11.2017 – C-251/16 – Cussens, ECLI:EU:C:2017:881, Rz. 31.

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auf das Unionsrecht ist also ganz grundsätzlich nicht erlaubt.5 Die Anwendung des Unionsrechts kann nämlich nicht so weit gehen, dass missbräuchliche Praktiken von Wirtschaftsteilnehmern gedeckt werden, 6 d.h. Umsätze, die nicht im Rahmen normaler Handelsgeschäfte, sondern nur zu dem Zweck getätigt werden, missbräuchlich aus dem Unionsrecht Vorteile zu ziehen.7 Als Begründung für den allgemeinen Rechtsgrundsatzcharakter verweist der EuGH auf seine st.Rspr., wonach der Grundsatz des Verbots missbräuchlicher Praktiken in verschiedenen Bereichen des Unionsrechts, u.a. im Gesellschaftsrecht,8 in der gemeinsamen Argrarpolitik9 und in der Mehrwertsteuer10 gilt.11 Außerdem ergibt sich aus der Rspr. des EuGH, dass die Anwendung dieses Grundsatzes auf die durch das Unionsrecht vorgesehenen Rechte und Vorteile unabhängig davon zum Tragen kommt, ob diese Rechte und Vorteile ihre Grundlage in den Verträgen, in einer Verordnung oder in einer Richtlinie haben.12 Der Grundsatz ist also nicht unmittelbar aus der MwStSystRL, sondern aus dem Unionsrecht ganz allgemein abzuleiten. Daher ist für den EuGH offensichtlich, „dass dieser Grundsatz nicht die gleiche Rechtsnatur hat wie die Rechte und Vorteile, auf die er anwendbar ist.“13 Als allgemeiner Rechtsgrundsatz unterliegt das Missbrauchsverbot nicht einem Umsetzungserfordernis in das nationale Recht,14 sondern gilt vielmehr unabhängig von einer etwaigen Umset 5 EuGH v. 3.12.1974  – 33/74  – Van Binsbergen, Slg 1974, 1299, Rz.  13; v. 5.10.1994  – C-23/93  – TV10, Slg 1994, I-4795, Rz.  21; v. 10.1.1985  – 229/83  – Leclerc, Slg 1985, 1, Rz. 27; v. 21.6.1988 – 39/86 – Lair, Slg 1988, 3161, Rz. 43; v. 3.3.1993 – C-8/92 – General Milk Products, Slg 1993, I-779, Rz. 21; v. 2.5.1996 – C-206/94 – Paletta, Slg 1996, I-2357, Rz. 24; v. 12.5.1998 – C-367/96 – Kefalas ua, ECLI:EU:C:1998:222, Rz. 20; v. 23.3.2000 – C-373/97  – Diamantis, ECLI:EU:C:2000:128, Rz.  32; v. 3.3.2005  – C-32/03  – Fini H, ECLI:EU:C:2005:128, Rz. 32; v. 21.2.2006 – C-255/02 – Halifax, Slg I-1609, Rz. 68. 6 EuGH v. 11.10.1977 – 125/76 – Cremer, ECLI:EU:C:1977:148, Rz. 21; v. 3.3.1993 – C-8/92 – General Milk Products, ECLI:EU:C:1993:82, Rz.  21; v. 14.12.2000  – C-110/99  – Emsland-Stärke, ECLI:EU:C:2000:695, Rz. 51. 7 EuGH v. 21.2.2006 – C-255/02 – Halifax, ECLI:EU:C:2006:121, Rz. 68 und 69; v. 13.3.2014 – C-155/13 – SICES, ECLI:EU:C:2014:145, Rz. 29 und 30; v. 22.5.2008 – C-162/07 – Ampliscientifica und Amplifin, ECLI:EU:C:2008:301, Rz. 27; v. 14.4.2016 – C-131/14 – Cervati und Malvi, ECLI:EU:C:2016:255, Rz. 32. 8 Z.B. EuGH v. 12.5.1998  – C-367/96  – Kefalas ua, ECLI:EU:C:1998:222; v. 23.3.2000  – C-373/97 – Diamantis, ECLI:EU:C:2000:150. 9 ZB EuGH v. 11.10.1977 – 125/76 – Cremer, ECLI:EU:C:1977:148; v. 3.3.1993 – C-8/92 – General Milk Products, ECLI:EU:C:1993:82; v. 14.12.2000 – C-110/99 – Emsland-Stärke, ECLI:EU:C:2000:695. 10 ZB EuGH v. 3.3.2005 – C-32/03 – Fini H, ECLI:EU:C:2005:128. 11 EuGH v. 22.11.2017 – C-251/16 – Cussens, ECLI:EU:C:2017:881, Rz. 29. – Zur Entwicklung des allgemeinen Rechtsgrundsatzes des Verbots von Rechtsmissbrauch durch die Rspr. des EuGH s. Englisch, Verbot des Rechtsmissbrauchs – ein allgemeiner Rechtsgrundsatz des Gemeinschaftsrechts?, StuW 2009, 3 ff. 12 EuGH v. 22.11.2017 – C-251/16 – Cussens, ECLI:EU:C:2017:881, Rz. 30 m.w.N. – Ähnlich bereits zum Verbot der Altersdiskriminierung EuGH v. 19.4.2016 – C-441/14 – Dansk Industri (DI), ECLI:EU:C:2016:278, Rz. 22ff. 13 EuGH v. 22.11.2017 – C-251/16 – Cussens, ECLI:EU:C:2017:881, Rz. 30. 14 EuGH v. 22.11.2017 – C-251/16 – Cussens, ECLI:EU:C:2017:881, Rz. 28.

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zung in das nationale Recht.15 Die Anwendungsvoraussetzungen für diesen Grundsatz ergeben sich somit direkt aus dem Unionsrecht.16 Er gilt daher auch im Umsatzsteuerrecht.17 Daher darf sich auch in Umsatzsteuersachen niemand missbräuchlich oder betrügerisch auf das Unionsrecht berufen.18 Aus der Eigenschaft eines allgemeinen Rechtsgrundsatzes ergibt sich außerdem, dass die Folgen missbräuchlichen oder betrügerischen Verhaltens in Umsatzsteuersachen auch auf Sachverhalte zur Anwendung gelangen müssen, die sich vor dem ersten Urteil ereignet haben, mit dem die Geltung dieses Grundsatzes für den Bereich der Mehrwertsteuer ausgesprochen wurde.19 Im Folgenden wird das Missbrauchsverbot als allgemeiner Rechtsgrundsatz des Umsatzsteuerrechts näher beleuchtet. Dabei wird auch der Frage nachgegangen, ob die Fälle des Betrugs gleich zu behandeln sind wie jene des Missbrauchs. Zur systematischen Aufbereitung des Themas ist zunächst die Funktion des Vorsteuerabzuges im allgemeinen Mehrwertsteuersystem zu vergegenwärtigen (II). Danach ist Missbrauch als allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts in seiner allgemeinen Bedeutung auszuloten (III.2.), um schlussendlich die konkreten Folgen von missbräuchlichen Praktiken für den Vorsteuerabzug darzulegen (III.3. und III.4.) und auf verfahrensrechtliche Fragen einzugehen (III.6.). Um terminologischen Unsicherheiten vorzubeugen sei hier betont, dass Betrug und Hinterziehung für den Zweck des vorliegenden Beitrages und in Einklang mit der Rspr. des EuGH zum Vorsteuerabzug synonym verwendet werden. Vergleicht man die einzelnen Urteile in ihren unterschiedlichen Sprachfassungen, so ist erkennbar, dass der französische Begriff „fraude fiscale“ einmal als Betrug und einmal als Steuer­hinterziehung ins Deutsche übersetzt wird.20 Auch die Begriffe Steuerumgehung und Missbrauch dürften ganz grundsätzlich Ähnlichkeiten aufweisen.21 Wie noch darzulegen sein wird, handelt es sich beim Missbrauch aber um eine Unterform der Umgehung, der – anders als die Umgehung – durch ein subjektives Element gekennzeichnet ist.22 15 EuGH v. 22.11.2017 – C-251/16 – Cussens, ECLI:EU:C:2017:881, Rz. 31ff. 16 EuGH v. 22.11.2017 – C-251/16 – Cussens, ECLI:EU:C:2017:881, Rz. 36. 17 EuGH v. 22.11.2017 – C-251/16 – Cussens, ECLI:EU:C:2017:881, Rz. 31. 18 EuGH v. 3.3.2005 – C-32/03 – Fini H, ECLI:EU:C:2005:128, Rz. 32; v. 21.2.2006 – C-255/02 – Halifax, Slg I-1609, Rz.  68; v. 6.7.2006  – C-439/04 und C-440/04  – Kittel und Recolta ­Recycling, Slg I-6161, Rz.  54; v. 21.6.2012  – C-80/11 und C-142/11  – Mahagében Kft, ECLI:EU:C:2012:373, Rz. 41; v. 6.12.2012 – C-285/11 Bonik, ECLI:EU:C:2012:774, Rz. 36; v. 18.12.2014 – C-131/13 – C-163/13 und C-164/13 – Italmoda, ECLI:EU:C:2104:2455, Rz. 43. 19 EuGH v. 22.11.2017 – C-251/16 – Cussens, ECLI:EU:C:2017:881, Rz. 39ff. 20 S. dazu auch Lohse, Verwirrende Begriffsvielfalt im Gemeinschaftsrecht – am Beispiel von Steuerbetrug, -umgehung und -missbrauch sowie ähnlichen Begriffen, in P. Kirchhof, FS Reiß (2008) 645 ff. 21 Zur Abgrenzung zwischen Steuerhinterziehung und Steuerumgehung im europäischen Steuerrecht Schön, Gestaltungsmissbrauch im europäischen Steuerrecht, IStR 1996, Beihefter zu Heft 2, 5. 22 Zu den Begriffsverwirrungen siehe Lohse, Verwirrende Begriffsvielfalt im Gemeinschaftsrecht – am Beispiel von Steuerbetrug, -umgehung und -missbrauch sowie ähnlichen Begriffen, in P. Kirchhof, FS Reiß (2008) 645 ff.

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II. Die Funktion des Vorsteuerabzugs im allgemeinen Mehrwertsteuersystem 1. Der objektive Charakter des Mehrwertsteuertatbestandes Das Mehrwertsteuersystem, das durch die MwStSystRL geschaffen wurde, beruht auf einer einheitlichen Definition der steuerbaren Umsätze.23 Sowohl der Begriff der Lieferung als auch der Begriff der Dienstleistung sind sehr weit gefasst.24 Dasselbe gilt für den subjektiven Steuertatbestand: Steuerpflichtiger (Unternehmer) ist jeder, der eine wirtschaftliche Tätigkeit selbständig ausübt, gleichgültig zu welchem Zweck und mit welchem Ergebnis.25 Auch beim Begriff der wirtschaftlichen (unternehmerischen) Tätigkeit handelt es sich um einen Begriff, der objektiven Charakter hat und unabhängig von Zweck und Ergebnis der betroffenen Umsätze anwendbar ist.26 Auch er ist weit gefasst.27 Daher ist es im Regelfall28 für die Steuerbarkeit einer Tätigkeit unbeachtlich, ob diese erlaubt oder unerlaubt ist.29 Es kommt grundsätzlich auch nicht darauf an, ob der betreffende Umsatz ausschließlich zur Erlangung eines Steuervorteils getätigt wurde.30 Die Abgabenbehörden sind also grundsätzlich nicht verpflichtet, die Absicht des Steuerpflichtigen zu ergründen.31 Eine wirtschaftliche Tätigkeit liegt folglich vor, wenn die objektiven Kriterien erfüllt sind, auf denen die Begriffe der Lieferung und der Dienstleistung iSd MwStSystRL beruhen.32 Die Beurteilung eines Sachverhalts auf seine umsatzsteuerrechtlichen 23 EuGH v. 26.6.2003  – C-305/01  – MKG-Kraftfahrzeuge-Factoring, Rz.  38; v. 21.2.2006  – C-255/02 – Halifax, Slg I-1609, Rz. 48. 24 EuGH v. 21.2.2006 – C-255/02 – Halifax, Slg I-1609, Rz. 51 und Rz. 52, m.w.N.; v. 21.2.2006 – C-223/03 – University of Huddersfield, Slg I-1754, Rz. 41. 25 EuGH v. 21.2.2006 – C-255/02 – Halifax, Slg I-1609, Rz. 53. 26 EuGH v. 12.1.2006 – C-354/03 , C-355/03 und C-484/03 – Optigen ua, Slg I-500, Rz. 44; v. 21.2.2006 – C-255/02 – Halifax, Slg I-1609, Rz. 56; v. 6.7.2006 – C-439/04 und C-440/04 – Kittel und Recolta Recycling, ECLI:EU:C:2006:446, Rz. 41; v. 21.2.2006 – C-223/03 – University of Huddersfield, Slg I-1754, Rz. 47. 27 EuGH v. 6.9.2012 – C-324/11 – Gabor Tóth, ECLI:EU:C:2012:549, Rz. 30; v. 22.10.2014 – C-277/14 – PPU Stehcemp, ECLI:EU:C:2014:719, Rz. 34. 28 Etwas anderes gilt nur in spezifischen Situationen, wenn wegen der besonderen Eigenschaften bestimmter Waren oder bestimmter Dienstleistungen jeder Wettbewerb zwischen einem legalen und einem illegalen Wirtschaftssektor ausgeschlossen ist (EuGH v. 29.6.1999 – C-158/98 – Coffeeshop „Siberie“, Slg I-3971, Rz. 14 und 21; v. 19.6.2000 – C-455/98 – Salumets ua, Slg I-4993, Rz.  19; v. 21.2.2006  – C-255/02  – Halifax, Slg I-1609, Rz.  50; v. 12.1.2006 – C-354/03, C-355/03 und C-484/03 – Optigen ua, Slg I-500, Rz. 49; v. 6.7.2006 – C-439/04 und C-440/04 – Kittel und Recolta Recycling, ECLI:EU:C:2006:446, Rz. 50). 29 EuGH v. 6.7.2006  – C-439/04 und C-440/04  – Kittel und Recolta Recycling, ECLI:EU:​ C:2006:446, Rz. 50. 30 EuGH v. 21.2.2006 – C-255/02 – Halifax, Slg I-1609, Rz. 59; v. 21.2.2006 – C-223/03 – University of Huddersfield, Slg I-1754, Rz. 51. 31 EuGH v. 6.4.1995 – C-4/94 – BLP Group, Slg I-983, Rz. 24; v. 21.2.2006 – C-255/02 – Halifax, Slg I-1609, Rz. 57; v. 6.7.2006 – C-439/04 und C-440/04 – Kittel und Recolta Recycling, ECLI:EU:C:2006:446, Rz. 42. 32 EuGH v. 21.2.2006 – C-255/02 – Halifax, Slg I-1609, Rz. 58.

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Konsequenzen erfolgt daher entscheidend vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen und der geschäftlichen Realität.33 2. Allphasenumsatzsteuer mit Vorsteuerabzug Als Allphasenumsatzsteuer wird die Umsatzsteuer auf jeder Stufe unternehmerischer Tätigkeit erhoben, unabhängig davon, ob die dieser Tätigkeit zugrundeliegenden ­Lieferungen oder sonstigen Leistungen auf der nachfolgenden Stufe wieder zu unternehmerischen Zwecken genutzt oder dem Letztverbrauch zugeführt werden.34 Belastungsgrund der Umsatzsteuer ist aber der Letztverbrauch. Um diesen zu verwirk­ lichen,35 werden jene Leistungsempfänger, die Leistungen von einem Unternehmer für die Zwecke ihrer eigenen steuerbaren und steuerpflichtigen Umsätze beziehen, über den Vorsteuerabzug von der Umsatzsteuer entlastet. Das Recht auf Vorsteuerabzug ist daher nach der Rspr. des EuGH integraler Bestandteil des Mechanismus der Mehrwertsteuer, 36 ein fundamentaler Grundsatz des durch das Unionsrecht geschaffenen gemeinsamen Mehrwertsteuersystems,37 der grundsätzlich nicht eingeschränkt werden kann.38 Der Unternehmer soll durch den Vorsteuerabzug vollständig von der  im Rahmen seiner gesamten wirtschaftlichen Tätigkeit geschuldeten oder entrichteten Mehrwertsteuer entlastet werden.39 Außerdem kann das Recht auf Vorsteuerabzug für die gesamte Steuerbelastung der vorausgehenden Umsatzstufen sofort ausgeübt werden.40 Damit gewährleistet das Mehrwertsteuersystem die Neutralität 33 EuGH v. 7.10.2010 – C-53/09 und C-55/09 – Loyalty Management UK und Baxi Group, Slg I-9187, Rz. 39 f.; v. 20.6.2013 – C-653/11 – Newey, ECLI:EU:C:2013:409, Rz. 42. 34 Zum Konzept der Allphasenumsatzsteuer Englisch, in Tipke/Lang, Steuerrecht23, Rz. 15 f.; Ehrke-Rabel, in Doralt/Ruppe, Steuerrecht II7 (2014) Tz. 208. 35 Die Besonderheit unechter Steuerbefreiungen soll im vorliegenden Zusammenhang ausgeblendet werden. 36 EuGH v. 21.3.2000 – C-110/98 bis C-147/98 – Gabalfrisa ua, ECLI:EU:C:2000:145, Rz. 43; v. 26.5.2995  – C-465/03  – Kretztechnik, ECLI:EU:C:2005:320, Rz.  33; v. 22.12.2010  – C-438/09  – Dankowski, ECLI:EU:C:2010:818, Rz.  22; v. 6.12.2012  – C-285/11  – Bonik, ECLI:EU:C:2012:774, Rz.  26; v. 22.6.2016  – C-267/15  – Gemeente Woerden, ECLI:EU:​ C:2016:466, Rz. 31; v. 21.9.2017 – C-441/16 – SMS Group, ECLI:EU:C:2017:712, Rz. 39, UR 2017, 932. 37 EuGH v. 6.9.2012 – C-324/11 – Gabor Tóth, ECLI:EU:C:2012:549, Rz. 23; v. 25.10.2001 – C-78/00 –Kommission/Italien, Slg I-8195, Rz.  28; v. 10.7.2008  – C-25/07  – Sosnowska, ECLI:EU:C:2008:395, Rz. 37. 38 EuGH v. 21.3.2000 – C-110/98 bis C-147/98 – Gabalfrisa ua, ECLI:EU:C:2000:145, Rz. 43; v. 26.5.2995  – C-465/03  – Kretztechnik, ECLI:EU:C:2005:320, Rz.  33; v. 22.12.2010  – C-438/09  – Dankowski, ECLI:EU:C:2010:818, Rz.  22; v. 6.12.2012  – C-285/11  – Bonik, ECLI:EU:C:2012:774, Rz.  26; v. 22.6.2016  – C-267/15  – Gemeente Woerden, ECLI:EU:​ C:2016:466, Rz. 31; v. 21.9.2017 – C-441/16 – SMS Group, ECLI:EU:C:2017:712, Rz. 39. 39 EuGH v. 22.2.2001 – C-408/98 – Abbey National, Slg I-1361, Rz. 24; v. 8.2.2007 – C-435/05 – Investrand, Slg I-1315, Rz. 22; v. 29.10.2009 – C-174/08 – NCC Construction Denmark, Slg I-10567, Rz. 27; v. 22.12.2010 – C-277/09 – RBS Deutschland Holding, ECLI:EU:C:2010:810, Rz. 38. 40 EuGH v. 21.3.2000 – C-110/98 – Gabalfrisa ua, Slg I-1577, Rz. 43; v. 6.7.2006 – C-439/04 und C-440/04 – Kittel und Recolta Recycling, ECLI:EU:C:2006:446, Rz. 47; v. 30.9.2010 –

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hinsichtlich der umsatzsteuerlichen Belastung aller wirtschaftlichen Tätigkeiten unabhängig von ihrem Zweck und ihrem Ergebnis. Voraussetzung ist nur, dass die Tätigkeiten selbst der Mehrwertsteuer unterliegen.41 Bei einer Allphasenumsatzsteuer ist es der Vorsteuerabzug, der die Besteuerung des Letztverbrauchs gewährleistet. Ohne den Vorsteuerabzug wäre die Umsatzsteuer eine reine Verkehrsteuer. Für den Vorsteuerabzug ist es grundsätzlich ohne Bedeutung, ob die auf die vorausgegangenen oder die nachfolgenden Umsätze geschuldete Mehrwertsteuer auch tatsächlich an den Fiskus entrichtet wurde.42 Die Allphasenumsatzsteuer bewirkt also, dass derjenige, der die Umsatzsteuer an den Fiskus entrichtet, von demjenigen verschieden ist, der genau diese Umsatzsteuer auf die von ihm bezogenen Lieferungen oder sonstigen Leistungen im Wege des Entgelts bezahlt hat und damit zum Vorsteuerabzug berechtigt ist. Weil das Recht auf Vorsteuerabzug bei dem die Leistung empfangenden Unternehmer von der Entrichtung der dieses Recht begründenden Umsatzsteuer durch den leistenden Unternehmer unabhängig ist, ist das europäische Umsatzsteuersystem betrugs- und missbrauchsanfällig.43 3. Missbrauch als Hindernis: Rechte aus der MwStSystRL Die MwStSystRL selbst nimmt an verschiedenen Stellen Bezug auf Steuerhinter­ ziehungen und -umgehungen. Dabei handelt es sich vorderhand um Optionen für die  Mitgliedstaaten, besondere von der MwStSystRL abweichende Regelungen zur Vermeidung von Steuerhinterziehungen und -umgehungen vorzusehen.44 Nach der stRspr. des EuGH haben die Mitgliedstaaten ein legitimes Interesse daran, geeignete Maßnahmen zum Schutz ihrer finanziellen Interessen zu ergreifen. Die Bekämpfung von Steuerhinterziehungen, Steuerumgehungen und etwaigen Missbräuchen ist daC-392/09  – Uszodaépitö, Slg I- 8791, Rz.  34; v. 21.6.2012  – C-80/11 und C-142/11  – Mahagében und Dávid, ECLI:EU:C:2012:373, Rz. 38; v. 6.9.2012 – C-324/11 – Gabor Tóth, ECLI:EU:C:2012:549, Rz. 24, Rz. 40; v. 12.1.2006 – C-354/03, C-355/03 und C-484/03 – Optigen, Slg I-483, Rz. 54. 41 EuGH v. 21.3.2000 – C-110/98 – Gabalfrisa ua, Slg I-1577, Rz. 44; v. 21.2.2006 – C-255/02 – Halifax ua, Slg I-1609, Rz. 78; v. 6.7.2006 – C-439/04 und C-440/04 – Kittel und Recolta Recycling, ECLI:EU:C:2006:446, Rz. 48; v. 22.12.2010 – C-438/09 – Dankowski, Slg I-14009, Rz. 24; v. 21.6.2012 – C-80/11 und C-142/11 – Mahagében und Dávid, ECLI:EU:C:2012:373, Rz. 39. 42 EuGH v. 12.1.2006  – C-354/03, C-355/03 und C-484/03  – Optigen, Slg I-500, Rz.  54; v. 6.7.2006 – C-439/04 und C-440/04 – Kittel und Recolta Recycling, ECLI:EU:C:2006:446, Rz. 49; v. 21.6.2012 – C-80/11 und C-142/11 – Mahagében und Dávid, ECLI:EU:C:2012:373, Rz. 40; v. 22.12.2010 – C-277/09 – RBS Deutschland Holding, ECLI:EU:C:2010:810, Rz. 41; v. 6.12.2012 – C-285/11 – Bonik, ECLI:EU:C:2012:774, Rz. 28; v. 22.10.2014 – C-277/14 – PPU Stehcemp, ECLI:EU:C:2014:719, Rz. 45. 43 So wird das Reverse-charge-Verfahren als eine Maßnahme zur Eindämmung von Steuerhinterziehung und -umgehung gesehen (vgl. Nr.  42 der Begründungserwägungen zur MwStSystRL, RL 2006/112/EG v. 28.11.2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem, ABl 2006, L 347. 44 Art. 11 Abs. 2 MwStSystRL, Art. 19 MwStSystRL, Art. 80 MwStSystRL, Art. 131 MwStSyst­ RL, Art. 394 MwStSystRL.

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her ein von der MwStSystRL anerkanntes und gefördertes Ziel und kann bestimmte nationale Maßnahmen rechtfertigen.45 Dabei müssen die Mitgliedstaaten den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachten und sich solcher Mittel bedienen, die es er­ lauben, dieses Ziel wirksam zu erreichen und dabei die Ziele und Grundsätze des Unionsrechts, wie den fundamentalen Grundsatz des Rechts auf Vorsteuerabzug, möglichst wenig zu beeinträchtigen.46 Die Bekämpfung von Steuerhinterziehungen, Steuerumgehungen und etwaigen Missbräuchen ist also ein Ziel, das auch von der MwStSystRL anerkannt und gefördert wird.47 Die MwStSystRL selbst definiert die Vermeidung von Steuerhinterziehungen und -umgehungen als ein Ziel auf unionsrechtlicher Ebene, das nicht in das Ermessen der Mitgliedstaaten gestellt wird, nur in Art. 395 und vielleicht mittelbar in Art. 131 und Art. 273 MwStSystRL.48 Aus der Rspr. ergibt sich aber, dass es sich beim Verbot missbräuchlicher und betrügerischer Praktiken nicht um eine bloße an die Mitgliedstaaten gerichtete Zielvorgabe, sondern – wie bereits dargelegt – um einen allgemeinen Rechtsgrundsatz handelt, der beim Vollzug des Umsatzsteuerrechts zu beachten ist. Ergibt sich aus der objektiven Sachlage, dass ein Recht in betrügerischer Weise oder missbräuchlich geltend gemacht wurde, ist dieses Recht zu versagen.49 Im Umsatz45 EuGH v. 18.10.2012 – C-525/11 – Mednis Sia, ECLI:EU:C:2012:652, Rz. 31; v. 21.6.2012 – C-80/11 und C-142/11 – Mahagében und Dávid, ECLI:EU:C:2012:373, Rz. 41; v. 10.7.2008 – C-25/07 – Sosnowska, ECLI:EU:C:2008:395, Rz. 22. 46 EuGH v. 18.10.2012 – C-525/11 – Mednis Sia, ECLI:EU:C:2012:652, Rz. 32; v. 10.7.2008 – C-25/07 – Sosnowska, ECLI:EU:C:2008:395, Rz. 23; v. 12.7.2012 – C-284/11 – EMS-Bulgaria Transport, ECLI:EU:C:2012:458, Rz. 69. 47 EuGH v. 29.4.2004 – C-487/70 und C-7/02 – Gemeente Leusden ua, Slg I-5369, Rz. 76; v. 21.2.2006 – C-255/02 – Halifax, Slg I-1609, Rz. 71; v. 6.7.2006 – C-439/04 und C-440/04 – Kittel und Recolta Recycling, ECLI:EU:C:2006:446, Rz.  49; v. 7.12.2010  – C-285/09 R., ECLI:EU:C:2010:742, Rz. 36; v. 22.12.2010 – C-277/09 – RBS Deutschland Holding, ECLI:​ EU:C:2010:810, Rz. 48; v. 27.10.2011 – C-504/10 – Tanoarch, ECLI:EU:C:2011:707, Rz. 50; v. 21.6.2012  – C-80/11 und C-142/11  – Mahagében und Dávid, ECLI:EU:C:2012:373, Rz.  41; v. 6.12.2012  – C-285/11  – Bonik, ECLI:EU:C:2012:774, Rz.  35; v. 18.12.2014  – C-131/13, C-163/13 und C-164/13 – Italmoda, ECLI:EU:C:2104:2455, Rz. 42. 48 Die Art. 131 und 273 MwStSystRL richten sich an die Mitgliedstaaten (Wäger, Der Kampf gegen die Steuerhinterziehung, UR 2015, 81 (86); Gunacker-Slawitsch, The Knowing Par­ ticipation in VAT Fraud: Some Reflections on the Content and the Limits of a Reasonable Duty of Due Diligence, BT 2017, 649 ff.; dies., Die „fahrlässige“ Beteiligung an einem Mehrwertsteuerbetrug, RdW 2018, 127ff.), in ihnen kommt jedoch mittelbar das unionsrechtliche Ziel der Vermeidung von Steuerhinterziehungen und -umgehungen zum Ausdruck. 49 EuGH v. . 3.3.2005  – C-32/03– Fini H, Slg I-1599, Rz.  34; v. 6.7.2006  – C-439/04 und C-440/04 – Kittel und Recolta Recycling, Slg I-6161, Rz. 55 (betrügerisch); v. 21.6.2012 – C-80/11 und C-142/11  – Mahagében und Dávid, ECLI:EU:C:2012:373, Rz.  42 (betrügerisch oder missbräuchlich); v. 6.12.2012 – C-285/11 – Bonik, ECLI:EU:C:2012:774, Rz. 37 (missbräuchlich oder betrügerisch); v. 31.1.2013 – C-642/11 – Stroy Trans EOOD, Rz. 47 (betrügerisch oder missbräuchlich); v. 19.10.2017 – C-101/16 – SC Paper Consult, ECLI:EU:​ C:2017:775, Rz. 43 (missbräuchlich oder betrügerisch); v. 28.7.2016 – C-332/15 –Astone, ECLI:EU:C:2016:614, Rz. 50 (missbräuchlich oder betrügerisch).

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steuerrecht kann dies die Versagung des Vorsteuerabzuges,50 die Versagung von Steuerbefreiungen,51 die Versagung des Vorsteuerabzuges im Erstattungsverfahren52 oder auch die Versagung der Vorteile im Rahmen der Differenzbesteuerung53 sein. Dies gilt nach der Rspr. des EuGH nicht nur für denjenigen, der sich selbst betrügerisch oder missbräuchlich betätigt hat, sondern auch für jene Steuerpflichtigen, die wussten oder wissen hätten müssen, dass ein ihrem eigenen Umsatz vor- oder nachgelagerter Umsatz mit Betrug oder Hinterziehung behaftet war. Ob dies auch dann gilt, wenn ein vor- oder nachgelagerter Umsatz Teil einer missbräuchlichen Gestaltung war, wird noch zu ergründen sein. Im folgenden gilt es auszuloten, (III.2.) wann von einer missbräuchlichen Gestaltung auszugehen ist, die das Recht auf Vorsteuerabzug zerstört, (III.4.) wie und wem gegenüber das Recht auf Vorsteuerabzug versagt werden muss (III.6.) wie das Vorliegen eines solchen Missbrauchs festzustellen ist. Diese Analyse erfolgt zunächst ausschließlich auf der Basis des Unionsrechts um abschließend die Implikationen dieser Rechtsprechung für die deutsche und für die österreichische Rechtslage in den Blick zu nehmen.

III. Missbrauch im Umsatzsteuerrecht 1. Hinterziehung, Betrug, Umgehung und Missbrauch – Begriffsvielfalt? Nach der stRspr. des EuGH darf sich niemand missbräuchlich oder betrügerisch auf das Unionsrecht berufen.54 Im Umsatzsteuerrecht nennt der Gerichtshof Missbrauch und Betrug in einem und behandelt beide Verhaltensweisen zunächst gleichwertig.55 Hinzu kommt, dass er die Begriffe „Betrug“ und „Steuerhinterziehung“ jedenfalls synonym verwendet. Dem EuGH dürfte es nur darum gehen, strafrechtlich relevantes Verhalten auf der einen Seite und den Missbrauch als nicht jedenfalls56 strafrechtlich relevantes aber dennoch unionsrechtlich unerwünschtes Verhalten,57 zu erfassen. 50 EuGH v. 21.2.2006 – C-255/02 – Halifax, Slg I-1609, Rz. 85. 51 EuGH v. 6.9.2012  – C-273/11  – Mecsek-Gabona, ECLI:EU:C:2012:547, Rz.  54; v. 18.12.2014 – C-131/13, C-163/13 und C-164/13 – Italmoda, ECLI:EU:C:2104:2455, Rz. 45. 52 EuGH v. 18.12.2014 – C-131/13, C-163/13 und C-164/13 – Italmoda, ECLI:EU:C:2104:2455, Rz. 46. 53 EuGH v. 18.5.2017 – C-624/15 – Litdana, ECLI:EU:C:2017:389, Rz. 32. 54 Für viele EuGH v. 12.5.1998  – C-367/96  – Kefalas ua, Slg I-2843, Rz.  20; v. 23.3.2000  – C-373/97 – Diamantis, Slg I-1705, Rz. 33; v. 3.3.2005 – C-32/03 – Fini H, Slg I-1599, Rz. 32; v. 21.2.2006 – C-255/02 –Halifax, Slg I-1609, Rz. 68; v. 21.6.2012 – C-80/11 und C-142/11 – Mahagében und Dávid, ECLI:EU:C:212:373, Rz.  37 bis 42 und 46 bis 48; v. 6.9.2012  – C-324/11 – Gabor Tóth, ECLI:EU:C:2012:549, Rz. 36. 55 EuGH v. 22.11.2017 – C-251/16 – Cussens, ECLI:EU:C:2017:881, Rz. 34. 56 Ob missbräuchliches Verhalten auch strafrechtlich relevant ist, ist zumindest in Österreich höchst umstritten (dazu Ehrke-Rabel, Der Missbrauch von Gestaltungsmöglichkeiten und seine finanzstrafrechtlichen Konsequenzen, ZWF 2016, 1). 57 Zu den Wertungen basierend auf Fairness und Moral, die einer Feststellung von Missbrauch immer zugrunde liegen siehe Schammo, Arbitrage and Abuse of Rights in the EC Legal System, European Law Journal 2008, 351 ff.

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Die Abgrenzung zwischen Missbrauch und Umgehung dürfte auf der subjektiven Seite liegen: In der Rs. Direct Cosmetics hat der EuGH ausgesprochen, dass dem Begriff der Steuerumgehung der objektive Charakter zu eigen ist. Eine Absicht des Steuerpflichtigen, die ein wesentliches Merkmal des Begriffs der Hinterziehung darstellt, ist – so der EuGH – als Voraussetzung für das Vorliegen einer Umgehung nicht erforderlich.58 In der Folgejudikatur verwendet der EuGH den Begriff der Steuerumgehung nicht mehr, sondern nur jenen des Missbrauches, den er – wie zu sehen sein wird – durch ein objektives und durch ein subjektives Merkmal geprägt sieht. Auch die Abgrenzung des Missbrauchs oder Betrugs vom Scheingeschäft ist für den EuGH nicht erheblich. So hält er in der Rs. Breitsohl fest, dass die Steuerpflichtigeneigenschaft endgültig nur erreicht werden kann, wenn die Erklärung, die beabsichtigte wirtschaftliche Tätigkeit aufnehmen zu wollen, in gutem Glauben abgegeben wurde. „In den Fällen von Betrug oder Missbrauch, in denen der Betroffene die Absicht, eine bestimmte wirtschaftliche Tätigkeit aufzunehmen, nur vorspiegelt, in Wirklichkeit jedoch versucht, Gegenstände, deren Erwerb zum Abzug berechtigen können, seinem Privatvermögen zuzuführen,“ kann die Steuerbehörde rückwirkend die Erstattung des vorgenommenen Vorsteuerabzuges verlangen.59 In manchen Mitgliedstaaten dürfte ein solches Verhalten als Scheingeschäft zu werten sein. Dies deutet darauf hin, dass der Missbrauchsbegriff für den EuGH bisweilen weiter ist als jener der einzelnen Mitgliedstaaten. Die Abgrenzung zwischen Missbrauch auf der einen und Betrug auf der anderen Seite scheint nicht ganz eindeutig (siehe dazu gleich unter III.2.b). Fest steht aber, dass es sich bei Betrug und Steuerhinterziehung um strafrechtlich konnotierte Begriffe handelt. Anders als das Umsatzsteuerrecht ist das Steuerstrafrecht bislang unionsrechtlich nicht harmonisiert. Auf die partielle Harmonisierung, die durch die RL 2017/1371/ EU60 erfolgt ist, sei hier nur hingewiesen. Was dies für den Begriff des Betruges bedeutet, wird noch darzulegen sein. Für eine einheitliche Definition der Begriffe Betrug und Steuerhinterziehung hat der EuGH daher derzeit noch nicht die Kompetenz.61 Diese Begriffe bedürfen im Rahmen der MwStSystRL und des allgemeinen Grundsatzes des Unionsrechts, der eine missbräuchliche und betrügerische Berufung auf letzteres verbietet, keiner näheren Definition. Fest steht nämlich, dass es sich bei Betrug und Hinterziehung immer um ein Verhalten handelt, das die finanziellen Interessen eines Staatshaushaltes und damit im Bereich der Umsatzsteuer auch jene der Union schädigt. Außerdem handelt es sich sowohl bei Betrug als auch bei Hinterziehung um ein nach dem Recht der Mitgliedstaaten rechtswidriges Verhalten.

58 EuGH v. 12.7.1988, 138 und 139/86 – Direct Cosmetics, Slg 3971, Rz. 22. 59 EuGH v. 8.6.2000 – C-400/98 – Breitsohl, ECLI:EU:C:2000:304, Rz. 39, unter Verweis auf EuGH v. 14.2.1985  – 268/83  – Rompelman, ECLI:EU:C:1985:74, Rz.  24; v. 29.2.1996  – C-110/94 – INZO, ECLI:EU:C:1996:403, Rz. 23 und Rz. 24. 60 RL 2017/1371/EU des Europäischen Parlaments und des Rates v. 5.7.2017 über die strafrechtliche Bekämpfung von gegen die finanziellen Interessen der Union gerichtetem Betrug, Abl. 2017, L 198, 29. 61 Die Kompetenz wird im Rahmen der RL 2017/1371/EU bestehen.

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Missbräuchliches Verhalten ist hingegen per se nicht rechtswidrig, sondern bewegt sich im Rahmen des gesetzlich Zulässigen, widerspricht aber den vom Gesetzgeber verfolgten Zielen. Es war bislang auch in manchen europäischen Staaten nicht verpönt, sondern wurde als Folge der individuellen wirtschaftlichen Gestaltungsfreiheit gesehen.62 Wenn also der EuGH die missbräuchliche Berufung auf das Unionsrecht für unzulässig erachtet, muss er den Missbrauch definieren. Im Anwendungsbereich der MwStSystRL hat er dazu angesichts der umfassenden Harmonisierung zweifelsohne die Kompetenz. Aus der Sicht des Umsatzsteuerrechts kann es für die Inanspruchnahme des Vorsteuerabzuges grundsätzlich keinen Unterschied machen, ob ein Steuerpflichtiger (bloß) missbräuchlich oder bereits betrügerisch gehandelt hat. In beiden Fällen setzt er ein Verhalten, das dem Fiskus schadet und damit im Bereich der Umsatzsteuer auch die finanziellen Interessen der Europäischen Union beeinträchtigt.63 Ob und inwieweit ein missbräuchliches oder gar betrügerisches Verhalten (auch) strafbar ist, ist im Rahmen des Umsatzsteuerrechts nicht zu beurteilen. Daher scheint die Differenzierung zwischen strafbewehrtem Betrug und Hinterziehung auf der einen und nicht unbedingt strafbewehrtem Missbrauch auf der anderen Seite für umsatzsteuerrechtliche Zwecke nicht erforderlich zu sein. Obwohl der EuGH in beiden Fällen den Vorsteuerabzug ausgeschlossen wissen will, wird sich zeigen, dass für die Begründung der damit einhergehenden Rechtsfolge – nämlich den Verlust des durch die Union gewährten Rechts – zwischen Missbrauch auf der einen und Betrug und Hinterziehung auf der anderen Seite auch nach der Rspr. des EuGH zu unterscheiden ist. 2. Missbrauch a) Definition Soweit zu sehen, hat der EuGH im Urteil Gemeente Leusden erstmals in Mehrwertsteuersachen auf den Missbrauch Bezug genommen. Im Zusammenhang mit einer unechten Steuerbefreiung hat er festgehalten, dass die Bekämpfung von „Steuerhinterziehungen, Steuerumgehungen und etwaigen Missbräuchen“ ein Ziel ist, das von der MwStSystRL anerkannt und gefördert wird.64 Im Urteil in der Rs. Halifax und der  nachfolgenden Rechtsprechung hat er schließlich bestätigt: Das grundsätzliche unionsrechtliche Verbot missbräuchlicher Praktiken gilt auch im Mehrwertsteuerrecht.65 62 Schammo, Arbitrage and Abuse of Rightsin the EC Legal System, European Law Journal 2008/3, 351 ff. 63 Ein Teil des Umsatzsteueraufkommens zählt zu den Eigenmitteln der Europäischen Union. Deren Verkürzung beeinträchtigt daher auch die finanziellen Interessen der EU. 64 EuGH v. 29.4.2004 – C-487/70 und C-7/02 – Gemeente Leusden ua, Slg I-5369, Rz. 76. 65 EuGH v. 21.2.2006 – C-255/02 – Halifax, Slg I-1609, Rz. 69 und 70; v. 6.7.2006 – C-439/04 und C-440/04 – Kittel und Recolta Recycling, Slg I-6161, Rz. 54; v. 7.12.2010 – C-285/09 R., Slg I-12605, Rz. 36; v. 27.10.2011 – C-504/10 – Tanoarch, ECLI:EU:C:2011:707, Rz. 50; v. 21.6.2012 – C-80/11 und C-142/11 – Mahagében und Dávid, ECLI:EU:C:212:373, Rz. 41; v. 22.12.2010  – C-103/09  – Weald Leasing, ECLI:EU:C:2010:804, Rz.  26; v. 17.12.2015  –

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Der EuGH hat bereits im Jahr 2004 in der Rs. Halifax erläutert, wie ein Missbrauch aus unionsrechtlicher Sicht zu definieren ist. Unter Berufung auf das Urteil Emsland-Stärke66 hat er auch für das Mehrwertsteuerrecht festgehalten, dass die Feststellung von Missbrauch eine Gesamtwürdigung der objektiven Umstände erfordert. Daraus müssen sich sowohl ein objektives als auch ein subjektives Element67 ergeben: Zum einen darf trotz formaler Einhaltung der unionsrechtlichen Bedingungen das Ziel nicht erreicht worden sein, zum anderen muss die Absicht vorhanden sein, sich einen unionsrechtlich vorgesehenen Vorteil dadurch zu verschaffen, dass die entsprechenden Voraussetzungen willkürlich herbeigeführt werden.68 Auf objektiver Ebene muss also ein Steuervorteil geschaffen worden sein, dessen Gewährung zu den nach den einschlägigen Bestimmungen der MwStSystRL verfolgten Zielen in Widerspruch steht.69 Außerdem muss aus einer Reihe objektiver Anhaltspunkte ersichtlich sein, dass mit den fraglichen Umsätzen im Wesentlichen ein Steuervorteil bezweckt wird (subjektives Element).70 Ziel muss also die Erlangung eines ungerechtfertigten Vorteils dadurch sein, dass die entsprechenden Voraussetzungen willkürlich geschaffen werden.71 Die Feststellung einer missbräuchlichen Praxis ergibt sich auch nicht aus der Art. der Handelsgeschäfte, die der Urheber der betreffenden Umsätze normalerweise tätigt, sondern aus dem Gegenstand, der Zweckbestimmung und den Wirkungen dieser Umsätze.72 Eine missbräuchliche Gestaltung ist etwa anzunehmen, wenn Vertragsbestimmungen nicht die wirtschaftliche und geschäftliche Realität einer Transaktion widerspiegeln, sondern sich als rein künstliche, jeder wirtschaftlichen Realität bare Gestaltung darstellen, die im Wesentlichen zu dem Zweck erfolgen, einen Steuervorteil zu erlangen.73 Dies ist insb. dann der Fall, wenn die in Frage stehenden TransaktiC-419/14 – WebMindLicenses, ECLI:EU:C:2015:832, Rz. 33; v. 6.12.2012 – C-285/11 – Bonik, ECLI:EU:C:2012:774, Rz. 35. 66 EuGH v. 14.12.2000 – C-110/99 – Emsland Stärke, Slg I-11569, Rz. 52f. 67 Im subjektiven Element unterscheidet sich der Missbrauch auch von der Steuerumgehung (dazu für das österr Recht Anderwald, Die Abgrenzung zwischen Schein- und Umgehungsgeschäft im Steuerrecht (2017) 61 ff.). Der EuGH hat zur Umgehung in der Rs. Direct Cosmetics (EuGH v. 12.7.1988, 138 und 139/86, Slg 3971, Rz. 22), festgehalten, das sich der Begriff der Steuerumgehung vom Begriff der Hinterziehung darin unterscheide, dass ersterem nur der objektive Charakter zu eigen ist. Eine Absicht des Steuerpflichtigen, die ein wesentliches Merkmal des Begriffs der Hinterziehung darstellt, sei als Voraussetzung für die Umgehung gerade nicht erforderlich. In der Folge hat der EuGH v. den Begriff der Umgehung nicht mehr verwendet, sondern sich auf jenen des Missbrauchs konzentriert, dem eben das subjektive Element genauso innewohnt wie der Hinterziehung. 68 EuGH v. 29.4.2004 – C-487/70 und C-7/02 – Gemeente Leusden ua, Slg I-5369, Rz. 77. 69 EuGH v. 21.2.2006 – C-255/02 – Halifax, Slg I-1609, Rz. 74; v. 17.12.2015 – C-419/14 – WebMindLicenses, ECLI:EU:C:2015:832, Rz. 36. 70 EuGH v. 21.2.2006 – C-255/02 – Halifax, Slg I-1609, Rz. 75. 71 EuGH v. 14.12.2000  – C-110/99  – Emsland-Stärke, ECLI:EU:C:2000:695, Rz.  53; v. 14.4.2016 – C-131/14 – Cervati und Malvi, ECLI:EU:C:2016:255, Rz. 34. 72 EuGH v. 22.12.2010 – C-103/09 – Weald Leasing, ECLI:EU:C:2010:804, Rz. 44. 73 EuGH v. 22.5.2008 – C-162/07 – Ampliscientifica und Amplifin, slg I-4019, Rz. 28, unter Verweis auf EuGH v. 12.9.2006  – C-196/04  – Cadbury Schweppes Overseas, Slg I-7995,

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onen jeder wirtschaftlichen und geschäftlichen Rechtfertigung für den unmittelbar Betroffenen und die anderen im System mitwirkenden Unternehmer entbehrten.74 Die rechtlichen, wirtschaftlichen und/oder personellen Verflechtungen zwischen an einer Gestaltung beteiligten Wirtschaftsteilnehmern können für die Beurteilung einer Gestaltung als missbräuchlich wesentliche Hinweise geben.75 Hinsichtlich des Beurteilungsgegenstandes ist nach der Rspr. des EuGH zunächst der einzelne missbrauchsbehaftete Umsatz im Hinblick auf das damit verfolgte Ziel he­ ranzuziehen. Nicht in den Missbrauch einzubeziehen sind jene Leistungen, die wegen dieser ersten Umsätze formal die Voraussetzungen für die Erlangung des Steuervorteils erfüllen.76 Missbrauch liegt nicht nur dann vor, wenn der „alleinige“ Zweck einer Gestaltung ein Steuervorteil ist. Es reicht vielmehr, dass mit einer Gestaltung „im Wesentlichen“ ein Steuervorteil bezweckt werden soll.77 Das Verbot missbräuchlicher Gestaltungen darf nicht missverstanden werden. Es ist nämlich dann nicht relevant, wenn die fraglichen Umsätze eine andere Erklärung ­haben können als im Wesentlichen die Erlangung von Steuervorteilen.78 Hat ein ­Steuerpflichtiger die Wahl, seine Geschäfte mit höheren oder mit geringeren Steuerfolgen zu ordnen, verpflichtet die MwStSystRL nicht zu jener Gestaltung, welche eine  höhere Steuerbelastung nach sich zieht.79 Im Allgemeinen dürfen die Steuer­ pflich­tigen die Organisationsformen und die Geschäftsmodelle, die sie als für ihre ­wirtschaftlichen Tätigkeiten und zur Begrenzung der Steuerlast am besten geeignet erachten, frei w ­ ählen.80 Die Wahl eines Unternehmers zwischen steuerfreien und steuerpflichtigen Umsätzen kann nämlich auf einer Reihe von Gesichtspunkten, insb. auch auf steuerlichen Überlegungen im Hinblick auf das Mehrwertsteuersystem be-

Rz. 55; v. 27.10.2011 – C-504/10 – Tanoarch, Slg I-10853, Rz. 51; v. 12.7.2012 – C-326/11 – J. J. Komen en Zonen Beheer Heerhugowaard, Rz. 35; v. 20.6.2013 – C-653/11 – Newey, ECLI:EU:C:2013:409, Rz. 45f. 74 EuGH v. 13.3.2014  – C-155/13  – SICES, ECLI:EU:C:2014:145, Rz.  37; v. 9.7.2015  – C-607/13 – Cimmino, ECLI:EU:C:2015:448, Rz. 65; v. 14.4.2016 – C-131/14 – Cervati und Malvi, ECLI:EU:C:2016:255, Rz. 47. 75 EuGH v. 21.2.2008 – C-425/06 – Part Service, ECLI:EU:C:2008:108, Rz. 62. 76 EuGH v. 22.11.2017 – C-251/16 – Cussens, ECLI:EU:C:2017:881, Rz. 56. 77 So ausdrücklich EuGH v. 21.2.2008 – C-425/06 – Part Service, ECLI:EU:C:2008:108, Rz. 44; EuGH v. 22.11.2017 – C-251/16 – Cussens, ECLI:EU:C:2017:881, Rz. 53. 78 EuGH v. 21.2.2006 – C-255/02 – Halifax, Slg I-1609, Rz. 75; v. 21.2.2008 – C-425/06 – Part Service, ECLI:EU:C:2008:108, Rz. 42; v. 22.12.2010 – C-103/09 – Weald Leasing, ECLI:EU:​ C:2010:804, Rz.  30; v. 14.4.2016  – C-131/14  – Cervati und Malvi, ECLI:EU:C:2016:255, Rz. 34. 79 EuGH v. 21.2.2006 – C-255/02 – Halifax, Slg I-1609, Rz. 73; v. 21.2.2008 – C-425/06 – Part Service, ECLI:EU:C:2008:108, Rz. 47; v. 22.12.2010 – C-103/09 – Weald Leasing, ECLI:EU:​ C:2010:804, Rz. 27; v. 17.12.2015 – C-419/14 – WebMindLicenses, ECLI:EU:C:2015:832, Rz. 42. 80 EuGH v. 22.12.2010 – C-277/09 – RBS Deutschland Holding, ECLI:EU:C:2010:810, Rz. 53.

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ruhen.81 Ein Steuerpflichtiger hat also das Recht, seine Tätigkeit so einzurichten, dass er seine Steuerschuld in Grenzen hält.82 Wird ein Steueranspruch innerhalb der Grenzen geltend gemacht, die der Zweck und Erfolg der betreffenden Unionsbestimmung setzen, liegt kein Missbrauch vor, sondern nur die rechtmäßige Geltendmachung eines Anspruchs.83 Dasselbe gilt wenn der Unionsgesetzgeber selbst einen Weg vorzeigt, der im Verhältnis zu einem anderen Weg vorteilhaft ist.84 So ist es dem Steuerpflichtigen etwa nicht vorzuwerfen, dass er einen Gegenstand, den er für private und für steuerpflichtige Umsätze nutzt, zur Gänze seinem Unternehmen zuordnet und so im Zeitpunkt der Anschaffung den vollen Vorsteuerabzug geltend macht und auf die private Nutzung lediglich die Umsatzsteuer auf eine unentgeltliche Wertabgabe entrichtet, obwohl dieses Verhalten im Verhältnis zur bloß anteiligen Zuordnung zum Unternehmen regelmäßig einen Finanzierungsvorteil schafft. b) Abgrenzung zu Betrug und Hinterziehung Nicht eindeutig erscheint in der älteren Rechtsprechung des EuGH die Abgrenzung des Missbrauchs zur Steuerhinterziehung bzw. zum Betrug. In der Rs. Equoland definiert der EuGH die Steuerhinterziehung unter Verweis auf die Rs. Halifax als ein Verhalten, wonach der fragliche Umsatz „trotz Einhaltung der Bedingungen der einschlägigen Bestimmungen der 6.RL und des zu ihrer Umsetzung erlassenen nationalen Rechts einen Steuervorteil zum Ergebnis hat, dessen Gewährung dem mit diesen Bestimmungen verfolgten Ziel zuwiderliefe, und zum anderen, dass sich aus einer Reihe objektiver Anhaltspunkte ergibt, dass mit dem fraglichen Umsatz im Wesentlichen ein Steuervorteil erlangt werden soll.“85 Auf dieselbe Art und Weise hat der EuGH die Steuerhinterziehung in der Rs. EMS-Bulgaria Transport definiert.86 Damit bedient er sich einer Begriffserklärung, die jener des Missbrauchs entspricht und keinen Unterschied zum Missbrauch aufweist. Der Unterschied zwischen Betrug und Hinterziehung auf der einen Seite und Missbrauch auf der anderen Seite liegt aber gerade in dem Umstand, dass Betrug und Hinterziehung jedenfalls rechtswidrig und strafbar sind und nach 81 EuGH v. 9.10.2001  – C-108/99  – Cantor Fitzgerald International, Slg I-7257, Rz.  33; v. 21.2.2006 – C-255/02 – Halifax, Slg I-1609, Rz. 73; v. 22.12.2010 – C-277/09 – RBS Deutschland Holding, ECLI:EU:C:2010:810, Rz. 54. 82 EuGH v. 21.2.2006 – C-255/02 – Halifax, Slg I-1609, Rz. 43; v. 21.2.2008 – C-425/06 – Part Service, ECLI:EU:C:2008:108, Rz. 47. 83 GA Maduro, Schlussanträge zu den Rs. Halifax, University of Huddersfield und BUPA ­Hospitals, v. 8.4.2005, Slg I-1613, Nr 68, unter Verweis auf EuGH v. 9.3.1999 – C-212/97 – Centros, ECLI:EU:C:1999:126. 84 Siehe etwa EuGH in der Rs. Seeling, wo der EuGH festgehalten hat, dass der sofortige und volle Vorsteuerabzug auf Gegenstände, die sowohl zu steuerpflichtigen als auch zu privaten Zwecken verwendet werden, die Folge einer bewussten Entscheidung des Unionsgesetzgebers ist und daher nicht zu Beanstandungen durch die Finanzverwaltung führen kann (EuGH v. 8.5.2003 – C-269/00 – Seeling, ECLI:EU:C:2003:254, Rz. 54). 85 EuGH v. 17.7.2014 – C-272/13 – Equoland, ECLI:EU:C:2014:2091, Rz. 39; unter Verweis auf EuGH v. 21.2.2006 – C-255/02 – Halifax, Slg I-1609, Rz. 74 und 75 und v. 12.7.2012 – C-284/11 – EMS-Bulgaria Transport, ECLI:EU:C:2012:458, Rz. 74. 86 EuGH v. 12.7.2012 – C-284/11 – EMS-Bulgaria Transport, ECLI:EU:C:2012:458, Rz. 74.

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der Judikatur des EuGH im Bereich der Umsatzsteuer auch von den Mitgliedstaaten angemessen bestraft werden müssen.87 Missbrauch hingegen ist nicht zwingend strafbar. Missbräuchliches Verhalten kann eine Abgabenhinterziehung begründen, muss es aber nicht unbedingt.88 Die vom EuGH in den Rs. Equoland und EMS-Bulgaria Transport gewählte Definition schafft daher keine taugliche Abgrenzung zwischen Betrug und Missbrauch. Dies dürfte auch der Grund dafür sein, dass der EuGH sich in der Rs. Taricco für die Definition des Umsatzsteuerbetrugs auf Art. 1 des SFI-Übereinkommens berufen hat.89 Dieser definiert Betrug, als „jede vorsätzliche Handlung oder Unterlassung betreffend (…) die Verwendung oder Vorlage falscher, unrichtiger oder unvollständiger Erklärungen oder Unterlagen mit der Folge, dass Mittel aus dem Gesamthaushaltsplan der Union oder aus den Haushalten, die von der Union oder in deren Auftrag verwaltet werden, rechtswidrig vermindert werden.“90 Die RL 2017/1371/EU, die bis zum 6. Juli 2019 von den Mitgliedstaaten umzusetzen ist, definiert Betrug zum Nachteil der finanziellen Interessen der Europäischen Union in Bezug auf Einnahmen aus Mehrwertsteuereigenmitteln in verschiedenen Tatbeständen und in Anlehnung an das SFI-Übereinkommen, denen die Rechtswidrigkeit des Verhaltens gemeinsam ist.91 Der klassische Missbrauch in der Definition der 87 Art. 325 AEUV verpflichtet die Mitgliedstaaten, rechtswidrige Handlungen, die sich gegen die finanziellen Interessen der Europäischen Union richten, mit effektiven und abschreckenden Maßnahmen zu bekämpfen (EuGH v. 5.12.2017  – C-42/17  – M.A.S und M.B., ECLI:EU:C:2017:936, Rz.  30). Die Mitgliedstaaten können jedoch frei wählen, welche Sanktionen sie anwenden, um die Erhebung der Einnahmen aus der Mehrwertsteuer in ihrer Gesamtheit und damit den Schutz der finanziellen Interessen der Union zu gewährleisten (EuGH v. 5.12.2017 – C-42/17 – M.A.S und M.B., ECLI:EU:C:2017:936 (Taricco II), Rz.  33; v. 26.2.2013  – C-617/10  – Akerberg Fransson, ECLI:EU:C:2013:105, Rz.  34; v. 8.9.2015 – C-105/14 – Taricco, ECLI:EU:C:2015:555, Rz. 39). 88 Für Österreich s. Ehrke-Rabel, Der Missbrauch von Gestaltungsmöglichkeiten und seine finanzstrafrechtlichen Konsequenzen, ZWF 2016, 1 (126  f.); für Deutschland Kuhlen, Grundfragen der strafbaren Steuerhinterziehung (2012), 40; für Italien: F. Gallo, Rilevanza penale dell´elusione, Rassegna Tributaria 2001, 321 ff.; G. Boletto, Riflessioni sull´esclusione della condotta abusiva dall´area di penale rilevanza, RTDT 2016, 535 ff. 89 EuGH v. 8.9.2015 – C-105/14 – Taricco, ECLI:EU:C:2015:555, Rz. 41. 90 Art. 1 Übereinkommen v. 26.7.1995 auf Grund von Art. K.3 EUV über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften, ABl 1995, C 316, 48. 91 Nach Art. 3 Abs. 2 lit. c RL 2017/1371/EU stellt einen Betrug zum Nachteil der finanziellen Interessen der Europäischen Union dar, jede Handlung und Unterlassung betreffend „(i) die Verwendung oder Vorlage falscher, unrichtiger oder unvollständiger Erklärungen oder Unterlagen mit der Folge, dass Mittel aus dem Haushalt der Union oder den Haushalten , die von der Union oder in deren Auftrag verwaltet werden, rechtswidrig vermindert werden; (ii) das Verschweigen einer Information unter Verletzung einer spezifischen Pflicht mit derselben Folge; (iii) die missbräuchliche Verwendung eines rechtmäßig erlangten Vorteils mit derselben Folge. Nach Art. 3 Abs. 2 lit. d derselben RL stellt jede im Rahmen eines grenzüberschreitenden Betrugssystems begangenen Handlung oder Unterlassung betreffend (i) die Verwendung oder Vorlage falscher, unrichtiger oder unvollständiger Mehrwertsteuer-Erklärungen oder -Unterlagen mit der Folge, dass die Mittel des Unionshaushaltes vermindert werden; (ii) das Verschweigen einer mehrwertsteuerrelevanten Information unter Verletzung einer spezifischen Pflicht mit derselben Folge oder (iii) die Vorlage richtiger Mehrwertsteuer-Erklärungen zur

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stRspr. des EuGH scheint in diesen Tatbeständen nicht auf. Als Betrug gilt nur die „missbräuchliche Verwendung eines rechtmäßig erlangten Vorteils“ mit der Folge der rechtswidrigen Verminderung von Mitteln aus dem Unionshaushalt.92 Wenngleich die Richtlinie nur für Betrugsdelikte gelten soll, die einen Schaden von mindestens EUR 10.000.000,- nach sich ziehen,93 muss der Tatbestand des Betrugs allgemeingültig sein. Es ist daher davon auszugehen, dass zumindest ab 6. Juli 2019 der Betrug wie in Art. 3 der RL 2017/1371/EU definiert ganz allgemein im Bereich der Mehrwertsteuer einschlägig sein wird. Missbrauch ist daher nicht mit Betrug gleichzusetzen. Dass dies auch der EuGH so sieht, zeigt das Urteil in der Rs. Cussens, wo der Gerichtshof festgehalten hat, dass seine Rspr. eben nicht nur auf Fälle des Betruges sondern auch auf solche des Missbrauchs anzuwenden ist .94 Hätte er den Missbrauch dem Betrug in seinem Gegenstand (nicht in der Rechtsfolge) gleichgestellt, dann hätte er anders argumentiert. 3. Rechtsfolgen des Missbrauchs Seit dem Urteil in der Rs. Italmoda steht fest, dass missbräuchliche oder betrügerische Tätigkeiten von vornherein kein in der Unionsrechtsordnung vorgesehenes Recht begründen können.95 Nach den Feststellungen des EuGH im Urteil Cussens ist die Versagung eines Rechts oder eines Vorteils wegen missbräuchlicher oder betrügerischer Tätigkeiten nur die bloße Folge der Feststellung, dass im Fall von Betrug oder Rechtsmissbrauch die objektiven Voraussetzungen für die Erlangung des ersuchten Rechts in Wirklichkeit nicht erfüllt sind. 96 Für diese Rechtsfolge ist daher nach Ansicht des EuGH eine besondere Rechtsgrundlage gar nicht erforderlich.97 Der Begriff des „Vorteils“ aus dem Unionsrecht, den der EuGH regelmäßig verwendet, dürfte nicht zu eng zu sehen sein: In seiner frühen Rechtsprechung hält er nämlich regelmäßig fest, dass bei missbräuchlichem Verhalten des Betroffenen98 die Berufung auf die geltend gemachte Bestimmung99 des Gemeinschaftsrechts zu verwehren betrügerischen Verschleierung einer nicht geleisteten Zahlung oder zur unrechtmäßigen Begründung von Ansprüchen auf Erstattung der Mehrwertsteuer“, einen Betrug dar. 92 Art. 3 Abs. 2 lit. c sublit. iii RL 2017/1371/EU. 93 Art. 2 Abs. 2 RL 2017/1371/EU. 94 EuGH v. 22.11.2017 – C-251/16 – Cussens, ECLI:EU:C:2017:881, Rz. 34. 95 EuGH v. 18.12.2014 – C-131/13, C-163/13 und C-164/13 – Italmoda, ECLI:EU:C:2104:2455, Rz. 58. 96 EuGH v. 22.11.2017 – C-251/16 – Cussens, ECLI:EU:C:2017:881, Rz. 32, unter Verweis auf EuGH v. 14.12.2000 – C-110/99 – Emsland-Stärke, ECLI:EU:C:2000:695, Rz. 56; v. 21.2.2006 – C-255/02  – Halifax, Slg I-1609, Rz.  93; v. 4.6.2009  – C-158/08  – Pometon, ECLI:EU:​ C:2009:349, Rz. 28. 97 EuGH v. 22.11.2017 – C-251/16 – Cussens, ECLI:EU:C:2017:881, Rz. 32, unter Verweis auf EuGH v. 14.12.2000 – C-110/99 – Emsland-Stärke, ECLI:EU:C:2000:695, Rz. 56; v. 21.2.2006 – C-255/02  – Halifax, Slg I-1609, Rz.  93; v. 4.6.2009  – C-158/08  – Pometon, ECLI:EU:​ C:2009:349, Rz. 28. 98 Hervorhebung nicht im Urteil. 99 Hervorhebung nicht im Urteil.

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ist.100 Dabei müssen sie jedoch die mit dieser Bestimmung verfolgten Zwecke beachten.101 Etwas anders als in seiner jüngeren Rspr. hat der EuGH in der Rs. Bonik noch unter Berufung auf die Rs. Halifax und Rs. Kittel und Recolta Recycling ausgesprochen, dass im Fall einer Hinterziehung die objektiven Kriterien, auf denen die Begriffe der Lieferung und der Dienstleistung sowie der Begriff der wirtschaftlichen Tätigkeit selbst beruhen, nicht erfüllt sind.102 Gleichzeitig hat er festgehalten, dass der Vorteil des Rechts auf Vorsteuerabzug zu versagen ist, wenn aufgrund der objektiven Sachlage feststeht, dass dieses Recht in betrügerischer Weise oder missbräuchlich geltend gemacht wird. In der Rs. University of Huddersfield, welche am gleichen Tag wie die Rs. Halifax entschieden wurde, hat der EuGH hingegen entschieden, dass die Absicht für die Frage, ob eine Tätigkeit als wirtschaftliche Tätigkeit einzustufen ist, unerheblich ist. Ein Umsatz, selbst wenn er ausschließlich in der Absicht getätigt wurde, einen Steuervorteil zu erlangen, und sonst keinen wirtschaftlichen Zweck verfolgt, ist daher als Lieferung eines Gegenstandes oder als Dienstleistung und damit als wirtschaftliche Tätigkeit zu qualifizieren. Dieser Umsatz bleibt dann auch trotz Betruges oder Missbrauchs steuerbar und steuerpflichtig.103 Auf die Absicht des Steuerpflichtigen kommt es bei dieser Beurteilung nämlich nicht an.104 Gleichzeitig  – und damit in Einklang mit der späteren Rspr. wie etwa der Rs. Bonik – hat er darauf hingewiesen, dass die MwStSystRL dem Recht auf Vorsteuerabzug entgegensteht, wenn die Umsätze, die dieses Recht begründen, eine missbräuchliche Praxis darstellen.105 Dass die objektiven Kriterien, auf denen der Begriff der Lieferung von Gegenständen bzw. der Erbringung von Dienstleistungen, die ein Steuerpflichtiger als solcher bewirkt, und der Begriff der wirtschaftlichen Tätigkeit beruhen, nicht erfüllt sein sollen, wenn der Steuerpflichtige selbst eine Steuerhinterziehung begeht, darf also nicht allzu pauschal verstanden werden: Der EuGH hat sie erstmals im Urteil Halifax getätigt, dort aber auf Fälle der falschen Steuererklärung oder der Ausstellung nicht ordnungsgemäßer Rechnungen Bezug genommen.106 Wäre also ganz allgemein davon auszugehen, dass im Fall von Betrug oder Missbrauch die entsprechende Lieferung oder sonstige Leistung gar nicht stattgefunden hat, würde im Fall einer Hinterziehung bereits dem Grunde nach keine Umsatzsteuer anfallen. Dieses Ergebnis widerspricht aber der Rspr. des EuGH, wonach die Mitgliedstaaten verpflichtet sind, die Eigenmittel,

100 EuGH v. 23.3.2000 – C-373/97 – Diamantis, Slg I-1723, Rz. 34. 101 EuGH v. 2.5.1996 – C-206/94 – Paletta, Slg I-2357, Rz. 25; v. 23.3.2000 – C-373/97 – Diamantis, Slg I-1723, Rz. 34. 102 EuGH v. 6.12.2012 – C-285/11 – Bonik, ECLI:EU:C:2012:774, Rz. 38, unter Berufung auf EuGH v. 21.2.2006 – C-255/02 – Halifax, Slg I-1609, Rz. 58 f. und EuGH v. 6.7.2006 – C-439/04 und C-440/04 – Kittel und Recolta Recycling, ECLI:EU:C:2006:446, Rz. 53. 103 EuGH v. 21.2.2006 – C-233/03 – University of Huddersfield, Slg I-1754, Rz. 53. 104 EuGH v. 21.2.2006  – C-233/03  – University of Huddersfield, Slg I-1754, Rz.  52  f.; v. 27.10.2011 – C-504/10 – Tanoarch, ECLI:EU:C:2011:707, Rz. 47. 105 EuGH v. 21.2.2006 – C-233/03 – University of Huddersfield, Slg I-1754, Rz. 52. 106 EuGH v. 21.2.2006 – C-255/02 – Halifax, Slg I-1609, Rz. 59.

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welche der Union durch Betrug entzogen worden sind, beizutreiben.107 Zudem stünde ein solches Ergebnis in klarem Widerspruch zur oben skizzierten stRsp, wonach es für die Frage der Steuerbarkeit eines Umsatzes grundsätzlich nicht auf dessen Erlaubtheit oder Unerlaubtheit ankommt. Hinzu kommt, dass den in Hinblick auf diese Aussage wiedergegebenen Urteilen unterschiedliche Sachverhaltskonstellationen zugrunde lagen: So ging es in den Rs. Italmoda, Rs. Bonik und Rs. Kittel und Recolta Recycling um Hinterziehungsfälle, also Fälle, in denen eindeutig Steuerverkürzungen bewirkt worden waren. In der Rs. Halifax und der Rs. Cussens ging es hingegen um Fälle des Missbrauchs, also um zivilrechtlich zulässige Sachverhaltsgestaltungen, die nach Auffassung der vorlegenden Gerichte dem Zweck des Gesetzes nicht entsprechende Umsatzsteuervorteile nach sich gezogen hatten. Für den hier interessierenden Missbrauch hat der EuGH nur festgehalten, dass auch im Fall des Missbrauchs die aus dem Unionsrecht entspringenden Rechte nicht zustehen. Im Ergebnis wollte der EuGH das Recht auf Vorsteuerabzug sowohl im Hinterziehungs- als auch im Missbrauchsfall versagt wissen. Weil im Fall von Betrug oder Missbrauch die objektiven Voraussetzungen für die Erlangung des durch die MwStSystRL an sich gewährten Rechts in Wirklichkeit nicht erfüllt sind, wird – so der EuGH – mit der Versagung des Rechts auf Vorsteuerabzug dem Einzelnen nach der Richtlinie keine Verpflichtung auferlegt. Die Versagung des Rechts ist vielmehr die schlichte Folge der Feststellung, dass die objektiven Voraussetzungen für die Erlangung des Vorsteuerabzuges nicht erfüllt sind.108 Diese Rechtsfolge reflektiert die ständige Rechtsprechung des EuGH außerhalb des Steuerrechts, wonach durch missbräuchliche Praktiken keine Vorteile aus dem Unionsrecht erzielt werden sollen, sodass bei Vorliegen einer solchen Praktik die Vorteile nicht gewährt werden bzw. erstattet werden müssen.109 Wer sich an einem betrügerischen oder missbräuchlichen Verhalten beteiligt hat, kann sich daher auch nicht auf die Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes berufen, um sich gegen die Versagung des Rechts auf Vorsteuerabzug zu wenden.110

107 EuGH v. 5.12.2017 – C-42/17 – M.A.S und M.B., ECLI:EU:C:2017:936, Rz. 32, unter Verweis auf EuGH v. 7.4.2016 – C-546/14 – Degano Trasporti Sas di Ferruccio Degano & C., ECLI:EU:C:2016:206, Rz. 21. 108 EuGH v. 18.12.2014 – C-131/13, C-163/13 und C-164/13 – Italmoda, ECLI:EU:C:2104:2455, Rz. 57, unter Verweis auf EuGH v. 6.7.2006 – C-439/04 und C-440/04 – Kittel und Recolta Recycling, ECLI:EU:C:2006:446, Rz.  53; v. 13.3.2014  – C-107/13  – FIRIN, ECLI:EU:​ C:2014:151, Rz. 41. 109 Vgl auch zum Zollrecht EuGH v. 4.6.2009 – C-18/08 – Pometon, ECLI:EU:C:2009:349, Rz. 28, unter Verweis auf EuGH v. 14.12.2000 – C-110/99 – Emsland-Stärke, Slg I-11569, Rz. 56. 110 EuGH v. 18.12.2014 – C-131/13, C-163/13 und C-164/13 – Italmoda, ECLI:EU:C:2104:2455, Rz. 60, unter Verweis auf EuGH v. 8.6.2000 – C-400/98 – Breitsohl, ECLI:EU:C:2000:304, Rz.  38; v. 21.2.2006  – C-255/02 Halifax, ECLI:EU:C:2006:121, Rz.  84; v. 14.6.2017  – C-26/16 – Santogal, Rz. 76; EuGH v. 22.11.2017 – C-251/16 – Cussens, ECLI:EU:C:2017:881, Rz. 42.

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Wenngleich sowohl im Fall des Betrugs oder der Hinterziehung als auch im Fall des Missbrauchs im Ergebnis der Vorsteuerabzug zu versagen ist, unterscheiden sich die Fälle des Betrugs und der Hinterziehung auf der einen und des Missbrauchs auf der anderen Seite doch im Weg zu diesem Ergebnis: Aus dem Urteil in der Rs. Halifax111 ergibt sich, dass bei Vorliegen einer missbräuchlichen Praxis für die umsatzsteuerrechtliche Beurteilung von jenem Sachverhalt auszugehen ist, der bei „normaler“ Geschäftstätigkeit anzunehmen war: Es ist Sache des nationalen Gerichts, den tatsächlichen Inhalt und die wirkliche Bedeutung der fraglichen Umsätze festzustellen. Die Umsätze sind also in der Art und Weise neu zu definieren, dass auf die Lage abgestellt wird, welche ohne die die missbräuchliche Praxis darstellenden Umsätze bestanden hätte.112 Diese Umqualifizierung führt in Abweichung von der zivilrechtlichen Gestaltung zur Annahme eines wirtschaftlich „vernünftigen“ Sachverhalts (sog „Sachverhaltsfiktion“113).Dabei darf nicht über das hinausgegangen werden, was erforderlich ist, um die genaue Erhebung der Mehrwertsteuer sicherzustellen und Steuerhinterziehungen zu vermeiden.114 Für den EuGH ist jene Situation zu bestimmen, die ohne die die missbräuchliche Praxis darstellenden Umsätze bestanden hätte. Die so neu qualifizierte Situation ist dann anhand der einschlägigen Bestimmungen des nationalen Rechts und der MwStSystRL zu beurteilen.115 Diese Aussagen hat der EuGH in seiner Folgerechtsprechung wiederholt und bestätigt.116 Aus der Sachverhaltsfiktion ergibt sich, dass die Abgabenbehörde auch alle Steuern auf Ausgangsumsätze abziehen muss, die der betreffende Steuerpflichtige im Rahmen eines Steuersparplans willkürlich geschuldet hat. Sie muss gegebenenfalls überschießende Beträge erstatten, wenn sie auf Grund der Sachverhaltsfiktion rückwirkend die Erstattung der abgezogenen Vorsteuerbeträge verlangt.117 Außerdem ist dem Steuerpflichtgen, der ohne eine missbräuchliche Praxis darstellende Umsätze der Begüns-

111 EuGH v. 21.2.2006 – C-255/02 – Halifax, Slg I-1609, Rz. 78ff. 112 EuGH v. 21.2.2006  – C-255/02  – Halifax, Slg I-1609, Rz.  94 und 98; v. 22.12.2010  – C-103/09 – Weald Leasing, ECLI:EU:C:2010:804, Rz. 48; v. 20.6.2013 – C-653/11 – Newey, ECLI:EU:C:2013:409, Rz.  50; v. 17.12.2015  – C-419/14  – WebMindLicenses, ECLI:EU:​ C:2015:832, Rz.  52; EuGH v. 22.11.2017  – C-251/16  – Cussens, ECLI:EU:C:2017:881, Rz. 46. 113 Dazu schon für das österr Recht Ehrke-Rabel, Der Missbrauch von Gestaltungsmöglichkeiten und seine finanzstrafrechtlichen Konsequenzen, ZWF 2016, 1 (5  f.); Anderwald, Die Abgrenzung von Schein- und Umgehungsgeschäft im Steuerrecht (2018) 111 ff. 114 EuGH v. 22.11.2017 – C-251/16 – Cussens, ECLI:EU:C:2017:881, Rz. 46, unter Verweis auf EuGH v. 21.2.2006 – C-255/02 – Halifax, Slg I-1609, Rz. 92, 94 und 98; v. 22.12.2010 – C-103/09 – Weald Leasing, ECLI:EU:C:2010:804, Rz. 48 und 52. 115 EuGH v. 22.11.2017 – C-251/16 – Cussens, ECLI:EU:C:2017:881, Rz. 47. 116 EuGH v. 22.12.2010 – C-103/09 – Weald Leasing, ECLI:EU:C:2010:804, Rz. 48 bis 53; v. 20.6.2013 – C-653/11 – Newey, ECLI:EU:C:2013:409, Rz. 50 und 51; EuGH v. 22.11.2017 – C-251/16 – Cussens, ECLI:EU:C:2017:881, Rz. 46 bis 49. 117 EuGH v. 21.2.2006 – C-255/02 – Halifax, Slg I-1609, Rz. 95f.

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Missbrauch und Vorsteuerabzug

tigte eines derartigen Umsatzes gewesen wäre, der Vorsteuerabzug auf diesen Eingangsumsatz zu gewähren.118 Im Urteil in der Rs. Halifax hat der EuGH bereits entschieden, dass die Feststellung einer missbräuchlichen Praxis nur zu einer Rückzahlungspflicht des Vorsteuerabzuges als schlichte Folge dieser Feststellung führt, die den Rechtsgrund der Vorsteuerabzüge ganz oder teilweise entfallen lässt.119 Diese Aussage hat er im Urteil in der Rs. Cussens wiederholt.120 Ungeachtet einer etwaigen Sachverhaltsfiktion oder des Wegfallens des betrugsbehafteten Umsatzes ändert sich für denjenigen, der nicht selbst den Umsatzsteuerbetrug oder den Missbrauch begangen hat, bei dem aber ein vor- oder ein nachgelagerter Umsatz mit Betrug oder Missbrauch behaftet war, nichts. Seine Tätigkeit bleibt wirtschaftlich und damit steuerbar und steuerpflichtig, so wie er sie tatsächlich ausgeübt hat.121 Dies gilt im Fall von Missbrauch auch für denjenigen, der wusste oder wissen hätte müssen, dass ein vor- oder nachgelagerter Umsatz (siehe dazu gleich III.4.c) mit Betrug behaftet war. Der EuGH hat nämlich in seiner jüngeren Rechtsprechung festgehalten, dass die Beteiligung an einem Missbrauch oder einer Hinterziehung das Recht auf Vorsteuerabzug gar nicht entstehen lässt.122 Damit steht aber fest, dass der Umsatz, so er selbst nicht als missbräuchlich umqualifiziert werden muss oder so die Hinterziehung nicht in einem Scheingeschäft besteht, umsatzsteuerrechtlich erhalten 118 EuGH v. 21.2.2006 – C-255/02 – Halifax, Slg I-1609, Rz. 97. 119 EuGH v. 21.2.2006 – C-255/02 – Halifax, Slg I-1609, Rz. 93, unter Verweis auf EuGH v. Emsland-Stärke, Rz. 56. – In der Rs. University of Huddersfield, die am gleichen Tag entschieden wurde wie das Urteil Halifax, hat der EuGH jedoch festgehalten, dass für die Frage, ob eine Tätigkeit als wirtschaftliche Tätigkeit einzustufen ist, die Absicht unerheblich ist. Daraus hat er geschlossen, dass ein Umsatz, selbst wenn er ausschließlich in der Absicht getätigt wurde, einen Steuervorteil zu erlangen, und sonst keinen wirtschaftlichen Zweck verfolgt, als Lieferung eines Gegenstandes oder als Dienstleistung und damit als wirtschaftliche Tätigkeit zu qualifizieren ist, der dann auch steuerbar und steuerpflichtig bleibt. Der EuGH hat in demselben Urteil jedoch darauf hingewiesen, dass die MwStSyst­ RL dem Recht auf Vorsteuerabzug entgegensteht, wenn die Umsätze, die dieses Recht begründen, eine missbräuchliche Praxis darstellen. Diese Entscheidung könnte so verstanden werden, dass es gerade nicht zu einer Umqualifizierung kommt, sondern dass der missbräuchlich herbeigeführte Umsatz weiterhin zu besteuern ist, der Vorsteuerabzug auf die damit in Zusammenhang stehenden Eingangsumsätze aber versagt wird. Im Zusammenhang mit missbräuchlichen Gestaltungen scheint diese Aussage aber nur in der Rs. University of Huddersfield getätigt worden zu sein. Gerade in der Rs. Cussens, die auch zu einem mutmaßlichen Missbrauchsfall erging, hat der EuGH wiederholt, dass die Folge einer missbräuchlichen Gestaltung die Besteuerung auf Basis eines fingierten Sachverhalts ist. Der hier zitieren Aussage in der Rs. University of Huddersfield ist daher m.E. keine zentrale Bedeutung für Missbrauchsfälle beizumessen (EuGH v. 21.2.2006 – C-223/03 – University of Huddersfield, Slg I-1754, Rz. 52f). 120 EuGH v. 22.11.2017 – C-251/16 – Cussens, ECLI:EU:C:2017:881, Rz. 51. 121 EuGH v. 6.7.2006  – C-439/04 und C-440/04  – Kittel und Recolta Recycling, ECLI:EU:C:2006:446, Rz. 44. 122 EuGH v. 18.12.2014 – C-131/13, C-163/13 und C-164/13 – Italmoda, ECLI:EU:C:2104:2455, Rz. 57 f.; EuGH v. 22.11.2017 – C-251/16 – Cussens, ECLI:EU:C:2017:881, Rz. 32.

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bleibt und auch trotz Versagung des Vorsteuerabzuges weiterhin steuerbar und steuerpflichtig ist. 4. Betroffene Steuerpflichtige a) Wer eine Hinterziehung begeht oder sich missbräuchlich verhält Macht ein Steuerpflichtiger das Recht auf Vorsteuerabzug in betrügerischer Weise oder missbräuchlich geltend und steht dies auf Grund objektiver Umstände fest, haben die nationalen Behörden und Gerichte dieses Recht zu versagen.123 Dies gilt gleichermaßen für die Mehrwertsteuererstattung.124 b) Wer von einer Hinterziehung wusste oder wissen hätte müssen Der EuGH versagt das Recht auf Vorsteuerabzug auch demjenigen, der nicht selbst unmittelbar die Mehrwertsteuerhinterziehung begeht. Der Grundsatz des Verbots von Steuerbetrug und Hinterziehung gilt auch für jene Steuerpflichtigen, die wussten oder wissen hätten müssen, dass sie sich mit dem betreffenden Umsatz an einem Umsatz beteiligten, der in eine vom Lieferer oder von einem anderen Wirtschaftsteilnehmer auf einer vorausgehenden oder nachfolgenden Umsatzstufe der Lieferkette begangene Steuerhinterziehung einbezogen war,125 wenn er nicht alle ihm zur Verfügung stehenden zumutbaren Maßnahmen ergriffen hat, um den Betrug zu verhindern.126 Der EuGH hat in diesem Zusammenhang ausgesprochen, dass derjenige, der von der Hinterziehung oder dem Betrug wusste oder wissen musste, den Urhebern der Hinterziehung zur Hand geht und sich daher ihrer mitschuldig macht.127 Er wird vom EuGH daher als ein an der Hinterziehung Beteiligter qualifiziert, unabhängig davon, ob er aus dem Weiterverkauf der Gegenstände einen Gewinn erzielt.128 Außerdem leistet – so der EuGH – die Mitverantwortung des Wissenden bzw. des Wissen-Müs-

123 EuGH v. 6.7.2006  – C-439/04 und C-440/04  – Kittel und Recolta Recycling, ECLI:EU:C:2006:446, Rz.  55; v. 6.12.2012  – C-285/11  – Bonik, ECLI:EU:C:2012:774, Rz. 37; v. 13.2.2014 – C-18/13 – Maks Pen, ECLI:EU:C:2014:69, Rz. 26; v. 18.12.2014 – C-131/13, C-163/13 und C-164/13 – Italmoda, ECLI:EU:C:2014:2455, Rz. 44. 124 EuGH v. 18.12.2014 – C-131/13, C-163/13 und C-164/13 – Italmoda, ECLI:EU:C:2104:2455, Rz. 46. 125 EuGH v. 6.7.2006  – C-439/04 und C-440/04  – Kittel und Recolta Recycling, ECLI:EU:C:2006:446, Rz. 45, 46, 56 und 60; v. 6.12.2012 – C-285/11 – Bonik, ECLI:EU:​ C:2012:774, Rz.  38  ff.; v. 18.12.2014  – C-131/13, C-163/13 und C-164/13  – Italmoda, ECLI:EU:C:2104:2455, Rz. Rn 50, 64. 126 EuGH v. 6.9.2012  – C-273/11  – Mecsek-Gabona, ECLI:EU:C:2012:547, Rz.  54; v. 14.6.2017 – C-26/16 – Santogal, Rz. 71. 127 EuGH v. 6.7.2006  – C-439/04 und C-440/04  – Kittel und Recolta Recycling, ECLI:EU:​ C:2006:446, Rz. 57. 128 EuGH v. 6.7.2006  – C-439/04 und C-440/04  – Kittel und Recolta Recycling, ECLI:EU:​ C:2006:446, Rz. 56.

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Missbrauch und Vorsteuerabzug

senden einen Beitrag zur Bekämpfung von Hinterziehungen im Umsatzsteuerrecht, weil sie ihre Begehung erschwert.129 Das Wissen oder Wissen-hätte-Müssen muss auf Grund „objektiver Umstände“ feststehen.130 Es obliegt den nationalen Steuerbehörden, sowohl das Vorliegen einer Hinterziehung als auch das Wissen oder Wissen-Hätte-Müssen rechtlich hinreichend nachzuweisen.131 Dabei ist im jeweiligen Einzelfall zu berücksichtigen, welche Maßnahmen im konkreten Fall vernünftigerweise von einem Steuerpflichtigen verlangt werden können, um sicherzustellen, dass er nicht in einen Mehrwertsteuerbetrug oder eine Hinterziehung einbezogen wird.132 Bei der Nachweisführung ist angesichts der massiven Konsequenzen für den nicht unmittelbar beteiligten Steuerpflichtigen höchste Sorgfalt zu üben.133 Die Versagung dieses Rechts auf Vorsteuerabzug ist jedenfalls verboten, wenn ein Steuerpflichtiger von der Einbeziehung eines vor- oder nachgelagerten Umsatzes in eine Steuerhinterziehung nichts wusste und auch nichts wissen hätte müssen.134 Alles andere käme einer unzulässigen Sanktion gleich.135 Ebensowenig darf einem Steuerpflichtigen das Recht auf Vorsteuerabzug versagt werden, der in gutem Glauben gehandelt und alle Maßnahmen ergriffen hat, die vernünftigerweise von ihm verlangt werden können, um sicherzustellen, dass der von ihm getätigte Umsatz nicht zu seiner Beteiligung an einer Steuerhinterziehung führt.136 Letztendlich kommt es darauf 129 EuGH v. 6.7.2006  – C-439/04 und C-440/04  – Kittel und Recolta Recycling, ECLI:EU:​ C:2006:446, Rz. 58. 130 ZB EuGH v. 6.12.2012 – C-285/11 – Bonik, ECLI:EU:C:2012:774, Rz. 40. 131 EuGH v. 6.12.2012  – C-285/11  – Bonik, ECLI:EU:C:2012:774, Rz.  43; v. 13.3.2014  – C-107/13 – FIRIN, ECLI:EU:C:2014:151, Rz. 44. 132 EuGH v. 21.6.2012 – C-80/11 und C-142/11 – Mahagében und Dávid, ECLI:EU:C:212:373, Rz. 59; v. C-33/13 – Jagiello, ECLI:EU:C:2014:184, Rz. 37; v. 22.10.2014 – C-277/14 – PPU Stehcemp, ECLI:EU:C:2014:719, Rz. 51. 133 Dazu ausführlich Gunacker-Slawitsch, The Knowing Participation in VAT Fraud: Some Reflections on the Content and the Limits of a Reasonable Duty of Due Diligence, BT 2017, 649 ff. 134 EuGH v. 12.1.2006 – C-354/03, C-355/03 und C-484/03 – Optigen ua, Slg I-500, Rz. 52 und 55; v. 6.7.2006 – C-439/04 und C-440/04 – Kittel und Recolta Recycling, ECLI:EU:​ C:2006:446, Rz. 45, 46, 60; v. 21.6.2012 – C-80/11 und C-142/11 – Mahagében und Dávid, ECLI:EU:C:212:373, Rz. 47; v. EuGH v. 6.12.2012 – C-285/11 – Bonik, ECLI:EU:C:2012:774, Rz.  41; v. 13.3.2014  – C-107/13  – FIRIN, ECLI:EU:C:2014:151, Rz.  40; v. 31.1.2013  – C-643/11 – LVK-56 EOOD, ECLI:EU:C:2013:55, Rz. 60. 135 EuGH v. 12.1.2006 – C-354/03, C-355/03 und C-484/03 – Optigen ua, Slg I-500, Rz. 52 und 55; v. 6.7.2006 – C-439/04 und C-440/04 – Kittel und Recolta Recycling, ECLI:EU:​ C:2006:446, Rz. 45, 46, 60; v. 21.6.2012 – C-80/11 und C-142/11 – Mahagében und Dávid, ECLI:EU:C:212:373, Rz. 47; v. 6.12.2012 – C-285/11 – Bonik, ECLI:EU:C:2012:774, Rz. 41. 136 EuGH v. 11.5.2006 – C-384/04 – Federation of Technological Industries, Slg I-4191, Rz. 33; v. 6.7.2006 – C-439/04 und C-440/04 – Kittel und Recolta Recycling, ECLI:EU:C:2006:446, Rz.  51; v. 27.9.2007  – C-409/04  – Teleos ua, ECLI:EU:C:2007:548, Rz.  68; v. 6.9.2012  – C-273/11  – Mecsek-Gabona, ECLI:EU:C:2012:547, Rz.  47 bis 50 und 55; v. 6.9.2012  – C-324/11 – Gabor Tóth, ECLI:EU:C:2012:549, Rz. 42; v. 14.6.2017 – C-26/16 – Santogal, Rz. 71; v. 18.5.2017 – C-624/15 – Litdana, ECLI:EU:C:2017:389, Rz. 36.

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an, welche Nachforschungen von einem verständigen Wirtschaftsteilnehmer vor dem Hintergrund der Umstände des Einzelfalles erwartet werden können. So kann ein Unternehmer bei Vorliegen von Anhaltspunkten für Unregelmäßigkeiten oder Steuerhinterziehung nach den Umständen des konkreten Falles verpflichtet sein, über einen anderen Wirtschaftsteilnehmer, von dem er Leistungen oder Gegenstände erwerben will, Auskünfte einzuholen, um sich von dessen Zuverlässigkeit zu überzeugen.137 Einem solchen Wirtschaftsteilnehmer können aber nicht jene Verpflichtungen auf­ erlegt werden, die von der Abgabenbehörde selbst zu erfüllen sind. Es ist nämlich grundsätzlich Sache der Abgabenbehörden, bei den Wirtschaftsteilnehmern die erforderlichen Kontrollen vorzunehmen, um Unregelmäßigkeiten und Steuerhinterziehungen aufzudecken und entsprechende Sanktionen zu verhängen.138 c) Wer von einem Missbrauch wusste oder wissen hätte müssen? Nicht abschließend geklärt scheint zu sein, ob die Judikatur zur Versagung des Rechts auf Vorsteuerabzug auch gegenüber demjenigen zur Anwendung gelangt, der wusste oder wissen hätte müssen, dass ein vor- oder ein nachgelagerter Umsatz Teil einer missbräuchlichen Gestaltung war, wenn es sich dabei nicht um einen Betrug handelt. Sämtliche Urteile, in denen der EuGH zur Frage der Einbeziehung eines anderen als des unmittelbaren „Täters“ in die Versagung des Rechts auf Vorsteuerabzug oder eines anderen aus der MwStSystRL entspringenden Rechts entschieden hat, haben sich auf Fälle des Betruges oder der Hinterziehung bezogen. In keinem dieser Fälle hat der EuGH hinsichtlich der Einbeziehung des Dritten eine Gleichstellung von Betrug, Hinterziehung und Missbrauch vorgenommen. Er hat in diesem Zusammenhang vielmehr nur die Hinterziehung bzw. den Betrug ausdrücklich erwähnt.139 Im Urteil in der Rs. Mahagében und Dávid hat der EuGH jedoch „Unregelmäßigkeiten“ und „Steuerhinterziehungen“ nebeneinander gestellt und in beiden Fällen auf den verständigen Wirtschaftsteilnehmer abgestellt, der unter bestimmten Umständen zur Einholung von Erkundigungen verpflichtet sein muss, um nicht Gefahr zu laufen, wegen der Beteiligung eines vor- oder nachgelagerten Umsatzes an einer „Unregelmäßigkeit“ oder einem „Betrug“ vom Vorsteuerabzug ausgeschlossen zu werden.140 Nun 137 EuGH v. 21.6.2012 – C-80/11 und C-142/11 – Mahagében und Dávid, ECLI:EU:C:212:373, Rz. 60; v. 18.5.2017 – C-624/15 – Litdana, ECLI:EU:C:2017:389, Rz. 39. 138 EuGH v. 21.6.2012 – C-80/11 und C-142/11 – Mahagében und Dávid, ECLI:EU:C:212:373, Rz. 61; v. 6.9.2012 – C-324/11 – Gabor Tóth, ECLI:EU:C:2012:549, Rz. 42; v. 18.5.2017 – C-624/15 – Litdana, ECLI:EU:C:2017:389, Rz. 41. 139 EuGH v. 6.7.2006  – C-439/04 und C-440/04  – Kittel und Recolta Recycling, ECLI:EU:​ C:2006:446, Rz. 52; v. 12.1.2006 – C-354/03, C-355/03 und C-484/03 – Optigen ua, Slg I-500, Rz. 45, 46, 60; v. 21.6.2012 – C-80/11 und C-142/11 – Mahagében und Dávid, ECLI:​ EU:C:212:373, Rz. 47; v. 6.12.2012 – C-285/11 – Bonik, ECLI:EU:C:2012:774, Rz. 41; v. 13.3.2014 – C-107/13 – FIRIN, ECLI:EU:C:2014:151, Rz. 40; v. 31.1.2013 – C-643/11 – LVK-56 EOOD, ECLI:EU:C:2013:55, Rz. 60; v. 6.9.2012 – C-324/11 – Gabor Tóth, ECLI:​ EU:C:2012:549, Rz. 38f. 140 EuGH v. 21.6.2012 – C-80/11 und C-142/11 – Mahagében und Dávid, ECLI:EU:C:212:373, Rz. 60.

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könnten „Unregelmäßigkeiten“ Fälle sein, in denen ein Missbrauch vorliegt. Tatsache ist jedoch, dass der EuGH in allen anderen Fällen und vor allem in jenen Passagen, in denen er konkret die Verantwortung des nicht unmittelbar Beteiligten hervorhebt, nur auf die Hinterziehung und/ oder den Betrug abstellt. Hinzu kommt, dass das Vorliegen einer missbräuchlichen Gestaltung durch eine nicht unmittelbar in die Gestaltung eingebundene Person, die nicht Beitragstäterin im strafrechtlichen Sinn zu einem betrügerischen Missbrauch ist, kaum erkennbar sein wird. Ein Wissen oder Wissen-Hätte-Müssen wäre in diesem Fall gar nicht möglich. Sollte der Nachweis des Wissens oder Wissen-Hätte-Müssens doch gelingen, wäre die Einbindung bei Missbrauch m.E. dennoch nicht sachgerecht: Die vom EuGH an missbräuchliche Gestaltungen geknüpften Rechtsfolgen würden bei Übertragung auf denjenigen, der nicht unmittelbar in den Missbrauch eingebunden war, aber davon wusste oder wissen hätte müssen, zu Wertungswidersprüchen führen. Im Fall einer missbräuchlichen Gestaltung muss es  – wie eingehend dargelegt wurde  – zu einer Umqualifzierung des Sachverhaltes kommen, was die Besteuerung eines anderen Sachverhaltes als des zivilrechtlich realisierten zur Folge hat. Wie der EuGH in mehreren Entscheidungen festgehalten hat, muss sich die Sachverhaltsfiktion im Rahmen des absolut Erforderlichen bewegen und müssen etwaige Vorsteuerabzüge, die unter Zugrundelegung des fiktiven Sachverhaltes zugestanden wären, berücksichtigt werden. Anders bleibt im Fall betrügerischen Verhaltens der tatsächlich verwirklichte Sachverhalt bestehen. Es geht „nur“ der Vorsteuerabzug verloren. Bei der betragsmäßigen Festsetzung des Umsatzsteuerverkürzungsbetrages darf sogar im Hinterziehungsfall die Vorsteuer, die bei rechtmäßigem Vorgehen zugestanden hätte, nicht in Abzug gebracht werden.141 Im Fall des Missbrauches ist der Entfall des Steuervorteils (Vorsteuerabzug, Steuerbefreiung, Steuererstattung oder Differenzbesteuerung) die Folge der Umqualifizierung, weil nämlich die missbräuchliche Gestaltung genau zu dem Zweck vorgenommen wurde, diesen Vorteil zu erreichen. Bei Betrug oder Hinterziehung ergibt sich der Verlust des Vorsteuerabzuges hingegen gerade nicht aus dem der Besteuerung zugrunde gelegten Sachverhalt selbst, sondern ist eine Folge, die sich aus dem übergeordneten unionsrechtlichen Grundsatz ergibt. Damit sind die Rechtsfolgen einer Hinterziehung oder eines Betruges für den unmittelbaren Hinterzieher oder Betrüger bereits aus umsatzsteuerrechtlicher Sicht völlig andere als für denjenigen, der sich „bloß“ einer missbräuchlichen Praktik bedient.142 141 EuGH v. 28.7.2016 – C-332/15 – Astone, ECLI:EU:C:2016:614. 142 Da der Verlust des Vorsteuerabzuges die Folge der Sachverhaltsfiktion ist und nicht bei gleichbleibender umsatzsteuerrechtlicher Beurteilung des Sachverhalts eintritt, stellen sich auch die im Schrifttum bisweilen geäußerten Fragen nicht, ob es sich bei dieser Rechtsfolge nicht doch um eine unzulässige Sanktion handelt (s. Hummel, Umgang mit „betrugsbehafteten“ Umsätzen im Umsatzsteuerrecht, UR 2014, 256 (263 f.); Reiß, Steuerstrafrechtliche und (umsatz-)steuerrechtliche Aspekte bei grenzüberschreitenden Warenlieferungen in der Union, in Festgabe Heinrich List zum 100. Geburtstag (2015) 148

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Würde im Fall eines Missbrauches auch demjenigen, der nicht unmittelbar an dem Missbrauch beteiligt war, der Vorsteuerabzug versagt, würde er womöglich schlechter gestellt als derjenige, der den Missbrauch unmittelbar begangen hat: Sein Verhalten wäre selbst nämlich nicht missbräuchlich und müsste daher nach Maßgabe des tatsächlich verwirklichten Sachverhaltes der Umsatzsteuer unterworfen werden,143 der Vorsteuerabzug ginge aber verloren. Für denjenigen, der den Missbrauch unmittelbar begeht, käme es zu einer Umqualifikation mit der Folge, dass er – im Fall eines missbräuchlichen Gestaltung mit dem Ziel der Erlangung eines ungerechtfertigten Vorsteuerabzuges – der Vorsteuerabzug versagt, aber der steuerbare und steuerpflichtige Ausgangsumsatz wohl auch anders angenommen würde. Wenn der EuGH in der Rs. Cussens darauf hinweist, dass sich die Aussagen des Urteils in der Rs. Italmoda nicht auf Betrugsfälle beschränken, sondern auch für Missbrauchsfälle gelten,144 so bezieht sich diese Feststellung m.E. nur auf die in diesem Zusammenhang beantwortete Vorlagefrage. Diese betraf die Frage, ob die vom EuGH für missbräuchliche Praktiken und Betrugsfälle statuierten Rechtsfolgen auch dann umzusetzen sind, wenn das entsprechende nationale Recht derartige Rechtsfolgen nicht vorsieht. Da das Urteil in der Rs. Cussens ausschließlich Gestaltungen betraf, die vom nationalen Gericht als missbräuchlich qualifiziert wurden, hat der EuGH die nicht unmittelbar Beteiligten nicht berücksichtigt. Diesbezüglich können ihm daher auch keine Aussagen unterstellt werden. Im Ergebnis kann es somit eine Beteiligung am Missbrauch in Form eines Wissens oder Wissen-hätte-Müssens ohne einen unmittelbaren Beitrag zum Missbrauch selbst (der dann die eigenständige unmittelbare Übung einer missbräuchlichen Praxis bedeuten würde) nicht geben. 5. Nachweis von Missbrauch Das Missbrauchsverbot gelangt angesichts seiner Einordnung als allgemeiner Rechtsgrundsatz unabhängig von einer mitgliedstaatlichen Umsetzung zur Anwendung.145 Hinsichtlich der Verfahrensmodalitäten gilt folgendes: Für die Versagung eines Rechts aus der MwStSystRL haben die nationalen Behörden im Einzelfall146 hinreichend (174  ff.); Drüen, Zur Konkurrenz gesetzlicher und richterrechtlicher Instrumente im Kampf gegen Umsatzsteuer-Karusselle, MwStR 2015, 841 (853f, 855). 143 Es gilt nämlich: Jeder Umsatz ist für sich zu betrachten. Vorausgehende oder nachfolgende Ereignisse ändern nichts am Charakter eines bestimmten Umsatzes in der Leistungskette (EuGH v. 12.1.2006 – C-354/03, C-355/00 imd C-484/03 – Optigen ua, Slg I-500, Rz. 47). Siehe auch EuGH v. 22.11.2017  – C-251/16  – Cussens, ECLI:EU:C:2017:881, Rz.  56; v. 22.12.2010  – C-103/09  – Weald Leasing, ECLI:EU:C:2010:804, Rz.  10 bis 15 und 31; v. 17.12.2015 – C-419/14 – WebMindLicenses, ECLI:EU:C:2015:832, Rz. 20 und Rz. 43 bis 45. 144 EuGH v. 22.11.2017 – C-251/16 – Cussens, ECLI:EU:C:2017:881, Rz. 34. 145 EuGH v. 22.11.2017 – C-251/16 – Cussens, ECLI:EU:C:2017:881, Rz. 36. 146 S.  auch EuGH v. 20.12.2017  – C-504/16 und C-613/16  – Deister Holding, ECLI:EU:​ C:2017:1009, Rz.  62 (zu den direkten Steuern); v. 13.3.2014  – C-155/13  – SICES,

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nachzuweisen, dass die objektiven Umstände, die einen Missbrauch oder einen Betrug begründen, vorliegen. Den nationalen Gerichten obliegt es, anschließend zu prüfen, ob die Steuerbehörden das Vorliegen solcher objektiven Umstände nachgewiesen haben.147 Die Beurteilung, ob die Tatbestandsvoraussetzungen eines missbräuchlichen Verhaltens erfüllt sind, obliegt dem nationalen Gericht nach den Beweisregeln des nationalen Rechts – soweit dadurch nicht die Wirksamkeit des Unionsrechts beeinträchtigt wird.148 In Ermangelung einer einschlägigen Vorschrift des Unionsrechts ist die Durchführung und Bekämpfung von Mehrwertsteuermissbrauch und -betrug nach dem Grundsatz der Verfahrensautonomie Sache der innerstaatlichen Rechtsordnung der Mitgliedstaaten. Sie haben etwa die für die Bekämpfung von Mehrwertsteuerbetrug und -missbrauch zuständigen Behörden zu bestimmen und die Modalitäten und Verfahren zu regeln, die den Schutz der dem Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte gewährleisten sollen. Dabei müssen die Mitgliedstaaten das unionsrechtliche Treuegebot (Art 4 Abs. 3 EUV) in der Form des Äquivalenz- und des Effektivitätsgebots sowie die Grundrechte der Europäischen Union149 und die allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts150 beachten.151 Hinsichtlich der (national zu bestimmenden) Anforderungen an den Nachweis einer missbräuchlichen oder betrügerischen Praxis, die zur Versagung des Vorsteuerabzuges führt, ist zu berücksichtigen, dass das Recht auf Vorsteuerabzug ein Grundprinzip und die Versagung desselben eine Ausnahme davon darstellen.152 Soweit der EuGH in seiner Rechtsprechung bestimmte Verfahrensmodalitäten festgelegt hat, sind sie von den Mitgliedstaaten zu berücksichtigen.153 Dabei müssen die Mitgliedstaaten den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachten.154 MitgliedstaatliECLI:EU:C:2014:145, Rz. 34; v. 27.10.2011 – C-504/10 – Tanoarch, ECLI:EU:C:2011:707, Rz. 53. 147 EuGH v. 13.2.2014  – C-18/13  – Maks Pen, ECLI:EU:C:2014:69, Rz.  29; v. 28.7.2016  – C-332/15 – Astone, ECLI:EU:C:2016:614, Rz. 52. 148 EuGH v. 21.2.2006 – C-255/02 – Halifax, Slg I-1609, Rz. 76, unter Verweis auf EuGH v. 21.7.2005  – C-515/03  – Eichsfelder Schlachtbetrieb, Slg I-7355, Rz.  40; v. 21.2.2008  – C-425/06 – Part Service, ECLI:EU:C:2008:108, Rz. 54 ff.; v. 17.12.2015 – C-419/14 – WebMindLicenses, ECLI:EU:C:2015:832, Rz. 34. 149 EuGH v. 26.2.2913 – C-617/10 – Akerberg Fransson, ECLI:EU:C:2013:280. 150 EuGH v. 17.7.2014 – C-272/13 – Equoland, ECLI:EU:C:2014:2091, Rz. 27; v. 19.6.2012 – C-263/11 – Redlhis, ECLI:EU:C:2012:497, Rz. 44. 151 EuGH v. 12.2.2015  – C-662/13  – Surgicare, ECLI:EU:C:2015:89, Rz.  26; v. 11.7.2002  – C-62/00 – Marks & Spencer, ECLI:EU:C:2002:435, Rz. 34; v. 3.9.2009 – C-2/08 – Fallimento Olimpiclub, ECLI:EU:C:2009:506, Rz. 24; v. 21.1.2010 – C-472/08 – Alstom Power Hydro, ECLI:EU:C:2010:32, Rz.  17; v. 26.1.2012  – C-218/10  – ADV Allround, ECLI:EU:​ C:2012:35, Rz. 53. 152 EuGH v. 28.7.2016 – C-332/15 – Astone, ECLI:EU:C:2016:614, Rz. 52. 153 EuGH v. 21.2.2006  – C-255/02  – Halifax, Slg I-1609, Rz.  87, 90 und 91; v. 13.2.2014  – C-18/13 – Maks Pen, ECLI:EU:C:2014:69, Rz. 49/2; v. 12.2.2015 – C-662/13 – Surgicare, ECLI:EU:C:2015:89; EuGH v. 22.11.2017  – C-251/16  – Cussens, ECLI:EU:C:2017:881, Rz. 36. 154 EuGH v. 21.2.2006 – C-255/02 – Halifax, Slg I-1609, Rz. 92.

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che Maßnahmen zur Verhinderung von Steuerhinterziehungen dürfen nicht so eingesetzt werden, dass sie die Neutralität der Mehrwertsteuer in Frage stellen.155 Die Feststellung einer missbräuchlichen Praxis darf ferner nicht zu einer Sanktion führen. Eine solche bedürfte nämlich einer klaren und unzweideutigen Rechtsgrundlage. Die Versagung des Rechts auf Vorsteuerabzug ist nach der Rspr. des EuGH jedoch nicht als Sanktion zu werten, weil sie „schlichte Folge dessen ist, dass die insoweit nach den einschlägigen Bestimmungen der Richtlinie vorgeschriebenen Voraussetzungen nicht erfüllt sind.“156 Für Fälle des Missbrauches ist diese Aussage jedenfalls nachvollziehbar, wenn derjenige, der vom Missbrauch wusste oder wissen hätte müssen – so der Nachweis überhaupt gelingt – nicht mit dem Verlust des Rechts auf Vorsteuerabzug rechnen muss. In den Fällen des Missbrauchs geht das Recht auf Vorsteuerabzug nämlich tatsächlich als Folge der Umqualifikation des Sachverhalts verloren, ohne dass der tatsächlich verwirklichte Sachverhalt weiter der Umsatzsteuer unterworfen wird. Der EuGH spricht in der Rs. Halifax abwechselnd von Missbräuchen und Hinterziehung. Der Fall erging zu einer missbräuchlichen Praxis und betraf Steuerpflichtige, die diese unmittelbar geübt hatten. Angesichts des Umstandes, dass eine missbräuchliche Praxis eine Steuerhinterziehung sein kann und dass die Übergänge zwischen nicht strafrechtlich relevanter missbräuchlicher Praxis und einer solchen, die strafrechtlich relevant ist, fließend sind, dürften seine in diesem Zusammenhang getroffenen Aussagen sowohl für die Fälle des Missbrauchs als auch für jene der Hinterziehung gelten. Nach der Rspr. des EuGH müssen die (nationalen) Anforderungen an den Steuerpflichtigen das auch für Rechtsakte der Union in der Union geltende Bestimmtheitsgebot respektieren. Die Anwendung der aus dem Unionsrecht erwachsenden Grundsätze muss für die Betroffenen grundsätzlich vorhersehbar sein.157 Dieses Gebot der Rechtssicherheit gilt nach der Rspr. des EuGH in besonderem Maße, wenn es sich um eine Regelung handelt, die sich finanziell belastend auswirken kann. Die Betroffenen müssen in der Lage sein, den Umfang der ihnen auferlegten Verpflichtungen genau zu erkennen.158 Wer aber die Voraussetzungen für die Gewährung eines Rechts missbräuchlich oder betrügerisch geschaffen hat, kann sich nicht auf die Grundsätze des Vertrauensschutzes und der Rechtssicherheit berufen, um sich gegen die Versagung des betreffenden Rechts in Anwendung des Grundsatzes des Verbots missbräuchlicher Praktiken zu wenden.159 Daher bedarf es aus unionsrechtlicher Sicht auch keiner Rechtsgrundlage im nationalen Recht, um das Recht auf Vorsteuerabzug zu versagen. 155 EuGH v. 21.2.2006 – C-255/02 – Halifax, Slg I-1609, Rz. 92. 156 EuGH v. 18.12.2014 – C-131/13, C-163/13 und C-164/13 – Italmoda, ECLI:EU:C:2104:​ 2455, Rz. 61. 157 EuGH v. 22.11.2001 – C-301/97 – Niederlande/Rat, Slg 2001, I-8853, Rz. 43; v. 21.2.2006 – C-255/02 – Halifax, Slg I-1609, Rz. 72. 158 EuGH v. 15.12.1987  – C-326/85  – Niederlande/Kommission, Slg 1987, 5091, Rz.  24; v. 29.4.2004 – C-17/01 – Sudholz, Slg 2004, I-4243, Rz. 34; v. 21.2.2006 – C-255/02 – Halifax, Slg I-1609, Rz. 72. 159 EuGH v. 8.6.2000  – C-400/98  – Breitsohl, ECLI:EU:C:2000:304, Rz.  38; v. 21.2.2006  – C-255/02  – Halifax, Slg I-1609, Rz.  84; v. 18.12.2014  – C-131/13 ua  – Italmoda,

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Missbrauch und Vorsteuerabzug

6. Sanktionen Das Mehrwertsteuerrecht sieht weder für Fälle des Missbrauchs noch für jene der Hinterziehung Sanktionen vor. Aus dem unionsrechtlichen Treuegebot (Art. 4 Abs. 3 EUV) ergibt sich jedoch die Pflicht der Mitgliedstaaten Betrug zu bekämpfen.160 Dazu müssen sie sich bei Schädigung der finanziellen Interessen der Europäischen Union abschreckender und wirksamer Maßnahmen bedienen.161 Bei der Wahl der Sanktionen sind die Mitgliedstaaten jedoch frei.162 Sie können jene wählen, die ihnen sachgerecht erscheinen,163 sie müssen jedoch verhältnismäßig sein.164 Für die Frage der Verhältnismäßigkeit einer Sanktion sind unter anderem die Art und die Schwere des Verstoßes und die Methoden für die Bestimmung der Sanktion zu berücksichtigen.165

IV. Fazit Aus der hier skizzierten Rechtsprechung des EuGH lassen sich folgende Grundsätze ableiten: 1. Beim Missbrauchsverbot handelt es sich um einen allgemeinen Rechtsgrundsatz des Unionsrechts, der von den Mitgliedstaaten ungeachtet einer innerstaatlichen Umsetzung zu beachten ist. 2. Die Rechtsfolge einer missbräuchlichen Gestaltung in Umsatzsteuersachen ist die Besteuerung auf Grund eines fingierten Sachverhaltes, nämlich jenes Sachverhaltes, der unter „Wegdenken“ des Missbrauches verwirklicht worden wäre. 3. Bei der Sachverhaltsfiktion haben die Mitgliedstaaten maßvoll vorzugehen, insb. den dem Mehrwertsteuerrecht innewohnenden Neutralitätsgrundsatz zu beachten und darauf zu achten, dass die Konsequenzen der Sachverhaltsfiktion nicht in eine Sanktion münden. 4. Der Verlust des Vorsteuerabzuges ist die Folge der Besteuerung auf Basis der Sachverhaltsfiktion und daher keine Sanktion. ECLI:EU:C:2014:2455, Rz.  60; EuGH v. 22.11.2017  – C-251/16  – Cussens, ECLI:EU:​ C:2017:881, Rz. 43. 160 EuGH v. 8.9.2015  – C-105/14  – Taricco, ECLI:EU:C:2015:555, Rz.  36; v. 26.2.2013  – C-617/10 – Akerberg Fransson, ECLI:EU:C:2013:105, Rz. 25. 161 EuGH v. 8.9.2015  – C-105/14  – Taricco, ECLI:EU:C:2015:555, Rz.  37; v. 5.12.2017  – C-42/17 – M.A.S und M.B., ECLI:EU:C:2017:936, Rz. 30. 162 EuGH v. 8.9.2015  – C-105/14  – Taricco, ECLI:EU:C:2015:555, Rz.  39; v. 5.12.2017  – C-42/17 – M.A.S und M.B., ECLI:EU:C:2017:936, Rz. 33. 163 EuGH v. 17.7.2014 – C-272/13 – Equoland, ECLI:EU:C:2014:2091, Rz. 32; v. 19.6.2012 – C-263/11 – Redhlis, ECLI:EU:C:2012:497, Rz. 44. 164 EuGH v. 17.7.2014 – C-272/13 – Equoland, ECLI:EU:C:2014:2091, Rz. 34; v. 8.5.2008 – C-95/07 und C-96/07 – Ecotrade, ECLI:EU:C:2008:267, Rz. 65 ff.; v. 12.7.2012 – C-284/11 – EMS-Bulgaria Transport, ECLI:EU:C:2012:458, Rz. 67; v. 19.6.2012 – C-263/11 – Redhlis, ECLI:EU:C:2012:497, Rz. 47. 165 EuGH v. 17.7.2014 – C-272/13 – Equoland, ECLI:EU:C:2014:2091, Rz. 35.

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5. Der Verlust des Vorsteuerabzuges trifft nur denjenigen, der unmittelbar die missbräuchliche Gestaltung vorgenommen hat, nicht aber denjenigen, der – ohne einen aktiven Beitrag geleistet zu haben – davon wusste oder wissen musste. 6. Den Nachweis über das Vorliegen einer missbräuchlichen Praxis haben die Mitgliedstaaten selbst zu führen. Dabei gilt der Grundsatz der Verfahrensautonomie. Sie haben nur die aus dem Treuegebot entspringenden Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität sowie die Grundrechte der Europäischen Union und die allgemeinen Rechtsgrundsätze zu beachten. Für Mitgliedstaaten wie Deutschland oder Österreich, die ein allgemeines Missbrauchsverbot in ihren Abgabenordnungen verankert haben (§ 42 AO und § 22 BAO), ergibt sich aus dieser Rechtsprechung der Auftrag zur unionsrechtskonformen Interpretation. Weiterführende Überlegungen dahingehend, ob aus national-verfassungsrechtlicher Sicht eine Sachverhaltsfiktion ohne entsprechende Gesetzesgrundlage zulässig ist, erübrigen sich daher.

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Das deutsche Umsatzsteuerrecht zwischen Steuergestaltung, Missbrauch und Hinterziehung Wie sicher ist die Umsatzsteuer gegen Umgehungen und ­Hinterziehung? Inhaltsübersicht

I. Einführung

II. Systematik und Umfang der Steuer­ ausfälle bei der Umsatzsteuer III. Gestaltung, Missbrauch und Steuerhinterziehung 1. Die Gestaltung von steuerlichen ­Sachverhalten 2. Der Missbrauch 3. Die Steuerhinterziehung 4. Zwischenergebnis

IV. Der Einfluss der EuGH-Recht­ sprechung

V. Gesetzesanpassungen und deren ­Konsequenzen sowie der weitere ­Einfluss der Rechtsprechung

VI. Reformmöglichkeiten und Alter­ nativen der Umsatzsteuer VII. Fazit

I. Einführung Die Beitreibung von Steuern steht seit jeher im Konflikt zu dem Bestreben mancher Steuerpflichtiger zur Vermeidung oder zur Hinterziehung dieser staatlich auferlegten Lasten; das gilt zweifellos auch für die Umsatzsteuer. Die Umsatzsteuer hat allerdings als „allgemeine Verbrauchsteuer2“ den Vorteil, dass ihre Beitreibung im Prinzip einfach ist und sie aus diesem Grund unter bestimmten Voraussetzungen als relativ „aufkommenssicher“ bezeichnet werden kann. Bei ihr bezahlt der Verbraucher, der die Umsatzsteuer letztlich trägt, die Steuer schlicht über den Bruttopreis der erworbenen Leistung; er nimmt u.U. gar nicht wahr, dass der Staat hier 19 oder 7 Prozent einbehält. In Deutschland stellt die Umsatzsteuer nunmehr seit 100 Jahren eine der wichtigsten Quellen der Staatseinnahmen dar3 und mittlerweile haben die meisten Staa1 Der Beitrag stellt die persönliche Auffassung des Verfassers dar und ist nicht im dienstlichen Auftrag erstellt. 2 Vgl. dazu im Überblick etwa Klenk in Sölch/Ringleb, Kommentar zum UStG, 81. Lfg. Okt. 2017, vor § 1 Rz. 9 und Stadie, Kommentar zum UStG, 3. Aufl. 2015, Vorbem., Rz. 15 ff. jeweils m.w.N. 3 So betrugen die Einnahmen aus der Umsatzsteuer im Jahr 2015 209.921 Millionen Euro und waren damit vor der Lohnsteuer mit 178.891 Millionen Euro die ertragreichste Steuer (vgl. etwa Folie 4 unter: http://www.bundesfinanzministerium.de/Content/DE/Publikationen/Ar​ beitsblaetter/2016-10-07-foliensatz-2016-2017.pdf?__blob=publicationFile&v=6). Laut den

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ten der Weltgemeinschaft eine derartige Steuer eingeführt.4 Das Problem besteht allerdings darin, dass auch die Umsatzsteuer wegen Umgehungen und Steuerhinterziehungen nicht vollständig beigetrieben wird. Die wichtigen Fragen aus Sicht des Fiskus sind hier, wie hoch die Steuerausfälle sind und wodurch sie entstehen und die sich daran anschließende (steuerpolitische) Frage lautet: Wie lassen sich Steuerausfälle bei der Umsatzsteuer mit praktikablen Regelungen und möglichst wenig Personaleinsatz wirksam und nachhaltig vermeiden? Das deutsche Umsatzsteuergesetz stellt die nationale Umsetzung des in der Mehrwertsteuer-Systemrichtlinie (MwStSystRL)5 festgelegten unionsrechtlichen Mehrwertsteuerrechts dar. Bei ihrer Ausgestaltung ist der deutsche Gesetzgeber deshalb an ­relativ enge unionsrechtliche Vorgaben gebunden6, der Handlungsspielraum ist also beschränkt. Die wichtige systematische Grundlage – mithin die Festlegung des Systems – der unionsrechtlichen Mehrwertsteuer findet sind in Art. 1 Abs. 2 MwStSyst­ RL: (1) Das gemeinsame Mehrwertsteuersystem beruht auf dem Grundsatz, dass auf Gegenstände und Dienstleistungen, ungeachtet der Zahl der Umsätze, die auf den vor der Besteuerungsstufe liegenden Produktions- und Vertriebsstufen bewirkt wurden, eine allgemeine, zum Preis der Gegenstände und Dienstleistungen genau proportionale Verbrauchsteuer anzuwenden ist. (2) Bei allen Umsätzen wird die Mehrwertsteuer, die nach dem auf den Gegenstand oder die Dienstleistung anwendbaren Steuersatz auf den Preis des Gegenstands oder der Dienstleistung errechnet wird, abzüglich des Mehrwertsteuerbetrags geschuldet, der die verschiedenen Kostenelemente unmittelbar belastet hat. (3) Das gemeinsame Mehrwertsteuersystem wird bis zur Einzelhandelsstufe, diese eingeschlossen, angewandt.

Steuerschätzungen für 2017 sollen Umsatzsteuern in Höhe von 227.550 Millionen Euro erzielt werden (vgl.: http://www.bundesfinanzministerium.de/Content/DE/Standardartikel/ Themen/​Steuern/Steuerschaetzungen_und_Steuereinnahmen/Steuerschaetzung/​2017-​ 05-12-ergeb​nisse-151-sitzung-steuerschaetzung-dl.pdf?__blob=publicationFile&v=2). 4 Vgl. dazu aktuell nur Ruppert/Friedrich-Vache, Indiens neue Umsatzsteuer: Ein erster Überblick über die Goods and Service Tax, UR 2017, 529 in Tz. I und Friedrich-Vache/Sami, Vereinigte Arabische Emirate – Erster Überblick über die Einführung einer Umsatzbesteuerung zum 1.1.2018, UR 2017, 951; vgl. zur internationalen Bedeutung der Umsatzsteuer auch: OECD (2017), International VAT/GST Guidelines, OECD Publishing, Paris. http:// dx.doi.org/10.1787/9789264271401-en. 5 Richtlinie 2006/112/EG des Rates über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (Mehrwertsteuer-Systemrichtlinie) v. 28.11.2006, ABl. EU 2006, Nr. L 347, S. 1 mit nachfolgenden Änderungen. 6 Über die MwStSystRL hinaus ist hier insb. die Durchführungsverordnung (EU) 282/2011 des Rates v. 15.3.2011 zur Festlegung von Durchführungsvorschriften zur Richtlinie 2006/112/EG über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. EU 2011, Nr.  77, S.  1 = MwStDVO; geändert durch die Durchführungsverordnung [EU] Nr. 1042/2013 des Rates v. 7.10.2013, ABl. EU 2013, Nr. L 284, S. 1) zu beachten. Dieser kommt i.Ü. – anders als der MwStSystRL – als „Verordnung“ bindende unmittelbare Wirkung in allen Mitgliedstaaten zu (Art. 288 AEUV).

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Die Umsatzsteuer zwischen Gestaltung, Missbrauch und Hinterziehung

Dieses System einer Allphasen-Netto-Umsatzsteuer mit Vorsteuerabzug7 ist umfassend, fast jeder Unternehmer, Verbraucher sowie auch nichtunternehmerisch tätige Körperschaften sind von der Umsatzsteuer betroffen, wenn denn Leistungen gegen Entgelt erbracht oder in Anspruch genommen werden. Für Unternehmer ist die Umsatzsteuer zwar im Prinzip ein durchlaufender Posten, abgewickelt – also berechnet und bezahlt – muss sie dennoch immer werden. Die Umsatzsteuer ist nun genauso von Gestaltungsversuchen, Missbrauch und Steuerhinterziehung wie andere Steuerarten betroffen. Allerdings bietet sie auf Grund ­ihrer Ausgestaltung als „Allphasen-Steuer mit Vorsteuerabzug“ – welche zudem bei grenzüberschreitenden Umsätzen weitere Besonderheiten vorsieht8  – schon wegen des Vorsteuerabzugs mehr „Angriffspunkte“ als andere Steuern, denn sie kommt bei (fast) jedem Leistungsaustausch zur Anwendung. Wegen vielfältiger (gewichtiger) Hinterziehungshandlungen sind hier in den letzten Jahren erhebliche Anstrengungen zur Verbesserung der gesetzlichen Regelungen getroffen worden, die leider auch dazu geführt haben, dass die Handhabung des Umsatzsteuerrechts deutlich komplizierter geworden ist. Bei allem Verständnis für die Notwendigkeit der Sicherung des Steueraufkommens darf der Gesetzesvollzug aber nicht zu sehr erschwert werden, denn bei der Umsatzsteuer wird der Unternehmer systematisch zum „Steuereintreiber“ des Staates; der Fiskus bedient sich hier Dritter zur Beitreibung einer Steuer, die dafür keine Gegenleistung erhalten. Dem Grunde nach ist die Umsatzsteuer zwar für den Unternehmer wegen des Vorsteuerabzugsrechts neutral, der Käufer (Unternehmer) muss sie aber i.d.R. vorfinanzieren9 und auf der Endstufe  – bei dem Umsatz mit dem Verbraucher – zahlt der Unternehmer die Steuer an die Finanzbehörden. Für all das muss der Unternehmer vielfältige Erklärungspflichten erfüllen10 und er trägt immer ein Risiko, dass eventuelle Fehler – wie z.B. Rechnungsmängel – oder kriminelle Handlungen anderer Personen zu seinen Lasten gehen. Der Aufwand zur Rechtsbefolgung für die Unternehmer ist dementsprechend hoch. Zudem muss bei diesem System der Umsatzsteuer bei den zwischenunternehmerischen Umsätzen ein gigantisches „Nullsummenspiel“11 betrieben werden, bei dem Beträge bis zu dem vierfachen des erzielten

7 Das bis zum Jahr 1967 geltende System einer Allphasen-Umsatzsteuer ohne Vorsteuerabzug ist letztlich deshalb abgeschafft worden, weil es sich wegen der endgültigen Belastung jeder Umsatzstufe als untauglich für eine moderne Volkswirtschaft erwiesen hatte; vgl. dazu anschaulich bereits Zierold-Pritsch, Die Umsatzsteuersysteme, 1952. 8 Die Betrugsanfälligkeit gibt auch die Europäische Kommission mittlerweile unumwunden zu; vgl. dazu nur den „Aktionsplan“ v. 7.4.2016, COM (2016) 148 final (S. 3). 9 Sofern denn keine Umkehrung der Steuerschuldnerschaft nach § 13b UStG zur Anwendung kommt. 10 Vgl. dazu Kemper, Erklärungspflichten des Umsatzsteuergesetzes – Kritische Betrachtung der zunehmenden Pflichten der Unternehmer im deutschen Umsatzsteuerrecht, UR 2015, 373. 11 Diesen Begriff prägte Mittler bereits im Jahr 2001; vgl. Einführung von Vorstufenbefreiungen als Mittel zur Umsatzsteuer-Betrugsbekämpfung, UR 2001, 385 (385).

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Martin Kemper

Steueraufkommens bewegt werden12; das sind bei den in 2016 erzielten 217,1 Mrd. Euro13 weit über 800 Mrd. Euro.14 Bei allen diesen zusätzlichen – für das Steueraufkommen eigentlich irrelevanten – Umsätzen besteht aber gleichfalls das Risiko, dass sie wegen Missbrauch, Steuerhinterziehung oder Zahlungsunfähigkeit nicht realisiert werden können.15 Allein aus diesem Grund ist das Risiko eines Steuerausfalls bei der Umsatzsteuer höher als bei anderen Steuern. Im Folgenden soll nun ein näherer Blick auf den Umfang und die Risiken des Steuerausfalls bei der Umsatzsteuer und den Möglichkeiten ihrer Bekämpfung geworfen werden, was auf Grund der unionsrechtlichen Einbettung des Rechts nicht ohne Berücksichtigung der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) erfolgen kann.

II. Systematik und Umfang der Steuerausfälle bei der Umsatzsteuer Bei der Untersuchung der Systematik und des Umfangs der Steuerausfälle geht es letztlich darum, ob das bestehende System der Umsatzsteuer funktioniert, wieweit Umgehungs-, Missbrauchs- und Hinterziehungsansätze bestehen und ob diese sich beseitigen lassen. Dazu bedarf es zunächst eines Blicks auf die möglichen Ursachen der Steuerausfälle, von denen die Steuerhinterziehung nur ein Aspekt ist. An erster Stelle ist hier die Komplexität des Umsatzsteuerrechts zu nennen, welches auf einer fast schon unüberschaubaren Menge von nationalen und unionsrechtlichen Gesetzesvorschriften sowie Verwaltungsanweisungen beruht16 und dann noch stetigen Änderungen unterworfen ist; die richtige Handhabung des Umsatzsteuerrechts muss schlicht als anspruchsvoll bezeichnet werden.17 Ohne dies hier vertiefen zu können, besteht das Problem darin, dass Zweifelsfragen hinsichtlich der Rechtsanwendung damit fast genauso auf der Hand liegen wie der Umstand, dass Steuerpflichtige und vor allem deren Berater versuchen, bestimmte Fragen zu ihren Gunsten auszulegen. Mitunter führen hier richtige Gestaltungen zu

12 Vgl. zu den Zahlen: Statistisches Bundesamt, Fachserie 14, Reihe 8, Finanzen und Steuern, Umsatzsteuer und auch Ismer, Der Stellenwert der Umsatzsteuer in der Steuerpolitik, M ­ wStR 2017, 687 (687 f.). 13 Monatsbericht des BMF vom Januar 2017, Die Steuereinnahmen des Bundes und der Länder im Haushaltsjahr 2016 unter „Gemeinschaftliche Steuern“. 14 Ismer (Fn. 12) nennt hier eine Zahl von ungefähr 1.000 Mrd. Euro (S. 688). 15 Man kann hier auch von einem „Kaskadeneffekt“ bei der Hinterziehung der Umsatzsteuer sprechen. 16 Allein die amtliche „Umsatzsteuerhandausgabe“ des Jahres 2017/2018 verfügt über 1742 Seiten. 17 Schon ein Blick auf die regelmäßig veröffentlichten Entscheidungen des BFH und des EuGH mit Bezug zur Umsatzsteuer offenbaren eine Vielzahl umsatzsteuerrechtlicher Fragestellungen.

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Die Umsatzsteuer zwischen Gestaltung, Missbrauch und Hinterziehung

echten „Steuergeschenken“18, etwa wenn der ermäßigte und nicht der Regelsteuersatz zur Anwendung kommt, ohne dass der Vorsteuerabzug davon betroffen ist. Eine wichtige Ursache von Steuerausfällen bei der Umsatzsteuer sind Insolvenzen. Auf Grund des geltenden Systems der Versteuerung nach vereinbarten Entgelten können Unternehmer die Vorsteuer aus Eingangsleistungen bereits nach Ausführung der Leistung und Erhalt der Rechnung zum Abzug bringen, auf die Bezahlung der Leistung kommt es nicht an. Tritt dann die Insolvenz ein und ist die Umsatzsteuer unbezahlt geblieben19, kann sich der Fiskus in die Reihe der Insolvenzgläubiger einreihen; was i.d.R. allenfalls zur Bezahlung einer geringen Quote führt; das ist ein echter Steuerausfall. Auch die Steuerhinterziehung führt zu Ausfällen bei der Umsatzsteuer, gerade die häufig anzutreffenden Einnahmeverkürzungen wirken sich zumeist gleich auf mehrere Steuerarten aus. Die Umsatzsteuer bietet allerdings mit dem Vorsteuerabzug einen weiteren kritischen Ansatzpunkt20, vor allem die unberechtigte Geltendmachung von Vorsteuern führt in Einzelfällen zu erheblichen Steuerausfällen.21 Zudem ist hier das oben genannte „Nullsummenspiel“ zu nennen (Tz. 1), bei dem ein Vielfaches an Steuern abgerechnet, verbucht und angemeldet werden muss, als der Betrag, der dem Staat letztlich als Steueraufkommen verbleibt. Des Weiteren ist bei der Umsatzsteuer die Problematik der Steuerbefreiung bei grenzüberschreitenden Leistungen zu nennen, welche sich etwa bei innergemeinschaftlichen Lieferungen, Ausfuhrlieferungen22 und Einfuhren gleichfalls zu Steuerhinterziehungen nutzen lässt. Über das tatsächliche Ausmaß der Steuerausfälle bei der Umsatzsteuer lassen sich nur schwer zuverlässige Aussagen machen, schon weil die Ansätze zur „Vermeidung“ dieser Steuer vielfältig sind und weil über nicht gezahlte oder umgangene Steuern natürlich keine Aufzeichnungen angefertigt werden, die sich statistisch auswerten lassen. Die hier von den Finanzbehörden aufgedeckten Fälle der Steuerhinterziehung23 oder 18 Ein gutes Beispiel dafür ist der ermäßigte Steuersatz bei mitgenommenen Speisen, denn etwa der mitgenommene „Burger“ ist für den Verbraucher keinen Cent billiger als der vor Ort verzehrte; der Unternehmer erhält die 12 Prozent Differenz als echten unternehmerischen Gewinn. Aus fiskalischer Sicht ist das schlicht überflüssig; vgl. dazu anschaulich etwa BFH v. 3.8.2017 – V R 15/17, UR 2017, 787 m. Anm. Korf (Wiesbrezn auf dem Oktoberfest). 19 Der Leistende kann dann die von ihm bereits erklärte und bezahlte Umsatzsteuer wegen Uneinbringlichkeit nach § 17 UStG berichtigen. 20 Reiß sprach hier schon vor vielen Jahren plakativ von der „Achillesverse“; vgl. Vorsteuerabzug – Achillesverse der Mehrwertsteuer?, UR 2002, 561. 21 Der Staat zahlt hierbei i.d.R. bereits vereinnahmte Steuergelder aus, die dann zumeist unwiederbringlich verloren gehen. 22 Noch schwieriger ist die zutreffende Besteuerung grenzüberscheitender sonstiger Leistungen sicherzustellen, denen körperlich nicht greifbare Vorgänge zugrunde liegen; man denke hier nur an die Problematik grenzüberschreitender digitaler Dienstleistungen insb. an Verbraucher. 23 Mit Einführung des Umsatzsteuerbinnenmarktes Anfand der neunziger Jahre traten aber Hinterziehungsfälle – große Umsatzsteuerkarusselle oder missing-trader-Fälle – von solchem Ausmaß zu Tage, dass man in der Tat um die Erosion der Steuerbasis bangen musste.

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Umgehung zeigen nur diejenigen Handlungen, die bekannt geworden sind, diese haben oft gewichtige Steuerausfälle zur Folge; statistische Werte lassen sich daraus aber nicht ablesen. Wie groß das Problem der Steuerausfälle durch Steuerhinterziehungen und andere Ausfallrisiken ist, lässt sich aber ansatzweise aus dem regelmäßig im Auftrag der Europäischen Union ermittelten „VAT-Gap“24 ersehen, auf deutsch spricht man von der „Mehrwertsteuerlücke“. Hierbei handelt es sich um eine rechnerische Größe, in der die tatsächlich erzielten Steuereinnahmen der Umsatzsteuer eines Mitgliedstaats in ein Verhältnis zu den in dem jeweiligen Mitgliedstaat auf Grund von bestimmten Berechnungen theoretisch erzielbaren Einnahmen gestellt werden. Ohne dass hier methodisch vertiefen zu können, sei nur festgehalten, dass darin nicht nur die Steuerausfälle durch Hinterziehung erfasst sind25 und, dass es (natürlich) auch darauf ankommt, wie zuverlässig die Zahlen der einzelnen Mitgliedstaaten ermittelt wurden. Aufschlussreich ist aber in jedem Fall die Entwicklung in den einzelnen Staaten über die Jahre hinweg und sehr interessant ist der Unterschied zwischen einzelnen Staaten.26 So betrug das „VAT Gap“ für Deutschland in 2013 10,9 % (das sind 24,1 Mrd. Euro) und in 2014 10,37 % (das sind 23,48 Mrd. Euro). Diese Beträge sind in der Tat beachtlich und bei ihrer Realisierung könnte wohl manche andere Steuerart schlicht gestrichen werden. Mit seiner Quote liegt Deutschland allerdings immerhin im „­guten Mittelfeld“. Neben Musterschülern wie Luxemburg (3,8 %) und Schweden (1,24 %) hat z.B. Italien eine Quote von 27,55 % (Griechenland: 27,99 %)27 und der schlechteste Wert findet sich mit 37,89 % für Rumänien.28 Das durchschnittliche VAT Gap für die gesamte EU betrug in 2014 14,06 %, was dann insgesamt die (noch beachtlichere) Summe von über 158 Mrd. Euro ergibt. Das ist deutlich mehr als z.B. die gesamten Einnahmen aus der Umsatzsteuer eines so großen Mitgliedstaates wie Frankreich (148 Mrd. Euro). Ob das Umsatzsteueraufkommen in Deutschland aber tatsächlich um über 10 Prozent zu niedrig ausfällt, kann dahingestellt bleiben, denn selbst, wenn es nur 5 Prozent sind, stellt das jährlich einen Betrag von über 10 Mrd. Euro dar. Schon insoweit besteht auch in Deutschland durchaus Anlass dazu, die Steuerausfälle soweit möglich zu minimieren.

III. Gestaltung, Missbrauch und Steuerhinterziehung Am Beginn der weiteren Betrachtung soll ein Blick auf die verschiedenen Lebenssachverhalte stehen, welche zur „Gefährdung“ des Umsatzsteueraufkommens führen können. Die Ansatzpunkte für Steuerausfälle sind im Wesentlichen: 24 Vgl. zur Erläuterung etwa: „http://europa.eu/rapid/press-release_MEMO-15-5593_de.htm“. 25 Hierunter fallen wohl auch die (durchaus gewichtigen Steuerausfälle) durch Insolvenzen. 26 Vgl. dazu: Study and Reports on the VAT Gap in the EU-28 Member States: 2016 Final Report, TAXUT/2015/CC/131. 27 Wobei sich der Wert für Griechenland gegenüber dem Jahr 2013 um 5,52 % verbessert hat. 28 Sämtliche Zahlen für 2014.

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ȤȤ Die Höhe der steuerpflichtigen Umsätze (einschließlich der Anwendbarkeit von Sonderregelungen, wie etwa der Eigenverbrauch), ȤȤ das Vorliegen steuerfreier Umsätze (einschließlich der Steuerfreiheit von Ausfuhr­ umsätzen und innergemeinschaftlichen Lieferungen), ȤȤ die Anwendung des ermäßigten Steuersatzes und ȤȤ die Höhe des Vorsteuerabzugs (einschließlich des Eigenverbrauchs). Wenn man bei der Umsatzsteuer von Gestaltung, Missbrauch und Hinterziehung spricht, dann darf dabei nicht übersehen werden, dass hier unterschiedliche, schwer vereinbare Verfahren sozusagen „in einen Topf “ geworfen werden. Die Steuerhin­ terziehung  – sei es fahrlässig oder vorsätzlich  – ist als Straftat dem Strafverfahren zuzuordnen, für welches verfahrensrechtlich ganz andere Regeln als im Besteuerungsverfahren gelten.29 Gestaltungen und Missbräuche sind dagegen dem Besteuerungsverfahren zuzuordnen und unterliegen deshalb den Regeln dieses Verwaltungsverfahrens. In der Praxis sind die Grenzen zwischen den Begehungsformen allerdings oft fließend und das jeweils anzuwendende Verfahren hängt ganz entscheidend vom festgestellten Sachverhalt ab – dazu später mehr. Zunächst einmal zur Eingrenzung der Begrifflichkeiten: 1. Die Gestaltung von steuerlichen Sachverhalten Bei einer Gestaltung im Steuerrecht geht es darum, dass Sachverhalte (wahrheitsgemäß) so gestaltet werden, dass daraus die günstigsten steuerrechtlichen Folgen für den Unternehmer eintreten, das ist der klassische Arbeitsbereich der steuerlichen Beratung. Veranschaulicht sei die Gestaltung an einem Beispiel mit erheblichen steuerlichen Auswirkungen, dem allerdings ab dem Jahr 2015 die Grundlage entzogen wurde: Die D-AG veräußert im Jahr 2013 Bücher in digitaler Form und Software über das Internet vorwiegend an deutsche Nichtunternehmer. Sie erbringt diese Leistungen von ihrem Unternehmenssitz in Luxemburg. Unterstellt man die Anwendung des Regelsteuersatzes dann „spart“ D hier schon deshalb drei Prozent Umsatzsteuer, weil in Luxemburg mit 16 % ein niedriger Steuersatz zur Anwendung kommt als in Deutschland (19 %); Leistungsort war dabei nach dem alten § 3a UStG Luxemburg.30 Lässt Luxemburg hier dann noch die Anwendung des ermäßigten Steuersatzes zu, dann vervielfacht sich dieser Effekt; es handelt sich also aus Sicht des Unternehmers um eine gelungene Gestaltung, die er u.U. auch zu Preisnachlässen einsetzen kann.31

Die Liste der Beispiele für Gestaltungen ließe sich beliebig fortsetzen – man denke nur an die komplizierten Sachverhalte im Zusammenhang mit der Organschaft oder der Aufteilung von Vorsteuerbeträgen bei „gemischten Eingangsumsätzen“ -, dies ist 29 Diese sind insbesondere in der Strafprozessordnung (StPO) niedergelegt. 30 Vgl. § 3a Abs. 5 UStG der bis zum 31.12.201 geltenden Gesetzesfassung, vgl. dazu Kemper in Schwarz/Widmann/Radeisen, Kommentar zum UStG, 179. Lfg. 3/2015, § 3a Rz. 455 ff. 31 Angemerkt sei dazu noch, dass diese Lösung schon deshalb für den deutschen Fiskus nachteilig war, weil er wegen der Steuerbarkeit in Luxemburg überhaupt kein Aufkommen aus diesen Umsätzen erhielt, obwohl deutsche Verbraucher einkauften.

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aber zum Verständnis des Problems nicht notwendig. Gemein ist allen umsatzsteuerlichen „Gestaltungen“, dass umsatzsteuerrechtliche Besonderheiten oder grenzüberschreitende Unterschiede in den Regelungen der Mitgliedstaaten gezielt durch eine „Gestaltung“ von Sachverhalten ausgenutzt werden. Der im Beispiel genannten Gestaltung konnte erst durch eine Änderung der MwStSystRL32 Einhalt geboten werden; der Leistungsort derartiger digitaler Dienstleistungen an Verbraucher ist heute (richtigerweise) in Deutschland. Gestaltungen lassen sich also durch gute und unmissverständliche Gesetze sowie durch deren konsequente Durchsetzung weitgehend vermeiden. Bei der Umsatz­ steuer scheitert das aber zum Teil an den Rechtsgrundlagen, welche kompliziert und umfangreich sind. Auch die konsequente Durchsetzung ist wohl schwierig, dazu ­bedarf es vor allem ausreichendem und gut geschultem Personal auf Seiten der Finanzverwaltung. In Anbetracht von unzählbaren Geschäftsvorfällen, die tagtäglich in Deutschland abgewickelt werden und die umsatzsteuerrechtliche Auswirkungen haben, ist es aber ausgeschlossen, dass diese von den Mitarbeitern der Finanzbehörden alle geprüft werden können.33 Mit einem steigenden Personaleinsatz ist hier wohl kaum zu rechnen, die Verwaltung setzt eher auf „compliance“ und elektronische Risikomanagementsysteme; ob das alle „Gestalter“ (und Betrüger) aufhält, kann aber durchaus in Zweifel gezogen werden. Zudem ist anzumerken: Die Anzahl der gut geschulten Berater ist hoch und sie „leben“ natürlich auch davon, steuerliche Möglichkeiten für ihre Mandanten auszuschöpfen. Für die Finanzverwaltung ist nicht nur deshalb gut geschultes eigenes Personal unerlässlich.34 2. Der Missbrauch Missbrauch kann als eine durch (negative) subjektive Elemente gesteigerte Form der Gestaltung bezeichnet werden, hier wird eine Regelung absichtlich „missbraucht“. Wenn man in Deutschland vom „Missbrauch“ im Zusammenhang mit Steuerrecht spricht, dann ist der Begriff des „Rechtsmissbrauchs“ deutlicher. In § 42 AO findet sich eine eigene Regelung, welche inhaltlich die Folgen von „Missbrauch“ regelt, den „Missbrauch von rechtlichen Gestaltungsmöglichkeiten“. Dazu enthält § 42 Abs. 2 AO eine Legaldefinition. Ein Missbrauch im Steuerrecht ist danach durch eine „unangemessene rechtliche Gestaltung“ sowie einen „gesetzlich nicht vorgesehenen Steuervorteil“ geprägt. Durch eine derartige „Gestaltung“ kann kein Steuergesetz umgangen werden.35 Bereits 32 Die Änderungen waren bereits in der Richtlinie 2008/8/EG des Rates v. 12.2.2008 (ABl. EU 2008, Nr. L 44, 11 – sog. Dienstleistungsrichtlinie) vorgegeben, hinsichtlich der elektronischen Dienstleistungen waren die Änderungen aber erst zum 1.1.2015 vorgesehen, was dann in Deutschland durch das KroatienAnpG v. 25.7.2014 (BGBl I 2014, 1266) umgesetzt wurde. 33 Das wäre auch unsinnig, denn der Großteil der Unternehmer verhält sich rechtstreu. 34 Bei der Umsatzsteuer sind hier vor allem die Umsatzsteuer-Sonderprüfungen wichtig, wobei es allerdings auch guter Mitarbeiter in den Voranmeldungsstellen bedarf, denn hier werden die Prüfungen angestoßen und hier gehen vor allem auch die Erstattungsanträge ein. 35 Vgl. § 42 Abs. 1 S. 1 AO.

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aus dieser Wortwahl ist aber unschwer zu erkennen, dass damit keine präzise Definition gelungen ist36, denn eine „Unangemessenheit“ lässt sich nur im Einzelfall bei genauer Sachverhaltskenntnis unter Berücksichtigung des vermeintlich umgangenen Steuergesetzes ableiten.37 Gemein ist dem Missbrauch und der Gestaltung von ihrer Systematik, dass der Finanzbehörde gegenüber keine unrichtigen oder unvollständigen Angaben gemacht werden.38 Liegen solche vor, dann ist i.d.R. die Stufe zur Steuerhinterziehung überschritten. Das ist immer eine Sachverhaltsfrage, die Grenzen können hier durchaus fließend sein. Die zutreffende rechtliche Würdigung eines Missbrauchs durch die Finanzbehörde ist dabei in der Regel aufwendig, denn hier muss u.U. Jahre nach der Verwirklichung eines Sachverhalts dessen tatsächlicher Inhalt festgestellt werden. Das ist oft kaum möglich; in einem Massenverfahren, wie es das Umsatzsteuerecht ist, kann dies nur in begründeten und gewichtigen Einzelfällen erfolgen. Insoweit spielt der Missbrauch im deutschen Umsatzsteuerrecht keine so große Rolle wie die Steuerhinterziehung39, was auch daran liegt, dass die Schwelle zum Strafverfahren40 in Deutschland leicht überschritten wird, denn hier reicht eine einzige falsche Angabe. Das ist übrigens nicht in allen Mitgliedstaaten gleich, in vielen Staaten stellen Strafverfahren in Steuersachen eher die Ausnahme dar. 3. Die Steuerhinterziehung Die nächste Stufe der Ansätze der Steuerausfälle ist die Hinterziehung, welche in subjektiver Hinsicht in die fahrlässige (§ 378 AO) und die vorsätzliche (§ 370 AO) Steuerhinterziehung zu unterscheiden ist. In der Praxis spielt die fahrlässige Steuerhinterziehung allerdings kaum eine Rolle41, so dass sie hier nicht weiter betrachtet werden soll. Die vorsätzliche Steuerhinterziehung dürfte aber aus fiskalischer Sicht das größte Problem bei der vollständigen Beitreibung der Umsatzsteuer sein. Eine vorsätzliche Steuerhinterziehung liegt nun vor, wenn der objektive Tatbestand des § 370 AO vorsätzlich verwirklicht wird. Danach (Abs. 1) wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft, wer (1.) den Finanzbehörden oder anderen Behörden über steuerlich erhebliche Tatsachen unrichtige oder unvollständi36 I.d.S. auch Ratschow in Klein, Kommentar zur AO, 13. Aufl. 2015, § 42 Rz. 45. 37 Vgl. auch Drüen in Tipke/Kruse, Kommentar zur AO und FGO, 145. Lfg. Juli 2016, Vor § 42 Rz. 15 ff. 38 Hier existiert natürlich ein großer Graubereich hinsichtlich der Frage, was der Finanzbehörde gegenüber im konkreten Fall alles angegeben werden muss. 39 Vgl. zu den Anwendungsfällen Drüen in Tipke/Kruse, 122. Lfg. Jan. 2010, § 42 AO Rz. 87 ff. sowie Schmieszek in Beermann/Gosch, Kommentar zur AO und FGO, 73. Lfg. Febr. 2009, § 42 AO Rz. 174 ff. jeweils m.w.N. 40 Gemeint ist der sog. Anfangsverdacht, der die Einleitung eines Strafverfahrens erfordert. 41 Vgl. dazu z.B. die Zahlen für 2012 im Monatsbericht des BMF vom Oktober 2013 auf S. 32; tatsächlich stellt sie eher einen Auffangtatbestand für solche Sachverhalte dar, in denen ein Vorsatz nicht nachweisbar ist.

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ge Angaben macht oder (2.) die Finanzbehörden pflichtwidrig über steuerlich erhebliche Tatsachen in Unkenntnis lässt und dadurch Steuern verkürzt oder für sich oder einen anderen nicht gerechtfertigte Steuervorteile erlangt. Bei der Umsatzsteuer sind nun (leider) verschiedene Ansätze der Steuerhinterziehung denkbar, was eine Bekämpfung erschwert: (a) Zunächst dürfte die „schlichte“ Einnahmeverkürzung die wohl am häufigsten anzutreffende Variante darstellen, welche etwa so aussehen kann: B betreibt eine gutgehende Gaststätte, von den Bruttoausgangsumsätzen in Höhe von 1 Mil­ lionen Euro in 07 erklärt er nur 75 Prozent in seinen Steuererklärungen, genauso ist er in den Vorjahren verfahren. Einen Teil seines Wareneinkaufs hat er schwarz vorgenommen, damit seine Verkürzungen im Rahmen von Prüfungen des Finanzamts nicht auffallen.

Wird dieses Vorgehen dann über mehrere Jahre hinweg aufgedeckt – etwa im Rahmen einer Steuerfahndungsprüfung –, dann sind die Konsequenzen für die Betroffenen oft existenzvernichtend. Neben den strafrechtlichen Sanktionen werden hohe Steuernachzahlungen mit Verzinsungen fällig, die oft schon bei der Umsatzsteuer sechsstellige Beträge ausmachen können; vielen Unternehmen bleibt dann nur noch der Weg in die Insolvenz. Gesamtwirtschaftlich gesehen besteht das Problem aber nicht in Einzelfällen, sondern in der Menge der Fälle, in denen so gehandelt wird, weil das zu Steuerausfällen in erheblichem Ausmaß führen kann.42 In allen „bargeldintensiven“ Branchen dürfte die Dunkelziffer hier weiter hoch sein.43 (b) Bei der Umsatzsteuer besteht mit Blick auf die Steuerhinterziehung des Weiteren das Problem des unberechtigten Vorsteuerabzugs, dazu folgendes Beispiel: C betreibt seit dem Jahr 01 als Gesellschafter-Geschäftsführer die D-GmbH, deren Geschäftsgegenstand die Entwicklung neuer Software ist. Umsätze tätigt er im Jahr 01 nach seinen ­Angaben nicht, weil sein Unternehmen noch im Aufbau ist. Er macht hier Vorsteuern von 10.000 Euro geltend, die ihm vom Finanzamt auch (als Steuerguthaben44) ausbezahlt wurden. Im Voranmeldungszeitraum des 1. Quartals des Jahres 02 macht die D bei 0 Euro Umsatz Vorsteuern in Höhe von 50.000 Euro geltend. Nach Anforderung durch das Finanzamt legt D u.a. eine inhaltlich ordnungsgemäße Rechnung einer inländischen E-Limited vor, in der diese für Engineering- und Consultingleistungen 250.000 Euro zzgl. 19 % Umsatzsteuer von D begehrt.

Derartige Konstellationen sind in der Praxis immer wieder anzutreffen. Hier gibt es im Prinzip zwei Möglichkeiten: Entweder die Leistung der E ist tatsächlich gegenüber D erbracht worden – auf die Bezahlung kommt es nicht an45 – oder der Sachverhalt 42 Man denke z.B., dass 1.000 Gastwirte in Deutschland ein Jahr lang Umsatzsteuer in Höhe von 50.000 Euro hinterziehen, dann sind das 50.000.000 Euro (!); das ist aber nur eine „bargeldintensive“ Berufsgruppe. 43 Immerhin könnte hier die ab dem 1.12018 mögliche neu eingeführte unangekündigte „Kassen-Nachschau“ (durch das Gesetz zum Schutz vor Manipulationen an digitalen Grundaufzeichnungen, BGBl I 2016, 3152) für Veränderungen sorgen, sofern denn davon Gebrauch gemacht wird. 44 Das Finanzamt muss dieser Steueranmeldung nach § 168 AO zustimmen. 45 Jedenfalls solange  – wie es der Regelfall ist  – die Sollversteuerung (…nach vereinbarten Entgelten) gemäß § 13 Abs. 1 Nr. 1a UStG gilt.

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ist fingiert und dient der Auszahlung des Steuerguthabens. Im letzteren Fall liegt zwar zweifellos Steuerhinterziehung vor, was aber erstmal nachgewiesen werden muss. Es kommt also wieder auf die Feststellung des richtigen Sachverhalts an, was den Finanzämtern in solchen Fällen viel Mühe bereiten kann. Für die (vorsätzliche) Steuerhinterziehung muss dem Steuerpflichtigen Vorsatz46 nachgewiesen werden, er muss um die Unrichtigkeit oder die Unvollständigkeit der Angaben gewusst haben. Kann ein solcher Nachweis nicht geführt werden, dann fehlt es nicht nur an der Steuerhinterziehung, auch der Vorsteuerabzug aus der (ordnungsgemäßen) Rechnung ist zu gewähren, sofern die übrigen Voraussetzungen des § 15 Abs. 1 UStG vorliegen. (c) Leider ist das nicht der einzige Ansatzpunkt der Hinterziehung bei der Vorsteuer. Mit Blick auf das Steueraufkommen sind zunächst die „kleinen“ Hinterziehungshandlungen47 zu betrachten – man spricht hier auch von „Ameisenkriminalität“ –, die wohl wegen ihres häufigen Vorkommens zu hohen (statistisch nicht feststellbaren) Steuerausfällen bei der Umsatzsteuer führen48; dazu ein einfaches Beispiel: Die Tochter von Rechtsanwalt E studiert Jura. Sämtliche Fachbücher bestellt E über seine Kanzlei und macht die Vorsteuern in seinen USt-Voranmeldungen geltend. Abwandlung: Die Tochter studiert Medizin.

Das ist Steuerhinterziehung, welche allerdings in der Grundvariante nur schwer auffallen wird, in der Abwandlung wird sich E schwer mit der Erklärung der unternehmerischen Verwendung tun.49 (d) Zu dieser Art des unberechtigten Vorsteuerabzugs noch ein weiteres (praxisrelevantes) Beispiel50: Handwerker F schafft für sein Unternehmen einen VW-Bus (Neufahrzeug mit Campingausrüstung zu einem Nettopreis von 80.000 Euro zzgl. 15.200 Euro USt) an. Er gibt an dieses nur 46 Vorsatz ist das Wissen und Wollen um die Tatbestandsverwirklichung, wobei verschiedene Formen des Vorsatzes unterschieden werden. Hier ist insb. zwischen dem direkten Vorsatz und dem bedingten Vorsatz zu unterscheiden (vgl. dazu nur Fischer, Kommentar zum StGB, 65. Aufl. 2018, §  15 Rz.  2  ff. m.w.N.); für die Begehung von Steuerhinterziehung reicht bedingter Vorsatz aus (vgl. zu Einzelheiten Rolletschke in Rolletschke/Kemper, Kommentar zum Steuerstrafrecht, 104. Lfg. Mai 2015, § 370 AO Rz. 356 ff.). 47 Diese wirken sich in der Regel auch ertragsteuerlich aus, mit Blick auf die Umsatzsteuer haben sie aber den Effekt, dass Leistungen unversteuert an den Endverbraucher gelangen. 48 Auch hier ein Rechenbeispiel: Machen 100.000 Unternehmer in Deutschland jeweils um 200 Euro zu hohe Vorsteuern geltend, dann sind das 20.000.000 Euro. 49 In der Praxis fällt das aber nur auf, wenn die Finanzbehörde Einsicht in die Belege des Steuerpflichtigen nimmt; dass dürfte aber im Rahmen von Betriebsprüfungen nicht immer der Fall sein. 50 Die Berechtigung des Vorsteuerabzugs bei unternehmerisch genutzten Fahrzeugen stellt zweifellos ein großes Problem dar, man denke z.B. an einen Apotheker, der die Medikamente auf seine beiden Apotheken ausschließlich mit seinem neuen Porsche 911 verteilen will, wirklich glauben wird das wohl niemand, der Nachweis ist aber eine andere Frage. Einige andere Mitgliedstaaten beschränken deshalb den Vorsteuerabzug bei PKW oder sie lassen ihn gar nicht zu (etwa Österreich; vgl. § 12 Abs. 2 Nr. 2b des österreichischen UStG).

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Martin Kemper unternehmerisch zu nutzen, weil er über ein weiteres Fahrzeug verfügt; er zieht die Vorsteuer aus der Anschaffung und allen Folgekosten vollständig ab. Tatsächlich fährt F mit dem Fahrzeug auch in Campingurlaub und nutzt es regelmäßig für Wochenendreisen. Abwandlung: Das Fahrzeug wird von der Ehefrau des F nur privat genutzt.

Dieses Beispiel unterscheidet sich von dem vorherigen dadurch, dass die steuerlichen Auswirkungen des Einzelfalls deutlich höher sind. In der Praxis werden solche Sachverhalte allenfalls im Rahmen von Außenprüfungen aufgedeckt, oft bleiben sie aber unbeanstandet, woher soll der Prüfer von der genannten Privatnutzung erfahren?51 Selbst, wenn solche Sachverhalte entdeckt werden52, dann wird aber nur selten wegen einer Straftat ermittelt und es verbleibt bei den steuerlichen Konsequenzen, streng genommen stellt das aber einen Verstoß gegen das in Deutschland geltende Legalitätsprinzip53 dar. (e) Unberechtigte Vorsteuern können auch auf noch kriminellere Weise54 zum Abzug gebracht werden. So lassen sich Rechnungen – erst recht mit der heutigen Technik – leicht fälschen oder manipulieren55, so dass etwa zu hohe, doppelte oder nicht ausgeführte Leistungen und damit Vorsteuern angegeben werden. Versicherungsvertreter G lässt für sein Privathaus Malerarbeiten in Höhe von 10.000 Euro netto durchführen. Er ändert die Rechnung im Adressfeld auf den Sitz seiner Versicherungsagentur ab und macht die Vorsteuern geltend.56

(f) Steuerlich besonders schädlich war und ist die Abwicklung über sogenannte Rechnungsschreiber in bestimmten Branchen: H ist arbeitslos und meldet auf Vorschlag seines Bekannten I ein Gewerbe des Schrotthandels an, er hat weder ein Firmengelände, ein Fahrzeug oder einen Führerschein. Im Folgenden wird er ausschließlich als sogenannter Rechnungsschreiber tätig, der bei diversen Schrotthändlern mit Gutschriften die Lieferung von Metall zu Millionenbeträgen vorgibt. Das Metall existiert, 51 Ganz zu unterschätzen ist dieser Sachverhalt aber nicht, wenn etwa der Prüfer und der F zufällig auf demselben Campingplatz ihren Urlaub verbringen, lässt sich eine Privatnutzung kaum noch bestreiten, allenfalls über deren Umfang lässt sich noch reden. 52 Z.B., weil eine ausschließliche Privatnutzung offensichtlich ist, etwa weil nur der auswärts studierende Sohn das Fahrzeug nutzt. 53 Das ergibt sich aus § 152 Abs. 2 StPO – das Legalitätsprinzip bedeutet Verfolgungszwang und zwar gegen jeden Verdächtigen, es gebietet auch die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens gegen jeden, bei dem dieselbe Verdachtslage besteht (BVerfG v. 23.7.1982 – 2 BvR 8/82, NStZ 1982, 430). 54 Bei sämtlichen Veränderungen oder der Neuerstellung von Rechnungen anderer Unternehmer dürfte immer zusätzlich Urkundenfälschung nach § 267 StGB vorliegen, das wirkt sich strafrechtlich nachteilig aus. 55 Natürlich lässt sich dies durch einen Abgleich mit der Buchhaltung des Leistenden und Rechnungsausstellers leicht feststellen, dies muss aber erstmal geschehen. Da die Umsatzsteuer ein Massenverfahren mit unzählbaren Leistungsvorfällen am Tag ist, können hier allenfalls Stichproben erfolgen. 56 In der Praxis kommt es natürlich auch vor, dass der Handwerker die Rechnung (auf Wunsch des G) gleich auf den Betrieb ausstellt; dass kann allerdings Beihilfe zur Steuerhinterziehung sein.

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Die Umsatzsteuer zwischen Gestaltung, Missbrauch und Hinterziehung es wird aber von anderen unbekannten Personen angeliefert.57 H erhält für jede unterzeichnete Gutschrift 50 Euro, er bekommt aber weder die Gutschriften noch das quittierte Entgelt ausgehändigt. H erklärt diese Umsätze nicht gegenüber den Finanzbehörden und zahlt die ausgewiesene Steuer (natürlich) nicht, die Schrotthändler bringen die Vorsteuern aus den Gutschriften an H zum Abzug. Fiskalisch besteht das Problem darin, dass bei H „nichts zu holen ist“, obwohl er die Steuer zweifellos (wenigstens nach §  14c UStG) schuldet. Evtl. kann hier zwar den erwerbenden Schrotthändlern der Vorsteuerabzug versagt werden, dann müssen sie aber darum gewusst haben, dass H nicht Leistender war – das muss erstmal bewiesen werden.58

Derartige Sachverhalte führten zu erheblichen oft unwiederbringlichen Steueraus­ fällen und diese waren unter anderem der Anlass für die Einführung des ReverseCharge-­Verfahrens (§ 13b UStG), mit dem diese Praktiken in dieser Branche weitgehend beendet werden konnten. Eine andere Frage ist aber die, ob solche Handlungen wie im Schrotthandel in anderen Branchen weiter durchgeführt werden können. Die stetige Ausweitung des Katalogs der vom Reverse-Charge-Verfahren betroffenen Warengruppen lässt erahnen, dass dieses Thema noch nicht beendet ist. (g) Eine ähnliche Problematik besteht bei den „missing trader“ oder Karussellbetrugsfällen. Hier werden insbesondere bei grenzüberschreitenden Lieferungen auf der ersten Stufe in einem anderen Mitgliedstaat solche Steuerpflichtige eingeschaltet, welche die von ihnen beim Weiterverkauf in diesem Staat ausgewiesene Umsatzsteuer nicht an den Fiskus abführen. Teilweise wurden die Liefergegenstände hier mehrfach im Kreis (= Karussell) gehandelt, um den umsatzsteuerlichen Effekt zu vervielfältigen. Dieser Praxis wurde in Deutschland durch die Einführung der „Gelangensbestätigung59“ wohl die Grundlage entzogen, es bleibt aber abzuwarten, ob hier nicht neue Hinterziehungsvarianten entdeckt werden. Hinterziehungen sind auch im Zusammenhang mit Ausfuhren in Drittstaaten möglich, etwa durch die angebliche Ausfuhr hochpreisiger Konsumgüter mit entsprechendem Vorsteuerabzug aus Eingangsrechnungen. Als „Faustregel“ gilt hierbei: Je höher der vermeintlich ausgeführte Umsatz, desto höher ist die hinterzogene Steuer und damit der Profit des Straftäters. (h) Hingewiesen sei darauf, dass auch neuere „Modelle“ der Umsatzsteuerhinterziehung  – insb. im Zusammenhang mit dem Vorsteuerabzug  – existieren; der Erfindungsreichtum mancher Steuerpflichtiger ist beachtlich. Dem Grunde nach beruhen aber alle „Modelle“ auf den vorgenannten Varianten. Der besonderen Aufmerksamkeit bedürfen zudem die digitalen Dienstleistungen60 an im Inland ansässige Nichtunternehmer durch im Ausland ansässige Unternehmer, deren Bedeutung in den letzten Jahren rasant gewachsen ist. Zwar mag hier das zum 57 Die Besonderheit des Schrotthandels besteht darin, dass hier offensichtlich auch nicht mit Umsatzsteuer belastetes Material auf dem Markt ist – der eigentliche Lieferant hat daher keinen Vorsteuerabzug. 58 Die Rechtsprechung des BFH zum „vorgeschobenen Strohmann“ ist hier relativ eng; vgl. nur BFH v. 20.10.2016 – V R 36/14, BFH/NV 2017, 327 m.w.N. 59 Vgl. § 17a Abs. 2 Nr. 2 UStDV. 60 Das sind die in § 3a Abs. 5 S. 2 UStG genannten Leistungen – die sonstigen Leistungen auf dem Gebiet der Telekommunikation; die Rundfunk- und Fernsehdienstleistungen und die

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1.1.2015 geschaffene unionsrechtliche Verfahren einer einzigen Anlaufstelle (MOSS-­ Verfahren oder mini-one-stop-shop)61 für eine gewisse Rechtssicherheit gesorgt haben. Wenn sich aber z.B. der Unternehmer aus China nicht an diese Regelungen hält, dann können schnell Leistungen in Millionenhöhe unversteuert bleiben.62 Die Kon­ trollmöglichkeiten sind hier begrenzt und funktionieren ohnehin nur beim Mitwirken der Behörden anderer Staaten und wohl auch der Betreiber der Internetplattformen.63 Es zeigt sich jedenfalls, dass die Hinterziehungsmöglichkeiten bei der Umsatzsteuer groß sind, was zu einem beachtlichen Teil auf dem Vorsteuerabzug beruht. Der nationale Gesetzgeber und auch der Unionsgesetzgeber haben aber in den letzten Jahren erhebliche Anstrengungen zur Unterbindung solcher Taten unternommen, die m.E. durchaus als erfolgreich bezeichnet werden können. Auch die Rechtsprechung von BFH und EuGH konnte zu vielen Sachverhalten Klarheit schaffen, allerdings sind dadurch auch neue Unklarheiten entstanden, man denke nur an die Zweifelsfragen im Zusammenhang mit Rechnungen und deren Berichtigung, die aufgrund von zwei Entscheidungen des EuGH64 in 2016 aufgetreten sind. 4. Zwischenergebnis Das erste Ergebnis zur Situation der Gefährdung des Umsatzsteueraufkommens ist ernüchternd aber nicht beängstigend: Gestaltungen, Missbräuche und Steuerhinterziehungen bei der Umsatzsteuer lassen sich mit guten Gesetzen, ausreichendem Personal sowie einer effektiv eingesetzten EDV durchaus zum guten Teil vermeiden oder bekämpfen. Im Übrigen sorgt die Fraktionierung der Umsatzsteuer zumeist dafür, dass ein Steuerausfall nur auf einer „Produktionsstufe“ eintritt65, er entsteht dann nur in Höhe der Steuer auf dieser einen „Umsatzstufe“. Eine vollständige Sicherheit wird es hier m.E. aber nie geben, realistisch gesehen muss man gewisse Ausfälle akzeptieren, wenn denn der Aufwand zur Rechtsbefolgung und

auf elektronischem Weg erbrachten sonstigen Leistungen. Dabei geht es z.B. um das Herunterladen oder „streamen“ von Filmen, Musik oder Software. 61 Die gesetzliche Regelung des (komplizierten) Verfahrens findet sich in § 18 Abs. 4c bis 4e und § 18h; zu Einzelheiten verweise ich auf die einschlägigen Kommentierungen. 62 Vgl. Nr. 82 der Bemerkungen des Bundesrechnungshofs für 2015, Nr. 67.1 der Bemerkungen für 2016 (Band I) sowie Nr. 67.2 (unter: www.bundesrechnungshof.de/de/veroeffentlichungen/bemerkungen-jahresberichte/jahresberichte) und im Überblick Kemper, Das Internet als „Steueroase“ bei digitalen Dienstleistungen?, UR 2017, 169. 63 Vgl. zu dem seit dem Jahr 2017 viel diskutierten Inanspruchnahme der „Plattformbetreiber“ nur Kemper, Die Umsatzbesteuerung digitaler Dienstleistungen an Nichtunternehmer, UStB 2018, 20 m.w.N. 64 EuGH v. 15.9.2016 – C-516/14, Barlis 06 – Investimentos Imobiliarios e Turisticos, ECLI:​ EU:C:2016:690, UR 2016, 795 und EuGH v. 15.9.2016  – C-518/14  – Senatex, ECLI:EU:​ C:2016:691, UR 2016, 800. 65 Dies gilt allerdings nicht bei allen Leistungen, gerade personalintensive Dienstleistungen weisen solche Vorstufen oft nicht auf.

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-anwendung für die beteiligten Unternehmer und die Finanzbehörden nicht überspannt werden soll; dieser ist ohnehin schon hoch genug.

IV. Der Einfluss der EuGH-Rechtsprechung Die Entscheidungen des EuGH haben in den letzten Jahren tiefgreifende Veränderungen für die Anwendung des unionsrechtlichen und damit des deutschen Umsatzsteuerrechts zur Folge gehabt und insbesondere die „Missbrauchsrechtsprechung66“ dieses Gerichts zieht sich wie ein roter Faden durch viele Entscheidungen der letzten Jahre.67 Zu tragen kommt sie dabei sowohl beim Vorsteuerabzug als auch bei der Steuerfreiheit innergemeinschaftlicher Lieferungen. Die zentralen Aussagen des EuGH zum Thema Missbrauch und Hinterziehung finden sich in den Gründen der Entscheidung „Italmoda68“ vom 18.12.2014, sie sind z.B. aber auch Bestandteil der nachfolgenden Entscheidungen „EuroTyre BV Portugal69“ und „Plöckl70“. Zusammengefasst gesagt darf danach ein Steuerpflichtiger (Unternehmer) weder von seinem Vorsteuerabzugsrecht Gebrauch machen, noch die Steuerfreiheit einer innergemeinschaftlichen in Anspruch nehmen, wenn Missbrauch oder Steuerhinterziehung begangen wurden und er um diese Umstände wusste oder hätte wissen müssen. Dabei sind die nationalen Finanzbehörden unabhängig von einer entsprechenden nationalen Regelung zur Umsetzung dieser Rechtsfolgen verpflichtet.71 Mit Blick auf den Vorsteuerabzug könnte es sich wohl um einen eigenen aus dem Unionsrecht ergebenden Vorsteuerversagungsgrund handeln72; diese Sichtweise wäre das eigentlich bemerkenswerte Ergebnis, dem sich der BFH wohl anschließt.73 Angemerkt sei zunächst, dass der EuGH hiermit eine ganze Reihe seiner weiteren allgemeinen Prinzipien des unionsrechtlichen Mehrwertsteuerrechts für diese Sach66 So soll diese Rechtsprechung hier vereinfacht bezeichnet werden, ohne dass eine ständige Nennung von Missbrauch und Steuerhinterziehung erfolgen muss. 67 Vgl. dazu Kemper, Der „Missbrauch“ und die Steuerhinterziehung bei der Umsatzsteuer – Die Umsetzung der „Missbrauchsrechtsprechung“ des EuGH in Deutschland, UR 2017, 449. 68 EuGH, Urt. v. 18.12.2014 – C-131/13 – Schoenimport „Italmoda“ Mariano Previti, ECLI:​ EU:C:2014:2455, UR 2015, 106, Rz. 42 ff. 69 EuGH, Urt. v. 9.2.2017 – C-21/16 – Euro Tyre, ECLI:EU:C:2017:106, UR 2017, 271, Rz. 39. 70 EuGH, Urt. v. 20.10.2016 – C-24/15 – Plöckl, ECLI:EU:C:2016:791, UR 2016, 882, Rz. 37. 71 Das macht die Brisanz dieser Entscheidung aus, es besteht dem Grunde nach keine Möglichkeit der „Nichtanwendung“, wenn denn Missbrauch und Steuerhinterziehung vorliegt und der Steuerpflichtige darum wusste oder hätten wissen müssen. Dies hat der EUGH mit Urteil v. 22.11.2017 nochmals ausdrücklich bestätigt (EuGH, Urt. v. 22.11.2017 – C-251/16 – Cussens, ECLI:ECLI:EU:C:2017:881, UR 2018, 241). 72 Dafür spricht durchaus die Aussage des EuGH in Rz.  62 der Entscheidung C-131/13 (Schoenimport „Italmoda“ Mariano Previti  – ECLI:EU:C:2014:2455, UR 2015, 106); i.d.S. auch Madauß, Aktuelle EuGH-Rechtsprechung und Umsatzsteuerstrafrecht, NZWiSt 2017, 221 (223). 73 BFH v. 5.8.2010 – V R 13/09, BFH/NV 2011, 81, Rz. 36; vgl. auch Wäger, Das Zeitalter der Absichtsbesteuerung beim Vorsteuerabzug, UR 2017, 41 (42).

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verhalte fallen lässt. Insbesondere die mögliche Verdoppelung der Steuer bei einem einzigen Steuerpflichtigen verstößt m.E. gegen den Grundsatz der Neutralität der Umsatzsteuer74 und stellt im Ergebnis nichts anderes dar, als eine eigene Sanktion.75 Der EuGH erklärt dies mit dem Hinweis darauf für unbeachtlich, weil sich Steuerpflichtige, die Missbrauch und Hinterziehung begangen haben, nicht auf die Vorschriften der MwStSystRL berufen könnten.76 Mit Blick auf das Thema dieses Beitrags ist festzuhalten, dass der EuGH nie von der „Gestaltung“ spricht, andererseits aber den Missbrauch und die Steuerhinterziehung durchweg gemeinsam nennt. Der EuGH behandelt beides gleich, obwohl hier nach deutschem Rechtsverständnis ein großer Unterschied besteht, denn bei der Steuerhinterziehung werden gegenüber der Finanzbehörde vorsätzlich falsche Angaben gemacht. Der Hintergrund dafür dürfte darin zu finden sein, dass der EuGH das (abweichende) Rechtsverständnis verschiedener Mitgliedstaaten berücksichtigen muss, deren „Umgang“ mit der Steuerhinterziehung sehr unterschiedlich ist. In vielen Mitgliedstaaten ist die Durchführung von Steuerstrafverfahren der absolute Ausnahmefall; hier arbeitet man vor allem mit „Verwaltungsstrafen“. M.E. erklärt das die vom EuGH verwendete Terminologie. Jedenfalls bei konsequenter Umsetzung der vorgenannten Rechtsprechung dürfte es aus umsatzsteuerrechtlicher Sicht77 – z.B. in einer „Lieferkette78“ bei einer innergemeinschaftlichen Lieferung – vor allem den ausführenden Unternehmer hart treffen, denn dieser kann weder den Vorsteuerabzug aus seinem Einkauf noch die steuerfreie innergemeinschaftliche Lieferung geltend machen, er wäre also doppelt belastet.79 Bei der Mitwirkung anderer Unternehmer an der Steuerhinterziehung könnten bei diesen weitere negative umsatzsteuerliche Folgen in Deutschland und in anderen Mitgliedstaaten eintreten, welche zu einer bemerkenswerten Kumulation der Um74 Vgl. dazu bereits EuGH v. 3.5.2001  – C-481/98  – Kommission/Frankreich, ECLI:EU:​ C:2001:237, Rz. 22. 75 Vgl. dazu Rz. 61 des Urt. v. 18.12.2014 – C-131/13 – Schoenimport „Italmoda“ Mariano Previti, ECLI:EU:C:2014:2455, UR 2015, 106 und EuGH v. 6.9.2012 – C-262/10 – Döhler Neuenkirchen, ECLI:EU:C:2012:559, ZFZ 2012,322, Rz. 43. 76 EuGH, Urt. v. 18.12.2014  – C-131/13, Schoenimport „Italmoda“ Mariano Previti, ECLI:EU:C:2014:2455, UR 2015, 106, Rz. 60 f. 77 Da bei diesem unterstellten Sachverhalt bei A und C zweifelsfrei Steuerhinterziehung vorliegt, würden diese mit ihren Taten in Deutschland und/oder in Frankreich strafrechtlich sanktioniert werden, zudem könnten sie steuerliche Konsequenzen treffen (dem A wird der Vorsteuerabzug aus seiner Eingangsleistung gestrichen und vom C wird die USt aus seiner Lieferung gefordert). B hingegen könnte als „Beihelfer“ sowohl in Deutschland als auch in Frankreich bestraft werden. 78 Der EuGH verwendet diesen Begriff als vermeintliches Tatbestandsmerkmal in der vorgenannten Entscheidung; m.E. ist das aber wenig hilfreich, weil es dem Handel geradezu immanent ist, dass immer „Lieferketten“ vorliegen. 79 Das damit der Grundsatz der Neutralität der Umsatzsteuer nicht gewahrt ist, stört den EuGH nicht; vgl. nur Urt. v. 18.12.2014 – C-131/13 – Schoenimport „Italmoda“ Mariano Previti, ECLI:EU:C:2014:2455, UR 2015, 106, Rz. 48. Der EuGH sieht darin zudem keinen „Strafcharakter“; vgl. Rz. 61 der vorg. Entscheidung.

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satzsteuer bei einem einzigen Liefergegenstand führen könnten.80 Voraussetzung für den Eintritt dieser Rechtsfolgen ist allerdings, dass das Vorliegen von Steuerhinterziehung oder Missbrauch feststeht; dies muss nachweisbar sein – die Beweislast dafür trägt die Finanzbehörde.81 Entsprechende Erkenntnisse müssen aber erstmal erlangt werden, jedenfalls ist kaum damit zu rechnen, dass Steuerpflichtige von sich aus derartige Sachverhalte einräumen. Der Nachweis solcher Sachverhalte stellt in der Praxis daher die eigentliche Schwierigkeit der Umsetzung dieser Rechtsprechung dar. So finden zwar die Entscheidungen des EuGH, in denen dieser Verstöße gegen formale Vorschriften als entschuldbar erachtet, verstärkt in der nationalen Rechtsprechung und der Literatur Beachtung, die Missbrauchsrechtsprechung hat dagegen m.W. bisher kaum zu Änderungen in der Praxis geführt. Das Ergebnis zu den Anwendungsmöglichkeiten der Missbrauchsrechtsprechung in Deutschland ist daher ernüchternd82, ihre Anwendung scheitert zumeist am Vorliegen konkreter Feststellungen im Einzelfall; insoweit ist (zur Zeit) wohl kaum mit einer tiefgreifenden Änderung der Rechtsanwendung in Deutschland zu rechnen. Das entspricht letztlich auch dem Ergebnis, welches der EuGH seiner Sichtweise zugrunde legt. Er führt insoweit zwar aus, dass „die nationalen Behörden und Gerichte den Vorteil des Rechts auf Vorsteuerabzug zu versagen haben, wenn aufgrund der objektiven Sachlage feststeht, dass dieses Recht in betrügerischer Weise oder missbräuchlich geltend gemacht wird“.83 Er ergänzt dazu aber, dass „es Sache des nationalen (vorlegenden) Gerichts sei, gemäß den Beweisregeln des nationalen Rechts alle Gesichtspunkte und tatsächlichen Umstände der Rechtssache umfassend zu beurteilen, um aufgrund der beigebrachten objektiven Umstände festzustellen, ob der Steuerpflichtige einen solchen Betrug oder Missbrauch begangen hat oder nicht“.84

Umgesetzt ins deutsche Recht muss einem Steuerpflichtigen im konkreten Fall nachgewiesen werden, dass Missbrauch oder Steuerhinterziehung bei dem von ihm in der „Lieferkette“ ausgeführten Umsatz vorliegen und dass er darum wusste oder hätte wissen müssen. Solche Erkenntnisse lassen sich aber kaum im Rahmen eines Massenverfahrens – wie es die Umsatzsteuer ist – gewinnen, denn Derartiges ist nicht aus Umsatzsteuer-Voranmeldungen oder -Jahreserklärungen erkennbar. Auch dahingehende Vermutungen der Finanzbehörden – mögen sie noch so nachvollziehbar sein – reichen nicht, es bedarf vielmehr für jede Form des Missbrauchs oder der Hinterziehung konkreter Nachweise, welche sich m.E. allenfalls durch aufwendige Außen- oder 80 Vgl. dazu nur das Beispiel bei Kemper, Steuerbefreiung und Vorsteuerabzug im Umsatzsteuerkarussell und Kettengeschäfte, NZWiSt 2015, 441 (444). 81 Hier reichen weder bloße Vermutungen noch der Umstand, dass der Leistungsempfänger Steuerhinterziehung begangen hat. 82 Wobei sich das eher auf die Sicht der Finanzbehörden bezieht, denn aus Sicht der Steuerpflichtigen könnte die neue Missbrauchsrechtsprechung des EuGHs natürlich gravierende nachteilige Auswirkungen haben. 83 EuGH, Urt. v. 28.7.2016 – C 332/15 – Astone, ECLI:EU:C:2016:614, UR 2016, 683, Rz. 50 m.w.N.; in diesem Fall ging es um das Vorsteuerabzugsrecht  – gleiches gilt aber für das Recht auf Steuerbefreiung bei der iG-Lieferung. 84 EuGH, Urt. v. 28.7.2016 – C 332/15 – Astone, ECLI:EU:C:2016:614, UR 2016, 683, Rz. 53 und v. 13.2.2014 – C-18/13 – Maks Pen, ECLI:EU:C:2014:69, UR 2014, 861, Rz. 30.

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Fahndungsprüfungen gewinnen lassen, welche dann u.U. ganze Lieferketten zu „durchforsten“ haben. Dabei werden i.d.R. wohl nur dann verwertbare Erkenntnisse erlangt, wenn sich die Finanzbehörden der Ermittlungsmethoden der Strafprozessordnung bedienen können85; insoweit bedarf es bei jeder Lieferkette jedenfalls eines Steuerpflichtigen der strafrechtlich belangt wird.86 Daraus ist bereits ersichtlich, dass der Missbrauch im deutschen Recht solche Folgen kaum auslösen kann, denn hier fehlt es an den strafrechtlich relevanten falschen Angaben gegenüber den Finanzbehörden; die praktische Relevanz der EuGH-Rechtsprechung ist damit faktisch auf die Steuerhinterziehung beschränkt. Wenn aber Steuerhinterziehung in einem Steuerstrafverfahren rechtskräftig festgestellt wird, dann wirft dies zwangsläufig die Frage nach den Konsequenzen der Missbrauchsrechtsprechung auf; insbesondere die, welche Beteiligten in der Lieferkette die doppelten Auswirkungen durch die Versagung der Steuerfreiheit bei innergemeinschaftlichen Lieferungen und die Versagung des Vorsteuerabzugs treffen. Das dürfte vor allem bei verurteilten Straftätern relevant sein, m.W. wird das derzeit aber nicht konsequent durchgesetzt, obwohl hier eigentlich kein Spielraum besteht.

V. Gesetzesanpassungen und deren Konsequenzen sowie der weitere Einfluss der Rechtsprechung Gesetzesänderungen bei der Umsatzsteuer gibt es seit ihrer Einfügung vor 100 Jahren unzählige, deren Wiedergabe muss hier schon wegen ihres Umfangs unterbleiben.87 Insbesondere etwa seit dem Jahr 2000 hat der deutsche Gesetzgeber aber vielfältige Anstrengungen zur Sicherung des Umsatzsteueraufkommens getroffen, vor allem weil die innergemeinschaftlichen Lieferungen erhebliche Schwierigkeiten – Stichwort „Karussellgeschäfte“ – bereiteten. Insoweit soll der Blick auch auf solche Änderungen fokussiert werden, welche konkret der Bekämpfung von Hinterziehung dienten.88 Hier sind insbesondere die Einführung der Möglichkeit einer (unangekündigten) Umsatzsteuer-Nachschau89 sowie die Umkehr der Steuerschuldnerschaft (Reverse-­ Charge-Verfahren)90 bei bestimmten Umsätzen zu nennen, welche durchaus als er-

85 Erkenntnisse über Missbrauch oder Steuerhinterziehung lassen sich i.d.R. nicht den Dokumenten entnehmen, die der Steuerpflichtige freiwillig vorlegt; diese müssen vielmehr im Rahmen von Durchsuchungsmaßnahmen, u.U. auch bei Dritten, gewonnen werden. 86 Gemeint ist eine strafrechtliche Verurteilung, die Finanzbehörde kann zwar auch selber im Besteuerungsverfahren feststellen, ob die Voraussetzungen des § 370 AO vorliegen; in der Praxis scheitert das aber zumeist am Vorliegen ausreichender Feststellungen. 87 So ist allein das geltende UStG seit dem Jahr 1979 insgesamt mehr als 120 (!) mal geändert worden (nach juris). 88 Wobei hier nicht unerwähnt bleiben darf, dass sich einige neue Regelungen als weitgehend bedeutungslos herausgestellt haben. Man denke nur an den Straftatbestand der Nichtzahlung einer angemeldeten Umsatzsteuer in § 26c UStG oder das Verlangen nach einer Sicherheitsleistung bei Auszahlung von Vorsteuerbeträgen in § 18f UStG. 89 § 27b UStG. 90 § 13b UStG.

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folgreich91 bezeichnet werden können. Beide haben aber auch beachtliche Nachteile, aus denen leicht die Problematik solcher Regelungen zu erkennen ist, sie erhöhen entweder den Rechtsbefolgungsaufwand92 und/oder sie greifen in Rechte der Betroffenen ein. Beim Reverse-Charge-Verfahren bereitet vor allem die Notwendigkeit, die betroffenen Leistungen von den nicht betroffenen Leistungen abzugrenzen, Schwierigkeiten; die sogenannten Bauträgerfälle93 zeigen anschaulich, welche Mühen die Rückabwicklung von Reverse-Charge-Sachverhalten aufwirft. Für die Unternehmer hat es zusätzlich den Nachteil, dass sie praktisch zwei „Umsatzsteuersysteme“ handhaben müssen. Ein anderes Problem zeigt sich bei der Umsatzsteuer-Nachschau: Hier steht auf der einen Seite der (fiskalisch) positive Aspekt, dass Finanzbeamte z.B. zeitnah vor Ort nachprüfen können, ob ein bestimmtes neu gegründetes Unternehmen tatsächlich existiert oder bestimmte Unterlagen sofort einsehen können.94 Auf der anderen Seite ist aber (mit handwerklichen Fehlern95) ein starkes Eingriffsrecht gegenüber Unternehmern geschaffen worden – das Recht zum unangekündigten Betreten von Räumen und Einsehen von Unterlagen -, welches so vorher bei der Umsatzsteuer nicht existierte. Besonders problematisch dürfte dabei das Betretensrecht solcher Räume sein, die sowohl unternehmerisch als auch zu Wohnzwecken genutzt werden, denn hier ist der verfassungsrechtlich garantierte Schutz der Wohnung tangiert96 und gerade diese Situation ist oft bei neu gegründeten und u.U. prüfungswürdigen Unternehmen vorzufinden. Diese Probleme können an dieser Stelle nicht vertieft werden97, sie zeigen aber anschaulich, dass die Bekämpfung von Hinterziehung immer einen Preis hat; hier entstehen oft komplizierte Regelungen, deren richtige Handhabung neue Fragen aufwerfen. Neben der oben bereits genannten „Missbrauchsrechtsprechung“ des EuGH haben dieses Gericht und auch der BFH in den letzten Jahren eine ganze Reihe von Entscheidungen getroffen, die zwar mit Bezug auf das System der Umsatzsteuer zu begrüßen sind und ehrlichen Unternehmern entgegenkommen; die Bekämpfung von 91 Sinnvoll ist m.E. auch die Verpflichtung zur Abgabe monatlicher USt-Voranmeldungen für neu gegründete Unternehmen in § 18 Abs. 2 S. 4 und 5 UStG. 92 Und damit natürlich auch die Kosten der Rechtsbefolgung und zuletzt die Preise der Unternehmer. 93 Die in § 27 Abs. 19 UStG eine eigene Regelung erforderlich gemacht haben und die letztlich auf einer Entscheidung des BFH v. 22.8.2013 (V R 37/10, BStBl II 2014, 128 = UR 2011, 671) beruhen, in der der BFH die Bauträger aus dem Anwendungsbereich des § 13b Abs. 2 UStG genommen hatte. Vgl. zu den vielfältigen Literatur- und Rechtsprechungsquellen im Überblick Kemper in Schwarz/Widmann/Radeisen, 197. Lfg. 1/2018, § 27 UStG Rz. 64 ff. 94 Solche unangekündigten Maßnahmen dienen nicht nur einer möglichst zeitnahen und sachgerechten Prüfung, ihnen kommt zudem eine gewisse Abschreckungswirkung zu, weil sich kein (betrügerisch gesinnter) Unternehmer sicher sein kann, demnächst „Besuch“ vom Finanzamt zu bekommen. 95 So fehlt im UStG ein Hinweis darauf, dass durch dieses Gesetz ein Grundrecht beeinträchtigt werden kann (Zitiergebot); vgl. dazu nur Zugmaier/Schwarz in Hartmann/Metzenmacher, Lfg. 4/2017, § 27b UStG Rz. 9 und bereits Haep, Umsatzsteuer-Nachschau und Unverletzlichkeit der Wohnung, UR 2008, 445. 96 Das ist ein in Art. 13 GG manifestiertes fundamentales Grundrecht. 97 Kemper in Schwarz/Widmann/Radeisen, 183. Lfg. 11/2015, § 27b UStG Rz. 40 ff. m.w.N.

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Steuerhinterziehung wird dadurch allerdings oft erschwert. Man denke hier nur an die Möglichkeiten zur rückwirkenden Rechnungsberichtigung98, zu den Voraussetzungen steuerfreier innergemeinschaftlicher Lieferungen99, zur Erlangung des Vorsteuerabzugs100 oder zu den Anforderungen an die „Anschrift“ des Rechnungsausstellers.101 Auch diese Rechtsprechung kann hier nicht im Detail betrachtet werden, insbesondere die Ansätze zur Verringerung der Bedeutung der formellen Anforderungen sind aber aus Sicht der Betrugsbekämpfung problematisch.102 Wenn die Finanzbehörden etwa zur Auszahlung von Vorsteuerguthaben gezwungen sind, weil eine Steuerhinterziehung (noch) nicht nachweisbar ist, dann werden solche Beträge später  – nach Feststellung des tatsächlichen Sachverhalts  – zumeist uneinbringlich sein; der Steuerschaden ist endgültig.103 Bei betrugsrelevanten Sachverhalten gilt aber ein einfacher Erfahrungssatz: Die Erfüllung aller formellen Vorgaben  – etwa von Rechnungen  – bereitet den Beteiligten von Betrugssachverhalten oft Schwierigkeiten.104 Jede Aufweichung der (zugegebenermaßen) strengen formalen Vorgaben erleichtert daher auch Steuerhinterziehern ihre Machenschaften. Hier bedarf es m.E. solider steuerpolitischer Abwägungen, inwieweit die vielen ehrlichen Steuerpflichtigen mit formalen Anforderungen und Erklärungspflichten und Weiterem belastet werden müssen, um ein Mindestmaß an Betrugssicherheit zu gewährleisten.

VI. Reformmöglichkeiten und Alternativen der Umsatzsteuer Allgemein dürfte das Ziel einer vollständigen Beitreibung der Umsatzsteuer – sozusagen bis zum letzten Euro – m.E. unrealistisch sein, schon weil der Kontrollaufwand und die Pflichten der Unternehmer unverhältnismäßig hoch würden, gewisse Risiken sich nie ganz ausschließen lassen und es sich vor allem um ein Massenverfahren mit unzähligen steuerlich relevanten Vorgängen handelt. Schon der Blick auf das VATGap zeigt aber, dass in Deutschland durchaus Verbesserungspotential besteht, denn die Zahlen bewegen sich unionsweit „nur im guten Mittelfeld“. Das Ziel besteht daher in einer Reduzierung auf weit unter zehn Prozent, ähnlich wie etwa in Finnland

98 EuGH v. 15.9.2016 – C-518/14 – Senatex, ECLI:EU:C:2016:691, UR 2016, 800 und BFH v. 20.10.2016 – V R 26/15, UR 2017, 60 m. Anm. Sterzinger und m. Anm. Jacobs/Zitzl, UR 2017, 125; BFH v. 20.10.2016 – V R 54/14 und V R 64/14, BFH/NV 2017, 252, 488 und 490. 99 Vgl. etwa EuGH v. 27.9.2007 – C-146/05 – Collee, ECLI:EU:C:2007:549, UR 2007, 813. 100 EuGH v. 15.9.2016  – C-516/14, Barlis 06  – Investimentos Imobiliarios e Turisticos, ECLI:EU:C:2016, 690, UR 2016, 795. 101 EuGH v. 15.11.2017 – C-374 u. C-375/16, ECLI:ECLI:EU:C:2017:867 – Geissel und Butin, UR 2017, 970 m. Anm. Jacobs/Zitzl. 102 Einerseits sind sie bei bestimmten Unternehmern – etwa exportorientierte Leistungen – systembedingt, andererseits sind sie bei Betrugssachverhalten i.d.R. für immer verloren. 103 Dabei dürfte die Auszahlung von hohen Vorsteuerguthaben an haftungsbeschränkte juristische Personen ein besonderes Problem darstellen. 104 So stimmen etwa die angegebenen Adressen deshalb nicht oder die Leistungsbeschreibung ist unpräzise, weil Sachverhalte komplett fingiert sind.

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und Luxemburg105; jeder Prozentpunkt der Verbesserung führt zu einem zusätzlichen Steueraufkommen von über 2 Mrd. Euro. Steuermehreinnahmen könnte der Gesetzgeber natürlich auch (deutlich) einfacher dadurch generieren, indem er schlicht den Mehrwertsteuersatz – etwa um einen Prozentpunkt – erhöht.106 Das wäre aber eine rein fiskalisch motivierte Entscheidung, welche vor allem nichts an den hier geschilderten Problemen ändert.107 Im Gegenteil: Mit jeder Steuersatzerhöhung steigt die Motivation zur Vermeidung der Umsatzsteuer durch Gestaltung, Missbrauch oder Hinterziehung. Die entscheidende Frage ist, wie sich das Ziel einer Reduzierung der Steuerausfälle erreichen lässt. Grundsätzlich gibt es dafür zwei Möglichkeiten: Eine wirkungsvollere Kontrolle der Unternehmer oder gesetzliche Veränderungen. Die erste Möglichkeit dürfte in Anbetracht eines Massenverfahrens schnell an Machbarkeitsgrenzen stoßen; die Kontrolle aller in Deutschland getätigten Umsätze ist schlicht unmöglich und wohl auch von niemandem gewollt. Die vorhandenen Personalkapazitäten der Finanzbehörden könnten zwar durchaus aufgestockt werden, auch dies würde allerdings lediglich die Prüfungsdichte erhöhen, aber keine vollständige Kontrolle ermöglichen. M.E. ist eine Personalerhöhung dann eine sinnvolle Maßnahme, wenn diese Kapazitäten gezielt  – auch unter Ausnutzung elektronischer Risikoanalysesysteme108 – zur Eindämmung von Gestaltung, Missbrauch und Hinterziehung, eingesetzt werden. Natürlich muss aber vor allem darüber nachgedacht werden, wie sich die Ausfallrisiken durch Gesetzes- oder Systemänderungen minimieren lassen. Damit sind keine bloßen formalen Änderungen gemeint, wie die Aufstellung weiterer Erklärungspflichten oder Ähnlichem, davon gibt es wahrlich genug. Eine wirkliche Reform muss vielmehr am System ansetzen, wobei hier aber zu berücksichtigen ist, dass das System der Umsatzsteuer durch die MwStSystRL unionsrechtlich vorgegeben ist. Änderungen sind nur einstimmig durch alle (derzeit noch) 28 Mitgliedstaaten möglich. Die Europäische Kommission hat zwar in der Tat im Jahr 2016 einen (weiteren) Aktionsplan zu einem einheitlichen Mehrwertsteuersystem vorgelegt109, tatsächlich ist das aber kein tiefgreifender Systemwechsel, sondern eher eine Ausweitung des „one-shop-Verfahrens“ für sogenannte zertifizierte Steuerpflichtige110 mit weiteren Detailänderungen.111 105 Vgl. zu den Zahlen oben unter I. 106 Das entspricht beim derzeitigen Steueraufkommen der Umsatzsteuer etwa 20 Mrd. Euro. Hinzuweisen ist darauf, dass andere Mitgliedstaaten Steuersätze bis zu 27 Prozent (Ungarn ist zur Zeit Spitzenreiter) anwenden. 107 Abgesehen von dem Effekt der Steuermehreinnahmen. 108 Wobei hier nie der gesunde Menschenverstand vergessen werden darf, denn elektronische Systeme sehen immer nur das, was ihnen zuvor als Basis vorgegeben wurde. 109 Reformvorschlag Kommission COM (2016) 148 final v. 7.4.2016. 110 CTP = certified taxable person. 111 Vgl. auch das sog. „Follow-up“ in COM (2017) 566 final v. 4.10.2016 und zu den geplanten Änderungen im Überblick Meyer-Burow/Connemann, „Neustart“ in der Europäischen Umsatzsteuer – der Weg zu einem endgültigen einheitlichen europäischen Mehrwertsteuerraum – Überblick und Analyse, UStB 2018, 78; Langer/Breitsameter, Der Mehrwertsteueraktionsplan der Europäischen Kommission, DStR 2018, 97 und Harksen/Höink/Witte,

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M.E. klingt das alles eher nach komplizierten Neuregelungen, die viele neue Fragen aufwerfen werden, als nach einer wirklichen Systemänderung.112 Gleiches gilt für das immer wieder diskutierte generelle „Reverse-Charge-Verfahren“113 für alle oder fast alle Umsätze zwischen Unternehmern.114 Hier sei daran erinnert, dass es dazu in Deutschland sogar schon ein durchgeführtes „Planspiel“ gab, in dem die Machbarkeit eines generellen „Reverse-Charge-Verfahrens“ sowie die der „generellen Ist-Besteuerung“ konkret untersucht wurde115; dabei sollte dieses Verfahren im Übrigen nur bei Rechnungsbeträgen von über 5.000 Euro zur Anwendung kommen  – eine wichtige Beschränkung. Letztlich endete dieses Planspiel mit der Empfehlung der Einführung dieses Systems.116 Der tatsächliche Ansatz Deutschlands und Österreichs zur Einführung dieser Regelung ist dann allerdings unionsrechtlich gescheitert.117 Obwohl man hier zunächst dachte, dass dies wohl das endgültige Ende dieser Reformbestrebungen war, äußerten in den letzten Jahren immer wieder Mitgliedstaaten den Wunsch nach der Einführung eines generellen „Reverse-Charge-­ Verfahrens“ und die Kommission scheint dem mittlerweile aufgeschlossen gegenüber zu stehen.118 Es darf aber nicht übersehen werden, dass eine solche Regelung im Prinzip eher einen Systembruch darstellt, denn hier erfolgt eine Beibehaltung des Systems der Allphasen-Netto-Umsatzsteuer mit Vorsteuerabzug mit einer abweichenden Regelung der Steuerschuldnerschaft für bestimmte Umsätze. Tatsächlich stellt das aber eine Verbindung zweier Systeme dar, in dem bestimmte Umsätze zwischen Unternehmern „freigestellt“ werden. Eine solche Regelung muss aber zwangsläufig Abgrenzungsfragen bei der praktischen Handhabung aufwerfen und gerade eine fehlerhafte Der zertifizierte Steuerpflichtige – Einzug des AEO in die Umsatzsteuer? Die Neuerungen der Reform des Mehrwertsteuerrechts, MwStR 2018, 57. 112 Insoweit zu Recht sehr kritisch Widmann, Zu den Vorschlägen der Europäischen Kommission vom 4.10.2016 zu einem einheitlichen europäischen Mehrwertsteuerraum, UR 2018, 10; vgl. auch Becker, Europäische Kommission läutet die nächste Runde ihres MwSt-­ Aktionsplans ein, MwStR 2017, 902. 113 Vgl. nur Widmann, Planspiel, Finanzministerkonferenz, Sachverständigenrat, Koalitionsvertrag: alle wollen jetzt nur das eine: Reverse Charge, UR 2006, 13. 114 Gemeint ist damit die Erfassung des Reverse-Charge auf (fast) alle zwischenunternehmerischen Umsätze. 115 Vgl. dazu nur: Machbarkeitsstudie zur systembezogenen Änderung bei der Umsatzsteuer „Generelle Ist-Versteuerung mit Cross-Check“ – Verfahrensbeschreibung, UR 2005, 661 sowie UR 2005, 659 und Mitteilung der PSP Peters Schönberger GmbH Wirtschaftsprüfungsgesellschaft, München, v. 20.10.2005, Modellüberlegungen zum Systemwechsel bei der Umsatzsteuer, Mitteilung der Finanzministerkonferenz v. 20.10.2005 in Berlin, UR 2005, 662. 116 Das ist interessant, denn das große Problem beim generellen Reverse-Charge besteht im unversteuerten Endverbrauch. Im Übrigen wurde von der Einführung der generellen Ist-Versteuerung deshalb abgeraten, weil dies (u.A. wegen des Wegfalls der Sondervorauszahlung nach § 47 UStDV) zu einmaligen Steuerausfällen in Höhe von über 21. Mrd. Euro führen würde (vgl. oben Fn. 115 und Widmann, UR 2006, 13 [15]). 117 Vgl. dazu nur die Mitteilung der Kommission an den Rat gemäß Art. 27 Abs. 3 der Richtlinie 77/388 EWG v. 19.7.2006 KOM (2006) 404 endgültig. 118 Vgl. dazu nur in COM (2016) 811 final v. 21.12.2016.

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Die Umsatzsteuer zwischen Gestaltung, Missbrauch und Hinterziehung

Anwendung des einen oder anderen Systems kann für alle Beteiligten mit unangenehmen Folgen verbunden sein. Insoweit erscheint es bei allen Überlegungen zum System mehr als gerechtfertigt, den Blick auch auf weitere Vorschläge zu einem Systemwechsel bei der Umsatzsteuer zu legen, wie etwa der von Paul Kirchhof in seinem „Bundessteuergesetzbuch“ 119 vorgelegte Reformvorschlag, der sich sogar unionsrechtlich sinnvoll umsetzen ließe. Auch hier werden die zwischenunternehmerischen Umsätze – und zwar die meisten – unter bestimmten Voraussetzungen120 nicht mehr der Umsatzsteuer unterworfen; damit fallen viele Betrugsansätze weg. Kirchhof lässt es im Übrigen nicht dabei bewenden, er vereinfacht das Umsatzsteuerrecht auch in anderen Bereichen radikal, etwa bei den Steuerbefreiungen und beim ermäßigten Steuersatz.

VII. Fazit Als wichtigstes Ergebnis lässt sich festhalten, dass sich die Umsatzsteuer als zentrale Steuerquelle der Staatseinnahmen über 100 Jahre hinweg auch mit Blick auf Umgehungen und Hinterziehungen bewährt hat und das geltende System der Allphasen-Netto-Umsatzsteuer mit Vorsteuerabzug durchaus als Errungenschaft einer modernen Volkswirtschaft bezeichnet werden kann. Die Schattenseiten sind allerdings komplizierte Rechtsgrundlagen und die eintretenden Steuerausfälle. Bei der Umsatzsteuer besteht der zusätzliche Nachteil, dass sie auf allen Umsatzstufen zur Anwendung kommt und schon deshalb mehr Ansätze zum Steuerausfall bietet und mit dem Vorsteuerabzug zudem  – neben der bloßen Nichtzahlung der Steuer  – ein zweiter Ansatz für Steuerhinterziehungen und Gestaltungen besteht. Mit Blick auf den Vorsteuerabzug dürfte der Einsatz des partiellen Reverse-Charge-Verfahrens hier in der Tat viele Hinterziehungen beseitigt haben, der Preis dafür ist aber ein Systembruch, der beachtliche Abgrenzungsfragen aufwerfen kann, wie sie sich zuletzt in den Bauträgerfällen verwirklicht haben. Insgesamt dürften die Maßnahmen zur Bekämpfung der Umsatzsteuerhinterziehung der letzten Jahre aber durchaus Erfolge erzielt haben. Realistisch gesehen werden sich die Hinterziehungen aber nie ganz ausschließen lassen, dafür bestehen einfach zu viele Ansatzpunkte in einem Massenverfahren wie bei der Umsatzsteuer. Der Gesetzgeber, die Unternehmer und die Verbraucher werden akzeptieren müssen, dass das bestehende Umsatzsteuersystem mit erheblichem Rechtsbefolgungsaufwand verbunden ist, dass es unbedingt funktionsfähiger Verwaltungsstrukturen zur Überwachung des Systems bedarf und dass die Notwendigkeit der Erhebung der Umsatzsteuer in der Bevölkerung weitgehend akzeptiert sein muss; jedenfalls bei den letzten 119 Paul Kirchhof, Bundessteuergesetzbuch, Ein Reformentwurf zur Erneuerung des Steuerrechts, Buch 4, Umsatzsteuer, 2011. 120 Neben der Registrierung der Unternehmer bei den Finanzbehörden wären die Umsätze unbar über sog. Gewährskonten abzuwickeln, in diese könnte die Finanzbehörde Einsicht nehmen. Vgl. zu den Grundgedanken dieser Regelung S. 813 f. des Bundessteuergesetzbuches von Kirchhof.

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beiden Punkten besteht wohl noch Verbesserungspotential. Der Rechtsbefolgungsaufwand auf Seiten der Steuerpflichtigen und das Vorhalten einer funktionierenden Finanzverwaltung ist dabei der „Preis“ für ein solches System. Bei künftigen „Reformen“ sollte beachtet werden, dass der erforderliche Rechtsbefolgungsaufwand nicht noch höher wird und dass alle Systemänderungen wohl bedacht (vorbereitet) werden sollten121, denn nicht jede Änderung führt zu Verbesserungen.

121 Neue Rechtsfiguren, wie etwa der „zertifizierte Steuerpflichtige“, sollten nur wohlüberlegt geschaffen werden.

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Ferdinand Huschens1

Rechnungsberichtigung mit Rückwirkung ohne Rechnung? Inhaltsübersicht I. Vorbemerkung II. Bisherige EuGH-Rechtsprechung 1. Unionsrecht 2. EuGH-Urteil C-123, 330/87 3. EuGH-Urteil C-85/95 4. EuGH-Urteil C-338/98 5. EuGH-Urteil C-90/02 6. EuGH-Urteil C-152/02 7. EuGH-Urteil C-368/09 8. EuGH-Urteil C-280/10 9. EuGH-Urteil C-271/12

10. EuGH-Urteil C-518/14 11. EuGH-Urteil C-374/16 und C-375/16 12. EuGH-Urteil C-533/16 13. Zwischenergebnis III. Rechnungsberichtigung mit Rück­ wirkung ohne Rechnung? 1. EuGH-Urteil C-516/14 2. Was ist eine berichtigungsfähige ­Rechnung? IV. Fazit

I. Vorbemerkung Zum 1.1.1968, also 50 Jahre nach Einführung der Umsatzsteuer in der Weimarer Republik, wurde in Deutschland im Zuge der Harmonisierung des europäischen MwSt-­ Systems der Vorsteuerabzug eingeführt. Seither kam der Rechnung im deutschen Umsatzsteuerrecht eine besondere Bedeutung zu, wird in der Rechnung doch die regelmäßig vom leistenden Unternehmer geschuldete Umsatzsteuer gegenüber dem Leistungsempfänger dokumentiert. Der Vorsteuerabzug ist seither ein Kernelement des europäischen MwSt-Rechts2, da nur über die Möglichkeit, eine dem Unternehmer in Rechnung gestellte USt wieder als Vorsteuer abziehen zu können, die Neutralität des USt-Rechts zur Geltung kommen kann. Ein im Besitz des Verfassers dieses Beitrags vorliegendes Originalexemplar der vom Bundesminster der Finanzen (damals Franz-Josef Strauß, CSU) im Zuge der Einführung der Umsatzsteuer nach heutiger Prägung zum 1.1.1968 im Jahr 1967 herausgegebenen Fibel „Die Mehrwertsteuer“3 führt auf Seite 25 unter dem Abschnitt „Neue Rechnungen, Neue Preise“ und der Überschrift „Wie müssen Rechnungen aussehen?“ u.a. Folgendes aus: „Die Rechnung des Lieferanten ist künftig für den Abnehmer nicht nur eine Zahlungsaufforderung, sondern zugleich eine Art Wertpapier. Der Abnehmer kann den ausgewiesenen Steuerbetrag sogleich beim Finanzamt geltend machen, auch wenn er seine Rechnung beim Liefe1 Der Beitrag ist in nichtdienstlicher Eigenschaft verfasst. 2 Vgl. z.B. EuGH v. 27.10.2011 – C-504/10 – Tanoarch, BFH/NV 2011, 2220. 3 Herausgegeben vom Bundesminister der Finanzen, Bonn 1967, Gestaltung: Alwo-Werbung, Frankfurt/Main, Gesamtherstellung: Elsnerdruck KG, 1 Berlin 61.

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Ferdinand Huschens ranten noch nicht beglichen hat. Das erhöht – sagen wir es offen – die Versuchung, zum Zweck von Steuerhinterziehung mit Rechnungen zu manipulieren. Die Betriebsprüfung oder gar Steuerfahndung kann deshalb auf ausführliche Angaben in diesen „Wertpapieren“ nicht verzichten, wenn eine wirksame Kontrolle des Vorsteuerabzugs möglich sein soll. Näheres über den vorgeschriebenen Inhalt der Rechnungen steht in § 14 Abs. 1 des Gesetzes.4 Als Rechnungen sind auch Quittungen, Frachtbriefe oder ähnliche Schriftstücke anzusehen, wenn sie den Anforderungen genügen. Es reicht aus, wenn in der Rechnung zu einzelnen Angaben auf andere Schriftstücke (z.B. Lieferscheine, Aufträge, Verträge) bezug genommen wird, die leicht auffindbar abgelegt sind. Eine Rechnung müßte beispielsweise so aussehen: Chemische Werke AG Neustadt, Industriestraße 1 Rechnung an Schuhaus Meyer & Co KG, Altstadt, Markt 10a Wir lieferten am 10.1.1968 5 Karton Schucreme, div. á 100 Ds. 1 Schauständer unberechnet – Fracht, Verpackung + Umsatzsteuer 10 v.H. Bruttopreis

250,— DM 12,— DM netto 262,— DM 26,20 DM 288,20 DM

Zusätzlich zu den Angaben, die für den Großhandel bisher schon durch die Warenausgangsverordnung verlangt wurden, ist nun auch noch die Umsatzsteuer gesondert aufzuführen, wenn der abnehmende Unternehmer es verlangt.“

Die „Macher“ der Fibel des BMF schafften mit ihr nicht nur die beabsichtigte Hilfestellung für die Wirtschaftsbeteiligten, sondern gaben zugleich auch den Willen des damaligen Gesetzgebers zur Funktion und Bedeutung der Rechnung im Umsatzsteuerrecht im allgemeinen und für den Vorsteuerabzug im Besonderen wieder.

4 § 14 Abs. 1 UStG 1967 v. 29.5.1967, BGBl. I 1967, 545 = BStBl. I 1967, 224, lautete: „Führt der Unternehmer steuerpflichtige Lieferungen oder sonstige Leistungen nach §  1 Abs. 1 Nr. 1 aus, so ist er berechtigt und, soweit er die Umsätze an einen anderen Unternehmer für dessen Unternehmen ausführt, auf Verlangen des anderen verpflichtet, Rechnungen auszustellen, in denen die Steuer gesondert ausgeweisen ist. Diese Rechnungen müssen die folgenden Angaben enthalten: 1. Den Namen und die Anschrift des liefernden oder leistenden Unternehmers; 2. den Namen und die Anschrift des Abnehmers der Lieferung oder des Empfängeers der sonstigen Leistung; 3. die Menge und die handelsübliche Bezeichnung der gelieferten Gegenstände oder die Art und den Umfang der sonstigen Leistung; 4. den Tag der Lieferung oder der sonstigen Leistung; 5. das Entgelt für die Lieferung oder sonstige Leistung (§ 10) und 6. den auf das Entgelt (Nummer 5) entfallenden Steuerbetrag.“

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Rechnungsberichtigung mit Rückwirkung ohne Rechnung?

In der Begründung des Regierungsentwurfs eines Umsatzsteuergesetzes vom 30.10.1963 zu § 14 Abs. 1 UStG5 heißt es dazu: „Die ordnungsgemäße Durchführung des Vorsteuerabzugs setzt voraus, daß bei Umsätzen an andere Unternehmer Rechnungen ausgestellt werden, in denen die auf den Umsätzen lastende Steuer offen ausgewiesen ist. In Absatz 1 wird dies vorgeschrieben und bestimmt, welche Angaben die Rechnungen enthalten müssen…“.

Klarer (und auch nicht mit mehr Worten) kann offensichtlich nicht zum Ausdruck gebracht werden, dass eine ordnungsgemäß ausgestellte Rechnung eine materiell-­ rechtliche Voraussetzung für die Ausübung des Vorsteuerabzugs darstellen sollte. Auch in der damaligen Vorstellungswelt des BFH war dies offensichtlich nicht ernstlich zweifelhaft. So urteilte der BFH z.B. für die Streitjahre 1971, 1972, dass die Berechtigung zum Vorsteuerabzug nach § 15 Abs. 1 Nr. 1 UStG 1967 u.a. davon abhängig sei, dass Leistungen für ein Unternehmen unter Abrechnung mit gesonderter Inrechnungstellung von Umsatzsteuer ausgeführt worden sind.6 Die abziehbaren Vorsteuerbeträge seien zu schätzen, wenn Rechnungen mit gesondertem Steuerausweis anderer Unternehmer erteilt waren, sie hernach aber verlorengegangen sind, und nicht mehr rekonstruiert werden können.7 Ergänzungen und Berichtigungen einer Abrechnung über den Leistungsaustausch könnten nur von demjenigen vorgenommen werden, der diese Abrechnung erteilt hat.8 Nach seiner bis zum 31.12.2003 geltenden Fassung bestimmte Art. 22 Abs. 3 Buchst. a der 6. EG-Richtlinie, dass jeder Steuerpflichtige für Lieferungen von Gegenständen und Dienstleistungen, die er an einen anderen Steuerpflichtigen. bewirkt, „eine Rechnung oder ein an deren Stelle tretendes Dokument auszustellen“ hat. Die Rechnung musste zumindest das Entgelt ohne Steuer und den auf den jeweiligen Steuersatz entfallenen Steuerbetrag gesondert ausweisen (Art. 22 Abs. 3 Buchst. b der 6. EG-Richtlinie). Es war Sache der Mitgliedstaaten, die Kriterien festzulegen, unter denen ein Dokument als Rechnung betrachtet werden kann. Die Mitgliedstaaten konnten jedoch weitere Anforderungen festlegen, um die Erhebung der MwSt und die Überprüfung durch die Finanzverwaltung zu sichern (Art. 22 Abs. 8 der 6. EG-Richtlinie). Mit der vom Rat am 20.12.2001 verabschiedeten Richtlinie 2001/115/EG mit dem Ziel der Vereinfachung, Modernisierung und Harmonisierung der mehrwertsteuerlichen Anforderungen an die Rechnungstellung9 wurden die Vorschriften über die obligatorischen Angaben in der Rechnung für den Bereich des Umsatzsteuerrechts10 weitest gehend harmonisiert. Damit schien sich zu verfestigen, dass eine ordnungsgemäße Rechnung materiell-rechtliche Voraussetzung für die Ausübung des Vorsteuerabzugs ist. So hatte gegenüber dem Richtlinienvorschlag der EU-Kommission die deutsche Seite in den Verhandlungen eine Option zur Aufnahme der Steuernummer als obliga 5 BT-Drucks. IV/1590. 6 BFH v. 3.11.1983 – V R 56/75, UR 1984, 61. 7 BFH v. 1.4.1982 – V R 66/77, juris. 8 BFH v. 27.9.1979 – V R 78/73, BStBl. II 1980, 228. 9 ABl. EG 2002 Nr. L 15, 24. 10 Art. 22 der 6. EG-Richtlinie; ab 1.1.2007: Art. 217 ff. MwStSystRL.

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torische Angabe in der Rechnung durchgesetzt. Auch mit der Richtlinie 2010/45/EU v. 13.7.2010 hinsichtlich der Rechnungsstellungsvorschriften11 wurden zusätzliche bzw. veränderte obligatorische Rechnungsangaben in Art.  226 MwStSystRL eingeführt. Erwägungsgrund Nr. 7 der RL 2010/45/EU führt dazu immerhin aus, dass bestimmte Vorschriften über die obligatorischen Rechnungsangaben so geändert werden sollten, dass sie eine bessere Steuerkontrolle gewährleisten, die eine einheitlichere Behandlung von grenzüberschreitenden Lieferungen und Dienstleistungen sowie von Lieferungen und Dienstleistungen im Inland ermöglichen. Auch nach Ergehen der RL 2001/115/EG und der RL 2010/45/EU und den sich da­ raus ergebenden nationalen Gesetzesänderungen hielt der BFH an seiner Ansicht fest, dass die Ausübung des Vorsteuerabzugs eine ordnungsgemäße Rechnung voraussetzt. So entschied er im Jahr 1994 und sogar noch in 2014, der Vorsteuerabzug kann nur auf Grund einer Rechnung geltend gemacht werden, die eine eindeutige und leicht nachprüfbare Feststellung der Leistung ermöglicht, über die abgerechnet worden ist.12 Der BFH ging seit seinen beiden Urteilen v. 24.9.198713 in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass die Abrechnungspapiere (Belegnachweis) Angaben tatsächlicher Art enthalten müssen, welche – ggf. unter Heranziehung weiterer Erkenntnismittel – die Identifizierung der Leistung ermöglichen, über die abgerechnet worden ist.14 Der BFH bezog sich hierbei z.B. in seinem Urteil v. 10.11.199415 auch auf das damalige, für die Streitjahre 1978 bis 1980 gültige Recht in der 6. EG-Richtlinie, welches sich in der MwStSystRL in Art. 178 Buchst. a MwStSystRL fortsetzt. Die Anforderung an eine zum Vorsteuerabzug berechtigende Rechnung stehe im Einklang mit den entsprechenden Regelungen der 6. EG-Richtlinie. Nach Art.18 Abs.1 Buchst. a der 6. EG-Richtlinie müsse der Steuerpflichtige, um das Recht auf Vorsteuerabzug ausüben zu können, eine nach Art. 22 Abs. 3 der 6. EG-Richtlinie ausgestellte Rechnung besitzen. Nach dieser Vorschrift müsse die Rechnung getrennt den Preis ohne Steuer und den auf die einzelnen Steuersätze entfallenden Steuerbetrag sowie ggf. die Steuerbefreiung ausweisen. Die Mitgliedstaaten legten die Kriterien fest, nach denen ein Dokument als Rechnung betrachtet werden kann. Nach der Rechtsprechung des EuGH16 gestatteten diese Vorschriften es den Mitgliedstaaten, die Ausübung des Rechts zum Vorsteuerabzug vom Besitz einer Rechnung abhängig zu machen, die – über die in Art.  22 Abs.  3 Buchst. b der 6. EG-Richtlinie geforderten Angaben hi­ naus – bestimmte Daten enthalten müsse, die erforderlich sind, um die Erhebung der Umsatzsteuer und ihre Überprüfung durch die Finanzverwaltung zu sichern. Solche Angaben dürften jedoch nicht durch ihre Zahl oder ihre technische Kompliziertheit

11 ABl. EU 2010 Nr. L 189/1. 12 Vgl. BFH v. 10.11.1994 – V R 45/93, BStBl. II 1995, 395; BFH v. 16.1.2014 – V R 28/13, BStBl. II 2014, 867. 13 BFH v. 24.9.1987 – V R 50/85, BFHE 153, 65 = BStBl. II 1988, 688, und BFH v. 24.9.1987 – V R 125/86, BStBl. II 1988, 694. 14 Vgl. BFH v. 21.1.1993 – V R 30/88, BStBl. II 1993, 384, und BFH v. 29.4.1993 – V R 118/89, BFH/NV 1994, 584. 15 BFH v. 10.11.1994 – V R 45/93, BStBl. II 1995, 395. 16 Der BFH zitierte hier das EuGH-Urt. v. 14.7.1988 – Rs. 123, 330/87, UR 1989, 380.

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Rechnungsberichtigung mit Rückwirkung ohne Rechnung?

die Ausübung des Rechts zum Vorsteuerabzug praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren. 49 Jahre nach Einführung des geltenden Umsatzsteuersystems in Deutschland und 38 Jahre nach Inkrafttreten der 6. EG-Richtlinie entschied dann der EuGH – sicherlich in Kenntnis des Wortlauts von Art. 178 Buchst. a MwStSystRL17 – mit Urteil vom 15.9.201618, dass der Berichtigung einer unvollständigen Rechnung  – entgegen der deutschen Rechtslage  – Rückwirkung zukommt. Der Besitz einer Rechnung i.S.d. Art. 226 MwStSystRL stelle eine (lediglich) formelle Voraussetzung für das Recht auf Vorsteuerabzug dar. Das EuGH-Urteil „Senatex“ steht in engem Zusammenhang mit der Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Barlis 06.19 Danach kann die Steuerverwaltung das Recht auf Vorsteuerabzug nicht allein deshalb verweigern, weil eine Rechnung nicht die in Art. 226 Nr. 6 und 7 MwStSystRL aufgestellten Voraussetzungen erfüllt, wenn die Verwaltung über sämtliche Daten verfügt, um zu prüfen ob die materiellen Vorsteuerabzugsvoraussetzungen erfüllt sind. Insgesamt hat der EuGH damit – wenn auch nicht ausdrücklich, aber doch tatsächlich in gewisser Abkehr von seinem Urteil v. 14.7.198820 – entschieden, der Vorsteuerabzug kann auch aus einer unvollständigen Rechnung geltend gemacht werden. Überdeutlich geht aus den Urteilen in den Sachen Senatex und Barlis hervor, dass der Besitz einer ordnungsgemäßen Rechnung, die die in Art. 226 MwStSystRL vorgesehenen Angaben enthält, lediglich eine formelle, nicht aber eine materiell-rechtliche Voraussetzung für das Recht auf Vorsteuerabzug ist. Nach den Entscheidungen verlangt das Neutralitätsprinzip der MwSt, dass der Vorsteuerabzug gewährt wird, wenn die materiellen Anforderungen erfüllt sind, selbst wenn der Unternehmer bestimmten formellen Bedingungen nicht genügt hat.21 Nach bisherigem deutschen Recht (§ 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 UStG) setzt die Ausübung des Vorsteuerabzugs materiell-rechtlich voraus, dass der Unternehmer eine nach den §§ 14, 14a UStG ausgestellte Rechnung besitzt. Der EuGH weist der Rechnung bzw. den Rechnungsangaben für Zwecke des Vorsteuerabzugs aber nur noch eine formelle Funktion zu. Der BFH hat inzwischen infolge des EuGH-Urteils Senatex entschie-

17 Die Vorschrift lautet: „Um das Recht auf Vorsteuerabzug ausüben zu können, muss der Steuerpflichtige folgende Bedingungen erfüllen: a) für den Vorsteuerabzug nach Art. 168 Buchstabe a in Bezug auf die Lieferung von Gegenständen oder das Erbringen von Dienstleistungen muss er eine gemäß Titel XI Kapitel 3 Abschnitte 3 bis 6 ausgestellte Rechnung besitzen;“ Art.  226 MwStSystRL mit seinen obligatorischen Rechnungsangaben fällt unter  Abschnitt 4 von Titel IX, Kapital 3 MwStSystRL und wird damit von dem Verweis in Art. 178 Buchst. a MwStSystRL erfasst; Stadie, MwStR 2016, 934, hält (aus meiner Sicht sehr nachvollziehbar) aufgrund des Wortlauts dieser Vorschrift die Urteile des EuGH v. 15.9.2016 – C-516/14 und C-518/14 für nicht gedeckt von Art. 178 und 179 MwStSystRL. 18 EuGH v. 15.9.2016 – C-516/14 – Senatex, UR 2016, 800 m. Anm. Maunz = HFR 2016, 1029. 19 EuGH v. 15.9.2016 – C-516/14 – Barlis 06 – Investimentos Imobiliários e Turísticos, UR 2016, 795 m. Anm. Maunz = HFR 2016, 1031. 20 Rs. 123, 330/87, UR 1989, 380. 21 Vgl. in diesem Sinne auch bereits EuGH v. 21.10.2010 – C-385/09 – Nidera Handelscom­ pagnie, HFR 2010, 1360 und v. 1.3.2012 – C-280/10 – Polski Trawertyn, HFR 2012, 461.

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den22, dass § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 UStG richtlinienkonform auszulegen ist. Gleiches gilt für § 31 Abs. 5 UStDV. Eine Berichtigung nach dieser Vorschrift wirkt daher auf den Zeitpunkt zurück, in dem die Rechnung ursprünglich ausgestellt wurde. An seiner früheren Rechtsprechung23, wonach die Vorsteuer aus einer berichtigten Rechnung erst im Besteuerungszeitraum der Berichtigung abgezogen werden konnte, hält der BFH infolge der EuGH-Rechtsprechung nicht mehr fest. Wird zunächst eine Rechnung ausgestellt, die den Anforderungen der §§ 14, 14a UStG nicht entspricht, und wird diese Rechnung später nach § 31 Abs. 5 UStDV berichtigt, kann das Recht auf Vorsteuerabzug gemäß § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 UStG aufgrund der berichtigten Rechnung für den Besteuerungszeitraum ausgeübt werden, in dem die Rechnung ursprünglich ausgestellt wurde. Unklar ist nach Ergehen der EuGH-Entscheidung in den Sachen Senatex und Barlis, welche Mindestanforderungen (Mindestinhalte) ein Dokument besitzen muss, um es umsatzsteuerlich überhaupt als Rechnung bezeichnen zu können. Anders gesagt, es stellen sich auch Fragen, wenn denn der Rechnung lediglich formale Funktion für die Ausübung des Vorsteuerabzugs zukommen soll, ob der Vorsteuerabzug bereits für den Besteuerungszeitraum des Leistungsbezugs auch gänzlich ohne Vorliegen einer Rechnung ausgeübt werden kann, wenn ȤȤ sich die Daten, die eine vollständige Rechnung ausmachen, aus sonstigen beim Leistungsempfänger vorliegenden Unterlagen ergeben (Verträge, Schriftwechsel, Bestellungen u.ä.) ȤȤ (ohne dass die vorgenannten ergänzenden Unterlagen vorliegen) die Rechnung erst später (in einem anderen Besteuerungszeitraum) ausgestellt wird oder ȤȤ (ohne dass die vorgenannten ergänzenden Unterlagen vorliegen) ein ursprüngliches Abrechnungspapier, das nicht als umsatzsteuerliche Rechnung bezeichnet werden kann (z.B. weil darin lediglich die erbrachte Leistung beschrieben wird und zur Zahlung aufgefordert wird), später durch eine vollständige Rechnung ersetzt wird. Auf den ersten Blick erscheint die Rechtsprechung des EuGH in den Sachen Senatex und Barlis wie Paukenschläge, die eine als gefestigt geltende Rechtsauffassung urplötzlich in Frage gestellt haben. Möglicherweise, dies versucht dieser Beitrag aufzuzeigen, hat der EuGH jedenfalls mit seinem Urteil in der Sache Senatex aber weniger die Funktion der Rechnung für Zwecke des Vorsteuerabzugs als solche in Frage gestellt, als vielmehr der deutschen Vollverzinsungsregelung nach § 233a AO, die bei Nichtanerkennung der Rückwirkung einer Rechnungsberichtigung zum Tragen kam, eine eindeutige Abfuhr erteilt.24 Wie dieser Beitrag zu zeigen versucht, sollte es – mit 22 BFH v. 20.10.2016 – V R 26/15, DStR 2016, 2967. 23 Vgl. z.B. BFH v. 24.8.2006 – V R 16/05, BStBl. II 2007, 340. 24 Seither kommt die Vollverzinsung bei Vorsteuerabzügen aus formal fehlerhaften Rechnungen nicht mehr in Betracht. Ob damit die Vollverzinsung wie von Widmann, UR, 2017, 18, gefordert, im Bereich der USt gänzlich abgeschafft gehört, muss sicherlich einer näheren Prüfung vorbehalten bleiben.

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Blick auf die bisherige Rechtsprechung des EuGH – auch in Zukunft grundsätzlich nicht möglich sein, den Vorsteuerabzug ohne Besitz einer Rechnung bzw. ohne Besitz eines die Mindestmerkmale einer umsatzsteuerlichen Rechnung erfüllenden Abrechnungspapiers geltend zu machen.

II. Bisherige EuGH-Rechtsprechung 1. Unionsrecht Die zentrale Vorschrift, um die es vorliegend geht, ist Art. 178 Buchst. a MwStSystRL: „Um das Recht auf Vorsteuerabzug ausüben zu können, muss der Steuerpflichtige folgende Bedingungen erfüllen: a) für den Vorsteuerabzug nach Art. 168 Buchst. a in Bezug auf die Lieferung von Gegenständen oder das Erbringen von Dienstleistungen muss er eine gemäß Titel XI Kapitel 3 Abschnitte 3 bis 6 ausgestellte Rechnung be­ sitzen“. Die Vorgängervorschrift in der 6. EG-Richtlinie war Art. 18 Abs. 1 Buchst. a: „Um das Recht auf Vorsteuerabzug ausüben zu können, muss der Steuerpflichtige über die nach Art. 17 Abs. 2 Buchst. a abziehbare Steuer eine nach Art. 22 Abs. 3 ausgestellte Rechnung besitzen. Art. 22 Abs. 3 der 6. EG-Richtlinie sah vor: „a) Jeder Steuerpflichtige hat für die Lieferungen von Gegenständen und die Dienstleistungen, die er an einen anderen Steuerpflichtigen oder an eine nichtsteuerpflichtige juristische Person bewirkt, eine Rechnung oder ein an deren Stelle tretendes Dokument auszustellen. … b) Die Rechnung muss getrennt den Preis ohne Steuer und den auf die einzelnen Steuersätze entfallenden Steuerbetrag sowie gegebenenfalls die Steuerbefreiung ausweisen. … c) Die Mitgliedstaaten legen die Kriterien fest, nach denen ein Dokument als Rechnung betrachtet werden kann.“

Art. 22 Abs. 3 der 6. EG-Richtlinie findet sich (insbesondere ergänzt um die obligatorischen Rechnungsangaben) in der MwStSystRL in den Art. 220 Abs. 1 Nr. 1 (Pflicht zur Rechnungsstellung) und Art. 226 (obligatorische Rechnungsangaben) wieder. Die MwStSystRL (und auch vorher die 6. Richtlinie) untererscheidet zwischen der Entstehung des Vorsteuerabzugs und der Ausübung des Rechts auf Vorsteuerabzug. Der EuGH hat einerseits entschieden, der Steuerpflichtige habe das „Recht auf sofortigen Abzug“ der für Investitionsausgaben, die für Zwecke seiner beabsichtigten, das Abzugsrecht eröffnenden Umsätze getätigt wurden, geschuldeten oder entrichteten MwSt.25 Andererseits betrifft Art. 17 der 6. EG-Richtlinie (bzw. Art. 168 ff. MwStSyst­ RL) nach der Rechtsprechung des EuGH nur das Bestehen des Rechts auf Vorsteuerabzug als solches, während die Voraussetzungen für die Ausübung dieses Rechts in Art. 178 ff. MwStSystRL (bzw. Art. 18 der 6. EG-Richtlinie) geregelt sind.26 Nach dem Wortlaut von Art. 178 Buchst. a MwStSystRL ist somit Voraussetzung für den Vorsteuerabzug, dass der Unternehmer bei inländischen Umsätzen eine ordnungsgemäße Rechnung seines leistenden Unternehmers besitzt. Hierunter ist jedes Dokument oder eine Mehrzahl von Dokumenten zu verstehen, mit denen vom Unternehmer 25 Vgl. z.B. EuGH v. 15.1.1998 – C-37/95 – Ghent Coal Terminal NV, HFR 1998, 415. 26 Vgl. EuGH v. 8.11.2001 – C-338/98 – Kommission/Niederlande, UR 2001, 544.

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oder von einem von ihm beauftragten selbständigen Dritten über eine Lieferung oder eine Dienstleistung abgerechnet wird.27 Der EuGH hat bereits in mehreren Entscheidungen die Vorschrift ausgelegt, was nachstehend exemplarisch betrachtet werden soll. 2. EuGH-Urteil C-123, 330/87 In dieser Sache28 ging es um die Versagung des Vorsteuerabzugs nach belgischem Recht wegen des Vorliegens unvollständiger Rechnungen. In dem Verfahren C-123/87 war der Vorsteuerabzug auf den Erwerb von Gebrauchtwagen streitig, für die der Lieferant Rechnungen ausgestellt hatte, die nach Ansicht der belgischen Finanzverwaltung gewisse Unregelmässigkeiten aufwiesen. So fehle die Nummer der Eintragung ins Warenausgangsbuch, auf den Rechnungen seien fiktive Anschriften und gelöschte Mehrwertsteuernummern angegeben, für dieselben Familiennamen seien unterschiedliche Unterschriften angebracht worden, und die verkauften Fahrzeuge seien nicht ausreichend identifiziert. In der Sache C-330/87 ging es um Rechnungen, die nach Ansicht der belgischen Finanzbehörde die Mehrwertsteuernummer des Lieferanten und die Daten der Lieferung der Gegenstände oder des Abschlusses der Dienstleistungen; ausserdem bezeichneten die Rechnungen Namen oder Firma des Steuerpflichtigen nicht genau genug. Die Beschreibung der Gegenstände und Dienstleistungen sei auf allen streitigen Rechnungen völlig unzulänglich. Der EuGH hat entschieden, dass das damalige Gemeinschaftsrecht  – was die Ausübung des Rechts zum Vorsteuerabzug unter den in den Rechtssachen gegebenen Umständen betraf – sich darauf beschränkte, eine Rechnung zu fordern, die bestimmte Angaben enthält. Die Mitgliedstaaten seien befugt gewesen, zusätzliche Angaben zu verlangen, um die genaue Erhebung der MwSt und ihre Überprüfung durch die Finanzverwaltung zu sichern. Die Ausübung des Rechts zum Vorsteuerabzug durfte jedoch nur insoweit davon abhängig gemacht werden, dass die Rechnung über die in Art. 22 Abs. 3 Buchst. b der 6. EG-Richtlinie geforderten Angaben hinaus noch weitere Angaben enthielt, als dies erforderlich war, um die Erhebung der MwSt und ihre Überprüfung durch die Finanzverwaltung zu sichern. Außerdem durften solche Angaben nicht durch ihre Zahl oder ihre technische Kompliziertheit die Ausübung des Rechts zum Vorsteuerabzug praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren. Das Urteil zeigt, der EuGH erkannte die Funktion der Rechnung als das der Finanzverwaltung zur Verfügung stehende Kontrollinstrument für den Vorsteuerabzug dem Grunde nach durchaus an. Bis zum 31.12.2003 musste die Rechnung unionsrechtlich zumindest das Entgelt ohne Steuer und den auf den jeweiligen Steuersatz entfallenden Steuerbetrag gesondert ausweisen; die EU-Mitgliedstaaten konnten jedoch weitere Anforderungen festlegen, um die Kontrolle des Vorsteuerabzugs durch die Finanz27 Langer in Reiß/Kraeusel/Langer, UStG, April 2018, Kommentierung MwStSystRL, Art. 178 MwStSystRL, Rz. 7. 28 EuGH v.14.7.1988 – verb. Rs. C-123/87 und C-330/87 – Léa Jeunehomme und SA EGI, UR 1989, 381.

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verwaltung zu ermöglichen. Die Angaben durften aber nicht so umfangreich und kompliziert ausgestaltet sein, dass damit im Ergebnis die Ausübung des Vorsteuerabzugs für den Leistungsempfänger unmöglich gemacht wurde. Prinzipiell war durch die Jeunehomme-Entscheidung des EuGH aber schon vorgegeben, dass fehlende oder unvollständige Rechnungsangaben nicht von vornherein zur endgültigen Versagung des Vorsteuerabzugs führen durften, sondern die Finanzverwaltung ihr Ermessen hinsichtlich der Qualitätsbewertung einer Rechnung bzw. der in ihr enthaltenen Angaben auszuüben hatte. 3. EuGH-Urteil C-85/95 In dem Verfahren ging es um die Versagung des Vorsteuerabzugs durch das Finanzamt, weil der Kläger bezüglich von ihm in Auftrag gegebener Umbauarbeiten an einem uunternehmerischen Gebäude nicht über die Originalrechnungen verfügte, sondern lediglich Kopien besaß. Der BFH hatte Zweifel, was unter „Rechnung“ im Sinne von Art.  18 Abs.  1 Buchst.a der 6. EG-Richtlinie zu verstehen war und hatte dem EuGH vorgelegt. In seinem Urteil vom 5.12.199629 hatte der EuGH entschieden, dass Art.  18 Abs.  1 Buchst. a und Art.  22 Abs.  3 der 6. EG-Richtlinie es den Mitgliedstaaten gestatten, unter einer Rechnung nicht nur die Originalrechnung, sondern an deren Stelle auch jedes andere Dokument zu verstehen, das den von ihnen festgelegten Kriterien entspricht. Die Mitgliedstaaten hätten die Befugnis, zum Nachweis des Vorsteuerabzugsrechts die Vorlage der Originalrechnung zu verlangen und, wenn der Unternehmer sie nicht mehr besitzt, andere Beweise zuzulassen, aus denen sich ergibt, dass der Umsatz, auf den sich der Antrag auf Vorsteuerabzug bezieht, tatsächlich stattgefunden hat. Der EuGH hatte mit seinem Urteil die damalige deutsche Rechtspraxis bestätigt, dass der Vorsteuerabzug gekürzt werden kann, wenn der Unternehmer das Abzugsrecht bei einer späteren Prüfung nicht unter Vorlage von Originalrechnungen nachweisen kann. Die den Mitgliedstaaten durch Art. 22 Abs. 3 Buchst. c der 6. EG-Richtlinie verliehene Befugnis, die Kriterien festzulegen, nach denen andere Dokumente als die Originalrechnung an die Stelle der Rechnung treten können, umfasste nach dem Urteil auch die Befugnis, zu bestimmen, dass ein Dokument (z.B. Rechnungskopie) nicht an die Stelle der Rechnung treten kann, wenn ein Original ausgestellt worden ist und der Empfänger es besitzt. Um eine zutreffende Besteuerung sicherzustellen, waren die Mitgliedstaaten nach damaligem Unionsrecht also nicht gehindert, bei Außenprüfungen die Vorlage von Originalrechnungen zu verlangen. Sie mussten jedoch auch einem Unternehmer, der Originalrechnung nicht mehr besitzt, gestatten, andere stichhaltige Unterlagen vorzulegen, aus denen sich ergibt, dass der Umsatz, auf den sich der Vorsteuerabzug bezieht, tatsächlich stattgefunden hat. Somit hatte der EuGH wiederum das Vorliegen einer Rechnung als Voraussetzung des Vorsteuerabzugs bejaht. Nur in dem besonderen Fall, dass der Unternehmer keine Originale besaß, konnte er mit Ersatzdokumenten seine Vorsteuerabzugsberechtigung nachweisen. 29 Rs. C-85/95, John Reisdorf, HFR 1997, 183.

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4. EuGH-Urteil C-338/98 Die EU-Kommission hatte Klage gegen die Niederlande erhoben, weil es den dortigen Unternehmern gestattet war, aus Kostenerstattungen gegenüber Arbeitnehmern, die ihre Privat-Pkw auf Dienstreisen einsetzen, Vorsteuerpauschalen geltend zu machen. Die EU-Kommission sah darin einen Verstoß gegen Art.  17 Abs.  2 Buchst. a und Art. 18 Abs. 1 Buchst. a der 6. EG-Richtlinie. Nach der EuGH-Entscheidung30 war der in den Niederlanden gewährte pauschale Vorsteuerabzug (neben dem Befund des EuGH, dass der Leistungsbezug eines Arbeitnehmers während einer Dienstreise kein Leistungsbezug für das Unternehmen ist) auch deshalb unzulässig, weil der Unternehmer hinsichtlich der Kostenerstattung keine Rechnung i.S.  von Art.  18 Abs.  1 Buchst. a der 6. EG-Richtlinie besaß. Der EuGH hatte klargestellt, dass das Recht, den Vorsteuerabzug durchführen zu können (nicht das Recht an sich), vom Besitz einer Rechnung abhängt, die von einem anderen Unternehmer ausgestellt sein muss. Da im vorliegenden Fall keine Leistung eines anderen Unternehmers erbracht worden war, konnte folglich auch keine ent­sprechende Rechnung vorgelegt werden. Somit hatte der EuGH auch hier entschieden, ohne Besitz einer Rechnung ist die Ausübung des Vorsteuerabzugs grundsätzlich unzulässig. 5. EuGH-Urteil C-90/02 Bei dem Verfahren ging es um die Frage, ob der Empfänger von Dienstleistungen, der nach Art. 21 Nr. 1 der 6. EG-Richtlinie (in der Fassung vor der Änderung durch die Richtlinie 2000/65/EG v. 17.10.2000) Steuerschuldner und als solcher in Anspruch genommen worden ist, eine nach Art.  18 Abs.  1 Buchst. a bzw. Art.  22 Abs.  3 der 6. EG-Richtlinie ausgestellte Rech­nung besitzen muss, um den Vorsteuerabzug ausüben zu können. Dies hatte der EuGH31 verneint. Nach der Entscheidung ging für die Frage des Vorsteuerabzugs in den Fällen der Verlagerung der Steuerschuldnerschaft Art. 18 Abs. 1 Buchst. d der 6. EG-Richtlinie als Spezialvorschrift der Regelung in Art.  18 Abs.  1 Buchst. a der Richtlinie vor. Nach Art. 18 Abs. 1 Buchst. d musste der den Vorsteuerabzug begehrende Unternehmer nur die Förmlichkeiten erfüllen, die der Mitgliedstaat in Wahrnehmung der ihm nach Art. 18 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie eröffneten Möglichkeiten vorgeschrieben hatte. Art. 18 Abs. 1 Buchst. a, der den Besitz einer Rechnung als Voraussetzung des Vorsteuerabzugs regelte, war in den Fällen der Verlagerung der Steuerschuldnerschaft nicht einschlägig. Der EuGH begründete dies mehr mit dem Wortlaut von Art. 18 Abs. 1 Buchst. d und Art. 21 Nr. 1 der 6. EG-Richtlinie als der Funktion einer Rechnung. Nach Auffassung des EuGH regelte der in Art. 18 Abs. 1 Buchst. d angeführte Art. 21 Nr. 1 Buchst. a Unterabs. 3 der 6. EG-Richtlinie (in der Fassung vor der Änderung durch die Richtlinie 2000/65/EG) zwar, dass die Verlagerung der Steuerschuldnerschaft voraussetzt, dass der Unternehmer eine nach Art. 22 Abs. 3 der EG-Richtlinie ausgestellte Rech­nung besitzt. Dies war aber – 30 EuGH v. 8.11.2001 – C-338/98 – Kommission /Niederlande, HFR 2002, 159. 31 EuGH v. 1.4.2004 – C-90/02 – Gerhard Bockemühl, HFR 2004, 815.

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so der EuGH  – lediglich ein Kriterium der Verlagerung der Steuer­schuldnerschaft und nicht eine Voraussetzung für den Vorsteuerabzug. In den weiteren Urteilsgründen erkannte der EuGH zwar an, dass nach Art. 18 Abs. 1 Buchst. d der EG-Richtlinie die Mitgliedstaaten Förmlichkeiten für die Ausübung des Vorsteuerabzugsrechts bei einer Steuerschuldverlagerung vorschreiben konnten. Dazu gehörte jedoch nicht, dass der betreffende Mitgliedstaat verlangen konnte, dass der die Steuer schuldende Unternehmer für Zwecke des Vorsteuerabzugs eine entsprechende Rechnung besitzt. Dies begründete der EuGH – allerdings ohne nähere Erläuterungen – damit, dass er annahm, die Finanzverwaltung besitze in den Fällen der Steuerschuldverlagerung von vornherein überprüfbare Angaben darüber, dass der die Leistung empfangene Unternehmer Steuerschuldner ist. In diesem Fall dürfe der Mitgliedstaat eben keine zu­sätzlichen Voraussetzungen für die Ausübung des Vorsteuerabzugs festlegen. Im Ergebnis bedeutete die EuGH-Entscheidung, dass in den Fällen der Steuerschuldverlagerung an das Recht des Vorsteuerabzugs geringere Anforderungen gestellt werden, als in den Fällen der Besteuerung des Umsatzes durch den leistenden Unternehmer. Offensichtlich war der EuGH nicht der Auffassung, dass Erleichterungen in Bezug auf die Notwendigkeit, für Zwecke des Vorsteuerabzugs eine Rechnung zu besitzen, nur allgemein gelten können (z.B. bei Kleinbetragsrechnungen). Andererseits stellte das Urteil nicht die Pflicht zum Besitz einer Rechnung für Zwecke des Vorsteuerabzugs aus einem Umsatz in Frage, für den der leistende Unternehmer Steuerschuldner ist. 6. EuGH-Urteil C-152/02 Bei dem Verfahren ging es um die Frage der zeitlichen Wirkung des Vorsteuerabzugs. Streitig war, für welchen Besteuerungszeitraum der Vorsteuerabzug geltend gemacht werden kann, wenn die Rech­nung in einem späteren Besteuerungszeitraum eingeht, als die Leistung bewirkt wurde. Der BFH hatte den EuGH gefragt, ob ein Unternehmer das Recht auf Vorsteuerabzug nur mit Wirkung für das Kalen­derjahr ausüben darf, in dem er gemäß Art. 18 Abs. 1 Buchst. a der 6. EG-Rechtlinie in den Besitz der Rechnung gelangt ist oder ob die Ausübung dieses Rechts schon für das Kalenderjahr – und somit ggf. auch rückwirkend – möglich ist, indem es gemäß Art. 17 Abs. 1 der 6. EG-Richtlinie entstand. Im Vorlagefall hatte die Klägerin, die ihre Voranmeldungen monatlich abgibt, eine Leistung im Dezember 1999 erhalten. Die dazugehörenden Rechnungen wurden zwar noch im Dezember 1999 ausgestellt, gingen aber erst im Januar 2000 bei der Klägerin ein. Nach der damaligen Rechtsprechung des BFH entstand der Anspruch auf Abzug der Vorsteuer in dem Voranmeldungszeitraum, in dem die Anspruchsvoraussetzungen im Sinne des § 15 Abs. 1 Nr. 1 UStG insgesamt vorlagen – § 16 Abs. 2 UStG.32

32 Vgl. BFH v. 21.10.1994 – V R 84/92, BStBl. II 1995, 233 m.w.N.

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Zu diesen Voraussetzungen gehörte u.a. auch eine Rechnung mit gesondertem Um­ satzsteuer­ausweis.33 Der EuGH34 hatte diese Rechtsprechung bestätigt. Nach dem Urteil war zwischen der Entstehung des Vorsteuerabzugsrechts nach Art. 17 Abs. 1 und dem Nachweis seiner Ausübung im Sinne von Art. 18 Abs. 2 der 6. EG-Richtlinie zu unterscheiden. Nach dem Urteil kann der Vorsteuerabzug erst dann geltend gemacht werden, wenn beide Voraussetzungen, der Bezug der Leistung und der Rechnungseingang, kumulativ vorliegen. Das Vorsteuerabzugsrecht kann also, wenn die Rechnung in einem späteren Voranmeldungszeitraum eingeht als die Leistung bezogen wird, erst für diesen späte­ ren Voranmeldungszeitraum geltend gemacht werden. Der EuGH begründete dies zum einen mit der Kontrollfunktion der Rechnung. Der Besitz einer Rech­nung als Voraussetzung des Vorsteuerabzugs stehe mit den Zielen der 6. EG-Richtlinie in Einklang, die Erhebung der Mehrwertsteuer und ihre Überprüfung sicherzustellen. Interessanter noch war die zweite Erwägung des EuGH, dass der Vorsteuerabzug auch eine Steuerbe­ lastung des Leistungsempfängers voraussetzt. Daraus folge, so der EuGH, dass die Unternehmer grundsätzlich keine Zahlungen vornehmen und daher keine Vorsteuer (an den leistenden Unterneh­mer) abführen, bevor sie eine Rechnung oder ein anderes als Rechnung zu betrachtendes Dokument erhalten haben und dass nicht von einer Belastung des Umsatzes mit der MwSt für den Leistungsempfänger ausgegangen werden könne, bevor er diese Umsatzsteuer an den leistenden Un­ ternehmer abgeführt habe. Hier schien der EuGH darauf abzustellen, dass der Vorsteuerabzug auch eine wirtschaftliche Belastung des Leistungsempfängers mit der ihm in Rechnung gestellten Umsatz­steuer voraussetzt. Dies bedeutet im Prinzip aber nichts anderes, als dass der EuGH eher das sog. Ist-Prinzip als das sog. Soll-Prinzip dem Mechanismus des Vorsteuerabzugs zugrunde legte. Zwar ging der EuGH nicht so weit, dass er die tatsächliche Zahlung der MwSt an den leistenden Unternehmer als Voraus­setzung des Vorsteuerabzugs normierte, immerhin muss nach dem Urteil aber der Leistungsempfänger über eine Rech­nung verfügen, die ihn zur Zahlung auch der MwSt an den leistenden Unternehmer zwingt. Die Entscheidung in der Sache Terra Baubedarf war die bis dahin deutlichste Aussage des EuGH, dass die Ausübung des Vorsteuerabzugs an den Besitz einer Rechnung anknüpft. 7. EuGH-Urteil C-368/09 Bei dem Verfahren ging es um die formalen Anforderungen an eine Rechnung, die zum Vorsteuerabzug berechtigt. Im Ausgangsfall wurde der Klägerin der Vorsteuerabzug aus Eingangsleistungen verwehrt, da in den entsprechenden Rechnungen ein unzutreffendes Leistungsdatum aufgeführt war. Auch der Vorsteuerabzug aufgrund der von dem leistenden Unternehmer mit – zutreffendem Leistungsdatum – berichtigten Rechnungen wurde versagt, „da an demselben Tag zwei unterschiedliche Arten 33 Vgl. z.B. BFH v. 16.4.1997 – XI R 63/93, BStBl. II 1997, 582. 34 EuGH v. 29.4.2004 – C-152/02 – Terra Baubedarf-Handel, HFR 2004, 709.

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der Nummerierung der Rechnungen angewendet worden seien und auf diese Weise eine aufeinander folgende Nummerierung nicht gewährleistet gewesen sei“. Das Vorlagegericht wollte wissen, ob die Art. 167, 178 Buchst. a, 220 Nr. 1 und 226 der MwStSystRL einer nationalen Regelung oder einer darauf beruhenden Verwaltungspraxis entgegenstehen, wonach kein Recht auf Vorsteuerabzug besteht, wenn die Rechnung über die dem Unternehmer erbrachten Leistung ursprünglich eine falsche Angabe (hier das Datum, an dem die Leistung erbracht wurde) enthielt, deren spätere Berichtigung nicht alle in den anwendbaren nationalen Vorschriften enthaltenen Voraussetzungen (hier fortlaufende Nummerierung der nach ungarischem Recht vorgeschriebenen Gutschrift zur Aufhebung der alten Rechnung sowie der berichtigten Rechnung) erfüllt. Der EuGH35 hatte entschieden, dass in dem geschilderten Fall der Vorsteuerabzug nicht allein aus dem Grund versagt werden kann, dass die Gutschrift und die berichtigte Rechnung keine fortlaufende Nummerierung aufweisen. Die MwStSystRL sehe keine Verpflichtung für den Unternehmer vor, nach der die berichtigten Rechnungen und die annullierenden Gutschriften zur gleichen Nummernserie gehören müssen. Gleichzeitig gab der EuGH aber implizit in Rn. 43 f. des Urteils auch zu erkennen, dass eine Rechnung sämtliche in Art. 226 MwStSystRL genannten Angaben zutreffend enthalten muss, um zum Vorsteuerabzug zu berechtigen. Der EuGH konnte in seinem Urteil offen lassen, ob der Vorsteuerabzug allein aufgrund der Angabe eines falschen Leistungsdatums in der Rechnung versagt werden kann. Denn jedenfalls habe der (ungarischen) Steuerverwaltung später eine formal richtige Rechnung vorgelegen. Diese berichtigte Rechnung kann nach dem EuGH-Urteil ihrerseits nicht mit der Begründung abgelehnt werden, dass die Nummer der berichtigten Rechnung nicht der gleichen „Serie“ entstammt wie die Nummer der Gutschrift, mit der die fehlerhafte Rechnung annulliert wurde. Der EuGH hatte mit seinem Urteil wiederum bestätigt, dass für den Vorsteuerabzug zwischen der materiell-rechtlichen Voraussetzung (Art. 168 Buchst. a MwStSystRL – Eingangsleistung für Zwecke der vom Unternehmer bewirkten besteuerten Umsätze) und den in Art. 178 Buchst. a MwStSystRL geregelten formalen Anforderungen (Besitz einer zutreffend – und alle obligatorischen Angaben enthaltende – ausgestellten Rechnung) zu unterscheiden ist. Das EuGH-Urteil enthielt aber keine expliziten Ausführungen darüber, für welchen Besteuerungszeitraum im Vorlagefall der Vorsteuerabzug möglich war, ob für den Zeitraum, in dem die Leistung erbracht wurde, oder erst für den Zeitraum, in dem die berichtigte Rechnung vorlag.36 Dem Urteil war also  keine Rückwirkung der Rechnungsberichtigung auf den ursprünglichen Be­ steuerungszeitraum zu entnehmen.37 Der EuGH hatte lediglich entschieden, dass die Ablehnung des Vorsteuerabzugs im Ausgangsverfahren unzulässig war, wenn (wie unstreitig) die materiell-rechtlichen Voraussetzungen vorlagen und wenn (wie im 35 EuGH v. 15.7.2010 – C-368/09 – Pannon Gép Centrum, HFR 2010, 994. 36 Dies wurde vom EuGH nachträglich in seinem Urteil v. 15.9.2016 – C-518/14 – Senatex, HFR 2016, 1029, auch ausdrücklich bestätigt. 37 So aber Wäger, DStR 2010, 1478.

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Ausgangsfall gegeben) die berichtigte Rechnung vor dem Zeitpunkt der Rückforderung des Vorsteuerabzugs durch die Finanzbehörde bereits ausgestellt war. Auch hatte er lediglich entschieden, dass die ungarische Finanzverwaltung das Vorsteuerabzugsrecht nicht gänzlich ablehnen konnte, wenn ihr die (nach dem Unionsrecht zulässige) Rechnungsberichtigung bereits bekannt war. 8. EuGH-Urteil C-280/10 Bei dem Verfahren ging es um die Auslegung von Art. 9 und 168 Buchst. a sowie der Art. 178 Buchst. a und 226 Nr. 5 MwStSystRL im Hinblick auf den Vorsteuerabzug im Zusammenhang mit der Gründung einer Gesellschaft. Streitig war die Berechtigung eines Personenverbundes von zukünftigen OHG-Personengesellschaftern zum Vorsteuerabzug, der vor der formellen Eintragung der OHG in das Handelsregister der Gesellschaft dienende Investitionsausgaben (Grundstückserwerb) getätigt hatte. Die polnische Finanzbehörde versagte den Vorsteuerabzug. Das Grundstück sei von den Gesellschaftern, nicht aber von der Gesellschaft erworben worden. Die Rechnung für die notarielle Beurkundung sei auf einen nichtexistenten Rechtsträger ausgestellt worden, da die Gesellschaft erst nach der Rechnungsausstellung im Handelsregister eingetragen wurde. Der EuGH38 hatte u.a. entschieden, dass es für den Vorsteuerabzug unschädlich ist, wenn die Rechnung für einen Bezug der OHG auf die Namen der Gesellschafter (und nicht auf den Namen der späteren OHG) ausgestellt ist. Danach ist die Verletzung der formalen Pflicht, nach Art. 226 Nr. 5 MwStSystRL auf der Rechnung den vollständigen Namen und die Anschrift des Leistungsempfängers anzugeben, nicht hinderlich für den Vorsteuerabzug, wenn die Investition von den Gesellschaftern für die Gesellschaft getätigt wird und zwischen den Gesellschaftern und der späteren OGH Personenidentität herrscht. Eine Versagung des Vorsteuerabzugs in diesem Fall wäre nach der EuGH-Entscheidung unverhältnismäßig. Der EuGH hatte mit diesem Urteil zum ersten Mal von einer Verletzung (lediglich) formaler Pflichten im Zusammenhang mit Rechnungsangaben gesprochen. Hier deutete sich die spätere Entscheidung in den Sachen Senatex und Barlis im Grunde bereits an. 9. EuGH-Urteil C-271/12 Bei dem Verfahren ging es um die Voraussetzungen des Vorsteuerabzugs im Hinblick auf die Vollständigkeit von Rechnungen. Den Klägerinnen wurde der Vorsteuerabzug für bezogene Dienstleistungen wegen Lückenhaftigkeit der von den leistenden Unternehmern ausgestellten Rechnungen versagt. Die betreffenden Rechnungen enthielten unstreitig nicht sämtliche Pflichtangaben. Insbesondere fehlten Angaben bei der Leis38 EuGH v. 1.3.2012 – C-280/10 – Kopalnia Odkrywkowa Polski Trawertyn P. Granatowicz, M. Wąsiewicz Spólka jawna, HFR 2012, 461.

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tungsbeschreibung. Die fehlenden Angaben wurden vom vorlegenden Gericht als wesentlich für die Gewährleistung der Steuererhebung und deren Kontrolle durch die Finanzverwaltung erachtet. Im Rahmen des Gerichtsverfahrens waren die fehlenden Angaben durch Verträge und anderweitige Informationen vervollständigt worden. Vor diesem Hintergrund hatte das vorlegende Gericht u.a.gefragt, ob ein Mitgliedstaat den Vorsteuerabzug wegen lückenhafter Rechnungen versagen kann, wenn diese durch Informationen zum Beweis des tatsächlichen Vorliegens, der Natur und des Betrags der verrechneten Umsätze vervollständigt werden. Mit seinem Urteil hatte der EuGH39 dem nationalen Gericht die Entscheidung überlassen, ob die geforderten Angaben mit den Vorgaben dem Unionsrecht im Einklang standen und ob im konkreten Fall angesichts der vervollständigten Informationen die nationalen Kriterien für das Vorliegen einer Rechnung bzw. an deren Stelle tretendes Dokument erfüllt waren. Allerdings hatte er auch entschieden, dass der Vorsteuer­ abzug aus einer unvollständigen Rechnung auch dann versagt werden kann, wenn die für den Vorsteuerabzug maßgeblichen Unterlagen erst nach der Verwaltungsentscheidung über die Versagung des Vorsteuerabzugs vervollständigt werden. Er hob insoweit auf sein Urteil v. 15.7.201040 ab. Danach ist es zwar zulässig, fehlerhafte Rechnungen zu berichtigen. Wenn alle für das Recht auf Vorsteuerabzug notwendigen materiell-rechtlichen Voraussetzungen erfüllt sind und der Unternehmer der Finanzbehörde vor Erlass ihrer Entscheidung eine berichtigte Rechnung zugeleitet hat, kann ihm der Vorsteuerabzug grundsätzlich nicht mit der Begründung abgesprochen werden, dass die ursprüngliche Rechnung fehlerhaft war. Im entschiedenen Fall wurde eine Rechnung aber erst nach der Verwaltungsentscheidung, den Vorsteuerabzug zu versagen, berichtigt. Diese Entscheidung hätte ein Indiz dafür sein können, dass der EuGH einer Rechnungsberichtigung keine Rückwirkung zubilligen wollte, was sich allerdings durch das EuGH-Urteil in der Sache Senatex als unzutreffender Schluss erwies. 10. EuGH-Urteil C-518/14 Bei dem Verfahren ging es erstmals ausdrücklich um die Frage, ob die Berichtigung einer Rechnung für Zwecke des Vorsteuerabzugs aus der in der Rechnung aufgeführten Leistung Rückwirkung entfalten kann. Die Bundesregierung hatte sich an dem Verfahren mit einer schriftlichen Stellungnahme sowie durch Teilnahme an der mündlichen Verhandlung beteiligt und zur Verteidigung der deutschen Rechtslage die Auffassung vertreten, dass Art. 178 und Art. 179 der MwStSystRL dahin auszulegen sind, dass der Vorsteuerabzug erst bei Vorliegen einer Rechnung mit sämtlichen von der Richtlinie geforderten Angaben gewährt werden kann, wozu insbesondere auch die Angabe der Steuernummer bzw. MwSt-IDNr. des Leistungserbringers gehöre. Weiterhin wurde die Auffassung vertreten, dass der Vorsteuerabzugsanspruch nicht mit Rückwirkung auf den Zeitpunkt der ursprünglichen Rechnungsstellung ausgeübt werden könne, wenn die Rechnung den Anforderungen der Richtlinie zu39 EuGH v. 8.5.2013 – C-271/12 – Petroma Transports SA u.a., HFR 2013, 656. 40 EuGH v. 15.7.2010 – C-368/09 – Pannon Gép Centrum, HFR 2010, 994.

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nächst nicht entsprach, sondern erst im Zeitpunkt der Vorlage einer vollständigen Rechnung. Wie bereits der Generalanwalt in seinen Schlussanträgen vom 17.2.2016 ist auch der EuGH in seinem Urteil41 zu dem Ergebnis gekommen, dass der Berichtigung einer unvollständigen Rechnung Rückwirkung zukommt. Er begründet dies im Wesentlichen damit, dass der Besitz einer Rechnung i.S.d. Art. 226 MwStSystRL eine (lediglich) formelle Voraussetzung für das Recht auf Vorsteuerabzug darstellt, und dass die Auferlegung von Nachzahlungszinsen wegen nicht rückwirkender Anerkennung von Rechnungsberichtigungen zu einer steuerlichen Belastung führe, obwohl das gemeinsame Mehrwertsteuersystem die Neutralität der MwSt garantiere. Die Auferlegung von Nachzahlungszinsen stelle auch keine angemessene Sanktionsmaßnahme wegen Nichterfüllung der formellen Vorsteuerabzugsvoraussetzungen dar, da hierbei nicht die Umstände berücksichtigt würden, die eine Berichtigung der ursprünglich ausgestellten Rechnung erforderlich machen. Der Besitz einer Rechnung, die die in Art. 226 MwStSystRL vorgesehenen Angaben enthält, stellt eine formelle und keine materielle Bedingung für das Recht auf Vorsteuerabzug dar. Der EuGH weist darauf hin, dass er zwar in Rz. 38 des Urteils vom 29.4.200442 entschieden habe, dass das Vorsteuerabzugsrecht für den Erklärungszeitraum auszuüben ist, in dem die Lieferung der Gegenstände oder die Dienstleistung bewirkt wurde und in dem der Steuerpflichtige die Rechnung besitzt. Diese Rechtssache habe jedoch ein Unternehmen betroffen, das zum Zeitpunkt der Ausübung des Vorsteuerabzugsrechts nicht über eine Rechnung verfügte, so dass der EuGH in diesem Urteil nicht über die zeitlichen Wirkungen der Berichtigung einer ursprünglich ausgestellten Rechnung entschieden habe. Beachtlich ist auch, dass der EuGH ausdrücklich erklärt hat, dass er zwar in Rn. 43 des Urteils vom 15.5.201043 sowie in Rn. 34 des Urteils vom 8.5.201344 u.a., bestätigt habe, dass die MwStSystRL es nicht verbietet, fehlerhafte Rechnungen zu berichtigen. In diesen Urteilen sei er aber nicht auf die Frage der zeitlichen Auswirkung einer solchen Berichtigung auf die Ausübung des Rechts auf Vorsteuerabzug eingegangen. 11. EuGH-Urteil C-374/16 und C-375/16 Bei den Verfahren ging es um die Anforderungen an die Angaben in einer Rechnung (hier Anschrift des leistenden Unternehmers) für Zwecke des Vorsteuerabzugs. Der BFH wollte u.a. wissen, ob eine zur Ausübung des Rechts auf Vorsteuerabzug nach Art. 168 Buchst. a i.V.m. Art. 178 Buchst. a MwStSystRL erforderliche Rechnung die „vollständige Anschrift“ i.S. von Art. 226 Nr. 5 MwStSystRL enthält, wenn der leistende Unternehmer in der von ihm über die Leistung ausgestellten Rechnung eine Anschrift angibt, unter der er zwar postalisch zu erreichen ist, wo er jedoch keine wirtschaftliche Tätigkeit ausübt. Fraglich war auch, ob Art.  226 Nr.  5 MwStSystRL die 41 EuGH v. 15.9.2016 – C-518/14 – Senatex, HFR 2016, 1029. 42 C-152/02 – Terra Baubedarf-Handel, HFR 2004, 709. 43 C-368/09 – Pannon Gép Centrum, HFR 2010, 994. 44 C-271/12 – Petroma Transports, HFR 2013, 656.

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Angabe einer Anschrift des Steuerpflichtigen voraussetzt, unter der er seine wirtschaftlichen Tätigkeiten entfaltet. Der EuGH45 hat entschieden, dass die Formulierung in Art. 226 Nr. 5 („den vollständigen Namen und die vollständige Anschrift des Steuerpflichtigen und des Erwerbers oder Dienstleistungsempfängers“) es nicht hergibt zu schließen, dass hiermit zwingend der Ort der wirtschaftlichen Tätigkeit des leistenden Unternehmers gemeint ist. Bezugnehmend auf sein Urteil in der Sache Barlis wiederholt der EuGH, dass die Mitgliedstaaten das Vorsteuerabzugsrecht nicht nach eigenem Gutdünken von der Erfüllung von Voraussetzungen betreffend die Rechnungsangaben abhängig machen können, die in der MwStSystRL nicht vorgesehen sind. Bezugnehmend auf das Urteil in der Sache Senatex wiederholt der EuGH, dass der Besitz einer Rechnung mit den in Art.  226 MwStSystRL vorgesehenen Angaben lediglich eine formelle Bedingung für das Recht auf Vorsteuerabzug darstellt. Sind die materiellen Anforderungen erfüllt, ist der Vorsteuerabzug zu gewähren, selbst wenn der Unternehmer bestimmten formellen Bedingungen nicht gerecht wird. Somit ist es für die Ausübung des Vorsteuerabzugs durch den Leistungsempfänger nicht erforderlich, dass die wirtschaftliche Tätigkeit des leistenden Unternehmers unter der Anschrift ausgeübt wird, die in der von ihm ausgestellten Rechnung angegeben ist. Beachtlich bei der Entscheidung ist aber ein Aspekt. Der EuGH lässt m.E. in den Randziffern 42 bis 45 seiner Entscheidung erkennen, dass er möglicherweise die korrekte Angabe der Steuernummer (USt-IdNr.) des leistenden Unternehmers in der Rechnung für entscheidender hält, als die Anschrift. Die Steuernummer des Unternehmers stelle die wesentliche Informationsquelle für die Identifikation des Unternehmers dar. Die Nummer sei leicht zugänglich und von der Verwaltung über­prüfbar. Die Unternehmen müssten auch, um eine Steuernummer zu erhalten, ein Registrierungsverfahren durchlaufen. Daraus folgt für den EuGH, dass die Angabe der Anschrift des Rechnungsausstellers in Verbindung mit seinem Namen und seiner Steuernummer den Rechnungsaussteller identifizieren und es der Steuerverwaltung damit ermöglichen soll, die Kontrolle des Vorsteuerabzugs durchzuführen. 12. EuGH-Urteil C-533/16 In dem Verfahren war ein Antrag auf Vorsteuer-Vergütung streitig, der wegen Ablaufs einer im slowakischen Recht vorgesehenen fünfjährigen Ausschlussfrist ab dem Zeitpunkt des Umsatzes (hier Lieferung von Waren an den vergütungsberechtigten Unternehmer) abgelehnt wurde. Der EuGH46 hat entschieden, dass unter den Umständen des Ausgangsverfahrens die Vorsteuervergütung nicht mit der Begründung versagt werden kann, dass die im nationalen Recht vorgesehenen Ausschlussfrist ab Lieferung der Ware abgelaufen ist. Er begründet dies damit, dass es der Klägerin objektiv unmöglich war, ihr Recht auf Vorsteuervergütung vor der Berichtigung der Rechnungen (in denen die MwSt erstmals ausgewiesen war) auszuüben, da sie vorher weder im 45 EuGH v. 15.11.2017 – verb. Rs. C-374/16 und C-375/16 – Geissel/Butin, HFR 2018, 88. 46 EuGH v. 21.3.2018 – C-533/16 – Volkswagen AG, DStR 2018, 676.

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Besitz der Rechnungen war, noch von der MwSt-Schuld wusste. Erst nach der Berichtigung lägen die materiellen und formellen Voraussetzungen des Rechts auf Vorsteuerabzug vor. Bemerkenswert an dem Urteil ist, dass der EuGH47 noch einmal klargestellt hat, dass nach Art. 167 MwStSystRL das Recht auf Vorsteuerabzug zwar gleichzeitig mit dem Steueranspruch entsteht, dessen Ausübung jedoch nach Art. 178 MwStSystRL jedoch erst möglich ist, sobald der Steuerpflichtige im Besitz einer Rechnung ist. Dies könnte dahingehend zu verstehen sein (was für das Vorsteuervergütungs-Verfahren als technische Sonderform des Vorsteuerabzugs richtig ist, muss auch für den Vorsteuerabzug im allgemeinen Besteuerungsverfahren gelten), dass der EuGH davon ausgeht, dass es auch in Zukunft grundsätzlich kein Vorsteuerabzugsrecht ohne vorherigen Besitz einer Rechnung (wenn auch einer fehlerhaften) geben kann. 13. Zwischenergebnis Erst das Urteil des EuGH in der Sache Senatex kann als ausdrückliche Entscheidung, dass Rechnungsberichtigungen Rückwirkung entfalten, angesehen werden. Da wie nunmehr gezeigt, bis zum Ergehen des EuGH-Urteils in der Sache Senatex sich aus der EuGH-Rechtsprechung keinesfalls erkennen lässt, dass der Vorsteuerabzug unabhängig vom Besitz einer (ordnungsgemäßen) Rechnung denkbar ist (mit Ausnahme des Sonderfalls, dass Originale verloren gegangen und nur noch Kopien vorhanden sind), kann als Zwischenergebnis festgehalten werden, dass die Entscheidug in der Sache Senatex ausschließlich eine Entscheidung zur Rückwirkung von Rechnungsberichtigungen darstellt. Dem EuGH ging es offensichtlich, auch wenn er der Rechnung nunmehr lediglich eine formale Bedeutung beimisst, in erster Linie darum, das starre Instrument der Vollverzinsung, das vorher ungeachtet der Umstände des Einzelfalls griff, als mit dem Neutralitätsgrundsatz der MwSt unvereinbar zu geißeln. Dabei hatte der EuGH leichtes Spiel. Das Finanzamt hatte den Vorsteuerabzug ausschließlich wegen der fehlenden Steuernummer des leistenden Unternehmers versagt, die noch während der Außenprüfung in die berichtigte Rechnung aufgenommmen wurde. Von daher mag das Verfahren (wie so viele auf anderen Gebieten des Mehrwertsteuerrechts vorher) nicht den geeigneten Sachverhalt geboten haben, die so grundsätzliche Frage der Rückwirkung an den EuGH heranzutragen.48 Wichtig ist m.E. auch, dass der EuGH in der Entscheidung Senatex zwar auf seine Entscheidung Terra-Baubedarf zurück kommt und sich von dieser abgrenzt, aber ohne die Entscheidung Terra Baubedarf in Frage gestellt zu haben. Somit ist davon auszugehen, dass die seinerzeit dort aufgestellten Grundsätze weiterhin Gültigkeit haben.49 47 Unter Bezugnahme auf EuGH v. 15.9.2016 – C-518/14 – Senatex, HFR 2016, 1029. 48 Auch Widmann, UR 2017, 18, beurteilt die Wertigkeit des Verfahrens dahingehend, dass es letztlich allein um die Frage der unionsrechtlichen Zulässigkeit der Verzinsung gem. § 233a AO als schwerwiegende Sanktion ging, im Vergleich zu einer eher kleinen Nachlässigkeit, was die fehlenden Rechnungsangaben betraf. 49 So auch Oelmaier in Sölch/Ringleb, 81. EL Oktober 2017, § 15 UStG, Rz. 344; Oelmaier sieht, m.E. zutreffend, einen Vorsteuerabzug ohne Rechnung als Gefahr für das Funktionieren des gesamten Mehrwertsteuersystems an.

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Damit scheint sich aber gleichzeitig die Aussage des EuGH zu relativieren, dass die Rechnung nur formale Beutung für den Vorsteuerabzug hat, zumal es in dem Verfahren Senatex nicht um eine nicht bestehende Rechnung ging. Aus dem Urteil Senatex können daher m.E. nicht die teilweise in der Literatur50 angedeuteten Schlüsse gezogen werden, dass der Vorsteuerabzug grundsätzlich nicht mehr an den Besitz einer Rechnung anknüpft. Dies scheint bereits deshalb ausgeschlossen zu sein, weil der EuGH im Wesentlichen über die Wirkung der Vollverzinsung im Umsatzsteuerbereich zu entscheiden hatte. Dies wird auch daran deutlich, dass der EuGH, quasi in Form eines obiter dictum (eine Frage lag ihm dazu nicht vor), den Mitgliedstaaten ausdrücklich die Möglichkeit zuspricht, Sanktionen für den Fall der Nichterfüllung der formellen Bedingungen für die Ausübung des Vorsteuerabzugsrechts vorzusehen. Nach Art. 273 MwStSystRL dürfen sie Maßnahmen erlassen, um eine genaue Erhebung der Steuer sicherzustellen und um Steuerhinterziehung zu vermeiden, sofern diese Maßnahmen nicht über das zur Erreichung dieser Ziele Erforderliche hinausgehen und die Neutralität der Mehrwertsteuer nicht in Frage stellen.51 Das Vorbringen der Bundesregierung in dem Verfahren Senatex, es sei als Sanktion einzustufen, dass das Recht auf Vorsteuerabzug erst im Jahr der Rechnungsberichtigung ausgeübt werden dürfe, weist der EuGH zurück. Um die Nichtbefolgung formeller Anforderungen zu ahnden, kämen andere Sanktionen als die Versagung des Vorsteuerabzugsrechts für das Jahr der Rechnungsausstellung in Betracht, etwa die Auferlegung einer Geldbuße oder einer finanziellen Sanktion, die in angemessenem Verhältnis zur Schwere des Verstoßes steht. Darüber hinaus trete nach der im derzeitigen nationalen Recht die mit der Anwendung von Nachzahlungszinsen verbundene spätere Ausübung des Vorsteuerabzugsrechts in jedem Fall ein, ohne Berücksichtigung der Umstände, die eine Berichtigung der ursprünglich ausgestellten Rechnung erforderlich machen. Dies gehe über das hinaus, was zur Erreichung der genauen Erhebung der Steuer sicherzustellen und der Vermeidung von Steuerhinterziehung erforderlich ist.

III. Rechnungsberichtigung mit Rückwirkung ohne Rechnung? 1. EuGH-Urteil C-516/14 Ausgehend von Vorstehendem ist es wohl augeschlossen, den Vorsteuerabzug für den Besteuerungszeitraum des Leistungsbezug aus einer Rechnung geltend zu machen, die in einem späteren Besteuerungszeitraum erstellt wird. Eine Rückwirkung dieser Rechnung dürfte ausgeschlossen sein. Allerdings könnte in diesem Zusammenhang das EuGH-Urteil in der Sache Barlis bedeutsam sein, wenn es um die Frage geht, wel50 Vgl. z.B. Wäger, UR 2017, 85, der es bei einer progressiven Sichtweise zum EuGH-Urteil Barlis für möglich hält, dass fehlende Rechnungsangaben ohne Berichtigung durch den Rechnungsaussteller auch vom Rechnungsempfänger ergänzt werden können oder eventuell ein Vorsteuerabzug – aufgrund eines Objektivnachweises beim Vorsteuerabzug wie bei den innergemeinschaftlichen Lieferungen – auch ganz ohne Rechnung in Betracht kommt. 51 Vgl. in diesem Sinne EuGH v. 9.7.2015 – C-183/14 – Salomie und Oltean, HFR 2015, 905.

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ches Abrechnungspapier eine berichtigungsfähige Rechnung verkörpern kann, so dass die Berichtigung auch Rückwirkung im Sinne des EuGH-Urteils Senatex entfaltet. Das Verfahren Barlis betraf die Frage der Auslegung von Art. 226 Nr. 6 MwStSyst­ RL, wie ausführlich die Art der erbrachten Leistung auf einer Rechnung angegeben sein muss, um für Zwecke des Vorsteuerabzugs anerkannt zu werden. Die Klägerin hatte Beratungsleistungen einer Rechtsanwaltskanzlei in Anspruch genmmen. Über die erbrachten Leistungen enthielten die Rechnungen, aus denen die Klägerin den Vorsteuerabzug geltend machte Angaben wie folgt: „Vom 1. Dezember 2007 bis zum heutigen Tag erbrachte juristische Dienstleistungen“, „Honorare für von Juni bis zum heutigen Tag erbrachte juristische Dienstleistungen“, „Honorare für bis zum heutigen Tag erbrachte juristische Dienstleistungen“, „Honorare für vom 1. November 2009 bis zum heutigen Tag erbrachte juristische Dienstleistungen“. Unter „heutigem Tag“ war jeweils das Ausstellungsdatum der Rechnung zu verstehen. Die Finanzbehörde hatte den Vorsteuerabzug aus den Rechnungen versagt, da die Angaben über die bezogenen Leistungen unzureichend konkret seien. Daraufhin legte die Klägerin weitere Dokumente vor, die eine detailliertere Beschreibung der erhaltenen Leistungen enthielten. Die Finanzbehörde blieb bei ihrer Auffassung, dass der Vorsteuerabzug zu versagen sei, weil die Rechnungsangaben nicht den Pflichtanforderungen genügten, unabhängig davon, dass nachgewiesen sei, dass die zugrunde liegenden Leistungen erbracht wurden. Das Fehlen bzw. die Unvollständigkeit der Rechnungsangaben werde nicht dadurch geheilt, dass weitere Dokumente vorgelegt worden seien, weil diese keine den Rechnungen gleichwertige Dokumente darstellten. Die in Rede stehenden Rechnungen und die beigefügten Dokumente seien nicht in der gesetzlich vorgesehenen Form ausgestellt, d. h., auf keinem der Dokumente werde die erbrachte Dienstleistung mit den für die Bestimmung der anzuwendenden Steuer erforderlichen Angaben aufgeführt; auf den Rechnungen oder gleichwertigen Dokumenten müssten die erbrachten Leistungen spezifiziert und quantifiziert werden, der bloße Hinweis ‚Erbringung juristischer Dienstleistungen‘ ohne genaue Angabe und Spezifizierung der erbrachten ‚juristischen Dienstleistungen‘ sei inakzeptabel. Der EuGH52 hat entschieden, dass die Angabe „Erbringung juristischer Dienstleistungen“ die Anforderungen von Art. 226 Nr. 6 MwStSystRL, wonach die Rechnung Art und Umfang der erbrachten Dienstleistungen enthalten muss, a priori nicht erfüllt, was endgültig aber das vorlegende Gericht zu prüfen hat. Er begründet dies mit dem Zweck der Regelung, wonach die Rechnungsangaben es den Steuerverwaltungen ermöglichen soll, die Entrichtung der geschuldeten Steuer und gegebenenfalls das Bestehen des Vorsteuerabzugsrechts zu kontrollieren. Die Angabe „juristische Dienstleistungen“ scheine bereits die Art der fraglichen Dienstleistungen nicht hinreichend detailliert zu bezeichnen. Darüber hinaus sei diese Angabe derart allgemein, dass sich ihr der Umfang der Erbrachten Dienstleistungen nicht entnehmen lasse. Damit ist der EuGH im Ergebnis insoweit den Schlussanträgen der Generalanwältin Kokott vom 18.2.2016 gefolgt. Obwohl vom Vorlagegericht nicht ausdrücklich hierzu 52 EuGH v. 15.9.2016 – C-516/14, Barlis 06 – Investimentos Imobiliários e Turísticos SA, HFR 2016, 1031.

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gefragt, hat der EuGH auch die Anforderungen an eine Rechnung nach Art. 226 Nr. 7 MwStSystRL angesprochen, wonach das Datum, an dem eine Dienstleistung erbracht bzw. abgeschlossen wird, in der Rechnung anzugeben ist. Hier gelangt der EuGH – wie bereits die Generalanwältin – zu dem Ergebnis, dass zwar die Angabe „Erbringung juristischer Dienstleistungen ab [einem bestimmten Datum] bis zum heutigen Tag“ den Anforderungen des Art. 226 Nr. 7 MwStSystRL genügt, nicht jedoch die Angabe „Erbringung juristischer Dienstleistungen bis zum heutigen Tag“, die keine Konkretisierung des Beginn des Abrechnungszeitraums enthält. Hinsichtlich der Folgen des Verstoßes gegen Art. 226 Nr. 6 und 7 MwStSystRL ist der EuGH nicht den Schlussanträgen der Generalanwältin Kokott gefolgt, das strikte Erfordernis einer ordnungsgemäßen Rechnung für die Ausübung des Rechts auf Vorsteuerabzug betont hatte. Er betont vielmehr den rein formellen Charakter der Rechnungsangaben. Aus dem Neutralitätsprinzip der MwSt folge, dass die Steuerverwaltung das Recht auf Vorsteuerabzug nicht allein deshalb verweigern kann, weil eine Rechnung nicht die in Art. 226 Nr. 6 und 7 MwStSystRL aufgestellten Voraussetzungen erfüllt, wenn sie über sämtliche Daten verfügt, um zu prüfen ob die materiellen Vorsteuerabzugsvoraussetzungen erfüllt sind. Aufgrund des Urteils stellt sich zunächst die Frage, ob es überhaupt einer Berichtigung einer unvollständigen Rechnung bedarf, wenn der Vorsteuerabzugsberechtigte über weitere Unterlagen verfügt, die die fehlenden oder unvollständigen Angaben ersetzen könnten. Widmann53 verneint dies.54 Im Fall Barlis verlange der EuGH nicht, dass die der Verwaltung zur Verfügung gestellten Informationen erst noch vom Rechnungsaussteller in die Rechnung eingearbeitet werden müssen. Es genüge vielmehr, dass die Verwaltung oder das Gericht in die Lage versetzt werden, sie ohne großen Aufwand daraufhin zu überprüfen, ob sie den Vorbezug der Leistung für das Unternehmen des Steuerpflichtigen schlüssig dokumentieren. M.E. ist es aufgrund des EuGH-Urteils Barlis zweifelhaft, den Schluss zu ziehen, dass eine Rechnungsberichtigung nicht erforderlich ist. Die Entscheidung Barlis ist m.E. mehr von dem Sachverhalt geprägt, dass die portugiesische Finanzbehörde sämtliche notwendigen Rechnungsangaben ausschließlich auf einem Abrechnungspaier verlangte und die beim Rechnungsempänger vorhandenen sonstigen Unterlagen für Zwecke des Vorsteuerabzugs ignorieren wollte. Im deutschen Recht war es im Gegensatz dazu aber bisher nie zweifelhaft, dass die Gesamtheit aller Dokumente, die die nach § 14 Abs. 4 UStG (und § 14a UStG) geforderten Angaben insgesamt enthalten, die Rechnung bildet. In einem Dokument fehlende Angaben müssen in anderen Dokumenten enthalten sein. In einem dieser Dokumente müssen mindestens das Entgelt und der Steuerbetrag angegeben werden. Außerdem sind in diesem Dokument alle anderen Dokumente zu bezeichnen, aus denen sich die nach § 14 Abs. 4 UStG (und § 14a UStG) erforderlichen Angaben insgesamt ergeben.55 Alle Dokumente müssen vom Rechnungsausstel53 UR 2017, 18. 54 Wäger, Anmerkung zu EuGH C-518/14, DStR 2016, 2211, meint, der zweite Leitsatz des EuGH-Urteils Barlis deute darauf hin, dass eine Rechnungsberichtigung möglicherweise nicht zwingend erforderlich ist. 55 § 31 Abs. 1 UStDV.

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ler erstellt werden.56 Der BFH57 hat es bislang offen gelassen, ob entsprechend den Grundsätzen des EuGH-Urteils Barlis das Vorsteuerabzugsrecht auch ohne förmliche Berichtigung möglicherweise nicht ordnungsgemäßer Rechnungen ausgeübt werden kann. M.E. kann aus dem EuGH Urteil Barlis auch deshalb nicht geschlossen werden, dass es der Berichtigung einer fehlerhaften oder unvollständigen Rechnung nicht bedarf, weil aus dem Urteil nicht eindeutig hervorgeht, ob die von der Klägerin dort vorgelegten weiteren Unterlagen bereits Bestandteil der Rechnungen waren, so dass ordnungsgemäße Rechnungen vorlagen, durch diese weiteren Unterlagen die Rechnungen berichtigt wurden oder ob keines von beidem vorlag.58 Aus dem Barlis-Urteil kann m.E. aber zu schließen sein, dass bei Vorlage einer unvollständigen oder fehlerhaften Rechnung auch der Rechnungsadressat die Rechnung mittels der bei ihm vorliegenden sonstigen Unterlagen (Verträge, Bestellungen, Schriftverkehr) vervollständigen kann, so dies möglich sein sollte. Dies dürfte auch dann gelten, wenn das erhaltene Abrechnungspapier möglicherweise nicht die Mindestanforderungen an eine Rechnung erfüllt. 2. Was ist eine berichtigungsfähige Rechnung? Ungeklärt durch den EuGH ist bisher, wann tatsächlich erstmalig eine Rechnung im Sinne von Art. 226 MwStSystRL vorliegt, die überhaupt berichtigungs- oder ergänzungsfähig ist. Liegt keine (ursprüngliche) Rechnung vor, handelt es sich m.E. auch bei einer Rechnung, die mit „Berichtigung“ oder „berichtigte Rechnung“ bezeichnet ist, um die erstmalige Erstellung einer Rechnung, die somit erst im Zeitpunkt ihrer Erstellung bzw. ihres Zugangs zum Vorsteuerabzug berechtigen würde.59 Liegt eine formell ordnungsgemäße (Erst)Rechnung vor, besteht grundsätzlich die Möglichkeit, diese Angaben (rückwirkend) bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung vor dem FG zu ergänzen oder zu berichtigen. Wenn bereits eine Rechnung im Sinne des § 15 Abs. 1 und des § 14 Abs. 4 vorliegt, hat die Klarstellung bzw. Korrektur dann auch rückwirkenden Charakter, denn sie ergänzt nur die bereits mit allen Pflichtangaben vorliegende (Erst)Rechnung. Der BFH hat infolge des EuGH-Urteils Senatex entschieden60, § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 UStG ist richtlinienkonform auszulegen. Gleiches gilt für § 31 Abs. 5 UStDV. Eine Berichtigung nach dieser Vorschrift wirkt daher auf den Zeitpunkt zurück, in dem die Rechnung ursprünglich ausgestellt wurde. Nach früherer Rechtsprechung des BFH muss eine Rechnung i.S. des Umsatzsteuerrechts mindestens Angaben zum Rechnungsaussteller, zum Leistungsempfänger, zur Leistungsbeschreibung, zum Entgelt und zur gesondert ausgewiesenen Umsatzsteuer enthalten.61 Diese Entscheidung des BFH hebt auf darauf ab, dass dass zunächst er56 Vgl. Abschnitt 14.5 Abs. 1 UStAE. 57 BFH v. 20.10.2016 – V R 26/15, HFR 2017, 164; vgl. auch BFH v. 20.10.2016 – V R 54/14, BFH/NV 2017, 488 und BFH v. 20.10.2016 – V R 64/14, BFH/NV 2017, 490. 58 So auch Oelmaier in Sölch/Ringleb, 81. EL Oktober 2017, § 15 UStG Rz. 344. 59 Vgl. Weymüller in Beck’scher Online-Kommentar UStG, 16. Edition, Stand: 15.2.2018, § 14 UStG Rz. 496. 60 BFH v. 20.10.2016 – V R 26/15, DStR 2016, 2967. 61 Vgl. BFH v. 20.7.2012 – V B 82/11, BStBl. II 2012, 809.

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teilte „Dokument“, das später berichtigt werden soll, zumindest die Merkmale des Rechnungsbegriffs nach § 14c UstG erfüllen muss.62 Die für den Vorsteuerabzug erforderlichen Pflichtangaben in einer Rechnung dienten dazu, das Gleichgewicht von Vorsteuerabzug beim Leistungsempfänger und Umsatzsteuer beim Leistenden zu gewährleisten. Der Finanzverwaltung werde dadurch nicht nur ermöglicht, das Vorliegen der Voraussetzungen für den Vorsteuerabzug zu überprüfen und damit einen unberechtigten Vorsteuerabzug beim Rechnungsempfänger zu vermeiden, sondern vor allem auch eine mit dem Vorsteuerabzug korrespondierende Besteuerung beim leistenden Unternehmer sicherzustellen. Der BFH hat diese Rechtsprechung in Kenntnis des EuGH-Urteils Senatex im Wesentlichen bestätigt.63 Danach ist ein Dokument jedenfalls dann eine Rechnung und damit berichtigungsfähig, wenn es Angaben zum Rechnungsaussteller, zum Leistungsempfänger, zur Leistungsbeschreibung, zum Entgelt und zur gesondert ausgewiesenen Umsatzsteuer enthält. Hierfür reiche es aus, dass sie diesbezügliche Angaben enthält und die Angaben nicht in so hohem Maße unbestimmt, unvollständig oder offensichtlich unzutreffend sind, dass sie fehlenden Angaben gleichstehen. Dies allein erklärt m.E. aber noch nicht, warum gerade die vom BFH für erforderlich gehaltenen Mindestangaben auf einer Rechnung diese als berichtigungsfähiges Dokument verkörpern sollen, da jedenfalls Art. 226 MwStSystRL keine Rangfolge der Rechnungsangaben entsprechend ihrer Wertigkeit enthält und auch keine Hinweise dazu, dass einzelne Rechnungsangaben bedeutsamer sein könnnten als andere.64 Nach der Richtlinienvorschrift stehen alle Rechnungsangaben als gleichwertig (heißt gleichbedeutend) nebeneinander. Andererseits spricht für die BFH-Rechtsprechung, dass die dort geforderten Mindestangaben im Wesentlichen die materiell-rechtlichen Voraussetzungen des Vorsteuerabzugs wiederspiegeln. Aus einer unvollständigen Rechnung, die (mit Rückwirkung) berichtigt werden kann, müssten sich mit Blick auf das vom BFH angefhrte Kontrollrecht der Finanzverwaltung mindestens die Angaben zu den Tatbestandsmerkmalen ergeben, die in materiell-rechtlicher Hinsicht für den Vorsteuerabzug bedeutsam sind. Die Berechtigung zum Vorsteuerabzug aus Lieferungen und sonstigen Leistungen ist unter folgenden Voraussetzungen gegeben: ȤȤ Die Steuer muss für eine Lieferung oder sonstige Leistung gesondert in Rechnung gestellt worden sein. ȤȤ Die Lieferung oder sonstige Leistung muss von einem Unternehmer ausgeführt worden sein. ȤȤ Der Leistungsempfänger muss Unternehmer und die Lieferung oder sonstige Leistung für sein Unternehmen ausgeführt worden sein. 62 Vgl. dazu BFH v. 17.2.2011 – V R 39/09, BStBl. II 2011, 734. 63 BFH v. 20.10.2016 – V R 26/15, DStR 2016, 2967. 64 Wäger, DStR 2016, 2214 hält es für offen, ob die Mindestanforderungen des BFH an eine berichtigungsfähige Rechnung im Übereinstimmung mit Unionsrecht stehen; Höink/Hudasch, BB 2017, 215, unterscheiden zwischen Pflichtangaben im engeren Sinne und für die mit der Rechnung einhergehende Kontrollfunktion nicht zwingend erforderlichen Rechnungsanaben.

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Ein erstmalig ausgestelltes Rechnungsdokument müsste somit zumindest Informationen über die zugrunde liegende Eingangsleistung von einem anderen Unternehmer für einen bestimmten Leistungsempfänger mit gesondertem Steuerausweis enthalten, bzw. es müsste möglich sein, mit diesen Angaben eine sinnvolle Prüfung des jeweiligen Geschäftsvorfalls ggf. im Zusammenhang mit anderen über die betreffende Eingangsleistung vorhanden Informationen durchzuführen. Der Hinweis des EuGH in seinem Senatex-Urteil auf sein Urteil vom 29.04.200465 müsste denn auch dahingehend zu verstehen sein, dass eine rückwirkende Rechnungsberichtigung nicht in Betracht kommen dürfte, wenn das ursprünglich ausgestellte Dokument, auf das sich die Berichtigung bezieht, überhaupt nicht als umsatzsteuerliche Rechnung angesehen werden kann. Insoweit ist auch das EuGH-Urteil vom 15.09.201666 zu beachten, wonach wenigstens auch die Angabe der Leistungsbeschreibung berichtigt bzw. ergänzt werden kann. Der jeweilige Steuersatz könnte sich auch aus der Leistungsbeschreibung ergeben. Bei einer Gesamtwürdigung der Bedeutung der fehlenden Rechnungsbestandteile könnte von daher auch eine fehlende Leistungsbeschreibung gravierender sein, als ein fehlender Hinweis auf den Steuersatz (und den Steuerbetrag). Während sich nur aus der Leistungsbeschreibung die weiteren Fragen zum Leistungsort und zum Steuersatz beantworten lassen, ergeben sich Steuersatz und Umsatzsteuerbetrag regelmäßig aus der Leistungsbeschreibung und dem Entgelt. Daher könnte die nachträgliche Erteilung einer „Abrechnung“ über den Steuersatz und den Umsatzsteuerbetrag nicht zu einem anderen Ergebnis führen als eine nachträglich vorgenommene Leistungsbeschreibung. Die Frage, unter welchen Voraussetzungen eine berichtigungsfähige Rechnung vorliegt, ist bereits Gegenstand von FG-Rechtsprechung. Zwischenzeitlich hat das FG Baden-Württemberg67 entschieden, eine Rechnung ohne Benennung des Leistungsempfängers kann nicht rückwirkend zur Erlangung des Vorsteuerabzugs auf den Zeitpunkt der erstmaligen Rechnungserteilung berichtigt werden. Bei dem Urteil des FG Berlin-Brandenburg68 geht es um die Grundsatzfrage, wann das Vorsteuerabzugsrecht in voller, objektiv zutreffender Höhe entsteht, wenn die ursprüngliche Rechnung einen zu niedriger Steuerausweis enthält. Als möglicher Zeitpunkt kommt dabei zum einen der Zeitpunkt in Betracht, in dem die Leistung erbracht und dem Leistungsempfänger eine Rechnung erteilt worden ist, auch wenn diese einen zu niedrigen Steuerbetrag ausweist. Andererseits kommt auch erst der Zeitpunkt der Ausstellung einer berichtigten Rechnung mit Ausweis des zutreffenden Steuerbetrags in Betracht. Im letztgenannten Zeitpunkt stellt sich die Folgefrage, ob eine Rechnungsberichtigung auf den Zeitpunkt der erstmaligen Ausstellung zurückwirkt.

65 EuGH v. 29.4.2004 – C-152/02 – Terra Baubedarf Handel, HFR 2004, 709. 66 C-516/14 – Barlis 06, HFR 2016, 1031. 67 FG Baden-Württemberg v. 23.3.2017 – 1 K 3704/15, EFG 2018, 328-335; NZB eingel., Az des BFH: XI B 54/17. 68 FG Berlin-Brandenburg v. 16.3.2017 – 5 K 5040/15, EFG 2018, 413; Rev. Eingel., Az des BFH: V R 38/17.

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Die Diktion des EuGH, dass eine Rechnung lediglich formelle Nachweiskraft für den Vorsteuerabzug (als einen umsatzsteuerlichen Vorteil) besitzt, entfaltet m.E. die gleiche Wirkung wie bei der EuGH-Rechtsprechung zu Steuerbefreiungen innergemeinschaftlichher Lieferunngen (als andere Art eines umsatzsteuerlichen Vorteils). Nach der bisherigen Rechtsprechung des EuGH zu den Voraussetzungen einer steuerfreien innergemeinschaftlichen Lieferung69 führt die vollständige Nichtbefolgung formeller Pflichten grds. zur Versagung der Steuerbefreiung, wenn der Nachweis dafür nicht geführt werden kann. Dieser Gedanke, übertragen auf die Funktion der Rechnung zum Nachweis des Vorsteuerabzugs, lässt denklogisch nur den Schluss zu, dass das Nichtvorliegen einer Rechnung zum materiell-rechtlichen Ausschluss der entsprechenden Vergünstigung führen kann (hier das Recht auf Vorsteuerabzug).70 Um­ gekehrt kann der Vorsteuerabzug m.E. weiterhin nicht (dem Ansatz bei inerge­ meinschaftlichen Lieferungen folgend), grundsätzlich bei fehlender Rechnung oder mangelhafter Rechnung) aufgrund eines Objektivnachweises möglich sein.71 Zum einen sind die Nachweise bei innergemeinschaftlichen Lieferungen im Vergleich zum Vorsteuerabzug doch wesentlich weniger aufwändig zu führen. Bei inergemeinschaftlichgen Lieferungen geht es vornehmlich um den Nachweis des Gelangens einer Ware in den Bestimmungsmitgliedstaat als tatsächliches Erreignis, während beim Vorsteuerabzug nicht nur um die bezogene Leistung, sondern darüber hinaus insbesondere auch die auf ihr lastende Steuer von Bedeutung ist, was als legale Rechtsfolge aus der Leistung einem Objektivnachweis kaum zugänglich sein dürfte. Außerdem sind in diesem Zusammenhang die Regelungen des § 14c UStG und der mit ihnen verbundene Ausschluss des Vorsteuerabzugs beachtlich. Hinzukommt, dass bei innergmeinschaftlichen Lieferungen die Nachweisregelungen über Art. 131 MwStSystRL im Wesentlichen den Mitgliedstaaten überlassen sind, während Art.  178 MwStSystRL immerhin als Voraussetzung zur Ausübung des Vorsteuerabzugs den Besitz einer Rechnung vorschreibt (auch wenn dies durch den EuGH relativiert wurde). Wenn der Leistungsempfänger überhaupt keine Rechnung über die bezogene Leistung besitzt, dürfte er nach wie vor auch nicht das Recht aus Vorsteuerabzug besitzen, weil es insoweit gänzlich an einem entsprechenden Nachweis mangelt. Somit dürfte es, ungeachtet der lediglich formellen Funktion einer Rechnung, auch in Zukunft für die Ausübung des Vorsteuerabzugs erforderlich sein, eine Rechnung zu besitzen. Ist die Rechnung fehlerhaft, kann sie aber ohne negative Konsequenzen für den Vorsteuerabzug (mit Rückwirkung) berichtigt werden. Die Möglichkeit der „Berichtigung“ einer Nichtrechnung würde im Übrigen zu dem widersprüchlichen Ergebnis führen, dass eine nach dem Besteuerungszeitraum des Leistungsbezug ausgestellte Rechnung, die sofort sämtliche formalen Voraussetzungen erfüllt, für Zwecke des Vorsteuerabzugs schlechter behandelt würde, als eine noch im Besteuerungszeitraum des Leistungsbezugs ausgestellte Rechnung mit gravieren69 Vgl. z.B. EuGH v. 7.12.2010 – C-285/09 – R., BStBl. II 2011, 846. 70 So wohl auch Höink/Hudasch, BB 2017, 215. 71 Entgegen Höink/Hudasch, BB 2017, 215 und Wäger, UR 2017, 85, der bei progressiver Sichtweise des EuGH-Urteils Barlis den Objektivnachweis beim Vorsteuerabzug wie bei den innergemeinschaftlichen Lieferungen auch ganz ohne Rechnung für möglich hält.

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den Fehlern (solche, die nach der BFH-Rechtsprechung dazu führen, dass das Abrechnungspaier noch nicht als umsatzsteuerliche Rechnung anzusehen wäre), die später berichtigt wird. Ein solches Ergebnis dürfte nicht im Sinne des Neutralitätsprinzip der MwSt sein. Auch die unionsrechtliche Unterscheidung zwischen Entstehung des Vorsteuerabzugs und seiner Geltendmachung macht nur Sinn, wenn die Ausübung des Vorsteuerabzugs auf Basis einer rückwirkend vorgenommen Rechnungsberichtigung erst zulässig ist, wenn ursprünglich bereits eine zwar fehlerhafte, aber berichtigungsfähige Rechnung vorlag. Allerdings könnte es im Lichte des Barlis-Urteils des EuGH besondere Ausnahmefälle geben, in denen ein Vorsteuerabzug aus einer unvollständigen Rechnung auch ohne eine Rechnungsberichtigung möglich ist, wenn der Rechnungsempfänger z.B. dem Finanzamt offenlegt, dass eine oder mehrere Rechnungsangaben unvollständig sind oder fehlen, er diese unvollständigen Angaben aber mit ergänzenden Dokumenten, die dem Rechnungsempfänger aus seinem Vertragsverhältnis mit dem leistenden Unternehmer vorliegen, vervollständigen bzw. nachholen kann. Dies könnte jedenfalls in besonderen Fällen anzunehmen sein, in denen der Rechnungsempfänger vergeblich versucht, eine berichtigte Rechnung zu erhalten oder der leistende Unternehmer, der die Rechnung ausgestellt hat, nicht mehr existent ist.

IV. Fazit Nach alledem dürfte insbesondere die Abgrenzungsproblematik, ob eine fehlerhafte Rechnung grundsätzlich berichtigungsfähig ist oder nicht, in der Zukunft noch für einige Rechtsstreite sorgen. Generell gilt aber nach wie vor: Das Vorsteuerabzugsrecht ist elementar für die Durchsetzung des Prinzips der Neutralität der MwSt. Die Ausübung des Rechts zum Vorsteuerabzug ist nach Art. 178 Buchst. a MwStSystRL an den Besitz einer nach den Vorgaben des Art. 226 MwStSystRL ausgestellten Rechnung gebunden. Die Rechnung erfüllt im System der MwSt wegen ihrer Dokumentationsfunktion den Zweck, zuverlässig und effizient die Erhebung der MwSt überprüfen zu können. Es dürfte ein Ausnahmefall bleiben, dass wenn der mit der Rechnung verbundene Zweck auch durch andere Dokumente bzw. Unterlagen erfüllt werden kann, die Ausübung des Vorsteuerabzugs auch ohne eine den Anforderungen nach Art. 226 MwStSystRL entsprechende Rechnung möglich ist. Die eingangs erwähnten nunmehr 51 Jahre alten Ausführungen in der Mehrwertsteuer-Fibel des BMF sind im Grunde – ungeachtet der jüngeren EuGH-Rechtsprechung und auch mit Blick auf die Betrugsanfälligkeit der MwSt – immer noch aktuell. Um es zu wiederholen: „Der Abnehmer kann den ausgewiesenen Steuerbetrag sogleich beim Finanzamt geltend machen, auch wenn er seine Rechnung beim Lieferanten noch nicht beglichen hat. Das erhöht – sagen wir es offen – die Versuchung, zum Zweck von Steuerhinterziehung mit Rechnungen zu manipulieren.“

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Sektorales oder generelles Reverse-Charge? – Reformbedarf bei der Steuerschuldverlagerung Inhaltsübersicht I. Vom Abzugsverfahren zur Steuerschuldumkehr 1. Steuerabzug als pragmatische Verfahrenslösung 2. Europarechtskonforme Umgestaltung II. Steuerschulverlagerung als punktuelle Maßnahme zur Betrugsbekämpfung 1. Ausufernder Tatbestand des § 13b UStG a) Neu aufgenommene Reverse-Charge-­ Tatbestände seit 2004 b) Zahlreiche Rückausnahmen c) Masse von Verwaltungsanweisungen 2. Disharmonisierung der Steuerschuld­ verlagerung im Binnenmarkt a) Zunehmende Diversifizierung der ­Reverse-Charge-Tatbestände b) Schnellreaktionsmechanismus als Harmonisierungshindernis III. Risiken einer punktuellen Regelung am Beispiel der Bauleistungen 1. Entwicklung bis Dezember 2013 a) Gesetzgebung und viele Verwaltungsanweisungen

b) Verwerfungen durch die Recht­ sprechung 2. Umbruchjahr 2014 3. Irrwege bei der Rückabwicklung der ­Altfälle 4. Weitere Änderungen durch das Steuer­ änderungsgesetz 2015 a) Erneute Änderung wegen des ­Bauwerksbegriffs b) Kein Reverse-Charge bei Leistungen an jPdöR IV. Generelles Reverse-Charge als Reformchance 1. Reformdiskussion in Deutschland a) Mainzer Vorschläge zur Umsatzsteuer b) Reverse-Charge-Modell c) Umsatzsteuergesetzbuch 2. Realisierungschancen eines generellen Reverse-Charge-Systems a) Diskussionsstand auf Unionsebene b) Tschechischer Vorstoß V. Fazit

I. Vom Abzugsverfahren zur Steuerschuldumkehr 1. Steuerabzug als pragmatische Verfahrenslösung Die Verlagerung der Steuerschuld auf den Leistungsempfänger (auch Steuerschuldumkehr, engl. reverse-charge) hat im deutschen Umsatzsteuerrecht eine zwischenzeitlich schon fast vierzigjährige Entwicklung hinter sich. Das ist auf den ersten Blick recht erstaunlich, stellt sie doch eine Ausnahme von dem Prinzip der Allphasenbesteuerung dar, welches in Deutschland seit Einführung der Bruttoumsatzsteuer im Jahr 1918 gilt und die Besteuerung jedes Glieds der Wertschöpfungskette vorsieht. Das hat sich im seit 1968 geltenden System der Nettoumsatzsteuer mit Vorsteuerabzug, die im Ergebnis nur noch den Mehrwert der jeweiligen Stufe besteuert, nicht geändert. Jeder Unternehmer muss danach jeweils den von ihm getätigten Umsatz selbst versteuern. Im Fall der Steuerschuldverlagerung findet die Besteuerung der 801

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vorhergehenden Wertschöpfungsstufe dagegen erst beim Leistungsempfänger statt und nicht bei dessen Vorunternehmer. Bei näherer Betrachtung kann es allerdings nicht verwundern, dass sowohl der europäische als auch der nationale Normgeber den Grundsatz der Besteuerung des jeweils leistenden Unternehmers nicht konsequent durchgehalten haben. Denn die Geschichte der Inpflichtnahme des Leistungsempfängers für die Besteuerung des Vorumsatzes ist von der Vermeidung von Steuerausfallrisiken und pragmatischen Vollzugserwägungen geprägt und hat bis heute keinen Abschluss gefunden. Ihren Anfang nahm sie in Deutschland am 1.1.1980 mit der Einführung des sog. Umsatzsteuerabzugsverfahrens. Damit wurde erstmals auch der Leistungsempfänger in die Umsatzsteuererhebung für bestimmte Sachverhalte einbezogen. § 18 Abs. 8 UStG i.V.m. §§ 51 ff. UStDV damaliger Fassung verpflichtete einen inländischen Leistungsempfänger, wenn er Unternehmer oder eine juristische Person öffentlichen Rechts war und von einem im Ausland ansässigen Unternehmer eine im Inland steuerpflichtige Werklieferung oder sonstige Leistung bezog, „zur Sicherung des Steueranspruchs“ dazu, die Umsatzsteuer „im Abzugsverfahren zu entrichten“. Der inländische Leistungsempfänger sollte den geschuldeten Steuerbetrag von der Gegenleistung einbehalten und abführen und auf diese Weise dafür sorgen, dass dem Fiskus die vom ausländischen Leistungserbringer geschuldete Umsatzsteuer auch tatsächlich zufließt. Zwar blieb der leistende Unternehmer (anders als nach der heute geltenden Regelung) daneben Steuerschuldner, der Leistungsempfänger wurde aber durch seine Abzugsverpflichtung zu einer Art „Steuerbüttel“1 gemacht, der nach § 55 UStDV für die einzubehaltende und abzuführende Steuer sogar in Haftung genommen werden konnte, auch dann, wenn er sie (fälschlicherweise) an den leistenden Unternehmer gezahlt hatte. Die originären eigenen Steuerpflichten des Leistungsempfängers wurden davon nicht berührt. Insbesondere war er weiterhin berechtigt, den Vorsteuerabzug aus der abzugspflichtigen Eingangsleistung in seiner Umsatzsteuervoranmeldung vorzunehmen. Um gegenläufige Zahlungs- und Verrechnungsströme zu vermeiden, konnte als Vereinfachungsmaßnahme in Fällen der Vorsteuerabzugsberechtigung die sog. Nullregelung gem. § 52 Abs. 2 UStDV a.F. Anwendung finden, falls die Steuer in der Rechnung nicht gesondert ausgewiesen worden war. Ging es beim Umsatzsteuerabzugsverfahren zunächst nur um die Sicherung des Steueraufkommens bei Inlandsumsätzen ausländischer Steuerpflichtiger, wurde es am 1.1.1993 auf steuerausfallträchtige Umsatzarten von Inlandsunternehmern ausgeweitet: die Lieferung sicherungsübereigneter Gegenstände durch den Sicherungsgeber an den Sicherungsnehmer außerhalb des Konkursverfahrens und die Lieferung von Grundstücken im Zwangsversteigerungsverfahren.2 In diesen Fällen ist die Durchsetzung des Steueranspruchs beim liefernden Unternehmer insofern gefährdet, als dieser in der Regel finanziell nicht mehr leistungsfähig ist.3 Es lag daher aus fiskalischer

1 Bunjes/Geist, Umsatzsteuergesetz, 4. Aufl. 1993, § 18 Rz. 31. 2 § 51 Abs. 1 Nr. 2 und 3 UStDV a.F. 3 Vgl. Widmann, UR 1992, 249.

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Sicht nahe, auch in diesen Fällen auf den zahlungskräftigeren Erwerber zurückzugreifen. 2. Europarechtskonforme Umgestaltung Das Umsatzsteuerabzugsverfahren wurde lange Zeit als von Art. 21 der 6. EG-Richtlinie gedeckt angesehen.4 Zweifelsfrei war dies freilich nicht. Tatsächlich war dort nämlich von Anfang an eine Verlagerung der Steuerschuld auf den Leistungsempfänger vorgesehen. Dies betraf zum einen die sog. Katalogleistungen nach Art. 9 Abs. 2 Buchst e 6. EG-Richtlinie an außerhalb des Sitzstaates des Dienstleistenden ansässige Steuerpflichtige, für die das Empfängerortprinzip galt.5 Zum anderen konnten die Mitgliedstaaten fakultativ für weitere steuerpflichtige Umsätze durch im Ausland ansässige Steuerpflichtige eine andere Person als den Steuerpflichtigen als Steuerschuldner vorsehen.6 Die genannten Artikel der 6. EG-Richtlinie sahen dagegen keine Verpflichtung zum Abzug fremder Steuerschulden vor. Auch die Überarbeitung des Art. 21 im Zuge der Einführung des EG-Binnenmarktes zum 1.1.19937 änderte daran nichts und schaffte damit auch keine Grundlage für die 1993 in Deutschland ergänzten Fallgruppen des Abzugsverfahrens.8 Obwohl also das Umsatzsteuerabzugsverfahren zumindest hinter dem EG-Recht zurückblieb9, verwarf der BFH die Regelungen nicht. Das Abzugsverfahren nach §§ 51 ff. UStDV sei zwar „möglicherweise nicht in vollem Umfang gemeinschaftsrechtskonform“.10 Bei richtlinienkonformer Auslegung der §§ 51 ff. UStDV 1993 sei aber „die Haftung des Leistungsempfängers nach § 55 UStDV 1993 und seine Steuerschuldnerschaft nach Art. 21 Nr. 1 der Richtlinie 77/388/EWG weitgehend gleich zu behandeln.“11 Die Kritik von Bundesrechnungshof und EU-Kommission12 veranlasste den nationalen Gesetzgeber dennoch, sein Regelungskonzept dem der 6. EG-Richtlinie anzupassen und das UStG durch das Steueränderungsgesetz 200113 zum 1.1.2002 in einem 4 Wachweger, 6. Richtlinie zur Harmonisierung der Umsatzsteuern in den Europäischen Gemeinschaften, Bonn, 1977, S. 119; Widmann, a.a.O. 5 Art. 21 Nr. 1 Buchst. a Satz 1 i.V.m. Buchst. b 6. EG-Richtlinie. 6 Art. 21 Nr. 1 Buchst. a Satz 2 6. EG-Richtlinie. 7 Richtlinie 91/680/EWG des Rates v. 16.12.1991 zur Ergänzung des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems und zur Änderung der Richtlinie 77/388/EWG im Hinblick auf die Beseitigung von Steuergrenzen, ABl. EG 1991 Nr. L 376, 1, und Richtlinie des 92/111/EWG des Rates v. 14.12.1992 zur Änderung der Richtlinie 77/388 EWG und zur Einführung von Vereinfachungsmaßnahmen im Bereich der Mehrwertsteuer, ABl. EG 1992 Nr. L 384, 47. 8 Vgl. Birkenfeld in Birkenfeld/Wäger, Das große Umsatzsteuer-Handbuch, 75. Lieferung 4.2017, I. Grundlagen. 9 Lohse in Lohse/Peltner, 6. MwSt-Richtlinie und Rechtsprechung des EuGH, 2. Aufl. 1999, Art. 21, 7. 10 BFH, Beschl. v. 22.11.2001 – V R 61/00, UR 2002, 226, Rz. 63. 11 BFH v. 17.6.2004 – V R 61/00, BStBl. II 2004, 970 = UR 2005, 39, Rz. 32 (Folgeentscheidung zu EuGH v. 1.4.2004 – C-90/02 – Gerhard Bockemühl, UVR 2004, 197). 12 Vgl. BT-Drucks. 14/6877 v. 7.9.2001, 35. 13 Art. 18 Nr. 11 und Art. 19 Nr. 5 des Steueränderungsgesetzes 2001 v. 20.12.2001, BGBl. I 2001, 3794.

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neuen § 13b auf den Reverse-Charge-Mechanismus umzustellen. Dabei blieb der Anwendungsbereich der Sonderregel zunächst unverändert, so dass weiterhin  – „zur Sicherung des Steueraufkommens“14  – nur die schon bisher dem Abzugsverfahren unterliegenden Lieferungen inländischer Unternehmer betroffen waren. Mit Betrugsbekämpfung hatte § 13b UStG also anfangs gar nichts zu tun, sondern allein mit der Aufkommenssicherung in einigen spezifischen ausfallträchtigen Besteuerungsbereichen.

II. Steuerschulverlagerung als punktuelle Maßnahme zur Betrugsbekämpfung 1. Ausufernder Tatbestand des § 13b UStG Bald nach dem Jahrtausendwechsel verdichtete sich indes die Erkenntnis, dass es bei  der Umsatzsteuer auch zu großen Ausfällen mit betrügerischem Hintergrund kommt.15 Die Finanzverwaltung verstärkte daraufhin ihre Kontrollmaßnahmen und bemühte sich um die Verbesserung ihrer technischen Methoden. Flankierend wurden dem Umsatzsteuergesetz durch das sog. Steuerverkürzungsbekämpfungsgesetz von 200116 einige Vollzugswerkzeuge wie die Sicherheitsleistung nach §  18f UStG, die Haftung nach §  25d UStG, die Ordnungswidrigkeits- und Straftatbestände wegen Schädigung des Umsatzsteueraufkommens nach §§ 26b und 26c UStG und die sog. Umsatzsteuernachschau nach § 27b UStG hinzugefügt. Da sich diese administrativen Instrumente aber alleine als nicht sehr durchschlagend erwiesen, wurde bald die Methode der Steuerschuldverlagerung als materiell-rechtliches Instrument zur Vermeidung von betrugsbedingten Steuerausfällen entdeckt und der Tatbestand des § 13b UStG in den 2000er Jahren immer weiter ausgebaut. Die Vorschrift wurde dadurch nicht nur mit der Zeit bis zur Unkenntlichkeit verkompliziert. Die Änderungen, Ausnahmeregelungen und Anwendungsbestimmungen sind zudem so vielfältig, dass eine vollständig rechtmäßige Befolgung in der Praxis in einem Maße erschwert worden ist, welches die Grundsätze der Rechtssicherheit tangiert. a) Neu aufgenommene Reverse-Charge-Tatbestände seit 2004 Den Anfang machte zum 1.4.200417 der Immobilienbereich. Mit Ausnahmeermächtigung nach Art. 395 MwStSystRL18 durch den Rat vom 30.3.200419 wurde § 13b UStG 14 BT-Drucks. 14/6877 v. 7.9.2001, 36. 15 Bundesrechnungshof, Sonderbericht „Steuerausfälle bei der Umsatzsteuer durch Steuerbetrug und Steuervermeidung – Vorschläge an den Gesetzgeber“ v. 3.9.2003. 16 Gesetz zur Bekämpfung von Steuerverkürzungen bei der Umsatzsteuer und zur Änderung anderer Gesetze – Steuerverkürzungsbekämpfungsgesetz v. 19.12.2001, BGBl. I 2001, 3922. 17 Art. 14 Nr. 2 des Haushaltsbegleitgesetzes 2004 – HBeglG 2004 v. 29.12.2003, BGBl. I 2003, 3076. 18 Siehe zur Vorläufervorschrift von Art. 395 MwStSystRL Widmann, Einführung von Sondermaßnahmen gem. Art. 27 der 6. EG-Richtlinie, UR 2004, 607 ff. 19 Entscheidung 2004/290/EG v. 30.3.2004, ABl. EG 2004 Nr. C 94, 59.

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in zweierlei Hinsicht geändert. Zum einen wurde die Steuerschuldnerschaft des Leistungsempfängers für Grundstückslieferungen, die nach § 13b Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 UStG bis dahin ausschließlich im Zwangsversteigerungsverfahren anwendbar war, auf alle umsatzsteuerpflichtigen Umsätze, die unter das Grunderwerbsteuergesetz fallen, erweitert. Bedeutender und problematischer, worauf unter Tz. III noch näher einzu­ gehen sein wird, war allerdings die zugleich angeordnete Steuerschuldnerschaft des Leistungsempfängers bei bestimmten Bauleistungen gemäß § 13b Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 UStG. Die Regelung musste 2014 in Reaktion auf die höchstrichterliche Rechtsprechung hinsichtlich ihres Anwendungsbereichs neu gefasst20 und 2015 nochmals überarbeitet werden.21 Zum 1.1.2005 wurde – in Umsetzung des Art. 8 Abs. 1 der 6. EG-Richtlinie22 – sodann für bestimmte Lieferungen von Gas, Elektrizität, Wärme oder Kälte an Wiederverkäufer in § 3g UStG eine Ortsverlagerung vorgesehen und, um deren fiskalische Umsetzung sicherzustellen23, zugleich die Steuerschuldumkehr nach § 13b Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 UStG um diese Fällen erweitert, sofern der Lieferer ein im Ausland ansässigen Unternehmer ist.24 Mit Wirkung ab 1.7.2010 wurde § 13b UStG dann zunächst völlig neu gefasst.25 Dies betraf zum einen die Anpassung des Steuerentstehungszeitpunkts an Artikel 66 MwSt­ SystRL in der ab 1.1.2010 geltenden Fassung der Richtlinie 2006/112/EG26. Insbesondere wurde aber infolge der bekannt gewordenen Betrugsmechanismen beim Handel mit Treibhausgas-Emissionszertifikaten auch für diese Fälle nun eine Steuerschuldverlagerung vorgesehen (§ 13b Abs. 1 Satz 1 Nr. 6 UStG). Grundlage war eine erst kurz zuvor in Art. 199a MwStSystRL geschaffene Option.27 Bereits mit Wirkung ab 1.1.2011 wurde die Liste der Reverse-Charge-Tatbestände erneut verlängert. Der Gesetzgeber machte dabei von den in Art. 198 Abs. 2 und 199 20 Art. 8 Nr. 2 Buchst a und b des Gesetzes zur Anpassung des nationalen Steuerrechts an den Beitritt Kroatiens zur EU und zur Änderung weiterer steuerlicher Vorschriften v. 25.7.2014, BGBl. I 2014, 1266. 21 Art. 11 Nr. 2 und 3 des Steueränderungsgesetzes 2015 v. 2.11.2015, BGBl. I 2015, 1834. 22 Richtlinie 2003/92/EG des Rates v. 7.10.2003 zur Änderung der Richtlinie 77/388/EWG hinsichtlich der Vorschriften über den Ort der Lieferung von Gas und Elektrizität, ABl. EG 2003 Nr. L 260, 8. 23 Nieskens, UR 2005, 57 (69). 24 Art. 5 Nr. 10 Gesetz zur Umsetzung von EU-Richtlinien in nationales Steuerrecht und zur Änderung weiterer Vorschriften (Richtlinien-Umsetzungsgesetz  – EURLUmsG v. 9.12.2004, BGBl. I 2004, 3310. 25 Art. 6 Nr. 3 des Gesetzes zur Umsetzung steuerlicher EU-Vorgaben sowie zur Änderung steuerlicher Vorschriften v. 8.4.2010, BGBl. I 2010, 386. 26 Richtlinie 2006/112/EG des Rates über das gemeinsame MwSt-System zum Zweck der Bekämpfung des Steuerbetrugs bei innergemeinschaftlichen Umsätzen v. 16.12.2008, ­ ABl. 2009 Nr. L 14, 7. 27 Richtlinie 2010/23/EU des Rates v. 16.3.2010 zur Änderung der Richtlinie 2006/112/EG über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem im Hinblick auf eine fakultative und zeit­ weilige Anwendung des Reverse-Charge-Verfahrens auf die Erbringung bestimmter betrugsanfälliger Dienstleistungen, ABl. EU 2010 Nr. L 72, 1.

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Abs. 1 MwStSystRL vorgesehenen Möglichkeiten Gebrauch und fügte der Vorschrift mit dem Jahressteuergesetz 201028 gleich drei neue Nummern und eine Anlage zum Gesetz hinzu: ȤȤ Nr. 7 für die Lieferung von Industrieschrott, Altmetallen und sonstigen Abfallstoffen nach einer neuen Anlage 3 zum UStG, ȤȤ Nr. 8 für die Reinigung von Gebäuden und Gebäudeteilen und ȤȤ Nr. 9 für bestimmte Goldlieferungen. Als ob es damit für einen Veranlagungszeitraum noch nicht genug gewesen wäre, erweiterte man die Liste des § 13b Abs. 2 Satz 1 UStG ab 1.7.2011 nochmals um eine neue Nr. 10 für die Lieferung von Mobilfunkgeräten und integrierten Schaltkreisen.29 Deutschland hatte dafür eine Ratsermächtigung erhalten.30 Während des Jahres 2013 wurde dann § 13b Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 UStG geändert und um die Lieferungen von Gas und Elektrizität durch Inlandsunternehmer erweitert.31 Die Regelung stützte sich auf den kurz zuvor erweiterten Katalog des Art. 199a Abs. 1 MwStSystRL.32 Kurz darauf im Jahr 2014 und erneut unterjährig wurde der Anwendungsbereich der Steuerschuldverlagerung nochmals ergänzt: mit Wirkung vom 1.10.2014 erstreckte der Gesetzgeber §  13b Abs.  2 Satz 1 Nr.  10 UStG nun auch auf die Lieferung von ­Tablet-Computern und Spielekonsolen33. Zeitgleich wurden eine neue Nr.  11 und eine Anlage 4 eingefügt und damit auch für eine ganze Liste von Edelmetallen die Steuerschuldumkehr vorgeschrieben. Auch dabei stützte sich der Gesetzgeber auf den 2013 erweiterten Katalog des Art. 199a Abs. 1 MwStSystRL.34 Der Anwendungsbe28 Art. 4 Nr. 8a des Jahressteuergesetzes 2010 – JStG 2010 v. 8.12.2010, BGBl. I 2010, 1768. 29 Art.  6 des Sechsten Gesetzes zur Änderung von Verbrauchsteuergesetzen v. 16.6.2011, BGBl. I 2011, 1090. 30 Durchführungsbeschluss 2010/710/EU des Rates v. 22.11.2010 zur Ermächtigung Deutschlands, Itailens und Österreichs, eine von Art. 193 MwStSystRL abweichende Regelung einzuführen, ABl. EU 2011 Nr. L 309, 5. 31 Art.  10 Nr.  6 Buchst a und b des Amtshilferichtlinie-Umsetzungsgesetz  – AmtshilfeRL­ UmsG v. 26.6.2013, BGBl. I 2013, 1809. 32 Richtlinie 2013/43/EU v. 22.7.2013 zur Änderung der Richtlinie 2006/112/EG über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem im Hinblick auf eine fakultative und zeitweilige An­ wendung der Umkehrung der Steuerschuldnerschaft (Reverse-Charge-Verfahren) auf Lieferungen bestimmter betrugsanfälliger Gegenstände und Dienstleistungen, ABl. EU 2013 Nr. L 201, 4. 33 Art. 8 Nr. 2 Buchst a und b des Gesetzes zur Anpassung des nationalen Steuerrechts an den Beitritt Kroatiens zur EU und zur Änderung weiterer steuerlicher Vorschriften v. 25.7.2014, BGBl. I 2014, 1266. 34 Richtlinie 2013/43/EU v. 22.7.2013 zur Änderung der Richtlinie 2006/112/EG über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem im Hinblick auf eine fakultative und zeitweilige Anwendung der Umkehrung der Steuerschuldnerschaft (Reverse-Charge-Verfahren) auf Lieferungen bestimmter betrugsanfälliger Gegenstände und Dienstleistungen, ABl. EU 2013 Nr. L 201, 4.

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reich der Nr. 11 musste wegen handwerklicher Fehler bei der Fassung der Anlage bereits zum 01.01.2015 überarbeitet werden.35 Den vorläufigen Schlussakt in dieser unübersichtlichen Aufführung bilden die bereits erwähnten und später36 noch ausführlicher besprochenen Korrekturen des Tatbestandes der Steuerschuldverlagerung für Bauleistungen nach §  13b Abs.  2 Nr.  4 i.V.m. Abs. 5 Satz 2 UStG in den Jahren 2014 und 2015. b) Zahlreiche Rückausnahmen Die zunehmende Anwendungsbreite des § 13b UStG brachte die Notwendigkeit mit sich, sukzessive für eine zunehmende Anzahl von Fallkonstellationen Ausnahmen zu schaffen. So wurden mit dem Steueränderungsgesetz 200337 grenzüberschreitende Personenbeförderungen im Luftverkehr durch im Ausland ansässige Unternehmer von der Steuerschuldverlagerung ausgenommen38, um in Fällen, in denen § 26 Abs. 3 UStG nicht zur Anwendung kommt, den Fluggesellschaften die Prüfung zu ersparen, ob sie ihre jeweilige Leistung an einen Unternehmer oder an eine juristische Person erbringt. Durch das Jahressteuergesetz 200739 wurden zusätzliche Ausnahmen von der Steuerschuldnerschaft des Leistungsempfängers hinsichtlich der Einräumung der Ein­ trittsberechtigungen für Messen, Ausstellungen und Kongresse im Inland sowie der sonstigen Leistungen von Durchführungsgesellschaften an im Ausland ansässige Unternehmer eingefügt.40 Bis dahin waren für die betroffenen Leistungen statt nur eines veranstaltenden ausländischen Unternehmers oft dessen zahlreiche ebenfalls ausländische Leistungsempfänger Steuerschuldner, was dem eigentlichen Zweck der Steuerschuldverlagerung, die Steuererhebung zu vereinfachen, zuwiderlief. Mit dem Jahressteuergesetz 201041 wurden aus ähnlichen Gründen Restaurationsleistungen ausländischer Unternehmer an Bord von Seeschiffen, Luftfahrzeugen oder Eisenbahnen aus dem Anwendungsbereich des §  13b UStG herausgenommen.42 Denn die ab 1.1.2010 geltenden geänderten Ortsbestimmungen für diese Leistungen stellen im Fall der Beförderung im Gemeinschaftsgebiet auf den Abgangsort ab (§ 3e UStG). Die Steuerschuldverlagerung auf unternehmerische Leistungsempfänger nach § 13b Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 UStG hätte insoweit zu erheblichen Befolgungsschwierigkeiten geführt, da eine Differenzierung nach dem Status des Leistungsempfängers erfor35 Art. 11 des Gesetzes zur Anpassung der Abgabenordnung an den Zollkodex der Union und zur Änderung weiterer steuerlicher Vorschriften v. 22.12.2014, BGBl. I 2014, 2417. 36 Siehe unter III. Ziff.2. 37 Steueränderungsgesetz 2003 – StÄndG 2003 v. 15.12.2003, BGBl. I 2003, 2645. 38 § 13b Abs. 3 Nr. 3 UStG a.F., nunmehr Abs. 6 Nr. 3. 39 Art. 7 Nr. 6b Jahressteuergesetz 2007 – JStG 2007 v. 13.12.2006, BGBl. I 2006, 2878. 40 § 13b Abs. 3 Nr. 4 und 5 UStG a.F., nunmehr Abs. 6 Nr. 4 und 5. 41 Art. 4 Nr. 8c Jahressteuergesetz 2010 – JStG 2010 v. 8.12.2010, BGBl. I 2010, 1768. 42 § 13b Abs. 6 Nr. 6 UStG.

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derlich gewesen und dieser im Fall der Unternehmereigenschaft am Abgangsort steuerpflichtig geworden wäre. Mit Wirkung zum 1.10.2013 wurde schließlich die bis dahin nur für die Personenbeförderung in Taxen geltende Ausnahme von der Steuerschuldverlagerung in §  13b Abs. 6 Nr. 2 auf alle Fahrzeuge i.S.d. § 1b Abs. 2 UStG (also insbesondere auch Omnibusse) erweitert, da hier generell das Problem besteht, die für die zutreffende Besteuerung erforderliche Identifikation des Leistungsempfängers als Unternehmer oder juristische Person mit vertretbarem Aufwand vornehmen zu können. c) Masse von Verwaltungsanweisungen § 13b UStG ist durch die sukzessive Ausweitung auf zwischenzeitlich elf Ziffern und die geschaffenen zusätzlichen Rückausnahmen seit 2002 erheblich verkompliziert worden. Unter Berücksichtigung der beiden dem Gesetz außerdem hinzugefügten Anlagen wurden tatsächlich mehr als vierzig einzelne unter die Steuerschuldverlagerung fallende Umsatzarten geschaffen, deren Abgrenzung zu den Fällen der Steuerschuld des leistenden Unternehmers nunmehr vom Unternehmer, seinem Leistungsempfänger und dem Finanzamt zu gewährleisten ist. Der Befund der Verkomplizierung wird bestätigt, wenn man in die Betrachtung zusätzlich mit einbezieht, dass in § 13b Abs. 2 Ziffern 10 und 11 UStG mit der auf den jeweiligen „wirtschaftlichen Vorgang“ anzuwendenden 5000 Euro-Grenze noch eine zusätzliche spezifische Komplikation eingeführt wurde und dass zudem die Steuerschuldverlagerung in Absatz 5 für einzelne Ziffern unterschiedlichen weiteren Bedingungen unterliegt. Weitere Befolgungsprobleme ergeben sich in dem verfehlten Aufbau der Vorschrift an sich43, die erst in ihrem Absatz 5 den jeweiligen Grundtatbestand der Umkehr der Steuerschuld und in Absatz 6 Ausnahmen davon für bereits in Absatz 2 genannte Einzeltatbestände regelt und von zum Teil unterschiedlichen Bedingungen abhängig macht. Sowohl die inhaltliche als auch zeitliche Abgrenzung des Anwendungsbereichs der Steuerschuldverlagerung auf bestimmte Umsatzarten ist damit überaus komplex ausgestaltet. Der gesetzliche Tatbestand lässt in der Praxis zugleich so viele Anwendungsfragen offen, dass sich auch die Finanzverwaltung gezwungen sah und sieht, immer neue und sich mitunter auch wiederholt ändernde Auslegungshinweise und Anwendungsregeln zu produzieren. Die Zahl der zu § 13b UStG ergangenen Verwaltungsanweisungen inklusive Änderungen ist seit dessen Einführung im Jahr 2001 auf allein deutlich über dreißig BMF-Schreiben angewachsen.44 Mitunter wurden bis zu sechs 43 Stadie hält die Fassung der Vorschrift gar für „dilettantisch“, Stadie in Rau/Dürrwächter, UStG, § 13b Rz. 15. 44 BMF v. 5.12.2001, BStBl. I 2001, 1013; v. 31.3.2004, BStBl. I 2004, 453; v. 2.12.2004, BStBl. I 2004, 1129; v. 12.4.2005, BStBl. I 2005, 629; v. 23.1.2006, BStBl. I 2006, 367; v. 20.12.2006, BStBl. I 2006, 796; v. 16.10.2009, BStBl. I 2009, 1298; v. 16.10.2009, BStBl. I 2010, 254; v. 21.7.2010, BStBl. I 2010, 626; v. 4.1.2011, BStBl. I 2011, 48; v. 4.2.2011, BStBl. I 2011, 156; v. 24.6.2011, BStBl. I 2011, 687; v. 22.9.2011, BStBl. I 2011, 910; v. 2.12.2011, BStBl. I 2011, 1269; v. 10.12.2013, BStBl. I 2013, 1623; v. 19.9.2013, BStBl. I 2013, 1212; v. 5.2.2014, BStBl. I 2014, 233; v. 8.5.2014, BStBl.  I 2014, 823; v. 31.7.2014, BStBl.  I 2014, 1073; v. 26.8.2014,

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innerhalb eines Jahres herausgegeben. Hinzu kommen viele Verwaltungsregelungen auf Länderebene. Alle diese Anweisungen der Verwaltung erfolgen zwar mit dem grundsätzlich anzuerkennenden Ziel, den Finanzämtern eine Hilfestellung und den betroffenen Branchen Wegweisung zu geben. In der Summe der immer weiter wuchernden Regelungsmaterie führt ihre Fülle jedoch zu einer zusätzlichen Verkomplizierung der Rechtsanwendung und damit auch zu einem teilweise kaum noch beherrschbaren Maß an Rechtsunsicherheit, wie am Beispiel der Bauleistungen noch beispielhaft vertieft werden wird. 2. Disharmonisierung der Steuerschuldverlagerung im Binnenmarkt a) Zunehmende Diversifizierung der Reverse-Charge-Tatbestände Es kann auch keine Rede davon sein, dass der vorstehende Befund auf Deutschland beschränkt wäre. In den vergangenen fünfzehn Jahren hat sich ein bunter Flickenteppich von Reverse-Charge-Tatbeständen in den EU-Mitgliedstaaten herausgebildet. Je nachdem, welche Branche gerade als betrugsrelevant in einem Mitgliedstaat erkannt worden war, versuchte man dem mit gezielten Reverse-Charge-Regelungen zu begegnen. Für diese Regelungen werden, sofern sie nicht bereits eine Stütze in den Art. 199 ff. MwStSystRL haben, zumeist Ausnahmeermächtigungen nach Art. 395 MwStSystRL eingeholt. So hat beispielsweise Ungarn 2012 die Genehmigung zur Einführung einer punktuellen Steuerschuldverlagerung im Bereich der Lieferung landwirtschaftlicher Erzeugnisse erhalten, Litauen darf eine Reverse-Charge-Bestimmung im Bereich der Lieferung von Holz und für Lieferungen und Dienstleistungen von Unternehmen in der Insolvenz oder in der Umstrukturierung fortführen. Die EU-Kommission sieht dieser Entwicklung mit Unbehagen zu, stellt sich ihr aber nicht in den Weg, da das primäre Ziel all dieser Maßnahmen auf die Sicherung des Mehrwertsteuerauf­ kommens gerichtet ist. Durch eine Richtlinie vom 16.3.201045 wurde schließlich mit Art. 199a MwStSystRL ein ganzer Katalog von optionalen Reverse-Charge-Tatbeständen in die MwStSystRL aufgenommen und damit vorher nur in einzelnen Mitgliedstaaten angewandte Maßnahmen nunmehr allen Mitgliedstaaten erlaubt. Zum 15.8.201346 ist dieser Katalog nochmals erweitert worden. Für grenzüberschreitend BStBl. I 2014, 1216; v. 27.8.2014, BStBl. I 2014, 1218; v. 26.9.2014, BStBl. I 2014, 1297; v. 1.10.2014, BStBl. I 2014, 1322; v. 5.12.2014, BStBl. I 2014, 1618; v. 22.1.2015, BStBl. I 2015, 123; v. 4.2.2015, BStBl. I 2015, 166; v. 13.3.2015, BStBl. I 2015, 234; v. 17.6.2015, BStBl. I 2015, 513; v. 28.7.2015, BStBl.  I 2015, 623; v. 10.8.2016, BStBl.  I 2016, 820; v. 26.7.2017, BStBl. I 2017, 1001; v. 2.8.2017, BStBl. I 2017, 1240. 45 Richtlinie 2010/23/EU des Rates v. 16.3.2010 zur Änderung der Richtlinie 2006/112/EG über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem im Hinblick auf eine fakultative und zeitweilige Anwendung des Reverse-Charge-Verfahrens auf die Erbringung bestimmter betrugsanfälliger Dienstleistungen, ABl. EU 2010 Nr. L 72, 1. 46 Richtlinie 2013/43/EU v. 22.7.2013 zur Änderung der Richtlinie 2006/112/EG über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem im Hinblick auf eine fakultative und zeitweilige Anwendung der Umkehrung der Steuerschuldnerschaft (Reverse-Charge-Verfahren) auf Lieferungen bestimmter betrugsanfälliger Gegenstände und Dienstleistungen, ABl. EU 2013 Nr. L 201, 4.

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handelnde Unternehmen betroffener Branchen zieht diese zunehmende Disharmonisierung der Steuerschuldverlagerung Befolgungsprobleme nach sich.47 Gleichwohl beabsichtigt die Kommission, die Regelung fortzuführen.48 b) Schnellreaktionsmechanismus als Harmonisierungshindernis Zu allem Überfluss setzte sich auf europäischer Ebene schließlich die Meinung durch, man müsse nicht nur einzelnen Mitgliedstaaten jeweils spezifische Reverse-Charge-­ Regelungen ermöglichen, sondern dies auch noch möglichst kurzfristig. 2013 kam es zur Ergänzung der MwStSystRL um Artikel 199b49. Danach kann ein Mitgliedstaat „zur Bekämpfung unvermittelt auftretender schwerwiegender Betrugsfälle, die vo­ raussichtlich zu erheblichen und unwiederbringlichen finanziellen Verlusten führen“ den Empfänger bestimmter Umsätze in einem beschleunigten Genehmigungsverfahren als Steuerschuldner bestimmen. In diesem Prozess hat – anders als sonst üblich – nicht der Rat, sondern die EU-Kommission den Fortgang und die Entscheidung weitgehend allein in der Hand. Zwar muss der Mitgliedstaat zusätzlich auch einen Antrag nach Art. 395 MwStSystRL stellen, über den wie üblich der Rat einstimmig zu entscheiden hat. Da die Maßnahme aber bereits vorläufig eingeführt werden kann, kommt dieser Ratsentscheidung faktisch nur noch eine bestätigende Funktion zu. Gerechtfertigt wird dies damit, dass das reguläre Verfahren, den Mitgliedstaaten nach Art. 395 MwStSystRL Ausnahmeermächtigungen zu erteilen, jedenfalls in Betrugsfällen großen Ausmaßes zu langsam und umständlich sei. Dieser sog. Schnellreaktionsmechanismus des Art. 199b MwStSystRL begegnet dennoch europa- und verfassungsrechtlichen Bedenken.50 Er konterkariert das Harmonisierungsziel der MwStSystRL, indem er über die schon bisher bestehenden Möglichkeiten hinaus unterschiedliche neue Reverse-Charge-Tatbestände in den Mitgliedstaaten ermöglicht, die, wie die Erfahrung lehrt, als einmal eingeführte Regelungen nur noch selten wieder abgeschafft werden. Dennoch hat der Bundesgesetzgeber die Grundlagen zur Nutzung des Schnellreak­ tionsmechanismus‘ auch in Deutschland geschaffen. Im Jahr 2014 wurde § 13b UStG um einen neuen Absatz 10 erweitert.51 Er enthält eine Rechtsverordnungsermächti47 Vgl. dazu Bericht der Kommission an den Rat und das Europäische Parlament über die Auswirkungen der Artikel 199a und 199b der Richtlinie 2006/112/EG des Rates auf die Betrugsbekämpfung v. 8.3.2018, KOM(2018)endg. 48 Vorschlag für Richtlinie des Rates zur Änderung der Richtlinie 2006/112/EG über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem in Bezug auf die zeitliche Anwendung des optionalen Reverse-Charge-Mechanismus in Bezug auf bestimmte betrugsrelevante Güter und Dienstleistungen sowie den Schnellreaktionsmechanismus gegen Mehrwertsteuerbetrug v. 25.5.2018, KOM(2018) 298 endg. 49 Richtlinie 2013/42/EU des Rates v. 22.7.2013 zur Änderung der Richtlinie 2006/112/EG über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem in Bezug auf einen Schnellreaktionsmechanismus beim Mehrwertsteuerbetrug, ABl. EU 2013 Nr. L 201, 1. 50 Vgl. dazu eingehend Filtzinger, UR 2013, 136. 51 Art. 9 Nr. 3 des Gesetzes zur Anpassung der Abgabenordnung an den Zollkodex der Union und zur Änderung weiterer steuerlicher Vorschriften v. 22.12.2014, BGBl. I 2014, 2417.

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gung des Bundesministeriums der Finanzen zur kurzfristigen Einführung weiterer Reverse-Charge-Tatbestände. Bislang wurde davon allerdings glücklicherweise in Deutschland – wie übrigens in allen anderen Mitgliedstaaten auch – kein Gebrauch gemacht. Es bleibt zu hoffen, dass sich daran so bald auch nichts ändert.

III. Risiken einer punktuellen Regelung am Beispiel der Bauleistungen Die vorstehenden Ausführungen zeigen, dass auch in Deutschland eine situativ-reaktive Gesetzgebung zur Steuerschuldverlagerung in den vergangenen Jahren vorherrschend gewesen ist. Dass allerdings eine derartige sektorale Gesetzgebung wegen der damit verbundenen Abgrenzungsfragen nicht nur zu erheblichen Anwendungsproblemen, sondern auch zu großen fiskalischen Risiken führt, hat das – bis heute nicht beendete – Drama mit der Steuerschuldverlagerung bei Bauleistungen eindrücklich bewiesen. 1. Entwicklung bis Dezember 2013 a) Gesetzgebung und viele Verwaltungsanweisungen Zum 1.4.2004 war in § 13b Abs. 1 Nr. 4 i.V.m. Abs. 2 Satz 2 UStG 200552 ein Reverse-­ Charge-Tatbestand für Bauleistungen eingeführt worden, nachdem dies insbesondere vom Bundesrechnungshof gefordert worden war.53 Ausschlaggebend dafür waren die gerade in diesem Bereich häufig anzutreffenden und in der Summe hohen Steuerausfälle. Um insbesondere die (umsatzsteuerfreie) Wohnungsvermietung außen vor lassen zu können, wurde der Tatbestand auf Subunternehmerfälle in der Baubranche beschränkt, in denen der die Bauleistung empfangende Unternehmer seinerseits Bauleistungen erbringt. Das Einführungsschreiben54 enthielt dazu u.a. die Anweisung, dass dafür beim Leistungsempfänger eine nachhaltige Erbringung von Bauleistungen erforderlich ist und dies anzunehmen sei, wenn die Bemessungsgrundlage der von ihm im Vorjahr getätigten Bauleistungen mehr als 10 % der Summe seiner steuerbaren Umsätze betragen hat. Davon sollte ausgegangen werden können, wenn eine gültige Freistellungbescheinigung nach § 48b EStG vorlegt wird. Zudem sei eine fehlerhafte Anwendung des § 13b UStG bei beiden Vertragspartnern nicht zu beanstanden, wenn sie sich über die Steuerschuldverlagerung einig waren und der Umsatz vom Leistungsempfänger in zutreffender Höhe versteuert wird. Trotz dieser Hilfestellungen wurden in der Folgezeit aufgrund immer neuer Praxisfragen noch eine ganze Anzahl weiterer BMF-Schreiben zur Steuerschuldverlagerung bei Bauleistungen erforderlich. So kam u.a. die Frage auf, ob für die o.g. 10%-Grenze nur Inlandsumsätze von Bauleistungsempfängern zu berücksichtigen seien. Im 52 Jetzt §13b Abs. 3 Nr. 4 i.V.m. Abs. 5 Satz 2 UStG. 53 Bundesrechnungshof, Sonderbericht „Steuerausfälle bei der Umsatzsteuer durch Steuerbetrug und Steuervermeidung – Vorschläge an den Gesetzgeber v. 3.9.2003, 36. 54 BMF-Schreiben v. 31.3.2004, BStBl. I 2004, 453.

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BMF-Schreiben vom 16.10.200955 wurde daraufhin die Auffassung vertreten, dass für die Nachhaltigkeitsprüfung auf den „Weltumsatz“ abzustellen sei. 2011 hielt man nach Fragen aus der Praxis die Ergänzung für erforderlich, dass der Verkauf der Grundstücke vor oder in der Bauphase regelmäßig eine Werklieferung im Sinne des § 3 Abs. 4 UStG darstelle, wenn der Kunde auf die Bauausführung – unabhängig vom Umfang  – noch Einfluss nehmen kann.56 Damit wurden nunmehr auch Bauträger, deren Umsätze zu mindestens 10% in solchen Tätigkeiten bestehen, in die Steuerschuldverlagerung einbezogen, was durchaus dem gesetzlichen Motiv, Steuerausfälle in der Baubranche durch Steuerschuldverlagerung zu reduzieren, entsprach. b) Verwerfungen durch die Rechtsprechung Sieben Jahre nach Einführung des Tatbestandes und fünf BMF-Schreiben später schienen die meisten Fragen beantwortet zu sein und die Praxis mit der Vorschrift zurecht zu kommen. Doch dann hegte der BFH Zweifel an der Unionsrechtskonformität der Regelung als solcher und legte 2011 dem EuGH die Frage vor57, ob die Ermächtigung des Rates nur Baudienstleistungen (sonstige Leistungen) oder auch (Werk-)Lieferungen betreffe. Zudem sei die Zulässigkeit der Einschränkung auf Subunternehmerfälle zweifelhaft. Der EuGH teilte diese Zweifel in seiner Ende 2012 gegebenen Antwort nicht.58 Der Begriff der „Bauleistungen” in der Ratsermächtigung umfasse auch Lieferumsätze. Deutschland sei zudem grundsätzlich berechtigt gewesen, die Ermächtigung nur für bestimmte Untergruppen wie einzelne Arten von Bauleistungen und für Leistungen an bestimmte Leistungsempfänger auszuüben. Es seien dabei lediglich die Grundsätze der steuerlichen Neutralität, der Verhältnismäßigkeit und der Rechtssicherheit zu beachten. Das bisherige nationale Verständnis vom Anwendungsbereich § 13b UStG schien damit bestätigt. Doch der BFH vertrat in dem Ende 2013 bekannt gewordenen Folge­ urteil vom 22.8.201359 eine andere Ansicht. Zwar seien nach EuGH auch Werklie­ ferungen von der Ermächtigung gedeckt. Solche lägen jedoch nur vor, wenn der Unternehmer dem Abnehmer neben der Verschaffung der Verfügungsmacht zusätzlich einen fremden Gegenstand be- oder verarbeite. Eine Einflussnahme bei der Bebauung eines im Eigentum des Bauträgers stehenden Grundstücks führe also nicht zu einer Bauleistung. § 13b Abs. 2 Satz 2 UStG sei zudem einschränkend dahingehend auszulegen, dass er nur bauwerksbezogene Werklieferungen betreffe, also solche, die der Leistungsempfänger seinerseits zur Erbringung einer Bauleistung verwende. Auf einen unternehmensbezogenen Umsatzanteil der vom Leistungsempfänger ausgeführten Bauleistungen (10%-Grenze) komme es damit nicht an, ebenso wenig auf 55 BMF-Schreiben v. 16.10.2009, BStBl. I 2009 1298. 56 BMF-Schreiben v. 12.12.2011, BStBl. I 2011 1289. 57 BFH v. 30. 6.2011 – V R 37/10, BStBl. II 2011, 842 = UR 2011, 671. 58 EuGH v. 13.12.2012 – C-395/11 – BLV, UR 2013 63. 59 BFH v. 22.8.2013 – V R 37/10, BStBl. II 2014 128 = UR 2011, 671.

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eine Freistellungsbescheinigung oder den Umstand, ob sich die Beteiligten über die Handhabung der Steuerschuldnerschaft ursprünglich einig waren oder nicht. Auf Grundlage dieses Rechtsverständnisses des V. Senats wäre sein Vorabentscheidungsersuchen eigentlich entbehrlich gewesen. Jedenfalls wischte er mit dem Fol­ geurteil nun nicht nur die Anwendung der Regelung auf viele Bauträger, sondern ­zugleich die geschaffenen praktischen Hilfestellungen für die Baubranche (Nichtbeanstandung übereinstimmender Fehlbeurteilung, Anknüpfung an die Freistellungsbescheinigung) gleich mit vom Tisch. Diesem Schwenk konnte auch der XI. Senat offenbar nur mit Mühe folgen. Im Urteil vom 10.12.201360 schloss er sich dem V. Senat nur „im Interesse einer einheitlichen Rechtsprechung“ an. Als Ergebnis des Judikats der beiden BFH-Senate stand jedenfalls im Frühjahr 2014 fest, dass dem Fiskus für viele Bauleistungen der Steuerschuldner abhandengekommen war. Gerade Bauträger mit einem hohen Anteil an steuerfreien Ausgangsleistungen, die aufgrund der bisherigen Verwaltungsanweisungen als Bauunternehmer i.S.d. § 13b UStG angesehen worden waren, konnten sich nun auf die BFH-Rechtsprechung berufen. Auf der anderen Seite konnten deren Subunternehmer Vertrauensschutz in die bis dato herrschende Verwaltungsauffassung einfordern. 2. Umbruchjahr 2014 Im Interesse der raschen Beseitigung dieser systemwidrigen Folgen der Rechtsprechung war das Jahr 2014 in Bezug auf § 13b UStG von hektischer Betriebsamkeit geprägt. Besonders vor dem Hintergrund der sich auf der Zielgerade befindenden Haushaltskonsolidierung auf Bundesebene („Schwarze Null“) wurden in rascher Folge Maßnahmen ergriffen, um die durch die Rechtsprechung eingetretenen Ausfallrisiken betragsmäßig zu begrenzen. Da eine Gesetzeskorrektur nicht rasch genug zu erreichen war, wurde zunächst per BMF-­ Schreiben vom 5.2.201461 die Anwendung der BFH-Rechtsprechung ab 15.2.201462 verfügt, um inkohärenten Berufungsmöglichkeiten infolge der Divergenz zwischen Verwaltungsauffassung und Rechtsprechung schnellstmöglich den Boden zu entziehen. Bauträger wurden damit zunächst aus dem Anwendungsbereich der Regelung ausgenommen. Als Nachweis für die Steuerschuldverlagerung sollte nunmehr eine schriftliche Bestätigung des Leistungsempfängers gelten, dass er die vom leistenden Unternehmer zu erbringende Leistung für eine von ihm selbst zu erbringende Bauleistung verwendet. Um „die negativen Folgen der BFH-Rechtsprechung in der Praxis zu vermeiden“63, wurde dann allerdings ab 1.10.2014 der gesetzliche Grundtatbestand für die Steuerschuldverlagerung für Bauleistungen (§ 13b Abs. 2 Nr. 4 i.V.m. Abs. 5 Satz 2 UStG) 60 BFH v. 11.12.2013 – XI R 21/11, BStBl. II 2014 425 = UR 2014, 276 m. Anm. Sterzinger. 61 BMF v. 5.2.2014, BStBl. I 2014, 233; geändert durch BMF v. 8.5.2014, BStBl. I 2014, 823. 62 Die Veröffentlichung des BMF-Schreibens im BStBl. fand am 14.2.2014 statt. 63 Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses (7. Ausschuss) v. 2.7.2014, BTDrucks. 18/1995, 122.

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geändert und an die frühere Verwaltungsauffassung angepasst.64 Seither kommt es wieder darauf an, ob die Bauleistung an einen Unternehmer erbracht wird, der entsprechende Leistungen nachhaltig erbringt. Erforderlich ist allerdings nunmehr eine Bescheinigung des Finanzamts. Auch die Vereinfachungsregelung für den Fall, dass die Beteiligten §  13b übereinstimmend fehlerhaft anwenden, wurde nun gesetzlich verankert.65 Ein weiteres BMF-Schreiben vom 26.9.201466 setzte die „Neuregelung“ um, wobei jedoch die frühere Verwaltungsauffassung, wonach eine Werklieferung vorliegen kann, wenn bei Abschluss des Kaufvertrages noch Einfluss auf die Bauausführung möglich ist, nicht wieder eingeführt wurde. Reine Bauträger bleiben daher auch künftig von der Regelung ausgenommen. Im Ergebnis waren damit im Jahr 2014 im Bereich der Steuerschuldbestimmung für Bauleistungen drei Zeiträume mit unterschiedlichen Rechtszuständen zu unterscheiden: die frühere Auffassung für „Altfälle“ vor dem 15.2.2014, sodann die reine BFH-Auffassung für Bauleistungen zwischen 15.2. und 30.9.2014 und schließlich die Teilwiederherstellung der früheren Auffassung für Bauleistungen ab dem 1.10.2014. 3. Irrwege bei der Rückabwicklung der Altfälle Durch die gesetzliche Änderung des materiellen Tatbestandes waren mögliche Steuerausfälle infolge inkohärenter Berufungsmöglichkeiten in Bezug auf Zeiträume vor dem 15.2.2014 aber noch nicht gebannt. Dies sollte mit einem zusätzlichen speziellen Rückabwicklungsmechanismus in § 27 Abs. 19 UStG geschehen. Die Vorschrift, die als verfahrensrechtliche Änderungsvorschrift im UStG eigentlich falsch verortet ist, erlaubt die Änderung der gegen den leistenden Unternehmer wirkenden Steuerfestsetzung, soweit der Leistungsempfänger die Erstattung der Steuer fordert. § 176 AO soll dieser Änderung nicht entgegenstehen, das Finanzamt könne allerdings zulassen, dass der leistende Unternehmer zur Tilgung der Steuerschuld den infolge der Rechts­ änderung entstandenen zusätzlichen Zahlungsanspruch in Höhe des Umsatzsteueranteils am Entgelt abtritt. Ziel der Regelung ist es, diese zivilrechtliche Forderung gegen den Erstattungsanspruch des Bauträgers aufrechnen zu können und damit wieder ein systemkonformes Gesamtergebnis herzustellen. Das mit § 27 Abs. 19 UStG vorgesehene Rückabwicklungs- und Abtretungskarussell zwischen leistendem Unternehmer, Leistungsempfänger und den für die beiden Unternehmer jeweils zuständigen Finanzämtern, in dem sich materielles Umsatzsteuerrecht und Zivilrecht ineinander verschränken, erwies sich in der Praxis jedoch als ganz und gar nicht trivial. Abermals musste per BMF-Schreiben67 Weiteres geregelt werden. Gleichwohl standen und stehen die Jahre seit 2014 im Zeichen vieler zivilund erhebungsrechtlicher Fragen des § 27 Abs. 19 UStG. Die Zivilgerichte beurteilten

64 Gesetz zur Anpassung des nationalen Steuerrechts an den Beitritt Kroatiens zur EU und zur Änderung weiterer steuerlicher Vorschriften v. 25.7.2014, BGBl. I 2014, 1266. 65 § 13b Abs. 5 Satz 7 UStG n.F. 66 BMF v. 26.9.2014, BStBl. I 2014, 1297. 67 BMF v. 31.7.2014, BStBl. I 2014, 1073.

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das Entstehen des abzutretenden Anspruchs unterschiedlich.68 Hochumstritten war auch, ob das gesetzliche Abbedingen des Vertrauensschutzes nach § 176 AO als echte unzulässige Rückwirkung verfassungswidrig ist.69 Beide BFH-Senate gewährten zunächst Aussetzung der Vollziehung.70 Zur allgemeinen Überraschung hielt der BFH in dem offenkundigen Bestreben, die weitreichenden Folgen seiner Entscheidung vom 22.8.201371 zu begrenzen, zudem noch einen anderen Weg für gangbar. Es sei – so der V. Senat in einem zur amtlichen Veröffentlichung bestimmten Beschluss vom 27.2.201672 – mit Blick auf die vertragliche Preisvereinbarung ohne Umsatzsteuer ernstlich zweifelhaft, ob der Steueran­ spruch des bauleistenden Unternehmers „entsprechend § 17 Abs. 2 Nr. 1 Satz 1 UStG bereits in den Streitjahren uneinbringlich geworden sein könnte“. Folglich könne der Rückforderung der Umsatzsteuer durch den Bauträger ebenfalls eine entsprechend § 17 Abs. 1 Sätze 1 und 2 UStG vorzunehmende Berichtigung entgegenstehen, bis er den darauf entfallenden Umsatzsteuerbetrag an den Bauleister bezahlt. Dieser Gedanke war ein Irrweg.73 Die Uneinbringlichkeit nach § 17 Abs. 2 Nr. 1 UStG bezieht sich nämlich immer auf die Gegenleistung und nicht allein auf den Um­ satzsteueranteil darin. In der Hauptsacheentscheidung vom 23.2.201774 hat sich der V. Senat zwischenzeitlich von seiner Idee wieder – wenn auch leider nicht ausdrücklich – verabschiedet. Erfreulich an dieser Entscheidung ist zudem, dass der BFH sowohl das Entstehen des zivilrechtlichen Anspruchs auf den zusätzlichen Umsatzsteueranteil bestätigt, als auch die Verfassungsmäßigkeit der Änderungsnorm des §  27 Abs. 19 UStG anerkannt hat. Ein fast dreijähriger Schwebezustand hätte damit sein Ende finden können. Dem ist leider aber bis dato nicht so. Das BMF hat nämlich zwar am 26.7.2017 seine bisherige 68 Siehe z.B. LG Köln, Urteil v. 30.10.2015 – 7 O 103/15, juris, wonach wegen Wegfalls der Geschäftsgrundlage nach § 313 Abs. 1 BGB eine Anpassung des Vertrags verlangt werden kann; ebenso Lippross, NWB 2015, 677. A.A.: LG Düsseldorf, Urt. v. 5.2.2016 – 33 O 86/15, UR 2016, 720 m. Anm. Widmann. 69 Für Verfassungsmäßigkeit u.a.: Widmann, MwStR 2014, 495; Listl/Baumgartner, UR 2014, 913; FG Nürnberg, Beschl. v. 26.8.2015 – 2 V 1107/15, EFG 2015, 2135, Rz 14; FG Düsseldorf, Beschl. v. 31.8.2015 – 1 V 1486/15 A(U), EFG 2015, 2131, Rz. 50 f.; Hessisches FG, Beschl. v. 13.10.2015 – 1 V 1483/15, n.v., Rz. 23; Sächsisches FG, Beschl. v. 22.9.2015 – 4 V 1014/15, n.v. Die Verfassungsmäßigkeit in Zweifel ziehen: Langer, DStR 2014, 1897; Neeser, UVR 2014, 333; Prätzler, MwStR 2014, 680; FG Münster, Beschl. v. 12.8.2015 – 15 V 2153/15 U, UR 2015, 758 = EFG 2015, 1863, Rz. 23, und EFG 2015, 2129, Rz. 30; FG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 3.6.2015 – 5 V 5026/15, EFG 2015, 1490, Rz. 11; Niedersächsisches FG, Beschl. v. 3.7.2015 – 16 V 95/15, MwStR 2015, 655, Rz. 15; v. 20.7.2015 – 16 V 132/15, n.v., Rz 18 und 16 V 135/15, n.v., Rz. 18. 70 BFH v. 17.12.2015 – XI B 84/15, BStBl. II 2016, 192 = UR 2016, 290 und v. 27.1.2016 – V B 87/15, UR 2016, 287 m. Anm. Hummel = DStR 2016, 470. 71 BFH v. 22.8.2013 – V R 37/10, BStBl. II 2014, 128 = UR 2011, 671. 72 BFH v. 27.1.2016 – V B 87/15, UR 2016, 287 m. Anm. Hummel = DStR 2016, 470. 73 Vgl. FG Münster, Urt. v. 15.3.2016 – 15 K 1553/15 U, UR 2016, 475; Neeser/ Filtzinger, UVR 2016, 185; Hummel, UR 2016, 287; Reiß, MwStR 2016, 361; A.A. Schulze, DStR 2016, 564. 74 BFH v. 23.2.2017 – V R 16, 24/16, UR 2017, 357.

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Anweisung zu § 27 Abs. 19 UStG vom 31.7.201475 an die neue Rechtsprechung angepasst.76 Klare Aussagen zur Nichtanwendbarkeit des § 17 UStG fehlen indes auch hier. In den Ländern wird dementsprechend in Bezug auf die Frage, welcher Besteuerungszeitraum im Fall der Rückabwicklung zu ändern ist (der Zeitraum der Leistungserbringung oder der aktuelle Zeitraum der Rückabwicklung) unterschiedlich verfahren, was sich besonders auf die Zinsfestsetzung beim Leistungsempfänger auswirken kann. Der BFH hat offensichtlich mit dem Beschluss vom 27.1.201677 einen Geist aus der Flasche gelassen, der nun nicht wieder einzufangen ist. Zur Rechtssicherheit trägt dies kaum bei. Einen einheitlichen Vollzug bei Anwendung des § 27 Abs. 19 UStG hat der erneute Schwenk des BFH also – auch wenn er inhaltlich zu begrüßen ist – bislang nicht wiederherstellen können. 4. Weitere Änderungen durch das Steueränderungsgesetz 2015 a) Erneute Änderung wegen des Bauwerksbegriffs Auch in materiell-rechtlicher Hinsicht ist die Steuerschuldverlagerung bei Bauleistungen bislang nicht zur Ruhe gekommen. Auslöser für eine weitere Änderung war erneut der Bundesfinanzhof. Mit BFH-Urteil vom 28.8.201478 hatte er sich zur Abgrenzung von Bauwerken und Betriebsvorrichtungen geäußert und entschieden, dass Letztere keine Grundstücksbestandteile und damit auch keine Bauwerke seien. Arbeiten an Betriebsvorrichtungen fielen daher nicht unter der Reverse-Charge-Regelung des § 13b Abs. 2 Nr. 4 UStG. Dass Betriebsvorrichtungen generell keine Gebäudebestandteile seien, ist nicht überzeugend. Zu den wesentlichen Bestandteilen des Gebäudes gehören die zu seiner ­Herstellung eingefügten Sachen. Das können z.B. auch Türen, Treppen, Fenster, Zentralheizungs-, Warmwasser- und Brennstoffversorgungsanlagen und Aufzüge sein, unabhängig davon, ob sie als Betriebsvorrichtung z.B. besonderen steuerlichen Bewertungsregelungen unterliegen. Auch die zu Art.  47 MwStSystRL ergangenen Bestimmungen der MwSt-DVO79 sehen als Grundstück nicht nur Bauwerke und Gebäude an, sondern auch wesentliche Bestandteile von Gebäuden oder Bauwerken (z.B. Aufzüge, Fenster, Türen) sowie ausdrücklich auch Ausstattungsgegenstände und Maschinen, die in einem Gebäude installiert wurden und nicht bewegt werden können, ohne das Gebäude oder das Bauwerk zu zerstören oder zu verändern. Auch praktische Erwägungen sprachen dagegen, dem BFH zu folgen. Denn gerade bei großen Baumaßnahmen, man denke nur an den Bau eines Flughafens mit den vielfältigsten technischen Anlagen und Einbauten, wäre eine zutreffende Abgrenzung und damit Rechnungstellung für die beteiligten Unternehmer kaum zu bewerkstelligen gewesen.

75 BMF v. 31.7.2014, BStBl. I 2014, 1073. 76 BMF v. 26.7.2017, BStBl. I 2017, 1001. 77 BFH v. 27.1.2016 – V B 87/15, UR 2016, 287 m. Anm. Hummel = DStR 2016, 470. 78 BFH v. 28.8.2014 – V R 7/14, UR 2014, 951 = BStBl. II 2015, 682. 79 Art. 13b MwSt-DVO.

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Die Verwaltung verfügte deshalb zunächst einen ihrer seltenen Nichtanwendungserlasse.80 Kurz darauf schloss sich der Gesetzgeber81 dann der Auffassung der Verwaltung an und änderte § 13b Abs. 2 Nr. 4 UStG nach nicht mal einem Jahr mit Wirkung zum 6.11.2015 schon wieder. Ausdrücklich gelten seither als Grundstücke insbesondere auch Sachen, Ausstattungsgegenstände und Maschinen, die auf Dauer in einem Gebäude oder Bauwerk installiert sind und die nicht bewegt werden können, ohne das Gebäude oder Bauwerk zu zerstören oder zu verändern. b) Kein Reverse-Charge bei Leistungen an jPdöR Den unrühmlichen vorläufigen Schlusspunkt in dieser Entwicklung bildet bislang der zeitgleich ergänzte § 13b Abs. 5 Satz 10: „In den in Absatz 2 Nummer 4, Nummer 5 Buchstabe b und Nummer 7 bis 11 genannten Fällen schulden juristische Personen des öffentlichen Rechts die Steuer nicht, wenn sie die Leistung für den nichtunternehmerischen Bereich beziehen.“ Aus Praktikabilitätsgründen hatte die Finanzver­ waltung schon vorher Fälle, in denen juristische Personen des öffentlichen Rechts in nennenswertem Umfang für ihren Hoheitsbereich Bauleistungen oder Strom- und Gaslieferungen beziehen, welche der Steuerschuldnerschaft des Leistungsempfängers unterliegen, von der Anwendung des Reverse-Charge-Verfahrens ausgenommen. Eine gesetzliche Grundlage fehlte dafür freilich.82 Die Verwaltungsanweisung wurde nun ins Gesetz aufgenommen und zugleich auf weitere Tatbestände erweitert. Die Gesetzesbegründung dazu83 ist lesenswert: „§ 13b Absatz 5 Satz 6 UStG führt in diesen Fällen zu einem unnötigen Verwaltungsaufwand für die juristische Person des öffentlichen Rechts, da sie die Leistungsbezüge für den hoheitlichen Bereich dem Finanzamt erklären und die darauf entfallende Umsatzsteuer an dieses abführen muss, statt sie zusammen mit dem Leistungsentgelt in einer Summe an den leistenden Unternehmer zu entrichten.“ Der Aufwand für Steuererklärung und -abführung soll der öffentlichen Hand also erspart bleiben. Von so viel Ein- und Nachsicht des Gesetzgebers können die von den vielfältigen Irrungen und Wirrungen bei der Steuerschuldverlagerung betroffenen privaten Unternehmer bislang nur träumen.

IV. Generelles Reverse-Charge als Reformchance Das vorstehend geschilderte Beispiel der Bauleistungen zeigt deutlich, dass bei der Steuerschuldverlagerung auf einzelne Umsatzarten insbesondere Abgrenzungsfragen 80 BMF v. 28.7.2015, BStBl. I 2015, 623. 81 Art. 11 Nr. 2 und 3 des Steueränderungsgesetzes 2015 v. 2.11.2015, BGBl. I 2015, 1834. 82 Vgl. A. 13b.3 Absatz 12 Satz 2 UStAE und A. 13b.3a Absatz 4 Satz 2 UStAE für Strom- und Gaslieferungen. 83 Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses (7. Ausschuss) v. 23.9.2015, BTDrucks. 18/6094, 90.

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zur Achillesferse werden und zu Steuerausfällen führen können, was das eigentlich gewollte Regelungsziel, solche gerade zu vermeiden, ad absurdum führt. Die Abwicklung in der Praxis ist zudem wegen dauernder Änderungen und Korrekturen kaum noch zumutbar. Dieser auf die sektorale Anwendung von Reverse-Charge zutreffende Befund ist allerdings nicht auf eine generelle Umstellung der Steuererhebung bei der Mehrwertsteuer nach dem Reverse-Charge-Prinzip übertragbar. Dies haben verschiedene Untersuchungen der jüngeren Vergangenheit gezeigt. 1. Reformdiskussion in Deutschland Spätestens in den 2000er Jahren setzte sich hierzulande zunehmend die Erkenntnis durch, dass das 1968 als zukunftsweisend eingeführte Mehrwertsteuerrecht reformbedürftig84 ist. Insbesondere die Öffnung des Binnenmarktes im Jahr 1993 und die darauf einsetzende Marktentwicklung mit einer enormen Zunahme grenzüberschreitender Sachverhalte kehrte den einst gerühmten selbstkontrollierenden Effekt des Allphasen-Systems mit Vorsteuerabzug um und führte zunehmend zu Steuerausfällen. Dieses Problem besteht bis heute fort. In der letzten Aktualisierung zur sog. Mehrwertsteuerlücke vom 23.8.2016 sieht die EU-Kommission für Deutschland im Jahr 2014 einen Fehlbetrag von 23,5 Mrd. Euro und EU-weit von ca. 160 Mrd. Euro.85 Der Steuerausfall ist damit im Vergleich zu den Vorjahren nur geringfügig zurückgegangen. Auch der Europäische Rechnungshof bestätigt, dass es im innergemeinschaftlichen Handel ein enormes Umsatzsteuerbetrugspotential gibt.86 Die Erhebungen der EU-Kommission führen die Mehrwertsteuerlücke auf Schattenwirtschaft, Betrug, Steuervermeidung, Insolvenzen, Zahlungsverzug und Rechtsprobleme zurück, ohne dies näher aufzuschlüsseln. Es ist aber zwischenzeitlich anerkannt, dass eine Hauptursache im System selbst liegt, und zwar beim Vorsteuerabzug. Dessen wesentlicher Nachteil ist es, anfällig zu sein für Betrug (mit fingierten Eingangsumsätzen oder bei grenzüberschreitenden Warenlieferungen) und für Steuerausfälle wegen Zahlungsunfähigkeit (entweder weil dem Leistungsempfänger die Vorsteuer trotz Nichtzahlung der korrespondierenden Umsatzsteuer durch den leistenden Unternehmer zusteht oder weil die Vorsteuerrückabwicklung in Fällen nicht bezahlter Rechnung nicht erfolgreich ist). Nach den Ergebnissen eines Planspiels87 entfallen in Deutschland etwa 60% der Fehlbeträge auf solche systembedingten Ausfallursachen.

84 Vgl. Englisch, Reformbedarf im Recht der Umsatzsteuer, DB 2011, 9. 85 EU-Kommission, Study an Reports on the VAT Gap in the EU-28 Member States, 2016 Final Report, TAXUD/2015/CC/131. 86 ERH, Sonderbericht Nr. 24 v. 3.3.2016 „Bekämpfung des innergemeinschaftlichen MwSt.-­ Betrugs: Weitere Maßnahmen sind erforderlich“. 87 Siehe unter Buchst. b.

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Ohnehin führt der Vorsteuerabzug zu einem erheblichen Besteuerungsaufwand.88 Um das Steueraufkommen (2017 in Deutschland: 217,1 Mrd. Euro89) zu erzielen, wird etwa das Fünffache dessen (also aktuell mehr als 1 Bio. Euro) durch Zahlungen, Verrechnungen und Erstattungen zwischen Unternehmen und Finanzämtern hin und her bewegt. Vier Fünftel der Zahlungs- und Verrechnungsströme stellen wegen des Vorsteuerabzugs ein „Nullsummenspiel“ dar, ein Effekt der durch eine systematisch z.T. nur schwer zu rechtfertigende Verzinsung90 noch verstärkt wird.91 Es lag daher nahe, das Problem des Vorsteuerabzugs systematisch anzugehen. a) Mainzer Vorschläge zur Umsatzsteuer Den Anfang der Reformdebatte machte das rheinland-pfälzische Finanzministerium im Jahr 2001. Der dortige Steuerabteilungsleiter und Umsatzsteuerexperte Werner Widmann konnte vor dem Hintergrund zunehmender Umsatzsteuerausfälle seinen damaligen Finanzminister Gernot Mittler gewinnen, sich für einen weitreichenden Reformvorschlag stark zu machen. Im Sommer 2001 wurden die sog. Mainzer Vorschläge zur Umsatzsteuer vorgestellt. Sie sahen – nach dem Vorbild der §§ 4 Nr. 2 i.V.m. 8 UStG – für alle Lieferungen zwischen Unternehmern eine Vorstufenbefreiung vor. Dadurch sollten, um insbesondere Steuerausfällen bei Lieferkarussellen zu begegnen, inländische zwischenunternehmerische Umsätze im Ergebnis wie innergemeinschaftliche Lieferungen unversteuert bleiben mit dem Effekt, dass auch in grenz­ überschreitenden Lieferketten durchgängig ein offener Umsatzsteuerausweis und in der Folge der Vorsteuerabzug verzichtbar wird. Die Differenzierung zwischen Lieferungen an Unternehmer und solchen an Nichtunternehmer sollte anhand einer speziellen Identifikationsnummer erfolgen.92 b) Reverse-Charge-Modell Die Diskussion mündete in der Folgezeit in das von Bund- und Ländern gemeinsam getragene sog. Reverse-Charge-Modell, welches eine Abgrenzung zwischen Liefe­ rungen und sonstigen Leistungen entbehrlich macht. Es sah vor, generell für zwischenunternehmerische Umsätze auf eine Erhebung der Umsatzsteuer zu verzichten, allerdings nicht im Wege der Vorstufenbefreiung, sondern steuertechnisch durch 88 Vgl. Mittler, Die Mehrwertsteuer wird zur Achillesferse der Staatseinnahmen in Europa, UR 2003, 1 (3). 89 BT-Drucks. 18/11024, 14. 90 Siehe Englisch, Verzinsung von Steuernachforderungen wegen fehlerhafter Berechnung von Umsatzsteuer, UR 2011, 648. 91 Die jüngere Rechtsprechung zur Rechnungsberichtigung (EuGH v. 15.9.2016 – C-516/14 – Barlis 06, UR 2016, 795 m. Anm. Maunz = DStR 2016, 2216, und C-518/14 – Senatex, UR 2016, 800 = DStR 2016, 2211, sowie BFH v. 20.10.2016 – V R 26/15, UR 2017, 60 m. Anm. Sterzinger = UR 2017, 125 m. Anm. Jacobs/Zitzl = DStR 2016, 2967, und V R 54/14, BFH/ NV 2017, 488) hat das Zinsrisiko allerdings entschärft. 92 Vgl. dazu Widmann, Zu den Mainzer Vorschlägen zur Umsatzsteuer, UR 2002, 14 ff. und Widmann, Systembezogene Änderungen bei der Umsatzbesteuerung „Reverse-Charge-­ Verfahren“, UR 2006, 624 ff.

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Verlagerung der Steuerschuld auf den Abnehmer. Durch Zusammenführung von Steuerschuld und Vorsteueranspruch sollten so die wechselseitigen Zahlungs- und Verrechnungsströme zwischen Fiskus und Unternehmer minimiert werden. Das Reverse-Charge-Modell wurde detailliert ausgearbeitet und schließlich auf der Basis eines Gutachtenauftrags in einem Planspiel93 auf seine Praxiswirkungen hin erprobt sowie in einem evolutionären Prozess weiter angepasst. Im Zuge dessen kristallisierte sich heraus, dass ein praxisgerechtes Reverse-Charge-System mit drei Bedingungen flankiert werden muss: ȤȤ ein zuverlässiges Merkmal zur Identifikation des Leistungsempfängers als Unternehmer, ȤȤ einen Kontrollmechanismus zum Abgleich der Reverse-Charge-Umsätze zwischen leistendem Unternehmer und Leistungsempfänger und ȤȤ eine Umsatzgrenze, bis zu der Barverkäufe im Einzelhandel aus der Anwendung ausgeschlossen sind. Das Identifikationsmerkmal ist erforderlich, um eine zuverlässige Unterscheidung zwischen unternehmerischem Abnehmer und Endverbraucher zu ermöglichen; es muss online abfragbar sein. Der Kontrollmechanismus verhindert den unberechtigten Bezug unbelasteter Umsätze; dazu wurde eine Summenmeldung konzipiert, die einen unternehmensbezogenen Abgleich der Reverse-Charge-Umsätze erlaubt. Nicht weniger bedeutsam ist die Umsatzgrenze. Typische Einzelhandelsumsätze sollen so von der Reverse-Charge-Regelung ausgenommen bleiben, um praktischen Abwicklungsproblemen im täglichen Geschäft zu begegnen und insbesondere der Vor­ täuschung einer nicht vorhandenen Unternehmereigenschaft durch Endverbraucher Vorschub zu leisten. Im Verlauf des Planspiels stellte sich eine Umsatzgrenze von 5000 Euro als ideal heraus. Es hatte sich damit bestätigt, dass eine Steuerschuldverlagerung nur oberhalb bestimmter Grenzen sinnvoll ist, was freilich den Nachteil mit sich bringt, dass zwei Systeme nebeneinander anzuwenden sind. Anders als bei tatbestandlich differenziert ausgestalteten punktuellen Steuerschuldverlagerungen ist die Abgrenzung anhand einer Umsatzgrenze aber einfach handhab- und kontrollierbar. Das Planspiel ermittelte seinerzeit Einmalkosten für die Systemumstellung von 61 Mio. Euro (für die Verwaltung) und 1,6 – 2 Mrd. Euro (für die Wirtschaft) sowie jährliche Mehrkosten i.H.v. 53 Mio. Euro (Verwaltung) und ca. 200 Mio. Euro (Wirtschaft). Die Untersuchung ergab aber auch, dass unter dem Strich Mehreinnahmen i.H.v. ca. 2,3 Mrd. Euro im Einführungsjahr und ca. 3,6 Mrd. Euro in den Folgejahren (jeweils auf der Basis 2005) generiert werden könnten. Im Ergebnis konnte bewiesen  werden, dass eine generelle Einführung der Steuerschuldverlagerung bei ent­ sprechender technischer und risikoorientierter Ausgestaltung Aufkommensausfälle 93 Siehe dazu Groß/Matheis/Vogt, Umsatzsteuerliche Reformvorhaben im „Steuerlabor“, UVR 2006, 43 ff.

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reduziert, ohne die Praktikabilität der Steuererhebung zu beeinträchtigen. Das ausgearbeitete Reverse-Charge-Modell wurde daher im Rahmen der deutschen Ratspräsidentschaft im Jahr 2006 auf EU-Ebene zur Diskussion gestellt. c) Umsatzsteuergesetzbuch Im Jahr 2008 legte Paul Kirchhof das sog. Umsatzsteuergesetzbuch (UStGB)94 vor. Im Unterschied zu den vorgenannten Vorschlägen, die auf die Verringerung von Steuerausfällen durch Modifikationen der Erhebungstechnik fokussiert waren, stellt es eine ausformulierte geschlossene Neukodifikation des gesamten materiellen Umsatzsteuerrechts dar, das (unter gleichzeitiger Integration der besonderen Verkehr- und Verbrauchsteuern95) die Mehrwertsteuer auf ihre systematischen Strukturen zurückführt und vereinfacht.96 U.a. werden die Steuerbefreiungen auf wenige Tatbestände beschränkt. Der ermäßigte Steuersatz und viele weitere Ausnahmevorschriften und Sonderregelungen, z.B. die Besteuerung nach Durchschnittssätzen für Landwirte, entfallen. Korrespondierend zur Umsatzsteuerbelastung privater Entnahmen werden Einlagen in das Unternehmen entlastet. Beim Ort der Leistung verfolgt das UStGB durchgehend das Verbrauchsortprinzip. Es geht darüber hinaus zur generellen Versteuerung nach vereinnahmten Entgelten über. Insbesondere aber sieht das UStGB die Entstehung von Umsatzsteuer nur noch bei Umsätzen an Endverbraucher vor; Leistungen zwischen Unternehmern sind überwiegend nichtsteuerbar. Im Ergebnis kommt also der Ansatz von Kirchhof insoweit dem generellen Reverse-Charge-Verfahren sehr nahe. 2. Realisierungschancen eines generellen Reverse-Charge-Systems Die relevanten Reformüberlegungen des letzten Jahrzehnts zur Mehrwertsteuer laufen damit stets auf das gleiche Prinzip hinaus: einen Verzicht auf die Notwendigkeit der Umsatzbesteuerung und des Vorsteuerabzugs innerhalb der Unternehmerkette. Wie hoch sind aber nun die Realisierungschancen einer solchen Reform des Erhebungssystems der Mehrwertsteuer? Generell gilt bei Reformüberlegungen zur Umsatzsteuer, dass diese immer an den für die Mitgliedstaaten verbindlichen Vorgaben der MwStSystRL gemessen werden müssen. Die vorgenannten Modelle stimmen mit diesen Vorgaben nicht oder nur teilweise überein, das generelle Reverse-Charge-Verfahren und der Modellansatz von Prof. Kirchhof beinhaltet gar eine grundlegende Neuausrichtung der Besteuerungssystematik. Damit wäre eine Änderung der MwStSystRL erforderlich, die im Rat nur einstimmig beschlossen werden kann. Dasselbe gälte für eine Ausnahmeermächtigung nach Art. 395 MwStSystRL, die aber für derart weitreichende Abweichungen vom System ohnehin nicht in Betracht kommt.97 94 Paul Kirchhof, Umsatzsteuergesetzbuch (UStGB), 2008. 95 Mit Ausnahme der Erbschaft- und Schenkungssteuer sowie der Energie-, Alkohol- und Tabaksteuer. 96 Siehe dazu auch Werner Widmann, Mehrwertsteuer geht auch anders! – Zum Entwurf eines Umsatzsteuergesetzbuches von Paul Kirchhof, UR 2009, 9 ff. 97 EU-Kommission, Mitteilung an den Rat v. 28.10.2015, KOM (2015)538 endg.

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a) Diskussionsstand auf Unionsebene Für grundlegende Reformen der MwStSystRL ist die erforderliche Einstimmigkeit leider nur sehr schwer zu erreichen. Das von Deutschland 2006 im Rat zur Diskussion gestellte Reverse-Charge-Modell stieß bei einigen Mitgliedstaaten trotz seiner unbestreitbaren Vorteile auf erhebliche Vorbehalte.98 Insbesondere Frankreich und Spanien sprachen sich vehement gegen eine solche Systemumstellung aus. Auch das Angebot Österreichs, den Systemwechsel in einer Art Pilotverfahren zu erproben, änderte an der ablehnenden Haltung nichts. Weil keine Einstimmigkeit in Sicht war, wurde die Erörterung des Reformvorschlags schließlich nicht mehr fortgeführt. Der Vorschlag Paul Kirchhofs ist auf EU-Ebene bislang gar nicht diskutiert worden. Das heißt indes nicht, dass die Reformbedürftigkeit des Mehrwertsteuerrechts nicht längst auch in Brüssel erkannt worden wäre. Bereits in dem von ihr vorgelegten „Grünbuch“ vom 1.12.201099 betonte auch die EU-Kommission den Reformbedarf, leitete daraus allerdings in ihren Ende 2011 gezogenen Schlussfolgerungen100 keinen echten Reformvorschlag ab, sondern erneut nur punktuelle Einzelmaßnahmen wie eine Steuerschuldverlagerung für grenzüberschreitende Warenlieferungen ohne Einbeziehung von Inlandslieferungen. Auch im sog. Aktionsplan101 für einen einheitlichen europäischen Mehrwertsteuerraum aus dem Jahr 2016 bleibt die EU-Kommission den großen Wurf schuldig. Zwar konzediert sie, das derzeitige Mehrwertsteuersystem sei fragmentiert, zu kompliziert für die grenzüberschreitend tätigen Unternehmen und anfällig für Betrug. Als Lösung werden aber nur eine Zusammenstellung von Einzelmaßnahmen im Bereich des grenzüberschreitenden e-Commerce und der Mehrwertsteuerkontrolle sowie Überlegungen für die künftige Regelung der Steuersätze und für die Mehrwertbesteuerung des innergemeinschaftlichen Handels angeboten. Mittelfristig will die Kommission danach zwar zu einem „robusten, einheitlichen europäischen Mehrwertsteuerraum“ kommen, in dem grenzüberschreitende Umsätze wie inländische Umsätze behandelt werden. Eine Systemumstellung auf der Basis eines allgemeinen Reverse-Charge-Verfahrens auch für Inlandsumsätze strebt sie allerdings nicht an. Das Reverse-Charge-Verfahren sei nicht selbstkontrollierend, wie das geltende System der fraktionierten Erhebung der MwSt und könne daher neue Betrugsformen hervorrufen, z.B., wenn sich Nichtunternehmer als Unternehmer ausgeben. Die Kommission favorisiert den entgegengesetzten Ansatz: innergemeinschaftliche Lieferungen sollen künftig 98 Vgl. BMF, Mitteilung v. 14.5.2008, UR 2008, 461. 99 EU-Kommission, Grünbuch der Europäischen Kommission über die Zukunft der Mehrwertsteuer – Wege zu einem einfacheren, robusteren und effizienteren MwSt-System v. 1.12.2010, KOM(2010)695. 100 EU-Kommission, Mitteilung zur Zukunft der Mehrwertsteuer – Wege zu einem einfacheren, robusteren und effizienteren MwSt-System, das auf den Binnenmarkt zugeschnitten ist v. 6.12.2011, KOM(2011)851. 101 EU-Kommission, Mitteilung an das Europäische Parlament, den Rat und den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss über einen Aktionsplan im Bereich der Mehrwertsteuer „Auf dem Weg zu einem einheitlichen europäischen Mehrwertsteuerraum: Zeit für Reformen“ v. 7.4.2016, KOM(2016)148.

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vom Lieferer im Bestimmungsland zu besteuern sein. Dementsprechend sieht der am 4.10.2017102 vorgelegte Vorschlag für eine Änderung des Art. 402 MwStSystRL vor, die geltenden Übergangsregelungen zu den innergemeinschaftlichen Lieferungen abzuschaffen. Die künftige grundsätzliche Besteuerung im Bestimmungsland soll durch den Lieferanten unter Zuhilfenahme einer einzigen Anlaufstelle erfolgen.103 Diese Vorschläge der Kommission überzeugen nicht. Der allgemeine Übergang zum Bestimmungslandprinzip würde erhebliche Rechtsunsicherheiten für die Unternehmer nach sich ziehen, da die korrekte Versteuerung die Kenntnis des eigenen Steuerrechts und zusätzlich der jeweils differierenden materiell- und verfahrensrechtlichen nationalen Steuerregeln der Bestimmungsmitgliedstaaten des einzelnen Umsatzes erforderte. Die einzige Anlaufstelle ist dafür keine Lösung, weil sie nur Briefkastenfunktionen hat. Sie erspart damit dem grenzüberschreitend tätigen Unternehmer nicht die Befolgung der jeweiligen Bestimmungslandregeln. Auch die Steuerkontrolle durch die Mitgliedstaaten würde erschwert. Denn die Besteuerung würde nicht mehr, wie bislang, vom erhebungsberechtigten Staat, sondern für diesen vom Ansässigkeitsstaat geprüft, was – wie es die Kommission formuliert, „mehr Vertrauen“ und Zusammenarbeit zwischen den Steuerverwaltungen erfordert, aber auch einen deutlichen Bürokratiezuwachs erwarten lässt. Schließlich kann man auch nicht ernsthaft behaupten, dass es der Verringerung der Probleme mit dem unvalutierten Vorsteuerabzug dient, wenn man diesen nun auch noch in Bezug auf künftig steuerpflichtige innergemeinschaftliche Umsätze ermöglicht. Das Gegenteil wäre richtig: den Vorsteueranspruch des Leistungsempfängers mit einer gegenläufigen Steuerschuld direkt verrechenbar zu machen. Dieses Prinzip ist bei innergemeinschaftlichen Umsätzen bereits realisiert, freilich steuertechnisch über die Erwerbsbesteuerung. Die Steuerschuldverlagerung auf den Leistungsempfänger ist im Ergebnis nichts anderes. Würde sie zum generellen Prinzip, würden Inlands- und Binnenmarktumsätze gleich behandelt und damit die an der Schnittstelle zwischen grenzüberschreitenden und inländischen Umsätzen bestehende Risiken eliminiert, ohne die bürokratischen Probleme einer Bestimmungslandbesteuerung auszulösen.

102 EU-Kommission, Mitteilung an das Europäische Parlament, den Rat und den Euro­ päischen Wirtschafts- und Sozialausschuss „Follow-up zum Aktionsplan im Bereich der Mehrwertsteuer „Auf dem Weg zu einem einheitlichen europäischen Mehrwertsteuerraum: Zeit zu handeln“ v. 4.10.2017, KOM(2017)566; Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Änderung der Richtlnie 2006/112/EG in Bezug auf die Harmonisierung und Vereinfachung bestimmter Regelungen des Mehrwertsteuersystems und zur Einführung des endgültigen Systems der Besteuerung des Handels zwischen den Mitgliedstaaten. 103 Siehe dazu nun auch Vorschlag für eine Richtlinie zur Änderung der Richtlinie 2006/112/ EG im Hinblick auf die Einführung detaillierter technischer Maßnahmen zur Umsetzung des definitiven Mehrwertsteuersystems für den Handel zwischen den Mitgliedstaaten v. 25.5.2018, KOM(2018)329.

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b) Tschechischer Vorstoß Tschechien hatte – offensichtlich vor dem Hintergrund ähnlicher Überlegungen – im Jahr 2016 einen eigenen Vorstoß unternommen, wenigstens national ein generelles Reverse-Charge-System einführen zu dürfen. Im Rat der EU-Finanzminister bildete Tschechien schließlich ein Junktim zwischen seiner Zustimmung zur Anti-TaxAvoid­ance Richtlinie und der Schaffung einer EU-Rechtsgrundlage für ein generelles Reverse-Charge-Verfahren. Eine erfolgreiche Bekämpfung von Steuervermeidung und -betrug setze Maßnahmen sowohl im Bereich der direkten als auch im Bereich der indirekten Steuern voraus. Die EU-Kommission legte in Erfüllung dieser Bedingung Ende 2016 einen Richtlinienvorschlag vor.104 Aber auch diesem widerfuhr das gleich Schicksal, wie dem deutschen Vorstoß zehn Jahre zuvor: er scheiterte bislang am hartnäckigen Widerstand insbesondere Frankreichs. Im Gegenzug verweigerte Tschechien schließlich seine Zustimmung zu der von Frankreich favorisierten Richtlinie über die Einführung ermäßigter Steuersätze für die elektronische Zurverfügungstellung von Buchinhalten. Beide Vorschläge sind seither blockiert. Politik in Europa ist mitunter ein zähes Geschäft. Die Chancen, das Erhebungssystem der Mehrwertsteuer grundlegend und sinnvoll zu reformieren, sind nach alledem derzeit als gering einzuschätzen. Selbst die Erprobung in einem interessierten Mitgliedstaat, wie sie seinerzeit Österreich angeboten hatte, erhält nicht die erforderliche Zustimmung aller. Die EU-Kommission verfolgt ohnehin ein anderes Ziel.

V. Fazit Unbestreitbar besteht der grundsätzliche Vorteil einer Steuerschuldverlagerung auf den Leistungsempfänger darin, dass sich Steuerschuld und Vorsteueranspruch in derselben Person vereinigen. Damit wird die durch das Prinzip der fraktionierten Erhebung der Mehrwertsteuer bedingte Trennung der Steuerrechtsverhältnisse des leistenden Unternehmers und des Leistungsempfängers zwar beibehalten, es kommt aber nicht mehr zu unabhängigen und gegenläufigen Zahlungs- und Verrechnungsströmen zwischen leistendem Unternehmer und dem Fiskus einerseits und zwischen diesem und dem Leistungsempfänger andererseits. Vielmehr werden Umsatzsteuerschuld und Vorsteueranspruch in einer Person direkt verrechnet. Diese Wirkung des Reverse-Charge-Verfahrens reduziert das systembedingte Ausfallrisiko erheblich. Alle beachtenswerten Mehrwertsteuer-Reformmodelle der letzten Jahre haben wesentlich auf diesen vorteilhaften Effekt gesetzt. Ein Irrweg ist es aber, nur sektorale Reverse-Charge-Einzeltatbestände zu schaffen, die zudem territorial divergieren. Dieser Weg, den viele Mitgliedstaaten, darunter 104 Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Änderung der Richtlinie 2006/112/EG über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem im Hinblick auf die befristete generelle Umkehr der Steuerschuldnerschaft auf Lieferung bestimmter Gegenstände und Dienstleistungen über einem bestimmten Schwellenwert v. 21.12.2016, KOM(2016)811.

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auch Deutschland, eingeschlagen haben, wäre selbst dann kontraproduktiv, wenn er in der steuerpolitischen Ausrichtung auf die sukzessive Durchsetzung eines generellen Reverse-Charge-Systems gerichtet wäre. Denn die Einzelschritte sind in ihrer praktischen Wirkung negativ. Die Erfahrungen aus der Besteuerungspraxis belegen, dass die Einführung von Reverse-Charge auf einzelne Produkt- oder Umsatzgruppen oft nur kurzfristige Erfolge bringt, bevor Betrüger auf andere, nicht der Steuerschuldverlagerung unterliegende Waren oder Dienstleistungen ausweichen, was wiederum eine erneute Reaktion des Gesetzgebers auslöst. Der Preis dafür ist eine dauerhafte bürokratische Mehrbelastung des Fiskus und der weit überwiegenden Zahl der ehr­ lichen Unternehmer infolge der komplizierten, fehler- und streitanfälligen Abgrenzung der unter die Sonderregel fallenden Umsätze. Hinzu kommt das fiskalische ­Aufkommensrisiko im Fall gesetzgeberischer Unschärfen oder Fehleinschätzungen hinsichtlich der unionsrechtlichen Rahmenbedingungen. Dies belegt das Beispiel der Bauleistungen eindrücklich. Dem Fiskus droht in solchen Fällen der Steuerschuldner abhandenzukommen. Eine verfahrensrechtliche Lösung für dieses Dilemma á la § 27 Abs. 19 UStG verbietet sich nach den damit gemachten Erfahrungen ebenso. Vorzugswürdig in materiell-rechtlicher Hinsicht ist allein die Schaffung eines generellen Reverse-Charge-Verfahrens, wie es von Deutschland vor etwa zehn Jahren bereits in Brüssel vorgeschlagen worden ist. Es wäre mit bestimmten Kontrollmechanismen zu verknüpfen und risikoorientiert auszugestalten. Für all das liegen erprobte konkrete Vorschläge vor. Sie müssen nur endlich zur Kenntnis genommen und einer ernsthaften Meinungsbildung zu Grunde gelegt werden. Wo keine Umsatzsteuer anfällt, kann sie auch nicht hinterzogen werden. Dieser einfachen aber bestechenden Logik sollten sich die Mitgliedstaaten nicht länger verschließen und die Chance zu einer wirklichen Verbesserung des Erhebungssystems der Mehrwertsteuer ergreifen, statt sich in dessen weiterer Verkomplizierung zu verlieren.

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Gelangensbestätigung und USt-IdNr. – Prüfungspflicht für Unternehmer in Gegenwart und Zukunft Inhaltsübersicht I. Das Bestimmungslandprinzip 1. Grundsatz 2. Vertrauensschutz 3. Zeitpunkt der Nachweispflicht II. Voraussetzungen der Steuerbefreiung III. Die Gelangensbestätigung nach § 17a Abs. 2 Nr. 2 UStDV 1. Das Doppel der Rechnung als notwen­ diger Beleg (§ 17a Abs. 2 Nr. 1 UStDV) 2. Die Gelangensbestätigung (§ 17a Abs. 2 Nr. 2 UStDV) a) Grundsätzliche Überlegungen b) Mehrere Dokumente c) Elektronische Übermittlung d) Zuordnung des Absenders e) Lesbarkeit bei elektronischer Übermittlung f) Sammelbestätigung g) Praxisvorschlag h) Bestimmungsort i) Gelangensbestätigung im Fall der ­Abrechnung durch Gutschriften j) Gelangensbestätigung durch Dritte k) Gelangensbestätigung an Dritte l) Muster m) Innergemeinschaftliches Verbringen 3. Probleme a) Problem 1: unsicheres Zeitfenster

b) Problem 2: fehlender Vertrauensschutz c) Praxisempfehlung zu Problem 1 und 2 d) Problem 3: Nettobuchung vor Erhalt der Gelangensbestätigung zulässig? e) Problem 4: Nettobuchung bei ­An- und Vorauszahlungen IV. Nachweis des „b2b“-Umsatzes 1. Historie 2. EuGH v. 20.10.2016, C-24/15, Josef Plöckl a) Sachverhalt b) Entscheidung des EuGH 3. Konsequenzen aus der EuGH-Ent­ scheidung Pöckl 4. Lösbare Fälle V. Zukunft der USt-IdNr. als materielle ­Voraussetzung für die Steuerbefreiung 1. Vorschläge der EU-Kommission 2. Kritik a) Lieferung an (Drittlands-) Unter­ nehmen ohne ausländische USt-IdNr. b) Innergemeinschaftliches Verbringen c) Fehlende bzw. verspätete Zusammenfassende Meldung VI. Fazit

I. Das Bestimmungslandprinzip 1. Grundsatz Die Besteuerung des Handels zwischen den Mitgliedstaaten bei zwischenunternehmerischen Umsätzen (sog. B2B-Umsätzen) beruht auf dem Grundsatz, dass die ­Steuereinnahmen dem Mitgliedstaat zustehen, in dem der Endverbrauch erfolgt (Be1 Der Beitrag wurde in nicht dienstlicher Eigenschaft verfasst.

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stimmungslandprinzip). Dies wird (derzeit noch) dadurch erreicht, dass die innergemeinschaftliche Lieferung im Mitgliedstaat des Beginns der Beförderung oder Versendung von der Besteuerung freigestellt wird und dem ein innergemeinschaftlicher Erwerb im Mitgliedstaat der Beendigung der Beförderung oder Versendung gegenübersteht. Damit werden eine Doppelbesteuerung und eine Verletzung des dem gemeinsamen Mehrwertsteuersystem innewohnenden Grundsatzes der steuerlichen Neutralität vermieden.2 Der Lieferant hat dabei die Voraussetzungen der Steuer­ befreiung nachzuweisen. Denn auch hier gilt der Grundsatz, dass derjenige, der sich auf eine Steuerbefreiung im Umsatzsteuerrecht beruft, die Voraussetzungen hierfür nachzuweisen hat (§ 6a Abs. 3 Satz 1 UStG).3 Die Lieferung eines Gegenstandes ist gemäß § 4 Nr. 1 Buchst. b i.V.m. § 6a Abs. 1 UStG steuerfrei, wenn die folgenden Voraussetzungen erfüllt sind: 1. Der Unternehmer oder der Abnehmer hat den Gegenstand der Lieferung in das übrige Gemeinschaftsgebiet befördert oder versendet, 2. der Abnehmer ist a) ein Unternehmer, der den Gegenstand der Lieferung für sein Unternehmen erworben hat, b) eine juristische Person, die nicht Unternehmer ist oder die den Gegenstand der Lieferung nicht für ihr Unternehmen erworben hat, oder c) bei der Lieferung eines neuen Fahrzeugs auch jeder andere Erwerber und 3. der Erwerb des Gegenstands der Lieferung unterliegt beim Abnehmer in einem anderen Mitgliedstaat den Vorschriften der Umsatzbesteuerung. Die Vorschrift steht in Einklang mit den gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben des Art. 138 Abs. 1 MwStSystRL. Danach befreien die Mitgliedstaaten u.a. die Lieferungen von Gegenständen, die durch den Verkäufer, den Erwerber oder für ihre Rechnung nach Orten außerhalb ihres jeweiligen Gebiets, aber innerhalb der Gemeinschaft versandt oder befördert werden von der Steuer, wenn diese Lieferung an einen anderen Steuerpflichtigen oder an eine nichtsteuerpflichtige juristische Person bewirkt wird, der/die als solche/r in einem anderen Mitgliedstaat als dem des Beginns der Versendung oder Beförderung der Gegenstände handelt. Rechtsprechung und Finanzverwaltung gehen davon aus, dass der Unternehmer die Steuerfreiheit für die innergemeinschaftliche Lieferung grundsätzlich in Anspruch nehmen kann, wenn er die nach § 6a Abs. 3 UStG i.V.m. §§ 17a ff. UStDV bestehenden Nachweispflichten erfüllt.4 Kommt der Unternehmer den Nachweispflichten 2 Vgl. BFH v. 10.11.2010 – XI R 11/09, BStBl. II 2011, 237 = UR 2013, 756 Rz. 47. 3 Vgl. Abschn. 6a.2 Abs. 1 Satz 1 UStAE. 4 BFH v. 12.5.2009 – V R 65/06, BStBl. II 2010, 511 = UR 2009, 719; BFH v. 12.5.2011 – V R 46/10, BStBl.  II 2011, 957; BFH v. 15.2.2012  – XI R 42/10, BFH/NV 2012, 1188; BFH v. 14.11.2012 – XI R 8/11, BFH/NV 2013, 596.

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nicht oder nur unvollständig nach, erweisen sich die Nachweisangaben bei einer Überprüfung als unzutreffend oder bestehen zumindest berechtigte Zweifel an der inhaltlichen Richtigkeit der Angaben, die der Unternehmer nicht ausräumt, ist von der Steuerpflicht der Lieferung auszugehen; trotz derartiger Mängel ist die Lieferung aber steuerfrei, wenn objektiv zweifelsfrei feststeht, dass die Voraussetzungen der Steuerfreiheit erfüllt sind.5 Das kann für den Nachweis des Grenzübertritts – anders als die Rechtsprechung auszudrücken scheint – nur bedeuten, dass der liefernde Unternehmer immer einen Ersatzbeleg beibringen kann, wenn sich mit ihm der Grenz­ übertritt der Ware zweifelsfrei nachweisen lässt. Solch ein Ersatzbeleg kann z.B. die Zulassung eines Fahrzeugs in einem anderen Mitgliedstaat sein.6 Der V. Senat des BFH hat dies vom Grundsatz her in seiner Entscheidung vom 18.2.20167 bestätigt. Er hatte hier einen Fall zu untersuchen, bei dem ein inlän­discher Kunsthändler einen Anteil von 50 % an einem besonders wertvollen Buch an eine in London ansässige Galerie verkauft hat. Der Kunsthändler war davon ausgegangen, dass es sich hierbei um die Übertragung eines Miteigentumsanteils und nicht um eine Lieferung gehandelt hat. Das sah der BFH jedoch anders und führte zur Frage der fehlenden Nachweise in Rz. 41 aus: Nach der Rechtsprechung des EuGH und der nunmehr ständigen Rechtsprechung des BFH sind die Nachweispflichten keine materiellen Voraussetzungen für die Befreiung als innergemeinschaftliche Lieferung. Trotz Nichtvorliegens der formellen Nachweispflichten ist eine Lieferung steuerfrei, wenn die Voraussetzungen einer innergemeinschaftlichen Lieferung unbestreitbar feststehen …

Damit scheint die Rechtsprechung jeglichen Nachweis zu akzeptieren, auch wenn dieser nicht den Voraussetzungen der §§ 17a ff. UStDV entspricht. Leider ist diese Hoffnung unbegründet. Unter Protest (auch aus eigenen Reihen8) hatte der V. Senat9 nämlich kurz zuvor (Urteil vom 19.3.2015) entschieden (Rz. 19): Ein Beweis durch Zeugen kommt als Ersatz für den gesetzlich vorgesehenen Buch- und Belegnachweis grundsätzlich nicht in Betracht, und zwar weder von Amts wegen (§ 76 Abs. 1 FGO) noch auf Antrag. Nur wenn der Formalbeweis ausnahmsweise nicht oder nicht zumutbar geführt werden kann, gebietet es der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, den Nachweis auch in anderer Form zuzulassen.

Da der BFH in der Entscheidung vom 18.2.2016 keinen Hinweis auf seine zuvor getroffene Entscheidung gegeben hat, stehen beide Entscheidungen nach wie vor im Raum. 5 BFH v. 12.5.2009 – V R 65/06, BStBl. II 2010, 511 = UR 2009, 719; BFH v. 12.5.2011 – V R 46/10, BStBl.  II 2011, 957; BFH v. 15.2.2012  – XI R 42/10, BFH/NV 2012, 1188; BFH v. 14.11.2012 – XI R 8/11, BFH/NV 2013, 596. 6 Vgl. FG Baden-Württemberg v. 20.7.2011 – 14 K 4282/09, EFG 2011, 2203. 7 BFH v. 18.2.2016 – V R 53/14, UR 2016, 436 m. Anm. Küffner = BFH/NV 2016, 869. 8 Wäger, UR 2015, 702. 9 BFH v. 19.3.2015 – V R 14/14, DStR 2016, 869; bestätigt durch BFH v. 8.12.2015 – V B 40/15, BFH/NV 2016, 439.

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Die Entscheidung vom 19.3.2015 hat verheerende Auswirkungen. Sie muss so verstanden werden, dass Unternehmer in der Regel daran gehindert sind, den Nachweis des Grenzübertritts mit Hilfe anderer Belege zu führen. Man denke in diesem Zusammenhang z.B. an unvollständige CMR-Frachtbriefe oder lückenhafte Tracking-and-­ tracing-Protokolle, die nur noch über eine Gelangensbestätigung „geheilt“ werden könnten. Und was ist eigentlich mit der Gelangensbestätigung selber. Der Unternehmer ist hier in einer misslichen Situation, kann er doch – anders als nach alter Rechtslage – im Fall einer Beförderung oder Versendung durch den Abnehmer die Über­ gabe der Ware nicht von der Aushändigung eines entsprechenden Belegs abhängig machen, da die Gelangensbestätigung erst nach Abschluss des Transportvorgangs erteilt werden darf.10 Wenn diese vom Abnehmer nicht zurückkommt, könnte der Lieferant den Grenzübertritt überhaupt nicht mehr nachweisen (s.u.). Um diese Folgen zu verhindern, wird vorgeschlagen, im Hinblick auf diesen – dem Unternehmer gesetzlich aufoktroyierten – Sachzwang Milde walten zu lassen, so dass der Unternehmer, der von seinem Abnehmer nach Warenerhalt und Transportbeendigung abredewidrig keine Gelangensbestätigung erhält, berechtigt ist, den Nachweis der Steuerfreiheit mit anderen Beweismitteln zu führen, da er an der gesetzlich vorgeschriebenen Beweisführung ohne eigenes Verschulden gehindert ist.11 M.E. ist dies aber gar nicht notwendig (s.u.). 2. Vertrauensschutz Die MwStSystRL enthält keine Vorschrift darüber, wie der Steuerpflichtige das Vorliegen einer innergemeinschaftlichen Lieferung nachzuweisen hat. Geregelt sind in den Art.  241  ff. MwStSystRL lediglich bestimmte formelle Pflichten in Bezug auf Aufzeichnungen, Rechnungen und Steuererklärungen. Ergänzend bestimmt Art.  273 MwStSystRL, dass die Mitgliedstaaten weitere Pflichten vorsehen können, die sie als erforderlich erachten, um eine genaue Erhebung der Steuer sicherzustellen und Steuerhinterziehungen zu verhindern. Eingeschränkt wird diese Befugnis allerdings durch die allgemeinen Rechtsgrundsätze der Rechtssicherheit und der Verhältnismäßigkeit. Die von den Mitgliedstaaten begründeten Pflichten dürfen deshalb nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung der genannten Ziele (Sicherstellung genauer Steuer­ erhebung und Verhinderung von Steuerhinterziehungen) erforderlich ist. Insbesondere dürfen sie nicht dazu führen, dass die Neutralität der Mehrwertsteuer in Frage gestellt wird, die ein Grundprinzip des durch das Gemeinschaftsrecht geschaffenen gemeinsamen Mehrwertsteuersystems ist. Für den Fall, dass ein Unternehmer von der Steuerfreiheit einer innergemeinschaftlichen Lieferung ausgeht, obwohl die Voraussetzungen des § 6a Abs. 1 UStG nicht vorliegen, bestimmt im deutschen Recht deshalb § 6a Abs. 4 UStG, dass die Lieferung dann als steuerfrei anzusehen ist, wenn die Inanspruchnahme der Steuerbefreiung auf unrichtigen Angaben des Abnehmers beruht und der Unternehmer die Unrich10 Wäger, UR 2015, 702. 11 Wäger, UR 2015, 702; Frye, UR 2014, 753.

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tigkeit dieser Angaben auch bei Beachtung der Sorgfalt eines ordentlichen Kaufmanns nicht erkennen konnte (Vertrauensschutz). In diesem Fall schuldet der Abnehmer die Steuer. Diese Vorschrift entspricht der Rechtsprechung des EuGH. Danach sind die zuständigen Behörden des Liefermitgliedstaats nicht befugt, einen gutgläubigen Lieferanten, der Beweise vorgelegt hat, die dem ersten Anschein nach sein Recht auf Befreiung einer innergemeinschaftlichen Lieferung von Gegenständen belegen, zu verpflichten, später Mehrwertsteuer auf diese Gegenstände zu entrichten, wenn die Beweise sich als falsch herausstellen, jedoch nicht erwiesen ist, dass der Lieferant an der Steuerhinterziehung beteiligt war, soweit er alle ihm zur Verfügung stehenden zumutbaren Maßnahmen ergriffen hat, um sicherzustellen, dass die von ihm vorgenommene innergemeinschaftliche Lieferung nicht zu seiner Beteiligung an einer solchen Steuerhinterziehung führt.12 Der Vertrauensschutz setzt nach Ansicht der Rechtsprechung und der Finanzverwaltung (mindestens) dreierlei voraus: 1. Der Unternehmer muss den Nachweispflichten nach §  6a Abs.  3 UStG i.V.m. §§ 17a ff. UStDV als Voraussetzung für die Steuerfreiheit nach § 6a Abs. 4 Satz 1 UStG ihrer Art nach nachgekommen sein.13 Maßgeblich ist hierfür die formelle Vollständigkeit, nicht aber auch die inhaltliche Richtigkeit der Beleg- und Buchangaben, da § 6a Abs. 4 Satz 1 UStG das Vertrauen auf unrichtige Abnehmerangaben schützt.14 2. Der Lieferant muss sich die USt-IdNr. des Erwerbers vom Bundeszentralamt für Steuern nach § 18e UStG qualifiziert bestätigen lassen. Denn war die Unrichtigkeit einer USt-IdNr. erkennbar und hat der Unternehmer dies nicht erkannt (z.B. weil das Bestätigungsverfahren nicht oder zu einem späteren Zeitpunkt als dem des Umsatzes durchgeführt wurde), genügt dies nicht der Sorgfaltspflicht eines ordentlichen Kaufmanns.15 3. Der Lieferant darf nicht aus anderen Gründen Kenntnis haben, dass sein Umsatz in einen Betrug verwickelt war.16 Der Autor hat an anderer Stelle17 bereits ausgeführt, dass dies Fälle sein dürften, bei denen folgende Faktoren zusammenkommen:

12 EuGH v. 27.9.2007  – C-409/04  – Teleos u.a., BStBl.  II 2009, 70 = UR 2007, 774; BFH v. 12.5.2011 – V R 46/10, BStBl. II 2011, 957; BFH v. 15.2.2012 – XI R 42/10, BFH/NV 2012, 1188; BFH v. 14.11.2012 – XI R 8/11, BFH/NV 2013, 596. 13 BFH v. 15.7.2004 – V R 1/04, UR 2005, 212 = BFH/NV 2005, 81; BFH v. 14.11.2012 – XI R 8/11, BFH/NV 2013, 596. 14 BFH v. 12.5.2011 – V R 46/10, BStBl. II 2011, 957; BFH v. 15.2.2012 – XI R 42/10, BFH/NV 2012, 1188; BFH v. 14.11.2012 – XI R 8/11, BFH/NV 2013, 596. 15 Vgl. Abschn. 6a.8 Abs. 6 Satz 1 UStAE. 16 BFH v. 14.11.2012 – XI R 17/12, UR 2013, 456 = DStR 2013, 753; BFH v. 25.4.2013 – V R 28/11, BStBl. II 2013, 656. 17 Neeser, UVR 2013, 333.

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ȤȤ der Erwerber holt die Ware selber oder durch einen Beauftragten ab18 ȤȤ er zahlt bar19 und ȤȤ der Gegenstand kann auch privat verwendet werden. In Fällen dieser Art verlangt die Finanzverwaltung vom Unternehmer deshalb, sich über den Namen, die Anschrift des Abnehmers und ggf. über den Namen, die Anschrift und die Vertretungsmacht eines Vertreters des Abnehmers zu vergewissern und entsprechende Belege vorzulegen.20 Hier reicht die alleinige Durchführung eines qualifizierten Bestätigungsverfahrens nach § 18e UStG über die vom Abnehmer verwendete USt-IdNr. alleine nicht aus.21 3. Zeitpunkt der Nachweispflicht Der Unternehmer hat relativ viel Zeit. Er kann den Belegnachweis bis zum Schluss der letzten mündlichen Verhandlung vor dem Finanzgericht führen.22

II. Voraussetzungen der Steuerbefreiung Aus vorstehendem zeigt sich, dass der liefernde Unternehmer (mindestens) zweierlei nachweisen muss: 1. Dass der Gegenstand in einen anderen Mitgliedstaat gelangt ist. Das erfolgt in vielen Fällen mittels der sog. Gelangensbestätigung (unter Abschnitt III). 2. Dass der Abnehmer ein Unternehmer ist, der den Gegenstand für sein Unternehmen bezogen hat. Diesen Nachweis wird der Lieferant typischerweise mittels der USt-IdNr. des Abnehmers führen. Muss er dies aber? (dazu unter Abschnitt IV).

III. Die Gelangensbestätigung nach § 17a Abs. 2 Nr. 2 UStDV 1. Das Doppel der Rechnung als notwendiger Beleg (§ 17a Abs. 2 Nr. 1 UStDV) Nach § 17a Abs. 2 Nr. 1 UStDV ist Teil des Nachweises des Grenzübertritts ein Doppel der Rechnung (§§  14 und 14a UStG). Dieser „Beleg“ ist nicht verständlich. Durch eine Rechnung wird doch nur verdeutlicht, dass der Lieferant die Lieferung eines bestimmten Gegenstandes an einem bestimmten Tag als steuerfreie innergemeinschaftliche Lieferung behandelt hat. Selbst wenn man mit dem BFH23 annimmt, dass der 18 BFH v. 14.11.2012 – XI R 17/12, UR 2013, 456 = DStR 2013, 753. 19 BFH v. 14.11.2012 – XI R 17/12, UR 2013, 456 = DStR 2013, 753; Abschn. 6a.8 Abs. 7 Satz 1 UStAE. 20 Vgl. Abschn. 6a.8 Abs. 7 Satz 2 UStAE. 21 Vgl. Abschn. 6a.8 Abs. 7 Satz 3 UStAE und Abschn. 3.14 Abs. 10a UStAE. 22 BFH v. 28.5.2009 – V R 23/08, BStBl. II 2010, 517 = UR 2009, 714. 23 BFH v. 14.11.2012 – XI R 8/11, BFH/NV 2013, 596.

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Hinweis auf die innergemeinschaftliche Lieferung für den Erwerber das Signal für die Erwerbsbesteuerung darstellt, erschließt sich nicht, welche Aussagekraft sich hiermit für den Grenzübertritt selber ergibt. Die Rechnung könnte allenfalls dazu dienen, die konkrete Lieferung zu bezeichnen, für die die Steuerfreiheit „begehrt“ wird. Aber dafür wäre der Lieferschein genauso oder noch besser geeignet. Außerdem ist die ordnungsgemäße Rechnung für den Erwerber gemäß § 15 Abs. 1 Nr. 3 UStG keine Voraussetzung für den Vorsteuerabzug. Es sei auch an dieser Stelle nochmals auf die missglückte Entscheidung des BFH v. 14.11.201224 hingewiesen. Hier hat der BFH zunächst einmal betont, dass der liefernde Unternehmer mit einer Rechnung, die keinen Hinweis auf die Steuerfreiheit der innergemeinschaftlichen Lieferung enthält, den gemäß §  17a Abs.  4 Satz 1 Nr.  1 UStDV erforderlichen Belegnachweis für eine innergemeinschaftliche Lieferung nicht führen kann. Dies entspricht § 17a Abs. 2 Nr. 1 UStDV. Der BFH führt aber in Rz. 46 zusätzlich aus: „Denn ohne derartige Rechnung ergibt sich für den Abnehmer der Lieferung kein Hinweis auf das Vorliegen einer innergemeinschaftlichen Lieferung und der hiermit verbundenen Verpflichtung zur Vornahme der Erwerbsbesteuerung.“25

Dies ist grob realitätsfern. Als ob der erwerbende Unternehmer, der im Binnenmarkt steuerfrei einkauft, erst auf Grund des Hinweises in der Ausgangsrechnung des Lieferanten wüsste, dass er im Bestimmungsland einen innergemeinschaftlichen Erwerb zu versteuern hat. 2. Die Gelangensbestätigung (§ 17a Abs. 2 Nr. 2 UStDV) a) Grundsätzliche Überlegungen Folgendes sei vorangestellt: 1. Die Gelangensbestätigung kann nach der Gesetzeskonstruktion erst erteilt werden, nachdem die Beförderung oder Versendung stattgefunden hat. Eine Vorab-Bestätigung – wie die Verbringensversicherung nach altem Recht (bis Ende 2011) – ist nicht möglich (s. hierzu unten „Problem 1: unsicheres Zeitfenster“). 2. Die Gelangensbestätigung stellt (zusammen mit der ordnungsgemäßen Rechnung) nur einen möglichen Nachweis für den Grenzübertritt dar. Der Unternehmer kann aber in allen Fällen (auch den Versendungsfällen) den Nachweis über die Gelangensbestätigung führen. 3. Die Gelangensbestätigung ist jedoch die einzige Nachweismöglichkeit in Beförderungsfällen. Hier hängt der Nachweis also immer von der „Mithilfe“ des Erwerbers ab.

24 BFH v. 14.11.2012 – XI R 8/11, BFH/NV 2013, 596. 25 So schon BFH v. 12.5.2011 – V R 46/10, BStBl. II 2011, 957.

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b) Mehrere Dokumente Die Gelangensbestätigung kann nach § 17a Abs. 2 Nr. 2 Satz 4 2. HS UStDV aus mehreren Dokumenten bestehen. Damit ist es für den Erwerber möglich, auf ȤȤ Rechnungen, ȤȤ Lieferscheine oder auf ȤȤ CMR-Frachtbriefe zu verweisen.26 c) Elektronische Übermittlung Die Gelangensbestätigung kann nach § 17a Abs. 2 Nr. 2 Satz 4 UStDV in jeder die erforderlichen Angaben enthaltenen Form erbracht werden. Bei einer elektronischen Übermittlung der Gelangensbestätigung ist eine Unterschrift nicht erforderlich. Das ist die entscheidende Erleichterung der elektronisch übermittelten Gelangensbestätigung. Denn sofern an der Vertretungsberechtigung desjenigen, der die Unterschrift geleistet hat, im konkreten Einzelfall Zweifel bestehen, ist nach Ansicht der Finanzverwaltung der Nachweis der Vertretungsberechtigung zu führen.27 Die Gelangensbestätigung kann damit ȤȤ per E-Mail, ggf. mit PDF-, Excel- oder Textdateianhang, ȤȤ per Computer-Telefax oder Fax-Server, ȤȤ per Web-Download oder ȤȤ im Wege des Datenträgeraustauschs (EDI) übermittelt werden kann. d) Zuordnung des Absenders Es muss für den liefernden Unternehmer erkennbar sein, dass die elektronische Übermittlung im Verfügungsbereich des Abnehmers oder dessen Beauftragten begonnen hat. Dies bedeutet z. B. für den Fall, dass die Gelangensbestätigung im Wege einer E-Mail übermittelt wird, dieser entnommen werden kann, dass sie aus dem Verfügungsbereich des Abnehmers oder dessen Beauftragten heraus abgesendet wurde. Bei einer Bestätigung per E-Mail wird sich in der Praxis in praktisch keinem Fall des E-Mail-Versands das Problem des Nachweises stellen. Denn wenn der Erwerber vom Lieferant per E-Mail an eine Firmen-E-Mail-Adresse des Erwerbers gebeten wird, den Empfang durch eine Antwortmail zu bestätigen, wird die Antwort automatisch von der Firmen-E-Mail-Adresse und damit aus dem Verfügungsbereich des Erwerbers kommen. 26 Abschn. 6a.4 Abs. 5 Sätze 3 bis 5 UStAE. 27 Abschn. 6a.4 Abs. 2 Satz 4 UStAE.

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Die Verwaltung geht davon aus, dass ȤȤ eine bei der Übermittlung der Gelangensbestätigung verwendete E-Mail-Adresse dem liefernden Unternehmer nicht bereits vorher bekannt gewesen sein muss.28 ȤȤ Auch ist es unschädlich, wenn die E-Mail-Adresse eine Domain enthält, die nicht auf den Ansässigkeitsmitgliedstaat des Abnehmers oder auf den Bestimmungsmitgliedstaat der Lieferung hinweist.29 ȤȤ Ganz allgemein gilt, dass von der Erkennbarkeit des Beginns der elektronischen Übermittlung im Verfügungsbereich des Abnehmers immer dann ausgegangen werden kann, wenn keine begründeten Zweifel daran bestehen, dass die Angaben dem Abnehmer zugerechnet werden können.30 Nach wie vor nicht geklärt ist, ob bei Konzerngesellschaften im Einzelfall auf eine förmliche Gelangensbestätigung verzichtet werden kann (z. B. wenn sowohl der Lieferant als auch der Erwerber auf denselben Server zugreifen können, auf dem sich alle erforderlichen Daten befinden). Da das BMF-Schreiben v. 16.9.2013 hierzu keine Aussage enthält, ist dies nach Ansicht der Finanzverwaltung wohl nicht möglich.31 e) Lesbarkeit bei elektronischer Übermittlung Für die Anforderungen an die Lesbarkeit der Bestätigung und ihre Archivierung sind die Vorschriften der GoBD anzuwenden. Wird die Gelangensbestätigung per E-Mail übersandt, sollte auch die E-Mail mit archiviert werden. Aber: Eine mangelhafte Archivierung hat keine Auswirkung auf die Nachweiswirkung der Gelangensbestä­ tigung. Auch wenn die Gelangensbestätigung nur ausgedruckt und die E-Mail anschließend gelöscht wird, kann mit Ihr der Grenzübertritt nachgewiesen werden.32 Dies entspricht der Rechtslage bei elektronischen Rechnungen.33 f) Sammelbestätigung Die Gelangensbestätigung kann auch als Sammelbestätigung ausgestellt und darin die an den Aussteller der Gelangensbestätigung ausgeführten Umsätze aus bis zu einem Quartal zusammengefasst werden (§ 17a Abs. 2 Nr. 2 Sätze 2 und 3 UStDV). Die Zusammenfassung von 3 Monaten findet aber selten Anwendung. Da in der Gelangensbestätigung der Monat des Ankommens des Gegenstandes genannt werden muss, hat sich die monatliche Gelangensbestätigung durchsetzt.

28 Abschn. 6a.4 Abs. 3 Satz 3 UStAE. 29 Abschn. 6a.4 Abs. 3 Satz 4 UStAE. 30 Abschn. 6a.4 Abs. 3 Satz 2 UStAE. 31 BMF v. 16.9.2013, BStBl. I 2013, 1192. 32 Abschn. 6a.4 Abs. 6 Satz 2 UStAE. 33 Abschn. 14b.1 Abs. 10 Satz 2 UStAE.

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g) Praxisvorschlag Wenn man die elektronische Übermittlung und die Notwendigkeit der Archivierung weiterdenkt, ist es möglich, in einer Anfrage an den Erwerber die Frage zu äußern, ob der Gegenstand, beim Erwerber am Zielort angekommen ist. Wenn der Empfänger die Frage bejaht und den Gelangensmonat ergänzt, liegen beim Lieferant alle Angaben der Gelangensbestätigung vor. Auch kann auf den Lieferschein verwiesen werden; dieser enthält in der Praxis alle notwendigen Angaben. Das Absende-Datum der E-Mail ist das nach § 17a Abs. 2 Nr. 2 Buchst. d UStDV maßgebende Ausstellungsdatum der Bestätigung. Einzig den Monat des Ankommens der Ware (§ 17a Abs. 2 Nr. 2 Buchst. c UStDV) kann der Lieferant nicht kennen. Um auch dies zum Gegenstand Gelangensbestätigung zu machen, hat der Autor bereits früher vorgeschlagen34, den Erwerber zu fragen, ob der Gegenstand  – entsprechend der normalen Transportdauer  – in einem bestimmten Monat angekommen ist. Wird dies bejaht, liegt für den Lieferanten die vollständige Gelangensbestätigung vor. Dies wird mittlerweile von der Praxis in vielen Fällen so gehandhabt. Wegen der notwendigen Archivierung wird besonders kleinen Unternehmen empfohlen, eine E-Mail-Adresse einzurichten, an die alle elektronischen Gelangensbestätigungen geschickt werden müssen. Dann muss auch nur der Posteingang dieser E-Mail-Adresse archiviert werden. Dies führt wiederum in der Praxis dazu, dass nicht mit Antwortmails gearbeitet werden wird, sondern mit Links, bei dessen Klick automatisch eine Antwortmail generiert wird, die an das vom Lieferant vorgegebene E-Mail-Konto (z.B. gelangensbestätigung@…) gesendet wird. h) Bestimmungsort Mit dem Bestimmungsort sind der entsprechende Mitgliedstaat und die dortige Stadt/ Gemeinde gemeint. Allerdings kann der Unternehmer nach Ansicht der Finanz­ verwaltung nicht mit Erfolg einwenden, er habe z.B. als Zwischenhändler in einem Reihengeschäft ein berechtigtes wirtschaftliches Interesse daran, den endgültigen ­Bestimmungsort des Liefergegenstands nicht nachzuweisen, um den Endabnehmer nicht preis geben zu müssen.35 Entspricht der Ort des Erhalts des Gegenstands im übrigen Gemeinschaftsgebiet nicht den Angaben des Abnehmers, ist dies aber nicht zu beanstanden, wenn es sich bei dem tatsächlichen Ort zweifelsfrei um einen Ort im übrigen Gemeinschaftsgebiet handelt.36 i) Gelangensbestätigung im Fall der Abrechnung durch Gutschriften Die Gelangensbestätigung muss nach dem Gesetzeswortlaut auch dann vom Erwerber ausgestellt werden, wenn dieser über Gutschrift mit dem Lieferanten abrechnet. 34 Neeser, UVR 2013, 333. 35 Abschn. 6a.3 Abs. 2 Satz 4 UStAE. 36 Abschn. 6a.3 Abs. 3 UStAE.

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Auch in diesem Fall kann nicht von einer förmlichen Gelangensbestätigung abgesehen werden. j) Gelangensbestätigung durch Dritte Auch ein von dem Abnehmer zur Abnahme des Liefergegenstandes Beauftragter kann die Gelangensbestätigung unterzeichnen. Dies kann z. B. ȤȤ ein selbständiger Lagerhalter sein, der für den Abnehmer den Liefergegenstand entgegennimmt, ȤȤ ein anderer Unternehmer, der mit der Warenannahme beauftragt wurde, oder ȤȤ in einem Reihengeschäft der tatsächliche (letzte) Abnehmer. Wer sich für letztere Möglichkeit entscheidet, sollte jedoch beachten, dass nach Ansicht der Finanzverwaltung im Zweifel der Nachweis der Vertretungsberechtigung geführt werden muss.37 Dies führt dazu, dass sich der Lieferant besser von seinem Vertragspartner, dem ersten Abnehmer, den Empfang des Gegenstandes bestätigen lassen sollte. Ein mit dem Warentransport beauftragter selbständiger Dritter kann für Zwecke der Gelangensbestätigung nicht zur Abnahme der Ware beauftragt sein.38 k) Gelangensbestätigung an Dritte Auch in die Entgegennahme der Gelangensbestätigung kann ein Dritter eingeschaltet werden, wenn dieser für den Lieferanten auftritt. Denn in diesem Fall wird die Gelangensbestätigung rechtlich an dem Lieferanten gesendet und für diesen aufbewahrt.39 l) Muster Für die Gelangensbestätigung gibt es in Anlage 1 bis 3 zum UStAE Muster in Deutsch, Französisch und Englisch. Die Gelangensbestätigung und die in Bezug genommenen Dokumente können daher auch in englischer oder französischer Sprache abgefasst werden. Nachweise in anderen Sprachfassungen bedürfen nach Ansicht der Finanzverwaltung einer amtlich beglaubigten Übersetzung.40 m) innergemeinschaftliches Verbringen Beim innergemeinschaftlichen Verbringen hat der ausländische Unternehmensteil dem inländischen die Gelangensbestätigung auszustellen.

37 Abschn. 6a.4 Abs. 2 Satz 4 UStAE. 38 Abschn. 6a.4 Abs. 2 Satz 6 UStAE. 39 Neeser, UVR 2013, 333. 40 Abschn. 6a.4 Abs. 5 Satz 7 UStAE.

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3. Probleme a) Problem 1: unsicheres Zeitfenster Für den Nachweis der Steuerbefreiung ist Voraussetzung, dass sich der Lieferant nach dem Transport vom Erwerber eine Empfangsbestätigung aushändigen lässt. Die bis Ende 2011 ausreichende Versicherung nach § 17a Abs. 2 Nr. 4 UStDV, die Ware in das EU-Ausland befördern zu wollen, die der Abnehmer dem deutschen Lieferanten bei Abholung sofort ausstellen konnte, ist nicht mehr ausreichend. Eine im Vorhinein ausstellbare Bescheinigung nach dem Vorbild der bisherigen Verbringensversicherung wird – unter Beschränkungen – lediglich für den Fall zugelassen, dass die Ware durch ein vom Abnehmer beauftragtes Transportunternehmen abgeholt wird. Dass der Lieferant das Gelangen des Gegenstandes in einen anderen Mitgliedstaat nachweisen muss, deckt sich aber nicht mit der Rechtsprechung des EuGH.41 Denn in diesem Fall entsteht ein Zeitfenster, in dem der liefernde Unternehmer den Gegenstand aus der Hand gegeben hat, aber nicht sicher sein kann, die für den Nachweis notwendigen Belege zu erhalten. Der EuGH schreibt in besagtem Urteil: 41  Insoweit hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass eine korrekte und einfache Anwendung der Befreiungen nicht gewährleistet ist, wenn der Steuerpflichtige in einer Situation, in der es offenbar keinen stichhaltigen Beweis gibt, der den Schluss zulässt, dass die betreffenden Gegenstände an Orte außerhalb des Liefermitgliedstaats verbracht wurden, verpflichtet wird, einen solchen Beweis zu erbringen. Vielmehr lässt diese Verpflichtung den Steuerpflichtigen im Ungewissen darüber, ob die innergemeinschaftliche Lieferung von der Steuer befreit werden kann oder ob er die Mehrwertsteuer in den Verkaufspreis mit einbeziehen muss. 42  Außerdem hängt, wenn der Erwerber im Liefermitgliedstaat die Befähigung hat, über den betreffenden Gegenstand wie ein Eigentümer zu verfügen, und er sich verpflichtet, den Gegenstand in den Bestimmungsmitgliedstaat zu befördern, der Nachweis, den der Verkäufer gegenüber den Steuerbehörden führen kann, wesentlich von den Angaben ab, die er zu diesem Zweck vom Erwerber erhält (vgl. in diesem Sinne Urteil Euro Tyre Holding, Rz. 37).

Die Gelangensbestätigung ist deshalb mit der MwStSystRL nicht vereinbar. Sie gewährt dem Lieferanten in Beförderungsfällen keine rechtssichere Möglichkeit, bei Beginn der Beförderungen und damit bei Ausführung der Lieferung (s. § 3 Abs. 6 Satz 1 UStG) zu prüfen, ob die Lieferung steuerfrei ist. Das Risiko, dass der Lieferant keine Gelangensbestätigung zurückerhält, und er damit die Steuerbefreiung nicht nachweisen kann, wird damit unverhältnismäßig auf den Unternehmer verlagert. b) Problem 2: fehlender Vertrauensschutz Vorstehendes gilt umso mehr, als der BFH nach wie vor davon ausgeht, dass der Vertrauensschutz voraussetzt, dass der Unternehmer den Belegnachweis formell führen kann. Dies aber würde für den Fall, dass die Gelangensbestätigung dem Lieferanten nicht erteilt wird, bedeuten, dass er sich auf den Vertrauensschutz nicht berufen

41 EuGH v. 6.9.2012 – C-273/11 – Mecsek-Gabona Kft, BFH/NV 2012, 1919.

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könnte. Hierzu wird vorgeschlagen,42 eine Escape-Klausel für den Fall vorzusehen, dass der Lieferer vergeblich versucht hat, die Gelangensbestätigung zu erhalten. Eine solche Klausel soll so ausgestaltet sein, dass für den Fall, dass ȤȤ der Unternehmer mehrfach vergeblich versucht hat, die Gelangensbestätigung oder die die Gelangensbestätigung ersetzenden Dokumente vom Abnehmer zu erhalten und ȤȤ er dem Abnehmer nachträglich eine Rechnung mit Umsatzsteuerausweis erteilt und ȤȤ die ausgewiesene Umsatzsteuer vom Abnehmer nicht bezahlt wird, die Steuerbefreiung gewährt werden kann, ȤȤ wenn sich aus den vorliegenden Transportbelegen das Gelangen des Liefergegenstands in den Bestimmungsmitgliedstaat glaubhaft ergibt, ȤȤ der Unternehmer die Bezahlung der Lieferung nachweist und ȤȤ das Doppel der Rechnung mit Umsatzsteuerausweis vorliegt. Dies erscheint mir zu eng.43 M.E. ist eine Änderung der Rechtsprechung erforderlich, wonach der Unternehmer den Vertrauensschutz nach § 6a Abs. 4 UStG genießt, wenn er 1. sich die USt-IdNr. des Erwerbers am Tag der Lieferung vom Bundeszentralamt für Steuern nach § 18e UStG qualifiziert hat bestätigen lassen, 2. eine ordnungsgemäße Netto-Rechnung nach §§ 14 und 14a UStG ausgestellt hat und dies durch ein Doppel nachweisen kann, 3. den Erwerber um Übersendung einer (bestenfalls von ihm vorbereiteten) Gelangensbestätigung gebeten hat und 4. keine Anhaltspunkte erkennbar waren, dass der Erwerber in einem Abholfall die Ware nicht ins übrige Gemeinschaftsgebiet befördert oder die Gelangensbestätigung nicht zurücksendet. Maßgeblicher Zeitpunkt der Beurteilung kann nur der Zeitpunkt der Lieferung sein. Erkenntnisse der Finanzverwaltung, etwa durch Ermittlungen der ausländischen Finanzverwaltungen, die dem Unternehmer erst nach der Lieferung bekannt werden, können für die Frage des Vertrauensschutzes bei dem getätigten Umsatz keine Rolle spielen.44 c) Praxisempfehlung zu Problem 1 und 2 Für die Praxis bleibt aber nur, dem Lieferant folgendes zu raten: Ist er unsicher, ob er die Gelangensbestätigung vom Erwerber erhält, sollte er sich – sofern möglich – eine 42 Huschens, UVR 2013, 44. 43 Im Ergebnis ebenso Weymüller, Umsatzsteuergesetz, 2015, § 6a Rz. 377. 44 Weymüller, Umsatzsteuergesetz, 2015, § 6a Rz. 377.

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Sicherheit in Höhe der deutschen Umsatzsteuer zahlen lassen, um die Umsatzsteuer entrichten zu können, wenn die Finanzverwaltung auf Grund des fehlenden Nachweises den Umsatz steuerpflichtig stellt. Die Sicherheit kann er nach Erhalt der Gelangensbestätigung dann wieder zurückzahlen. d) Problem 3: Nettobuchung vor Erhalt der Gelangensbestätigung zulässig? Da eine Gelangensbestätigung denklogisch erst zum Zeitpunkt der Ankunft der Ware am Bestimmungsort (und nicht schon bei Beginn des Transportes) ausgestellt werden kann, stellt sich die Frage, ob der Lieferant die Lieferung schon als steuerfrei behandeln darf, bevor er die Gelangensbestätigung zurückerhalten hat. Hierfür sprechen insbesondere folgende Gründe:45 1. Die Buch- und Belegnachweise sind (wie o.a.) bei richtiger Auslegung46 nach wie vor keine Voraussetzung für die Steuerfreiheit der innergemeinschaftlichen Lieferung. Wenn dem so ist, kann es auch nicht vom Zeitpunkt des Erhalts eines Beleges abhängig sein, ab wann der Steuerpflichtige den Umsatz als steuerfrei behandeln darf. Dies gilt m.E. bei steuerfreien innergemeinschaftlichen Lieferungen ab dem Zeitpunkt des Beginns der Beförderung oder Versendung. Denn zu diesem Zeitpunkt gilt die Lieferung gemäß § 3 Abs. 6 Sätze 1–4 UStG als ausgeführt. 2. Die Gelangensbestätigung bildet in Beförderungsfällen  – anders als in Versendungsfällen  – die einzige Nachweismöglichkeit für den Lieferanten. Müsste der Lieferant in Beförderungsfällen den Umsatz als steuerpflichtig behandeln, sofern die Gelangensbestätigung nicht bis zum Ablauf der Voranmeldungsfrist bei ihm eingetroffen ist, würde dies seine Rechtsposition im Vergleich zu den Versendungsfällen unzulässig verschlechtern. Denn dort gibt es mit der Spediteurversicherung die (wenn auch nur theoretische) Möglichkeit, vor der Versendung ein Dokument zu erhalten, mit dem der Grenzübertritt nachgewiesen werden kann. 3. Außerdem hat der Lieferant bis zum Schluss der letzten mündlichen Verhandlung vor dem Finanzgericht Zeit, den Nachweis zu erbringen und damit die Lieferung auch formal als steuerfrei zu beweisen.47 Dazu passt, dass die Gelangensbestätigung als Sammelbestätigung bis zu einem Quartal ausgestellt werden kann. Dann aber kann die Nettobuchung nicht vom Erhalt einer Gelangensbestätigung abhängig sein, die vor Ablauf des 3. Monats beim Lieferant einzutreffen hat. e) Problem 4: Nettobuchung bei An- und Vorauszahlungen Kurz hingewiesen sei auf die Frage, ob die Buchung steuerfrei erfolgen kann, wenn in einem Voranmeldungszeitraum lediglich eine Anzahlung oder Vorauszahlung erfolgt, ohne dass die Beförderung oder Versendung beginnt.48 Die Finanzverwaltung 45 Im Ergebnis ebenso: Weymüller, Umsatzsteuergesetz, 2015, § 6a Rz. 202. 46 Trotz des gegenteiligen Titels: Wäger, UR 2015, 702. 47 Ebenso: Huschens, UVR 2013, 44. 48 Ausführlich Neeser, UVR 2013, 333.

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Gelangensbestätigung und USt-IdNr.

akzeptiert zu Recht für den Regelfall in Abschn. 13.5 Abs. 4 UStAE eine direkte Netto-Buchung.

IV. Nachweis des „b2b“-Umsatzes 1. Historie Spätestens seit der EuGH-Entscheidung VSTR vom 27.9.201249 schien anerkannt, dass die Existenz einer USt-IdNr. des Erwerbers kein materielles Tatbestandsmerkmal des § 6a Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 UStG für die Steuerfreiheit der innergemeinschaftlichen Lieferung ist. Daraus wurde vielfach gefolgert, dass für die Steuerfreiheit gar keine USt-IdNr.  des Erwerbers erforderlich sei. Zumal der EuGH in der Entscheidung VSTR ausgeführt:50 „Auch wenn die USt-IdNr. folglich dem Nachweis des steuerlichen Status des Steuerpflichtigen dient und die Kontrolle innergemeinschaftlicher Umsätze erleichtert, handelt es sich doch nur um ein formelles Erfordernis, das den Anspruch auf Mehrwertsteuerbefreiung nicht in Frage stellen kann, sofern die materiellen Voraussetzungen einer innergemeinschaftlichen Lieferung erfüllt sind.“

Was aber vielfach übersehen wurde ist, dass der EuGH in besagter Entscheidung auch ausgeführt hat:51 „… dass (die MwStSystRL) dahin auszulegen ist, dass (sie) es der Finanzverwaltung eines Mitgliedstaats nicht verwehrt, die Steuerbefreiung einer innergemeinschaftlichen Lieferung davon abhängig zu machen, dass der Lieferer die USt-IdNr. des Erwerbers mitteilt.“

Dies sollte allerdings unter dem Vorbehalt gelten, dass die Steuerbefreiung nicht allein deshalb verweigert wird, weil diese Verpflichtung nicht erfüllt worden ist, sofern der Lieferant gutgläubig war, oder in den Worten des EuGH „zu sprechen“: vergeblich alle ihm zumutbaren Maßnahmen ergriffen hat, um die IdNr. des Erwerbers zu erfahren. Das hat der XI. Senat des BFH in einer (abzulehnenden) Entscheidung vom 21. Januar 2015 zum Anlass genommen die USt-IdNr. praktisch (doch wieder) zu einem materiellen Tatbestandsmerkmal für die Steuerbefreiung machen zu wollen. Der BFH führt nämlich aus52: „Der Gewährung der Steuerbefreiung könnte nach der Rechtsprechung des EuGH – trotz Vorliegens der Voraussetzungen des §  6a Abs.  1 UStG  – entgegenstehen, dass die Klägerin die USt-IdNr. des F-Fonds nicht aufgezeichnet hat.“

In diesem Sinne hat sich u.a. auch die EU-Kommission im Verfahren Josef Plöckl geäußert.53 Nach Ihrer Ansicht hat es der Gerichtshof den Finanzbehörden gestattet, die 49 EuGH v. 27.9.2012 – C-587/10 – VSTR, UR 2012, 832. 50 EuGH v. 27.9.2012 – C-587/10 – VSTR, UR 2012, 832 – Rz. 51. 51 EuGH v. 27.9.2012 – C-587/10 – VSTR, UR 2012, 832 – Rz. 58. 52 BFH v. 21.1.2015 – XI R 5/13, BStBl. II 2015, 724 – Rz. 37. 53 Schlussanträge des Generalanwalts v. 6.4.2016 – C-24/15 – Rz. 105.

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Steuerfreiheit der innergemeinschaftlichen Lieferung zu versagen, auch wenn alle materiellen Anforderungen erfüllt sind, sofern der Lieferant nicht alle ihm zumutbaren Maßnahmen ergriffen hat, um ein Formerfordernis (hier die Mitteilung der USt-IdNr. des Erwerbes) zu erfüllen. 2. EuGH v. 20.10.2016, C-24/15, Josef Plöckl a) Sachverhalt Die Entscheidung betraf den Fall eines innergemeinschaftlichen Verbringens. Im Jahr 2006 erwarb Herr Plöckl einen PKW für sein Einzelunternehmen, den er diesem zuordnete bevor er ihn am 20.10.2006 an einen spanischen Kfz-Händler versandte, um ihn in Spanien zu verkaufen. Am 11.07.2007 wurde das Fahrzeug an ein spanisches Unternehmen verkauft. Herr Plöckl selbst hatte keine spanische USt-IdNr. b) Entscheidung des EuGH Der EuGH54 unterscheidet zunächst die formellen und materiellen Voraussetzungen der Steuerbefreiung: Eine innergemeinschaftliche Lieferung ist danach dann (materiell) steuerfrei ist, wenn ȤȤ der Unternehmer oder der Abnehmer den Gegenstand vom Inland in das übrige Gemeinschaftsgebiet befördert oder versendet und ȤȤ der Abnehmer ein Unternehmer ist, der den Gegenstand für sein Unternehmen erwirbt. Aufzeichnung und Mitteilung der USt-IdNr. stellen demgegenüber lediglich eine formelle Voraussetzung dar. Das deckt sich mit den Ausführungen des EuGH in der Rechtssache VSTR.55 Lägen die materiellen Voraussetzungen vor, sei die Steuerbefreiung zu gewähren, selbst wenn die formellen Voraussetzungen nicht erfüllt sind. Durch Aufzeichnung (und Mitteilung) der USt-IdNr. könne zwar der Nachweis erbracht werden, dass die Lieferung an einen anderen Unternehmer für dessen Unternehmen ausgeführt worden ist. Der Lieferant sei aber nicht auf diesen Nachweis beschränkt. Die MwStSystRL macht nämlich die Unternehmereigenschaft nicht davon abhängig, dass die betreffende Person eine USt-IdNr. besitzt. Und auch die große Bedeutung der USt-IdNr. als Kontrollmerkmal bei innergemeinschaftlichen Lieferungen könne nicht zur Versagung der Steuerbefreiung führen. Die Verwaltung sei ganz allgemein nicht berechtigt, die Steuerbefreiung abzuerkennen, wenn sie über alle Angaben verfügt, um die Unternehmereigenschaft des Erwerbers zu überprüfen.

54 EuGH v. 20.10.2016 – C‑24/15 – Plöckl, UR 2016, 882. 55 EuGH v. 27.9.2012 – C-587/10 – VSTR, UR 2012, 832 – Rz. 51.

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Gelangensbestätigung und USt-IdNr.

Es gibt nach den Ausführungen des EuGH nur zwei Fälle, in denen die Nichteinhaltung einer formellen Anforderung den Verlust des Rechts auf Mehrwertsteuerbefreiung nach sich ziehen kann: ȤȤ Der Steuerpflichtiger hat sich vorsätzlich an einer Steuerhinterziehung beteiligt oder ȤȤ der Verstoß gegen eine formelle Anforderung verhindert den sicheren Nachweis, dass die materiellen Anforderungen erfüllt sind. Daraus folgte für den konkreten Fall, dass Herrn Plöckl die Steuerbefreiung gewährt werden musste, da er sich nicht vorsätzlich an einer Steuerhinterziehung beteiligt hat und die Finanzverwaltung auch die Person des Erwerbers (ihn selbst) kannte. Von ganz besonderer Bedeutung ist m.E. die Aussage, dass sich aus dem EuGH-Urteil VSTR nichts anderes ergebe. Die in dieser Entscheidung gewählte Formulierung („redlicherweise, und nachdem er alle ihm zumutbaren Maßnahmen ergriffen hat, die USt-IdNr.  des Erwerbers nicht mitteilen kann“) betreffe nur die Frage, ob der Steuerpflichtige an einer Steuerhinterziehung beteiligt war. Damit ist der Entscheidung des XI. Senats des BFH vom 21.1.201556 der Boden entzogen. 3. Konsequenzen aus der EuGH-Entscheidung Pöckl M.E. muss der Lieferant nur folgende zwei Voraussetzungen nachweisen, um die Steuerfreiheit zu erhalten: 1. Die Ware muss vom Unternehmer oder vom Abnehmer in das übrige Gemeinschaftsgebiet befördert oder versendet worden sein (§ 6a Abs. 1 Nr. 1 UStG). 2. Der Abnehmer muss ein Unternehmer sein, der den Gegenstand der Lieferung für sein Unternehmen bezogen hat (§ 6a Abs. 1 Nr. 2 Buchst. a) UStG). Beide Voraussetzungen müssen vom Unternehmer nachgewiesen werden. Das entspricht § 6a Abs. 3 UStG. Daneben bedarf es keiner Voraussetzung mehr. Insbesondere ist §  6a Abs.  1 Nr.  3 UStG, wonach der Erwerb des Gegenstandes der Lieferung beim Abnehmer in einem anderen Mitgliedsstaat dem innergemeinschaftlichen Erwerb unterliegen muss, inhaltsleer, und damit nicht als zusätzliche Voraussetzung anzusehen. Denn sofern die beiden oben genannten Voraussetzungen vorliegen, hat der Erwerber den innergemeinschaftlichen Erwerb ohnehin im Bestimmungsmitgliedstaat zu besteuern (es sei denn, es liegt der Fall eines innergemeinschaftlichen Dreiecksgeschäfts nach §  25b UStG vor). Auch der Umstand, dass eine vom Abnehmer verwendete USt-IdNr. nicht im MIAS registriert ist, kann nicht zur Versagung der Steuerbefreiung führen. Auch für diese 56 BFH v. 21.1.2015 – XI R 5/13, BStBl. II 2015, 724 – Rz. 37.

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(eher selbstverständliche) Erkenntnis, bedurfte es unlängst einer Entscheidung des EuGH.57 Von alledem gibt es nur eine Ausnahme: Die durch die Finanzverwaltung nachgewiesene Beteiligung an einer Steuerhinterziehung. 4. Lösbare Fälle Folgende (bislang fraglichen) Fälle können damit jetzt einer Lösung zugeführt werden: Lieferung an Drittlandsunternehmer (Rechtssache VSTR)58 Zentrale Frage des BFH in der Rechtssache VSTR war, ob es die MwStSystRL erlaubt, eine steuerfreie innergemeinschaftliche Lieferung nur dann anzunehmen, wenn der Steuerpflichtige die USt-IdNr. des Erwerbers buchmäßig nachweist:59 Eine deutsche Unternehmerin hatte im November 1998 zwei Maschinen (nebst Zubehör) an ein US-amerikanisches Unternehmen mit Sitz in den USA veräußert. Dieses amerikanische Unternehmen hatte zwar eine Niederlassung in Portugal, war aber in keinem Mitgliedstaat der Union für umsatzsteuerrechtliche Zwecke registriert. Nachdem die deutsche GmbH ihren amerikanischen Abnehmer nach deren USt-IdNr. gefragt hatte, antwortete der amerikanische Abnehmer, sie habe die Maschinen an ein Unternehmen in Finnland weiterveräußert und teilte der GmbH die USt-IdNr. dieses finnischen Unternehmens mit. Die deutsche GmbH prüfte die USt-IdNr.  auf ihre Richtigkeit nach § 18e Nr. 1 UStG, meinte hierbei aber wohl irrig, die USt-IdNr. des finnischen Unternehmers als nachfolgendem Abnehmer sei ausreichend, wohingegen nur die USt-IdNr. des unmittelbaren Vertragspartners maßgeblich ist. Die Maschinen wurden sodann am 14. Dezember 1998 von einer Spedition, die der amerikanische Abnehmer beauftragt hatte, beim deutschen (Erst-)Lieferant abgeholt und letztlich am 17. Dezember 1998 nach Finnland verschifft. Ob A in Finnland einen innergemeinschaftlichen Erwerb erklärt hat, ist nicht festgestellt. Über die Lieferung der Maschinen erteilte die deutsche Unternehmerin dem amerikanischen Abnehmer unter Angabe der USt-IdNr.  des finnischen Endkunden am 14.  Dezember 1998 eine Rechnung ohne Umsatzsteuer. Sie behandelte diese Lieferung in ihrer Umsatzsteuer-Jahreserklärung für 1998 als steuerfrei. Dagegen sah das zuständige Finanzamt die Lieferung als steuerpflichtig an, weil der amerikanische Abnehmer als Erwerber keine USt-IdNr. des Bestimmungsmitgliedstaats oder eines anderen Mitgliedstaats verwendet hat. Dieser Fall dürfte jetzt geklärt sein. Da die USt-IdNr. des Erwerbers nur eine formelle, nicht aber eine materielle Voraussetzung für die Steuerbefreiung darstellt, kann es für die Steuerbefreiung nicht darauf ankommen, ob der Erwerber eine USt-IdNr. besitzt. 57 EuGH v. 9.2.2017 – C-21/16 – Euro Tyre BV, UR 2017, 271 = DStR 2017, 490. 58 EuGH v. 27.9.2012 – C-587/10 – VSTR, UR 2012, 832. 59 BFH v. 10.11.2010 – XI R 11/09, UR 2013, 756 = BStBl. II 2011, 237.

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Gelangensbestätigung und USt-IdNr.

Sofern der deutsche Lieferant nachweisen kann, dass es sich bei ihrem Abnehmer (dem Amerikaner) um ein Unternehmen handelt, das die Maschinen für ihr Unternehmen angeschafft hat und zudem den Grenzübertritt der Ware in einen anderen Mitgliedstaat nachweisen kann, muss die Lieferung als steuerfrei behandelt werden. Einzig ein Betrugsfall, der hier aber nicht vorlag, könnte dies verhindern. Lieferung in Rahmen eines innergemeinschaftlichen Verbringens (Rechtssache Plöckl)60 Das vorstehend zu VSTR61 ausgeführte gilt erst Recht für den Fall des innergemeinschaftlichen Verbringens, wie der EuGH in der Rechtssache Plöckl62 entscheiden hat. Lieferung an EU-Unternehmen ohne USt-IdNr. Damit aber nicht genug: Da die USt-IdNr. keine Voraussetzung für die Steuerfreiheit einer innergemeinschaftlichen Lieferung ist, ist jede Lieferung an einen Unternehmer für dessen Unternehmen steuerfrei, wenn die Ware bei der Lieferung vom Ursprungsland ins übrige Gemeinschaftsgebiet gelangt. Das bedeutet, dass auch solche Lieferungen steuerfrei sein können, bei denen a) dem Erwerber noch keine USt-IdNr. erteilt worden ist oder b) es sich beim Erwerber (ebenfalls) um einen deutschen Unternehmer (ggf. mit deutscher USt-IdNr.) handelt. Der letzte Fall ist hierbei der spektakulärste, weil sich in der Praxis wohl kein deutscher Unternehmer traut, einem deutschen Abnehmer mit lediglich deutscher USt-IdNr. eine Nettorechnung auszustellen. Auch die deutsche Finanzverwaltung verkennt dies nach wie vor. Sie beschreibt in Abschn. 3.14 Abs. 13 Buchst. a UStAE folgenden Fall: D2 (versendet)

D1

B2

Warenweg

B1

Der Unternehmer B1 in Belgien bestellt bei dem ebenfalls in Belgien ansässigen Großhändler B2 eine dort nicht vorrätige Ware. B2 gibt die Bestellung an den Großhändler D1 in Frankfurt weiter. D1 bestellt die Ware beim Hersteller D2 in Köln. Alle Beteiligten treten unter der USt-IdNr. ihres Landes auf. D2 befördert die Ware von Köln mit eigenem Lkw unmittelbar nach Belgien und übergibt sie dort B1.

Die Lösung soll nach Abschn. 3.14 Abs. 13 Buchst. a UStAE wie folgt sein: Es werden nacheinander drei Lieferungen (D2 an D1, D1 an B2 und B2 an B1) ausgeführt. Die erste Lieferung D2 an D1 ist die Beförderungslieferung. Der Ort der Liefe60 EuGH v. 20.10.2016 – C‑24/15 – Plöckl, UR 2016, 882. 61 EuGH v. 27.9.2012 – C-587/10 – VSTR, UR 2012, 832. 62 EuGH v. 20.10.2016 – C‑24/15 – Plöckl, UR 2016, 882.

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rung liegt nach § 3 Abs. 6 Satz 5 in Verbindung mit Satz 1 UStG in Deutschland (Beginn der Beförderung). Die Lieferung ist im Inland steuerbar und steuerpflichtig, da D1 ebenfalls mit deutscher USt-IdNr. auftritt. Der Erwerb der Ware unterliegt bei D1 der Besteuerung des innergemeinschaftlichen Erwerbs in Belgien, weil die Warenbewegung dort endet (§ 3d Satz 1 UStG). Solange D1 eine Besteuerung des innergemeinschaftlichen Erwerbs in Belgien nicht nachweisen kann, hat er einen innergemeinschaftlichen Erwerb in Deutschland zu besteuern (§ 3d Satz 2 UStG). Die zweite Lieferung D1 an B2 und die dritte Lieferung B2 an B1 sind ruhende Lieferungen. Für diese Lieferungen liegt der Lieferort nach § 3 Abs. 7 Satz 2 Nr. 2 UStG jeweils in Belgien (Ende der Beförderung), da sie der Beförderungslieferung folgen. Beide Lieferungen sind nach belgischem Recht zu beurteilen. D1 muss sich in Belgien umsatzsteuerlich registrieren lassen. Schon die erste maßgebende Aussage der Lösung ist falsch. Da die Steuerfreiheit nicht von der USt-IdNr. des D2 abhängt, ist die Lieferung des D1 an D2 steuerfrei. Aber auch die zweite entscheidende Aussage ist unzutreffend. Denn wenn D2 mangels fehlender ausländischer USt-IdNr. mit derjenigen des Ursprungslandes auftritt, kann dies nicht die „Strafsteuer“ des § 3d Satz 2 UStG auslösen. Das österreichische Bundesfinanzgericht hat in einer Entscheidung v. 2.6.201663 völlig zu Recht festgestellt, dass „… ein fiktiver Erwerb nach (§ 3d Satz 2 UStG) im Ursprungsland nicht denkmöglich“ ist.

V. Zukunft der USt-IdNr. als materielle Voraussetzung für die Steuerbefreiung 1. Vorschläge der EU-Kommission Die Europäische Kommission hat am 4.10.2017 Pläne für eine weitreichende Reform des Mehrwertsteuersystems in der EU ab 1.1.2022 vorgestellt.64 Das bisher geltende System bei grenzüberschreitende B2B-Lieferungen, das an das Ursprungslandprinzip  anknüpft, dann aber Lieferungen steuerfrei stellt und einen zweiten steuerbaren  Umsatz im Bestimmungsland, den innergemeinschaftlichen Erwerb, anordnet, soll ersetzt werden durch ein reines Bestimmungslandprinzip: Die Lieferungen (sog. „Lieferungen innerhalb der Union“) sollen vom Lieferant im Bestimmungsland ­angemeldet werden müssen. Dafür soll ein One-Stop-Shop-Verfahren eingeführt werden, bei dem der grenzüberschreitend liefernde Unternehmer die Umsatzsteuer des Bestimmungslandes in seinem Ansässigkeitsstaat anmelden und dieser Staat das ­generierte Steueraufkommen an den Bestimmungsstaat weiterleitet. Innerhalb der EU angefallene Vorsteuern sollen gegen die anfallende Mehrwertsteuer aufgerechnet werden können.65 Die Kommission schlägt hierbei auch vor, bei Lieferungen zwischen Unternehmern, die als sog. zertifizierte Steuerpflichtige eingestuft werden, das (eher aufwändige System) über ein One-Stop-Shop-Verfahren durch Anwendung des 63 Österreichisches Bundesfinanzgericht v. 2.6.2016 – RV/2101353/2014. 64 Europäische Kommission v. 4.10.2017: Kommunikationspapier COM(2017) 566 final und Pressemitteilung P/17/3443. 65 Ausführlich hierzu: Becker, MwStR 2017, 902.

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Reverse-Charge-Verfahrens zu ersetzen, bei dem der Leistungsempfänger die Steuer in seinem Heimatstaat (Bestimmungsland) anmeldet und abführt. Daneben nimmt die Kommission ihre Reformvorschläge zum Anlass, weitere Schwächen des bestehenden Systems zu verbessern und legt Vorschläge von Regelungen für  Konsignationslager, für Reihengeschäfte sowie zu Voraussetzungen und Nach­ weisen bei innergemeinschaftlichen Lieferungen vor (sog. Quick-Fixes). Eine dieser Quick-Fixes ist eine Änderung des Art 138 Abs. 1 MwStSystRL. Dieser soll bereits zum 1. Januar 2019 folgenden Wortlaut erhalten: Die Mitgliedstaaten befreien die Lieferung von Gegenständen, die durch den Verkäufer, den Erwerber oder für deren Rechnung an einen Ort außerhalb ihres jeweiligen Gebiets, aber innerhalb der Gemeinschaft versandt oder befördert werden, von der Steuer, wenn die folgenden Bedingungen erfüllt sind: (a) die Gegenstände werden an einen anderen Steuerpflichtigen oder an eine nichtsteuerpflichtige juristische Person geliefert, die als solche in einem anderen Mitgliedstaat als dem Mitgliedstaat handeln, in dem die Versendung oder Beförderung beginnt; (b) der Steuerpflichtige oder die nichtsteuerpflichtige juristische Person, für den/die die Lieferung erfolgt, ist für Mehrwertsteuerzwecke in einem anderen Mitgliedstaat als dem Mitgliedstaat registriert, in dem die Versendung oder Beförderung der Gegenstände beginnt; (c) in der gemäß Artikel 262 vom Lieferer vorgelegten zusammenfassenden Meldung wird der Erwerber der Gegenstände aufgeführt.

Damit soll eine Steuerbefreiung zum einen nur noch dann möglich sein, wenn der Erwerber in einem anderen Mitgliedstaat als dem Mitgliedstaat, in dem der Warentransport beginnt, für Mehrwertsteuerzwecke registriert ist. Zum anderen muss der Erwerber in der Zusammenfassenden Meldung des Lieferers ausdrücklich aufgeführt werden. Damit macht die Kommission das Innehaben einer über das MIAS abgefragten und als gültig befundenen USt-IdNr. des Erwerbers zu einer materiell-rechtlichen Voraussetzung der Inanspruchnahme der Steuerbefreiung.66 Die Kommission kommt hiermit entsprechenden Forderung aus den Mitgliedstaaten nach. Außerdem erweitert sie die Bedeutung der Zusammenfassenden Meldung. Auch diese wurde bisher lediglich als eine verfahrensrechtliche und damit ebenfalls formale Verpflichtung des Lieferers, innergemeinschaftliche Lieferungen unter Angabe der USt-IdNr. des Abnehmers zu erklären, angesehen. Ordnungsgemäßes Handeln würde auch hier künftig zu einer materiell-rechtlichen Voraussetzung der Inanspruchnahme einer Steuerbefreiung.67 2. Kritik Die Vorschläge der EU-Kommission sind in der jetzigen Fassung vorschnell und abzulehnen.68 Sie berücksichtigen gerade nicht die derzeit bestehenden und durch die 66 Kraeusel, UVR 2017, 366. 67 Becker, MwStR 2017, 902. 68 Vgl. auch Stellungnahme der BStBK v. 28.11.2017, www.bstbk.de.

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EuGH-Entscheidung Plöckl gelösten Probleme. Schlimmer noch: Sie lassen Probleme wieder aufleben und schaffen neue: a) Lieferung an (Drittlands-) Unternehmen ohne ausländische USt-IdNr. Im Rahmen von Reihengeschäften kommt es – wie bei VSTR69 – immer wieder vor, dass eine Ware innerhalb der EU geliefert wird, die erste Lieferung als bewegt eingestuft wird, und der mittlere Unternehmer ein Drittländer ist. Nach der vorgeschlagenen Änderung wären solche Lieferungen nicht steuerfrei möglich.70 Das hätte in der Übergangszeit bis 2022 aber keinen Einfluss auf den innergemeinschaftlichen Erwerb, den der Drittländer trotzdem im Bestimmungsland besteuern müsste. aa) Vorsteuerabzug Zudem würde sich die Frage stellen, ob dieser (der Drittländer) aus dem Brutto-Umsatz einen Vorsteuerabzug geltend machen könnte. Das ist derzeit nach Art.  4 der MwSt.-Erstattungsrichtlinie71 ausgeschlossen. Diese Richtlinie sieht in Buchst. b) vor, dass eine Vergütung nicht erfolgt für in Rechnung gestellte Mehrwertsteuerbeträge für Lieferungen von Gegenständen, die gemäß Artikel 138 MwStSystRL von der Steuer befreit sind oder befreit werden können. Wenn aber die USt-IdNr. des Abnehmers zur materiellen Voraussetzung für die Steuerbefreiung wird, er eine solche aber nicht hat, kann die Lieferung nicht befreit werden. Sie wäre verpflichtend steuerpflichtig mit dem Ergebnis, dass der Drittstaatler Anspruch auf Vorsteuer hätte. Dadurch entstünde praktisch ein Wahlrecht: Wer sich als Drittstaatler keine USt-IdNr.  zuteilen lässt, bekommt eine vorsteuerabzugsberechtigte Bruttorechnung. Das ist aber bestimmt nicht gewollt. bb) Verstoß gegen Grundsatz der Neutralität Andererseits verstieße die Doppelbesteuerung nur wegen der fehlenden Registrierung gegen den dem gemeinsamen Mehrwertsteuersystem immanenten Grundsatzes der steuerlichen Neutralität. Der Grundsatz der steuerlichen Neutralität verbietet insbesondere, gleichartige und deshalb miteinander in Wettbewerb stehende Leistungen hinsichtlich der Mehrwertsteuer unterschiedlich zu behandeln.72 Ein solches Wettbewerbsverhältnis besteht zwar anerkanntermaßen nicht zwischen steuerehrlichen und steuerunehrlichen Unternehmen, die durch systematische Verschleierungsmaßnahmen Steuern hinterziehen.73 Ein Unternehmer, der lediglich eine steuerliche Regis­ trierung versäumt hat, ist aber nicht nur deshalb ein steuerunehrlicher Unternehmer. 69 EuGH v. 27.9.2012 – C-587/10 – VSTR, UR 2012, 832. 70 Gleiches Problem bestünde bei EU-Unternehmen mit einer lediglich aus dem Ursprungsland stammenden USt-IdNr. 71 RL 2008/9/EG. 72 EuGH v. 27.9.2007 – C-409/04 – Teleos u.a., BStBl. II 2009, 70 = UR 2007, 774 Rz. 59. 73 BGH v. 7.7.2009 – 1 StR 41/09, DStR 2009, 1688; EuGH v. 7.12.2010 – C-285/09, BStBl. II 2011, 846.

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cc) Verstoß gegen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit Dies gebietet auch der gemeinschaftsrechtliche Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit besagt, dass sich die Mitgliedstaaten solcher Mittel bedienen müssen, die es zwar erlauben, das vom innerstaatlichen Recht verfolgte Ziel wirksam zu erreichen, die jedoch andererseits die Ziele und Grundsätze des einschlägigen Gemeinschaftsrechts möglichst wenig beeinträchtigen.74 Auf diesen Grundsatz kann sich der gutgläubige Unternehmer berufen, der alle Maßnahmen getroffen hat, die vernünftigerweise von ihm verlangt werden können, um sicherzustellen, dass seine Umsätze nicht zu einer Lieferkette gehören, die einen mit einem Mehrwertsteuerbetrug behafteten Umsatz einschließt75, und der von dem begangenen Betrug weder Kenntnis hatte, noch haben konnte.76 Vorliegend handelt es sich aber nicht um Betrugsfälle, sondern allenfalls um Verstöße gegen Registrierungspflichten. Als Sanktion gegen Verstöße gegen diese Pflichten mit einer Doppelbesteuerung zu „kontern“ ist unverhältnismäßig. Das alles müsste geklärt werden, bevor die Regelung umgesetzt wird. b) Innergemeinschaftliches Verbringen Das zuvor Ausgeführte gilt erst Recht für Verbringensfälle, bei denen der Unternehmer das Verbringen – wie im Fall Plöckl77 – fälschlich als steuerfreie Lieferung an den Abnehmer eingestuft hat. Dies mit einer Doppelbesteuerung zu ahnden, wäre offensichtlich unverhältnismäßig. Im Übrigen betrifft dies auch Konsignationslagerfälle von nicht zertifizierten Steuerpflichtigen.78 c) Fehlende bzw. verspätete Zusammenfassende Meldung Voraussetzung für die Steuerbefreiung soll zukünftig die Erfassung in der Zusammenfassenden Meldung sein. Nach Auffassung der Kommission soll die Steuerbefreiung für innergemeinschaftliche Lieferungen anscheinend bereits dann nicht greifen, wenn der Lieferer diese nicht oder verspätet in seiner Zusammenfassenden Meldung erfasst. Die Kommission führt hierzu aus: Die Erklärung, die vom Lieferer zu erfassen ist, muss spätestens am Zehnten des auf die Lieferung folgenden Monats vorliegen.

74 EuGH v. 27.9.2007 – C-409/04 – Teleos u.a., BStBl. II 2009, 70 = UR 2007, 774 Rz. 52. 75 EuGH v. 11.5.2006 – C-384/04 – Federation of Technological Industries u.a., UR 2006, 410 m. Anm. Hahne = DStR 2006, 897 – Rz. 33. 76 EuGH v. 27.9.2007 – C-409/04 – Teleos u.a., BStBl. II 2009, 70 = UR 2007, 774 Rz. 50. 77 EuGH v. 20.10.2016 – C-24/15 – Plöckl, UR 2016, 882. 78 Vgl. zur Konzeption der Kommission zur Vereinfachung der Konsignationslagerfälle Kraeusel, UVR 2017, 366 und Becker, MwStR 2017, 902.

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Der Vorschlag berücksichtigt hierbei nicht ausreichend, dass es sich bei der Umsatzsteuer um ein Massengeschäft handelt, bei dem Fehler unterlaufen können. Insoweit ist eine Heilungsmöglichkeit für die liefernden Unternehmer zwingend zu verankern, wenn er die Zusammenfassende Meldung nachholt.79 Im Übrigen würde die Regelung bedeuten, dass die Lieferung nachträglich steuerpflichtig würde, wenn die Meldung nicht erfolgt. Die Steuerfreiheit hinge damit von Umständen ab, die nach dem Beginn der Bewegung und damit nach der Lieferung eintreten. Das aber widerspricht – wie oben ausgeführt – der EuGH-Rechtsprechung.80

VI. Fazit Die Untersuchung hat folgendes ergeben: 1. Die Gelangensbestätigung ist in der jetzigen Ausgestaltung EU-rechts-widrig. Sie wälzt das Risiko, den Grenzübertritt nachzuweisen, unverhältnismäßig auf den Lieferanten ab: Dieser hat in Beförderungsfällen keine Möglichkeit, den Umsatz bei Ausführung der Lieferung rechtssicher als steuerfrei oder steuerpflichtig einzustufen. 2. Zudem müssen die Voraussetzungen für den Vertrauensschutz nach § 6a Abs. 4 UStG für den Fall der Gelangensbestätigung geändert werden. Hier kann nicht weiter auf formell ordnungsgemäße Belegnachweise abgestellt werden. Dies würde für den Fall der vom Erwerber nicht übermittelten Gelangensbestätigung zu einer zwingenden Versagung des Vertrauensschutzes führen, ohne dass der Lieferant dies verhindern könnte. 3. Weiter ist seit der Entscheidung Plöckl81 klar, dass eine ausländische USt-IdNr. des Abnehmers keine materielle Voraussetzung für die Steuerfreiheit der innergemeinschaftlichen Lieferung darstellt. Allerdings erscheint im Hinblick auf die aktuellen Vorschläge der EU-Kommission ungewiss, wie lange diese Erkenntnis bestehen bleibt. 4. Die Vorschläge der EU-Kommission zur Einführung der USt-IdNr. als materielle Voraussetzung für die Steuerbefreiung sind unausgereift und dürfen so nicht umgesetzt werden. Die Hoffnung, dass in den kommenden Beratungen im EU-Rat nichts so heiß gegessen wird, wie es gekocht wurde82, war in der Vergangenheit jedoch auch schon trügerisch.83

79 So auch Stellungnahme der BStBK v. 28.11.2017, www.bstbk.de. 80 EuGH v. 6.9.2012 – C-273/11 – Mecsek-Gabona Kft, BFH/NV 2012, 1919. 81 EuGH v. 20.10.2016 – C‑24/15 – Plöckl, UR 2016, 882. 82 Kraeusel, UVR 2017, 366. 83 Wie bei dem durch die Richtlinie 2013/42/EG v. 22.7.2013 (ABl. Nr. L 201, S. 1) geschaffenen und in § 13b Abs. 10 UStG eingeführten sog. Schnellreaktionsmechanismus.

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Ohne Belege geht es nicht! Formerfordernisse und Nachweispflichten bei innergemeinschaftlichen Lieferungen Inhaltsübersicht

I. Einleitung

II. Priorität haben die materiellen Tat­ bestandsvoraussetzungen III. Vertrauensschutz genießt nur der­ jenige, der die formellen Nachweispflichten erfüllt IV. Bedeutung der USt-Idnr. des Abnehmers für die Steuerbefreiung der ­innergemeinschaftlichen Lieferung



V. Neue Vorschläge der Mitgliedstaaten präferieren Angabe und Meldung der USt-IdNr. des Erwerbers …

VI. … und Gelangensnachweis als Mittel zur Eindämmung des Umsatzsteuer­ betrugs VII. Formerfordernisse und Belegnach­ weise sind und bleiben unerlässlich

I. Einleitung Der Umsatzsteuer haftete in ihrer 100jährigen Geschichte lange das Etikett einer „Buchhaltersteuer“ an. Selbst nach Einführung des Mehrwertsteuersystems 1967 musste sich in der Mehrzahl der Fälle kein Steuerpflichtiger Gedanken darüber machen, ob ein Umsatz nun steuerbar und steuerpflichtig war, beim Empfänger der Leistung private oder unternehmerische Verwendung vorlag oder eine ausgewiesene Vorsteuer zu Recht abzugsfähig war. Bei Umsätzen mit ausländischen Geschäftspartnern reichte es, eine Ausfuhrlieferung durch einen zollamtlichen Beleg nachzuweisen oder bei Dienstleistungen auf deren Nichtsteuerbarkeit abzustellen, um keine mit Umsatzsteuer behaftete Tätigkeit in der Buchhaltung abbilden zu müssen. Heute, 25 Jahre nach Existenz einer unvollkommenen Übergangsregelung für den gemeinsamen Binnenmarkt der EU, steht unumstößlich fest, dass sich die Umsatzsteuer von einer reinen Buchhaltersteuer zu einem komplizierten Gebilde aus nationalem Umsatzsteuerrecht, Unionsrecht, BFH- und EuGH-Rechtsprechung entwickelt hat und sich in dieser Richtung weiter entwickeln wird.1 Die „rohe Buchhaltersteuer“ im Popitzchen Sinne2 ist ein intellektuell höchst anspruchsvolles Rechtsgebiet für Spezialisten geworden. Über ein derartiges Ergebnis kann niemand, weder der Unternehmer als Steuereintreiber des Staates noch der Fiskus, erfreut sein.

1 So Nieskens, UR 2013, 1-5. 2 Vgl. Grabower, UR 1952, 2.

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Die Umsatzsteuer betrifft immer das Tagesgeschäft eines Unternehmens. Jeder Geschäftsvorfall ist im Einzelnen auf seine umsatzsteuerlichen Auswirkungen zu prüfen. Entscheidungen müssen vor Ausführung des Umsatzes, spätestens aber bei dessen Fakturierung getroffen werden. Damit bleibt in der Regel kein Raum für große wissenschaftliche Auseinandersetzungen mit dem Steuertatbestand. Sie finden ihren Platz bei der Einrichtung der Buchhaltungssysteme und im Widerstreit mit den Finanzbehörden, also vor bzw. nach Ausführung des betreffenden Umsatzes. Die Umsatzsteuer sollte deshalb mehr als jede andere Steuerart dem Anspruch genügen, auch eine „Buchhaltersteuer” zu sein.

II. Priorität haben die materiellen Tatbestandsvoraussetzungen Formerfordernisse und Nachweispflichten versus materiell-rechtliche Tatbestandsvoraussetzungen sind ein besonderes Spannungsfeld in der Umsatzsteuer. Sie widerspiegeln den Spagat zwischen den objektiven Umständen und deren Glaubhaftmachung anhand von Belegen und Aufzeichnungen in der Buchhaltung des Steuerpflichtigen. Besonders deutlich wurde das in der Entwicklung der Rechtsprechungspraxis zu innergemeinschaftlichen Lieferungen, aber auch hiervon maßgeblich beeinflusst, zum Vorsteuerabzug. Jahrzehnte war der beleg- und buchmäßige Nachweis einer Ausfuhrlieferung, ab 1993 auch der innergemeinschaftlichen Lieferung, materiell-rechtliche Voraussetzung für die Steuerbefreiung derselben. Kein Beleg, kein buchmäßiger Nachweis – keine Steuerbefreiung! Diese in Deutschland zementierte Rechtsauffassung musste der BFH unter dem Einfluss der Rechtsprechung des EuGH dahingehend ändern, dass die objektiven Vo­ raussetzungen (Gelangen des Liefergegenstands in das Ausland, zzgl. Steuerpflichtigeneigenschaft des Abnehmers bei innergemeinschaftlichen Lieferungen) auch anhand anderer als der in der UStDV normierten Kriterien nachgewiesen werden können3. Doch was brachte diese Judikatur für das unternehmerische Handeln? Weniger Förmelei, weniger administrativer Aufwand, weniger Risiken? Nein, das Gegenteil war der Fall. Erinnern wir uns. In der Rechtssache Collée4 hatte der EuGH die Frage zu beantworten, ob der buchmäßige Nachweis als Voraussetzung der Steuerbefreiung der Lieferung laufend und unmittelbar nach Ausführung des Umsatzes zu erfolgen habe. Im Streitfall wurden Pkw-Lieferungen an einen im übrigen Gemeinschaftsgebiet ansässigen Abnehmer aus Gründen des Gebietsschutzes zunächst an einen im Inland an­ sässigen Unternehmer abgerechnet, der aber nicht tatsächlich Verfügungsmacht erlangte. Nach den diesbezüglichen Feststellungen der Finanzverwaltung wurden die Rechnungen nachträglich geändert und auf den im übrigen Gemeinschaftsgebiet an3 EuGH, Urt. v. 27.9.2007 – C-146/05, ECLI:EU:C:2007:549 – Collée, BStBl. II 2009, 78 = UR 2007, 813 m. Anm. Maunz; BFH, Urt. v. 6.12.2007 – V R 59/03, BStBl. II 2009, 57 = UR 2008, 186. 4 EuGH, Urt. v. 27.9.2007 – C-146/05, ECLI:EU:C:2007:549 – Collée, BStBl. II 2009, 78 = UR 2007, 813 m. Anm. Maunz.

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sässigen tatsächlichen Abnehmer ausgestellt. Obwohl bereits im Zeitpunkt der Lieferung alle materiellen Voraussetzungen für den innergemeinschaftlichen Charakter der Warenumsätze vorlagen, versagten die zuständigen deutschen Finanzbehörden die Anerkennung der Steuerbefreiung, und der BFH sah sich genötigt, diesen offensichtlichen Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht, der mit seiner bisherigen Rechtsprechung zur unmittelbaren Führung des Buchnachweises begründet wurde, dem EuGH vorzulegen. Mit Verweis auf die bereits ergangenen Entscheidungen zur Anerkennung des Vorsteuerabzugs in den Rechtssachen Optigen5sowie Kittel und Recolta Recycling6 erinnerte der EuGH an die objektiven Merkmale von Lieferumsätzen, aus denen sich die Besteuerungsgrundsätze des Gemeinschaftsrechts ableiten. Daher seien die nationalen Finanzbehörden nicht berechtigt, die Steuerbefreiung einer innergemeinschaftlichen Lieferung allein von der Einhaltung formeller Pflichten abhängig zu machen, ohne die materiellen Anforderungen zu berücksichtigen und insbesondere ohne in Betracht zu ziehen, ob letztere erfüllt sind. Eine solche Haltung gehe über das hinaus, was erforderlich sei, um eine genaue Erhebung der Steuer sicherzustellen. Auch eine nachträgliche Korrektur der Buchführung im Sinne ihrer Anpassung an die tatsächlichen materiellen Verhältnisse erlaube die Anerkennung der Steuerbefreiung, sofern die objektiven Merkmale der innergemeinschaftlichen Lieferung erfüllt seien. Hieraus leitete der BFH drei Rechtsgrundsätze ab, denen zwar systematisch zuzustimmen ist, deren letztliche Auswirkungen sich aber auf eine begrenzte Zahl von Einzelfällen beschränken mussten: 1. Die Verpflichtung des Unternehmers nach § 6a Abs. 3 UStG, die Voraussetzungen einer innergemeinschaftlichen Lieferung nach Maßgabe der §§  17a, 17c UStDV nachzuweisen, ist mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar.7 2. Die Nachweispflichten des Unternehmers sind keine materiellen Voraussetzungen für die Befreiung als innergemeinschaftliche Lieferung. Die Regelungen des § 6a Abs. 3 UStG und §§ 17a, 17c UStDV bestimmen vielmehr lediglich, dass und wie der Unternehmer die Nachweise zu erbringen hat.8 3. Kommt der Unternehmer diesen Nachweispflichten nicht nach, ist grundsätzlich davon auszugehen, dass die Voraussetzungen einer innergemeinschaftlichen Lieferung (§ 6a Abs. 1 UStG) nicht erfüllt sind.9 4. Etwas anderes gilt ausnahmsweise nur dann, wenn trotz der Nichterfüllung der formellen Nachweispflichten aufgrund der objektiven Beweislage feststeht, dass die Voraussetzungen des § 6a Abs. 1 UStG vorliegen. Dann ist die Steuerbefreiung zu

5 EuGH, Urt. v. 12.1.2006 – C-354/03, C-355/03 und C-484/03, ECLI:EU:C:2006:16 – Optigen u.a., UR 2006, 157. 6 EuGH, Urt. v. 6.7.2006 – C-439/04 und C-440/04, ECLI:EU:C:2006:446 – Kittel und Recolta Recycling, UR 2006, 594 m. Anm. Wäger. 7 BFH, Urt. v. 6.12.2007 – V R 59/03, BStBl. II 2009, 57 = UR 2008, 186, Rz. 41. 8 BFH, Urt. v. 6.12.2007 – V R 59/03, BStBl. II 2009, 57 = UR 2008, 186, Rz. 43. 9 BFH, Urt. v. 6.12.2007 – V R 59/03, BStBl. II 2009, 57 = UR 2008, 186, Rz. 44.

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gewähren, auch wenn der Unternehmer die erforderlichen Nachweise nicht entsprechend §§ 17a, 17c UStDV erbrachte.10 In welcher Form dem Unternehmer der Nachweis außerhalb der Norm gelingen könnte, blieb im Dunkeln. Auch der Versuch, Mängel im Belegnachweis durch die Beiladung von Zeugen (im Streitfall den Geschäftsführer der Abnehmerfirma) zu heilen, scheiterte. Der BFH kam zu dem Schluss, dass der Unternehmer den ihm obliegenden sicheren Nachweis der materiellen Tatbestandsmerkmale einer innergemeinschaftlichen Lieferung auch jenseits der formellen Voraussetzungen gemäß § 6a Abs.  3 UStG i.V.m. §§  17a  ff. UStDV nicht in anderer Weise als durch Belege und Aufzeichnungen führen darf.11 Was bleibt da als Fazit?

III. Vertrauensschutz genießt nur derjenige, der die formellen Nachweispflichten erfüllt Auch wenn die Rechtsprechung zutreffend vom Primat der materiellen Tatbestandsvoraussetzungen ausgeht, kann es den Lieferanten in einem täglichen Massengeschäft – wie der Ausführung von Exportlieferungen – nur gelingen, anhand von Indizien in Form eigener Aufzeichnungen und Belegen Dritter diese nachzuweisen. Hinzu kommt, dass der Lieferer bei bestimmten Geschäftsvorfällen, wie bspw. einer ab-Werk-Lieferung oftmals gar nicht erkennen kann, ob die materiellen Tatbestandsvoraussetzungen vorliegen. Eine solche Fallkonstellation hatte der EuGH bereits in der Rechtssache Teleos12 zu entscheiden. Teleos verkaufte Mobiltelefone an eine spanische Gesellschaft. Bestimmungsort der Waren war entweder Frankreich oder Spanien. Nach den vertraglichen Vereinbarungen war Teleos verpflichtet, die Mobiltelefone seinem Abnehmer lediglich in einem Lager im Vereinigten Königreich zur Verfügung zu stellen (Lieferklausel „ex-works”). Die spanische Gesellschaft war für den Weitertransport in den vereinbarten Mitgliedstaat verantwortlich. Teleos erhielt als Nachweis, dass die Mobiltelefone ihren Bestimmungsort erreicht hatten, vom Abnehmer gestempelte und unterschriebene CMR-Frachtbriefe. Die britischen Finanzbehörden stellten später fest, dass die Mobiltelefone nie das Vereinigte Königreich verlassen hatten und setzten daher für die Lieferungen im Nachhinein Mehrwertsteuer fest. Nach dem Sachverhalt stand fest, dass Teleos gutgläubig war und keinen Anlass hatte, an den Angaben in den CMR-Frachtbriefen zu zweifeln. Vor diesem Hintergrund kam der EuGH zu dem Ergebnis, dass die Behörden des Liefermitgliedstaats nicht befugt seien, einen gutgläubigen Lieferanten, der Beweise vorgelegt hat, die dem ersten Anschein nach sein Recht auf Befreiung einer innergemeinschaftlichen Lieferung von Gegenständen belegen, zu verpflichten, später Mehrwertsteuer auf diese Gegenstände zu entrichten, wenn die Beweise sich als falsch he­ rausstellen, jedoch nicht erwiesen ist, dass der Lieferant an der Steuerhinterziehung 10 BFH, Urt. v. 6.12.2007 – V R 59/03, BStBl. II 2009, 57 = UR 2008, 186, Rz. 44. 11 BFH, Urt. v. 19.3.2015 – V R 14/14, BFHE 250, 248 = BStBl. II 2015, 912 = UR 2015, 719. 12 EuGH, Urt. v. 27.9.2007 – C-409/04, ECLI:EU:C:2007:548 – Teleos, BStBl. II 2009, 70 = UR 2007, 774.

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beteiligt war, soweit er alle ihm zur Verfügung stehenden zumutbaren Maßnahmen ergriffen hat, um sicherzustellen, dass die von ihm ausgeführte innergemeinschaftliche Lieferung nicht zu seiner Beteiligung an einer solchen Steuerhinterziehung führt. Auch in der späteren Entscheidung in der Rs. Traum13 hat der EuGH an diesen Grundsätzen festgehalten. Hiernach durfte die Steuerbefreiung der innergemeinschaftlichen Lieferung nicht allein deshalb versagt werden, weil der Erwerber im anderen EU-Mitgliedstaat seinen steuerlichen Verpflichtungen nicht nachgekommen war, der Steuerpflichtige als Lieferer aber alle nach nationalem Recht erforderlichen und vorgesehenen Nachweisdokumente vorgelegt hatte. Dies gelte auch, wenn die in den Unterlagen enthaltenen Angaben objektiv unzutreffend gewesen seien, dies aber vom Lieferanten nicht erkannt werden konnte und es keine Anhaltspunkte für dessen Einbeziehung in eine Steuerhinterziehung gegeben habe. Der EuGH leitet den Vertrauensschutz für den Lieferanten jeweils aus den unionsrechtlichen Grundsätzen der Rechtssicherheit, Verhältnismäßigkeit und Neutralität der Mehrwertsteuer ab: ȤȤ Der Grundsatz der Rechtssicherheit verbiete es, dass ein Mitgliedstaat einen Lieferanten im Nachhinein wegen eines vom Erwerber begangenen Betrugs mit Mehrwertsteuer belaste, nachdem er zunächst die vom Lieferanten als Nachweise für das Recht auf Befreiung vorgelegten Unterlagen akzeptiert hat. ȤȤ Nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit müssten sich die Mitgliedstaaten solcher Mittel bedienen, die es zwar erlauben, das vom innerstaatlichen Recht verfolgte Ziel wirksam zu erreichen, die jedoch die Ziele und Grundsätze des einschlägigen Gemeinschaftsrechts möglichst wenig beeinträchtigen. Die von den Mitgliedstaaten erlassenen Maßnahmen dürften daher nicht über das hinausgehen, was hierzu erforderlich sei. ȤȤ Der Grundsatz der steuerlichen Neutralität verbiete, gleichartige und deshalb miteinander in Wettbewerb stehende Leistungen hinsichtlich der Mehrwertsteuer ­unterschiedlich zu behandeln. Bezogen auf innergemeinschaftliche Lieferungen bedeute dies, dass Steuerpflichtige, die einen innergemeinschaftlichen Umsatz bewirken, nicht durch Mehrwertsteuernachzahlung schlechter gestellt werden dürften als Steuerpflichtige, die nur inländische Umsätze bewirken. Denn diese würden nie mit der Steuer belastet, weil es sich bei der Umsatzsteuer um eine indirekte Verbrauchssteuer handele. Damit stand einmal mehr fest, dass sich der gutgläubige Steuerpflichtige erfolgreich gegen den in der Vergangenheit von den deutschen Finanzbehörden häufig aufgestellten Vorwurf, die gelieferten Gegenstände hätten Deutschland nie verlassen bzw. der Abnehmer sei ein Scheinunternehmer, wehren konnte. Das Risiko eines betrügerischen Erwerbers durfte nicht länger auf den gutgläubigen Lieferanten abgewälzt werden. Voraussetzung war jedoch, dass der gutgläubige Lieferant die buch- und belegmäßigen Nachweise i. S. der §§ 17a und 17c UStDV eingeholt hatte. Unschädlich ist seitdem, wenn sich später die hierin enthaltenen vollständigen Angaben teilweise oder vollends als nicht zutreffend herausstellen und dies der Lieferant nicht erkennen 13 EuGH, Urt. v. 9.10.2014 – C-492/13, ECLI:EU:C:2014:2267 – Traum, UR 2014, 943.

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konnte. Genauso unschädlich ist seitdem bei objektiv zutreffenden Tatbestandsvo­ raussetzungen für die Steuerbefreiung der innergemeinschaftlichen Lieferung oder Ausfuhrlieferung ein Mangel oder die Unrichtigkeit von Angaben im Belegnachweis. Enthält z.B. eine Gelangensbestätigung als Bestimmungsort Frankreich und ist da­ gegen nach den Feststellungen der Finanzbehörden der von Deutschland versandte Gegenstand tatsächlich in Belgien für den steuerpflichtigen Abnehmer eingetroffen, liegen die materiellen Tatbestandsvoraussetzungen einer innergemeinschaftlichen Lieferung vor. Auch eine „Nachbesserung“ der Belege ist in diesen Fällen nicht mehr erforderlich. Insofern ist jahrelange Förmelei überwunden, der administrative Aufwand gleichwohl nicht reduziert. Die erläuterten Rechtsgrundsätze sind im Massengeschäft „Umsatzsteuer“ nur im Einzelfall für den Unternehmer nutzbar. Tax-Compliance-Management-Systeme, wie sie gegenwärtig verstärkt zur Minimierung steuerstrafrechtlicher und anderer Haftungsrisiken in Unternehmen entwickelt werden, können derartige juristische Feinheiten nicht abbilden14. Sie können sich immer nur an den (gesetzlich) normierten buch- und belegmäßigen Nachweispflichten orientieren.

IV. Bedeutung der USt-Idnr. des Abnehmers für die Steuerbefreiung der innergemeinschaftlichen Lieferung Dies zeigen auch die langwierigen Erfahrungen und rechtstheoretischen Diskurse im Umgang mit der USt-IdNr. des Vertragspartners. Weder die 1993 in allen EU-Mitgliedstaaten umgesetzte Binnenmarktrichtlinie15 noch die heute gültige Mehrwertsteuersystemrichtlinie16 enthalten als materielles Tatbestandsmerkmal das Vorhandensein einer vom Abgangsmitgliedstaat verschiedenen USt-IdNr.  des Abnehmers. Art.  138 MwStSystRL verlangt einen der Erwerbsbesteuerung unterliegenden, als Steuerpflichtiger handelnden Abnehmer. § 6a Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 UStG sieht vor, dass der Erwerb des Gegenstands der Lieferung beim Abnehmer in einem anderen Mitgliedstaat den Vorschriften der Umsatzbesteuerung unterliegt. Jedem Rechtsanwender war damit schon bei Einführung der sog. Übergangsregelung für den Binnenmarkt bewusst, ohne ausländische USt-IdNr., deren Gültigkeit auch noch bestätigt werden konnte (§ 18e UStG), geht es nicht! Wie soll ein Abnehmer als redlicher Steuerpflichtiger in einem anderen Mitgliedstaat handeln, ohne im Besitz einer gültigen USt-IdNr. zu sein? Gerade die vielfältigen Diskussionen um die Zuordnung der Warenbewegung bei einem Reihengeschäft und die dazu ergangene Rechtsprechung haben gezeigt, welche Rolle dem formalen Nachweis der USt-IdNr. des Vertragspartners zukommt. Ein Hö-

14 Vgl. u.a. Groß/Matheis/Lindgens, UVR 2016, 172. 15 6. EG-Richtlinie 77/388/EWG, gültig bis 31.12.2006. 16 Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28.11.2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem, ABl. L 347, 1; gültig seit 1.1.2007.

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hepunkt war sicher das vom BFH dem EuGH vorgelegte Verfahren in der Rs. VSTR17. Auch für das Vorliegen der objektiven Voraussetzungen einer innergemeinschaftlichen Lieferung bei Beförderung oder Versendung durch den Abnehmer kann – solange noch ein umsatzsteuerlicher Grenzausgleich mit Steuerbefreiung im Abgangsland und Erwerbsbesteuerung im Bestimmungsland stattfindet  – nur von einer Verschaffung der Verfügungsmacht an den Endabnehmer im Ausgangsstaat ausgegangen werden, wenn dessen Vorlieferant im Inland zumindest umsatzsteuerlich registriert ist. Verwendet der Ersterwerber keine USt-IdNr.  muss m.E. die gleiche Rechtsfolge eintreten. In beiden Fällen ist nämlich das Kriterium des Art. 138 Abs. 1 MwStSystRL „Lieferung an einen Steuerpflichtigen, der als solcher in einem anderen Mitgliedstaat als dem des Beginns der Versendung oder Beförderung handelt“ nicht erfüllt. „Handeln“ heißt aktives Auftreten als Steuerpflichtiger. Dies setzt eine umsatzsteuerliche Registrierung im Gebiet eines EU-Mitgliedstaates voraus. Nur unter dieser Voraussetzung kann ein gemeinsames Mehrwertsteuersystem mit Grenzausgleich funktionieren. Dies gebietet auch das vom EuGH immer wieder strapazierte Neutralitätsprinzip, mit dem z.B. auch der Verlust des Vorsteuerabzugs beim Eintritt des Tatbestands des § 3d Satz 2 UStG (Art. 41 MwStSystRL) begründet wird. Wie wäre danach eine zu gewährende Steuerbefreiung (bei Zuordnung der Warenbewegung ohne ausländische USt-IdNr.) zu begründen, wenn sich der innergemeinschaftliche Erwerb zwar aus der unternehmerischen Verwendung in einem anderen EU-Mitgliedstaat ableiten, aber nicht vollziehen lässt. Die kritische Kommentarliteratur18 und die Erfahrungen aus der nachfolgenden Rechtsprechungspraxis bewiesen in den vergangenen fast drei Jahrzehnten etwas anderes. EUGH und ihm folgend der BFH postulierten auch hier das Primat der objektiven Voraussetzungen. Die Ergebnisse für den Rechtsanwender waren deprimierend. In der Rs. C-587/1019 hatte der Lieferant VSTR – wohl aus Unkenntnis im Umgang mit dem innergemeinschaftlichen Warenverkehr – an einen US-amerikanischen Abnehmer ohne USt-IdNr.  im Zusammenhang mit einer Versendung nach Finnland keine Umsatzsteuer berechnet. Der EuGH meinte zwar, dass die Steuerbefreiung einer innergemeinschaftlichen Lieferung von den Finanzbehörden davon abhängig gemacht werden könne, dass der Lieferer die USt-IdNr.  des Erwerbers mitteilt. Dies gälte allerdings unter dem Vorbehalt, dass die Steuerbefreiung nicht allein aus dem Grund verweigert würde, dass diese Verpflichtung nicht erfüllt worden sei, wenn der Lieferer redlicherweise, und nachdem er alle ihm zumutbaren Maßnahmen ergriffen habe, die USt-IdNr. nicht mitteilen könne und er außerdem Angaben mache, die hin17 EuGH, Urt. v. 27.9.2012  – C-587/10  – VSTR, ECLI:EU:C:2012:592 = UR 2012, 832 m. Anm. Burgmaier. 18 Frye in Rau/Dürrwächter, UStG, 173. Lieferung 7.2017, § 6a UStG, Anm. 392; Stadie sieht dagegen sowohl in den Belegen als auch im Buchnachweis der USt-IdNr. gesetzlich vorgesehene formalisierte „Nachweise“, die gleichsam wie Tatbestandsmerkmale der Steuerbefreiung wirken, d.h. sie sind die „Bedingungen“, unter denen die Steuerbefreiung angewandt wird (Art.  131 MwStSystRL), wenn der „Nachweis“ auf diese Weise geführt wird (Stadie in UStG, § 6a Rz. 59). 19 EuGH, Urt. v. 27.9.2012  – C-587/10  – VSTR, ECLI:EU:C:2012:592 = UR 2012, 832 m. Anm. Burgmaier.

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reichend belegen könnten, dass der Erwerber ein Steuerpflichtiger sei, der bei dem betreffenden Vorgang als solcher gehandelt habe. Der EuGH hatte aber darüber hi­ naus dem BFH aufgetragen zu prüfen, ob dem Umsatz der VSTR überhaupt eine innergemeinschaftliche Warenbewegung zugewiesen werden könne, weil den Transport nach Finnland der US-amerikanische Abnehmer veranlasste. Daher sei zu klären, ob dessen finnischem Abnehmer nicht schon in Deutschland, am Beginn der Versendung, Verfügungsmacht verschafft worden sei. Der BFH verwies die Streitsache mit diesem Prüfungsauftrag an das Finanzgericht zurück20. Das FG entschied für VSTR und sah sowohl bei der Zuordnung der Warenbewegung zum Umsatz der VSTR als auch im Mangel der Vorlage einer USt-IdNr. bei deren US-amerikanischen Abnehmer keine Gründe für eine Verweigerung der Steuerbefreiung.21 In der nachfolgenden abermaligen Revision folgte der XI. Senat des BFH dem Klägervotum und hielt die Frage der Zuordnung der Warenbewegung zum Umsatz von VSTR nach der Sachverhaltsaufklärung durch das FG für ausreichend geklärt. Bestünden nicht behebbare Zweifel daran, dass der Ersterwerber (VSTR) dem Zweiterwerber (US-amerikanischen Unternehmen) die Verfügungsmacht noch im Inland übertragen hat, sei die Warenbewegung der ersten Lieferung zuzuordnen.22 Die nicht vorhandene USt-IdNr. des Abnehmers spielte im Übrigen für den XI. Senat keine Rolle mehr. Sie war aber der vornehmliche Grund, weshalb der BFH den Sachverhalt dem EuGH vorlegte und die Finanzverwaltung ein nochmaliges Revisionsverfahren betrieb. Der hier getriebene Aufwand glich einem regelrechten „Ping-Pong-Spiel“, brachte aber keinerlei Rechtsklarheit, auch nicht für die strittige Frage der Zuordnung der Warenbewegung in einem Dreieckgeschäft, wenn der Transport vom mittleren Unternehmer veranlasst wird. Selbst vom BFH erfolgte der Ruf nach dem nationalen Gesetzgeber23, den aber jetzt überraschend schon die EU-Kommission mit ihren Vorschlägen zur Harmonisierung und Vereinfachung bestimmter Regelungen des Mehrwertsteuersystems und zur Einführung des endgültigen Systems der Besteuerung des Handels zwischen den Mitgliedstaaten24 offensichtlich überholt hat. Und auch hier erweist sich die „Formvorschrift“ USt-IdNr. als einziger Ausweg.

V. Neue Vorschläge der Mitgliedstaaten präferieren Angabe und Meldung der USt-IdNr. des Erwerbers … Ausgehend von der vorstehend beschriebenen Auslegung der Rechtsprechung des EuGH (ihm folgend des BFH) zur Priorität der objektiven Voraussetzungen gegenüber der Angabe und Meldung der USt-IdNr. des Erwerbers in einem anderen EU-­ Mitgliedstaat und des Belegnachweises als lediglich formale Kriterien für die Steuerbefreiung innergemeinschaftlicher Lieferungen sollen diese auf Vorschlag des Rates 20 BFH v. 28.5.2013 – XI R 11/09, BFHE 242, 84. 21 Sächsisches FG v. 12.3.2014 – 2 K 1127/13, MwStR 2014, 619. 22 BFH, Urt. v. 25.2.2015 – XI R 15/14, BFHE 249, 343 = UR 2015, 391 m. Anm. Sterzinger. 23 BFH, Urt. v. 25.2.2015 – XI R 15/14, BFHE 249, 343 = UR 2015, 391 m. Anm. Sterzinger, Rz. 71. 24 COM(2017) 569 final v. 4.10.2017.

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nun in den Rang materiell-rechtlicher Voraussetzungen in Art. 138 Abs. 1 der MwStSystRL erhoben werden. Als zusätzliche Bedingungen für die Steuerbefreiung der innergemeinschaftlichen Lieferung sollen nunmehr auch die Registrierung für Mehrwertsteuerzwecke des Abnehmers in einem anderen EU-Mitgliedstaat als dem, in dem die Versendung oder Beförderung der Gegenstände beginnt, und die ordnungsgemäße Meldung der Lieferung im Rahmen des MIAS-Systems (Zusammenfassende Meldung) normiert werden. Für das innergemeinschaftliche Reihengeschäft soll in einem neuen Art. 138a MwStSystRL die bewegte Lieferung dann dem ersten Lieferanten zugeordnet werden, wenn der Zwischenhändler dem Verkäufer den Namen des Eingangsmitgliedstaates mitteilt und dieser in einem anderen Mitgliedstaat als dem registriert ist, in dem die Versendung oder Beförderung beginnt. Sei eine der genannten Bedingungen nicht erfüllt, soll die Zuordnung der Warenbewegung zum Umsatz des Zwischenhändlers erfolgen. Im Ergebnis hätte diese Dogmatik zum Ausschluss der Steuerbefreiung in der Rechtsache VSTR mangels Zuordnung der Warenbewegung zum ersten Umsatz führen müssen, weil der US-amerikanische Zwischenhändler eben in keinem Mitgliedstaat der EU registriert war. In der Folge hätte sich der US-amerikanische Zwischenhändler im Abgangsmitgliedstaat Deutschland registrieren lassen müssen, um in den Genuss des Vorsteuerabzugs zu kommen und seine Lieferung an den finnischen Abnehmer als steuerfreie Lieferung in Deutschland deklarieren zu können. Soweit die nachvollziehbare Systematik, wenn da nicht die Beschränkung der Anwendung dieser Regelungen auf sog. zertifizierte Steuerpflichtige (geregelt in einem neuen Art. 13a MwStSystRL) vorgesehen wäre, die für einen im Drittlandsgebiet ansässigen Unternehmer ausgeschlossen sein soll. Insofern bliebe es bei einer Versagung der Steuerbefreiung für VSTR nach Maßgabe eines neugefassten Art. 138 Abs. 1 MwStSystRL und der weiter unbeantworteten Frage nach der richtigen Zuordnung der Warenbewegung im Reihengeschäft für nicht zertifizierte Steuerpflichtige. Eine Lösung könnte nur in einem „endgültigen“ System mit einer sog. einzigen Anlaufstelle für nicht im jeweiligen Abgangsland ansässige Personen gefunden werden, wie dies die EU-Kommission in einem neuen Art.  402 der MwStSystRL25 konzipiert hat. Bis dahin dürfte aber noch viel Zeit vergehen, weil die Auswirkungen einer solchen gravierenden Systemumstellung bei weitem noch nicht ausreichend analysiert, geschweige denn von den EU-Mitgliedstaaten akzeptiert sind.

VI. … und Gelangensnachweis als Mittel zur Eindämmung des Umsatzsteuerbetrugs Bis heute sind die Formerfordernisse bei Belegen und Aufzeichnungen nicht einheitlich in der EU geregelt. Es ist bisher Sache der nationalen Gesetzgeber, die Details des entsprechenden Nachweises einer grenzüberschreitenden Warenbewegung gesetzlich vorzuschreiben.26 Für die Kategorie der innergemeinschaftlichen Lieferungen gab es 25 Ebenda. 26 Art. 131 MwStSystRL verweist lediglich darauf, dass die Anwendung (aller) gemeinschaftsrechtlich geregelter Steuerbefreiungen unter den Bedingungen zu erfolgen habe, die die Mitgliedstaaten zur Gewährleistung einer korrekten und einfachen Anwendung dieser Be-

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Matthias Winter

seit Beginn des Binnenmarktes immer wieder Bemühungen seitens der Kommission und des Europäischen Parlaments, Harmonisierungen zu erreichen, wobei dies an dem Willen der nationalen Regierungen scheiterte. Auch der EuGH hatte sich in der Folge mehrfach mit diesen „Formalien“, insbesondere im Zusammenhang mit dem Vertrauensschutz in ihre Angaben, zu beschäftigen.27 Dies war Anlass für den aktuell erneuten Versuch der EU-Kommission, erste national übergreifende Ansatzpunkte einer harmonisierten Nachweisführung in Form einer widerlegbaren Vermutung vorzuschlagen. Es ist beabsichtigt, im Rahmen einer Änderung der MwSt-DVO eine Art Gelangensbestätigung nach dem Vorbild des §  17a UStDV einzuführen.28 Der Vorschlag ist sicherlich in seiner Zielrichtung absolut zu begrüßen, weil er dem liefernden Unternehmer ein in allen EU-Mitgliedstaaten anzuerkennendes administratives Instrumentarium zum Nachweis der grenzüberschreitenden Warenbewegung an die Hand geben könnte. Andererseits wird die auch hier vorgesehene Beschränkung auf Vertragspartner mit dem Status eines sog. zertifizierten Steuerpflichtigen zu m.E. völlig unnötigen Risiken bei der Einrichtung der notwendigen Belegorganisation in den Unternehmen und im Handel mit nicht in der EU-ansässigen Wirtschaftsbeteiligten führen. Der Vertrauensschutz wird – wie bisher – in weiten Teilen auf der Strecke bleiben.

VII. Formerfordernisse und Belegnachweise sind und bleiben unerlässlich Nach der Rechtsprechung des EuGH darf die Befreiung der innergemeinschaftlichen Lieferung nach Art. 138 MwStSystRL nicht versagt werden, wenn der liefernde Unternehmer alle nach nationalem Recht erforderlichen und vorgesehenen Nachweisdokumente vorgelegt hatte, sofern er hinsichtlich der dort von seinem Abnehmer und Dritten bestätigten Angaben gutgläubig war und keine Anhaltspunkte bestehen, dass sein Umsatz mit einer Steuerhinterziehung des Erwerbers verbunden war.29 Dieser Rechtssatz entspricht der Vertrauensschutzregelung des §  6a Abs.  4 UStG, die bekanntlich keine unionsrechtliche Grundlage hat. Nach ihrem Inhalt sichert die Vorschrift dem deutschen Lieferanten eine Nichterhebung der Steuer zu, obwohl die objektiven Voraussetzungen der innergemeinschaftlichen Lieferung nicht vorliegen. Wird der Lieferant vom Abnehmer getäuscht, hat dieser die Folgen als Steuerschuldner zu tragen.30 Das Vorliegen einer bestätigten USt-IdNr.  und von Belegen mit ­ordnungsgemäßen Angaben des Abnehmers bzw. Dritter sichern demnach dem freiungen und zur Verhinderung von Steuerhinterziehung, Steuerumgehung oder Missbrauch festlegen. 27 Z.B. EuGH in den Rs. Teleos, a.a.O., Collée, a.a.O., Twoh International (Urt. v. 27.9.2007 – C-184/05, UR 2007, 782) oder Traum (Urt. v. 9.10.2014 – C-492/13, UR 2014, 943). 28 Vorschlag für eine Durchführungsverordnung des Rates zur Änderung der Durchführungsverordnung (EU) Nr.  282/2011 hinsichtlich bestimmter Befreiungen bei innergemeinschaftlichen Umsätzen, COM(2017) 568 final v. 4.10.2017. Zur „Gelangensbestätigung“ siehe den Beitrag von Neeser, S. 829 ff. 29 EuGH, Urt. v. 9.10.2014 – C-492/13, ECLI:EU:C:2014:2267 – Traum, UR 2014, 943 m.w.N. 30 Hierzu ausführlich Reiß, UR 2017, 254, 260 ff.

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Ohne Belege geht es nicht!

­ ieferanten auch im Falle des Nichtvorliegens der objektiven Voraussetzungen die L Nichterhebung der Steuer zu. Die Frage des Gutglaubensschutzes stellt sich aber nicht, wenn der Unternehmer seine Nachweispflichten nicht oder nicht vollständig erfüllt. Maßgeblich ist hierfür die formelle Vollständigkeit, nicht aber die inhaltliche Richtigkeit der Beleg- und Buchangaben, da § 6a Abs. 4 Satz 1 UStG das Vertrauen auf unrichtige Abnehmerangaben schützt31. Priorität der materiell-rechtlichen Tatbestandsvoraussetzungen bedeutet demnach nur, dass bei fehlendem oder unvollständigem Buch- bzw. Belegnachweis die Steuerbefreiung auch zu gewähren ist, wenn zweifelsfrei feststeht, dass die Voraussetzungen der Steuerfreiheit erfüllt sind.32 In diesem „Spagat“ bewegt sich die Verantwortung des Unternehmers. Er kann sich nur an die bisher ausschließlich national geregelten Indizien und Beweisanzeichen in Form von Buch- und belegmäßigen Nachweisen halten. Dann genießt er auch Vertrauensschutz. Eine EU-weit einheitlich geregelte Praxis in Form von „Vermutungsregeln“, wie sie der Vorschlag der EU-Kommission zur Änderung der MwSt-DVO33 enthält, würde für EU-weit tätige Unternehmen i.S.  von standardisierten Lösungen Erleichterungen schaffen. Zu bedenken ist jedoch, dass auch ein endgültiges Umsatzsteuersystem für den EU-Binnenmarkt ohne Nachweise nicht auskommen wird. Nur die Bestätigung der Gültigkeit der USt-IdNr. des Abnehmers und ggf. eine Kontrolle des Zahlungsflusses vom Leistungsempfänger zum Leistenden werden auch in Zukunft die ordnungsgemäße Erhebung der Umsatzsteuer gewährleisten. Dies gilt unabhängig davon, ob die Umsatzsteuer beim Leistungsempfänger (Bestimmungslandprinzip) oder beim Leistenden (Ursprungslandprinzip) erhoben wird.

31 Vgl. dazu BFH v. 15.2.2012 – XI R 42/10, BFH/NV 2012, 1188, m.w.N.; v. 22.7.2015 – V R 23/14, BStBl. II 2015, 914. 32 Z.B. BFH v. 12.5.2009 – V R 65/06, BStBl. II 2010, 511; v. 12.5.2011 – V R 46/10, BStBl. II 2011, 957; v. 15.2.2012  – XI R 42/10, BFH/NV 2012, 1188; v. 14.11.2012  – XI R 17/12, ­BStBl. II 2013, 407, jeweils m.w.N. und v. 21.5.2014 – V R 34/13, BStBl. II 2014, 914. 33 COM(2017) 568 final.

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Stefan Groß

Umsatzsteuerrechtliche Anforderungen an den digitalen sowie digitalisierten Rechnungseingang Inhaltsübersicht I. Einleitung

III. Digitalisate

II. Originär elektronische Rechnungen 1. Bildformate 2. Strukturierte Datenformate 3. Hybridformate

IV. Sonderfall Mobiles Scannen V. Zusammenfassung

I. Einleitung Im Zeitalter der Digitalisierung gehen Rechnungen zunehmend elektronisch im Unternehmen ein. Dabei reichen die Formate von einfachen Bilddateien, wie insbesondere PDF-Rechnungen, bis hin zu reinen Datensätzen, die typischerweise im EDIbzw. XML-Format und künftig als XRechnung1 übermittelt werden. Dazwischen existiert eine Vielzahl von Formattypologien, nicht selten auch Mischformen bzw. sogenannte „Hybridformate“ wie etwa das sogenannte ZUGFeRD-Format2. Gleichzeitig gehen unverändert Papierrechnungen in den Unternehmen ein, die allerdings mit Blick auf einen durchgängig digitalen Prozess immer häufiger digitalisiert (gescannt) und im Nachgang vernichtet werden. Dabei etablieren sich zunehmend neue Prozesse, die Jenseits des bekannten stationären Scannens an der Poststelle die Möglichkeit eröffnen, Belege dezentral bzw. mobil mittels Smartphone oder Tablet abzulichten und medienbruchfrei ins Unternehmen zu übertragen. In dieser digitalen Welt stellt sich die Frage, welche umsatzsteuerrechtlichen Voraussetzungen an die unterschiedlichen Formen der elektronischen Rechnung sowie das damit korrespondierende Recht auf Vorsteuerabzug geknüpft sind. Nachfolgend sollen die verschiedenen elektronischen Rechnungsarten umsatzsteuerlich systematisiert und beleuchtet werden.

II. Originär elektronische Rechnungen Spätestens seit Anpassung der Mehrwertsteuersystemrichtlinie im Jahr 2011 sowie der korrespondierenden Änderung des nationalen Umsatzsteuergesetzes im Jahr 2012 hat sich der elektronische Rechnungsaustausch zum Erfolgsmodell entwickelt. 1 XML-basiertes Datenformat, das als Standard für elektronische Rechnungen dient, die an die öffentlichen Verwaltungen in Deutschland gesendet werden. 2 Zentraler User Guide des Forums elektronische Rechnung Deutschland.

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Stefan Groß

Eine elektronische Rechnung im Sinne des § 14 Abs. 1 Satz 8 UStG ist eine Rechnung, die in einem elektronischen Format ausgestellt und empfangen wird. Dabei reichen die verwendeten Formate über das bekannte PDF, über Hybridformate, wie ZUGFeRD, bis hin zu reinen Datensätzen wie XML, die zwischen den Unternehmen ausgetauscht werden. Dabei gilt entsprechend den „Grundsätzen zur ordnungsmäßigen Führung und Aufbewahrung von Büchern, Aufzeichnungen und Unterlagen in elektronischer Form sowie zum Datenzugriff (GoBD)“3, dass originär elektronische Unterlagen, wozu elektronische Rechnungen zweifelsfrei zählen, auch in dieser Form aufzubewahren sind. Sie dürfen daher nicht mehr ausschließlich in ausgedruckter Form aufbewahrt werden und müssen für die Dauer der Aufbewahrungsfrist unveränderbar erhalten bleiben.4 Soweit der Unternehmer dabei die ihm obliegenden Pflichten, welche sich aus den GoBD ergeben, verletzt, wirkt sich dies jedoch nicht auf den ursprünglichen Vorsteuerabzug aus, sofern die Voraussetzungen für den Vorsteuerabzug nachgewiesen werden.5 Im Hinblick auf die Aufbewahrung von Rechnungen gilt es stets auch die Vorgaben des § 14b UStG ins Kalkül zu ziehen. Demnach sind Rechnungen, die ein im Inland ansässiger Unternehmer ausgestellt bzw. empfangen hat, grundsätzlich im Inland aufzubewahren. Eine elektronische Aufbewahrung dieser Rechnungen im übrigen Gemeinschaftsgebiet setzt voraus, dass eine vollständige Fernabfrage (Online-Zugriff) der betreffenden Daten und deren Herunterladen und Verwendung gewährleistet ist. Dabei hat der Unternehmer dem Finanzamt den jeweiligen Aufbewahrungsort mitzuteilen. Ein Antrag des Unternehmers nach § 146 Abs. 2a AO auf Verlagerung der elektronischen Buchführung und dessen Bewilligung durch das Finanzamt sind insoweit nicht erforderlich. Die Voraussetzungen des § 146 Abs. 2a AO sind nach § 14b Abs. 5 UStG lediglich für den Fall zu beachten, dass der inländische Unternehmer die Rechnungen außerhalb des Gemeinschaftsgebietes aufbewahren will. Gerade die zunehmende Beliebtheit von ausländischen Shared Service Centern oder der Nutzung entsprechender Cloud-Archive macht es erforderlich, sich mit den Vorgaben des § 14b UStG dezidiert auseinanderzusetzen. Nach § 14 Abs. 1 Satz 2 UStG müssen die Echtheit der Herkunft der Rechnung, die Unversehrtheit ihres Inhalts und ihre Lesbarkeit gewährleistet werden. Zur Sicherstellung dieser Anforderungen verlangt § 14 Abs. 1 Satz 6 UStG vom Unternehmer, ein innerbetriebliches Kontrollverfahren mit Prüfpfad einzurichten.6 Dieses Kon­ trollverfahren  – welches letztlich mit dem Prozess der Rechnungseingangsprüfung gleichgesetzt werden kann7 – ist unabhängig vom verwendeten Format und obliegt nach § 14 Abs. 1 Satz 5 UStG der Ausgestaltung des Unternehmens. Nachfolgend sollen die gängigsten Formattypologien originär elektronischer Rechnungen unter dem Blickwinkel steuerlicher Vorgaben dargestellt werden. 3 BMF v. 14.11.2014 – IV A 4-S 0316/13/10003, BStBl. I 2014, 1450. 4 BMF v. 14.11.2014, a.a.O., Rz. 119. 5 BMF v. 2.7.2012 – IV D 2-S 7287-a/09/10004 :003, BStBl. I 2012, S. 726; Abschnitt 14b.1. Abschnitt 10 Satz 3 UStAE. 6 Vgl. zur konkreten Ausgestaltung eines innerbetrieblichen Kontrollverfahrens bei Eingangsrechnungen, Groß/Matheis, UVR 2012, S. 212 (214 f.). 7 Vgl. Groß/Lamm, BC 2011, 244 (245).

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Anforderungen an den digitalen sowie digitalisierten Rechnungseingang

1. Bildformate Soweit reine Bildformate wie PDF oder TIFF als Rechnung ausgetauscht werden, stellen diese lediglich die virtualisierte Variante der Papierrechnung dar. Die Rechnungseingangsprüfung im Hinblick auf Integrität, Authentizität und Lesbarkeit entsprechend §  14 Abs.  1 Satz 5 UStG erfolgt auf Basis des elektronisch übertragenen Rechnungsbildes. Im Zusammenhang mit der Übermittlung von Bilddateien stellt sich zusätzlich die Frage, inwieweit bei einer Übermittlung per E-Mail neben dem eigentlichen Dateianhang (sog. „Attachement“) auch die entsprechende E-Mail aus umsatzsteuerlicher Sicht aufzubewahren ist. Hierzu führen die GoBD aus, dass soweit eine E-Mail als reines Transportmittel (analog dem Briefumschlag) dient, diese grundsätzlich nicht aufbewahrt werden muss.8 Die Aufbewahrungspflicht bezieht sich damit ausschließlich auf den transportierten Inhalt. Allerdings gilt dies nur, wenn die E-Mail gerade keine umsatzsteuerlich relevanten Ausführungen enthält. Ansonsten sind die transportierte PDF-Datei nebst E-Mail insgesamt als Rechnung anzusehen und damit auch insgesamt  – unter einem einheitlichen Index  – aufbe­ wahrungspflichtig. Hierbei ist jedoch zu beachten, dass  – neben der einheitlichen ­Indexierung im Rahmen der Archivierung  – zumindest die E-Mail als Anlage zur Rechnung eindeutig auf die beigefügte Rechnung, z. B. mittels Angabe der Rechnungsnummer, verweist.9 2. Strukturierte Datenformate Mit Blick auf die Automatisierung des Rechnungseingangs sowie die Optimierung der sogenannten Financial Supply Chain gehen Unternehmen zunehmend dazu über, unmittelbar Rechnungsdaten auszutauschen. War dies in der Vergangenheit nur Großunternehmen über das sogenannte EDI-Format10 über bilaterale Absprachen möglich, so tauschen heute immer mehr Unternehmen XML- bzw. sonstige strukturierte Daten aus. Soweit ausschließlich strukturierte Daten Verwendung finden, stellt sich insbesondere die Frage nach der in der Abgabenordnung sowie in den GoBD geforderten „Lesbarkeit über die Dauer der gesetzlichen Aufbewahrungsfrist“. Für eine Sichtprüfung, insbesondere im Rahmen der steuerlichen Außenprüfung bedarf es entsprechend der Bereitstellung spezifischer Visualisierungsprogramme, die es insbesondere den Betriebsprüfer ermöglichen, die Rechnung im Hinblick auf die erforderlichen Pflichtangaben nach §§ 14 Abs. 4, 14a UStG und damit die Berechtigung zum Vorsteuerabzug zu prüfen. Dabei ist diese Vorgabe stets über die Dauer der gesetzlichen Aufbewahrungsfrist sicherzustellen. Im Zweifel empfiehlt es sich, eine entsprechende Visualisierung beim Rechnungseingang vorzunehmen und neben den strukturierten Daten eine Bilddatei elektronisch mit abzulegen.

8 BMF v. 14.11.2014, a.a.O., Rz. 121. 9 Vgl. BFH v. 26.11.2014 – XI R 37/12, BFH/NV 2015, 358. 10 Electronic Data Interchange.

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Zum Katalysator für den Austausch strukturierter Rechnungsdaten könnte sich das Gesetz zur Umsetzung der Richtlinie 2014/55/EU11 über die elektronische Rechnungsstellung im öffent­lichen Auftragswesen (sog. „E-Rechnungs-Gesetz“)12 entwickeln, welches künftig eine Verpflichtung aller öffentlichen Auftraggeber auf Bundesebene vorsieht, elektronische Rechnungen, die bestimmte Voraussetzungen erfüllen, anzunehmen und zu verarbeiten. Während laut EU-Richtlinie nur die Annahme und Weiterverarbeitung durch den Rechnungsempfänger (öffentlicher Auftraggeber) verbindlich vorgegeben wurde, ergibt sich aufgrund der zum E-Rechnungs-Gesetz erlassenen E-Rechnungs-Verordnung13 ergänzend für den Rechnungsaussteller künftig die Verpflichtung, Rechnungen in elektronischer Form einzureichen. Der Austausch elektronischer Rechnungen soll dabei über den Standard XRechnung erfolgen. Hierbei handelt es sich um ein XML-basiertes Datenformat, welches künftig auch durchaus als Blaupause für den elektronischen Rechnungsaustausch insgesamt fungieren könnte. So will Italien die Unternehmen ab dem 1. Januar 2019 verpflichten, Rechnungen flächendeckend elektronisch auszustellen und über das offizielle Austauschsystem „Sistema di Interscambio“ (Sdl) zu versenden. Als Formate sind die sog. „FatturaPA xml“ oder die italienische Variante der XRechnung vorgegeben. Die Zielsetzung dürfte dabei in erster Linie darin bestehen, dem Umsatzsteuerbetrug über eine entsprechende Meldung auf Einzelumsatz- bzw. Einzelrechnungsebene entgegen zu wirken. 3. Hybridformate Spätestens seit der Bekanntgabe des sogenannten ZUGFeRD-Formats erfreuen sich Hybridformate einer großen Beliebtheit. Hybridformate bestehen dabei aus zwei Repräsentanzen: Einer Bildkomponente (PDF-Datei) sowie einer Datenkomponente (XML-Datei). Damit schließen Hybridformate die Lücke zwischen dem sogenannten systemischen Rechnungsaustausch, wie er etwa über Papier- oder PDF-Dokumente ermöglicht wird, und dem Austausch rein strukturierter Daten, die in der Vergangenheit insbesondere dem EDI-Verfahren vorbehalten war. Über Formate wie ZUGFeRD wird es entsprechend möglich, dass sowohl kleine Unternehmen, welche auf den Empfang von Bilddateien angewiesen sind, als auch größere Unternehmen, welche bevorzugt strukturierte Daten erwarten, gleichermaßen von der elektronischen Rechnung profitieren. Im Zusammenhang mit Hybridformaten wie ZUGFeRD stellt sich allerdings die Frage, welche der beiden Komponenten den Beleg im steuerrechtlichen, insbesondere im umsatzsteuerlichen Sinne darstellt. Dabei entspricht es gerade der Grundidee von ZUGFeRD, dem Rechnungsempfänger beide Möglichkeiten zu offerieren, je nachdem, welche EDV-technischen Gegebenheiten beim empfangenen Unternehmen vorhanden sind. Da damit jedoch beide Komponenten für sich gesehen als Beleg fungieren können, ist den Vorgaben des §  14c UStG eine besondere 11 Richtlinie 2014/55/EU des Europäischen Parlaments und des Rates v. 16.4.2014 über die elektronische Rechnungs-stellung bei öffentlichen Aufträgen, ABl. L 133, 1. 12 Gesetz zur Umsetzung der Richtlinie 2014/55/EU über die elektronische Rechnungsstellung im öffentlichen Auftragswesen v. 4.4.2017, BGBl. I 2017, 770. 13 Verordnung über die elektronische Rechnungsstellung im öffentlichen Auftragswesen des Bundes v. 13.10.2017, BGBl. I 2017, 3555.

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Anforderungen an den digitalen sowie digitalisierten Rechnungseingang

Aufmerksamkeit zu widmen.14 Konkret läuft der Rechnungsausteller Gefahr, die Umsatzsteuer doppelt zu schulden, wenn die PDF- und die XML-Datei inhaltlich divergieren und damit als jeweils eigenständige Rechnung zu werten sind. Unterscheiden sich mithin die Hybridbestandteile von ZUGFeRD in Bezug auf die umsatzsteuerlichen Pflichtangaben, ist das Risiko einer Doppelbesteuerung gegeben. Umgekehrt besteht bei sogenannten „inhaltlich identischen Mehrstücken“ derselben Rechnung – zumindest nach Verwaltungsauffassung  – keine Gefahr einer umsatzsteuerlichen Mehrbelastung.15 In Bezug auf Rechnungen, die im ZUGFeRD-Format übermittelt werden, führen die GoBD ergänzend aus, dass nicht entscheidend ist, ob der Rechnungsempfänger nur das Rechnungsbild (Image) nutzt, sondern, dass auch noch tatsächlich die XML-Daten vorhanden sind, die auch nicht durch Formatumwandlung gelöscht werden dürfen. Die maschinelle Auswertbarkeit bezieht sich damit auf sämtliche Inhalte der PDF/A-3-Datei.16 Daher darf das ZUGFeRD-Format auch nicht einfach in ein anderes Format konvertiert werden, weil hierdurch die Auswertbarkeit des eingebetteten XML-Objekts verloren gehen würde.

III. Digitalisate Neben den originär elektronischen Rechnungen gehen immer mehr Unternehmen dazu über, den papierbasierten Rechnungseingang in die elektronische Welt zu transformieren und damit den Rechnungseingang für die nachfolgenden Prozesse wie Rechnungsprüfung, Archivierung und Bereitstellung für die Betriebsprüfung zu konsolidieren. Das Steuerrecht gestattet über § 147 Abs. 2 AO im Grundsatz die Aufbewahrung von Unterlagen auf einem Bild- oder anderem Datenträger, wenn dies den Grundsätzen ordnungsmäßiger Buchführung entspricht. Im Hinblick auf die elektronische Erfassung und Archivierung von Eingangsrechnungen gilt es dabei sicherzustellen, dass die Wiedergabe mit den empfangenen Handels- und Geschäftsbriefen bildlich übereinstimmen muss und die Belege während der Dauer der Aufbewahrungsfrist jederzeit verfügbar sind und unverzüglich lesbar gemacht werden können.17 Als zentrale Norm sind hierbei wiederum die GoBD ins Kalkül zu ziehen. Demnach ist das Scanergebnis („Digitalisate“) so aufzubewahren, dass die Wiedergabe mit dem Original bildlich übereinstimmt, wenn es lesbar gemacht wird.18 Der Verzicht auf Papierbelege darf dabei insbesondere die Möglichkeit der Nachvollziehbarkeit und Nachprüfbarkeit nicht beeinträchtigen.19 Als Zentrale Voraussetzungen nennen die GoBD das Vorliegen einer entsprechenden Verfahrensdokumentation bzw. Organisationsanweisung. Letztere hat insbesondere zu regeln, wer scannen darf, zu welchem Zeitpunkt gescannt wird und wie etwa die Qualitätskontrolle auf Lesbarkeit und Vollständigkeit zu erfolgen hat. Dabei ist die konkrete Ausgestaltung der 14 Vgl. ausführlich Groß/Kampffmeyer/Klas, BC 2015, 295 (298 f.). 15 Vgl. Abschnitt 14c.1. Abs. 4 Satz 5 UStAE. 16 BMF v. 14.11.2014, a.a.O., Rz. 125. 17 Vgl. ausführlich Groß/Lamm, UR 2008, 331. 18 BMF v. 14.11.2014, a.a.O., Rz. 130. 19 BMF v. 14.11.2014, a.a.O., Rz. 141.

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Verfahrensdokumentation stets abhängig von der Komplexität und Diversifikation der Geschäftstätigkeit und der Organisationsstruktur sowie des eingesetzten DV-Systems beim steuerpflichtigen Unternehmen.20 Nach dem eigentlichen Scanvorgang dürfen die Papierdokumente dann unter bestimmten Voraussetzungen vernichtet werden, soweit sie nicht nach außersteuerlichen oder steuerlichen Vorschriften im Original aufzubewahren sind. Sofern das angewandte Verfahren insbesondere wiederum den Vorgaben der GoBD entspricht, gestattet die Finanzverwaltung grundsätzlich die Vernichtung der Originale der Geschäftsunterlagen. Demnach bedürfen diese Aufbewahrungsformen insbesondere auch keiner besonderen Genehmigung aus Sicht der Umsatzsteuer.21 Entsprechend treten die Digitalisate an die Stelle der Papieroriginale und manifestieren künftig unter den Voraussetzungen der §§ 15 bzw. 14 UStG das Recht auf Vorsteuerabzug. Abschließend ist festzuhalten, dass im Fall der elektronischen Belegarchivierung der Steuerpflichtige dem Außenprüfer über die betriebsinterne Hard- und Software die Einsicht der elektronischen Belege unmittelbar am Bildschirm gestatten muss, selbst wenn die Belege noch als Papieroriginale verfügbar sind. Dies gründet letztlich auf einer Entscheidung des Bundesfinanzhofs22, der feststellt, dass sich der Steuerpflichtige mit dem Einscannen der Belege für die Form als Aufbewahrung auf einem Bildträger oder auf einem anderen Datenträger entschieden hat.

IV. Sonderfall Mobiles Scannen Im Zeitalter von Smartphones, Tablets sowie diversen mobilen Endgeräten mit Fotografierfunktion etablieren Unternehmen zunehmend auch innovative Prozesse, bei welchen – in Ergänzung zum bereits dargestellten stationären Scannen – Belege mobil abgelichtet und medienbruchfrei ins Unternehmen übertragen werden. Im Umfeld von Rechnungen ist dieser Prozess geradezu prädestiniert für Reisekostenabrechnungen, bei welchen der Vertriebsmitarbeiter die Belege während der Dienstreise ablichtet und zur weiteren Bearbeitung und Erstattung in das Unternehmen überträgt. Damit einhergehende Anwendungsfälle werfen jedoch aus Sicht der Unternehmenspraxis die Frage auf, ob der fotografisch festgehaltene Beleg auch steuerlich, insbesondere umsatzsteuerlich, anerkannt wird und letztlich die Vorgaben an das Recht auf Vorsteuerabzug uneingeschränkt erfüllt werden. Während diese Frage beim stationären Scannen beantwortet ist, bringt die mobile Erfassung neue Aspekte mit sich und es stellt sich insbesondere die Frage, ob die in den GoBD konstatierten Anforderungen auch uneingeschränkt auf den mobilen Anwendungsfall übertragbar sind. Betreffend die mobile Erfassung von Papierbelegen lässt sich ein Analogieschluss zu den in den GoBD niedergelegten Vorgaben der elektronischen Erfassung von Papierbelegen (Scanvorgang) herstellen. Der Begriff des „Scannens“ kann dabei durchaus mit dem Begriff des „Ablichtens“ durch mobile Endgeräte gleichgesetzt werden, handelt es sich beim Scannen doch auch um eine 20 BMF v. 14.11.2014, a.a.O., Rz. 136. 21 Vgl. Abschn. 22.1 Abs. 2 Satz 2 bis 4 UStAE. 22 BFH v. 26.9.2007 – I B 53, 54/07, BStBl. II 2008, 415.

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Ablichtung im technischen Sinne. Mit Blick auf die Besonderheiten der mobilen Belegerfassung ist dabei gerade den Vorgaben an die Lesbarkeit und vollständige Erfassung des Scanguts eine besondere Aufmerksamkeit bei der Umsetzung zu widmen. So bedarf es – analog zum herkömmlichen Scanprozess – insbesondere einer visuellen Qualitätskontrolle zu einer Vollständigkeitsprüfung einschließlich Rückseiten­ erfassung, die zugleich ihren Niederschlag in einer entsprechenden Arbeitsanweisung  finden muss. Dies bedeutet jedoch zugleich, dass die entsprechende App auf dem mobilen Endgerät die entsprechenden Funktionalitäten bereitstellen muss. Dies betrifft insbesondere qualitätsoptimierende Funktionen zur Herstellung der Lesbarkeit sowie entsprechende Bildfunktionalitäten, die etwa ein geraderücken oder zurechtschneiden des digitalisierten Belegs ermöglichen. Aus den Vorgaben zur Verfahrensdokumentation wird jedoch auch deutlich, dass im Falle des Ablichtens durch mobile Endgeräte neue Aspekte hinzutreten, die insbesondere dem Einsatz außerhalb der eigentlichen Unternehmens-EDV geschuldet sind. Diese betreffen weniger die Erstellung der eigentlichen Verfahrensdokumentation, als vielmehr die Ausgestaltung des zugrunde liegenden Verfahrens an sich. Übertragen auf das Mobile Scannen bedeutet dies, das zwischen der Person, die den Beleg mobil erfasst und der Person welche den Beleg prüft und zur Zahlung frei gibt, zwingend eine Funktionstrennung bestehen muss. Somit bedarf es im Ergebnis spezifischer Vorgaben sowie einer IKS-bezogenen Prozessausgestaltung bei der Belegprüfung, Zahlungsfreigabe zu einer dokumentierten Prüfung, ob den betreffenden Beleg tatsächlich eine Leistung für das Unternehmen zugrunde liegt.23 Um eine hinreichende Belegprüfung zu ermöglichen, muss damit sichergestellt sein, dass der Papierbeleg bis zur Prüfung/Freigabe nicht vernichtet wird und somit einer entsprechenden Prüfung überhaupt zugänglich bleibt. Dabei sind erhöhte Anforderungen an Prozesse zu stellen, denen ein Beleg zugrunde liegt, der nicht eindeutig einer Firma oder einer Person zugrunde gelegt werden kann, was insbesondere bei Barzahlungen der Fall sein kann (sogenannte nicht personalisierte Belege). Hier gelten erhöhte Anforderungen an die Prozessausgestaltung, das Interne Kontrollsystem sowie die letztliche Rechnungsprüfung; nicht zuletzt deshalb, weil das in Verkehr bringen von Belegen gegen Entgelt eine Steuergefährdung im Sinne des § 379 Abs. 1 Nr. 2 AO darstellen kann. In  derartigen Fällen empfiehlt sich eine zumindest stichprobenweise Überprüfung der Papierbelege. Im Zweifel ist die Einholung einer verbindlichen Auskunft zu prüfen.

V. Zusammenfassung Der elektronische Rechnungsaustausch etabliert sich zunehmen. Dabei geht es längst um Prozessautomatisierung in der sogenannten „Financial Supply Chain“, was den Austausch strukturierter Datenformate zur Maxime erhebt. Insbesondere der Vorstoß des nationalen Gesetzgebers, den elektronischen Rechnungsversand an die öffentliche Verwaltung in einem strukturierten Datenformat in Zukunft verpflichtend 23 Vgl. ausführlich Groß, BB 2017, 930 (933).

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festzuschreiben, ist durchweg zu begrüßen. Dies eröffnet die Möglichkeit, das Aufkommen elektronischer Rechnungen insgesamt zu vergrößern und damit den elek­ tronischen Rechnungsversand flächendeckend in der deutschen Wirtschaft zu eta­ blieren. Dies belegen nicht zuletzt auch die Erfahrungen in anderen Ländern der Europäischen Union. Dazu besteht die durchaus berechtigte Hoffnung, dass die XRechnung zugleich eine „Blaupause“ für den B2B-Bereich darstellen könnte; weil Unternehmen, die an die öffentliche Verwaltung fakturieren, dieses Format zugleich für ihre unternehmerischen Kunden nutzen könnten.

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Reformbedarf der umsatzsteuerrechtlichen Organschaft Inhaltsübersicht I. Vorwort 1. Zielsetzung bis 1967 – Organschaft im Allphasen-Brutto-Umsatzsteuersystem 2. Zielsetzung ab 1968 – Organschaft im reformierten Allphasen-Netto-Umsatzsteuersystem 3. Europarechtskonforme Umsetzung II. Ungeklärte Fragen zu den Voraus­ setzungen einer Organschaft 1. Finanzielle Eingliederung 2. Organisatorische Eingliederung 3. Wirtschaftliche Eingliederung 4. Organträger 5. Organgesellschaft a) Personengesellschaften als Organ­ gesellschaften? b) Die GmbH & Co. KG als Organ­ gesellschaft? c) Fazit I II. Weitere ausgewählte Problemkreise 1. Eingliederung einer ausländischen ­Niederlassung in eine Mehrwertsteuergruppe? a) Beschränkung der Organschaft auf das Inland

b) Wirkung der Organschaft auf den ­Unternehmensbegriff c) Auffassung der EU-Kommission d) Auffassung des EuGH e) Bewertung f) Fazit 2. Beendigung von Organschaften in der Insolvenz a) Eröffnung von Insolvenzverfahren im Organkreis b) Vorläufiges Insolvenzverfahren c) Eigenverwaltung IV. Verbesserungsvorschlag für mehr Transparenz und Rechtssicherheit 1. Europarechtliche Zulässigkeit a) EuGH-Rechtsprechung b) BFH-Rechtsprechung c) Organschaftsregelung in anderen ­Mitgliedstaaten d) Fazit 2. Mögliche Verfahrensregelungen in Deutschland a) Feststellungsverfahren b) Antragsverfahren c) Weitere Möglichkeiten V. Zusammenfassung

I. Vorwort Die Definition der umsatzsteuerlichen Organschaft ist kurz und prägnant. Sie entsteht per Gesetz, wenn eine juristische Person nach dem Gesamtbild der tatsächlichen Verhältnisse finanziell, wirtschaftlich und organisatorisch in das Unternehmen des Organträgers eingegliedert ist.1 Aber genau diese kurze Aussage führt seit Jahren immer wieder zu Streitpunkten, wie im Folgenden aufgezeigt wird. Aufgrund der Unsicherheiten, die in der Praxis mit der Organschaft verbunden sind, bedarf es gesetzgeberischer Maßnahmen, die Rechtssicherheit schaffen. Dieser Handlungsbedarf gilt

1 § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG.

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umso mehr, werden die unterschiedlichen Motivationen betrachtet, wie sie sich seit der Geburtsstunde der umsatzsteuerlichen Organschaft entwickelt haben. 1. Zielsetzung bis 1967 – Organschaft im Allphasen-BruttoUmsatzsteuersystem Zunächst entwickelte sich die umsatzsteuerliche Organschaft durch Richterrecht. Im Jahr 1934 fand sie schließlich Eingang in das Gesetz.2 Zu diesem Zeitpunkt herrschte in Deutschland noch das Allphasen-Brutto-Umsatzsteuersystem. Das heißt, die Umsatzsteuer wurde auf allen Wirtschaftsstufen erhoben, ohne dass ein Vorsteuerabzug möglich war. Diese Zusatzbelastung hatte vermehrt Unternehmensfusionierungen zur Folge. Die Kodifizierung der umsatzsteuerlichen Organschaft sollte diese und die damit einhergehenden negativen Folgen auf dem Arbeitsmarkt eindämmen.3 Die Regelung in ihrer damaligen Fassung normierte, dass eine gewerbliche oder berufliche Tätigkeit nicht selbstständig ausgeübt wird, wenn eine juristische Person dem Willen eines Unternehmers derart untergeordnet ist, dass sie keinen eigenen Willen hat.4 Die Durchführungsbestimmung zum Umsatzsteuergesetz5 konkretisierte diese Tatbestandsvoraussetzung. Demnach lag eine Organgesellschaft vor, wenn eine juristische Person nach dem Gesamtbild der tatsächlichen Verhältnisse finanziell, wirtschaftlich und organisatorisch in ein Unternehmen eingegliedert war. Diese bereits damals geltenden Tatbestandsmerkmale geben der Norm auch heute das maßgebliche Gepräge. In den folgenden Jahren wurde die Regelung immer wieder leicht modifiziert, teilweise außer Kraft gesetzt oder wieder für anwendbar erklärt.6 2. Zielsetzung ab 1968 – Organschaft im reformierten Allphasen-NettoUmsatzsteuersystem Im Jahre 1968 erfolgte die große Umsatzsteuerreform im Zuge der Harmonisierung des europäischen Mehrwertsteuersystems.7 Ergebnis war die Umstellung im Umsatzsteuerrecht hin zum Allphasen-Netto-Umsatzsteuersystem. Dieses war geprägt von der Einführung des Vorsteuerabzugs. Unternehmen bekamen die von ihnen gezahlte Umsatzsteuer im Rahmen des Vorsteuerabzugs wieder erstattet. In der Folge entfiel ab diesem Zeitpunkt grundsätzlich die Steuerbelastung auf den wirtschaftlichen Zwischenstufen. Seither ist im Grundsatz nur der Letztverbraucher mit der Umsatzsteuer belastet.

2 Vgl. § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG i.d.F. v. 16.10.1934, RGBl. I 1934, 942. 3 Vgl. BFH, Urt. v. 17.7.1952 – V 17/52 S, BStBl. III 1952, 234 (236). 4 Vgl. § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG i.d.F. v. 16.10.1934, RGBl. I 1934, 942. 5 Vgl. zu § 2 Abs. 2 Ziffer 2 des Gesetzes, UStDB, RGBl. I 1934, 948. 6 Vgl. Stadie in Rau/Dürwächter, UStG, § 2 Rz. 782. 7 Umsatzsteuergesetz (Mehrwertsteuer), BGBl. I 1967, 545.

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Die Idee der Organschaft ging dabei nicht verloren: Die harmonisierten Regelungen der damals geltenden 6. EG-RL8 räumten den Mitgliedstaaten ein Wahlrecht ein, im Inland ansässige Personen, die zwar rechtlich unabhängig, aber durch gegenseitige finanzielle, wirtschaftliche und organisatorische Beziehungen eng miteinander verbunden sind, zusammen als einen Steuerpflichtigen zu behandeln.9 Deutschland übte das Wahlrecht aus. Allerdings konnten die bisherigen wirtschaftlichen Überlegungen nicht mehr als Begründung dienen. Schließlich war der Anreiz für Unternehmensfusionen zur Einsparung von Umsatzsteuer durch den Systemwechsel entfallen. Lediglich im schriftlichen Bericht des Finanzausschusses des Deutschen Bundestags über den eingebrachten Entwurf des Umsatzsteuergesetzes heißt es, dass der Ausschuss das Institut der Organschaft zur Vermeidung unnötiger Verwaltungsarbeiten in der Wirtschaft beibehalten habe.10 Die Organschaft kann in der Tat Bürokratie verhindern und entsprechend zur Kostensenkung beitragen. Rein organisatorisch betrachtet, führt die Organschaft dazu, dass Umsatzsteuervoranmeldungen und die Umsatzsteuerjahreserklärungen nur für den gesamten Organkreis einzureichen sind. Auch müssen für Leistungsbeziehungen innerhalb des Organkreises keine Rechnungen unter Beachtung der formalen Voraussetzungen nach § 14 UStG ausgestellt werden. Es handelt sich um innerbetriebliche Vorgänge. Insofern führt die Organschaftsregelung zu einer Vereinfachung im Verfahren. Damit zeigt sich der Wandel der politischen Motivation: Die ehemals wirtschaftlich geprägte Entscheidung für eine Organschaft wich dem Wunsch, administrative Zusatzbelastungen zu vermeiden. 3. Europarechtskonforme Umsetzung Es ist zu beachten, dass Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der 6. EG-RL (heute: Art. 11 MwStSystRL) eine andere Konzeption als die deutsche Norm besitzt. Nach der MwStSystRL können Mitglieder einer Gruppe zusammen als ein Steuerpflichtiger behandelt werden. Die Gruppenmitglieder müssen dafür enge finanzielle, wirtschaftliche und organisatorische Beziehungen aufweisen. National hingegen führt ein Organschaftsverhältnis dazu, dass eine Organgesellschaft keine gewerbliche oder berufliche Tätigkeit selbstständig ausübt. Als Unternehmer gilt nur der Organträger. Sein Unternehmen umfasst den gesamten Organkreis. Im Kern liegt also kein einheitlicher gemeinsamer Steuerpflichtiger vor, sondern eine Eingliederung im Über-Unterordnungsverhältnis.11 Der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) entschied in diesem Zusammenhang im Urteil Larentia + Minerva und Marenave Schiffahrt,12 dass sich aus Art. 11 8 Sechste Richtlinie 77/388/EWG des Rates v. 17.5.1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern, Amtsbl. Nr. L 145 v. 13.6.1977, 1. 9 Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der 6. EG-RL. 10 Vgl. zu BT-Drs. V/1581, 10. 11 Vgl. Slapio, UR 2013, 407 (408 f.); von Streit, UStB 2013, 295 (296). 12 EuGH, Urt. v. 16.7.2015 – C-108/14 und C-109/14, BStBl. II 2017, 604.

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MwStSystRL nicht ergibt, dass die Regelung nur solchen Einheiten vorbehalten ist, die ein Unterordnungsverhältnis zum Organträger aufweisen. Vielmehr reiche eine enge Verbindung durch gegenseitige finanzielle, wirtschaftliche und organisatorische Beziehung zur Begründung einer Organschaft aus. Etwas anderes würde gelten, wenn das Kriterium der Über- und Unterordnung zur Verhinderung missbräuchlicher Praktiken oder Verhaltensweisen und zur Vermeidung von Steuerhinterziehung oder -umgehung erforderlich sei. Eine solche Entscheidung müsse jedoch das nationale Gericht fällen.13 Die nationale Umsetzung fordert zumindest dem Gesetzeswortlaut nach die Über‑ und Unterordnung nicht explizit. Vielmehr ergibt sie sich lediglich durch Interpretation. Ein Verstoß gegen Unionsrecht liegt daher nicht vor. Eine unionsrechtskonforme Auslegung des § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG ist möglich.14

II. Ungeklärte Fragen zu den Voraussetzungen einer Organschaft Das Ziel der Verfahrensvereinfachung erscheint angesichts der Streitigkeiten bereits auf der Ebene des Tatbestands in weite Ferne gerückt. Fragen zur Eingliederung stehen hierbei weniger im Fokus als solche zu den Eigenschaften der Beteiligten. 1. Finanzielle Eingliederung Die Feststellung, ob die finanzielle Eingliederung vorliegt, ist in der Praxis wenig streit­ anfällig. Eine Organgesellschaft ist dann finanziell eingegliedert, wenn der Organträger kapitalmäßig in der Weise beteiligt ist, dass er im Rahmen der Willensbildung der Gesellschaft durch Mehrheitsbeschlüsse seinen Willen bei der Organgesellschaft durchsetzen kann. Der Organträger muss demnach nicht alleiniger Anteilseigner der Organgesellschaft sein.15 Die Mehrheit der Stimmen in der Gesellschafterversammlung reicht regelmäßig aus. Etwas anderes kann gelten, wenn in der Satzung der Organgesellschaft ein abweichendes Stimmrechtsverhältnis geregelt ist.16 Die Eingliederung ist auch mittelbar, etwa über eine Untergesellschaft, möglich. Die Untergesellschaft selbst muss nicht zwingend unternehmerisch tätig sein. Die finanzielle Eingliederung kann mithin auch über eine Zwischenholding erfolgen. Allerdings ist die nichtunternehmerische Tochtergesellschaft in diesen Fällen selbst nicht Teil des Organkreises.17

13 Vgl. EuGH, Urt. v. 16.7.2015 – C-108/14 und C-109/14, Rz. 45 f., BStBl. II 2017, 604. 14 Vgl. Stadie in Rau/Dürwächter, UStG, §  2, Rz.  856; Kirch in Stotax eKomm UStG, §  2 Rz. 115. 15 Vgl. BFH, Urt. v. 14.12.1978 – V R 85/74, Rz. 8, BStBl. II 1979, 288; BFH, Urt. v. 20.4.1988 – X R 3/82, Rz. 29, BStBl. II 1988, 792, BFH, Urt. v. 22.4.2010 – V R 09/09, Rz. 12, BStBl. II 2011, 597; BFH, Urt. v. 17.1.2002 – V R 37/00, Rz. 26, BStBl. II 2002, 373. 16 Vgl. Stadie in Rau/Dürwächter, UStG, § 2 Rz. 863 m.w.N. 17 Vgl. Abschn. 2.8 Abs. 5b Sätze 1 ff. UStAE.

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2. Organisatorische Eingliederung Auch die Voraussetzungen für die organisatorische Eingliederung wurden durch Rechtsprechung und Finanzverwaltung in starkem Maße konkretisiert. Gefordert wird, dass der Organträger die mit der finanziellen Eingliederung verbundene Möglichkeit der Beherrschung auch in der laufenden Geschäftsführung wahrnimmt. Er muss die Organgesellschaft durch die Art und Weise der Geschäftsführung beherrschen.18 Regelmäßig wird die organisatorische Eingliederung durch Personenidentität der Geschäftsführungen bzw. Leitungsgremien des Organträgers und der Organgesellschaft erreicht.19 Unstreitig ist, dass keine vollständige Personenidentität zwischen der Geschäftsführung des Organträgers und der Organgesellschaft vorliegen muss. Es reicht aus, wenn beispielsweise einzelne Geschäftsführer des Organträgers Geschäftsführer der Organgesellschaft sind. Entscheidend ist die Beherrschung der Organgesellschaft durch den Organträger.20 Daher genügt für die organisatorische Eingliederung laut Rechtsprechung auch, wenn ein leitender Mitarbeiter des Organträgers die Geschäftsführung bei der Organgesellschaft innehat.21 Die Finanzverwaltung verzichtet mittlerweile sogar darauf, dass es sich bei dem Mitarbeiter um einen „Leitenden“ handeln muss.22 Sie begründet ihre Ansicht damit, dass aufgrund des Anstellungsverhältnisses des Mitarbeiters ein persönliches Abhängigkeitsverhältnis entstehe. Weisungswidriges Verhalten würde uneingeschränkt eine Abberufung rechtfertigen.23 Ferner führt ein zwischen Organträger und Organgesellschaft abgeschlossener Beherrschungsvertrag nach § 291 AktG oder die Eingliederung der Organgesellschaft nach §§  319, 320 AktG in die Gesellschaft des Organträgers zu einer organisatorischen Eingliederung.24 In diesen Fällen ist der Organträger berechtigt, dem Vorstand der Organgesellschaft nach §§ 308 bzw. 323 Abs. 1 AktG Weisungen zu erteilen.25 Zu Streitigkeiten, ob die Voraussetzungen für die organisatorische Eingliederung erfüllt sind, kommt es insbesondere dann, wenn die Geschäftsführung der Organgesellschaft nicht mit der des Organträgers deckungsgleich ist. Besteht sie beispielsweise aus mehreren Personen bei der Organgesellschaft, die nur zum Teil auch die Geschäfte des Organträgers führen, bedarf es einer genaueren Prüfung.26 Im Wesentlichen wird die organisatorische Eingliederung dann von der vereinbarten Vertretungsbe18 Vgl. BFH, Urt. v. 5.12.2001 – V R 26/06, Rz. 21, BStBl. II 2008, 451; BFH, Urt. v. 8.8.2013 – V R 18/13, Rz. 25, BStBl. II 2017, 543. 19 Vgl. BFH, Urt. v. 17.1.2002 – V R 37/00, Rz. 33, BStBl. II 2002; Abschn. 2.8 Abs. 8 Satz 2 UStAE. 20 Vgl. Abschn. 2.8 Abs. 8 Satz 16 UStAE. 21 Vgl. BFH, Urt. v. 28.10.2010 – V R 7/10, Rz. 23, BStBl. II 2011, 391. 22 Vgl. Kirch in Stotax eKomm UStG, § 2, Rz. 139 mit Verweis auf Abschn. 2.8 Abs. 9 Satz 2 UStAE. 23 Vgl. Abschn. 2.8 Abs. 9 Satz 2 UStAE. 24 Vgl. Kirch in Stotax eKomm UStG, § 2 Rz. 142. 25 Vgl. Stadie in Rau/Dürwächter, UStG, § 2 Rz. 893. 26 Vgl. Abschn. 2.8 Abs. 8 Satz 5 UStAE.

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fugnis abhängen. Bei Gesamtgeschäftsführungsbefugnis ist in diesen Fällen wieder auf die Stimmenmehrheit abzustellen. Bei Stimmenminderheit der personenidentischen Geschäftsführer müssen weitere Maßnahmen sicherstellen, dass eine Geschäftsführung bei der Organgesellschaft gegen den Willen des Organträgers nicht möglich ist.27 3. Wirtschaftliche Eingliederung Wohl am unproblematischsten ist die Erfüllung der wirtschaftlichen Eingliederung. Diese liegt vor, wenn zwischen Organträger und Organgesellschaften ein wirtschaftlicher Zusammenhang im Sinne einer wirtschaftlichen Einheit oder Kooperation gegeben ist. Sie müssen sich wirtschaftlich fördern und ergänzen.28 Sofern die finan­ zielle und organisatorische Eingliederungen deutlich ausgeprägt sind, ist es darüber hinaus unschädlich, wenn die wirtschaftliche Eingliederung weniger stark ausgeprägt ist. Es reicht dann, wenn zwischen den Beteiligten mehr als nur unerhebliche Beziehungen bestehen. Insbesondere bedarf es keiner wirtschaftlichen Abhängigkeit der Organgesellschaft vom Organträger.29 4. Organträger Größeres Streitpotenzial bietet die Frage, wer überhaupt Organträger sein kann. Nach deutschem Recht kann jeder Unternehmer Organträger sein.30 Es reicht in diesem Zusammenhang aus, wenn die entgeltlichen Leistungen, die die Unternehmereigenschaft begründen, an eine Organgesellschaft erbracht werden.31 In der Literatur ist die Beschränkung auf Unternehmer umstritten. Es wird beanstandet, dass die Beschränkung nicht mit Art. 11 MwStSystRL vereinbar sei. Unter Berufung auf die Rechtsprechung des EuGH wird angeführt, dass auch Nichtunternehmer in den Organkreis einbezogen werden müssten.32 Zwar stünde den Mitgliedstaaten ein Wahlrecht zu, Art. 11 MwStSystRL in nationales Recht umzusetzen. Dieses beziehe sich aber nur auf das „Ob“ und nicht auf das „Wie“ der Regelung. Die Einschränkung, als Organträger nur Unternehmer zuzulassen, sei mithin von Art.  11 Abs.  1 MwStSystRL nicht gedeckt.33 Nach nationaler Verwaltungsauffassung ist Deutschland nicht verpflichtet, Nichtunternehmer in eine Mehrwertsteuergruppe einzubeziehen. Die Verwaltung führt begründend an, dass sie den Ausschluss von Nichtunternehmern auf Art.  11 Abs.  2 MwStSystRL stützt. Danach darf ein Mitgliedstaat erforderliche Maßnahmen treffen, um Steuerhinterziehung oder -umgehung vorzubeugen. Die Beschränkung auf Unternehmer verhindere ihrer Auffassung nach, dass der Vorsteuerabzug entgegen den 27 Vgl. Abschn. 2.8 Abs. 8 Sätze 6 ff. UStAE. 28 Vgl. BFH, Urt. v. 17.4.1969 – V R 123/68, Rz. 11, BStBl. II 1969, 505. 29 Vgl. BFH, Urt. v. 29.10.2008 – XI R 74/07, Rz. 19, BStBl. II 2009. 30 Abschn. 2.8 Abs. 2 Satz 1 UStAE. 31 Abschn. 2.8 Abs. 2 Satz 3 UStAE. 32 Vgl. Küffner/Streit, UR 2013, 401 (403) mit Verweis auf EuGH, Urt. v. 9.4.2013 – C-85/11. 33 Vgl. Küffner/Streit, UR 2013, 401 (403).

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Bestimmungen des § 15 UStG auf bezogene Leistungen von Nichtunternehmern missbräuchlich ausgeweitet werde.34 Dieses Argument erscheint zwar zunächst schlüssig. Allerdings wird es durch die europäische Rechtsprechung entkräftet: So stellt der EuGH in einem Urteil fest, dass die Einbeziehung von Nichtunternehmern gerade keinen Missbrauchs- oder Steuerumgehungstatbestand darstellt.35 Der BFH hält sich in seiner Rechtsprechung an den nationalen Gesetzeswortlaut. Dieser spricht von einer Eingliederung „in das Unternehmen“ des Organträgers. Er lehnt mithin eine vom Wortlaut abweichende richtlinienkonforme Auslegung an dieser Stelle ab.36 Die nationale Umsetzung ist im Ergebnis zumindest diskussionswürdig. Ganz gleich, welche Auffassung hier zu präferieren ist, zeigt sich doch eins: Bereits bei Grundsatzfragen zur Organschaft herrscht Uneinigkeit. 5. Organgesellschaft Die Voraussetzungen, die eine Organgesellschaft erfüllen muss, sind seit längerem Streitpunkt in Rechtsprechung und Literatur. Nach nationalem Recht können gem. § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG nur juristische Personen Organgesellschaften sein. Zudem müssen sie die Unternehmervoraussetzung erfüllen, da die Organschaftsregelung nur solche juristische Personen erfasst, die eine gewerbliche oder berufliche Tätigkeit ausüben beziehungsweise vorbereiten.37 Dass nur juristische Personen Organgesellschaften sein können, geht aus der Entstehungsgeschichte hervor: Die Organschaftsrechtsprechung des Reichsfinanzhofs hatte ursprünglich ausschließlich Kapitalgesellschaften im Blick.38 Ob im Lichte der MwStSystRL auch Personengesellschaften als Organgesellschaften fungieren können müssen, ist umstritten. a) Personengesellschaften als Organgesellschaften? Dem Wortlaut der nationalen Vorschrift nach, kommen Personengesellschaften bzw. Personenhandelsgesellschaften als Organgesellschaften nicht in Betracht. Ihnen fehlt eine eigene Rechtspersönlichkeit.39 Art. 11 MwStSystRL spricht hingegen von „ansässige[n] Personen“. Eine Einschränkung hinsichtlich der Rechtsform existiert nicht. Nach der EuGH-Rechtsprechung darf Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der 6. EG-RL (heute Art. 11 MwStSystRL) nicht so aus34 Vgl. BMF-Schreiben v. 5.5.2014  – IV D 2-S 7105/11/10001, IV D 2-S 7105/13/10003, ­BStBl. I 2014, 820. 35 Vgl. Küffner/Streit, UR 2013, 401 (403) mit Verweis auf EuGH, Urt. v. 9.4.2013 – C-85/11, Rz. 48; ebenso Slapio, UR 2013, 407 (409). 36 Vgl. BFH, Urt. v. 10.8.2016 – XI R 41/14, Rz. 30, BStBl. II 2017, 590. 37 Vgl. Stadie in Rau/Dürwächter, UStG, § 2 Rz. 844 mit Verweis auf BFH, Urt. v. 17.1.2002 – V R 37/00, Rz. 29, BStBl. II 1999, 146. 38 Vgl. Stadie in Rau/Dürwächter, UStG, § 2 Rz. 838 m.w.N. 39 Vgl. Wäger, UR 2016, 173 (177).

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gelegt werden, dass nur juristische Personen eine Gruppe bilden können, die als ein Mehrwertsteuerpflichtiger behandelt werden kann. Ausnahmen seien nur möglich, wenn dies notwendig sei, um missbräuchliche Praktiken oder Verhaltensweisen zu vermeiden oder um Steuerhinterziehung oder -umgehung zu bekämpfen. Dies müsse aber durch nationale Gerichte geprüft werden.40 Zur Bestimmung der Beherrschungsverhältnisse ist allerdings auf Basis der gesellschaftsrechtlichen Vorgaben zwischen Personen- und Kapitalgesellschaften zu unterscheiden. Für Personengesellschaften gilt die Selbstorganschaft, wonach grundsätzlich ein Gesellschafter geschäftsführendes Organ ist. Zudem gilt grundsätzlich das Einstimmigkeitsprinzip gem. § 709 Abs. 1 BGB, § 114 Abs. 1, § 119 Abs. 1 HGB. Bei Kapitalgesellschaften hingegen besteht Fremdorganschaft (§ 35 Abs. 1 GmbHG, § 76 AktG); d. h. Geschäftsführung und gesetzliche Vertretung obliegen einem Dritten (Nichtgesellschafter). Ferner gilt das Mehrheitsprinzip (§ 47 Abs. 1 GmbHG, § 133 Abs.  1 AktG), wonach Beschlussfassungen mit der Mehrheit der Stimmen gefasst werden. Personengesellschaften sind daher grundsätzlich nicht in gleichem Maße beherrschbar wie Kapitalgesellschaften. Daraus ergibt sich, dass sich Personengesellschaften weniger für eine finanzielle und organisatorische Eingliederung in einen Organträger eignen.41 Eine abweichende Beurteilung kann sich jedoch ergeben, wenn man kapitalistisch strukturierte Personengesellschaften betrachtet. b) Die GmbH & Co. KG als Organgesellschaft? Eine GmbH & Co. KG kann dem Willen eines anderen Rechtsträgers unterworfen sein. Hier führt eine juristische Person, nämlich die GmbH als Komplementärin, die Geschäfte.42 Die höchstrichterliche BFH-Rechtsprechung erlaubt, eine kapitalistisch strukturierte Personengesellschaft als Organgesellschaft zu behandeln. Die beiden Umsatzsteuersenate, die hierüber zu entscheiden hatten, kommen allerdings mit unterschiedlichen Begründungen zu diesem Ergebnis.43 Der 5. Senat des BFH hatte zu entscheiden, ob zwischen einer Muttergesellschaft und ihren Tochterpersonengesellschaften, an die sie grundsätzlich steuerbare und steuerpflichtige Leistungen erbracht hat, eine Organschaft vorliegt. Die Tochterpersonengesellschaften betrieben steuerfrei Altenheime und waren nicht zum Vorsteuerabzug berechtigt. Der BFH führte aus, dass eine Personengesellschaft ausnahmsweise auf der Grundlage einer teleologischen Erweiterung von § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG wie eine juristische Person als eingegliedert angesehen werden könne.44 Allerdings müsse die finanzielle 40 Vgl. EuGH, Urt. v. 16.7.2015 – C-108/14 und C-109/14, Rz. 46, BStBl. II 2017, 604. 41 Vgl. Stadie in Rau/Dürwächter, UStG, § 2 Rz. 847; Heuermann, DB 2016, 613. 42 Vgl. Meurer, StBW 2015, 625 (626). 43 Vgl. Stadie in Rau/Dürwächter, UStG, § 2 Rz. 852. 44 Vgl. BFH, Urt. v. 2.12.2015 – V R 25/13, BStBl. II 2017, 547.

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Eingliederung gewährleistet sein. Das soll nach Ansicht des entscheidenden Senats dann der Fall sein, wenn an einer Personengesellschaft neben dem Organträger nur Personen beteiligt sind, die nach § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG in das Unternehmen des Or­ ganträgers finanziell eingegliedert sind. Hintergrund sei, dass so die erforderliche Durchgriffsmöglichkeit auch unter Beachtung des Einstimmigkeitsprinzips gewährleistet sei.45 Die Finanzverwaltung hat sich mittlerweile dieser Auffassung angeschlossen.46 Der 11. Senat des BFH entschied den Streitfall hinsichtlich des Bestehens eines Organschaftsverhältnisses für eine Holding, die an ihre Tochterpersonengesellschaften in der Rechtsform der GmbH & Co. KG entgeltliche administrative und kaufmännische Dienstleistungen erbrachte.47 Er entschied, dass das Tatbestandsmerkmal „juristische Person“ richtlinienkonform ausgelegt werden könne, so dass es jedenfalls eine GmbH & Co. KG umfasse.48 Zwar sei die GmbH & Co. KG eine Personengesellschaft, habe aber eine kapitalistische Struktur. Da bei ihr lediglich eine GmbH, also eine juristische Person, als Komplementärin die Geschäfte führe, könne sie wie eine juristische Person unselbstständig dem Willen eines anderen Rechtsträgers (nämlich dem des Organträgers) unterworfen sein.49 Im Ergebnis sieht der 5. Senat eine Regelungslücke, die durch teleologische Auslegung zu schließen ist, indem Personengesellschaften dann einbezogen werden können, sofern sie weitere Voraussetzungen erfüllen. Dem 11. Senat reicht es hingegen, alleine auf die Rechtsform der GmbH & Co. KG abzustellen, um die Einbeziehung als Organgesellschaft zu begründen. Er sieht in dieser Rechtsform stets eine juristische Person im Sinne des § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG. Er lässt in seiner Entscheidung offen, ob er der Auffassung des 5. Senats folgt, dass das Unionsrecht eine hinreichende Grundlage dafür schafft, dass im nationalen Recht eine Eingliederung mit Durchgriffsrechten gefordert werden kann.50 c) Fazit Dass eine GmbH & Co. KG Organgesellschaft sein kann, ist nunmehr geklärt. Übrige Personengesellschaften können nach nationalem Verständnis weiterhin nicht als Organgesellschaft dienen. Jedoch steht jegliche Beschränkung der Rechtsform im Widerspruch zu dem Wortlaut des Art. 11 MwStSystRL, der von „Personen“ spricht.51 Die Argumentation des 5. Senats spricht dafür, dass auch weitere Personengesellschaften grundsätzlich Organgesellschaften in einem umsatzsteuerlichen Organkreis sein können. Für eine rechtssichere Weiterentwicklung der Organschaftsregelung empfiehlt sich eine gesetzgeberische Präzisierung. 45 Vgl. BFH, Urt. v. 2.12.2015 – V R 25/13, Rz. 36, BStBl. II 2017, 547. 46 Vgl. Abschn. 2.8 Abs. 5a UStAE. 47 Vgl. BFH, Urt. v. 19.1.2016 – XI R 38/12, BStBl. II 2017, 567. 48 Vgl. BFH, Urt. v. 19.1.2016 – XI R 38/12, Rz. 82, BStBl. II 2017, 567. 49 Vgl. BFH, Urt. v. 19.1.2016 – XI R 38/12, Rz. 90, BStBl. II 2017, 567. 50 Vgl. BFH, Urt. v. 19.1.2016 – XI R 38/12, Rz. 104, BStBl. II 2017, 567. 51 Vgl. von Streit, UStB 2013, 295 (299).

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III. Weitere ausgewählte Problemkreise Bis heute unverändert ist, dass die Wirkung der umsatzsteuerlichen Organschaft automatisch eintritt, sobald die Tatbestandsvoraussetzungen erfüllt sind. Eine gesonderte Feststellung hierüber existiert nicht. Für die Praxis wird dieser Umstand insbesondere dann problematisch, wenn das Vorliegen einer Organschaft nicht erkannt wird. Anhand von zwei ausgewählten Pro­ blemkreisen wird im Folgenden weiteres Konfliktpotenzial in der Praxis verdeutlicht. 1. Eingliederung einer ausländischen Niederlassung in eine Mehrwertsteuergruppe? Auch grenzüberschreitende Sachverhalte im Zusammenhang mit der Organschaft bergen Rechtsunsicherheiten. a) Beschränkung der Organschaft auf das Inland Der nationale Gesetzeswortlaut beschränkt gem. § 2 Abs. 2 Nr. 2 Satz 2 UStG die Wirkung der Organschaft auf Innenleistungen zwischen im Inland gelegenen Unternehmensteilen. Diese Unternehmensteile sind gem. § 2 Abs. 2 Nr. 2 Satz 3 UStG als ein Unternehmen zu behandeln. § 2 Abs. 2 Nr. 2 Satz 4 UStG regelt den Fall, in dem der Organträger im Ausland seine Geschäftsleitung hat. In diesem Fall gilt der wirtschaftlich bedeutendste Unternehmensteil im Inland als der Unternehmer. Die Sätze 2 bis 4 wurden dem § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG zum 01.01.1987 angefügt und beseitigten die zuvor mögliche grenzüberschreitende Organschaft.52 Damit reagierte man auf das seitens der EG-Kommission eingeleitete Vertragsverletzungsverfahren. Nach Ansicht der EG-Kommission war die bisherige Regelung nicht mit Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der 6. EG-RL (jetzt Art. 11 MwStSystRL) vereinbar.53 b) Wirkung der Organschaft auf den Unternehmensbegriff Von der Organschaft zu unterscheiden ist die Bestimmung des Unternehmens i.S.d. § 2 Abs. 1 Satz 2 UStG. Demnach umfasst das Unternehmen die gesamte gewerbliche oder berufliche Tätigkeit des Unternehmens. Die Regelung der Organschaft ändert an dieser Bestimmung nichts.54 Die Organschaftsregelung beschränkt nur die Wirkung der Organschaft. Im Ausland gelegene Unternehmensteile sind demnach weiterhin unselbstständige Teile des Organträgers bzw. der Organgesellschaft, der sie zivilrechtlich zuzurechnen sind.55 Dies wirkt sich beispielsweise wie folgt aus: Führt eine Organgesellschaft an ihre ausländische Niederlassung Leistungen aus, so stellen diese 52 Vgl. Steuerbereinigungsgesetz 1968, BGBl I 1985, 2436 (2454). 53 Vgl. Stadie in Rau/Dürwächter, UStG, § 2 Rz. 785 m.w.N. 54 Vgl. Abschn. 2.9 Abs. 2 Satz 1 UStAE. 55 Vgl. Stadie in Rau/Dürwächter, UStG, § 2 Rz. 1062.

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Leistungen innerhalb des Unternehmens der Organgesellschaft dar. Es handelt sich um nicht steuerbare innerunternehmerische Vorgänge nach § 2 Abs. 1 Satz 2 UStG.56 Die EU-Kommission und der EuGH teilen diesen Ansatz indes nicht. c) Auffassung der EU-Kommission Die EU-Kommission vertritt die Auffassung, dass ein Steuerpflichtiger, der in eine MwSt-Gruppe eintritt, Teil eines neuen Steuerpflichtigen wird, nämlich der MwSt-­ Gruppe. Er koppele sich somit von eventuell existierenden festen Niederlassungen im Ausland ab. Dienstleistungen, die der Steuerpflichtige (MwSt-Gruppe) an seine feste Niederlassung im Ausland erbringt, würden dann als Leistungen zwischen zwei getrennten Steuerpflichtigen zu betrachten sein.57 d) Auffassung des EuGH In der Rechtssache FCE-Bank entschied der EuGH, dass eine feste Niederlassung in einem anderen Mitgliedstaat kein eigenständiges Rechtssubjekt sei.58 In dieser Rechtssache ging es aber nicht um die Beurteilung einer MwSt-Gruppe. In der Rechtssache Skandia America schränkt der EuGH den Grundsatz des einheitlichen Unternehmens über die Grenze hinaus ein.59 Nach dieser Entscheidung soll die Leistung eines amerikanischen Stammhauses an seine schwedische Zweigniederlassung, die zu einer MwSt-Gruppe gehört, einen steuerbaren Umsatz darstellen. Die Zweigniederlassung ist nach Auffassung des EuGH durch den Beitritt in die MwSt-Gruppe nicht mehr Teil des Unternehmens des Stammhauses. Entsprechend erbringt das Stammhaus eine steuerpflichtige Leistung. Die Mehrwertsteuer schuldete im Streitfall die schwedische MwSt-Gruppe im Wege des Reverse-Charge-Verfahrens.60 e) Bewertung Art. 11 MwStSystRL regelt lediglich, dass jeder Mitgliedstaat „ansässige Personen […] zusammen als einen Steuerpflichtigen behandeln“ kann. Diese Regelung gibt keinen Anhaltspunkt dafür, dass die Organschaft zur Abkoppelung unselbstständiger Unternehmensteile und zur Begründung neuer Rechtssubjekte führen könnte.61 Systematisch betrachtet kann nur ein eigenständiges Rechtssubjekt eine Organgesellschaft sein. Ein unselbstständiger Unternehmensteil kann im Grundsatz schließlich weder finanziell noch organisatorisch im erforderlichen Maße in einen Organträger eingegliedert sein. Nur wenn die Hauptniederlassung Organgesellschaft im Or56 Vgl. Abschn. 2.9 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. Abs. 6 Satz 2 UStAE. 57 Vgl. Mitteilung der EU-Kommission an das EU-Parlament und den Rat v. 2.7.2009, KOM (2009) 325, Rz. 3.3.2.2. 58 Vgl. EuGH, Urt. v. 23.3.2006 – C-210/04, Rz. 41. 59 Vgl. EuGH, Urt. v. 17.9.2014 – C-7/13. 60 Vgl. EuGH, Urt. v. 17.9.2014 – C-7/13, Rz. 32, 34, 37. 61 Vgl. ebenso Stadie in Rau/Dürwächter, UStG, § 2 Rz. 1062.1.

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gankreis ist, würde dieser auch den unselbständigen Unternehmensteil umfassen. Eine von der zivilrechtlich gewählten Gestaltung abweichende umsatzsteuerliche Leistungszurechnung ist indes nicht rechtsfolgenkonsequent.62 Vielmehr führt diese Sichtweise im Ergebnis zu Abgrenzungsproblemen.63 Neben dem systematischen Bruch ist auch die ergangene EuGH-Rechtsprechung misslich. Die Aussage des EuGH in der Rechtssache FCE-Bank, dass eine feste Niederlassung in einem anderen Mitgliedstaat kein eigenes Rechtssubjekt begründet, ist eindeutig.64 Die spätere EuGH‑Entscheidung in der Rechtssache Skandia America steht diesem Grundsatz entgegen. Das Gebot der Folgerichtigkeit wird nicht konsequent umgesetzt. f) Fazit Die deutsche Finanzverwaltung hält an dem Grundsatz der Unternehmenseinheit fest. Eine Spaltung unselbständiger Unternehmensteile sieht sie daher nicht vor. ­Dennoch führt die Abweichung der EuGH-Rechtsprechung von der nationalen Sichtweise für Betroffene mit grenzüberschreitenden Konzerngesellschaften und Betriebsstätten zu untragbaren Unsicherheiten. Insbesondere vor dem Hintergrund des Automatismus der nationalen Organschaftsregelung kann dieser Zustand weder gewünscht noch weiter geduldet werden. Empfehlenswert ist eine europaweite Lösung. Diese könnte durch eine klarstellende Präzisierung des Art. 11 MwStSystRL erreicht werden. 2. Beendigung von Organschaften in der Insolvenz Die Organschaft endet, sofern die Voraussetzungen nicht mehr vorliegen. Das ist beispielsweise dann der Fall, wenn die finanzielle, wirtschaftliche oder organisatorische Eingliederung der Organgesellschaft in den Organträger entfällt. Die Insolvenz einer am Organkreis beteiligten Gesellschaft hat ebenfalls Auswirkungen auf das Bestehen des Organschaftsverhältnisses. In diesem Zusammenhang haben sich insbesondere Neuerungen durch eine jüngst geänderte BFH-Rechtsprechung ergeben, die es zu beachten gilt. a) Eröffnung von Insolvenzverfahren im Organkreis Die Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen der Organgesellschaft beendet die Organschaft. Diese Ansicht wird bislang bereits allgemein vertreten.65 Wird das Insolvenzverfahren eröffnet, geht das Recht des Schuldners, das zur Insolvenzmasse gehörende Vermögen zu verwalten und über es zu verfügen, auf den Insolvenz­

62 Vgl. Nieskens, BB 2015, 1303 (1306). 63 Vgl. Nieskens, BB 2015, 1303 (1307). 64 Vgl. EuGH, Urt. v. 23.3.2006 – C-210/04, Rz. 41. 65 Vgl. Wagner/Marchal, DStR 2017, 2150 (2154) m.w.N.

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verwalter über.66 In diesem Fall kann die Organträgerin die Beherrschung der laufenden Geschäftsführung der Organgesellschaft nicht aufrechterhalten. Damit liegt keine organisatorische Eingliederung mehr vor.67 Systematisch nicht ganz nachvollziehbar ist in diesem Zusammenhang die jüngere Rechtsprechung des BFH. Danach entfällt mit der Insolvenzeröffnung bei der Organgesellschaft die finanzielle Eingliederung.68 Die Organträgerin kann aber ihren Willen durch Mehrheitsbeschluss in der Gesellschafterversammlung durchaus trotz Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen der Tochtergesellschaft durchsetzen.69 Ob die Organschaft mangels finanzieller oder organisatorischer Eingliederung entfällt, ist allerdings im Ergebnis nicht entscheidend. Ende 2016 entschied der BFH entgegen seiner bisherigen Sichtweise,70 dass auch die Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen des Organträgers zur Beendigung der Organschaft führt.71 Vereinfacht gesagt, stellt der BFH darauf ab, dass das Insolvenzrecht strikt zwischen einzelnen Rechtsträgern trennt. Da es eine Zusammenfassung mehrerer Rechtsträger, wie die umsatzsteuerliche Organschaft, nicht kenne, müsse die Organschaft bei Insolvenz eines am Organkreis Beteiligten enden.72 Das Stützen dieser Auffassung auf den insolvenzrechtlichen Einzelverfahrensgrundsatz ist in der Literatur zwar umstritten.73 Die Verwaltung hat sich der Auffassung der Rechtsprechung jedoch angeschlossen.74 Die neue Rechtsprechung sowie die zumindest diskussionswürdige Begründung müssen in der Praxis berücksichtigt werden. b) Vorläufiges Insolvenzverfahren Mit dem Einreichen eines Insolvenzantrags beginnt zunächst, bis das Insolvenzverfahren tatsächlich eröffnet wird, das vorläufige Insolvenzverfahren. Für dieses vor­ läufige Insolvenzverfahren kann das Gericht einen vorläufigen Insolvenzverwalter bestimmen.75 Hierbei ist zwischen einem starken und einem schwachen Insolvenzverwalter zu unterscheiden. Die Insolvenzordnung regelt die Rechtsstellung des vorläufigen starken Insolvenzverwalters:76 Die Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis über das Vermögen des Schuld66 § 80 Abs. 1 InsO. 67 Vgl. BFH, Urt. v. 13.3.1997 – V R 96/96, Rz. 15, BStBl. II 1997, 580. 68 Vgl. BFH, Urt. v. 15.12.2016 – V R 14/16, Rz. 28, BStBl. II 2017, 600. 69 Vgl. Wagner/Fuchs, BB 2017, 2202, (2205) m.w.N. 70 Vgl. Wagner/Marchal, DStR 2017, 2150 (2154) mit Verweis auf BFH, Urt. v. 28.1.1999 – V R 32/98, Rz. 27, BStBl. II 1999, 258. 71 Vgl. BFH, Urt. v. 15.12.2016 – V R 14/16, Rz. 13, BStBl. II 2017, 600. 72 Vgl. Vgl. Wagner/Fuchs, BB 2017, 2202 (2204) mit Verweis auf BFH, Urt. v. 15.12.2016 – V R 14/16, BStBl. II 2017, 600. 73 Vgl. ablehnend Wagner/Fuchs, BB 2017, 2202 (2204 f.); Wagner/Marchal, DStR 2017, 2150 (2154). 74 Vgl. Abschn. 2.8 Abs. 12 Satz 1 UStAE. 75 § 21 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 InsO. 76 § 22 Abs. 1 InsO.

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ners geht in diesen Fällen auf den vorläufigen (starken) Insolvenzverwalter über. Bei Einsetzen eines solchen starken vorläufigen Insolvenzverwalters endet die Organschaft.77 Ein vorläufiger Insolvenzverwalter kann auch bestellt werden, ohne dass dem Schuldner ein allgemeines Verfügungsverbot auferlegt wird. Für die Bestellung eines solchen (schwachen) Insolvenzverwalters regelt die Insolvenzordnung, dass das Gericht seine Pflichten und Aufgaben im Einzelnen festlegen muss und diese nicht über die eines starken vorläufigen Insolvenzverwalters hinausgehen dürfen.78 Der höchstrichterlichen Rechtsprechung folgend, führt die Bestellung eines vorläufigen schwachen Insolvenzverwalters dann zum Ende der Organschaft, wenn ihm das Insolvenzgericht einen Zustimmungsvorbehalt eingeräumt hat.79 Die Verfügungen des Schuldners sind in diesem Fall nur mit Zustimmung des vorläufigen Verwalters wirksam. Die Finanzverwaltung hat diese Auffassung übernommen. Sie wendet sie über den entschiedenen Fall auch bei Organträgern an. Voraussetzung ist in jedem Fall, dass der vorläufige Insolvenzverwalter einen solchen Einfluss auf den Schuldner erhält, dass die Beherrschung der Organgesellschaft durch den Organträger nicht mehr möglich ist.80 c) Eigenverwaltung Unter Verweis auf die fehlende finanzielle Eingliederung führt laut Rechtsprechung auch die Anordnung der Eigenverwaltung nach §§ 270 ff InsO zum Ende der Organschaft. Begründet wird dies damit, dass nach § 276a Satz 1 InsO der Aufsichtsrat, die Gesellschafterversammlung und entsprechend die Organe keinen Einfluss auf die Geschäftsführung der Organgesellschaft mehr hätten.81 Das Abstellen auf die fehlende finanzielle Eingliederung in diesen Fällen erachtet die Literatur als zweifelhaft, da die finanzielle Eingliederung sich bisher auf die Willensdurchsetzung in der Gesellschafterversammlung beschränkt hat. Hierauf habe aber die Anordnung der Eigenverwaltung keinen Einfluss.82 Ob die jüngere Rechtsprechung des BFH sich angesichts der Erwägungen aus der Literatur ändert, bleibt in der Praxis abzuwarten. In diesem Zusammenhang nicht entschieden wurde der Fall, ob die Organschaft auch im Fall der vorläufigen Eigenverwaltung endet. Dies scheint jedoch die Auffassung der Finanzverwaltung zu sein.83 Da die Anwendung des § 276a InsO im Verfah-

77 Vgl. BFH, Urt. v. 8.8.2013 – V R 18/13, Rz. 19, 27, BStBl. II 2017, 543. 78 § 22 Abs. 2 Sätze 1 und 2 InsO. 79 Vgl. BFH, Urt. v. 8.8.2013 – V R 18/13, Rz. 42, BStBl. II 2017, 543; BFH, Urt. v. 24.8.2016 – V R 36/15, Rz. 15, BStBl. II 2017, 595. 80 Vgl. Abschn. 2.8 Abs. 12 Satz 3 UStAE. 81 Vgl. BFH, Urt. v. 15.12.2016 – V R 14/16, Rz. 33, BStBl. II 2017, 600. 82 Vgl. Wagner/Fuchs, BB 2017, 2202 (2206.); Wagner/Marchal, DStR 2017, 2150 (2155). 83 Vgl. Abschn. 2.8 Abs. 12 Satz 5 UStAE.

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ren der vorläufigen Eigenverwaltung insolvenzrechtlich umstritten ist, könnte auch diese Frage künftig noch für Rechtsstreitigkeiten sorgen.84

IV. Verbesserungsvorschlag für mehr Transparenz und Rechtssicherheit Anhand der Ausführungen ist deutlich erkennbar, dass das Instrument der umsatzsteuerlichen Organschaft streitbehafteter kaum sein könnte. Noch schwerwiegender sind die Probleme, wenn Steuerpflichtige überraschend mit ihnen konfrontiert werden, da bisher beispielsweise nicht von einem Organschaftsverhältnis ausgegangen wurde. Durch die fehlende Wahlmöglichkeit, einen umsatzsteuerlichen Organkreis zu bilden beziehungsweise ihn zu beenden, können sich Steuerpflichtige in vielen Bereichen nicht vor Rechtsunsicherheiten schützen. Wird eine umsatzsteuerliche Organschaft nachträglich festgestellt, werden die Steuerfestsetzungen entsprechend geändert. Es entsteht ein hoher administrativer Aufwand für die Steuerpflichtigen, ihre Berater sowie die Finanzverwaltung. Darüber hinaus können sich gleichfalls Zinsbelastungen aus Steuernachzahlungen ergeben.85 Im drohenden Insolvenzfall kann eine bestehende Organschaft der Finanzverwaltung Rückgriffsmöglichkeiten auf die zahlungsfähigen Beteiligten im Organkreis bieten.86 Dem kann und sollte entgegengewirkt werden. Eine Möglichkeit wäre hier, die Verfahrensvorschriften für die Praxis handhabbar anzupassen. In Betracht käme insoweit die Implementierung eines Feststellungs- oder Antragsverfahrens. 1. Europarechtliche Zulässigkeit Rechtliche Grundlage für die nationale Umsetzung der Organschaftsregelung ist der heutige Art. 11 MwStSystRL. Nach Art. 11 Abs. 1 MwStSystRL kann jeder Mitgliedstaat in seinem Gebiet ansässige Personen, die zwar rechtlich unabhängig, aber durch gegenseitige finanzielle, wirtschaftliche und organisatorische Beziehung eng miteinander verbunden sind, zusammen als einen Steuerpflichtigen behandeln. Art.  11 Abs. 2 MwStSystRL berechtigt einen Mitgliedstaat, der von der Organschaftsregelung Gebrauch machen möchte, erforderliche Maßnahmen zu treffen, um Steuerhinterziehung oder -umgehung durch die Anwendung dieser Bestimmung vorzubeugen. Aus dem Wortlaut direkt lässt sich zunächst ableiten, dass jeder Mitgliedstaat entscheiden kann, ob er eine Organschaftsregelung einführt. Einen Automatismus für das Entstehen einer Organschaft bei Vorliegen der Voraussetzungen wird in Art. 11 MwStSystRL nicht normiert. Art. 11 Abs. 2 MwStSystRL erlaubt weitere Maßnahmen, sofern sie der Vermeidung von Steuerhinterziehung oder -umgehung dienen. Es ist jedoch fraglich, ob ein Auto84 Vgl. Wagner/Marchal, DStR 2017, 2150 (2155) m.w.N. 85 Vgl. Küffner/Luber, ifst-Schrift 507 (2015), 51. 86 Vgl. Jansen, BB 2016, 2263 (2270).

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matismus zur Begründung einer umsatzsteuerlichen Organschaft als Maßnahme in diesem Sinne qualifiziert werden kann. a) EuGH-Rechtsprechung Der EuGH scheint seiner Rechtsprechung nach bei der Regelung zur Organschaft davon auszugehen, dass Betroffene keineswegs im Wege des Automatismus einen umsatzsteuerlichen Organkreis bilden. Vielmehr ist zu lesen, dass er in Art. 11 MwStSystRL (bzw. Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der 6. EG-RL als Vorgängernorm) eine Rechtsvorschrift sieht, die es den betroffenen Personen „gestattet […] als ein Steuerpflichtiger behandelt zu werden“.87 Auch die Formulierung des EuGH „um in den Genuss dieser Regelung kommen zu können“ spricht dafür, dass er für die Betroffenen ein Wahlrecht vorsieht.88 Dem folgend ergibt sich, dass eine Zusammenfassung von mehreren Steuerpflichtigen im Rahmen der Organschaftsregelung nicht automatisch, sondern nur auf Antrag erfolgen sollte.89 b) BFH-Rechtsprechung Entgegen der Ansicht des EuGH geht der BFH in seiner Rechtsprechung davon aus, dass das Gemeinschaftsrecht „zweifelsfrei“ kein Wahlrecht vorsieht.90 Dem ist ein maßgeblicher Aspekt entgegenzuhalten: Art. 11 der MwStSystRL bezweckt die Verwaltungsvereinfachung beziehungsweise dient der Missbrauchsverhinderung.91 Die Folgen der Organschaft gehen jedoch über diese Ziele hinaus: Ein Organträger muss für die Umsatzsteuerverbindlichkeiten der Organgesellschafter einstehen. Diese zusätzliche Belastung für den Organträger fordert ein Wahlrecht, da sonst das Übermaßverbot verletzt wird.92 Zudem kann eine Verwaltungsvereinfachung nur angenommen werden, wenn die Beteiligten sich bewusst für die Organschaft entscheiden. Diese Gründe sprechen klar für ein Antragsverfahren.93 c) Organschaftsregelung in anderen Mitgliedstaaten Man kann durchaus unterschiedlicher Auffassung sein, ob die Rechtsfolgen des Art. 11 MwStSystRL automatisch eintreten sollten oder ob den Betroffenen ein Wahlrecht zur Nutzung eingeräumt werden müsste. In jedem Fall aber setzen einige Mitgliedstaaten die Regelung so um, dass sie ein Antragsverfahren oder eine Prüfung 87 Vgl. EuGH, Urt. v. 22.5.2008 – C-162/07, Rz. 23; EuGH, Urt. v. 16.7.2015 – C-108/14 und C-109/14, Rz. 36. 88 Vgl. EuGH, Urt. v. 22.5.2008 – C-162/07, Rz. 24. 89 Vgl. ebenso Stadie in Rau/Dürwächter, UStG, § 2 Rz. 806. 90 Vgl. BFH, Urt. v. 17.1.2002 – V R 37/00, Rz. 48, BStBl. II 2002, 373 (376). 91 Vgl. Begründung zum Richtlinienentwurf der Kommission zu Art. 4 Abs. 4 6.EG-RL, BTDrs. 7/913, 35. 92 Vgl. Stadie in Rau/Dürwächter, UStG, § 2 Rz. 910. 93 Vgl. Stadie in Rau/Dürwächter, UStG, § 2 Rz. 912.

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beziehungsweise Bestätigung oder Anerkennung durch die zuständige Finanzbehörde vorsehen. In Irland beispielsweise gilt die steuerliche Behandlung als eine Person nur auf Antrag. Der EuGH hat bei Rechtsstreitigkeiten diese Vorschrift betreffend keine Ausführungen dazu getroffen, dass dieser Umstand gegen Art. 11 MwStSystRL verstoßen könnte.94 d) Fazit Vor dem europarechtlichen Hintergrund spricht einiges dafür, keinen Automatismus der Regelung vorzusehen. 2. Mögliche Verfahrensregelungen in Deutschland Bei der gebotenen Reform der umsatzsteuerlichen Organschaft sind verfahrensrechtlich verschiedene Möglichkeiten denkbar, die zur Steigerung der Rechtssicherheit in Organschaftsfällen beitragen können. a) Feststellungsverfahren Eine Möglichkeit besteht darin, ein Feststellungsverfahren in Fällen der umsatzsteuerlichen Organschaft einzuführen. Ein entsprechender Grundlagenbescheid könnte dann das Bestehen der Organschaft bestätigen.95 aa) Mögliche Ausgestaltung Bereits bei der körperschaftsteuerlichen Organschaft wurde mit dem Gesetz zur Änderung und Vereinfachung der Unternehmensbesteuerung und des steuerlichen Reisekostenrechts ein Feststellungsverfahren eingeführt.96 Ausweislich der Gesetzesbegründung erfolgte dies im Interesse der Verfahrensökonomie, der Rechtssicherheit und einer gleichmäßigen Besteuerung. Die Feststellung des dem Organträger zuzurechnenden Einkommens der Organgesellschaft und damit zusammenhängender anderer Besteuerungsgrundlagen soll, der Begründung folgend, gleichzeitig die grundlegende Feststellung darüber beinhalten, dass eine steuerlich anzuerkennende Organschaft vorliegt. Denn nur in diesem Fall sei die Rechtsgrundlage für eine Einkommenszurechnung gegeben.97 Die Erklärung zu den einheitlichen und gesonderten Feststellungen (Feststellungserklärung) soll gem. § 14 Abs. 5 Satz 5 KStG in jedem Veranlagungszeitraum zusammen mit der Körperschaftsteuererklärung abgegeben werden. Der Feststellungsbescheid entfaltet als Grundlagenbescheid gem. § 14 Abs. 5 Satz 2 KStG Bindungswirkung für 94 Vgl. EuGH, Urt. v. 9.4.2013 – C-85/11, Rz. 8 ff. 95 Vgl. Wäger, UVR 2013, 205 (211); Rauch, UR 2017, 885 (892). 96 Vgl. Gesetz zur Änderung und Vereinfachung der Unternehmensbesteuerung und des steuerlichen Reisekostenrechts, BGBl. I 2013, 285. 97 Vgl. BT-Drs. 17/10774, 20.

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die Veranlagung bei Organträger und Organgesellschaft. Die Bindungswirkung des Bescheids beschränkt sich dabei auf den jeweiligen Veranlagungszeitraum, für den er ergangen ist. Für Zwecke der umsatzsteuerlichen Organschaft könnte sich an den Regelungen des körperschaftsteuerlichen Feststellungsverfahrens orientiert werden. Ein Feststellungsverfahren könnte dann grundsätzlich sowohl seitens der Finanzverwaltung als auch durch die Betroffenen eingeleitet werden. Auch Literaturstimmen befürworten zur Verbesserung der Rechtssicherheit die Einführung eines Feststellungsverfahrens.98 bb) Beurteilung Zwar gäbe es bei Einführung eines Feststellungsverfahrens weniger Streitpunkte hinsichtlich des Vorliegens einer Organschaft. Insbesondere in Fällen der bisher unerkannten Organschaft könnte ein Feststellungsverfahren von Amts wegen für kommende Veranlagungszeiträume Klarheit schaffen. Allerdings stünde den Beteiligten keine Wahlmöglichkeit zur Verfügung. Der Steuerpflichtige könnte nicht selbst bestimmen, ob er von der Zusammenfassung mehrerer zu einem Steuerpflichtigen Gebrauch machen will. Auch könnte er den Umfang der Beteiligten eines möglichen Organkreises nicht selbst bestimmen.99 Folgt man der Ansicht des EuGH, der in der umsatzsteuerlichen Organschaft ein steuerliches Instrument sieht, von dem der Steuerpflichtige Gebrauch machen darf, also ein Wahlrecht vorsieht, dürfte ein Feststellungsverfahren nicht die optimale Wahl sein. Dadurch, dass das Feststellungsverfahren auch ohne Zutun des Steuerpflichtigen durchgeführt werden kann, wird der Einführung eines Wahlrechts für die Betroffenen nicht entsprochen. Hinzukommt, dass mit der jährlichen Erstellung und Prüfung der Feststellungserklärung ein erhöhter administrativer Aufwand verbunden wäre.100 Dieser konterkariert den Zweck der Organschaftsregelung  – nämlich die Verfahrensvereinfachung und den Abbau administrativer Zusatzbelastungen. b) Antragsverfahren Alternativ könnte verfahrensrechtlich auch die Implementierung eines Antragsverfahrens gewählt werden.101

98 Vgl. Heuermann, DB 2016, 608 (612); Wäger, UR 2016, 173 (179  f.); Höink, DB 2017, Nr. 38, M4 (M5). 99 Vgl. Küffner/Luber, ifst-Schrift 507 (2015), 83. 100 Vgl. Küffner/Luber, ifst-Schrift 507 (2015), 85. 101 Vgl. Jansen, BB 2016, 2263 (2272).

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aa) Mögliche Ausgestaltung Antragsberechtigt sollte grundsätzlich der Organträger sein. Im Zweifelsfall sollte die Zustimmung der Organgesellschaften vorgehalten werden können. Dies dürfte aufgrund der finanziellen und organisatorischen Eingliederung der Organgesellschaften kein Problem darstellen. Idealerweise wird ein Antragsverfahren möglichst bürokratiearm abgewickelt. Dieses Ziel könnte zunächst mit der Zurverfügungstellung eines standardisierten Antragsformulars realisiert werden.102 In diesem sollten Angaben zur wirtschaftlichen, organisatorischen und finanziellen Eingliederung getroffen werden. Der Antrag sollte dann, soweit notwendig, um entsprechende Nachweise ergänzt werden. Das könnte beispielsweise bei Stimmrechtsvereinbarungen, sofern sie für den Nachweis der finanziellen Eingliederung relevant sind, notwendig sein. Die Wirkung der Organschaft würde mit Genehmigung des Antrags (Verwaltungsakt) seitens der Finanzverwaltung eintreten.103 Für einen planbaren Unternehmensablauf sollte an dieser Stelle der Finanzverwaltung eine angemessene Frist zur Bearbeitung gesetzlich vorgegeben werden. Die Organschaft sollte bei gleichbleibenden Rahmenbedingungen erst dann beendet sein, wenn dies ausdrücklich seitens des Organträgers erklärt wird. Sollte das Finanzamt zu der Erkenntnis kommen, die getroffene Feststellung war falsch, sollte ihr das Recht des Widerrufs für die Zukunft zustehen.104 Sollten die wirtschaftliche, finanzielle oder organisatorische Eingliederung entfallen, würde die Organschaft schon bereits kraft Gesetzes entfallen. Eine eventuelle Feststellung des Finanzamts hätte dann lediglich deklaratorische Wirkung. bb) Beurteilung Die Ausgestaltung mittels Antragsverfahrens gewährleistet zum einen ein hohes Maß an Rechtssicherheit. Übrig bliebe zwar die Gefahr für die Betroffenen, dass der Wegfall einer Eingliederungsvoraussetzung die Organschaft „unerkannt“ beendigt. Da die Beteiligten sich für die Antragstellung entschieden haben, haben sie jedoch selbst ein großes Interesse daran, die notwendigen Voraussetzungen zu überwachen. Das Risiko ist demnach besser kontrollierbar als das einer unerkannten Begründung eines Organschaftsverhältnisses. Zum anderen berücksichtigt ein Antragsverfahren die Wahlmöglichkeiten der Beteiligten in größtmöglichem Maße. Es würde den Betroffenen gestatten, selbst zu entscheiden, ob und in welchem Umfang die Zusammenfassung zu einem Organkreis

102 Vgl. Küffner/Luber, ifst-Schrift 507 (2015), 64. 103 Vgl. Küffner/Luber, ifst-Schrift 507 (2015), 65. 104 Vgl. Küffner/Luber, ifst-Schrift 507 (2015), 65.

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gewünscht ist.105 Auch bestünde die Möglichkeit, eine beantragte Organschaft für die Zukunft zu widerrufen. Es entstünde zunächst nur ein einmaliger Verwaltungsmehraufwand. Es ist durchaus denkbar, die Antragstellung auf Organschaft an eine bestimmte Mindestlaufzeit zu knüpfen,106 um die Administrierbarkeit des Instruments für die Finanzverwaltung zu gewährleisten. Zur besseren Beobachtung der materiell-rechtlichen Voraussetzungen könnte im Rahmen der Umsatzsteuervoranmeldung abgefragt werden, ob sich hinsichtlich der wirtschaftlichen, organisatorischen oder finanziellen Eingliederung Änderungen ergeben haben. Wie man sieht, wird im Antragsverfahren im Vergleich zum Feststellungsverfahren dem Grundgedanken der EuGH-Rechtsprechung stärker entsprochen. Da es zusätzlich mit weniger administrativen Belastungen sowohl für den Steuerpflichtigen und seinen Berater als auch die Finanzverwaltung verbunden ist, ist das Antragsverfahren vorzugswürdig.107 c) Weitere Möglichkeiten Eine gänzlich abweichende, aber durchaus mögliche Option wäre auch die Streichung der nationalen Regelung des § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG. Wie bereits ausgeführt, räumt Art. 11 MwStSystRL den Mitgliedstaaten ein Wahlrecht diesbezüglich ein. Das wäre sicherlich der radikalste Weg, bestehende Rechtsunsicherheiten für die Zukunft auszuräumen. Allerdings ist der einfachste sicher nicht immer der richtige Weg. Vielmehr sollte sich der Gesetzgeber der Herausforderung stellen, die Verfahrensregelungen zur Organschaft zu überarbeiten. Schließlich darf nicht vergessen werden, dass eine bestehende gelebte Organschaft für alle Beteiligten Vorteile bringt. Würde die Organschaft nun von der deutschen Bildfläche verschwinden und sämtliche Organgesellschaften als selbstständige Unternehmer handeln, würde die Zahl der zu veranlagenden Steuerpflichtigen in gleichem Maße steigen. Damit stiege auch der Aufwand für Steuerpflichtige, Berater und Finanzverwaltung.

V. Zusammenfassung Geleitet von dem Gedanken der Verwaltungsvereinfachung versinkt die Organschaft im Dickicht des Regelungsdschungels. Von der Mehrwertsteuersystemrichtlinie in vielen Fragen im Dunkeln gelassen, hangeln sich Betroffene an den spärlichen Anhaltspunkten, die die Gesetzgebung und Rechtsprechung bieten, entlang. Dieser Umstand schwächt die Akzeptanz des Instruments bei den Betroffenen. Zudem belasten 105 Vgl. Jansen, BB 2016, 2263 (2272). 106 Vgl. Jansen, BB 2016, 2263 (2272). 107 Vgl. ebenso Küffner/Luber, ifst-Schrift 507 (2015), 86.

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Rechtsstreitigkeiten, die hieraus erwachsen können, Steuerpflichtige, Berater, Verwaltung und Rechtsprechung. Bei gravierenden Streitfragen, etwa ob Organträger nur Unternehmer sein können oder unter welchen Voraussetzungen eine Personengesellschaft eine Organgesellschaft wird, muss Rechtssicherheit herrschen. Auch widerspruchsfreie Rechtsprechungen sind unter dem verfassungsrechtlich geschützten Recht auf Folgerichtigkeit dringend geboten. Der Umstand, dass eine umsatzsteuerliche Organschaft kraft Gesetzes bei Erfüllen der Tatbestandsvoraussetzungen eintritt, erfordert es umso mehr, dass Betroffene, die zur Verwaltungsvereinfachung gedachte Regelungen ohne extreme Zusatzbelastungen einfach nachvollziehen können. Diese Forderung wird noch verstärkt, wenn man bedenkt, dass auf diesem Weg Rechtsfolgen eintreten, die mehr sind als eine Vereinfachung. So darf nicht vergessen werden: Organträger müssen für Umsatzsteuerverbindlichkeiten der Organgesellschafter einstehen. Diese materiell-rechtliche Verpflichtung geht schlichtweg über eine Verwaltungsvereinfachung oder Missbrauchsverhinderung hinaus. Daher ist eine Reform der umsatzsteuerlichen Organschaft dringend geboten. Abhilfe ist möglich. Die Regelungen der MwStSystRL bieten ausreichend Spielraum, dem Automatismus der deutschen umsatzsteuerlichen Organschaft entgegenzutreten. Verfahrensrechtlich kommen insbesondere ein Feststellungs- oder Antragsverfahren in Betracht. Beide würden für deutlich mehr Rechtssicherheit sorgen. Unter Achtung der ergangenen EuGH-Rechtsprechung spricht vieles dafür, dem Steuerpflichtigen die Gestaltung der umsatzsteuerlichen Organschaft selbst zu überlassen. Demnach wäre dem Antragsverfahren klar ein Vorzug einzuräumen. Die Organschaftsreform sollte aber in jedem Fall nicht auf die lange Bank geschoben werden. Die Probleme drängen in der Praxis und je schneller hier ein vertretbare Lösung für die Beteiligten gefunden wird, desto besser.

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2018 auch Übergangsjubiläen: 50 Jahre Mehrdeutschigkeiten und 25 Jahre legistische Bewusstseinsspaltung im UStG Inhaltsübersicht I. Einführung II. Steuersubjekt und seine Tatbestandsmerkmale 1. Einrichtung des öffentlichen Rechts ­versus juristische Person des öffentlichen Rechts 2. Wirtschaftliche versus unternehmerische Tätigkeit 3. Zusammenfassender Ausblick zum ­Steuersubjekt III. Steuerobjekt Dienstleistungen versus sonstige Leistungen 1. Restaurant- und Verpflegungsdienst­ leistung versus Restaurationsleistung 2. Gemeinwohlorientierte Tätigkeiten von Personenzusammenschlüssen an ihre Mitglieder zur Kostenteilung

3. Zusammenfassender Ausblick für Dienstleistungen IV. Vorsteuerabzugsvoraussetzungen 1. Vorsteuerabzugsvoraussetzung: ­Eingangsumsätze für wirtschaftliche ­Tätigkeit versus für das Unternehmen/ für die unternehmerische Tätigkeit 2. Das Unternehmen als steuerrelevantes und -irrelevantes Zuordnungsziel 3. Zusammenfassender Ausblick zum ­Vorsteuerabzug V. Allmähliche Beseitigung der Einträge am Pranger der Mehrdeutschigkeiten 1. Überblick über die Mehrdeutschigkeiten 2. Neue Dynamik und Europafreundlichkeit zur Beseitigung der Mehrdeutschigkeiten und Bewusstseinsspaltungen

I. Einführung Vor fünf Jahren habe ich meinen letzten einschlägigen Beitrag „Mehrdeutschigkeiten im Mehrwertsteuerrecht – Unglückliches Nebeneinander synonymer nationaler und europäischer Rechtsbegriffe“ 1 mit folgendem Aufruf an den Gesetzgeber des UStG beendet2: Die unionsrechtlichen Mehrwertsteuerbegriffe zur Bezeichnung der Steuerart (Mehrwertsteuer), bestimmter Umsatzarten (Dienstleistung, elektronische Dienstleistung, Telekommunikationsdienstleistung, Restaurant- und Verpflegungsdienstleistungen) sowie des Steuersubjekts (Steuerpflichtiger) und seines wesentlichen Tätigkeitsmerkmals (wirtschaftliche Tätigkeit) ha1 Lohse in Wagnerová/Sander, Die Rechtssprache in der internationalen Diskussion, Verlag Dr. Kovač, Hamburg 2013, S. 77 ff. (künftig nur mit Lohse in Wagnerová/Sander und Seitenangabe zitiert). 2 Der Aufruf ist in Wagnerová/Sander, S. 101 auch in englischer Sprache verfasst.

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W. Christian Lohse ben bisher keinen Eingang in das deutsche Umsatzsteuergesetz gefunden. Gleiches gilt für den Begriff „steuerpflichtig“, soweit er sich auf eine Person bezieht. Anstelle der unionsrechtlichen Terminologie bezeichnet das Umsatzsteuergesetz die Steuer noch als „Umsatzsteuer“, die Dienstleistungen als „sonstige Leistungen“, die Restaurant- und Verpflegungsleistungen als „Restaurationsumsätze“, den Steuerpflichtigen und steuerpflichtige Personen als „Unternehmer“ sowie die wirtschaftliche Tätigkeit als „unternehmerische Tätigkeit“ und „Unternehmen“. Seit die genannten Mehrwertsteuerbegriffe nicht mehr nur in EU-Richtlinien, sondern auch in EU-Verordnungen enthalten sind, sind sie zu Rechtsbegriffen geworden, die den gleichen Inhalt wie die im Umsatzsteuergesetz verwendeten Rechtsbegriffe haben und neben diesen direkt und unmittelbar gelten. Der deutsche Gesetzgeber ist aufgerufen, das Nebeneinander von unterschiedlichen Mehrwertsteuerbegriffen, die den gleichen Inhalt und die gleiche Rechtswirkung haben, zumindest allmählich und vorläufig teilweise durch Anpassung des UStG an das zugrunde liegende Unionsrecht zu beseitigen.

Der Gesetzgeber und sein Gehilfe, das BMF, haben den Aufruf ungehört verhallen lassen. Das nachhaltige Beharren auf der Terminologie des 100-jährigen UStG hat dazu geführt, dass in diesem Jahr zugleich das 50-jährige Jubiläum der Mehrdeutschigkeiten3 und das 25-jährige Jubiläum des Nebeneinanders von Mehrdeutschigkeiten mit Rechtsverbindlichkeit im UStG und in den Mehrwertsteuerverordnungen gefeiert werden können. Ins Jahr 2018 fällt nicht nur das Jubiläum des UStG sondern auch des Systemwechsels von der Brutto- zur Nettoallphasensteuer4, der in Art. 1 Abs.  1 der 1. MwSt-RL5 angeordnet und in dem ab 1.1.1968 in der Bundesrepublik geltenden UStG 19676 vollzogen wurde. In diesem Gesetz hat der Gesetzgeber die schon vorher geltende Umsatzsteuerterminologie so weit wie möglich beibehalten. Daran hat er auch in den ab 1978 geltenden Fassungen des UStG festgehalten, obwohl die Harmonisierungen in der 6. MwSt-RL7 und ihrer grundlegenden Neufassung in der ab 2007 geltenden MwStSystRL Anlass zu terminologischen Anpassungen geboten hätten. Ziemlich genau 25 Jahre nach dem Inkrafttreten des MwSt-Systems in Deutschland entstand durch die zusammen mit dem sog. Binnenmarkt eingeführte ZusVO8 am 1.1.1993 ein weitergehender Anlass zur terminologischen Anpassung des UStG an das unionale Mehrwertsteuerrecht. Denn die darin enthaltenen Begriffe Mehrwertsteuer und Dienstleistung wurden durch ihre Aufnahme in eine EU-Verordnung zu 3 Diesen Begriff habe ich bei meiner in UR 2002, 393 veröffentlichten Antrittsvorlesung am 28.11.2001 als Unwort geprägt, um es und seine Ursachen wieder zu beseitigen. 4 Der Systemwechsel wird auf die Erfindung des Mehrwertsteuersystems zurückgeführt. Es darf aber darauf hingewiesen werden, dass bereits im Jahre 1924 in der „Denkschrift über eine Abänderung der jetzigen Umsatzbesteuerung“, Reichstags-Drucks. 558 v. 1.10.2014, eine Nettobesteuerung in Form der sog. „Siemensschen veredelten Umsatzsteuer“ untersucht aber damals abgelehnt worden ist. 5 ABl. EG Nr. L 71 v. 14.4.1967, 1301. 6 BStBl. I 1967, 224. 7 ABl. EG Nr. L 145 v. 13.6.1977, 1. 8 Verordnung (EWG) Nr. 218/92 des Rates vom 27.1.1992 über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden auf dem Gebiet der indirekten Besteuerung (MwSt), ABl. EG Nr. L 128 v. 15.5.2002, 1.

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unmittelbar geltenden Begriffen, die neben ihre im UStG verwendeten Parallelbegriffe Umsatzsteuer und sonstige Leistung traten9. Dadurch hat sich die begriffliche Aufspaltung in Mehrdeutschigkeiten zur Bezeichnung von gesetzlichen Merkmalen in einer juristischen Bewusstseinsspaltung fortgesetzt. Denn für die unterschiedlichen Begriffe gelten seitdem auch unterschiedliche Regelungen mit jeweils rechtsverbindlichen Inhalt. Die dieser Regelungsspaltung zugrundeliegende legistische Bewusstseinsspaltung kann medizinisch bei den gehirnbehafteten natürlichen Personen als geistige Verwirrung bezeichnet werden, die im Falle ihres chronischen Auftretens zur (Geistes-) Krankheit oder Sucht ausarten kann. Während die ZusVO im Wesentlichen nur einen verfahrensrechtlichen Inhalt hatte, besitzen heute viele materiell-rechtlichen Regelungen unmittelbare Wirkung, die sich in der neuen andersartigen MwSt-DVO10 zur Auslegung der MwStSystRL befinden. Die Jubiläumsfestschrift zum UStG bildet einen geeigneten Anlass, auch auf die vorgenannten Jubiläen hinzuweisen sowie erneut und dieses Mal in modern gewordener pointierter – um nicht zu sagen populistischer – Sprache die Beseitigung der schon mehrfach erfolglos beklagten Mehrdeutschigkeiten zu fordern. Um den erwünschten Leser nicht von der weiteren Lektüre abzuschrecken, werde ich in diesem Beitrag meine bisherigen Ausführungen11, insbes. die vor fünf Jahren zusammengestellten und ausführlich behandelten12 Mehrdeutschigkeiten, nicht wiederholen. Ich werde 9 Siehe zur unmittelbaren Geltung von europäischen Rechtsverordnungen Art. 288 Abs. 2 AEUV. 10 Durchführungsverordnung (EU) Nr. 282/2011 des Rates v. 15.3.2011 zur Festlegung von Durchführungsvorschriften zur Richtlinie 2006/112/EG über das gemeinsame Mehr­wert­ steuersystem (Neufassung), ABl.EU Nr. L 77 v. 23.3.2011, 1, mit Änderungen in der Verordnung (EU) Nr. 967/2012 des Rates v. 9.10.2012 zur Änderung der DVO (EU) Nr. 282/2011 hinsichtlich der Sonderregelungen für nicht ansässige Steuerpflichtige, die [digitale Dienstleistungen] an Nichtsteuerpflichtige erbringen, ABL.EU Nr. L 290 v. 20.10.2011, 1, und in der Durchführungsverordnung (EU) Nr. 1042/2013 des Rates v. 7.10.2013 zur Änderung der DVO (EU) Nr. 282/2011 bezüglich des Ortes der Dienstleistung, ABl.EU Nr. L 284 v. 26.10.2013, 1. Siehe zum Inhalt und zur Gliederung der MwSt-DVO, Lohse in Rau/Dürrwächter, Rechtsentwicklung zur MwStSystRL, Nr 124. 11 Lohse, Die Zuordnung im Mehrwertsteuerrecht, Verlag Dr. Otto Schmidt, Köln 1999, S. 199 ff.; Lohse, Sprachenvielfalt und einheitliche Rechtsanwendung in der EG – Dargestellt am Beispiel der Umsatz-/Mehrwertsteuer, UR 2002, 393; Lohse, Plädoyer für die Ersetzung des Umsatzsteuerbegriffs durch den Mehrwertsteuerbegriff, in Achatz/Tumpel, EuGH-Rechtsprechung und Umsatzsteuerpraxis, Linde-Verlag, Wien 2001, S. 47; Lohse, Euro­päische Rechtsbegriffe und nationale Begriffspolitik im Mehrwertsteuerrecht, UR 2005, 655; Lohse, Die Hauptpersonen im Umsatz- und Mehrwertsteuerrecht, UR 2006, 92; Lohse, Unterschiedliche Unternehmensbegriffe sind untragbar, BB 2010, 1437; Lohse, Strahlkraft der neuen Mehrwertsteuer-Durchführungsverordnung, IStR 2011, 1740; Lohse, Umsatz­steuer-­ Unwort: Unternehmen, IStR 2009, 487; Lohse, 20 Jahre unmittelbar geltende Mehrwert­ steuer-Terminologie durch EU-Verordnungen, UR 2012, 8; Lohse/Spilker, Bestimmungslandprinzip und „teilweise steuerpflichtige“ Leistungsempfänger, UR 2009, 325; Lohse, Rückwirkende europarechtliche Ermächtigung für die Vorsteuerkürzungen im Steuerentlastungsgesetz 1999/2000/2002, IStR 2000, 232; Lohse, Rechtssicherheit und Ruhe nach erfolglosem österreichischem Angriff auf die Seeling-Rechtsprechung?, BB 2009, 1681. 12 Lohse in Wagnerová/Sander, S. 77 und Lohse, UR 2012, 8.

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vielmehr das Schwergewicht auf die Entwicklungen der letzten Jahre in der Gesetzgebung, Finanzverwaltung und Rechtsprechung von EuGH und BFH legen, die eine Beziehung zu den Mehrdeutschigkeiten aufweisen. Dies gilt insbes. für ȤȤ die Gesetzesänderungen im sog. Kroatiengesetz13 und seinen Vorgängern ȤȤ die (unzureichende) Übernahme der Mehrwertsteuerterminologie in den UStAE und ȤȤ die immer deutlicher sichtbar werdende Rechtsprechungshoheit des EuGH, der der BFH zunehmend Rechnung trägt. Im letzten V. Abschnitt dieses Betrags werde ich die Mehrdeutschigkeiten übersichtlich in einer Liste an den Pranger stellen. Sie soll die erforderlichen Gesetzeskorrekturen auf einen Blick erkennbar machen und dadurch den Gesetzgeber veranlassen, endlich mit einer terminologischen Anpassung des UStG an das unionale Mehrwertsteuerrecht zu beginnen. Dazu werde ich einige Bemerkungen zur Reihenfolge der erforderlichen Gesetzesänderungen machen, bei der insbes. die Dringlichkeit, die Praktikabilität und die Anwendungsfreundlichkeit der richtlinienkonformen Änderungen berücksichtigt werden.

II. Steuersubjekt und seine Tatbestandsmerkmale 1. Einrichtung des öffentlichen Rechts versus juristische Person des öffentlichen Rechts § 2b UStG enthält die seit 1.1.2017 anwendbaren Regelungen, nach denen „juristische Personen des öffentlichen Rechts nicht als Unternehmer gelten“, d. h. nicht die Eigenschaft eines Steuersubjekts besitzen und daher in § 2b Abs. 1 Satz 2 UStG als „Nichtunternehmer“ bezeichnet werden. Mit der Neuregelung wollte der Gesetzgeber das UStG an Art. 13 Abs. 1 MwStSystRL14 „anpassen“15, nach dem „Staaten, Länder, Gemeinden und sonstige Einrichtungen des öffentlichen Rechts nicht als Steuerpflichtige gelten“ und daher in Art 13 Abs. 1 Unterabs. 2 MwStSystRL als Nichtsteuerpflichtige bezeichnet werden. Demgemäß enthält die neue Vorschrift neben dem bisherigen Synonym „Unternehmer/Steuerpflichtiger“ zwei weitere Mehrdeutschigkeiten, nämlich juristische Personen des öffentlichen Rechts/Einrichtungen des öffentlichen Rechts und Nichtunternehmer/Nichtsteuerpflichtiger.

13 BGBl. I 2014, 1266 = BStBl. I 2014, 1126. 14 Dieser Artikel ist wie alle anderen in diesem Beitrag genannten Artikel der MwStSystRL und der MwSt-DVO dreisprachig abgedruckt bei Lohse in Rau/Dürrwächter, MwStSystRL. 15 Siehe Bericht des Finanzausschusses v. 23.9.2015 zum Steueränderungsgesetz 2015, BTDrucks. 18/6094 – zu Art. 12 zu Nummer 3 (§ 2b UStG – neu), auszugsweise abgedruckt bei Stadie in Rau/Dürrwächter § 2b UStG Rz. 27.

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Die neue Vorschrift löst den seit 50 Jahren geltenden § 2 Abs. 3 UStG ab, nach dem die juristischen Personen des öffentlichen Rechts nur im Rahmen ihrer körperschaftsteuerrechtlichen Betriebe gewerblicher Art und ihrer land- und forstwirtschaftlichen Betriebe Unternehmer waren16. Um die notwendige inhaltliche Übereinstimmung mit Art. 13 MwStSystRL herzustellen, musste der BFH den § 2 Abs. 3 UStG richtlinienkonform auslegen und hat dies mit größter Mühe geschafft17. Die Verwaltung hat sich erst nach langem Zögern im BMF-Schreiben vom 27.7.201718 dazu durchgerungen, diese Rechtsprechung zu akzeptieren. Darin wird es „nicht beanstandet“, wenn eine juristische Person des öffentlichen Rechts diese von Abschn. 2.11 UStAE19 abweichende Rechtsprechung der Besteuerung für die Zeit vor Inkrafttreten des § 2b UStG oder in bestimmten Fällen bis Ende 2020 zugrunde legt. Durch die offenkundige terminologische Abweichung des § 2b UStG von Art. 13 MwStSystRL haben die Gesetzgebungsorgane eine skandalöse Unfähigkeit zur beabsichtigten richtlinienkonformen Umsetzung offenbart. Sie handelten dabei nach dem Motto, Ich mache euch die Welt, so wie sie mir gefällt. Diesen Reim hat Antos20 als Überschrift für seinen Beitrag zu den fake news gewählt. Die Voraussetzungen dieses salonfähig gewordenen neudeutschen Anglizismus sind erfüllt. Denn mit der Angabe der rechtsformgebundenen juristischen Person des öffentlichen Rechts als Adressat des § 2b UStG hat der Gesetzgeber mit Hilfe des BMF und des Finanzausschusses den Rechtsanwendern einen Adressatenkreis „vorgemacht“, der angesichts des zugrundeliegenden Art. 13 MwStSystRL in Wirklichkeit größer ist. Vormachen bedeutet nach Duden „einen falschen Eindruck erwecken, um jemanden zu täuschen“ 21. In Wahrheit erweist sich die Wahl des rechtsformgebundenen Tatbestandsmerkmals „juristische Person“ in § 2b UStG als bloßer „Versuch“ 22 einer nicht gelungenen oder politisch nicht gewollten Anpassung23 an Art. 13 MwStSystRL. Dem widersprüchlichen Verhalten des Gesetzgebers wird es nicht gerecht, bloß vornehm zurückhaltend zu vermuten, dass „der Wortlaut zu eng gewählt worden und die Regelung damit 16 Siehe zur Entstehungsgeschichte z.B. Treiber in Sölch/Ringleb, § 2b UStG Rz. 1 ff.; Stadie in Rau/Dürrwächter, § 2b UStG Rz. 7 bis 33; Widmann, UR 2016, 13. 17 BFH v. 28.6.2017 – XI R 12/15, UR 2017, 758 m. Anm. Sterzinger und die im BMF-Schreiben vom 27.7.2017 (BStBl. I 2017, 1239) zusammengestellten BFH-Urteile aus der Zeit von 2009 bis 2016, die erst nach vielen Jahren im BStBl. II 2017, Heft 17/18 veröffentlicht wurden. 18 BStBl. I 2017, 1239. 19 Dieser Abschnitt knüpft nach wie vor an das Körperschaftsteuergesetz an. 20 Der Sprachdienst 2017, 1. 21 Duden, Die deutsche Sprache, 2014. 22 Küffner, UR 2015, 909 in einer Anmerkung zum EuGH-Urteil v. 29.10.2015– C-174/14 – Saudaçor, UR 2015, 901. 23 Siehe zu diesbezüglichen Vermutungen in Bezug auf § 2b Abs. 3 UStG Stadie in Rau/Dürrwächter § 2b UStG Rz. 30.

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hinter Art. 13 Abs. 1 MwStSystRL zurückgeblieben sein“ könnte24 oder dass „die juristische Person des öffentlichen Rechts in § 2b UStG möglicherweise etwas enger als der Begriff der öffentlichen Einrichtung in Art. 13 Abs.  1 MwStSystRL“25 ist oder dass es unklar26 ist, ob zwischen den unterschiedlichen Begriffen nach nationalem Recht und Art. 13 Abs. 1 MwStSystRL ein inhaltlicher Unterschied besteht. Zutreffender ist zumindest, sich über das Festklammern an der überkommenen Begriffsbildung zu verwundern und zu bezweifeln, ob der sprachliche Sonderweg eine kluge Entscheidung war27. Die Kommentierungen des § 2b UStG bestehen in einem Rätselraten über die Auslegung des Tatbestandsmerkmals der juristischen Person des öffentlichen Rechts und erzeugen eine nicht hinnehmbare Rechtsunsicherheit. Zwar befürwortet die wohl herrschende Meinung im Schrifttum28 eine richtlinienkonforme Auslegung der „juristischen Person des öffentlichen Rechts“ als Einrichtung des öffentlichen Rechts i.S. des Art. 13 MwStSystRL. Dies würde auch der Rechtsprechung des BFH entsprechen, der bei der Anwendung der Organschaftsregelung des § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG bestimmte Personengesellschaften richtlinienkonform als juristische Personen beurteilt29. Es ist aber keineswegs abwegig, wenn unter Hinweise auf den „eindeutigen Wortlaut des nationalen Gesetzes“ eine richtlinienkonforme Auslegung der neu geschaffenen Vorschrift nicht mehr für zulässig gehalten wird30. Letztlich wird der BFH entscheiden müssen, ob die von ihm für den herkömmlichen § 2 Abs.  3 UStG vorgenommene richtlinienkonforme Auslegung auch für die neue Vorschrift gilt, die im Steueränderungsgesetz 201531 zu einer Zeit geschaffen wurde, als der EuGH in den seit 2014 anhängigen Rechtssachen Saudaçor und Gmina Wroclaw32 zu den Einrichtungen des öffentlichen Rechts schon andere Gebilde als die rechtsformabhängige deutsche juristische Person des öffentlichen Rechts zählte. Sollte der BFH den neuen § 2b UStG nicht richtlinienkonform auslegen und daher nur für Personen gelten lassen, die die Rechtsform einer juristischen Personen besitzen, so können sich die nicht darunter

24 Filtzinger in Schwarz/Widmann/Radeisen, § 2b UStG Rz. 23. 25 Meyer in Offerhaus/Söhn/Lange, § 2b UStG Rz. 19. 26 Stadie in Rau/Dürrwächter, § 2b UStG Rz. 108. 27 Hüttemann, UR 2017, 129, 130. 28 Siehe z.B. Ismer/Baur-Rückert, MwStR 2016, 740, 744; Treiber in Sölch/Ringleb, § 2b UStG Rz. 33 und Hüttemann, UR 2017, 129, 130, jeweils m.w.H. 29 BFH v. 1.6.2016 – XI R 17/11, BStBl. II 2017, 581 = UR 2016, 673, Leitsatz 2 und Rz. 70 und BFH v. 19.1.2016 – XI R 38/12, BStBl. II 2017, 567 = UR 2017, 312, jeweils im Anschluss an EuGH v. 16.7.2015 – C-108/14 und C-109/14 – Larentia + Minerva und Marenave, BStBl. II 2017, 604 = UR 2015, 671. 30 Stadie in Rau/Dürrwächter, § 2b UStG Rz. 138. 31 Vom 2.1.2015, BGBl. I 2015, 1834. 32 EuGH v. 29.10.2015  – C-174/14  – Saudaҫor, UR 2015, 901, und EuGH v. 29.9.2015  – C-276/14 – Gmina Wroclaw, UR 2015, 829.

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fallenden öffentlichen Einrichtungen auf Art. 13 MwStSystRL berufen33 und dessen unmittelbare Anwendung fordern34, wenn dies für sie günstiger ist35. Die Verwaltung hat zur Anwendung des § 2b UStG einen Abschn. 2b.1. in den UStAE aufgenommen. Sie verweist darin aber nur auf das BMF-Schreiben vom 16.12.2016, in dessen letzter Rz. 68 sie diese Verweisung in den UStAE eingefügt hat. Daneben hat sie im BMF-Schreiben vom 27.7.201736 den Abschn. 2.11 UStAE unverändert belassen, der den in bestimmten Fällen bis Ende 202037 weiterhin anwendbaren § 2 Abs. 3 UStG betrifft. Im Zusammenhang mit der verfehlten Fassung des § 2b UStG darf nicht vergessen werden, dass auch Art. 132 Abs. 1 MwStSystRL mehrfach den Begriff der Einrichtung des öffentlichen Rechts enthält, der nicht immer in die darauf beruhenden Befreiungen des § 4 UStG übernommen worden ist. So sprechen der auf Art. 132 Abs. 1 Satz 1 Buchst. g MwStSystRL beruhende § 4 Nr. 16 Buchst. a UStG38 und der auf Art 132 Abs. 1 Satz 1 Buchst. i MwStSystRL beruhende § 4 Nr. 22 Buchst. a UStG immer noch von „juristischen Personen des öffentlichen Rechts“. Gleiches gilt für § 4 Nr. 26 Buchst. a UStG 39. Demgegenüber ist es zu begrüßen, dass der Gesetzgeber den Unionsbegriff der „Einrichtung des öffentlichen Rechts“ aus Art. 132 Abs.  1 Buchst. b und g MwStSystRL bereits in den im Jahre 200940 neugefassten § 4 Nr. 14 Buchst. b Satz 1 UStG41 und in den ab 1.1.2015 geltenden § 4 Nr. 15b Satz 142 UStG übernommen hat. Auch die im Jahressteuergesetz 2013 vorgesehene Umsetzung des Art. 132

33 Siehe dazu im Hinblick auf Art. 168 MwStSystRL die Rechtsprechungshinwiese des BFH im Urteil v. 16.11.2016 – XI R 15/13, BStBl. II 2018, 237 = UR 2017, 150 (Abschlussentscheidung zum EuGH-Urteil Landkreis Potsdam-Mittelmark), Rz. 30 34 Gl. A. Sterzinger in Küffner/Stöcker/Zugmaier, § 2b UStG Rz. 72, der den im Schrifttum üblichen aber nicht der unionalen Terminologie entsprechenden Ausdruck „Anwendungsvorrang des Unionsrechts“ anstelle des zutreffenden Ausdrucks „unmittelbare Wirkung“ verwendet. 35 Allerdings kann Stadie in Rau/Dürrwächter, § 2b UStG Rz. 138 dafür keine Relevanz erkennen. 36 BStBl. I 2017, 1239. 37 Siehe dazu Widmann, Anwendung des neuen 2b UStG gem. § 27 Abs. 22 UStG, UR 2016, 13. 38 Das ist besonders bedauerlich, weil sich alle anderen Buchstaben b bis l auf „Einrichtungen“ beziehen. 39 Nach BFH v. 17. 12. 2015 – V R 45/14, UR 2016, 210, Rz. 17 ist es umstritten, ob die in § 4 Nr. 26 Buchst. a UStG enthaltene Befreiung von ehrenamtlichen Tätigkeiten der juristischen Personen des öffentlichen Rechts eine unionsrechtliche Grundlage hat. 40 Art. 7 Nr. 7 Buchst. b des Jahressteuergesetzes 2009, BStBl. I 2009, 100. 41 Der diese Befreiung betreffende Abschn. 4.14.5. UStAE hat die gesetzliche Formulierung allerdings nur in Abs. 1 übernommen und spricht in Abs. 4 und Abs. 23 noch von juristischen Personen des öffentlichen Rechts. Ähnlich unterschiedlich Hölzer in Rau/Dürrwächter, § 4 Nr. 14 UStG Überschrift vor Rz. 551 und Text Rz. 555, sowie Oelmaier in Sölch/ Ringleb, § 4 Nr. 14 UStG Rz. 135 Überschrift und Text. 42 Die Vorschrift wurde durch Art. 9 Nr. 3 Buchst. a des sog. Kroatiengesetzes (BGBl. I 2014, 1266 = BStBl. I 2014, 1126) neu geschaffen.

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Abs. 1 Buchst. i MwStSystRL in einen neuen § 4 Nr. 21 UStG hatte die Übernahme des Begriffs der Einrichtung des öffentlichen Rechts vorgesehen43. M. E. stimmen die in Art. 13 und Art. 132 MwStSystRL enthaltenen Tatbestandsmerkmale „Einrichtung des öffentlichen Rechts“ inhaltlich überein. Soweit Stadie44 dies mit dem Hinweis bestreitet, dass nach der Rechtsprechung des EuGH auch natürliche Personen Einrichtungen sein können, übersieht er, dass diese Rechtsprechung keine Einrichtungen des öffentlichen Rechts betrifft. Ihm könnte allenfalls zugestimmt werden, wenn er „natürliche Personen des öffentlichen Rechts“ benennen könnte. Aus der Übereinstimmung folgt aber nicht, dass der Begriff der „Einrichtung des öffentlichen Rechts“ in den genannten deutschen Vorschriften „gleichzusetzen ist mit dem Begriff einer juristischen Person des öffentlichen Rechts“45. Vielmehr ist es anders als bei § 2b UStG nicht zweifelhaft, dass der Begriff der juristischen Person in den Befreiungen des § 4 UStG wie in § 2 Abs. 3 UStG richtlinienkonform als Einrichtung ausgelegt werden kann. Im Falle einer nicht möglichen richtlinienkonformen Auslegung des § 2b UStG ist eine Beseitigung der fake new in der neuen Vorschrift notwendig. Am Anfang von §  2b UStG könnte die Formulierung „gelten juristische Personen des öffentlichen Rechts nicht als Unternehmer“ durch „sind Einrichtungen des öffentlichen Rechts nicht wirtschaftlich tätig“ ersetzt werden. Mit dieser Formulierung würde der deutsche Gesetzgeber der Auslegung des Art. 13 MwStSystRL durch den EuGH im kürzlich ergangenen Urteil NTN46 Rechnung tragen, wonach die Tätigkeit eines Unternehmens „nicht von der in [Art. 13 Abs. 1 MwStSystRL] vorgesehenen Behandlung als nicht mehrwertsteuerpflichtig erfasst wird, wenn es sich bei dieser Tätigkeit um eine wirtschaftliche Tätigkeit i.S.v. Art. 9 Abs. 1 MwStSystRL handelt“. Mein Formulierungsvorschlag entspräche zwar nicht der wörtlichen Ersetzung des Tatbestandsmerkmals „nicht als Steuerpflichtiger“ durch „nicht als Unternehmer“ im derzeitigen § 2b Abs. 1 Satz 1 UStG, würde aber den in dieser Vorschrift neu eingeführten Begriff „Nichtunternehmer“ entbehrlich machen. Auch dies entspräche dem Urteil NTN, nach dessen Rz. 44 es zu den in Art. 13 Abs. 1 MwStSystRL geforderten Voraussetzungen der „Behandlung als Nichtsteuerpflichtiger“ gehört, dass die Tätigkeiten „durch eine öffentliche Einrichtung“ ausgeübt werden. 2. Wirtschaftliche versus unternehmerische Tätigkeit „Wirtschaftliche Tätigkeit“ ist ein Definitionsbestandteil des Steuersubjekts in Art. 9 MwStSystRL, wird aber im UStG nicht zur Bestimmung des Unternehmerbegriffs 43 Diese geplante Neuregelung ist wegen des Widerstands betroffener Wirtschaftskreise bisher nicht erfolgt (siehe dazu Tehler in Rau/Dürrwächter, § 4 Nr. 21 UStG Rz. 22. 44 Stadie in Rau/Dürrwächter, § 2b UStG Rz. 62. 45 So aber für § 4 Nr. 14 Buchst. b UStG Wagner in Schwarz/Widmann/Radeisen, § 4 Nr. 14 UStG Rz. 217. 46 EuGH v. 22.2.2018 – C-182/17 – Ntp. Nagyszénás (NTN), UR 2018, 276, Leitsatz 2 und Rz. 57 m. Anm. Widmann, der das Urteil „zur Einübung von Begrifflichkeiten des § 2b UStG zur rechten Zeit“ begrüßt hat.

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verwendet. Demgegenüber entspricht es der Rechtsprechung des BFH47, dass „der Unternehmerbegriff des § 2 Abs. 1 UStG dem Begriff der wirtschaftlichen Tätigkeit [entspricht]“. Der V. Senat des BFH versteht unter wirtschaftlicher Tätigkeit eine „nachhaltige Tätigkeit zur Erzielung von Einnahmen gemäß § 2 Abs. 1 UStG“ und verklammert sie mit „unternehmerischer Tätigkeit“48. Noch deutlicher knüpft der XI. Senat an das Unionsrecht an, der in Rz. 31 des BFH-Urteils XI 12/1549 formuliert: „Die für die Unternehmereigenschaft … gemäß Art. 9 Abs. 1 Abs. 1 und 2 MwStSyst­ RL (im nationalen Recht: nachhaltige Tätigkeit zur Erzielung von Einnahmen i.S.v. § 2 Abs. 1 UStG) erforderliche Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit liegt nur vor, wenn ….“. In ähnlicher Weise verklammert das BMF neuerdings in Rz. 4 seines Anwendungsschreibens zu § 2b UStG vom 16.12.201650 die wirtschaftliche Tätigkeit mit der „nachhaltigen Tätigkeit zur Erzielung von Einnahmen“. Demgemäß handeln Personen nach der unionalen Terminologie des Art. 9 MwStSystRL „als Unternehmer“, wenn sie wirtschaftlich tätig sind. Der EuGH gewährt solchen Personen einen Vorsteuerabzug aus ihren Eingangsleistungen, die sie „als Steuerpflichtiger“51 und damit für ihre wirtschaftliche Tätigkeit beziehen. Dem entspräche es in der deutschen Terminologie, als Voraussetzung für den Vorsteuerabzug in § 15 Abs. 1 UStG zu fordern, dass die Eingangsleistung von einer „als Unternehmer“ handelnden Person bzw. „für ihre unternehmerische Tätigkeit“ bezogen wird. Nach § 15 Abs. 1 UStG erfordert aber der Vorsteuerabzug, dass der Unternehmer die Eingangsleistungen „für sein Unternehmen“ bezieht52. Damit entsprechen dem unionsrechtlichen Definitionsmerkmal „wirtschaftliche Tätigkeit“ im deutschen Recht zwei Begriffe, nämlich „unternehmerische Tätigkeit“ in § 3a Abs. 2 und Abs. 5a UStG und Unternehmen53 in § 15 UStG. Die Mehrdeutschigkeit unternehmerische = wirtschaftliche Zwecke hat im Jahre 2009 auch Eingang in die MwStSystRL gefunden, nämlich durch Einfügung der Vorsteueraufteilungsregelung des Art. 168a MwStSystRL54. Dieser lässt einen Vorsteuerabzug nur bei einer Verwendung für unternehmerische Zwecke zu. Unternehmerisch i.S. dieser Vorschrift hat den gleichen Inhalt wie das nach der Rechtsprechung des EuGH für den Vorsteuerabzug erforderliche Tatbestandsmerkmal „wirtschaftlich“55. Es erscheint daher als legistischer Fehler des Richtliniengebers, dass er nicht der Terminologie des EuGH gefolgt ist. Eine Beseitigung ist jedoch wegen der Schwerfälligkeit des Rechtsetzungsverfahrens in der EU nicht zu erwarten. 47 BFH v. 2.12.2015 – V R 67/14, UR 2016, 199, Rz. 20. 48 BFH v. 15.12.2016 – V R 44/15, UR 2017, 302. Weitere Verklammerungen des BFH siehe nachstehenden Abschnitt II.3. letzter Abs. 49 BFH v. 28.6.2017 – XI R 12/15, UR 2017, 758, Rz. 31. 50 BStBl. I 2016, 1451 = UR 2017, 78. 51 Z.B. EuGH v. 22.10.2015 – C-126/14 – Sveda, UR 2015, 910, Rz. 18 ff. m.w.RSprH. 52 Siehe dazu näher unten Abschnitt IV.1. und IV.2. letzter Abs. 53 Diese Gleichsetzungen macht auch Heuermann, MwStR 2017, 729, 730 ff. 54 Siehe näher zu Art. 168a MwStSystRL und seiner missglückten Umsetzung im UStG unten Abschnitt IV.2. 55 Gl.A. Wagner in Sölch/Ringleb, § 15 UStG Rz. 535.

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Im UStAE verwendet die Verwaltung seit dem BMF-Schreiben vom 2.1.201256 weder den in § 15 UStG üblichen nationalen engen Unternehmensbegriff noch den von BFH und EuGH verwendeten unionalen Begriff der wirtschaftlichen Tätigkeit. Vielmehr findet eine Begriffsvermischung statt, die ausdrücklich von der vom BFH aus der MwStSystRL und der EuGH-Rechtsprechung entnommenen Terminologie abweicht. In Abschn. I Abs. 6 dieses Schreibens begründet das BMF sein Festhalten an den hergebrachten deutschen Begriffen unternehmerische und nichtunternehme­ rische Tätigkeit damit, dass die unionalen Begriffe „wegen der Bezugnahme auf § 2 Abs. 1 UStG den bisher verwendeten Begriffen unternehmerisch und nichtunternehmerisch“ entsprechen. Dabei wird übersehen oder unterdrückt, dass die Bezeichnung und Definition des Steuersubjekts in Art. 2 Abs. 1 UStG bereits vom Begriff des Steuerpflichtigen in Art. 9 MwStSystRL abweichen. Im BMF-Schreiben vom 2.1.2012 hat die Finanzverwaltung den Begriff der teilunternehmerischen Nutzung bzw. Verwendung für die Wertabgabesteuerung des § 3 Abs.  9a UStG57 und die Vorsteueraufteilung58 eingeführt. Ein Tatbestandsmerkmal „teilunternehmerisch“ hat weder in die MwStSystRL59 noch in das UStG Eingang gefunden. § 3a Abs. 2 und Abs. 5 Nr. 3 UStG sprechen nach wie vor von Personen, die „sowohl unternehmerisch als auch nicht unternehmerisch tätig“ sind. Diese Formulierung benutzt auch die Definition, die teilunternehmerisch in Abschn. 15.2c. Abs. 2 Nr. 2 UStAE durch eine Verklammerung erhalten hat. Demgegenüber werden in Abschn. 15.6a. Abs.  1 Satz 1 UStAE die „sowohl unternehmerisch als auch unternehmensfremd (privat) genutzten“ Grundstücke als teilunternehmerisch genutzt beschrieben. Die unterschiedlichen Definitionen verstoßen zwar gegen die Forderung nach sprachlicher Rechtsklarheit und Rechtssicherheit. Sie sind jedoch zum Glück für die Rechtsanwendung in der Praxis weitgehend unschädlich, weil die von natürlichen Personen privat genutzten Grundstücke stets nichtunternehmerisch genutzt werden60 und daher die unterschiedlichen Definitionen zum gleichen Ergebnisse führen. Der neue Begriff „teilunternehmerisch“ entspricht dem früher üblichen Begriff der gemischten Tätigkeiten, der im Erwägungsgrund 11 der Richtlinie 2009/162/EU61, vom BFH62 und EuGH sowie teilweise im Schrifttum63 heute weiterhin verwendet 56 BStBl. I 2012, 60. 57 Siehe Überschriften über Abschnitt II Nr. 2 des BMF-Schreibens v. 2.1.2012 und über ­Abschn. 3.4. Abs. 5a und Abs. 7 UStAE. 58 Siehe Überschrift und Inhalt von Abschn. 15.6a UStAE sowie Abschn. 15.2c. Abs. 2 und Abschn. 15.19 Abs. 3 UStAE. 59 Zur Verwendung von „teilsteuerpflichtig“ und „teilweise steuerpflichtig“ für Personen, die eine wirtschaftliche und eine nichtwirtschaftliche Tätigkeit ausüben, durch den EuGH siehe Lohse/Spilker, UR 2009, 325; Lohse in Wagnerová/Sander, S. 88. 60 Siehe dazu unten Abschnitt IV.1. 61 Abgedruckt bei Lohse in Rau/Dürrwächter, Art. 168a MwStSystRL. 62 BFH v. 3.8.2017  – V R 61/16, BFH/NV 2018, 63 (gemischte Nutzung eines städtischen Marktplatzes); BFH v. 14.2.2016 – V B 154/16, BFH/NV 2017, 767 (gemischte Nutzung eines Wohnhauses mit Hofladen). 63 Hahn in Weymüller, § 3 UStG Rz. 505; Küffner/von Streit, DStR 2012, 636; Heuermann, UR 2017, 729, 733; Oelmaier in Sölch/Ringleb, § 15 UStG Rz. 257 f.; Stadie in Rau/Dürrwächter,

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wird. Er ist im Ansatz vorzugswürdig, weil er eine Abgrenzung von der in § 15 Abs. 4 UStG geregelten gemischten Verwendung für sowohl steuerpflichtige als auch steuerfreie Umsätze64 zum Ausdruck bringt. Mit der neuen Terminologie des BMF hätte der BFH vermeiden können, dass im gleichen Urteil65 der Begriff der gemischten Nutzung sowohl für eine unternehmerische und nichtunternehmerische als auch für eine steuerfreie und steuerpflichtige Nutzung auftaucht. Im Hinblick darauf, dass EuGH und BFH für den Vorsteuerabzug nicht zwischen unternehmerischen und nicht unternehmerischen, sondern zwischen wirtschaftlichen und nicht wirtschaftlichen Nutzung unterscheiden, wäre es wünschenswert, von teilweise wirtschaftlicher Nutzung zu sprechen. Dies hätte es auch dem BFH erleichtert, bei gleichzeitiger Verwendung für wirtschaftliche und nichtwirtschaftliche Tätigkeiten nicht mehr von gemischter, sondern von teilweise wirtschaftlicher Nutzung zu sprechen. Obwohl das BMF im vorgenannten Schreiben die vom BFH und EuGH verwendeten Begriffe wirtschaftliche und nichtwirtschaftliche Tätigkeit ablehnt, hat es seine Ablehnung bei der Begriffsbestimmung von „nichtunternehmerisch“ nicht durchge­ halten. Denn es unterteilt in einem neuen Abschn. 2.3. Abs.  1a Satz 2 UStAE die nichtunternehmerischen Tätigkeiten in „nicht wirtschaftliche Tätigkeiten im engeren Sinne (nichtwirtschaftliche Tätigkeiten i.e.S.) und unternehmensfremde66 Tätigkeiten“. Die Kritik an dieser Begriffsvermischung ist nach wie vor virulent. Heuermann67 hat diese auch an den Unternehmensbegriff anknüpfende Terminologie des BMF erst kürzlich wieder zu Recht als „sprachliches Verwirrspiel“ und „Sprachverwirrung im höchsten Grad“ gebrandmarkt und sie in Absurdistan verortet. Das gilt insbes. für die doppelte Verneinung in Abschn. 2.3. Abs. 1a Satz 4 UStAE, die jedoch leicht dadurch vermieden werden kann, dass man „nicht unternehmensfremd“ positiv „als unternehmenseigen“68 bezeichnet. Vorzugswürdig ist allerdings, als Gegensatz von unternehmensfremd den Begriff unternehmenszugehörig zu benutzen.

§ 2b UStG Rz. 422; Wäger, UR 2012, 25; Pull, Die Sphärentheorie im Mehrwertsteuerrecht, Verlag Dr. Otto Schmidt, Köln 2014 (künftig nur Pull, Sphärentheorie und Seitenangabe), S. 70 und 89. 64 Wagner in Sölch/Ringleb, § 15 UStG Rz. 650; Looks in Weymüller, § 15 UStG Rz. 195; Ster­ zinger, UR 2018, 377, 382; Oelmaier in Sölch/Ringleb, § 15 UStG Rz. 257. Stadie in Rau/ Dürrwächter, § 15 UStG Rz. 1765 spricht auch von „Mischfällen“. 65 BFH v. 18.12.2012 – XI R 14/10, BFH/NV 2012, 1828, Rz. 25 und 32. 66 Siehe zur Abkoppelung des Begriffs unternehmensfremd von nicht unternehmerisch Abschnitte IV.1. und IV.2. 67 Heuermann, Probleme des Vorsteuerabzugs, MwStR 2017, 729, 730 und 732. Leider trägt er auch selbst zur Verwirrung bei, wenn er „unternehmensaffin“ als weiteren nicht im Recht enthaltenen Begriff einführt. 68 Pull, Die neue Sphärentheorie, Antworten auf die Herausforderungen der hergebrachten Dogmatik durch die VNLTO-Entscheidung, MwStR 2013, 611, 616. Pull, Sphärentheorie, die der „nichtwirtschaftlichen unternehmenseigenen Sphäre“ ab S. 105 einen ganzen Teil dieser Dissertation widmet. Neben unternehmenseigen und unternehmensaffin wird auch unternehmensnah (Nieskens in Rau/Dürrwächter, § 3 UStG Rz. 1666 m.H. auf Lippross) genannt.

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Im Gegensatz zum vorgenannten BMF-Schreiben von 2.1.2012 ist es ermutigend, dass das BMF in der bereits genannten Rz. 4 seines Anwendungsschreibens zu § 2b UStG vom 16.12.2016 der Auffassung des BFH gefolgt ist und darin das in § 2 Abs. 1 Satz 3 UStG enthaltene Definitionsmerkmal des Unternehmerbegriffs „nachhaltige Tätigkeit zur Erzielung von Einnahmen“ mit „wirtschaftliche Tätigkeit“ verklammert hat. Damit folgte auch die Verwaltung ausdrücklich der Auffassung, dass die Definitionsmerkmale des Steuersubjekts in Art. 9 Abs. 1 MwStSystRL und § 2 Abs. 1 UStG inhaltlich übereinstimmen. 3. Zusammenfassender Ausblick zum Steuersubjekt Es ist nicht damit zu rechnen, dass der Gesetzgeber ohne konkreten Anlass die fake new in § 2b UStG beseitigt. Einen derartigen Anlass könnte erst das Auslaufen der Übergangsregelung zu § 2 Abs. 3 UStG bieten, wenn die Anwendung des § 2b UStG ab 2021 unausweichlich wird. Möglicherweise kann der BFH bis dahin einen Beitrag zu den Fragen leisten, ob die Regelung des § 2b UStG auf andere Gebilde als die rechtsformgebundene juristische Person anwendbar und richtlinienkonform auslegbar ist. Bei der Bezeichnung des Steuersubjekts wird es in der Praxis noch einige Zeit bei den Verklammerungen69 der beiden Mehrdeutschigkeiten Unternehmer und Steuerpflichtiger bleiben müssen. Denn es ist nicht zu erwarten, dass der deutsche Gesetzgeber den an vielen Stellen des UStG verwendeten Unternehmerbegriff durch den in Art. 9 MwStSystRL definierten Begriff Steuerpflichtiger auswechselt70. Die Gleichsetzung beider Begriffe durch Verklammerung oder ähnliche Maßnahmen wird aus Gründen der Rechtsklarheit wohl erst Eingang in den UStAE finden müssen. Die vorläufige Beibehaltung des Unternehmerbegriffs gilt jedoch nicht für das Tatbestandsmerkmal des Nichtunternehmers, das bisher nur in § 2b UStG aber – anders als in Österreich71 – nicht in die Ortsregelung des § 3a UStG Eingang gefunden hat. Darunter versteht das UStG eine Person, die nicht die Voraussetzungen des Unternehmerbegriffs erfüllt. Voraussetzung für die Ersetzung dieses Begriffs durch den ihm entsprechenden Begriff Nichtsteuerpflichtiger in einer Neufassung des § 2b UStG ist allerdings, dass der deutsche Gesetzgeber bei der bisherigen Bezeichnung des Gegensatzpaares Unternehmer/Nichtunternehmer den unionalen Begriff Nichtsteuerpflichtiger zulässt und als Gegensatzpaar Unternehmer/Nichtsteuerpflichtiger akzep69 Siehe Wäger, UR 2012, 25, 26; Becker, UStB 2014, 347; Nieskens in Rau/Dürrwächter, § 3 UStG Rz. 1666; Stadie in Rau/Dürrwächter, an vielen Stellen seiner Kommentierung des § 2b UStG, z.B. Rz. 15, 18, 55, 61 69 und 71; BFH v. 7.7.2011 – V R 42/09, UR 2011, 870, Leitsatz 1 und Rz. 21; BFH v. 24.9.2014 – V R 54/13, BFH/NV 2015, 364, = DStR 2015, 425,Rz. 25; BFH v. 1.6.2016 – XI R 17/11, BStBl. II 2017, 581 = UR 2016, 673, Rz. 26; BFH v. 19.1.2016 – XI R 38/12, BStBl. II 2017, 567 = UR 2016, 312, Rz. 36. 70 Zur vorgeschlagenen allmählichen Einführung des Begriffs des Steuerpflichtigen siehe Lohse in Wagnerová/Sander, S. 82 und 96 sowie Lohse, UR 2012, 8, 12. 71 Der Begriff des Nichtunternehmers wird in Abs. 5 Nr. 3 des § 3a öUStG definiert und in dieser Vorschrift anstelle des in den Ortsregelungen der Art. 45 ff. MwStSystRL enthaltenen Begriffs Nichtsteuerpflichtiger verwendet.

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Mehrdeutschigkeiten nur übergangsweise

tiert. Für die Einführung des Begriffs des Nichtsteuerpflichtigen ist allerdings auch die Erkenntnis und Einsicht des Gesetzgebers erforderlich, dass sich die Eigenschaft steuerpflichtig nicht nur auf Umsätze, sondern auch auf Personen beziehen kann72. Demgemäß kennt die MwStSystRL73 auch nicht steuerpflichtige Personen, für die in den Ortsregelungen der MwStSystRL das Hauptwort Nichtsteuerpflichtige und im UStG „Person, die nicht Unternehmer sind“ verwendet wird74. Es wäre schon ein Fortschrift im Sinne einer allmählichen Einführung der Mehrwertsteuerterminologie ins UStG, wenn der Gesetzgeber diese Halbsätze durch die Unionsbegriffe „nicht steuerpflichtige Person“ oder Nichtsteuerpflichtiger ersetzen würde75. Die Einführung des für das Steuersubjekt maßgebenden Definitionsmerkmals „wirtschaftlichen Tätigkeit“ wäre ein gewaltiger Fortschritt auf dem Weg zur Europäi­ sierung des UStG. Der Gesetzgeber könnte die zu Beginn des vorstehenden Abschnitts  II.2. wiedergegebenen umständlichen Formulierungen des BFH dadurch überflüssig machen, dass er das unionsrechtliche Definitionsmerkmal des Steuersubjekts aus Art. 9 Abs. 1 Satz 1 MwStSystRL in § 2 Abs. 1 UStG übernimmt. Allerdings könnten auch ohne diese Änderung die in § 3a UStG und anderen Vorschriften des UStG enthaltenen Tatbestandsmerkmale „unternehmerische Tätigkeit“ bzw. „unternehmerisch tätig“ bereits durch „wirtschaftliche Tätigkeit“ bzw. „wirtschaftlich tätig“ ausgetauscht werden. Gleiches gilt für „nicht unternehmerisch“ und „nicht wirtschaftlich“. Das BMF sollte diesen Zusammenhang zumindest auch im UStAE zu § 15 UStG zum Ausdruck bringen und wie der BFH76 und das Schrifttum77 verkürzen, indem es die unternehmerische Tätigkeit nicht nur dem Unternehmen gleichsetzt78 sondern auch mit der wirtschaftlichen Tätigkeit verklammert.

72 Siehe näher Lohse in Wagnerová/Sander S. 87 f. und 97. 73 Siehe z.B. Art. 2 Abs. 1 Buchst. b Ziff. II und Art. 33 Abs. 1 Buchst. a MwStSystRL. 74 Siehe § 1a Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b und § 3c Abs. 2 Nr. 2 Buchst. d UStG. 75 Siehe weitere Fälle dazu Lohse, UR 2012, 8, 15. 76 Verklammerungen unternehmerisch und wirtschaftlich sowie nichtunternehmerisch und nicht wirtschaftlich in BFH v. 18.4.2012 – XI R 14/10, BFH/NV 2012, 1828, Rz. 25; BFH v. 20.3.2014 – V R 4/13, UR 2014, 732; BFH v. 10.5.2017 – V R 43/14 und V R 7/15, MwStR 2017, 582; BFH v. 5.12.2016 – V R 44/15, UR 2017, 302, Rz. 11; BFH v. 6.12.2012 – V ER-S 2/12, BFH/NV 2013, 418, Rz. 15 f.; BFH v. 24.9.2014 – V R 54/13, BFH/NV 2015, 364 = DStR 2015, 425, Rz. 23; BFH v. 6.4.2016 – V R 6/14, UR 2016, 770, Rz. 36; BFH v. 18.7.2017 – XI B 24/17, BFH/NV 2018, 60, Rz. 17. 77 Verklammerung wirtschaftlich und unternehmerisch Sterzinger, UR 2018, 377, 378; Ster­ zinger, MwStR 2018, 351, 352; Meyer in Offerhaus/Söhn/Lange, § 2 UStG Rz. 188; Wäger, UR 2017, 85, 89; Streit/Rust, DStR Beihefter zu Heft 19/17, 29, 41; Baldauf, DStZ 2017, 607; Nieskens in Rau/Dürrwächter, an vielen Stellen seiner Kommentierung des § 3 UStG, z.B. Rz. 1336, ähnliche Gleichsetzung in 1666. 78 Eine solche vermeidbare Gleichsetzung enthält noch der durch das Schreiben vom 2.1.2014 neugefasste Abschn. 15.2b. Abs. 2 UStAE in Satz 1, obwohl in Satz 4 Nr. 1 und 2 für den Vorsteuerabzug bereits zutreffend an die „wirtschaftliche Tätigkeit“ angeknüpft wird.

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III. Steuerobjekt Dienstleistungen versus sonstige Leistungen 1. Restaurant- und Verpflegungsdienstleistung versus Restaurationsleistung Die Mehrdeutschigkeit des in der vorstehenden Überschrift aufgezeigtem Begriffspaares zeigt sich in den Ortsregelungen der §§ 3a und 3e UStG, die die Art. 55 und 57 MwStSystRL umsetzen. Den Begriff Restaurationsleistung definieren § 3a Abs. 3 Nr. 3 Buchst. b UStG und § 3e Abs. 1 UStG übereinstimmend durch einen Klammerzusatz als „Abgabe von Speisen und Getränken zum Verzehr an Ort und Stelle“. Besondere praktische Bedeutung erhält der Begriff Restaurationsumsätze im Rahmen der Abgrenzung79 zwischen den gem. § 12 Abs. 1 und Abs. 2 i.V.m. Anlage 2 UStG steuerermäßigten Lieferungen von verzehrfertigen Lebensmitteln und den dem Normalsteuersatz unterliegenden Abgaben von Speisen und Getränken, die Dienstleistungen = sonstige Leistungen sind. Die für die Steuersatzbestimmung notwendige Abgrenzung ist für die Besteuerung in Deutschland durch das Urteil Faaborg Gelting Linien80 im Jahre 1996 relevant geworden, in dem der EuGH die Abgabe von Speisen in Restaurants nicht mehr – wie bis dahin nach dem UStG unangefochten – als Lieferungen sondern als Dienstleistungen beurteilt hat. In diesem Urteil hat der EuGH den Begriff des Restaurationsumsatzes aus Frage 1 des BFH-Vorlagebeschlusses81 übernommen, in dem dieser „die Abgabe von Speisen und Getränken zum Verzehr an Ort und Stelle“ als „Restaurationsumsätze“ bezeichnet hat. Der deutsche Gesetzgeber hat dem EuGH-Urteil vorübergehend dadurch Rechnung getragen, dass er in dem bis Ende 2007 geltenden § 3 Abs. 9 Sätze 4 und 5 UStG82 die Abgabe von Speisen und Getränken zum Verzehr an Ort und Stelle ausdrücklich den sonstige Leistungen zugeordnet hatte83, ohne diese allerdings dort als Restaurationsleistungen zu bezeichnen. Auch § 12 Abs. 1 und Abs. 2 i.V.m. Anlage 2 UStG enthalten das Tatbestandsmerkmal Restaurationsumsätze nicht, sondern werfen die Frage auf, ob die Abgabe von Speisen und Getränken als Lieferung oder sonstige Leistung zu beurteilen ist. Zu dieser Frage gilt derzeit Abschn. 3.6. UStAE mit der Überschrift „Abgrenzung von Lieferungen und sonstigen Leistungen bei der Abgabe von Speisen und Getränken“, dessen Inhalt auf dem umfangreichen BMF-Schreiben vom 20.3.2013 mit dem gleichen Titel beruht84.

79 Die Abgrenzung hat für die Bestimmung des Leistungsorts keine Bedeutung mehr, weil die Vorschriften Lieferort und Dienstleistungsort für die Abgabe von Speisen und Getränken zum gleichen Ergebnis führen, Stadie in Rau/Dürrwächter, § 3a nF UStG Rz. 403. 80 EuGH v. 2.5.1996 – C-231/94 – Faaborg-Gelting-Linien, BStBl. II 1998, 282 = UR 1996, 220 m. Anm. Weiß. 81 BFH v. 30.5.1995 – V R 120/93, UR 1994, 476. 82 Siehe zur Aufhebung der Sätze 4 und 5 wegen einer Fehlentscheidung des Gesetzgebers Nieskens in Rau/Dürrwächter, § 3 UStG Rz. 3714 f. und 3989. 83 Die Streichung in § 3 Abs. 9 UStG durch das Jahressteuergesetz 2007 ist im Stichwortverzeichnis der amtlichen Umsatzsteuerhandausgabe 2017/2018 noch nicht berücksichtigt. 84 BStBl. I 2013, 444.

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Darin wird der Begriff Restaurationsumsatz nicht mehr allgemein verwendet, sondern lediglich bei einer Verweisung im Beispiel 2 auf das BFH-Urteil V R 18/1085. Eine weitere Regelung zur „Abgabe von Speisen zum Verzehr an Ort und Stelle“ enthält § 4 Nr. 6 Buchst. e Satz 1 UStG, der solche Umsätze im Rahmen der Seeschifffahrt unter weiteren Voraussetzungen befreit86. Obwohl diese Vorschrift den Begriff Restaurationsleistungen nicht enthält, werden die darunter fallenden Umsätze in der Literatur mit diesem Begriff bezeichnet87. Die unionsrechtlichen Grundlagen, die in § 3a und 3e ins UStG umgesetzt wurden, befinden sich in den Art. 55 und Art. 57 Abs. 1 MwStSystRL, die anstelle des Tatbestandsmerkmals „Restaurationsumsätze“ das der „Restaurant- und Verpflegungsdienstleistungen“ verwenden. Für diese Dienstleistungen gilt auch ein Mitgliedstaatenwahlrecht in Art. 98 Abs. 2 i.V.m. Anhang III Nr. 12 a MwStSystRL, das die Einführung von ermäßigten Steuersätzen für diese Dienstleistungen gestattet; davon hat Deutschland allerdings nicht Gebrauch gemacht. In Deutschland gilt der ermäßigte Steuersatz gem. § 12 Abs. 1 und Abs. 2 i.V.m. Anlage 2 UStG nur für Lieferungen bestimmter dort genannter Güter, zu denen auch Lebensmittelzubereitungen gehören. Durch diese Begrenzung auf Lieferungen werden die zu den Dienstleistungen gehörenden „Restaurant- und Verpflegungsdienstleistungen“ von der Steuersatzermäßigung systematisch ausgeschlossen. Vor allem88 zu diesem Zweck stellt sich für die deutsche Praxis die Frage nach der Zugehörigkeit der Abgabe von Speisen zu den in Art. 6 Abs. 1 MwSt-DVO definierten Restaurantund Verpflegungsdienstleistungen. Nach dieser seit dem 1.7.2011 mit unmittelbarer Wirkung neben das UStG getretenen Definition gelten als Restaurant- und Verpflegungsdienstleistung „die Abgabe zubereiteter oder nicht zubereiteter Speisen und/ oder Getränke, zusammen mit ausreichenden unterstützenden Dienstleistungen, die deren sofortigen Verzehr ermöglichen.“ Im Zusammenhang mit der Abgabe von Speisen und Getränken übernimmt das BMF zwar erfreulicherweise die unionsrechtliche Terminologie und Definition des Art. 6 MwStSystRL bleibt jedoch bei der Ortsbestimmung in Abschn. 3a.6. Abs. 9 Satz 1 und Abschn. 3e.1. Abs. 1 UStAE bei den nationalen Klammerdefinitionen aus § 3a Abs. 3 Nr. 3 Buchst. b und § 3e Abs. 1 Satz 1 UStG. Abschn. 3a.6. Abs. 9 Satz 1 UStAE verweist zur Abgrenzung zwischen Lieferung und sonstiger Leistung sogar noch auf die veralteten BMF-Schreiben vom 16.10.2008 (BStBl. I 2008, 949) und vom 29.3.2010 (BStBl. I 2010, 330), obwohl diese schon vor 5 Jahren durch das BMF-Schreiben vom 20.3.201389 85 BFH v. 30.6.2011 – V R 18/10, BStBl. II 2013, 246 = UR 2011, 699. 86 Nach h.M. ist eine ausdrückliche unionsrechtliche Grundlage für diese Befreiung nicht erkennbar; siehe dazu Treiber in Sölch/Ringleb, § 4 Nr. 6 UStG Rz. 8 m.w.RSprH. 87 S. z.B. Huschens in Schwarz/Widmann/Radeisen, § 4 Nr. 6 Buchst. e UStG, Rz. 25; Fritsch in Reiß/Kraeusel/Langer, § 4 Nr. 6 UStG Rz. 58; Schmölz in Weymüller, § 4 Nr. 6 UStG Rz. 29. 88 Hier bleibt zunächst außer Betracht, dass die Definition auch für die Ortsregelung der Res­ taurant- und Verpflegungsdienstleistungen in Art. 55 und 57 MwStsystRL i.V.m. Art. 36 f. MwSt-DVO gilt. 89 Vorletzter Absatz dieses Schreiben, BStBl. I 2013, 448.

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aufgehoben wurden und in diesem Abschn. längst auf Abschn. 3.6. UStAE hätte verwiesen werden müssen90. Mit der Anknüpfung an den unmittelbar neben dem UStG anwendbaren und auch die Gerichte bindenden91 Art. 6 Abs.  1 MwSt-DVO in Abschn. 3.6. Abs.  1 Satz 2 UStAE beginnt das BMF erfreulicherweise mit der Verwendung des Dienstleistungsbegriffs des unionalen Mehrwertsteuerrechts, indem es ihn wie Art. 6 MwSt-DVO in Wortzusammensetzungen92 benutzt und sogar von „unterstützenden Dienstleistungen“93 spricht. Dieser Begriffswandel ergibt sich aus dem Beginn des BMF-Schreibens vom 20.3.2013, in dem die Verwaltung ausdrücklich die „Konsequenzen“ aus dem EuGH-Urteil Bog. u.a.94 und der BFH-Folge-Rechtsprechung des Jahres 2011 sowie aus der Definition des seit 1.7.2011 geltenden Art. 6 MwSt-DVO zieht. Der EuGH verwendet den Begriff Restaurationsumsätze im Urteil Bog u. a. nur noch in den Rz. 64 f. und 6995 bei seinen Bezugnahmen auf das Faaborg-Geltung Linien-Urteil. In den Folgeurteilen des BFH zum Urteil Bog u.a. findet sich dieser Begriff nur noch in der Verweisung des Urteils V R 18/1096 auf Rz. 69 des Urteils Blog. u. a. Im letzten der dem BMF-Schreiben vom 20.3.2013 zugrundeliegenden Urteile beginnt der BFH schon mit dem Hinweis auf den im Streitjahr noch nicht geltenden Art. 6 MwSt-DVO.97 In seiner jüngsten Rechtsprechung vom 3.8.2017 zur Steuersatz­ ermäßigung für die Abgabe von Speisen und Getränken geht der BFH nunmehr ausdrücklich davon aus, dass Art. 65 MwSt-DVO ab 1.7.2011 die Anwendung des Art. 6 MwSt-DVO „anordnet“ 98. Demgemäß knüpft er nur noch streng an diese Regelung an und verklammert nach wie vor die mehrdeutschigen Tatbestandsmerkmale Dienstleistungen und sonstige Leistung jeweils einmal in den Urteilsgründen99. Diese Verklammerungen sind auch im Schrifttum üblich geworden.100 90 Die unzutreffende veraltete Verweisung findet sich teilweise auch noch in neuen Kommentierungen der §§ 3a und 3e UStG. Dadurch zeigt sich eine kaum gerechtfertigte Praxisgläubigkeit mancher Kommentatoren an die Verwaltungsauffassung. 91 Röhrbein/Kuffel, BB 2012, 415, 419, weisen zutreffend ausdrücklich auf diese Bindung hin, deren Tragweite – wie überall im UStAE – aus Abschn. 3.6. UStAE nicht ersichtlich wird. 92 Siehe dazu Abschnitt 5.2. vorletzter Abs. m.w.H. 93 Siehe Abschn. 3.6. Abs. 6 Beispiele 4, 6, 7, 13 und 15 UStAE. 94 EuGH v. 10.3.2011 – C-497/09, C-499/09, C-501/09 und C-502/09 – Bog u.a., BStBl. II 2013, 256 = UR 2011, 272. 95 Diese Rz. ist in Rz. 32 des BFH-Urteils v. 8.6.2011 –XI R 37/08, BStBl. II 2013, 238=UR 2012, 34 wörtlich zitiert. 96 BFH v. 30.6.2011 – V R 18/10, BStBl. II 2013, 246 = UR 2011, 699, Rz. 28. 97 BFH v. 23.11.2011 – XI R 6/08, BStBl. II 2013, 253 = UR 2012, 150, Rz. 44; ebenso BFH v. 11.4.2013 – V R 28/12, UR 2014, 149. 98 BFH v. 3.8.2017 – V R 15/17, UR 2017, 787 (Wiesnbrezn-Urteil), und BFH v. 3.8.2017 – V R 61/16, BFH/NV 2018, 63, jeweils Rz. 13. 99 Jeweils Rz. 18 der BFH-Urteile V R 15/17 und V R 61/16; BFH v. 28.6.2017 – XI R 12/15, UR 2017, 758, Rz. 31; BFH v. 30.6.2011 – V R 18/10, BStBl. II 2013, 246 = UR 2011, 699; BFH v. 7.2.2018 – XI R 17/17, BNH/NV 2018, 701, Rz. 19 m.w.RSprH; BFH v. 10.8.2016 – XI R 41/14, BStBl. II 2017, 590 = UR 2017, 119. 100 Siehe z. B. Kemper in Schwarz/Widmann/Radeisen, § 3a UStG Rz. 266; Grune in Küffner/ Stöcker/Zugmaier, § 4 Nr. 6 UStG Rz. 12; Wäger in Birkenfeld/Wäger, Umsatzsteuerhand-

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Mehrdeutschigkeiten nur übergangsweise

Ein Vergleich der Ortsbestimmungen im UStG und im unionalen Mehrwertsteuerrecht führt zu der erschreckenden Erkenntnis, dass für ein und dasselbe Tatbestandsmerkmal nicht nur zwei unterschiedliche deutsche Begriffe, sondern auch zwei unterschiedliche Definitionen gelten. Diese unterscheiden sich wesentlich dadurch, dass die Begriffsbestimmung des UStG an den „Verzehr an Ort und Stelle“ und die des Art. 6 Abs. 1 MwSt-DVO an „unterstützende Dienstleistungen“ zur Ermöglichung eines „sofortigen“ Verzehrs anknüpft, um die Abgabe von Speisen und Getränken als Dienstleistungen = sonstige Leistungen zu beurteilen. Dieser doppelte Widerspruch des UStG zu den vorrangigen Regelungen der Art.  55 und 57 MwStSystRL i.V.m. Art. 6 MwSt-DVO erzeugt eine qualifizierte legistische Bewusstseinsspaltung. Zu ihrer Beseitigung sollten bei der anstehenden nächsten Änderung des UStG in beiden Vorschriften die Worte „zum Verzehr an Ort und Stelle (Restaurationsleistung)“ durch das Tatbestandsmerkmal „Restaurant- und Verpflegungsdienstleistungen“ ersetzt werden, das durch einen Hinweis auf Art. 6 MwStSystRL ergänzt werden könnte. Eine Aufnahme des Begriffs Restaurant- und Verpflegungsdienstleistungen in den § 4 Nr. 6 Buchst. e UStG erscheint nicht zwingend, weil ihm keine Vorschrift des Unionsrechts zugrunde liegt, auf die Art.  6 MwSt-DVO anzuwenden ist. Sie käme erst in Betracht, wenn der BFH die Befreiung des § 4 Nr. 6 Buchst. e UStG auf das Vorliegen von Restaurant- und Verpflegungsdienstleistungen beschränken würde. In diesem Zusammenhang ist es bemerkenswert, dass die Verwaltungsanweisung zu § 4 Nr. 6 Buchst. e UStG in Abschn. 4.6.2. Satz 2 UStAE zur Abgrenzung von den nicht befreiten Speisenlieferungen auf den an Art.  6 MwSt-DVO anknüpfenden Abschn. 3.6. UStAE verweist. Davon ausgehend erscheint die nicht zwingende Anpassung des § 4 Nr. 6 Buchst. e UStG zumindest zulässig. Da die Anknüpfung an Art.  6 MwSt-DVO nicht auf die Steuersatzregelungen beschränkt ist, sondern auch für die Ortsregelungen der §§ 3a und 3e UStG gilt, sollte das BMF seinen Abschn. 3a.6. Abs. 9 UStAE berichtigen. Außerdem sollte es als Initiator und Gehhilfe der Legislative den Mut aufbringen, den Gesetzgeber zur Beseitigung der unionsrechtswidrigen Regelung für Restaurationsumsätze und ihrer nicht mehr gültigen unzutreffenden Definition in §§ 3a und 3e UStG zu bewegen. Durch die Beseitigung dieser qualifizierten Bewusstseinsspaltung, die in dem Nebeneinander der mehrdeutschigen Begriffe und unterschiedlichen Definitionen für Restaurationsumsätze und Restaurant- und Verpflegungsdienstleistungen besteht, müsste der Gesetzgeber noch nicht einmal den Begriff der Dienstleistungen ins UStG übernehmen; denn dieser ist bereits in der sowieso maßgeblichen Definition des Art. 6 MwStDVO enthalten.

buch, 2017/III, Rz. 54; Martin in Sölch/Ringleb, § 3 UStG Rz. 12; Zugmaier/Streit, Neues BMF-Schreiben zur Umsatzbesteuerung von Speisen und Getränken, Stbg 2013, 302 verdeutlichen die Gleichstellung noch etwas genauer durch die Formulierung: „sonstige Leistungen – nach der Terminologie der Mehrwertsteuer-Systemrichtlinie also Dienstleistungen“. Ähnlich formuliert Kemper, UR 2017, 169, 170: „sonstige Leistungen, unionsrechtlich gesprochen Dienstleistungen“.

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Eine gewisse Hoffnung auf die vorgeschlagene richtlinienkonforme Änderung der §§ 3a Abs. 3 Nr. 3 Buchstabe b und 3e Abs. 1 UStG verspricht die Tatsache, dass der deutsche Gesetzgeber in der Vergangenheit schon mehrmals die Rechtsprechung übernommen hat, wenn diese die Regelung der Abgabe von Speisen beanstandet hat. Diese Hoffnung wird noch dadurch verstärkt, dass das BMF als Gehilfe seit seinem Schreiben vom 20.3.2013 die Regelung des Art.  6 MwSt-DVO in den Abschn. 3.6. UStAE übernommen hat, wenn auch noch ohne den unionalen Begriff der Restaurant- und Verpflegungsdienstleistungen. Für die Übernahme der unionsrechtlichen Terminologie spricht darüber hinaus, dass der Mehrwertsteuerbegriff Restaurantdienstleistung in Art. 9 Abs. 1 der RL 2008/9/EG101 mit der Kennziffer 7 belegt wurde, die in Vorsteuererstattungsanträgen verwendet werden muss. Diese unionsrechtliche Kennzifferbezeichnung hat das BMF ebenfalls bereits wörtlich in die nationale Regelung von Vorsteuervergütungsanträgen des Abschn. 18g.1. Abs. 5 Gedankenstrich 8 Nr. 7 UStAE übernommen. Durch die Übernahme des unionsrechtlichen Begriffs könnte auch das verwirrende terminologische Durcheinander im Schrifttum vermieden und beseitigt werden. Verwirrend sind z. B. insbes. die Kommentierungen „Der Begriff der Restaurationsleistung wird seit 1.7.2011 in Art. 6 MwSt-DVO unsionsrechtlich definiert“102 oder „Als Restaurations- und Verpflegungsdienstleistung beschreibt Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MwStDVO …“103. Unzutreffend ist auch die Verwendung des Begriffs Restaurationsdienstleistung in der Überschrift des Urteils Brockenhurst College104, das diesen richtlinienwidrigen Begriff überhaupt nicht enthält. 2. Gemeinwohlorientierte Tätigkeiten von Personenzusammenschlüssen an ihre Mitglieder zur Kostenteilung Eine Klage der Kommission gegen die zu enge Fassung der auf den Gesundheitsbereich beschränkten Befreiung in § 4 Nr. 14 Buchst. d UStG wird für sog. Kostenteilungsgemeinschaften105 zusammen mit weiteren EuGH-Urteilen vom 21.9.2017 zur 101 Richtlinie 2008/9/EG des Rates v. 12.2.2008 zur Regelung der Erstattung der Mehrwertsteuer gemäß der Richtlinie 2006/112/EG an nicht im Mitgliedstaat der Erstattung, sondern in einem anderen Mitgliedstaat ansässige Steuerpflichtige, ABl. EU Nr. L 44 v. 20.2.2008, 23. 102 Prätzler in Birkenfeld/Wäger, Umsatzsteuerhandbuch, Abschnitt I Kapitel 6 Abschnitt D, § 3e UStG Rz. 6. 103 Nieskens in Rau/Dürrwächter, §  3 UStG Rz. 4021; ähnlich Wäger in Sölch/Ringleb, §  3 UStG Rz. 175 und Kemper in Schwarz/Widmann/Radeisen, § 3a UStG Rz. 267. Sie verbinden die Verpflegungsdienstleistungen nicht mit dem unionalen Begriff „Restaurant-“ sondern ständig mit dem richtlinienwidrigen Begriff „Restaurations-“. 104 EuGH v. 4.5.2017 – C-699/15 – Brockenhurst College, UR 2017, 435, das die Frage bejaht, ob die im Rahmen von Gastronomielehrgängen erbrachten Restaurantdienstleistungen mit steuerbefreiten Unterrichtsleistungen eng verbunden sein können. 105 Siehe zur Verwendung dieses Begriffs Brill, BeSt 2017, 45; Ismer/Piotrowski/Reiß, MwStR 2017, 345; Küffner, UR 2017, 799; Jacobs, UR 2017, 804; ähnlich Sterzinger, UR 2017, 773, der von Kostenteilungszusammenschluss spricht.

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Mehrdeutschigkeiten nur übergangsweise

Erweiterung dieser Vorschrift und des zugehörigen Abschn. 4.14.8. UStAE führen müssen, der bisher zu eng mit „Praxis- und Apparategemeinschaften“106 überschrieben ist. Derzeit befreit diese Vorschrift nur die Vorstufenumsätze von Kostenteilungsgemeinschaften an ihre Mitglieder, wenn diese heilberufliche Leistungen i.S.d. §  4 Nr. 14 Buchst. a und b UStG erbringen. Nach dem EuGH-Urteil C-616/15107 verstößt Deutschland mit dieser Beschränkung gegen die Pflicht zur Umsetzung des Art. 132 Abs. 1 Buchst. f MwStSystRL. Der komplizierte Wortlaut des Art.  132 Abs.  1 Buchst. f MwStSystRL befreit alle „Dienstleistungen, die selbständige Zusammenschlüsse von Personen, die eine Tätigkeit ausüben, die von der Steuer befreit ist, oder für die sie nicht Steuerpflichtige sind, an ihre Mitglieder für unmittelbare Zwecke der Ausübung dieser Tätigkeit erbringen, soweit diese Zusammenschlüsse von ihren Mitgliedern lediglich eine genaue Erstattung des jeweiligen Anteils an den gemeinsamen Kosten fordern“. Nach Auffassung des EuGH werden allerdings nur die Dienstleistungen von selbständigen Personen­ zusammenschlüssen befreit, deren Mitglieder eine in Art. 132 Abs. 1 Buchst. f MwStSystRL genannte dem Gemeinwohl dienende Tätigkeit ausüben108. Mit dieser Be­ grenzung trat der Gerichtshof der Auffassung der Kommission entgegen, die unter Berufung auf den Wortlaut des Buchst. f dessen Befreiung auf alle Kostenteilungszusammenschlüsse, also auch für Banken und Versicherungen, anwenden wollte109. Der EuGH begründet seine Auffassung mit der Kapitelüberschrift über Art 132 MwStSyst­ RL „Steuerbefreiung für bestimmte dem Gemeinwohl dienende Tätigkeiten“. Durch die EuGH-Rechtsprechung wird der deutsche Gesetzgeber aufgerufen110, die Befreiung des § 14 Abs. 4 Buchst. d UStG richtlinienkonform an Art. 132 Abs. 1 Buchst. f MwStSystRL anzupassen und auf alle Vorumsätze von Kostenteilungszusammenschlüssen an ihre Mitglieder auszudehnen, die dem Gemeinwohl dienende Tätigkeiten erbringen. Das Urteil erfordert in Österreich eine umgekehrte richtlinienkonforme Anpassung, weil dort bisher auch Kostenteilungsgemeinschaften von Banken und Versicherungen befreit sind111.

106 Diese Bezeichnung verwenden auch die bisherigen Kommentierungen des §  4 Nr. 14 Buchst. d UStG. 107 EuGH v. 21.9.2017 – C-616/15 – Kommission/Deutschland, UR 2017, 792. 108 EuGH v. 21.9.2017 – C-605/15 – Aviva, UR 2017, 801, Leitsatz und Rz. 32 und 40, und EuGH v. 21.9.2017 – C-326/15 – DNB Banka, UR 2017, 806, Leitsatz und Rz. 33 ff. sowie vorstehendes EuGH-Urteil Kommission/Deutschland, Rz. 47 ff. 109 Siehe Rz. 26 des vorstehenden EuGH-Urteils C-616/15. Die Auffassung der Kommission entsprach ihrer Auffassung in dem (zurückgenommenen (ABl. EU 2016 Nr. C 155 S. 3) Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Änderung der Richtlinie 2006/112/EG über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem hinsichtlich der Behandlung von Versicherungs- und Finanzdienstleistungen v. 28.11.2007, KOM(2007) 747. 110 Eine Gesetzesänderung fordern u. a. auch Brill, BeSt 2017, 45, 46; Küffner, UR 2017, 799, 800; de Weerth, DB 2017, 2320. Bis dahin können Kostenteilungsgemeinschaften die unmittelbare Anwendung des Art. 132 Abs. 1 Buchst. f MwStSystRL unter Berufung auf die unmittelbare Geltung dieser für sie günstigeren Vorschrift verlangen. 111 Siehe dazu Haunold/Stangl/Tumpel, SWI 2017, 540.

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Bei der Neufassung des § 4 Nr. 14 Buchst. d UStG kann die in dieser Vorschrift zuletzt genannte Befreiungsvoraussetzung der strikten Kostenerstattung erhalten bleiben, weil sie mit dem Schlusssatz des Art. 132 Abs. 1 Buchst. f MwStSystRL übereinstimmt. Bei einer streng an den Richtlinienwortlaut anknüpfenden Übernahme des ersten Teils dieses Buchstaben f entspräche es der Terminologie des UStG, dass der Begriff der sonstigen Leistung erhalten bliebe. Außerdem müsste der Begriff des Nichtunternehmers erstmals in die neue Vorschrift eingeführt werden, um an die in Buchstabe f angesprochene Person des nicht Steuerpflichtigen anzuknüpfen. Eine solche am Wortlaut des Buchst. f orientierte Neufassung des § 4 Nr. 14 Buchst. d UStG würde schließlich noch nicht der Auffassung des EuGH gerecht, dass sich die Befreiung nur auf „dem Gemeinwohl dienende gemeinwohlorientierteTätigkeiten“ der Mitglieder von Kostenteilungsgemeinschaften bezieht. Da sich diese Voraussetzung im UStG nicht aus einer Überschrift oder systematischen Auslegung herleiten lässt, muss sie in die neue deutsche Vorschrift selbst aufgenommen werden. Eine Angleichung der neuen Vorschrift an den Wortlaut des Art. 132 Abs. 1 Buchst. f MwStSystRL zusammen mit Einfügung der vom EuGH gefundenen Gemeinwohlvoraussetzung würde zu einem eklatant gegen den Grundsatz der Rechtsklarheit verstoßenden sprachlichen Ungetüm führen. Der deutsche Gesetzgeber darf und muss ein solches jedoch unter Anwendung der ihm in Art. 288 Abs. 3 AEUV gewährten Umsetzungsfreiheit vermeiden, wenn die gebotene Neufassung des § 4 Nr. 14 Buchst. d UStG den gleichen Inhalt wie Art. 132 Abs. 1 Buchst. f MwStSystRL hat. Daraus ergibt sich zunächst folgende Beschreibung der befreiten Leistungen im ersten Satzteil der gebotenen Neufassung „sonstige Leistungen von Personenzusammenschlüssen an ihre Mitglieder, die dem Gemeinwohl dienende befreite oder nicht wirtschaftliche Tätigkeiten ausüben, für unmittelbare Zwecke der Ausübung dieser Mitgliedertätigkeit, soweit … “. Durch diese Fassung wird nicht nur eine Verkürzung erreicht, sondern auch eine Ersetzung des in Buchst. f enthaltenen unionalen Begriffs „nicht Steuerpflichtiger“112 durch den ihm entsprechenden nationalen Begriff „Nichtunternehmer“ vermieden. Die Fassung setzt allerdings die Bereitschaft des Gesetzgebers voraus, den unionalen Begriff „nicht wirtschaftlich“ als Tatbestandsmerkmal auch an anderen Stellen des UStG113 und anstelle des im deutschen Sprachgebrauch eingebürgerten Begriffs „steuerbar“ 114 zu akzeptieren.

112 Nach der Definition in Art. 9 Abs. 1 MwStSystRL ist nur Steuerpflichtiger, wer eine wirtschaftliche Tätigkeit ausübt (Siehe dazu auch oben Abschnitt II.2.). Daher sind alle, die keine wirtschaftliche Tätigkeit ausüben, „nicht Steuerpflichtige“ iSv von Art. 132 Abs. 1 Buchst. f MwStSystRL. 113 Siehe zur Ersetzung der Begriff Unternehmen und unternehmerisch durch wirtschaftlich oben Abschnitt II.2. und unten Abschnitte IV.1. und V.2. 114 Ismer in Reiß/Kraeusel/Langer, § 2b UStG Rz. 21 spricht in seiner Beschreibung des § 132 Abs. 1 Buchst. f MwStSystRL von „steuerfreien oder nicht steuerbaren Tätigkeiten“. Auch Oelmaier in Sölch/Ringleb, § 15 UStG setzt in Rz. 190 unional „wirtschaftlich“ mit national „steuerbar“ gleich und verklammert in Rz. 191 „nicht wirtschaftlich“ mit „nicht steuerbar“. Ähnlich Pull, Sphärentheorie, S. 103, 124.

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Mehrdeutschigkeiten nur übergangsweise

Um in der neuen Vorschrift den deutschen Begriff der sonstigen Leistung zu vermeiden, könnten an dessen Stelle als Eingangsworte des § 4 Nr. 14 Buchst. d UStG „Tätigkeiten, die keine Lieferungen sind“ oder „gemeinwohlorientierte Dienstleistungen“ oder die Wortzusammensetzung „Dienstleistungstätigkeiten“ gewählt werden. Der letzte Begriff würde den in der Überschrift und dem Text des Art. 132 Abs. 1 Buchst. f MwStSystRL enthaltenen Begriff „Tätigkeiten“ zu übernehmen. Er böte den Vorteil, dass mit ihm ein Nebensatz entbehrlich und zugleich verdeutlicht wird, dass der in Art.  132 MwStSystRL ohne Zusatz verwendete Tätigkeitsbegriff auch Lieferungen umfasst115. Seine Aufnahme ins UStG setzt allerdings auch noch voraus, dass der Gesetzgeber den unionalen Dienstleistungsbegriff für Wortzusammensetzungen vermehrt116 und diese allgemein ins UStG übernimmt 117. Optimal erscheint mir, eine Neuregelung mit „gemeinwohlorientierte Dienstleistungen“ zu beginnen. Voraussetzung dafür ist allerdings, dass der Dienstleistungsbegriff nicht nur in Wortzusammensetzungen, sondern auch für einzelne näher bestimmte Dienstleistungen Eingang ins UStG finden darf. Dies hat der Gesetzgeber durch die zu Beginn des nächsten Abschnitts beschrieben Entfernung des Begriffs „elektronische Dienstleitungen“ aus § 18 Abs. 4d UStG bisher leider verweigert. 3. Zusammenfassender Ausblick für Dienstleistungen Bereits im Jahre 2009118 habe ich es als legistischen Mangel beklagt, dass bei der Umsetzung der Leistungsort-Richtlinie im Jahressteuergesetz 2009 der Begriff der sonstigen Leistung nicht im gesamten UStG durch den der Dienstleistung ersetzt worden ist. Daraus habe ich in meinen beiden jüngsten Beiträgen119 die Konsequenz gezogen, dass „sonstige Leistung“ zu den Mehrdeutschigkeiten gehört, die nur allmählich und stufenweise beseitigt werden können. Leider hat der Gesetzgeber im sog. Kroatiengesetzes120 sogar den bescheidenen Anfang zur Übernahme des Dienstleistungsbegriffs in die Verweisung des §  18 Abs.  4d UStG wieder beseitigt. Bis 2014 verwies diese Vorschrift auf die „elektronischen Dienstleistungen nach § 3a Abs. 5 UStG“. Den von mir beklagten legistischen Mangel, dass im Verweisungsziel der Dienstleistungsbegriff nicht fortgeführt wurde, hat der Gesetzgeber zwar in Art. 9 Nr. 6 Buchst. a des Kroatiengesetzes ausgeräumt. Er hat aber mit Wirkung ab 1.1.2015 „elektronische Dienstleistung“ in § 18 Abs. 4d UStG durch „Umsätze“ ersetzt, anstelle in § 3a Abs. 5 UStG die unionale Terminologie der mit Wirkung ab 1.1.2015 geltenden und vorauszusehenden Fassung des Art. 58 Abs. 1 MwStSystRL121 weiter auszubauen. 115 Siehe z.B. die in Art.  132 Abs.  1 Buchst. d MwStSystRL genannten Lieferungen von menschlichen Organen und Körpersäften. 116 Siehe zu den vereinzelten bisherigen Verwendungen den nachstehenden Abschnitt III.3. Abs. 2. 117 Siehe dazu den nachstehenden Abschnitt III.3. und allgemein Lohse, UR 2012, 8, 12. 118 Lohse/Spilker, UR 2009, 325, 334. 119 Lohse in Wagnerová/Sander, S. 93 ff.; Lohse, UR 2012, 8, 12. 120 BGBl. I 2014, 1266 = BStBl. I 2014, 1266. 121 Zur Entwicklung des Inhalts des Art. 58 MwStSystRL und seiner Vorgänger siehe Lohse in Rau/Dürrwächter, Art. 58 MwStSystRL Hinweis Abs. 2.

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Im Zusammenhang mit der Forderung zur Aufnahme der Wortzusammensetzung Restaurant- und Verpflegungsdienstleistung in § 3a und 3e UStG ist darauf hinzuweisen, dass der Begriff der Dienstleistung auch schon in anderen Wortverbindungen Eingang ins UStG und in den UStAE gefunden hat, z.B. in § 3a Abs. 5 Satz 2 Nr. 2 UStG das Tatbestandsmerkmal „Rundfunk- und Fernsehdienstleistungen“ oder in Abschn. 3.6. UStAE der durch Art. 6 MwSt-DVO vorgegebene und vom BFH übernommene Begriff des „Dienstleistungsanteils“. Für die Vermehrung solcher Wortzusammensetzungen im UStG spricht nicht nur ihre Kürze, sondern auch, dass sich „sonstige Leistungen“ nicht in einem Wort mit anderen Begriffen zusammensetzen lässt. So sollte die umständliche Formulierung „sonstige Leistungen auf dem Gebiet der Telekommunikation122“ in §  3a Abs.  5 Satz 2 Nr. 1 UStG durch die in Art.  6a MwSt-DVO mit verbindlicher Wirkung beschriebene Wortzusammensetzung der Telekommunikationsdienstleistung ersetzt werden. Eine gewisse Hoffnung weckt die Begründung einer Ergänzung des § 3a Abs. 5 UStG im Referentenentwurf eines Jahressteuergesetzes 2018, in der der Gehilfe des Gesetzgebers bei dem Hinweis auf diese Nr. 1 den Begriff Telekommunikationsdienstleistungen verwendet. Ebenso wie Wortzusammensetzungen könnten auch bestimmte Dienstleistungen ins UStG aufgenommen werden, wenn sie mit einem Eigenschaftswort näher beschrieben werden123. Damit hatte der Gesetzgeber zwar in § 18 Abs. 4d UStG durch Ein­ führung des mit verbindlicher Wirkung in Art. 7 Abs. 1 MwSt-DVO124 definierten Tatbestandsbestandsmerkmals „elektronische Dienstleistungen“ begonnen. Bedauerlicherweise wird er nach der Beseitigung dieses Begriffs die derzeitige umständliche Formulierung in § 3a Abs. 5 Satz 2 Nr. 3 UStG nicht so bald durch ihn ersetzen. Es wäre wünschenswert, wenn wenigstens das BMF für bestimmte näher bezeichnete  Dienstleistungen die unionalen Bezeichnungen in seine Verwaltungsanordnungen  aufnehmen würde. Einen erfreulichen Anfang hat es im BMF-Schreiben vom 20.3.2013 gemacht, in dem der in Art. 6 MwSt-DVO enthaltene Begriff der „unterstützenden Dienstleistungen“ in den Abschn. 3.6. UStAE übernommen wurde. Die aus § 3 Abs. 9 Satz 1 UStG und Art. 24 Abs. 1 MwStSystRL ersichtliche inhaltliche Übereinstimmung der Mehrdeutschigkeiten sonstige Leistung und Dienstleistung wird nicht nur im Schrifttum125, sondern auch in der BFH-Rechtsprechung126 häufig und im UStAE vereinzelt127 durch Verklammerung beider Begriffe verdeutlicht. Der 122 Siehe zu diesem Begriff und seinen unionalen Grundlagen BFH v. 1.6.2016 – XI R 29/14, BStBl. II 2016, 905 = UR 2016, 793 mit kritischer Anm. Luther. 123 Z.B. „gemeinwohlorientierte Dienstleistung“ in die Neufassung des § 4 Nr. 14 Buchst. d UStG, siehe dazu Abschnitt III.2. letzter Abs. 124 Art. 24 MwStSystRL. Abschn. 3a.12.UStAE übernimmt die Definition des Art. 7 MwStDVO mit teilweise davon abweichenden Formulierungen, denen nicht die Verbindlichkeit  einer EU-Verordnung zukommt. Demgegenüber unterstreicht das BFH-Urteil v. 1.6.2016 – XI R 29/14, BStBl. II 2016, 905 = UR 2016, 793, die Maßgeblichkeit des Art. 7 MwStDVO und seiner Vorgängerregelung. 125 Siehe Zitate in einer Fußn. oben in Abschnitt III.1. 126 Siehe neben den bereits in Lohse, UR 2012, 8, Fußn. 22 genannten Urteilen die Zitate in einer Fußn. oben in Abschnitt III.1. 127 Abschn. 3.3. Abs. 2 Satz 4 UStAE.

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BFH hat sich sogar mehrfach128 veranlasst gesehen, „entgeltliche Dienstleistungen i.S. von Art. 2 Abs. 1 Buchst. c MwStSystRL“ durch den Klammerzusatz „(im nationalen Recht sonstige Leistungen gegen Entgelt i. S. von § 1 Abs. 1 Nr. 1 Satz 1 UStG)“ zu erläutern. Der Gesetzgeber sollte es jedoch nicht den Rechtsanwendern überlassen, die Verbindung des UStG mit dem Unionsrecht durch ständige Verklammerungen oder ähnliche Maßnahmen herzustellen. Er könnte die häufigen Wiederholungen dadurch beenden, dass er die Gleichsetzung ein einziges Mal ins Gesetz aufnimmt, z. B. durch Einfügung einer Verklammerung oder der Worte „und Dienstleistungen“ nach „sonstige Leistungen“ in § 3 Abs. 9 Satz 1 UStG. Damit ihm sein Gehilfe einen entsprechenden Vorschlag macht, müsste das BMF allerdings den zweifelsfreien Widerspruch von Abschn. 3.1. Abs. 4 Satz 2 UStAE zum unionalen Mehrwertsteuerrecht einsehen, in dem es heißt: Als sonstige Leistungen kommen insbesondere in Betracht: Dienstleistungen …“. Denn Dienstleistungen sind kein Unterfall der sonstigen Leistungen, sondern mit ihnen identisch.

IV. Vorsteuerabzugsvoraussetzungen 1. Vorsteuerabzugsvoraussetzung: Eingangsumsätze für wirtschaftliche Tätigkeit versus für das Unternehmen/für die unternehmerische Tätigkeit Seit dem EuGH-Urteil VNLTO129 musste sich die Fachwelt darauf einstellen130, dass das Tatbestandsmerkmal Unternehmen an unterschiedlichen Stellen des UStG einen unterschiedlichen Inhalt hat131. Es ist bereits oben in Abschnitt II.2. festgestellt worden, dass die Vorsteuerabzugsvoraussetzung des Bezugs von Eingangsumsätzen „für das Unternehmen“ i.S.d. § 15 Abs. 1 UStG nach der Rechtsprechung des EuGH und BFH dem Bezug „für die wirtschaftliche Tätigkeit“ entspricht. Dieser deutsche Unternehmensbegriff ist irreführend132, weil er zum einen enger ist als der in der MwStSyst­ RL verwendete und zum anderen eine dem unionalen Mehrwertsteuerrecht widersprechende unternehmensbezogene Abzugsvoraussetzung aufstellt. Er wird daher nach nunmehr ständiger BFH-Rechtsprechung133 mit folgender stereotyper Formu128 Siehe z.B. aus jüngster Zeit BFH v. 18.7.2017 – XI B 24/17, BFH/NV 2018, 60, Rz. 20, und BFH v. 28.6.2017 – XI R 12/15, UR 2017, 758, Rz. 31. 129 EuGH v. 12.2.2009 – C-515/07 – Vereiniging Noordelijke Land- en Tuinbouw Organisatie (VNLTO), UR 2009, 199, mit folgenden Anm.: Korn, DStR 2009, 372; Haunold/Tumpel/ Widhalm, SWI 2009, 257; Klenk, HFR 2009, 422; Korf, DB 2009, 758; Nieskens, EU-UStB 2009, 19; Slapio/Erdbrügger, EU-UStB 2009, 26; Lohse, IStR 2009, 486; Spiegel/Heidler, DStR 2009, 1507; Korn, BeSt 2009, 27; Sterzinger, UR 2010, 125; Lippross, DStZ 2012, 320; Pull, MwStR 2013, 611. 130 A.A. Kahle/Lipp, DStR 2013, 1205, 1211, die dem Urteil VNLTO Begriffsverwirrung vorwerfen. 131 Siehe dazu im einzelnen Lohse, Umsatzsteuer-Unwort: Unternehmen, Zugleich Besprechung des EuGH-Urteils VNLTO, IStR 2009, 486. 132 So Oelmaier in Sölch/Ringleb, § 15 UStG Rz. 190. 133 BFH v. 24.9.2014 – V R 54/13, BFH/NV 2015, 364, Rz. 24; BFH v. 18.2.2016 – V R 23/15 (Seeling-Altfall), BStBl. II 2016, 496 = UR 2016, 484, Rz. 16 m.w.RSprH; BFH v. 1.6.2016 – XI R 17/11, BStBl. II 2017, 581 = UR 2016, 673, Rz. 27; BFH v. 3.8.2017 – V R 62/16, UR

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lierung richtlinienkonform als „wirtschaftliche Tätigkeit“ ausgelegt: Der Unternehmer ist zum Vorsteuerabzug berechtigt, „soweit er Leistungen für sein Unternehmen (§ 2 Abs. 1 UStG, Art. 9 Abs. 1 MwStSystRL) und damit für seine wirtschaftliche Tätigkeit“ bezieht. Damit macht der BFH eine solche wirtschaftliche Tätigkeit nicht nur – wie die Definition des Steuerpflichtigen in Art. 9 MwStSystRL – zu einem Definitionsbestandteil des Steuersubjekts, sondern auch zu einer Voraussetzung für den Vorsteuerabzug nach § 15 Abs. 1 UStG. Dies entspricht auch der ständigen Rechtsprechung des EuGH zu Art. 168 MwStSystRL, wonach der Vorsteuerabzug voraussetzt, dass der Eingangsumsatz für die wirtschaftliche Tätigkeit verwendet wird134. In § 15 Abs. 1 UStG wird der nach Satz 1 unbegrenzt mögliche Vorsteuerabzug durch die 90%-Grenze des Satzes 2 stark eingeschränkt. Danach wird ein Gegenstand nicht „für das Unternehmen“ bezogen, wenn der Unternehmer ihn zu weniger als 10 % „für sein Unternehmen“ nutzt. Diese Vorschrift soll den nach Satz 1 möglichen Vorsteuerabzug von einer wirtschaftlichen  =unternehmerischen Mindestnutzung abhängig machen, knüpft aber dabei an den Unternehmensbegriff des Satzes 1 an. Die MwStSystRL enthält keine solche Einschränkung und lässt sie auch nicht ohne weiteres zu. Die Einschränkung des § 15 Abs. 1 Satz 2 UStG bedarf daher einer Genehmigung des Rates135. Eine solche hat Deutschland erstmalig im Jahre 2000136 und später noch mehrmals erhalten. Die im Jahre 2008 geltende Genehmigung war Gegenstand des EuGH-Urteils Landkreis Potsdam-Mittelmark.137 Nach ihr138 durfte Deutschland Ausgaben für Gegenstände und Dienstleistungen vom Vorsteuerabzug ausschließen, „die zu mehr als 90 % für private Zwecke des Steuerpflichtigen … oder allgemein für unternehmensfremde Zwecke genutzt werden“. § 15 Abs. 1 Satz 2 UStG wäre nur dann von dieser Ermächtigung gedeckte gewesen, wenn der Begriff der unternehmensfremden Zwecke auch die nichtwirtschaftliche Tätigkeit umfasst hätte. Dies hat der EuGH jedoch abgelehnt. Nach seiner Auffassung dient „dieser Begriff nicht die Unterscheidung zwischen wirtschaftlichen und nicht wirtschaftlichen Zwecken“139. Unternehmensfremd ist vielmehr wie in Art. 26 MwStSystRL140 auszulegen, der nicht den Vorsteuer2018, 170, Rz. 22; BFH v. 19.1.2016 – XI R 38/12, BStBl. II 2017, 567 = UR 2016, 312, Rz. 37. 134 Siehe aus jüngster Zeit EuGH v. 28.2.2018 – C-672/16 – Imofloresmira – Investimentos Imobiliários, MwStR 2018, 391, Rz. 38 f., und EuGH v. 26.4.2018 - C-81/17 - Zabrus Siret, HFR 2018, 508, Rz. 34, jeweils m.w.RSpr.H. 135 Dies forderten Art. 27 Abs. 1 Satz 1 der 6. MwStRL und fordert heute Art. 395 MwStSyst­ RL. 136 ABl. EG Nr. L 59 v. 4.3.2000, UR 2000, 205. 137 EuGH v. 15.9.2016 – C-400/15– Landkreis Potsdam-Mittelmark, UR 2016, 840, mit folgenden Anm.: Pull, MwStR 2016, 838; Haunold/Stangl/Tumpel, SWI 2016, 58; Sterzinger, UR 2016, 844; Pfefferle/Renz, NWB 2016, 3537. 138 Entscheidung 2004/817/EG des Rates v. 19.11.2004, abgedruckt in Rz. 9 des Urteils Landkreis Potsdam-Mittelmark, UR 2017, 841. 139 Rz. 39 des Urteils Landkreis Potsdam-Mittelmark. 140 Das Urteil betrifft und nennt Art. 6 der 6. MwSt-RL; das ist die Vorgängervorschrift des Art. 26 MwStSystRL.

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abzug betrifft, sondern die Wertabgabebesteuerung der „Verwendung eines dem Unternehmen zugeordneten Gegenstands für den privaten Bedarf … oder allgemein für unternehmensfremde Zwecke, wenn dieser Gegenstand zum … Vorsteuerabzug berechtigt hat“. Bei einer Analyse des Urteils Landkreis Potsdam-Mittelmark ist zu berücksichtigen, dass sich der EuGH bei der Abkoppelung des Tatbestandsmerkmals „unternehmensfremd“ von „nicht wirtschaftlich“ auf sein Urteil VNLTO bezogen hat. Nach Rz. 38 dieses Urteils enthält Art. 26 MwStSystRL „keine allgemeine Regel, nach der Tätigkeiten, die nicht in den Anwendungsbereich der Mehrwertsteuer fallen“, d.h. die nicht wirtschaftlichen Tätigkeiten, „als Tätigkeiten betrachtet werden können, die für unternehmensfremde Zwecke im Sinne dieser Vorschrift ausgeführt werden“. Diese Aussage muss im Zusammenhang mit der Tatsache gesehen werden, dass die von den beiden Urteilen betroffenen Unternehmen hauptsächlich Tätigkeiten ausübten, die grundsätzlich keinem wirtschaftlichen sondern einem hoheitlichen bzw. ideellen Zweck dienten. Die nichtunternehmerischen Haupttätigkeiten eines ideellen Zwecken dienenden Vereins und die Hoheitstätigkeiten einer Person des öffentlichen Rechts sind bei diesen nicht unternehmensfremd141, sondern im wahrsten Sinne des Wortes unternehmenseigen oder -zugehörig. Unternehmensfremd ist bei solchen Unternehmen der nicht hoheitliche oder nicht ideelle Bereich, d.h. der wirtschaftliche Tätigkeitsbereich, in dem Umsätze ausgeführt werden, die der Mehrwertsteuer unterliegen. Aufgrund der Beschränkung der Urteile VNLTO und Landkreis Potsdam-Mittelmark auf Gebietskörperschaften und Idealvereine kann die Abkoppelung des Begriffs „unternehmensfremd“ von „nicht wirtschaftlich“ nicht auf natürliche Personen übertragen werden. Wenn diese wirtschaftlich tätig sind, d. h. die Eigenschaft eines Steuerpflichtigen i.S.d. Art. 9 MwStSystRL oder eines Unternehmers i.S.d. § 2 UStG besitzen, haben sie daneben stets auch und nur noch einen privaten Bereich. Bei ihnen gehört zum Unternehmen alles, was nicht zu ihrem privaten Bereich gehört. Daher ist ihr privater Bereich stets auch unternehmensfremd und zeichnet sich dadurch aus, dass in ihm keine wirtschaftlichen = unternehmerischen Tätigkeiten ausgeübt werden. Insoweit rechnet das BMF in Abschn. 2.3. Abs. 1a Satz 4 UStAE die Verwendung „für den privaten Bedarf des Unternehmers als natürliche Person“ zu Recht zu den unternehmensfremden Tätigkeiten und verklammert unternehmensfremd mit privat. Zu diesem Bereich gehören auch die von einer natürlichen Person im Rahmen einer bloßen Vermögensverwaltung gehaltenen Wertpapiere mit den daraus bezogenen Dividenden. Die Gleichsetzung der nicht wirtschaftlichen Tätigkeiten natürlicher Personen mit ihren privaten und unternehmensfremden Tätigkeiten wird durch die Rechtsprechung des EuGH bestätigt. In Rz. 32 des Urteils Landkreis Potsdam-Mittelmark spricht der EuGH von einer „unternehmensfremden, nämlich privaten Verwendung“. Nach Rz. 39 des Urteils VNLTO ist die „private Nutzung … begriffsmäßig ein dem Unternehmen des Steuerpflichtigen völlig fremder Zweck“. Diese Gleichsetzung hatte 141 Ebenso Wäger, UR 2017, 89.

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allerdings keine Bedeutung für den Fall des Landkreises Potsdam-Mittelmark, da dieser als Gebietskörperschaft keinen privaten Bereich besaß und seine wirtschaftliche Tätigkeit in seinem unternehmensfremden Bereich stattfand. Wenn eine natürliche Person, wie der Landkreis, nur zu 2,65 % wirtschaftlich tätig wird, so bildet dieser Bereich ihr Unternehmen, sodass ihre privaten Aktivitäten stets sowohl unternehmensfremd als auch nichtwirtschaftlich sind. Daraus folgt, dass bereits die früheren Genehmigungen, die nur einen Ausschluss des Vorsteuerabzugs für private oder allgemein für unternehmensfremde von mehr als 90 % zuließen, die Versagung des Vorsteuerabzugs gem. § 15 Abs. 1 Satz 2 UStG bei einer nur zu 2,65 % wirtschaftlich tätigen natürlichen Person gestatten. In Rz. 29 seiner Abschlussentscheidung zum Urteil Landkreis Potsdam-Mittelmark hat der der BFH142 die ab 1.1.2016 geltende Zustimmung des Rates143 wörtlich abgedruckt, nach der Deutschland nun auch die Vorsteuer auf Eingangsleistungen ausschließen darf, die zu mehr als 90 % für die in Art. 26 MwStSystRL genannten Zwecke und für nichtwirtschaftliche Tätigkeiten genutzt werden. Daraus wird ersichtlich, dass der in §  15 Absatz 1 Satz 2 UStG verwendete Unternehmensbegriff dem der „wirtschaftlichen Tätigkeit“ i.S.d. Vorsteuerrechtsprechung des EuGH und des Definitionsmerkmals des Steuerpflichtigen in Art. 9 Abs. 1 MwStSystRL entspricht. 2. Das Unternehmen als steuerrelevantes und -irrelevantes Zuordnungsziel Durch die Anknüpfung des EuGH an die Regelung des Art. 26 MwStSystRL gewinnen die Urteile Landkreis Potsdam-Mittelmark und VNLTO auch Bedeutung für den in dieser Vorschrift enthaltenen Unternehmensbegriff, der dem Begriff unternehmensfremd sprachlich und denkgesetzlich zugrunde liegt144. Nach Rz. 32 des Urteils Landkreis Potsdam-Mittelmark folgt „die Unterscheidung wirtschaftliche und nichtwirtschaftliche Tätigkeit anderen Kriterien als die Unterscheidung zwischen einer unternehmerischen Verwendung und einer unternehmensfremden, nämlich privaten Verwendung“. Da wirtschaftliche und unternehmerische Verwendung den gleichen Inhalt haben, bedeutet dieser Satz, dass die nicht wirtschaftliche Verwendung von der unternehmensfremden zu unterscheiden ist. Die Abkoppelung des Tatbestandsmerkmals „unternehmensfremd“ von den zwingenden umsatzbezogenen Regelungen der Gewährung und des Ausschlusses vom Vorsteuerabzug gilt daher auch für das ihm zugrundeliegende Tatbestandsmerkmal Unternehmen. Bei dem in Art. 26 MwStSystRL gennannten Zuordnungsziel muss wieder145 unterschieden werden, ob es sich dabei um das Unternehmen einer natürlichen Person oder eines Personenzusammenschlusses handelt. Da bei natürlichen Personen das Unternehmen neben den – stets nichtwirtschaftlichen = nichtunternehmerischen – 142 BFH v. 16.11.2016 – XI R 15/13, BStBl. II 2018, 237 = UR 2017, 150. 143 Durchführungsbeschluss (EU) 2015/2428 des Rates v. 10.12.2015. 144 Siehe dazu auch die im vorstehenden Abschnitt zitierte Rz. 39 des Urteils VNLTO, in der der EuGH „unternehmensfremd“ und „dem Unternehmen völlig fremder Zweck“ gegenüberstellt. 145 Siehe bereits vorstehenden Abschnitt IV.1.

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Privatbereich tritt, besteht es nur aus der Tätigkeit des Steuersubjekts als Unternehmer oder Steuerpflichtiger, d. h. aus der unternehmerischen = wirtschaftlichen Tätigkeit der natürlichen Person. Bei juristischen Personen und anderen Personengemeinschaften umfasst das Unternehmen nicht nur den Bereich der wirtschaftlichen sondern auch der nichtwirtschaftlichen Tätigkeit, der zunächst keine Beziehung zur Mehrwertsteuer haben muss. Als Unternehmen in diesem Sinne kann jede technisch-organisatorische (betriebswirtschaftliche) Betätigung146 bzeichnet werden, auch wenn durch sie keine Umsätze in Gestalt von Leistungen gegen Entgelt erbracht werden (sollen). Bei diesen Personenzusammenschlüssen muss Art und Umfang des Unternehmens aus ihrer Grundordnung147 entnommen werden. Diese ergibt sich bei öffentlichen Einrichtungen aus den für sie geltenden Rechtsvorschriften und bei privaten Zusammenschlüssen aus der Gründungsvereinbarung der Mitglieder, z. B. der Satzung von Vereinen und Kapitalgesellschaften. Daher befindet sich das Unternehmen i.S. des Art.  26 MwStSystRL bei öffentlichen Einrichtungen und Idealvereinen grundsätzlich außerhalb des Anwendungsbereichs der MwStSystRL. Das ist bei Gemeinden der hoheitliche Bereich und bei Idealvereinen der ideelle Bereich148. Üben sie daneben auch eine wirtschaftliche Tätigkeit aus, ist diese unternehmensfremd i.S. dieser Vorschrift149. Dies war beim Landkreis Potsdam-Mittelmark offenkundig, weil die aus 2,65 % bestehende wirtschaftliche Tätigkeit des Landkreises gegenüber seinem Unternehmen, das hoheitlichen Aufgaben diente, unternehmensfremd war. In gleicher Weise sind wirtschaftliche Tätigkeiten unternehmensfremd, wenn die Unternehmen von Personenzusammenschlüssen betrieben werden, die  – wie VNLTO  – ideelle Zwecke150 und Mitgliederinteressen verfolgen. Auch das Unternehmen einer Finanzholding, die nur Vermögensverwaltung zur Erzielung von Dividenden betreibt, dient keiner wirtschaftlichen Tätigkeit151, sodass auch eine in seinem Rahmen ausgeübte zusätzliche wirtschaftliche Tätigkeit als unternehmensfremd beurteilt und bezeichnet werden kann. Umgekehrt bildet das Unternehmen bei Erwerbsgemeinschaften, die Steuersubjekte des Mehrwertsteuerrechts sind, den Rahmen zur Ausführung ihrer wirtschaftlichen = unternehmerischen Tätigkeiten. Bei ihnen sind – wie bei natürlichen Personen  – ihre daneben ausgeübten nichtwirtschaftlichen = nichtunternehmerischen Tätigkeiten die unternehmensfremden i.S.v. Art. 26 MwStSystRL. Art. 26 MwStSystRL verlangt nur dann eine Wertabgabebesteuerung der privaten und unternehmensfremden Verwendung eines Gegenstands, wenn dessen Unterneh146 So die unjuristische aber zutreffende Formulierung von Stadie in Rau/Dürrwächter, § 15 UStG Rz. 659. 147 Ähnlich Oelmaier, UR 2014, 600, 603, der unter Hinweis auf das EuGH-Urteil VNLTO auf die Zweckbestimmung des Unternehmens abstellt. 148 Abschn. 2.3. Abs. 1a UStAE. 149 Siehe dazu auch oben Abschnitt IV.1. 150 Wäger, UR 2012, 25, bezeichnet die Haupttätigkeit von VNLTO treffend als „nichtwirtschaftlich-ideelle Zweckverfolgung“. 151 EuGH v. 16.7.2015  – C-108/14 und C-109/14  – Larentia + Minerva und Marenave, ­BStBl. II 2017, 604 = UR 2015, 671.

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menszuordnung zum Vorsteuerabzug geführt hat. Das ist nach der Rechtsprechung des EuGH bei natürlichen Personen der Falle, wenn sie einen teilweise für den privaten Bedarf verwendeten Gegenstand ihrem Unternehmen, d. h. ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit zuordnen können152 und tatsächlich zugeordnet haben. Gemäß Art.  26 MwStSystRL wird der mit der Zuordnung zum Unternehmen erreichte Vorsteuerabzug durch Besteuerung der privaten Verwendung zeitanteilig wieder korrigiert. Bei Erwerbsgesellschaften kann keine private, sondern nur eine unternehmensfremde Verwendung des Unternehmensgegenstands neben die im Vordergrund stehende wirtschaftliche Tätigkeit treten. Diese Verwendung führt allerdings nicht zur Besteuerung, weil der Gegenstand bei seinem Erwerb teilweise nicht zum Vorsteuerabzug berechtigt hat. Dies ist nach der Rechtsprechung des EuGH153 der Fall, soweit der Gegenstand von vornherein teilweise für eine nicht wirtschaftliche Tätigkeit verwendet wird. Der auf Art. 26 MwStSystRL beruhende § 3 Abs. 9a UStG enthält das dortige Tatbestandsmerkmal unternehmensfremd nicht. Die Vorschrift fordert in Nr. 1 die Besteuerung bei einer „Verwendung eines dem Unternehmen zugeordneten Gegenstands durch einen Unternehmer für Zwecke, die außerhalb des Unternehmens liegen“. Im Hinblick auf Art. 26 MwStSystRL umfasst das Tatbestandsmerkmal „außerhalb des Unternehmens“ bei der gebotenen richtlinienkonformen Auslegung eine „Verwendung für den privaten Bedarf und allgemein für unternehmensfremden Zwecke“. Die Kommentarliteratur154 verwendet für die außerhalb des Unternehmens liegenden Zwecke teilweise die Kurzbezeichnung außerunternehmerische Zwecke. Damit vermeidet sie zwar sprachlich begrüßenswert einen Nebensatz. Doch knüpft „außerunternehmerisch“ an die Tätigkeit des Steuersubjekts und nicht an das in Art. 26 MwStSystRL und §  3 Abs.  9a Nr. 1 UStG genannte Zuordnungsziel Unternehmen an. Vorzugswürdig ist daher die Beibehaltung des unionalen Begriffs unternehmensfremd und privat. Mit der Verwendung dieses Begriffs kann dem Gesetzgeber zugleich die Mehrdeutschigkeit vor Augen geführt und die Forderung unterstützt werden, den Nebensatz „Zwecke, die außerhalb des Unternehmens liegen“ durch die Formulierung des Art. 26 MwStSystRL zu ersetzen. Bei jeweils teilweise unternehmerisch = wirtschaftlich und privat genutzten Grundstücken führt die Möglichkeit der Zuordnung mit Vorsteuerabzug bei nur geringfügiger wirtschaftlicher Verwendung und aufgrund der anschließenden auf eine lange Zeit verteilten Wertabgabebesteuerung der privaten Verwendung zu einem unerwünschten Steuersparmodell, das der EuGH durch die sog. Seeling-Rechtsprechung zugelassen hatte. Zur Beseitigung dieses für Nichtunternehmer = Nichtsteuerpflichtige nicht gangbaren Sparmodells wurde die Verwendungsbesteuerung des Art.  26 MwStSystRL durch den Ende 2009155 eingefügten Art.  168a MwStSystRL in einen 152 Zu dem nach ständiger Rechtsprechung bestehenden dreifachen Wahlrecht siehe Rz. 33 des EuGH-Urteils v. 15.9.2016  – C-400/15  – Landkreis Potsdam-Mittelmark, UR 2016, 840. 153 EuGH v. 12.2.2009 – C-515/07 – VNLTO, UR 2009, 199, Rz. 37. 154 Nieskens in Rau/Dürrwächter § 3 Rz. 1680; Hahn in Weymüller, § 3 UStG Rz. 164, 504. 155 Siehe Richtlinie 2009/162/EU des Rates v. 22.12.2009, ABl. EU Nr. 10 v. 15.1.2010, 14.

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Vorsteuerausschluss umgewandelt. Die darin aufgestellten Vorsteuerausschluss-Vo­ raussetzungen stimmen mit den in Art. 26 Abs. 1 Buchst. a MwStSystRL genannten Besteuerungs-Voraussetzungen überein. Beide Vorschriften erfordern für ihre unterschiedlichen Rechtsfolgen mehr oder weniger wörtlich übereinstimmend „eine Verwendung des dem Unternehmen zugeordneten Gegenstands/Grundstücks für den privaten Bedarf des Steuerpflichtigen oder seines Personals oder allgemein für unternehmensfremde Zwecke“, die nach Art. 168a MwStSystRL „neben die Verwendung für unternehmerische Zwecke“ treten muss. Damit bringt die Neuregelung deutlich zum Ausdruck, dass sie nur Grundstücke betrifft, die bei ihrer Anschaffung neben ihrer unternehmerischen auch einer nichtunternehmerischen Verwendung dienen. Anwendungsvoraussetzung ist also eine teilunternehmerische Verwendung i.S.d. BMF-Schreiben v. 2.1.2012156. Den Umfang des Vorsteuersteuerabzugs bestimmt Art. 168a MwStSystRL ebenfalls durch die teilweise unternehmerische Nutzung. Er folgt allerdings insoweit dem deutschen Begriff „unternehmerisch“, wie er im UStG und im UStAE verwendet wird157. Art. 168a MwStSystRL wurde in § 15 Abs. 1b UStG umgesetzt158. Dabei ist der deutsche Gesetzgeber mehrfach von der vorgegebenen unionalen Terminologie abgewichen159. Der sprachliche Unterschied beider Regelungen besteht zum einen darin, dass der Vorsteuerabzug in Art.  168a MwStSystRL teilweise gewährt und in §  15 Abs. 1b UStG teilweise ausgeschlossen wird. Zum anderen bestehen zwischen beiden Regelungen die gleichen sprachlichen Differenzen wie zwischen § 3 Abs. 9a UStG und dem ihm zugrundeliegenden Art. 26 MwStSystRL. § 15 Abs. 1b UStG schließt den Vorsteuerabzug – wörtlich mit § 3 Abs. 9a Nr. 1 UStG übereinstimmend – teilweise aus, wenn ein „Unternehmer ein Grundstück sowohl für Zwecke seines Unternehmens als auch für Zwecke, die außerhalb des Unternehmens liegen“, verwendet. Gegen das Tatbestandsmerkmal „außerhalb der Unternehmens“ im Tatbestand des § 15 Abs. 1b UStG sprechen die gleichen Gründe160 wie gegen die Formulierung in dem auf Art. 26 MwStSystRL beruhenden § 3 Abs. 9a UStG. Mit dem an Art. 26 MwStSyst­ RL anknüpfenden Begriff „unternehmensfremd“ hätte der deutsche Gesetzgeber der vom Urteil Landkreis Potsdam-Mittelmark festgestellten unionalen Bedeutung folgen müssen161. Versteht man unter den außerhalb des Unternehmens liegenden Zwecken richtlinienkonform nur die unternehmensfremden (privaten) Zwecke, die bei natürlichen Personen und Erwerbsgesellschaften stets deren nichtwirtschaftlicher Tätig156 Siehe dazu oben Abschnitt II.2. 157 Dazu, dass es besser „teilweise wirtschaftliche Nutzung“ heißen müsste, siehe oben Abschnitt II.2. 158 Siehe dazu Regierungsbegründung zum Jahressteuergesetz 2010, BR-Drucks. 318/10, zu Art. 4. 159 In der Kommentarliteratur wird dies vornehm zurückhaltend als unerfreulich und unverständlich oder nicht präzise formuliert (Wagner in Sölch/Ringleb, § 15 UStG Rz. 533 und 536) oder unnötig umständlich (Widmann in Schwarz/Widmann/Radeisen, §  15 UStG Rz. 356) bezeichnet. 160 Siehe zu den Begriffen unternehmensfremd und außerhalb des Unternehmens in diesem Abschnitt den Abs. vor dem vorstehenden Abs.  161 Gl. A. Wagner in Sölch/Ringleb, § 15 UStG Rz. 537.

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keit dienen, so wird der Vorsteuerabzug für diese Tätigkeiten bei diesen Steuersubjekten nicht erst durch § 15 Abs. 1b UStG sondern bereits auf der Ebene des 15 Abs. 1 Satz 1 UStG ausgeschlossen162. Bei ihnen bleibt für eine Anwendung des § 15 Abs. 1b UStG ebenso wenig Raum wie für die Tätigkeiten von Personenzusammenschlüssen, die keine Steuersubjekte und daher nicht wirtschaftlich163 tätig sind164. Den Umfang des Ausschlusses bestimmt § 15 Abs. 1b UStG durch die Nichtverwendung des Grundstücks für Zwecke des Unternehmens. Mit diesem Tatbestandsmerkmal Unternehmen benutzt der deutsche Gesetzgeber nicht den in Art.  168a und Art. 26 MwStSystRL enthaltenen, sondern den in § 15 Abs.1 UStG enthaltenen richtlinienwidrigen engen Unternehmensbegriff. Er hätte den Ausschluss jedoch  – wie Art 168a MwStSystRL – nach der Nichtverwendung für die unternehmerische Tätigkeit bemessen und zumindest165 diesen bereits in § 3a Abs. 5 UStG verwendeten166 Begriff übernehmen müssen. Durch die dreimalige Verwendung des Unternehmensbergriffs in einem einzigen Satz des § 15 Abs. 1b UStG zeigt der deutsche Gesetzgeber eine kaum noch zu überbietende qualifizierte Bewusstseinsspaltung, die als legistische Schizophrenie beurteilt werden muss. Sie kann nur durch eine richtlinienkonforme Auslegung besonderer Art beseitigt werden. Denn beide Unternehmensbegriffe sind im Hinblick auf Art.  168a MwStSystRL unterschiedlich auszulegen167. Der im Tatbestand des §  15 Abs. 1b UStG zu Beginn zweimal verwendete Unternehmensbegriff ist entsprechend seiner Herkunft aus Art. 168a MwStSystRL wie in dieser Vorschrift und in Art. 26 MwStSystRL auszulegen. Demgegenüber ist das in der Rechtsfolge am Schluss des §  15 Abs.  1b UStG zum dritten Mal verwendete Tatbestandsmerkmal wie in der Rechtsfolge des Art.  168a MwStSystRL als unternehmerische Tätigkeit auszulegen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass „unternehmerische Tätigkeit“ in Art. 168a MwStSystRL nach der üblichen Terminologie der MwStSystRL die gleiche Bedeutung hat wie die in der Rechtsprechung des als Vorsteuerabzugsvoraussetzung geforderte „wirtschaftliche Tätigkeit“ 168. Diese Auffassung stimmt mit Rz. 10 des BFH-Urteils V R 23/10169 überein, das die teilweise Gewährung des Vorsteuerabzugs bei teilweiser Verwendung für eine wirtschaftliche Tätigkeit betrifft. 162 Gl.A. Stadie in Rau/Dürrwächter, § 15 UStG Rz. 1429. 163 Zum Ausschluss des Vorsteuerabzugs für diese Personen wegen deren „nicht wirtschaftlichen Tätigkeit im engeren Sinne“ siehe Abschn. 15.6a. Abs. 1 Satz 4 UStAE. 164 Siehe zu den unternehmensfremden = nichtwirtschaftlichen Bereiche bei diesem Personenkreis auch oben Abschnitt IV.1. 165 Siehe zur vorzugswürdigen Benutzung des Begriffs „wirtschaftliche Tätigkeit“ anstelle „unternehmerische Tätigkeit“ Abschnitt II.2. 166 Die Gegenüberstellung von unternehmerisch und nicht unternehmerisch verwendet das UStG in § 3a Abs. 5 UStG in der Fassung, die seit 1.1.2015 gilt. 167 Pull, Sphärentheorie, S. 89, spricht von „differenzierender“ Auslegung, die nicht nur die Rechtsanwendung erschwert, sondern mit der Deutschland auch nicht seiner Umsetzungspflicht genügt. 168 Gl. A. zur Übereinstimmung der beiden Begriffe Wagner in Sölch/Ringleb, §  15 UStG Rz. 535. 169 BFH v. 3.3.2011 – V R 23/10, BStBl. II 2012, 74 = UR 2011, 617.

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3. Zusammenfassender Ausblick zum Vorsteuerabzug Das Urteil Landkreis Potsdam-Mittelmark hat erneut und eindringlich deutlich gemacht, dass der richtlinienfremde enge Unternehmensbegriff des § 15 UStG nicht mit dem in Art. 26 MwStSystRL enthaltenen Unternehmensbegriff übereinstimmt. Er ist daher möglichst bald aus seiner dreimaligen Verwendung in § 15 Abs. 1b UStG zu eliminieren. Die Rechtsfolgeregelung im letzten Teil dieser Vorschrift darf nicht mehr an die „Zwecke für das Unternehmen“ sondern muss wie Art. 168a MwStSystRL zumindest an die „unternehmerischen Zwecke“ anknüpfen. Aus den beiden im vorstehenden Abschnitt behandelten EuGH-Urteilen zu Art.  26 MwStSystRL ergibt sich, dass nur der Unternehmensbegriff des mit dieser Vorschrift übereinstimmenden Art. 168a MwStSystRL im ersten Teil des § 15 Abs.1b UStG erhalten bleiben darf. Eine derartige Sanierung des § 15 Abs. 1b UStG bleibt allerdings nur halbherzig und ungenügend, wenn nicht gleichzeitig in § 15 UStG insgesamt der richtlinienwidrige enge Unternehmensbegriff eliminiert wird. Dazu ist notwendig, dass der Gesetzgeber der nunmehr ständigen Rechtsprechung folgt und in § 15 Abs. 1 UStG als Vorsteuerabzugsvoraussetzung ebenfalls nicht mehr den Bezug von Eingangsumsätzen „für das Unternehmen“170 sondern zumindest „für unternehmerische Tätigkeit“ fordert. Diesen Begriff enthält bereits § 3a Abs. 2 Satz 3 UStG bei der Ortsbestimmung für juristische Personen. Vorzugswürdiger wäre es jedoch, den irreführenden engen Unternehmensbegriff des § 15 Abs. 1 UStG sogleich durch „wirtschaftliche Tätigkeit“ zu ersetzen171. Die Einführung des Tatbestandsmerkmals „wirtschaftliche Tätigkeit“ in die Vorsteuerregelung des § 15 UStG ist auch dann schon möglich und erforderlich, wenn der Gesetzgeber diesen Begriff (noch) nicht als Definitionsmerkmal des Unternehmerbegriffs in den § 2 Abs. 1 UStG aufnimmt. Die an den Gesetzgeber gerichtete Forderung macht es zugleich notwendig, dass das neue Personal seines Gehilfen die bisher formell geäußerte Verweigerungshaltung172 aufgibt und sich der immer mehr an Gewicht gewinnenden unionsrechtlichen Terminologie der ständigen EuGH-173 und BFH-Rechtsprechung anschließt, die sich auch in der Fachliteratur durchgesetzt hat. Der UStAE trägt der von der Rechtsprechung geklärten, aber bisher nicht gesetzlich fixierten Rechtslage nur unzureichend Rechnung, wenn er für den Vorsteuerabzug in Abschn. 15.2b. Abs. 2 UStAE unter Zitierung des BFH-Urteils V R 38/09174 immer noch auf die Verwendung „für das Unternehmen i.S. des §  2 Abs.  1 UStG und damit für die unternehmerische Tätigkeit“ abstellt. Gleiches gilt für Abschn. 15.2c. Abs. 5 UStAE, wonach ein Gegenstand „nicht als für das Unternehmen“ bezogen gilt, wenn der Unternehmer diesen „zu weniger als 170 Gl. A. Pull, MwStR 2013, 611, 616, und Pull, Sphärentheorie, S. 100, die dringend die Anpassung des Unternehmensbegriffs an die unionsrechtliche Terminologie anmahnt. 171 Auf die Bedeutungsgleichheit des „irreführenden“ Unternehmensbegriffs mit wirtschaftlicher Tätigkeit verweist auch Oelmeier in Sölch/Ringleb, § 15 UStG Rz. 190 m.v.RSprH. 172 Siehe dazu das oben in Abschnitt II.2. behandelte BMF-Schreiben v. 2.1.2012. 173 Zur zunehmende Zahl und Bedeutung der EuGH-Rechtsprechung siehe Höink/Langenhövel, BB 2018, 727 Abschnitt VII. 174 BFH v. 27.1.2001 – V R 38/09, BStBl. II 2001, 68 = UR 2011, 307. In dem Urteil verwendet der BFH noch unternehmerisch anstelle von wirtschaftlich.

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10 % für seine unternehmerische Tätigkeit verwendet“. Solche umständlichen Umschreibungen wären entbehrlich, wenn das Tatbestandsmerkmal für das Unternehmen durch wirtschaftliche Tätigkeit ersetzt würde. Als begrüßenswerter Schritt in die richtige Richtung ist es daher zu begrüßen, dass das BMF in den Abschn. 15.6a. und 15.19 UStAE den Begriff teilunternehmerisch175 eingeführt hat und für den Vorsteuerabzug jetzt die Verwendung für unternehmerische Zwecke und nicht mehr für das Unternehmen fordert. Jetzt bedarf es nur noch der Ersetzung von unternehmerisch durch wirtschaftlich oder der Gleichsetzung oder Verklammerung der beiden Begriffe. Der in Abschn. 15.6a. Abs.  1 UStAE angeordnete Vorsteuerausschluss bei einer Grundstücksverwendung für „nichtwirtschaftliche Tätigkeiten i.e.S.“ entspricht mit Ausnahme der letzten drei Buchstaben bereits der unionalen Terminologie der EuGH- und BFH-Rechtsprechung. 176

V. Allmähliche Beseitigung der Einträge am Pranger der Mehrdeutschigkeiten 1. Überblick über die Mehrdeutschigkeiten Mehrwertsteuerbegriff der MwStSystRL

aus dem UStG zu entfernender Begriff

Dienstleistung (Art. 24 Abs. 1 MwSt­ SystRL)

sonstige Leistung (§ 3 Abs. 9 Satz 1 UStG)

Telekommunikationsdienstleistung (Art. 58 Abs. 1 Buchst. a MwStSystRL)

sonstige Leistung auf dem Gebiet der Telekommunikation (§ 3 a Abs. 5 Satz 2 Nr. 1 UStG)

Restaurant- und Verpflegungsdienstleistung (Art. 55, 57 MwStSystRL)

Restaurationsleistung (§ 3a Abs. 3 b, § 3e Abs. 1 UStG)

Elektronische/elektronisch erbrachte Dienstleistung (Art. 58 Abs. 1 Buchst. c MwStSystRL)

auf elektronischem Weg erbrachte sonstige Leistung (§ 3 a Abs. 5 Satz 2 Nr. 3 UStG)

Mehrwertsteuer

Umsatzsteuer

Mehrwertsteuer-Identifikationsnummer (Art. 214 MwStSystRL)

Umsatzsteuer-Identifikationsnummer (§ 27a UStG)

Mehrwertsteuergruppe (Anhang A Nr. 2 der 2. MwSt-RL)176

Organschaft (§ 2 Abs. 2 Nr. 2 Satz 1 UStG)

175 Siehe zu diesem Begriff oben Abschnitt II.2. 176 Heinrichshofen, UR 2015, 722, und Höink/Langenhövel, BB 2018, 727, 728, verklammern beide Begriffe entsprechend der EuGH-Rechtsprechung zu Art. 11 MwStSystRL. Ähnlich Dahm/Hamacher, IStR 2013, 820, 823, 826, und BFH v. 22.2.2017 – XI R 13/15, UR 2017, 464, Rz. 50.

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Mehrdeutschigkeiten nur übergangsweise Mehrwertsteuerbegriff der MwStSystRL

aus dem UStG zu entfernender Begriff

Mehrwertsteuererstattung (Art. 146 Abs. 1 Buchst. c i.V.m. Abs. 2 MwStSystRL)

Steuervergütung (§ 4a UStG)

Vorsteuererstattung

Vergütung der Vorsteuer (18 Abs. 9 UStG i.V.m. §§ 59 ff. UStDV)

Steuerpflichtiger (Art. 9 Abs. 1 UA 1 MwStSystRL)

Unternehmer (§ 2 Abs. 1 Satz 1 UStG)

Nichtsteuerpflichtiger (Art 13 Abs. 1 UA 2, Art. 45 MwStSystRL)

Nichtunternehmer (§ 2b Abs. 1 Satz 2 UStG)

steuerpflichtige Person

Person, die Unternehmer ist

nicht steuerpflichtige Person (Art. 2 Abs. 1 Buchst. b, Art. 33 Abs. 1 Buchst. a MwStSystRL)

Person, die nicht Unternehmer ist (§ 1a Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b und § 3c Abs.2 Nr. 2 Buchst. d UStG)

öffentliche Einrichtung (Art. 13 MwSt­ SystRL)

juristische Person des öffentlichen Rechts (§ 2b UStG)

wirtschaftliche Tätigkeit (Art. 9 Abs. 1 UA 2 MwStSystRL)

unternehmerische Tätigkeit (§ 3a Abs. 2 UStG) Unternehmen (i.S.d. § 15 UStG)

nichtwirtschaftliche Tätigkeit (Durch­ führungsbeschluss (EU) 2015/2428 v. 10.12.2015)

nichtunternehmerisch tätig (§ 3 a Abs. 2 UStG)

feste Niederlassung (Art. 44 f. i.V.m. 11 MwSt-DVO )

Betriebsstätte (§ 3a Abs. 1, § 13 b Abs. 7 UStG

bestimmt für (Art. 136 Buchst. a MwSt­ SystRL)

verwendet für (§ 4 Nr. 28 UStG)

(Vorsteuer-) Erstattung (RL 2008/9/EG, Art. 48 ZusVO)

(Vorsteuer-) Vergütung (§ 4a, §18 Abs. 9)

Normalwert (Art. 80 Abs. 1 i.V.m. Art. 72 Abs. 1 MwStSystRL)

marktübliches Entgelt (§ 10 Abs. 5 Satz 2 UStG)

unternehmensfremde Zwecke (Art. 16 Abs. 1, Art. 26 Abs. 1 Buchst. a MwSt­ SystRL)

Zwecke, die außerhalb des Unternehmens liegen (§ 3 Abs. 1 Buchst. b Nr. 1 und Abs. 9a UStG)

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Neben den vorstehenden im UStG zu beseitigenden Mehrdeutschigkeiten sind auch die folgenden legistischen Fehler im Unionsrecht zu beklagen, die nur durch die EU-Organe beseitigt werden können: 177178 Nicht zutreffender Begriff in MwSt­SystRL und -DVO

zutreffender Begriff im UStG

Besteuerungsgrundlage (veraltet noch in Art. 42 MwSt-DVO)

Bemessungsgrundlage ( § 10 f. UStG)

unternehmerisch (Art. 168a MwStSystRL)

wirtschaftlich (nur vom BFH benutzt177)

Rundfunkdienstleistungen (Art. 6a Abs. 2 Buchst. b MwSt-DVO178)

Rundfunk- und Fernsehdienstleistungen (3a Abs. 5 Satz 2 Nr. 2 UStG)

2. Neue Dynamik und Europafreundlichkeit zur Beseitigung der Mehrdeutschigkeiten und Bewusstseinsspaltungen Die im Jubiläumsjahr gebildete Bundesregierung hat im Koalitionsvertrag 2018 neuen Aufbruch für Europa und neue Dynamik für Deutschland angekündigt. Diese Ankündigung lässt hoffen, dass das BMF als Gehilfe des Steuergesetzgebers mit seinem neuen Minister an der Spitze auch den sprachlichen Wandel in dem 100-jährigen UStG einleitet. Die vorstehende Zusammenstellung gibt dem neuen Personal einen Überblick, um über Form und Zeit des Abbaus der Mehrdeutschigkeiten entscheiden zu können. Die Reihenfolge der verschiedenen Anpassungsschritte im einzelnen ergibt sich aus ihrer Notwendigkeit und Dringlichkeit sowie ihrer Problemlosigkeit und Anwendungsfreundlichkeit. Einen ersten konkreten Anlass bietet das Jahressteuergesetz 2018.179 Als einfache und unproblematische Geste der neuen Dynamik und Europafreundlichkeit könnte in dieser bevorstehenden Gesetzesänderung dem UStG im Jubiläumsjahr noch das ­Geschenk gemacht werden, seiner Überschrift wieder – wie im UStG 1967 – den Begriff der Mehrwertsteuer in Klammer hinzuzufügen180. Durch eine derartige Kennzeichnung des auch im Titel der geltenden MwStSystRL zum Ausdruck gebrachten europaweiten Vorsteuersystems erhielten die in der Praxis üblich gewordenen Verklammerungen (Umsatzsteuer und Mehrwertsteuer)181 eine gesetzliche Grundlage. Heutige Wortzusammensetzungen mit Umsatzsteuer könnten anschließend allmählich mit Mehrwertsteuer gebildet werden. Das gilt z. B. für die Umsatzsteuer-Identifikationsnummer, deren Ersetzung durch Mehrwertsteuer-Identifikationsnummer mit

177 Siehe dazu oben Abschnitt II.2. 178 Siehe zu dieser unsinnigen Verkürzung Lohse in Rau/Dürrwächter, Art. 24 Hinweis. 179 Siehe dazu den Referentenentwurf vom 21.6.2018. 180 Siehe zu diesem Vorschlag Lohse in Wagnerová/Sander, S. 78, 91; Lohse, UR 2012, 8, 11. 181 Wäger, UR 2012, 25; Stadie in Rau/Dürrwächter, § 2b UStG Rz. 15; Dziadkowski, UR 2017, 416, 419.

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der bevorstehenden182 Einführung dieser Nummer als materiell-rechtliche Steuerbefreiungsvoraussetzung wünschenswert ist183. Das Jahressteuergesetz 2018 böte einen geeigneten Anlass für die Übernahme des unionalen Begriffs der festen Niederlassung in den § 3a UStG, weil in Absatz 5 dieser Vorschrift die Sätze 3 und 4 angefügt werden sollen, die im Referentenentwurf vom 21.6.2018 allerdings noch den richtlinienwidrigen Begriff der Betriebsstätte enthalten. Einfach, problemlos und anwenderfreundlich können und sollten zunächst nur die in einzelnen Vorschriften enthaltenen qualifizierten Bewusstseinsspaltungen aus dem UStG entfernt werden. Dazu gehören Tatbestandsmerkmale des UStG, die in der MwSt-DVO anders als im deutschen Recht definiert sind. So sollte der deutsche Gesetzgeber das Tatbestandsmerkmal Restaurationsleistungen möglichst bald zusammen mit seiner richtlinienwidrigen Definition aus den §§ 3a und 3e UStG entfernen und damit dem Vorbild Österreichs folgen, das diesen Begriff in § 3a Nr. 11 Buchst. d öUStG184 bereits durch Restaurant- und Verpflegungsdienstleisten ersetzt hat. Nachdem der BFH185 erst kürzlich wieder die Übereinstimmung des in diesem Beitrag nicht mehr behandelten Betriebsstättenbegriffs186 mit dem der „festen Niederlassung“ festgestellt hat, sollte auch er aus §  3a UStG entfernt werden. Diese im Schrifttum unterstützte Forderung187 unterstreicht Haller in ihrer Dissertation188 zutreffend dadurch, dass sie die Beibehaltung des Betriebsstättenbegriffs als „unverständlich“ bezeichnet und die richtlinienkonforme Verwendung des Begriffs der festen Niederlassung zur „Herstellung von Rechtsklarheit“ fordert. Zur Beseitigung der qualifizierten Bewusstseinsspaltungen gehört vor allem die Sanierung des § 15 Abs. 1 und Abs. 1b UStG, in denen die Verwendung für das „Unternehmen“ als Vorsteuerabzugsvoraussetzung durch Verwendung für „wirtschaftliche Tätigkeit“ ersetzt werden muss. Diese Forderung setzt allerdings die Einsicht und Bereitschaft des Gesetzgebers voraus, dass er in einer Übergangszeit auch innerhalb des UStG Mehrdeutschigkeiten zulässt. Der richtlinienkonforme Begriff der wirtschaftlichen Tätigkeit in einem neuen § 15 UStG würde nämlich nicht nur den Unternehmensbegriff ersetzen, sondern auch neben den in anderen Vorschriften (z. B. in § 3a Abs. 2 Satz 3 und Abs. 5a UStG) noch enthaltenen herkömmlichen und veralteten nationalen Begriff der unternehmerischen Tätigkeit treten189. Dieses Nebeneinander von rechtsverbindlichen Mehrdeutschigkeiten würde nicht gegen die Grundsätze der Rechtsklarheit und Rechtssicherheit verstoßen. Denn es besteht bereits aufgrund des 182 Siehe dazu Kemper, Die Umsatzsteuer-Identifikationsnummer als „materielle Voraussetzung“ der Steuerbefreiung innergemeinschaftlicher Lieferungen, UR 2018, 337. 183 Siehe zur weiteren Begründung dieses Vorschlags Lohse, UR 2012, 8, 12. 184 Die Kommentierung dieser Vorschrift in Mayer/Ungericht spricht allerdings bedauerlicherweise noch von Restaurationsumsätzen. 185 BFH v. 15.2.2017 – XI R 21/15, UR 2017, 502, 769, Rz. 17. 186 Siehe dazu bereits ausführlich Lohse, UR 2012, 8, 13. 187 Haller, Feste Niederlassung  – alle Klarheiten beseitigt?, MwStR, 2017, 650, 651; Kahle/ Lipp, 2013, 1205, 1210. 188 Haller, Die feste Niederlassung im Europäischen Mehrwertsteuersystem, Freiburg 2017, S. 45. 189 Siehe dazu oben Abschnitte II.2. und III.3.

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Nebeneinanders rechtsverbindlich geltender synonymer Begriffe im UStG und in den EU-Verordnungen. Außerdem wird die vom BFH und EuGH in ständiger Rechtsprechung als Vorsteuerabzugsvoraussetzung geforderte „wirtschaftliche Tätigkeit“ im Schrifttum und in der Praxis bereits allgemein akzeptiert, obwohl sie als Definitionsmerkmal des Steuersubjekts noch keinen Eingang in die Definition des § 2 UStG gefunden hat. Bis dahin kann daher „wirtschaftliche Tätigkeit“ auch als Tatbestandsmerkmal in die notwendige Neufassung des § 4 Nr. 14 Buchst. d UStG aufgenommen werden190. Die Akzeptanz des Nebeneinanders herkömmlicher nationaler Begriffe in einigen Vorschriften und rechtsverbindlicher unionaler Begriffe in anderen Vorschriften des UStG erscheint auch für andere Mehrdeutschigkeiten ein geeigneter und gangbarer Weg zu ihrer allmählichen und stufenweisen Beseitigung im UStG. Der Gesetzgeber sollte ihn jedenfalls dann beschreiten, wenn die unionale Terminologie zunächst nur in Wortzusammensetzungen neben die nationalen Begriffe tritt, z.B. bei sonstigen Leistungen191 und beim Gegenteil des Unternehmers192. Falls der Gesetzgeber und das BMF befürchten, dass durch ein vorübergehendes Nebeneinander von Mehrdeutschigkeiten im UStG Rechtsunsicherheit für die Rechtsanwender entsteht, kann diese durch Erläuterungen im UStAE leicht beseitigt werden. Zum Hinweis auf die Bedeutungsgleichheit sprachlich unterschiedlicher Tatbestandsmerkmale eignen sich insbes. Verklammerungen, die in Rechtsprechung und Literatur bereits üblich geworden sind und auch vom BMF allgemein übernommen werden sollten. Dazu müsste die Verwaltung allerdings ihre im BMF-Schreiben vom 2.1.2012 zum Ausdruck gebrachte Verweigerungshaltung aufgeben193. Um den Gesetzgeber nicht zu überfordern, muss es ihm und seinen Gehilfen überlassen bleiben, passende Gelegenheiten zur Beseitigung der an den vorstehenden Pranger gestellten Mehrdeutschigkeiten zu finden. So kann ihm beispielsweise nicht zugemutet werden, den § 2b UStG alsbald zu sanieren194 oder im Zusammenhang mit der isolierbaren Beseitigung der qualifizierten Bewusstseinsspaltung in § 3a Abs. 3 Nr. 3 Buchst. b und §  3e Abs.  1 UStG alle Mehrdeutschigkeiten195 und Strukturschwächen196 des § 3a UStG zu beseitigen. Andererseits müssen jedoch die Gesetzgebungs190 Siehe den Formulierungsvorschlag in Abschnitt III.2. 191 Siehe dazu oben die Abschnitte III.1 bis III.3. 192 Siehe zum „Nichtsteuerpflichtigen“ als Gegensatz zum Unternehmer oben Abschnitt II.3. 193 Siehe dazu bereits oben Abschnitt II.2. 194 Siehe dazu oben Abschnitt II.3. 195 Siehe zu den verschiedenen Mehrdeutschigkeiten in dieser Vorschrift oben Abschnitt III.3. betr. Dienstleistungen = sonstige Leistungen und Abschnitt II.2. betr. unternehmerisch = wirtschaftlich. 196 Siehe zur „völlig verfehlten Regelungstechnik“ Wäger in Sölch/Ringleb, § 3a UStG Rz. 28; Lohse/Spilker, UR 2009, 325; Kemper in Schwarz/Widmann/Radeisen, § 3a UStG Rz. 45 ff., weist dort zu Recht darauf hin, dass die Vorgaben in Art. 43 ff. MwStSystRL grundlegend anders aufgebaut sind und bezeichnet in Rz. 54 die Empfänger der in § 3a Abs. 5 Satz 1 Nrn. 1 bis 3 UStG genannten Personen zusammenfassend als Nichtunternehmer. Die gleiche Zusammenfassung enthält auch die Begründung des Referentenentwurfs eines Jahressteuergesetzes 2018 zu § 3a Abs. 5 UStG.

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organe die generelle Einsicht gewinnen, dass sie dem durch die Mehrdeutschigkeiten sichtbar gewordenen richtlinienwidrigen nationalen Begriffsverständnis des UStG nicht auf Dauer den Vorzug vor der europäischen Mehrwertsteuerterminologie geben dürfen. Wenn ihnen dies nicht gelingt, riskieren sie, dass nicht mehr nur Teile des UStG sachlich als verwirrend und irreführend beurteilt werden, sondern dass man eines Tages populistisch von einer „Altersdemenz des UStG“ spricht und ihm ein der europäischen Mehrwertsteuerharmonisierung widersprechendes „nationalistisches Sprachregime“ vorwirft. Da ich in diesem Jahr ein 80-jähriges Jubiläum gefeiert habe, werde ich dies allerdings nicht mehr erleben.

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Roland Ismer

Entwicklungslinien der Umsatzsteuer Inhaltsübersicht

I. Einleitung

II. Bereits verabschiedete und kurzfristig zu verabschiedende Maßnahmen: E-Commerce-Paket und Provisorien (Quick Fixes)

1. E-Commerce-Paket



2. Geplante Provisorien (Quick Fixes)

III. Der Weg zu einem einheitlichen europäischen Mehrwertsteuersystem IV. Rechtsrahmen für die Steuersätze

V. Sonderregelungen für kleine und ­mittlere Unternehmen

VI. Stärkung der Verwaltungszusammenarbeit VII. Utopie und Dystopie? Sieben Dicho­ tomien zur zukünftigen Entwicklung der Umsatzsteuer



1. Internationale Vereinheitlichung vs. größere Vielfalt verschiedener (­nationaler) Regelungen?



2. Regelsetzung durch abstrakt-generelle Normen oder durch Case Law?



3. Einmalbesteuerung oder Doppel­ besteuerung/Doppelnichtbesteuerung?



4. Person des Steuerschuldners: ­Leistender oder andere Person?



5. Rechnung: Analog möglich oder ­zwingend digital?



6. Maßnahmen zur Bekämpfung des Steuerbetrugs: Inkrementelle Ver­ besserungen oder Paradigmenwechsel?



7. Sonderstellung der allgemeinen ­Umsatzsteuer oder Vielheit von ­Sonderumsatzsteuern?

VIII. Zusammenfassung und Ausblick

I. Einleitung Die intensive Diskussion über die Zukunft der Umsatzsteuer dauert schon seit einiger Zeit an. Im Dezember 2010 legte die Kommission zunächst ein Grünbuch über die Zukunft der Mehrwertsteuer vor.1 Nach Durchlaufen des Konsultationsprozesses und der Erarbeitung einer wissenschaftlichen Studie2 unterbreitete sie dann ein Jahr später in einer Mitteilung zu diesem Thema3 Vorschläge für eine grundlegende Umgestaltung des Mehrwertsteuersystems. Kernpunkt war der Übergang zu einem auf dem 1 S. Kommission, Grünbuch über die Zukunft der Mehrwertsteuer – Wege zu einem einfacheren, robusteren und effizienteren MwSt-System v. 1.12.2010, COM(2010) 695 endgültig und das begleitende Commission Staff Working Document v. 1.12.2010, SEC(2010) 1455 endgültig. S. dazu etwa Nieskens/Slapio, UR 2011, 572; Kube, UR 2013, 489. 2 S. die von der Kommission in Auftrag gegebene Studie Institute for Fiscal Studies u.a., A ­retrospective evaluation of elements of the EU VAT system, 2011 als retrospektive Bewertung des Mehrwertsteuersystems. 3 S. Kommission, Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat und den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss zur Zukunft der Mehrwertsteuer Wege zu einem einfacheren, robusteren und effizienteren MwSt-System, das auf den Binnenmarkt

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Bestimmungslandprinzip basierenden EU-weiten Mehrwertsteuersystem. Zugleich sollte das Mehrwertsteuersystem einfacher, robuster und effizienter gemacht werden. Zur Vereinfachung wurden eine einzige Anlaufstelle vorgeschlagen sowie eine verbesserte Bereitstellung von Informationen angekündigt. Auch sollten mehrwertsteuerliche Verpflichtungen standardisiert und dazu insbesondere eine optionale ein­ heitliche Mehrwertsteuererklärung eingeführt werden. Zur Steigerung der Effizienz wurde eine Erweiterung der Steuerbemessungsgrundlage hinsichtlich des öffentlichen Sektors und der Personenbeförderung, nicht aber für gemeinnützige Einrichtungen gefordert. Zugleich sprach sich die Kommission für eine eingeschränkte Verwendung von Steuersatzermäßigungstatbeständen aus.4 Zur Betrugsbekämpfung wurden – neben dem zwischenzeitlich eingeführten Mechanismus für die schnelle Reaktion auf unerwartete Betrugsfälle5 – zunächst vier Methoden (gespaltene Zahlung auf ein Treuhandkonto6; Data-Warehouse-Modell7; Rechnungsübermittlung an die Finanzbehörden in Echtzeit; Zertifizierung des Verfahrens, das der Steuerpflichtige zur Erfüllung seiner mehrwertsteuerlichen Pflichten anwendet, und seiner internen Kontrollen) diskutiert, von denen dann die ersten beiden Ansätze befürwortet wurden.8 Viele dieser Vorschläge, nicht allerdings die soeben genannten Methoden der Betrugsbekämpfung, wurden zwischenzeitlich umgesetzt. Im April 2016 legte die Kommission erneut ein Mehrwertsteuerpaket zur Zukunft der Mehrwertsteuer vor,9 das zwischenzeitlich durch eine kaum mehr überschaubare zugeschnitten ist v. 6.12.2011, COM(2011) 851 endgültig; grundsätzlich dazu etwa Aujean, EC Tax Review 2012, 134; Kube, UR 2013, 489. 4 Kommission (Fn. 3), COM(2011) 851 endgültig, S. 12 f. 5 Vgl. Richtlinie 2013/42/EU des Rates vom 22.7.2013 zur Änderung der Richtlinie 2006/112/ EG über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem in Bezug auf einen Schnellreaktionsmechanismus bei Mehrwertsteuerbetrug, ABl L 201 v. 26.7.2013, S. 1 und Richtlinie 2013/43/ EU des Rates vom 22.7.2013 zur Änderung der Richtlinie 2006/112/EG über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem im Hinblick auf eine fakultative und zeitweilige Anwendung der Umkehrung der Steuerschuldnerschaft (Reverse-Charge-Verfahren) auf Lieferungen bestimmter betrugsanfälliger Gegenstände und Dienstleistungen, ABl L 201 v. 26.7.2013, S. 4. S. dazu etwa Lejeune u.a., International VAT Monitor 2013, 94. 6 Kommission (Fn. 3), COM(2011) 851 endgültig, S. 16, dort Fn. 22 definiert dieses wie folgt: „Ein Modell, bei dem der Käufer die Mehrwertsteuer auf ein gesperrtes MwSt-Bankkonto bei der Bank der Steuerbehörden einzahlt, das nur vom Lieferanten für die Zahlung der Mehrwertsteuer auf das gesperrte MwSt-Bankkonto von dessen Lieferanten verwendet werden kann.“ 7 Kommission (Fn. 3), COM(2011) 851 endgültig, S. 17, dort Fn. 23 definiert dieses wie folgt: „Ein Modell, bei dem der Steuerpflichtige vordefinierte Umsatzdaten, die in einem vereinbarten Format strukturiert sind, in ein gesichertes Data Warehouse für Mehrwertsteuer hochlädt, das vom Steuerpflichtigen verwaltet wird und auf das die Steuerbehörden Zugriff haben.“ 8 Kommission (Fn. 3), COM(2011) 851 endgültig, S. 16 f. 9 Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat und den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss über einen Aktionsplan im Bereich der Mehrwertsteuer Auf dem Weg zu einem einheitlichen europäischen Mehrwertsteuerraum: Zeit für Reformen v. 7.4.2016, COM(2016) 148 final. S. dazu etwa Herbain, British Tax Review  2016, 402; Kraeusel, UVR 2017, 366; Widmann, UR 2016, 506.

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Entwicklungslinien der Umsatzsteuer

Vielzahl weiterer Dokumente ergänzt wurde. Die Kommission strebt damit eine umfassende Modernisierung des europäischen Mehrwertsteuerrechts an, die vier Zielen dienen soll:10 zunächst der Vereinfachung der Mehrwertsteuer, und zwar insbesondere für den innergemeinschaftlichen Handel und für kleine und mittlere Unternehmen; zweitens der Betrugsbekämpfung11; drittens der Steigerung der Effizienz des Systems und die Senkung der Steuererhebungskosten sowie viertens, etwas weniger scharf konturiert, der Stärkung des Vertrauens zwischen Steuerpflichtigen und Finanzverwaltung sowie der Finanzverwaltungen der verschiedenen Staaten untereinander. Der Status der vorgeschlagenen Maßnahmen, die nur teilweise mit den Vorschlägen aus dem Jahre 2011 deckungsgleich sind, ist sehr unterschiedlich: Während die Regelungen zum E-Commerce schon verabschiedet wurden und zum Teil bereits ab Januar 2019 in Kraft treten, sind andere Vorschläge derzeit noch im – allerdings sehr konkreten – Vorstadium.12 Die realisierten und vorgeschlagenen Änderungen sind zwar weitgehend technischer Natur. Ihnen liegt aber als generelle Linie ein weitgehender Übergang zum Bestimmungslandprinzip zugrunde.13 Zugleich sollen die Befolgungskosten der Steuerpflichtigen auf ein akzeptables Maß begrenzt werden. Daher sind die Verpflichtungen auch mit Blick auf die Umsatzsteuer anderer Mitgliedstaaten häufig gegenüber der heimischen Finanzverwaltung zu erbringen. Der erfolgreiche Übergang steht somit unter der doppelten Prämisse, dass die Finanzbehörden die ausländischen Steueransprüche mit gleicher Intensität verfolgen wie inländische und dass die Zusammenarbeit der verschiedenen nationalen Finanzverwaltungen hinreichend zuverlässig funktioniert.14 Zudem erscheinen durchaus nicht alle daraus resultierenden Herausforderungen schon bewältigt. Ferner sind die Vorschläge, gerade wenn man die Möglichkeit von Steuerwettbewerb zwischen den Mitgliedstaaten auch bei der Umsatzsteuer in Rech10 Mitteilung der Kommission (Fn. 9), COM(2016) 148 final, S. 3 f. 11 Ernst & Young, Implementing the ‘destination principle’ to intra-EU B2B supplies of goods – Feasibility and economic evaluation study, 2015, 17 hat allein für den grenzüberschreitenden Betrug einen Schaden von 45-53 Milliarden Euro ermittelt. 12 S. dazu den Überblick bei Becker, MwStR 2017, 90; Prätzler/Stuber, BB 2018, 536, 539 ff.; Mayer-Burow/Connemann, UStB 2018, 78, 79  ff.; Terra/Kajus, Introduction to European VAT 2018, S. 1606 ff. 13 S. Kommission, Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Änderung der Richtlinie 2006/112/EG in Bezug auf die Harmonisierung und Vereinfachung bestimmter Regelungen des Mehrwertsteuersystems und zur Einführung des endgültigen Systems der Besteuerung des Handels zwischen Mitgliedstaaten v. 4.10.2017, COM(2017) 569 final, sowie die dort vorgeschlagene Neufassung des Art. 402 MwStSystRL. Grundlegend zur Diskussion um das Bestimmungslandprinzip Reiß, FS Tipke, 1995, 433, 441 ff.; Sinn, European Economic Review 34 (1990), 489 sowie Gutachten der Ursprungslandkommission, Ausarbeitung der endgültigen Regelung für die Umsatzbesteuerung des innergemeinschaftlichen Warenund Dienstleistungsverkehrs und für ein funktionsfähiges Clearing-Verfahren, BMF-Schriftenreihe Band 52, 1994. 14 Vgl. auch Herbain, British Tax Review 2016, 402, 406: „Proposing as it does more than just technical changes, the Action Plan is truly a matter of a widely redefined positioning of the VAT system. This would generate a co-operation between Member States that would ­demonstrate an absolute commitment to deepening and strengthening their relationship in the manner of a federation.”

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nung stellt, an manchen Stellen übermäßig anfällig für Steuergestaltungen. Die verabschiedeten und vorgeschlagenen weiteren Regelungen sind daher in der überbordenden wissenschaftlichen Literatur auf erhebliche Vorbehalte gestoßen.15 Der nachfolgende Beitrag untersucht zunächst die im Rahmen des Mehrwertsteuerpakets beschlossenen und vorgeschlagenen Maßnahmen. Dabei soll es nicht so sehr um eine Darstellung aller Änderungen als vielmehr um eine grundsätzlichere Analyse des eingeschlagenen Wegs zur stärkeren Besteuerung nach dem Bestimmungslandprinzip gehen. Am Anfang stehen die als erste beschlossenen Maßnahmen im Bereich des E-Commerce und die vorgeschlagenen Provisorien (Quick Fixes) zur Behebung von akuten Defiziten (II.), bevor der Beitrag der Frage nach dem geplanten Übergang zum endgültigen Mehrwertsteuersystem nachgeht (III.). Anschließend beschäftigt er sich mit dem überzeitlichen Problem des Rechtsrahmens für die Steuersätze. An dieser Stelle weist das Mehrwertsteuerpaket einen ganz massiven Schwachpunkt auf, der entgegen der Auffassung der Kommission unter anderem auch die Umsetzung des Bestimmungslandprinzips gefährdet (IV.). Danach wendet sich der Blick auf die geplanten Sonderregelungen für kleine und mittlere Unternehmen, mit denen deren Mehrwertsteuerbefolgungskosten gesenkt werden sollen; auch hier erscheinen die Regelungen nicht ausgewogen und daher nicht überzeugend (V.). Schließlich ist noch kurz auf die Stärkung der Verwaltungszusammenarbeit einzugehen, die als unabdingbares Korrelat des angestrebten Übergangs zu einer Besteuerung nach dem Bestimmungslandprinzip erscheint (VI.). Zugleich soll die Definitionsmacht dessen, was die Zukunft der Umsatzsteuer ausmacht, nicht allein der Kommission überlassen werden. Vielmehr bietet sich eine ganz grundsätzliche Reflektion von möglichen längerfristigen Entwicklungen bei der Umsatzsteuer an. Dazu werden sieben Dichotomien präsentiert (VII.). Ein kurzes Fazit beschließt den Beitrag (VIII.).

II. Bereits verabschiedete und kurzfristig zu verabschiedende Maßnahmen: E-Commerce-Paket und Provisorien (Quick Fixes) 1. E-Commerce-Paket Durch den elektronischen Handel wandeln sich das Konsumentenverhalten und die Geschäftsmodelle grundlegend. Darin liegen einerseits große Chancen. Andererseits entstehen aber erhebliche Risiken gerade für das Umsatzsteueraufkommen. Daher wurden im Dezember 2017 auf diesem Gebiet mit dem E-Commerce-Paket,16 das aus einer Richtlinie,17 einer Durchführungsverordnung zur Änderung der Mehrwert­ steuer­durchführungsverordnung18 und einer Verordnung zur Änderung der Zusam15 Vgl. etwa de la Feria, EC Tax Review 2018, 122; Widmann, UR 2018, 10. 16 Dazu etwa Huschens, UVR 2018, 46 und 79; Lejeune/Herbain, British Tax Review 2018, 1. 17 Richtlinie (EU) 2017/2455 des Rates v. 5.12.2017 zur Änderung der Richtlinie 2006/112/EG und der Richtlinie 2009/132/EG in Bezug auf bestimmte mehrwertsteuerliche Pflichten für die Erbringung von Dienstleistungen und für Fernverkäufe von Gegenstände, ABl. L 348/7. 18 Durchführungsverordnung (EU) 2017/2459 des Rates v. 5.12.2017 zur Änderung der Durchführungsverordnung (EU) Nr.  282/2011 zur Festlegung von  Durchführungs­

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menarbeitsverordnung19 besteht, die ersten durchgreifende Änderungen des Mehrwertsteuersystems beschlossen. Die Änderungen sollen eine effektive Durchsetzung der Besteuerungsansprüche gegen alle Akteure am Markt ermöglichen, die zur Sicherung der Wettbewerbsneutralität erforderlich ist. Die Änderungen, die vor dem Hintergrund der Arbeiten der OECD im Rahmen des BEPS Aktionspunkts 1 (Herausforderungen der Digitalen Wirtschaft)20 und der VAT/GST Guidelines21 zu sehen sind, treten in zwei Stufen in Kraft, die erste im Jahre 2019, die zweite dann im Jahre 2021. Bereits ab 2019 werden im Wesentlichen einige, allerdings vergleichsweise geringfügige Änderungen umzusetzen sein.22 Beachtlich erscheint dabei in erster Linie die in Art.  24f MwSt-DVO einzuführende Umsatzschwelle von 100.000  Euro. Solange sie nicht überschritten ist, kann für die Ortbestimmung die Ansässigkeit schon aufgrund eines einzigen Indizes vermutet werden. Die Änderung vermag trotz der Abmilderung der Nachteile der gegenwärtigen Regel23 nicht zu überzeugen, weil als ein Indiz für das Bestimmungslandprinzip auch die leicht zu manipulierende IP-Adresse des Leistungsempfängers zugelassen ist. Dieses Problem würde desto gravierender, wenn die ermäßigten Steuersätze wirklich vollständig freigegeben würden und sogar echte Steuerbefreiungen geschaffen werden könnten. Auch die Schwelle von 100.000 Euro würde dann nicht zwingend einen Schutz gegen übermäßige, das Bestimmungslandprinzip aushöhlende Steuergestaltungen bieten, etwa wenn systematisch Parallelgesellschaften aufgesetzt werden könnten. Ab 202124 sind dann weitaus grundlegendere Änderungen erforderlich. Als deutliche  Verschärfung gegenüber §  3c  UStG wird ein einheitlicher Schwellenwert von 10.000  Euro für alle grenzüberschreitenden B2C-Lieferungen und B2C-Dienstleistungen eingeführt, was das Bestimmungslandprinzip stärkt. Um zu vermeiden, dass sich der grenzüberschreitend liefernde Unternehmer vielfach registrieren muss und sich einer Vielzahl von Finanzverwaltungen gegenübersieht, wird der Anwendungsbereich für die kleine einzige Anlaufstelle (Mini One Stop Shop [MOSS]) erheblich ausgeweitet und damit zu einer einzigen Anlaufstelle (One-Stop-Shop [OSS]). Bei der Ausweitung des OSS ist dann allerdings zu bedenken, dass grundlegende Herausforderungen noch nicht geklärt sind. Dies gilt zum einen für die Prüfungsanreize des Staates, in denen der Steuerpflichtige ansässig ist. Zum anderen stellt sich bei Beteilivorschriften  zur Richtlinie 2006/112/EG über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem, ABl. L 348/32. 19 Verordnung (EU) 2017/2454 des Rates v. 5.12.2017 zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 904/2010 des Rates über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden und die Betrugsbekämpfung auf dem Gebiet der Mehrwertsteuer, ABL. L 348/1. 20 OECD, Addressing the Tax Challenges of the Digital Economy, Action 1 – 2015 Final Report, OECD/G20 Base Erosion and Profit Shifting Project, OECD Publishing, Paris. Dazu etwa Ismer/Gradl, MwStR 2016, 324. 21 Dazu Lamensch, Intertax 2016, 360. 22 S. näher dazu und zu den weiteren Änderungen Huschens, UVR 2018, 46, 47 ff. und 79, 84 23 Auf diese weisen Lejeune/Herbain, British Tax Review 2018, 1, 3 hin. 24 Zur Protokollerklärung, wonach sich unter Umständen das Umsetzungsdatum noch nach hinten verschiebt, wenn die notwendigen IT-Voraussetzungen noch nicht vorliegen, s. Huschens, UVR 2018, 49, 50.

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gung der Behörden des Bestimmungslands die Frage nach dem Rechtsschutz: Welche Gerichte sollen über den Streit entscheiden und welches Recht sollen sie dabei anwenden? Zugleich werden ab 2021 Transaktionen auf Online-Marktplätzen (Plattformen) über das im Bereich der elektronischen Dienstleistungen bereits geltende Kommissionsmodell erfasst.25 Damit werden eine Lieferung vom Leistenden an den Plattformbetreiber und dann eine weitere Lieferung vom Plattformbetreiber an den Abnehmer fingiert. Diese Konstruktion erlaubt es, den Plattformbetreiber nicht nur als Haftenden, sondern als Steuerschuldner in die Pflicht zu nehmen. Diese Konstruktion ist an sich grundsätzlich zu begrüßen, wenn und weil der Plattformbetreiber mit Blick auf die Erfüllung der mehrwertsteuerlichen Pflichten besser greifbar ist als der auf der Plattform Handel Treibende. Indessen stellen sich Herausforderungen mit Blick auf die genaue Bestimmung des Anwendungsbereichs: Dieser ist wohl nicht eröffnet, wenn nur Links gesammelt werden; umgekehrt ist aber eine Beteiligung an der Abwicklung der Zahlung nicht erforderlich. Auch ist die Bestimmung der bewegten Lieferung nicht eindeutig, wenngleich wohl davon auszugehen ist, dass es sich um die Lieferung an den Konsumenten handelt. Ferner stellt sich das Problem der grenz­ überschreitenden Vorsteuererstattung, wenn sich die Ware bereits in der EU befindet. Noch weitergehend ist schließlich zu beachten, dass die Plattformen über das Kommissionsmodell umgekehrt Schutz für Lieferanten bieten können, sich hinter in Staaten ohne Mehrwertsteuer betriebenen dubiosen Plattformen zu verstecken. Noch weiterreichender sind die Veränderungen des Importregimes:26 Hier sollen zunächst die Bagatell-Freigrenzen von 22 Euro für Kleinsendungen aus Drittstaaten abgeschafft werden. Die Änderung erscheint sinnvoll, war doch die Freigrenze betrugsanfällig, zumal im Massenverfahren die Bewertung nicht systematisch verifiziert werden konnte und zugleich die strafrechtliche Verfolgung bei falschen Angaben von in Drittländern Ansässigen oftmals erhebliche Schwierigkeiten bereitete. Allerdings werden nicht in der Union Ansässige in das One-Stop-Shop-Regime einbezogen, die bisweilen nur geringe Anreize haben, ihren mehrwertsteuerlichen Pflichten nachzukommen.27 Dem vermag die an sich sinnvolle Verpflichtung zur Benennung eines Fiskalvertreters nicht gesichert abzuhelfen, zumal sich die Frage nach den Konsequenzen stellt, wenn dieser Pflicht nicht genügt wird. Zudem sollen die Transporteure bei Importen in die Pflicht genommen werden für die Erfüllung der mehrwertsteuerlichen Pflichten des Leistenden, wenn dieser nicht unter die Regeln über den OSS fällt. Indessen entsteht damit ein Kontrast zu den Schwächen des OSS, da eine Steuer­ erhebung auch dann nicht gesichert ist, wenn der ausländische Leistende seine Umsätze im Rahmen eines OSS erklären müsste. Letztlich handelt es sich bei der Inpflichtnahme um eine Antwort auf das Problem der (formellen) Territorialität, wonach hoheitliche Maßnahmen auf dem Gebiet von anderen Staaten nur mit deren 25 Kritisch dazu Lamensch, International VAT Monitor 2018, 48. 26 Dazu etwa Lamensch, International VAT Monitor 2017, 137, 142 ff. Zu den grundsätzlich bestehenden verschiedenen Möglichkeiten s. etwa OECD (Fn.  20), Anhang C und dazu ­Ismer/Gradl, MwStR 2016, 324, 328 ff. 27 Kritisch auch Lejeune/Herbain, British Tax Review 2018, 1, 6.

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Zustimmung vorgenommen werden dürfen. Das Problem lässt sich nur durch die sichere Inpflichtnahme eines Inländers lösen. Vor diesem Hintergrund nimmt es nicht wunder, dass nach Inländern gesucht wird, die stattdessen verpflichtet werden könnten. Beispielsweise wird über eine Inpflichtnahme der Verbraucher nachgedacht,28 was aber seinerseits den Nachteil hätte, dass es zu einer Proliferation von Steuerpflichtigen käme. 2. Geplante Provisorien (Quick Fixes) Als weitere kurzfristig umzusetzende Maßnahme mit beschränkter Tragweite legte die Kommission einen bisher noch nicht beschlossenen Richtlinienvorschlag vor, der insbesondere einige Provisorien (Quick Fixes) zur pragmatischen Lösung aufgetretener Probleme vorsieht.29 Diese Lösungen betreffen erstens die Konsignationslager, wo für zertifizierte Steuerpflichtige30 eine Registrierungspflicht aufgrund eines innergemeinschaftlichen Erwerbs verhindert werden soll.31 Zweitens soll der Uneinheitlichkeit der Regeln in den Mitgliedstaaten bei grenzüberschreitenden Reihengeschäften durch eine unionsweit einheitliche Regelung zumindest für zertifizierte Steuerpflichtige entgegengetreten werden.32 Drittens sind Änderungen der Nachweise bei innergemeinschaftlichen Lieferungen geplant.33 Einerseits soll zertifizierten Steuerpflichtigen die Führung der für die Steuerbefreiung erforderlichen Nachweise durch eine Regelung in der Mehrwertsteuerdurchführungsverordnung erleichtert werden. Andererseits soll der Lieferer in seiner Zusammenfassenden Meldung als materielle Voraussetzung der Steuerbefreiung die Umsatzsteueridentifikationsnummer des Erwerbers ausdrücklich aufführen müssen.34 28 Skeptisch OECD (Fn. 20), Anhang C Rn. 66 ff. Ein Vorschlag findet sich bei Lamensch/Saraswat, International VAT Monitor 2017, 368. 29 Kommission, COM(2017) 569 final; Kommission, Vorschlag für eine Durchführungsverordnung des Rates zur Änderung der Durchführungsverordnung (EU) Nr. 282/2011 hinsichtlich bestimmter Befreiungen bei innergemeinschaftlichen Umsätzen v. 4.10.2017, COM(2017) 568 final; Kommission, Vorschlag für eine Verordnung des Rates zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 904/2010 hinsichtlich des zertifizierten Steuerpflichtigen v. 4.10.2017, COM(2017) 567 final. Dazu etwa Becker, MwStR  2017, 902, 903  ff.; Fleckenstein-Weiland/Stiehr, BB 2017, 2969; Merkx u.a., EC Tax Review 2018, 74. 30 Zu diesem Konzept sogleich. 31 Vgl. etwa Langer/Breitsameter, DStR 2018, 97, 98; Merkx u.a., EC Tax Review 2018, 74, 78 f.; Becker, MwStR 2017, 902, 906 f. 32 S. zu diesem Vorschlag etwa Körner, MwStR 2017, 940; Merkx u.a., EC Tax Review 2018, 74, 79 f.; Becker, MwStR 2017, 902, 907 f.; Harksen, BB 2018, 157, 158 ff., die zudem auf nationale Reformgedanken zum Reihengeschäft eingeht. 33 Dazu etwa Becker, MwStR 2017, 902, 908 ff.; Merkx u.a., EC Tax Review 2018, 74, 80 ff.; Kemper, UR 2018, 337. 34 Kommission, COM(2017) 569 final, S. 11 f. S. dazu Kemper, UR 2018, 337; kritisch Becker, MwStR 2017, 147, 147  f. Der Ausweis der Mehrwertsteuer-Identifikationsnummer des ­Erwerbers wurde vom EuGH bisher als rein formale Voraussetzung aufgeführt; s. EuGH, Urt. v. 6.9.2012 – C-273/11, ECLI:EU:C:2012:547 – Mecsek-Gabona, UR 2012, 796 m. Anm. Maunz; EuGH, Urt. v. 27.9.2012 – C-587/10 – VSTR, ECLI:EU:C:2012:592 = UR 2012, 832 m. Anm. Burgmaier; EuGH, Urt. v. 20.10.2016 – C-24/15, ECLI:EU:C:2016:791 – Plöckl,

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Grundlegendere Bedeutung als die Provisorien (Quick Fixes) hat die Einführung des bisher aus dem Zollrecht35 bekannten Konzepts des zertifizierten Steuerpflichtigen.36 Durch dieses Konzept, das im Zuge des Übergangs zu einem einheitlichen europäischen Mehrwertsteuersystem eine ganz erhebliche Bedeutung erlangen soll,37 kann bescheinigt werden, dass ein bestimmtes Unternehmen insgesamt als zuverlässiger Steuerpflichtiger angesehen werden kann. Dies ermöglicht es, bestimmte betrugsanfällige Vereinfachungsregeln auf Fälle zu beschränken, in denen ein zertifizierter Steuerpflichtiger am jeweiligen Umsatz beteiligt ist. Indessen erscheint die Übertragbarkeit des Konzepts aus dem Zollrecht, wo nur eine geringe Zahl von Unternehmen den Status bekommen hat, nicht zweifelsfrei. Dies betrifft über die Frage nach den derzeit nicht abschließend geklärten Tatbestandsvoraussetzungen38 hinaus insbesondere die ganz grundsätzlichen Fragen, inwieweit die Unterscheidung zwischen zuverlässigen und unzuverlässigen Steuerpflichtigen wirklich im Massenverfahren wie bei der Umsatzsteuer vorzunehmen ist und ob eine Unterscheidung von derartiger Tragweite wirklich gerechtfertigt ist.

III. Der Weg zu einem einheitlichen europäischen Mehrwertsteuersystem Bereits im Jahre 2011 hat die Kommission ihr bisher in Art. 402 MwStSystRL verankertes Ziel eines Übergangs zum Ursprungslandprinzip aufgegeben. Sie befürwortet seither eine möglichst weitgehende Verwirklichung des Bestimmungslandprinzips.39 Im Aktionsplan 2016 hat sich die Kommission erneut dazu bekannt. Diese geänderte Zielvorstellung soll sich normativ verbindlich nunmehr auch in Art. 402 MwStSystRL niederschlagen.40 Die Vorschrift soll künftig eine Rechtsgrundlage für den Systemwechsel hin zum generellen Bestimmungslandprinzip bei allen grenzüberschreitenden Leistungen im Binnenmarkt schaffen. Zugleich macht die Vorschrift die Zielvorgabe, dass der Leistungsempfänger bei solchen Leistungen Steuerschuldner sein soll, wenn er ein zertifizierter Steuerpflichtiger ist. Zudem wird der Grundsatz verankert, dass eine einmalige Registrierung für die Erklärung, die Zahlung und den Abzug der Mehrwertsteuer erforderlich sein soll, also die einzige Anlaufstelle (OSS) festgeschrieben.

UR 2016, 882; EuGH, Urt. v. 9.2.2017 – C-21/16, ECLI:EU:C:2017:106 – Euro Tyre, UR 2017, 271. 35 Vgl. Art. 39 UZK. 36 Dazu etwa Merkx u.a., EC Tax Review 2018, 74, 75; Becker, MwStR 2017, 902, 904 ff.; ­Fleckenstein-Weiland/Stiehr, BB 2017, 2969; kritisch etwa Widmann, UR 2018, 10, 11 f. 37 Dazu sogleich unter III. 38 S. dazu van de Leur, IVM 2018, 97, 98; kritisch insoweit Widmann, UR 2018, 10, 11 f. 39 S. Kommission (Fn. 3), COM(2011) 851 endgültig, S. 5 f. 40 Vgl. COM(2017) 569 final, S. 13 f., 23.

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Im Mai 2018 hat die Kommission nunmehr einen weiteren Vorschlag zur ersten Umsetzung dieser Ziele unterbreitet.41 Der Vorschlag sieht insbesondere die Abschaffung des grundsätzlich steuerpflichtigen innergemeinschaftlichen Erwerbs vor. An die Stelle des derzeit gespaltenen Systems von steuerbefreiter innergemeinschaftlicher Lieferung und grundsätzlich steuerpflichtigem innergemeinschaftlichen Erwerb soll künftig ein einziger Umsatz treten, nämlich die Lieferung von Gegenständen innerhalb der Union. Zur Umsetzung des Bestimmungslandprinzips soll für diese Umsätze eine besondere Ortsregelung geschaffen werden. Danach gilt als Ort der Lieferung derjenige Ort, an dem sich die Gegenstände bei Beendigung der Versendung oder Beförderung an den Erwerber befinden.42 Zugleich soll ein einheitlicher Steuerentstehungstatbestand für derartige Lieferungen geschaffen werden.43 Bei Lieferungen an einen zertifizierten Steuerpflichtigen wird dieser zum Steuerpflichtigen. Zugleich brauchen grenzüberschreitende Lieferungen in der Union nicht mehr in die Zusammenfassende Meldung aufgenommen zu werden. Diese beschränkt sich künftig vielmehr auf grenzüberschreitende Dienstleistungen.44 Die Regelungen zur einzigen Anlaufstelle sollen angepasst werden, um einen Vorsteuerabzug bereits in der Erklärung vornehmen zu können, so dass der Steuerpflichtige nicht auf das Steuervergütungsverfahren verwiesen ist. Schließlich sollen die übergangsweise geltenden Ausnahmen in den Art. 370 bis 390c MwStSystRL aufgehoben werden. Der Kommission ist zuzugestehen, dass der Weg über die Aufspaltung des wirtschaftlich einheitlichen Umsatzes in eine steuerfreie innergemeinschaftliche Lieferung und einen grundsätzlich steuerpflichtigen steuerfreien Erwerb sich sowohl als missbrauchsanfällig als auch für die redlichen Steuerpflichtigen als riskant erwiesen hat. Indessen ist nicht zu verkennen, dass ein Lieferungen innerhalb der Union ausführender Steuerpflichtiger nicht nur die Steuersätze in allen Bestimmungsländern kennen muss, sondern sich auch mit Steuerprüfungen aus allen anderen Mitgliedstaaten auseinandersetzen muss. Wenngleich ein konkreter Gesetzgebungsvorschlag noch fehlt, ist langfristig auch für die Dienstleistungen ein umfassender Übergang zum Bestimmungslandprinzip vorgesehen. Allerdings wird gerade bei den Dienstleistungen deutlich, dass das Bestimmungslandprinzip zwei Herausforderungen aufwirft. Zum einen besteht ein Informationsproblem der Steuerverwaltung und nicht selten auch der Steuerpflichtigen, die ja grundsätzlich nicht selbst konsumieren. Sie müssen daher über die in den Rechtsnormen vorausgesetzten Informationen auch tatsächlich verfügen. Zum anderen kann in der Besteuerungsrealität kaum auf den Ort des tatsächlichen Verbrauchs abgestellt werden. Daher muss es für die Festlegung des Bestimmungsorts und des Endverbrauchs auf Ersatzkriterien (sog. Proxies) ankommen. Da die Proxies international nicht einheitlich sind, kann es im Übrigen gerade bei Dienstleistungen zu Doppelbe-

41 Proposal for a Council Directive amending Directive 2006/112/EC as regards the intro­ duction of the detailed technical measures for the operation of the definitive VAT system for the taxation of trade between Member States v. 25.5.2018, COM(2018) 329 final. 42 Art. 35a MwStSystRL-E. 43 Vgl. Art. 67 MwStSystRL-E. 44 Vgl. Art. 262-271 MwStSystRL-E.

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steuerungen oder Doppelnichtbesteuerungen kommen, die das Bestimmungslandprinzip ja vermeiden sollte.45

IV. Rechtsrahmen für die Steuersätze Im Bereich der Steuersätze macht die Mehrwertsteuersystemrichtlinie einige Strukturvorgaben, gewährt den Mitgliedstaaten aber zugleich auch Spielräume. So müssen die Mitgliedstaaten einen Normalsatz erheben, der mindestens 15 Prozent betragen muss.46 Darüber hinaus geben die Art. 98 f. MwStSystRL in ihrer derzeitigen Fassung den Mitgliedstaaten die Möglichkeit, einen oder zwei ermäßigte Steuersätze zu erheben, die mindestens 5 Prozent betragen müssen.47 Der Anwendungsbereich der ermäßigten Steuersätze ist auf den Katalog der Vergünstigungstatbestände in Anhang III zur Mehrwertsteuersystemrichtlinie beschränkt. Der Katalog ist abschließend, so dass eine Erweiterung auf andere Umsätze auch dort nicht möglich ist, wo Wettbewerb zu ermäßigten Steuersätzen besteht. Die Anwendung der ermäßigten Steuersätze auf elektronisch erbrachte Dienstleistungen ist ausdrücklich ausgeschlossen. Über die allgemeinen, allen Mitgliedstaaten offenstehenden Tatbestände in Anhang III hinaus erlauben weitere Vorschriften den in den jeweiligen Vorschriften genannten Mitgliedstaaten die Beibehaltung der dort aufgeführten Steuersatzermäßigungstat­ bestände. Dies gilt zunächst für die in den Art. 102 ff. MwStSystRL genannten grundsätzlich unbefristeten besonderen Bestimmungen. Die weiteren Vorschriften in Art.  109  ff.  MwStSystRL gelten hingegen nur bis zur Einführung der endgültigen Mehrwertsteuerregelung. Im Gefolge des Mehrwertsteuerpakets hat die Kommission nunmehr einen weitgehenden Änderungsvorschlag unterbreitet.48 Die Änderung betrifft sowohl die Tatbestände der Steuersatzermäßigungen als auch die Struktur der ermäßigten Steuersätze. Hinsichtlich der Ermäßigungstatbestände wird eine weitgehende Freigabe vorgeschlagen. Danach sollen die staatenbezogenen Sonderregeln sowohl in den Art. 102 ff. MwStSystRL als auch in den Art. 109 ff. MwStSystRL weitgehend entfallen. Zudem 45 S. dazu Ismer/Artinger, MwStR 2018, 12, 16 m.w.N. 46 Die in der Richtlinie (EU) 2016/856 des Rates v. 25.5.2016 zur Änderung der Richtlinie 2006/112/EG über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem im Hinblick auf die Dauer der Verpflichtung, einen Mindestnormalsatz einzuhalten, Abl. L 142 v. 31.5.2016, S. 12 vorgesehene und bis zum 31.12.2017 befristete Regelung in Art. 97 MwStSystRL ist zwischenzeitlich ausgelaufen. Zur geplanten dauerhaften Aufnahme des Mindestsatzes in die Richtlinie vgl. Kommission, Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Änderung der Richtlinie 2006/112/EG über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem in Bezug auf die Verpflichtung, einen Mindestnormalsatz einzuhalten v. 19.12.2017, COM(2017) 783 final. 47 Siehe allgemein zur Differenzierung der Steuersätze Tait, Value Added Tax, 1988, 39 ff.; Ebrill u.a. , The Modern VAT, 2001, 68 ff.; James, The Rise of Value-Added Tax, 2015, 98 ff.; Terra/Kajus, A Guide to the European VAT Directives – Volume 1, 2018, 14.2 f. 48 Kommission, Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Änderung der Richtlinie 2006/112/ EG in Bezug auf die Mehrwertsteuersätze, v. 18.1.2018, COM(2018) 20 final, für eine kurze Zusammenfassung der Änderungen: Becker, MwStR 2018, 153, 155 f.; Peeters, International VAT Monitor 2018:4, 3.2.

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soll die Positivliste des Anhangs III gestrichen und in Anhang IIIa durch eine Negativ­ liste ersetzt werden, also eine Liste von Tatbeständen, bei denen Steuersatzermäßigungen gerade nicht zulässig sind. Die Negativliste enthält neben verbrauchsteuerpflichtigen Gegenständen wie Tabakwaren und alkoholischen Getränken bestimmte weitere Gegenstände und Dienstleistungen, bei denen die Anwendung von ermäßigten Sätzen oder echten Steuerbefreiungen zu Wettbewerbsverzerrungen führen könnte.49 Auch dürfen ermäßigte Steuersätze und echte Steuerbefreiungen ausschließlich dem Endverbraucher zugutekommen und nur angewandt werden, um auf kohärente Weise ein Ziel von allgemeinem Interesse zu verfolgen.50 Die Vorgaben zur Struktur werden ebenfalls gelockert: Die Mitgliedstaaten sollen fortan nicht nur bis zu zwei ermäßigte Steuersätze vorsehen können, sondern darüber hinaus auch die Freiheit bekommen, superreduzierte Sätze oder Nullsätze, also echte Steuerbefreiungen, einzuführen. Begrenzt wird die Freiheit durch die Vorgabe, dass der durchschnittliche Steuersatz mehr als 12 Prozent betragen muss.51 Ferner dürfen die Sätze nur für verbraucherwirksame Umsätze vorgesehen werden, also nicht für reine Zwischenprodukte.52 Zur Motivation des Vorschlags führt die Kommission eine Reihe von Argumenten an. Zunächst weist die Kommission darauf hin, dass im endgültigen Mehrwertsteuersystem zahlreiche mitgliedstaatliche Sonderrechte erlöschen würden. Soll eine Verschlechterung der bisher begünstigten Staaten vermieden und zugleich eine Gleichbehandlung aller Staaten sichergestellt werden, so kann dies nur dann erreicht werden, wenn auch den anderen Staaten die Möglichkeit zur Einführung solcher Steuersatzermäßigungstatbestände eingeräumt wird. Zudem würde die geplante umfassende Implementierung des Bestimmungslandprinzips grenzüberschreitende Verzerrungen durch die ermäßigten Steuersätze vermeiden. Die Freigabe soll auch der mitgliedstaatlichen Steuersouveränität Rechnung tragen, zumal die ermäßigten Steuersätze ein Politikum darstellen, bei dem eine vollständige Abschaffung oder Harmonisierung auf kleinem Nenner nicht möglich sein dürfte.53 Außerdem würden neue technologische Entwicklungen ohnehin eine Anpassung erfordern, die bisweilen ohne Änderung der Richtlinie unzulässig (E-Books) wäre.54 Ferner sei es in der Vergangenheit zu einer Vielzahl von letztlich wenig bedeutsamen Vertragsverletzungsverfahren gekommen, wenngleich es hierbei wohl um die überschätzte Innenperspektive der Kommission handelt. Schließlich gebe es bereits jetzt schon eine Vielzahl von Steuersatzermäßigungstatbestände, ohne dass erhebliche Verlagerungseffekte von Konsum nachweisbar wären. Trotz dieser Argumente erscheint die vorgeschlagene Freigabe der ermäßigten Steuersätze überaus fraglich: Sie widerspricht der in der Wissenschaft weit verbreiteten 49 Vgl. COM(2018) 20 final, S. 9. 50 Vgl. COM(2018) 20 final, S. 8. 51 Siehe den neuen vorgeschlagenen Artikel 99a, COM(2018) 20 final, S. 8. 52 Vgl. COM(2018) 20 final, S. 8. 53 S. de la Feria/Schofield, ec Tax Review 2017, 89, 91 f. 54 S. dazu die Rechtsprechung des EuGH, Urt. v. 11.9.2014 – C-219/13, ECLI:EU:C:2014:2207 – K, UR 2014, 820; sowie dazu Centore/Sutich, International VAT Monitor 2015, 25.

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Überzeugung,55 dass ermäßigte Steuersätze problematisch sind, weil sie Abgrenzungsfragen heraufbeschwören und damit zu Verwaltungs- und Befolgungskosten bei Staat und Unternehmen führen. Dies ist gerade dann bedenklich, wenn es verstärkt zu einer Besteuerung nach dem Bestimmungslandprinzip kommen soll:56 Dann müssen sich auch kleine Anbieter mit den Subtilitäten der Bestimmung des Anwendungsbereichs von Ermäßigungstatbeständen auseinandersetzen, was sie kaum leisten können und daher möglicherweise unterlassen werden. Die Freigabe zur Einführung ermäßigter Steuersätze beschwört zudem die Gefahr herauf, dass Vertreter von Partikularinteressen darauf drängen, auch in den Genuss einer Steuersatzermäßigung zu kommen.57 Gerade im Kontext des Binnenmarktes droht zudem ein intensiver Steuerwettbewerb. Mitgliedstaaten könnten versuchen, mobilen Konsum durch Steuerermäßigungstatbestände anzuziehen und damit eine Besteuerung nach dem Bestimmungslandprinzip vereiteln.58 Dadurch würde es zu einer noch stärkeren Durchbrechung des Gedankens der allgemeinen Verbrauchsteuer kommen. Zugleich sind die Verteilungswirkungen zu berücksichtigen: Zum einen käme es zu einer Begünstigung von grenznahen Konsumenten, die zwischen den Besteuerungsregimes der beiden Staaten faktisch wählen könnten. Zum anderen käme es, wenn der existenznotwendige Bedarf weniger mobil ist, zu einer Verstärkung der regressiven Wirkung der Umsatzsteuer, wonach die durchschnittliche Umsatzsteuerlast mit steigendem Einkommen abnimmt. Zwar sucht die Kommission dem Steuerwettbewerb durch die Verpflichtung der Mitgliedstaaten entgegenzutreten, einen effektiven Durchschnittssteuersatz von 12 Prozent nicht zu unterschreiten.59 Indessen liegt der Normalsatz derzeit in allen Mitgliedstaaten deutlich über diesem Wert60; zudem könnte der Durchschnittswert auch durch eine kompensierende Anhebung der Steuer auf nicht im internationalen Wettbewerb stehende Güter und Dienstleistungen erreicht werden. Die Kommission sieht diese Gefahr zwar, hält sie aber durch die angestrebte umfassende Einführung des Bestimmungslandprinzips für gebannt.61 Freilich würde dies bedeuten, dass eine Besteuerung nach dem Bestimmungslandprinzip in der Praxis gesichert werden könnte; daran bestehen aber gerade im Kontext der grenz­überschreitenden elektronischen Dienstleistungen erhebliche Zweifel.62

55 S. Ismer/Kaul/Reiß/Rath, Analyse und Bewertung der Strukturen von Regel- und ermäßigten Sätzen bei der Umsatzbesteuerung unter sozial-, wirtschafts-, steuer- und haushaltspolitischen Gesichtspunkten, Endbericht eines Forschungsgutachtens im Auftrag des BMF, 2010, 8 f.; Ismer, MwStR 2017, 687, 692; Aujean, ec Tax Review 2012, 134, 140. Siehe zu den Abgrenzungsschwierigkeiten in Deutschland anstatt vieler: Kruhl, UStB 2018, 59. 56 S. dazu COM(2017) 569 final, wonach Artikel 402 MwStSystRL neu an das Ziel der Umsetzung des Bestimmungslandprinzips ausgerichtet werden soll. 57 Ebenso Peeters, International VAT Monitor 2018:4, unter 4. 58 Siehe dazu allgemein Englisch, in Tipke/Lang, Steuerrecht, 2018, § 17 Rz. 276. 59 Vgl. COM(2018) 20 final, S. 8. 60 Für einen Überblick über die aktuell geltenden Steuersätze s. Annacondia, International VAT Monitor 2018, 27. 61 COM(2018) 20 final, S. 11. 62 Siehe allgemein zu digitalen Diensten stellvertretend vieler Schenk/Thuronyi/Cui, Value Added Tax, 2015, S. 210 ff.; OECD-Report, The application of consumption taxes to the

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Schließlich gibt es auch zwei rechtliche Bedenken: Zum einen wird geltend gemacht, dass Art. 113 AEUV nur eine Harmonisierung der Umsatzsteuer zulasse, nicht aber die Rechtszersplitterung. Mangels Rechtsgrundlage sei die Freigabe der ermäßigten Steuersätze daher rechtswidrig.63 Zum anderen wird die bisher ungeklärte Frage virulent, ob die Ausübung der Freiheit der Mitgliedstaaten am Maßstab des unionalen Beihilfeverbots zu messen ist.64 Die Maßnahme liegt nicht außerhalb des Anwendungsbereichs des Beihilferechts, weil es sich um eine unionale Maßnahme handelt. Denn die Richtlinie macht insoweit keine Vorgaben, sondern erlaubt den Mitgliedstaaten lediglich die Steuerermäßigungen.65 Die Antwort auf die Frage dürfte zudem davon abhängen, ob die Umsatzsteuer auch nach der Freigabe der Steuersätze noch als allgemeine Verbrauchsteuer mit einem Normalsatz als Regelbesteuerung angesehen werden kann, von dem die Ermäßigungstatbestände abweichen.

V. Sonderregelungen für kleine und mittlere Unternehmen Im derzeitigen Mehrwertsteuersystem ist, wenngleich nur in ganz beschränktem Umfang, in den Art. 281 ff. MwStSystRL längstens bis zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der endgültigen Regelung im Sinne des Art. 402 MwStSystRL befristetet66 die Möglichkeit für die Mitgliedstaaten vorgesehen, Sonderregeln für Kleinunternehmen zu schaffen. Dabei geht es zum einen um die Zulässigkeit von vereinfachten Modalitäten für die Besteuerung und Steuererhebung. Dies betrifft insbesondere die Bereiche Registrierung, Rechnungstellung, Aufzeichnung und Mitteilung usw. Zum anderen können die Mitgliedstaaten, wenn ein vom nationalen Gesetzgeber festzulegender, allerdings unionsrechtlich gedeckelter67 Schwellenwert nicht überschritten wird, unechte Steuerbefreiungen und Steuerermäßigungen schaffen. Dadurch sollen die Befolgungskosten für die Kleinunternehmen verringert werden. Um nicht zu einer Benachteiligung zu führen, dürfen Kleinunternehmer auf die Steuerbefreiungen und Steuerermäßigungen verzichten, wobei in Deutschland eine zeitliche Bindungsdauer von fünf Jahren vorgesehen ist. Die Kleinunternehmerregeln sind, was der EuGH ausdrücklich gebilligt hat, auf die nationale Ebene beschränkt.68 Grenzüberschreitend tätige Unternehmen können die Steuerbefreiungen und Vereinfachungsmaßnahmen in einem anderen Land nicht in Anspruch nehmen. Im Ergebnis werden grenzüberschreitende tätige Kleinunternehmer im Vergleich zu heimischen Kleinunterneh-

trade in international services and intangibles, 2004, Rz. 9 ff.; Englisch, in Tipke/Lang, Steuerrecht, 2018, § 17 Rz. 444. 63 So de la Feria/Schofield, ec Tax Review 2017, 89. 64 Die Kommission bejaht diese Frage, vgl. COM(2018) 20 final, S. 7. 65 S. dazu auch Ismer, MwStR 2017, 687, 692. 66 Vgl. Art. 292 MwStSystRL. 67 Vgl. Art. 284 ff. MwStSystRL. 68 S. EuGH, Urt. v. 26.10.2010 – C-97/09, ECLI:EU:C:2010:632 – Schmelz, UR 2011, 32; s. dazu Prätzler, in Birkenfeld/Wäger, Umsatzsteuer-Handbuch, § 3c UStG Rz. 118 ff.; Terra/ Kajus, Introduction to European VAT 2018, S.  474  ff.; kritisch Englisch, in Tipke/Lang, Steuerrecht 2018, S. 1011.

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mern benachteiligt.69 Auch führt das gegenwärtige Regime, wie die Kommission mit Recht beanstandet, zu einem Flickwerk aus Vorschriften, die die Wettbewerbsbedingungen für die Unternehmen verzerren. Zudem sind die Mehrwertsteuer-Befolgungskosten für Kleinunternehmer proportional viel höher als für große Unter­ nehmen, da viele dieser Kosten nicht proportional zum Umsatz anfallen, sondern Fixkosten sind. Die Kommission erkennt diese Probleme und will in zweierlei Hinsicht Abhilfe schaffen, nämlich zum einen durch eine Erleichterung der Befolgung der mehrwertsteuerlichen Vorschriften und zum anderen durch eine Erweiterung der Steuerbefreiungen:70 Erstens will die Kommission es sehr viel mehr Unternehmen ermöglichen, einfachere Vorschriften anzuwenden. Dazu sollen die Mitgliedstaaten die Möglichkeit haben, alle Kleinunternehmen, die für eine Mehrwertsteuerbefreiung infrage kommen, von Pflichten im Hinblick auf Registrierung, Rechnungstellung, Aufzeichnung und Mitteilung befreien. Erklärungen sind nunmehr jährlich abzugeben.71 Auch sollen, was überrascht, Vorauszahlungen untersagt sein.72 Zur Bestimmung der privilegierten Gruppe von kleinen und mittleren Unternehmen will sie einen EU-weit einheitlichen Umsatzschwellenwert von 2 Mio. Euro für die gesamten unionsweiten Umsätze einführen. In der Gemeinschaft ansässige Steuerpflichtige Unternehmen mit Jahresgesamtumsätzen unterhalb des Schwellenwertes werden als Kleinunternehmen definiert. Zweitens sollen die Steuerbefreiungen für Kleinunternehmen erweitert werden. Dazu sollen die derzeitigen nationalen Schwellenwerte für Steuerbefreiungen in den Mitgliedstaaten beibehalten werden, jedoch den Mitgliedstaaten eine höhere Schwelle erlaubt werden von maximal 85.000 Euro Gesamtumsatz. Ein einmaliges Überschreiten der Schwelle um nicht mehr als 50 Prozent ist unschädlich, Art. 288a MwStSyst­ RL-E. Ferner soll für diejenigen Kleinunternehmen, die in mehr als einem Mitgliedstaat tätig sind, ein weiterer, niedriger Umsatzschwellenwert von 100.000  Euro geschaffen werden.73 Liegen ihre unionsweiten Umsätze unterhalb dieser Schwelle, so können sie die Mehrwertsteuerbefreiung in Anspruch nehmen. Die geplanten Änderungen sind hinsichtlich der Erstreckung der Steuerbefreiung auf grenzüberschreitende Kleinunternehmen grundsätzlich zu begrüßen. Aus der Tatsache, dass sich die Schwellenwerte auf das laufende Jahr und nicht auf das Vorjahr beziehen, dürften keine unbilligen Härten resultieren. Denn der Steuerpflichtige kann nach wie vor auf die Anwendung der Befreiung verzichten, so dass er sowohl bei überraschendem Nichtüberschreiten der Schwelle geschützt ist, Art. 290 MwStSyst­ 69 S. Mayer-Burow/Connemann, UStB 2018, 78, 85. 70 S. Kommission, Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Änderung der Richtlinie 2006/112/EG über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem in Bezug auf die Sonderregelung für Kleinunternehmen v. 18.1.2018, COM(2018) 21 final. 71 Vgl. Art. 294i S. 1 MwStSystRL-E. 72 Art. 294j MwStSystRL-E. 73 S. Mayer-Burow/Connemann, UStB 2018, 78, 85.

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RL-E, als auch bei einmaligem geringfügigen Überschreiten, Art.  288a  MwStSyst­ RL-E. Auch wird im Ergebnis keine umgekehrte Diskriminierung geschaffen. Zwar liegt der Umsatzschwellenwert für die auch grenzüberschreitend tätigen Kleinunternehmer höher als für den rein innerstaatlich Tätigen. Die höhere Umsatzschwelle ist aber nur im Nichtansässigkeitsstaat anwendbar. Zudem dürfen die Umsätze in jedem Nichtansässigkeitsstaat die Kleinunternehmerschwellen für die dort ansässigen Unternehmen nicht überschreiten. Allerdings ist mit Blick auf die innerstaatliche Schwelle die fehlende Harmonisierung zu verzeichnen, wenngleich angesichts der nach wie vor bestehenden Unterschiede der Lebensverhältnisse letztlich nicht zu beanstanden: Auch grenzüberschreitend tätige Unternehmen müssen hier für jedes Land, in dem sie Leistungen ausführen, die jeweiligen innerstaatlichen Umsatzschwellen einhalten. In rechtstechnischer Hinsicht erstaunt allerdings, dass die Abmilderung der Fallbeilregelung nur für die innerstaatliche Umsatzschwelle gilt, nach dem Wortlaut der Norm aber weder für die unionsweite Gesamtschwelle noch für die entsprechende Anwendung der innerstaatlichen Schwelle für die nichtansässigen Unternehmen. ­Zugleich erscheinen sowohl die Schwelle von 100.000 Euro für grenzüberschreitend tätige Unternehmen als auch die den Mitgliedsstaaten eingeräumte Schwelle von ­maximal 85.000 Euro vergleichsweise hoch.74 Im Ergebnis drohen hierdurch, insbesondere solange es keine verbindlichen Vorgaben über Mehrwertsteuergruppen gibt, erhebliche Steuersatzarbitragemöglichkeiten, weil durch die Versagung des Vorsteuerabzugs bei gleichzeitiger Steuerbefreiung letztlich nicht der Steuersatz des Bestimmungslandes, sondern derjenige des Ursprungslands maßgeblich wird. Sehr problematisch, weil überaus entgegenkommend für die Steuerpflichtigen, sind hingegen die Vorschläge zur Senkung der Befolgungskosten. So wünschenswert Bürokratieabbau erscheint: Für Kleinunternehmen, für die in diesem Bereich die Umsatzschwelle von 2 Mio. Euro pro Jahr gilt, keine Vorauszahlungen und nur eine jährliche Erklärung zu verlangen, dürfte zu ganz massiven Steuerausfällen führen. Dies gilt zunächst für das Jahr der Einführung der Regelung, wodurch angesichts der großen fiskalischen Bedeutung der Umsatzsteuer viele Staaten die Defizitkriterien reißen dürften. Aber auch in den Folgeperioden dürfte der Schaden aus der wegen der verspäteten Steuerentstehung resultierenden faktischen Nachrangstellung des Fiskus bei Insolvenzen und aus Mehrwertsteuerbetrug kaum im Verhältnis zum Vorteil der geplanten Regelungen stehen.

VI. Stärkung der Verwaltungszusammenarbeit Zugleich sieht das Mehrwertsteuerpaket vor, dass der grenzüberschreitende Mehrwertsteuerbetrug wirksamer und zeitnaher zu bekämpfen ist. Dazu sollen, was im Zusammenhang mit dem Übergang zum Bestimmungslandprinzip auch dringlich geboten ist, die Instrumente für die Verwaltungszusammenarbeit verbessert werden. Die Kommission hat im November 2017 dazu erneut einen Vorschlag für eine Ände-

74 Vgl. Art. 284 Abs. 2 MwStSystRL-E.

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rung der Zusammenarbeitsverordnung vorgelegt.75 Darin schlägt sie neben der Stärkung von Eurofisc, dem multilateralen Frühwarnsystem der Mitgliedstaaten zur ­Bekämpfung des Mehrwertsteuerbetrugs,76 insbesondere die Möglichkeit vor, die Anwesenheit von Beamten in den Amtsräumen der Behörden und den Räumlichkeiten von Steuerpflichtigen während behördlicher Ermittlungen in anderen Mitgliedstaaten zuzulassen. Zu diesem Zweck würden gemeinsame Prüfteams gebildet, die grenz­ überschreitende Umsätze eines Steuerpflichtigen oder mehrerer miteinander verbundener Steuerpflichtiger prüfen würden. Derartige gemeinsame Prüfungen werfen Rechtsfragen auf. Insbesondere wird hier zu klären sein, ob die unterstützenden ausländischen Prüfer im Rahmen eigener Befugnisse tätig werden und damit eigene Hoheitsakte auf dem Gebiet des anderen Staates mit dessen Zustimmung vollziehen, die dann vor den eigenen Gerichten am Maßstab der eigenen Gesetze zu überprüfen sind.77

VII. Utopie und Dystopie? Sieben Dichotomien zur zukünftigen Entwicklung der Umsatzsteuer Durch ihr Mehrwertsteuerpaket bestimmt die Europäische Kommission derzeit stark den mehrwertsteuerlichen Diskurs. Gleichwohl ist nicht zu verkennen, dass es sich dabei lediglich um den zeitgebundenen Vorschlag eines, wenngleich wichtigen, Akteurs handelt. Die Definitionsmacht dessen, was die Zukunft der Umsatzsteuer ausmacht, sollte – insbesondere im Rahmen dieser Festschrift – nicht allein der Kommission überlassen werden. Vielmehr sollten auch mögliche längerfristige Entwicklungen im Blick behalten werden. Solche Beschäftigungen mit der Zukunft gehen über eine Prognose mit der immanenten Unsicherheit hinaus, sondern enthalten sie auch immer Aussagen über die Gegenwart, die Einstellungen widerspiegeln; je nach Grad des eigenen Optimismus lässt sich dann eine Utopie oder Dystopie zeichnen. Auch wenn im Umsatzsteuerrecht nicht immer klar ist, was die Utopie und was die Dystopie ausmacht, sollen im Folgenden jedenfalls über sieben Dichotomien mögliche künftige Entwicklungslinien der Umsatzsteuer aufgezeigt werden.

75 Geänderter Vorschlag für eine Verordnung zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 904/​ 2010 im Hinblick auf die Stärkung der Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden auf dem Gebiet der Mehrwertsteuer v. 30.11.2017, COM(2017) 706 final. S. dazu auch Commission Staff Working Document v. 30.11.2017, SWD(2017) 428 final. 76 Zu bestehenden Schwächen s. Gemeinsamer Bericht der Rechnungshöfe Österreichs (Der Rechnungshof) Ungarns (Állami Számvevöszék) und Deutschlands (Bundesrechnungshof), Eurofisc: ein multilaterales Frühwarnsystem der Mitgliedstaaten zur Bekämpfung des Mehrwertsteuerbetrugs, 2015. 77 Vgl. für den Bereich der Joint Audits im Bereich des internationalen Ertragsteuerrechts Drüen, DStR-Beih 2013, 82.

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Entwicklungslinien der Umsatzsteuer

1. Internationale Vereinheitlichung vs. größere Vielfalt verschiedener (nationaler) Regelungen? Die erste Entwicklungslinie betrifft, was für die Umsatzsteuer als besonders häufig auf grenzüberschreitende Sachverhalte anwendbare Steuer relevant ist, den Grad der internationalen Vereinheitlichung. Die Mehrwertsteuersysteme können einerseits zukünftig stärker harmonisiert werden. Als Quellen einer solchen Vereinheitlichung lassen sich neben der unionalen Gesetzgebung insbesondere die laufenden Arbeiten der OECD an den VAT/GST Guidelines ausmachen, die auf eine Vereinheitlichung durch Soft Law gerichtet sind.78 Andererseits könnten aber durchaus auch die Entscheidungen verstärkt auf der Ebene der Mitgliedstaaten getroffen werden, etwa indem das Unionsrecht den Mitgliedstaaten weitere Optionen einräumt, wie es die Kommission bei den Steuersatzermäßigungstatbeständen plant. 2. Regelsetzung durch abstrakt-generelle Normen oder durch Case Law? Die zweite Dichotomie betrifft die Regelsetzung79 im Mehrwertsteuerrecht: Erfolgt diese abstrakt-generell durch Rechtsnormen, sei es in Form von innerstaatlichen Gesetzen oder supranationalen Verordnungen und Richtlinien? Oder kommt es zu einem verstärkten Einfluss des Richterrechts? Einerseits könnten die umfangreichen Vorschläge der Kommission für eine Stärkung der abstrakt-generellen Regelsetzung sprechen. Umgekehrt wird aber die Bedeutung der Vorgaben der Grundrechte-Charta für das Mehrwertsteuerrecht derzeit gerade erkannt, was das Potential einer erheblichen Verschiebung der Regelsetzung auf die Judikative birgt. 3. Einmalbesteuerung oder Doppelbesteuerung/Doppelnichtbesteuerung? Die dritte Dichotomie betrifft die Erreichung des Ziels einer Einmalbesteuerung. Als allgemeine Verbrauchsteuer ist die Umsatzsteuer darauf ausgerichtet, grundsätzlich Konsumleistungsfähigkeit umfassend zu erfassen. Dieses Ziel kann in zwei Richtungen verfehlt werden, nämlich zum einen dann, wenn ein Umsatz doppelt und zum anderen umgekehrt in keinem Staat, also doppelt nicht besteuert wird. Eine zunehmende Verwirklichung des Bestimmungslandprinzips erscheint in diesem Zusammenhang an sich hilfreich, da Doppelbesteuerungen ebenso wie Doppelnichtbesteuerungen im Umsatzsteuerrecht häufig ihre Ursache in divergierenden Ortsregelungen haben.80 Indessen ist das Bestimmungslandprinzip nicht immer hinreichend, weil erstens durchaus unterschiedliche Verständnisse bestehen können, welches Land rechtlich als Bestimmungsland anzusehen ist, und zweitens selbst bei dahingehender Einigkeit Schwierigkeiten bei der Tatsachenfeststellung einer einheitlichen Subsumtion entgegenstehen können. 78 OECD, International VAT/GST Guidelines, OECD, Paris, 2015. Dazu etwa Lamensch, ­Intertax 2016, 360. 79 Hier verstanden im Sinne von Fallnormen, vgl. Fikentscher, Methoden des Rechts, Band 4, 1977, S. 237 ff. 80 Vgl. Ismer/Artinger, MwStR 2018, 12, 15.

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Roland Ismer

4. Person des Steuerschuldners: Leistender oder andere Person? Die vierte Dichotomie betrifft die Person des Steuerschuldners. Dies kann und wird häufig der Leistende sein. Es lässt sich aber eine gewisse Tendenz beobachten, andere Personen an dessen Stelle zu setzen, nämlich den Leistungsempfänger im Rahmen von Reverse Charge-Konstellationen81 oder aber Dritte, wie etwa Plattformbetreiber im Rahmen von unterstellten Kommissionsmodellen. Während es bei der Steuerschuldnerschaft des Leistungsempfängers primär auf eine hinreichend präzise Vorhersagbarkeit des Anwendungsbereichs der Vorschrift ankommt, sind bei der Inpflichtnahme von Dritten zusätzlich sowohl ein Rechtfertigungsgrund als auch dessen Möglichkeit, die erforderlichen Informationen zu erlangen, erforderlich. 5. Rechnung: Analog möglich oder zwingend digital? Bei den Rechnungen dürfte es in Zukunft weniger um die in der EuGH-Rechtsprechung zwischenzeitlich weitgehend geklärte Frage nach dem materiellen oder bloß formellen Charakter der Rechnung gehen als um die Form der Rechnung: Wird diese weiterhin konventionell und analog möglich sein? Oder werden die Chancen der digitalen Transformation genutzt und verbindlich vorgeschrieben, dass digitale Rechnungen82 standardisiert erstellt und empfängerseitig verpflichtend akzeptiert werden müssen? 6. Maßnahmen zur Bekämpfung des Steuerbetrugs: Inkrementelle Verbesserungen oder Paradigmenwechsel? Die sechste Dichotomie betrifft die Bekämpfung des Steuerbetrugs: Sollen hier die begonnenen Maßnahmen, insbesondere durch Stärkung der Prüfungsbefugnisse und der Staatsanwaltschaften weiterverfolgt werden? Oder soll alternativ ein Paradigmenwechsel vollzogen werden, der den durch die digitale Transformation gewachsenen Möglichkeiten Rechnung trägt? Bei Beantwortung der Fragen sollten die verschiedenen Formen Nichtversteuerung von Ausgangsleistungen und Vorsteuerbetrug unterschieden werden.83 Denkbar wäre für letzteren84 etwa die Einführung von so­ genannten gespaltenen Zahlungen (Split Payments), wonach der Leistungsempfänger die Umsatzsteuer gar nicht an den Leistenden, sondern auf ein Treuhandkonto zahlt.85 Alternativ wären möglicherweise auch neue auf Blockchains basierte Rech-

81 Zum dahingehenden Vorschlag im Kontext der grenzüberschreitenden Lieferungen in der Union s. oben 3. 82 Zum derzeitigen Stand s. etwa Burbaum/Schlüter, UR 2017, 222; Engel-Flechsig, DB 2016, Beilage 04, 28. 83 Herbain, Intertax 2018, 579 ff. 84 Zu Möglichkeiten, der Nichtversteuerung von Ausgangsleistungen entgegenzutreten, s. Herbain, Intertax 2018, 579, 581. 85 Kritisch dazu Deloitte, Analysis of the impact of the split payment mechanism as an alternative VAT collection method, 2017; Prätzler, International VAT Monitor 2018, 66.

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Entwicklungslinien der Umsatzsteuer

nungen86 oder eine  – in China bereits ansatzweise praktizierte87  – Informationsübermittlung an die Finanzverwaltung in Echtzeit erforderlich, die dann Voraussetzung für den Vorsteuerabzug wäre. Auch wenn der aktuelle technologische Stand dies noch nicht erlauben sollte, ist das exponentielle Wachstum der Möglichkeiten zu bedenken: Die Datenübertragungsgeschwindigkeiten werden stark steigen und die Kosten für Speicherung und Verarbeitung von Daten stetig abnehmen. Dies bedeutet, dass die Echtzeitübermittlung weniger ein Problem der Machbarkeit als des Datenschutzes sein wird. 7. Sonderstellung der allgemeinen Umsatzsteuer oder Vielheit von Sonderumsatzsteuern? Die siebte Dichotomie betrifft schließlich die Frage der Stellung der Umsatzsteuer: Soll sie eine Sonderstellung als Allgemeine Verbrauchsteuer behalten oder soll sie durch neue Sonder(umsatz-)steuern ergänzt werden? Diese Frage stellt sich ersichtlich vor dem Hintergrund, dass international zunehmend hybride Steuern geschaffen werden,88 die zwar gewisse Züge von Ertragsteuern aufweisen, jedoch zur Vermeidung der Anwendbarkeit der Doppelbesteuerungsabkommen auch den Charakter einer Verbrauchsteuer haben müssen. Als Beispiel hierfür lässt sich der Vorschlag der Kommission vom März 2018 einer Steuer auf bestimmte digitale Leistungen anführen.89

VIII. Zusammenfassung und Ausblick Die Mehrwertsteuer befindet sich derzeit in einem Umbruch. Nachdem die Kommission ihre Agenda aus dem Weißbuch aus dem Jahre 2011 weitgehend abgearbeitet hatte, legte sie mit dem Mehrwertsteuerpaket im Jahre 2016 eine Agenda für umfassende weitere Reformen vor. Der Kommission geht es insbesondere, was grundsätzlich zu begrüßen ist, um den Übergang zur Besteuerung im Einklang mit dem Bestimmungslandprinzip. Zugleich soll dem Steuerbetrug entgegengetreten werden. Prinzipiell durchaus überzeugend, möglicherweise aber nicht ausreichend, werden insbesondere Transaktionen auf Plattformen dem Kommissionsmodell unterstellt und die Freigrenze für Drittstaatenimporte abgeschafft. Der geplante Übergang zum endgültigen Mehrwertsteuersystem erscheint als großer Schritt, der für die Lieferungen bereits konkrete Konturen angenommen hat; hingegen bestehen für die Dienstleistungen noch erhebliche Schwierigkeiten, das Bestimmungsland überhaupt rechtssicher zu bestimmen. Beim Rechtsrahmen für die Steuersätze weist das Mehr86 Dazu Groß, UR 2017, 501; Loy, DStR 2018, 1097. 87 Vgl. Herbain, Intertax 2018, 579, 580; Schenk/Thuronyi/Cui, Value Added Tax, 2015, S. 453 ff. 88 Vgl. dazu etwa Ismer/Jescheck, IStR 2017, 501; Ismer/Jescheck, Intertax 2018, 573. 89 Kommission, Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zum gemeinsamen System einer Digitalsteuer auf Erträge aus der Erbringung bestimmter digitaler Dienstleistungen v. 21.3.2018, COM(2018) 148 final.

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wertsteuerpaket einen ganz massiven Schwachpunkt auf, der entgegen der Auffassung der Kommission unter anderem auch die Umsetzung des Bestimmungslandprinzips gefährdet. Auch die geplanten Sonderregelungen für kleine und mittlere ­Unternehmen, mit denen deren Mehrwertsteuerbefolgungskosten gesenkt werden sollen, erscheinen nicht überzeugend. Die Stärkung der Verwaltungszusammenarbeit, die als unabdingbares Korrelat des angestrebten Übergangs zu einer Besteuerung nach dem Bestimmungslandprinzip erscheint, ist hingegen grundsätzlich zu billigen, bedarf aber mit Blick auf die gemeinsamen Prüfungen noch rechtlicher Konkretisierungen. Indessen ist nicht zu verkennen, dass es sich beim Mehrwertsteuerpaket letztlich um eine bloße Fortschreibung der Agenda aus dem Jahre 2011 handelt. Die oben aufgezeigten Dichotomien90 weisen demgegenüber auf weitere in der Zukunft zu bewältigende Herausforderungen, die insbesondere die digitale Transformation betreffen. Diese wird von der Kommission zwar – selbstverständlich – erkannt. Sie wird aber im Wesentlichen noch als Problem des Besteuerungsobjekts adressiert, so dass Maßnahmen zur Sicherung des Steueraufkommens für erforderlich gehalten werden. Hingegen werden die neuen durch die digitale Transformation eröffneten technologischen Optionen und Chancen für das Besteuerungsverfahren bisher nur sehr eingeschränkt genutzt. Exemplarisch lässt sich hier die elektronische Rechnungstellung anführen. Dort sollte eine europaweite Standardisierung gepaart mit einer mittelfristig vorzusehenden Verpflichtung, elektronische Rechnungen auszustellen und entgegenzunehmen, vorgesehen werden. Dadurch könnten die Befolgungskosten der Unternehmen ebenso wie der Vollzugsaufwand durch die Finanzverwaltung deutlich reduziert werden. Zugleich würde sich die Chance bieten, durch eine Übermittlung von Daten in Echtzeit und deren zeitnaher Auswertung durch die Finanzverwaltung, Steuerbetrug entscheidend entgegenzuwirken und damit einen erheblichen Beitrag zur Verwirklichung von effektiver Steuergerechtigkeit zu leisten. Um zum Schluss eine Utopie zu zeichnen: Die digitale Transformation kann dabei helfen, die Umsatzsteuer in Zukunft einfacher und gerechter zu machen.

90 Vgl. oben VII.

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Auf dem Weg zu einem einheitlichen europäischen ­MwSt-  Raum? Erste Vorschläge der Kommission für das endgültige MwSt-System Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Mitteilung der Kommission „Follow-up zum Aktionsplan im Bereich der Mehrwertsteuer“ 1. Seitens der Kommission bereits ergriffene Maßnahmen 2. Zukünftige Arbeitsschwerpunkte der Kommission III. Vorschläge in Bezug auf die Harmoni­ sierung und Vereinfachung bestimmter Regelungen des MwSt-Systems und zur Einführung des endgültigen Systems der Besteuerung des Handels zwischen den Mitgliedstaaten 1. Schaffung eines Rechtsinstituts des „­zertifizierten Steuerpflichtigen“ 2. Harmonisierung der (Vereinfachungs-) Regelungen zur Behandlung von ­Konsignationslagern 3. Novellierung der Steuerbefreiung für ­innergemeinschaftliche Lieferungen 4. Harmonisierung der Anwendung der Steuerbefreiung für innergemeinschaft­ liche Lieferungen auf Reihengeschäfte

5. Anwendung der Steuerbefreiung für ­innergemeinschaftliche Lieferungen 6. Vorfestlegung von Eckpunkten zum ­endgültigen MwSt-System für den für 2018 angekündigten weiteren Legislativvorschlag IV. Bewertung der Vorschläge 1. Schaffung eines Rechtsinstituts des „­zertifizierten Steuerpflichtigen“ 2. Harmonisierung der (Vereinfachungs-) Regelungen zur Behandlung von ­Konsignationslagern 3. Novellierung der Steuerbefreiung für ­innergemeinschaftliche Lieferungen 4. Harmonisierung der Anwendung der Steuerbefreiung für innergemeinschaft­ liche Lieferungen auf Reihengeschäfte 5. Anwendung der Steuerbefreiung für ­innergemeinschaftliche Lieferungen 6. Vorfestlegung von Eckpunkten zum ­endgültigen MwSt-System für den für 2018 angekündigten weiteren Legislativvorschlag V. Zusammenfassung

I. Einleitung Den Begriff des einheitlichen europäischen MwSt-Raums hat die Kommission meines Wissens erstmalig in ihrer Mitteilung zum Aktionsplan zur Mehrwertsteuer 2016 vom 7.4.2016 verwendet und in ihrer Mitteilung an das EP, den Rat und den WSA 1 Der Beitrag ist nicht in dienstlicher Eigenschaft verfasst und gibt lediglich die Auffassung des Autors wieder.

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„Follow up zum Aktionsplan im Bereich der Mehrwertsteuer – Auf dem Weg zu einem einheitlichen europäischen MwSt-Raum: Zeit zu handeln“ vom 4.10.2017 konsequent weiterentwickelt. Die Kommission wird in den nächsten Jahren eine Vielzahl von Vorschlägen vorlegen, mit denen sie das bestehende MwSt-System schrittweise weniger betrugsanfällig machen und seine Anwendung für die Unternehmer vereinfachen will. Die Vorschläge werden sowohl legislativer Art sein und zum einen auf das eigentliche MwSt-Recht und zum anderen auf die Zusammenarbeit zielen als auch nichtlegislativer Art sein. Bei den nichtlegislativen Vorschlägen wird es auch darum gehen, die Steuerverwaltungen der Mitgliedstaaten in Bezug auf die Verfahren, den Vollzug und die Arbeitsweise bis hin zum Personaleinsatz anzugleichen und die Überwachung der nationalen Steuerbehörden durch die Kommission sicherzustellen. Ergebnis der Bemühungen soll dann der robuste und einheitliche europäische MwStRaum sein. Mit den Legislativvorschlägen vom 4.10.2017 beginnt nunmehr die Transformation hin zum endgültigen MwSt-System durch Umsetzung der sog. Quick Fixes und Festlegung von Eckpunkten für das endgültige MwSt-System. In dem Beitrag werden die Legislativvorschläge vom 4.10.2017 dargestellt, analysiert und in die Gesamtstrategie der Kommission eingeordnet.

II. Mitteilung der Kommission „Follow-up zum Aktionsplan im Bereich der Mehrwertsteuer“ Nachdem die Kommission am 7.4.2016 die Mitteilung zum Aktionsplan zur Mehrwertsteuer 2016 vorgelegt hatte2, hat sie am 4.10.2017 die Mitteilung an das EP, den Rat und den WSA „Follow up zum Aktionsplan im Bereich der Mehrwertsteuer – Auf dem Weg zu einem einheitlichen europäischen MwSt-Raum: Zeit zu handeln“ vorgelegt3. In der Mitteilung legt die Kommission die seit Annahme des MwSt-Aktionsplans ergriffenen Maßnahmen dar und beschreibt die Arbeitsschwerpunkte für die nächsten Jahre, mit denen sie das bestehende MwSt-System schrittweise weniger betrugsanfällig machen und seine Anwendung für die Unternehmer vereinfachen will.

2 Mitteilung der Kommission v. 7.4.2016 an das Europäische Parlament, den Rat und den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss über einen Aktionsplan im Bereich der Mehrwertsteuer – Auf dem Weg zu einem europäischen MwSt-Raum: Zeit für Reformen, COM(2016) 148 final, http://data.consilium.europa.eu/doc/document/ST-7687-2016-INIT/ de/pdf, vgl. hierzu auch Korf, UVR 2016, 240; Vellen, EU-UStB 2016, 37; Zimmermann, UR 2017, 580. 3 Mitteilung der Kommission v. 4.10.2017 an das Europäische Parlament, den Rat und den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss Follow-up zum Aktionsplan im Bereich der Mehrwertsteuer – Auf dem Weg zu einem einheitlichen europäischen MwSt-Raum: Zeit zu handeln, COM(2017) 566 final, http://data.consilium.europa.eu/doc/document/ST-126172017-INIT/de/pdf, vgl. hierzu auch Becker, MwStR 2017, 902; Kraeusel, UVR 2017, 366; Küffner, DB 2017, M4-M5; Langer/Breitsameter, DStR 2018, 97; Melhardt, ÖStZ 2018, 76; Meyer-Burow/Connemann, UStB 2018, 78; Vellen, EU-UStB 2017, 106; Widmann, UR 2018, 10.

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1. Seitens der Kommission bereits ergriffene Maßnahmen Zunächst berichtet die Kommission über die seit der Annahme des MwSt-Aktionsplans ergriffenen Maßnahmen, insbesondere die vorgelegten Legislativvorschläge: ȤȤ Modernisierung der Mehrwertsteuer für den grenzüberschreitenden elektronischen Geschäftsverkehr zwischen Unternehmen und Verbrauchern – B2C –4; ȤȤ ermäßigter MwSt-Satz auf eBücher, eZeitungen und eZeitschriften5 sowie ȤȤ Möglichkeit der Anwendung des generelles Reverse-Charge-Verfahrens für inländische Umsätze über 10.000 Euro6. Des Weiteren prüfe die Kommission derzeit im Rahmen des EU-MwSt-Forums, wie durch die Schaffung einer strukturierten öffentlich-privaten Zusammenarbeit mit Steuerbehörden, Logistikunternehmen, Internetplattformen, Zahlungsdienstleistern und Unternehmensverbänden die MwSt-Einziehung verbessert, Betrug im elektronischen Geschäftsverkehr bekämpft und gleiche Wettbewerbsbedingungen für ordnungsgemäß ihren Pflichten nachkommende Unternehmen hergestellt werden können. Das Ergebnis dieser Konsultation soll die Faktengrundlage für eine Kommissionsinitiative im Jahr 2018 liefern.

4 Sog. mehrwertsteuerliches Digitalpaket bestehend aus dem Vorschlag der Kommission vom 1.12.2016 für eine Richtlinie des Rates zur Änderung der MwSt-Systemrichtlinie und der Richtlinie 2009/132/EG in Bezug auf bestimmte mehrwertsteuerliche Pflichten für die Erbringung von Dienstleistungen und für Fernverkäufe von Gegenständen, COM(2016) 757 final, http://data.consilium.europa.eu/doc/document/ST-14820-2016-INIT/de/pdf), dem Vorschlag der Kommission v. 1.12.2016 für eine Durchführungsverordnung des Rates zur Änderung der Durchführungsverordnung (EU) Nr. 282/2011 des Rates zur Festlegung von Durchführungsvorschriften zur MwSt-Systemrichtlinie COM(2016) 756 final, http://data. consilium.europa.eu/doc/document/ST-14821-2016-INIT/de/pdf) und dem Vorschlag der Kommission v. 1.12.2016 für eine Verordnung des Rates zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 904/2010 des Rates über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden und die Betrugsbekämpfung auf dem Gebiet der Mehrwertsteuer, COM (2016) 755 final, http://data. consilium.europa.eu/doc/document/ST-14822-2016-INIT/de/pdf, vgl. hierzu Vellen, EUUStB 2017, 19, 42 und 68 f. Der Rat hat die Rechtsetzungsvorschläge zwischenzeitlich am 5.12.2017 verabschiedet, ABl. EU 2017 Nr. L 348, 1, 7 und 32. Vgl. hierzu Vellen, EU-UStB 2018, 25. 5 Vorschlag der Kommission v. 1.12.2016 für eine Richtlinie zur Änderung der MwSt-Systemrichtlinie in Bezug auf die MwSt-Sätze für Bücher, Zeitungen und Zeitschriften, COM(2016) 758 final, http://data.consilium.europa.eu/doc/document/ST-14823-2016-INIT/​de/pdf, vgl. hierzu Vellen, EU-UStB 2017, 21, 43, 68 und 70. 6 Vorschlag der Kommission v. 1.12.2016 für eine Richtlinie zur für eine Änderung der MwSt-Systemrichtlinie im Hinblick auf die befristete generelle Umkehrung der Steuerschuldnerschaft auf Lieferungen bestimmter Gegenstände und Dienstleistungen über einem bestimmten Schwellenwert, COM(2016) 811 final, http://data.consilium.europa.eu/doc/­ document/ST-15817-2016-INIT/de/pdf, vgl. hierzu Vellen, EU-UStB 2017, 22, 44, 68 und 71.

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Schließlich weist die Kommission auf Betrugsbekämpfungsmaßnahmen durch Verbesserung der Steuererhebung und der Zusammenarbeit der Behörden hin: ȤȤ Die Kommission habe die Entwicklung der Transaction Network Analysis für den Austausch und die gemeinsame Verarbeitung bestimmter MwSt-Daten durch Experten des Eurofisc-Netzes für Risikoanalyse angestoßen7. Dank dieses neuen ­Instruments sollen Steuerbehörden betrügerische Netze einfacher, schneller und sicherer stoppen können. ȤȤ Im Bereich des Strafrechts sei im Juli 2017 die Richtlinie über die strafrechtliche Bekämpfung von gegen die finanziellen Interessen der EU gerichtetem Betrug8 angenommen worden, die Mindestvorschriften für die Definition von gegen die finanziellen Interessen der Union gerichtete Straftaten sowie Sanktionen und Verjährungsfristen festlege. Die Richtlinie definiere die sachliche Zuständigkeit der künftigen EU-Staatsanwaltschaft (EPPO). Die EPPO werde insbesondere für die strafrechtliche Ermittlung und Verfolgung von Fällen von MwSt-Betrug zuständig sein, die mit dem Hoheitsgebiet von zwei oder mehr Mitgliedstaaten verbunden sind und bei denen sich der Gesamtschaden auf mindestens 10.000.000 Euro belaufe. ȤȤ Auf internationaler Ebene habe die Kommission ein Abkommen zwischen der EU und Norwegen über die Verwaltungszusammenarbeit, die Betrugsbekämpfung und die Beitreibung von Forderungen im MwSt-Bereich verhandelt9. Es trete in Kraft, wenn der Rat die Beschlüsse zu dessen Unterzeichnung und Abschluss angenommen habe10. Zudem sei eine Verwaltungsvereinbarung zur Zusammenarbeit zwischen den Kommissionsdienststellen und der Innereuropäischen Organisation der Steuerverwaltungen (IOTA) geschlossen worden, die den Austausch bewährter Verfahren zwischen den Mitgliedstaaten und den IOTA-Mitgliedern betreffe. ȤȤ Schließlich hätten mehrere Mitgliedstaaten Unterstützung zur Stärkung der Kapazitäten ihrer Steuerverwaltungen beantragt. Unterstützungsmaßnahmen im Zuge des Programms zur Unterstützung von Strukturreformen würden eng mit dem FISCALIS-Programm koordiniert. 2. Zukünftige Arbeitsschwerpunkte der Kommission Im Folgenden legt die Kommission ihre weiteren Planungen und Arbeitsschwerpunkte zur Schaffung eines einheitlichen MwSt-Raums vor. Damit soll ein modernes 7 Vgl. hierzu Vellen, EU-UStB 2017, 18. 8 Richtlinie (EU) 2017/1371 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 5.7.2017 über die strafrechtliche Bekämpfung von gegen die finanziellen Interessen der Union gerichtetem Betrug, ABl. EU 2017 Nr. L 198, 29. 9 Vgl. hierzu Vellen, EU-UStB 2017, 18. 10 Der Rat hat am 5.12.2017 durch den Beschluss (EU) 2017/2381 die Unterzeichnung der Übereinkunft genehmigt und den Präsidenten des Rates ermächtigt, die Person(en) zu bestellen, die befugt ist (sind), die Übereinkunft im Namen der EU zu unterzeichnen, ABl. EU 2017 Nr. L 340, 4. Der Wortlaut der Vereinbarung wird zusammen mit dem Beschluss über ihren Abschluss veröffentlicht werden.

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und einfacheres EU-MwSt-System geschaffen werden, dass darüber hinaus weniger anfällig für Betrug und gleichzeitig unternehmerfreundlicher ist. Hier geht es zunächst um die Umsetzung des endgültigen MwSt-Systems, dass auf dem Grundsatz der Besteuerung im Bestimmungsmitgliedstaat beruhen soll. Damit der Übergang für die Steuerverwaltungen und die Unternehmen möglichst reibungslos erfolgt, soll die Umstellung in zwei Schritten erfolgen: ȤȤ In einem ersten legislativen Schritt werde die MwSt-Behandlung der B2B-Lieferung von Gegenständen innerhalb der Union geregelt. Die Umsetzung dieses ersten Schritts soll in zwei Teilschritten erfolgen. Der erste Teilschritt besteht aus den am 4.10.2017 vorgelegten Rechtsetzungsvorschlägen (Abschn. III.). Hier geht es im Wesentlichen um die Umsetzung der vom Rat geforderten sog. Quick Fixes11, die Einführung des Rechtsinstituts des „zertifizierten Steuerpflichtigen“ und die Festlegung von Eckpunkten für das endgültige MwSt-System, auf die die Mitgliedstaaten dann verpflichtet sein sollen. Der zweite Teilschritt soll 2018 erfolgen; hierzu beabsichtige die Kommission Rechtssetzungsvorschläge mit ausführlichen technischen Bestimmungen zur tatsächlichen Umsetzung der Eckpunkte für das endgültige MwSt-System vorzulegen12. ȤȤ In einem zweiten legislativen Schritt soll die MwSt-Behandlung auf alle grenzüberschreitenden Lieferungen und auch auf Dienstleistungen ausgeweitet werden. Die Umsetzung dieses zweiten Legislativschritts werde die Kommission nach angemessenem Monitoring der Umsetzung des ersten Schritts vorschlagen, dessen Funktionieren die Kommission fünf Jahre nach Inkrafttreten überprüfen werde. Das endgültige System werde anschließend vollständig umgesetzt sein. Neben diesen Legislativvorschlägen plant die Kommission in den nächsten Jahren weitere  – teils legislative und teils nichtlegislative  – Initiativen zur Schaffung eines einheitlichen europäischen MwSt-Raums: ȤȤ Bekämpfung des MwSt-Betrugs durch eine verbesserte Verwaltungszusammenarbeit Bis November 2017 will die Kommission einen Legislativvorschlag zur Stärkung der vorhandenen Instrumente der Verwaltungszusammenarbeit vorlegen13. Eines 11 Schlussfolgerungen des Rates v. 8.11.2016 zur Verbesserungen der derzeitigen MwSt-Vorschriften der EU für grenzüberschreitende Umsätze, http://data.consilium.europa.eu/doc/ document/ST-14257-2016-INIT/de/pdf. Vgl. hierzu Vellen, EU-UStB 2016, 92. 12 Am 25.5.2018 hat die Kommission den entsprechenden Rechtsetzungsvorschlag „Proposal for a Council Directive amending Directive 2006/112/EC as regards the introduction of the detailed technical measures for the operation of the definitive VAT system for the taxation of trade between Member States“, COM(2018) 329 final, http://data.consilium.europa.eu/ doc/document/ST-9462-2018-INIT/en/pdf, vorgelegt. Die deutsche Sprachfassung liegt derzeit noch nicht vor. 13 Am 30.11.2017 hat die Kommission den geänderten Vorschlag für die Änderung der Verordnung (EU) Nr. 904/2010 des Rates über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden und die Betrugsbekämpfung auf dem Gebiet der Mehrwertsteuer, COM(2017) 706 final, http://data.consilium.europa.eu/doc/document/ST-14893-2017-INIT/de/pdf, vorgelegt.

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der Ziele soll sein, die Kapazität der Mitgliedstaaten zu stärken, innerhalb von Eurofisc schneller gemeinsame Risikoanalysen vorhandener Informationen durchzuführen, Follow-up- Maßnahmen zu ergreifen und EU-Strafverfolgungsbehörden wie Europol, OLAF und EPPO mehrwertsteuerliche Erkenntnisse mitzuteilen. Der Vorschlag soll außerdem Maßnahmen zur Beseitigung von Schlupflöchern im Einfuhrsystem im Rahmen des sog. „Zollverfahrens 42“ (Steuerbefreiung der Einfuhr im Zusammenhang mit Durchfuhren) enthalten, indem Steuer- und Zollbehörden systematisch Zugang zu den einschlägigen Informationen gewährt wird. ȤȤ Steigerung der Effizienz der Steuerverwaltungen Bis Ende 2017 will die Kommission dem EP und dem Rat einen Bericht gemäß Art. 12 VO (EWG, Euratom) Nr. 1553/89 über die in den Mitgliedstaaten zur Erfassung der Steuerpflichtigen und die Ermittlung und Einziehung der Mehrwertsteuer angewandten Verfahren sowie über die Einzelheiten und Ergebnisse ihrer Kontrollsysteme auf dem Gebiet dieser Steuer14 und einen Bericht gemäß Art. 27 der Richtlinie 2010/24/EU über die Amtshilfe bei der Beitreibung von Forderungen in Bezug auf bestimmte Steuern15 vorlegen. Hier sollen die Herausforderungen beleuchten werden, mit denen die Steuerbehörden bei der Einziehung von Steuern in einem sich wandelnden sozialen, wirtschaftlichen und finanziellen Umfeld konfrontiert sind. Die Kommission beabsichtigt darüber hinaus auf hoher Ebene einen strategischen Dialog mit den nationalen Behörden anzustrengen, um EU-weit einheitliche Lösungen zu finden, die mit dem EU-Recht in Einklang stehen. Hier geht es offensichtlich um die EU-weite Festlegung einheitlicher Standards für die Steuerverwaltungen der Mitgliedstaaten. Darüber hinaus strebt die Kommission eine Novellierung der derzeit geltenden ­Rahmenvorschriften zur Festlegung der MwSt-Sätze durch die Mitgliedstaaten an. Zusätzlich zu dem bereits vorliegenden Legislativakt für elektronische Veröffentli-

Rechtstechnisch handelt es sich um eine Änderung des bereits vorliegenden Änderungsvorschlags v. 4.10.2017 (vgl. Abschn. III.) mit den flankierenden Maßnahmen im Zusammenhang mit der vorgeschlagenen Einführung des zertifizierten Steuerpflichtigen. Mit dem jetzt vorgelegten Änderungsvorschlag schlägt die Kommission eine Vielzahl von Maßnahmen vor, mit denen die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden der Mitgliedstaaten auf dem Gebiet der Mehrwertsteuer gestärkt werden soll. 14 Die Kommission hat am 18.12.2017 den Bericht an den Rat und das Europäische Parlament – Achter Bericht gemäß Art. 12 der Verordnung (EWG, Euratom) Nr. 1553/89 über Verfahren zur Erhebung und Kontrolle der Mehrwertsteuer, COM(2017) 780 final, http:// data.consilium.europa.eu/doc/document/ST-15907-2017-INIT/de/pdf, vorgelegt. 15 Die Kommission hat am 18.12.2017 zudem den Bericht an den Rat und das Europäische Parlament über die Anwendung der durch die Richtlinie 2010/24/EU des Rates vom 16.3.2010 über die Amtshilfe bei der Beitreibung von Forderungen in Bezug auf bestimmte Steuern, Abgaben und sonstige Maßnahmen vorgeschriebenen Regelung, COM(2017) 778 final, http://data.consilium.europa.eu/doc/document/ST-15905-2017-INIT/de/pdf, vorgelegt.

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Auf dem Weg zu einem einheitlichen europäischen MwSt-Raum?

chungen16 will sie bis November 2017 Vorschläge für eine grundlegende Reform der MwSt-Sätze unterbreiten17. Schließlich kündigt die Kommission an, bis November 2017 ein umfassendes Vereinfachungspaket für KMU vorlegen, mit dem ein wachstumsfreundliches und für den grenzüberschreitenden Handel förderliches Umfeld geschaffen werden soll18.

III. Vorschläge in Bezug auf die Harmonisierung und Vereinfachung bestimmter Regelungen des MwSt-Systems und zur Einführung des endgültigen Systems der Besteuerung des Handels zwischen den Mitgliedstaaten Die Kommission hat am 4.10.2017 drei Legislativvorschläge in Bezug auf die Harmonisierung und Vereinfachung bestimmter Regelungen des MwSt-Systems und zur Einführung des endgültigen MwSt-Systems der Besteuerung des Handels zwischen den Mitgliedstaaten vorgelegt:

16 Vorschlag der Kommission v. 1.12.2016 für eine Richtlinie des Rates zur Änderung der Richtlinie 2006/112/EG des Rates in Bezug auf die MwSt-Sätze für Bücher, Zeitungen und Zeitschriften, COM(2016) 758 final, http://data.consilium.europa.eu/doc/document/ST14823-2016-INIT/de/pdf, vgl. hierzu Vellen, EU-UStB 2017, 21, 43, 68 und 70. 17 Die Kommission hat am 18.1.2018 inzwischen den Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Änderung der MwSt-Systemrichtlinie in Bezug auf die MwSt-Sätze, COM(2018) 20 final, http://data.consilium.europa.eu/doc/document/ST-5335-2018-INIT/de/pdf und http://​ data.consilium.europa.eu/doc/document/ST-5335-2018-ADD-1/de/pdf, vorgelegt, vgl. hier­ zu Vellen, EU-UStB 2018, 28. Der Vorschlag zur Modernisierung der MwSt-Sätze zielt da­ rauf ab, den Anwendungsbereich der ermäßigten Steuersätze zu öffnen und die Entscheidung über eine konkrete Anwendung weitestgehend auf die Mitgliedstaaten zu verlagern. Er sieht die Ausweitung des Anwendungsbereichs der ermäßigten Steuersätze (mindestens 5  %) grundsätzlich auf alle Arten von Leistungen vor und eröffnet zudem die Möglichkeit für die Mitgliedstaaten, einen stark ermäßigten Steuersatzes (