Doppelte Perfektbildungen in den Banater deutschen Mundarten 3515122265, 9783515122269

Doppelte Perfektbildungen in den deutschen Mundarten des rumänischen Banats stehen im Fokus dieser Studie – d.h. Verbalp

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German Pages 343 [346] Year 2018

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INHALTSVERZEICHNIS
VORWORT
1 EINLEITUNG
1.1 ZUM FORSCHUNGSGEGENSTAND
1.2 ZIELSETZUNG
1.3 METHODISCHES VORGEHEN UND HYPOTHESENBILDUNG
1.4 KORPUSBESCHREIBUNG
1.5 AUFBAU DER ARBEIT
2 THEORETISCHE UND TERMINOLOGISCHE GRUNDLAGEN
2.1 TEMPUS UND TEMPORALITÄT
2.1.1 Die grammatische Kategorisierung Tempus und die semantisch-funktionelle Kategorie Temporalität
2.1.2 Temporalität im Deutschen
2.2 ASPEKT UND ASPEKTUALITÄT
2.2.1 Die grammatische Kategorisierung Aspekt und die semantisch-funktionelle Kategorie Aspektualität
2.2.2 Aspekt und Aktionsart
2.2.3 Aspektualität im Deutschen
2.3 DOPPELTE PERFEKTBILDUNGEN
2.3.1 Darstellung in Grammatiken des Deutschen
2.3.2 Darstellung in der Forschungsliteratur
2.4 METHODISCHES VORGEHEN
2.5 FAZIT
3 GIBT ES IM DEUTSCHEN EINE KONSTANTE TENDENZ ZUR ANALYTISCHEN TEMPUSBILDUNG?
3.1 HYPOTHESE 1: ANALYTISIERUNG ALS KONSTANTE IN DER ENTWICKLUNG DES DEUTSCHEN VERBALSYSTEMS
3.1.1 Partizip-Periphrasen
3.1.2 Infinitiv-Periphrasen
3.2 HYPOTHESE 2: DOPPELTE PERFEKTBILDUNGEN UND DIE TENDENZ ZUR ANALYTISIERUNG IM DEUTSCHEN
3.2.1 Herausbildungshypothesen
3.2.2 Doppelte Perfektbildungen als dreigliedriges Konstruktionsschema: Hilfsverb + Adjektiv/Partizip II + Partizip II
3.2.3 Fazit
4 ZUR GRAMMATIKALISIERUNG DER DOPPELTEN PERFEKTBILDUNGEN
4.1 GRAMMATIKALISIERUNG DES ANALYTISCHEN PERFEKTS
4.1.1 Erosion und Reanalyse
4.1.2 Desemantisierung
4.1.3 Expansion
4.1.4 Reanalyse
4.2 SPRACHWANDEL UND GRAMMATIKALISIERUNG IM FALLE DER DOPPELTEN PERFEKTBILDUNGEN
4.2.1 Analogie
4.2.2 Reanalyse
4.3 FAZIT: KÖNNEN DIE DOPPELTEN PERFEKTBILDUNGEN ALS GRAMMATIKALISIERT BETRACHTET WERDEN?
5 DIE DOPPELTEN PERFEKTBILDUNGEN IN DEN BANATER DEUTSCHEN MUNDARTEN
5. 1 DAS BANAT UND DIE BANATER DEUTSCHEN
5.1.1 Zur Ansiedlung der deutschen Bevölkerung im Banat
5.1.2 Das Banat nach der Besiedlung
5.1.3 Zur Herkunft der Banater Siedler
5.2 DIE BANATER DEUTSCHEN MUNDARTEN
5.2.1 Sprachwandel: Mischung und Ausgleich
5.2.2 Tradition und Innovation in den Banater deutschen Mundarten
5.2.3 Fazit
5.3 ZUR ERFORSCHUNG DES VERBS IN DEN DEUTSCHEN MUNDARTEN DES RUMÄNISCHEN BANATS
5.3.1 Das Partizip II in den Banater deutschen Mundarten
5. 3. 2 Zum Präteritumschwund in den Banater deutschen Mundarten
5.3.3 Fazit
5.4 FORMENBESTAND DER DOPPELTEN PERFEKTBILDUNGEN IN DEN BANATER DEUTSCHEN MUNDARTEN
5.5 GEBRAUCH DOPPELTER PERFEKTBILDUNGEN IN DEN BANATER DEUTSCHEN MUNDARTEN
5.5.1 haben + Partizip II + gehabt
5.5.2 sein + Partizip II + gewesen
5.6 FUNKTIONEN DER DOPPELTEN PERFEKTBILDUNGEN IN DEN BANATER DEUTSCHEN MUNDARTEN
5.6.1 E gleichzeitig R1 vor R2 oder E vor [+ abgeschlossen zu] R2?
5.6.2 R1 vor E vor R2 oder R1 vor E vor [+ abgeschlossen zu] R2?
5.6.3 E vor R1 vor R2 oder E vor [+ abgeschlossen zu] R1 vor R2?
5.6.4 E vor R1 vor R2 oder E vor [+ abgeschlossen zu] R1 vor R2 im Konjunktiv?
5.6.5 E vor R1 vor R2 oder E vor [+ abgeschlossen zu] R1 vor R2 im Passiv?
5.6.6 Fazit
6 ZUSAMMENFASSUNG UND AUSBLICK
ABKÜRZUNGEN UND QUELLEN
LITERATURVERZEICHNIS
ANHANG
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Doppelte Perfektbildungen in den Banater deutschen Mundarten
 3515122265, 9783515122269

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BEIHEFTE

Mihaela Şandor

Doppelte Perfektbildungen in den Banater deutschen Mundarten

Germanistik

ZDL

Franz Steiner Verlag

zeitschrift für dialektologie und linguistik

beihefte

174

Mihaela Şandor Doppelte Perfektbildungen in den Banater deutschen Mundarten

zeitschrift für dialektologie und linguistik beihefte In Verbindung mit Michael Elmentaler und Jürg Fleischer herausgegeben von Jürgen Erich Schmidt

band 174

Mihaela Şandor

Doppelte Perfektbildungen in den Banater deutschen Mundarten

Franz Steiner Verlag

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2018 Druck: Hubert & Co., Göttingen Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-12226-9 (Print) ISBN 978-3-515-12227-6 (E-Book)

INHALTSVERZEICHNIS VORWORT ............................................................................................... 11 1

EINLEITUNG ...................................................................................... 13

1.1 Zum Forschungsgegenstand ................................................................. 13 1.2 Zielsetzung ........................................................................................... 14 1.3 Methodisches Vorgehen und Hypothesenbildung ............................... 15 1.4 Korpusbeschreibung............................................................................. 16 1.5 Aufbau der Arbeit ................................................................................ 17 2

THEORETISCHE UND TERMINOLOGISCHE GRUNDLAGEN .. 19

2.1 Tempus und Temporalität ................................................................... 19 2.1.1 Die grammatische Kategorisierung Tempus und die semantisch-funktionelle Kategorie Temporalität ...................... 19 2.1.2 Temporalität im Deutschen ........................................................ 27 2.2 Aspekt und Aspektualität .................................................................... 32 2.2.1 Die grammatische Kategorisierung Aspekt und die semantischfunktionelle Kategorie Aspektualität ......................................... 32 2.2.2 Aspekt und Aktionsart ............................................................... 38 2.2.3 Aspektualität im Deutschen ....................................................... 42 2.3 Doppelte Perfektbildungen.................................................................. 45 2.3.1 Darstellung in Grammatiken des Deutschen .............................. 46 2.3.2 Darstellung in der Forschungsliteratur ....................................... 51 2.3.2.1 Doppelte Perfektbildungen in der geschriebenen Sprache .......................................................................... 52 2.3.2.2 Doppelte Perfektbildungen in der gesprochenen Sprache .......................................................................... 63 2.3.2.3 Doppelperfektbildungen in deutschen Mundarten ........ 71 2.3.2.4 Fazit ............................................................................... 78 2.4 Methodisches Vorgehen ...................................................................... 79 2.5 Fazit ..................................................................................................... 81 3

GIBT ES IM DEUTSCHEN EINE KONSTANTE TENDENZ ZUR ANALYTISCHEN TEMPUSBILDUNG? ................................ 83

3.1 Hypothese 1: Analytisierung als Konstante in der Entwicklung des deutschen Verbalsystems .................................................................... 84 3.1.1 Partizip-Periphrasen ................................................................... 84 3.1.1.1 Früheste Belege im Althochdeutschen .......................... 84 3.1.1.2 Formenbestand im Mittelhochdeutschen ....................... 90 3.1.1.3 Ausbau der Formen im Frühneuhochdeutschen ............ 94 3.1.1.4 Partizip II-Periphrasen im Neuhochdeutschen ............ 100 3.1.1.5 Fazit ............................................................................. 101 3.1.2 Infinitiv-Periphrasen ................................................................ 103

6

Inhaltsverzeichnis

3.1.2.1 Infinitiv-Periphrasen im Althochdeutschen ................. 103 3.1.2.2 Infinitiv-Periphrasen im Mittelhochdeutschen ............ 104 3.1.2.3 Festigung der Formen im Frühneuhochdeutschen....... 105 3.1.2.4 Infinitiv-Periphrasen im Neuhochdeutschen ............... 106 3.1.2.5 Fazit ............................................................................. 106 3.2 Hypothese 2: Doppelte Perfektbildungen und die Tendenz zur Analytisierung im Deutschen ............................................................ 108 3.2.1 Herausbildungshypothesen ...................................................... 108 3.2.1.1 Präteritumschwundhypothese ...................................... 109 3.2.1.2 Aufgabe der aspektuellen Opposition ......................... 112 3.2.2 Doppelte Perfektbildungen als dreigliedriges Konstruktionsschema: Hilfsverb + Adjektiv/Partizip II + Partizip II ............ 115 3.2.3 Fazit .......................................................................................... 118 4

ZUR GRAMMATIKALISIERUNG DER DOPPELTEN PERFEKTBILDUNGEN .................................................................. 121

4.1 Grammatikalisierung des analytischen Perfekts ............................... 122 4.1.1 Erosion und Reanalyse ............................................................. 123 4.1.2 Desemantisierung ..................................................................... 126 4.1.3 Expansion ................................................................................. 127 4.1.4 Reanalyse ................................................................................. 128 4.2 Sprachwandel und Grammatikalisierung im Falle der doppelten Perfektbildungen ............................................................................... 130 4.2.1 Analogie ................................................................................... 131 4.2.2 Reanalyse ................................................................................. 134 4.3 Fazit: Können die doppelten Perfektbildungen als grammatikalisiert betrachtet werden? ............................................................................ 135 5

DIE DOPPELTEN PERFEKTBILDUNGEN IN DEN BANATER DEUTSCHEN MUNDARTEN ........................................................ 139

5.1 Das Banat und die Banater Deutschen .............................................. 139 5.1.1 Zur Ansiedlung der deutschen Bevölkerung im Banat ............ 139 5.1.2 Das Banat nach der Besiedlung ............................................... 142 5.1.3 Zur Herkunft der Banater Siedler............................................. 143 5.2 Die Banater deutschen Mundarten .................................................... 145 5.2.1 Sprachwandel: Mischung und Ausgleich ................................. 145 5.2.2 Tradition und Innovation in den Banater deutschen Mundarten ................................................................................ 149 5.2.3 Fazit .......................................................................................... 151 5.3 Zur Erforschung des Verbs in den deutschen Mundarten des Rumänischen Banats ......................................................................... 152 5.3.1 Das Partizip II in den Banater deutschen Mundarten .............. 153 5.3.2 Zum Präteritumschwund in den Banater deutschen Mundarten ................................................................................ 155

Inhaltsverzeichnis

5.3.3 Fazit .......................................................................................... 159 5.4 Formenbestand der doppelten Perfektbildungen in den Banater deutschen Mundarten ........................................................................ 160 5.5 Gebrauch doppelter Perfektbildungen in den Banater deutschen Mundarten ......................................................................................... 164 5.5.1 haben + Partizip II + gehabt .................................................... 166 5.5.1.1 Formenverteilung ........................................................ 166 5.5.1.2 Verteilung auf Mundartgruppen .................................. 170 5.5.1.3 Hauptsatz-Nebensatz-Verteilung ................................. 172 5.5.1.4 Nebensatztypen ............................................................ 174 5.5.1.5 Serialisierung im Verbalkomplex ................................ 179 5.5.1.6 Vorkommen bestimmter Verben, Aktionsarten und Situationsklassen.......................................................... 193 5.5.1.7 Vorkommen mit Junktoren, Adverbialen etc. ............. 197 5.5.1.8 Beziehungen im Gesamtkontext der dargestellten Ereignisse ..................................................................... 202 5.5.1.9 Fazit ............................................................................. 213 5.5.2 sein + Partizip II + gewesen ..................................................... 220 5.5.2.1 Zur kategorialen Zuordnung von sein + Partizip II + gewesen ........................................................................ 221 5.5.2.2 Formenverteilung ........................................................ 227 5.5.2.3 Verteilung auf Mundartgruppen .................................. 229 5.5.2.4 Hauptsatz-Nebensatz-Verteilung ................................. 230 5.5.2.5 Nebensatztypen ............................................................ 231 5.5.2.6 Serialisierung im Verbalkomplex ................................ 232 5.5.2.7 Vorkommen bestimmter Verben, Aktionsarten, Situationsklassen.......................................................... 233 5.5.2.8 Vorkommen mit bestimmten Adverbialen, Junktoren etc. ............................................................... 236 5.5.2.9 Beziehungen im Gesamtkontext der dargestellten Ereignisse ..................................................................... 237 5.5.2.10 Fazit ........................................................................... 240 5.6 Funktionen der doppelten Perfektbildungen in den Banater deutschen Mundarten ........................................................................ 244 5.6.1 E gleichzeitig R1 vor R2 oder E vor [+ abgeschlossen zu] R2? ............................................... 246 5.6.2 R1 vor E vor R2 oder R1 vor E vor [+ abgeschlossen zu] R2? .................................... 260 5.6.3 E vor R1 vor R2 oder E vor [+ abgeschlossen zu] R1 vor R2? .................................... 266 5.6.4 E vor R1 vor R2 oder E vor [+ abgeschlossen zu] R1 vor R2 im Konjunktiv? ........... 279 5.6.5 E vor R1 vor R2 oder E vor [+ abgeschlossen zu] R1 vor R2 im Passiv? ................... 282 5.6.6 Fazit .......................................................................................... 282

7

8

Inhaltsverzeichnis

6

ZUSAMMENFASSUNG UND AUSBLICK .................................... 287

ABKÜRZUNGEN UND QUELLEN ...................................................... 303 LITERATURVERZEICHNIS ................................................................. 305 ANHANG ................................................................................................ 323

ABBILDUNGSVERZEICHNIS Abbildung 1: Natürliche und grammatische Einteilung der Zeit bei JESPERSEN (1924, 257) ........ 22 Abbildung 2: Universelle Zeitrelationen bei REICHENBACH (1947, 290–297) ............................... 22 Abbildung 3: Möglicher nominaler Bezug des flektierten Partizips II (haben) ............................ 124 Abbildung 4: Möglicher nominaler Bezug des flektierten Partizips II (sein) ............................... 124 Abbildung 5: Ambiguität des unflektierten Partizips II ................................................................ 125 Abbildung 6: Mögliche Bezüge des unflektierten Partizips II ...................................................... 126 Abbildung 7: Reanalyse der eigan/habên-Periphrase ................................................................... 126

TABELLENVERZEICHNIS Tabelle 1: Das deutsche Tempussystem bei EHRICH (1992)........................................................... 31 Tabelle 2: Untersuchung der doppelten Perfektbildungen in der geschriebenen Sprache .............. 53 Tabelle 3: Untersuchung der doppelten Perfektbildungen in der gesprochenen Sprache ............... 65 Tabelle 4: Untersuchung der mundartlichen doppelten Perfektbildungen ...................................... 72 Tabelle 5: Deutungen doppelter Perfektbildungen bei BUCHWALD-WARGENAU (2012, 40).......... 81 Tabelle 6: Partizip II-Periphrasen im Althochdeutschen (wesan, werdan) ..................................... 86 Tabelle 7: Partizip-Periphrasen im Deutschen .............................................................................. 103 Tabelle 8: Infinitiv-Periphrasen im Deutschen ............................................................................. 108 Tabelle 9: Verteilung der Belege im Korpus Mundartaufnahmen ................................................ 161 Tabelle 10: Verteilung der Belege im Korpus Mundartliteratur ................................................... 162 Tabelle 11: Belege nach Mundartzugehörigkeit ........................................................................... 163 Tabelle 12: Formenverteilung, Korpus Mundartliteratur (haben)................................................. 166 Tabelle 13: Formenverteilung, Korpus Mundartaufnahmen (haben) ........................................... 167 Tabelle 14: Formenverteilung auf Mundartgruppen, Korpus Mundartaufnahmen (haben) .......... 171 Tabelle 15: Hauptsatz-Nebensatz-Verteilung, Korpus Mundartliteratur (haben) ......................... 173 Tabelle 16: Hauptsatz-Nebensatz-Verteilung, Korpus Mundartaufnahmen (haben) .................... 173 Tabelle 17: Verteilung auf Nebensatztypen, Korpus Mundartliteratur (haben)............................ 174 Tabelle 18: Verteilung auf Nebensatztypen, Korpus Mundartaufnahmen (haben)....................... 176 Tabelle 19: Serialisierungstypen in Nebensatztypen, Korpus Mundartliteratur (haben) .............. 184 Tabelle 20: Serialisierungstypen in Nebensatztypen, Korpus Mundartaufnahmen (haben) ......... 187 Tabelle 21: Situationsklassen, Korpus Mundartliteratur (haben) ................................................. 194 Tabelle 22: Situationsklassen, Korpus Mundartaufnahmen (haben) ............................................ 195 Tabelle 23: Kontextrelationen, Korpus Mundartliteratur (haben) ................................................ 212 Tabelle 24: Kontextrelationen, Korpus Mundartaufnahmen (haben) ........................................... 212

10

Tabellenverzeichnis

Tabelle 25: Hauptsatz-Nebensatz-Verteilung, Gesamtkorpus (haben) ......................................... 215 Tabelle 26: Typischer Gebrauch doppelter Perfektbildungen mit haben ...................................... 220 Tabelle 27: Formenverteilung, Korpus Mundartliteratur und Mundartaufnahmen (sein)............. 228 Tabelle 28: Formenverteilung auf Mundartgruppen, Korpus Mundartaufnahmen (sein) ............. 229 Tabelle 29: Situationsklassen, Korpus Mundartliteratur (sein) ..................................................... 235 Tabelle 30: Situationsklassen, Korpus Mundartaufnahmen (sein) ................................................ 235 Tabelle 31: Kontextrelationen, Korpus Mundartliteratur (sein).................................................... 240 Tabelle 32: Kontextrelationen, Korpus Mundartaufnahmen (sein)............................................... 240 Tabelle 33: Typischer Gebrauch doppelter Perfektbildungen mit sein ......................................... 243 Tabelle 34: Ereignistypen und Parameterrelationen (haben) ........................................................ 283 Tabelle 35: Ereignistypen und Parameterrelationen (sein) ........................................................... 284 Tabelle 36: Typischer Gebrauch doppelter Perfektbildungen (haben + sein) .............................. 298

VORWORT Vorliegender Band stellt die gekürzte und überarbeitete Fassung meiner 2011 an der West-Universität Temeswar verteidigten Dissertation „Die doppelten Perfektbildungen als Besonderheiten der Perfektbildung im Deutschen“ dar. Die Auseinandersetzung mit dieser Thematik nahm bereits 2001 im Rahmen des von Frau Prof. Dr. Mathilde Hennig, Inhaberin der Professur für Deutsche Sprachwissenschaft mit den Schwerpunkten Sprachtheorie und Sprachbeschreibung am Germanistischen Institut der Justus-Liebig-Universität Gießen, geleiteten Seminars zur Grammatik der gesprochenen Sprache an der West-Universität Temeswar ihren Anfang. Da ich als wissenschaftliche Mitarbeiterin des von Herrn Dozent Peter Kottler (†) geleiteten Projekts „Wörterbuch der Banater deutschen Mundarten“ Zugang zum Materialarchiv dieses Projekts hatte, regte sie mich an, die doppelten Perfektbildungen in den Banater deutschen Mundarten zu untersuchen. Sie ermöglichte mir auch 2010 und 2011 die längeren Aufenthalte an der Justus-Liebig-Universität Gießen, wo ich intensiv arbeiten und die Untersuchung fertigstellen konnte. Prof. Dr. Mathilde Hennig hat den Werdegang der Arbeit mit wertvollen Hinweisen und Ratschlägen begleitet und mich immer wieder zum Weitermachen ermutigt. Mein innigster Dank geht an sie. Ohne ihre Großzügigkeit und Ermutigung wäre diese Arbeit nicht zustande gekommen. Frau Prof. Dr. Roxana Nubert, langjährige Leiterin des Germanistiklehrstuhls an der West-Universität Temeswar, stand mir immer zur Seite und unterstützte mich. Sie war es, die mir die Promotion ermöglichte. Ihr danke ich aufs Herzlichste. Meinen akademischen Lehrern, Frau Dozentin Dr. Marianne Marki und Herrn Dozent Peter Kottler (†) vom Germanistiklehrstuhl Temeswar bin ich für den hervorragenden Grammatik- und Dialektologieunterricht dankbar, durch den sie mein Interesse für die Sprachwissenschaft geweckt und gefördert haben. Die Teilnehmer des Grammatikkolloquiums an der Justus-Liebig-Universität Gießen haben mir Anregungen zum Weiter-, Um- und Überdenken gegeben. Ihnen allen gilt mein herzlicher Dank. Der Redaktion der „Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik“ bin ich für die Aufnahme meiner Arbeit in die Reihe der Beihefte dankbar. Frau Dr. Brigitte Ganswindt sei ganz besonders für ihre Betreuung und Geduld gedankt. Dem Franz Steiner Verlag Stuttgart danke ich herzlich für die freundliche Zusammenarbeit bei der Herausgabe des Bandes.

1 EINLEITUNG Wie et mol donggl gen es, hat ne die Kuråsch vlor ghat (Bill).

1.1 ZUM FORSCHUNGSGEGENSTAND Lange Zeit verpönt, als mundartlich (oberdeutsch) abgetan und als zu vermeidende Formen bekämpft, erfreuten sich die doppelten Perfektbildungen in den letzten Jahrzehnten großer Beliebtheit in der sprachwissenschaftlichen Forschung und sind zum Paradebeispiel für die Besonderheiten der gesprochenen Sprache geworden. Dass sie allerdings nicht nur gegenwärtig und nicht nur in gesprochenen Varietäten des Deutschen anzutreffen sind, ist eine Tatsache, die spätestens seit der ihnen gewidmeten Monografie von LITVINOV / RADČENKO (1998) bekannt und in den Dissertationen von RÖDEL (2007) und BUCHWALD-WARGENAU (2012) eingehend untersucht ist. Als doppelte Perfektbildungen werden in der Forschungsliteratur und in Grammatiken meist die Verbalperiphrasen haben + Partizip II + gehabt und sein + Partizip II + gewesen bezeichnet (vgl. LITVINOV / RADČENKO 1998; HENNIG 2000; ȘANDOR 2002; DUDEN 2005 und 2009; RÖDEL 2007; BUCHWALD-WARGENAU 2010 und 2012), doch auch Benennungen wie „doppelte Perfektstreckungen“ (LITVINOV 1969), „doppelt umschriebene Zeiten“ (KLARE 1964; DOROW 1996), „Doppelumschreibungen“ (HAUSER-SUIDA / HOPPE-BEUGEL 1972) „superkomponierte Formen“ (ZIFONUN / HOFFMANN / STRECKER 1997), „hyperperiphrastische Tempora“ (APPUHN 1966), „Perfekt II“ und „Plusquamperfekt II“ (LITVINOV / RADČENKO 1998; HENNIG 2000; ȘANDOR 2002; BUCHWALD 2005a; TOPALOVIĆ 2010), „Doppelperfekt“ und „Doppelplusquamperfekt“ (AMMANN 2005; BUCHWALD-WARGENAU 2012) beziehen sich auf dasselbe Phänomen. Vorliegende Arbeit verwendet die generische Bezeichnung doppelte Perfektbildungen, wenn das grammatische Phänomen gemeint ist, und die Bezeichnungen Doppelperfekt und Doppelplusquamperfekt, wenn es um die konkreten Formen geht. Doppelte Perfektbildungen sind dreigliedrige Verbalperiphrasen, die sich aus einem finiten Auxiliar (haben/sein) im Präsens oder Präteritum und zwei Partizipien II zusammensetzen, d. h. das Perfekt bzw. Plusquamperfekt wird verdoppelt: hat verloren ist gekommen

 

hat verloren gehabt ist gekommen gewesen

Der Formenbestand der doppelten Perfektbildungen ist nicht auf Doppelperfekt und Doppelplusquamperfekt im Indikativ und Konjunktiv beschränkt: Es sind auch doppelte Infinitiv Perfekt-Formen (verloren gehabt haben) sowie vier-

14

1 Einleitung

gliedrige Futur II-Formen (wird verloren gehabt haben) belegt. Extrem selten belegt sind auch viergliedrige Passiv-Formen (ist geöffnet worden gewesen, hat geschenkt bekommen gehabt). Im Vergleich zu den traditionellen Vergangenheitstempora des Deutschen (Präteritum, Perfekt und Plusquamperfekt) kommen doppelte Perfektbildungen selten vor, weshalb sie in den meisten Grammatiken nicht als Tempusformen akzeptiert werden (so z. B. bei ZIFONUN / HOFFMANN / STRECKER 1997; EISENBERG 2006b). Auch in der einschlägigen Forschung herrscht keine Einigkeit in Bezug auf die doppelten Perfektbildungen: Während alle Untersuchungen davon ausgehen, dass es doppelte Perfektbildungen mit haben gibt, wird den entsprechenden sein-Formen dieser Status zuweilen abgesprochen (z. B. WELKE 2009; HUNDT 2011). Seit den 1990er Jahren hat man die doppelten Perfektbildungen unter verschiedenen Aspekten untersucht: in der deutschen Literatursprache (LITVINOV / RADČENKO 1998), in der gesprochenen Sprache (HENNIG 2000; BUCHWALD 2005a), unter dem Aspekt ihrer Bedeutung (DOROW 1996; HENNIG 2000; BUCHWALD 2005a; RÖDEL 2007; TOPALOVIĆ 2010; BUCHWALD-WARGENAU 2012) und ihres Gebrauchs (LITVINOV / RADČENKO 1998; HENNIG 2000; ȘANDOR 2002; BUCHWALD 2005a; BUCHWALD-WARGENAU 2012) und aus diachroner Perspektive (TOPALOVIĆ 2010; BUCHWALD-WARGENAU 2010; 2012). 1.2 ZIELSETZUNG Seit ihrer ersten Erwähnung in der Grammatik von ÖLINGER (1567) wurden die doppelten Perfektbildungen als regionales Phänomen betrachtet und entweder auf französischen Einfluss oder auf den oberdeutschen Präteritumschwund zurückgeführt. Neuere Erklärungsansätze betrachten die Herausbildung der doppelten Perfektbildungen als Folge der Perfekt-Grammatikalisierung (vgl. RÖDEL 2007; TOPALOVIĆ 2010), andere nehmen Polykausalität als Herausbildungshypothese an (BUCHWALD-WARGENAU 2012), wiederum andere sehen sie als Analogiebildungen zu Kopulakonstruktionen und prädikativen Adjektiven (vgl. ZYBATOW 2015; BRANDNER / SALZMANN / SCHADEN 2016). Vorliegende Arbeit setzt sich zum Ziel, einen Beitrag zur Klärung der Herausbildung dieser Verbalformen zu leisten, indem die Entstehung der doppelten Perfektbildungen als logische Folge der sich im deutschen Verbalsystem seit dem Althochdeutschen manifestierenden allgemeinen Analytisierungstendenz interpretiert wird. Da die doppelten Perfektbildungen zwar häufig als regional bzw. dialektal eingestuft wurden, die mundartlichen doppelten Perfektbildungen jedoch meist nur oberflächlich als Plusquamperfektersatz beschrieben wurden, fehlt bisher eine eingehende Analyse der mundartlich gebrauchten doppelten Perfektbildungen. Deshalb setzt sich vorliegende Arbeit zum Ziel, zum Schließen dieser Lücke beizutragen und den Gebrauch und die Funktionen der doppelten Perfektbildungen in den Banater deutschen Mundarten zu ermitteln. Ferner wird versucht, das sprach-

1.3 Methodisches Vorgehen und Hypothesenbildung

15

historische Werden der doppelten Perfektbildungen durch die Ergebnisse der dialektalen Gebrauchs- und Bedeutungsanalyse zu erschließen. 1.3 METHODISCHES VORGEHEN UND HYPOTHESENBILDUNG Den Ausgangspunkt der Untersuchung bildet die theoretische Auseinandersetzung mit den linguistischen Tempus- und Aspekttheorien, da es sich erwiesen hat, dass Temporalität und Aspektualität sowohl bei der Deutung des Perfekts und Plusquamperfekts als auch bei der Deutung doppelter Perfektbildungen eine bedeutende Rolle spielen. Anschließend soll auf dieser Grundlage eine Parameterrelation für die temporale bzw. aspektuelle Deutung der doppelten Perfektbildungen erarbeitet werden. Um ausgehend von den theoretischen Auseinandersetzungen mit Temporalität und Aspektualität die gesetzten Ziele zu erreichen, wird eine empirische Analyse durchgeführt. Es gilt folgenden Hypothesen nachzugehen: Hypothese 1: Der Ausbau analytischer Verbformen ist eine Konstante des deutschen Verbalsystems. Hypothese 2: Die doppelten Perfektbildungen gliedern sich in die Tendenz zur Ausbildung analytischer Verbformen im deutschen Verbalbereich ein, d. h. sie stellen keine Abweichungen dar, sondern sie werden nach schon existierenden Mustern gebildet. Hypothese 3: Die Grammatikalisierung der doppelten Perfektbildungen bestehend aus haben/sein + Partizip II + gehabt/gewesen verläuft ähnlich wie die Grammatikalisierung der periphrastischen Perfektformen bestehend aus haben/sein + Partizip II: von aspektuell markierten zu temporal markierten Periphrasen. Hypothese 4: Anhand der Mundarten kann man unterschiedliche Etappen in der Entwicklung der Sprache nachvollziehen. Die Verwendung der doppelten Perfektbildungen in den gegenwärtigen im Banat gesprochenen Mundarten erlaubt Einblicke in ältere Verwendungsweisen dieser Perfektbildungen im Deutschen. Hypothese 5: Es gibt gewisse sprachliche Kontexte, die den Gebrauch der doppelten Perfektbildungen in den Banater deutschen Mundarten favorisieren. Hypothese 6: In den Banater deutschen Mundarten kann mithilfe doppelter Perfektbildungen Vorzeitigkeit (E vor S) und doppelte Vorzeitigkeit (E vor R vor S) eines Ereignisses zur Sprechzeit ausgedrückt werden. Feinere tempoale Differenzierungen sind in den Mundarten nicht zu erwarten.

16

1 Einleitung

1.4 KORPUSBESCHREIBUNG Vorliegender Arbeit ist ein dialektales Korpus zugrunde gelegt, das zur Überprüfung der Hypothesen 4–6 dient. Es handelt sich um ein Belegkorpus, d. h. es wurden nicht alle in den untersuchten Texten vorkommenden Tempusformen untersucht, sondern lediglich Belege für doppelte Perfektbildungen gesammelt. Das Mundartkorpus umfasst zwei Teilkorpora: Mundartliteratur und Mundartaufnahmen. Die Belege aus dem Korpus Mundartliteratur stammen aus folgenden Texten: 1. BERWANGER, NIKOLAUS (1974): Schreiwes vum Vetter Sepp Zornich aus Umseck. Bukarest: Kriterion (17 Belege). 2. BERWANGER, NIKOLAUS (1971): Schwowisches. Bukarest: Kriterion (17 Belege). 3. HAUPT, NIKOLAUS (1989): Wohres un Unwohres uf Schwowisch. Bukarest: Kriterion (41 Belege). 4. KEHRER, HANS (1979): Gschichte vum Vetter Matz. Temeswar: Facla (10 Belege). 5. KRUWLICHS, JOKOB (1928): Matz schnall de Rieme zamm oder allerhand luschtichi Gschichte vum Kruwlichs Jokob. o. O.: o. V. (7 Belege). 6. MARSCHANG, FRANZ (1974): Wann de Tuwak gliht. Bukarest: Kriterion (3 Belege). 7. SCHWARZ, LUDWIG (1981): Es dritti Buch vum Kaule-Baschtl – a Lewesroman, gschrieb vun ihm selwer, wie er uf die Welt kumm is, wie er gelebt,was er getun un geloßt hat, was em allerderhand passiert un wie im allgemeine oder iwerhaupt es Lewe schwer is.Temeswar: Facla (74 Belege). Die Nutzbarkeit der Dialektliteratur als Quelle für linguistische Untersuchung wird oft infrage gestellt, da sie keine authentischen Sprachdaten liefere, sondern Dialektales nachahme. Aus diesem Grund wurden keine ausgesprochen literarischen Texte als Materialgrundlage gewählt, sondern narrative sowie dialogische Texte, die Alltagssituationen beschreiben und konzeptionell mündlich angelegt sind.1 Das Korpus Mundartaufnahmen umfasst folgende Aufnahmen Banater deutschen Mundarten: 1. KONSCHITZKY, WALTHER (1982): Dem Alter die Ehr. Lebensberichte aus dem Banat. 1. Band, Bukarest: Kriterion (60 Belege).

1

Zur Dialektalität der Mundartliteratur vgl. ȘANDOR / IVĂNESCU (2013).

1.5 Aufbau der Arbeit

17

2. GEHL, HANS (1988–2000): Aufnahmen deutscher Dialekte aus dem Banat (CD). Archiv des Wörterbuchs der Banater deutschen Mundarten. WestUniversität Temeswar (61 Belege).2 3. Eigene Hörbelege, 2000–2010 (25 Belege). Es handelt sich dabei um eine veröffentlichte Interviewsammlung zu Lebensgeschichten aus den 1980er Jahren, um Aufnahmen zu unterschiedlichen Berufen, Sitten und Bräuchen aus den 1990er Jahren und um eigene Hörbelege aus der Zeitspanne 2000–2010. 1.5 AUFBAU DER ARBEIT Die theoretische Auseinandersetzung mit der Problematik von Temporalität und Aspektualität sowie die methodischen Überlegungen zur Vorgehensweise bei der Analyse der doppelten Perfektbildungen werden in Kapitel 2 vorliegender Arbeit vorgestellt. Es erfolgt zunächst die Klärung der Begriffe Tempus und Temporalität, Aspekt und Aspektualität sowie Aktionsart und Situationsklasse, die für die Gebrauchs- und Bedeutungsanalyse der doppelten Perfektbildungen notwendig sind. Im Anschluss werden die Behandlung der doppelten Perfektbildungen in Grammatiken des Deutschen sowie die Ergebnisse der bisherigen doppelte Perfektbildungen-Forschung dargestellt und diskutiert. Es schließen sich Überlegungen zur methodischen Vorgehensweise bei der Gebrauchs- und Bedeutungsanalyse dieser Konstruktionen sowie Überlegungen bezüglich der Formulierung einer Parameterrelation zur Erfassung der temporalen bzw. aspektuellen Bedeutung der doppelten Perfektbildungen an. Kapitel 3 befasst sich mit der Problematik der Analytisierung innerhalb des deutschen Verbalsystems (Hypothesen 1–2). Anschließend werden die bisherigen Herausbildungshypothesen doppelter Perfektbildungen diskutiert, interpretiert und um eine neue Herausbildungshypothese ergänzt. Anhand des vom Perfekt durchlaufenen Grammatikalisierungsprozesses wird in Kapitel 4 versucht, die Frage der Grammatikalisierung doppelter Perfektbildungen zu erschließen (Hypothese 3). Der Gebrauch und die Bedeutungen der doppelten Perfektbildungen in den Banater deutschen Mundarten werden in Kapitel 5 erkundet (Hypothesen 4–6). Zunächst werden das Untersuchungsgebiet sowie die darin gesprochenen Mundarttypen vorgestellt. Es folgt die Beschreibung der Parameter, die bei der Gebrauchsanalyse berücksichtigt wurden, worauf die Gebrauchsanalyse der doppelten Perfektbildungen mit haben und sein durchgeführt wird. Dabei werden die mundartlichen Daten mit den von BUCHWALD-WARGENAU (2012) beschriebenen historischen Daten abgeglichen. Den letzten Schritt der Gebrauchsanalyse bildet 2

Die Aufnahmen entstanden als Grundlage für die am Institut für Donauschwäbische Geschichte und Landeskunde Tübingen von HANS GEHL erarbeiteten Wörterbucher zum Fachwortschatz der Donauschwaben.

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1 Einleitung

die Ermittlung des typischen Vorkommenskontextes doppelter Perfektbildungen in den Banater deutschen Mundarten. Der Gebrauchsanalyse schließt sich die Bedeutungsanalyse der doppelten Perfektbildungen an, der als Ausgangspunkt die Ergebnisse der Gebrauchsanalyse sowie die in Kapitel 2 herausgearbeiteten Parameterrelationen dienen. Eine Zusammenfassung der Ergebnisse in Kapitel 6 rundet die Arbeit ab.

2 THEORETISCHE UND TERMINOLOGISCHE GRUNDLAGEN

Wenn man eine Arbeit über eine verbale Kategorie verfasst, muss man erst einmal eine Vorstellung davon haben, welcher Kategorisierung die untersuchte Kategorie zuzuordnen ist. Da das bei den doppelten Perfektbildungen alles andere als eindeutig ist und da sich diese analytischen Verbformen offensichtlich im Spannungsfeld mehrerer Kategorisierungen befinden, ist eine Verständigung über die infrage kommenden Kategorisierungen Tempus und Aspekt unabdingbar. So wird einerseits zwischen den grammatischen Kategorisierungen Tempus und Aspekt und andererseits den semantisch-funktionellen Kategorien Temporalität und Aspektualität unterschieden. Da in der Forschungsliteratur in Bezug auf den Aspekt oft auch die Begriffe Aktionsart, Situationsklasse, Phase und Verbalcharakter verwendet werden, soll auch eine Abgrenzung diesbezüglich vorgenommen werden. Bei der Erarbeitung der Standpunkte, die bei der Untersuchung des Belegkorpus den Gebrauch und die Bedeutungen der doppelten Perfektbildungen erhellen und erklären helfen, wird von den Parametern REICHENBACHS (1947) ausgegangen. Des Weiteren soll auf den Stand der Erforschung doppelter Perfektbildungen im Deutschen eingegangen werden: Zum einen erfolgt eine nähere Betrachtung der Darstellung dieser komplexen Strukturen in den Grammatiken des Deutschen, zum anderen werden Tendenzen besprochen, die in der Forschungsliteratur herrschen. Dabei erfolgt eine Dreiteilung der Forschungsliteratur zu den doppelten Perfektbildungen nach ihrem Untersuchungsgegenstand (distanzsprachliche vs. nähesprachliche vs. dialektale doppelte Perfektbildungen). 2.1 TEMPUS UND TEMPORALITÄT 2.1.1 Die grammatische Kategorisierung Tempus und die semantisch-funktionelle Kategorie Temporalität Das Tempus ist der Bereich des Verbs, der in der Forschungsliteratur am meisten diskutiert wurde.3 Zum einen wird Tempus – ähnlich wie Modus und Aspekt – als grammatische Kategorisierung angesehen (die den temporalen Kategorien übergeordnet ist, vgl. EISENBERG 1989, 37–38; 2006b, 18),4 zum anderen als semantischfunktionelle Kategorie, die nicht in jeder Sprache als grammatische Kategorisierung realisiert werden muss (vgl. COMRIE 1976, 7–8), deren Kern jedoch eine grammatische Kategorisierung sein kann (vgl. SCHWALL 1991, 100). Die seman3 4

Laut FABRICIUS-HANSEN (1986, 25) ist die Literatur zum Tempus „fast unüberschaubar“. Zur Begriffsproblematik Kategorie/Kategorisierung siehe THIEROFF (1992, 3–6).

20

2 Theoretische und terminologische Grundlagen

tisch-funktionelle Kategorie wird mit dem Begriff Temporalität bezeichnet. In vorliegender Arbeit wird in Anlehnung an EISENBERG (2006b) zwischen Tempus als grammatischer Kategorisierung und Temporalität als semantisch-funktioneller Kategorie differenziert. Tempus ist demnach eine grammatische Kategorisierung, die in jeder Einzelsprache unterschiedlich realisiert bzw. nicht realisiert werden kann, während Temporalität eine übereinzelsprachliche, d. h. universelle Kategorie darstellt, die alle grammatischen und semantischen Mittel umfasst, mit deren Hilfe sie in einer Sprache realisiert wird: Die semantisch-funktionelle Kategorie […] wird mit Hilfe von morphologischen, syntaktischen, wortbildenden und lexikalischen Mitteln bzw. durch Kombination all dieser Mittel oder kontextuell ausgedrückt (SCHWALL 1991, 100). Das Tempus ist, wie Verbmodus, Genus verbi, Numerus und Person eine Kategorisierung im verbalen Paradigma. Verbformen in einem bestimmten Tempus bringen zum Ausdruck, daß und wie die Interpretation von Sätzen, die die entsprechende Verbform enthalten, zeitabhängig sind. Dabei wirken die Verbformen zusammen mit Ausdrücken anderer Kategorien, insbesondere mit temporalen Adverbialia und Nominalphrasen (ZIFONUN / HOFFMANN / STRECKER 1997, 1686).

Die Frage, wie Tempus/Temporalität definiert wird und was dadurch ausgedrückt wird, ist in der Linguistik sehr alt und hat unterschiedliche Antworten generiert. Nach COMRIE (1985, 9) ist Temporalität grammatikalisierte Lokalisierung von Ereignissen in der Zeit: „tense is grammaticalized expression of location in time“. Er stellt die Tempora einer Sprache in Opposition zu den lexikalischen Mitteln zeitlicher Lokalisierung und nennt zwei Kriterien für die Grammatikalisierung: Obligatheit und morphologische Gebundenheit, die aber nur von wenigen Formen erfüllt werden.5 Auch CHUNG / TIMBERLAKE (1985, 202) sprechen von Lokalisierung als Funktion der Temporalität: „Tense locates the event in time“. Temporalität bezieht sich demnach auf die zeitliche Lokalisierung von sprachlichen Situationen, die sie als gegenwärtig, vergangen oder zukünftig in Relation zu einem Bezugspunkt beschreibt. BULL (1968, 4) spricht von zwei Arten der Zeiteinteilung: öffentliche Zeit („public time“) wie Tag, Monat, Jahr usw., die an kosmische bzw. historische Ereignisse gebunden ist, und persönliche Zeit („personal time“), deren Intervalle von subjektiv eingeschätzter Dauer sind und sprachspezifisch definiert werden (z. B. sofort, vorhin). Der Hauptbezug im System der persönlichen Zeit ist das Jetzt, ein Zeitintervall, in dem das Ich etwas wahrnimmt oder erlebt. Da die temporale Bedeutung immer von einem Bezugspunkt aus verstanden wird, spricht man von Temporalität als deiktischer Kategorie (vgl. BÄUERLE 1979, 13; DAHL 1985, 25; KLEIN 1994, 18–20). Nicht nur die

5

So wäre im Deutschen nur das Präteritum eine Tempusform, die das Kriterium der Gebundenheit erfüllt, da es das einzige Tempus ist, welches durch ein an die Wurzel tretendes Morphem gebildet wird (Präsens hat kein eigenes Morphem, während die anderen Tempusformen periphrastisch gebildet werden). Außerdem gilt das Kriterium der Obligatheit nur für Sätze mit finitem Verb.

2.1 Tempus und Temporalität

21

semantisch-funktionelle Kategorie der Temporalität wird als deiktisch charakterisiert, sondern auch das Tempus als grammatische Kategorisierung:6 Tense is a deictic category that places a situation in time with respect to the moment of speech, or occasionally with respect to some other pre-established point of time. It is a category that [...] seems to be always marked on the verb, if at all. This is so in part because it is the verb that binds the proposition together, and makes it refer to a situation that can be placed in time (BYBEE 1985, 21).

Dabei wird festgestellt, dass die Besonderheit der Tempora nicht in der absoluten zeitlichen Lokalisierung besteht, sondern in der Lokalisierung mittels eines Referenzpunktes. Laut REICHENBACH (1947, 287–288) ist nicht der Erlebensmoment, sondern der Sprechmoment relevant für die Versprachlichung. Auch VATER (1983, 202) teilt diese Ansicht und stellt fest, dass Tempora „Zeitbezüge, d. h. Relationen zwischen dem Zeitpunkt des geschilderten Ereignisses und einem Bezugspunkt“ ausdrücken. Als Bezugspunkt gilt der „reale oder fiktive“ Sprechzeitpunkt (HEIDOLPH / FLÄMIG / MOTSCH 1981, 507–508). Bei REICHENBACH lokalisieren die Tempora die Situationen in Relation zum Sprechereignis S („point of speech“). Ein Ereignis findet zum Zeitpunkt E („point of event“) statt und wird durch die Relationen vor, gleichzeitig, nach zu S als vergangen, gegenwärtig oder zukünftig lokalisiert. Ein dritter Bezugspunkt R („point of reference“)7 ist nach REICHENBACH (1947, 288–289) nicht nur beim Plusquamperfekt nötig, denn die spezifischen Bedeutungen ergeben sich aus den unterschiedlichen Relationen zwischen den drei Zeitpunkten/-intervallen, obwohl zwei von diesen im Falle einiger Tempora simultan sind. Mithilfe der drei Bezugspunkte S, E und R ergibt sich eine Dreiteilung der Zeit, die REICHENBACH ausgehend von JESPERSEN (1924) modifiziert. JESPERSEN (1924, 257) unterschied vom logisch-begrifflichen Standpunkt aus drei Hauptzeiten („main divisions of time“): Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und entsprechende untergeordnete Zeitabschnitte („subordinate divisions of time“): Vor-, Nachvergangenheit, Vor- und Nachzukunft. Dementsprechend ensteht ein eindimensionales Zeitmodell mit sieben Zeitabschnitten, denen „grammatical terms“ zugeordnet sind (JESPERSEN 1924, 257). Das Perfekt wird von JESPERSEN nicht als Tempusform innerhalb des Tempussystems behandelt, sondern gilt als retrospektive Variante des Präsens (1924, 269).

6

7

Die meisten Linguisten und Sprachphilosophen (REICHENBACH 1947; BULL 1968; BAUMGÄRTNER / WUNDERLICH 1969; WUNDERLICH 1970a und b; SALTVEIT 1970; BÄUERLE 1979; STEUBE 1980; HEIDOLPH / FLÄMIG / MOTSCH 1981) sind der Meinung, dass durch Tempus/ Temporalität Bezüge ausdrückt werden: „Durch die Tempus-Kategorie wird dem Verb ein Moment des Zeitbezugs zugeordnet“ (HEIDOLPH / FLÄMIG / MOTSCH 1981, 507). WUNDERLICH (1970a und b) und MARKUS (1977) stellen fest, dass die Tempora neben den deiktischen (sprechzeitrelativen) Bedeutungen auch kontextrelative Bedeutungen haben. Vgl. zusammenfassend zur Terminologie VATER (2005), WELKE (2005).

22

2 Theoretische und terminologische Grundlagen

before-future

future

after-future

future

post-future

B

ante-future

Cc

present

Cb

Ac

present

post-preterit

Ca

after-past

past Ab

ante-preterit

Aa

preterit

C future

before-past

A past

Abbildung 1: Natürliche und grammatische Einteilung der Zeit bei JESPERSEN (1924, 257)

JESPERSEN (1924, 256) hatte lediglich bei der Analyse der „subordinate divisions of time“ einen dritten Bezugpunkt berücksichtigt. REICHENBACH modifiziert JESPERSENS Modell in dem Sinne, dass er konsequent die drei Bezugspunkte S (Sprechzeit), E (Ereigniszeit) und R (Referenzzeit) zur Beschreibung aller Tempora einsetzt und so neun temporale Grundformen ermittelt: E– R – S E, R – S R–E–S

Anterior past Simple past

(Past perfect) (Simple past)

R – S, E R–S–E E – S, R S, R, E S, R – E S–E–R

Posterior past

--

Anterior present Simple present Posterior present

(Present perfect) (Present) (Simple future)

Anterior future

(Future perfect)

Simple future Posterior future

(Simple future) --

S, E – R E–S–R S – R, E S–R–E

Abbildung 2: Universelle Zeitrelationen bei REICHENBACH (1947, 290–297)

REICHENBACH führt den Referenz(zeit)punkt R am Beispiel des Past perfect/Plusquamperfekt (bei ihm „anterior perfect“) ein. Die relativen Tempora Perfekt und Plusquamperfekt beziehen sich auf einen Referenzpunkt R (vgl. REICHENBACH 1947, 288), der in keinem Zeitverhältnis zum deiktischen Zentrum der Rede steht, sondern sich aus dem Kontext ergibt:

2.1 Tempus und Temporalität

23

In an individual sentence [...] it is not clear which time point is used as the point of reference. This determination is rather given by the context of speech (REICHENBACH 1947, 288).

Der sprachliche Kontext kann dabei durch Ereignisse im Präteritum oder durch Temporaladverbiale ausgedrückt werden, wobei REICHENBACH feststellt, dass Temporaladverbiale sich immer explizit auf R und nie auf E beziehen. Ausnahme bilde nur das Perfekt im Deutschen, wo sich die Temporalangabe abweichend vom Englischen auf E beziehe (vgl. REICHENBACH 1947, 295). Es handelt sich um verschiedene Konzeptualisierungen der temporalen Relationen, die auf der Ebene der sprachlichen Inhalte wirken.8 Genauere Angaben zu dem festgelegten dritten Parameter R macht REICHENBACH nicht, während die anderen beiden Parameter genauer beschrieben werden. THIEROFF (1992, 80) stellt fest, dass davon auszugehen sei, dass der Referenzzeitpunkt „Bestandteil der Tempussemantik“ sei, auch wenn R „durch Temporaladverbiale konkretisiert werden kann“. Die auf REICHENBACHS (1947) Formulierung der universellen Zeitrelationen zurückgehende Beschreibung des Tempus wurde von vielen Tempusforschern aufgegriffen und in verschiedene Richtungen modifiziert.9 BULL (1968, 12) geht davon aus, dass man es bei den Tempora mit der zeitlichen Lokalisierung von Ereignissen zu tun hat. Der Hauptbezug ist bei ihm „point present“ (PP), der dem Reichenbach’schen S entspricht, das Ereignis ist E. Vergangen wäre nach BULL alles, was PP vorausgeht, zukünftig alles, was PP folgt: E(PP–V), E(PP0V), E(PP+V), wobei die Vektoren (–/0/+) die Ereignisse als vor, gleichzeitig bzw. nach PP lokalisieren. BULL (1968, 13) vertritt die Meinung, dass „anterior“/„past“/„perfected“ drei verschiedene Sichtweisen desselben Tatbestandes sind: E(PP–V); gegenwärtige und zukünftige Ereignisse betrachten PP als unvollendet („imperfected“). Somit wären nach BULL (1968) Tempus und Aspekt nicht unterschiedliche Kategorisierungen, sondern verschiedene Interpretationen desselben Systems. Im Anschluss an BÜHLER (1934) sehen BAUMGÄRTNER / WUNDERLICH die Tempora als ein Referenzsystem bildend, mit dem der Sprecher „seine Äußerungen den nicht-sprachlichen Gegenständen oder Prozessen der physischen Welt zuordnet“ (1969, 32). Sie beziehen im Gegensatz zu REICHENBACH die nicht-obligatorischen Temporaladverbiale mit Ausnahme des Plusquamperfekts meist auf E; auf R beziehen sie nur obligatorische Temporaladverbiale. BAUMGÄRTNER / WUNDERLICH (1969, 36-37) stellen fest, dass für die meisten Tempora zwei der Bezugspunkte (S und R bzw. E und R) zusammenfallen und somit redundant werden. Auch BÄUERLE (1979) teilt diese Meinung und hält R für redundant, da er die Sprechzeit S als Spezialfall der Referenzzeit R interpretiert. Bei den Tempora Präsens, Präteritum und Futur I seien der „point of speech“ und „point of re8

9

Als Defizit des Reichenbach’schen Modells sehen MUGLER (1988, 103) und THIEROFF (1992, 83) die Tatsache an, dass REICHENBACH die Struktur S, R – E als „simple future“ bezeichnet (1947, 290), dann aber dieselbe Struktur unter dem Namen „posterior present“ verwendet, während er für „simple future“ die Struktur S – R, E verwendet (REICHENBACH 1947, 296). Vgl. die Ausführungen bei THIEROFF (1992), RADTKE (1998).

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2 Theoretische und terminologische Grundlagen

ference“ immer identisch (1979, 49). Für die Interpretation der Tempora verwendet BÄUERLE die Parameter „Sprechzeit“, „Betrachtzeit“ und „Aktzeit“, wobei die Betrachtzeit eine selbstständige Zeit außerhalb der Aktzeit ist, „auf die referiert [...] wird, oft durch Temporaladverbien spezifiziert“ und die Aktzeit ein Teilintervall der Betrachtzeit ist (1979, 47).10 Einen dritten Parameter, die „Evaluationszeit“ als „die Zeit, von der aus gezählt wird“ (1979, 51), benötigt er zusätzlich für die Interpretation von Perfekt, Plusquamperfekt und Futur II. Bezogen auf REICHENBACHS Referenzzeit heißt es bei BÄUERLE: Für die Perfekttempora sind zwei ‘point of reference’ nötig: eine Zeit, von der aus die Tempora gezählt werden (das ist die Sprechzeit), und eine Zeit, von der aus das Perfekt gezählt wird. Für die einfachen Tempora ist immer die Sprechzeit die Evaluationszeit, es wird nur eine Zeit benötigt, von der aus gezählt wird. Der ‘point of reference’ ist eben der ‘point of speech’ – insofern fallen die beiden nicht zusammen [...], es sind lediglich zwei Bezeichnungen für ein und dasselbe. D. h. statt der vorgespiegelten drei gibt es nur zwei Parameter (BÄUERLE 1979, 51).

BÄUERLE gelangt zu der doppelten Evaluationszeit durch eine kompositionelle Analyse der Perfekttempora: Er unterscheidet die Evaluationszeit des finiten Verbs von der Evaluationszeit des infiniten Verbs und stellt fest, dass die Tempora „einzig und allein eine Relation zwischen Sprechzeit und Betrachtzeit herstellen“, während die Relation zwischen Betrachtzeit und Aktzeit durch Frequenzadverbien hergestellt wird (1979, 46). In diesem Sinne erachtet er Tempora als weitgehend redundant, da er ihnen eine kleine Rolle bei der Konstituierung der Äußerungsbedeutung, dem Kontext jedoch eine wichtigere Rolle dabei zuweist (BÄUERLE 1979, 55).11 Einen ähnlichen Standpunkt vertritt BALLWEG (1988, 83): Tempora stellen Beziehungen zwischen Sprechzeit und „Bezugszeit“ her. Die Evaluationszeit nennt er „Orientierungszeit“ und definiert sie als „entweder die Sprechzeit oder eine im Kontext von daher eingeführte Zeit“ (1988, 84). Zusätzlich zu den Tempora spezifizieren auch temporale Adverbiale die Bezugszeit weiter. Sätze, in denen zusammengesetzte Tempusformen erscheinen, nennt BALLWEG (1988, 85) zweifach temporalisiert, da in der kompositionellen Analyse von einem übergeordneten Tempusoperator (Präsens, Präteritum, Futur) und einem untergeordneten Operator (Infinitiv Perfekt, Plusquamperfekt) ausgegangen wird. DAHL (1985, 30) erweitert das Reichenbach’sche Modell um ein „temporal frame“12, wobei die Ereigniszeit E ein Teilintervall des „temporal frame“ ist. COMRIE verbessert das Modell in dem Sinne, dass er für bestimmte Tempora 10 Nicht nur die Betrachtzeit sieht BÄUERLE als selbstständig, sondern er versteht auch die temporalen Adverbien als selbstständige zeitliche Intervalle. WELKE (2005, 27) sieht in dieser Betrachtungsweise von BÄUERLE eine Annäherung zwischen Tempora und Pronomen ihren deiktischen Charakter betreffend. 11 Dies ist nach BÄUERLE bei kontextuell vorgegebenem Vor- oder Nacheinander von Betrachtzeit und Sprechzeit der Fall. Betrachtzeit und Sprechzeit müssen vorgegeben sein, damit die Tempora operieren können (vgl. BÄUERLE 1979, 53–56). Kritik an seinem Modell übt vor allem FABRICIUS-HANSEN (1986). 12 Entspricht BÄUERLES Betrachtzeit.

2.1 Tempus und Temporalität

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andere Lesarten vorschlägt. Für die Tempora Präsens, Präteritum und Futur I betrachtet er R als unnötig: Unnecessary to specify a point of reference if this overlaps either S or E: for the basic tenses (Present, Past, Future), we can thus dispense with point of reference altogether, and have the representations S, E, E – S, S – E respectively (COMRIE 1981, 28–29).

Mithilfe der Relationen zwischen S und E können die primären Gebrauchsweisen dieser Tempora erklärt werden. Präsens drückt Gleichzeitigkeit eines Geschehens mit der Sprechzeit bzw. Zukunft, d. h. Nachzeitigkeit gegenüber der Sprechzeit aus: E gleichzeitig S. Präteritum drückt Vergangenheit, d. h. Vorzeitigkeit gegenüber der Sprechzeit aus: E vor S. COMRIE stellt fest, dass in der Semantik des Futur II keine Beziehung zum Sprechzeitpunkt enthalten ist, was ihn zur Schlussfolgerung gelangen lässt, E nach S sei nicht Teil der Bedeutung des Futur II sondern eine konversationelle Implikatur:13 [...] the relation between S and E is irrelevant. More generally, this defect of Reichenbach’s system disappears, and no disadvantages are introduced, if we argue that the specification of any tense involving S, E, and R, the R is specified relative to S, and the E is then specified relative to R, while no direct temporal relation is allowed between S and E (COMRIE 1981, 26).

COMRIE schlägt die Relationen „overlap“, „simul“, „before“, „after“ und „notbefore“ (1981, 30; 1985, 122) vor, sodass das Futur II als „E before R after S“ repräsentiert wird (1985, 126) und nicht mehr drei verschiedene Zeitbezüge wie bei REICHENBACH erfordert (S – E – R/S, E – R/E – S – R, vgl. Abbildung 2). Außerdem führt COMRIE (1985, 128) mehrere Referenzpunkte – inklusive null – ein, da für die Repräsentation von Futur Präteritum II, das bei Reichenbach fehlt, eine zweite Referenzzeit notwendig sei: „E before R1 after R2 before S“. Damit falle unter anderem der Unterschied, den REICHENBACH zwischen „posterior present“ (S, R – E) und „simple future“ (S – R, E) machte, weg, da diese Tempora morphologisch nicht unterschieden seien (vgl. auch THIEROFF 1992, 38). Die Struktur S, R – E (posterior present) modifiziert COMRIE (1981, 25) dahingehend, dass er sie als „Prospective“ interpretiert, wie auch das Perfekt, für welches er REICHENBACHS Struktur E – S, R nicht annimmt, da er Perfekt und Prospective als Aspekte interpretiert. Eine Weiterentwicklung der Theorie REICHENBACHS stellt auch KLEIN (1994) dar. Er unterscheidet drei temporale Parameter, die eine Äußerung ausmachen: die thematisierte Zeit TT („topic time“, die einen zeitlichen Rahmen außerhalb der Situationszeit festlegt, Ereigniszeit), die Sprechzeit TU („time of utterance“) und die Situationszeit TSit („time of situation“, die zur Sprechzeit noch andauert und zwei Komponenten hat: INF und FIN). Die thematisierte Zeit TT definiert KLEIN 13 GREWENDORF (1982) zeigt, dass der Kontext einer der pragmatischen Faktoren ist und dass gewisse Gebrauchsweisen der Tempora mit Hilfe konversationeller Prinzipien erklärt werden können. So kann man z. B. das historische Präsens mit dem Begriff der Gleichzeitigkeit beschreiben, die sich nicht auf das Geschehen bezieht, sondern auf seine Aktualität zu S (vgl. auch SCHRODT / DONHAUSER 2003, 2505).

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2 Theoretische und terminologische Grundlagen

wie folgt: „TT is the time span to which the speaker’s claim on this occasion is confined“ (1994, 4). Von Bedeutung ist somit nicht die Dauer des Geschehens, sondern der Zeitabschnitt des Geschehens, für den die Aussage Geltung hat. Tempus betrifft laut KLEIN die Relationen zwischen TT und TU, wobei die thematisierte Zeit durch das Tempus spezifiziert wird, und nicht wie bei BÄUERLE (1979) durch die Adverbien: Tense marking applies to the relation between TT and TU, rather than to the relation between TSit and TU14 [...] It does not matter for the tense whether the event, state or process is before, at, or after the time of utterance (KLEIN 1994, 5).

So stellt KLEIN (1994, 122 und 162) folgende Relationen auf: TT before TU (TT), TU incl(uded in) TT (TT0). Er unterscheidet zwischen dem lexikalischen Gehalt einer Äußerung, der frei von jeglicher Tempus oder Aspekt-Information sei, und der individuell realisierten und zeitlich bestimmten Situation. Tempus legt nach KLEIN für TT0 lediglich die Position auf der Zeitachse fest, nicht jedoch die zeitliche Ausdehnung und Grenzen, während es für TT< und TT> weder die Position auf der Zeitachse noch die Ausdehnung oder die Grenzen festlegt, sondern nur ein Zeitintervall: TT< liegt in der Vergangenheit und TT> in der Zukunft. Eine Spezifizierung der Zeit erfolgt nicht durch Tempora, sondern durch Kontext und Temporaladverbien (vgl. KLEIN 1994, 162). WELKE (2005) geht in seiner Festlegung der Parameter zur Zeitbestimmung einerseits ebenfalls von REICHENBACH (1947) aus, andererseits orientiert er sich an BÄUERLE (1979). So geht er von einem zweigliedrigen Modell aus, das die Situationszeit (Ereigniszeit/Aktzeit) und die Evaluationszeit (Sprechzeit/Äußerungszeit) beinhaltet. Diese Trennung löse die Mehrdeutigkeit der Termini „point of reference“ bzw. Betrachtzeit auf, die sich einerseits auf die Zeit, von der aus die Situationszeit betrachtet wird, und andererseits auf die Zeit, die betrachtet wird, beziehen. Die Situationszeit ist bei WELKE (2005, 8–17) die Zeit, die betrachtet wird, und die Evaluationszeit die Zeit, von der aus betrachtet wird, wobei er zwischen primärer Evaluationszeit (Sprechzeit) und sekundärer Evaluationszeit (Referenzzeit) unterscheidet. Die sekundäre Evaluationszeit „konstituiert die aspektuale Seite des Tempus“ (2005, 15), da sie nicht an die Sprechzeit gebunden sei. Die Setzung eines Ereignisses als sekundäre Evaluationszeit ist der archetypische und prototypische Fall. Das wird besonders deutlich bei der Präteritum- und Plusquamperfektverwendung in Erzählungen. Das im benachbarten Satz wiedergegebene Ereignis liefert die jeweilige sekundäre Evaluationszeit (WELKE 2005, 15).

Die zweite Evaluationszeit kann nach WELKE relativ zur ersten Evaluationszeit (Sprechzeit) allerdings durch temporale Adverbien spezifiziert werden, sodass diese in Situationsadverbiale (spezifizieren die Situationszeit) und Evaluationsadverbiale (spezifizieren die zweite Evaluationszeit) klassifiziert werden (vgl. WELKE 2005, 16). Auch im Falle der Situationszeit nimmt WELKE eine Trennung vor: Einerseits unterscheidet er zwischen potenzieller und aktueller Situationszeit, andererseits zwischen objektiver und subjektiver Situationszeit. Dem Gegensatz14 Die Relation zwischen TT und TSit betrifft den Aspekt, vgl. Kapitel 2.2.

2.1 Tempus und Temporalität

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paar potenziell – aktuell entspreche das Gegensatzpaar indefinit – definit: Potenziell sei eine Äußerung, die nicht näher durch Adverbiale spezifiziert wird, aktuell sei eine näher spezifizierte Aussage, eine Aktualisierung der potenziellen Aussage. Die subjektive oder aktuelle Situationszeit ist gegenüber der potentiellen Situationszeit der isolierten Tempusform und häufig auch gegenüber der Zeit, zu der objektiv ein Ereignis stattfinden mag, die Situationszeit, die der Sprecher durch den engeren und weiteren Kontext genauer spezifiziert oder auch ohne ausdrückliche Spezifizierung im Auge hat. Es ist die Zeit, über die er sprechen will (WELKE 2005, 18).

Mit der Differenzierung objektiv – subjektiv verhält es sich ähnlich: Objektiv beziehe sich auf eine gegebene Situation in der Wirklichkeit, subjektiv sei die Zeit, über die der Sprecher in einer Äußerung aktuell rede: Eine [...] beschriebene Situation mag objektiv eine bestimmte Dauer haben. Zum Beispiel kann die Situation sogar zur Sprechzeit noch andauern. Dennoch kann ein Sprecher das Präteritum wählen. Er spricht dann qua subjektiver Auswahl über eine subjektive Situationszeit. Diese subjektive Situationszeit liegt vor der primären Evaluationszeit, deshalb wählt er das Präteritum. Das muss jedoch für die objektive Situationszeit so nicht gelten (WELKE 2005, 21).

Im Folgenden sollen die wichtigsten Aspekte der dargestellten Problematik im Deutschen referiert werden. 2.1.2 Temporalität im Deutschen Im Deutschen wird Temporalität hauptsächlich durch die grammatische Kategorisierung Tempus realisiert. Jeder finite Satz weist im Deutschen notwendigerweise ein Tempus auf (vgl. ZIFONUN / HOFFMANN / STRECKER 1997, 1690; DUDEN 2009, 497), d. h. jedem finiten Verb wird eine Tempuskategorisierung zugewiesen. Die traditionelle Grammatik unterscheidet nach lateinischem Vorbild sechs Tempora: Präsens, Präteritum, Perfekt, Plusquamperfekt, Futur I und Futur II (vgl. HELBIG / BUSCHA 2001, 23–24; EISENBERG 2006b, 100–114; VATER 2007, 44–45), dabei werden diese Bezeichnungen als „reine Namen“ verstanden, die „nur wenig über die Funktionen der entsprechenden Verbformen aussagen“ (DUDEN 2009, 496). Nach THIEROFF (1992, 46) ist diese traditionelle Einteilung das „bis heute am weitesten verbreitete und anerkannte Tempussystem“, dem die Mehrheit der Grammatiken folgt. Neben dieser Einteilung gibt es auch andere Vorschläge zur Beschreibung der Tempora, die in der angenommenen Anzahl der Tempusformen sehr stark voneinander abweichen. Die Minimalvariante von nur einem Tempus für das deutsche Tempussystem schlägt MUGLER (1988) vor, der lediglich das Präteritum als Tempus anerkennt. Das Präsens, das sich auf vergangene, gegenwärtige, zukünftige und zeitlose Aussagen beziehen kann, dürfe „strenggenommen gar nicht einbezogen werden [...], da es weder Tempus noch Aspekt ist“, sondern eine „merkmallose Form“ (MUGLER 1988, 158) sei, während Perfekt, Plusquamperfekt, Futur I und Futur II

28

2 Theoretische und terminologische Grundlagen

als Aspekte oder Kombinationen mehrerer Aspekte zu behandeln seien (MUGLER 1988, 46–158). Von einem zweigliedrigen Tempussystem des Deutschen bestehend aus Präsens und Präteritum geht BARTSCH (1980) aus, der werden + Infinitiv als Modus und haben + Partizip II als Aspekt betrachtet. VENNEMANN (1987) spricht von Atemporalis (Präsens) und Präteritalis (Präteritum) als Tempora des Deutschen, das Futur schiebt er in Anlehnung an VATER (1975) als Modalkonstruktion in den Bereich des Modus ab, während er Perfekt und Plusquamperfekt als Nachzeitigkeitskonstruktionen zusammenfasst, die semantisch keine neue Bedeutung konstituieren und deren Bedeutung kompositional aus der Bedeutung des Auxiliars und des Partizips II zu ermitteln sei (vgl. VENNEMANN 1987, 240–241). ENGEL (1988, 494) betont, dass unter den Tempusformen zwei „richtige Verbformen“ zu finden seien: Präsens und Präteritum, dass das Präteritum aber „das einzige reine Tempus überhaupt“ (1988, 496) sei, da das Präsens „vom Zeitlichen her [...] höchstens negativ definiert“ (1988, 495) werden könne. Von einem System mit vier Tempora – Präsens, Präteritum, Perfekt und Plusquamperfekt – gehen VATER (1983) und SCHULZ / GRIESBACH (1986) aus, die die Ansicht vertreten, dass es sich bei Futur I und II nicht um Tempusformen handle und werden als Modalverb betrachten (ähnlich wie VATER 1975; BARTSCH 1980; VENNEMANN 1987). Fünf Tempusformen sind bei BRINKMANN (1971) und GLINZ (1971), die dem Futur II den temporalen Status absprechen,15 anzutreffen. ZIFONUN / HOFFMANN / STRECKER (1997, 1712–1713) stellen ein Tempussystem mit sieben Tempora auf: Präsens, Präteritum, Futur, Infinitiv Perfekt, Präsensperfekt, Präteritumperfekt und Futurperfekt, wobei die Tempusformen in zwei Gruppen zusammengefasst werden (einfache Tempora16 und zusammengesetzte Tempora) und die Bedeutung der zusammengesetzten Tempusformen sich „aus der Interpretation der einfachen Tempusformen der Hilfsverben kombiniert mit der Bedeutung des Infinitv Perfekt“ ergibt (ZIFONUN / HOFFMANN / STRECKER 1997, 1701). Von acht Tempora gehen die letzten Auflagen der Dudengrammatik aus: Zu den sechs traditionellen Tempora Präsens, Präteritum, Präsensperfekt, Präteritumperfekt, Futur und Futurperfekt zählt die Dudengrammatik auch das doppelte Präsens- und das doppelte Präteritumperfekt hinzu (vgl. DUDEN 2009, 463–464), wobei lediglich die konjunktivischen doppelten Perfektbildungen und das doppelte Präteritumperfekt Indikativ als standardsprachlich anerkannt werden, während das doppelte Präsensperfekt Indikativ für die geschriebene Standardsprache als nicht korrekt betrachtet wird (vgl. DUDEN 2009, 514, 530).

15 Vgl. Ansätze dazu auch schon bei PAUL (1920) und BEHAGHEL (1924). 16 Futur wird zu den einfachen Tempora gerechnet und diese Einordnung wird kombinatorisch dadurch argumentiert, dass es analog zu Präsensperfekt und Präteritumperfekt auch ein Futurperfekt gibt, dessen Ausgangsform werden + Infinitiv I ist, und dass sich das Futur selbst nicht kompositional deuten lässt (ZIFONUN / HOFFMANN / STRECKER 1997, 1699).

2.1 Tempus und Temporalität

29

Ein Tempussystem mit zehn Tempora stellt THIEROFF (1992) auf, der zu den sechs traditionellen Tempora auch Perfekt II und Plusquamperfekt II sowie Futur Präteritum I und Futur Präteritum II hinzuzählt und sie der Kategorisierung Distanz zuordnet (THIEROFF 1992, 15–20).17 Wie bereits unter 2.1.1 erwähnt, wird Temporalität sprachlich nicht nur mithilfe der Tempora, sondern auch durch andere Mittel realisiert. Im Deutschen tragen traditionell neben den obligatorischen Tempusformen auch Temporaladverbien und temporale Nebensätze mit temporalen Junktoren sowie Adjektive, Nomina und Präpositionen zum Ausdruck der Temporalität bei (vgl. auch RAUH 1988, 30; ROTHSTEIN 2007, 5; VATER 2007, 6; DUDEN 2009, 497). HENNIG (2007, 123) weist aber nach, dass in der gesprochenen Sprache die traditionellen expliziten Temporalitätsmarker (Tempus, temporale Adverbiale, Temporalsätze und temporale Subjunktoren) „eine kleinere Rolle bei der Realisierung dieser Funktion spielen als bisher angenommen“. Vielmehr stellt sie fest, dass zur Realisierung der Zeitbedeutung auch „sprachliche Mittel mit temporaler Implikatur“ wie Aktionsarten, Verbsemantik, Imperativ und Modalverben sowie „allgemeinere Mechanismen“ wie Redewiedergabe, Ellipsen, temporaler Ikonismus beitragen (HENNIG 2007, 134) und dass Temporalität häufig durch das Zusammenspiel verschiedener expliziter und impliziter Mittel zustande kommt (vgl. HENNIG 2007, 135). RÖDEL bemerkt, dass deutsche Grammatiken die Tendenz zu einer systematischen Darstellung von Tempusorganisation aufweisen, da es das Bedürfnis gebe, „die einzelnen Tempora durch die Hilfe von an Reichenbach angelegten Notationen möglichst eindeutig und präzise zu beschreiben“ (RÖDEL 2007, 41), wobei er jedoch zu bedenken gibt, dass diese Darstellung mit der „sprachlichen Wirklichkeit“ kontrastiere (RÖDEL 2007, 41; dazu auch HENNIG 2000, 7–14). Dieses Problem wird auf unterschiedliche Weise gelöst:18 Ein Lösungsansatz besteht darin, für jede Tempusform eine Grundbedeutung zu ermitteln, aus der alle anderen Gebrauchsweisen als Nebenbedeutungen abgeleitet werden (vgl. z. B. LUDWIG 1972, 59; GREWENDORF 1982; BALLWEG 1988). Ein anderer Lösungsansatz besteht darin, für jede einzelne Gebrauchsweise der Tempora eigene Formeln festzulegen (vgl. z. B. HELBIG / BUSCHA 2001). Die verbreitetste Darstellung der Tempora des Deutschen fußt auf der Gruppierung der Tempusformen in zwei Bezugsysteme: das des Präsens, zu dem Perfekt und Futur I gehören, und das des Präteritums, zu dem Plusquamperfekt und Futur II gehören. Präsens und Präteritum werden dabei als absolute Tempora verstanden, auf die Perfekt und Plusquamperfekt als relative Tempora Bezug nehmen (vgl. z. B. HEIDOLPH / FLÄMIG / MOTSCH 1981; HENTSCHEL / WEYDT 2003). Allerdings ist in diesen Systemen die Beschreibung der Bedeutungen von relativen Perfekttempora (Perfekt, Plusquamperfekt und Futur II) nicht ganz eindeutig, da Begriffe verwendet werden, die eigentlich dem Bereich der Aspektualität zuzuordnen sind (z. B. vollzogen/Vollzug/vollendet/abgeschlossen), dieser Bereich jedoch meist nicht berücksichtigt 17 Eine Übersicht zu den verschiedenen Tempussystemen ist bei VATER (2007, 45) und TEN CATE (2004, 84–87) zu finden. 18 Vgl. HENNIG (2000) für eine zusammenfassende Darstellung.

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2 Theoretische und terminologische Grundlagen

wird. Auch RÖDEL (2007, 42) bemerkt: „Viele Grammatiken verwenden [...] für deutsche Tempora eine Terminologie, die in anderen Sprachen dem Aspekt vorbehalten ist“. Von einer Zweiteilung der Tempora geht auch THIEROFF (1992, 274– 299) aus, der zur Klassifizierung der Tempora auch die Kategorisierung „Distanz“19 ansetzt. Dieser ordnet er zwei Kategorien zu: „Entferntheit“ und „NichtEntferntheit“ und klassifiziert die Tempora nach diesen beiden Kategorien in Tempora der Nicht-Entferntheit: Non-Anterior (Präsens), Posterior (Futur I), Anterior (Perfekt), Ante-Posterior (Futur II) und Ante-Anterior (Perfekt II) und Tempora der Entferntheit: Non-Anterior (Präteritum), Posterior (Futur Präteritum II), Anterior (Plusquamperfekt), Ante-Posterior (Futur Präteritum II) und AnteAnterior (Plusquamperfekt II) (vgl. THIEROFF 1992, 281–284). In Anlehnung an LYONS (1977, 819) stellt THIEROFF fest, dass zu einer befriedigenden Beschreibung der deutschen Tempora nicht nur die verbalen Kategorisierungen Tempus, Modus und Aspekt zu berücksichtigen seien, sondern auch die Distanz:20 Die Bedeutung einer Verbform ergibt sich nun jeweils aus drei Kategorien der inhärenten Kategorisierungen Tempus, Modus und Distanz (THIEROFF 1992, 284).

Allerdings geht THIEROFF nicht wie LYONS (1977, 819–820) davon aus, dass Tempus eine spezifische Form von Modalität sei, sondern eine verbale Kategorisierung, die dazu beitrage, die temporalen, modalen und aspektuellen Gebrauchsweisen der einzelnen Tempora adäquat zu beschreiben und zu erklären. Bei ihrer Analyse des deutschen Tempussystems stellt FUCHS (1988) Folgendes fest: Die markierten Terme, die ʻpositivenʼ Tempora, werden mithilfe von drei morphemischen Grundkomponenten gebildet, der Perfekt-, Präteritum- und der Futur-Komponente. Nur zwei von diesen haben einen konstanten (allerdings systematisch kontextrelativen) Zeitsignalisierungswert. Es sind dies Perfekt und Präteritum, die beide im konventionellen Sinn auf Vergangenheit verweisen. Tatsächlich aber wird ʻVergangenheitʼ hier unter verschiedenen Blickwinkeln ins Spiel gebracht, einmal in zeitrelationaler, einmal in aspektueller Ausrichtung (FUCHS, 1988: 1).

Somit bezieht FUCHS in das Modell der Deixis nicht nur die Kategorie Tempus, sondern auch Modus und Aspekt ein: Aspekt, Modus und Tempus im engen Sinn stellen grammatikalisierte Teilfestlegungen des Bezugs/der Bezugsart dar, Einschränkungen von deren Kontextrelativität: Aspekt in der Dimension des Relevanzbezugs, Modus in der des Bezugs der Affirmativität, Tempus (i.e.S.) in der des zeitlichen Bezugs (FUCHS 1988, 3).

Die aspektuelle Bedeutung sei der Perfekt-Komponente inhärent, da der bezeichnete Vorgang/Zustand ausdrücklich als zum jeweiligen zeitlichen Bezugspunkt abgeschlossen dargestellt werde (FUCHS 1988, 5–6). Prinzipiell lasse Perfekt die Kontextrelativität des Relevanzbezugs uneingeschränkt, und diese uneinge19 Das Konzept ist nicht neu, THIEROFF (1992) verweist auf LYONS’ (1977, 819–820) Unterscheidung „remote“ versus „non-remote“ und ANDERSSONS (1989, 37) „Remotospektiv“. 20 Vgl. dazu auch ANDERSSON (1989, 37–39), der den Remotospektiv als „tertium comparationis zwischen Temporalität und Modalität“ sieht.

31

2.1 Tempus und Temporalität

schränkte Kontextrelativität, die unmittelbare Bezogenheit auf den im Vordergrund stehenden Bezugssachverhalt führe zum Eindruck der unmittelbaren Relevanz, die dem Perfekt zugeschrieben werde. Diese Komponente der Nichteinschränkung der Kontextrelativität des Relevanzbezugs habe Perfekt mit dem Präsens und Futur gemeinsam (vgl. FUCHS 1988, 5–6). In der paradigmatischen Distribution unterscheide sich die aspektuelle Perfekt-Komponente von den übrigen Formen dadurch, dass sie die weitestgehende Kombinationsfähigkeit besitze, da sie sich nicht nur mit Präteritum und Futur verbinden könne, sondern auch „rekursiv anwendbar ist, in den sog. Doppelumschreibungen“ (FUCHS 1988, 6). Nach der Analyse aller Komponenten und ihrer Beziehungen im Tempussystem, kommt FUCHS zu folgender Schlussfolgerung: Das System der „Tempora“ dient nicht dazu, die zeitliche Beziehung zwischen den mitgeteilten Sachverhalten und der Sprechsituation zu kennzeichnen, wie es die Handbücher wollen – zu oft muß diese Beziehung schon bekannt sein, damit die Tempusform richtig interpretiert werden kann, zu oft auch bildet nicht die Sprechsituation den Bezugspunkt. Die Grundkomponenten und ihre paradigmatischen und syntagmatischen Verbindungen gestatten vielfältige Inbeziehungsetzungen zwischen Sachverhalten, Zeitpunkten, Belangen und Sprechenden (FUCHS 1988, 18).

EHRICH (1992) rekonstruiert die grammatischen Bedeutungen von Tempusformen im Rahmen einer situationssemantisch interpretierten Version des REICHENBACHSchemas. Die jeweilige Deutung der Tempusform ergibt sich aus der Tempusbedeutung und der Aktionsartbedeutung des temporalisierten Verbs. Für die Tempusanalyse spielen die Aktionsarten eine grundlegende Rolle. Ausgehend von REICHENBACH (1947) stellt EHRICH (1992, 68) das deutsche Tempussystem wie folgt dar: Kontextuelle Bedeutung

Intrinsische Bedeutung

S, R

R ich habe geschickt gehabt […] (BEHAGHEL 1924, 272).

In der Folgezeit geraten die doppelten Perfektbildungen in Vergessenheit und werden erst in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts wiederentdeckt. RÖDEL untersucht 22 Grammatiken des 20. und 21. Jahrhunderts und kommt zu der Schlussfolgerung, dass „die gängigen Grammatiken der deutschen Sprache [...] die doppelten Perfektbildungen in der Regel eher in Fußnoten und Randbemerkungen ab[handeln]“ (2007, 20). Dabei erwähnen neun der von RÖDEL untersuchten Grammatiken die doppelten Perfektbildungen überhaupt nicht, während sie in den anderen meist als „wenig korrekt“ (GLINZ 1975, 150), „hochsprachlich nicht korrekt“ (HEIDOLPH / FLÄMIG / MOTSCH 1981, 563) oder als umgangssprachlich (JUNG 1984, 217)49 bzw. oberdeutsch gelten.50 Am ehesten wird die Existenzberechtigung der doppelten Perfektbildungen im Konjunktiv anerkannt (vgl. HEIDOLPH / FLÄMIG / MOTSCH 1981, 563), wo sie Vorzeitigkeit ausdrücken (vgl. ENGEL 2004, 238) und so eine Lücke im System schließen. Bei ZIFONUN / HOFFMANN / STRECKER werden „die sogenannten superkomponierten Formen“ nicht in das Tempussystem aufgenommen, da sie „regional als Ersatzformen des Präteritumperfekts da gebräuchlich [sind]“ (ZIFONUN / HOFFMANN / STRECKER 1997, 1687), wo das Präteritum ganz oder in starkem Maße geschwunden ist, d. h. in den oberdeutschen, ost- und westmitteldeutschen Mundarten. Außerdem heißt es: „In der geschriebenen Hochsprache kommt die sogenannte Doppelumschreibung sehr selten vor“ (ZIFONUN / HOFFMANN / STRECKER 1997, 1687) und diese Behauptung wird damit motiviert, dass die Doppelumschreibung in den Mannheimer Korpora nur einmal bei über 25.000 anderen Tempusformen belegt sei.51 47 RÖDEL (2007, 16) führt auch andere Grammatiken des ausgehenden 19. und beginnen 20. Jahrhunderts an, die sich zu den doppelten Perfektbildungen äußern. 48 Den Schwund des Präteritums datiert SÜTTERLIN ins 15. Jahrhundert und stellt sein Vorkommen im Oberdeutschen und Oberfränkischen fest (vgl. SÜTTERLIN 1907, 234). 49 JUNG ist einer der wenigen Grammatiker, die sich nicht abwertend zu den doppelten Perfektbildungen äußern. 50 Zur vollständigen Übersicht vgl. die Tabelle bei RÖDEL (2007, 21–22). 51 ZIFONUN / HOFFMANN / STRECKER (1997) stützten sich dabei auf die Untersuchung von HAUSER-SUIDA / HOPPE-BEUGEL (1972, 257).

2.3 Doppelte Perfektbildungen

49

Als Plusquamperfektersatz werden die doppelten Perfektbildungen auch von ERBEN (1980, 98), HENTSCHEL / WEYDT (2003) und ENGEL (2004) – der nur die konjunktivischen Doppelperfektbildungen berücksichtigt – gesehen und immer in Verbindung zum Präteritumschwund gesetzt. Bei HENTSCHEL / WEYDT heißt es: Das Doppelperfekt ist im südlichen deutschen Sprachraum durchgehend gebräuchlich und ersetzt dort das Plusquamperfekt, das wegen dem fehlenden Präteritum nicht gebildet werden kann: Ich habe es ihm gesagt gehabt, aber er hat es vergessen. Das habe ich vorher nicht gewusst gehabt (HENTSCHEL / WEYDT 2003, 114).

In der Auflage von 2013 werden Doppelperfekt und Doppelplusquamperfekt als Tempusformen erwähnt (HENTSCHEL / WEYDT 2013, 82) und als dem Plusquamperfekt ähnlich interpretiert. Es heißt: Doppelperfekt und Doppelplusquamperfekt werden vor allem umgangssprachlich gebraucht, um ein Ereignis zu bezeichnen, das abgeschlossen ist und vor einem anderen liegt, das im Perfekt oder im Plusquamperfekt beschrieben wird [...] Nach wie vor umstritten ist, ob es sich bei diesen Formen um „korrekte“ Tempusbildungen des Deutschen handelt (HENTSCHEL / WEYDT 2013, 100).

Ausführlich – wie es nur in den letzten Auflagen der Dudengrammatik der Fall ist – besprechen HELBIG / BUSCHA (1994, 160) diese Formen, denen sie einen umgangssprachlichen Gebrauch zusprechen und deren standardsprachlichen Gebrauch als nicht korrekt ablehnen. In der Ausgabe von 2001 revidieren sie aufgrund der Untersuchung von HENNIG (2000) ihre Meinung und führen aus: Zum Ausdruck der Vorzeitigkeit dienen auch Formen, die aus Perf./Plusq. von haben + Partizip II eines Vollverbs gebildet werden [...] Der Status dieser Konstruktion ist umstritten. Es ist noch nicht endgültig geklärt, ob es sich um eigenständige Tempora handelt, welche Regularitäten für ihren Gebrauch gelten und inwieweit sie als korrekt empfunden werden (HELBIG / BUSCHA 2001, 142).

In der geschriebenen Sprache weisen HELBIG / BUSCHA (2001, 142–143) den doppelten Perfektbildungen besondere Funktionen zu, die andere Vergangenheitsformen nicht ohne Weiteres ausfüllen können, so z. B. „Vorvergangenheit“. In der gesprochenen Sprache sei der Gebrauch der Doppelperfektformen „weit weniger geregelt: Sie kommen auch – oft und ziemlich willkürlich [...] – als Tempusformen zur Bezeichnung von einfacher Vergangenheit und Vorvergangenheit vor“ (HELBIG / BUSCHA 2001, 143). Interessant ist der Wandel, der in den unterschiedlichen Auflagen der Dudengrammatik zu beobachten ist: In der ersten Auflage der Dudengrammatik werden Bildungen wie „haben + Partizip II + gehabt“ als „umgangssprachlichmundartliche (besonders süddeutsche) Umschreibungen des Plusquamperfekts“ beschrieben, die schriftsprachlich nicht gebraucht würden (DUDEN 1959, 530). Belegt werden diese „Umschreibungen“ nur mit Doppelperfektbeispielen, die sich bis zur sechsten Auflage in allen Dudengrammatiken (meist in Fußnoten) wiederholen: Ich hab’s ganz vergessen gehabt (Auerbach: Ich hatte es ganz vergessen). Ich bin eingeschlafen gewesen (Ich war eingeschlafen) (DUDEN 1959, 530).

50

2 Theoretische und terminologische Grundlagen

Auch in der Dudengrammatik von 1966 werden diese Formen erwähnt und als oberdeutsch eingestuft: Der Ausfall des Präteritums und des Plusquamperfekts hat im Oberdeutschen zur Herausbildung einer neuen Form für die Vorvergangenheit geführt: Ich hab’s ganz vergessen gehabt (für hochsprachlich: Ich hatte es ganz vergessen). Ich bin eingeschlafen gewesen (für hochsprachlich: Ich war eingeschlafen) (DUDEN 1966, 104).

Über die Funktion der „neuen Form“ heißt es: Gelegentlich wird die mit „haben“ + 2. Partizip + „gehabt“ umschriebene Form gebraucht, um auszudrücken, daß ein Geschehen zeitlich vor einem anderen liegt, das seinerseits im Plusquamperfekt geschildert ist. Man könnte hier von Vor-Vorvergangenheit sprechen [...] (DUDEN 1966, 101–102).

Es wird im Weiteren vermerkt, dass man doppelte Perfektbildungen auch als Ausdruck einfacher Vorvergangenheit verwendet, was jedoch durch den Gebrauch von Plusquamperfekt und entsprechenden „verdeutlichenden Zeitadverbien“ (DUDEN 1966, 102) vermieden werden kann. In der dritten Auflage der Dudengrammatik (1973) werden die doppelten Perfektbildungen in einem eigenen Abschnitt (Die Doppelumschreibung) behandelt, wo es heißt, dass diese Umschreibungen gelegentlich auftreten, wobei der Gebrauch des Doppelperfekts als inkorrekt eingestuft wird, während der Gebrauch des Doppelplusquamperfekts einerseits als zulässig empfunden wird (zum Ausdruck der Vor-Vorvergangenheit), andererseits als „überflüssig und inkorrekt“ (zum Ausdruck von Vorvergangenheit oder Abgeschlossenheit, vgl. DUDEN 1973, 89)52 und durch den klärenden Einsatz von Adverbien vermeidbar. Hier wird erstmals explizit auf die Bedeutung der Abgeschlossenheit hingewiesen, die mithilfe der doppelten Perfektbildungen realisiert wird. Zum ersten Mal werden in dieser Auflage der Dudengrammatik auch die konjunktivischen doppelten Perfektbildungen berücksichtigt, von denen es heißt, dass sie häufiger als die indikativischen auftreten; sie werden jedoch auch als „überflüssig und inkorrekt“ (DUDEN 1973, 90) abgestempelt. In den folgenden Auflagen (1984, 1995 und 1998) werden die doppelten Perfektbildungen in Fußnoten verbannt. Es heißt hier, sie seien im Oberdeutschen zur Bildung einer neuen Vorvergangenheit üblich (DUDEN 1984, 152; 1995, 151; 1998, 153), da in diesen Mundarten Präteritum und Plusquamperfekt seit dem 16. und 17. Jahrhundert geschwunden sind (vgl. DUDEN 1984, 151; 1995, 150; 1998, 152). Eine Neuerung tritt in der siebten und achten Auflage (2005, 470–471 und 520–521; 2009, 463–464, 514–515, 517 und 529–531) auf: Die Dudengrammatik nimmt die doppelten Perfektbildungen ins Tempussystem auf, mit der Bemerkung, dass das Doppelperfekt „im Wesentlichen in der gesprochenen Sprache und der mündlich gefärbten Schriftsprache“ vorkommt und in der geschriebenen

52 Zur Behandlung der doppelten Perfektbildungen in dieser Dudenauflage vgl. auch HENNIG (2000, 81).

2.3 Doppelte Perfektbildungen

51

Standardsprache als nicht korrekt53 gilt (DUDEN 2005, 520; 2009, 514), während das Doppelplusquamperfekt verwendet wird, um „eine feinere zeitliche Stufung der Ereignisse zu erzielen“, d. h. um Vor-Vorvergangenheit auszudrücken (DUDEN 2005, 520; 2009, 514) und ihm in dieser Funktion „eine einzigartige Position im Rahmen des deutschen Tempussystems“ zukommt (DUDEN 2009, 515).54 Die Entwicklung der Dudengrammatik bezüglich der doppelten Perfektbildungen zeigt deutlich die derzeit beobachtbare zunehmende Abkehr von der Präskription und Hinwendung zur Deskription in der Grammatikschreibung des Deutschen. Wie die vorausgehenden Ausführungen zeigen, wird in den meisten Grammatiken des Deutschen das Auftreten der doppelten Perfektbildungen in einem direkten Zusammenhang mit dem Präteritum- und Plusquamperfektschwund gesehen, sodass diese doppelten Perfektbildungen vorrangig als regionales – meist oberdeutsches – Phänomen verstanden werden. Vom Gebrauch der doppelten Perfektbildungen wird meist abgeraten, da sie nur mundartlich oder umgangssprachlich zulässig seien, während sie in der Standardsprache oft als nicht korrekt stigmatisiert werden. Während im indikativischen Doppelperfekt nur ein Plusquamperfektersatz gesehen wird, wird dem Doppelplusquamperfekt eine eigene Funktion, die der Anzeige von Vor-Vorzeitigkeit, zugeschrieben. Die anfangs weniger beachteten konjunktivischen Doppelperfektbildungen werden in den neueren Grammatiken eher akzeptiert, da sie die sonst im Konjunktiv fehlende zeitliche Staffelung wiedergeben (vgl. HEIDOLPH / FLÄMIG / MOTSCH 1981; ENGEL 2004). Lediglich HELBIG / BUSCHA (2001), HENTSCHEL / WEYDT (2013) und die Dudengrammatik (2005 und 2009) behandeln die doppelten Perfektbildungen eingehender, im DUDEN und bei HENTSCHEL / WEYDT (2013) werden sie – bedingt – ins Tempussystem aufgenommen. 2.3.2 Darstellung in der Forschungsliteratur Die Wiederentdeckung der doppelten Perfektbildungen in den 1960er Jahren durch THIEL (1964; 1969), KLARE (1964), APPUHN (1966) und LITVINOV (1969) brachte neue Gesichtspunkte mit sich. Wie in den Grammatiken werden die doppelten Perfektbildungen in einigen Untersuchungen auf den möglichen Einfluss des Präteritumschwundes im Oberdeutschen zurückgeführt (z. B. LINDGREN 1963), aber auch in Verbindung mit der Umgangssprache gesehen, die sowohl als Vermittlungsfaktor zwischen Mundart und Hochsprache, als auch als Faktor der Normabschwächung betrachtet wird. Das, was die moderne Tempusforschung von den Grammatiken abhebt, ist die Frage nach der Leistung und der Natur der doppelten Perfektbildungen. Es lassen sich zwei Tendenzen bei der Deutung der 53 In Gegenden, in denen Präteritum und Plusquamperfekt geschwunden sind, wird auch dem Doppelperfekt zugestanden, dass es eine „funktionale Lücke“ füllt (DUDEN 2005, 520–521). 54 Zur tabellarischen Darstellung und zur Diskussion der Tempusformen des DUDENS (2005) sei auf TOPALOVIĆ (2010, 172) verwiesen.

52

2 Theoretische und terminologische Grundlagen

doppelten Perfektbildungen erkennen: Die Mehrheit der Untersuchungen deuten diese Formen temporal, in neuerer Zeit werden jedoch auch Stimmen laut, die eine aspektuelle Deutung vornehmen (z. B. MAIWALD 2002; RÖDEL 2007; TOPALOVIĆ 2010). BUCHWALD-WARGENAU (2012) unternimmt keine Trennung dieser Bedeutungen, sondern stellt fest, dass meist eine der Bedeutungen überwiegt, jedoch oft beide gleichermaßen möglich seien. Da die Untersuchungen der doppelten Perfektbildungen nicht alle dasselbe Untersuchungsobjekt ins Auge fassen, lassen sich je nach Forschungsobjekt die bisherigen Untersuchungen zu den doppelten Perfektbildungen folgendermaßen zusammenfassen: – Untersuchungen, die sich den schriftsprachlichen Doppelperfektbildungen widmen; – Untersuchungen, die die doppelten Perfektbildungen in der Umgangssprache bzw. in der gesprochenen Sprache erforschen; – Untersuchungen, die die dialektalen Doppelperfektbildungen thematisieren. Im Folgenden seien diese Gruppen diskutiert und analysiert. 2.3.2.1 Doppelte Perfektbildungen in der geschriebenen Sprache Wie bereits angedeutet, werden die doppelten Perfektbildungen als Erscheinung der Mundarten oder Umgangssprache bzw. der gesprochenen Sprache betrachtet, jedoch meist anhand von Belegen aus der Literatur analysiert. Tabelle 2 bietet einen Überblick über die Forschungsbeiträge zu den doppelten Perfektbildungen im Geschriebenen. Untersuchungsgegenstand

Deutung

LITVINOV (1969)

Doppelperfekt Indikativ Doppelplusquamperfekt Indikativ

temporal resultativ

SHEREBKOV (1971)

Doppelperfekt Indikativ Doppelplusquamperfekt Indikativ

temporal resultativ

HAUSER-SUIDA / HOPPEBEUGEL (1972)

Doppelperfekt Indikativ Doppelplusquamperfekt Indikativ Doppelperfekt Konjunktiv Doppelplusquamperfekt Konjunktiv

temporal

EROMS (1984)

Doppelperfekt Indikativ Doppelplusquamperfekt Indikativ Doppelperfekt Konjunktiv Doppelplusquamperfekt Konjunktiv

temporal

LITVINOV / NEDJALKOV (1988)

Doppelperfekt Indikativ Doppelplusquamperfekt Indikativ Doppelperfekt Konjunktiv Doppelplusquamperfekt Konjunktiv

temporal

VATER (1991, 1994)

Doppelperfekt Indikativ Doppelplusquamperfekt Indikativ

temporal

resultativ

53

2.3 Doppelte Perfektbildungen Untersuchungsgegenstand Doppelperfekt Konjunktiv Doppelplusquamperfekt Konjunktiv

Deutung

THIEROFF (1992)

Doppelperfekt Indikativ Doppelplusquamperfekt Indikativ Doppelperfekt Konjunktiv Doppelplusquamperfekt Konjunktiv

temporal

DOROW (1996)

Doppelperfekt Indikativ Doppelplusquamperfekt Indikativ

temporal

LITVINOV / RADČENKO (1998)

Doppelperfekt Indikativ Doppelplusquamperfekt Indikativ Doppelperfekt Konjunktiv Doppelplusquamperfekt Konjunktiv

temporal resultativ

AMMANN (2005)

Doppelperfekt Indikativ Doppelplusquamperfekt Indikativ Doppelplusquamperfekt Konjunktiv

temporal (Ansatz: aspektuell)

RÖDEL (2007)

Doppelperfekt Indikativ Doppelplusquamperfekt Indikativ Doppelperfekt Konjunktiv Doppelplusquamperfekt Konjunktiv

aspektuell

TOPALOVIĆ (2010)55

Doppelperfekt Indikativ Doppelplusquamperfekt Indikativ Doppelperfekt Konjunktiv Doppelplusqamperfekt Konjunktiv

aspektuell

HUNDT (2011)

Doppelperfekt Indikativ Doppelplusquamperfekt Indikativ Doppelperfekt Konjunktiv Doppelplusquamperfekt Konjunktiv

aspektuell temporal

BUCHWALD-WARGENAU (2012)

Doppelperfekt Indikativ Doppelplusquamperfekt Indikativ

temporal aspektuell

ZYBATOW (2015)

Doppelperfekt Indikativ Doppelplusquamperfekt Indikativ

KopulaPrädikativKonstruktion

Tabelle 2: Untersuchung der doppelten Perfektbildungen in der geschriebenen Sprache

LITVINOV (1969, 20) unterscheidet zwischen hochsprachlicher und nicht-hochsprachlicher (hier wiederum zwischen dialektaler und nicht-dialektaler) Verwendung der doppelten Perfektbildungen. Er stellt fest, dass die doppelten Perfektbildungen „für süddeutsche Dialekte kennzeichnend sind“, zweifelt aber daran, dass sie nur Ersatzformen des Plusquamperfekts seien und ermittelt auch einfache Vergangenheitsbedeutungen dieser Formen (vgl. LITVINOV 1969, 20). Auch führt 55 Die Textsorte Verhörprotokoll, die TOPALOVIĆ (2010) untersucht, weist sowohl Merkmale des Mündlichen als auch des Schriftsprachlichen auf.

54

2 Theoretische und terminologische Grundlagen

er die Existenz dieser Formen nicht nur auf den Präteritumschwund zurück, da dieser nicht die Existenz des Doppelplusquamperfekts erhellen könne (1969, 18). Dass die doppelten Perfektbildungen nicht nur in den süddeutschen Dialekten vorkommen – und somit nicht durch den Präteritumschwund zu erklären sind –, sondern im gesamten deutschen Sprachraum verwendet werden, zeigt LITVINOV (1969, 18–20) anhand von Belegen aus der Literatur. Besonders die Funktion „Vorzeitigkeit 2. Grades“ wird als eigene Funktion der doppelten Perfektbildungen hervorgehoben, deren Gebrauch möglich (bei rein temporaler Deutung) oder notwendig (bei resultativem Bezug oder „Bedeutung der perfektiven Abgeschlossenheit“) sei (vgl. LITVINOV 1969, 22–24). Auch EROMS (1984, 374) bezieht sich auf dieselbe Leistung des Doppelplusquamperfekts, „Abgeschlossenheit eines Sachverhalts zu signalisieren, der vor einem Sachverhalt der Vorvergangenheit liegt“. Doppelplusquamperfekt sei eine „regelmäßig bildbare Konstruktion“, im Unterschied zum Doppelperfekt, das „standardsprachlich so gut wie nicht belegbar“ sei (EROMS 1984, 347). Er untersucht nicht nur die indikativischen doppelten Perfektbildungen, sondern auch die konjunktivischen und kritisiert den Mangel an Beachtung letzterer seitens der Forschung. Nach EROMS (1984, 350) besetzen sowohl indikativische als auch konjunktivische Doppelperfektbildungen „wichtige Plätze des deutschen Tempussystems“. SHEREBKOV (1971, 28) thematisiert die Kompensationsfunktion des oberdeutschen Doppelperfekts und erklärt seine Existenz durch den Schwund des Präteritums. Allerdings unterscheidet er zwischen den mundartlichen und den „normalsprachlichen“ Formen und räumt ein, dass letztere nicht durch die Präteritumschwundhypothese erklärt werden können. Für das Doppelperfekt ermittelt SHEREBKOV drei Bedeutungen: Einerseits drücke es Vorzeitigkeit aus und sei somit Plusquamperfektersatz, andererseits sei es eine „aspektuelle Progressivkonstruktion mit verselbständigten Gliedern“ (hat gehabt/absolute Vergangenheitsbedeutung + Partizip II/prädikatives Attribut) und drittens sei ein stilisierender Gebrauch zur Wiedergabe süddeutscher Redeweise zu beobachten. Zwischen den ersten beiden Bedeutungen sei die Grenze fließend (SHEREBKOV 1971, 28). Als normale Funktion der doppelten Perfektbildungen sieht er die Angabe der Vorzeitigkeit in der Gegenwart mit stilistischer, aspektueller und modaler Färbung an (SHEREBKOV 1971, 29). Trotzdem betrachtet SHEREBKOV (1971, 29) die doppelten Perfektbildungen nicht als eigenständige Tempusformen, sondern als konstruktivsemantische Varianten der normalen Vollendungsform, d. h. des Plusquamperfekts. HAUSER-SUIDA / HOPPE-BEUGEL (1972) erheben in ihrer Tempus-Monografie Einspruch gegen eine Beschränkung der doppelten Perfektbildungen auf die oberdeutschen Dialekte und auf die gesprochene Umgangssprache und unterscheiden zwischen obligatorischem Gebrauch (bei Doppelplusquamperfekt, das „Abgeschlossenheit“ und „Vollzogenheit“ ausdrücke, und konjunktivischen Doppelperfektbildungen, vgl. 1972, 260–262) und fakultativem Gebrauch (bei indikativischem Doppelperfekt und Doppelplusquamperfekt, vgl. 1972, 262–263). Sie stellen außerdem eine „lexematische Blockierung“ der doppelten Perfektbildung

2.3 Doppelte Perfektbildungen

55

bei Verben fest, die Perfekt mit sein bilden, und motivieren die Seltenheit der doppelten Perfektbildungen mit sein durch die „Abneigung von sein gegen die zusammengesetzte Tempusform“ (HAUSER-SUIDA / HOPPE-BEUGEL 1972, 263). Als eigenständige Tempusformen werden die doppelten Perfektbildungen aufgrund ihres seltenen Vorkommens jedoch nicht gewertet. LITVINOV / NEDJALKOV (1988) behandeln in ihrer Monografie zu den Resultativkonstruktionen doppelte Perfektbildungen als eine Erscheinung des Resultativs (1988, 127–132) und stellen folgende Bedeutungen und Verwendungen fest: a) Der resultative Zustand ist vor dem Berichtzeitpunkt abgebrochen [...] b) Der resultative Zustand ist als Zeitabschnitt begrenzt [...] c) Der resultative Zustand in einem Plusquamperfekt-Kontext [...] d) Komplizierte Temporalverhältnisse [...] (LITVINOV / NEDJALKOV 1988, 129–130).

Sie betrachten nur die doppelten Perfektbildungen in der geschriebenen Sprache und gehen auf andere Varietäten nicht ein. Erst VATER (1983; 1991; 1994) und THIEROFF (1992) nehmen die doppelten Perfektbildungen in ihr Tempussystem auf. VATER (1991, 57) stellt fest (wie schon HAUSER-SUIDA / HOPPE-BEUGEL 1972 und EROMS 1984), dass sich die Existenz des Doppelplusquamperfekts nicht durch den Präteritumschwund erklären lasse, und begründet das Auftreten dieser Form durch „Analogie zum Doppelperfekt und das Bedürfnis nach einem Ausdruck für Vor-Vorvergangenheit (ähnlich wie das französische passé surcomposé)“ (VATER 1991, 57; 1994, 76). THIEROFF (1992) behandelt ausführlich sowohl die indikativischen als auch die konjunktivischen Doppelperfektbildungen und ermittelt Funktionen und Bedeutungen dieser Formen. Im Präteritumschwund sieht er nicht den Grund für die Entstehung der doppelten Perfektbildungen, aber er bietet auch keine andere Erklärung für deren Vorkommen. Er stellt fest, dass Doppelperfekt außer Plusquamperfektersatz auch andere Funktionen erfüllen kann: Es signalisiere einerseits Vorvergangenheit in Kontexten, in denen nur Tempora der Tempusgruppe I verwendet werden (vgl. THIEROFF 1992, 211), andererseits diene es zur Bezeichnung von „two-way-actions“56 (vgl. THIEROFF 1992, 214). Für Doppelplusquamperfekt ermittelt THIEROFF „drei vor-Relationen“ (1992, 218), d. h. Vor-Vorvergangenheit; eine resultative Bedeutung der doppelten Perfektbildungen sieht er als nicht obligatorisch an (vgl. THIEROFF 1992, 214 und 218). Die Existenz der doppelten Perfektbildungen im Konjunktiv empfindet THIEROFF (1992, 246–250) als besonders berechtigt, denn die Kombination von absoluter Vergangenheit mit relatver Vorzeitigkeit werde im Konjunktiv durch das Plusquamperfekt nicht bewältigt. DOROW (1996) sieht folgende Gründe für das relativ seltene Auftreten der doppelten Perfektbildungen: Ein erheblicher Grund dafür könnte m. E. darin liegen, daß viele Sprachteilnehmer sie meiden, weil sie keine Bestandteile des traditionell an Schulen vermittelten lateinischen Tempussystems sind, und weil ihre Bildungsweise – zumindest auf den ersten Blick – als zu kompliziert erscheinen kann. Denkbar ist aber auch, daß diese Formen deshalb so selten sind, weil 56 In Anlehnung an DAHL (1985, 149), wo „two-way-actions“ als „an action which led to a result which has later been cancelled“ definiert werden.

56

2 Theoretische und terminologische Grundlagen sie nur solche Funktionen erfüllen können, die bereits anderweitig erfüllt werden (DOROW 1996, 63–64).

Auch er äußert sich kritisch gegenüber der Annahme, dass der Präteritumschwund der Grund für das Entstehen der doppelten Perfektbildungen sei. Vielmehr stellt DOROW fest, dass das Präteritum im Oberdeutschen nicht vollständig geschwunden sei, sondern dass die Hilfsverben, die zur Bildung des Plusquamperfekts beitragen, die Präteritumformen zum Teil bewahrt haben (vgl. DOROW 1996, 77–78). Weitere Gründe für das Ablehnen des Präteritumschwundes als Erklärung für das Aufkommen der doppelten Perfektbildungen sieht DOROW in der Bedeutung des Doppelperfekts, das in den süddeutschen Mundarten nicht nur als Plusquamperfektersatz gebraucht werde, sondern auch einfache Vergangenheit ausdrücken könne. Nicht zuletzt widerlege auch die überregional verbreitete Verwendung des Doppelplusquamperfekts die Annahme des Präteritumschwundes als Existenzberechtigung der doppelten Perfektbildungen (vgl. DOROW 1996, 78). DOROW (1996, 78–79) stellt fest, dass das Doppelperfekt im deutschen Tempussystem keine eigenständige temporale Funktion habe, da es durch ein Plusquamperfekt ersetzt werden könne, auch wenn es Vorzeitigkeit eines resultativen Ereignisses signalisiert, während dem Doppelplusquamperfekt (wenn es Vorzeitigkeit eines resultativen Ereignisses mit Bezug auf ein vorvergangenes explizites oder implizites Ereignis ausdrückt) ein einzigartiger Platz im deutschen Tempusparadigma zuzuordnen sei. Als erster berücksichtigt DOROW (1996, 64) auch die Aktionsart der Verben in der Untersuchung der doppelten Perfektbildungen und bemerkt, dass doppelte Perfektbildungen für resultative Verben besonders typisch seien, während sie bei durativen Verben überhaupt nicht möglich seien.57 In ihrer Monografie zu den literatursprachlichen Doppelperfektbildungen untersuchen LITVINOV / RADČENKO (1998) schriftsprachliche Belege aus dem 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart.58 Aufgrund der von ihnen durchgeführten Umfragen zur Beurteilung der doppelten Perfektbildungen kommen LITVINOV / RADČENKO (1998, 48) zu der Schlussfolgerung, dass diese generell in einer „kontextuellen Verbindlichkeit“ eher akzeptiert werden, als wenn die Einbettung in einem größeren Kontext fehlt, die doppelten Perfektbildungen seien also kontextgebunden. LITVINOV / RADČENKO (1998, 46) unterscheiden zwischen süddeutschen und literarischen Bildungen und schließen aus ihrem Korpus die mundartlichen doppelten Perfektbildungen aus. Sie vergleichen die deutschen doppelten Perfektbildungen mit ähnlichen Bildungen in anderen germanischen Sprachen und verweisen auf die Existenz solcher Formen in romanischen, slawischen und agglutinierenden Sprachen (LITVINOV / RADČENKO 1998, 59–80). So unterscheiden sie zwei Gruppen von doppelten Perfektbildungen: Einerseits erscheinen doppelte Perfektbildungen als Kompensationsformen, die eine im System durch den Verlust einer Bedeutungsvariante einer anderen Tempusform oder durch den Schwund einer Tempusform entstandene Lücke schließen (wie in den süd57 Wie RÖDEL (2007) und BUCHWALD-WARGENAU (2012) zeigen konnten, ist diese Aussage allerdings problematisch. 58 Außerdem beziehen sie auch mündliche Belege in ihre Analyse ein.

2.3 Doppelte Perfektbildungen

57

deutschen Dialekten, im Jiddischen, im Altrussischen, Bretonischen etc.), andererseits können die doppelten Perfektformen auch als Kombination von Perfekt und indirekter Erlebnisform erscheinen (im Falle des Bulgarischen, Albanischen, Armenischen und der iranischen Sprachen). Diese Bedeutungsvariante wäre mit dem epistemischen Gebrauch deutscher Modalverben vergleichbar, fehle aber im Deutschen. Die süddeutschen doppelten Perfektbildungen, die nicht nur auf den oberdeutschen Raum beschränkt sind, erklären LITVINOV / RADČENKO als Kompensationsformen für das durch den Präteritumschwund zurückgegangene Plusquamperfekt: Der andere häufige Grund der DP-Bildung, die Kompensation von abgeschwächten Präteritalformen, ist dem Deutschen jedoch bekannt. Die süddeutschen DPF gehören offensichtlich zu diesem Typ. Hat nicht auch die deutsche Gemeinsprache die Tendenz zur Ersetzung des Präteritums durch das Perfekt? (LITVINOV / RADČENKO 1998, 81).

Sie stellen fest, dass in der gesprochenen Sprache das Doppelperfekt über das Doppelplusquamperfekt überwiegt, während in der geschriebenen Sprache das Gegenteil zu verzeichnen sei (vgl. LITVINOV / RADČENKO 1998, 81). Die doppelten Perfektbildungen in der gesprochenen Sprache können als Kompensationsformen verstanden werden, die der geschriebenen jedoch nicht: Die Erzählform ist hier das Präteritum, diese Form ist gleichsam die Gegenwartsform der Ereignisse, die dadurch gegen die Gegenwart des Erzählers und des Lesers abgehoben ist. Hier gibt es keine Formen zu kompensieren, und das Phänomen der DPF verlangt nach einer anderen Ausdeutung. Deshalb ist die Sprache der narrativen Texte das wirklich geeignete Material, um das Wesen der deutschen DPF aufzudecken. Mit anderen Worten, der eigentliche deutsche Typ der DPF ist in der Literatursprache realisiert [...] (LITVINOV / RADČENKO 1998, 81–82).

Die Annahme, dass die doppelten Perfektbildungen „keine Perfekta, sondern Resultativa“ seien (LITVINOV / RADČENKO 1998, 56), die aus den Untersuchungen von LITVINOV (1969) und LITVINOV / NEDJALKOV (1988) abzuleiten sei, lehnen die Autoren ab, da sie eine scharfe Trennung zwischen Perfekt und Resultativ als nicht angemessen betrachten: Eine Konstruktion der deutschen Grammatik kann [...] unter Umständen Perfekt und resultativ auf einmal sein. Dadurch wird die Resultativ-Theorie eine mögliche Erklärung der DPF, statt deren Negation zu sein. Außerdem sind nicht alle DPF resultativisch (LITVINOV / RADČENKO 1998, 56).

Nach LITVINOV / RADČENKO (1998, 82) können die doppelten Perfektbildungen der Literatursprache „als inhärente Entwicklung der Tempusbedeutungen und -funktionen ohne Einfluß von außertemporalen Faktoren verstanden werden“ und stellen den „Mustertyp“ der doppelten Perfektbildungen dar. Die Besonderheit der deutschen literatursprachlichen doppelten Perfektbildungen sei darin zu sehen, [...] daß sie nicht an formal-syntaktischen Bedingungen orientiert sind, und [...] daß sie nicht sprachsemantisch obligatorisch sind. Das erste Merkmal unterscheidet die deutschen DPF von den französischen, das zweite unterscheidet die deutschen DPF von den einfachen Perfektformen im Deutschen (LITVINOV / RADČENKO 1998, 87).

58

2 Theoretische und terminologische Grundlagen

Für die doppelten Perfektbildungen der deutschen Literatursprache ermitteln LITVINOV / RADČENKO (1998, 112) drei „DPF-günstige Konfigurationen“, d. h. Kontextfaktoren, die die Verwendung der doppelten Perfektbildungen favorisieren, und zwar: zwei temporale Faktoren (der versetzte Referenzpunkt und die Erzählzeit Plusquamperfekt) und einen modalen bzw. konjunktivischen Faktor. LITVINOV / RADČENKO (1998, 144) führen vier Anwendungsgebiete der doppelten Perfektbildungen in der geschriebenen Sprache an: 1. resultativer Zustand in der Vorzeitigkeit, 2. Konjunktiv, 3. betonte Vorzeitigkeit (wenn das Plusquamperfekt Erzähltempus ist) und 4. Organisation der Zeitverhältnisse in der erzählten Welt, bei der temporale Bezugspunkte und lexikalische Bezeichnungen von Handlungen diskongruent sind. Alle vier Bedeutungen der doppelten Perfektbildungen implizieren nach LITVINOV / RADČENKO (1998, 144) doppelte Vorzeitigkeit, diese impliziere jedoch keinen obligatorischen Gebrauch doppelter Perfektbildungen. Als charakteristische Bedeutung der doppelten Perfektbildungen sehen sie die „Bedeutung der weiter geltenden Resultativität in der Vorzeitigkeit“, wobei die Resultativität als „natürliche Implikation der temporalen Relationalität“ zu verstehen sei (LITVINOV / RADČENKO 1998, 144). Auch sie sprechen den doppelten Perfektbildungen den Tempusstatus im Standarddeutschen ab, betonen aber, dass „die Tempuskategorie im deutschen Verb neben dem festen Formenbestand auch noch Möglichkeiten zu weiterer Formenbildung besitzt, und daß die PFErweiterung von verschiedenen Formen die wichtigste dieser Möglichkeiten ist“ (LITVINOV / RADČENKO 1998, 172). RÖDELS Monografie zu den doppelten Perfektbildungen (2007) kann als innovativer Ansatz zur Betrachtung dieses Phänomens verstanden werden. Er bezieht in seine Untersuchung Belege aus der geschriebenen und gesprochenen Sprache („mündliche“ und „konzeptionell mündliche“ Belege, RÖDEL 2007, 82– 83) ein und versucht nachzuweisen, dass „einem gram im Schriftlichen wie im Mündlichen stets die gleichen Bedeutungspotentiale eingeschrieben sind, dass beide Sphären durch ihre spezifischen Produktions- und Rezeptionsbedingungen den Gebrauch dieser Potentiale jedoch entscheidend beeinflussen“ (RÖDEL 2007, 90). Ausgehend von der Analyse des Perfekts im Deutschen, das er als integralen Bestandteil der doppelten Perfektbildungen sieht, stellt RÖDEL (2007, 116) die Besonderheiten der Partizipien gehabt und gewesen dar, wobei er vermutet, dass „diese beiden Partizipien der (zusätzlichen) Markierung von Perfektivität dienen“, da sie eine „aspektuell-perfektive[n] Komponente“ (2007, 136) beinhalten. Er nimmt an, dass es sich bei diesen Partizipien um „einen Erweiterungsmechanismus handelt, der in der Perfektkonstruktion angelegt ist und unabhängig von Tempus und Modus des finiten Verbs funktioniert (RÖDEL 2007, 193). Dabei stützt er sich auf BYBEE / DAHL (1989) und auf die Ergebnisse der französischen temps-surcomposés-Forschung, die in diesen den doppelten Perfektbildungen entsprechenden zusammengesetzten Verbformen eher aspektuelle als temporale Verbformen sehen (vgl. RÖDEL 2007, 35 und 109). Nach der Analyse der doppelten Perfektbildungen stellt RÖDEL fest:

2.3 Doppelte Perfektbildungen

59

Der Charakter der doppelten Perfektbildungen ist als perfektiv zu bezeichnen, häufig ist die Verbalsituation als abgeschlossen zu interpretieren. Der Sprecher nimmt sie aus der Außenperspektive in Augenschein, in ihrer Gesamtheit (RÖDEL 2007, 136).

RÖDEL (2007, 136) hat den Anspruch, durch diese Sichtweise „eine59 Interpretation für die vielen verschiedenen Lesarten, die von der Forschung unter Verwendung temporaler Beschreibungsmittel zusammengetragen wurden, zur Verfügung zu stellen“. Er betont aber auch, dass die perfektive Bedeutung auch eine „temporalsemantische Konsequenz“ implizieren kann, wodurch das „Potential der doppelten Perfektbildung [...] voll ausgeschöpft“ wird (RÖDEL 2007, 137). Da die Verwendung der doppelten Perfektbildungen im Deutschen nicht obligatorisch ist, obliegt es laut RÖDEL dem Sprecher, die Möglichkeiten, die ihm das System bietet, zu nutzen: Wählt er [der Sprecher, Anmerkung der Verf.] ein doppeltes Perfekt, ist zu unterstellen, dass er intuitiv einen bestimmten Wert auf diese Betonung [Perfektivität in der Vergangenheit, Anmerkung der Verf.] legt. [...] Der besondere Fokus, den die doppelten Perfektbildungen auf die Komponente der Perfektivität richten, zieht [...] noch einen weiteren Effekt nach sich: Die Verbsituationen werden nicht nur als abgeschlossen, sondern zudem als weit zurückliegend verstanden. Somit implizieren doppelte Perfektbildungen die Semantik der temporalen Distanz (RÖDEL 2007, 141).

RÖDEL (2007, 138) bemerkt, dass im schriftlichen Gebrauch dieser Formen die temporale Lokalisierung stärker betont und ausdifferenziert wird als im mündlichen Gebrauch, d. h. das Potenzial der doppelten Perfektbildungen wird nur im Schriftlichen voll ausgeschöpft. In seiner Monografie untersucht RÖDEL auch den Zusammenhang zwischen den doppelten Perfektbildungen und dem Schwund des synthetischen Präteritums, lehnt aber einen direkten kausalen Zusammenhang ab (RÖDEL 2007, 181–190), da die Präteritalformen von sein und teilweise auch von haben weiterhin in Gebrauch sind und die ersten Belege für doppelte Perfektbildungen aus einer Zeit stammen, in der das Präteritum noch nicht im Schwund begriffen war.60 RÖDEL (2007, 190–196) formuliert eine andere Hypothese zum Zusammenhang zwischen doppelten Perfektbildungen und Präteritumschwund: Da mit fortschreitender Grammatikalisierung das Perfekt seine aspektuelle Semantik verliert und temporal umgedeutet wird, tritt es in Konkurrenz zum Präteritum. RÖDEL (2007, 195) führt die Herausbildung der doppelten Perfektbildungen direkt auf diesen Aspektverlust zurück: Sie entstehen als perfektive Partner der aspektuell neutral werdenden Perfektformen. Sowohl Präteritumschwund als auch Entstehen der doppelten Perfektbildungen sind laut RÖDEL Folgen der Grammatikalisierung des Perfekts (2007, 196–198). Es ist hervorzuheben, dass es RÖDEL damit gelingt, eine plausible Entstehungstheorie der doppel-

59 Hervorhebung im Original. 60 Außerdem lassen sich frühe Belege für doppelte Perfektbildungen auch im Niederdeutschen ausmachen, das nicht von Präteritumschwund betroffen ist, vgl. SARAUW (1924).

60

2 Theoretische und terminologische Grundlagen

ten Perfektbildungen zu formulieren: „Addition eines aspektuellen Potentials auf eine temporale Basis“ (RÖDEL 2007, 200).61 Eine Lücke in der Erforschung der doppelten Perfektbildungen schließt auch TOPALOVIĆ (2010) mit der Untersuchung doppelter Perfektbildungen in Texten aus dem 17. Jahrhundert. Sie untersucht 175 Hexenverhörprotokolle aus 141 Orten und ermittelt aus 31 Orten 50 haben-Belege62 doppelter Perfektbildungen für eine Zeit, für die bis dahin keine Belege für doppelte Perfektbildungen existierten.63 Zur Textsorte der Hexenverhörprotokolle erläutert TOPALOVIĆ (2010, 176), dass „der Konjunktiv den unmarkierten Modus darstellt und entsprechend Konjunktivformen überwiegen“, auch was die doppelten Perfektbildungen betrifft. Ein weiteres Merkmal dieser Texte ist die Verwendung afiniter Konstruktionen, in denen die Hilfsverben ausgespart werden. Als kennzeichnend für die Textsorte Verhörprotokoll unterstreicht TOPALOVIĆ (2010, 175) die Tatsache, dass Verhörprotokolle sowohl die Sprache der Institution Gericht, als auch die Sprache des Alltags dokumentieren und somit Rückschlüsse auf eine historische Mündlichkeit ermöglichen (2010, 176).64 TOPALOVIĆ (2010, 179) stellt fest, dass die Verhörprotokolle „besonders affin für doppelte Perfektbildungen sind“ und vermutet, dass die Textsorte möglicherweise die wahre Hauptsphäre dieser Bildungen sei. Zur Verbreitung der doppelten Perfektbildungen im 17. Jahrhundert schlussfolgert sie: Doppelte Perfektbildungen sind auch im 17. Jahrhundert gut belegt und im gesamten deutschsprachigen Gebiet verbreitet. Konjunktiv Perfekt II taucht tendenziell häufiger im Süden auf, Konjunktiv Plusquamperfekt II häufiger im Norden, im Mitteldeutschen sind beide Formen im Gebrauch (TOPALOVIĆ 2010, 189).

Als Besonderheit der doppelten Perfektbildungen im 17. Jahrhundert beobachtet TOPALOVIĆ (2010, 181) – im Gegensatz zu RÖDELS (2007) Beobachtungen im gegenwartssprachlichen Korpus – eine leichte Tendenz zum Vorkommen im Nebensatz, was sie veranlasst, von einer Verschiebung vom Gebrauch im Nebensatz zum Gebrauch im Hauptsatz zu sprechen. Auch sie sieht den Präteritumschwund nicht als Ursache des Vorkommens doppelter Perfektbildungen: Die Ergebnisse untermauern auch den Schluss, dass Perfekt II und Plusquamperfekt II nicht ursprünglich65 durch den sog. Präteritumschwund im Süddeutschen erklärt werden können [...], allerdings stehen sie im (Süd)deutschen – wie auch in zahlreichen weiteren europäischen Sprachen – in einer besonderen Beziehung zueinander (TOPALOVIĆ 2010, 189–190). 61 Kritik an der Präteritumschwundhypothese äußern die meisten Untersuchungen, jedoch arbeitet keine eine Alternative zu der sogenannten klassischen Hypothese heraus. Zum Umgang mit der Präteritumschwundhypothese in der Forschungsliteratur vgl. BUCHWALDWARGENAU (2012). 62 Sein-Bildungen werden nicht untersucht (vgl. TOPALOVIĆ 2010, 178). 63 Die doppelten Perfektbildungen waren bis dahin für die Literatursprache beginnend mit dem 18. Jahrhundert nachweislich belegt, vgl. LITVINOV / RADČENKO (1998). Aus früheren Jahrhunderten gab es nur einzelne Belege, z. B. bei LITVINOV / RADČENKO (1998, aus dem 15. Jahrhundert) oder in den älteren Grammatiken des Frühneuhochdeutschen sowie einzelne Belege bei OUBOUZAR (1974). 64 Somit gelten die hier besprochenen Aspekte auch für das folgende Kapitel 2.3.2.2. 65 Hervorhebung im Original.

2.3 Doppelte Perfektbildungen

61

Vielmehr sieht sie, ähnlich wie RÖDEL (2007), einen realistischeren Erklärungsansatz in der Grammatikalisierungsgeschichte des Perfekts (vgl. TOPALOVIĆ 2010, 189–195). Die temporale Umdeutung des ursprünglich aspektuellen Perfekts habe sowohl die Verdrängung des Präteritums (und Plusquamperfekts) als auch die Herausbildung der doppelten Perfektbildungen als „eindeutig aspektuelle Markierungen von abgeschlossener Vergangenheit oder Vorvergangenheit zum Perfekt und abgeschlossener Vorvergangenheit oder Vor-Vorvergangenheit in Bezug zum Plusquamperfekt“ verursacht (TOPALOVIĆ 2010, 191–192). HUNDT (2011) untersucht doppelte Perfektbildungen im Deutschen im Hinblick auf funktionale Gemeinsamkeiten und paradigmatische Unterschiede der Bildungen mit haben und sein und stellt fest: Am doppelten Perfekt lassen sich die grundsätzlichen Aufgaben von Tempora geradezu beispielhaft zeigen, diese Konstruktionen können ebenso überzeugend dazu herangezogen werden, die konzeptionelle Brücke zwischen Tempus und Aspekt zu verstehen (Raumsemantik); genauso sind solche Konstruktionen, wenn man nur einmal genauer auf die Verteilung der Auxiliare blickt, sehr gute Beispiele, syntaktische Reanalyseprozesse in statu nascendi zu studieren (HUNDT 2011, 1).

Um „syntaktisch niederfrequente und randständige Phänomene“ wie die doppelten Perfektbildungen (HUNDT 2011, 2) zu untersuchen, geht HUNDT von einer Korpusanalyse distanzsprachlicher gegenwartssprachlicher Texte aus66 und stellt fest, dass die Mehrzahl der Belege im Konjunktiv steht. Stellt man sich vor Augen, dass in allen drei untersuchten Korpora journalistische Texte den Schwerpunkt bilden, so ist das m. E. nicht verwunderlich. HUNDT (2011, 6) beobachtet frequent Lexikalisierungsphänomene67 (vor allem bei den sein-Bildungen) und stellt die These auf, es handle sich beim „vermeintlichen sein-DP(Q)F [Doppelperfekt und Doppelplusquamperfekt, Anmerkung der Verf.] nicht um ein doppeltes Perfekt [...], sondern um reanalysierte Kopulakonstruktionen bei telischen Verben“ (HUNDT 2011, 7). Diese These sieht er dadurch bestätigt, dass nur telische sein-Verben als doppelte Perfektbildungen vorkommen (HUNDT 2011, 18) und die 66 HUNDT wertet das „Archiv der geschriebenen Sprache“ des Instituts für deutsche Sprache Mannheim, das DWDS-Kernkorpus (Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache) und das Zeit-Korpus aus, die vorwiegend literarische, journalistische, fachsprachliche Texte und Gebrauchstexte enthalten. Lediglich das DWDS-Korpus enthalte auch transkribierte nähesprachliche Texte (ca. 5 Prozent, vgl. HUNDT 2011, 3). 67 Mit Lexikalisierungsphänomenen meint HUNDT (2011, 6–8) zu Redewendungen erstarrte Konstruktionen wie „abgesehen gehabt“, „geplant gehabt“, „verloren gehabt“, „verschwunden gewesen“, „erschrocken gewesen“, „verdient gehabt“. Allerdings wird nur „verdient gehabt“ nicht in die Analyse einbezogen, obwohl es abgesehen haben eher der Kategorie Lexikalisierungen zuzuordnen ist. Auch HENNIG (2000, 88–89) sortiert aus den von ihr untersuchten Belegen von LITVINOV / RADČENKO (1998) einige Redewendungen aus (es abgesehen haben, wie ausgestorben sein, verfallen sein), da diese in ihrer lexikalisierten Infinitivform schon ein Partizip II enthalten und so in die Wörterbücher aufgenommen sind. Die Beispiele, die HUNDT anführt, weisen lediglich eher eine Tendenz zur Lexikalisierung auf. Er spricht von Lexikalisierung aufgrund der hohen Vorkommensfrequenz dieser Formen (2011, 6), aber auch schon LITVINOV / RADČENKO (1998) stellen fest, dass gewisse Verben sehr doppelperfekt-affin sind.

62

2 Theoretische und terminologische Grundlagen

Typenvielfalt im Gegensatz zu den haben-Verben nicht sehr groß ist, einige Verben jedoch auffallend frequent als doppelte Perfektbildungen vorkommen (HUNDT 2011, 16).68 Ausgehend von LEISS (1992), die sein + Partizip II als Resultativum und nicht als Perfekt betrachtet, spricht HUNDT (2011, 18–19) den Bildungen aus sein + Partizip II + gewesen des Status doppelter Perfektbildungen ab, indem er eine „syntaktische Reanalyse einst perfektischer Konstruktionen“ als Kopulakonstruktionen annimmt. Die Kopulalesart ist laut HUNDT (2011, 20) der erste Schritt zur Lexikalisierung. Die „einheitliche prototypische Funktion“ der doppelten Perfektbildungen ist nach HUNDT (2011, 20) die „Markierung der Abgeschlossenheit eines zeitlich bereits situierten Verbalgeschehens. Dass damit auch zeitliche Bezüge impliziert sind [...], spricht nicht gegen die in erster Linie aspektuelle Bedeutung der doppelten Perfektform“. Diese Funktion werde nicht nur im Indikativ, sondern auch im Konjunktiv realisiert, wo die verloren gegangene temporale Situierung durch den Aspektmarker gehabt wieder verdeutlicht werden könne, was auch für die Kopulakonstruktion mit sein gelte (HUNDT 2011, 21). In ihrer Dissertation zu den doppelten Perfektbildungen untersucht BUCHWALD-WARGENAU (2012) Herausbildung, Gebrauch und Funktionen dieser Bildungen im Indikativ. Dabei greift sie für die Zeitspanne 15.–19. Jahrhundert vor allem auf distanzsprachliche Belege zurück, lediglich für das 17. und 20./21. Jahrhundert stehen ihr nähesprachliche Belege zur Verfügung. BUCHWALD-WARGENAUS Untersuchung schließt damit eine Lücke und bereichert die doppelte Perfektbildung-Forschung um die diachrone Perspektive. Ausgehend von der Feststellung, dass in vielen Untersuchungen zu den doppelten Perfektbildungen die Präteritumschwundhypothese als nicht ausreichend zur Erklärung der doppelten Perfektbildungen angesehen wird, jedoch außer den Ansätzen von RÖDEL (2007) und TOPALOVIĆ (2010) keine pertinenten Deutungsvorschläge gebracht werden, überprüft BUCHWALD-WARGENAU (2012, 43–104) beide Ansätze (Präteritumschwundhypothese und aspektuelle Hypothese) und gelangt zu dem Schluss, dass Temporalität und Aspektualität im Bereich der doppelten Perfektbildungen nicht getrennt werden können. Um die Bedeutungen der doppelten Perfektbildungen interpretieren zu können, untersucht sie zuerst den Gebrauch dieser Bildungen in distanz- und nähesprachlichen Texten (2012, 105–186). Die gewonnenen Ergebnisse lassen eine Deutung der doppelten Perfektbildungen als E vor R vor S bzw. als E1 vor E2 vor S zu, wobei entweder die temporale oder die aspektuelle Bedeutung vordergründig sein kann. ZYBATOW (2015) untersucht die doppelten Perfektbildungen aus einer anderen Perspektive, und zwar ausgehend von der doppelten Kategorisierung des Partizips II. Sie stellt die Ähnlichkeiten zwischen diesen Bildungen einerseits und dem Zustandspassiv sowie dem haben-Passiv andererseits heraus. So kommt sie zur Einsicht, dass bei unakkusativen Verben und Psych-Verben, deren Perfektpartizipien eine stärkere Tendenz zur adjektivischen Verwendung aufweisen (2015, 272–273), zwischen den doppelten Perfektbildungen mit sein und dem 68 Für verschwinden ermittelt HUNDT (2011, 16) 209 Belege.

2.3 Doppelte Perfektbildungen

63

Perfekt des Zustandspassivs Ambiguität herrscht und ist deshalb der Meinung, dass man sein + Partizip II + gewesen als Kopula-Prädikativ-Konstruktionen im Perfekt auffassen könne. Da das Partizip II beim haben-Passiv analog zum Zustandspassiv als Adjektiv aufgefasst werden kann, sieht ZYBATOW auch haben + Partizip II + gehabt als ambig: Sie erlauben eine eventive Interpretation (Auxiliar + verbales Partizip) und eine stative Interpretation (Kopula + adjektivisches Partizip). Ausgehend von der Tatsache, dass Doppelpartizip-Konstruktionen mit gewesen/gehabt zum grammatischen System des Deutschen gehören (Perfekt des Zustandspassivs und des haben-Passivs), äußert ZYBATOW (2015, 280–282) die Vermutung, dass die doppelten Perfektbildungen als Analogiebildungen durch die Reinterpretation des Perfekts der stativen Variante als doppelt gebildetes Perfekt der eventiven Variante auch auf solche Verben ausgeweitet wurden, die nur eine eventive Interpretation erlauben. Wie gezeigt werden konnte, sind die doppelten Perfektbildungen der geschriebenen deutschen Sprache gut erforscht. Mit der Untersuchung von LITVINOV / RADČENKO (1988) liegt eine ausführliche Beschreibung der doppelten Perfektbildungen der deutschen Literatursprache vor, die nachweisen konnte, dass die doppelten Perfektbildungen auch ein Phänomen der geschriebenen Sprache darstellen. Die Untersuchung RÖDELS (2007) bringt zum ersten Mal die aspektuelle Bedeutungskomponente der doppelten Perfektbildungen explizit ins Gespräch und bietet einen alternativen Ansatz zur Herausbildungshypothese doppelter Perfektbildungen. TOPALOVIĆ (2010) widmet sich der Erforschung doppelter Perfektbildungen in Hexenverhörprotokollen und ermittelt so eine der Hauptsphären der Verwendung konjunktivischer doppelter Perfektbildungen. Außerdem bekräftigt auch sie die innovative These RÖDELS zur Entstehung dieser Formen. BUCHWALD-WARGENAU (2012) schließt die bis dahin noch bestehende Lücke durch die diachronische Untersuchung der doppelten Perfektbildungen von den ersten Belegen bis zur Gegenwart sowohl in distanz- als auch in nähesprachlichen Texten. ZYBATOW (2015) erweitert die Analyse der doppelten Perfektbildungen um einen neuen Erklärungsansatz, den sie in der prädikativen Verwendungsweise des Partizips II sieht. 2.3.2.2 Doppelte Perfektbildungen in der gesprochenen Sprache Um ein adäquates Verständnis der im Rahmen dieses Kapitels behandelten Problematik zu gewährleisten, ist es notwendig, die hier verwendete Terminologie zu erklären und Zusammenhänge zu verdeutlichen. Die Differenzierung gesprochene vs. geschriebene Sprache beruht auf der medialen und konzeptionellen Dimension: Gesprochene Sprache ist im Idealfall medial phonisch und konzeptionell mündlich, geschriebene Sprache ist dagegen medial grafisch und konzeptionell schriftlich (vgl. KOCH / OESTERREICHER 1985, 17). Allerdings ist diese klare Differenzierung nur im Idealfall gewährleistet, da es auch schriftliche Texte gibt, die mündlich vorgetragen werden, sowie Niederschriften gesprochener Sprache. KOCH / OESTERREICHER (1985, 17–18) sprechen von der Existenz eines Kontinu-

64

2 Theoretische und terminologische Grundlagen

ums zwischen den konzeptionellen Polen gesprochen und geschrieben. Ausgehend von der konzeptionellen Dimension differenzieren KOCH / OESTERREICHER (1985, 20–21) zwischen Sprache der Nähe (konzeptionell gesprochen: Dialogizität, freier Sprecherwechsel, Vertrautheit der Sprecher, face-to-face-Interaktion, freie Themenentwicklung, keine Öffentlichkeit, Spontaneität, Situationsgebundenheit etc.) und Sprache der Distanz (konzeptionell geschrieben: Monologizität, kein Sprecherwechsel, Fremdheit der Kommunikationspartner, räumliche und zeitliche Trennung, festes Thema, Öffentlichkeit, Reflektiertheit, Situationsentbundenheit etc.). Je nach Kombination dieser Merkmale und der entsprechenden Versprachlichungsstrategien konstituiert sich das Kontinuum zwischen den Polen der maximalen Nähe und maximalen Distanz (vgl. KOCH / OESTERREICHER 1985, 23). Dass dieser Ansatz für die Erforschung der gesprochenen Sprache (mediale und konzeptionelle Mündlichkeit) grundlegend ist, ist unumstritten. Doch dieser Ansatz bietet auch die Möglichkeit, wenn nicht mediale, so doch zumindest konzeptionelle Mündlichkeit sprachhistorisch zu erforschen. In diesem Sinne wurde KOCH / OESTERREICHERS Ansatz von ÁGEL / HENNIG (2007) revidiert und operationalisiert, sodass auch aus sprachhistorischer Perspektive Aspekte der Mündlichkeit untersucht werden können. Es handelt sich dabei, wie bereits festgestellt, um Merkmale der konzeptionellen Mündlichkeit, die in konzeptionell nähesprachlichen Texten ermittelt werden.69 Wenn es also im vorliegenden Kapitel um die diachrone Untersuchung doppelter Perfektbildungen geht, sind nicht nähesprachliche70 Texte, sondern konzeptionell nähesprachliche Texte gemeint. Die Untersuchungen, die die doppelten Perfektbildungen wiederentdecken und ins Interesse der Forschung rücken, d. h. die Aufsätze von THIEL (1964)71, KLARE (1964) und APPUHN (1966), stellen die doppelten Perfektbildungen des Deutschen in Zusammenhang mit den französischen temps surcomposés und ordnen sie der gesprochenen Sprache zu,72 in der eine „rapide Zunahme des doppelt zusammengesetzten Perfekts und Plusquamperfekts“ zu beobachten sei (APPUHN 1966, 237). Temporal werden diese Formen als Vor-Vorvergangenheit gedeutet (vgl. THIEL 1964, 85). Eine nicht nur temporale Deutung der doppelten Perfektbildungen schlägt KLARE (1964, 119) vor, der bemerkt, dass durch diese Formen „ein in der Vergangenheit abgeschlossenes, vollendetes Ereignis wiedergegeben wird“. Er kommt zur Schlussfolgerung: „Bei der Erhellung dieser Vorgänge spielen Tempus und Aspekt gleichermaßen eine Rolle“ (KLARE 1964, 119). Eine systematische Untersuchung der doppelten Perfektbildungen in der gesprochenen Sprache wird allerdings lange nicht ernsthaft in Erwägung gezogen. 69 Zur ausführlichen Beschreibung des Modells und des Analyseverfahrens siehe ÁGEL / HENNIG (2007). 70 Nähesprache wird als Synonym für gesprochene Sprache verwendet. 71 Bei THIEL (1964, 83) werden die doppelten Perfektbildungen vierte und fünfte Vergangenheit genannt und für das Ober- und Mitteldeutsche belegt. 72 APPUHN (1966, 238) ist der Meinung, dass diese Formen in der Schriftsprache „rar“ seien, KLARE (1964, 116) räumt jedoch ein, dass sie auch „Eingang in die literarischen Werke“ gefunden haben.

65

2.3 Doppelte Perfektbildungen

Die doppelten Perfektbildungen werden zwar als Phänomen der gesprochenen Sprache gewertet, belegt werden sie aber immer anhand von Beispielen aus der Literatur. Lediglich im Rahmen einer Magisterarbeit werden 1978 erste Annäherungen an dieses Phänomen gewagt und eine Sammlung von 50 gesprochensprachlichen Belegen angelegt.73 Auf diesen Missstand weist HENNIG (2000) hin und widmet sich der Erforschung gesprochensprachlicher (nähesprachlicher bzw. konzeptionell nähesprachlicher) Belege. Folgende Tabelle veranschaulicht die Situation der Erforschung doppelter Perfektbildungen in gesprochener Sprache. Untersuchungsgegenstand

Deutung

HENNIG (2000)

Doppelperfekt Indikativ

temporal stilistisch sprachökonomisch

BUCHWALD (2005a)

Doppelperfekt Indikativ Doppelplusquamperfekt Indikativ

temporal stilistisch sprachökonomisch

AMMANN (2005)

Doppelperfekt Indikativ Doppelplusquamperfekt Indikativ Doppelplusquamperfekt Konjunktiv

temporal (Ansatz: aspektuell)

RÖDEL (2007)

Doppelperfekt Indikativ Doppelplusquamperfekt Indikativ Doppelperfekt Konjunktiv Doppelplusquamperfekt Konjunktiv

aspektuell

BUCHWALDWARGENAU (2012)

Doppelperfekt Indikativ Doppelplusquamperfekt Indikativ

temporal aspektuell

ZYBATOW (2015)

Doppelperfekt Indikativ Doppelplusquamperfekt Indikativ

Kopulakonstruktion im Perfekt

Tabelle 3: Untersuchung der doppelten Perfektbildungen in der gesprochenen Sprache

HENNIG (1999, 98) stellt fest, dass die „die größten Defizite bezüglich der DPF“ im „Bereich der gesprochenen Sprache liegen“ und befasst sich aufgrund einer Umfrage mit der „Wirkung der DPF auf die Sprachbenutzer“ (1999, 94). Nach Auswertung ihrer Fragebogen wird ersichtlich, dass „DPF im Deutschen weder grundsätzlich akzeptiert noch prinzipiell abgelehnt werden“ und dass Akzeptanz und Nichtakzeptanz dieser Bildungen von Form, Verb und Kontext abhängen (HENNIG 1999, 105). Es stellt sich heraus, dass indikativische doppelte Perfektbildungen häufig als Normverstoß74 angesehen werden, während konjunktivische 73 Die in dieser Kölner Magisterarbeit angeführten und diskutierten Belege werden erstmals bei LITVINOV / RADČENKO (1998, 237–239) veröffentlicht. Auch HENNIG (2000) bezieht sich auf diese erste Sammlung gesprochensprachlicher Belege. 74 Die von HENNIG (1999, 96) aufgestellte Hypothese, dass eine sprachliche Erscheinung, „die im Regelwissen des Sprachträgers nicht existiert“, weil es die „traditionelle grammatische Normsetzung“ ausklammert, als regelwidrig empfunden wird, konnte demnach bestätigt

66

2 Theoretische und terminologische Grundlagen

eher akzeptiert werden (HENNIG 1999, 102). Im Unterschied zu den Grammatiken würden die Sprachbenutzer die doppelten Perfektbildungen „unter bestimmten Bedingungen als Tempusformen“ anerkennen, trotz Unsicherheiten bezüglich ihrer Einordnung in das Tempussystem (HENNIG 1999, 105). HENNIG (2000) kommt zu dem Schluss, dass die von LITVINOV / RADČENKO (1998) ermittelten Funktionen der doppelten Perfektbildungen typisch für die geschriebene Sprache seien, während für die gesprochene Sprache vor allem Ersatzfunktionen kennzeichnend seien, und zwar einfache Vergangenheit und Vorvergangenheit: Der Gebrauch von DPF in der geschriebenen und gesprochenen Sprache unterscheidet sich dadurch, dass die DPF in der geschriebenen Sprache häufig besondere Funktionen erfüllen, die andere Vergangenheitstempora nicht übernehmen können; kennzeichnend für die gesprochene Sprache dagegen ist der Gebrauch als einfaches Vergangenheitstempus oder Tempus zur Bezeichnung von Vorvergangenheit, also synonym zu Perfekt und Präteritum bzw. Plusquamperfekt (HENNIG 2000, 88).

Anhand der durchgeführten Korpusanalyse gelangt sie zur Erkenntnis, dass im Gesprochenen häufiger das Doppelperfekt verwendet wird, im Geschriebenen dagegen häufiger das Doppelplusquamperfekt. Es seien „klare Registerunterschiede zu verzeichnen“ (HENNIG 2000, 97): Während der Gebrauch der DPF im geschriebenen Deutsch durch feste Regeln geprägt ist, erscheint der Einsatz einer DPF (meistens Perfekt II) im Gesprochenen häufig willkürlich – zumindest lässt sich zu diesem Zeitpunkt noch nicht für alle Belege ein eindeutiger Grund für den Einsatz dieser Form bestimmen. Im Geschriebenen werden die DPF verwendet, wenn die anderen Vergangenheitstempora die jeweilige Bedeutung nicht ausdrücken können; im Gesprochenen dagegen wären die DPF in den meisten Fällen durch andere Tempora austauschbar (HENNIG 2000, 97).

Der Grund, der dafür genannt wird, ist die Spontaneität – ein Kennzeichen der gesprochenen Sprache – die es nicht erlaubt, „dass ein Sprecher eine so komplexe Bedeutung wie die Vorvorvergangenheit durch Tempusformen realisieren würde“ (HENNIG 2000, 98). In der geschriebenen Sprache dagegen werden Tempusformen „bewusster gewählt“ (HENNIG 2000, 98). HENNIG stellt einen Zusammenhang zwischen der Verwendung des Doppelperfekts als Vorvergangenheitstempus in der gesprochenen Sprache und der durch den Präteritumschwund verursachten Verschiebung im Tempussystem her: Dieser Gebrauch des Perfekt II steht im engen Zusammenhang mit der (nicht nur oberdeutschen!) Bedeutungsverschiebung des Plusquamperfekt vom Tempus zur Bezeichnung der Vorzeitigkeit zu einer Form, die – häufig austauschbar mit Perfekt oder Präteritum – einfache Vergangenheit ausdrückt. Die dadurch entstandene Lücke schließt das Perfekt II (HENNIG 2000, 82).

Wie sie bemerkt, wird nicht nur das Perfekt, sondern auch das Plusquamperfekt im Mündlichen häufig zum Erzähltempus umfunktioniert, das einfache Verwerden. Zur sprachlichen Stigmatisierung durch die Grammatiken vgl. LANGER (2001) und DAVIES / LANGER (2006).

2.3 Doppelte Perfektbildungen

67

gangenheit ausdrückt. Zur Bezeichnung der Vorvergangenheit stehen dem Sprecher somit Doppelperfekt und Doppelplusquamperfekt zur Verfügung (HENNIG 2000, 97). Auch BUCHWALD (2005a) findet die Bedeutung der einfachen Vergangenheit vermehrt in ihrer Untersuchung zu nähesprachlichen doppelten Perfektbildungen: Somit ist der hauptsächliche Unterschied zwischen gesprochen- und geschriebensprachlichem Perfekt II-Gebrauch darin zu sehen, dass Perfekt II in der GSPS [gesprochene Sprache, Anmerkung der Verf.] häufig als einfaches Vergangenheitstempus Verwendung findet. Perfekt II in der Bedeutung E vor S ist dabei in allen vorliegenden Fällen austauschbar mit Perfekt und Präteritum (BUCHWALD 2005a, 51).

Sowohl Doppelperfekt als auch Doppelplusquamperfekt werden als einfache Vergangenheit (E vor S) und Vorvergangenheit (E vor R vor S) gedeutet. BUCHWALD (2005a) stellt jedoch fest, dass nicht für alle doppelten Perfektbildungen mit Vorvergangenheitsbedeutung die Relation E vor R vor S zutrifft, da oft zwischen den vorkommenden Ereignissen eigentlich keine Referenz-Relation besteht, sondern die Ereignisse lediglich nacheinander stattfinden, ohne dass das eine die Referenzzeit für das andere darstelle. So modifiziert BUCHWALD (2005a, 47) die Relation E vor R vor S zu: E1 vor E2 vor S. In den untersuchten Belegen erweist sich laut BUCHWALD eine rein temporale Deutung nicht immer als zufrieden stellend: Dabei tritt deutlich zutage, dass Perfekt II und Plusquamperfekt II in der GSPS Leistungen erbringen, zu denen auch andere Vergangenheitstempora befähigt sind – sie füllen keine Lücken im System, sondern sind in den meisten Fällen austauschbar mit Perfekt, Präteritum oder Plusquamperfekt. Eine Begründung aus temporaler Perspektive für die Nutzung von Perfekt II und Plusquamperfekt II zu finden, fällt daher für die GSPS schwer (BUCHWALD 2005a, 53).

Daher versucht sie, die Verwendung der doppelten Perfektbildungen durch „nichttemporale Motive“ zu erklären und führt in Anlehnung an HENNIG (2000) ökonomische und stilistische Gründe an, die die Verwendung von doppelten Perfektbildungen determinieren könnten (BUCHWALD 2005a, 53–55). In Anlehnung an HENNIG (2000) bietet auch AMMANN (2005) eine temporale Deutung doppelter Perfektbildungen in der gesprochenen Sprache, doch weist er darauf hin, dass die Bedeutungskomponente „nicht mehr anhaltender Zustand“ bei der Verwendung von doppelten Perfektbildungen deutlich in Erscheinung tritt (AMMANN 2005, 263). Explizit von aspektueller Bedeutung spricht er jedoch nur im Falle der literatursprachlichen Verwendung der doppelten Perfektbildungen 2005, 266). Es lässt sich nach RÖDEL (2007, 138) die Tendenz beobachten, im mündlichen Gebrauch der doppelten Perfektbildungen, im Gegensatz zum schriftlichen, die Perfektivität stärker als die temporale Lokalisierung zu betonen, d. h. das Potenzial der doppelten Perfektbildungen wird nicht im Mündlichen, sondern im Schriftlichen voll ausgeschöpft. Auch wenn doppelte Perfektbildungen (vor allem Doppelperfekt) im Mündlichen temporal oft als einfache Vergangenheit zu interpretieren seien, so gibt es nach RÖDEL einen Grund für die Verwendung dieser Formen. Ausgehend von einem Beleg von BUCHWALD (2005a) führt er aus:

68

2 Theoretische und terminologische Grundlagen Das Doppelperfekt dient der deutlichen Markierung des Umstandes, dass der Sprecher heute nicht mehr arbeitet bzw. zwischen dem geschilderten Zeitpunkt und dem Sprechzeitpunkt eine gewisse Zeit nicht gearbeitet hat. Man könnte also von einer Außenperspektivierung des Ereignisses noch arbeiten sprechen (RÖDEL 2007, 90).

Dabei verweist er auf die Interpretation von AMMANN (2005, 263) und den von diesem beobachteten „nicht mehr anhaltenden Zustand“. Die Präteritumschwundhypothese als Erklärung für die Verwendung der doppelten Perfektbildungen widerlegt RÖDEL (2007) anhand der Untersuchung von GERSBACH (1982) zum Oberdeutschen und MAIWALD (2002) zum Mittelbairischen, wo neben doppeltem Perfekt auch Plusquamperfekt verzeichnet wurde und auch das Präteritum von sein lebendig ist. Auch Belege aus der Literatur untermauern diese Tatsache (vgl. RÖDEL 2007, 91–93). Die Bedeutung der Vor-Vorvergangenheit, die vor allem dem Doppelplusquamperfekt zugeschrieben wurde, ermittelt RÖDEL (2007, 98) bei keinem der mündlichen und konzeptionell mündlichen Belegen und konstatiert, „dass lediglich die Verfügungsgewalt über das Potential charakteristisch für diese Form“ sei. Doppelperfektbildungen im Konjunktiv sind nach RÖDEL (2007, 99) gelegentlich auch im Gesprochenen anzutreffen, lassen sich aber ebenso wie indikativische Doppelperfektbildungen als „Außenperspektivierung“, d. h. auch aspektuell und nicht nur temporal deuten. Trotzdem räumt er ein, dass die doppelten Perfektbildungen über das Potenzial verfügen, „einen zeitlichen Rückgriff gegenüber dem Ausgangstempus zu ermöglichen“ (RÖDEL 2007, 105). Das sei der Fall, wenn das Perfekt – wie im Oberdeutschen und im mündlichen Gebrauch – zum Erzähltempus wird und Doppelperfekt Vorzeitigkeit markiert. Ebenfalls könne dies eintreten, wenn im Konjunktiv mithilfe einer doppelten Perfektbildung „eine chronologische Staffelung der Ereignisse“ (RÖDEL 2007, 105) zum Ausdruck gebracht werden müsse. Als Verwendungen der doppelten Perfektbildungen – sowohl im Mündlichen als auch im Schriftlichen – ermittelt RÖDEL (2007, 120– 138) folgende: schnelle Vollendung, stilistische Gründe, Ereignis-Folge-Beziehungen, Ersatz des Plusquamperfekts, obligatorisches Auftreten im Konjunktiv,75 Perfektivität, Abschluss und Außenperspektive. Vor allem für das Mündliche seien oft zu Unrecht redundant genannte Verwendungsweisen der doppelten Perfektbildungen zu verzeichnen, d. h. Situationen, in denen das „Doppelperfektpartizip gesetzt wird, um eine gewisse Komponente der Aussage nochmals zu betonen oder sicherzustellen“ (RÖDEL 2007, 127). Eine temporale Motivation der Verwendung von doppelten Perfektbildungen sei in diesen Fällen nicht denkbar, der Sprecher scheine sie unbewusst und zur Verdeutlichung zu konzipieren (vgl. RÖDEL 2007, 127). Auch ist RÖDEL der Meinung, dass Äußerungen, in denen doppelte Perfektbildungen anstelle der zu erwartenden „normalen“ Tempora verwendet werden, „[...] mehr über jene Intention [verraten], die der Sprecher bei der Konzeption einer Äußerung verfolgt“ (RÖDEL 2007, 128): Der Sprecher habe die Intention, die Verbalsituation „außenperspektivisch-perfektiv“ zu markieren, d. h. „der semantische Fokus liegt dabei auf deren Charakterisierung als ganzheitlich, abgeschlossen und somit von außen in den Blick zu nehmen“ (RÖDEL 2007, 128– 75 Belegt bei RÖDEL (2007, 132–133) vor allem durch Literaturbelege und Zeitungsbelege.

2.3 Doppelte Perfektbildungen

69

129). Eine solche Erklärung sei laut RÖDEL (2007, 129) durch die temporale Brille nicht zu leisten, sondern nur durch die aspektuelle Interpretation der doppelten Perfektbildungen. Das Verdienst RÖDELS bei der Erarbeitung einer plausiblen Alternative zur Entstehung der doppelten Perfektbildungen unterstreicht auch BUCHWALD-WAR76 GENAU (2010, 227; 2012, 57). Sie geht der Entstehung der doppelten Perfektbildungen nach und untersucht anhand eines konzeptionell nähesprachlichen historischen Korpus beide in der Forschungsliteratur formulierten Herausbildungshypothesen: die traditionelle Präteritumschwundhypothese und die „innovative“ Aspekthypothese (BUCHWALD-WARGENAU 2010, 227). Nach Überprüfung der Präteritumschwundhypothese stellt sie fest: „Der Präteritumschwund kann [...] nicht (alleinige) Entstehungsursache der doppelten Perfektbildungen sein“ (BUCHWALD-WARGENAU 2010, 227). Was Gebrauch und Funktionen der doppelten Perfektbildungen in historischen konzeptionell mündlichen Texten und in der gesprochenen Gegenwartssprache betrifft, so werden diese kontrastiv zu Gebrauch und Funktionen der distanzsprachlichen doppelten Perfektbildungen für jene Zeitabschnitte untersucht, für die es sowohl distanz- als auch nähesprachliche Belege gibt (17. und 20./21. Jahrhundert, vgl. BUCHWALD-WARGENAU 2012). Für das 17. Jahrhundert ermittelt nähesprachliche Belege mittel- und oberdeutscher Herkunft und stellt fest, dass das Doppelperfekt häufiger als das Doppelplusquamperfekt auftritt, wobei afinite Konstruktionen die Mehrheit der nähesprachlichen historischen Belege ausmachen (vgl. BUCHWALD-WARGENAU 2012, 132). Es werden für diese nähesprachlichen Belege keine von den distanzsprachlichen Belegen abweichende Gebrauchspräferenzen festgestellt, lediglich das „häufige Vorkommen in Belegkontexten ohne Adverbiale und Junktoren“ wird als typisch hervorgehoben (BUCHWALD-WARGENAU 2012, 133).77 Den Unterschied im Gebrauch von Doppelperfekt und Doppelplusquamperfekt in den nähe- bzw. distanzsprachlichen Belegen erklärt sie durch die allmähliche Etablierung der Schriftsprache. Für das 20./21. Jahrhundert gilt laut BUCHWALD-WARGENAU, was für das 17. Jahrhundert ansatzweise beobachtet werden konnte: Unter den nähesprachlichen Belegen dominieren die Doppelperfektbelege (vgl. 2012, 147), was den bisherigen Forschungserkenntnissen (LITVINOV / RADČENKO 1998, 16; HENNIG 2000, 92; BUCHWALD 2005a, 42) entspricht. Auffällig findet BUCHWALD-WARGENAU (2012, 152–153) das Auftreten bestimmter Temporaladverbiale wie schon oder „schon + x“ und den Gebrauch von dann in nähesprachlichen Belegen. Ebenfalls typisch für den Gebrauch nähesprachlicher doppelter Perfektbildungen ist nach BUCHWALD-WARGENAU (2012, 155) ihr Vorkommen als absoluter Typ. So wie 76 Die Ergebnisse von BUCHWALD-WARGENAU (2010) sind in BUCHWALD-WARGENAU (2012) enthalten. 77 Laut BUCHWALD-WARGENAU (2012, 134) beträgt der Nähesprachlichkeitswert der untersuchten Texte zwischen 20 und 40 Prozent, sodass aus der Analyse nicht zu schlussfolgern sei, dass es zwischen dem Gebrauch der nähe- und distanzsprachlichen doppelten Perfektbildungen im 17. Jahrhundert kaum Unterschiede gegeben habe.

70

2 Theoretische und terminologische Grundlagen

schon HENNIG (2000) beobachtet hatte, stellt auch sie das gehäufte Vorkommen von doppelten Perfektbildungen in manchen Belegen fest sowie die Präferenz für die Verwendung im Hauptsatz (vgl. 2012, 156). Was die sein-Belege betrifft, so vermerkt BUCHWALD-WARGENAU (2012, 184), dass die ermittelten doppelten Perfektbildungen mit sein meist auch als Kopulakonstruktionen oder Zustandspassiv interpretiert werden können. Bei der Bedeutungsanalyse geht BUCHWALDWARGENAU (2012) von den in BUCHWALD (2005a) festgelegten Relationen E vor R vor S und E1 vor E2 vor S aus, wodurch sie ermitteln konnte, ob „neben der zugrunde gelegten temporalen Vergangenheitsbedeutung E vor R weitere temporale bzw. aspektuelle Bedeutungszüge“ auftreten (BUCHWALD-WARGENAU 2012, 213). Dabei modelliert sie temporale Bedeutungen als Vor-Relation und aspektuelle Bedeutungen als Abgeschlossen-Relation und ermittelt Folgendes: Die Bedeutung der haben-Doppelperfektbildungen hat sich vielmehr als Paradebeispiel für die enge Verflechtung von Temporalität und Aspektualität auf Vergangenheitsebene erwiesen. Zudem konnte festgestellt werden, dass die jeweilige Bedeutungskonstituierung des Phänomens als temporal-aspektuell, primär temporal oder primär aspektuell eine starke Kontextabhängigkeit aufweist. Der durch die haben-Bildung geleistete Rückgriff kann temporale und aspektuelle Züge tragen, wobei je nach Kontext die eine oder die andere Bedeutung stärker in den Vordergrund tritt. Es scheint nicht gerechtfertigt, die haben-Doppelperfektbildungen einer dieser Kategorisierungen zuzuschlagen (BUCHWALD-WARGENAU 2012, 214).

Für die sein-Belege werden ähnliche Bedeutungen ermittelt, wobei die meisten Belege sowohl eine temporale als auch eine aspektuelle Lesart erlauben (vgl. BUCHWALD-WARGENAU 2012, 227). Im absoluten Gebrauch stellt BUCHWALDWARGENAU (2012, 228) den „Verlust des Rückgriffcharakters“ fest, d. h. die Verwendung der doppelten Perfektbildungen in der Bedeutung der einfachen Vergangenheit: In der Bedeutungsanalyse ließ sich vor dem Hintergrund der angewandten Methode keine Bedeutung als grundsätzlich vordergründig nachweisen. Vielmehr hat sich die Etablierung von temporaler und/oder aspektueller Bedeutung in Doppel(plusquam)perfektkontexten als in hohem Maße kontextabhängig erwiesen. Klar herausgestellt werden konnte der Rückgriffscharakter relativer doppelter Perfektbildungen (Rückgriff von E1 hinter E2) sowie die Verortung absoluter doppelter Perfektbildungen auf einfacher Vergangenheitsebene (E vor R). Die Ausgestaltung des Verhältnisses von E1 zu E2 bei relativen Bildungen sowie von E zu R bei absoluten Bildungen hingegen stellt eine Leistung dar, die dem Kontext zuzusprechen ist (BUCHWALD-WARGENAU 2012, 229).

Somit plädiert BUCHWALD-WARGENAU (2012, 231) dafür, aspektuelle und temporale Bedeutungen nicht strikt voneinander zu trennen, da sie miteinander verflochten seien. Die doppelten Perfektbildungen können nicht entweder als Aspekt oder als Tempus interpretiert werden, sondern erlauben meist eine sowohl-alsauch-Interpretation. Ausgehend von einigen gesprochensprachlichen Belegen RÖDELS (2007) und von der in der Forschungsliteratur bereits öfter geäußerten Beobachtung, dass in der gesprochenen Sprache doppelte Perfektbildungen scheinbar unmotiviert häufig als Erzähltempus vorkommen, interpretiert ZYBATOW (2015) die doppelten Perfektbildungen als Analogiebildungen zum Perfekt des Passivs (Zustands- und

71

2.3 Doppelte Perfektbildungen

haben-Passiv). BUCHWALD-WARGENAU (2012) hatte bereits festgestellt, dass die sein-Bildungen entweder als Kopulakonstruktionen oder als Zustandspassiv interpretiert werden können. Diese Beobachtung macht ZYBATOW (2015) auch im Falle der haben-Bildungen: Das Partizip II des Vollverbs werde in den doppelten Perfektbildungen als adjektivisch interpretiert, sodass die sie enthaltenden Verbalkomplexe als Perfekt zu werten seien. Die Erforschung der doppelten Perfektbildungen in der gesprochenen Sprache bzw. in historischen nähesprachlichen Texten hat eine entscheidende Wende in der Auffassung dieser Formen bewirkt. Es konnte anhand von empirischen Untersuchungen nachgewiesen werden, dass die doppelten Perfektbildungen keineswegs – wie in der früheren Forschung angenommen – dialektale oder diatopische Erscheinungen sind, sondern in allen deutschsprachigen Gebieten vorkommen. Außerdem wurde nachgewiesen, dass die nähesprachlichen doppelten Perfektbildungen keine so differenzierten Zeitstufen wie in der geschriebenen Sprache ausdrücken (vgl. HENNIG 2000; BUCHWALD 2005a). Als Gemeinsamkeit näheund distanzsprachlicher doppelten Perfektbildungen gilt, dass keine Trennung zwischen aspektueller und temporaler Bedeutung vorgenommen werden kann (vgl. BUCHWALD-WARGENAU 2012). 2.3.2.3 Doppelperfektbildungen in deutschen Mundarten Wie bereits unter 2.3.1 ausgeführt, beziehen sich die ältesten Erwähnungen der doppelten Perfektbildungen in den Grammatiken des Frühneuhochdeutschen auf Bildungen, die vorwiegend in oberdeutschen Mundarten erscheinen. Erklärt werden diese Formen als Kompensationsformen für das Plusquamperfekt auf dem Hintergrund der Präteritumschwundtheorie. Auch in der Forschungsliteratur erscheint diese Begründung häufig, wenn auch in manchen Arbeiten Kritik an diesem Erklärungsansatz geäußert wird (vgl. BUCHWALD-WARGENAU 2010, 57– 64). Dass es sich bei den doppelten Perfektbildungen nicht nur um oberdeutsche und mitteldeutsche Besonderheiten handelt, steht heute außer Zweifel: Untersuchungen zu den doppelten Perfektbildungen im geschriebenen und gesprochenen Deutsch haben das hinlänglich bewiesen (vgl. 2.3.2.1 und 2.3.2.2). Folgende Tabelle soll einen Überblick über die Erforschung der doppelten Perfektbildungen in den deutschen Mundarten und deren Deutung bieten: Mundart

Untersuchungsgegenstand

Deutung

LINDGREN (1963)

Oberdeutsch

Doppelperfekt Indikativ

temporal

THIEL (1964)

Oberdeutsch Mitteldeutsch

Doppelperfekt Indikativ Doppelplusquamperfekt Indikativ

temporal

TRIER (1965)

Oberdeutsch

Doppelperfekt Indikativ

temporal

SEMENJUK (1981)

Oberdeutsch

Doppelperfekt Indikativ

temporal

72

2 Theoretische und terminologische Grundlagen Mundart

Untersuchungsgegenstand

Deutung

GERSBACH (1982)

Oberdeutsch

Doppelperfekt Indikativ

temporal

ȘANDOR (2002)

Banatdeutsch (Oberdeutsch, Westmitteldeutsch)

Doppelperfekt Indikativ Doppelplusquamperfekt Indikativ

temporal

MAIWALD (2002)

Oberdeutsch (Mittelbairisch)

Doppelperfekt Indikativ

aspektuell

BRANDT (2008)

Russlanddeutsch (Oberdeutsch)

Doppelperfekt Indikativ

temporal

Oberdeutsch (Alemannisch)

Doppelperfekt Indikativ

BRANDNER / SALZMANN / SCHADEN (2016)

Doppelplusquamperfekt Indikativ intervallbasiert temporal aspektuell

Tabelle 4: Untersuchung der mundartlichen doppelten Perfektbildungen

Obwohl schon früh als mundartliche Besonderheit des Oberdeutschen abgestempelt, wurden die doppelten Perfektbildungen in der Mundartforschung wenig beachtet. So findet man solche Formen meist in den Tempuskapiteln syntaktischer oder morphologischer Studien unterschiedlicher ober- und mitteldeutscher Varietäten als Umschreibungen für das als Folge des Präteritumschwundes nicht mehr bildbare Plusquamperfekt. Allerdings werden sie meist nur beiläufig erwähnt und nicht näher beschrieben. So heißt es z. B. in der Beschreibung des Stuttgarter Schwäbisch: „Doppelperfekt“: /han (sae)/+ 2. Partizip + /ghed (gvɛ̅)/ Es kennzeichnet die „Vorvergangenheit“ (FREY 1975, 144).

Es folgen dann jeweils ein Beispiel für Doppelperfekt mit haben und sein im Indikativ, später, bei der Behandlung der entsprechenden Kategorisierungen je ein Beispiel im Konjunktiv I, Konjunktiv II und „modifizierende[n] Modalgruppen“ (FREY 1975, 147), sowie im Passiv, mit der Anmerkung, dass solche Formen im Passiv theoretisch möglich sind, jedoch in der Praxis meist nicht verwendet werden (FREY 1975, 148). Ein weiteres Beispiel sei für eine ostmitteldeutsche Mundart angeführt: [...] daß nur sieben Verben ein Imperfekt bilden. Darunter ist auch s ei n, nicht aber ha b en. Das ist auch der Grund, weshalb das Plusquamperfekt nicht vorkommt. Es wird durch das vollendete Perfekt ersetzt: wie mǝ hı̅kumą sęn, håm są groud gąsn ghoud (Als wir hingekommen sind, hatten sie gerade gegessen). wi sǝ ną gǝwåšn hod ghoud, isǝ nąen kulnkåsdn gǝråedǝd (Als sie ihn gewaschen hatte, ist er in den Kohlenkasten geklettert). Belege für diese Art der Umschreibung gibt es erst seit dem 15. Jahrhundert. Früher sind sie recht selten (SPERSCHNEIDER 1959, 37).

In seiner Mundartkunde weist SCHIRMUNSKI (1962, 491) darauf hin, dass in vielen Mundarten, in denen das Präteritum zwar erhalten ist, dieses tatsächlich selten

2.3 Doppelte Perfektbildungen

73

gebraucht wird und oft vom Perfekt ersetzt wird. Wo das der Fall sei, werde auch das Plusquamperfekt ersetzt: Wo die einfache Vergangenheitsform der Hilfsverben fehlt, wird das Plusquamperfekt entsprechend mit Hilfe der zusammengesetzten Vergangenheitsform des Hilfsverbs gebildet: ich habe gehabt in der Bedeutung ‘ich hatte’, ich bin gewesen in der Bedeutung ‘ich war’. Vgl. z. B. südfrk. [...] i habs-m̥ gęwe khat ‘ich hatte es ihm gegeben’ (wörtlich: ‘ich habe es ihm gegeben gehabt’); nr iš šo kšdorewe gwęst ‘er war schon gestorben’ (wörtlich: ‘er ist schon gestorben gewesen’) (SCHIRMUNSKI 1962, 575).

Er bemerkt, dass das Perfekt das Präteritum als einfache Vergangenheitsform auch im Niederdeutschen vielfach verdrängt hat (vgl. SCHIRMUNSKI 1962, 575). LINDGREN (1963) sieht einen direkten Zusammenhang zwischen dem von ihm untersuchten Präteritumschwund78 und der Herausbildung der doppelten Perfektbildungen: Im Oberdeutschen schlug die Entwicklung jedoch andere Bahnen ein. Hier ging im 15./16. Jh. das Präteritum verloren, und es ergab sich zunächst wieder eine Zweigliederung, die freilich sehr bald mit einer nochmaligen Umschreibung, dem sog. doppelten Perfekt, ergänzt wurde, so dass ein dreigliedriges Schema aufzustellen ist: er nimmt

er hat genommen

er hat genommen gehabt (LINDGREN 1963, 274).

Er stellt fest, dass im Oberdeutschen die grammatische Kategorie Präteritum vollständig aufgegeben sei und die Hauptverben keine Form mehr bilden können, die die zeitliche Opposition zum Präsens ausdrücke, sodass diese Opposition immer mithilfe der Hilfsverben ausgedrückt werden müsse. Somit sei im Oberdeutschen ein vollständiger Übergang zum analytischen Formenbau zu vermerken, im Gegensatz zum Mitteldeutschen, das bei einigen Verben – den Hilfsverben und „allerhäufigsten“ Verben – Präteritalformen bewahrt habe (vgl. LINDGREN 1963, 275).79 Der Schwund des Präteritums habe jedoch nicht das Aufgeben der entsprechenden grammatischen Kategorie bewirkt, sondern eine andere Rollenverteilung im Tempussystem (vgl. LINDGREN 1963, 273). „Doppelte Umschreibungen“ im Konjunktiv hält LINDGREN (1963, 278) zwar für möglich, nimmt jedoch an, dass sie in der Praxis kaum vorkommen würden. Ein Doppelplusquamperfekt wird überhaupt nicht erwähnt. Auch TRIER (1965, 201) erklärt das „Ultraperfectum“ vor dem Hintergrund des Präteritumschwundes in den oberdeutschen Mundarten und der so entstandenen Notwendigkeit, das Plusquamperfekt zu ersetzen: Wenn man erzählendes Perfekt als süddeutsche Weise zugibt, dann muß man einsehen, daß ein solcher Erzähler im Rückblick aus dem Kreuzungspunkt seines Erzähltempus noch ein Tempus braucht, das die Leistung übernimmt, die beim Rückblick vom hochsprachlichen Imperfekt aus das hochsprachliche Plusquamperfekt zu erfüllen hat. Es bleibt ihm nichts übrig,

78 Vgl. LINDGREN (1957). 79 Vgl. dazu SCHIRMUNSKI (1962, 490), der ober- und mitteldeutsche Mundarten und die darin noch erhaltenen Präteritalformen anführt. Daraus wird ersichtlich, dass die meisten Mundarten zumindest das Präteritum von sein bewahrt haben. Zum Präteritumschwund in den unterschiedlichen Mundarten siehe auch ROWLEY (1983).

74

2 Theoretische und terminologische Grundlagen als hinter dem Perfekt ein zweites, gesteigertes Perfekt, ein doppeltes Perfekt, eben ein Ultraperfekt, aufzubauen (TRIER 1965, 201).

Die Meinung, dass die doppelten Perfektbildungen lediglich Kompensationsformen für das im Zuge des Präteritumschwundes weitgehend mitgeschwundene Plusquamperfekt seien, vertritt auch SEMENJUK (1981, 30), da ihr Belege aus denselben Gebieten vorliegen, in denen der Schwund des Präteritums verzeichnet wird. GERSBACH (1982) untersucht das oberdeutsche80 Tempussystem und stellt in Bezug auf das Doppelperfekt fest, dass [...] das dopp.Perf. ganz überwiegend mit Referenz auf ‘Vorvergangenheit’ verwendet wird, die Referenz auf ‘Vergangenheit’ spielt demgegenüber kaum eine Rolle [...] (GERSBACH 1982, 226).

Auch er weist auf den Präteritumschwund hin und interpretiert das Doppelperfekt als Plusquamperfektersatz: Sowohl dopp.Perf. als auch Pl.perf referieren auf ‘Vorvergangenheit’ und ‘Vergangenheit’ [...] Das dopp.Perf. fungiert im Untersuchungsgebiet demnach zumeist als Ersatz für das außerordentlich selten gebrauchte Pl.perf., namentlich von dessen „haben“-Bildungen (GERSBACH 1982, 228).

Da er bei sein das Präteritum im Oberdeutschen verzeichnen konnte, stellt GERSBACH (1982, 215) fest, dass das Plusquamperfekt mit diesem Hilfsverb prinzipiell bildbar ist, jedoch sehr selten vorkommt. Die Existenz der Präteritalform von sein erklärt er nicht durch das Erhalten dieser Form, sondern durch das Wiedereindringen aus der Standardsprache in die Mundarten (vgl. GERSBACH 1982, 215). Diese Feststellung scheint nach ROWLEY (1983, 176–177) allerdings zweifelhaft zu sein.81 Hinsichtlich der Vorkommenshäufigkeit beobachtet GERSBACH, dass die doppelten Perfektbildungen am häufigsten im Norden und Süden des untersuchten Gebietes, d. h. in Franken und Vorarlberg, vorkommen, während sie in Schwaben, als Zentrum des untersuchten Gebietes, seltener gebraucht werden. Nach Osten und Süd-Westen, d. h. nach Bayern und Baden, nehme der Gebrauch der doppelten Perfektbildungen wieder geringfügig zu (vgl. GERSBACH 1982, 101–109). Für das Doppelplusquamperfekt ermittelt GERSBACH (1982, 104) lediglich einen seinBeleg, sodass er in Anlehnung an SHEREBKOV (1971) das Doppelplusquamperfekt als nicht mundartlich einstuft. In ȘANDOR (2002) wird der Versuch unternommen, die doppelten Perfektbildungen in den Banater deutschen Mundarten Rumäniens zu deuten.82 Dabei wird festgestellt, dass die häufigste Funktion der doppelten Perfektbildungen temporaler Natur ist, auch wenn oft Vorvergangenheit Abgeschlossenheit impliziert. 80 Die Untersuchung umfasst Baden-Württemberg, Bayrisch-Schwaben und Vorarlberg, d. h. er untersucht alemannische, schwäbische, bairisch-schwäbische und fränkische Mundarten. 81 Dazu ROWLEY (1983, 177): „Doch müßte auch dort, wo nur die Form ich war vorhanden ist, die Kategorie des Prät. bis auf weiteres als vorhanden bezeichnet werden.“ 82 Zu den Merkmalen und Besonderheiten der Banater deutschen Mundarten siehe Kapitel 5 in dieser Arbeit.

2.3 Doppelte Perfektbildungen

75

Häufig lassen die doppelten Perfektbildungen auch die Deutung als einfache Vergangenheit, vereinzelt sogar als Vor-Vorvergangenheit zu, sodass sie nicht nur Kompensationsformen für das im Zuge des Präteritumschwundes größtenteils mitgeschwundene Plusquamperfekt darstellen. In den meisten Fällen ließ sich allerdings eine Kompensationsfunktion ermitteln (2002, 266). In denjenigen Mundarten, die noch über Plusquamperfektformen verfügen, fällt die Deutung anders aus. Eine alternative Herausbildungshypothese für die nicht als Kompensationsformen erklärbaren doppelten Perfektbildungen wird nicht formuliert. MAIWALD (2002) beschäftigt sich in ihrer Dissertation mit dem temporalen System des Mittelbairischen und stellt fest, dass das synthetische Präteritum im Oberdeutschen nicht bei allen Verben geschwunden ist: Das Hilfsverb sein hat seine Präteritumform „praktisch im gesamten Raum“ erhalten, ebenso einige Modalverben (vgl. MAIWALD 2002, 91).83 Dadurch wird die Annahme GERSBACHS (1982), dass die im Oberdeutschen ermittelten Präteritumformen von sein als Entlehnung aus der Schriftsprache zu verstehen seien, entkräftet. Plusquamperfekt wäre somit bei Verben, die in der Perfektbildung sein selegieren, ohne Weiteres möglich. Trotzdem ist laut MAIWALD (2002, 99) das Plusquamperfekt im Bairischen selten belegt. Anstelle des Plusquamperfekts wird Doppelperfekt verzeichnet: An die Stelle des Plusquamperfekts treten im Bairischen in Kontexten, in denen man im Nhd. ein Plusquamperfekt erwarten würde, um Vorgänge in der Vergangenheit chronologisch darzustellen, in einigen Fällen Umschreibungen mit einer Präsensform von sein bzw. haben mit dem Partizip II des Vollverbs sowie einem weiteren Partizip II von sein bzw. haben (MAIWALD 2002, 100).

Somit könnte man von einer Funktionsäquivalenz ausgehen. MAIWALD interpretiert das Doppelperfekt, wie erwähnt, nicht als eine Struktur, die in der Folge des Präteritumschwundes entstanden ist, sondern als unabhängig vom Präteritumschwund existierende aspektuelle Form, die – zur Not – Plusquamperfekt ersetzen kann und in der Folge zur Bezeichnung der Vorvergangenheit temporal umgedeutet werden kann: Für das Oberdeutsche bot sich durch das Erscheinen des Perfekt II zusätzlich die Möglichkeit, die Lücke, die sich durch den Wegfall des Plusquamperfekts ergeben hatte, zu schließen (MAIWALD 2002, 105).

Da jedoch, wie vorhin erwähnt, Plusquamperfekt durchaus auch im Bairischen gebildet werden kann (zumindest mit sein), ist eine reine Kompensationsfunktion des Doppelperfekts zweifelhaft. MAIWALD konstatiert, dass in den von ihr untersuchten mundartlichen Doppelperfekt-Belegen die Verwendung eines Temporaladverbs zu verzeichnen sei, das die temporale Bedeutung realisiere. Das Doppelperfekt habe dementsprechend keine rein temporale Bedeutung, es drücke Distanzierung und Abgeschlossenheit aus: Das durch Perfekt II bezeichnete Ereignis ist zum Referenzzeitpunkt jeweils bereits abgeschlossen [...] (MAIWALD 2002, 100). 83 Ausführlich zum Präteritum in allen deutschen Mundarten ROWLEY (1983).

76

2 Theoretische und terminologische Grundlagen Die Funktion des Perfekts II ist hauptsächlich die Bezeichnung der Abgeschlossenheit der Handlung [...] (MAIWALD 2002, 101).

Vor allem bei imperfektiven Verben sieht MAIWALD (2002, 101) es als notwendig an, die Abgeschlossenheit durch das Doppelperfekt zu verdeutlichen. Dementsprechend wäre das Doppelperfekt nur teilweise funktionsäquivalent mit dem Plusquamperfekt. Obwohl sie eine temporale Deutung des Doppelperfekts in gewissen Kontexten als möglich betrachtet, gibt MAIWALD doch der aspektuellen Deutung den Vorzug: Die Beispiele zeigen, dass die Funktion des Perfekt II sowohl aspektuell als auch temporal interpretiert werden kann. Allerdings spricht die Tatsache, dass die verwendeten Temporaladverbien sich (fast) ausschließlich auf den Referenzzeitpunkt beziehen dafür, dass eine Interpretation mit aspektueller Deutung der Normalfall ist. So ist nach Comrie das Plusquamperfekt als Aspekt zu sehen, wenn sich das Adverb auf die Referenzzeit bezieht, als Tempus, wenn sich das Adverb auf die davorliegende Ereigniszeit bezieht. Beide Bezüge sind möglich. Demnach liegt die Hauptfunktion des Perfekt II im Bairischen im aspektuellen Bereich (MAIWALD 2002, 103).

Somit kommt MAIWALD (2002) schon vor RÖDEL (2007) zu dem Ergebnis, dass die doppelten Perfektbildungen keine primär temporale, sondern eine primär aspektuelle Funktion haben. Auch BRANDT (2008) untersucht oberdeutsche doppelte Perfektbildungen im Indikativ, jedoch nicht im geschlossenen deutschen Sprachgebiet, sondern ähnlich wie ȘANDOR (2002) in einer Sprachinselmundart, und zwar in der Mundart der Sprachinsel Prišib/Alekseevka in der Russischen Föderation. Sie stellt fest, dass in diesen Siedlungsmundarten das Doppelperfekt bei Weitem überwiegt und dass es vor allem als Konkurrenzform des Präteritums und des Perfekts zum Ausdruck einfacher Vergangenheit eingesetzt wird und als Konkurrenzform des Plusquamperfekts Vorvergangenheit ausdrückt (BRANDT 2008, 66). Das Doppelplusquamperfekt erfülle ähnliche Funktionen: einfache Vergangenheit, Vorvergangenheit und Vorvorvergangenheit. In dieser Bedeutung hält sie das Doppelpusquamperfekt für obligatorisch, in allen anderen Bedeutungen seien die doppelten Perfektbildungen gegen andere Vergangenheitstempora austauschbar (BRANDT 2008, 84). Obwohl sie den Gebrauch der doppelten Perfektbildungen untersucht, kann sie keine regelhaften Erscheinungen erkennen: Die Adverbien, Satzarten und andere Kontextelemente haben sich laut Brandt als nicht sehr hilfreich erwiesen, sodass „der besondere Gebrauchswert der doppelt perfektivierten Verbformen [...] also auch im Usus der russlanddeutschen Sprachinsel Prišib/Alekseevka nicht über ihre temporalen Eigenschaften zu erschließen [war]“ (BRANDT 2008, 84). Eine intervall-basierte Interpretation des Doppelperfekts liefern BRANDNER / SALZMANN / SCHADEN (2016) bei der Analyse dieser Formen im Alemannischen, wobei sie zwei sich nahestehende Haupt-Lesarten des Doppelperfekts unterscheiden:84 Anterior und Superperfekt. In der Anterior-Lesart stellt Doppelperfekt 84 Außer diesen beiden Lesarten werden auch zwei andere Verwendungsweisen des Doppelperfekts angesprochen, die zwar in den untersuchten Mundarten vorkommen, aber eher für die Umgangssprache kennzeichnend seien: die absolute Lesart und die episodisch/deiktische

2.3 Doppelte Perfektbildungen

77

„ein Ereignis in der Vergangenheit als abgeschlossen/vorzeitig zu einem Referenzzeitpunkt in der Vergangenheit“ dar und ähnelt somit „einer der wesentlichen Funktionen des Plusquamperfekts im Standarddeutschen“ (2016, 16). Die Superperfekt-Lesart entspricht THIEROFFS (1992) two-way-action oder BUCHWALDWARGENAUS (2012) Ereignis-Abschluss-Beziehung: „ein Ereignis [wird] nicht im Hinblick auf ein anderes vergangenes Ereignis/einen Zustand situiert, sondern bezieht sich direkt auf den Äußerungszeitpunkt. Dabei wird zusätzlich ausgedrückt, dass der aus dem Ereignis resultierende Zustand nicht mehr anhält“ (BRANDNER / SALZMANN / SCHADEN (2016, 17), sondern „zu (irgendeinem) Zeitpunkt vor S, und scheinbar auch vor R, endet. Allerdings ist hier kein klarer, vom Sprechzeitpunkt unterscheidbarer R eruierbar, im Gegensatz zu Anterior-Lesarten, bei denen R explizit vor S lokalisiert wird“ (2016, 23). Auch die Anterior-Lesart des Doppelperfekts nennen BRANDNER / SALZMANN / SCHADEN resultativ, denn sie „reicht notwendigerweise bis an R heran“ (2016, 25), was eine Leistung von gehabt/gewesen sei: Die Einsetzung eines zweiten Auxiliars (in Form eines Partizips) bei der Bildung einer Vergangenheitsform löst generell eine Fokussierung auf den Nachzustand eines Ereignisses aus, das vor einem Referenzpunkt in der Vergangenheit stattfand. Dies führt entweder zur Vorzeitigkeitslesart (Anterior-Lesart) oder aber durch pragmatische Inferenzprozesse zu einer Superperfekt-Lesart (je nach Typ des Verbs bzw. enzyklopädischem Wissen, inwieweit ein Zustand umkehrbar ist). Auf jeden Fall ist festzuhalten, dass ein DPF die temporale Strukturierung von Ereignissen und den daraus resultierenden Zuständen feiner spezifizieren kann, als dies mit Plusquamperfekt und Perfekt ausgedrückt werden könnte BRANDNER / SALZMANN / SCHADEN 2016, 30–31).

Anstelle des Doppelplusquamperfekts ermitteln BRANDNER / SALZMANN / SCHADEN dreifaches Perfekt in den untersuchten Mundarten, d. h. Formen mit zwei Partizipien von haben, was nur in Mundarten mit zwei unterschiedlichen Partizipien dieses Verbs möglich sei. Das dritte Partizip scheine aber zu keinen neuen Lesarten zu führen (2016, 28–29). Auf syntaktischer Ebene analysieren die Autoren das Doppelperfekt als Kopulakonstruktion, wobei gehabt/gewesen als Kopula fungieren und „eine verbale Projektion in die adjektivische eingebettet ist“. „Das DPF scheint somit eine Zwischenform einzunehmen zwischen der rein adjektivischen Struktur [...] und einer rein verbalen wie bei Verwendungen des Perfekts/Plusquamperfekts“ (BRANDNER / SALZMANN / SCHADEN 2016, 33). Die semantische Begründung – Resultativität als adjektivische Leistung – wird auch durch morphosyntaktische Argumente unterstützt: Flexion des Vollverb-Partizips im Doppelperfekt und ähnliche Wortstellung bei Doppelperfekt und Kopulastrukturen (vgl. 2016, 35–42). Es wurde gezeigt, dass die meisten Autoren den Präteritumschwund als Ursache für die Herausbildung der mundartlichen Doppelperfektbildungen ansehen Lesart. Bei der absoluten Verwendung „wird inferiert, dass das Ereignis in einer unbestimmten/weit entfernten Vergangenheit stattgefunden haben muss [...]“ (BRANDNER / SALZMANN / SCHADEN 2016, 27), während bei der deiktischen Verwendungsweise lediglich Vorzeitigkeit zum Sprechzeitpunkt ausgedrückt werde (vgl. 2016, 28).

78

2 Theoretische und terminologische Grundlagen

und diesen Strukturen Kompensationsfunktionen für das zurückgegangene Plusquamperfekt zuschreiben. Dass die Präteritumschwundhypothese jedoch nicht alle Erscheinungen und Funktionen im Bereich der doppelten Perfektbildungen erklären kann, liegt zumindest für das Doppelplusquamperfekt und für die seinBildungen auf der Hand. Die meisten Untersuchungen interpretieren die mundartlichen Doppelperfektbildungen temporal, mitunter auch mithilfe von Begriffen, die eher zur Sphäre der Aspektualität gehören (abgeschlossen, perfektiv, resultativ, vollendet). Eine einzige Untersuchung deutet die doppelten Perfektbildungen primär aspektuell und erst sekundär, als Folge einer temporalen Umdeutung, temporal (MAIWALD 2002). Eine besondere Position nehmen BRANDNER / SALZMANN / SCHADEN (2016) ein: Sie interpretieren die doppelte Perfektbildungen semantisch temporal (als Intervall in der Vergangenheit) und aspektuell (resultativ), syntaktisch als Kopula-Konstruktionen und erklären ihre resultative Bedeutung als adjektivische Leistung. 2.3.2.4 Fazit Bei der Behandlung der doppelten Perfektbildungen in der Forschungsliteratur lassen sich generell folgende Tendenzen feststellen: 1. Der Untersuchungsgegenstand wird unterschiedlich weit gefasst. Allgemein als doppelte Perfektbildungen gelten die Konstruktionen bestehend aus haben + Partizip II + gehabt, während die Konstruktionen bestehend aus sein + Partizip II + gewesen nicht in allen Untersuchungen als doppelte Perfektbildungen aufgefasst werden, sondern als Kopulakonstruktionen abgetan (WELKE 2009; HUNDT 2011) bzw. überhaupt nicht berücksichtigt werden (vgl. BRANDT 2008). 2. In den meisten Arbeiten werden die doppelten Perfektbildungen synchron untersucht. Obwohl auf die Kontinuität dieser Formen hingewiesen wird und auch sprachhistorische Belege angeführt werden, befassen sich nur drei Untersuchungen mit den doppelten Perfektbildungen aus diachroner Perspektive (TOPALOVIĆ 2010; BUCHWALD-WARGENAU 2010 und 2012). 3. Der Präteritumschwund als Ursache für die Entstehung der doppelten Perfektbildungen wird in allen Arbeiten zurückgewiesen, doch beschränken sich die meisten Arbeiten auf das Anführen von Argumenten gegen diesen Erklärungsansatz und lediglich RÖDEL (2007) formuliert eine alternative Herausbildungshypothese, die in Ansätzen schon bei MAIWALD (2002) anzutreffen ist. Als Entstehungsursache nimmt RÖDEL (2007) die Deaspektualisierung des Perfekts an. Diese These wird auch von TOPALOVIĆ (2010) und BUCHWALD-WARGENAU (2012) übernommen. Die Ausbreitung der doppelten Perfektbildungen auf eventive Verben in Analogie zum Perfekt des Zustands- und haben-Passivs der stativen Verben wird von ZYBATOW (2015) postuliert. 4. Die meisten Untersuchungen befassen sich mit der Deutung der doppelten Perfektbildungen. Sowohl in der geschriebenen als auch in der gesprochenen Sprache und in den Mundarten überwiegen die temporalen Lesarten dieser Verbalperiphrasen. Dabei werden für die literatursprachlichen doppelten Perfekt-

2.3 Doppelte Perfektbildungen

79

bildungen ausdifferenziertere Funktionen (Vorvergangenheit, Vor-Vorvergangenheit, two-way-actions) als für die doppelten Perfektbildungen in den gesprochenen Varietäten ermittelt (Vergangenheit, Vorvergangenheit, two-way-actions) (vgl. LITVINOV / RADČENKO 1998; THIEROFF 1992; DOROW 1996). Die Untersuchungen zu den distanzsprachlichen doppelten Perfektbildungen bemühen sich meist um die Ermittlung eigener Funktionen dieser Konstruktionen (vgl. THIEROFF 1992; DOROW 1996; LITVINOV / RADČENKO 1998), während in den gesprochenen Varietäten meist die Kompensationsfunktionen geltend gemacht werden (vgl. HENNIG 2000; BUCHWALD-WARGENAU 2005a; ȘANDOR 2002; BRANDT 2008). Doppelte Perfektbildungen werden aber auch aspektuell gedeutet, d. h. als Marker von Abgeschlossenheit bzw. Resultativität, wobei in dieser Funktion den doppelten Perfektbildungen definitiv keine Kompensationsfunktion zugeschrieben wird (MAIWALD 2002; RÖDEL 2007; TOPALOVIĆ 2010; HUNDT 2011). BUCHWALD-WARGENAU (2012) stellt die konsequente Untrennbarkeit der aspektuellen und der temporalen Bedeutungskomponente fest (vgl. auch BRANDNER / SALZMANN / SCHADEN (2016). Sowohl die distanzsprachlichen als auch die nähesprachlichen doppelten Perfektbildungen sind mittlerweile gut erforscht; weniger gut erforscht sind bisher die dialektalen doppelten Perfektbildungen, obwohl doppelte Perfektbildungen allgemein als regionales/dialektales Phänomen gelten. Außerdem erklären auch die bisherigen Herausbildungshypothesen diese Erscheinungen nicht zufrieden stellend. Vorliegende Arbeit möchte eben in diesen Bereichen zur Schließung der Lücken beitragen. 2.4 METHODISCHES VORGEHEN In vorliegender Untersuchung wird – wie in 2.1.2 angedeutet – bei der Deutung der doppelten Perfektbildungen in den Banater deutschen Mundarten von REICHENBACHS (1947) Parametern „point of speech“ (Sprechzeit), „point of event“ (Ereigniszeit) und „point of reference“ (Referenzzeit) ausgegangen. Allerdings hat es sich erwiesen, dass die Parameter S, E und R für die Beschreibung der temporalen Relationen, die die doppelten Perfektbildungen ausdrücken, nicht ausreichend spezifiziert sind. Ausgehend von REICHENBACHS Parametern (1947) und in Anlehnung an HENNIG (2000), BUCHWALD (2005a) und BUCHWALD-WARGENAU (2012) wird einerseits die Relation E vor R vor S (Vorvergangenheit), andererseits die Relation E vor S (Vergangenheit) zur Beschreibung der temporalen Bedeutung doppelter Perfektbildungen angewandt. Es wurde schon erwähnt, dass an REICHENBACHS Referenzzeit vielfach der Mangel an Eindeutigkeit beanstandet wurde (vgl. Kapitel 2.1). Trotzdem wird in der vorliegenden Untersuchung davon ausgegangen, dass dieser Parameter bei der Beschreibung der Semantik doppelter Perfektbildungen notwendig ist. Es muss präzisiert werden, dass R (Referenzzeit) sich oft als ein dem durch eine doppelte Perfektbildung ausgedrückten Ereignis E nachzeitiges Ereignis konkretisiert, das den Referenz- bzw.

80

2 Theoretische und terminologische Grundlagen

Bezugspunkt für E darstellt85: E vor R vor S. Andererseits stellt R nicht immer ein nachgeschaltetes Ereignis dar, sondern ein auf derselben zeitlichen Stufe mit dem durch eine doppelte Perfektbildung ausgedrückten Ereignis E stattfindendes Ereignis. Dafür kann die Relation E gleichzeitig R vor S stehen. In Anlehnung an BÄUERLE (1979) und WELKE (2005) wird hier auch S (Sprechzeit) als eine der Realisierungen von R verstanden, sodass in den beiden Relationen S durch R ersetzt wird. Somit wird in vorliegender Arbeit die Notation R1 für das Bezugsereignis, R2 für die Sprechzeit verwendet: E vor R1 vor R2 und E gleichzeitig R1 vor R2. Falls kein Bezugsereignis festgestellt werden kann, gilt die Parameterrelation E vor R, wobei R die Sprechzeit markiert. BUCHWALD-WARGENAU (2012) unternimmt einen ersten Versuch, die Relationen zwischen REICHENBACHS Parametern Sprechzeit, Ereigniszeit und Referenzzeit für die temporale und aspektuelle Deutung der doppelten Perfektbildungen nutzbar zu machen. Dabei setzt sie in ihrem Modell die Sprechzeit auch als Referenzzeit an (bei mehreren identifizierbaren Referenzzeiten R1, vgl. BUCHWALD-WARGENAU 2012, 38). Ausgehend von der Annahme, dass für die temporale Deutung der doppelten Perfektbildungen (sowohl für Doppelperfekt als auch für Doppelplusquamperfekt) eine „mit E vor R beschreibbare Vergangenheitsbedeutung vorliegt“ (BUCHWALD-WARGENAU 2012, 38), wird eine temporale „Vor-Relation“ modelliert. Zusätzlich wird eine aspektuelle „AbgeschlossenRelation“ modelliert (BUCHWALD-WARGENAU 2012, 38). Dass Doppelperfekt und Doppelplusquamperfekt ausschließlich auf Vergangenheit bezogen sind, ist auch für RÖDEL (2007) eindeutig, da diese Bedeutungskomponente von den diesen Bildungen zugrunde liegenden Perfekt- bzw. Plusquamperfektstrukturen realisiert werden: Gleichzeitig ist den doppelten Perfektbildungen gemein, dass sie in temporaler Hinsicht stets in der Vergangenheit lokalisiert sind, also dem gegenüber dem Sprechzeitpunkt zurückliegenden Zeitintervall. Das Ausgangstempus bringt diese Zeitreferenz in die Konstruktion ein […] (RÖDEL 2007, 152).

Die „E vor R“-Relation steht laut BUCHWALD-WARGENAU (2012, 39) als generelle Vergangenheitsbedeutung der untersuchten Bildungen. Weitere temporale Abstufungen kommen durch das Hinzufügen weiterer Vor-Relationen zustande. Die Abgeschlossen-Relation markiert zusätzlich zur temporalen Vor-Relation die aspektuelle Bedeutung der doppelten Perfektbildungen: Die Modellierung der (zusätzlich zur temporalen Bedeutung der Vergangenheit) in Frage kommenden aspektuellen Bedeutung der Perfektivität erfolgt durch die Hinzufügung einer Abgeschlossen-Relation zu einer Vor-Relation (BUCHWALD-WARGENAU 2012, 40).

Somit modelliert BUCHWALD-WARGENAU (2012, 40) die Deutungen der doppelten Perfektbildungen wie folgt:

85 Deshalb wird R bei BUCHWALD-WARGENAU (2012) als E2 modelliert.

2.4 Methodisches Vorgehen Deutungen temporale Deutungen

aspektuelle Deutungen

81

Beschreibung anhand der Parameter Vergangenheit

E vor R

Vorvergangenheit

E vor R2 vor R1

Vorvorvergangenheit

E vor R3 vor R2 vor R1

Perfektivität

E vor [+ abgeschlossen zu] R

Tabelle 5: Deutungen doppelter Perfektbildungen bei BUCHWALD-WARGENAU (2012, 40)

Während temporale Deutungen jeweils mehrere Zurückstufungen voraussetzen, bezieht sich die aspektuelle Deutung auf eine einzige temporale Ebene: Die Vorund Abgeschlossen-Relation findet auf derselben temporalen Ebene statt (vgl. KLEIN 1974; BUCHWALD-WARGENAU 2012, 40). In der bisherigen Erforschung doppelter Perfektbildungen gelang es nicht, Kriterien zur Unterscheidung von temporaler und aspektueller Bedeutung festzulegen. Da – wie in Kapitel 2.1 und 2.2 bereits gezeigt wurde – von einer grundsätzlichen Untrennbarkeit von Tempus und Aspekt ausgegangen wird, setzt sich auch vorliegende Untersuchung nicht zum Ziel, Kriterien zur Unterscheidung temporaler und aspektueller Bedeutungen zu erarbeiten. Ausgehend vom gebrauchstheoretischen Ansatz in der Sprachphilosophie, wo der Grundsatz gilt „Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache“ (WITTGENSTEIN 1967, §43) und in Anlehnung an BUCHWALD-WARGENAU (2012) wird in vorliegender Untersuchung der Versuch unternommen, sich der Deutung doppelter Perfektbildungen über die Gebrauchsanalyse zu nähern. Es wird der Frage nachgegangen, ob die Funktionen doppelter Perfektbildungen aus ihrem Gebrauch herausgearbeitet werden können. Dabei wird vor allem versucht, typische syntaktische und semantische Gebrauchskontexte der doppelten Perfektbildungen in den Banater deutschen Mundarten zu ermitteln und den typischen Gebrauch der untersuchten Bildungen in diesen Mundarten zu beschreiben. Es soll sich zeigen, ob die Gebrauchsanalyse Rückschlüsse über die temporale bzw. aspektuelle Bedeutung doppelter Perfektbildungen erlaubt. 2.5 FAZIT Ziel dieses Kapitels war es, den theoretischen und terminologischen Rahmen meiner Arbeit abzustecken. Die Darstellung des den Begriffen Tempus/Temporalität sowie Aspekt/Aspektualität zugrunde liegenden Verständnisses erwies sich als grundlegend für die vorliegende Untersuchung, da sich eine theoretische Trennung dieser beiden Bereiche beim Verb im Deutschen als unmöglich erwies. Bei der Untersuchung der bisherigen Forschungsliteratur zu den doppelten Perfektbildungen stellte es sich heraus, dass auch praktisch eine Trennung von Temporalität und Aspektualität nicht geleistet werden kann (vgl. BUCHWALDWARGENAU 2012). Es konnte festgestellt werden, dass die Mehrzahl der Arbeiten

82

2 Theoretische und terminologische Grundlagen

die doppelten Perfektbildungen temporal deuten, jedoch zur Beschreibung der temporalen Funktionen auf Begriffe aus der Sphäre der Aspektualität zurückgreifen. Lediglich einige neuere Untersuchungen wiesen explizit auf eine aspektuelle Interpretation der doppelten Perfektbildungen hin, wobei in Erwägung gezogen wurde, dass temporale und aspektuelle Semantik nicht strikt voneinander zu trennen sind. Auch in die methodischen Überlegungen zur Deutung der doppelten Perfektbildungen in den Banater Mundarten fließt diese Problematik ein. Da von der theoretischen Untrennbarkeit temporaler und aspektueller Semantik ausgegangen wird, soll die Gebrauchsanalyse der doppelten Perfektbildungen typische Kontexte ermitteln helfen, über die die Bedeutung dieser Bildungen erschlossen werden kann. Auch die im folgenden Kapitel behandelte Problematik der Analytisierung kann dabei wichtige Anhaltspunkte geben.

3 GIBT ES IM DEUTSCHEN EINE KONSTANTE TENDENZ ZUR ANALYTISCHEN TEMPUSBILDUNG? Wenn man das Verbalsystem des Gegenwartsdeutschen betrachtet, so kann man mit Recht behaupten, dass innerhalb dieses Systems die analytischen Formen überwiegen (vgl. Kapitel 2.1). Den beiden synthetischen Verbalformen Präsens und Präteritum stehen weit mehr analytische Verbalformen gegenüber: die aktivischen Formen Perfekt, Plusquamperfekt, Doppelperfekt, Doppelplusquamperfekt, Futur I und II Indikativ, die entsprechenden Formen im Konjunktiv sowie das gesamte Passivparadigma. Ziel des vorliegenden Kapitels ist es, unter Rückgriff auf die vorhandene Forschungsliteratur einen Überblick über die Entwicklung der analytischen Tempusformen zu bieten und die Entstehung der doppelten Perfektbildungen aus der Perspektive der Analytisierungstendenz zu deuten. Es soll der Frage nachgegangen werden, inwieweit die doppelten Perfektbildungen „superkomponierte“ oder abweichende Verbalformen sind, oder eine logische Folge der Analytisierungstendenz darstellen. So kann ein Beitrag zu Herausbildungsdebatte der doppelten Perfektbildungen geleistet werden, indem zu den beiden Herausbildungshypothesen – Herausbildung der doppelten Perfektbildungen als Folge des Präteritumschwundes (vgl. LINDGREN 1957 und 1963; DAL 1966) und Herausbildung als Folge der Perfekt-Deaspektualisierung (vgl. RÖDEL 2007; TOPALOVIĆ 2010) – eine weitere Herausbildungshypothese angenommen wird: Herausbildung als natürliche Folge der Analytisierungstendenz. Es sind somit folgende Hypothesen zu verifizieren: Hypothese 1: Der Ausbau analytischer Verbformen ist eine Konstante des deutschen Verbalsystems. Hypothese 2: Die doppelten Perfektbildungen gliedern sich in die Tendenz zur Ausbildung analytischer Verbformen im deutschen Verbalbereich ein, d. h. sie stellen keine Abweichungen dar, sondern sie werden nach schon existierenden Mustern gebildet.

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3 Gibt es im Deutschen eine konstante Tendenz zur analytischen Tempusbildung?

3.1 HYPOTHESE 1: ANALYTISIERUNG ALS KONSTANTE IN DER ENTWICKLUNG DES DEUTSCHEN VERBALSYSTEMS Um die erste Hypothese zu überprüfen, ist es notwendig, das der vorliegenden Arbeit zugrunde liegende Konzept der Konstante zu klären. In Anlehnung an SONDEREGGER (1979, 217) wird die Konstante als eine durch die gesamte deutsche Sprachgeschichte permanent hervortretende Veränderungstendenz, im Sinne einer im Sprachsystem unablässig wirksamen Entfaltung aufgefasst.86 Es gilt nachzuweisen, ob die Analytisierung innerhalb des deutschen Verbalsystems in allen Entwicklungsetappen des Deutschen zu beobachten ist und zur Zunahme des analytischen Formeninventars geführt hat. Zur Überprüfung dieser Hypothese wurde auf die Ergebnisse der einschlägigen Forschungliteratur zurückgegriffen. Dabei werden die Partizip-Periphrasen ausführlicher behandelt, da sie die Grundlage für die doppelten Perfektbildungen darstellen. 3.1.1 Partizip-Periphrasen 3.1.1.1 Früheste Belege im Althochdeutschen Da es im gotischen Verbalsystem lediglich zwei synthetische Verbalformen (Präsens und Präteritum) gibt, die eine minimale temporale Differenzierung zwischen ‘vergangen’ und ‘nicht-vergangen’ erlauben, werden weitere Bedeutungen durch aspektuell bzw. aktional geprägte Formen ausgedrückt (vgl. ĐORĐEVIĆ 1994; MEIER-BRÜGGER 2000; ZEMAN 2010). Zu den Mitteln, die Aspektualität im Gotischen ausdrücken, zählen neben den Präfixen ga-,87 and-, fra-, us-, zar- und den Suffixen -jan, -nan (vgl. ĐORĐEVIĆ 1994, 297–299; SCHRODT / DONHAUSER 2003, 2511) auch Periphrasen wie: wisan + Partizip I/II, wirϸan + Partizip I/II und haban + Infinitiv (vgl. GRIMM 1837, 5). Nach KOTIN (1997, 487) handelt es sich bei den Periphrasen wisan + Partizip I/II und wirϸan + Partizip I/II um die Opposition ‘statal’ vs. ‘mutativ’88, was aber in der Semantik der Verben wisan und wirϸan begründet ist.89 Aus dem Germanischen wurden im Althochdeutschen folgende Verbalkategorien weitergeführt: ein Genus verbi, das Aktiv; drei Modi: Indikativ, Konjunktiv und Imperativ; zwei Numeri (Singular und Plural mit je drei Personen)90; drei Verbalnomina: Infinitiv, Partizip Präsens und Partizip Präteritum (ein Verbal-

86 Nach SONDEREGGER (1979, 269) handelt es sich bei dem Ausbau der analytischen Verbformen um eine innere Konstante der Syntaxentwicklung. 87 Zum Präfix ga- als Aspektmarker vgl. auch STREITBERG (1891) und LEISS (2002a). 88 Dazu auch ĐORĐEVIĆ (1994, 304–305), der von ‘durativ’ vs. ‘inchoativ’ spricht. 89 Laut ABRAHAM (1990; 1991) können diese Verben noch nicht als Auxiliarverben interpretiert werden. 90 Im Bairischen sind noch Reste des Duals vorhanden.

3.1 Hypothese 1: Analytisierung als Konstante

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adjektiv, das sich ursprünglich weder auf das Tempus noch auf das Genus verbi bezieht) und zwei Tempora (Präsens und Präteritum). Das althochdeutsche Verbalsystem ist – wie auch das gotische – durch Aspektualität geprägt (vgl. OUBOUZAR 1974, 12; SCHECKER 1994; KOTIN 1997; EROMS 1997, 2000a; SCHRODT / DONHAUSER 2003). In Opposition imperfektiv vs. perfektiv treten Simplizia und die mit gi- präfigierten Verben des Althochdeutschen (vgl. OUBOUZAR 1974, 11). Tempus und Aspekt können auch im Althochdeutschen nicht voneinander getrennt werden. Wie auch die anderen älteren germanischen Sprachen, verfügt das Althochdeutsche nur über zwei Tempora: ein synthetisch gebildetes Präsens und ein synthetisch gebildetes Präteritum. Funktional werden diese beiden Tempora über das Merkmal ‘vergangen’ vs. ‘nichtvergangen’ differenziert. Wie auch im Gotischen bezeichnet im Althochdeutschen das Präsens der gi-Verben regelmäßig einen zukünftigen Zeitbezug, während das Präteritum dieser Verben Vergangenheit ausdrückt (vgl. EROMS 1997; 2000a, 16): Die aktional-aspektoide Markierung einer Handlung kann vielfach als die temporale Markierung einer Vorzeitigkeit aufgefaßt werden, vor allem dann, wenn sie auf Erzählpassagen trifft, die Ereignisse als ‘Ereigniszeit vor Sprechzeit’ (E