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German Pages [181] Year 2020
Andersheit – Fremdheit – Ungleichheit Erfahrungen von Disparatheit in der deutschsprachigen Literatur
Band 2
Herausgegeben von Paweł Zimniak und Renata Dampc-Jarosz
Arletta Szmorhun / Mirosław Kowalski
Dispositive des Genus Das weibliche Geschlecht im strukturellen Machtgefüge
V&R unipress
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Universität Zielona Góra. © 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: © Weronika Zimniak / Titel: Die Eingefrorene Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2699-7487 ISBN 978-3-7370-1199-0
Inhalt
Frauen im Zeichen diskursiv-institutioneller Diskriminierung – Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1 Strukturelle Gewalt – Die Frau als Projektionsfläche symbolischer Ordnung(en) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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2 Die Kirche als formative Kraft der weiblichen Unterwerfung . . . . . . 2.1 Frauen als minderwertige und ›fleischliche‹ Geschöpfe im (früh)christlichen Gedankengut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Eva, Maria und Lilith – Literarische Entwürfe von kirchlichen Gehorsamsbindungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Staatsmacht und Familiengewalt – Weibliche Subordination im Kontext politischer (Gewalt)Systeme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 (Ehe)Frauen als Domestizierungsobjekte . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 (Ehe)Frauen als Tausch- und Handelsobjekte . . . . . . . . . . . . 4 Erziehungs- und Bildungssysteme als Generatoren von geschlechtlichen Ungleichgewichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Geschlechtsspezifische Codierungen in Erziehung und Bildung . . . 4.2 Literarische Verhandlungen von Bildung, Erziehung und Geschlecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Krankheitsbild ›Frau‹ – Hormonelle Bedingtheit als Pathologisierungsund Psychiatrisierungsgrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 La donna é mobile – Über die ›periodische‹ (Un)Zurechnungsfähigkeit der Frau . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Stigma menstrualis – Literarische Verhandlungen von Krankheit und Geschlecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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67 70 90
109 111 123
139 143 153
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Inhalt
Die Genealogie der sozialen ›Geschlechterlogik‹ zwischen Symbolismus, Ritualismus und Konventionalismus – Fazit . . . . . . . . . . . . . . . .
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Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Frauen im Zeichen diskursiv-institutioneller Diskriminierung – Einleitung
In ihrer weltweit bekannten Studie Das andere Geschlecht stellt Simone de Beauvoir die These auf, dass es ein wirklich goldenes Zeitalter der Frau nie gegeben hat. Die politische Macht liegt nämlich seit eh und je in den Händen der Männer und die männliche Hegemonie speist sich seit Jahrtausenden aus Systemen, Institutionen und Mythen, die die Männer geschaffen haben, um ihre Vormachtstellung nicht aufgeben zu müssen1. Das Bild des Mannes von der Frau, das in den nacheinander folgenden Epochen konstruiert und jeweils mit zeittypischen Argumenten untermauert wird, fällt durch seine Widersprüchlichkeit ins Auge, die die Frau daran hinder(t)e, dem männlichen Souveränitätsanspruch einen weiblichen entgegenzusetzen: »Sie ist Idol und Magd, Quell des Lebens und Macht der Finsternis; sie ist das urhafte Schweigen der Wahrheit selbst und dabei unecht, geschwätzig, verlogen; sie ist Hexe und Heilende; sie ist die Beute des Mannes und seine Verderberin; sie ist alles, was er nicht ist und was er haben will, seine Verneinung und sein Daseinsgrund.«2 Diese Ambivalenz des Frauenbildes, die im privat-öffentlichen Raum ununterbrochen Geltung erlangt, ist einerseits darauf zurückzuführen, dass die Frau »zum verkleinerten Abbild3« der Natur und somit zur Projektionsfläche von männlichen Ängsten und Hoffnungen gemacht wird. Andererseits ist sie durch ihr »physiologisches Schicksal4« bedingt, das mit der Menstruation anfängt, in der Mutterschaft ihren Höhepunkt findet und in der Menopause vollendet wird. Der Mensch, sowohl die Frau als auch der Mann, ist zwar nicht imstande, seinen Körper zu verleugnen oder ihn zu ignorieren, er wird aber in seiner existentiellen Freiheit nicht von ihm bestimmt, sondern von gesellschaftlich-politischen Umständen, die änderbar sind. Diese Erkenntnis mündet in der berühmten und viel zitierten Feststellung: »Man
1 Vgl. Beauvoir, Simone de: Das andere Geschlecht. Sitte und Sexus der Frau. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag 1968, S. 77. 2 Ebd., S. 155. 3 Ebd., S. 156. 4 Ebd., S. 469.
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Frauen im Zeichen diskursiv-institutioneller Diskriminierung – Einleitung
kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es.«5 Es sei keineswegs das biologische Geschlecht, das das Wesen der Frau durch die Jahrtausende prägt, sondern die »Gesamtheit der Zivilisation«6, die von Männern und in deren Interesse gestaltet und perpetuiert wird. Nur die Vermittlung eines Anderen vermag die Frau als ein Anderes hinzustellen und sie im Namen einer biologistischen Ideologie zu beeinträchtigen.7 Simone de Beauvoirs Überlegungen werden in der vorliegenden Studie nicht zufällig zitiert. Wenn man sich mit der diskursiven Konstruktion von Weiblichkeit von der Antike, über das Mittelalter, die Neuzeit und die Neueste Geschichte bis hin zur Gegenwart kritisch auseinandersetzt, tut man sich schwer, ihren Erkenntnissen nicht beizupflichten. Sie gelten auf jeden Fall als Impuls, epochenübergreifende frauenbezogene Mythen in den Blick zu nehmen, um männlichen Parametern nachzuspüren, die in Form von Rollenzuweisungen, Kategorisierungen und Ausschließungen ›ins Leben greifen‹ und unter dem Deckmantel der Biologie bzw. der absoluten Wahrheit die Herausbildung einer autonomen weiblichen Identität beeinträchtigen. Der (Um)Formungsprozess, der den (weiblichen) Körper einem Reglement von Techniken der sozialen Disziplinierung, Klassifizierung, Tabellierung, Hierarchisierung und Einübung unterordnet und ihn in ein System der (Selbst)Überwachung einbindet, stellt den wichtigsten Themenschwerpunkt dieser Studie dar. Unter Bezug auf den soziologischen, philosophischen, theologischen, pädagogischen, medizinischen, rechtswissenschaftlichen und literarischen Diskurs soll einerseits der Frage nach der Produktion, Konstruktion und Stigmatisierung von Weiblichkeit über strukturelle Gewalt nachgegangen werden, um die jahrtausendelange Praxis der Deplatzierung von Frauen im sozialen Raum sowie ihre Depotenzierung vor Augen zu führen. Unter dem Terminus Stigma wird mit Erving Goffman eine zutiefst diskreditierende Eigenschaft verstanden, die dem weiblichen Geschlecht zugeschrieben wird, um seine Lebenschancen wirksam zu reduzieren.8 An ausgewählten Beispielen, die kreuz und quer durch die historischen Epochen führen, wird demzufolge aufgezeigt, welche Formen und/oder Dimensionen die strukturelle/symbolische Gewalt annehmen und inwiefern sie das weibliche Geschlecht beeinträchtigen kann. In den Mittelpunkt geraten in diesem Zusammenhang Stigma-Theorien, Unterdrückungsmechanismen, Domestizierungspraktiken und Disziplinarprozeduren, die darauf abzielen, weibliche Individuen um eine Norm herum anzuordnen, um ihre Inferiorität zu erklären und die Gefährdung durch die Stigmatisierten nachzuweisen. Es wird auf diese Weise ins Feld geführt, dass das Verständnis von Gewalt, das den Gewaltbegriff für physisch5 6 7 8
Ebd., S. 265. Ebd. Vgl., ebd. Vgl. Goffman, Erving: Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2016, S. 11.
Frauen im Zeichen diskursiv-institutioneller Diskriminierung – Einleitung
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körperliche Gewalt reserviert, zu kurz greift und dass Formen stiller, verdeckter und institutioneller Gewalt nicht übersehen werden dürfen. Strukturelle Gewalt existiert in vielfältigen Formen und wirft ebenso wie direkte physische Gewalt die Frage nach möglichen und legitimen Gegenstrategien auf. Das Anliegen dieser Studie ist es, zu beleuchten, wie diese stille Gewalt reift, wie sie sich mitteilt und überträgt und wie sie schließlich zum Ausbruch kommt, um dem weiblichen Anderen einen gleichwertigen Blick auf die Welt vorzuenthalten. Damit rückt auch die Frage nach der Verursachung von Gewalt in Macht- und Unterdrückungsverhältnissen in den Mittelpunkt, die auf Grundlage ihrer normativen Verurteilung verändert werden können und sollen. Andererseits wird das Augenmerk auf die vielschichtige Dynamik von intendierter oder erzwungener Affirmation, Irritation und/oder Subversion des hegemonialen Geschlechterkanons gelenkt, der in Form von (un)geschriebenen Gesetzen überliefert, fortgesetzt, uminterpretiert, boykottiert und neu geschrieben wird, ohne dass dieser Prozess als abgeschlossen gilt. Nichtsdestotrotz gilt das hauptsächliche Interesse der superioren Männlichkeit und inferioren Weiblichkeit, die im epochenübergreifenden Geschlechterdiskurs als biologische Entitäten dargestellt werden. Die zentrale Kategorie Geschlecht erscheint in dieser Perspektive als ein historisch gewachsenes Strukturprinzip eines uralten Machtmodells sowie als Indikator und gleichzeitig ein fester Bestandteil sozialen Wandels, aus dem heraus sich strukturelle Gewalt gegen Frauen erklären lässt. Bei der Analyse von Ungleichheitsverhältnissen und Gewaltbeziehungen ist es daher angebracht, nicht nur die historische Dimension der Entstehung von sozialen Zusammenhängen, in die sie eingebettet sind, zu berücksichtigen, sondern auch das Zusammenspiel von politischen, ökonomischen und sozialen Faktoren, die bei ihrer Herausbildung eine Rolle gespielt haben, in den Blick zu nehmen, um ihre Funktion innerhalb der heutigen Strukturzusammenhänge entblößen zu können. Zu diesem Zweck wurde ein umfangreiches Korpus an Material gesichtet, auf dessen Grundlage einzelne Diskursstränge herausgearbeitet, untereinander in Beziehung gesetzt und in den jeweiligen kulturellen Kontext eingebettet werden konnten. In diesem Sinne kann hier von einer Diskursanalyse gesprochen werden, die sich zum Ziel nimmt, Stigmatisierungspraktiken, Exklusionsmechanismen, Domestizierungsstrategien und Herabsetzungsakte offenzulegen, die infolge der Zugehörigkeit zur Genus-Gruppe ›Frau‹ generiert und als legitimer Bestandteil der gesellschaftlichen Ordnung definiert wurden/werden. Auch wenn die geschlechtsabhängig unterschiedlichen Lebens- und Entwicklungschancen seit Jahren sowohl in der Politik als auch in der Wissenschaft eine vehemente Kritik erfahren, so dass Maßnahmen zur Reduktion von Geschlechterungleichheit in Gang gesetzt werden, sind strukturelle Gewaltverhältnisse nach wie vor für ideologische und fundamentalistische Positionen repräsentativ, die den gegenwärtigen Diskurs über die Krise der Männlichkeit bestimmen. Der in diesem Kontext angesiedelte Propagandafeldzug, der Freiheits- und Gleichheitsbestrebungen von Frauen als Feminat
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Frauen im Zeichen diskursiv-institutioneller Diskriminierung – Einleitung
einstuft und die Geschlechterdemokratie mit einer Bedrohung für die »Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft«9 assoziiert, bekräftigt zusätzlich die Notwendigkeit, eine solche Studie auf den Markt zu bringen.
9 Lier, Karl-Heinz B. von: Gender-Mainstreaming oder: Die Hydra im trojanischen Pferd. In: Befreiungsbewegung für Männer. Auf dem Weg zur Geschlechterdemokratie. Hg. von PaulHermann Gruner/Eckard Kuhla. Gießen: Psychosozial Verlag 2009, S. 91–109, hier S. 105.
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Strukturelle Gewalt – Die Frau als Projektionsfläche symbolischer Ordnung(en)
»Es ist kein Rock noch Kleid, das einer Frau oder Jungfrau übler ansteht, als wenn sie klug sein will.«10 In seinen berühmten Tischreden wünscht Martin Luther den Frauen den Mangel an Verstand, denn geistige und intellektuelle Fähigkeiten widersprechen der weiblichen Natur und selbst der Versuch, als klug zu gelten, wirkt sich negativ auf die Attraktivität der Frau aus und schmälert erheblich ihren ›Marktwert‹. Mit einer solchen Argumentationslinie wird in der Reformationszeit der Ausschluss der Frau nicht nur von der gleichberechtigten höheren Bildung, sondern auch von der Leitung im politischen Regiment und in der Kirche legitimiert sowie ihr Wirken im dritten Stand – im Haushalt – bekräftigt.11 Obwohl eine der zentralen Forderungen der Reformatoren ist, dass die Menschen selber in der Bibel lesen sollten, um sich mit religiösen Fragen der Zeit auseinandersetzen zu können und Luther in seiner Schrift An den christlichen Adel deutscher Nation offiziell dafür plädiert, christliche Schulen aufzurichten, in denen auch Mädchen »eine Stunde das Evangelium hörten, es wäre deutsch oder lateinisch«12, so sieht er das weibliche Geschlecht in erster Linie dazu befähigt, als Ehefrau und Mutter zu agieren und den christlichen Glauben an die Kinder weiterzugeben. Dazu gehört neben dem Erlernen der praktischen Dinge im Haushalt auch eine schulische und religiös-biblische Grundbildung. Eine solche Voraussetzung hält Luther für ausreichend und großzügig genug. Die Festlegung der Frau auf den Innenraum des Hauses und die Familie wird argumentativ mit ihren angeblichen intellektuellen Defiziten untermauert und bringt auch kommunikative Grenzziehungen mit sich: Die Frau, die im Haushalt regiert, soll nur 10 Luther, Martin: Tischreden. Vom Einfachen und Erhabenen. Hg. von Thomas Walldorf. Wiesbaden: marixverlag 2017, S. 92. 11 Vgl. Szmorhun, Arletta: Martin Luthers Auffassung von Weiblichkeit, Körperlichkeit und Sexualität. In: Die Reformation 1517. Zwischen Gewinn und Verlust. Hg. von Cezary Lipin´ski/ Wolfgang Brylla. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2020, S. 298–302, hier S. 298. 12 Luther, Martin: An den christlichen Adel deutscher Nation. In: An den christlichen Adel deutscher Nation; Von der Freiheit eines Christenmenschen; Sendbrief vom Dolmetschen. Hg. von Ernst Kähler. Stuttgart: Reclam 2012, S. 5–10, hier S. 57.
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Strukturelle Gewalt – Die Frau als Projektionsfläche symbolischer Ordnung(en)
hausinterne Themen ansprechen, weil sie sich ausschließlich in dieser Materie auskenne. Wenn sie sich aber an öffentliche Fragen heranwage, sei das wirr und unpassend.13 Das von Luther konsequent propagierte Prinzip, »Gott schuf Mann und Frau; die Frau sich zu mehren, den Mann zu nähren und zu wehren«14 sowie die daran gekoppelte räumlich-kommunikative Territorialisierung im Rahmen der Geschlechterordnung ist in der Frühen Neuzeit keineswegs bahnbrechend. Die geschlechtsspezifische Territorialisierung der weiblichen Kultur, die mit Bedeutungszuweisungen und Bewertungen einhergeht und dafür sorgt, dass Macht- und Besitzverhältnisse zugunsten des Mannes geregelt und soziale Handlungsgrenzen abgesteckt werden, hat eine lange Tradition und wird in der aktuellen Wissenschaftsdebatte als strukturelle Gewalt aufgefasst. Dieses von Johan Galtung ausgearbeitete Gewaltmodell gilt als notwendige Ergänzung zum Begriff direkter bzw. personaler Gewalt und hebt hervor, dass neben Personen auch gesellschaftlich-politische Strukturen Subjekte von Gewalt sein können. In beiden Fällen können Individuen im doppelten Sinne getötet oder verstümmelt, geschlagen oder verletzt und durch den strategischen Einsatz von Zuckerbrot und Peitsche manipuliert werden. Während aber diese Konsequenzen im Fall direkter Gewalthandlungen auf identifizierbare Täter zurückzuführen sind, kann strukturelle Gewalt keinen konkreten Akteuren zugeschrieben werden, weil sie auf Werten, Normen, Institutionen oder Diskursen basiert: »Hier tritt niemand in Erscheinung, der einem anderen direkt Schaden zufügen könnte; die Gewalt ist in das System eingebaut und äußert sich in ungleichen Machtverhältnissen und folglich in ungleichen Lebenschancen.«15 Die Bedingungen der strukturellen Gewalt sind demzufolge als »soziale Ungerechtigkeit«16 zu bezeichnen, die sich in Armut, Benachteiligung, Diskriminierung, Unterdrückung, Stigmatisierung, Ausgrenzung, Demütigung, Entwertung Entfremdung etc. manifestiert bzw. manifestieren kann. Die strukturelle Gewalt ist hiernach ein in die Sozialstruktur eingelassener und relativ stabiler Typus von Gewalt, der von Institutionen sozialer Kontrolle ausgeübt und keine klare Subjekt-Objekt-Beziehung erkennen lässt, jedoch mit klaren Folgen für die Betroffenen. Ein ähnlicher Gewaltgedanke klingt in Hannah Arends Begriff der »Niemandsherrschaft« an. Darunter versteht sie ein repressives System von Ämtern, Institutionen, Organisationen etc., das seine destruktive Dynamik eben daraus bezieht, dass Unterdrückungsinitiativen vollzogen werden, aber die Verursacher des Schadens bzw. die verantwortlichen Stellen schwer zu ermitteln sind: »Im Sinne der Tradition, welche die Tyrannis als Herrschaft definierte, der man keine 13 14 15 16
Luther: Tischreden. 2017, S. 110. Ebd., S. 109. Galtung, Johan: Strukturelle Gewalt. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1975, S. 12f. Ebd., S. 13.
Strukturelle Gewalt – Die Frau als Projektionsfläche symbolischer Ordnung(en)
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Rechenschaft abfordern kann, ist die Niemandsherrschaft die tyrannischste Staatsform, da es hier tatsächlich Niemanden mehr gibt, den man zur Verantwortung ziehen könnte.«17 Aus diesem Grund hält Galtung die Unterscheidung zwischen personaler und struktureller Gewalt nicht nur für grundlegend, sondern auch für gerechtfertigt. Er sieht keinen Grund zu der Annahme, dass personale Gewalt mehr Leid und Schmerz als strukturelle Gewalt mit sich bringt. Die personale Gewalt, die sich in den Körper physisch, psychisch und sexuell einschreiben kann, um ihn auf diese Weise als minderwertig und untertan zu stigmatisieren, ist zwar leichter festzustellen, aber »die stillen Wasser« der strukturellen Gewalt können viel gewalttätiger sein.18 Das geringe Interesse an der strukturellen Gewalt liegt seines Erachtens darin begründet, dass sie »geräuschlos« ist und im Verborgenen wirkt. Die Unterscheidung personale/strukturelle Gewalt geht insofern mit der Unterscheidung sichtbar/unsichtbar einher. Während das Objekt der personalen Gewalt den Gewaltakt normalerweise wahrnehmen und sich dagegen wehren kann, weil der Verursacher seines Schadens klar in Erscheinung tritt, werden die der strukturellen Gewalt zugrunde liegenden sozialen Ungleichheiten als naturgegeben eingestuft und nicht hinterfragt.19 Markus Schroer spricht in diesem Zusammenhang von einer Gewalt ohne Gesicht und betont, dass allein der Umstand, dass die Zurechnung auf individuelle Akteure nicht gelingt, kein überzeugender Grund dafür sein kann, auf die Einstufung der gesellschaftlichen Übelstände und Problemlagen als gewalttätig einfach zu verzichten.20 In seinen Überlegungen wird das in der Moderne waltende Konfliktpotenzial keineswegs nur an physischen Gewaltakten festgemacht. Er betont nachdrücklich, dass Gewalt ihr Gesicht ändern und auch symbolische oder sanfte(re) Züge annehmen kann. Sie versteckt sich und wandert in Räume ab, in denen man sie bisher nicht vermutete, um sich dort so erfolgreich zu tarnen, dass sie kaum noch als Gewalt erkennbar ist. Nicht zuletzt deshalb soll sie als ein äußerst unberechenbares und fluides Phänomen eingestuft werden, das sich nicht ein für alle Mal identifizieren und auf eine Form festlegen lässt.21 Sie wird von Institutionen sozialer Kontrolle ausgeübt, die Gewinner und Verlierer erzeugen, weil sie die einen in einem privilegierten Status positionieren und die anderen ins soziale Abseits stellen. Nicht jede soziale Gruppe verfügt über die Ressourcen – das ökonomische, kulturelle, soziale und psychische Kapital –, um 17 Arendt, Hannah: Macht und Gewalt. Aus dem Englischen von Gisela Uellenberg. München: Piper Verlag 2009, S. 39f. 18 Vgl. Galtung: Strukturelle Gewalt. 1975, S. 17. 19 Vgl. ebd., S. 16. 20 Vgl. Schroer, Markus: Gewalt ohne Gesicht. Zur Notwendigkeit einer umfassenden Analyse. In: Gewalt, Entwicklungen, Strukturen, Analyseprobleme. Hg. von Wilhelm Heitmeyer/HansGeorg Soeffner. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2004, S. 151–173, hier S. 158. 21 Vgl. ebd., S. 152.
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ihre Individualisierung als Gewinn zu erfahren. Es sind nämlich Zugehörigkeiten zu Familie, Klasse, Rasse, Stand, Geschlecht etc., die individuelle Schicksalsschläge abfedern und sich – je nach Kapitalsortenbesitz – entweder als Optionsgewinn oder als Verlustrechnung herausstellen.22 Die Spaltung zwischen beiden Erfahrungswelten ist kein Zufall. Sie kann auf soziokulturelle Entwicklungen und Entscheidungen zurückgeführt werden, die Galtung unter den Begriff strukturelle Gewalt subsumiert. Obwohl im gesellschaftlich-politischen Alltag gerade jene Risiken der Beeinträchtigung von Leib und Leben zahlreicher werden, die sich nicht individuellen Akteuren zurechnen lassen, stößt sein Konzept in den Sozialwissenschaften weitgehend auf Kritik und/oder Ablehnung. Dem Begriff der strukturellen Gewalt werden insbesondere dessen Überdehnung unterstellt, die aufgrund der in sie eingelassenen politisch-moralischen Konnotationen in Unbestimmbarkeit, Beliebigkeit und Totalisierung mündet.23 Trotz seiner problematischen Implikationen ist Galtungs Konzept für die vorliegende Studie insofern produktiv, als damit die weit gefasste Gewalt des Staates, der Kirche, der Familie, der (Hoch)Schule etc. zur Debatte gestellt wird. Sie drückt sich nicht nur in ihren Gesetzen, Instruktionen, Anordnungen, Geboten, Verboten und Urteilen oder in ihren Organen und Institutionen aus. Sie ist vielmehr in kulturellen Bedingungen, Rollenzuschreibungen, Einstellungen, Erwartungen, Zwängen, Denk- und Verhaltensmustern etc. erkennbar, die Formen sozialer Hierarchisierung und Unterdrückung produzieren, ohne dass gesellschaftliche Ordnungs- und Machtverhältnisse generalisierend als gewaltsam wahrgenommen werden (müssen). In diesem Kontext ist auch Zygmunt Baumanns Begriff institutionalisierter Zwangsmaßnamen anzusiedeln, die dermaßen routiniert und aus diesem Grund unsichtbar sind, dass sie als Gewalt weder in Frage gestellt noch verurteilt werden.24 Wenn man Geschlechterrollen und Geschlechtervorstellungen ins Visier fasst, basiert die von Galtung und seinen Befürwortern betonte soziale Ungleichheit auf dem subtilen Gewaltverhältnis des (öffentlichen) Patriarchats, das durch kulturell vermittelte weibliche Unterwerfung und männliche Überlegenheit gekennzeichnet ist. Es ist die anhaltende Geschlechterhierarchie, die als strukturelle Gewalt die sozialen Rollen bestimmt, indem sie dem weiblichen und männlichen Geschlecht unterschiedliche Handlungsoptionen zuweist und dadurch verschiedenartige Erfahrungen generiert. Die Kritik an patriarchalen Macht- und Herrschaftsstrukturen wird in wenigen Debatten so deutlich wie in jenen des Feminismus, der das Patriarchat als eine 22 Vgl. ebd., 156f. 23 Vgl. u. a. Geier, Andrea: Gewalt und Geschlecht. Diskurse in deutschsprachiger Prosa der 1980er und 1990er Jahre. Tübingen: Francke Verlag 2005, S. 41; Schroer: Gewalt ohne Gesicht. 2004, S. 158; Baberowski, Jörg: Räume der Gewalt. Frankfurt a.M.: Fischer 2015, S. 116. 24 Vgl. Baumann, Zygmunt: Alte und neue Gewalt. In: »Journal für Konflikt- und Gewaltforschung. Journal of Conflict and Violence Research.« Vol. 2, 1/2000, S. 28–42, hier S. 33f.
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gesellschaftliche Macht definiert, die Frauen nicht nur ökonomisch und sexuell ausbeutet, sondern auch »in Familie, Politik, Wissenschaft und Kultur Normen etabliert, die Männlichkeit aufwerten und Weiblichkeit abwerten, und die es Frauen verunmöglicht, eigene Begehrens- und Handlungsformen zu entwickeln.«25 In der Männlichkeitsforschung finden sich ebenfalls Ansätze, die bei der Auseinandersetzung mit der Institutionalisierung von Gewalt in verschiedenen Bereichen sozialen, politischen und ökonomischen Lebens sowie mit den Ursachen der männlichen Verstrickung in gewaltförmige Strukturen den Begriff »strukturelle Männergewalt« bevorzugen. Lothar Böhnisch und Reinhardt Winter verstehen darunter die legitimierte aber unsichtbare alltägliche Gewaltförmigkeit von Institutionen und Verkehrsformen, die sich in der frauenabwertenden Symbolik in Medien und Werbung, in der Beschränkung und Einschränkung von Frauen über die ›Gefährlichkeit‹ der Öffentlichkeit, in gesellschaftlich-politischen Hierarchiestrukturen und Unterdrückungsmechanismen oder in der Förderung der aggressiven Verhaltensmuster durch den Staat und seine Organe manifestiert.26 Gewalt wird – so Monika Szczepaniak – gesetzlich reglementiert aber nicht deshalb, weil die Gesellschaft sie missbilligen würde, sondern vielmehr, um sie der ausschließlichen Verfügung des Staates zu unterstellen. Eine der erfolgreichsten Strategien zur Vermittlung von Macht, Herrschaft und Gewalt im Prozess der Enkulturation ist die Sozialisierung von Körpern, die sich größtenteils auf vorreflexiver Ebene abspielt und auf die symbolische Dimension der Macht rekurriert.27 Unterstützung erhält die von Galtung angeregte und in der vorliegenden Studie verfolgte Perspektive auch von einer Reihe von Theoretikern, die auf die Gewaltsamkeit der Moderne bzw. des modernen Staates aufmerksam machen. In Birgit Sauers Überlegungen zu einem geschlechtersensiblen politikwissenschaftlichen Gewaltkonzept erscheint die »systematische Unsicherheit« von Frauen als immanente Dimension moderner Staaten. Genauso wie Schroer wirft sie der aktuellen Gewaltdebatte vor, die Regulierung von Gewalttätigkeit auf physische Gewalt zu beschränken und sowohl die Vielfältigkeit geschlechtsspezifischer Bedrohungs- und Unsicherheitslagen zu vernachlässigen als auch soziale Strukturen zu ignorieren, in deren Kontext Gewalt ausgeübt wird und die selbst Verletzungsoffenheit herstellen. Sie plädiert für einen geschlechtersensiblen Gewaltbegriff, der Gewalt in gesellschaftlichen Macht- und Herrschaftsverhältnissen verortet und eine geschlechtliche Gewalt25 Meyer, Katrin: Macht und Gewalt im Widerstreit. Politisches Denken nach Hannah Arendt. Basel: Schwabe Verlag 2016, S. 8. 26 Vgl. Böhnisch, Lothar/Winter, Reinhardt: Männliche Sozialisation. Bewältigungsprobleme männlicher Geschlechtsidentität im Lebenslauf. Weinheim-München: Juventa-Verlag 1997, S. 199f. 27 Vgl. Szczepaniak, Monika: Männer in Blau. Blaubart-Bilder in der deutschsprachigen Literatur. Köln: Böhlau Verlag 2005, S. 64.
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kultur inkludiert, der Aspekte direkter physischer, struktureller und kultureller Gewalt eigen sind.28 Ihr Anliegen besteht darin, die Vieldimensionalität der Verknüpfungen von Gewalt, Staat und Geschlecht sichtbar zu machen. Aus diesem Grund unternimmt sie eine konzeptuelle Klärung des Staates als maskulinistisches Herrschaftsverhältnis bzw. als geschlechtliches Gewaltverhältnis, um zu zeigen, wie die geschlechtsspezifische Gewaltstruktur moderner Staatlichkeit in den Arrangements des Wohlfahrtstaats »aufgehoben« und in strukturelle Gewalt, in die Beschneidung von Entwicklungsmöglichkeiten transformiert wird. Als »öffentliches Patriarchat« konzentrierte der Sozialstaat teilweise die maskulinistischen Gewaltmonopole wieder, etablierte dadurch aber neuartige staatliche Unterlassungs-, Vernachlässigungs- und Gewaltstrukturen.29 In dieser Perspektive institutionalisiert die Staatlichkeit nicht nur Gewalt im Sinne von »violentia«, sondern »potestas« institutionalisiert Beschädigungsverhältnisse, indem männliche Lebensentwürfe präferiert werden. Hegemoniale Staatsdiskurse »normalisieren« erwerbszentrierte Biographien, perpetuieren eine Geschlechtervormundschaft und etablieren Benachteiligung gegenüber Frauen.30 Mit dem hegemonialen Diskurs, der männliche Identitäten und Interessen präferiert und weibliche Lebenschancen minimiert, setzt sich auch Robert Connell auseinander. Im sozialen Geschlecht registriert er sowohl ein institutionelles und kulturelles als auch ein persönlichkeitsbildendes Muster, dessen Strukturelemente über drei Dimensionen verstreut sind, die die Geschlechterhierarchie entstehen lassen: Es sind 1) Machtbeziehungen mit der allgegenwärtigen Unterdrückung von Frauen als wichtigster Achse der Macht, 2) Produktionsbeziehungen mit solchen Aspekten wie geschlechtliche Arbeitsteilung, Akkumulation des Reichtums etc. und 3) emotionale Bindungsstruktur wie Begehren und die Praktiken, die es formen und realisieren.31 In diesem Zusammenhang spricht Connell von der »patriarchalen Dividende« – d. h. einem Prinzip, nach dem Männer durch einen Zugewinn an Achtung, Prestige und Befehlsgewalt vom Patriarchat profitieren, auch wenn sie in der männlichen Hierarchie ganz unten stehen oder abweichende Männlichkeiten verkörpern. Es handelt sich dabei um »hegemonic masculinity«, die sich nicht unbedingt durch direkte Gewaltanwendung gegenüber Frauen oder schwächeren Geschlechtsge28 Vgl. Sauer, Birgit: Geschlechtsspezifische Gewaltmäßigkeit rechtsstaatlicher Arrangements und wohlfahrtsstaatlicher Institutionalisierungen. Staatsbezogene Überlegungen einer geschlechtersensiblen politikwissenschaftlichen Perspektive. In: Gewaltverhältnisse. Feministische Perspektiven auf Geschlecht und Gewalt. Hg. von Regina-Maria Dackweiler/Reinhild Schäfer. Frankfurt a.M.: Campus Verlag 2002, S. 81–106, hier S. 86f. 29 Vgl. ebd., S. 83. 30 Vgl. ebd., S. 88. 31 Vgl. Connell, Robert: Der gemachte Mann. Konstruktion und Krise von Männlichkeit. Opladen: VS Verlag für Sozialwissenschaften 1999, S. 94f.
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nossen realisiert, sondern durch eine Reihe von systeminternen Mechanismen unterstützt wird und nicht zuletzt auf männlicher Autorität basiert, die ein großes Maß an Zustimmung der Beherrschten voraussetzt.32 Das Zusammenspiel dieser drei Dimensionen konstituiert das soziale Geschlecht und sorgt dafür, dass die männliche Dominanz als soziales Strukturprinzip verfestigt und aufrechterhalten wird. Einen ähnlichen Standpunkt vertritt Dirk Baecker, indem er von einem vierstelligen Phänomen spricht, das sich aus 1) Frauen, 2) Männern, 3) Spitzenpositionen und 4) der Hierarchie der Gesellschaft zusammensetzt.33 Zu allen vier Elementen gibt es dezidierte Auffassungen aus gutbelegter Forschung, die den Mechanismus der geschlechtsspezifischen Differenzierung zu erklären vermögen: Charakter, Temperament, Klugheit und abweichende Interessen lassen Frauen nur selten den Ehrgeiz entwickeln, ganz oben in der Gesellschaft anzukommen; Männer werden es letztlich immer darauf anlegen, die gegenüber Frauen überlegene Position einzunehmen; gesellschaftliche Organisationen sind so gebaut, dass sie entscheidende Führung, wenn nicht sogar Arbeit von Männern erwarten; gesellschaftliche Hierarchie fußt immer noch auf jener Kultur der Angriffs- und Verteidigungsfähigkeit, die »starken« Männern die superiore und »schwachen« Frauen die inferiore Position zuweist.34 Obwohl es zu jedem Punkt dieses kulturellen Wissens ein gegenteiliges Wissen um starke Frauen und schwache Männer gibt, enthält das letzte eine Sollbruchstelle, die »ein Produkt des alten Netzwerkes ist und das es diesem ermöglicht, trotz aller Verbesserungen im Detail, in die alten Zustände zurückzuspringen […]. Solange es kein neues Netzwerk gibt, können die vier Stellen keine neue Qualität annehmen, die das Zurückspringen in die alten Zustände verhindern würde.«35 Daraus resultiert auch Baeckers Modell der Zwei-Gesamtzustände-Gesellschaft. Der eine Gesamtzustand entspricht einer spielerischen und heteroarchischen Erkundung der eigenen Möglichkeiten, der andere Gesamtzustand der Stress- und Konfliktbewältigung durch geschlechtsspezifische Hierarchisierung. Eine solche Dualität von Formprinzipien (spielerische Symmetrie und unverhandelbare Asymmetrie), die sich ausschließen, aber wechselseitig fordern, ist als selbstähnliches Strukturelement jeder gesellschaftlichen Situation zu begreifen.36 Zwar stellen die Dichotomisierungen von Frau und Mann, die auf einem unerbittlichen Entweder-Oder-Regime aufbauen, kein explizites Gewaltverhältnis dar, dass »sie aber mit Gewalt zu tun haben, sieht man spätestens dann, wenn man genauer 32 Vgl. ebd., S. 91. 33 Vgl. Baecker, Dirk: Männer und Frauen im Netzwerk der Hierarchie. In: Frauen, Männer, Gender Trouble. Systemtheoretische Essays. Hg. von Ursula Pasero/Christine Weinbach. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003, S. 125–143, hier S. 126. 34 Vgl. ebd., S. 127. 35 Ebd. 36 Vgl. ebd., S. 129.
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betrachtet, wie mit denjenigen umgegangen wird, die sich den starren Einteilungen entziehen: Ausgrenzung, Vernichtung oder Einverleibung sind die bevorzugten Strategien, das nicht Paßformgerechte paßförmig zu machen.«37 Mit dem Begriff kultureller Gewalt vervollständigt Galtung sein Gewaltkonzept, wobei er direkte, strukturelle und kulturelle Gewalt als Kategorien betrachtet, die einander bedingen: Direkte Gewalt ist ein Ereignis, strukturelle Gewalt ist ein Prozess mit Höhen und Tiefen, kulturelle Gewalt ist eine Invariante, eine ›Permanenz‹, die aufgrund der nur langsamen Transformationen grundlegender kultureller Aspekte über lange Zeiträume hinweg im Wesentlichen unverändert bleibt.38 Kulturelle Gewalt ist ein Instrument zur Legitimation struktureller Gewalt. Sie zielt darauf ab, direkte oder strukturelle Gewalt als rechtmäßig oder zumindest nicht als Unrecht erscheinen zu lassen und sie so für die Gesellschaft akzeptabel zu machen. Sie funktioniert und wirkt in dem Maße, wie es ihr gelingt, die moralische Färbung einer Handlung von falsch auf richtig bzw. akzeptabel oder bedenkenlos umzuschalten und die gesellschaftliche Wahrnehmung von Handlungen oder Tatsachen als Gewalt zu verschleiern.39 Ins kollektive Bewusstsein gelangt kulturelle Gewalt insbesondere über solche Medien wie Religion, Ideologie, Sprache, Kunst oder Wissenschaft. Ähnlich argumentiert Pierre Bourdieu mit seinem Begriff der symbolischen Gewalt: »Es ist jene sanfte, für ihre Opfer unmerkliche, unsichtbare Gewalt, die im wesentlichen über die rein symbolischen Wege der Kommunikation und des Erkennens, oder genauer des Verkennens, des Anerkennens oder, äußerstenfalls, des Gefühls ausgeübt wird.«40 Zygmunt Baumanns Konzept von kultureller Gewalt geht ebenfalls nicht von einem Akteur aus, sondern betrachtet Einteilungen und Bewertungen innerhalb einer Kultur selbst schon als gewalttätig. Einen zentralen Begriff stellt in seinem Gewaltverständnis die Klassifikation dar, die Exklusionsmechanismen in Gang setzt und physische Gewaltakte nach sich zieht bzw. ziehen kann. Sie erzeugt nämlich ein Ordnungsmodell, das auf einer machtgestützten Differenzierung aufbaut und keine Mischung von Kategorien duldet. In den für die Praxis und die Vision gesellschaftlicher Ordnung wichtigen Dichotomien versteckt sich die differenzierende Macht in der Regel hinter einem der Glieder der Opposition. Das zweite Glied ist nur das Andere des ersten, d. h. seine entgegengesetzte (degradierte, unterdrückte, exilierte) Seite und seine Schöp-
37 Schroer: Gewalt ohne Gesicht. 2004, S. 160. 38 Vgl. Galtung, Johan: Frieden mit friedlichen Mitteln. Friede und Konflikt, Entwicklung und Kultur. Opladen: Leske + Budrich 1998, S. 348. 39 Ebd., S. 341–342. 40 Bourdieu, Pierre: Die symbolische Gewalt. In: Gewalt. Texte von der Antike bis in die Gegenwart. Hg. von Johannes Müller-Salo. Stuttgart: Reclam 2018, S. 121–129, hier S. 121.
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fung.41 Beide Seiten hängen zwar voneinander ab, aber die Abhängigkeit ist nicht symmetrisch. So verkörpert die Frau das Andere des Mannes: Sie hängt von ihm hinsichtlich ihrer ins Werk gesetzten und erzwungenen Isolierung ab, während er sie aufgrund seiner Selbstbehauptung braucht. Steffani Engler pflichtet dieser Gewaltdefinition bei, indem sie davon ausgeht, dass die Aufrechterhaltung von Herrschaftsverhältnissen in den alltäglichen Beziehungen nicht auf brutalem Zwang und nackter Gewalt basiert, sondern in Selbstverständlichkeiten des Denkens und Handelns sowie in Wahrnehmungs- und Bewertungsschemata der AkteurInnen eingelagert ist, so dass sie als solche überhaupt nicht erkannt wird. Symbolische Gewalt ist eine subtile und verborgene Machtausübung, die bewirkt, dass bestimmte Aspekte außerhalb kritischer Infragestellung stehen.42 Diese in die soziale Beziehung eingelassene Form von Gewalt zwingt die Logik einer Herrschaft auf, die im Namen eines symbolischen Prinzips ausgeübt und sowohl von Herrschenden als auch Beherrschten anerkannt wird. Dabei kann es sich um eine Sprache, einen Lebensstil, eine Denk-, Sprech- und Handlungsweise oder allgemeiner um eine distinktive Eigenschaft bzw. ein Stigma handeln, unter denen das Geschlecht symbolisch besonders wirksam ist.43 Manifest wird der den Männern universell zuerkannte Vorrang – so Bourdieu – zum einen in der Objektivität der sozialen Strukturen und der produktiven und reproduktiven Tätigkeiten, die auf einer geschlechtlichen Arbeitsteilung der biologischen und sozialen Produktion gründen, die dem Mann den besseren Part zuweist, und zum anderen in den allen Habitus immanenten Schemata. Durch gleichartige Bedingungen geprägt und daher objektiv aufeinander abgestimmt, funktionieren diese Schemata als allgemein geteilte Wahrnehmungs-, Bewertungs-, Denk- und Handlungsmatrizen, die darauf abzielen, Macht- und Herrschaftsverhältnisse und die in ihnen eingelagerten Gewaltstrukturen als natürlich erscheinen zu lassen. Dementsprechend kommt der androzentrischen Vorstellung von der biologischen und sozialen Reproduktion die Objektivität des Alltagsverstands, d. h. eines praktischen Konsens der Meinungen über den Sinn der Praktiken zu, die die Frauen auf jeden Sachverhalt und insbesondere auf Machtverhältnisse anwenden, in denen sie gefangen sind.44 Ulrike Brockhaus und Maren Kolshorn sprechen in diesem Zusammenhang von symbolischen Repräsentationen und meinen damit Bilder, die Wahrnehmungen und Orientierungen eines Indivi41 Vgl. Baumann, Zygmunt: Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit. Aus dem Englischen von Martin Suhr. Hamburg: Hamburger Edition 2012, S. 32. 42 Vgl. Engler, Steffani: Pierre Bourdieus Beitrag zum Verstehen symbolischer Herrschaft. In: Forschungsfeld Politik. Geschlechtskategoriale Einführung in die Sozialwissenschaften. Hg. von Cilja Harders/Heike Kahlert/Delia Schindler. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2005, S. 127–146, hier S. 130. 43 Vgl. Bourdieu: Die symbolische Gewalt. 2018, S. 121. 44 Vgl., ebd., S. 122.
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duums leiten und bestimmte Verhaltensweisen hemmen oder begünstigen können. Menschen handeln nämlich aufgrund der konstruierten, definierten und ausgehandelten Bedeutungen, die von ihnen verinnerlicht und als subjektives Abbild in ihrem Bewusstsein repräsentiert werden. Für eine patriarchale Gesellschaft sind sexistische Repräsentationen wie die traditionellen Geschlechtsrollen und die dazugehörigen Mythen charakteristisch.45 Machtdifferenzen zwischen den Geschlechtern sowie eine patriarchal gefärbte Gewaltkultur sind demzufolge als Produkt einer geschichtlichen Reproduktionsarbeit zu verstehen, »an der einzelne Akteure (darunter Männer mit den Waffen der physischen und symbolischen Gewalt) und Institutionen, die Familien, die Kirche, die Schule, der Staat beteiligt sind.«46 Sie werden in dem Maße unkenntlich, wie sie nicht mehr hinterfragbar erscheinen und damit verkannt, aber zugleich auch anerkannt werden. Die symbolische Gewalt ist demnach »eine Form von Macht, die jenseits allen physischen Zwangs unmittelbar und wie durch Magie auf die Körper ausgeübt wird.«47 Wirkung erzielt aber diese Magie dank Dispositionen, die wie Triebfedern in die Tiefe des Körpers eingelassen sind und ihn dazu drängen, die auferlegten Schranken stillschweigend zu akzeptieren.48 Das kann zu einer Art systematischen (Selbst)Abwertung bzw. (Selbst)Entwürdigung führen, die sich vor allem in der gesellschaftlichen Akzeptanz eines allgemein defizitären Frauenbildes artikuliert und einen (Selbst)Ausschluss bewirkt. Nach der Beseitigung äußerer Zwänge und dem Erwerb der formalen Freiheiten – des Wahlrechts, des Rechts auf Bildung, des Zugangs zu allen Berufen und Positionen – treten der Selbstausschluss und die »Berufung« mit ihren negativen wie positiven Effekten an die Stelle des ausdrücklichen Ausschlusses. Der Ausschluss von den öffentlichen Plätzen braucht heutzutage mit keinen expliziten Maßnahmen, Prozeduren, Verfahren etc. untermauert zu werden. Ebenso effektiv kann er durch diese Art gesellschaftlich aufgezwungener Agoraphobie sein, die die Aufhebung der sichtbarsten Verbote lange Zeit überdauern kann und die die Frauen dazu bringt, sich von der agora selbst auszuschließen.49 Ein aktuelles Beispiel dafür liefert die Familienpolitik der konservativen Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS) in Polen, die in der Institution der katholischen Kirche (oder auch umgekehrt) einen mächtigen Verbündeten findet. Ihre zwei wichtigsten Eckpunkte haben zum Ziel, das traditionelle Familienmodell zu stärken, in dessen Rahmen die Frau in der Mutter- und Betreuungsrolle posi45 Vgl. Brockhaus, Ulrike/Kolshorn, Maren: Die Ursachen sexueller Gewalt. In: Sexueller Mißbrauch. Überblick zu Forschung, Beratung und Therapie. Ein Handbuch. Hg. von Gabriele Amann/Rudolf Wipplinger. Tübingen: Dgvt-Verlag 1997, S. 89–106, hier S. 98. 46 Bourdieu, Pierre: Die Männliche Herrschaft. Frankfurt a.M: Suhrkamp 2005, S. 65. 47 Bourdieu: Die symbolische Gewalt. 2018, S. 126. 48 Vgl. ebd. 49 Vgl. ebd., S. 128.
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tioniert und (wieder) an den Herd gebunden wird. Es ist einerseits das Programm »Familie 500 plus«, das in seiner erweiterten ambitionierten Fassung – unabhängig von dem Einkommen der Eltern oder der Erziehungsberechtigten – für jedes minderjährige Kind in der Familie ein Kindergeld von monatlich 500 Zloty (ca. 115 Euro) vorsieht und ein Ansteigen der Geburtenrate nach sich ziehen soll. Bewertet man das PiS-Förderprogramm mit Blick auf die Steigerung der Lebensqualität der polnischen Familien und die finanzielle Entlastung bei der Kindererziehung, fällt das Urteil eindeutig positiv aus. Die spontane Euphorie lässt jedoch nach, wenn man den negativen Einfluss des Projekts auf die Situation der Frauen in Polen kritisch hinterfragt. Bereits in der Phase des Gesetzesentwurfes formulierten viele Experten und Expertinnen Befürchtungen, die inzwischen Realität werden: Immer mehr Frauen ziehen sich aus dem Arbeitsmarkt zurück, weil sie zwar ein beschränktes, aber dauerhaftes Einkommen aufgrund der Kindererziehung bekommen. Dies gilt vor allem für bildungsferne Frauen im kleinstädtischen/ländlichen Raum, der keine vielversprechenden beruflichen Perspektiven bietet als auch für Arbeiterinnen im Niedriglohnsektor, in dem sie schlechter als Männer bezahlt werden.50 Falls die PiS-Regierung außerdem noch das 2018 angekündigte und höchst kontrovers diskutierte Ergänzungsprojekt »Mama 500 plus« in die Tat umsetzt, wird die Präsenz der Frauen auf dem Arbeitsmarkt vermutlich noch geringer sein. Es stellt nämlich unter anderem eine zusätzliche finanzielle Prämie denjenigen Frauen in Aussicht, die sich entscheiden, innerhalb von zwei Jahren nach der letzten Geburt ein weiteres Kind zur Welt zu bringen. Dieses Projekt der Familienbelebung wird andererseits durch die Einführung eines geschlechtsspezifischen Renteneintrittsalters komplementiert, das den Frauen ermöglicht, bereits mit 60 Jahren aus dem Berufsleben auszuscheiden. Vermutlich sollten sie sich dann – so Małgorzata Druciarek – um die Enkelkinder kümmern, die keinen Platz in der Krippe bekommen haben, oder um ältere Menschen, für die Polen außer Einrichtungen der Sozialhilfe gar keine Betreuungsinstitutionen bereitstellt. Die Reform des Rentensystems wird den Unterschied zwischen dem durchschnittlichen Rentenniveau der Frauen und Männer noch weiter vertiefen. Frauen, die sowieso von Disproportionen in den Einkommen betroffen sind, weil sie häufiger in schlechter bezahlten Berufen arbeiten, weniger Aufstiegsmöglichkeiten haben, seltener Leitungsfunktionen ausüben und Pausen in der Erwerbstätigkeit infolge der Geburt und der Erziehung der Kinder einlegen müssen, sollen nun infolge der eingeführten Rentenreform sieben Jahre kürzer arbeiten, wodurch ihr Rentenkapital noch geringer sein wird. 50 Vgl. Druciarek, Małgorzata: »Familie 500 plus« – für Frauen ein Minus. Die Familienpolitik der Regierung und ihre möglichen Folgen aus der Perspektive der Geschlechtergleichheit. In: »Polen-Analysen« Nr. 186 vom 06. 09. 2016, S. 2–6, hier S. 4f.
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Die Privatisierung der Betreuung, d. h. die Übertragung der häuslichen Kinder- und Enkelkinderbetreuung sowie der Betreuung der älteren Eltern auf die Frauen ermöglicht dem Staat Einsparungen, weil es ihm erlaubt, Investitionen in Betreuungsdienste, in den Bau von Kinderkrippen und Betreuungsausrichtungen für ältere Menschen zurückzuhalten.51 Obwohl das Problem, das weibliche Geschlecht mit der Betreuungsarbeit zu belasten nicht nur ein symbolisches, sondern auch ein materielles Ausmaß hat, passen sich viele Frauen in Polen den Dispositionen an, die ihnen die soziale und nach dem androzentrischen Einteilungsprinzip organisierte Ordnung geschickt auferlegt. Eben aus diesem Grund behauptet Bourdieu – ohne es als Vorwurf zu formulieren – dass die symbolische Macht ihre Wirkung nicht ohne den Beitrag deren entfalten kann, die ihr unterliegen und die ihr nur deshalb unterliegen, weil sie sie als solche konstruieren. Er betont, dass es völlig abwegig ist, Frauen die Verantwortung für ihre Unterdrückung bzw. für ihre Benachteiligung zuzuschreiben, indem man suggeriert, sie wählten sich die Praktiken der Unterwerfung selbst oder sie liebten es, beherrscht zu werden, weil sie die ihnen wiederfahrende Behandlung aufgrund eines in ihrer Natur liegenden Masochismus genössen. Die Tendenz zur Unterwerfung, auf die man sich immer noch beruft, um »die Opfer« zu tadeln, sind das Produkt objektiver Strukturen, die ihre Wirksamkeit nur den Dispositionen verdanken, die von ihnen ausgelöst werden und zu ihrer Reproduktion beitragen.52 Die soziale Welt konstruiert nämlich den Unterschied zwischen den biologischen Geschlechtern gemäß einer mythischen Weltsicht, die in der willkürlichen Beziehung der Herrschaft der Männer über die Frauen wurzelt und mit der ungleichen Macht- und Ressourcenverteilung ihrerseits zur Wirklichkeit der sozialen Ordnung gehört. Der biologische Unterschied zwischen den Geschlechtern und insbesondere der anatomische Unterschied zwischen den Geschlechtsorganen erscheint in dieser Perspektive als natürliche Rechtefertigung des gesellschaftlich konstruierten Unterschieds zwischen den Geschlechtern und insbesondere der geschlechtlichen Arbeitsteilung.53 In Anlehnung an Bourdieu fügt Beate Krais hinzu, dass die Wahrnehmung der Welt durch Ordnungsvorstellungen angeleitet und organisiert wird, die nicht nur vorgeben, wie die Welt gesehen wird, sondern auch, was überhaupt wahrgenommen wird, d. h. worauf sich Aufmerksamkeit richtet: »Gegenstände, Handlungen, Gesten, Bewegungen, das Sprechen, selbst Räume werden danach sortiert, ob sie männlich oder weiblich sind, der Welt der Frauen oder der der Männer angehören, was weiblich ist, kann nicht männlich sein und umgekehrt; konkrete Handlungen, Äußerungen, die Erscheinungsweise einer Frau oder eines Mannes werden in der 51 Vgl. ebd., S. 5. 52 Vgl. Bourdieu: Die männliche Herrschaft. 2005, S. 74. 53 Vgl. ebd., S. 22f.
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alltäglichen Interaktion immer auch daraufhin überprüft, ob sie dem entsprechen, was einer Frau bzw. einem Mann erlaubt ist; Grenzen zwischen den beiden Welten, Grenzen des Erlaubten werden beachtet, überschritten, eingerissen und neu gezogen.«54 Sie bestätigt damit, dass die symbolische Gewalt als eine Form Herrschaftsausübung unmittelbar auf den Habitus zurückzuführen ist, der »einen Komplex von Denk- und Sichtweisen, von Wahrnehmungsschemata, von Prinzipien des Urteilens und Bewertens« darstellt und im Körper dermaßen verankert ist, dass alle expressiven, sprachlichen und praktischen Äußerungen von ihm strukturiert werden.55 Im Habitus artikuliert sich demzufolge die symbolische Ordnung der Sozialstruktur, die den physischen, ökonomischen und kulturellen Machtstrukturen unterliegt und dafür sorgt, dass bestehende Machtund Herrschaftsverhältnisse (re)produziert und als ›Natur‹ diagnostiziert werden. Der zweigeschlechtliche Habitus durchzieht alle Ebenen des gesellschaftlichen Feldes und speist sich aus kulturellen Idealbildern von männlicher Superiorität. Obwohl es in demokratischen Gesellschaften seit Jahren gesetzliche Vorgaben zur Gleichstellung von Frau und Mann gibt, werden erwerbstätige und gut ausgebildete Frauen nach wie vor benachteiligt, »weil sie in Branchen und Berufen arbeiten, für die in Form mittelbarer Diskriminierung ein niedrigeres Entgeltniveau charakteristisch ist, sei es, weil eine unmittelbare Diskriminierung gegenüber Männern besteht.«56 Um die vorhandene Kluft zwischen rechtlicher und faktischer Gleichstellung zu reduzieren, haben mehrere europäische Länder Frauenquote eingeführt, die zum Ziel hat, die verkrusteten Strukturen aufzubrechen und den Weg in eine neue Gesellschaft, in der die Geschlechterdifferenz ihren Status als »Leitdifferenz«57 einbüßt. Doch diese gesetzliche Maßnahme ist weder unproblematisch noch eindeutig. Ihren turbulenten Charakter verdankt sie nicht zuletzt einer Paradoxie, die sie (un)bewusst auslöst: Durch die explizite Hervorhebung der Geschlechterungleichheit wird nun versucht, die Geschlechtergleichheit zu erzielen. Auch wenn die (freiwillige?) Frauenquote unter Beweis stellt, dass »geschlechtshierarchische Verteilungsasymmetrien«58 in der heutigen Welt begründungbedürftig geworden sind und eine neue Bewegung in Richtung 54 Krais, Beate: Geschlechterverhältnis und symbolische Gewalt. In: Praxis und Ästhetik. Neue Perspektiven im Denken Pierre Bourdieus. Hg. von Gunther Gebauer/Christoph Wulf/Pierre Bourdieu. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993, S. 208–250, hier S. 211f. 55 Ebd., S. 216. 56 Drescher, Franziska/Schrott, Peter: Einflussfaktoren auf die Einstellung zur Frauenquote. In: »WSI Mitteilungen.« Zeitschrift des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts der Hans Böckler-Stiftung. Ausgabe 2/2015, S. 1–8, hier S. 1. 57 Wetterer, Angelika: Rhetorische Modernisierung: Das Verschwinden der Ungleichheit aus dem zeitgenössischen Differenzwissen. In: Achsen der Differenz. Gesellschaftstheorie und feministische Kritik II. Hg. von Gudrun-Axeli Knapp/Angelika Wetterer. Münster: Westfälisches Dampfboot 2003, S. 286–319, hier S. 287. 58 Ebd., S. 289.
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neuer Denkmuster in Erscheinung tritt, hat sich die Hypothese, dass sie bei hoher Geschlechterungleichheit ein starkes Signal setzt, nicht bestätigt. Auch wenn die Beteiligung von Frauen am Arbeitsmarkt über die letzten Jahrzehnte sichtbar angestiegen ist, sind sie viel häufiger als Männer in den unteren Einkommensregionen beschäftigt, und je höher man in der Einkommensverteilung aufsteigt, desto geringer wird der Frauenanteil. Besonders in den Top-Einkommenspositionen und auf höheren Leitungsebenen wird deutlich, dass die gesetzliche Frauenquote keine sichtbaren Effekte zeitigt und es immer noch nicht vermag, die »gläserne Decke«59 durchzuschlagen. Angelika Wetterer verwendet in diesem Zusammenhang den Begriff »rhetorische Modernisierung«60, der auf Ungleichzeitigkeiten zwischen dem modernen Differenzwissen und der sozialen Praxis verweist. Gemeint ist damit, dass die auf dem Unterschied der Geschlechter und der hierarchischen Geschlechterordnung basierende Lehre, die den Gesellschaftsmitgliedern konsequent eingeprägt worden ist, einen Vorsprung herausholen konnte und den Strukturen der Geschlechterverhältnisse und großen Teilen der sozialen Praxis ein ganzes Stück vorauseilt.61 Damit knüpft sie an Bourdieu an, der von der Institutionalisierung alter Werte und Verhaltensmuster spricht, die nur partiell die Form einer expliziten pädagogischen Aktion annimmt. Sie ist vielmehr der automatische und subjektlose Effekt einer physischen und sozialen Ordnung, die gänzlich nach androzentrischen Einteilungsprinzipien organisiert ist und sich durch kollektive und private Rituale sowie alltägliche Regelmäßigkeiten in die Körper einprägt. Sie schließen die Frauen von wichtigen Funktionen aus, weisen ihnen einen marginalen Platz zu, lehren sie eine geziemende Haltung und übertragen ihnen niedrige Aufgaben. Dabei ziehen sie Nutzen »aus den biologischen Unterschieden im Sinne grundlegender Voraussetzungen, die es dann so aussehen lassen, als ob diese biologischen Unterschiede den sozialen Unterschieden zugrunde lägen.«62 Ähnlich argumentiert Michel Foucault, indem er den Körper als Gegenstand gebieterischer und eindringlicher Besetzungen definiert: In jeder Gesellschaft wird der Körper von sehr harten Mächten vereinnahmt, die ihm mit Hilfe von Disziplin Zwänge, Verbote und Verpflichtungen auferlegen, um ihn in ihre Gewalt zu bringen. Die Disziplin ist eine Modalität der Ausübung von Gewalt, d. h. ein Komplex von Instrumenten, Techniken, Prozeduren, Einsatzebenen, Zielscheiben etc. und kann weder mit einer Institution noch mit einem Apparat eindeutig identifiziert werden. Sie kann aber sowohl von Institutionen – wie der Kirche, (Hoch)Schule, Familie, Straf-, Besserungs- oder Erziehungsanstalt etc. – als auch von Staatsapparaten 59 Morrison, Ann/White, Randall/Velsor, Ellen: Breaking the Glass Ceiling. Can Women Reach the Top of Amerika’s Largest Corporations? Boston: Addison-Wesley Publishing 1987. 60 Wetterer: Rhetorische Modernisierung. 2003, S. 289. 61 Vgl. ebd. 62 Bourdieu: Die männliche Herrschaft. 2005, S. 46f.
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eingesetzt werden, um den Körper einerseits gelehrig/nützlich zu machen und ihn andererseits in ein Verhältnis strikter Unterwerfung zu bringen.63 Ähnlich wie bei Bourdieu stellt der Körper auch in Foucaults »Körper-Kontroll-Politik« keine physische Manifestation dar, sondern ein durch und durch soziales Gebilde, dem die jeweilige Gesellschaftsform ihren Stempel aufdrückt und sowohl Toleranzgrenzzonen als auch Grenzwerte definiert und sie je nach Bedarf verschiebt.64 Indem der Körper zur Zielscheibe sozialer Kontrolle wird, bietet er sich den Normalisierungspraktiken dar, die ihn charakterisieren, klassifizieren, tabellieren, spezialisieren, um ihn entlang einer Skala zu verteilen und seine Position in der sozialen Rangordnung zu bestimmen: »Aus dem formlosen Teig, aus einem untauglichen Körper macht man die Maschine, deren man bedarf; Schritt für Schritt hat man die Haltungen zurecht gerichtet, bis ein kalkulierter Zwang jeden Körperteil durchzieht und bemeistert, den gesamten Körper zusammenhält und verfügbar macht und sich insgeheim bis in die Automatik der Gewohnheiten durchsetzte.«65 Auch wenn Foucault in seinen Ausführungen deutlich macht, dass die Macht der Normalisierung nicht darauf abzielt, den Körper zu unterdrücken, sondern primär daran orientiert ist, den Körper so umzuformen, dass eine perfekte Zusammenhaltung von Körper und Geste erreicht wird, macht er keinen Hehl daraus, dass sie sowohl vereinheitlichend als auch differenzierend, hierarchisierend und schließlich exkludierend wirkt. Es ist nämlich eine Machtform, die »einen unterwirft und zu jemandes Subjekt macht.«66 In Anschluss an Foucault und Bourdieu identifiziert auch Judith Butler soziale Praktiken als Akte kollaborativer Interaktion, die durch die ritualisierte Einübung und Wiederholung von Normen darauf gerichtet sind, den Glauben an die »Offensichtlichkeit« einer gegebenen Kultur zu erzeugen und aufrechtzuerhalten. Damit betont sie den Ort des Körpers, seiner Gesten und seiner Stile nicht nur als Schauplatz, an dem sich ein praktisches Wissen immer wieder herstellt, sondern auch als Speicher einer verkörperten Geschichte.67 Es sind gesellschaftliche Konventionen, die den Körper mit Leben erfüllen und von ihm als Praktiken reproduziert und ritualisiert werden. So wird der Habitus geformt, aber er wirkt auch formend: Der körperliche Habitus stellt in diesem Sinne eine stillschweigende Form von Performativität dar, eine Zitatenkette, die auf der Ebene des Körpers gelebt und 63 Vgl. Foucault, Michel: Überwachen und Strafen. In: Gewalt. Texte von der Antike bis in die Gegenwart. Hg. von Johannes Müller-Salo. Stuttgart: Reclam 2018, S. 170–180, hier. S. 171f. 64 Vgl. Reuter, Julia: Geschlecht und Körper. Studien zur Materialität und Inszenierung gesellschaftlicher Wirklichkeit. Bielefeld: transcript Verlag 2011, S. 72f. 65 Foucault, Michel: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1976, S. 173. 66 Foucault, Michel: Warum ich die Macht untersuche: Die Frage des Subjekts. In: Der FoucaultReader. Diskurs und Medien. Hg. von Jan Engelmann. Frankfurt a.M.: Deutsche VerlagsAnstalt 1999, S. 161–170, hier S. 166. 67 Vgl. Butler, Judith: Haß spricht. Zur Politik des Performativen. Berlin: Suhrkamp 2013, S. 238.
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geglaubt wird. Er ist also einerseits ein Ort der Reproduktion des Glaubens an die Wirklichkeit eines gegebenen gesellschaftlichen Feldes und andererseits generiert er Dispositionen, die das gesellschaftliche Subjekt dazu neigen lassen, in relativer Übereinstimmung mit den scheinbar objektiven Anforderungen dieses Feldes zu handeln.68 Die konstruktive Macht der stillschweigenden Performativität – so Butler – liegt gerade darin, dass sie eine praktische Wahrnehmung des Körpers herzustellen vermag, und zwar nicht nur eine Wahrnehmung dessen, was der Körper ist, sondern auch eine Art, wie er sich Raum schafft (oder nicht) und seinen Ort in den herrschenden kulturellen Koordinaten einnimmt. Es handelt sich dabei um eine mächtige und hinterhältige Form, in der Subjekte aus zerstreuten sozialen Bereichen in ein gesellschaftliches Leben gerufen werden, in der ihre soziale Existenz mit einer Vielzahl diffuser und mächtiger Anrufungen inauguriert wird. In dieser Hinsicht ist die gesellschaftliche Performativität nicht nur ein wesentlicher Bestandteil der Subjektbildung, sondern ebenso der kulturellen Auseinandersetzung um das Subjekt und seine (Re)Formulierung. Sie ist nicht nur eine rituelle Praxis, sondern auch eines der einflussreichen Rituale, mit denen Subjekte gebildet und (re)formuliert werden.69 Soziale Praktiken besitzen demnach insofern einen performativen Charakter, indem sie den Körper in das regulierende Gesetz sozialer Normen einbinden und die Bedeutungen in Form konkreter Denkmuster, Handlungsschemata und Erwartungen nicht nur repräsentieren, sondern sie auch evozieren oder transformieren. Wenn auch sich der Begriff der Performanz stellenweise mit dem der sozialen Praxis überlappt, macht Julia Reuter zu Recht auf die Notwendigkeit einer Differenzierung aufmerksam: Soziale PraktikerInnen sind nämlich keine »frei flottierenden Konstrukteure«, wie der Performanzbegriff in seiner theater- und sprachwissenschaftlichen Konzeption stellenweise implementiert. Handlungspraktiken stützen sich auf kulturelle Wissens- und Bedeutungsmatrix, die sich den Praxiszügen so unterlegt, dass sie zu ihrer impliziten Geregeltheit und sozialer Angemessenheit beiträgt. Praktiken beziehen sich also immer auf soziale Gepflogenheiten und kulturelle Ressourcen, die nicht nur als geordnetes Ensemble von kulturellen Wissensbeständen zu denken sind. Solche Ressourcen stellen gleichermaßen ein Repertoire an praktischem Wissen und interpretativem Können zur Verfügung, ein »Wissen-wie«, das sich erst in konkreten Praktiken vollständig ausformt. Dieses sogenannte Wissen stellt eine zentrale Modalität von Kultur dar, denn es enthält nicht nur Ideen und Annahmen über die Welt, sondern es zeigt vor allem die Kultur in ihrem Einsatz und rückt damit dynamische Fragen nach Variation, praktischem Austausch und Wandel in den Vordergrund. Es ist dann der Doppelcharakter von Kultur, der die Praxis als kontinuierliche Mischung aus 68 Vgl. ebd., S. 242. 69 Vgl. ebd., S. 249.
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Routine und Reflexion, Wiederholung und Neuerschließung ausweist.70 Mit dem Verweis auf die Performace des Geschlechts werden hiernach sowohl ritualisierte Praktiken als auch Geschicklichkeit und Kompetenz der (weiblichen) Akteure im alltäglichen Praxiszusammenhang hervorgehoben. In den bisher skizzierten Konzepten ist implizit die These angelegt, die die britische Anthropologin Mary Douglas in ihrer Studie Ritual, Tabu und Körpersymbolik explizit formuliert: Der Körper ist ein Symbol gesellschaftlicher Strukturen und es hängt von der jeweiligen Gesellschaft ab, wie der Körper symbolhaft wird bzw. wie er als Symbol verwendet wird. Sie argumentiert mit dem Verweis auf das wechselseitige Bedingungsverhältnis zwischen dem Sozialsystem (Gesellschaft, Kultur) und dem Symbolsystem (Körper als Ausdrucksmedium), wobei der besondere Akzent auf der Prägekraft des Sozialsystems auf den Körper als Sozialsystem liegt: »Der Körper als soziales Gebilde steuert die Art und Weise, wie der Körper als physisches Gebilde wahrgenommen wird; und andererseits wird in der (durch soziale Kategorien modifizierten) physischen Wahrnehmung des Körpers eine bestimmte Gesellschaftsauffassung manifest.«71 In ihren Ausführungen schimmert hiernach die Überzeugung durch, dass Körperwahrnehmung und Körpervorstellung nicht gleich sind. Ganz im Gegenteil, die Vorstellungen, die kulturspezifisch vom Körper entworfen werden, prägen sowohl die eigenen Wahrnehmungen als auch die gegenseitige Perzeption. Es sind Ideen, Ideologien, Glaubenssätze, Weltbilder, Wert- und Moralmaßstäbe, Deutungsmuster, Alltagstheorien, Konventionen, Rituale sowie Erwartungen und Zwänge, die in einer Gesellschaft kursieren und die Wahrnehmung und Bewertung des eigenen wie auch der Körper anderer ›kontaminieren‹. Sie werden durch Sozialisationsinstanzen wie Familie, Kirche, (Hoch)Schule, Nation, Ethnie, Milieu etc. vermittelt, die den Menschen in kulturspezifische Wissens- und Wertesysteme einbinden und die Grenzen des Umgangs- und Wahrnehmungsweisen des Körpers abstecken bzw. abzustecken versuchen. In die gleiche Richtung weisen die Überlegungen von Carol Hagemann-White, die die Kategorien Frau/Mann als Symbole in einem sozialen Sinnsystem definiert. Sie betont dabei, dass Sinnsysteme nicht ohne Verständnis der Intention der Handelnden zu begreifen sind, aber auch nicht ohne historische und soziale Bedingungen, unter denen sie ihren Schein der Naturhaftigkeit erhalten. Geschlechtersysteme sind typischerweise zweigeteilt und hierarchisch, wobei in allen uns bekannten Gesellschaften das männliche Geschlecht dominiert.72 In Anlehnung an Ann Constantinople, die Geschlechterrollen als Regeln betrachtet und diese im Wesentlichen mit Erlaubnissen und 70 Vgl. Reuter: Geschlecht und Körper. 2011, S. 146f. 71 Vgl. Douglas, Mary: Ritual, Tabu und Körpersymbolik. Sozialanthropologische Studien in Industriegesellschaft und Stammeskultur. Frankfurt a. M.: Fischer 1993, S. 90. 72 Vgl. Hagemann-White, Carol: Sozialisation: Weiblich-männlich? Opladen: Leske und Budrich 1984, S. 79.
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Verboten assoziiert, geht sie davon aus, dass das kulturelle System nicht nur die Unterscheidung und Bewertung von Frauen und Männern kognitiv ermöglicht, sondern auch Erlaubnisse und Verbote für ihre Bedürfnisse und deren Äußerungen beinhaltet. So definieren soziale Statussysteme viele Positionen für Männer, deren Merkmale nichts mit den eventuellen Beziehungen des Mannes zu Frauen zu tun haben. Hingegen steht die Statuszuordnung von Frauen fast immer im Zusammenhang mit ihrer Beziehung zu Männern: »Trotz der realen gegenseitigen Ergänzung der Arbeitsbereiche von Frauen und Männern, gibt es nicht zwei sich ergänzende Wertrangordnungen, sondern nur eine, die die männlichen Eigenschaften höher bewertet.«73 Die Messungen von »Weiblichkeit« und »Männlichkeit« beruhen jedoch auf Selbsteinschätzungen der Individuen, die ihre persönlichen Eigenschaften auf einer Skala selbst einstufen, so dass sie der Messung von Stereotypen näher kommen als dem tatsächlichen Verhalten. Überall dort, wo geschlechtsspezifische Normen für ein angemessenes Verhalten existieren, muss aber damit gerechnet werden, dass Frauen und Männer die erwartete Rolle spielen, auch wenn ihnen anders zumute ist.74 Aus diesem Grund begreift Ursula Nissen die Kategorien weiblich/männlich als »soziokulturelle Setzungen«, die dem Individuum von seiner Umgebung zugeschrieben werden und sich im Zusammenhang gesellschaftlicher Entwicklungen wandeln. In der Ausbildung seiner Identität wird von dem Menschen erwartet, dass er sich einer dieser beiden Kategorien zuordnet und ein entsprechendes Verhalten an den Tag legt. Die biologische, genetische und hormonelle Ausstattung gibt den Rahmen für diese Entwicklung vor und steuert nicht nur die Ausgestaltung der Geschlechtlichkeit, sondern auch das Denken und Handeln des Individuums, das in der Auseinandersetzung mit der Umwelt auch die von ihr angebotenen Rollenmuster übernimmt.75 Die den Geschlechtern zugewiesenen unterschiedlichen Lebenswelten existieren demzufolge nicht nur als strukturelle Lebensbedingungen, die durch Vorschriften und Rituale reguliert werden, sondern müssen auch subjektiv angeeignet und individuell neu geschaffen bzw. aktiviert werden. Die Dynamik des Geschlechterverhältnisses, die durch die gesellschaftliche Arbeitsteilung, die Trennung in Öffentlichkeit und Privatheit sowie die damit verbundene ungleiche Macht- und Ressourcenverteilung das »kulturelle System der Zweigeschlechtlichkeit«76 am Leben hält, ist also durch ein komplexes Zusammenwirken von biologischen, sozialen und individuellen Faktoren geprägt, aus denen sich ein deutliches Bild dessen ergibt, was Weiblichkeit und Männlichkeit symbolisch 73 Ebd., S. 80. 74 Vgl. ebd., S. 26. 75 Vgl. Nissen, Ursula: Kindheit, Geschlecht und Raum. Sozialisationstheoretische Zusammenhänge geschlechtsspezifischer Raumaneignung. Weinheim: Juventa 1998, S. 103f. 76 Hagemann-White: Sozialisation: Weiblich-männlich? 1984, S. 78.
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vertreten. Durch die Ausweitung der Körperlichkeit auf das Symbolische sind auch die feministischen Überlegungen von Luce Irigaray geprägt, die sich zum Ziel nimmt, die bisherige maskuline Deutungshoheit von Kultur, Geschichte und Ökonomie zu destruieren und eine neue durchgängig binäre Kultur in Gang zu setzen, die auch dem weiblichen Anderen (politischen) Platz einräumt. Ähnlich wie Bourdieu spricht sie von der symbolischen Ordnung, d. h. von der Ordnung der Bedeutungen, die androzentrisch ist und auf der Auslöschung der Frau beruht. In einer so strukturierten Ordnung kann die Frau weder Subjekt werden noch Identität besitzen. Sie ist Objekt, das lediglich die Spiegelfunktion für das männliche Subjekt besetzt.77 Einen ähnlichen Standpunkt vertritt Kate Millett, die in ihrer Studie Sexus und Herrschaft die These wagt, dass die sozial organisierten Haltungen gegenüber Frauen aus tiefliegenden Spannungen erwachsen, die vom Mann ausgedrückt werden. In einer männlich dominierten Kultur entwickelt die Frau nicht selbst die Symbole, mit denen sie beschrieben wird: »Da sowohl die primitive wie auch die zivilisierte Welt eine männliche Welt ist, sind auch die Ideen männlich, die die Kultur in Bezug auf die Frau formte. Das Bild der Frau, wie wir es kennen, ist von Männern geschaffen und so gebildet, daß es ihren Bedürfnissen entspricht.«78 Diese Bedürfnisse entspringen der Furcht vor dem »Anderssein« der Frau, die dafür sorgt, dass der Mann sich selbst zur Norm erklärt und ein Kontrollmittel über eine untergeordnete Gruppe und gleichzeitig eine Erklärung dafür liefert, warum die anderen in einer niedrigeren Rangordnung stehen und unterdrückt werden.79 Auch in jüngeren praxistheoretischen Diskussionen im Gefolge von Bourdieu, Foucault, Butler, Douglas, HagemannWhite, Irigaray, Millett, Nissen etc. wird der Körper als Einschreibungsfläche und Symbol gesellschaftlicher Strukturen und sozialer Praktiken thematisiert. Solche Handlungskomplexe existieren aber nur dann, wenn die sie konstituierenden Handlungsweisen und Gepflogenheiten über räumliche und zeitliche Grenzen hinweg ständig ausgeführt und in Gang gehalten werden. Damit dies geschieht, müssen Akteure mit einer bestimmten sozial institutionalisierten Disposition bzw. mit einer bestimmten praktischen Fähigkeit des Handelnden ausgestattet sein, um so auf die Handlungszüge anderer angemessen zu antworten, sich in das Praxisgeflecht einzuklicken und das passende Handeln auszuführen.80 Der Körper symbolisiert demnach soziale Rollenmuster, Geschlechter- und Generationenverhältnisse, Macht- und Ungleichstrukturen sowie soziale und kulturelle Zugehörigkeiten: »Er ist ein Kommunikationsmedium, dessen Gebrauch 77 Vgl. Irigaray, Luce: Speculum. Spiegel des anderen Geschlechts. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1980, S. 176f. 78 Millett, Kate: Sexus und Herrschaft. Die Tyrannei des Mannes in unserer Gesellschaft. München: Verlag Kurt Desch 1971, S. 59. 79 Vgl. ebd. 80 Vgl. Reuter: Geschlecht und Körper. 2011, S. 145.
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Strukturelle Gewalt – Die Frau als Projektionsfläche symbolischer Ordnung(en)
von den sozialen Kontrollmechanismen abhängt und von einer extremen Körperinszenierung bis zu einer radikalen Körperverdrängung reichen kann.«81 Jede Gesellschaft – so Robert Gugutzer – sorgt dafür, dass dieser Primat des Sozialsystems gegenüber den körperlichen Ausdrucksformen gewahrt wird, d. h. dass sie Bedürfnisse des Körpers den gesellschaftlichen Bedürfnissen untergeordnet bleiben.82 Es ist daher wichtig, mit einem geschlechtssensiblen Gewaltbegriff zu operieren, der weit über physische Gewaltakte hinausgeht und die Vielfältigkeit geschlechtsspezifischer Bedrohungs- und Unsicherheitslagen nicht vernachlässigen lässt. Benachteiligungen im System sozialer Sicherheit, ökonomische Abhängigkeit, Stigmatisierung, Diskriminierung und gesellschaftliche Abwertung, reproduktive Unsicherheit durch gesetzliche Regelungen zur Familienplanung sowie politische Unsicherheit durch Ausschluss und/oder Marginalisierung sind durchaus Formen struktureller/institutionalisierter Geschlechtergewalt, der sich die vorliegende Studie zuwendet.
81 Gugutzer, Robert: Soziologie des Körpers. Bielefeld: transcript Verlag 2013, S. 85f. 82 Vgl. ebd., S. 86.
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Die Kirche als formative Kraft der weiblichen Unterwerfung
Das Verhältnis von Kirche und Gewalt ist in den vergangenen Jahren zu einem Thema aufgestiegen, das insbesondere in der geschichtlichen Forschung viel beachtet und vorwiegend im Kontext politischer Konflikte und Auseinandersetzungen verschiedener sozialer Akteure mit dem verdeckten oder offenen Gewalthandeln der Institution Kirche und ihrer Würdenträger diskutiert wird. Das Interesse gilt dabei vor allem dem Verhältnis der Kirche zum Staat und dessen Gewaltmonopol, den Machtkämpfen zwischen weltlichen und religiösen Führern, den Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Konfessionen sowie den Formen der kirchlichen Beteiligung am Gewaltgeschehen.83 Es lässt sich aber gleichzeitig nicht übersehen, dass sich die aktuelle Debatte über Religion und Religionsgemeinschaften vorwiegend auf den Islam konzentriert, der als per se gewaltaffin dargestellt wird, obwohl die Gewalt in der Geschichte des Christentums eine lange Tradition hat und im kollektiven Gedächtnis nach wie vor präsent ist.84 Antijudaismus, Kreuzzüge, Religionskriege, Inquisition und Hexenverbrennung oder Missionierung Amerikas gelten als einige wenige Beispiele für den exzessiven Umgang mit der Macht in der christlichen Kirche. Obwohl der Weg der Kirche von dem Moment an, als das Christentum von einer verfolgten Minderheit zur Staatsreligion aufstieg, mit Gewalt- und Terrorakten gepflastert war, wird sie – zumindest in der jüngeren Vergangenheit – als friedensstiftende Kraft und »Anwältin einer Breiten-Kultur«85 präsentiert, die mit gewaltlosen 83 Vgl. Szmorhun, Arletta: Kirche und Gewalt. Heinrich Bölls De(kon)struktion des institutionellen Katholizismus. In: Politischen Konjunkturen zum Trotz. Heinrich Bölls Wirklichkeitsrepräsentationen. Hg. von Renata Dampc-Jarosz/Paweł Zimniak. Göttingen: V&R unipress 2018, S. 185–203, hier S. 185. 84 Vgl. Hensel, Silke/Wolf, Hubert: Einleitung: Die Katholische Kirche und Gewalt in Europa und Lateinamerika im 20. Jahrhundert. In: Die Katholische Kirche und Gewalt. Europa und Lateinamerika im 20. Jahrhundert. Hg. von Silke Hensel/Hubert Wolf. Köln-Weimar-Wien: Böhlau Verlag 2013, S. 11–28, hier S. 11. 85 Lehmann, Karl: Kirche und Kultur. Kirche als Kultur. In: Die Kirchen, die unbekannte kulturpolitische Macht. Hg. von Olaf Zimmermann/Theo Geißler. Berlin: Deutscher Kulturrat 2007, S. 12–14, hier S. 12.
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Mitteln für Gerechtigkeit und Ordnung sorgt und eine »auf Exzellenz ausgerichtete Kulturarbeit«86 leistet. Doch die (katholische) Kirche hat ein Janusgesicht. Sie ist nicht nur einer der größten Kulturträger, sondern auch einer der interessengeleiteten Gewaltträger, so dass sie als ein wichtiger gesellschaftlicher Akteur zu betrachten ist, der für sich den Status einer moralischen Instanz beansprucht und aus dieser Position heraus das gesellschaftliche Leben reguliert und repressive Raumerfahrungen generiert. Angeknüpft wird damit an eine Gewaltdefinition, die im Sinne von Johan Galtung den Gewaltbegriff nicht nur für die (un)absichtliche Zufügung körperlicher oder psychischer Verletzungen reserviert, sondern auch gesellschaftliche Verhältnisse hinterfragt, die Individuen an der Entfaltung ihrer physischen und mentalen Potenziale hindern. Die katholische Kirche wirkt in dieser Perspektive nicht nur identitätsstiftend. Sie kann zwar ethnische und soziale Differenzen überbrücken, aber sie ist auch darin geübt, bestehende Gräber zu vertiefen und Hass zu schüren, so dass religiöse Semantiken sowohl den Frieden beschwören als auch (in)direkte Gewalttaten legitimieren können.87 Das Zusammenspiel von Kirche, Macht und Gewalt »hat nicht nur durch die Verkündung des machtvollen Wortes Gottes eine theologische Wahrheit, sondern auch eine anthropologische Wirklichkeit in der Durchsetzung dieser Wahrheit im öffentlichen Raum.«88 Kirchenverantwortliche scheuen keineswegs davor zurück, auch gewaltvolle Strategien zur Durchsetzung ihrer Präsenz in der Öffentlichkeit einzusetzen, um Kontrolle in Fragen der Weltdeutung und Sinnfindung aufrechtzuerhalten. Die eindeutige Prägung und Lesart religiöser Botschaften wird unter anderem in der Gestaltung des Frauenbildes wirksam. Durch einen manipulativen und mit Dogmen untermauerten Diskurs werden Frauen zu ihrem Nachteil positioniert, platziert, und ausgehandelt. Die systemische Unterdrückung und Ausbeutung von Frauen liegt in der christlichen Tradition begründet, die sich insbesondere in der römisch-katholischen Kirche bis heute auswirkt. Die theologische Anthropologie ist nach wie vor durch Vorstellungen geprägt, die in Form von Vorurteilen, Stereotypen und frauenfeindlichen Dogmen die Diskriminierung der Frau im gesellschaftlichen Bild prägen. So ist die Rolle, in der die Frau aufgehen sollte, auch heutzutage sehr stark mariologisch. In der Haltung zur Gottesmutter wird der Kern dessen gesehen, was eine (christliche) Frau zu tun hat: Nur durch die Erneuerung und Vermenschlichung der Gesellschaft sowie durch die Erziehung der Kinder im Geiste des Evangeliums kommt sie zu ihrer eigentlichen Bestimmung. Wer sich mit Ursachen und Folgen der weiblichen Unterdrückung auseinandersetzt, muss 86 Ebd. 87 Vgl. ebd., S. 13. 88 Sigrist, Christoph: Kirchen Macht Raum. Beiträge zur kontroversen Debatte über Kirchenräume. In: Kirchen Macht Raum. Beiträge zur kontroversen Debatte. Hg von Christoph Sigrist. Zürich: Theologischer Verlag Zürich 2010, S. 7–19, hier S. 7.
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jedoch feststellen, dass es relativ wenig zusammenhängende und systematische Abhandlungen gibt, die das Mitwirken der katholischen Kirche an der strukturellen Benachteiligung von Frauen kritisch hinterfragen. Dieses Defizit hängt laut Anastasia Bernet damit zusammen, dass es sich einerseits (gerade in Kirchenkreisen) häufig noch um ein Tabu- oder Reizthema handelt, das andererseits aber auch nie Gegenstand einer von Männern geschriebenen (Kirchen)Geschichte war.89 Damit knüpft sie an den Religionshistoriker Friedrich Heiler an, der die großen Religionen der Gegenwart als »Männerreligionen« bezeichnet und zwar nicht aufgrund der marginalen Rolle, die die Frau in diesen Religionen spielen sollte, sondern aufgrund der Tatsache, dass die »Hochreligionen« von einer Unterdrückung und Geringschätzung der Frau geprägt waren/sind, die stellenweise in Frauenfeindlichkeit ausartet(e) bzw. auszuarten droht(e).90 Die großen Religionen der Gegenwart erscheinen in dieser Perspektive als androzentrische Kulturen, die die männliche Dominanz in der Gesellschaft religiös legitimieren und frauenfeindliche Stereotype ideologisch untermauern. Die Ursachen für die Unterdrückung der Frauen führt Bernet auf drei Faktoren zurück, die in einer willkürlichen, dem ursprünglichen Sinn entfremdeten und stark interessengeleiteten Bibelauslegung mündeten und ein defizitäres Frauenbild begründeten. Es sind erstens Raum und Zeit, in der das Christentum entstanden ist. Die Gesellschaft des römischen Reichs war durch und durch patriarchal-hierarchisch organisiert, so dass sie einer Herrschaftsform unterlag, die Männer nicht nur in öffentlichen Ämtern und Machtpositionen positionierte, sondern sie auch zum rechtlichen Vormund von Frauen bestimmte, das weibliche Geschlecht dagegen auf den häuslichen Bereich zurückdrängte. Charakteristisch für diese Gesellschaftsstruktur war ihr androzentrisches Denken, das den Mann zum Maß alles Menschlichen erhoben hatte. Alle Aussagen über »den Menschen« werden sowohl von männlichen Lebens- und Erfahrungszusammenhängen als auch von männlichen Interessen abgeleitet und erhalten universelle Gültigkeit. Das römische Herrschaftsmodell wurde bereits in den ersten christlichen Generationen auf die innenkirchliche Organisationsstruktur übertragen und hatte eine konsequente Einschränkung weiblicher Aktivitäten und Leistungsfunktionen in christlichen Gemeinden zur Folge. Eine weitere Ursache für die Unterdrückung der Frauen im Christentum liegt im kulturellen und philosophischen Gedankengut der Spätantike, die durch ein dualistisches Denken geprägt war. Als Ausgangspunkt galt hierbei die These, dass Geistiges und Körperliches substantiell verschieden sind, so dass die beiden Bereiche fein säuberlich getrennt 89 Vgl. Bernet, Anastasia: Frauen in der Kirche: Ein Kreuzweg. Zur Geschichte der Unterdrückung der Frauen durch die Kirche. In: »Forum für Politik, Gesellschaft und Kultur« Nr. 198, März 2000, S. 44–47, hier S. 44. 90 Vgl. Heiler, Friedrich: Die Frau in den Religionen der Menschheit. Berlin: Walter de Gruyter 1977, S. 47.
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werden mussten. Es war u. a. Aristoteles, der die These vertrat, dass zwischen diesen Bereichen eine klare Hierarchie besteht: So wurden die Frauen dem Bereich des Körpers zugeordnet und als minderwertig eingestuft, während die Männer in den Bereich des Verstandes gehörten. Diese Bewertung lieferte einen Nährboden für eine Leibfeindlichkeit, die das Körperliche und insbesondere die Sexualität abwertete und im Laufe der Zeit auch als unmoralisch verurteilte. Da die Frauen den Bereich des Körpers symbolisierten, wurde die moralische Abwertung auf sie übertragen. Eine weitere Wurzel der kirchlichen Frauenfeindlichkeit lässt sich nach Bernet ebenfalls in vorchristliche Zeit zurückverfolgen. In der Zeit zwischen 200 v. und 200 n. Chr. erfolgte eine intensive Auseinandersetzung mit der Frage nach der Herkunft des Bösen, infolge deren die alte biblische Sage von der Erschaffung und der ersten Sünde von Adam und Eva neu interpretiert wurde: Während der biblische Text von einer gemeinsamen Verantwortung von Adam und Eva spricht, wird die Sünde nun allein der Frau zur Last gelegt, so dass eine Urheberin für die Existenz des Bösen in der Welt gefunden war. Aus der gleichen alttestamentlichen Geschichte wurde auch der Herrschaftsanspruch des Mannes über die Frau abgeleitet: Nach dem damals gängigen Prinzip »der Erste ist der Beste« musste sich Eva als die Zweiterschaffene dem ersterschaffenen Adam in jeder Hinsicht unterordnen.91 Die Aufnahme solcher Überzeugungen, Forderungen und Begründungen in die neutestamentlichen Schriften führte zur Grundlegung eines Frauenbildes bei, das auf Stigmatisierung, Diskriminierung und Exklusion basiert(e) und durch die von männlichen Machtinteressen geleitete Institution der Kirche immer wieder bekräftigt wurde. Allerdings hat es auch einige frauenfreundliche(re) Traditionen gegeben, die auf der gleichen Würde von Mann und Frau basierten und beide Geschlechter als Rechtsubjekte betrachteten. Sie werden hier jedoch nur marginal behandelt, weil das Augenmerk angesichts des gestellten Themas den negativen Entwicklungstendenzen gilt, die in Form von androzentrischen Lehren, Theorien, Schriften etc. nicht nur die Unterdrückung von Frauen, sondern vielmehr die Frauenfeindlichkeit bzw. den Frauenhass gefördert haben. In den darauffolgenden Kapiteln wird demzufolge einerseits auf das von Theologen, Wissenschaftlern und Kirchenfürsten über Jahrhunderte geprägte Frauenbild eingegangen, das von der Minderwertigkeit und Schwäche des weiblichen Geschlechts ausgeht und eine naturgegebene und gottgewollte Unterwerfung der Frauen unter ihre Männer sowie ihren Ausschluss aus Entscheidungs- und Leistungsstrukturen postuliert. Andererseits geraten literarische Inszenierungen von Macht- und Gewaltmechanismen der (katholischen) Kirche in den Mittelpunkt, die in Form von ideologischen, ökonomischen, physischen, psychischen oder auch rechtlichen Zwangsmaßnahmen das Frauenleben regulieren und eine 91 Vgl. Bernet: Frauen in der Kirche: Ein Kreuzweg. 2000, S. 44f.
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repressive Raumerfahrung generieren. Am Beispiel der ausgewählten Texte von Heinrich Böll, Anna Maria Leitgeb und Dagmar Nick soll demzufolge aufgezeigt werden, inwiefern die Vormachtstellung der Kirche, ihre strikten Instruktionen auf dem Feld der Moral sowie die kommunikative Akzeptanz im Rahmen struktureller Gewalt Unterdrückungs- und Ausschlussprozesse in Gang setzen und die soziale Wirklichkeit von weiblichen Figuren destruieren.
2.1
Frauen als minderwertige und ›fleischliche‹ Geschöpfe im (früh)christlichen Gedankengut
Ein solcher Ansatz darf an Aristoteles, einem der universalen Denker der Antike, nicht vorbeigehen. Seine metaphysische Konzeption der Person, die die Frau auf der untersten Stufe in ein hierarchisch gegliedertes und am Ideal des gesunden Mannes orientiertes Menschenmodell integriert, wurde von der Kirche dermaßen begrüßt, dass sie darauf das christliche Menschenbild aufbaute. Die Frau wird von Aristoteles, »da sie von der Idealform des Mannes abweicht, als natürliches Monster charakterisiert und damit aus der Definition des Menschen ausgegrenzt.«92 Seine Philosophie steht exemplarisch dafür, dass die philosophischen Konzepte von Weiblichkeit und Männlichkeit sowohl durch sozio-politische Gegebenheiten als auch durch Weltanschauungen geprägt sind und dem Versuch unterliegen, die männliche (Be)Herrsch- und die weibliche Unterordnungskultur mit all dazu gehörigen Ausschließungspraktiken als Produkte der Biologie erscheinen zu lassen. Aristoteles geht in seinen naturphilosophischen Theorien davon aus, dass es nur eine Art von Menschen gibt – nämlich Männer. Die Frau gilt in dieser Perspektive als ein deformierter, kastrierter, impotenter und minderwertiger Mann, als ein »verstümmeltes Männchen«, das in der gesellschaftlichen Rangordnung den untersten Platz – hinter kranken Männern, Hermaphroditen und Eunuchen – belegt und in seiner Abweichung von der Norm als natürliches Monster erachtet werden soll.93 Gabrielle Hiltmann sieht Aristoteles’ Eingeschlechtsmodell, in dem das Vorhandensein oder Nichtvorhandensein des männlichen Geschlechtsteils als kontradiktorische Opposition fokussiert wird, in ein umfassendes Schema eingebettet, innerhalb dessen Frau und Mann in einer abgestuften Beziehung stehen.94 Weibliche und männliche 92 Hiltmann, Gabrielle: Aristoteles’ Konzept der Person. In: Naturbilder und Lebensgrundlagen. Konstruktionen von Geschlecht. Internationale Frauen- und Genderforschung in Niedersachsen. Teilband I. Hg. von Waltraud Ernst/Ulrike Bohle. Hamburg: LIT VERLAG 2006, S. 160–176, hier S. 160. 93 Vgl. Höffe, Ottfried: Aristoteles: Die Hauptwerke. Ein Lesebuch. Tübingen: Francke Verlag 2009, S. 172. 94 Hiltmann: Aristoteles’ Konzept der Person. 2006, S. 169.
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Lebewesen sind nicht völlig verschieden. Sie unterscheiden sich lediglich hinsichtlich der Geschlechtsorgane und ihrer ungleichen Beiträge zur Fortpflanzung. Die Frau hat Anteil an der männlichen Form der menschlichen Gattung, ohne dass ihr im Reproduktionsvorgang eine aktive Rolle zukommt. Im Rahmen des graduell abgestuften Eingeschlechtsschemas ist der physiologische Unterschied kein wesentlicher, so dass die Frau nicht deshalb minderwertig ist, weil ihr der Penis und die Hoden fehlen, sondern weil sie nicht über die notwendige metaphysisch begründete Formgebungskraft verfügt.95 Aristoteles’ Ausführungen lassen keinen Zweifel daran aufkommen, dass er die Fruchtbarkeit vollständig auf die männliche Seite legt und den Mann damit zum Schöpfer des Lebens und folglich zum Herrscher über das Leben erhebt: »Das Männchen liefert die Form und Bewegung, das Weibchen den Stoff […]. Das Weibchen liefert den Monatsfluß, den Stoff, das Passive, das, woraus gezeugt wird, das Männchen die Samenflüssigkeit, das Bewegungsprincip, das Active, das, was zeugt.«96 Die Unterscheidung zwischen dem Aktiven und Passiven, die auch in den darauffolgenden Epochen Geltung erlangt, wird zu einem Argument erhoben, das die Hierarchie der Geschlechter legitimiert und sie in besonders prägnanter Weise zum Ausdruck kommen lässt. Trotz ihrer Unvollkommenheit sind Frauen jedoch ein notwendiges Missgeschick der Natur. Da Menschen sich – genauso wie die Tiere – mittels zweier verschiedener Exemplare derselben Spezies fortpflanzen, die je für Materie und Form des Nachwuchses zuständig sind, muss es notwendig ein Exemplar geben, das Materie produziert. Aus diesem Grund müssen weibliche Tiere und Mädchen geboren werden, auch wenn sie lediglich einen Ausschuss der Reproduktion darstellen.97 Bedingt wird diese Fehlentwicklung durch die mangelnde Hitze oder das falsche Fortpflanzungsalter: »Sehr junge und sehr alte Männer erzeugen wegen Mangel an Wärme Mädchen. Bei Nordwinden werden mehr Mädchen, bei Südwinden mehr Knaben erzeugt.«98 Der graduelle Unterschied von Frau und Mann im Rahmen desselben Formprinzips, das die menschliche Spezies gestaltet und der daraus resultierende Herabsetzungsprozess werden letztendlich anhand des Menstruationsblutes erklärt, das als ein minderwertiges Produkt des im Herzen stattfindenden Fermentationsprozesses gilt. Während das hochenergetische männliche Sperma alle Seelen, vor allem die wichtigste rationale Seele enthält, die die Gestalt des Kindes 95 Ebd. 96 Aristoteles’ fünf Bücher von der Erzeugung und Entwicklung der Thiere. Übersetzt und erläutert von Dr. G. Anbert und Dr. Fr. Wimmer. Erstes Buch. Von der Einwirkung des männlichen Samens und von der ersten Bildung des Reimes. Leipzig: Verlag von Wilhelm Engelmann 1860, § 87, S. XVII. 97 Vgl. Hiltmann: Aristoteles’ Konzept der Person. 2006, S. 168. 98 Aristoteles’ fünf Bücher von der Erzeugung und Entwicklung der Thiere. Viertes Buch. Über die Ursachen der Entstehung männlicher und weiblicher Individuen. 1860, § 71, S. XXVII.
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formt, enthält das von der Frau fermentierte Sperma lediglich die nährende und reproduktive Seele: »Das Weibchen bedarf der Einwirkung des Männchens, weil dieses die empfindende Seele erzeugen kann, das Weibchen allein aber nur die Ernährungsseele.«99 Die biologische Überlegenheit des Mannes wird automatisch mit seiner geistigen Überlegenheit gleichgesetzt, wodurch der männliche Herrschaftsanspruch und die weibliche Subordination eine zusätzliche Bekräftigung erhalten. Aristoteles ist in seiner Philosophie sichtlich darum bemüht, den weiblichen Logos als schwächer darzustellen und den Frauen die geistige Leistungsfähigkeit abzusprechen. In Metaphysik vergleicht er Menschen, die nicht imstande sind, die logischen Prinzipien zu respektieren und sachlich zu argumentieren, mit Pflanzen, wobei dieser Status selbstverständlich den Frauen, Kindern, Sklaven und Barbaren zugeschrieben wird.100 Dementsprechend hat die Frau in der politischen Philosophie keinerlei Möglichkeit, an politischen Geschäften teilzunehmen und an der Gestaltung der gesellschaftlichen Ordnung mitzuwirken. Deshalb erachtet Aristoteles es nicht als notwendig, den weiblichen Geist zu unterrichten und den Frauen moralische Weisheiten zu vermitteln. Die Minderwertigkeit der Frau und ihre körperlich-kognitive Leistungsunfähigkeit definiert er als angeboren und unabänderlich und begründet damit die weibliche Rechtsunfähigkeit und die dauerhafte Notwendigkeit eines männlichen Vormunds. In seinen naturphilosophischen Betrachtungen des Geschlechts wird, ausgehend von einem physiologischen Verständnis, die Geschlechterdifferenz auf physische und psychische Merkmale übertragen. Während für Männer die Möglichkeit ausgeführt wird, »in weibliche Schwäche« verfallen zu können, können Frauen den »superioren Zustand« des Mannes (als Menschen) nicht erlangen.101 Die in der Antike vorherrschende Ansicht, dass es physiologisch und anatomisch nur ein Modell des Menschen gibt, das sich durch den Grad der Vollkommenheit differenziert – der Mann als Modell des Menschen schlechthin, die Frau als seine unvollkommene Version – liefert in den darauffolgenden Epochen unwiderlegbare Argumente für gesellschaftliche Benachteiligung von Frauen und ihren Ausschluss sowohl von dem politisch-öffentlichen Leben als auch von der Bildungssphäre. Die naturphilosophische Erörterung von männlich/weiblich bzw. Mann und Weib, die sich vorwiegend auf das Thema der Fortpflanzung konzentriert und die Frau als eine Abweichung von der perfekten (männlichen) Natur begreift, findet im christlichen Diskurs ihre Fortsetzung, wenn auch das Weiblichkeitsbild weder monolithisch entworfen noch als ein starres Modell 99 Ebd., Zweites Buch. Die lebendiggebärenden und der Mensch, § 71–76, S. XXII. 100 Vgl. Aristoteles: Metaphysik. Schriften zur Ersten Philosophie. Übersetzt und herausgegeben von Franz F. Schwarz. Ditzingen: Reclam 2016, 1005 b S. 90. 101 Vgl. Voß, Heinz-Jürgen: Das differenzierte Geschlechterverständnis der Antike. In: »GENDER Heft« 2, 2009, S. 61–74, hier S. 70.
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entwickelt wird. Sowohl die frühen Christen als auch später die ganze Institution Kirche, angefangen beim Kirchengründer Paulus, zeigen sich darum bemüht, den allumfassenden Unterordnungsstatus von Frauen aufrechtzuerhalten mit der Begründung, dass nicht der Mann für die Frau, sondern die Frau für den Mann geschaffen wurde.102 Die auf der Grundlage der christlichen Bibel entwickelten Vorstellungen von Beschaffenheit und Rolle der Frau basieren einerseits auf »den relativen Freiheiten und dem Ansehen, das die Frauen im römischen Reich durch die stoische Philosophie genossen hatten«103 und andererseits auf der frauenfeindlichen jüdischen Tradition, die die Frau auf den Privatbereich reduziert und sie aus dem geistigen Leben der Gemeinschaft verbannt. So zeichnet sich auch in der religiösen Praxis des Christentums anfänglich die Tendenz ab, beide Geschlechter als gleichberechtigt zu begreifen. Diese Ebenbürtigkeit manifestiert sich unter anderem in den Aktivitäten des Jesus von Nazareth, der den gängigen Vorurteilen seiner Zeit zum Trotz sowohl zu den Männern als auch zu den Frauen predigt und sie in seine Jüngerschaft beruft, wenn auch sie nicht zur nächsten Jünger-Gruppe gehören, die ständig bei ihm ist und ihn bei seinen Wanderungen begleitet. Nichtsdestotrotz pflegt Jesus einen mehr oder weniger entspannten und unbefangenen Umgang mit Frauen. Er äußert sich nie abschätzig über sie und selbst Ehebrecherinnen und Dirnen, die in der damaligen Zeit als verdammungswürdigstes Geschöpf gelten, nimmt er in Schutz und zwar nicht, um ihre Sünden abzuschwächen, sondern um ihnen die Möglichkeit zu geben, den Kurs der Bekehrung einzuschlagen: »Ihr sind ihre vielen Sünden vergeben, weil sie viel geliebt hat. Wem aber nur wenig vergeben wird, der liebt wenig.«104 In seiner Beziehung zu Frauen gibt es nirgendwo ein Anzeichen für das Erotische. Sein Verhältnis zum weiblichen Geschlecht impliziert einzig und allein die Liebe Gottes, die alles Kreatürliche umfasst. Jesus verteidigt auch die Gleichberechtigung innerhalb der (Ein)Ehe, in erster Linie aber aus praktischen Erwägungen. Die Monogamie ist billiger als die Polygamie, sie lässt aber Ausnahmen zu, die nicht selten zur Geltung kommen. Praktiziert wird auch die Ehescheidung und die nachfolgende Wiederverheiratung, die jedoch nur für den Mann gilt, nicht für die Frau.105 In dieser Situation verteidigt Jesus die Gleichberechtigung nicht im Sinne der Scheidungs- und Wiederverheiratungsmöglichkeit für beide Geschlechter, sondern er spricht sich generell gegen die Scheidungspraxis aus: »Darum wird ein Mensch Vater und Mutter 102 Vgl. Der erste Brief des Paulus an die Korinther. In: Die Bibel. Lutherübersetzung. Bibeltext in der revidierten Fassung von 2017. Das Neue Testament. Hg. von der Evangelischen Kirche in Deutschland, Deutsche Bibelgesellschaft 2017, Kap. 11,9. 103 Meyer Ursula I.: Das Bild der Frau in der Philosophie. Aachen: ein-FACH-verlag 1999, S. 43. 104 Das Evangelium nach Lukas. In: Die Bibel. 2017, Kap. 7,47. 105 Vgl. Schelkle, Karl-Hermann: Der Geist und die Braut. Die Frau in der Bibel. Düsseldorf: Patmos Verlag, 1977, S. 40.
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verlassen und an seiner Frau hängen und die zwei werden ein Fleisch sein. So sind sie nun nicht mehr zwei, sondern ein Fleisch. Was nun Gott zusammengefügt hat, das soll der Mensch nicht scheiden.«106 In seiner Lehre wird nicht nur eine Wertung der Ehe, sondern vielmehr eine neue Wertung des Menschen im Allgemeinen und der Frau im Besonderen evident. Die Erniedrigung der Frau sieht Jesus in ihrer Degradierung zum bloßen Sexualobjekt begründet. Der Gegenprozess ist zwar möglich, er bedarf aber der Rückkehr zur Schöpfungsordnung und der Hinwendung zur Erlösungsordnung.107 Wenn man den kulturellen Hintergrund seiner Zeit bedenkt, der im geistigen und religiösen Leben der Gemeinschaft keinen Platz für die Frau vorsieht, so ist man durchaus geneigt, Jesus als einen Feministen und seine frauenfreundlichen Praktiken als revolutionär einzustufen. Seine Unvoreingenommenheit im Umgang mit Frauen und seine Neuwertung des weiblichen Geschlechts sollen jedoch nicht über die Tatsache hinwegtäuschen, dass patriarchal-oppressive Texte als Wort Gottes weiterhin verkündet werden und die Geschlechterordnung epochenübergreifend bestimmen. Selbst wenn die Mission der werdenden Kirche sich dezidiert an die Frauen wendet, sie als Schwestern begreift, ihre Gleichwertigkeit in der Kindschaft Gottes betont und sie im Gottesdienst prophezeien und Gebete sprechen lässt, dreht sich das Rad der Emanzipation nur mühsam voran und knirscht dabei erstaunlich laut. Die Schuld der Kirche – so Anastasia Bernet – besteht bei dieser Frage vor allem darin, die befreiende Botschaft Jesu von Nazareth, der Frauen genauso wie Männer in seine Nachfolge berief, zu vergessen, und die allmähliche Verdrängung und Unterdrückung von Frauen nicht zu bekämpfen, sondern sie zu fördern.108 Die Zugehörigkeit zur Genus-Gruppe ›Frau‹ vermag es nicht, die bestehende (Geschlechter)Hierarchie aufzuheben oder sie wenigstens abzuschwächen. Die Überzeugung, dass »der Christus das Haupt eines jeden Mannes ist, das Haupt der Frau aber der Mann, des Christus Haupt aber Gott«109 gilt als Denk- und Handlungsmatrix, die sich in Form von hierarchischen Machtbeziehungen in die Entstehung der frühchristlichen Gemeinden einschreibt und der Geschlechterdifferenz und Frauenfeindlichkeit das Wort redet. Ursula Meyer zufolge räumt das frühe revolutionäre Christentum der Frau eine beinahe gleichberechtigte Stellung in der Ausübung des Glaubens ein, um nach seiner Etablierung in den gesellschaftlichen Strukturen deren Vorstellung von der weiblichen Unterordnung zu übernehmen. So werden die Entfaltungsmöglichkeiten von Frauen, die als Prophetinnen umherziehen und durchaus die Rolle einer religiösen Führerin übernehmen dürfen nach und nach durch Kirchenväter 106 Das Evangelium nach Matthäus. In: Die Bibel. 2017, Kap. 19, 5–8. 107 Vgl. Sigmund, Georg: Die Stellung der Frau in der Welt von heute. Stein am Rhein: Christiana Verlag 1981, S. 58f. 108 Vgl. Bernet: Frauen in der Kirche: ein Kreuzweg. 2000, S. 198. 109 Der Erste Brief des Paulus an die Korinther. In: Die Bibel. Kap. 11, 3.
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unterbunden, weil Missionarinnen und Predigerinnen als Konkurrenz für die Männer gelten.110 Es ist nicht zuletzt Paulus zu verdanken, dass der emanzipatorische Prozess gebremst und das biologische Geschlecht als sozialer Platzanweiser verstanden wird. Seine Ausführungen und Aktivitäten werden oft als Beweis dafür herangezogen, das das Christentum sich von der antiken Wertung der Frau als einer Menschheit zweiten Ranges nicht definitiv distanziert und das weibliche Dasein im Verhältnis der Subordination verankert sieht. Genauso wie Aristoteles begreift der heilige Paulus die Frauen als ein minderwertiges und unterwürfiges Geschlecht und verbietet ihnen, öffentlich das Wort zu ergreifen: Die Frauen sollen »in der Versammlung schweigen; es ist ihnen nicht gestattet, zu reden; sie sollen sich unterordnen, wie auch das Gesetz es fordert. Wenn sie etwas wissen wollen, dann sollen sie zu Hause ihre Männer fragen; denn es gehört sich nicht für eine Frau, vor der Gemeinde zu reden.«111 Paulus’ Schweigegebot und das daraus resultierende Bestreben, das weibliche Wirken in der Öffentlichkeit zu unterbinden, ist nicht zuletzt auf die kulturelle Überzeugung zurückzuführen, dass der weibliche Enthusiasmus in Gefühlsüberschwang, Schwärmerei und versteckte oder offene Erotik auszuarten und die Männer von ihrer Hingabe zu Gott abzulenken droht.112 Schönheit, Begierde und Verführung gelten aber auch unter nichtreligiösen Philosophen, Dichtern und Historikern als gefährlich und unheilbringend, so dass Frauen, die Schmuck tragen und Selbstbewusstsein ausstrahlen als Verführerinnen, die Männer in den Abgrund ziehen, angeprangert werden. Man folgert in diesem Zusammenhang, dass alle Frauen Evas sind und stellt eine Gleichung auf, die das weibliche Geschlecht ins soziale Abseits drängt: »Frau=Sexualität=Böses.«113 So begreift Paulus es als einen selbstverständlichen und gesellschaftlich legitimeren Vorgang, die Handlungsoptionen von Frauen einzuschränken und das Schmuckverbot zu erlassen, statt seine Geschlechtsgenossen dazu aufzufordern, eine innere »Selbstzwangappartur«114 auszubilden, die ihnen (als sozialen Wesen) zu einer minder oder starken Selbstbeherrschung im Umgang mit den eigenen animalischen Anteilen verhilft. Paulus’ Redeverbot, das in den 1. Brief an die Korinther Eingang findet, wird zwar in den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts von den führenden Exegeten als nachträglich in die Paulusbriefe eingefügte Glosse erkannt und als Hauptargument sollten die Versen 4–5 im Kapitel 11 des gleichen Briefes gelten, in denen festgestellt wird, dass Frauen und Männer im Gottesdienst in gleicher
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Ebd., S. 45. Der erste Brief an die Korinther. In: Die Bibel. 2017, Kap. 14, 34–35. Vgl. Meyer: Das Bild der Frau in der Philosophie. 1999, S. 49. Bernet: Frauen in der Kirche: ein Kreuzweg. 2000, S. 45. Elias, Norbert: Über den Prozeß der Zivilisation. Erster Band: Wandlungen des Verhaltens in den weltlichen Oberschichten des Abendlandes. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1976, S. 329.
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Weise beten und prophetisch reden dürfen.115 Abgeschwächt wird aber diese Annahme mit den Versen im 1. Timotheusbrief, in denen sich das Redeverbot zusätzlich als allgemeines Lehrverbot artikuliert: »Einer Frau gestatte ich nicht, daß sie lehre, auch nicht, daß sie über den Mann Herr sei, sondern sie sei still.«116 Die hierarchische Geschlechterordnung mit der Vorrangstellung des Mannes wird letztendlich mit der Erstgeburt des Mannes und der Schuld der Frau am Sündenfall untermauert, die nur durch ihre Demut und ihre Fortpflanzungsfähigkeit wiedergutgemacht werden kann.117 Wenn man nach Wurzeln sucht, aus denen die frauenfeindlichen Argumente stammen, muss man sich Tertullian – dem frühchristlichen Theologen und Kirchenlehrer – zuwenden, der unter Einfluss der griechischen Philosophie ein negatives Frauenbild verfestigt, um emanzipatorische Bewegungen zu bekämpfen. Er bezeichnet die Frauen als »Tor zur Hölle« und lastet ihnen sogar den Tod des Sohnes Gottes an: Und du solltest nicht wissen, daß du eine Eva bist? Noch lebt die Strafsentenz Gottes über dein Geschlecht in dieser Welt fort; dann muss also auch deine Schuld noch fortleben. Du bist es, die dem Teufel Eingang verschafft hat, du hast das Siegel jenes Baumes gebrochen, du hast zuerst das göttliche Gesetz im Stich gelassen, du bist es auch, die denjenigen betört hat, dem der Teufel nicht zu nahe vermochte. So leicht hast du den Mann, das Ebenbild Gottes zu Bode geworfen. Wegen deiner Schuld, d. h. um des Todes willen, mußte auch der Sohn Gottes sterben, und da kommt es dir in den Sinn, über deinen Rock von Fellen noch Schmucksachen anzulegen?!118
Auffallend ist hier die bereits erwähnte Tendenz, alle Frauen mit Eva gleichzusetzen und im Mann ein Abbild Gottes zu sehen. Die Frau wird als das Schwächere und damit vom Teufel Verführbare hervorgebracht, das nicht nur die eigentliche Schuld am Fall der Menschen trägt, sondern auch die Fähigkeit besitzt, den Mann, dem selbst der Teufel Respekt zollt, in den Abgrund zu ziehen und zwar durch ihre Geschlechtlichkeit. Tertullians Argumente sind also vom Bemühen geprägt, unter anderem die Gefahr, die von der Frau als einem Geschlechtswesen ausgeht, in den Vordergrund zu rücken und nach Wegen zu suchen, das Böse in ihr zu bändigen. Im Anschluss auf Paulus ermahnt er somit die Frauen, sich wie büßende Evas zu verhalten und auf jede Form von Ausgefallenheit – sei es Schmuck, Kleidung, Kosmetik oder Frisur – zu verzichten, um kein weiteres Unheil in die Welt zu bringen. Aus diesem Grund misst er dem Schleier eine besondere Bedeutung bei, indem er ihn nicht nur als Zeichen 115 Vgl. Conzelmann, Hans: Der erste Brief an die Korinther. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1969, S. 289f. 116 Der erste Brief an Timotheus In: Die Bibel. 2017, Kap. 2,12. 117 Vgl. ebd., Kap. 11,13–15. 118 Bibliothek der Kirchenväter 7, Band I – Tertullians private und katechetische Schriften. Kempten-München: Kösel 1912, S. 176f.
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weiblicher Unterordnung definiert, sondern vielmehr als Zeichen der Schuld und der daraus resultierenden Verpflichtung zu besonderer Demut. In diesem Sinne versteht er als Gebot der Nächstenliebe, Männer nicht in Versuchung zu führen: »wenn eine Frau dieses Gebot durch Betonung ihrer Schönheit verletzt, ist sie verantwortlich für das Verderben, das einem Mann daraus entsteht.«119 Die Frau als Verkörperung der Begierde und des Bösen schlechthin und die daran gekoppelte Forderung, die Weiblichkeit zu verleugnen, prägt fast 300 Jahre später auch das Frauenbild von Aurelius Augustinus – einem der einflussreichsten Theologen und Philosophen der christlichen Spätantike – , das anthropologische, theologische und soziologische Züge erkennen lässt und durch seine Inkonsequenz ins Auge fällt. In den Tiefen ihres Menschseins sind Mann und Frau gottebenbildlich und zwar nicht durch ihre äußere Gestalt, sondern durch eine gewisse intelligible Form des erhellten Verstandes, womit der Mensch sich vor den vernunftlosen Lebewesen auszeichnet. Der menschliche Geist ist demzufolge geschlechtslos, so das ein vernunftgemäßes (religiöses) Leben beiden Geschlechtern gleichermaßen offen steht.120 In soziologischer Hinsicht übernimmt er aber – weitgehend unter Berufung auf die Rippentheorie und göttliche Schöpfungsordnung – relativ kritiklos die Subordination der Frau unter den Willen des Mannes und schreibt die Frauenrolle verstärkt auf Reproduktion und häuslich-familiäre Präferenzen und Funktionen fest. Denjenigen, die den inferioren Status der Frau nicht als eine soziale Gegebenheit wahrnehmen und ihre Rolle als ›Gebärmaschine‹ kritisch hinterfragen (wollen), hält er eine lakonische Frage entgegen: »Wenn die Frau dem Manne nicht zur Hilfeleistung, um Kinder hervorzubringen, gemacht worden ist, zu welche Hilfe ist sie dann gemacht worden? Sollte sie zugleich mit ihm den Boden bestellen – was damals noch keine mühevolle Arbeit war, die eines Beistandes bedürfte –, dann wäre, selbst wenn es nötig gewesen wäre, eine männliche Hilfskraft besser gewesen.«121 Durch den Geschlechtsverkehr wird zwar seiner Meinung nach die Schuld der Menschen von Generation auf Generation weitergegeben, aber allein angesichts des menschlichen Existenzwillens kann auf die Sexualität nich ganz verzichtet werden. Daher plädiert er »für eine Ausübung derselben als Pflichterfüllung unter Verzicht auf Lust und Begierde.«122 Für Augustinus spricht, dass er die bestehende untergeordnete Stellung der Frau nicht mit dem angeborenen Intelligenzmangel begründet, sondern von einer notwendigen Unterwerfung aus119 Schulz-Flügel, Eva: Tertullian und das »zweite Geschlecht«. In: »Revue des Études Augustiniennes«, 42 (1996), S. 3–19, hier S. 7. 120 Augustinus, Aurelius: Über den Wortlaut der Genesis/De genesi at litteram libri duodecim. Herausgegeben und übersetzt von Carl Johann Perl. 2 Bände. Paderborn-München: Schöningh 1961, III, 30. 121 Ebd., IX, 5. 122 Bernet: Frauen in der Kirche: ein Kreuzweg. 2000, S. 46.
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geht, die sowohl im Privaten als auch im Öffentlichen praktiziert werden soll. Er glaubt zwar an die moralische Überlegenheit seiner Mutter gegenüber seinem Vater, dennoch hält er es für sozial legitim, dass sie ihrem Ehemann dient. Aus diesem Grund ermahnt er die Frauen, ihre minderwertige Stellung mit Würde, Taktgefühl und Dankbarkeit zu akzeptieren und zu ertragen. Dies ist zugleich einer der Gründe dafür, dass ihm vonseiten der Frauenforschung ein starker Androzentrismus vorgehalten wird.123 Nicht weniger ambivalente Züge weist das Frauenbild des Thomas von Aquin auf, was nicht zuletzt darauf zurückzuführen ist, dass er einerseits unter dem Einfluss des Glaubens steht und andererseits sich vom aristotelischen Gedankengut leiten lässt. Es ist insbesondere ihm zu verdanken, dass die Philosophie des Aristoteles christianisiert und aus der christlichen Theologie eine Wissenschaft gemacht wird. Auch wenn Thomas von Aquin von den Kirchenvätern die Vorstellung von der essentiellen Gottebenbildlichkeit adaptiert und betont, dass im menschlichen Geist keine Trennung der Geschlechter besteht, so schafft er ein immenses Machtgefälle zwischen Mann und Frau, das einst Aristoteles konstruiert hat, nur diesmal auf einer christlichen Basis: »Dazu, daß es die Urheit des Lebens für seine ganze Art sei, wie Gott sie für das ganze Einall ist, schickte es sich für das Weib, aus dem Manne heraus gestaltet zu werden.«124 Der graduelle Unterschied zwischen männlich und weiblich, der trotz der hervorgehobenen Gottebenbildlichkeit ununterbrochen Geltung erlangt und bei Männern natürlicherweise höherwertiger ausfällt, wird in Aquins Kategorisierung zwischen Lebens- und Fortpflanzungstätigkeit besonders wirksam. Während der Mann, als erster Mensch, die Lebenstätigkeit verkörpert, steht die Frau als Zweitgeborene für die Fortpflanzungstätigkeit: »Da es sich bei der ersten Dingegestaltung gehörte, dem Manne die Hilfe zur Erfüllung des Fortpflanzungswerks zu stellen, so gebührte sich damals die Hervorbringung des Weibes.«125 Mit dieser Argumentation bekommt die Frau zwar einen legitimen Platz im Plan Gottes, aber ihre Positionierung in der Hilfs- und Dienstrolle gegenüber dem Mann beschränkt sich auf den Bereich der Reproduktion. Nichtsdestotrotz bleibt sie auch auf diesem Gebiet als passives und ergänzendes Wesen dem Mann untergeordnet. Im aristotelischen Sinne schreibt er der Frau keinen wirklichen Anteil an der Fortpflanzung zu, weil sie nur die Materie liefert, während der Mann durch seinen 123 Siehe dazu u. a.: Kiss-Deák, Eszter: Rechte der Frau im frühen Christentum: Aurelius Augustinus versus Thomas von Aquin. In: Religion, Menschenrechte und Menschenrechtspolitik. Hg. von Antonius Liedhegener/Ines-Jaqueline Werkner. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. 2010, S. 70–97; Bernet, Anastasia: Frauen in der Kirche: ein Kreuzweg. Zur Geschichte der Unterdrückung der Frauen durch die Kirche. In: »Forum für Politik, Gesellschaft und Kultur« Nr. 198, 2000, S. 44–47. 124 Aquin, Thomas von: Summe der Theologie. 1. Band. Stuttgart: Kröner 1985, Unt. Abs. 92, 2. 125 Ebd., Unt., Abs. 1.
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Samen die Sinnesseele formt.126 Aquin vertritt die Ein-Samen-Theorie des Aristoteles, wonach die Mutter nur den passiven Nährboden für das aktive männliche Prinzip repräsentiert. Entsteht bei der Fortpflanzung ein Mädchen, so ist es eine Fehlentwicklung, die die Entfaltung der optimalen Geistesseele verhindert. Damit wird an- und ausgesprochen, dass die Unvollkommenheit der Frau sich nicht nur auf die körperliche Ebene beschränkt, sondern auch die geistige Schwäche inkludiert. Obwohl Thomas von Aquin den Frauen gewisse charismatische Gaben, etwa die Gabe der Eloquenz oder die Fähigkeit, andere zu unterrichten, nicht eindeutig abspricht, dürfen sie dieser Tätigkeit in der Öffentlichkeit nicht nachgehen, weil Frauen im Gegensatz zu Männern nicht über eine vollkommene Weisheit verfügen, die bei einer öffentlichen Lehre vonnöten ist. Aquin ist zwar bereit, zuzugeben, dass Frauen durch Bildung oder Teilnahme an öffentlichen Diskursen ihre Weisheit vervollkommnen könnten, er gelangt aber nicht zur Schlussfolgerung, dass auch sie das Recht auf Bildung und Gestaltung der öffentlichen Ordnung haben. Ganz im Gegenteil, in Bezug auf das gesellschaftlich-politische Leben lässt er keinen Zweifel daran aufkommen, dass Frauen nicht befugt sind, Bürger – im wahren Sinne des Wortes – zu werden.127 Darüber hinaus gilt die Frau aufgrund ihrer physisch-kognitiven Unterlegenheit als sinnorientiertes und dadurch sittlich gefährdetes Wesen, so dass sie der Führung des Mannes auch in moralischer Hinsicht bedarf. Angesichts der Vollkommenheit, die sich ausschließlich in der männlichen Natur manifestiert, wird die Frau als ein missglückter Mann definiert (»femina est mas occasionem passus«) und auf die Kurzformel »mas occasionatus« gebracht.128 Im aristotelischen Sinne sieht Aquin die Unvollkommenheit der Frau insbesondere in der Einzelnatur begründet, im Gesamtzusammenhang der Natur ist das Weibliche gleichwohl intendiert, weil zur Fortpflanzung nötig. Es ist kaum zu übersehen, dass Aquin die frauenfeindlichen Aussagen von Paulus und Augustinus mit den griechischen Lehren vermischt und die Frau zum rein körperlichen – wenn auch in dieser Hinsicht unzulänglichen – Wesen abstempelt, zur Verkörperung des Bösen und zur Verführerin gottesfürchtiger Männer. Eine Heilige ist die Frau bei ihm auf jeden Fall nicht, sie bekommt eher den Status einer Hure, so dass es wenig Wunder macht, dass sich seine Äußerungen bei den Verfechtern der Inquisition wiederfinden.129 Im Zuge von Thomas von Aquin – so Anastasia Bernet – wird die Leugnung der Gottebenbildlichkeit der Frau, ihre Abwertung und Entmündigung ins damalige Kirchenrecht aufgenommen und gilt als theologisch und rechtlich verankerte Begründung für die Nichtzulassung der Frauen zur 126 Vgl. Aquin, Thomas von: Summe der Theologie. 8. Band. Heidelberg-Graz-Wien-Köln: Gemeinschaftsverlag F.H. Kerle/Verlag Styria 1951, 118. Frage, 1. Artikel, S. 297. 127 Vgl. Kiss-Deák: Rechte der Frau im frühen Christentum. 2010, S. 89. 128 Vgl. Aquin: Summe der Theologie. 1985, Unt., Abs. 92,1. 129 Vgl. Meyer: Das Bild der Frau in der Philosophie. 1999, S. 71.
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schulischen Ausbildung und für ihre Amtsunfähigkeit.130 Nicht weniger verhängnisvoll erweist sich die Vorstellung von einer teuflischen ›Gegenkirche‹ und der Notwendigkeit, sie zu bekämpfen, die Thomas von Aquin anknüpfend an die Teufelspakttheorie des Augustinus und unter Berufung auf mehrere Bibelstellen, die die Gefährlichkeit der Zauberer bezeugen sollten, entwickelt. Der Teufel herrscht demzufolge – so Herbert Eiden – als gefallener Engel mit Duldung Gottes über einen Dämonenstaat. Seinen Anhängern unter den Menschen verleiht der Teufel übernatürliche und zerstörerische Kräfte, die er gezielt ausnutzt, um vielerlei Schaden anzurichten. Der Pakt wird durch den Geschlechtsverkehr der Zauberer und Zauberinnen mit männlichen und weiblichen (incubi und succubi) Nachtdämonen bekräftigt, aus dem sogar Teufelskinder hervorgehen können. Mit dem Abfall vom christlichen Glauben machen sich die Zauberer und Zauberinnen der schwersten Untat schuldig, d. h. des Verbrechens gegen die göttliche Majestät.131 Die Auswüchse dieser Theorie entstehen im 15. Jahrhundert, als der sogenannte Hexenhammer – ein Werk zur Legitimation der Hexenverfolgung – publiziert wird. Der Verfasser dieser Schrift – Heinrich Kramer (Henricus Insistoris) – beruft sich sowohl auf den Sündenfall und die biblische Auslegung der Geschichte von Adam und Eva als auch auf die ›Teufelstheorien‹ des Thomas von Aquins, um bestehende Vorurteile zu bekräftigen und mit der Zustimmung des damaligen Papstes Innozenz VIII. eine sich über drei Jahrhunderte erstreckende Verfolgung und Hinrichtung von Frauen in Gang zu setzen. Hier kommt ein abstruses Sammelsurium von Aberglaube, Wahnvorstellungen und Frauenhass zur Geltung, das dauerhafte und folgenreiche Konsequenzen für das weibliche Geschlecht attestiert. So doziert Kramer, dass »es in der Natur der Frau liege zu lügen, daß fast sämtliche Reiche der Welt durch Frauen zerstört worden, oder daß Frauen weniger gläubig und daher anfälliger für die Versuchung durch den Teufel seien, denn schließlich – so eine etymologische Meisterleistung – komme das Wort femina (Weib) von fe minus (fides mina = geringgläubig).«132 Die Besonderheit des Teufelspakts äußert sich in seiner Hexenlehre – ähnlich wie bei Thomas von Aquin – in der ausdrücklichen Abwendung von Gott, die als eine religiöse Straftat und eine Bedrohung sowohl für die Gemeinschaft als auch für die Kirche eingestuft, angeprangert und schließlich mit dem Tod besiegelt wird. Das Bündnis mit dem Teufel besteht aus mehreren Etappen, die dem Teufel ermöglichen, nicht nur in den physischen Leib einzudringen, sondern sich auch im Bewusstsein des Menschen zu platzieren und ihn von dort aus wie sein Werkzeug zu lenken: So folgt dem Paktversprechen 130 Vgl. Bernet: Frauen in der Kirche: Ein Kreuzweg. 2000, S. 47. 131 Vgl. Eiden, Herbert: Hexenprozesse zwischen Welt- und Kirchengewalt. In: »Forum für Politik, Gesellschaft und Kultur« Nr. 198, März 2000, S. 34–37, hier S. 35. 132 Ebd., S. 36.
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der Beischlaf (Buhlschaft), der dann durch das Geschenk und Verlöbnis bzw. durch die Eheschließung komplementiert wird. Als Indiz eines abgeschlossenen Teufelspakts wird das Hexenmal, das sogenannte Stigma angesehen.133 Da die Hexen – so Herbert Heiden – nicht nur geistige Verbrechen begehen, sondern auch durch den Zauber materielle Schäden verursachen, forderte Kramer die weltlichen Richter ausdrücklich auf, Hexenprozesse nach dem gemeinen säkularen Recht durchzuführen.134 So wurden die massenhaften Prozesse, auch das Werk weltlicher Richter, die ihre Aufgabe jedoch weniger darin sahen, »einzelne, eines Verbrechens für schuldig befundene Personen ihrer Strafe zuzuführen, als vielmehr in der ›Reinigung‹ ihrer Gemeinschaft von unchristlichen, teuflischen Elementen.«135 Die Verfolgungslust kam aber nicht nur von der geistlichen und weltlichen Gerichtsbarkeit, sondern auch von unten. Der Glaube der Menschen an Hexen, die für alle Unglücksfälle verantwortlich sind, wurde konsequent und gezielt durch die Predigten der Geistlichen aufrechterhalten und gefestigt, so dass Glaube und Profit eine beklemmende Allianz schlossen: »Hexenprozesse ließen sich leicht instrumentalisieren und konnten sowohl von Gerichtsherren als auch von Nachbarn und Verwandten zum eigenen Vorteil genutzt werden.«136 Obwohl auch Männer den Hexenjägern und Hexenrichtern zum Opfer fielen, bildete das weibliche Geschlecht mit Abstand die größte Opfergruppe des Hexenwahns. Die Verfolgungen richteten sich vor allem gegen Frauen, die mit ihrem Wissen, Können, Verhalten und Aussehen sowie mit ihren Ansprüchen das traditionelle Frauenbild in Frage stellten und aus diesem Grund vom Klerus als Bedrohung wahrgenommen wurden. Durch die Hexenverfolgungen und Hexenprozesse – so Anastasia Bernet – hat die Kirche, neben der einseitigen und manipulativen Festlegung des christlichen Frauenbildes, der Abwertung und Entmündigung von Frauen sowie der Ausblendung von Frauenleistungen eine Schuld auf sich geladen, deren Ausmaß heute, nach vorsichtigen Schätzungen, mit dem Genozid an den indianischen Völkern bei der Eroberung Südamerikas zu vergleichen ist.137 Selbst die Reformation bringt keinen Umbruch in der Frauenfrage, was nicht zuletzt darauf zurückzuführen ist, dass die Vorherrschaft von Aristotelismus, Thomismus und der Bibel auch in der frühen Neuzeit den Rahmen für die Bewertung und Stellung der Frau in der gesellschaftlichen Ordnung darstellt. Die Bibelexegese bekräftigt ihre Sündhaftigkeit und die daraus resultierende Un133 Vgl. Da˛browska-Burkhardt, Jarochna: »Gestehst du, daß dein Geist den du beÿ dier gehabt, Hensel geheißen…«: Teufelsbuhlschaft in den frühneuzeitlichen Hexenverhörprotokollen aus Grünberg in Niederschlesien. In: »Moderna språk« 2019:2, S. 87–107, hier S. 93. 134 Vgl. Heiden: Hexenprozesse zwischen Welt- und Kirchengewalt. 2000, S. 36. 135 Ebd., S. 37. 136 Ebd. 137 Vgl. Bernet: Frauen in der Kirche: Ein Kreuzweg. 2000, S. 47.
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terordnung unter den Mann – die gültige Geschlechterhierarchie und schreibt somit die misogyne Tradition fort. In Anlehnung an die biblische Überlieferung wird die Darstellung der Frau in den Zusammenhang von Missachtung des göttlichen Diktums und Keuschheitsideal gestellt: Entweder verfällt die Frau der Sündhaftigkeit Evas oder sie strebt danach, der Jungfräulichkeit Marias zu folgen – die eine Werkzeug des Teufels, die andere erstrebenswertes Ideal der Kirche.138 Dem etablierten Frauenschema nach genießt die jungfräulich lebende Nonne, deren Stand als höchster und vollkommenster gilt, eine so hohe Wertschätzung, die von der Ehefrau nicht erreicht werden kann. Verheiratete Frauen galten im Mittelalter als Wesen zweiter Ordnung und marschierten in einer mittelalterlichen Prozession als letzte Gruppe. Mit einem Tabu waren menstruierende, schwangere oder stillende Frauen belegt, die in dieser Zeit weder die Kirche besuchen noch an der Kommunion teilnehmen durften.139 An diesem Punkt markiert die reformatorische Bewegung eine deutliche Zäsur. Durch die von Luther propagierte Befürwortung der Ehe wird das Selbstbewusstsein der verheirateten Frau gestärkt, weil das Ideal der keuschen Jungfrau durch das der makellosen Ehefrau und vielfachen Mutter ersetzt wird. In seinen Schriften besteht Luther darauf, die (Ehe)Frau ebenfalls als Geschöpf und Gabe Gottes anzuerkennen, sie in ihrer Würde zu ehren und Gott für dieses Geschenk zu danken: »Ein Weib ist schnell genommen, aber es stets lieb zu haben, das ist schwer und Gottes Gabe. Und wer das hat, der mag unserem Herrgott wohl dafür danken.«140 Allerdings verbessert sich die soziale und rechtliche Stellung der Frauen damit kaum, denn nach den gravierenden Umwälzungen der Frühphase der Revolution, an denen auch viele Frauen – adeliger und bürgerlicher Herkunft – beteiligt waren, erfolgt eine konservative Umdeutung der Glaubenslehre, die eine »Politik der Ehezucht« aufzwingt und eine hierarchische Weltordnung hervorbringt, in der die Handlungsräume der Geschlechter getrennt werden.141 Obwohl Luther die Gleichwertigkeit von Mann und Frau betont, weil in der Gestalt von Frau und Mann der Mensch zum Bilde Gottes geschaffen ist, neigt er in seinen Reden sichtlich dazu, Gott vornehmlich im Mann zu erkennen, so dass die Annahme der Gleichwertigkeit immer wieder ins Wanken gerät. Das deutliche Hierarchie-Gefälle, demnach der Mann eindeutig über der Frau steht, ist seiner Meinung nach darauf zurückzuführen, dass bereits Eva einen schwächeren Sinn und Verstand als Adam hatte. Obwohl Eva genauso wie Adam eine vortreffliche 138 Vgl. Weigelt, Silvia: »Der Männer Lust und Freude sein«. Frauen um Luther. Weimar-Eisenach: Wartburg Verlag 2011, S. 7. 139 Domröse, Sonja: Frauen der Reformationszeit. Vandenhoeck & Ruprecht 2014, S. 145. 140 Luther: Tischreden. 2017, S. 97. 141 Vgl. Czarnecka, Mirosława: Reformation und Geschlechterdiskurse. Eine Re-Vision. In: Die Reformation 1517. Zwischen Gewinn und Verlust. Hg. von Cezary Lipin´ski/Wolfgang Brylla. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2020, S. 273–287, hier S. 274.
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Kreatur und das Bild Gottes ist, so ist sie doch ein Weib und das Weib kann an der Ehre und Würde dem Mann auch nicht gleich sein.142 Aus diesem Grund zieht er mentale und territoriale Grenzen für Frauen, indem er dem weiblichen Geschlecht den Mangel an »Stärke und Kräften des Leibes und am Verstande«143 unterstellt und es zum Dienst im Haushalt verpflichtet. In Luthers Ausführungen zeichnet sich ein Differenzkonzept ab, dass den Frauen- und Männerkörper nicht als zwei Varianten des Gleichen versteht, das Gott zu seinem Bilde als Mann und Frau schuf, sondern sie als essentiell verschieden und einander entgegengesetzt versteht. Dementsprechend wird ein biologischer Frauenkörper von einem biologischen Männerkörper unterschieden und die soziale Benachteiligung von Frauen in Übereinstimmung mit dem naturrechtlichen Gleichheitspostulat gebracht: Die biologische Gegensätzlichkeit von Frauen- und Männerkörper sollte die Legitimität ihrer ungleichen Positionierung beglaubigen. Er begreift den Frauenkörper als Gattungskörper, der Frauen in erster Linie auf die Fähigkeit des Gebärenkönnens und Gebärenmüssens festlegt und ihren Körper als Gefäß für das potenzielle oder reale Kind entwirft.144 Luther geht sogar einen Schritt weiter und schließt in die Reproduktionsaufgabe auch die für die Frau gefährliche Situation der Geburt eines Kindes mit ein. Da der Tod im Kindbett zu seiner Zeit für Frauen eine häufige Todesursache war, sollen sie sich daran trösten, dass sie durch das Gebären Gottes Willen erfüllen.145 Die Fruchtbarkeit, die ausschließlich durch die Zahl der Kinder unter Beweis gestellt werden kann, assoziiert Luther mit Gesundheit, Reinheit und Zufriedenheit, während der Gegenentwurf dagegen eine schwache, ungesunde und somit minderwertige Weiblichkeit offenbart. Die Verhütung einer Schwangerschaft zum gesundheitlichen Wohl der Frau kommt nach dieser Auffassung nicht infrage, denn es ist besser, kurz und gesund als lange und ungesund zu leben.146 Dementsprechend behauptet Luther auch, dass Gott Weiber gerade dazu besonders geschaffen hat, dass sie Kinder tragen und der Männer Lust und Freude sein sollen.147 Der in Luthers Schriften gezeichnete Frauenkörper symbolisiert soziale Rollenmuster, Geschlechterverhältnisse sowie Macht- und Ungleichheitsstrukturen, die dafür sorgen, dass die Bedürfnisse des (weiblichen) Körpers den gesellschaftlichen Bedürfnissen untergeordnet bleiben. So sieht Luther die Frau ausschließlich für den Hausstand zuständig, den Mann dagegen für das öffentliche Leben, für Kriegs- und Rechts142 Vgl. Zimmermann, Ernst (Hg.): Geist aus Luthers Schriften oder Concordanz der Ansichten und Urtheile des großen Reformators über die wichtigsten Gegenstände des Glaubens, der Wissenschaft und des Lebens. Band 4. Darmstadt: Karl Wilhelm Leske Verlag 1831, S. 664. 143 Ebd., S. 93. 144 Vgl. ebd., S. 120. 145 Vgl. Domröse, Frauen der Reformationszeit. 2014, S. 135. 146 Vgl. ebd. 147 Vgl. Luther: Tischreden. 2017, S. 109.
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geschäfte.148 Mit einer solchen Argumentationslinie wird der Ausschluss der Frau von der Leitung im politischen Regiment und in der Kirche legitimiert und ihre Leitung im dritten Stand, im Haushalt, bekräftigt. Während zumindest in den Städten des Hochmittelalters – so Sonja Domröse – Frauen in der Stellung selbstständiger Zunftmitglieder nachzuweisen sind, so findet nach der Einführung der Reformation das Modell der selbstständigen weiblichen Existenz, einer Handwerkerswitwe beispielsweise, keine Akzeptanz mehr. Frauen sollten sich nämlich schnell wieder verheiraten oder anders gesagt, sich wieder einem Mann unterordnen.149 Das von Luther propagierte Prinzip, »Gott schuf Mann und Frau; die Frau sich zu mehren, den Mann zu nähren und zu wehren«150 sowie die daran gekoppelte räumlich-kommunikative Territorialisierung im Rahmen der Geschlechterordnung scheint jedoch in seinem Haus nur bedingt Geltung erlangt zu haben. Seine Frau Katharina nimmt ihm nämlich die Verantwortung für die materiellen Belange der Familie ab und steigt im Laufe der Jahre zu einer »Mitarbeiterin« Luthers auf, die nicht nur die Bibel studiert, sondern auch mit theologischen und kirchenpolitischen Problemen vertraut gemacht wird sowie Luther in seinen Ansichten und Einstellungen beeinflusst.151 Während Luther in seinem Privatleben bereit ist, traditionelle Rollen von Mann und Frau aufzulösen und geschlechtsdemokratische Handlungsmuster einzuführen, so besteht er in der Öffentlichkeit beharrlich darauf, die bestehende Ordnung mir der männlichen Vormachtstellung zu erhalten und die Frau in der Gemeinde schweigen zu lassen. Er selber nimmt aber die hegemoniale Position innerhalb der Geschlechterordnung nie ein. Ganz im Gegenteil, er scheint das Weiberregiment zu genießen und erleichtert zu sein, von seinem männlichen Programm abweichen und sich ausschließlich auf seine theologischen Aktivitäten konzentrieren zu können. Die Leistungen seiner Frau, die ihm all dies erst ermöglichen, finden allerdings keine achtbare Dokumentation, die Katharinas Abweichung von dem üblichen Frauenbild der Zeit eindeutig würdigen und die vorherrschenden Konstellationen im Geschlechterverhältnis in Frage stellen könnte.152 Tempus fugit, ohne dass die durch Jahrtausende gefestigten Denkstrukturen hinsichtlich der geschlechtlichen Rollenspiels ›entkrustet‹ werden. Im 20. Jahrhundert ist es kein Geringerer als der Nobelpreisträger Heinrich Böll, der sowohl dem (deutschen) Katholizismus als auch den (deutschen) Katholiken vorwirft, seit der Reformationszeit sich aus ihrer defensiv-aggressiven, primitiv apologe148 149 150 151
Vgl. ebd., S. 110. Vgl. Domröse: Frauen der Reformationszeit. 2014, S. 147. Luther: Tischreden. 2017, S. 109. Vgl. Schilling, Heinz: Martin Luther. Rebell in einer Zeit des Umbruchs. München: C.H. Beck 2017, S. 345f. 152 Vgl. Szmorhun: Martin Luthers Auffassung von Weiblichkeit, Körperlichkeit und Sexualität. 2020, S. 299.
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tischen Position nicht gelöst und an der Geschlechterfrage nichts reformiert zu haben. Ganz im Gegenteil, jeder Versuch, diese Defensivstellung gegen die Moderne kritisch zu hinterfragen, wird mit Exkommunikationsdrohungen unterbunden. Die Wirksamkeit der Drohung besteht wiederum in der Position des (deutschen) Katholizismus, der ein Gehorsamskatholizismus ist.153 Damit wird ein Vorwurf formuliert, der im Laufe der weiteren Jahrzehnte weder an Interesse noch an Aktualität einbüßt, weil die katholische Kirche – auch wenn die heutige Eva es wagt, ihren Weg mit erhobenem Haupt zu gehen – an ihrer geschlechtsspezifischen Gewaltdynamik festhält. Bis heute differenzieren (katholische) Theologen und Kirchenfürsten zwischen den Geschlechtern und begründen damit Diskriminierung, Marginalisierung und Unterordnung der Frau. Obwohl die Frage nach einer Reform der Situation der Frau in der Kirche zunehmend an Gewicht gewinnt und Frauen mittlerweile Initiativen ergreifen, die darauf abzielen, das männliche Monopol auf Wissen zu brechen und dem weiblichen Geschlecht Zugang zu jenen religiösen Rollen möglich zu machen, die mit der Autorität, Interpretations- und Führungsmacht ausgestattet sind, werden ihre Gleichheitsbestrebungen unverändert durch das Prisma der Schöpfungsgeschichte und des Sündenfalls kommentiert und beurteilt. Das Frauenbild des päpstlichen Lehramts befindet sich immer noch nicht im Umbruch. Es fußt unverändert auf Sexualität, Empfängnis, Geburt, Mutterschaft, Hingabe und Gebot, dem vom Lehramt gezeichneten Ideal der weiblichen Existenz Folge zu leisten. Wo immer auch frauenbezogene Gebote und Verbote formuliert werden, sind es ununterbrochen (Kirchen)Männer, die sprechen und daran interessiert sind, Frauen in ihrer dienenden Rolle festzuhalten. Daran, dass die patriarchale Grundordnung der Kirche einen Anteil an der Missbrauchskrise hat, weil die systematische Ausgrenzung von Frauen zwangsläufig die systematische Gewalt gegen Frauen in Gang setzt, darf nicht gerüttelt werden. Es ist die Kirche, die Urteile fällt, und niemandem ist es erlaubt, über deren Urteil zu richten. Thomas von Aquin und seine Vorgänger prägen auch im 21. Jahrhundert das katholische Frauenbild tiefer als man denkt, was reale Auswirkungen auf die gesellschaftliche Situation der Frau hat, weil eine Institution, die seit Jahrhunderten für die Unterdrückung der Frau steht, sich das Recht anmaßt, in familien- und frauenpolitischen Angelegenheiten mitzumischen und zu entscheiden, was Mann und Frau ist oder wie weit die Gleichberechtigung gehen darf.
153 Vgl. Böll, Heinrich: Querschnitte. Aus Interviews, Aufsätzen und Reden von Heinrich Böll. Zusammengestellt von Viktor Böll und Renate Matthaei. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1977, S. 177.
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Eva, Maria und Lilith – Literarische Entwürfe von kirchlichen Gehorsamsbindungen
In der literaturwissenschaftlichen Forschung wird das Zusammenspiel von Kirche, Macht und Gewalt eher marginal behandelt, obwohl der Bestand der literarischen Texte, in denen das Problem der Kirchengewalt explizit thematisiert wird, alles andere als limitiert ist. Exemplarisch dafür steht das Werk von Heinrich Böll, in dem die Kirche als Ort der Unbarmherzigkeit, Hochmütigkeit, Heuchelei und Ausbeutung inszeniert wird. Bölls Kritik gilt dabei nicht nur der Rolle der Kirche im politischen Bereich, sondern auch den Domestizierungspraktiken sowohl des Klerus als auch der katholischen Institutionen, die mit ihrer gehorsams- und ordnungsstiftenden Funktion das gesellschaftliche Leben organisieren und Handlungsgrenzen abstecken.154 Das Denk- und Verhaltenssystem der von ihm auf die Bühne gebrachten (weiblichen) Figuren steht exemplarisch dafür, dass sich die Kirche einer ideologischen Rhetorik bedient, die insbesondere in Fragen der Ehe, Sexualität, Lust, Fruchtbarkeit sowie der Abmilderung offizieller Kirchenlehre historische Parallelen erkennen lässt. So basiert die Darstellung der Frau auf dem biblisch-weltlichen Paradigma ›Eva-Maria‹ bzw. ›Hure-Madonna‹, das den Ausgangspunkt der gesellschaftlichen Sanktionierung von Frauenverhalten bildet und viele Frauen in nachteilige Lebenslagen führt. Während Eva unverändert zur Schlechtigkeit neigt, indem sie den Lüsten weder entsagt noch sich von ihnen zu reinigen beabsichtigt, lässt der moralische Kodex Marias Variationen zu, weil sie die Identität der keuschen Jungfrau zugunsten des Status der makellosen Ehefrau und der vielfachen Mutter ablegen kann und sogar soll. Solange Frauen dem Rollenideal der musterhaften Weiblichkeit entsprechen, wird ihnen eine Art Wertschätzung entgegengebracht. Frauen, die den Kanon der Wohlanständigkeit zu durchbrechen wagen, stoßen dagegen auf Ablehnung. Diese (nicht nur) in der christlichen Tradition verankerte Auffassung dient seit Jahrtausenden dazu, »Frauen ein selbstbestimmtes, unabhängiges Verhalten in allen öffentlichen und privaten Lebensbereichen abzusprechen und die Wert- bzw. Geringschätzung von Männern gegenüber Frauen – in einer auch für deren Entwicklung oft abträglichen Weise – auf die Dichotomie Hure oder Heilige zu fokussieren.«155 In Bölls Texten wird kein Hehl daraus gemacht, dass sich in der Dichotomie ›Hure-Madonna‹ das christliche Verhältnis zur Sexualität ausdrückt, die ausschließlich als »Fortpflanzungsver-
154 Szmorhun: Kirche und Gewalt. 2018, S. 185. 155 Buser, Denise: Hure und Madonna – ein biblisch-weltliches Paradigma. In. Körperlichkeit – Ein interreligiös-feministischer Dialog. Hg. von Judith Stofer/Rifa᾽at Lenzin. Markt Zell: Religion & Kultur-Verlag 2007, S. 65–77, hier S. 66.
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anstaltung«156 geduldet und von Böll als Leibfeindlichkeit, Heuchelei und Verkennung der menschlichen Sexualität enthüllt wird. Das Problem der falschen bzw. der falsch verstandenen Moral veranschaulicht er unter anderem an der inneren Zerrissenheit seiner weiblichen Figuren Marie Derkum und Käte Bogner, die er sowohl in die Eva- als auch Maria-Rolle schlüpfen lässt. Sein Roman Ansichten eines Clowns basiert auf einer Liebesgeschichte, die durch Belastung, Spannung, Konflikt und letztendlich Trennung gekennzeichnet ist. Bölls agnostischer Protagonist, Hans Schnier, hält es für einen Irrtum, Dinge wie Sexualität, Liebe und Ehe zu verrechtlichen und sich aus diesem Grund weigert, seine katholische Lebensgefährtin, Marie Derkum, zu heiraten und die zukünftigen gemeinsamen Kinder katholisch zu erziehen. Während Hans davon ausgeht, dass ein unverheiratetes Zusammenleben die Menschen mehr bindet als eine Ehe und die rechtliche Institutionalisierung eines Vorgangs wie Beischlaf mehr als absurd ist, kommt Marie mit ihrem ehelosen Status nicht zurecht, weil sie auf diese Weise ihre Reinheit und Jungfräulichkeit nicht bewahren und somit ihre Treueverpflichtung als den wichtigsten Nachweis ihrer Tugend nicht einhalten kann. Geprägt von Aussagen katholischer Dogmatik und Moraltheologie, die ein intimes Verhältnis mit »Ordnungsprinzipien«157 belegen, reibt sie sich an ihrer Beziehung zu Hans, die in der Rechtsordnung der Kirche als Konkubinat abgelehnt und von der pharisäerhaften Nachkriegsgesellschaft ebenfalls als inakzeptabel betrachtet wird. Bis zu ihrem neunzehnten Lebensjahr folgt die katholische Marie unbeirrt einem Rollenideal, das in den gesellschaftlichen Rahmen von Wohlanständigkeit fällt und sie zu einem moralischen Subjekt werden lässt.158 Nahezu fanatisch verschanzt sie sich hinter dem Marmorsockel der unbefleckten Madonna und huldigt unreflektiert der Prüderie der katholischen Sexualmoral, bis Hans Schnier eines Abends sie um ihre ›Reinheit‹ bringt. Während er aber das religiöse Verbot des »fleischlichen Verlangens«159 rituell und lustvoll übertritt, wird Marie nach dem vollzogenen Geschlechtsakt von Gewissensbissen geplagt, weil sie die Regeln der Autorität verletzt und somit ihren Status der Jungfrau Maria eingebüßt hat. Da sexuelle Ausschweifungen von Frauen mit katholischen Tugenden unvereinbar sind, bricht Marie aus ihrer Madonna-Rolle zwangsläufig aus und müht sich an der Seite von Hans mit ihrem verwerflichen Eva-Dasein ab. Ihre Eva-Identität hindert sie aber daran, über ihren katholischen Schatten zu springen und sich unabhängig von der gültigen Auffassung über ein ›(un)angepasstes‹ Frauenverhalten ihr eigenes Leben zu gestalten. Ihre Zerrissenheit, die die Beziehungsqualität nach und nach beeinträchtigt, ist jedoch nicht nur ein 156 157 158 159
Flasch, Kurt: Augustin. Einführung in sein Denken. Stuttgart: Reclam 1980, S. 208. Böll, Heinrich: Ansichten eines Clowns. München: dtv 2017, S. 83. Vgl. Szmorhun: Kirche und Gewalt. 2018, S. 188. Böll: Ansichten eines Clowns. 2017, S. 29.
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Produkt rein religiöser Semantiken, sondern sie wird konsequent von Mitgliedern des katholischen Milieus intensiviert, die ihr einreden, dass das Konkubinat nicht nur gegen das katholische Kirchenrecht verstößt, sondern auch auf dem Feld der weltlichen Ordnung eine Art Anarchie darstellt. Die Wucht der moralischen Bedenklichkeitsprüfung durch die Gesellschaft und Maries Unfähigkeit, sich der moralischen Schablonisierung von Frauen zu entziehen, hindert sie daran, ihre weibliche Identität in einem neuen Entwurf zu genießen, zu dem ein unverheiratetes Zusammenleben gehört. Sie nimmt ihren Streit mit Schnier um die standesamtliche Trauung und die katholische Erziehung der von ihm erhofften Kinder zum Vorwand, sich von ihm zu trennen und in die Ordnungsfunktion katholischen Lebens zurückzukehren. Durch die Eheschließung mit Heribert Züpfner, einem Musterkatholiken, kann sie ihrem ›verwerflichen‹ Lebensstil ein Ende setzen und ein Dasein führen, das den gesellschaftlichen Wertemaßstab nicht irritiert. Aus der ehelosen ›Hure‹, die sich mit einem Agnostiker ›herumtreibt‹, wird nun eine verheiratete Madonna, deren Habitus an der Seite eines anständigen Katholiken ›steril‹ wirkt. Nach ihrem Ausbruch aus dem Rollenkanon kehrt Marie Derkum wieder in den gesellschaftlichen Rahmen zurück und führt nun als »First Lady des deutschen Katholizismus«160 einen Lebensstil, der sie keineswegs daran hindert, »die katholische Luft«161 zu atmen und ihr Bedürfnis nach gesellschaftlicher Anerkennung zu stillen.162 In seinen emotionsgeladenen Kommentaren macht Hans Schnier die katholischen Würdenträger und die Mitglieder der katholischen Gemeinde dafür verantwortlich, dass seine Beziehung zu Marie, die einen hohen Stellenwert in seiner Welt einnimmt, gescheitert ist: »Ich bin ein Clown«, sagte ich, »im Augenblick besser als mein Ruf. Und es gibt ein katholisches Lebewesen, das ich notwendig brauche: Marie – aber ausgerechnet die habt ihr mir genommen.« »Unsinn, Schnier«, sagte er, »schlagen Sie sich doch diese Entführungstheorien aus dem Kopf. Wir leben im zwanzigsten Jahrhundert.« »Eben«, sagte ich, »im dreizehnten wäre ich ein netter Hofnarr gewesen, und nicht einmal die Kardinäle hätten sich darum gekümmert, ob ich mit ihr verheiratet gewesen wäre oder nicht. Jetzt trommelt jeder katholische Laie auf ihrem armen Gewissen rum, treibt sie in ein unzüchtiges, ehebrecherisches Leben nur wegen eines dummen Fetzens Papier. Ihre Madonnen, Doktor, hätten Ihnen im dreizehnten Jahrhundert Exkommunikation und Kirchenbann eingebracht. Sie wissen ganz genau, daß sie in Bayern und Tirol aus den Kirchen geklaut werden – ich brauche Ihnen nicht zu sagen, daß Kirchenraub auch heute noch als ziemlich schweres Verbrechen gilt.«163
160 161 162 163
Ebd., S. 198. Ebd., S. 83, 128, 135. Vgl. Szmorhun: Kirche und Gewalt. 2018, S. 190. Ebd., S. 102.
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Hans Schnier, der sich seines Außenseiterstatus völlig bewusst ist, kann nicht nachvollziehen, dass sich sein gesellschaftlicher Ausnahmezustand auf die Beziehung zu Marie negativ auswirken muss, denn er empfindet diese Beziehung als substanziell sittsam. Aus diesem Grund hat er nur ein Kopfschütteln dafür übrig, dass diese Verbindung als störend empfunden werden kann. Mit dem Personalpronomen »ihr« (»ausgerechnet die habt ihr mir genommen«) sind sowohl geistliche Würdenträger gemeint, die mit ihrer verlogenen Morallehre das gesellschaftliche Bewusstsein infizieren, als auch gläubige Katholiken, die – oft von eigenen Interessen geleitet – das Macht- und Gewaltsystem der Kirche unterstützen. Ihnen wirft Hans vor, ihm seine Marie abspenstig gemacht zu haben. Maries Weggehen stellt er in den Kontext einer Entführung und die katholische Instrumentalisierung ihrer Beziehung in den Kontext einer gewaltsamen Handlung. Das Zusammenleben mit Marie wird von ihm als ehegleich empfunden, auch wenn es sich ohne kirchlichen Segen vollzogen hat. Von der Stärke der emotionalen Bindung an Marie zeugt die Tatsache, dass ihr Weggehen unter der Beeinflussung der Kirchenfürsten und Gemeindemitglieder als ehebrecherisch empfunden wird. Nicht das Zusammenleben ohne Trauschein wird von ihm als unzüchtig erlebt, sondern der gewaltsame Abbruch der Beziehung, mit dem er sich nicht abfinden kann. Die katholische Gehirnwäsche, der Marie unterzogen wird, vergleicht Hans mit dem Frauenraub. Der Frauenraub wird dagegen mit dem Raub der goldenen oder vergoldeten Madonnen in Verbindung gebracht, um die Verlogenheit des katholischen Kreises herauszustellen. Mit diesem Vergleich kritisiert Hans die Doppelbödigkeit der katholischen Würdenträger, die eine uneheliche Beziehung als verbrecherisch und verdammenswert einstufen, aber die von ihnen begangenen verbrecherischen Taten, als Beispiel wird hier der Madonnenraub in den Kirchen Bayerns und Tirols genannt, nicht mal zur Kenntnis nehmen oder bagatellisieren. Das wahre Verbrechen wird als solches nicht erkannt, kein Verbrechen wird dagegen als eine Tat interpretiert, die gegen das geltende Kirchengesetz verstößt und einer Strafe bedarf. Seine Kritik richtet sich aber auch gegen Marie, die nicht bereit ist, aus dem ›katholischen Rausch‹ zu erwachen und an seiner Seite den Weg der Selbstbestimmung zu gehen. Er wirft ihr vor, dass ihr Lechzen nach gesellschaftlicher Konformität und ihr katholischer Fanatismus sie daran hindern, die manipulative Kraft der katholischen Kirche zu durchschauen, die den Status einer moralischen Instanz beansprucht, um aus dieser Position heraus nicht nur in gesellschaftliche Prozesse zu intervenieren, sondern auch im Privatbereich die Wertorientierung und Lebensweise ihrer Anhänger zu beeinflussen und ihnen eine spezifische Kirchlichkeit einzutrichtern, der eine bedingungslose Loyalität der Institution gegenüber zugrunde liegt. Während eine rechtlich und kirchlich verankerte Ehe Marie Derkum dazu verhilft, in den religiös-weltlichen Pauschalraster zurückzufinden, träumt sich
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die ebenfalls katholische Käte Bogner in Bölls Roman Und sagte kein einziges Wort aus ihrem Status der verheirateten Frau vehement heraus. Sie stellt sich vor, dass es schön sein muss in einem Leben, »in dem es keine Ehe gibt, keine verschlafenen Männer, die, kaum erwacht, nach ihrer Zigarettenpackung greifen«164 und auf den weiblichen Schoß fixiert sind. Mit ihrem Mann, Fred Bogner, führt Käte eine Ehe, die kaum noch eine ist. Aufgrund der materiellen Not und der daraus resultierenden Gewalttätigkeit des Mannes den Kindern gegenüber sieht sich der verzweifelte Fred gezwungen, seine Familie zu verlassen. In unregelmäßigen Abständen trifft sich aber das Ehepaar auf Parkbänken, in zerstörten Häusern oder in billigen Hotels, um dem ehelichen Kodex gerecht zu werden und den Anschein einer Ehe aufrechtzuerhalten. Durch eine so konzipierte Eheform, in der die Zweisamkeit nur gelegentlich ausgelebt und eigentlich auf sexuelles Beisammensein reduziert und von Käte als Last empfunden wird, lässt Böll seine weibliche Figur an der Grenze zwischen ›Hure‹ und ›Madonna‹ balancieren.165 Das dichotome Schema, das durch die suggestiven Frauendarstellungen in der Bibel geprägt ist, erweist sich auch in ihrem Fall als geschlechtsspezifische Matrix, die fremd- und selbstbezogene Entwürdigung begründet. Im Gegensatz zu Marie Derkum, die darauf fixiert ist, in den Ehestand zu treten, flüchtet sich die verheiratete Käte in Träume und Phantasien über ein unverheiratetes Dasein, das sowohl der katholischen Morallehre als auch dem gesellschaftlichen Rollenmuster zuwiderläuft, von Käte aber als frauenfreundlichere Beziehungsvariante eingestuft wird. Die ehekritische Haltung Kätes ist nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass sie ihre eheliche Existenz mit der Erfüllung von sexuellen Pflichten und mit zahlreichen Schwangerschaften assoziiert. Nicht zuletzt deshalb träumt sie sich in uneheliche Beziehungen mit Männern hinein, die bereit bzw. imstande sind, sie nicht nur als Körper, sondern auch als Persönlichkeit wahrzunehmen und ihr Selbstbestimmungsrecht zu akzeptieren. Nur der imaginäre Bereich stellt eine Chance dar, sich der moralischen Schablonisierung von Frauen zu entziehen und Handlungsspielräume der Selbstreflexion und Entscheidungsfreiheit zu nutzen. Durch das Agieren auf zwei weltanschaulich inkompatiblen Ebenen – d. h. auf der Ebene des Realen und des Imaginären – steigt Käte zu einer Figur des Paradoxes auf, an der sich nicht zuletzt Unterdrückungsmechanismen ablesen lassen, die als alltägliche Praktiken und Taktiken der Kontrolle, Überwachung und Dressur zum Vorschein kommen. Während sie in ihren Träumen und Phantasien als unverheiratete Frau die Eva-Identität unbehelligt ausleben kann, ohne als Hure eingestuft zu werden, wird sie in ihrem realen Leben als verheiratete Madonna des ›hurenhaften Wesens‹ bezichtigt, obwohl sie den Beischlaf ausschließlich mit dem Vater ihrer Kinder vollzieht. Da 164 Böll, Heinrich: Und sagte kein einziges Wort. München: dtv 2012, S. 164. 165 Vgl. Szmorhun: Kirche und Gewalt. 2018, S. 192.
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sie sich mit Fred gelegentlich in Hotels trifft, wird sie von dem Hotelpersonal regelmäßig für eine Prostituierte gehalten und verinnerlicht auch im Laufe der Zeit diese Perspektive, zumal sie von ihrem Mann bei jedem Treffen Geld bekommt, das die Existenz der gemeinsamen Kinder sichert.166 Die Kanalisierung der Sexualität in der Ehe, ihre vorrangige Bedeutung in der Zeugung der Nachkommenschaft sowie die Hochschätzung jungfräulicher Lebensweise gelten neben der Apologie der Ehe als Kritikpunkte, an denen Böll Parallelen zur Reformationszeit zu erkennen glaubt. Wenn man die überlieferten Schriften aus dieser Zeit auf ihre Positionen zu Ehe, Frauen, Sexualität, Schwangerschaft, Körper etc. untersucht und sie mit der Glaubensehre der von Böll nachgezeichneten katholischen Kirche vergleicht, tut man sich schwer, dieser Ansicht nicht beizupflichten. In beiden Epochen zeigen sich Kirche und Gesellschaft bemüht, jeden Aspekt des menschlichen Lebens zu kontrollieren, und das sexuelle Leben bildet dabei keine Ausnahme. Am Beispiel von Käte Bogner in Und sagte kein einziges Wort und Sabine Emonds in Ansichten eines Clowns versucht Böll zu veranschaulichen, dass sexuelle Autonomie nicht zum anerkannten weiblichen Rollenkanon zählt, so dass nicht die Frau als Person und Persönlichkeit im Vordergrund steht, sondern die Reproduktion als ihre ›natürliche‹ Aufgabe innerhalb der Gesellschaftsordnung. Der Körper der Frau wird mit der Sexualität gleichgesetzt und in organische Verbindung mit dem Gesellschaftskörper gebracht, dessen Fruchtbarkeit er regeln und gewährleisten muss.167 Während die unverheiratete Marie Derkum an ihren zahlreichen Fehlgeburten zu verzweifeln droht und sie als Strafe Gottes für ihr sündhaftes Leben begreift, registrieren Käte Bogner und Sabine Emonds mit Schrecken und Abscheu die ersten Anzeichen der nächsten Schwangerschaft, weil sich damit die materielle Situation der Familie verschlechtert. Empfängnisverhütungsmethoden, mit denen sich die Schwangerschaften verhindern lassen, sind in der katholischen Moraltheologie strengstens untersagt, weil sowohl die Abtreibung als auch die Verwendung mechanischer und chemischer Empfängnisverhüttungsmittel gegen das Gesetz Gottes und der Natur verstößt und das weibliche Gewissen mit schwerer Schuld belastet.168 Um die Wege zu vermeiden, die das Lehramt in Auslegung göttlicher Gesetze verwirft, greifen Sabine Emonds und ihr Mann Karl auf eine Methode der Geburtenkontrolle zurück, die in der Glaubenslehre grundsätzlich bejaht wird: »Karl und Sabine fingen an von den Büchern und Kalendern zu sprechen, in denen man nachsehen kann, wann eine
166 Vgl. ebd., S. 193. 167 Vgl. Foucault, Michel: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1977, S. 126. 168 Vgl. Bolte, Karl Martin/Kappe, Dieter/Schmid, Josef: Statistik, Theorie, Geschichte und Politik des Bevölkerungsprozesses. Opladen: Leske + Budrich 1980, S. 124.
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Frau kein Kind kriegen kann. Und dann bekommen sie dauernd Kinder […].«169 Die Empfängnisverhütungsmethode, die nach Knaus-Ogino die empfängnisfreien Tage berücksichtigt und das katholische Gewissen keinesfalls belastet, verfehlt im Fall der Ehe Emonds ihre Wirkung und sorgt dafür, dass materielle Probleme auf Beziehungsprobleme durchschlagen, von denen beide Partner gleichermaßen betroffen sind. Sabine macht nämlich ihrem Mann Vorwürfe, mit »seinen fürchterlichen Empfängnistabellen«170 nicht richtig hantiert und sie wieder geschwängert zu haben, während Karl seine Schuldgefühle im Alkohol zu ertränken versucht und anfängt, »Flüche nach Rom zu schicken«171 und »unselige Wünsche an Kardinalshäupter und Papstgemüter zu häufen.«172 Sowohl Sabine Emonds, die das ganze männliche Geschlecht für ihre Schwanger-Existenz verantwortlich macht als auch Käte Bogner, die ihren Mann darum beneidet, dass er nicht schwanger werden und einfach abhauen kann, verkörpern soziale Rollenmuster, Geschlechterverhältnisse sowie Macht- und Ungleichheitsstrukturen, die dazu beitragen, dass die Bedürfnisse des (weiblichen) Körpers den gesellschaftlichen Bedürfnissen untergeordnet werden.173 Das kirchliche Lehrsystem, das in Form von Dogmatismus, Doktrinismus, Symbolismus und Ritualismus die Frau zur ›Gebärmaschine‹ degradiert, wird auch im Roman Eisblau mit Windschlieren von Anna Maria Leitgeb aufgegriffen und als Unterdrückungsmaschinerie thematisiert. Ihre Protagonistin Biggi, die im Südtirol der 1960er Jahre aufwächst und die Weiblichkeit als theologisch begründete Unvollständigkeit erlebt, berichtet in Form von schlichten Kommentaren, mit welchen (Gewalt)Mitteln die Kirche Frauen dazu verleitet, ihrer ureigenen Aufgabe und somit dem ›Prinzip der Nützlichkeit‹ gerecht zu werden: Wenn die Mutter nicht jedes Jahr schwanger ist, kommt der Pfarrer und stellt sie zur Rede. Manchmal geht sie in die Stadt, um dort beim italienischen Kanonikus etwas zu beichten, das »Interruptus« heißt, weil unser Pfarrer sie nicht losspricht von dieser Sünde.174
In Biggis Kommentar wird die katholische (Doppel)Morallehre angefochten, die nicht nur an den Bedürfnissen und Gewissensüberzeugungen der Gläubigen, sondern auch an den Erfordernissen der Partnerschaft vorbeigeht und insbesondere die Frau zum religiösen Gehorsam gegenüber kirchlichen Autoritäten verpflichtet. Die Insubordination, die sich in diesem Fall im Coitus interruptus manifestiert, wird vom Dorfpfarrer als Problem thematisiert und unter Strafe 169 170 171 172 173 174
Böll: Ansichten eines Clowns. 2017, S. 230. Ebd. 133. Ebd., S. 230. Ebd. Vgl. Szmorhun: Kirche und Gewalt. 2018, S. 194. Leitgeb, Anna Maria: Eisblau mit Windschlieren. Bozen: Edition Raetia 2010, S. 89.
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gestellt. Für ihre Weigerung, den ihr biologisch vorgegebenen Weg zu gehen und die Anwendung von Methoden, die das Lehramt in Auslegung göttlicher Gesetze (un)eindeutig verwirft, bekommt die Sünderin vom deutschen Dorfpfarrer keine Absolution, was ihr weibliches Gewissen zusätzlich belastet. Um die Identifikation mit der Kirche und ihrer Lehre durch ›grenzüberschreitende‹ Auffälligkeiten nicht zu gefährden bzw. sie nicht zu verlieren, eilt Biggis Mutter in die Stadt, wo das Verbot der Geburtenregelung aufgeweicht werden kann, weil dort ein italienischer Kanonikus bereit ist, sie von ihrer Sünde loszusprechen. Aus dem einfachen und stellenweise ironischen Erzählduktus ergibt sich ein eindimensionales Bild von Sexualität, in das die Frauen aufgrund der katholischen (Doppel)Moral hineingepresst werden: Sie ist ein Mittel zur Fortpflanzung und jeder Verstoß gegen diese Vorschrift gilt als Sünde, die über das Ventil der Beichte wider erlassen wird oder auch nicht. Das kirchliche Macht- und Unterwerfungssystem wird somit als ein Wahrheitssystem entblößt, das den ›rechten‹ Glauben diktiert und die Abweichung von dem geltenden Kodex mit Sanktionen belegt. Dass die dogmatische Festlegung der Wahrheit auf Kosten der Freiheit und Selbstbestimmung erfolgt und ein geschlossenes Weltbild manifestiert, in dem ein unkritisches und unreflektiertes Verhalten gefördert und ein flexibles Beurteilungsschema entwickelt wird, darf nicht zur Sprache gebracht werden. Der Frau steht es nicht zu, verbindliche Lehrinhalte in Frage zu stellen, Urteile zu fällen und alternative Lebensszenarien zu entwickeln. Es ist nämlich die Kirche, die für sie entscheidet. Sowohl Biggis Mutter als auch Bölls Protagonistinnen Marie, Sabine und Käte stehen exemplarisch dafür, wie die Kirche und kirchliche Institutionen ihre insbesondere weiblichen Mitglieder mit grundsätzlichen Themen der Moraltheologie sozialisieren und dadurch eine den kirchlichen Vorstellungen entsprechende Geisteshaltung erzeugen. Sie leisten dem katholischen Moralsystem (unkritisch) Folge, ohne sich darüber Gedanken zu machen, dass einige seiner Auslegungen nicht nur befremdend wirken, sondern vielmehr selbst von den Kirchenverantwortlichen missachtet oder missbraucht werden. Der Dorfpfarrer weigert sich einerseits, Biggis Mutter Absolution zu erteilen, weil die von ihr eingesetzte Verhütungsmethode sowohl der Glaubenslehre als auch dem gesellschaftlichen Rollenmuster zuwiderläuft und dadurch ihre ›soziale Nützlichkeit‹ beeinträchtigt. Andererseits liefern seine sexuellen Annäherungsversuche gegenüber Biggi einen Beweis dafür, dass das katholische Wertesystem es durchaus erlaubt, mit den Fragen der Moral und Ethik sowie mit Geboten und Verboten flexibel umzugehen und den althergebrachten Macht- und Gewaltformen zu frönen, ohne dass sich dabei ein Bedenken regt, das Bild der heiligen Kirche zu beschmutzen. Es sind aber einzig und allein die Vertreter der katholischen Kirche, die darüber entscheiden, in welchem Kontext der Dekalog gelockert oder sogar mit Füßen getreten werden kann und in welchem Fall die Verletzung der Gebote einer Strafe bedarf. Die Ereignisse, die bei Leitgebs und Böll
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das Schicksal der weiblichen Figuren als geschlechtsspezifische Katastrophen begleiten, gelten in erster Linie als Anklage gegen den katholischen Diskurs, der den Frauenkörper als ›Gattungskörper‹ begreift und ihm seine Autonomie abspricht. Es wird dem Leser vor Augen geführt, wie die katholische Kirche mit ihrer Unterdrückungspolitik die weiblichen Individuen an ihre Ideologie bindet und sie ihrer Entscheidungsfreiheit beraubt. Mit Geboten, Verboten und Exkommunikationsdrohungen, deren Aufgabe darin besteht, die Gefahren der Abweichung zu bändigen und ihre bedrohliche Materialität zu umgehen, wird das Verhalten der ›Kirchgänger‹ kontrolliert, organisiert und kanalisiert. Die Entwicklung der alltäglichen Kultur ist von der Kirche und ihrer spezifischen Morallehre dermaßen geprägt, dass (Selbst)Kontrollmechanismen in Gang gesetzt werden und eine Identität hervorbringen, die die Form einer permanenten Realisierung der vorgeschriebenen Regeln und Verhaltensmuster annimmt. In Haus ohne Hüter intensiviert Böll seine Kritik an der Kirchengewalt, indem er zeigt, dass die gesellschaftliche Ablehnung gegenüber Frauen, die sich mit ihrem Verhalten mehr oder weniger bewusst bzw. gewollt dem kirchlichen Schema der Wohlanständigkeit entziehen, auf deren Kinder übertragen wird: Männer und Frauen konnten sich vereinigen, ohne dass es Kinder gab, und die Vereinigung einer Frau mit einem Onkel war unmoralisch. Die Jungen, die eine unmoralische Mutter hatten, genossen merkwürdigerweise nicht ganz so viel Schonung wie die Jungen, deren Mütter nicht unmoralisch waren – am schlimmsten aber war es für die, am wenigsten Schonung aber genossen die, deren Mütter Kinder von den Onkeln hatten: schmerzlich und unerklärlich, dass unmoralische Mütter den Grad der Schonung verringerten. Bei den Jungen jedoch, die Väter hätten, war alles anders: unmoralisch gab es nicht.175
In einem auffallend reifen Kommentar, der gesellschaftliche Missstände und soziale Ungerechtigkeiten aus der Kinderperspektive auf den Punkt bringt, macht der elfjährige Protagonist Martin in erster Linie darauf aufmerksam, dass der Prozess der gesellschaftlichen Stigmatisierung sowohl Diskriminierungs- als auch Exklusionspraktiken nach sich zieht, die sowohl unverheiratete bzw. in einer unehelichen Beziehung lebende Frauen als auch ihre (unehelichen) Kinder an den Rand ihrer sozialen Existenz verweisen. Es wird in diesem Zusammenhang eine Klassifikation vorgenommen, die – auf die Figur des Vaters fokussiert – die Mitglieder zerrütteter Familien als besonders benachteiligt erscheinen lässt. Solche familiären Beziehungen gelten nicht nur als unvollständig, sondern auch als unvollkommen, weil die familiäre Vollkommenheit einzig und allein durch die Vaterfigur erreicht werden kann. Es ist demnach die Existenz eines Vaters, die der Familie soziale Anerkennung verleiht sowie verschiedene Benachteiligungen und Defizite kompensieren lässt. Man kann in materieller Hinsicht als arm 175 Böll, Heinrich: Haus ohne Hüter. München: dtv 1987, S. 109.
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gelten, aber sozial genießt man einen bevorzugten Status, solange die Vaterfigur das Familienleben mit seiner Anwesenheit beehrt. Martin verweist darüber hinaus auf die Doppelbödigkeit der verordneten Moral, die zwischen den Geschlechtern differenziert und auf diese Weise Beurteilungskriterien gemäß der jeweiligen geschlechtsspezifischen Interessenlage variieren lässt. Die Beziehungen ohne Segen der Kirche erscheinen in dieser Perspektive als inakzeptabel und verwerflich, weil ein Onkel als Pendant eines Ehemanns und Vaters keinesfalls als gleichberechtigt bzw. akzeptabel ausgewiesen wird. Solch einer Beziehung haftet immer ein Geruch des Unmoralischen an, der durch die Existenz unehelicher Kinder intensiviert wird. Mit kritischer Schärfe wird hier ein Mechanismus erkannt und benannt, der den Spaltungsvorgang der Frau in ›Hure‹ und ›Madonna‹ veranschaulicht und ihre Kinder analog in ›Huren- und Madonnakinder‹ einteilen lässt. Zentral ist dabei die Frage der (Un)Moral, die als »Form männlicher Wunsch- und Ideologieproduktion«176 die Frau auf ihre Sexualität reduziert und zum ›hurigen‹ oder ›heiligen‹ Objekt macht, das in beiden Fällen der männlichen Obrigkeit unterliegt. Das Konzept der Moral, das eine legitimatorische Basis für ein konventionelles Leben darstellt, hat aber ein Janusgesicht. Aufgebaut auf Geschlechterbildern, die sich am Ideal der patriarchalen Familie orientieren, verlangt es vor allem von Frauen, dem Prinzip der ›Reinlichkeit‹ und ›Schamhaftigkeit‹ zu folgen, um dem Vorwurf der Sündhaftigkeit entkommen zu können. Die Handlungsspielräume, die den Männern zugestanden werden, sind dagegen weder durch Frömmigkeitserwartungen noch Lasterhaftigkeitsvorwürfe markiert, so dass der Begriff der (Un)Moral auf ihre Lebensweise nicht zutrifft. Während Frauen, die aus dem vorgegebenen Wertekanon – auch weil eine Notsituation vorliegt – ausbrechen, indem sie sich auf eine ›sündhafte‹ Beziehung mit einem Onkel einlassen, als unmoralisch eingestuft und samt ihrer Kinder gesellschaftlich angeprangert werden, können die sogenannten Onkel dem gesellschaftlichen Gesamturteil entkommen. Das kollektive Bewusstsein – infiziert durch die suggestiven Rollendarstellungen in der Bibel – wehrt sich nämlich dagegen, auch das männliche Geschlecht der moralischen Schablonisierung zu unterziehen und somit den Vorwurf, unmoralisch zu sein, in die männliche Biographie zu integrieren. Im Gegensatz zu ihren Lebensgefährtinnen, denen Maria – die Traumfrau der patriarchalischen Kirche – entgegengestellt wird, haben die Onkel Gott auf ihrer Seite, der sie über die Sündengeschichte nicht stolpern lässt. Die (Kirchen)Lehre, die ein unangepasstes Frauenverhalten als ›hurenmäßig‹ und aus diesem Grund als kontroll- und strafbedürftig klassifiziert, wird auch von Dagmar Nick aufgegriffen und in ihrer Erzählung Lilith, eine Metamorphose 176 Stephan, Inge: Inszenierte Weiblichkeit. Codierung der Geschlechter in der Literatur des 18. Jahrhunderts. Köln-Weimar-Wien: Böhlau Verlag 2004, S. 14.
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weitergesponnen, auch wenn sie die Handlung im biblischen Paradies verankert. Die bereits im Titel erwähnte und den Inhalt des Textes weitgehend bestimmende weibliche Figur Lilith gilt in jüdischer Tradition als Adams erste Frau, die die von Gott verordnete Geschlechterhierarchie und die daraus resultierende weibliche Hörigkeit nicht akzeptiert und immer wieder aus dem Paradies in die Wüste verschwindet, um mit Dämonen zu verkehren. Da sich Adam bei Gott über seine Einsamkeit beklagt, erschafft ihm dieser Eva aus seiner Rippe – eine Frau, die bereit ist, dem paradiesischen Rollenkanon widerstands- und bedenkenlos zu folgen. Um ein besonderes Thema – den Lilithmythos – herauszustellen und an diesem Beispiel die Dynamik der Rollen- und Geschlechterproblematik zu beleuchten, wählt Nick einige Motive aus dem Alten Testament, aus denen sich ein Zusammenspiel von zweierlei Faktoren ergibt. Zum einen zielt die Autorin auf die Bewusstmachung und die Benennung der patriarchal strukturierten AdamWelt ab, in der seine Gefährtin sich ihm zu unterordnen hat, zum anderen stellt sie die so festgelegten Regeln deutlich in Frage, indem sie ihre weibliche Erzählinstanz die patriarchalischen Gesetze kritisch hinterfragen und gegen sie rebellieren lässt. Die von Nick entworfene Figur der unabhängigen, rebellischen und tobenden Lilith – in dieser Hinsicht setzt sich die Autorin von den meisten traditionellen Überlieferungen nicht ab – symbolisiert die Selbstständigkeit der Frau und den (bereits biblischen) Versuch, diese mittels einer höheren Autorität zu unterdrücken. Lilith ist zwar entschlossen, mit Adam eine Beziehung einzugehen und ihn an Leib und Seele aufzuklären, nicht aber um den Preis ihrer Unabhängigkeit: Es begann mein Verhältnis mit Adam. Ihn vorzubereiten auf diese Veränderung in seinem ereignislosen Leben, kostete einige Mühe. […] Er musste begreifen lernen, daß Streicheln und Streicheln nicht immer das Gleiche ist, und daß meine Zunge und Zähne anderer Liebkosungen fähig waren, als die einer Katze. Er mußte mit seinen Händen und seinem Körper, der sich nach und nach entwickelte, umgehen lernen, meine Tanzschritte nachvollziehen, meine Bewegungen als die Wiege der Liebe erkennen und hinnehmen lernen, daß ich ihn, wenn es mir paßte, sehr plötzlich verließ. Ich glaube, das war das Schwierigste für ihn.177
Mit der Beschwörung der Körperlichkeit, die sich nicht nur in regelmäßigen erotischen Aktivitäten zwischen Lilith und Adam manifestiert, sondern vielmehr die sexuelle Autonomie in den weiblichen Rollenkanon mit einbezieht und auf diese Weise die Sexualität als Manifestation der Freiheit begreift, wird ein Einspruch gegen die allgegenwärtige Tendenz formuliert, den weiblichen Körper mit dem Gattungskörper gleichzusetzen und ihn in erster Linie auf die Fähigkeit des Gebärenmüssens festzulegen. Gegen solche Funktionalisierung und Instrumentalisierung des weiblichen Körpers spricht auch die Tatsache, dass die Se177 Nick, Dagmar: Lilith, eine Metamorphose. Düsseldorf: Eremiten-Presse 1998, S. 16f.
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xualität nicht mit dem Bösen assoziiert und die weibliche Unberührtheit ihrer Magie beraubt wird. Ganz im Gegenteil, Nick entfacht hier eine Polemik gegen die traditionsreiche Abwertung sexueller Lust, indem sie ihre weibliche Figur Lilith ihre Leiblichkeit annehmen, sie bejahen, sie leben und sich an ihr erfreuen lässt. Sie wird vielmehr als eine Figur konzipiert, die sich ihres Überlegenheitsstatus, der weit über das Sexuelle hinausgeht, bewusst ist und diesen auch gekonnt ausnutzt, um Adam immer wieder daran zu erinnern, dass sie nicht bereit ist, ihr emanzipatorisches Leben aufzugeben. Mit ihrer Haltung dem unbewusstnaiven Adam gegenüber und ihrer bewusst erlebten und zur Schau getragenen Weiblichkeit, stellt Lilith nicht nur die Dominanz des Mannes in Frage, sondern auch des himmlischen Gottvaters. Die im Garten Eden herrschende Ordnung, die weibliche Freiheitsbestrebungen nicht duldet und bedingungslosen Gehorsam für männliche Botschaft fordert, stört sie dermaßen, dass manchmal zwei Nächte an Adams Seite genügen, um sie aus diesem Garten, »in dem nur ein einziger Mensch das Recht hatte zu leben, aber offensichtlich nicht das Recht oder die Möglichkeit hatte zu sterben«178, in ihre Welt zurückzutreiben. Auf diese Weise bewegt sich Lilith in zwei räumlichen Dimensionen, die nicht nur stark emotionalisierte Bedeutungskomplexe repräsentieren, sondern vielmehr geeignet sind, mimetisch auf die soziale Realität zu verweisen. Ein solches Wirkungspotential manifestiert sich in Einstellungen, Verhaltensweisen, Wahrnehmungen, Bewertungen und konkreten Handlungen der weiblichen und männlichen Figuren, aus denen sich geschlechterrelevante Orientierungen ergeben. Anders als bei Böll oder Leitgeb werden hier die Geschlechter gewissermaßen zu »Lokalterminen«179 zitiert, um auf die Geschlechterproblematik hinzuweisen und kulturelle Entwicklungen zu bestätigen oder sie in Frage zu stellen. So entstammt die von Nick auf die Bühne gebrachte Lilith einem östlich gelegenen Raum, in dem man wesentlich freier zu leben versteht, obwohl es auch dort Vorschriften gibt und Gesetze und Götter. Aber weniger Gehorsam. Und daher weniger Feigheit unter Männern, die gewohnt sind, ihre Fehltritte und Vergehen ruhelos hinzunehmen und ihrer Schlappen sich nicht zu schämen. Richtige Männer. Anders bei Adam.180
Der von Lilith angestellte Vergleich zwischen zwei Räumen lässt trotz einiger Gemeinsamkeiten, die sich eigentlich nur auf eine von Göttern und Gesetzen geregelte Ordnung erstrecken, Unterschiede vermuten, die den phallischen Stolz der patriarchalischen Adam-Welt unvermeidlich treffen müssen. Die Adam178 Ebd., S. 26. 179 Würzbach, Natascha: Raumdarstellung. In: Erzähltextanalyse und Gender Studies. Hg. von Vera Nünning/Ansgar Nünning. Stuttgart: Metzler 2004, S. 49–71, hier S. 49. 180 Nick: Lilith, eine Metamorphose. 1998, S. 5.
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Landschaft wird von ihr aus der Perspektive einer selbstbewussten und scharfsinnigen Frau wahrgenommen, die alle der patriarchalen Eden-Ordnung inhärenten Männermuster einem wertenden Blick unterzieht. Dominanz und Herrschaftsanspruch, Feigheit und Unfähigkeit, Fehlentscheidungen und Niederlagen als solche zu erkennen, werden dabei als signifikante Merkmale herausgestellt und kritisch bewertet. In ihrer Wahrnehmung repräsentiert zwar der Adam-Raum das Fremde, d. h. eine Situation außerhalb der gewohnten und von ihr akzeptierten Ordnung, aber er verbindet sich gleichzeitig mit unbewussten Wünschen, die in ihrer Doppeldeutigkeit Lilith an der Grenze zwischen Freiheit und (emotionaler) Abhängigkeit balancieren lassen: […] nie zuvor war mir ein solcher Ort begegnet. Es war ein Unort, in dem überdies eine Unzeit herrschte. Eine Erfindung. Aber wer hatte sie erdacht? Und wozu? Um einen einsamen Mann im Schatten zwitschernder Bäume liegen zu lassen? Ich versuchte, nicht mehr darüber nachzugrübeln. […] Doch je länger ich mich im Vergessenwollen übte, desto schwerer fiel es mir, meine Gedanken abzulenken von dem unglaublichen Garten. Auch der Mensch, den ich dort angetroffen hatte, ging mir nicht aus dem Kopf. […] Ich wollte ihn wiedersehen.181
Der Garten Eden wird in ihren Darstellungen einerseits zu einem irrationalen »Unort« erhoben, dessen soziale Politik sie weder nachvollziehen noch akzeptieren kann. Andererseits steht er für Sehnsüchte und Leidenschaften, die sie durch ihre Hartnäckigkeit und Intensivität daran hindern, ein völlig autonomes Frauenleben zu führen. Die Ambivalenz, mit der Liliths Raumerfahrung behaftet ist – die Ablehnung der dort herrschenden Ordnung und gleichzeitig die Sehnsucht nach dem Vertreter dieser Ordnung – stehen für die Positionierung der Frau »an einem doppelten Ort zwischen männlicher Fremdbestimmtheit und Streben nach Selbstbestimmung.«182 Dass sie mit ihrem Entschwinden einem männlichen Partner widerspricht, suggeriert zwar, dass sie nicht bereit ist, ihre autonome Existenz aufzugeben und sich vom System männlicher Vormundschaft vereinnahmen zu lassen. Ihre Gefühle Adam gegenüber sorgen aber dafür, dass ihr Freiheitswille geschwächt wird, so dass sie die alternativen Handlungsspielräume nicht restlos genießen kann. Der innere Konflikt erreicht seinen Höhepunkt als Gott – irritiert durch Adams Unzufriedenheit und die daraus resultierenden Beschwerden – ihm Eva schenkt. Über Korrespondenz- und Kontrastrelationen zeigt Nick, dass Frau-Sein und Autonomie einander ausschließen, so dass der Wunsch, ein Betätigungsfeld für eigene Überzeugungen zu finden, zum Scheitern verurteilt ist. Früher oder später wird er nämlich vor Schwierigkeiten kapitulieren, den hierarchisch-patriarchalen Rollenkanon zu durchbrechen, zumal er seine Dynamik aus der Zustimmung deren bezieht, die 181 Ebd., S. 14f. 182 Würzbach: Raumdarstellung. 2004, S. 52.
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Die Kirche als formative Kraft der weiblichen Unterwerfung
die auferlegten Schranken stillschweigend akzeptieren und das Prinzip der Unterlegenheit widerspruchslos verinnerlichen. Um das Problem zu veranschaulichen, bringt Nick zwei Figuren eines biologischen Geschlechts auf die Bühne, die jedoch nicht unter denselben Rollenzwängen leiden. Der unabhängigen und stolzen Lilith, die mit ihrer Haltung gegen die patriarchalische Herrschafts- und Einflussordnung verstößt und trotz ihrer Gefühle Adam gegenüber ihren Unabhängigkeitsstatus nicht aufgeben will, wird die folgsame Eva gegenübergestellt, die Adams Körper ›entwachsen‹ ist und in seinem Leben eine untergeordnete Rolle spielt, ohne sich dagegen zu wehren. Liliths Verselbstständigungsgestus erweist sich zwar als rebellisch, er vermag es jedoch nicht, die patriarchalischen Strukturen aufzubrechen, weil sie für ihre Widerspenstigkeit bestraft und von Gott in eine Schlange verwandelt wird. Obwohl sich Adam anfänglich weigert, Lilith gehen zu lassen, wird sie letztendlich dadurch aufgegeben, dass Eva, mit der die gleichen Zärtlichkeitsworte und Liebkosungen ausgetauscht werden, ihre Stelle besetzt, um mit ihrem Unterwerfungsdrang und schließlich ihrer Schuld den patriarchalen Kulturkanon zu stabilisieren und die Zweitrangigkeit der Frau zu begründen. Sowohl bei Nick als auch in den Texten von Böll und Leitgeb wird eine ›Glaubenspolitik‹ kritisch hinterfragt, die – durch patriarchale Herrschaftsinteressen bedingt – Frauen in ein Pauschalraster einordnet, das klare Grenzen zwischen dem Erlaubten und Verpönten setzt und ihre Überschreitung mit Sanktionen belegt. Während Nick ihre weibliche Figur Lilith im Garten Eden platziert und sie von dort aus direkt gegen Gott und das von ihm verordnete Unterdrückungssystem protestieren lässt, entscheiden sich Böll und Leitgeb für einen anderen Kritikmodus, ohne an der Geschichte vom Paradies vorbeizugehen. Ihre Kritik zielt auf das Unterwerfungssystem der katholischen Kirche ab, das – an einem manipulativen Wertekanon festhaltend – die Notwendigkeit nahe legt, die Frau für ihre menschheitsgeschichtliche Schuld sühnen zu lassen. Die Situationen, in die Bölls und Leitgebs Frauenfiguren hineinmanövriert werden, entlarven auf diese Weise nicht nur die Doppelmoral und Scheinheiligkeit der katholischen Kirche, sondern vielmehr ihre manipulative Lehre, die daran orientiert ist, die Frau an ihre Geschlechtsrollenidentität und ihren inferioren Status zu binden. Suggestive Stellungnahmen, Konfessionalismus in der allgemeinen Kulturpolitik und Alltagskultur, katholische Vorherrschaft im gesellschaftlichpolitischen Leben, Hineinspionieren in den privaten Lebensbereich etc. erzeugen eine Ordnung, in der über religiöse, geschlechtsspezifische, habituelle etc. Einfluss-, Einschluss- und Ausschlussmechanismen das kirchliche Monopol (nicht nur) auf weibliche Existenzinterpretation aufgebaut, stabilisiert und aufrechterhalten wird. Sowohl bei Böll als auch bei Leitgeb wird ein Katholizismus entworfen, der durch die Interdependenz kirchlicher Verkündung und weltlicher Gesellschaft gekennzeichnet ist und Frauen zu hierarchischer Unterordnung und
Eva, Maria und Lilith – Literarische Entwürfe von kirchlichen Gehorsamsbindungen
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Gehorsam verpflichtet und zwar nicht nur in Glaubensfragen, sondern auch in Fragen weiblicher Lebensführung. Durch Gebote, Verbote, Satzungen, Vorschriften, Drohungen und/oder Versprechungen werden ›Weiblichkeitsideale‹ produziert, die nicht nur dem kirchlichen Wahrheits-, Moral- und Ordnungssystem, sondern auch der gesellschaftlichen Überwachung unterliegen. Unter Anwendung von repressiven Maßnahmen werden unterwürfige Geisteshaltungen des Sollens oder Nicht-Sollens entwickelt, die nicht hinterfragt werden dürfen, weil sie übernatürlichen Ursprungs sind. Nachgezeichnet wird somit ein Bild eines »katholischen Totalitarismus«183, der weit über den kirchlichen Bereich hinausreicht und jeden Versuch, der Kirche die Autorität über den Staat, die Familie und den Einzelnen abzusprechen, im Keim erstickt.
183 Hensel/Wolf: Einleitung: Die katholische Kirche und Gewalt in Europa und Lateinamerika im 20. Jahrhundert. 2013, S. 17.
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Staatsmacht und Familiengewalt – Weibliche Subordination im Kontext politischer (Gewalt)Systeme
Obwohl der Gewaltbegriff höchst umstritten ist und seine Semantik zwischen den Disziplinen variiert und auch innerhalb einzelner Disziplinen erhebliche Unterschiede aufweist, ist sich die (internationale) Gewaltforschung inzwischen weitgehend darin einig, dass »der Zusammenhang von Gewalt und politischen bzw. staatlichen Institutionen im Kontext der Transformation von Staatlichkeit«184 nicht nur evident wurde, sondern auch einem geschlechtssensiblen politikwissenschaftlichen Gewaltkonzept den Weg bahnte. Der Fokus liegt nun nicht nur auf der Rolle und Vieldimensionalität der Gewalt, sondern vielmehr auf den Umständen ihres Auftretens. Begleitet oder gar ausgelöst – so Markus Schroer – wird das neue Interesse von der Diagnose einer Zunahme an Gewalt, die die von Norbert Elias vorgetragene These einer zurückgehenden Gewaltbereitschaft im Inneren der Gesellschaft als Produkt eines naiven Fortschrittsoptimismus erscheinen lässt.185 So setzt sich in den Sozialwissenschaften die Erkenntnis durch, dass die Einschätzung von Gewalttätigkeit als Störfall der Zivilisation und von Gewaltfreiheit als Regel schlicht falsch ist und einer Umkehrung bedarf, die Gewalttätigkeit zur Regel und Gewaltfreiheit zur Ausnahme erklärt.186 Birgit Sauer verweist in diesem Zusammenhang auf die Ergebnisse der Frauenforschung, die bereits seit den 1980er Jahren auf die Gewaltsamkeit der Moderne bzw. des modernen Staates aufmerksam macht und Gewalt als einen genuinen Bestandteil herrschaftlicher Geschlechterverhältnisse und die systematische Unsicherheit von Frauen als eine immanente Dimension moderner (Rechts)Staaten begreift. Im Nahraum der sogenannten Privatheit garantiert das staatliche Monopol nicht die Sicherheit, aus der es seine Rechtfertigung bezieht. Ganz im Gegenteil, Ehegesetze, Polizei und Rechtsprechung können bis in die neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts hinein als Opportunitätsstruktur von Männergewalt 184 Sauer: Geschlechtsspezifische Gewaltmäßigkeit rechtsstaatlicher Arrangements und wohlfahrtsstaatlicher Institutionalisierungen. 2002, S. 83. 185 Schroer: Gewalt ohne Gesicht. 2004, S. 151. 186 Vgl. ebd., S. 151f.
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Staatsmacht und Familiengewalt
gegen Frauen gelten, so dass Staatsverhältnisse als geschlechtsspezifische Gewaltverhältnisse einzustufen sind.187 Ein solcher Ansatz hebt die Vieldimensionalität der Verknüpfungen von Staat – Gewalt – Geschlecht hervor und distanziert sich damit eindeutig von der Gewaltdiskussion, die dazu neigt, den Gewaltbegriff auf physische Beschädigung zu reduzieren und die Vielzahl von Verletzungen zu ignorieren, die die individuelle Entfaltung beeinträchtigen und/ oder blockieren. Gewalt ist zwar eine Schädigung, die sich körperlich auswirken kann, aber permanente Abwertung, vorenthaltene Anerkennung, ökonomische Benachteiligung, Instrumentalisierung, Stigmatisierung, Diskriminierung und soziale Ausgrenzung erzeugen ebenfalls Verletzungsoffenheit und behindern die Herausbildung von Individualität und die Führung eines selbstbestimmten Lebens. (Be)Schädigungen qua Geschlecht – sexuelle Belästigung, »Zwangsmutterschaft« durch Abtreibungs- oder Verhüttungsverbote, soziale Herabwürdigung etc. – sind ebenfalls gewaltsame Eingriffe, die durch eine Reduktion auf körperliche Gewaltanwendung tendenziell unterthematisiert und bagatellisiert werden.188 Es ist daher vonnöten, mit einem geschlechtersensiblen Gewaltbegriff zu operieren, der die Dimension symbolischer Gewalt mit einschließt und auch politische Systeme, in deren Kontext Gewalt ausgeübt wird und die selbst Verletzungsoffenheit herstellen, nicht aus dem Blick geraten lässt. Gewalt basiert nicht nur auf physischen Disziplinierungs- und Normalisierungspraktiken, sondern sie gründet vielmehr in asymmetrischen Verhältnissen, so dass sie sich niemals nur im Handeln erschöpft, sondern immer auch Struktur ist. Sie ist in der Organisation und Ordnung der Gesellschaft eingelagert und erhält somit eine staatlich-rechtliche Absicherung. In geschlechterbewusster politikwissenschaftlicher Modifikation des Gewaltbegriffs ist davon auszugehen, dass »Herrschaftsverhältnisse den Gewaltverhältnissen nicht nachgelagert sind, sondern dass sie sich gegenseitig hervorbringen.«189 Ein solcher Begriff verortet Gewalt in staatlichen Macht- und Herrschaftsverhältnissen, die Geschlechtergewalt nicht nur generieren, sondern sie auch legitimieren und fördern. Das Geschlechterverhältnis ist in dieser Perspektive ein potenzielles Gewaltverhältnis, »eine geschlechtliche Gewaltkultur, der Aspekte direkter, struktureller und kultureller Gewalt eigen sind.«190 Dies betont auch Irmgard Schultz, indem sie auf die Rolle des Staates bei der Ausgestaltung des modernen Geschlechterverhältnisses verweist und dabei die These aufstellt, dass der moderne Staat (das Politische) und die Familie »zwangsvereinigt« wurden, so dass sie zwei Seiten derselben Medaille 187 Sauer: Geschlechtsspezifische Gewaltmäßigkeit rechtsstaatlicher Arrangements und wohlfahrtsstaatlicher Institutionalisierungen. 2002, S. 81. 188 Vgl. Sauer: Geschlechtsspezifische Gewaltmäßigkeit rechtsstaatlicher Arrangements und wohlfahrtsstaatlicher Institutionalisierungen. 2002, S. 85. 189 Ebd., S. 86. 190 Ebd., S. 87.
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bilden.191 In eine ähnliche Richtung argumentiert Eva Kocher, wenn sie behauptet, dass die Ausgestaltung des Geschlechterverhältnisses mit Hilfe des Eherechts staatlich geformt wurde, denn das Recht war wesentlich daran beteiligt, die ökonomische Abhängigkeit der Frau von dem Mann durchzusetzen und sie aufrechtzuerhalten.192 Im Anschluss daran fügt Birgit Sauer hinzu, dass der Staat nicht nur die ökonomische Abhängigkeit (re)produziert, sondern auch die ehemännliche Herrschaft und Verfügungsgewalt über Frauen. Die Sozialpolitik begreift nämlich das Frausein als »abgeleitete Existenzweise.« Die Privatisierung der Risiken weiblichen Daseins schuf eine staatlich regulierte Gewaltbeziehung und zwar nicht nur in Form von Abhängigkeit vom Ehemann, sondern auch von staatlicher Versorgungsleistung. Dies hatte eine Einschränkung der Entfaltungsfreiheit von (Ehe)Frauen zur Folge, denn Familien- und Reproduktionsarbeit verliehen ihnen keine sozialen, zunächst auch keine politischen Rechte. Frauen erhielten zwar einen abgeleiteten Anspruchsstatus, aber abgeleitete Rechte boten freilich keine Rechtsgarantie, sie schufen jedoch Unsicherheit und Verletzungsoffenheit.193 Sozialstaatliche Arrangements bedeuten aber nicht nur Gewaltförmigkeit durch eine Beeinträchtigung der Lebenschancen von Frauen, sondern sie konstruieren ›Frausein‹ als Risiko, das staatlich nicht sicherungsfähig erscheint. In Staatsdiskursen entstehen Subjekte, die bestimmten »Subjektsorten« zugewiesen und mit bestimmten Handlungsfähigkeiten ausgestattet werden. Da ›Mannsein‹ zum Ausgangspunkt politischer Selbstbestimmung avancierte, werden Frauen in Staatsbildungsprozessen nicht als autonome (politische) Subjekte angesehen. Staatliche Institutionen bestimmen den politischen Status von Frauen als sekundär, d. h. abhängig und paternalistisch schützenswürdig.194 Ihnen kommt lediglich die Rolle der »beherrschbaren Naturgrundlage« zu, die die Zivilisierung der männlichen Triebkräfte und die Herstellung des guten moralischen Lebens – des häuslichen Friedens – garantieren sollte, der neben dem staatlichen Gewaltmonopol eine weitere Säule des inner-staatlichen sozialen Friedens bildete. Aufgrund des zweigeteilten Herrschaftsprinzips sind Frauen in doppelter Hinsicht männlicher Herrschaft unterworfen: der Herrschaft männlicher staatlicher Agenturen/Institutionen einerseits und der des Familienoberhauptes andererseits.195 Die Sozialstaatlichkeit stellt demzufolge 191 Vgl. Schulz, Irmgard: Überlegungen zu einer feministischen Staatstheorie anhand von Jean Bodin (1529–1596). In: »Beiträge zur feministischen Theorie und Praxis«, 8. Jg., 1985, H. 13: Unser Staat?, S. 9–22, hier S. 10f. 192 Vgl. Kocher, Eva: Geschlechterdifferenz und Staat. In: »Kritische Justiz«, H. 2, 1999, S. 182– 204, hier S. 188. 193 Vgl. Sauer: Geschlechtsspezifische Gewaltmäßigkeit rechtsstaatlicher Arrangements und wohlfahrtsstaatlicher Institutionalisierungen. 2002, S. 96. 194 Vgl. ebd., S. 99. 195 Vgl. ebd., S. 92.
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eine Basis für personale Gewalt gegen Frauen nicht nur aufgrund ihrer ökonomischen Abhängigkeit dar, sondern vielmehr aufgrund der kulturell konstruierten Geschlechterungleichheit, der Instrumentalisierungs-, Stigmatisierungs-, Diskriminierungs- und Ausschlussprozesse zugrunde liegen und den Boden von Verletzungsoffenheit bilden. Hinsichtlich der offenkundigen Historizität, Kontinuität und Aktualität hierarchischer Geschlechterverhältnisse in staatlichen Systemen ist es durchaus berechtigt, soziales Geschlecht und Geschlechterdifferenz als einen Strukturzusammenhang zu begreifen, der die Frage nach dem Beziehungsgefüge zwischen Staat, Gewalt und Geschlecht aufwerfen lässt. Die Vieldimensionalität der gesellschaftlichen Stigmatisierung, Diskriminierung und Abwertung von Frauen in und durch politische(n) Systeme(n) soll im Folgenden am Beispiel der ausgewählten Texte von Inka Bach, Tanja Dückers, Julia Franck, Anja Frisch, Marlene Streeruwitz, Sarah Stricker, Bastienne Voss, Hans Fallada und Hans Werner Richter veranschaulicht werden, in denen geschlechtskritische (Gewalt)Inszenierungen staatstheoretisch begründet werden und spezifische herrschaftsförmige Identitäten – abhängige Hausfrauen, unterdrückte Gattinnen, gezüchtete Töchter und Enkelinnen sowie Prostituierte – entstehen lassen. In ihren literarischen Welten erscheint der Staat mit seinen menschenfeindlichen Prinzipien als ein Feld der männlichen Hegemonie, das eine Geschlechtsvormundschaft perpetuiert und Benachteiligung, Ausschließung, Marginalisierung und/oder Instrumentalisierung von Frauen etabliert, so dass die Geschlechtergewalt als ein historisch institutionalisiertes staatliches Gewaltverhältnis inszeniert wird.
3.1
(Ehe)Frauen als Domestizierungsobjekte
Um den Staat als Feld der Hegemonie herauszustellen, das männliche Interessen präferiert und weibliche Bedürfnisse marginalisiert oder desartikuliert, entscheiden sich viele SchriftstellerInnen dafür, die deutsche Vergangenheit als Folie des Textgeschehens zu setzen und ihre weiblichen Figuren in totalitäre Systeme einzubinden, die das Geschlecht zu einer staatlich-politischen Kategorie werden lassen. Dies gilt unter anderem für Julia Franck, die in ihrem Roman Die Mittagsfrau explizit auf den Zusammenhang von staatlichem und privatem Gewaltmonopol verweist, indem sie einen nazibegeisterten Protagonisten auf die Bühne bringt, der menschenfeindliche NS-Ideologie konsequent an seiner Frau erprobt und weibliche Sexualität als Mittel zur Machtdemonstration, Demütigung und Unterwerfung einsetzt. Obwohl der historische Kontext in Franks Roman ziemlich intensiv zu spüren ist, rückt er an keiner Stelle in den Vordergrund, so dass der Fokus auf den inneren Empfindungen (unter anderem) der weiblichen Figur Helene haften bleibt, die den Untergang ihrer Familie nicht nur
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vor dem historischen oder familiären Hintergrund reflektiert, sondern ihn in einem starken Maße von den in der patriarchalischen Gesellschaft verankerten Geschlechterkonflikten bedingt sieht.196 Nach dem Unfalltod ihres Verlobten Carl lernt Helene einen naziinfizierten Ingenieur Wilhelm Sehmisch kennen, der ihr einen arischen Ahnenpass besorgt, um sie als Halbjüdin vor der nationalsozialistischen Verfolgung zu schützen. Seine Überzeugungs- und Durchsetzungskraft sowie sein Beschützerinstinkt bewegen Helene dazu, nach langem und hartnäckigem Werben um ihre Hand Wilhelms Heiratsantrag anzunehmen. Bereits in der Hochzeitsnacht erweist sich jedoch, dass es eine Fehlentscheidung war, die sie ihr Leben lang bereuen wird. Mit seiner Erfahrung, dass Helene nicht jungfräulich in die Ehe geht und in der ersten gemeinsamen Nacht freizügig die Initiative ergreift, werden die Weichen für eine gewaltvolle Beziehung gestellt, in der sie zum Körper verdinglicht, gedemütigt und schließlich verlassen wird. Helenes voreheliches Sexualleben löst in Wilhelm wilde Wut aus, die er durch nichts aufzuwiegen weiß und sie gegen die Sexualität seiner Frau richtet, weil er sich von ihr auf dieser Ebene betrogen sieht.197 Die Vergewaltigung in der Ehe wird zu einem Vorfall, der sich wiederholt ereignet und in einen nicht-sexuellen Gewaltzusammenhang eingebettet ist. Seine sexuellen Übergriffe dienen nämlich nicht primär dazu, libidinöse Energie loszuwerden, sondern sie gelten vielmehr als Mittel der Bestrafung und Vergeltung dafür, dass ein anderer Mann den Körper seiner Frau genossen und ihn damit für Wilhelm ›minderwertig‹ gemacht hat. Seine Gewaltübergriffe entsprechen den männlichen Entwürfen weiblicher Sexualität, denen zufolge Frauen keine Sexualität haben bzw. diese erst durch einen (Ehe)Mann zu wecken ist – was impliziert, dass es der Richtige sein sollte, der sie in die Kunst der erotischen Liebe einweiht – oder, wenn sie doch eine Sexualität haben, dann sind sie gefährlich, bedrohlich und/oder deviant.198 Dies korrespondiert auch mit den offiziellen NS-Genderkonzeptionen und ihren bürgerlichen Rollen- und Verhaltensvorstellungen, von denen Wilhelms Brutalität nicht frei zu sein scheint. Die Ideale der bürgerlichen Moral waren grundlegend für die gesellschaftlich geschlechtsspezifische Normierung von Weiblichkeit, Männlichkeit und Sexualität. Im Dritten Reich, das auf der Ungleichbehandlung der Geschlechter aufbaute, erfuhr zwar die Frau – sofern sie arischer 196 Vgl. Eidukevicˇiene˙, Ru¯ta: (Re)Konstruktion der Vergangenheit im neuen deutschen Familienroman (unter besonderer Berücksichtigung des Romans Die Mittagsfrau von Julia Franck). In: »LITERATÛRA« 2008, 50(5), S. 35–46, hier S. 42f. 197 Vgl. Szmorhun, Arletta: Staatsmacht und Familiengewalt – Zu literarischen Inszenierungen von häuslichen Bedrohungssituationen und Unsicherheitslagen im Kontext politischer Systeme. In: »Thalloris« Vol.1/2016, S. 257–265, hier S. 260. 198 Vgl. Zipfel, Gaby: Ausnahmezustand Krieg? Anmerkungen zu soldatischer Männlichkeit, sexueller Gewalt und militärischer Einhegung. In: Krieg und Geschlecht. Sexuelle Gewalt im Krieg und Sex-Zwangsarbeit in NS-Konzentrationslagern. Hg. von Insa Eschebach/ Regina Mühlhäuser. Berlin: Metropol Verlag 2008, S. 55–74, hier S. 71.
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Staatsmacht und Familiengewalt
Herkunft war – in gewisser Hinsicht eine Aufwertung, indem sie zur »Trägerin der Art« aufstieg und damit die Verantwortung für die »Reinheit« des deutschen Blutes, den »Erbstrom« und die deutsche Rasse übernahm. Für diese Reinhaltung hatte sie aber sauber, anständig und diszipliniert zu sein, so dass ihr in erster Linie die Rolle einer guten Hausfrau und treuen Gattin zukam. Der weibliche Körper wurde damit aufgewertet, gleichzeitig aber entsexualisiert und biologischer Zweckmäßigkeit unterworfen.199 Mit der Idealisierung der Frau als Hüterin der Moral bzw. des deutschen Blutes und der gesellschaftlichen Ordnung war bereits die Überwachung ihrer Sexualität zugrunde gelegt: »Für die Frau galt es einerseits, ihren Körper zu schützen – dafür sollten Lust und Sinnlichkeit unter Kontrolle gehalten werden. Sie sollten nicht dem individuellen Genuss unterstellt sein, sondern der bevölkerungspolitischen Aufgabe.«200 Die politische Machtergreifung des Nationalsozialismus – so Karin Stögner – verlief also auch über die Ergreifung des Frauenkörpers, dessen einziger Zweck in der Reproduktion des »Volkskörpers« bestand. Die Betonung des »echten« Weiblichen als »sauberen« Hort für das »Volksganze« im Nationalsozialismus war mehr als bloßer Bestandteil des ideologischen Arsenals: Sie war ein konstitutives Element des nationalsozialistischen Gewalt- und Herrschaftssystems, denn die Durchsetzung der Ideologie des »Weiblichen als Natur« stellte ein wichtiges Requisit für die rassistische Politik dar. Dabei handelt es sich jedoch nur vordergründig um eine Erhöhung des Weiblichen in der vollständigen Integration in den Herrschaftszusammenhang. Die Funktion des nationalsozialistisch zugerichteten Weiblichen ist nämlich in erster Linie die Erhöhung der »arischen« Männlichkeit. In Verbindung mit der rassistischen Terminologie des Nationalsozialismus wird das Weibliche in diesem System zur Chiffre eines »minderwertigen Geschlechts«, das nur durch die Verdrängung und Verhöhnung von spezifischer Geschlechtlichkeit in den Kanon der nationalsozialistischen Ikonographie der gestählten Körper eingehen kann. Darin drückt sich der Hass auf das Schwache und Körperliche aus, das das »Untere« repräsentiert. Festgemacht wird aber das verhasste Weibliche nicht an den Frauen der »arischen« Ingroup, die zum Teil massiv vom nationalsozialistischen System profitierten – solange ihr Tun und Sein den faschistischen Zusammenhängen unterstand und sie ihren »weiblichen Geschlechtscharakter« im Griff hatten –, sondern in der Behandlung der als rassisch
199 Vgl. A.G. Gender-Killer: Geschlechterbilder im Nationalsozialismus. Eine Annäherung an den alltäglichen Antisemitismus. In: Antisemitismus und Geschlecht. Von »maskulinisierten Jüdinnen«, »effeminierten Juden« und anderen Geschlechterbildern. Münster: Unrast 2005, S. 9–67, hier S. 29f. 200 Ebd. S. 33.
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minderwertig stigmatisierten Frauen.201 Um die Gefolgschaft für den Massenmord an der jüdischen Gesellschaft zu konditionieren, mussten die Bilder des widerständigen Weiblichen, die eine zu große, mit dem totalitären Machtanspruch konkurrierende Anziehungskraft besaßen, ausgelöscht und vollständig ersetzt werden durch das Bild der »arischen« Frau als asexueller, formbarer Kameradin des gestählten Mannes, die keine Energien in Form der Libido aufsaugt.202 Die offizielle Sexualpolitik des Nationalsozialismus mit ihrer Prämisse, die weibliche Selbstbestimmung, Entscheidungs- und Handlungsfreiheit zu verhindern bzw. sie zu unterminieren, ging also mit der Überhöhung der deutschen ›arischen‹ Frau bei gleichzeitiger Konstruktion der Triebhaftigkeit und Animalität der ›anderen‹ Frau einher, die in Franks Roman durch Helene vertreten wird. Ihre Ehe mit Wilhelm steht exemplarisch dafür, dass die Integration privater Belange ins öffentliche politische Leben auch vor den familiären Geschlechterverhältnissen nicht Halt macht und darauf abzielt, abweichende Verhaltensweisen bzw. antagonistische Bestrebungen auch im Innern des totalitären Kollektivs durch den rassistischen Wahn und das Gefühl der biologischen Überlegenheit zu unterbinden. An Helenes Körper wird die Wirksamkeit einer auf die leibliche Ebene bezogenen Matrix von Norm und Abweichung veranschaulicht und zwar in doppelter Hinsicht: Durch ihre Ehe mit Wilhelm wird Helene mit Situationen konfrontiert, die einerseits Mechanismen der Disziplinierung und zugleich der Entsexualisierung des weiblichen Körpers demonstrieren und andererseits aufzeigen oder zu erklären suchen, inwiefern die durch die NS-Ideologie geprägten Geschlechtervorstellungen einen Bildfundus für antisemitische Vorurteile liefern. In ihrem Bild als Halbjüdin gehen also zwei zentrale Aspekte des (weiblichen) Fremden – der geschlechtliche und der rassische – auf direkte Weise ineinander über, wobei sich eine imaginäre Differenz der Rasse abrupt über die Geschlechterdifferenz schiebt. Zweck dieser kulturellen Codierung des ›Weiblichen‹ und des ›Jüdischen‹ besteht in der Aufrechterhaltung einer repressiven (Familien)Ordnung und zwar zu einem Zeitpunkt, als diese selbst sich schon durch gesellschaftlich-politische Entwicklung überholt hatte.203 Obwohl Eheschließungen den Forderungen der ›Rassenpflege‹ unterliegen und sexuelle Kontakte mit jüdischen PartnerInnen als ›Schädigung des Volkskörpers‹ gelten, zeigt sich Wilhelm bereit, Helenes halbjüdische Abstammung in Kauf zu nehmen und ihr eine neue Identität zu verleihen. Er bereut aber diesen Schritt, sobald er erfährt, dass sie auch in sexueller Hinsicht dem Weiblichkeitsideal nicht entspricht und aus diesem Grund bestraft werden muss. Mit 201 Vgl. Stögner, Karin: Zum Verhältnis von Antisemitismus und Geschlecht im Nationalsozialismus. In: Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (Hg.), Jahrbuch 2008: Schwerpunkt Antisemitismus. Wien: Lit Verlag 2008, S. 70–85, hier S. 76f. 202 Vgl. ebd., S. 75. 203 Vgl. ebd., S. 71.
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seinen Worten: »und dafür habe ich mir die Hände schmutzig gemacht«204 und der darauf folgenden Brutalität wird sie nicht nur wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit als ›Rassisch-Minderwertige‹ stigmatisiert, sondern auch als (Ehe)Frau in Frage gestellt. Gewalttätige Übergriffe, denen sie in ihrem Alltag mit Wilhelm ausgesetzt ist, vermitteln somit verschiedene Botschaften: Sie führen Helene nicht nur ihre eigene Machtlosigkeit vor Augen und stellen mithin ein Mittel dar, sie in Angst zu versetzen und fügig zu machen, sondern sie degradieren sie zu einem Irritation und Provokation auslösenden Objekt, das aufgrund seiner Andersartigkeit diszipliniert werden muss. Wilhelms Brutalität Helene gegenüber kann also einerseits als Ausdruck von Misogynie begriffen werden, die die Form der sexualisiert-frauenfeindlichen Gewalt annimmt und sich somit gegen die weibliche Identität seiner Frau, gegen ihre sexuelle Integrität, gegen ihre freie Entscheidungs- und Verfügungsgewalt über den eigenen Körper sowie gegen ihre individuellen Reproduktionswünsche richtet. Andererseits schimmert in seinen Gewalthandlungen die sexualisiert-antisemitische und -rassistische Gewaltkomponente durch, indem Wilhelms Hass, Wut und Enttäuschung an seiner Frau als Repräsentantin einer verfolgten und als minderwertig eingestuften Gruppe ausgelassen werden.205 Dass solche (Gewalt)Maßnahmen sowohl inkludierend als auch exkludierend wirken, ist Wilhelm bewusst. Er hat kein Interesse daran, die von ihm begangene ›Rassenschande‹ und somit den Verrat an der ›deutschen Ehrengemeinschaft‹ publik zu machen, was Helene gleichzeitig die Chance bietet, als ebenbürtiges Mitglied der Ariergesellschaft akzeptiert zu werden und den antisemitischen Pogromen zu entkommen. Im Gegenzug für ihre Unkeuschheit und Zügellosigkeit veranstaltet er aber – getrieben durch die NS-Politik, die jüdische Frauengestalten nicht unter dem Aspekt des Weiblichen, sondern unter dem Konstrukt eines Minderwertigen in den öffentlichen Diskurs einbringt – ein Spektakel ehelicher Beschämung und Demütigung, das eine Exklusion im privaten Raum intendiert.206 Er sieht sich als betrogener Ehemann und Arier im Recht, ein »sittliches Unwerturteil«207 über Helene zu fällen und ihr damit den Status als Ehefrau und gleichwertiges Familienmitglied abzusprechen. Die Masken des Jüdischen und die des unkeu204 Franck, Julia: Die Mittagsfrau. Frankfurt a.M.: Fischer Verlag 2009, S. 348. 205 Vgl. Halbmayr, Brigitte: Sexualisierte Gewalt gegen Frauen während der NS-Verfolgung. In: Nationalsozialismus und Geschlecht. Zur Politisierung und Ästhetisierung von Körper, »Rasse« und Sexualität im »Dritten Reich« und nach 1945. Hg. von Elke Frietsch/Christina Herkommer. Bielefeld: transcript Verlag 2009, S. 141–155, hier S. 151. 206 Vgl. Szmorhun, Arletta: Jüdische(r) Fremdkörper. Rassistische Stigmatisierungs- und Ausschließungspraktiken in Julia Francks »Die Mittagsfrau«. In: Im Clash der Identitäten. Hg. von Wolfgang Brylla/Cezary Lipin´ski. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2020, S. 173–184, hier S. 181f. 207 Frevert, Ute: Die Politik der Demütigung. Schauplätze von Macht und Ohnmacht. Frankfurt a.M.: Fischer Verlag 2017, S. 61.
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schen Weiblichen, mit denen sie in ihrer alltäglichen Lebenswelt belegt wird, macht sie zur verdorbenen und minderwertigen Anderen, die sich der misogynen und rassistischen Ariergemeinschaft entzieht. Die Gnade, von Wilhelm nicht denunziert zu werden und in die arische Gesellschaft eintauchen und mit ihr verschmelzen zu können, generiert keineswegs Sicherheit und Stabilität. Helenes biographische Lebenslinie wird nämlich nicht nur in dem Kopf ihres Mannes aufbewahrt, sondern auch in den Köpfen derjenigen, die ihm dabei geholfen haben, seiner Frau die ›arische Maske‹ aufzusetzen. Für Helene ist es also nicht nur ein Problem ihrer individuellen Identität, von ihrem Ehemann wegen der Beflecktheit und Unvollkommenheit ihrer weiblichen Physis verabscheut, drangsaliert und schließlich verlassen zu werden. Es ist auch ein Problem ihrer sozialen Identität, eine ›Schandvergangenheit‹ mit sich zu schleppen und unter Menschen leben zu müssen, die – von Helenes jüdischer Herkunft nicht wissend – sie wegen ihrer Persönlichkeit schätzen und nicht mal auf den Gedanken kommen, diese Frau außerhalb des Eigenen zu positionieren. Der Besitz eines diskreditierenden ›Doppelfehlers‹ stellt für sie zwangsläufig eine Doppelbelastung dar und setzt Arrangements voraus, mit denen die Gefahr auf ein Minimum reduziert werden kann: Der ›geschlechtliche Defekt‹ sorgt dafür, dass ihre Ehebeziehung in die Brüche geht, weil Wilhelm nicht bereit ist, sich über Helenes sexuelle Vorgeschichte hinwegzusetzen und sie als seine Frau zu akzeptieren. Der Prozess der Trennung wird aber von brutalen Vergewaltigungen begleitet, die Helene passiv über sich ergehen lässt, um seinen Gewaltausbruch in Grenzen zu halten und den Übergriff zu überstehen. Der ›rassische Defekt‹ sorgt dagegen dafür, dass sie ein Maß an Körperkontrolle und Gefühlsarbeit aufbringen muss, um innerhalb der rassenbesessenen Gesellschaft als Arierin nicht in Frage gestellt zu werden und einen störungsfreien Ablauf der Interaktion und die Sicherheit des Lebens gewährleisten zu können. Helenes Alltag ist demzufolge nicht nur durch direkte sexualisierte Gewaltausübung geprägt, sondern er bezieht auch die Formen indirekter und struktureller Gewalt mit ein, die je nach Verknüpfung mit ideologischen Motivlagen unterschiedliche Betroffenheiten nach sich ziehen und für einen permanenten Bedrohungszustand sorgen. Zusammenhänge und Verbindungsglieder zwischen Staatsmacht, Gewalt und Geschlecht werden auch in Anja Frischs Erzählung Grüne Augen herausgearbeitet, in der personale Herrschaft und gewalttätige Männlichkeit mit der kriegsbezogenen Karriere des Großvaters aus der Öffentlichkeit in die Privatheit der Familie verlagert und vor allem auf physischer Ebene ausgetragen wird. Sachlich und kühl reflektiert die weibliche Erzählinstanz über das Leben ihrer Großeltern, das durch die stumme Brutalität des Großvaters und die ebenso stumme Passivität der Großmutter gekennzeichnet ist. Im Sommer 1939 wird die Großmutter an den Sohn eines wichtigen Bekannten ihrer Eltern vergeben, der »sein Jurastudium mit einer mittelmäßigen Note abgeschlossen und vor der
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Hochzeit eine schlecht bezahlte Stelle bei einem Notar angenommen [hatte]. Aber das war nicht mehr wichtig, denn der Führer hatte ein höheres Ziel vor Augen.«208 Zwischen den Zeilen verweist die Erzählinstanz auf die Maßnahmen des Nationalsozialismus, in den Privatraum der Familie zu intervenieren und ihn seinen Zielen gemäß umzuformen. Emotionen wie Liebe, Zuneigung und Zuwendung spielen in der Ehe der Großeltern keine Rolle, weil die Ehe in der NSZeit weder großen Gefühlen noch dem Wohlstand oder Zusammenhalt der Familie gilt, sondern der Produktion von ›erbgesunden‹ Kindern. Wie Ehe und Familie tatsächlich und rechtlich zu gestalten sind, sollte sich nicht nach (potenziellen) persönlichen Individualinteressen, sondern ausschließlich nach dem Nutzen für die Volksgemeinschaft sowie nach dem »gesunden Volksempfinden« richten. Das Schlagwort »Gemeinnutz geht vor Eigennutz« und der Bezug auf den »Pflichtgedanken im deutschen Recht« sorgen dafür, dass die Ehe aus der persönlichen Sphäre des Einzelnen herausgehoben und unter dem Gesichtspunkt ihres Wertes für die Volksgemeinschaft betrachtet wird, was heißt, dass ihr Wert für die Volksgemeinschaft vor allem in dem Kind liegt.209 Während der zukünftige Ehemann der Großmutter in ihrem Elternhaus um ihre Hand anhält, sitzt sie mit zwei Freundinnen in einem Café, raucht ihre erste Zigarette und glaubt, frei zu sein. Sie verschwendet keine Gedanken an die Zukunft, denn es kommt ihr absurd vor, »über etwas nachzudenken, was noch nicht war.«210 Gerade in diesem Moment wird aber ihre Zukunft ohne ihr Zutun bestimmt. Anders als Francks Protagonistin Helene geht sie jungfräulich in die Ehe, so dass sie dem ideologischen Weiblichkeitsideal durch und durch entspricht und keinen Widerwillen aufseiten ihres Ehemannes hervorruft: Oben, im Zimmer meiner Großtante und meiner Großmutter, hatte sich mein Großvater von meiner Großmutter gewälzt und schlief schon fast, als meine Großmutter, die Beine noch gespreizt, vorsichtig mit der Hand nach unten tastete. Sie spürte ein Ziehen im Unterleib. Das, hatte man ihr verraten, gehörte dazu, aber wie immer, wenn man sich vorher alles genau schildern lässt, ist alles, wenn man es selbst erlebt, ganz anders. Es war ein merkwürdiges Gefühl, neben dem Schmerz, der sich mit dem Ziehen im Unterleib verband, fühlte sich meine Großmutter tatsächlich gelöchert.211
Die Hochzeitsnacht entpuppt sich jedoch auch in ihrem Fall als ein unangenehmes Erlebnis, das nicht nur mit Schmerz und Enttäuschung, sondern auch mit großer Verwirrung assoziiert wird, weil das theoretische Vorwissen und die 208 Frisch, Anja: Grüne Augen. In: Dies.: Schneehase. Erzählungen. München: Luchterhand Literaturverlag 2006, S. 241–276, hier S. 259. 209 Vgl. Preisner, Mareike: Das gesetzliche mittreuhänderische Schuldverhältnis kraft gemeinsamer Elternschaft. Ein Beitrag zur gegenwärtigen Dogmatik des Familienrechts. Tübingen: Mohr Siebeck 2014, S. 176. 210 Frisch: Grüne Augen. 2006, S. 255. 211 Ebd., S. 256f.
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Erfahrung beim Erkenntnisprozess zu sehr nach Schmerzempfindung und Gefühlslage differieren. Während der Großvater sich nach dem mechanisch vollzogenen Geschlechtsakt teilnahmslos auf die Seite dreht und einschläft, versucht die Großmutter mit dem warmen Zigarettenrauch in ihrem Hals »ein wohltuendes Gegengewicht zu dem Ziehen in ihrem Unterleib«212 zu erreichen und das in ihr aufkeimende Gefühl einer nervösen Unruhe zu unterdrücken. In ihrer ehelichen Lebenswelt unterliegt sie von Anfang an dem Prozess der »Emanzipation der Frau von der Frauenemanzipation«213, der plurale und individualisierte Handlungsmuster nicht duldet und die Frau in der Rolle einer verheirateten Mutter positioniert, die aus dem Erwerbsleben ausscheidet, Kinder bekommt und sich um ihre Familie kümmert. Hitlers Vorstellungen und Erwartungen gemäß gibt es in ihrer Ehebeziehung eine klare Trennung der Lebensräume der Geschlechter, deren Zusammenwirken im jeweils spezifischen Aufgabenbereich den Fortbestand der Volksgemeinschaft als höchstes Ziel der Nationalsozialisten garantiert. Während der Großvater Adolf Hitler – dem Obersten Befehlshaber der Wehrmacht – unbedingten Gehorsam leistet und als Soldat hinter der NS-Ideologie steht, geht die Großmutter im Haushalt auf, um in dieser Welt der Volksgemeinschaft dienlich zu sein und auf ihren Mann zu warten. Auch der nazibegeisterte Großvater Maximilian in Tanja Dückers’ Roman Himmelskörper zieht für Hitler in den Krieg, der aber in diesem Fall dafür sorgt, dass überkommene Geschlechtsstereotype und Rollenvorstellungen einerseits bekräftigt und andererseits durchkreuzt werden: Auf unsere neugierigen Fragen, warum Großvater so ein Schrumpelbein habe, bekamen wir immer die gleiche Antwort, nämlich, dass Großvater »im Krieg« gewesen sei. Was das bedeuten sollte, wurde uns nicht klar. »Krieg« schien jedenfalls ein schrecklicher Ort zu sein, eine Gefahrenzone, in die aus irgendeinem Grund nur Männer kamen. Es hieß noch, dass »Großvater hart gekämpft und Großmutter lange auf ihn gewartet habe.«214
Die Art und Weise, im familiären Alltag über den Krieg zu kommunizieren, verrät zwar typisierte Geschlechtervorstellungen, so dass der Großvater in den Kriegsgeschichten als handelnd und aktiv erscheint, während die Großmutter als wartend und passiv dargestellt wird. Ähnlich wie Frischs Großmutter-Figur versucht auch sie, ihrer Aufgabe als Hausfrau, Gattin und Mutter gerecht zu werden und ihren Mann durch ihre Fürsorge und Selbstaufgabe nicht davon abzulenken, seine Arbeit für die Nation zu verrichten. Der Zusammenhang zwischen dem Krieg, der als 212 Ebd., S. 257. 213 Rosenberg, Alfred: Der Mythus des 20. Jahrhunderts. München: Hoheneichen Verlag 1943, S. 512. 214 Dückers, Tanja: Himmelskörper. Berlin: Aufbau Taschenbuch Verlag 2004, S. 78.
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»Gefahrenzone, in die aus irgendeinem Grund nur Männer kamen«, definiert wird und den Macht- und Gewaltverhältnissen innerhalb der Familie wird jedoch in beiden Texten völlig anders konzipiert. Obwohl Frischs Großmutter im Rollenkanon des unterlegenen Objekts bleibt und darauf bedacht ist, den Wünschen ihres Mannes zu folgen, geling es ihr nicht, der ehemännlichen Gewalt, die sich mitunter zur ungebremsten Brutalität steigert, zu entkommen. Die nahezu rituell verübten Übergriffe sind aus der ehelichen Existenz, die durch die Rückkehr des Großvaters von der Front diktiert wird, nicht wegzudenken. Die in der militärischen Sphäre erfahrene und ausgeübte Gewalt wird auch im familiären Bereich zu einem Ordnungsprinzip, das mit der Absicherung männlicher Herrschaft korrespondiert. Familiäre Privatheit wird somit zu einer vom staatlich-militärischen Gewaltmonopol infizierten Gewaltverwaltung, in der strategisch vorgegangen wird. Die Großmutter wird von dem Großvater immer auf die Körperteile geschlagen, die niemand außer ihm zu sehen bekommt. Sowohl der Großvater als auch die Großmutter unterliegen dabei in ihrem Lebensraum einer informellen (Selbst)Kontrolle, die zum Ziel hat, das brutale Verhalten des Großvaters nach außen abzuschirmen und ein öffentliches Bekanntwerden zur Aufrechterhaltung der Funktionsfähigkeit der nationalsozialistischen Familie zu unterbinden.215 Auf diese Weise kann die Fassade einer intakt funktionierenden Ehe gewahrt werden – bis der Krieg zu Ende ist. Die großväterliche Gewalt hinterlässt jedes Mal »hartnäckige Irritationen«216, die nicht nur Aufschluss über die erlittene Gewalt geben, sondern vielmehr der Großmutter einen wichtigen Orientierungspunkt verschaffen: »Meine Großmutter konnte an sich sehen, wenn mein Großvater länger nicht mehr nach Hause gekommen war.«217 An der Intensität der blauen Flecken und dem Prozess ihrer Verblassung wird abgemessen, wie lange der Großvater außer Haus und wann mit seiner Rückkehr zu rechnen ist. Mit der Absenz des Großvaters liegt die einzige Möglichkeit vor, seiner brutalen Herrschaft zu entkommen. Das Kriegsende verkürzt jedoch gewaltfreie Zeitabstände und markiert zugleich einen Wendepunkt in der Gewalttaktik des Großvaters, der sich vor allem in Schlagintensität, Zielorientierung und (konventionsbezogener) Hemmungslosigkeit manifestiert: Die Schläge meines Großvaters waren härter geworden durch den Krieg. Vielleicht war aber meine Großmutter sie einfach nicht mehr gewohnt. Sie verschränkte krampfhaft die Hände ineinander, um nicht im Reflex die Arme vor das Gesicht zu halten und meinem Großvater unnötige Hindernisse zu bauen. Mein Großvater schlug meiner Großmutter ein zweites Mal ins Gesicht. Dass man diesmal jeden seiner Schläge meiner 215 Vgl. Szmorhun: Staatsmacht und Familiengewalt – Zu literarischen Inszenierungen von häuslichen Bedrohungssituationen und Unsicherheitslagen im Kontext politischer Systeme. 2016, S. 262. 216 Frisch: Grüne Augen. 2006, S. 262. 217 Ebd., 261f.
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Großmutter ansehen konnte, danach dachte mein Großvater nicht mehr. Schließlich war der Krieg zu Ende und außerdem verloren.218
Obwohl die Schläge des Großvaters im Laufe der Zeit an Härte gewinnen, versucht die Großmutter trotz des brennenden Schmerzes ihre motorischen Reaktionen zu kontrollieren, um das Gewaltritual des Großvaters nicht zu stören und keine unnötigen Irritationen auszulösen. So hat sie es sich angewöhnt, während der Übergriffe eine steife Körperhaltung einzunehmen, die ihr hilft, den langsam aufeinander folgenden Schlägen zu widerstehen und den Körper im Gleichgewicht zu halten. Sie ist auch in dieser Hinsicht bemüht, den Grad seiner Zufriedenheit nicht zu minieren. Da der Großvater den verlorenen Krieg als Erlösung von seiner Pflicht interpretiert, ein ehrenhaftes Benehmen als Soldat und Ehemann an den Tag legen und somit das Idealbild einer familiären Gemeinschaft nach außen transportieren zu müssen, wird mit dem Kriegsende das Ende seiner Schlagtaktik eingeläutet: Von nun an schlägt er seine Frau auf sichtbare Körperteile, ohne sich darüber Gedanken zu machen, dass die Außenwelt Notiz davon nimmt: »Schließlich war der Krieg zu Ende und außerdem verloren«, so dass es keine Notwendigkeit mehr gibt, sich unnötige Grenzen zu setzen und sein Verhalten an Normen und Ideale anzupassen, die völlig versagt haben. In Dückers’ Himmelskörper sind es ebenfalls der Krieg und seine Folgen, die Spannungen in der Ehe der Großeltern generieren, wenn auch die Privatsphäre in diesem Fall auf eine etwas andere Weise kontaminiert wird. Im Gegensatz zu Frischs männlicher Figur kommt der Großvater Maximilian aus dem verlorenen Krieg nicht nur körperlich versehrt, sondern auch entmachtet, was nicht zuletzt auf sein amputiertes Bein zurückzuführen ist. Der Prozess der Entmachtung vollzieht sich in seinen einzelnen Etappen stets als Wahrnehmung von Macht und Ohnmacht und wird in der Privatsphäre mit der Namensgebung eingeleitet, die den Großvater in der familiären Hierarchie neu positioniert: »Als er unter Hitler in den Krieg zog, war er noch Maximilian. Später als beinamputierter Mann, der völlig auf die Pflege meiner Großmutter angewiesen war, wurde er nach und nach erst Max, dann Mäxchen.«219 Die ursprüngliche Bedeutung seines Namens – in Anlehnung an den deutschen Kaiser Maximilian I. mit Größe, Leistung und Mut assoziiert220 –, der er sowohl im militärischen Dienst als auch in der familiären Hierarchie Folge leistet, wird plötzlich durch seine körperliche Behinderung relativiert. Als versehrt aus dem verlorenen Krieg Heimgekehrter wird er aber nicht nur nominell infantilisiert. Von der Großmutter gefüttert, gewaschen und eingerieben werden zu müssen, tritt er auch wie ein (Wickel)Kind auf, das rund 218 Ebd., S. 272. 219 Dückers: Himmelskörper. 2004, S. 48. 220 Vgl. Köster, Rudolf: Eigennamen im deutschen Wortschatz. Ein Lexikon. Berlin-New York: Walter de Gruyter 2003, S. 113.
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um die Uhr betreut werden muss.221 Der unerwartete Verlust der Vormachtstellung generiert innerfamiliäre Konflikte, die den ehelichen Alltag sichtlich beeinträchtigen, weil der Großvater physisch zwar kapituliert hat, aber mental immer noch an überkommenen Rollenmustern festhält, die geschlechtsspezifische Hierarchie und Ordnung als »zentrale Säulen« herausstellen, auf denen intakt funktionierende (Familien)Strukturen ihren Erfolg aufbauen. Es ist in diesem Sinne notwendig, die bestehenden »Klassenschranken« aufrechtzuerhalten und auch als Mann und Frau den Aufgaben vollständig nachzukommen, die »die Natur ihnen innerhalb dieses perfekten Systems zugewiesen hätte.«222 Diese Vorstellung impliziert einerseits, welche Rollen Männer und Frauen auf der gesellschaftlich-politischen Bühne einzunehmen haben und verweist andererseits auf (Macht)Positionen, in denen sie sich (nicht) befinden sollen. Da seine Behinderung und die daraus resultierende Unbeholfenheit ihn daran hindern, diese Vorstellungen im familiären Alltag auszuleben, versucht er mit Verdruss, Trotz und Launigkeit seinen Machtanspruch innerhalb der ›verzerrten‹ Geschlechterhierarchie geltend zu machen. Sowohl bei Dückers als auch bei Frisch ist die Konstruktion von Männlichkeit an ein Bild des soldatischen Mannes angelehnt, der Kraft, Potenz, Tapferkeit, Todesmut und Durchhaltevermögen symbolisiert und somit die Vollkommenheit verkörpert. Die Symbolik des Dritten Reiches stellt in beiden Fällen eine Orientierung dar, die durch Kompromisslosigkeit, Härte und Gewalt sowie das Auftreten der männlichen Figuren als Führer und Gestalter der symbolischen Ordnung geprägt ist. Grundlegendes Element dieser Männlichkeitskonzeption ist – neben der Überzeugung, dass nur das Patriarchat intakt funktionierende Gesellschaftsstrukturen garantiert – der Leistungsgedanke, der in der Rolle des Mannes als Ernährer der Familie deutlich wird. Diese Rolle ist ausschließlich dem Mann vorbehalten, weil die Frau besser geeignet ist, den häuslichen Frieden zu gewährleisten. In beiden Fällen wird auch die Konstruktion von Männlichkeit durch den Aspekt der Gewalt ergänzt, die – in das Private transportiert – zwar unterschiedliche Dimensionen annimmt, aber mit der steten Bereitschaft des soldatischen Mannes, die Nation zu verteidigen, in Verbindung steht. So fallen Staat, Geschlecht und Gewalt semantisch zusammen, wobei Gewalt nicht nur der Inszenierung von Männlichkeit dient, sondern auch als probates Mittel erachtet wird, sowohl politische Ziele zu verwirklichen als auch im sozialen Nahraum der Familie eine gewünschte und ›naturgemäße‹ Ordnung herbeizuführen bzw. sie zu stabilisieren. Im Anschluss an Birgit Sauer kann man an dieser Stelle die These 221 Vgl. Giesler, Birte: Krieg und Nationalsozialismus als Familientabu in Tanja Dückers’ Generationenroman Himmelkörper. In: Imaginäre Welten im Widerstreit. Krieg und Geschichte in der deutschsprachigen Literatur seit 1900. Hg. von Lars Koch/Marianne Vogel. Würzburg: Königshausen & Neumann 2007, S. 286–303, hier S. 292. 222 Dückers: Himmelskörper. 2004, S. 182f.
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wagen, dass zwischen Männlichkeit und Staatlichkeit ein strukturelles Äquivalenzverhältnis besteht. Der Staat übernimmt und transformiert das Projekt männlicher Dominanz und weiblicher Abhängigkeit und macht auf diese Weise die männliche Verfügungsgewalt über familialisierte Personen zu seinem Organisationsprinzip. Die Staatlichkeit »verbannt« also die personale Herrschaft und gewalttätige Männlichkeit aus der Öffentlichkeit in die Privatheit der Familie und überträgt somit einen Teil seines Monopols an die Familienväter, so dass der Unterwerfung der männlichen Subjekte unter eine souveräne staatliche Macht die Absicherung männlicher Souveränität in der häuslichen Sphäre korrespondiert.223 Die Relevanz einer sozialen Konstruktion von Männlichkeit, die – in Krieg und Dienst geformt – den Familienalltag unter Gewaltanwendung konstituiert und alternative Lebensabläufe weiblicher Familienmitglieder unterbindet, kommt auch in der Novelle morire in levitate von Marlene Streeruwitz zur Geltung. Ähnlich wie Anja Frisch und Tanja Dückers lässt sie ihre weibliche Figur Geraldine in eine Familienwelt einbinden, die durch einen Großvater gestaltet wird, der »nicht einmal Spinat hatte essen können, ohne ein Nazi zu sein.«224 Gemeinsamkeiten erschöpfen sich aber nicht in einem einzigen Merkmal. Auch Streeruwitz entscheidet sich dafür, ihre Geschichte nur teilweise in der NS-Zeit zu verankern, so dass eine Vergangenheit durchschimmert, die zum Zeitpunkt des Erzählens zwar weit zurück liegt, sich aber wie ein dunkler Schatten auf das Leben der Protagonistin legt und ein seltsames Bedürfnis generiert, sich mit ihr auseinanderzusetzen, um sterben zu können. Geraldines Großvater hat in der NSZeit die Fahrpläne der Todeszüge nach Auschwitz erstellt und den Tod mithin auch mit nach Hause gebracht. Familienstrukturen, in denen Geraldine aufwächst, symbolisieren dementsprechend eine (Gewalt)Ordnung, an der sich Zusammenhänge von direkter und sozialer bzw. kultureller Schädigung menschlicher Entwicklung ablesen lassen. Der Rückblick auf ihre von der Figur des Großvaters dominierte Kinder- und Jugendzeit macht ihr bewusst, dass sie »zwischen einem Leben für sich und einem Leben für das Leitmotiv«225 hängen geblieben ist und es auch als erwachsene Frau nicht vermag, sich von Vorurteilen und Wertvorstellungen einer männlich dominierten Gesellschaft zu lösen und ihre eigene Identität zu finden.226 Die einzige Person, die Geraldines Selbst- und 223 Vgl. Sauer: Geschlechtsspezifische Gewaltmäßigkeit rechtsstaatlicher Arrangements und wohlfahrtsstaatlicher Institutionalisierungen. 2002, S. 91. 224 Streeruwitz, Marlene: morire in levitate. Frankfurt a.M.: Fischer 2004, S. 26. 225 Ebd., S. 75. 226 Vgl. Szmorhun, Arletta: morire in levitate – Zu geschlechtsspezifischen Ich-Konstruktionen bei Marlene Streeruwitz. In: Ich-Konstruktionen in der zeitgenössischen österreichischen Literatur. Hg. von Joanna Drynda. Poznan´: Wydawnictwo »Rys« 2008, S. 163–172, hier S. 166f.
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Weltverhältnis eine sinnvolle Struktur verleiht, ist die Mutter. Sie wagt es zwar nie, gegen Gewaltausbrüche ihres Schwiegervaters offen zu protestieren, aber sie ist in ihrer Passivität darauf orientiert, ihre Tochter durch emotionalen Halt vor negativen Auswirkungen seiner Gewaltherrschaft zu schützen. Mit dem unerwarteten Tod der Mutter droht diese einigermaßen stabile Struktur jedoch einzustürzen und kann nur mit Antidepressiva aufrechterhalten werden: »Aber mit dem Tod der Mutter. Da hatte ihr eigener Tod begonnen. Der Tod ihrer Figur. Der Tod des Produkts dieser Familie. Dieses Großvaters«.227 Mit dem Tod der Mutter verliert Geraldine letztendlich den gangbaren Boden unter den Füßen, so dass sie nicht mehr in der Lage ist, sich Orientierungen im sozialen und moralischen Raum zu verschaffen. Ihre Orientierungslosigkeit wird zusätzlich dadurch vertieft, dass Mitmenschen – vor allem ihr Vater, »dem der Tod seiner Frau gut getan hat«228 – versagen, auf eine solche Krise kreativ zu reagieren und ihr ein ertragbares Leben innerhalb von patriarchalen (Gewalt)Strukturen zu ermöglichen. Ihre Verzweiflung und ihre Resignation gehen so weit, dass sie mit dem Gedanken spielt, ihrem Leben ein Ende zu setzen. Aufgrund ihres anerzogenen Gehorsams ist sie nicht imstande, gegen die großväterliche Autorität zu rebellieren und alternative Handlungswege einzuschlagen. Die einzige Stimme, die zu Hause erhört wird, ist die – keinen Widerspruch duldende – Stimme des Großvaters. Militärische Umgangsformen und Abhängigkeitsstrukturen aus der Nazizeit hat er in sein Zivilleben herübergerettet, so dass er nun auch im Privaten seine Befehle erteilt, Menschen herumkommandiert und unbedingten Gehorsam erwartet. Geraldine und ihre Mutter spielen in der familiären Interaktion eine reagierende Rolle. Sie haben zuzuhören und sich den Wünschen und Erwartungen des Großvaters zu fügen. Seine (Gewalt)Praktiken können durch keine Gegenmaßnahmen konterkariert werden, denn die Betroffenen wissen, dass sich seine (Gewalt)Herrschaft im Fall eines Protestes oder einer Einmischung in den großväterlichen Diskurs nicht in verbalen Handlungen erschöpft. Es reicht, dass er seine Hand hebt und sie zum Schlag ausholt, damit im familiären Raum Ruhe einkehrt: »Die Hand so ein bisschen nach innen gedreht. Nach innen gedreht und an den Körper. Ein ganz kleines Ausholen zum Schlag war das gewesen. Nur ein bisschen. Und der Großvater hatte nicht einmal die Gabel aus der Hand gelegt. Aber es war Ruhe. Sofort.«229 Die Gewaltsamkeit seiner Herrschaft bezieht ihre Dynamik sowohl aus ihrem semantischen Inhalt, unter dem sich alle Familienmitglieder regelrecht ducken als auch aus gestischen Signalen, mit denen ein hierarchischer Raum aktualisiert und die Machtposition des Großvaters bestätigt wird. Er gilt in der Familie als einziger Entscheidungsträger, der jegliches Aus227 Streeruwitz: morire in levitate. 2004, S. 21. 228 Ebd., S. 20. 229 Ebd., S. 42.
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der-Reihe-Tanzen im Keim erdrückt. So wird auch Geraldine nach ihren Wünschen, Plänen, Bedürfnissen nicht gefragt, weil ihre Zukunft von dem Patriarchen vorprogrammiert ist: Auf seinen ausdrücklichen Wunsch soll sie Opernsängerin werden, doch durch ihr plötzliches Verstummen entzieht sie sich dem Willen des Großvaters. Der Stimmverlust besteht in Geraldines Fall jedoch nicht nur darin, dass sie aufgrund der Atemprobleme ihren Beruf als Opernsängerin nicht mehr ausüben kann. Unter dem Einfluss des großväterlichen (Gewalt)Diskurses entwickelt sich vielmehr eine gewisse Stressdynamik, die die junge Frau nicht nur daran hindert, zu singen, sondern ihr vielmehr die Fähigkeit raubt, mit anderen zu kommunizieren und Beziehungen einzugehen, die relativ intakt funktionieren und ihr helfen könnten, die gewaltvolle Vergangenheit zu verarbeiten. Ein nazibegeisterter Großvater, der das Familienleben mit autoritären Vorstellungen und militärischen Verhaltensmustern destruiert wird auch im Roman Fünf Kopeken von Sarah Stricker auf die Bühne gebracht. Die Geschichte wird aus der Perspektive einer angehenden Journalistin Anna dargestellt, die das Leben ihrer im Sterben liegenden Mutter Revue passieren lässt und über die Figur ihres autoritären Großvaters – Oskar Schneider – reflektiert. Als ehemaliger Wehrmachtsoffizier, der im Alter von 19 Jahren in den Rang eines Oberleutnants erhoben wird, lässt er sich auch 50 Jahre später diese ›Ehre‹ nicht nehmen und hält die Jahre zwischen 1939 und 1945 für »die besten seines Lebens«.230 Die Familie, die Oskar mit seiner Frau Hilde gründet, bringt dementsprechend ein Ordnungsmuster hervor, das der Herrschaftsstruktur seiner besten Jahre gerecht wird. Geprägt von der Dynamik der Kriegslehre, in der Stillstand und Tod auf dieselbe Stufe gestellt werden, entwickelt Oskar eine eigenständige kommunikative Binnenstruktur der familiären Interaktion, in der außer seiner Frau auch seine Tochter als Drillobjekt wahrgenommen und nach seinen Regeln ›fabriziert‹ wird. In ihrer Familienwelt unterliegen Strickers weibliche Figuren einem Machtund Gewaltsystem, das durch Verhinderung von Eigenständigkeit, (Selbst)Disziplinierung, (Selbst)Kontrolle und emotional-körperliche Belastung gekennzeichnet ist. Überzeugt davon, dass Müßiggang ein Virus ist und der Mensch sich nur über seine Erfolge und harte Arbeit definieren kann, ist Oskar darauf fixiert, seine Ehefrau schön auf Trab zu halten, seine einzige Tochter dagegen einem hermetischen Prägungsprozess zu unterziehen, der sie zu einem anständigen, klugen, fleißigen, erfolgreichen und resistenten Menschen formen sollte. An seinen ›Formungsmaßnahmen‹ lässt sich ablesen, in welcher Form die systemische Gewalt in die Privatsphäre transportiert wird und das Erziehungsverhalten des Ehemannes und Vaters infiziert:
230 Stricker, Sarah: Fünf Kopeken. Köln: Eichborn Verlag 2013, S. 17.
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Die Unschuld und Sorglosigkeit, von denen andere im Alter schwärmen, blieb meiner Mutter dank der unerschütterlichen Abwehr meines Großvaters fremd. […] Der Kontakt zu Gleichaltrigen, die mit dem ganzen Schund, den ihr Mund kundtat, meine Mutter hätte verwirren können, musste so weit wie möglich vermieden werden. An ihren Geburtstagen lud mein Großvater seine eigenen Gäste ein, Männer, die gut zu seinen Zigarren passten, Wirtschaftswundler wie er, ehemalige Kameraden, Anwälte, Professoren, die statt Geschenke ihre letzte Publikation mitbrachten.231
Die Mutter der Erzählerin wird von ihrem Vater von Anfang an nicht wie ein Kind, sondern wie eine Erwachsene behandelt und in eine von ihm erstellte, kontrollierte und je nach Bedarf modifizierte ›Produktionsstruktur‹ hineingezwängt, von der sie sich erst am Sterbebett durch ›Reinigungsgespräche‹ mit ihrer Tochter Anna erholen kann. Als Wunderkind, das »zu hässlich [war], um dumm zu sein«232, mit fünf Jahren lesen und vier Fremdsprachen konnte, wird sie von Fremdeinflüssen bis zu ihrer Einschulung völlig isoliert, weil der Vater ihre geistige und soziale ›Verunreinigung‹ durch den gleichaltrigen »Schund« zu vermeiden sucht. So lebt sie – bis ins Erwachsenenalter – in einer Vater-(Gewalt)Enklave, die nur von den dazu Berechtigten betreten werden darf. Die ›Gästeliste‹ wird dabei jedes Mal sorgfältig erstellt und orientiert sich ausschließlich an beruflichen Interessen und Bedürfnissen des Vaters. Das Kinderprogramm mit Zärtlichkeiten, Kinderspielen, Kinderbüchern, Kinderunschuld und Kindersorglosigkeit finden in sein erzieherisches Gesetzbuch keinen Eingang, weil er davon ausgeht, dass seine hochbegabte Tochter über derartige Gefühlsduseleien, Lappalien und ›Aufweichungsaktivitäten‹ erhaben ist bzw. sein sollte. Selbst an ihren Geburtstagen darf sie nicht entscheiden, mit wem sie ihr Heranwachsen feiern will. Ihre Geburtstagspartys finden immer im Kreis der ehemaligen NS-Männer statt, die in der Nachkriegsgesellschaft lukrative Positionen ›erkämpft‹ haben und von Oskar als gesellschaftliche Elite eingestuft werden. Der Prozess, eigenes Erleben und Verhalten gemäß eigenen Zielen und situativen Bedingungen zu regulieren, kann nicht stattfinden, weil der Vater sich zur einzigen ›Regulierungsinstanz‹ stilisiert und die Laufbahn seiner Tochter sorgfältig programmiert, so dass die Ablösung von familiären Abhängigkeitsverhältnissen überhaupt nicht möglich ist. Nicht nur die Berufswahl, sondern auch der zukünftige Ehemann und Schwiegersohn müssen von dem Vater akzeptiert und in sein Konzept reibungslos integriert werden. Auf Wundertaten getrimmt, an denen der Vater sein Ego ›mästet‹, lernt die Tochter, Pflicht, Befehl und Gehorsam als Orientierungspunkte zu betrachten, ohne dabei ihr Handeln anhand eigener Prinzipien zu reflektieren und es an ihnen auszurichten. Selbst im Erwachsenenalter als erfolgreiche Ärztin ist sie nicht in der Lage, die Welt des 231 Ebd., S. 29f. 232 Ebd., S. 28.
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Vaters zu verlassen und ein selbstbestimmtes Leben zu führen, das ihre eigene Persönlichkeit zur Geltung kommen ließe.233 Die Widerstandsressourcen ihrer Mutter sind dermaßen schwach, dass sie nicht imstande ist, das autoritäre Macht- und Gewaltsystem des Vaters und Ehemannes abzuschwächen, weil sie durch seine Unberechenbarkeit wirkmächtig lahmgelegt wird. Durch ihre Unterordnung unter das patriarchale Gesetz, die selbst zu einem die männliche Autorität reproduzierenden Faktor wird, bietet sie keine Erziehungsalternative, die ihrer Tochter helfen würde, der Gewaltherrschaft ihres Vaters zu entkommen bzw. diese durch Widerspenstigkeitsmomente zu sabotieren. In Drei Irre unterm Flachdach von Bastienne Voss sind es auch Familienstrukturen einer symbolischen (Gewalt)Ordnung, die eine entscheidende Stütze der männlichen (großväterlichen) Herrschaft darstellt und die Existenz weiblicher Familienmitglieder beeinträchtigt. Mit (Sprach)Normen, Regeln, Androhung oder Anwendung von Gewalt wird die Konformität erzeugt, die das Verhalten der Protagonistin Jenni und ihrer Großmutter Wilma in die richtige Bahn lenkt. Mit dem Verweis auf zeitspezifische Kontexte wird die narrative Motivierung des familiären Gewaltgeschehens nicht nur explizit ausgedrückt, sondern auch gerechtfertigt: Großvater hatte ein Ding zu laufen. Daß er sich das im KZ eingefangen hatte, wußte ich damals noch nicht, denn niemand hatte es mir gesagt. Ich wußte nicht mal, daß man sich im KZ überhaupt was einfangen konnte. Jedenfalls ließ der Großvater an dem Ding, das er zu laufen hatte, alle teilhaben.234
Die Erfahrungen des Großvaters Gustav, der 1937 angeblich wegen illegaler Arbeit für die Kommunistische Partei für drei Jahre ins Zuchthaus kam und 1940 nach Sachsenhausen überführt wurde, werden als Ursache für sein neurotischpsychotisches Verhalten sichtbar gemacht, mit dem weibliche Familienmitglieder in ihrem Familienalltag immer wieder konfrontiert werden. Die im Zuchthaus und im KZ erfahrene Gewalt wird in die Privatsphäre getragen und im familiären Umfeld ausgelebt. Die Gewaltbereitschaft des Großvaters, der als »belastend, unberechenbar, spontan«235 charakterisiert wird, beeinträchtigt zwar die familiäre Kommunikation und erschwert somit das alltägliche Zusammenleben, führt aber nicht zu einer Anklage des Großvaters, weil das seiner Biographie inhärente Rechtfertigungsargument sich als unschlagbar erweist: Schließlich war er im KZ. Diese Rechtfertigungsstrategie wird auch dann fortgesetzt, als Jenni nach dem Tod des Großvaters in den Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes auf entgegengesetzte Informationen stößt. Sie erfährt, dass Gustav im KZ Sach233 Vgl. Szmorhun: Häusliche Gewalt in der deutschsprachigen Literatur des 21. Jahrhunderts. 2016, S. 164. 234 Voss, Bastienne: Drei Irre unterm Flachdach. Hamburg: Hoffmann und Campe 2007, S. 9. 235 Ebd., S. 27.
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senhausen als Spitzel für die Gestapo tätig war, von 1947 bis 1948 – verurteilt von der Sowjetischen Militäradministration – im Untersuchungsgefängnis in Schwerin saß, in der DDR geheimer Informant der Staatssicherheit war und von dieser verdächtigt wurde, für den BND zu arbeiten. Die Motivationslagen der Gewaltanwendung sind auch bei Voss zeitspezifisch besetzt und werden vor allem auf strukturelle Elemente zurückgeführt, die interpersonale Macht- und Gewaltmechanismen in Form von körperlichen und psychischen (Selbst)Disziplinierungsmaßnahmen in Gang setzen.236 Gustavs Anpassungsleistung sowie das Befolgen der militärischen (Gewalt)Prinzipien, die auch in der Nachkriegsgesellschaft der DDR Gültigkeit erlangen, werden automatisch in die Privatsphäre getragen, wo sie nicht nur eine Geschlechtervormundschaft perpetuieren, sondern auch Vernachlässigung und Benachteiligung gegenüber Frauen etablieren. Die Macht, die der Großvater in seiner dienstlichen Funktion jahrelang genießt, steht einem friedvollen Familienleben im Wege, weil er nicht imstande ist, seine Identität als Staatsfunktionär abzulegen und auch zu Hause bedingungslose Konformität und blinden Gehorsam verlangt. Stellt sich die konforme Haltung bei seiner Frau und seiner Enkeltochter nicht von selbst ein, wird sie unter Einsatz von gewalttätigen Mitteln herbeigeführt, so dass dienstliche Disziplinierungsmaßnahmen auch im Privatbereich seine Wirkmächtigkeit entfalten und nicht nur das familiäre Leben destruieren, sondern auch die psychische Verfassung insbesondere der Enkeltochter beeinträchtigen. Die Figur des Großvaters wird somit zum Kristallisationspunkt verschiedener Gewaltphänomene, die als alltägliche Machtpraktiken und Internalisierung gesellschaftlichpolitischer Erwartungsnormen und Handlungen herausgestellt und für die weibliche Unfähigkeit verantwortlich gemacht werden, die Individualität herauszubilden und ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Selbst der Tod des Großvaters vermag es nicht, eine Erlösung von seiner (Gewalt)Herrschaft mit sich zu bringen – ein Umstand, den Jenni wie folgt auf den Punkt bringt »Und fünfundzwanzig Jahre nach seinem Tod spukt er noch immer in meinem Kopf rum und steuert da oben irgendetwas.«237 Ihr psychischer Zustand ist dermaßen instabil, dass sie von Alpträumen heimgesucht wird, gegen Depressionen ankämpft und nicht imstande ist, den sozialen Anschluss zu finden und ein notweniges Maß an Selbstsicherheit und Wohlbefinden zu erreichen. Für die Strategie, den Zusammenhang von struktureller und personaler Gewalt vor dem Hintergrund zweier deutscher Diktaturen zu erörtern, entscheidet sich auch Inka Bach in ihrem Roman Glüksmarie. Ähnlich wie Bastienne Voss lässt sie die Geschichte aus der Perspektive der adoleszenten Protagonistin Marie 236 Vgl. Szmorhun: Häusliche Gewalt in der deutschsprachigen Literatur des 21. Jahrhunderts. 2016, S. 113. 237 Voss: Drei Irre unterm Flachdach. 2007, S. 10.
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darstellen und kommentieren, die bei ihrer Tante Carola und ihrem Mann Herbert aufwächst. Beide sind erfolgreiche Wissenschaftler an einem angesehenen DDR-Institut. Gewalt ist überall und in jeder Form präsent und prägt ihren (Familien)Alltag nachhaltig. Herbert, der zum Schluss des Zweiten Weltkrieges noch als Soldat ausgebildet wird und im Anschluss daran sich zu einem linientreuen Anhänger der SED-Diktatur entwickelt, ist es gewohnt, seine Ziele mit brutalen Mitteln durchzusetzen und die soziale Umwelt nach seinen Vorstellungen zu gestalten. Von seinen in regelmäßigen Zeitabständen erfolgenden Gewaltausbrüchen, die die Form physischer, psychischer und sexueller Übergriffe annehmen, ist nicht nur seine Stieftochter Marie, sondern auch seine Frau Carola betroffen. Eine dramatische Denormalisierung des Familienlebens speist sich auch in diesem Fall aus der Übernahme brutal-exzessiver Handlungsmuster und Prinzipien, die ins Private herübertransportiert werden und durch gewaltdominiertes Beziehungsdenken Störungen verschiedener Art produzieren und eine selbstbestimmte Lebensführung verhindern.238 Zu physisch-psychischer Erschöpfung und verschiedenen Formen von Angstzuständen, mit denen Carola und Marie in ihrem Lebensraum konfrontiert werden, gesellen sich ständige innere Unruhe, Konzentrationsstörungen, Minderwertigkeitskomplexe, Schlafstörungen und Depressionen, die sie daran hindern, einen hohen sozialen Integrationseffekt zu erzielen. Sowohl Inka Bach als auch Bastienne Voss verweisen in ihren literarischen Texten auf die Tatsache, dass Gewalt gegen Frauen in den realsozialistischen DDR-Strukturen – entgegen der Propaganda von der Verwirklichung der Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau und der vermeintlichen Reduzierung gewaltfördernder und gewaltbegünstigender Faktoren – an der Tagesordnung war. Es wird aufgezeigt, dass die offiziellen, expliziten Normen einer friedliebenden sozialistischen Gesellschaft mit harmonischen zwischenmenschlichen Beziehungen in den Beziehungsalltag kaum Eingang finden, weil die Gesellschaft durch traditionelle Geschlechterkonzepte, Autoritarismen, psychischen Druck und Machtmissbrauch in den Hierarchien sowie Militarisierungstendenzen geprägt ist.239 Die Situationen und Kontexte, in denen Bach und Voss ihre weibliche Figuren agieren lassen, stellen unter Beweis, dass in einem Klima fortbestehender struktureller und personaler Gewalt ein gewaltfreies und prosoziales Verhalten kaum gedeihen kann. Dies gilt auch für egalitäre Geschlechterkonzepte, die durch männliche Machtansprüche und Dominanzvorstellungen sowie durch Stereotype weiblicher Unterordnung und Machtlo238 Vgl. Szmorhun: Häusliche Gewalt in der deutschsprachigen Literatur des 21. Jahrhunderts. 2016, S. 74. 239 Vgl. Schröttle, Monika: Staatliche Politik und Gewalt gegen Frauen in engen sozialen Beziehungen – ein politiktheoretischer und empirischer Zusammenhang? In: »Beiträge zur feministischen Theorie und Praxis. Gewalt«, 24. Jahrgang (2001), Heft 56/57, S. 53–69, hier S. 58.
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sigkeit konterkariert werden. In beiden Romanen schränkt die Angst vor Gewalt die Bewegungsräume und Entfaltungsmöglichkeiten von Frauen ein, reduziert ihren Aktionsradius auf den privaten Raum von Haus und Familie und verstärkt das Gefühl, auf den männlichen Partner angewiesen zu sein. Auch wenn Bachs weibliche Figur Carola – im Gegensatz zu Voss’ Protagonistin Wilma, die ein Hausfrauendasein fristet – als Ärztin arbeitet, dreht sich ihr Leben hauptsächlich um ihren Mann Herbert. Um einer ständigen Verunsicherung und Anspannung zu entkommen und den Erwartungen ihres Mannes gerecht zu werden, betäubt sie sich mit übermäßigem Alkoholkonsum und vollendet damit Herberts Zerstörungswerk: »Carola trank, sie musste mithalten mit den anderen Frauen. Sie musste lustig sein. […] Sie musste rote Bäckchen haben und willig sein. […] Alkohol hilft.«240 Carolas berufliche Emanzipation und ihre finanzielle Unabhängigkeit scheinen kein hinreichender Garant dafür zu sein, sich aus der Gewaltbeziehung zu lösen und im Gewaltfall klare Grenzen zu setzen. Das mangelnde Ernst- und Wahrnehmen eigener Bedürfnisse und Belastungsgrenzen sowie der Selbst- und Fremdanspruch, vor allem zu Herberts Zufriedenheit zu funktionieren, erweisen sich als Muster, die einer Lebensorientierung jenseits altruistischer und heterosexistischer Weiblichkeitskonzepte im Wege stehen. Der von Julia Franck, Anja Frisch, Tanja Dückers, Marlene Streeruwitz, Sarah Stricker, Bastienne Voss und Inka Bach geführte Gewaltdiskurs ist durch externe Beeinflussungsfaktoren geprägt, die sozial-politische Umstände mit einbeziehen und den Zusammenhang von Staat, Gewalt und Geschlecht hervorheben. Auf diese Weise entwickeln die Autorinnen einen geschlechtspolitischen Gewaltbegriff, der sichtbar macht, dass der Staat einerseits die Gewalt der Soldaten und (Partei)Funktionäre an sich bindet und sie andererseits an die männlichen Familienoberhäupter delegiert, um seine Stabilität zusätzlich abzusichern. Damit schafft er aber zugleich Unsicherheit durch männliche Gewaltoligopole.241 In allen Texten orientiert sich die Konstruktion von Männlichkeit am Idealtypus des soldatischen oder des mit der politischen (Gewalt)Ideologie verbundenen Mannes. Als Vorbilder dienen also (ehemalige) Wehrmachtssoldaten und Parteifunktionäre oder -anhänger, die der patriarchalen Gesellschaftsordnung huldigen und sich aus diesem Grund das Recht anmaßen, bestimmen zu können, wie sich die Rolle der Frau gestalten soll. Auch wenn in diesen Texten verschiedene Weiblichkeitsfacetten in Erscheinung treten und somit sowohl Hausfrauen als auch berufstätige oder heranwachsende Frauen auf die Bühne gebracht werden, vereinen sich die unterschiedlichen Weiblichkeitskonzeptionen und die dominanten Lebensbereiche von Frauen unter dem Dach eines Verständnisses von 240 Bach, Inka: Glücksmarie. Berlin: Transit Verlag 2004, S. 72f. 241 Vgl. Sauer: Geschlechtsspezifische Gewaltmäßigkeit rechtsstaatlicher Arrangements und wohlfahrtsstaatlicher Institutionalisierungen. 2002, S. 91.
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Weiblichkeit, das einer biologistisch begründeten Geschlechterordnung Rechnung trägt. Jeder Protagonistin geht es in erster Linie darum, ihren Alltag so zu meistern, dass die geltenden gesellschaftlich-politischen Normen und Werte nicht verletzt werden, so dass sie primär in sozialen Lebensbereichen dominant und somit in den klassischen Geschlechterrollen präsent sind. Begründet wird die Existenz in der familiären Sphäre als dominantem Lebensbereich von Frauen mit der natürlichen Ordnung der Geschlechter, die der Großvater Maximilian, Max bzw. Mäxchen am Bienenvolk veranschaulicht: »Nie würde eine Biene die ihr zugewiesene Aufgabe ablehnen oder ihr Arbeitsfeld verlassen.«242 Am Beispiel von Dückers’ Großmutter-Figur wird zwar verdeutlicht, dass Frauen in Notsituationen als Gegenpart zu Männern fungieren und dieser Herausforderung auch durchaus gerecht werden können, aber ihre Positionierung hauptsächlich in der fürsorglichen Rolle verweist gleichzeitig auf die fortwährende Tendenz, die Konstruktion von Weiblichkeit an eine dichotome Geschlechterordnung zu binden, in der Frauen die ambivalente Rolle der Unterstützerin des Mannes einerseits, andererseits aber jene der zu Züchtigenden zugeschrieben bekommt. Alle Autorinnen entwickeln in ihren literarischen Welten einen geschlechtssensiblen Gewaltbegriff, der nicht nur individuelle Verletzungsakte inkludiert, sondern auch auf sozial-politische (Gewalt)Strukturen aufmerksam macht, die eine gesellschaftlich-politische Erlaubnis und Aufmunterung zur (männlichen) Tat verraten. In der literarischen Diskursivierung von Geschlechtergewalt werden demzufolge zwei Felder der Hegemonie – Familie und Staat – entworfen, die einander bedingen und weibliche Verletzungsoffenheit perpetuieren. Mit dem Verweis auf historische Entwicklungen und politische Unterdrückungssysteme – den Nationalsozialismus oder die DDR-Diktatur – erscheint die Geschlechtergewalt als »eine Formation auf dem staatlichen Gewaltkontinuum.«243 Die männlichen Figuren werden als Soldaten oder Staatsoffiziere entworfen, so dass die literarisch inszenierte Gewaltmonopolisierung weitgehend auf männlicher Waffen- und Verteidigungsfähigkeit bzw. auf männlichem Staatsdienst beruht. Das Soldaten- und Staatsoffizier-Dasein basiert dabei auf zwei Kriterien: »Zugehörigkeit zu einem Staat und zu einem Geschlecht, dem männlichen«, so dass die Verknüpfung der beiden Kriterien das Geschlecht zu einer staatlich-politischen Kategorie macht.244 Die Inszenierung der Geschlechtergewalt vor dem Hintergrund großer politischer Entwicklungen führt dem Leserpublikum vor Augen, dass das in diesem Sinne konzipierte Gewaltmonopol mit »einem geschlechtlichen Bias« durchgesetzt wird: Es lässt – so Birgit Sauer – private 242 Dückers: Himmelskörper. 2004, S. 182. 243 Sauer: Geschlechtsspezifische Gewaltmäßigkeit rechtsstaatlicher Arrangements und wohlfahrtsstaatlicher Institutionalisierungen. 2002, S. 93. 244 Vgl. ebd., S. 89.
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männliche Gewaltoligopole be- bzw. entstehen. Die Staatsmacht beruht auf dem spannungsvollen Arrangement des Geschlechterverhältnisses zwischen physischem Gewaltmonopol und patriarchalen Oligopolen. Familiäre Privatheit wird auf diese Weise »zu einer staatlichen Exklave, zu einer vom staatlichen Gewaltmonopol geförderten und tolerierten privaten Gewaltverwaltung«245, in der das (biologische) Geschlecht als gesellschaftlicher Platzanweiser verstanden wird.
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Obwohl wissenschaftliche Studien auf die Vielfältigkeit von Männlichkeiten und Weiblichkeiten verweisen und diese Erkenntnis auch in literarischen Welten ihre Widerspiegelung findet, scheinen bestimmte Attribute dauerhaften Bestand zu haben. So ist »die Erwartung eines bestimmten Aggressionslevels – verbunden mit körperlicher Stärke und sexueller Leistungsfähigkeit – ein immer wiederkehrendes Element hegemonialer Männlichkeit«, während die Erwartung von Friedfertigkeit und Unterordnung »ein fest verankertes Element von Weiblichkeit darstellt.«246 Diese Erwartungen korrespondieren mit dem sozial sanktionierten und institutionalisierten Gebrauch von Macht, in dem das Militär das ultimative Ideal von Männlichkeit symbolisiert: »Soldat-sein wird als eine männliche Tätigkeit charakterisiert […] und es war historisch eine bedeutende Praxis, konstitutiv für Männlichkeit.«247 Die anerkannte Ausübung von Macht oder Gewalt – so Miranda Alison – bleibt im Wesentlichen in der Hand von Männern, in Berufen, die in erster Linie mit Männlichkeit assoziiert werden – im Militär, bei der Polizei, in Gefängnissen etc, während weibliche Aggressivität in den meisten Kulturen verurteilt wird. Dies zeugt von der bestehenden Naturalisierung der Männer als Täter von (sexuellen) Verbrechen und der generellen Naturalisierung der Frauen als Opfer.248 Das Männlichkeitsideal dokumentiert sich auch in der Heterosexualität, die als signifikantes Element von Männlichkeit eine ›gesunde‹ Körperlichkeit und ein angemessenes Sozialverhalten symbolisiert und den vorherrschenden Glauben an die Normalität heterosexueller Geschlechtlichkeiten und Begehrensstrukturen fundiert. Homosexualität wurde »in westlichen Ländern zumindest im letzten Jahrhundert, wenn nicht sogar noch länger, als eine der bedrohlichsten Herausforderungen für hegemoniale Männ245 Vgl. ebd., S. 89f. 246 Alison, Miranda: Sexuelle Gewalt in Zeiten des Krieges. Menschenrechte für Frauen und Vorstellungen von Männlichkeit. In: Krieg und Geschlecht. Sexuelle Gewalt im Krieg und SexZwangsarbeit in NS-Konzentrationslagern. Hg. von Insa Eschebach/Regina Mühlhäuser. Berlin: Metropol Verlag 2008, S. 35–54, hier S. 36. 247 Ebd. 248 Vgl. ebd., S. 36f.
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lichkeit wahrgenommen.«249 Heteronormativität, die einen Teil hegemonialer Männlichkeit ausmacht, ist in gesellschaftliche Macht- und Herrschaftsverhältnisse eingebunden und strukturiert auch grundlegend die Geschlechterordnung. Um den engen Zusammenhang zwischen Sexualorganisation und (männlicher) Herrschaft zu beleuchten, verwendet Herbert Marcuse den Begriff »Leistungsprinzip«, mit dem zwei wichtige Aspekte hervorgehoben werden: Männliche Sexualität ist genitalzentriert und sehr eng mit Leistung und Wettbewerb verknüpft, und zwar nicht nur in Bezug auf die männliche Leistungsfähigkeit beim Geschlechtsverkehr, sondern auch in Bezug auf Beziehungen, in denen Frauen als Trophäe und Besitz oder – im Fall militärischer Auseinandersetzungen – als leichte Beute und ein ›fremdes Territorium‹, das es zu erobern gilt, vorgeführt und/oder betrachtet werden. Unter der Herrschaft des Leistungsprinzips wird laut Marcuse eine Transformation des Leibes in ein sozial nutzbares »Arbeitsinstrument« angestiftet. Es kommt somit zu einer Entsinnlichung des sexuellen Körpers, wodurch Sexualität in eine »spezialisierte, zeitlich beschränkte Funktion«, in »ein Mittel zum Zweck« verwandelt wird.250 Susan Brownmiller geht einen Schritt weiter und behauptet, dass die Entdeckung des Mannes, seine Genitalien als Waffe gebrauchen zu können, um damit Furcht und Schrecken zu verbreiten, neben dem Feuer und der ersten groben Steinaxt als eine der wichtigsten Entdeckungen in prähistorischer Zeit angesehen werden muss. Sexualisierte Gewalt hat in dieser Perspektive eine überaus wichtige Funktion inne. Sie ist eine Methode bewusster und systematischer Einschüchterung, die es Männern ermöglicht, Frauen in permanenter Angst zu halten.251 In eine ähnliche Richtung argumentiert Hans-Christian Harten, wenn er davon ausgeht, dass es sich bei sexualisierten Gewalttaten nicht primär um die Befriedigung sexueller Bedürfnisse handelt, sondern um pseudo-sexuelle Akte, die darauf abzielen, Macht und Kontrolle über andere zu erlangen.252 Marco Roock, der den Begriff der sexualisierten Gewalt aus politisch-psychologischer Perspektive beleuchtet, betont ebenfalls, dass Sexualität in die gesellschaftlichen Macht- und Herrschaftsverhältnisse eingebettet ist und als Unterdrückungsinstrument eingesetzt werden kann, so dass jeder Versuch, die männliche Sexualität als einen natürlichen unbezwinglichen Trieb zu definieren, eine schuldentlastende Rechtfertigungsstrategie darstellt. Gleichzeitig kritisiert er aber die Tendenz, der männlichen Sexualität bei der Ausübung von Gewalt einzig eine instrumentelle Be249 Ebd., S. 37. 250 Vgl Marcuse, Herbert: Triebstruktur und Gesellschaft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1987, S. 44f. 251 Vgl. Brownmiller, Susan: Gegen unseren Willen. Vergewaltigung und Männerherrschaft. Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuchverlag 1980, S. 22. 252 Vgl. Harten, Hans-Christian: Sexualität, Missbrauch, Gewalt. Das Geschlechterverhältnis und die Sexualisierung von Aggressionen. Opladen: Westdeutscher Verlag 1995, S. 133.
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deutung beizumessen und plädiert dafür, bei der Auseinandersetzung mit der sexualisierten Gewalt auch die männliche Geschlechts- und Sexualitätsidentität in männlich dominierten Gesellschaften und deren frauenverachtende Anteile in den Blick zu nehmen.253 In Anlehnung an den Sexualforscher Eberhard Schorsch geht er davon aus, dass ein wesentliches Motiv bei sexualisierten Gewalttaten in einer grundlegenden Angst vor Weiblichkeit begründet liegt. Robert Connells Konzept »hegemonialer Männlichkeit« dient ihm dagegen dazu, den Angstursachen, die in die Frauenfeindlichkeit münden und das Verhältnis zwischen den Geschlechtern auf brutale Weise strukturieren (können), auf den Grund zu gehen. Einerseits konstituiert sich die hegemoniale Männlichkeit in Abgrenzung zu Weiblichkeit und deren Unterordnung, andererseits entsteht sie aufgrund unterschiedlicher Männlichkeitsentwürfe, die ebenfalls in einem hierarchischen Verhältnis zueinander stehen. Männer, die nicht dem Ideal hegemonialer Männlichkeit entsprechen, gelten als verweiblicht oder verweichlicht, so dass ihnen jene Attribuierungen zugeordnet werden, die auch das dichotome Verhältnis zwischen Männlichkeit und Weiblichkeit kennzeichnen. Dieses ist – so Roock – von zwei wesentlichen Aspekten geprägt: Auf der einen Seite konstituiert sich Männlichkeit (in männlich dominierten Gesellschaften) in Abgrenzung zum Weiblichen, das mit solchen Attributen wie Emotionalität, Nähe, Lust, Zärtlichkeit und anderen zwischenmenschlichen Beziehungsformen assoziiert wird, die in der männlichen Entwicklung keine Rolle spielen dürfen. Auf der anderen Seite gilt Heterosexualität innerhalb der hegemonialen Männlichkeitsentwürfe als einzig zugelassene Form des männlichen sexuellen Begehrens. Das Verhältnis von Männlichkeit zu Weiblichkeit ist somit gekennzeichnet durch die Gleichzeitigkeit und Widersprüchlichkeit zwischen dem Wunsch (und der gesellschaftlichen Forderung) nach Autonomie einerseits und der libidinösen Abhängigkeit vom heterosexuellen (weiblichen) Sexualobjekt andererseits. Doch gerade das heterosexuelle Begehren als Garant ›echter‹ Männlichkeit macht den Mann libidinös von der Frau abhängig. In dieser libidinösen Abhängigkeit treffen zwei Konfliktlagen aufeinander, die mit dem Ideal hegemonialer Männlichkeit unvereinbar sind, weil sie mit dem Weiblichen assoziiert werden, d. h. Abhängigkeit und libidinöse Bindung. Dieser Konflikt kann zu einem Rückgriff auf archaische Spaltungs- und Projektionsmechanismen führen und eine der Paranoia ähnelnde Wahrnehmungsverzerrung generieren. Die Erregung, die ein Mann beim Anblick eines weiblichen Körpers verspürt, wird als Bedrohung der eigenen Männlichkeit durch das weibliche Sexualobjekt erlebt, die es zu bekämpfen gilt. Es kommt zur Abspaltung jener nicht integrierbaren Lüste und 253 Roock, Marco: »Der Mann, der immer kann?« Kritische Anmerkungen zum Begriff der sexualisierten Gewalt aus politisch-psychologischer Perspektive. In. »GENDER«, Heft 2-2012, S. 116–128, hier. S. 122.
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Begierden, die in die Frau projiziert und nun, in der männlichen Phantasie, von der Frau als Waffe gegen den Mann eingesetzt werden. Diese psychischen Abwehrmechanismen der Spaltung und Projektion finden sich bereits in der Konzeption ›normaler‹ Männlichkeit, in der Frauen, indem sie als männlicher Besitz erscheinen, ihrer bedrohenden Mächte beraubt werden. Aber erst bei Vergewaltigungen und anderen Formen sexualisierter Gewalt entfalten diese Mechanismen ihre destruktiven Wirkungen. Es handelt sich hierbei um einen Realitätsbruch, bei dem das eigene Begehren, das sich in körperlichen Erregungen manifestiert, nicht mehr als der eigenen Person zugehörig erlebt wird und damit die ohnehin fragile Konstruktion von Männlichkeit zu zerstören droht. In dieser Perspektive sind das »Sexuelle« als libidinöse Besetzung des Objekts und die »Sexualität« als gesellschaftliche Normierung des Begehrens dialektisch aufeinander bezogen.254 Praktiken, Versuche und/oder Prozesse, die Sexualität in einen verdinglichten und entfremdeten Funktionszusammenhang zu zwängen und das biologische Genital in ein symbolisches System aufzunehmen, werden relativ oft in literarischen Texten aufgegriffen, in denen das Problem sexualisierter – oft im Kontext politischer (Gewalt)Systeme ausgeübter – Gewalt im Fokus steht. An den Situationen, in die literarische Figuren eingebunden werden, wird veranschaulicht, dass während des Krieges oder unter kriegsähnlichen Umständen die Ausübung sexueller Gewalt zu einem gesellschaftlich stärker akzeptierten Merkmal der (militärischen) Männlichkeit mutiert. Der militärische Nationalismus erlaubt den Männern nicht nur, gewalttätig zu sein, sondern verpflichtet sie vielmehr dazu. Die Männer, die sich in militärischen Gesellschaften der Gewalt enthalten, geraten unter Verdacht, ihre Loyalität zum Staat oder zur Nation sowie ihre Loyalität in Bezug auf heterosexuelle Männlichkeit nicht aufzubringen.255 Mit Susan Brownmiller könnte man diesen Umstand auf die These zuspitzen, dass der Krieg den Männern einen perfekten psychologischen Freibrief liefert, ihrer Verachtung für Frauen Luft zu machen. Die Männlichkeit des Militärs – die brutale Waffengewalt, das geistige Band zwischen Mann und Waffe, die männliche Disziplin des Befehlens und Durchführens von Befehlen, die simple Logik der hierarchisch geordneten Befehlsgewalt – bekräftigt die männliche Überzeugung, dass Frauen nur unerhebliche Nebensache in einer Welt sind, in der es auf Dinge ankommt, nur passive Zuschauer des Geschehens im inneren Kreis.256 Daraus folgt, dass das Phänomen sexualisierter Gewalt, die verschiedene Formen annehmen und in verschiedenen Kontexten und Konstellationen ausgeübt werden kann, in Ungleichheit, Diskriminierung, Frauenfeindlichkeit sowie in der gesellschaftlichen Verankerung pa254 Vgl. ebd. 255 Vgl. Alison: Sexuelle Gewalt in Zeiten des Krieges. 2008, S. 41. 256 Brownmiller: Gegen unseren Willen. 1980, S. 39.
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triarchaler und sexueller Mythen begründet liegt. Den Geschlechtern werden in diesem kulturell bedingten Schema feste Rollen zugeschrieben: Das Gewalt- und Sexobjekt ist grundsätzlich weiblich und es wird von einem männlichen Standpunkt aus begehrt, verabscheut und geschändet, instrumentalisiert und kommentiert. Von dieser Rollenzuschreibung sind auch literarische Welten geprägt, in denen sexualisierte Gewalt als (Haupt)Motiv auftaucht. Die auf die Bühne gebrachten weiblichen Figuren widersetzen sich dem androzentrischen Duktus kaum, weil sie entweder Angst haben, sich in Notsituationen befinden oder – aus welchem Grund auch immer – nach der Vollkommenheit einer Existenz als Objekt streben. Der auf seine Sexualität verdinglichte weibliche Körper tritt dabei nicht nur als junge, schöne und makellose Geliebte oder Ehefrau in Erscheinung, sondern er manifestiert sich auch im antagonistischen Bild der Dirne, die häufig mit den Metaphern des Animalischen charakterisiert wird. Da die Prostitution, wenn sie per definitionem in systematischer, regulierter Form auftritt, prinzipiell weiblich ist, steht sie nicht nur im Zeichen einer geschlechtlichen Differenz, sondern sie verleiht dem Geschlechterunterschied zugleich seine spezifische Form. Auch das Vokabular, mit dem sie erörtert wird, zeigt an, das sich stets ein bestimmtes Geschlecht unter Kontrolle befindet. Die Bezeichnungen, die (auch in literarischen Texten) im Kontext der Prostitution verwendet werden – Dirne, Hure, Freudenmädchen, Lustmädchen, Animiermädchen, Schöne vom Fach etc. – haben kein männliches Äquivalent.257 Wenn also die Prostitution als ein Stigma – so Dietmar Schmidt –, das keine andere Existenz mehr zulässt, ausschließlich Frauen betrifft, so wird gleichsam das ganze weibliche Geschlecht von der Kontrolle kontaminiert: Es entsteht in der Gefahrenzone der Einschreibung, in der sich das männliche Geschlecht als Subjekt der Kontrolle zu positionieren vermag. »Es sieht sich in den Szenarien der Prostitution als Urheber der Einschreibung autorisiert.«258 Diese sich deutlich unterscheidenden geschlechtlichen Positionierungen in der Rolle des kontrollierenden männlichen Subjekts und des kontrollierten weiblichen Objekts werden demzufolge als Manifestation kultureller Kodierungen und Symbolisierungen erkennbar: »Sie konstituiert sich unter der Wirksamkeit der Einschreibung als Unterschied von Ermächtigung und Determination.«259 Die Prostituiertenfiguren bieten geradezu eine ideale Projektionsfläche für kulturelle 257 Vgl. Schmidt, Dietmar: Geschlecht unter Kontrolle. Prostitution und moderne Literatur. Freiburg im Breisgau: Rombach Litterae 1998, S. 15. Es wird zwar zwischen einer weiblichen und einer männlichen Prostitution unterschieden, jedoch nur, um sogleich zu ergänzen, dass die erstere im allgemeinen den Verkehr mit dem anderen Geschlecht, die letztere dagegen mit dem eigenen ausübt. Zur männlichen Prostitution sind in Fachlexikonen lediglich zwei Verweise auf die Stichworte »Homosexualität« und »Päderastie« zu finden. Die sogenannte männliche Prostitution wird also nicht unter dem Begriff Prostitution, sondern unter anderen Rubriken subsumiert: Sie ist eine Perversion (vgl. ebd.). 258 Ebd., S. 15f. 259 Ebd., S. 16.
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Symbolisierungen des Weiblichen, die literarisch in die Inszenierung nicht nur der »hungrigen«, sondern auch gequälten Körperlichkeit münden und sich somit in spezifischen Praktiken der Wahrnehmung und der Zirkulation situieren. Exemplarisch dafür stehen die Texte Rücken an Rücken von Julia Franck, Der Alpdruck von Hans Fallada und Du sollst nicht töten von Hans Werner Richter, in denen die Prostitution nicht nur unterschiedliche Dimensionen annimmt, sondern auch in verschiedenen Kontexten und Beziehungskonstellationen sowie mit unterschiedlicher Intensität verhandelt wird. Bei der Auseinandersetzung mit dem literarischen Prostitutionsgeschehen soll demzufolge der Frage nach der (Kon)Textualisierung und ästhetischer Konstruktion der Prostitution nachgegangen werden. In den Mittelpunkt geraten mithin nicht nur narrative Techniken, mit denen der Prostitution und den Prostituiertenfiguren Gestalt gegeben wird, sondern auch die Schauplätze der Prostitution, die ins Zentrum der Problematik einer diskursiven Verknüpfung von Raum und Prostitution führen. In diesem Zusammenhang ist auch danach zu fragen, inwiefern politische (Gewalt)Systeme die Prostitutionsaktivitäten fördern bzw. neue Formen von Prostitution hervorbringen sowie auf welche Weise die Rede über die Prostitution dem weiblichen Geschlecht Bedeutung verleiht oder ihm die Bedeutung entzieht. Im Roman Du sollst nicht töten von Hans Werner Richter, dessen Handlung sich während des Zweiten Weltkriegs abspielt, erfolgt die Verhandlung des (Frauen)Körpers als Tauschobjekt im Kontext der Militärprostitution, so dass die von ihm entworfenen Prostitutionsaktivitäten den engen Zusammenhang von Krieg und Geschlecht entblößen. Zwischen den Zeilen wird auf die strategische Wirkung sexualisierter Kriegsgewalt verwiesen, die in ihrer Symbolik darauf abzielt, Frauen zur »lebendigen« Kriegsbeute zu machen und sie strukturellen sexuellen Übergriffen der Besatzungsarmee auszuliefern.260 Das Problem der militärischen Institutionalisierung von Zwangsprostitution und sexueller Versklavung von Frauen im Kontext männlich-soldatischer Nachfrage nach Sex veranschaulicht Richter am Beispiel der Armee- bzw. Feldbordelle, die von seinen Soldatenfiguren regelmäßig besucht werden. Sie erhalten einen leichten und billigen Zugang zu prostituierten Frauen ausländischer Herkunft, ohne dass die Art und Weise der Rekrutierung von weiblichen Figuren und ihre Unterbringung in Bordellgebieten thematisiert wird. Ausgespart bleibt auch die Beteiligung von Regierung und Militärkommandos bei der Einrichtung und Kontrolle der militärischen Sexindustrie. In Richters literarischem Prostitutionsdiskurs fällt dagegen das Konzept der »militärischen Männlichkeit«261 ins Auge, das – durch den 260 Vgl. Gerheim, Udo: Die Produktion des Freiers. Macht im Feld der Prostitution. Eine soziologische Studie. Bielefeld: transcript Verlag 2012, S. 96. 261 Morris, Madeline: By Force of Arms: Rape, War, and Military Culture. In: »Duke Law Journal«, Vol. 45, February 1996, Number 4, S. 651–781.
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Krieg diktiert – spezifische Wahrnehmungsarten produziert und vergeschlechtlichte (Gewalt)Mechanismen in Gang setzt. Mit dem Konzept der militärischen Männlichkeit wird u. a. begründet, warum Frauen der feindlichen Gruppe sexuelle Gewalt erfahren. Die Soldaten werden von den militärischen Führungskräften davon überzeugt, dass ›ein richtiger Mann‹ der militärisch definierten Männlichkeit gerecht werden muss, um das Gemeinschaftsgefühl herzustellen und es auch immer wieder aktualisieren zu können. In der Folge realisieren die Soldaten die Unterdrückung des Gegners über eine extrem vergeschlechtlichte Vorstellung von Dominanz und setzen insbesondere sexuelle Gewalt gegen feindliche Bevölkerungsgruppen ein.262 In Erklärungsmustern, die in Du sollst nicht töten durchschimmern, wird sexuelle Gewalt im Krieg sowohl als Mittel zur individuellen Befriedigung als auch als Nebenprodukt eines vermeintlich notwenigen militärischen Trainings dargestellt. Auch wenn die Kriegsprostitution eher am Rande thematisiert wird, gelingt es Richter aufzuzeigen, in welchem analytischen Rahmen Frauen als Prostituierte und Männer als Prostitutionskunden innerhalb kriegerischer Auseinandersetzungen positioniert werden bzw. zu positionieren sind. Das von ihm inszenierte Sex-Geschehen entblößt die Binnenstruktur der Militärprostitution, die in erster Linie darauf gerichtet ist, die Kampfmoral der Soldaten zu konsolidieren und zu steigern. Der regulierte Zugang zu Geschlechtsverkehr in Feldbordellen hat somit zum Ziel, den emotionalen Krisen- und Ausnahmezustand beherrschbar zu machen. Hierdurch sollen Desertion, unkontrollierte (sexuelle) Feindkontakte, die Ansteckung der Soldaten mit Geschlechtskrankheiten, die psychische Dekompensation und der Verlust der Kampfmoral verhindert sowie die Hetero-Maskulinität unter Beweis gestellt werden.263 In Richters Roman ist es eine Polin – aufgrund schielender Augen »Silberblick« genannt –, die in der Grenzaufsichtsstelle Glodowka in der Hohen Tatra den zum Zollgrenzschutz abgestellten deutschen Soldaten ihren Körper anbietet und sichtlich darum bemüht ist, den Erwartungen und Wünschen deutscher Soldaten gerecht zu werden. Die Einseitigkeit der Darstellung von Prostitutionsaktivitäten und -akteure, die durch männliche Perspektivenführung geprägt ist, hindert Silberblick daran, eigenen Diskurs zu kreieren, der ihr Prostituiertendasein in einen kausalen Zusammenhang einbetten und ihm somit schärfere Konturen verleihen würde. Ihre Entwertung kommt einerseits durch die ihr zugewiesene Rolle als fügiges Sexobjekt zustande, andererseits manifestiert sie sich in der Beschreibung des weiblichen Äußeren, das einen schäbigen Eindruck vermittelt: »Gerhard sah […] auf die Beine der bedienenden 262 Wood, Elisabeth Jean: Sexuelle Gewalt im Krieg. Zum Verständnis unterschiedlicher Formen. In: Krieg und Geschlecht. Sexuelle Gewalt im Krieg und Sex-Zwangsarbeit in NS-Konzentrationslagern. Hg. von Insa Eschebach/Regina Mühlhäuser. Berlin: Metropol Verlag 2008, S. 75–101, hier S. 92. 263 Vgl. Gerheim: Die Produktion des Freiers. Macht im Feld der Prostitution. 2012, S. 97.
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Polin, auf ihre Seidenstrümpfe, die überall Laufmaschen hatten, und auf ihre gewölbten Knie.«264 Der Anblick der weiblichen Reize erweist sich aber als verführerisch genug, um das soldatische Interesse an Sex aufrechtzuerhalten. Das Verhalten der polnischen Prostituierten, die betrunken und lachend den Forderungen und Wünschen der Soldaten folgt und Gefallen daran zu finden scheint, begrapscht und von Mann zu Mann weitergegeben zu werden, soll den sexuellen Kriegsaktivitäten den Charakter freiwilliger Prostitution verleihen. Die scheinbare Freiwilligkeit der körperlichen Verfügbarkeit gerät jedoch spätestens in dem Moment ins Wanken, als von dem Postenführer folgende Frage formuliert wird: »Paß auf, Silberblick. Mit wem von diesen Jungs hast du noch nicht im Bett gelegen?«265 Die Antwort der Polin, in dem zur Verteidigung des Postens abkommandierten Schutztrupp gäbe es nur zwei Soldaten, die die Polin (noch) nicht bedient habe, eröffnet eine Perspektive militärischer Sexualversklavung, die Formen direkter und struktureller Gewalt inkludiert. In Richters Prostitutionsnarrativ fungiert Silberblick aber als ein Freudenmädchen, dessen Rolle weder kritisch hinterfragt noch in kontextuelle Zusammenhänge mit den dahinterstehenden Zwängen und Gewaltmaßnahmen eingebettet wird. Hervorgehoben wird dagegen militärische Hierarchie, die auch bei der (Aus)Nutzung des weiblichen Körpers eingehalten wird. So ist der Postenführer aufgrund seines Ranges derjenige, der Silberblick nicht nur herumkommandiert, sondern sie auch als erster beansprucht, während die ihm unterstellten Soldaten seiner Leistung Respekt zollen und warten, bis sie dabei sind, den weiblichen Körper zu erkunden. Diese Situation deckt sich mit Erkenntnissen der geschlechtsspezifischen Kriegsforschung, die der Verknüpfung von Staatsmacht, (sexualisierter) Gewalt und Geschlecht ein spezielles Augenmerk entgegenbringt: In der lebensbedrohlichen Situation des Krieges, in der Männer extrem voneinander abhängig und aufeinander angewiesen zu sein glauben, bestätigen sie so ihren untrennbaren Bund und die Verlässlichkeit seiner Hierarchien. Mit einer Mischung aus Lust und Zerstörungsbereitschaft treffen sich die Männer nacheinander (oder gleichzeitig) im Körper einer Frau – bei Richter ist es der Körper der polnischen Kriegsprostituierten. In diesem Prozess reaffirmieren sie nicht nur ihre Männlichkeit und ihre sexuelle Potenz, sondern sie erhalten auch das einigende Gefühl der Kollektivität und Kameradschaft aufrecht.266 Die dadurch erzeugte Loyalität mit vergeschlechtlichten Verhaltensmustern gehört zum akzeptierten Normengefüge der Kriegführung und verstärkt die antrainierte mili264 Richter, Hans Werner: Du sollst nicht töten. Berlin: Ullstein 1962, S. 55. 265 Ebd. 266 Vgl. Mühlhäuser, Regina: Handlungsräume. Sexuelle Gewalt durch Wehrmacht und SS in den besetzten Gebieten der Sowjetunion 1941–1945. In: Krieg und Geschlecht. Sexuelle Gewalt im Krieg und Sex-Zwangsarbeit in NS-Konzentrationslagern. Hg. von Insa Eschebach/Regina Mühlhäuser. Berlin: Metropol Verlag 2008, S. 168–185, hier S. 175.
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tärische Männlichkeit, die das Gefühl der Verlässlichkeit vermitteln und immer wieder unter Beweis gestellt werden muss. Daher ist der Postenführer auch derjenige, der Silberblick dazu zwingt, denjenigen zu identifizieren, der in den Genuss des Beischlafs mit dem Freudenmädchen noch nicht gekommen ist: »Mit dem da, sagte die Polin. Ihre ausgestreckte Hand wies auf Gerhard, und Gerhard wurde verlegen und ärgerte sich.«267 Mit dem Frage-Antwort-Ritual wird ein neuer Zwang erzeugt, von dem sowohl die Polin als auch die Verweigerer betroffen sind. Gerhard, der als einer der wenigen Silberblicks Körper noch nicht in Anspruch genommen hat, gerät aufgrund der Denunziation durch die Polin in Verlegenheit und Wut, weil seine sexuelle Handlungspassivität ihn nicht nur als unzuverlässig einstufen lässt, sondern vielmehr seine militärische Geschlechtsidentität in Frage stellt. Die Kontrollfragen des Postenführers entlarven die Prostitution als einen hoch ideologisierten Lebensbereich, der vom NS-Staat umfassend reguliert, kontrolliert und restriktiv reglementiert wird. Sie wird gezielt eingesetzt, um die Wehrmachtsangehörigen moralisch aufzurüsten, ihren Glauben an den Endsieg zu stärken, der Homosexualität Einhalt zu gebieten und somit das ultimative Ideal von (militärischer) Männlichkeit zu konstituieren. Es ist also nicht verwunderlich, dass Gerhard in Verlegenheit und Wut gerät, als Silberblick – animiert durch den Postenführer – ihren Zeigefinger in einem verlangsamten Tempo auf seine Person richtet. Mit seinem Zögern, den Körper der Polin zu penetrieren, wird nicht nur seine Loyalität zum Staat bzw. zu seiner Truppe, sondern auch seine Hetero-Maskulinität in Frage gestellt. Der von deutschen Soldaten massenweise beanspruchte Körper der Polin stellt jedoch nicht nur ein Genuss- und Befriedigungsmittel oder einen Beweis für die Einhaltung des heteronormativen Richtlinien dar. Er fungiert vielmehr als ein symbolisches Feld, auf dem die Kommunikation zwischen hegemonialen und untergeordneten Männlichkeiten stattfindet. Aufgrund ihrer Rolle als biologische Reproduzentinnen des Kollektivs und als Repräsentantinnen des ethnischnationalen Unterschieds sind Frauen ein nahe liegendes Ziel bei dem Versuch, das feindliche Kollektiv zu beherrschen oder zu zerstören.268 So stellt auch Silberblicks Körper »symbolische Repräsentation des Volkskörpers«269 und seine Eroberung die symbolische Eroberung des Körpers der von ihr repräsentierten Gemeinschaft dar. Die Existenz der Prostituiertenfiguren sowie die Symbolik ihres Körpers sorgen dafür, dass der männliche Kriegsraum auf eine spezifische Art und Weise markiert und zugleich aufgelöst wird – ein Umstand, der von Richters Protagonisten Jürgen wie folgt reflektiert wird: 267 Richter: Du sollst nicht töten. 1962, S. 55. 268 Vgl. Mühlhäuser: Handlungsräume. 2008, S. 41f. 269 Seifert, Ruth: Krieg und Vergewaltigung. Ansätze zu einer Analyse. In: Massenvergewaltigung. Krieg gegen die Frauen. Hg. von Alexandra Stiglmayer. Frankfurt am. M.: Fischer Verlag 1993, S. 87–113, hier S. 101.
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Er ließ sich auf den Rücken fallen und starrte in den nächtlichen Himmel. Feldwebel Knurr sprach von dem Thema, das sie das Thema Nummer eins nannten. Frauen in Frankreich, Frauen in Polen, Frauen in Rußland – aber es waren immer nur jene Frauen, die sie in den Bordellen antrafen und selten andere.270
Seinem Gedankengang ist zu entnehmen, dass die Figuren der Prostituierten den männlichen Kriegsraum einerseits zu einem Erinnerungsraum werden lassen, indem sie sich seiner als »Thema Nummer eins« bemächtigen. Andererseits aber wird dieser Erinnerungsraum nicht nur durch ihr unverhofftes Auftauchen und ihr ebenso plötzliches Verschwinden, sondern vielmehr durch ihre Andersnationalität als eine reduktionistische Erscheinung skandiert. Die männliche Figur namens Jürgen schränkt nämlich den andersnationalen Frauenkörper, seine soziale Repräsentanz und Verfügbarkeit auf die Existenz in Bordellen ein. Es sind eben immer nur jene Frauen – in Frankreich, Polen, Russland – und selten andere. Der reduktionistische Darstellungsmodus des andersnationalen Frauenkörpers lässt sich als eine der Implikationen des Kriegsgeschehens deuten, in dem Frauen zum asymmetrischen Kräfteverhältnis gehören und zu Schauplätzen des eroberten Territoriums werden. Die Nutzung der Prostitution in ihren vielen Formen und an vielen Kampforten – um Soldaten zu maskulinisieren, sie zu trösten, sie zu unterhalten, sie aufzurichten, ihre militärische Aggression und das Gefühl des Sieges aufrechtzuerhalten – durchzieht das männliche Kriegsschicksal, in dem die Prostituiertenfiguren als unbestimmbare Existenzen den historisch spezifischen Wahrnehmungstechniken unterworfen sind. Im angebotenen Männerblick des deutschen Soldaten erscheinen andersnationale Frauen immer in ihrer Anonymität, so dass geschlechterdifferente Erfahrungen und Perspektiven ausgeblendet werden. Zugunsten einer »Verständlichkeit« und »Anschaulichkeit« werden stattdessen tradierte, mythische Weiblichkeitsbilder aus jenem »Stereotypenrepertoire« wachgerufen, das Teil des sozialen Gedächtnisses der militärischen Kultur ist.271 Es ist demnach von Frauen in Frankreich, Polen und Russland die Rede, von sich prostituierenden Frauen ohne Eigenschaften, die trotz ihrer narrativen Unschärfe den militärischen Erinnerungsraum dermaßen prägen, dass die kriegsbezogene Wahrnehmung des männlichen Subjekts durch die Dominanz des Prostituiertenkörpers zunehmend erodiert. Der militärische Kontext von Prostitutionsaktivitäten kommt auch in Alpdruck von Hans Fallada zur Geltung, wenn auch sich die Handlung in diesem Fall in Berlin der Nachkriegsjahre – in der von amerikanischen Soldaten kontrol270 Richter: Du sollst nicht töten. 1962, S. 151. 271 Vgl. Wenk, Silke/Eschebach, Insa: Soziales Gedächtnis und Geschlechterdifferenz. Eine Einführung. In: Gedächtnis und Geschlecht. Deutungsmuster in Darstellungen des nationalsozialistischen Genozids. Hg. von Insa Eschebach/Sigrid Jacobeit/Silke Wenk. FrankfurtNew York: Campus 2002, S. 13–38, hier S. 24.
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lierten Stadtzone – abspielt. Obwohl das Prostitutionsgeschehen – veranschaulicht am Beispiel der weiblichen Figur Alma Doll – einem durchaus impliziten Darstellungsmodus unterliegt und eher in Form von Anspielungen und Andeutungen zur Sprache kommt, werden die geschlechtlichen Positionierungen im Tauschhandel deutlich genug hervorgehoben. Stärker als bei Richter tritt hier die ökonomische Struktur der Geschlechterdifferenz in den Vordergrund, so dass der Prostitutionsdiskurs nicht nur durch die militärische Männlichkeit, sondern auch durch das Verhältnis des männlichen Subjekts zu materiellen Ressourcen geprägt ist. Bei Fallada ist es der ›nationale‹ Frauenkörper, der sich in den sexuellen Dienst der amerikanischen Soldaten stellt, um Morphium, Schlafmittel, Alkohol oder Zigaretten zu besorgen: Ein Uhr [in der Nacht – A.Sz.] – gleich hatte sie wieder zurück sein wollen, und nun war schon eine ganze Stunde vergangen! […] Später merkte er, daß sie sich wieder zu ihm auf die Couch legte. Sie war in bester Stimmung. Ja, eine Patrouille hat sie festgehalten, aber das waren Kavaliere gewesen. […] »Sieh, und hier sind sogar ein paar Zigaretten. Einer von der Patrouille hat sie mir geschenkt. Laß sehen, acht, zehn, zwölf Stück – ist das nicht anständig – ?« […] Nicht so! wollte Doll protestieren. So geht alles einen falschen Weg. […] Aber er sagte nichts.272
Da Alma und ihr Mann alkohol- und drogensüchtig und die wirtschaftlichen Verhältnisse in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg miserabel sind, bietet die Sexarbeit eine Nische, an begehrte Güter zu kommen. Während Teile der Berliner Zivilbevölkerung Armut und Hunger leiden müssen, verfügen die amerikanischen Soldaten über eine geradezu verschwenderische Kaufkraft, so dass sie bereit sind, Alma – in Erwartung sexueller Gegenleistungen – die von ihr begehrten Rauschmittel zu schenken. Obwohl Alma als eine Figur konzipiert wird, die zur Finanzierung ihrer Sucht – insbesondere der Betäubungsmittelsucht – der Prostitution nachgeht und somit den Status einer ›Rauschmittelprostituierten‹ zugeschrieben bekommt, fungiert ihr Körper als Sinnträger, der vielfältige Botschaften transportiert und sich somit dieser eindeutigen Zuschreibung entzieht. In diesem Tauschgeschäft gewinnt der Frauenkörper nicht nur als Ware oder Zahlungsmittel an Bedeutung, sondern er symbolisiert auch ein erobertes Territorium, auf dem die Kommunikation zwischen hegemonialen und untergeordneten Männlichkeiten stattfindet. Mit der Inanspruchnahme des weiblichen »Volkskörpers«273 wird einerseits ein erhabenes Gefühl gegenüber dem Kriegsverlierer entwickelt, der zusätzlich dadurch gedemütigt wird, dass seine Frauen zu Prostituierten gemacht werden. Die sexuelle Eroberung und Versklavung der Frauen des Feindes erscheint in dieser Perspektive als »Beloh-
272 Fallada, Hans: Der Trinker/Der Alpdruck. Berlin, Weimar: Aufbau Verlag 1987, S. 396f. 273 Alison: Sexuelle Gewalt in Zeiten des Kriegs. 2008, S. 42.
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nung für und Kriegsbeute nach dem militärischen Erfolg.«274 Andererseits ermöglicht ein so konzipierter Prostitutionsvorgang den amerikanischen Besatzern, ihre »Hetero-Nationalität«275 unter Beweis zu stellen – eine anders geartete und überlegene Identität im Vergleich zu der des Besiegten, dessen nationale Identität durch die sexuelle Inanspruchnahme des ›nationalen‹ Frauenkörpers erneut in eine unterlegene Position gezwungen wird. Nichtsdestotrotz beruhen diese Botschaften auf vorherrschenden geschlechtsspezifischen Stereotypen, nach denen »Männer als verletzungsmächtige Kombattanten und Frauen als verletzungsoffene Opfer«276 gelten. Die Frage, warum Rauschmittel und Prostitution zu einem zentralen Element in Almas Berlin-Existenz aufsteigen, wird in Falladas Roman marginalisiert, so dass mögliche Kausalzusammenhänge zu den Unbestimmtheitsstellen des Textes gehören und im Laufe der Lektüre – aufgrund von vagen textinternen Signalen – ›konkretisiert‹ werden müssen. Implizit wird darauf hingewiesen, dass sie von ihr als Option gewählt werden, mit psychischen Belastungen fertig zu werden und/oder ihren Bedürfnissen nach Freiräumen und alternativen Lebenskonzepten das Wort zu reden. In ihrer kleinstädtischen Lebensphase ist Alma darauf fixiert, ihrem Ehemann durch perfekte Haushaltsführung den Rücken freizuhalten und ihm durch ihr Verständnis für sein öffentliches Wirken eine emotionale Stütze zu sein. Die Schaffung eines eigenen Lebensbereichs ist nicht nur erwünscht, sondern auch nicht möglich, weil Alma sich ganz an dem Ich ihres Mannes orientiert und ihre Rolle mit Demut und Elan erfüllt. Während Doll seiner Funktion als Bürgermeister nachgeht und sich so zwischen zwei gesellschaftlichen Bereichen bewegt, verbringt Alma ihr Leben im familiären Funktionssystem. Von ihrer Inklusion in andere Funktionssysteme kann kaum gesprochen werden, weil ihre Partizipation am öffentlichen Leben nur von Aktivitäten ihres Ehemannes abgeleitet wird. So ist der eheliche Kommunikationsprozess in der Kleinstadt durch die Autonomie der Intimbeziehung und eine intern institutionalisierte Geschlechterrollendifferenz gekennzeichnet, die der Seite des Mannes alle relevanten Außenbeziehungen und öffentliche Funktionen zuschreibt. Im Unterschied zu dieser Ehephilosophie bringt das eheliche Leben in der Großstadt eine Relativierung des bis dahin zentralen Wertgesichtspunktes der Exklusivität, indem Almas Freiheitsansprüche in Form von außerehelichen Kontakten nicht nur zugelassen und geduldet, sondern vielmehr zur Verhaltensnorm werden. Im Anschluss an Dietmar Schmidt ist festzustellen, dass der Umzug nach Berlin und der damit verbundene Lebenswandel einerseits dafür sorgen, dass Doll als nun urbanes männliches Subjekt im Kurzschluss nervöser Reaktion und Hilflosigkeit sich selbst zu verlieren droht, 274 Mühlhäuser: Handlungsräume. 2008, S. 167–185. 275 Alison: Sexuelle Gewalt in Zeiten des Kriegs. 2008, S. 43. 276 Mühlhäuser: Handlungsräume. 2008, S. 177.
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andererseits aber gewinnen seine Affekte in den urbanen Prostitutionsaktivitäten seiner Frau eine bestimmte Figur. Sie werden zu einer Schrift der Metropole, die die Stadt für das männliche Subjekt in rauschhaften (Selbst)Verlusten zum Schauplatz seines Unbewussten werden lässt und ihm einen Rollenwechsel aufzwingt.277 Durch die bewusste Teilhabe an den von Alma unter dem Einsatz ihres Körpers ergatterten Rausch- und Genussmitteln wird er einerseits in der Zuhälter-Rolle positioniert und generiert mit dieser Perspektive eine besondere Tauschmodalität. Dolls städtische Existenz, die durch die Prostitution seiner Frau geprägt ist, erweist sich zwar als Ereignisraum eines Verlustes, weil das in der Ehe geltende Exklusivitätsrecht als Sexualpartner in der Großstadt nicht mehr greift. Andererseits aber verwandelt sich dieser Verlust in regelmäßigen Zeitabständen zu einem Genuss, der weit über die Partizipation an Almas Beutegut hinausgeht und einen Rollenwechsel notwendig macht. In der Zeit, in der Alma – unter schweren Entzugserscheinungen leidend – nicht imstande ist, Rausch- und Genussmittel selbst zu besorgen, wird Doll zum Freier seiner eigenen Frau. Für eine Morphiumspritze, die von Almas zivilen Kunden – einem Arzt oder einem Apotheker – mitten in der Nacht ergattert wird, erkauft er sich Almas Körper, der ihm unter anderen Umständen vorenthalten bleibt. Obwohl Doll sich dessen bewusst ist, dass das Bedürfnis seiner Frau nach narkotisierenden Spritzen immer größer wird und er diesen Umstand als Last empfindet, bewegt ihn Almas Versprechen, seine erotischen Wünsche zu erfüllen, immer wieder zum Einlenken. Die Oberhand gewinnen in solchen Situationen seine körperlichen Interessen, die durch die Erfahrung intensiviert werden, dass die ergatterte Morphiumspritze Almas Dankbarkeit in die ihrem Mann zeitweilig entgegengebrachte sexuelle Zuneigung verwandeln lässt und ihn als Sexualpartner wieder ins Spiel bringt. Die temporäre Unzulänglichkeit seiner Frau initiiert auf diese Weise eine Serie von Aufträgen, die Doll ohne größere Bedenken in Anspruch nimmt, weil mit der Ausführung des Auftrags die Intimität in die Ehe zurückkehrt. In der Vitalitätsphase wird nämlich Almas sexuelle Energie in außerehelichen – militärischen und zivilen – Kontakten aufgewendet. Die ökonomische Struktur, nach der das städtische Eheverhältnis neu geregelt wird, bringt einen Sonderfall all jener vielfältigen Tauschformen hervor, die sowohl materielle Güter als auch Rechte, Rollen und Personen umfasst und den Übergang von Natur zu Kultur markiert.278 Sowohl in ehelichen als auch in außerehelichen Kontakten tauscht Alma ihren Körper gegen materielle Güter. Ihr Mann tauscht dagegen sein Exklusivitätsrecht als Sexualpartner gegen die Güter, die seine Frau durch die Prostitution erwirbt und besiegelt damit seinen Zuhälterstatus. Gleichzeitig er277 Vgl. Schmidt: Geschlecht unter Kontrolle. 1998, S. 17. 278 Vgl. Lévi-Strauss, Claude: Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1981, S. 187.
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wirbt er aber selber Rauschmittel, ohne die Alma nicht auskommen kann, um sie dann gegen ihren Körper zu tauschen und damit die Reihen der sexuellen Kundschaft seiner Frau zu stärken. Damit wird Alma in einem differentiell bestimmten Zeichensystem positioniert, das durch die männlichen Akteure des Tausches hervorgebracht wird und eine egalitäre Partnerschaft zwischen männlichen Subjekten stiftet279, auch wenn sie im politischen Kontext hegemoniale und untergeordnete Männlichkeiten repräsentieren. Diese Partnerschaft manifestiert sich aber nicht nur in der regelmäßigen und abwechselnden Inanspruchnahme von Almas sexuellen Dienstleistungen und in der Verfügung über materielle Ressourcen, sondern auch in expliziten Schuldzuweisungen und Verurteilungen, die das Bild einer dämonischen Weiblichkeit bekräftigen und geschlechtliche Normierungen und Normalisierungen untermauern. Es wird nämlich Alma zur Last gelegt, ihren Mann mit dem ›Suchtvirus‹ infiziert und seine Karriere als Schriftsteller aufs Spiel gesetzt zu haben. Durch einen extrem impliziten Darstellungsmodus ist auch das Prostitutionsgeschehen im Roman Rücken an Rücken von Julia Franck gekennzeichnet, dessen Handlung sich in der SED-Diktatur abspielt. Sexuelle Gewaltaktivitäten, denen die Protagonistin Marie in ihrem Alltag ausgesetzt ist, sind in den ehelichen Kontext eingebunden, so dass es in diesem Fall der Ehemann ist, der den Prostitutionsvorgang nicht nur organisiert, sondern auch von ihm finanziell profitiert: Mein Mann trinkt gern. Und er hat Freunde, Arbeitskollegen, mit denen er am Wochenende zusammen ist. Er lädt sie zu uns ein. Und bevor die Kleine da war, und jetzt, wenn sie am Wochenende weg ist, dann soll ich tanzen. […] Mich ausziehen und tanzen. […] Einfach tanzen? Manchmal auch mehr. Mehr? Sie geben ihm Geld dafür.280
Maries Ehe- und Familienalltag ist durch einen Gewaltrhythmus geprägt, der ihre Bewegungs- und Entscheidungsfreiheit limitiert und sie zum Privateigentum ihres Mannes degradiert. Ihr Recht auf freie Entfaltung ihrer Persönlichkeit und sexuelle Selbstbestimmung wird von ihm im wörtlichen Sinne mit Füßen getreten, so dass sie – getrieben von Angst und Unsicherheit – bemüht ist, seinen (perversen) Erwartungen gerecht zu werden. Maries Ehemann hat für sie im gemeinsamen Eheleben mehrere Funktionen vorgesehen, die einerseits der Beschwichtigung seiner affektiven Zustände dienen und sie andererseits zum Tausch- und Handelsobjekt degradieren. Marie gilt im ehelichen Kommunika279 Ebd. 280 Franck, Julia: Rücken an Rücken. Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch Verlag 2013, S. 297.
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tionsprozess nicht nur als Prügelsack, an dem er seine Wut, Unzufriedenheit, Verdrossenheit und seinen Frust abzureagieren pflegt, sondern mit ihrem jungen und attraktiven Körper wird vielmehr eine ergiebige Einkommens- und Spaßquelle erschlossen. Anders als bei Richter und Fallada stehen hier sexueller Verkehr und Geldverkehr zueinander in einem deutlichen Substitutions- und Supplementierungsverhältnis. Maries junger Körper wird von ihrem oft alkoholisierten Mann als Konsumobjekt genutzt und sie als Ehefrau mit der Ware gleichgesetzt, deren man sich nach Lust und Laune bedienen und von der man profitieren kann. Insbesondere an Wochenenden, wenn die kleine Tochter bei ihren Großeltern zu Besuch ist, wird das gemeinsame Haus in einen ›Nachtclub‹ verwandelt, in dem sich Freunde und Arbeitskollegen des Ehemannes versammeln, um Alkohol zu trinken, Spaß zu haben und ihre libidinöse Energie loszuwerden. Marie wird bei solchen Treffen gezwungen, sich auszuziehen, vor dem berauschten männlichen Freier-Publikum zu tanzen und unter Aufsicht ihres Mannes sexuelle Dienste zu erweisen.281 Durch die über die Prostitution definierten Macht- und Gewaltverhältnisse wird nicht nur eine geschlechtliche Markierung, sondern auch Maries Stigmatisierung als ›Gelegenheitsprostituierte‹ vollzogen. Der überzogene Machtanspruch des Ehemannes sowie sein unstillbares Bedürfnis nach Machtdemonstration machen ihn zum Verwalter von Maries Körper, den er versklavt, sexuell ausbeutet und über ihn – unter Gewaltanwendung oder Gewaltandrohung – nach Belieben verfügt. Obwohl Marie in ein spezifisches Prostitutionsszenario eingebunden ist, weil sie von einem Partner misshandelt wird, mit dem sie freiwillig eine Beziehung eingegangen ist und sich gezwungen sieht, in dieser Beziehung trotz der Gewalt weiterhin zu verharren, gilt ihr Körper – ähnlich wie der Körper von Silberblick und Alma – als ein Territorium, auf dem nicht nur geschlechtliche Machtverhältnisse geregelt, sondern auch Botschaften innerhalb männlicher (Gewalt)Kultur vermittelt werden. Als Ehefrau wird sie von ihrem eigenen Ehemann zur Prostitution angehalten und auf diese Weise mit dem Stigma der Käuflichkeit belegt. So fungiert sie als phantasmatisch verlebendigte Form der Währung, als wertloses Fleisch, das in den Verschwendungen des männlichen Subjekts reanimiert werden kann. Dementsprechend ist sie keine Partnerin im Tauschhandel, den sie mit männlichen Subjekten vollziehen muss, sondern sie ist selber das, was zirkuliert, und zwar zwischen Männern, die durch Tauschakte als eine bündische Gemeinschaft erscheinen.282 Allerdings gibt es auch innerhalb dieser Freier-Gemeinschaft klare Machtverhältnisse, die keinen Zweifel daran aufkommen lassen, in welcher Rangfolge sich die Männer in Maries Körper treffen. Der Ehemann, der sich in 281 Vgl. Szmorhun: Häusliche Gewalt in der deutschsprachigen Literatur des 21. Jahrhunderts. 2016, S. 89f. 282 Vgl. Schmidt: Geschlecht unter Kontrolle. 1998, S. 18.
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den ökonomischen Szenarien der Prostitution als Zuhälter situiert, erscheint zugleich als diejenige Instanz, der Marie als Begehrens- und Einkommensquelle völlig unterworfen ist. Auf sein Geheiß gibt sie sich zwar den Kunden hin, wofür er Geld im Voraus kassiert, aber einem Beischlaf mit den Kunden, geht immer der Beischlaf mit dem Zuhälter voraus, so dass er zu einer Art Souverän aufsteigt, dessen (Macht)Position unantastbar bleibt. Mit ihrem Prostitutionsszenario wagt sich Julia Franck an eines der in der DDR am stärksten tabuisierten Probleme heran. Sowohl Massenmedien als auch sozial- und populärwissenschaftliche Literatur haben den Eindruck vermittelt, dass es (sexualisierte) Gewalt gegen Frauen nicht gebe, was entsprechende Wirkung im öffentlichen Bewusstsein hinterlassen hat.283 Sexismus und sexuelle Gewalt passten nicht in das Gesellschaftsbild eines sozialistischen Landes, das für sich beanspruchte, die Gleichberechtigung von Mann und Frau vollzogen zu haben. Obwohl es in der DDR – so Monika Schröttle – hinsichtlich der Unzulässigkeit und Strafbarkeit körperlicher und sexueller Gewalt gegen Frauen klare Rechtsnormen gab, setzte das System diese Normen im Rahmen seiner staatlichen Kontroll- und Strafverfolgungsaufgaben nicht konsequent um und begründete diese Flexibilität explizit oder implizit mit dem Schutz der Privatsphäre. Dies legt nahe – und darauf verweisen auch einige historische, rechtsvergleichende und feministische Analysen –, dass die Grenzziehung zwischen Staat und Privatheit sowie die Frage nach staatlicher Intervention in die Privatsphäre der Bürgerlnnen nicht nur oder überwiegend ideologischen, staatstheoretischen und rechtlichen Vorgaben folgte, sondern in hohem Maße durch die konkreten politischen Interessen des Staates mitbestimmt war. Es handelte sich dabei keineswegs um eine natürliche, eindeutige und klar definierte Grenze, die innerhalb des gesellschaftlich-politischen Systems konstant wäre, sondern um eine Grenzziehung, die je nach Kontext und Interessenlage flexibel gehandhabt werden konnte.284 Gewaltsituationen, mit denen Francks Protagonistin Marie in ihrem Familienalltag auf Schritt und Tritt konfrontiert wird, stehen nicht nur exemplarisch dafür, dass diese Grenzziehung patriarchale Macht- und Gewaltverhältnisse fördert und dem männlichen Dominanzverhalten huldigt, sondern sie widersprechen auch der Annahme, dass eine erhöhte Berufs- und Erwerbsbeteiligung von Frauen nicht nur geschlechtsspezifische Abhängigkeiten und Machtdiskrepanzen, sondern auch Gewalt im Geschlechterverhältnis unterbindet. Marie wird als eine hoch 283 Vgl. Knorr, Stefanie: Zum Umgang mit sexuellem Missbrauch in der DDR und dessen Folgen aus psychosozialer Sicht. In: Sexueller Missbrauch in der DDR. Historische, rechtliche und psychologische Hintergründe des sexuellen Missbrauchs an Kindern und Jugendlichen in der DDR. Hg. von Christian Sache/Stefanie Knorr/Benjamin Baumgart. Wiesbaden: Springer VS 2018, S. 173–247, hier S. 210. 284 Vgl. Schröttle: Staatliche Politik und Gewalt gegen Frauen in engen sozialen Beziehungen – ein politiktheoretischer und empirischer Zusammenhang? 2001, S. 60.
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qualifizierte, beruflich eingebundene und finanziell unabhängige Figur auf die Bühne gebracht, die es – trotz der Angleichung an männliche Erwerbsbiographien – nicht vermag, dem System der fein aufeinander abgestimmten Machtund Gewaltmechanismen zu entkommen. Die Loslösung aus den Strukturen, in denen sich die individuelle und kollektive Männer-Macht sowie die Staatsmacht und Gesellschaftsordnung wechselseitig bedingen und funktional abstützen, kann – wenigstens in ihrem Fall – nur in Form eines gedanklichen Konstrukts erhalten bleiben. Es ist auch letztendlich nicht der DDR-Staat, der mit seiner vermeintlichen Anti-Gewalt-Politik und frauenfreundlichen Gesetzgebung ihrem qualvollen Dasein ein Ende setzt, sondern der Selbstmord, der sich als einzige Chance erweist, dem geschlechtsspezifischen Gewalthandeln zu entkommen. Die Romane Du sollst nicht töten von Hans Werner Richter, Der Alpdruck von Hans Fallada und Rücken an Rücken von Julia Franck liefern ein Exempel dafür, dass die Prostitution ein thematisches Motiv darstellt, das sich in Variationen durch literarische Texte zieht. Während Julia Franck Sexualität und Körperlichkeit im Kontext ziviler und durch einen Ehemann organisierter ›Hausprostitution‹ verhandelt, entscheiden sich Hans Werner Richter und Hans Fallada dafür, das Militär als Manifestation einer Verbindung von Sexualität und Gewalt zu konzipieren. In allen Texten werden aber weibliche Figuren in ein maskulines Macht- und Gewaltsystem eingebunden, ohne einen eindeutigen Opferstatus zuerkannt zu bekommen. Mehr oder weniger explizit wird jedoch darauf hingewiesen, dass sexuelle Gewalt gegen Frauen sich weder regel- noch ziellos ereignet. Sie zählt sowohl zum Traditionsbestand des Geschlechterverhältnisses als auch zum akzeptierten Normgefüge der Kriegsführung und hat jeweils spezifische Bedeutungen für Gegner, Opfer und Angreifer. In literarischen Texten wird die Prostitution nicht nur als Ausdruck eines patriarchalischen Geschlechterverhältnisses inszeniert, sondern sie erscheint vielmehr als Manifestation eines enormen Machtgefälles. In allen drei Prostitutionsszenarien wird aufgezeigt, dass die Prostitution einerseits aus der Splittung von Frauen in eine »tugendhafte« und »liederliche« Weiblichkeit entsteht und in die Tradition des Frauenkaufs eingebunden ist. Andererseits ist sie aber durch den Fakt der Anhäufung von Macht und Kapital in den Händen von Männern sowie durch ein ökonomisches wie sexuelles Abhängigkeitsverhältnis bedingt, in dem inferiore Frauen gegenüber superioren Männern stehen.285 Die (Macht)Ressourcen werden dazu genutzt, sich Zugang zu einem Frauenkörper zu verschaffen und/oder den Frauenkörper gegen materiellen Gewinn zu tauschen, um Profite zu maximalisieren. Anders formuliert: Ein Geschlecht kann es sich aufgrund seiner hegemonialen Machtposition leisten, das andere Geschlecht zu (ver)kaufen und es 285 Vgl. Respondek, Anne S.: »Gerne will ich wieder ins Bordell gehen…« Maria K.̓s »freiwillige Meldung für ein Wehrmachtsbordell«. Hamburg: Marta Press 2019, S. 224.
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nach Belieben zu verwalten. Die Prostitution erscheint in dieser Perspektive als Symbol für eine soziale Ordnung, die auf Beziehungen von Ungleichheit zwischen Männern und Frauen aufbaut und eine geschlechtliche Gewaltkultur verkörpert, die Aspekte physischer, struktureller und kultureller Gewalt inkludiert. Alle weiblichen Figuren – unabhängig davon, in welchem Kontext und aus welchem Grund sie der Prostitution nachgehen – werden auf den Status des Tausch- und Handelsobjekts reduziert, an dem man sich als Freier und Zuhälter sexuell austoben kann. Obwohl die Prostitution ein Tauschgeschäft darstellt, das zwischen einer Prostituierten und einem männlichen Kunden abgewickelt wird, sind es ausschließlich weibliche Figuren, die dem »Gesetz der Einschreibung«286 und der »negativen Klassifikation«287 unterliegen. Die daraus resultierenden Markierungen, Stigmatisierungen und Diskriminierungen verweisen auf gesellschaftliche Wahrnehmungs- und Deutungsmuster sowie Betrachtungs- und Bewertungsweisen, die den weiblichen Körper als Produkt machtvoller Handlungen begreifen lassen. Der Frauenkörper wird nicht nur als Gegenstand herabsetzender Zuschreibungen und damit als Ausgangspunkt für spezifische Adressierungsweisen konstruiert, sondern auch als Medium sozialen (Gewalt)Handelns entworfen, das in Abhängigkeit von politischen Strukturbedingungen und Interessenlagen verschiedene Bühnen bespielt, ohne sich ihres Status als Verhandlungsobjekt zu entledigen.
286 Schmidt: Geschlecht unter Kontrolle. 1998, S. 12. 287 Neckel, Sighard/Sutterlüty, Ferdinand: Negative Klassifikation und die symbolische Ordnung sozialer Ungleichheit. In: Mittendrin im Abseits. Ethnische Gruppenbeziehungen im sozialen Kontext. Hg. von Sighard Neckel/Hans-Georg Soeffner. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2008, S. 15–25, hier S. 15.
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Erziehungs- und Bildungssysteme als Generatoren von geschlechtlichen Ungleichgewichten
In der sozialwissenschaftlichen Debatte und Forschung wird seit einer relativ langen Zeit die Rolle von Bildungs- und Erziehungssystemen bei der Statuszuweisung, der (Re)Produktion und Legitimation sozialer Ungleichheit ins Visier genommen. Man denke nur an den viel zitierten Ulrich Beck, der bereits in den 1980er Jahren das Bildungssystem als zentrale Rechtfertigungsfabrik sozialer Ungleichheit zu definieren pflegte. Seiner Meinung nach verwandeln Bildungssysteme nach den Maßstäben individueller Leistung bzw. Leistungsfähigkeit Gleiche in Ungleiche und zwar so, dass die Benachteiligten in der Geltung des vermeintlichen Gleichheitsprinzips ihre Benachteiligung akzeptieren.288 Peter A. Berger und Heike Kahlert gehen einen Schritt weiter und nennen die Rechtfertigungsstrategien beim Namen, die darauf abzielen, (geschlechtliche) Bildungsoptionen und Bildungsaspirationen – je nach Bedarf, Interesse und/oder Situationslage – zu erweitern oder einzuschränken: Bildungsvermittelte und -erzeugte Ungleichheiten werden durch den Verweis auf geschlechtsspezifische Begabungsunterschiede oftmals ›naturalisiert‹ und unter Rückgriff auf funktionalistische Argumentationsmuster zugleich als notwendig hingestellt. Die auf diese Weise hergestellte ›individualisierte‹ Zuschreibung von Kenntnissen und (Un)Fähigkeiten verschleiert nicht nur den Prozess der Entpersonifizierung von Leistungsdimensionen, sondern generiert zugleich Mechanismen der Legitimation von Bildungsungleichheiten.289 Dies veranlasst dazu, Erziehungs- und Bildungssysteme als Institutionen einzustufen, die nicht nur für Qualifikation, Allokation, Zertifizierung, Sozialisation etc. zuständig sind, sondern auch (heutzutage zwar in einer viel subtileren Form) auf Erhalt und Ausbau von Geschlechterdifferenz hinarbeiten. Sie geben dem Bestehenden – so Wiltrud 288 Vgl. Beck, Ulrich: Gegengifte. Die organisierte Unverantwortlichkeit. Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag 1988, S. 265. 289 Vgl. Berger, Peter A./Kahlert, Heike: Bildung als Institution. (Re-)Produktionsmechanismen sozialer Ungleichheit. In: Institutionalisierte Ungleichheiten. Wie das Bildungswesen Chancen blockiert. Hg. von Peter A. Berger/Heike Kahlert. Weinheim-Basel: Beltz Verlag 2013, S. 7–16, hier S. 9.
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Erziehungs- und Bildungssysteme als Generatoren
Gieseke – den Charakter eines organischen Zustandes, indem die (weiblichen) Individuen zwar handeln und handeln können, aber mehr als »Rädchen im Getriebe« (un)sichtbar sind.290 Dem von der Forschung bereitgestellten Wissen über eine Herrschaftsform – die männliche Herrschaft – hat bereits Pierre Bourdieu eine Bedeutung beigemessen: Es kann »einen sie verstärkenden Effekt haben, vor allem in dem Maße, wie die Herrschenden es dazu zu benutzen verstehen, die fortbestandsichernden Mechanismen gewissermaßen zu ›rationalisieren‹.291 Auch wenn seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die strikte Interpretation der Geschlechterrollen nachlässt und die ›Naturalisierung‹ der geschlechtsspezifischen Ungleichheit durch das Prinzip der Chancengleichheit unterdrückt wird, sind Erziehungs- und Bildungssysteme immer noch nicht bereit, der Versuchung zu widerstehen, innerhalb dieser kulturellen Transformationsprozesse Mechanismen der Selbstermächtigung in Gang zu setzen, um die sich verändernden Umstände erfolgreich zu überbrücken. Es ist daher angebracht, auf spezifische epochenübergreifende Diskursformationen hinzuweisen, die auch heute subkutan dafür sorgen, dass sich innerhalb der Wissenschaft, Erziehung und Bildung Machtregeln formieren, mit denen die Chancengleichheitsideologie bekämpft wird. Der Konzeption dieses Kapitels liegen demzufolge zwei Fragen zugrunde: Es wird einerseits auf die Rolle der (interdisziplinären) Wissenschaft und (Hoch)Schulbildung bei der Herstellung und Aufrechterhaltung ungleicher Bildungschancen entlang der Kategorie Geschlecht eingegangen. In den Mittelpunkt geraten hierbei exemplarisch ausgewählte Theorien angesehener Wissenschaftler/Theoretiker/Denker unterschiedlicher Zeitabschnitte, die darauf fixiert sind, auch im Bereich von Erziehung und Bildung an einer normativen bipolaren Geschlechterordnung festzuhalten und Strategien der Idealisierung und Normierung von Geschlechterverhältnissen einzusetzen. In diesem Zusammenhang soll auch veranschaulicht werden, inwiefern das als gültig und selbstverständlich anerkannte (interdisziplinäre) Wissen unmerklich darüber entscheidet, »welcher Handlungsspielraum und welches Zutrauen den unterschiedlichen Subjektpositionierungen zugestanden wird.«292 Dies in den Blick zu nehmen, ermöglicht auf jeden Fall ein Verstehen, wie es zu den ungleichen Bildungs-, Berufs- und Erwerbschancen von Frauen und Männern gekommen ist und warum sie immer noch unterschwellig Geltung erlangen. Andererseits soll am Beispiel der Romane Was du heulst, brauchst du nicht zu 290 Vgl. Gieseke, Wiltrud. Einleitung. In: Handbuch zur Frauenbildung. Hg. von Wiltrud Gieseke. Wiesbaden: Springer Fachmedien 2001, S. 11–22, hier. S. 17. 291 Bourdieu, Pierre: Die männliche Herrschaft. In: Ein alltägliches Spiel. Geschlechterkonstruktion in der sozialen Praxis. Hg. von Irene Dölling/Beate Krais. Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag 1997, S. 153–217, hier S. 213. 292 Faller, Christiane: Bildungsgerechtigkeit im Diskurs. Eine diskuranalytische Untersuchung einer erziehungswissenschaftlichen Kategorie. Wiesbaden: Springer VS 2019, S. 230f.
Geschlechtsspezifische Codierungen in Erziehung und Bildung
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pinkeln von Heike Engel, Die Mittagsfrau von Julia Franck und Die Klosterschule von Barbara Frischmuth aufgezeigt werden, inwiefern das wissenschaftliche Ausdifferenzierungsmodell im familiären und schulischen Erziehungsprozess seinen Nachhall findet. Die Autorinnen binden ihre weiblichen Figuren in eine Lebenswelt ein, die – unter dem Einfluss theoretischer Konstrukte stehend – unterschiedliche Geschlechtsnormen vermittelt und jeden Versuch, geltende Regeln zu missachten, mit unterschiedlichen Sanktionen belegt. Die in ihren Texten entworfenen Erziehungs- und Bildungssysteme werden als Institutionen struktureller Gewalt entblößt, mit deren Hilfe eine ›zweckmäßige‹ und ›angemessene‹ Erziehung von Frauen auf deren zukünftige gesellschaftliche Bestimmung hin ausgelegt wird.
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In den interdisziplinären Geschlechtertheorien unterschiedlicher Zeitabschnitte zeichnet sich ein folgenreicher Streit darüber ab, ob der Geist ein Geschlecht hat. In der Lehre der Orphiker und Pythagoreer, die auf der Annahme basiert, dass der Mensch aus einem vergänglichen Körper und einer unsterblichen Seele besteht, ist eine Dichotomie zwangsläufig vorgegeben. Die Seele steht dabei dem Körper als Ganzheit gegenüber, und erst Platon erkennt in ihr drei Schichten, was Aristoteles aufgreift und es weiterführt.293 Bezüglich weltlicher Eigenschaften wird Geist/Seele hingegen mit dem Körper verkoppelt und in ein Gefüge der Qualitäten- bzw. Temperamentenlehre eingeordnet: Geist/Seele wird so geschlechtsabhängig als tauglich(er) oder untauglich(er) unterschieden – wobei die dem Mann zugeschriebenen Eigenschaften höher bewertet werden.294 Damit korrespondieren frauenfeindliche Interpretationen der alttestamentarisch-biblischen Geschichte, die aus der Erschaffung Evas aus Adams Rippe und dem Sündenfall die geistige Minderwertigkeit von Frauen ableiteten und die frauenunterdrückende Hierarchie sowie den frauenverachtenden Männerhochmut christologisch legitimieren. Gegen die vorherrschende aristotelisch-scholastische Tradition, nach der die menschliche Seele drei Fakultäten – eine vegetative, eine sensitive und eine rationale – besitzt, wendet sich René Descartes, indem er die Seele als reflexives Bewusstsein bzw. unkörperlichen Geist definiert und auf dem 293 Vgl. Daldorf, Egon: Seele, Geist und Bewusstsein. Eine interdisziplinäre Untersuchung zum Leib-Seele-Verhältnis aus alltagspsychologischer und naturwissenschaftlicher Perspektive. Würzburg: Königshausen & Neumann 2005, S. 21. 294 Vgl. Voß, Heinz-Jürgen: Making Sex Revisited. Dekonstruktion des Geschlechts aus biologisch-medizinischer Perspektive. Bielefeld: transcript 2011, S. 93f.
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Dualismus von Körper und Seele besteht.295 Auch wenn Descartes selbst nicht zur Geschlechterfrage argumentiert, wird seine Philosophie in den darauffolgenden Epochen auf die Fragestellung der Gleichheit oder Differenz beider Geschlechter angewendet und – je nach Denkrichtung – uminterpretiert bzw. weiterentwickelt. So prallen in der Aufklärung entgegengesetzte Theorien aufeinander, die einerseits die Gleichheit geistiger Fähigkeiten von Mann und Frau postulieren und andererseits den körperlichen Unterschied auf Geist und Vernunftbegabung ausweiten. Während beispielsweise François Poullain de La Barre die bisherige (Ver)Bildung von Frauen kritisiert und nachdrücklich betont, dass Frauen in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens das Gleiche leisten können wie Männer, plädiert Jean Jaques Rousseau dafür, Frauen durch Erziehung und (begrenzte) Bildung ausschließlich für den Haushalt zu ›präparieren‹. In seinem viel gelesenen und als ›moderne‹ Pädagogik geltenden Roman Emil oder Über die Erziehung kritisiert er zwar eine auf Dogmen, Verboten und Geboten basierende Sozialisation und spricht sich stattdessen für eine Erziehung aus, die die natürlichen Anlagen des Kindes fördert und ihre Ausprägung bewirkt, aber diese innovative Sichtweise auf die Kindererziehung und Persönlichkeitsentwicklung stört ihn keineswegs daran, den zunehmenden emanzipatorischen Gleichheitsbestrebungen von Frau und Mann mit Besorgnis, Feindseligkeit und Ablehnung entgegenzuschauen. In allem, was mit dem Geschlecht zusammenhängt, gibt es seiner Meinung nach bei der Frau und bei dem Mann gleich viele Ähnlichkeiten wie Verschiedenheiten, die auch die Moral beeinflussen müssen. Diese Folgerung ist nicht nur einleuchtend und entspricht der Erfahrung, sondern sie zeigt zugleich, »wie töricht es ist, über den Vorrang oder die Gleichberechtigung der Geschlechter zu streiten.«296 Rousseau argumentiert nicht nur vor dem Hintergrund kultureller und industrieller Revolution, die die Lebensweise und den Lebensstandard des Abendlandes maßgeblich prägt, sondern auch vor dem Hintergrund zunehmender emanzipatorischer Bestrebungen zur Gleichstellung von Mann und Frau, die er mit dem Satz quittiert: »Nur verrückte Frauen machen Lärm; die ehrbaren erregen kein Aufsehen.«297 Dementsprechend verbannt er die Mädchen und Frauen in einen für sie von der Natur bestimmten Bereich, wo sie in der Mutterschaft, in der Umsorgung des Ehemannes und in der Unterwürfigkeit ihm gegenüber sowie in der Haushaltspflege ihre Erfüllung finden sollen. Die ganze Erziehung der Frauen soll oder besser gesagt muss auf die Männerwelt 295 Vgl. Dauss, Markus/Haekel, Ralf: Einleitung. In: Leib / Seele / Geist / Buchstabe. Dualismen in der Ästhetik und den Künsten um 1800 und 1900. Hg. von Markus Dauss/Ralf Haekel. Würzburg: Königshausen & Neumann 2009, S. 7–36, hier S. 10. 296 Rousseau, Jean-Jaques: Emil oder Über die Erziehung. Vollständige Ausgabe in neuer deutscher Fassung besorgt von Ludwig Schmidts. Paderborn: Ferdinand Schöningh 1998, S. 386. 297 Ebd., S. 424.
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Bezug nehmen bzw. auf sie vollkommen ausgerichtet sein.298 Er scheint fest davon überzeugt zu sein, dass Gleichheitsbestrebungen die Natur des Menschen verstümmeln und zu einem unmoralischen Lebenswandel der Gesellschaft und somit zu ihrer Verderbnis führen. Daher plädiert er dafür, die Pflichten ihres Geschlechts zu erkennen und ihnen Folge zu leisten, denn »wesentlich ist, das zu sein, wozu uns die Natur gemacht hat.«299 In seine Kritik an kulturellen Entwicklungen fließen vergeschlechtlichte Argumente ein, die sich mit den vorherrschenden christlich-kirchlichen Dogmen anecken und die Frau als Gattungskörper erscheinen lassen: »Es ist ihre Bestimmung, Kinder zu bekommen. Weil es in der Welt ein Hundert großer Städte gibt, in denen die Frauen wegen ihrer Zügellosigkeit nur wenige Kinder bekommen, behauptet ihr, es wäre die Bestimmung der Frau, weniger Kinder zu haben? Und was würde aus euren Städten, wenn das Land, wo die Frauen noch einfacher und keuscher leben, die Unfruchtbarkeit der Damen nicht wieder ausgliche?«300 Rousseau errechnet sogar, dass ungefähr vier Kinder pro Frau notwendig sind, um aufgrund hoher Sterblichkeitsrate die entsprechende Bevölkerungszahl zu erreichen bzw. aufrechtzuerhalten.301 Seine frauenbezogenen Ausführungen lesen sich stellenweise wie Zitate aus Luthers Schriften, in denen die Fruchtbarkeit der Frau, die ausschließlich durch die Zahl der Kinder unter Beweis gestellt werden kann, mit Gesundheit, Reinheit und Zufriedenheit assoziiert wird.302 Der Gegenentwurf offenbart dagegen eine schwache, ungesunde und somit minderwertige Weiblichkeit, die bei Rousseau mit dem Stigma der Zügellosigkeit und des Verfalls behaftet ist. Parallelen drängen sich auch hinsichtlich der weiblichen Geistesfähigkeiten auf, die gering sind und nur bedingt zur Geltung kommen, so dass sich Frauen aus dem öffentlichen Leben heraushalten sollen. Sie haben zwar einen feinen Geist, den sie wie ihr Antlitz um der Männer willen pflegen sollen, aber theoretische und abstrakte Beschäftigungen oder Überlegungen überschreiten ihre Fassungsfähigkeit: »Um in den exakten Wissenschaften Erfolge zu haben, fehlt es ihnen an ausreichender Genauigkeit und Aufmerksamkeit. Die Naturwissenschaften soll der treiben, der von beiden Geschlechtern der Tätigste und der Beweglichste ist, der die meisten Dinge sieht; der die meiste Kraft hat und sie auch übt, um die Beziehungen der Lebewesen und der Naturgesetze zu beurteilen. Die Frau ist schwach und sieht nichts von der Welt draußen.«303 Abgerundet werden Rousseaus geschlechterbezogene Ausführungen mit der These, »daß die Frau eigens geschaffen ist, um dem Mann zu gefallen. Es ist weniger 298 299 300 301 302 303
Vgl. ebd. S. 394. Vgl. ebd., S. 420. Ebd., S. 390f. Vgl. ebd., S. 391. Luther: Tischreden. 2016, S. 109. Rousseau: Emil oder Über die Erziehung. 1998, S. 421.
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zwingend notwendig, daß ihr der Mann auch seinerseits gefällt: Sein Vorzug liegt in der Kraft.«304 Diese Beschaffenheit verpflichtet die Frau zwangsläufig dazu, sich dem Mann liebenswert zu zeigen, ihm zu gehorchen sowie alle Aktivitäten zu unterlassen, die ihn – in welcher Form auch immer – herausfordern könnten.305 Rousseaus Konzept bezüglich der geschlechtsspezifischen Erziehung lässt Widersprüche aufkommen, die das ›Moderne‹ seiner Pädagogik in Frage stellen und ihn als einen (erz)konservativen Verfechter von gesellschaftlich-politischer Männerhegemonie und biologisch begründeter Geschlechterdifferenz entblößen: Einerseits plädiert er dafür, all diese seltsamen Doktrinen, die nichts anderes als »Worte ohne Inhalt« sind, beiseite zu lassen, weil der ihnen anhaftende Fanatismus nicht nur jeden guten Erziehungsplan beeinträchtigt, sondern auch die gesellschaftliche Ordnung stört.306 Andererseits aber scheint die von ihm proklamierte Dogmenaufweichung nur das männliche Geschlecht zu betreffen. Mädchen und Frauen werden nämlich nach wie vor angehalten, Gehorsamsbindungen zu folgen und ihr (keusches) Dasein in dienender Funktion gegenüber dem Mann zu gestalten, so dass die weibliche Sozialisation weder der maskulinen Autoritätsgebundenheit bzw. Autoritätshörigkeit noch der gesellschaftlichen Exekutive entkommen kann. Rousseaus Schrift schreibt sich jedoch nicht nur in die Tradition antiemanzipatorischer Theorien ein, sondern sie gilt vielmehr in den darauffolgenden Jahren, Jahrzehnen oder sogar Jahrhunderten als Grundlage für die Auseinandersetzung mit einem kirchlichen und weltlichhegemonialen (Schul)System, das die Frauen epochenübergreifend benachteiligt, indem es ihnen den naturbedingten Mangel an Denkvermögen unterstellt, für sie eine weitgehende Beschränkung von Wissen fordert und sie zum unausweichbaren Dienst als Ehefrau und Mutter verpflichtet. Die Tendenz, vergeschlechtlichte Differenzen als ›natürlich angelegt‹ zu postulieren, findet in den darauffolgenden Epochen Eingang in das Gedankengut zahlreicher Gelehrten, die – ähnlich wie Rousseau – eine Erziehung von Frauen zu Häuslichkeit und Unterwürfigkeit fordern und aus diesem Grund sich für eine Mädchen- und Frauenbildung aussprechen, die auf die absolut notwendigen Kenntnisse, insbesondere zur Haushaltsführung, reduziert werden. Exemplarisch dafür steht das 1787 erschienene Werk Ueber die Weiber von Ernst Brandes, einem deutschen Juristen, in dem vehement postuliert wird, das Wirken der Frauen in der Öffentlichkeit zu verhindern, weil dies den Verfall der Sitten bewirken und die Frau von ihrem wahren Standpunkt abführen würde. Es widerspricht ihrer Natur, die erste Rolle in der Gesellschaft zu spielen, denn die Frau ist einzig und allein dazu befähigt, als Gattin und Mutter zu agieren und 304 Ebd., S. 386. 305 Ebd. 306 Ebd., S. 414.
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»ihre Anhänglichkeit am Manne« auszuleben.307 Die der Frau biologisch eingeräumte Inferiorität wird mit intellektuellen Defiziten untermauert, die das weibliche Recht auf gesellschaftlich-politische Mitbestimmung und gleichberechtigte Bildungschancen als eine maßlose Forderung bloßlegen sollen: Der (wissenschaftliche) Geschmack von Frauen »ist in allen Stücken kleinlich. In den Künsten und der Literatur lieben sie alles bunte und gezierte. Für hohe Simplicität haben sie keinen Sinn. Die Gedanken sind ihnen fast gleichgültig, nur der Ausbruch entscheidet. Was am meisten gefällt, sind Plattitüden, gemeine Sachen, hochtrabend aber unverständlich gesagt.«308 Gleichwohl sind Frauen bei Brandes keineswegs unwissend. Ganz im Gegenteil, als Verfechter einer strikten binär vergeschlechtlichten Gesellschaftsordnung sieht er Erziehung und begrenzte Bildung für Mädchen und Frauen als notwendig an, weil sie durch das erworbene Wissen nicht nur die ihnen zugeschriebene Rolle als Gattin und Mutter besser erfüllen, sondern auch Nachdenken und geistige Leistung ihrer Männer befördern können. Das Postulat der beschränkten Bildung für Frauen vermag es aber nicht, eine Befreiung aus den Fesseln überkommener Glaubenswahrheiten, Denkgewohnheiten und Vorurteile zu bewirken, weil selbst der Erwerb von Wissen in das patriarchale Denkprinzip der weiblichen Dienstbarkeit und Nützlichkeit eingebunden wird. Der Diskurs über die Frau – so Friederike Kuster – bezieht in der Aufklärung wesentliche Impulse aus der emanzipatorischen Dynamik der allgemeinen Menschenrechte und den damit einhergehenden politischen Herausforderungen. Die sich allgemein ankündigende Destruktion patriarchaler Denk- und Werthaltungen mündet indes nicht einlinig in Konzepte zur Gleichstellung von Mann und Frau, sondern treibt parallel dazu einen neuen Diskurs der Differenz hervor.309 So stehen neben der Idee der natürlichen Gleichheit der Geschlechter die entgegengesetzte Theorie der natürlich begründeten Differenz der Frau und ihre ehelich-häusliche Subordination: »Stützt sich die eine Seite auf den cartesianischen Rationalismus, so die andere im Ausgang von einem materialistischen Sensualismus auf die modernen empirischen Wissenschaften vom Menschen wie Medizin, Biologie und Anthropologie.«310 Der Versuch, dem Zusammenhang von Erziehung, Bildung und Geschlecht diachronisch auf den Grund gehen, um aufzuzeigen, wie sich die Bildungsentwürfe auf die Ausformung des Geschlechterverhältnisses auswirken, darf an Joachim Heinrich Campe nicht vorbeigehen. Seine Vorstellungen von der Bildung des Menschen – so Christine Mayer – reflektieren zwar die veränderten 307 Vgl. Brandes, Ernst: Ueber die Weiber. Leipzig: Weidmann Erbes und Reich 1787, S. 205. 308 Ebd., S. 171. 309 Vgl. Kuster Friederike: Frau/Weib. In: Handbuch Europäische Aufklärung. Begriffe, Konzepte, Wirkung. Hg. von Heinz Thoma. Stuttgart-Weimar: Verlag J.B. Metzler, 2015, S. 211– 221, hier S. 212f. 310 Ebd., S. 213.
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Umstände und gesellschaftliche Herausforderungen, aber es geht ihm nicht um eine freie Entfaltung der individuellen Natur(an)lagen, sondern um deren Ausformung im Rahmen einer noch traditionell gedachten Gesellschaft, in der die Ungleichheit der Geschlechter für gottgewollt und naturgegeben gehalten sowie durch die aufkommende bürgerliche Gesellschaftsordnung begründet wird. Campes Vorstellungen von einer auf gesellschaftliche Nützlichkeit und soziale Brauchbarkeit hin ausgerichteten Erziehung schlagen sich auch in Bildungsprogrammen nieder, die darauf fixiert sind, dem Lebensentwurf von Frauen solche Aspekte wie Unabhängigkeit, Geselligkeit und öffentliches Leben zu entziehen.311 Der Bildung von Frauen sollte deshalb nur der Erwerb von Wissen zugrunde liegen, das an den Anforderungen der drei weiblichen Berufe nicht vorbeigeht und sich mit der weiblichen Bestimmung vereinbaren lässt. Als Ehefrau, Hausfrau und Mutter benötigt die Frau keine »gelehrten Kenntnisse«312, weil sie aus wissenschaftlicher Bildung auch keinerlei Vorteile ziehen kann. Denn »weder in der Küche und in der Vorrathskammer, noch in dem Kreise ihrer Freundinnen, noch endlich auf irgend einem Standorte in der bürgerlichen und gelehrten Welt«313 könnte sie wissenschaftliche Kenntnisse und Fähigkeiten anwenden und zeigen, »ohne sich in gewissem Grade«314 lächerlich zu machen. Die Aneignung »einer Geistesbildung, welche das Erzeugniß einer gelehrten und wissenschaftlichen Bearbeitung«315 darstellt, erweist sich ausschließlich für denjenigen sinnvoll, »dessen Standort in der menschlichen Gesellschaft ihm eine nützliche Anwendung davon erlaubt.«316 Bei Menschen aber, deren »wesentliche Bestimmung durch diese Art der Geistesbildung nicht befördert, sondern vielmehr gehindert wird«317, ist diese Bildung verachtenswert bzw. zu bedauern. Aus diesem Grund rät er dem weiblichen Geschlecht dazu, nicht leben, um zu lesen, »sondern lesen, um leben zu lernen.«318 Dieses Prinzip soll den Frauen anschließend dazu verhelfen, im »ganzen Beruf einer würdigen Hausfrau«319 aufzugehen.
311 Vgl. Mayer, Christine: Bildungsentwürfe und die Konstruktion der Geschlechterverhältnisse zu Beginn der Moderne. In: Das Geschlecht der Bildung – Die Bildung der Geschlechter. Hg. von Britta L. Behm/Gesa Heinrichs/Holger Tiedemann. Opladen: Leske + Budrich 1999, S. 12–29, hier S. 15f. 312 Campe, Joachim Heinrich: Väterlicher Rath für meine Tochter. Ein Gegenstück zum Theophron. Der erwachsenern weiblichen Jugend gewidmet. Braunschweig: Schulbuchhandlung 1809, S. 61. 313 Ebd. 314 Ebd. 315 Ebd., S. 60. 316 Ebd. 317 Ebd., S. 60f. 318 Ebd., S. 135. 319 Ebd., S. 57.
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Von der Differenz der Geschlechter ist auch der bildungstheoretische Ansatz von Wilhelm von Humboldt geprägt. Die zum Mann unterschiedliche Geistesleistung der Frau wird bei ihm »mit der besonderen Daseinsform der Frau als Mutter begründet«320 – ein Umstand, der die Bildungsprozesse von Mann und Frau unterschiedlich ausgestalten lässt. Ähnliche Begründungen formuliert Arthur Schopenhauer in Über die Weiber und spricht sich ebenfalls dafür aus, Mädchen/Frauen zur Unterwürfigkeit zu erziehen und sie auch über den Bildungsprozess in die häusliche Lebenswelt einzubinden. Da die Frau »weder zu großen geistigen, noch körperlichen Arbeiten bestimmt ist«, soll sie in der Sorgfalt für das Kind und in der Unterwürfigkeit unter den Mann aufgehen, »dem sie eine geduldige und aufheiternde Gefährtin seyn soll.«321 Der geistige und körperliche Unterschied gilt in seiner Philosophie als hinreichendes Argument, das Lebens- und Bildungskonzept von Frauen ihrer natürlichen Schwächen entlang zu gestalten. So soll das weibliche Leben »stiller, unbedeutsamer und gelinder dahinfließen, als das des Mannes, ohne wesentlich glücklicher, oder unglücklicher zu seyn.«322 Die Notwendigkeit, unter männliche Vormundschaft gestellt zu werden, selbst wenn es die des eigenen Sohnes ist, wird von Schopenhauer zusätzlich mit dem Verweis auf die Schattenseiten des weiblichen Charakters begründet, dem er Verschwendung, Verlogenheit, Untreue, Falschheit und List unterstellt und die Existenz eines »wahrhaften und unverstellten Weibes« für unmöglich hält.323 In die Polemik um das weibliche Geschlecht und seinen Bildungsprozess mischt sich auch der Jurist und Politiker Carl Graf von Giech ein, ohne den Kurs rechtlicher und sozialer Abwertung der Frau zu verlassen. Biologische Vorgaben stellen auch in seinen Ausführungen eines der zentralen Regulative dar, mit denen die angeblich naturgegebenen Geschlechtscharaktere ausformuliert und gesellschaftliche Zuständigkeiten bzw. Aufgabenbereiche aufgeteilt werden. Aus den unterschiedlichen Lebenswelten von Mann und Frau wird der Begründungsrahmen für eine geschlechterdifferente Bildungskonzeption abgeleitet und sowohl wissenschaftlich als auch politisch legitimiert. Durch geschlechtsspezifische Bildungswege werden Männer auf das Wirken im außerfamiliären Bereich vorbereitet und Frauen für ihre Funktion als Ehe-, Hausfrau und Mutter präpariert, wobei geschlechtsspezifische Unterschiede nicht in allen Bevölkerungsgruppen so divergieren wie im Bürgertum. In Ansichten über Staats- und öffentliches Leben definiert Carl Graf von Giech es großmütig als Versagen des 320 Mayer: Bildungsentwürfe und die Konstruktion der Geschlechterverhältnisse zu Beginn der Moderne. 1999, S. 19. 321 Schopenhauer, Arthur: Über die Weiber. Berlin: A.W. Hayn 1851, Kap. XXVII von Parerga und Paralipomena II, § 362. 322 Ebd. 323 Vgl. ebd., § 366.
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Mannes, dass »das Weib unserer Zeit […] das öffentliche Leben und den Beruf des Mannes« entweder nicht versteht oder von ihm keine Notiz nimmt und plädiert dafür, das weibliche Geschlecht in öffentliche Angelegenheiten einzubeziehen.324 Der sich unwillkürlich einschleichende Gedanke, es handelt sich hier um die Ausführungen eines frauenfreundlichen Juristen und Politikers, der im Zeitalter der Revolutionen dem (männlichen) Zeitgeist zum Trotz die etablierte Geschlechterhierarchie aufzulösen sucht, muss jedoch einige Zeilen weiter fallen gelassen werden, wo Giech den Rahmen der weiblichen Teilnahme am öffentlichen Leben absteckt: »Das Weib soll den Antheil an den öffentlichen Angelegenheiten nehmen, welchen es nehmen kann, ohne seine Natur, sein Wesen zu verleugnen.«325 Da das weibliche Wesen durch ein stilles Dasein und die männliche Natur durch ein kräftiges Wollen gekennzeichnet ist, soll die Frau nicht unmittelbar auf das öffentliche Leben einwirken, sondern durch die Vermittlung des Mannes, der ihr seinen Beruf und dessen Verhältnis zum Staat erklären soll.326 So wird dem männlichen Aktionsdrang in der Öffentlichkeit die weibliche Tendenz zur Passivität entgegengestellt, in der das Zurückstecken des weiblichen Geschlechts begründet liegt. Das weibliche Wirken in der Öffentlichkeit besteht in dieser Sichtweise einzig und allein darin, mitfühlend und mitratend zur Verfügung zu stehen sowie aufzupassen, dass der Mann in seinem Zuständigkeitsbereich weder schwankt noch fehl greift.327 Die weibliche Natur – verbunden nicht nur mit körperlicher und geistiger Schwäche, sondern auch mit dem Wunsch nach einer abhängigen Existenz – spricht auch eindeutig dagegen, die Frau im wissenschaftlichen Sektor agieren zu lassen: »Das Weib darf sich auf dem Gebiete der Wissenschaft nicht in das Einzelne verlieren, weil dieses ohne Zerreißung seines inneren, tiefen Wesens nicht geschehen kann, und darum außer seiner Aufgabe liegt.«328 Giech zeigt sich jedoch bereit, Zugeständnisse an den herrschenden Zeitgeist zu machen und Frauen Einblick in das Wesen der Wissenschaft zu gewähren, wenn auch seine bildungsbezogene Großzügigkeit gegenüber dem weiblichen Geschlecht mit einigen Vorbehalten abgesichert wird: Da die Frauen die Welt der Begriffe nicht zu knacken vermögen, sollen sie sich ausschließlich auf dem Gebiet der Ideen bewegen, aber auch hier benötigen sie einen männlichen Vermittler, der ihnen die Lehren der Wissenschaft genießbar macht: »Wer soll aber der Frauen Lehrmeister sehn auf dem Gebiete der Ideen? Von wem sollen sie dieselben mitgetheilt erhalten? Von demselben, der auch ihr
324 Giech, Carl Graf von: Ansichten über Staats- und öffentliches Leben. Nürnberg: Friedrich Campe 1843, S. 32. 325 Ebd., S. 34. 326 Vgl. ebd., S. 35. 327 Vgl. ebd. S. 34. 328 Ebd., S. 36.
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Vermittler mit dem öffentlichen Leben ist – vom Manne.«329 Es ist also der Mann, der das Verhältnis der Frau nicht nur zum öffentlichen Leben, sondern auch zur Wissenschaft gestaltet und das Ausmaß sowie die Bedingungen ihrer Partizipation in diesen genuin männlichen Zuständigkeitsbereichen bestimmt. Daran glaubt Giech die wahre Emanzipation zu erkennen, »welche die Frauen nicht aus ihrem inneren Wesen herausreißt, sondern ihnen die Erkenntnis gewährt, die ihrem Wesen entspricht, und ihnen so die Krone der Weiblichkeit nicht raubt.«330 Um die Krone der Weiblichkeit, die nur dann in Sicherheit ist, wenn die Frau in ihrem Element bleibt und ihrer biologisch vorgegebenen Lebensaufgabe treu bleibt, scheint auch der Harvard-Mediziner Edward Clarke besorgt zu sein. Vor dem Hintergrund emanzipatorischer Ansprüche von Frauen hebt er die Bedeutung des ersten thermodynamischen Gesetzes hervor, von dem folglich die Rückschlüsse auf die geschlechtsspezifische Hierarchie und die daran gekoppelte Rollen- und Funktionszuweisung gezogen werden. Das erste Gesetz der Thermodynamik besagt, dass der Energielevel eines Systems immer gleichbleibt, ohne ab- oder zuzunehmen. Dieses Gesetz sollte eine überzeugende Erklärung dafür liefern, warum nicht ›Eierstöcke‹, sondern ausschließlich ›Penisse‹ an die Uni gehören. Um auf die Bedrohung hinzuweisen – so Andrea Dauber –, die revolutionäre gesellschaftliche Kräfte für die bestehende Ordnung darstellen, behauptet Clarke, dass das Nervensystem einen unveränderlichen Energielevel hat und die Inanspruchnahme dieser Energie durch ein bestimmtes Organ konsequenterweise den Energielevel für alle andere Organe reduziert. Demzufolge wird die Energie bei Frauen, die sich bilden, von den Reproduktionsorganen abgezogen, weil sie ins Gehirn fließt und auf diese Weise die Gesundheit der Frau beeinträchtigt.331 Aus diesem Grund fordert er das weibliche Geschlecht auf, die Entwicklung des Gehirns der Reproduktionsfunktion aufzuopfern, für die jede Frau geschaffen ist. Da die Natur ihr eine so energiefordernde Aufgabe zugewiesen hat, muss im Erziehungsprozess dafür gesorgt werden, dass der weibliche Körper ausreichend Gelegenheit bekommt, sowohl die Eierstöcke als auch alle verwandten Organe in gesunder Weise herauszubilden.332 Diese Sichtweise, die Frauen biologisiert und ihre soziale Stellung auf die Mutterschaft reduziert, wird mit der These komplementiert, dass der Frauenkörper nur einmal fähig ist, den Fortpflanzungsmechanismus richtig zu entwickeln. Wenn es nicht im Jugendalter der Frau geschieht, wird danach niemals vollkommen erreicht werden. Der männliche Körper kennt keine vergleichbare Belastung. Er muss keine Fabrik innerhalb der Fabrik des Körpers aufbauen und wächst ununterbrochen von der 329 Ebd., S. 37. 330 Ebd., S. 38. 331 Vgl. Dauber, Andrea S.: Arbeitsmarkterfordernis berufliche Mobilität. Geschlechtergleichheit in der Krise? Opladen, Berlin & Toronto: Budrich UniPress 2012, S. 87. 332 Vgl. Clarke, Edward H.: Sex in Education. Boston: James R. Osgood and Company 1873, S. 40.
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Geburt bis zum Erwachsenenalter heran. Clarke versichert auch nachdrücklich, dass ihm Beispiele bekannt sind, in denen die Entwicklung von Eierstöcken bei Frauen vorzeitig abbrach. Diese Frauen haben einen Universitätsabschluss gemacht und sind exzellente Wissenschaftlerinnen geworden, aber ihre Eierstöcke blieben nutzlos. Manche haben zwar geheiratet, aber keine Kinder bekommen, denn es hat sich herausgestellt, dass die intellektuelle Anstrengung ihre Fruchtbarkeit unwiederbringlich beeinträchtigt hat.333 Dieser Argumentation folgt auch Paul Julius Möbius, wenn er sich in Über den physiologischen Schwachsinn des Weibes zur weiblichen Unfruchtbarkeit äußert. Er geht davon aus, dass die übermäßige Gehirntätigkeit Frauen nicht nur krank macht, sondern auch ihre Disposition zur Mutterschaft und somit ihre weibliche Identität beeinträchtigt: »Die modernen Närrinnen sind schlechte Gebärerinnen und schlechte Mütter. In dem Grade, in dem die Civilisation wächst, sinkt die Fruchtbarkeit, je besser die Schulen werden, um so schlechter werden die Wochenbetten, um so geringer wird die Milchabsonderung, kurz um so untauglicher werden die Weiber.«334 Die Intellektualisierung der Frauenwelt wird mit der weiblichen Reproduktionsverweigerung gleichgesetzt und als Symbol des gesellschaftlichen Verfalls betrachtet, der fortschrittsgefährdend ist. So plädiert er dafür, »das Weib gegen den Intellectualismus«335 zu schützen, um diesen Entartungsprozess zu stoppen und die Frau in einem Handlungsraum zu positionieren, den die Natur für sie vorgesehen hat. Da »die Wissenschaften im engeren Sinne von den Weibern keine Bereicherung erfahren haben, noch erwarten können«336, ist es angebracht, seiner geschlechtlichen Rollen gerecht zu werden und den gesellschaftlichen Erhalt zu sichern, denn »das Weib muss in erster Linie Mutter sein.«337 Auch andere bedeutsame Denker des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts sprechen sich für die Unmöglichkeit der Bildungsfähigkeit von Frauen aus, indem sie diejenigen Bildungsstätten anprangern, die Frauen zulassen und dabei die These bekräftigen, dass gebildete Frauen weniger Nachwuchs generieren als Frauen ohne (Hoch)Schulabschluss. Während Edward Clarke es eindeutig auf das erste Gesetz der Thermodynamik absieht, um die bestehende Geschlechterordnung vor subversiven Kräften zu schützen, wird das zweite Thermodynamische Gesetz von Herbert Spencer, dem englischen Philosophen und Soziologen, für die Begründung der geschlechtsspezifischen Positionsunterschiede herangezogen und instrumentalisiert. Ausgehend davon, dass die absolute 333 Vgl. ebd., S. 55. 334 Möbius, Paul Julius: Über den physiologischen Schwachsinn des Weibes. Nikosia: Verone 2017 (Nachdruck des Originals von 1904), S. 23. 335 Ebd., S. 40. 336 Ebd., S. 21. 337 Ebd., S. 22.
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Energie im Universum zwar konstant ist, aber der Nutzen dieser Energie abnimmt, entwickelt er die sogenannte »progressive Theorie«, die er auf die Kategorie Geschlecht anwendet und zum Schluss kommt, dass eine geschlechtsspezifische Arbeitsteilung biologisch abgeleitet werden kann und muss. Es ist nämlich die Biologie, die das Geschlecht gemäß seiner sozialen Rolle determiniert und die Unmöglichkeit der Bildungsfähigkeit von Frauen begründet.338 Diese tendenziösen Äußerungen zur weiblichen Fertilität, die eine wissenschaftlich fundierte Grundlage vermissen lassen, lesen sich nach Stephanie Catani als »Warnungen vor den zeitgenössischen Emanzipationsversuchen der Frauen, die vermehrt eine Berufstätigkeit ergreifen, akademische Prüfungen zu absolvieren suchen, das Recht auf Verhütung, selbstbestimmte Sexualität und Abtreibung einfordern und somit die tradierten weiblichen Rollenzuschreibungen ablehnen.«339 Die Gebärfähigkeit der Frau stellt bis ins 20. Jahrhundert hinein eines der zentralen Argumente in gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen zur sozialen Positionierung der Frau dar und wird dementsprechend nicht nur als curriculares Begründungmuster für eine dezidierte Ablehnung einer beruflichen und wissenschaftlichen Betätigung der Frau herangezogen, sondern auch als Rechtfertigung für die Verwehrung politischer Rechte genutzt. Man denke nur an den amerikanischen Psychologen und Lehrer Granville Stanley Hall, der das Szenario einer gebildeten und ehelosen Frauenexistenz nicht nur als Apotheose des Egoismus definiert, sondern vielmehr als Verletzung der biologischen und ethischen Prinzipien begreift, die einer öffentlichen Anprangerung bedarf.340 Die wissenschaftliche Geschlechterdebatte des 20. Jahrhunderts ist weitgehend durch Versuche gekennzeichnet, einen Mangel an Verstandeskräften bei Frauen und somit ihre Bildungsunfähigkeit empirisch zu belegen. Gezähmt sollen mit solchen Belegen weibliche Bestrebungen, sich gesellschaftliche, wissenschaftliche und politische Positionen sowie bessere Lebensverhältnisse zu erstreiten. Gestützt durch eine dualistisch angelegte Geschlechterphilosophie und vergleichende Anatomie werden geschlechterdifferente Bildungsauffassungen präsentiert, die darauf abzielen, »die Grundsätze einer an individueller Persönlichkeitsentwicklung orientierten und von Zweckgebundenheit befreiten allgemeinen Menschenbildung«341 nicht in das weibliche Bildungsideal zu integrieren. Selbst heutzutage – so Heide von Felden – bestimmen eher Zuschreibungen wie die Zuständigkeit der Frauen für Kinder, 338 Vgl. Dauber: Arbeitsmarkterfordernis berufliche Mobilität. 2012, S. 88. 339 Catani, Stephanie: Das fiktive Geschlecht. Weiblichkeit in anthropologischen Entwürfen und literarischen Texten zwischen 1885 und 1925. Würzburg: Königshausen & Neumann 2005, S. 36. 340 Vgl. Hall, Granville Stanley: Adolescence. New York: D. Ampleton and Company 1904, S. 192. 341 Vgl. Mayer: Bildungsentwürfe und die Konstruktion der Geschlechterverhältnisse zu Beginn der Moderne. 1999, S. 23f.
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Beziehungsarbeit und Fürsorge das Bild der Frauen. Obwohl sich die Bedingungen der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung inzwischen grundlegend geändert haben, bedarf es noch immer der Etablierung eines Diskurses, der die überlieferten geschlechtsspezifischen Vorstellungen in Frage stellt und Frauen nicht allein mit Mutterschaft, Selbstlosigkeit und Selbstaufgabe konnotiert.342 Einen kritischen Zugang zu aktuellen Auseinandersetzungen mit der Geschlechterdifferenz liefert u. a. Sigrid Schmitz, die sich der Analyseebene Gender in Science verschreibt und in diesem Zusammenhang der Frage nachgeht, wie in der Hirnforschung und in ihrer populärwissenschaftlichen Verbreitung Geschlechterdifferenzen durch Bezugnahme auf die vorgebliche naturwissenschaftliche »Objektivität« manifestiert werden. Sie hinterfragt dabei auch die Argumentationslogik, die von wissenschaftlichen Disziplinen herangezogen wird, um ihre Ergebnisse und Vorstellungen zu ›bewahrheiten‹ und scheut nicht davor zurück, ihre Verwunderung darüber zu äußern, warum trotz eines verbreiteten Unbehagens in der Öffentlichkeit, der »Wahrheitsgehalt« deterministischer Konzepte angenommen wird.343 Daran, dass die Naturwissenschaften nach wie vor eine bedeutende Rolle bei der Konstruktion der bipolaren Geschlechterordnung einnehmen, ist nicht zu rütteln: »Mit der Autorität einer Naturwissenschaft ausgestattet, produzieren sie Wahrheiten über die Geschlechter und ihre Verhältnisse, sodass ihnen weiterhin eine starke Definitionsmacht in der Geschlechterkonstruktion zukommt.«344 Ein intensiver und notwendiger Dialog zwischen Geschlechterforschung und Naturwissenschaften bleibt immer noch aus, weil Naturwissenschaften »von einem Objektivitätspostulat und einer empirisch/positivistischer Perspektive geprägt sind«, so dass geschlechterperspektivische Fragen entweder als Vorwurf einer »schlechten Wissenschaft« oder als Ausdruck von Unwissenschaftlichkeit verstanden und als fachfremd ausgegrenzt werden.345 Die biologische Verursachung von Geschlechtsunterschieden im Verhalten prägt auch literarische Welten, in denen die biologistische Tendenz, geschlechtlich differente Begabungen und davon ausgehend unterschiedliche Eignung von Frau und Mann für einzelne 342 Vgl. Felden, Heide von: Geschlechterkonstruktion und Frauenbildung im 18. Jahrhundert. Jean Jaques Rousseau und die zeitgenössische Rezeption in Deutschland. In: Handbuch zur Frauenbildung. Hg. von Wiltrud Gieseke. Wiesbaden: Springer Fachmedien 2001, S. 25–34, hier S. 33. 343 Vgl. Schmitz, Sigrid: Frauen- und Männergehirne? Mythos oder Wirklichkeit. In: Geschlechterforschung und Naturwissenschaften. Einführung in ein komplexes Wechselspiel. Hg. von Smilla Ebeling/Sigrid Schmitz. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2006, S. 211–234, hier S. 212. 344 Schmitz, Sigrid/Ebeling, Smilla: Geschlechterforschung und Naturwissenschaft. Eine notwendige Verbindung. In: Geschlechterforschung und Naturwissenschaften. Einführung in ein komplexes Wechselspiel. Hg. von Smilla Ebeling/Sigrid Schmitz. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2006, S. 7–32, hier S. 13. 345 Ebd., S. 14.
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Tätigkeitsbereiche abzuleiten als »eine verwirrende Mischung aus legitimer wissenschaftlicher Hypothesenbildung und altbackenem Vorurteil«346 entblößt und kritisch hinterfragt wird.
4.2
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In ihrem Roman Die Klosterschule wendet sich Barbara Frischmuth gegen eine konventionell-konfessionelle Erziehung, deren VertreterInnen von einem ›Naturzustand‹ ausgehen und eine Annäherung der ›modernen‹ Bildung an diesen zu erreichen suchen. Ihrem Prosaerstling stellt sie die Worte des Augustinermönchs Abraham a Santa Clara voran, um zu zeigen, dass die Überwindung der gesellschaftlichen Zustände, die auf Geschlechterungerechtigkeiten aufbauen und geschlechtsspezifische Statusdifferenzen aus der Ausprägung von Gehirnstrukturen ableiten, nach wie vor vonnöten ist, weil das mentale Konstrukt der Gesellschaft veränderungsresistent zu sein scheint: »Eine rechte Jungfrau soll sein und muß sein wie eine Spitalsuppe, die hat nicht viele Augen, also soll sie auch wenig umgaffen.«347 Die dreifache ›Botschaft‹, die diesen Worten anhaftet, wird als frauenfeindliche Ideologie bloßgelegt, die der bipolaren Geschlechterpolitik ein fundamentales Machtinstrument liefert, um die geschlechtliche Segregation nicht nur aufrechtzuerhalten, sondern sie auch zu verstärken. Es ist zum einen – so Matthias Luserke – ein Männerwort, das keinen Widerspruch duldet, weil das Geburtsvorrecht, nach dem das Männliche über das Weibliche regiert, ununterbrochen Geltung erlangt. Zum anderen ist es das Wort eines Geistlichen, der ein geschlechterdifferenziertes Wort mit der Autorität der Kirche spricht und die Inferiorität der Frau christiologisch begründet. Schließlich ist es ein Wort, das durch den Vergleich mit der Spitalsuppe die Abwertung und Medizinalisierung der Frau zum Ausdruck bringt.348 In der Anordnung und Länge der einzelnen Kapitel, der Auswahl der Themen und in der sprachlichen Gestaltung versucht Barbara Frischmuth, die Starrheit und die Weltfremdheit des religiösen Schulsystems, seinen Einfluss auf die Dynamik der weiblichen Entwicklung sowie die Osmose zwischen kirchlicher Verkündung und weltlicher Gesellschaft zu veranschaulichen. Aus der Perspektive eines heranwachsenden Mädchens werden der Internatsalltag und das Klosterschulleben dargestellt, die 346 Hagemann-White: Sozialisation: Weiblich – männlich? 1984, S. 29. 347 Frischmuth, Barbara: Die Klosterschule. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag 1984, S. 5. 348 Vgl. Luserke, Matthias: Schule erzählt. Literarische Spiegelbilder im 19. und 20. Jahrhundert. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1999, S.109.
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den Satz von Abraham a Santa Clara zum Maßstab erklären und die weibliche Sozialisation in patriarchale Macht- und Gewaltstrukturen einbinden. Mit sanfter Ironie ahmt Frischmuth die verräterischen Sprachmuster nach, die die Autonomie des Empfindens, Denkens und Handelns beeinträchtigen und das heranwachsende Mädchen auf das Dasein einer willfährigen Ehefrau festlegen: »Doch seid ihr nun einmal in den geheiligten Stand der Ehe getreten, seid ihr zwar dem Gebot unterworfen, eurem Gatten zu dienen und ihm untertänig zu sein, doch soll dies im Bewußtsein des Werts geschehen, den er an euch besitzt.«349 Im klösterlichen Erziehungs- und Bildungsprozess, der den Frauen das Selbstbestimmungsrecht abspricht, wird das Verhältnis der Geschlechter als weibliche Unterlegenheit und männliche Dominanz eingeübt. Unterdrückungsmechanismen werden dadurch stabilisiert, dass die Erziehungsberechtigten die Macht über den Werdegang der adoleszenten Mädchen haben und sie unter Gewaltanwendung aufrechterhalten. Jeder Versuch, gegen die Schulordnung zu rebellieren, wird mit Gewalt unterbunden, denn die Klosterwirklichkeit duldet keine Form des Widerstandes. Aufsässigkeit und weibliches Selbstdenken sind nur im Traum erlaubt, also im Bereich, der nicht überwacht werden kann. In der Realität wird selbstständiges Handeln streng geahndet. Jeden Tag wird den heranwachsenden Schülerinnen im Rahmen des klösterlichen Erziehungs- und Bildungsprogramms eingetrichtert, in den Ehestand jungfräulich einzutreten sowie dem zukünftigen Mann mit Hingabe dienen zu müssen. Frischmuth macht auch keinen Hehl daraus, dass mit weiblicher Hingabe ein sklavenähnlicher Zustand gemeint ist, auf den Frauen vorerst theoretisch vorbereitet werden, um ihn dann im Stand der Ehe gekonnt ausleben zu können. Gebote, die es zu befolgen gibt und Verbote, die im Fall ihrer Verletzung zum allergrößten Verhängnis werden, sind dabei klar formuliert: Alle Vergehen und Fehltritte des Ehemannes – einschließlich des Ehebruchs – sollen mit unterwürfigem Verständnis hingenommen werden. Es ist auch angebracht, die Schuld dafür bei sich zu suchen und keineswegs Strafmaßnahmen einzuleiten, weil durch ein so ungeschicktes Verhalten »die von Gott gewollte Fortpflanzung innerhalb des […] eingegangenen Bundes ins Stocken geraten könnte.«350 Es ist lediglich erlaubt, dem untreuen Ehemann strafende Blicke zuzuwerfen, die ihm nicht nur »die Verächtlichkeit seines Tuns vor Augen führen«351, sondern ihn vielmehr merken lassen, »welcher Vorzüge er sich beraubt, wenn er sein Glück in einem anderen Schoß sucht.«352 Dementsprechend werden die Inhalte der Mädchenbildung auf die absolut notwendigen Kenntnisse, insbesondere zur Haushaltsführung, beschränkt. Un349 350 351 352
Frischmuth: Die Klosterschule. 1984, S. 40. Ebd. S. 41. Ebd. Ebd.
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abhängigkeit, Wettbewerbs- und Durchsetzungsfähigkeit, räumliches und mathematisch-naturwissenschaftliches Denken oder Vertrautheit mit Technologie stehen nicht im klösterlichen Bildungsprogramm, das trotz politischer, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Transformationen auffällige Parallelen zur Erziehungstheorie von Jaques Rousseau sowie seinen Vorgängern und Nachfolgern aufweist: Während der Mann theoretische Überlegungen anstellt, ist es die Frau, die ihn durch praktisch orientierte Nachfragen zum Denken anregen und später das durch den Mann erlangte Wissen anwenden soll. Theoretische Überlegungen selbst widersprechen hingegen der weiblichen Natur.353 Zum festen Bestandteil des Schulprogramms gehört auch die Unterdrückung der weiblichen Sexualität, die als »Einflüsterung des Bösen«354 stigmatisiert und mit brutalen Disziplinierungsmaßnahmen, strengen Keuschheitsgeboten und kruden Sexualtheorien unterdrückt wird. Im Rahmen des Schulprogramms wird zwar den Mädchen beigebracht, dass auch jene »Kräfte und Organe, die der Zeugung des Menschen dienen«355, gottgewollt sind, aber sie sollen ausschließlich für die Zwecke der Reproduktion beansprucht werden. Es ist in diesem Sinne verboten, die Zeugungskraft im außerreproduktiven Kontext zu missbrauchen. Eine Frau, die in wilder Begierde nach Liebhabern entbrannt, die »in ihrer Gier wie Esel und Hengste sind«356, begeht »die Schandtat der Schandtaten«357, die mit nichts aufzuwiegen ist. Das in der Schule vermittelte Wissen, das den Mädchen die sexuelle Selbstbestimmung abspricht und jede Form von Sexualität, die über das ›Zeugungsprinzip‹ hinausgeht, als Abnormität definiert, steht jedoch in einem kontradiktorischen Verhältnis zur subjektiven Aneignung des Lustkörpers. Trotz strenger Regeln, deren Verletzung immer unter Anwendung von körperlicher Gewalt und mit der Isolation bestraft wird, verstößt Frischmuths weibliche Romanfigur mehrmals gegen geltende Vorschriften. Dennoch bleiben auch solche Schritte der Abgrenzung vom geltenden Normen- und Wertesystem nicht frei von gesellschaftlich instituierten Regelungen. Das normierende Wissen wirkt dermaßen intensiv auf den weiblichen Körper ein, dass er selbst bei Sabotageakten es nicht vermag, sich der Selbstkontrolle und Selbstdisziplin zu entledigen. Auch wenn die namenlose Ich-Erzählerin und ihre Freundin Milla – ungeachtet strenger Verbote und Sanktionen – sich im Klosterpark den sexuellen Praktiken hingeben, entziehen sich diese Freizügigkeitsmomente nur teilweise den gesellschaftlichen Vorstellungen von Weiblichkeit und Männlichkeit. Um herauszufinden, wie sich das in die Sexualität eingeschriebene Übel anfühlt, üben sich die Mädchen im Küssen ein, ohne dabei vermittelte Rollenbilder außer 353 354 355 356 357
Vgl. Rousseau: Emil oder über die Erziehung. 1998, S. 420f. Frischmuth: Die Klosterschule. 1984, S. 71. Ebd. Ebd., S. 73. Ebd., S. 75.
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Acht zu lassen: »Milla ist ziemlich grob. Ihre Leidenschaftlichkeit sperrt mir den Atem ab, und wie oft wir es ihr auch sagen mögen, sie glaubt, mit Gewalt geht alles.«358 Auf der Suche nach Anregungen und Selbstentwürfen stößt Frischmuths weibliche Romanfigur ausschließlich auf Vorstellungen, in denen die Frau männlicher Dominanz und Gewalt wenig entgegenzusetzen hat. Im Vordergrund stehen nicht die aktive Aneignung und Erfahrung der eigenen Körperlichkeit und die Entdeckung sexueller Vorlieben, sondern eine Wendung zur Passivität. Die über den Erziehungs- und Bildungsprozess transportierten Inhalte prägen »den Genus in seinem Temperament und Charakter, in seinen Interessen, seiner Rangordnung, seinen Werten, Gesten und seiner Ausdrucksweise«359, so dass jeder Augenblick in der Schule ein Hinweis darauf ist, wie sie sich (auch bei unzulässigen Aktivitäten) zu benehmen haben, um die an den Genus gerichteten Forderungen zu befriedigen. Die kulturelle Prägung, die an dem Unterrichtsprogramm nicht vorbeigeht, trägt aber nicht nur zur gesellschaftlichen Positionierung von Mann und Frau, sondern auch zur Festlegung der Temperamentsunterschiede zwischen den Geschlechtern bei: Während das männliche Geschlecht ermutigt wird, aggressive Impulse zu entwickeln, wird das weibliche Geschlecht aufgefordert, dieselben Impulse zu unterdrücken und leistet diesem Gebot widerstandslos Folge. Die daraus resultierende Zuschreibung von Temperamenteigenschaften – Aggression ist männlich und Passivität ist weiblich – determiniert auch das ›Beziehungsplanspiel‹ der Internat-Mädchen, so dass Aktivität und Aggression für Milla vorgesehen sind, die innerhalb sexueller Praktiken in die Rolle des Mannes schlüpft und sich auch dementsprechend verhält: »Wir rücken ganz eng zusammen, legen je eine Hand auf den Stamm der Buche, wobei die von Milla auf der meinen zu liegen kommt, was ich in der Ordnung finde, schließlich ist sie der Mann.«360 Während Milla, die den männlichen Part nachahmt, ein Dominanzverhalten an den Tag legt, passt sich ihre namenlose Freundin den erworbenen Sexualtheorien an, die es der Frau vorenthalten, sich ihren Körper selbst (lustvoll) anzueignen, um auf diese Weise einen Zugang zu ihrer Erotik und Sinnlichkeit – ohne Angst vor Stigmatisierung – zu finden. Millas Hand auf der Hand ihrer Freundin ist in diesem Zusammenhang als eine Beherrschungsgeste zu deuten, in der sich die vermittelten Dominanzverhältnisse manifestieren und von der Erzählinstanz als solche akzeptiert werden. Obwohl die Freundschaft, die sich im Klima der (religiösen) Gebote und Verbote herausbildet, den Mädchen Raum bietet, den eigenen Körper frei von vereinnahmenden und frauenfeindlichen Zugriffen zu erforschen und zu entdecken, kann sich die Selbsterforschung nicht frei genug ent358 Ebd., S. 60. 359 Millett: Sexus und Herrschaft. 1971, S. 40. 360 Frischmuth: Die Klosterschule. 1984, S. 59.
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falten, denn der Weg zur Frau erfolgt unter gesellschaftlichen Bedingungen, »in denen das Geschlechterverhältnis so konstruiert ist, dass das Weibliche als Ergänzungsbestimmung eines sich absolut setzenden Männlichen in Erscheinung tritt«.361 Mit diesem zwiespältigen Sexualitätsentwurf schreibt sich Barbara Frischmuth in die feministische Sexualitätsdebatte ein, in der dem Sexuellen eine doppelte Funktion zugesprochen wird, »nämlich einerseits Zeichen der Sexualunterdrückung und andererseits Symbol der Sexualbefreiung zu sein.«362 Die Sexualität der Internat-Mädchen wird zwar von außen unterdrückt und mit Sanktionen belegt, im »Inneren des authentischen Kerns«363 regt sich jedoch trotz repressiver Maßnahmen das subversive Potenzial der Befreiung. So werden die weiblichen Schritte zur sexuellen Selbstständigkeit durch die kulturelle Geschlechtermatrix beeinträchtigt, ohne dabei die innere Emanzipation außer Kraft zu setzen. Anders als Barbara Frischmuth, die sich in erster Linie dem schulischen Erziehungsprozess als einem wichtigen Faktor bei der Erzeugung und Aufrechterhaltung eines dichotomen Wertesystems verschreibt, nimmt Heike Engel in ihrem Roman Was du heulst, brauchst du nicht zu pinkeln nicht nur die Schule als Unterdrückungsinstitution, sondern auch das familiäre Erziehungssystem unter die Lupe, um zu zeigen, inwieweit die Vorstellungen der Eltern an der Entwicklung der Genusidentität beteiligt sind und mit der Anschauung der Lehrkraft korrespondieren. Die Protagonistin Wiebke, aus dessen Perspektive die Geschichte dargestellt und kommentiert wird, wächst in einer Familie auf, die von Erziehungsmodus und (Gewalt)Ideologie des Nationalsozialismus geprägt ist. Ihr Vater Hugo, der im familiären Alltag gegenüber seiner Frau und seinen drei (Stief)Töchtern alle möglichen Formen von Gewalt – einschließlich sexueller Übergriffe – einsetzt, um seine Machtposition in der Familie zu behaupten, huldigt bis in die 1970er Jahre hinein dem Führer und seiner Geschlechterpolitik, in der die Unterdrückung der Frau eine wesentliche Voraussetzung für das Fortbestehen der autoritären Familie und der funktionsfähigen Gesellschaft darstellt. So wird Wiebke in ein System eingebunden, in dem Verwandtschaft Eigentum bedeutet und der Vater nicht nur als Familienoberhaupt und Entscheidungsträger, sondern auch als Erzeuger und Eigentümer seine Geltung erlangt. Der Familienalltag wird aber nicht nur durch gewaltsame Taten des (Stief)Vaters beeinträchtigt, sondern auch durch sein gewaltsames Sprechen, das 361 Flaake, Karin/John, Claudia: Räume zur Aneignung des Körpers. Zur Bedeutung von Mädchenfreundschaften in der Adoleszenz. In: Weibliche Adoleszenz. Zur Sozialisation junger Frauen. Hg. von Karin Flaake/Vera King. Weinheim-Basel-Berlin: Beltz Verlag 2003, S. 199– 212, hier S. 209. 362 Bauer, Yvonne: Sexualität – Körper – Geschlecht. Befreiungsdiskurse und neue Technologien. Opladen: Leske + Budrich 2003, S. 137. 363 Ebd.
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– auf sozialen Konventionen und Normen basierend – eine repressive Regulierung von Verhaltensweisen zum Ziel hat. Die familiäre Kommunikation ist durch Kategorisierung, Stereotypisierung, Abwertung, Diskriminierung und Erniedrigung gekennzeichnet, die dafür sorgen, dass weibliche Familienmitglieder innerhalb der sozialen Ordnung an einem minderwertigen Ort positioniert werden. In seinen Vorstellungen gelten Weiblichkeit und Männlichkeit als polare Gegensätze, die ihre Eigenschaften aus dem biologischen Repertoire beziehen und eine symbolische Grenze generieren, entlang deren die Mitglieder weiblicher Wohn- und Lebensgemeinschaft auf Distanz gehalten und in ihrem Handlungsraum eingeschränkt werden. Die geschlechtstypischen Spezifika, die unter anderem aus der ideologischen Belastung des Dritten Reiches herrühren, bestimmen auch seinen Umgang mit der Bildungsfrage. So weigert er sich hartnäckig, seine Tochter Wiebke – trotz nachdrücklicher Bitten sowie begabungsund leistungsbezogener Argumente ihrer Grundschullehrerin – aufs Gymnasium zu schicken. In seinem dichotomen Rollenmodell der Geschlechter finden sich nämlich Relikte der Tradition, die Frauen auf Kindererziehung, Haushalt, Pflege, Umsorgung etc. festlegt, so dass jede Form von Weiterbildung einer Zeit- und Geldverschwendung gleichkommt: Er ist der festen Überzeugung, dass Mädchen keine Bildung benötigen und tat Frau Ackers Vorschlag zunächst mit einer wegwerfenden Handbewegung ab. »Danke, aber damit setzt man dem Mädel nur Flausen in den Kopf.« Zudem führte er an, dass ein nachfolgendes Studium eine unnötige Geldausgabe sei, besonders im Hinblick darauf, dass ich später sowieso heiraten und Kinder kriegen würde.«364
Ein ›natürliches‹ Geschlecht, das den weiblichen Handlungsraum genetisch absteckt, gilt als eine der Erklärungsgrundlagen für Hugos Weigerung, in die gymnasiale Bildung seiner Tochter einzuwilligen und ihr somit die Möglichkeit zu geben, nicht nur ihre besonderen Begabungen zu entwickeln, sondern auch alternative Lebensszenarien zu entwerfen. Er ist dermaßen überzeugt, dass Wiebke den geschlechtsspezifischen Weg einschlagen wird, um sich in die Funktionalität traditioneller Geschlechterarrangements einzufügen, dass er den Einwand der Lehrerin – »Was macht Sie denn so sicher, dass Ihre Wiebke ausschließlich Hausfrau und Mutter werden will?« – als Irritation, Herausforderung und Gefahr für die tradierte Komplementarität der Geschlechterrollen wahrnimmt. Hinter den Argumenten, in die er sich zwangsläufig verwickelt, um den Einwand der Lehrerin abzuwimmeln, verbergen sich nicht nur geschlechtsbezogene Stereotype, Affekte und Verhaltensweisen, die auf einen ungleichen sozialen Status von Frauen und Männern insistieren, sondern auch Befürchtungen, 364 Engel, Heike: Was du heulst, brauchst du nicht zu pinkeln. Hagen-Berchum: Eisenhut Verlag 2011, S. 171.
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dass der weibliche Bildungs- und Erwerbsdrang die männliche Machtposition ins Wanken bringt: »Er führte im Gegensatz dazu an, dass es für den späteren häuslichen Frieden äußerst schädlich sei, wenn eine Frau mehr Geld als ihr Mann heimbringe.«365 Hugo hält an einer hierarchisch strukturierten Gesellschaftsordnung fest – und diese Einstellung lässt er sowohl in den Familienalltag als auch in den Erziehungsprozess einfließen –, die den Mann als Haupt der Familie und der Gesellschaft setzt. Beide Bereiche sind seiner Meinung nach auf den Mann und dessen physische und geistige Qualitäten angewiesen, so dass sie von der männlichen Überlegenheit an Stärke und Intellekt profitieren. Die Unterordnung der Frau liegt dagegen – genauso wie die Überlegenheit des Mannes – in ihrer Natur begründet, die sie dazu verpflichtet, mit der Männer- und Kinderumsorgung ihren Beitrag zur Funktionsfähigkeit der Gesellschaft zu leisten. Konklusiv ergibt sich für Frauen und somit auch für seine Tochter Wiebke daraus, dass alternative Lebensszenarien eine Gefahr für den häuslichen Frieden darstellen und nicht nur zum Wohl des Mannes, sondern zum Wohl der ganzen Gesellschaft im Keim erstickt werden sollen. Darüber hinaus ist er fest davon überzeugt, dass Wiebke nicht imstande ist, mit ihren Klassenkameraden in der Oberschule mitzuhalten, denn ihr »würde der nötige Grips fehlen.«366 So lässt Heike Enkel ihre Protagonistin Wiebke in einer Familienwelt agieren, in der sie nicht nur eine Vorstellung von der eigenen Geschlechtlichkeit erwirbt, sondern auch von der Geschlechtlichkeit der anderen Familienmitglieder. Das erzieherisch vermittelte (Geschlechter)Wissen lässt keinen Zweifel daran, dass die Geschlechtlichkeit in Familienstrukturen und Beziehungsmustern zu gedeihen hat und Handlungsräume entlang traditionaler Weiblichkeits- und Männlichkeitskonzepte eröffnet werden. Durch das Verhalten der Eltern – der Vater geht in seiner Herrscherrolle auf, während die Mutter in einem sklavenähnlichen System gehalten und immer wieder schwanger wird, um ihrem Mann den von ihm ersehnten Sohn zu schenken – soll die Geschlechtsrollenannahme, nicht nur erleichtert, sondern auch ›naturalisiert‹ werden. Der Familienraum, in dem Wiebke aufwächst, wird als ein frauenfeindlicher Gesellschaftskörper entworfen, der die Erziehungs- und Bildungsdimension von Familie, die in erster Linie von Liebe, Zuneigung, Zuwendung, Geborgenheit, Vertrautheit etc. getragen wird, nicht zur Geltung kommen lässt. Es wird stattdessen eine Erziehungspraxis inszeniert, die als ›Dressurhaushalt‹ bezeichnet werden kann: Der (Stief)Vater Hugo setzt klare Regeln, hinter denen sich die scharfen Konturen der gesellschaftlichen patriarchalen Interessen und Ideologien verstecken und sorgt mit Gewaltmechanismen dafür, dass sie widerstandslos umgesetzt werden. Jeder Versuch, gegen seine Entscheidungen zu rebellieren, wird blutig niedergeschla365 Ebd., S. 171. 366 Ebd., S. 247.
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gen, so dass nicht nur die Alltagsgegenwart der weiblichen Familienmitglieder wunschgemäß gesteuert, sondern auch ihre Zukunft verhandlungslos vorprogrammiert werden kann. Die Hartnäckigkeit von Wiebkes Lehrerin, die es nicht müde ist, Hugo davon zu überzeugen, dass seine Tochter »allemal das Zeug zum Studieren hätte«, wird zwar damit belohnt, dass er sich dazu durchringt, Wiebke auf die Mittelschule zu schicken, aber dort wird sie mit einem Klassenlehrer konfrontiert, der frauenfeindliche Ansichten ihres Vaters teilt und die Schule als einen Ort definiert, an dem Mädchen fehl am Platz sind: Meinen Klassenlehrer fürchte ich, aber seinen Spott noch mehr. […] Mit Vorliebe nennt mich Herr Holzhagen dumme Gans und Traumsuse, aber das Schlimmste ist, dass er mich nie dran nimmt, wenn ich mich melde. So ergeht fast allen Mädchen in meiner Klasse, außer Silke und Alexandra und den Jungs. Das sind seine Lieblinge. Silkes Vater spielt mit Herrn Holzhagen im selben Verein Tennis und ist ein hohes Tier bei der Stadtverwaltung. Mit ihm will er sich ebenso wenig verderben, wie mit Alexandras Vater, der als Oberarzt im Krankenhaus arbeitet und der unserem Lehrer vor kurzem ein Knie operiert hat. […] Die Bevorzugung macht uns traurig und wütend, doch etwas dagegen vorzubringen, getrauen wir uns nicht. Stattdessen versuchen wir uns im Unterricht so unsichtbar wie möglich zu machen, um bloß nicht unnötig aufzufallen.367
Heike Engel bringt einen misogynen Realschullehrer auf die Bühne, um aufzuzeigen, dass Lehrkräfte, denen eine zentrale Aufgabe im Sozialisationsprozess der Heranwachsenden in der Schule zukommt, ihrem Erziehungs- und Bildungsauftrag nicht immer gerecht werden. Herr Holzhagen, der dem weiblichen Geschlecht intellektuelle Fähigkeiten abspricht und das männliche Geschlecht – auch wenn es keine intellektuellen Leistungen zu erbringen vermag – generell bevorzugt, steht exemplarisch dafür, dass Interaktionen der Lehrkräfte im Unterricht von ihren eigenen Geschlechtsstereotypen, Vorurteilen und voreingenommenen Erwartungen geprägt sind und somit großen Anteil an einer geschlechtsstereotypen (Weiter)Entwicklung ihrer SchülerInnen haben (können). Herr Holzhagen ist zwar bereit, Zugeständnisse an manche Mädchen zu machen und somit auch ein frauenfreundlicheres Verhalten an den Tag zu legen, aber seine Großzügigkeit ist keineswegs auf ihre besonderen Begabungen zurückzuführen, die er trotz einer ausgesprochenen Abneigung gegen das Weibliche zu schätzen weiß. Silke und Alexandra werden einzig und allein aus Interessengründen nicht diskriminiert und gedemütigt, weil der soziale Status ihrer Väter sowie die daran gekoppelte Angst, von der Rangposition der beiden Männer nicht mehr profitieren zu können, sich stärker als Frauenhass erweisen, den Holzhagen in Ausnahmesituationen zwar unterdrücken, aber nicht restlos 367 Ebd., S. 189f.
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überwinden kann. Geschlechtsspezifische Vorurteile und Erwartungen des Lehrers, die (un)bewusst sein Verhalten gegenüber weiblichen und männlichen Schülern steuern, tragen dazu bei, dass sich Mädchen entsprechend seiner Vorstellungen verhalten und darum bemüht sind, im Schatten von favorisierten Jungs zu bleiben, um auf diese Weise den Demütigungsritualen entkommen zu können bzw. die Häufigkeit ihres Auftretens auf das ertragbare Minimum zu reduzieren. So durchläuft Wiebke in der Schule einen Sozialisationsprozess in dem sie sich neben dem offiziell vermittelten Lehrstoff auch das Wissen über ihre Rolle und ihren Wert als Frau aneignet. Durch die geschlechtsspezifische Voreingenommenheit des Lehrers lernt sie, die männlichen Mitschüler als klüger, mächtiger, durchsetzungsfähiger und leistungsstärker wahrzunehmen, auch wenn sie den meisten von ihnen intellektuell weit voraus ist. Geschlechtsspezifische Differenzen im Bewertungs- und Kommunikationsverhalten des Lehrers manifestieren sich auch in der Verteilung von Aufmerksamkeit und Bestätigung. Die Jungen werden von ihm häufiger drangenommen und bekommen mehr positive Kritik als Mädchen, so dass sie sich in ihrem – nicht selten aggressiven – Verhalten bestätigt fühlen und Weiblichkeit mit Schwäche und Defizit assoziieren. Sowohl Wiebke als auch andere Mädchen erfahren in der Schule trotz guter Noten systematische Abwertung und verschwinden in Unsichtbarkeit, während die Jungen auch bei schlechteren Leitungen von dem Lehrer gefördert werden und allein aufgrund ihrer biologischen Geschlechtszugehörigkeit seine Aufmerksamkeit und Zuwendung genießen. Entwürfe der Erziehung zur Weiblichkeit und der geschlechtscodierten Bildung fließen auch in den Roman Die Mittagsfrau von Julia Franck ein und werden an der Lebensgeschichte der Protagonistin Helene veranschaulicht. Zentral ist in diesem Fall sowohl die Frage nach dem Zusammenhang von Familie und Geschlecht oder genauer gesagt die Frage, inwieweit das Geschlecht als soziale Konstruktion durch die Familie erzeugt wird als auch die Frage, inwieweit das biologische Geschlecht die Bildungs- und Berufsoptionen einschränkt und somit die Entwicklungschancen beeinträchtigt. Helenes Biographie ist von Anfang an durch eine konflikthaft erfahrene Weiblichkeit geprägt, die sich an solchen Aspekten wie Ablehnung, Entfremdung, Stigmatisierung und schließlich Abwertung entlang reibt und sie daran hindert, über ihren eigenen Schatten zu springen und ein selbstbewusstes Lebenskonzept zu entwickeln. Schon als Kind lernt sie, dass die Familie aus zwei Geschlechtern besteht, deren Status nicht gleich ist, so dass sie sich voneinander in vielerlei Hinsicht unterscheiden und nicht nur innerhalb der häuslichen Verwaltung, sondern auch in der familiären Gefühlswelt in einem hierarchischen Verhältnis zueinander stehen. Die Vergeschlechtlichung von Familienstrukturen erfolgt dementsprechend nicht nur durch den Inhalt von Tätigkeiten, Aufgaben oder Erwartungen, mit denen weibliche Familienmitglieder in ihrem Alltag konfrontiert werden. Sie nimmt in
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erster Linie die Form der Hierarchisierung in begehrte und ungewollte Kinder an, wobei das biologische Geschlecht das Umkippen in die eine oder andere Richtung bewirkt. Helene wird von ihrer Mutter Selma dafür bestraft, dass sie als ein gesundes Mädchen zur Welt gekommen ist, während ihre vier Brüder bei der Geburt oder kurz danach gestorben sind. Ihr biologisches Geschlecht impliziert eine dermaßen große Enttäuschung, dass die Mutter sich nicht nur weigert, die Andersartigkeit ihrer Tochter zu respektieren, sondern ihr auch einen Namen zu geben. Helene wird von ihr »das Kind« genannt und bereits am ersten Tag ihres Daseins an den Rand des familiären Systems verwiesen. In den Augen ihrer Mutter hat Helene als weibliches Kind es nicht verdient, durch die Namensgebung akzeptiert und somit den Status eines vollberechtigten und begehrten Familienmitglieds zu bekommen. Ihr Geschlecht erweist sich als zentrale Strukturkategorie, die eine ungleiche Positionierung innerhalb der familiären Gefühlsordnung bewirkt und hausinterne Exklusionssmechanismen in Gang setzt: Während Selma ununterbrochen und laut ihren männlichen Kindern nachtrauert und nicht mal bereit ist, den Verlust zu verarbeiten, um ihrem weiblichen Kind eine Chance zu geben, in den Bereich des Begehrten integriert zu werden, fängt Helene zwangsläufig an, ihr Geschlecht als Defizit und Fluch zu begreifen. Der Entfremdungsprozess wird durch Selmas Bemühungen begünstigt und zugleich beschleunigt, ihre Erwartungsenttäuschung auf vielen Ebenen zu kommunizieren: So wird das Gefühl, als weibliches Kind unerwünscht zu sein, einerseits durch das Sprachrepertoire der Mutter intensiviert, in dem die menschenverachtenden Bezeichnungen wie »nichtsnutzige Brut«368 oder »verfluchtes Balg«369 die Oberhand gewinnen und an der Tagesordnung sind. Und andererseits erfolgt die Ablehnung auf einer körperlich-emotionaler Ebene, indem Helenes Versuche, die Aufmerksamkeit, Zuwendung oder Zuneigung ihrer Mutter zu ergattern, an Selmas emotionaler Nichtverfügbarkeit, Nichtansprechbarkeit, Unsensibilität, Feindseligkeit und schließlich Gewalttätigkeit scheitert. Von ihrer eigenen Mutter wird sie als Eindringling wahrgenommen, dessen Geschlecht die Enttäuschung einer Erwartung verkörpert und durch seine Unvertrautheit krisenhafte Begegnungen und konflikthafte Situationen provoziert. Was es heißt, eine Frau zu sein, erfährt Helene auch in den späteren Jahren, als sie ihre Bildungs- und Berufspläne anspricht und diesbezüglich Ansprüche stellt, die abgelehnt werden. So wird Helenes Drängen, auf eine Höhere Töchterschule zu gehen, die nicht nur der Berufsausbildung für Lehrerinnen dient, sondern auch Frauen zum Abitur führt und ihnen somit den Weg zum Studium bahnt, von der Mutter mit dem Argument unterbunden, dass es die allerhöchste Zeit ist, etwas Praktisches zu erlernen und sich dadurch nützlich zu machen. Die Edukati368 Franck: Die Mittagsfrau. 2009, S. 33. 369 Ebd., S. 107.
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onspläne ihrer Tochter betrachtet sie als Zeichen einer kindlichen Überspanntheit und Aufsässigkeit, die es auszutreiben gilt: »Allein die Vorstellung, dass ihre Tochter Lehrerin werden könnte und in ihrer kindlichen Unbefangenheit einmal den Wunsch nach einem medizinischen Studium geäußert hatte, behagte Selma nicht. Aufmüpfig und widerborstig ist das Kind, flüsterte sie für sich.«370 Helenes berufliche Zukunftspläne werden aus wenigstens zwei Gründen boykottiert: Die (höhere) Bildung, die in Selmas Augen nichts anderes als eine »gepflegte Faulenzerei«371 darstellt, läuft einerseits der gesellschaftlichen Funktionalität der Frau zuwider, so dass es völlig sinnlos ist, ein so »kostspieliges Vergnügen«372 um weitere Jahre zu verlängern. Andererseits verlangt sie von Helene, die Druckerei ihres Vaters zu managen »und nun in dessen dem Krieg geschuldeten Abwesenheit Einkäufe und Buchführungen«373 zu übernehmen, so dass keine roten Zahlen mehr geschrieben werden. Eine solche Lösung ließe die Haushaltskasse aufstocken, denn schließlich »würde sie Helene für die selten anfallenden Arbeiten und die wenigen Aufträge, die überhaupt noch kamen, nicht bezahlen müssen.«374 Selmas Argumentationslinien bewegen sich entlang dem Prinzip der Funktionalität, die sich nicht nur in der optimalen Erfüllung gesellschaftlicher Anforderungen manifestiert, sondern auch für das häusliche Wohlergehen sorgt. Brauchbarkeit und Nützlichkeit bekommen demzufolge den Status einer Erwartung, die nicht nochmals irritiert werden darf. Dass ihrer Tochter auf diese Weise im Streben nach individueller Entwicklung und Glückseligkeit zugunsten des familiären und gesellschaftlichen Gemeinwesens Abstriche an ihren persönlichen Entfaltungsmöglichkeiten auferlegt werden, erweist sich als irrelevant. In Selmas Welt impliziert Helene sowieso eine geschlechtliche Enttäuschung, die mit nichts aufzuwiegen ist, so dass es auch in ihrem eigenen Interesse liegt, sie nicht weiter zu vertiefen. Innere Bedürfnisse und Impulse sollen in dieser Perspektive zurückgesteckt und die bestehende Ordnung, die auf der Unterwerfung und Demut gründet, (an)erkannt werden. Die Verknüpfung von Weiblichkeit und Bildung hält auch der chirurgische Professor der Bautzener Klinik für absurd, an der Helene Einstellung als Krankenschwester findet, als die Druckerei ihres Vaters bankrottgeht. Es kostet ihn zwar keine Überwindung, ihrer Begabung und Gescheitheit Lob zu schenken, so dass er sie sich eines Tages sogar als seine Assistentin vorstellen kann, aber Helenes Pläne, nach Berlin zu ziehen, um dort zu arbeiten und vielleicht auch Medizin zu studieren, stoßen auf eine schonungslose Kritik seinerseits:
370 371 372 373 374
Ebd., S. 79. Ebd. Ebd. Ebd., S. 82. Ebd., S. 79.
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Studieren – vielleicht? Sie haben ja gar keine Vorstellung, was das bedeutet, Kind. Wissen Sie, welchen Einsatz ein Studium erfordert, welche Beherrschung des Geistes, welche Fordernisse? Denen sind Sie nicht gewachsen. Es tut mir leid, Ihnen das offen sagen zu müssen, Kind, aber ich möchte Sie warnen. Ja, ich muss Sie warnen. Und die Kosten, Sie machen sich keine Vorstellung von den Kosten. – Wer soll für sie aufkommen, wenn Sie studieren? Sie sind doch kein Freiwild, das als Dirnen durch die Welt tingeln wollte.375
Seine Argumentation gegen das Frauenstudium stützt sich vor allem auf die Annahme, dass die weiblichen Verstandeskräfte beschränkt sind, so dass Helene es intellektuell einfach nicht vermag, den Forderungen und Anstrengungen, die ein Hochschulbereich mit sich bringt, gerecht zu werden. Die Wissenschaft gilt in seinen Vorstellungen als ein Metier, das nur Männer mit Erfolg betreten können, weil sie – im Gegensatz zum weiblichen Geschlecht – nicht nur in der Beherrschung des Geistes geübt sind, sondern sich auch durch Ausdauer, Beharrlichkeit, Mut und Durchsetzungskraft auszeichnen, also Eigenschaften besitzen, die ein intellektueller Einsatz notwendig macht. In den Worten des Medizinprofessors schimmert ein impliziter Verweis auf ›natürliche‹ Unterschiede durch, der die kulturelle Positionierung von Frau und Mann begründen und somit auch den Zugang zum Studium geschlechtlich regeln sollte. Vor diesem Hintergrund sieht er sich als männlicher und medizinischer Wissenschaftler genötigt, Helene von ihren Plänen abzuraten und zwar nicht nur aufgrund der harten ›biologischen‹ Fakten, die nicht zu widerlegen sind, sondern auch im Hinblick auf finanzielle Kosten, die sich in ihrer Situation nur unter Einsatz ihres attraktiven Körpers abdecken ließen. Seine Argumentation zielt mithin darauf ab, Helene einerseits ihrer intellektuellen Potenz sowie ihrer Individualität zu berauben und sie andererseits auf die Funktion(en) ihrer Sexualität – Erotik, Verführung, Triebhaftigkeit, Zügellosigkeit etc. – zu reduzieren. Auf diese Weise versucht der chirurgische Professor, ihre emanzipatorischen Ansprüche streitig zu machen, indem sie von ihm indirekt bezichtigt wird, unter dem Deckmantel des Studiums eine Emanzipation der sexuellen Freiheit anzustreben. Er wirft ihr diesbezüglich vor, »dem Schoß ihrer Herkunft so unverantwortlich den Rücken zu kehren«376 und zieht eine Verbindungslinie zwischen der Großstadt und der Prostitution, der sie im Zuge der Umsetzung ihrer Pläne zwangsläufig verfallen müsse. In seiner Bewertung steht Berlin als Großstadt nicht primär für die moderne und bildungsnahe Gesellschaft, für deren Fortschritt sowie für bessere Aufstiegsmöglichkeiten auch für Frauen, sondern es wird als Ort der Verführung und des Selbstverlustes mit dem Triebhaften gleichgesetzt und auf diese Weise dem weiblichen Prinzip unterstellt. Letztendlich sind es jedoch weder die Mutter 375 Ebd., S. 161. 376 Ebd., S. 158.
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Selma noch der chirurgische Professor, die Helene mit einer frauenfeindlichen Argumentation von ihrem ambitionierten Projekt abzubringen vermögen. Es ist einzig und allein der Zweite Weltkrieg, der mit seiner menschenverachtenden Vernichtungspolitik dafür sorgt, dass der Drang nach Bildung abrupt dem Drang nach Leben Platz räumt und andere Impulse mobilisiert. In allen drei Romanen werden weibliche Figuren in einen Lebensraum eingebunden, der an der Produktion ungleicher Chancen für Männer und Frauen durch ungleiche Erziehungs- und Bildungsprozesse beteiligt ist. Weiblichkeit und Männlichkeit werden dabei als Produkt gesellschaftlich-politischer Diskurse entblößt, die epochenübergreifend den soziokulturellen Status der beiden Geschlechter determinieren und jeden Versuch, sich der geschlechtlichen Zuschreibung zu entziehen, mit dem Verweis auf die Natur des Menschen unterbinden. Die biologische, genetische und hormonelle Ausstattung gilt in dieser Perspektive als Argument, das den Rahmen vorgibt, in dem sich die Ausgestaltung der Geschlechtlichkeit – das Denken, Empfinden, Bilden und schließlich Handeln des (weiblichen) Individuums – entfalten kann. In einem aktiven Erziehungs- und Bildungsprozess sowie in den in ihm eingelagerten Rollenmustern erwerben die weiblichen Figuren ihre individuelle Geschlechtsidentität, die sich an biologisch orientierten Erklärungsansätzen entlangreibt und bei jedem Regelverstoß mit Sanktionen überhäuft wird. Es ist sowohl das Verhalten der Eltern als auch die Einstellung und Behandlung von Lehrkräften oder Repräsentanten der Wissenschaft, die das Rollendenken und Rollenverhalten der Protagonistinnen beeinflussen und ihrem Handlungsraum klare Grenzen setzen. In allen Sozialisationsbereichen – in Familie, Schule und Beruf – werden sie in vielfacher Weise geschlechtsspezifisch eingeschränkt und im Ausschöpfen ihres Potenzials, in der Erweiterung ihrer sozialen Kompetenzen sowie in der Entfaltung ihrer Lebenskonzepte benachteiligt. Sie agieren in einem kulturellen System, das ihnen nicht nur die kognitive Unterscheidung von Frau und Mann abverlangt, sondern auch Erlaubnisse und Verbote für ihre Bedürfnisse formuliert und deren Einhaltung erwartet. Die Funktionalisierung der Familie und der (Hoch)Schule für die Gesellschaftspolitik ist in allen drei Romanen offensichtlich. Diese Sozialisationsbereiche werden mithin als Generatoren struktureller Gewalt entblößt, die ein relativ deutliches Bild dessen vermittelt, was Frau und Mann jeweils symbolisch vertreten. Es ist also nicht der erzieherische oder pädagogische Auftrag, der im Vordergrund steht, sondern die staatsbürgerliche Disziplinierung, die darauf abzielt, das Verhalten des Individuums gemäß seiner Geschlechtszugehörigkeit zu bewerten. Sowohl in der Familie als auch in der Schule oder im Beruf lernen die Protagonistinnen, dass der männliche Tätigkeitsbereich übergreifend ist und die Statuszuordnung von Frauen immer im Zusammenhang mit ihrer Beziehung zu Männern vollzogen wird bzw. vollzogen werden sollte. Auf diese Weise wird ihnen zugleich anerzogen und beigebracht, dass es nur eine Welt-
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rangordnung gibt: Ein soziales Sinnsystem, das die männlichen Eigenschaften – auch wenn sie fiktiv sind – höher bewertet. In allen drei Texten wird auch der Zusammenhang von seelischer Entwicklung und körperlicher Züchtigung evident, so dass der weibliche Körper als Medium der Fortschreibung und Festigung gesellschaftlicher Macht- und Gewaltstrukturen erscheint. Familie und Schule werden nicht als Orte konstruktiver Erfahrung und positiver Herausforderung mit viel Platz für Offenheit semantisiert, sondern als Unterdrückungsorte, dessen Grenzen keine Grenzüberschreitungen zulassen. Es sind nicht Wissen und geistige Fitness, die über Erfolg oder Misserfolg weiblicher Figuren entscheiden, sondern die Notwendigkeit, sich patriarchalischen Macht- und Herrschaftsverhältnissen unterzuordnen und das Geschlecht als konstante Natur zu begreifen. Die Anwendung von physischem und psychischem Zwang gegenüber den weiblichen Figuren basiert in dieser Perspektive nicht nur auf individuellen Überlegungen von Eltern und Lehrkräften, sondern sie resultiert aus gesellschaftlich bedingten Rollenerwartungen, die mit der Autorität der Familie, Schule, Wissenschaft und der Kirche gesprochen und stabilisiert werden. Es handelt sich hier demzufolge um keine Gewalt des Einzelnen, sondern um strukturell-institutionelle Gewalt, eine immanent vorgegebene Gewalt in einem gesellschaftlich-politischen System, das die volle Entfaltung der individuellen Anlagen durch eine autoritäre Vorstellung von Eigentum und Macht zu verhindern sucht. Familie und Schule werden als Erfahrungsort inszeniert, »an dem die Entstehung, Entwicklung und Selbstbildung des Subjekts in seiner Geschlechtlichkeit grundgelegt wird.«377 Gleichzeitig wird jedoch aufgezeigt, dass der Prozess der familiären und schulischen Vergeschlechtlichung nicht unberührt von gesellschaftlichen Verhältnissen bleibt, so dass auch gesellschaftliche Veränderungen wie auch Veränderungsresistenzen in den Mittelpunkt geraten, die den Prozess der Vergeschlechtlichung maßgeblich beeinflussen. Veränderungen sind dabei auf verschiedenen Ebenen zu konstatieren: Bei Heike Engel werden zwar auf der Ebene der Sozialstruktur sowohl Bildungs- als auch Erwerbsbeteiligung von Frauen zur Selbstverständlichkeit, indem sie weibliche Lehrkraft auf die Bühne bringt, die nicht nur kompetent ist, sondern sich auch dafür engagiert, dass auf der kulturellen Ebene allgemeine Geschlechtsrollenerwartungen ihre ›Natürlichkeit‹ und somit ihre Legitimität einbüßen. So werden Mädchen dazu animiert, ihre Geistesmöglichkeiten nicht nur wahrzunehmen, sondern sie auch auszuschöpfen und sich somit über die Konventionen hinwegzusetzen, die sie an den Haushalt binden. Eine Relativierung und Umdefinierung von Geschlechtsrollenstereotypen, die dafür sorgen, dass Männer- und 377 Micus-Loos, Christiane: Familien als Orte der Herausbildung, Tradierung und Veränderung von Geschlechtlichkeit. In: ZiF Bulletin Texte 26 Warum noch Familie? Hg. von Zentrum für interdisziplinäre Frauenforschung. 2003, S. 1–13, hier S. 1.
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Frauenrollen sich in vielen Aspekten annähern, kommt auch bei Julia Franck zur Geltung. Anders als ihre Mutter Selma bleibt Helene beruflich aktiv und spielt – auch wenn ungünstige Bedingungen zusammenfallen – mit dem ambitionierten Gedanken, Medizin zu studieren. Diese Veränderungsprozesse werden aber gleichzeitig von einer Veränderungsresistenz flankiert: Die im Bildungswesen vorhandene Chancengleichheit von Frauen und Männern wird nämlich von der Familie und/oder von der Lehrkraft unterdrückt bzw. eingeschränkt, so dass die Veränderung und Relativierung geschlechterbezogener Codierungen nicht ihre Auflösung bedeutet. Von einer annähernden Gleichbehandlung der vielfältigen Lebensweisen kann nicht die Rede sein, weil die bestehenden Gesellschaftsordnungen mit ihren außerfamilialen Institutionen wie (Hoch)Schulen auf die Funktionalität traditionelle Geschlechterarrangements in der Familie hinarbeiten. Die Vertreter des literarisch entworfenen (Hoch)Schulwesens sind – mit einigen wenigen Ausnahmen bei Heike Engel – kaum daran interessiert, die familiäre Chiffrierung der Geschlechtszugehörigkeit als gesellschaftliches Konstrukt anzuprangern und alternatives Wissen anzubieten, so dass biographisch betrachtet eine Mutation stattfindet: Aus dem von der Familie geprägten Individuum wird ein von der Kultur geformtes Individuum. Als Übergangsobjekt, das zwischen Familie und Kultur vermittelt, bietet die Schule kein Wissen, das es möglich macht, sich neue Identifikationsformen anzueignen und solche Aspekte der Kultur abzulehnen, die das weibliche Individuum an der Entfaltung eigener kreativer Potenziale hindern. Die weiblichen Figuren sehen sich sowohl in der Familie als auch in der Schule und im Beruf mit Abweisungsgesten, Zwängen, Forderungen, Einschränkungen und Strafen konfrontiert, von denen sie nicht nur als Individuen betroffen sind, sondern auch als Angehörige einer bestimmten (geschlechtsspezifischen) Gruppe. Die Entpersonalisierung ist das Hauptmerkmal dieser Erziehungs- und Bildungssysteme. Die einzelnen verlieren ihren Namen sowie ihre Individualität und finden sich in einem System von Regeln, Verordnungen und Sanktionen wieder, die sie erlernen müssen, um sich auf gesellschaftliche Arrangements einlassen zu können. Volle Mitgliedschaft, Zugehörigkeit und Identität wird den Frauen nur in einem Bereich – in Ehe und Familie – zugestanden: »Diese Zuweisung impliziert für sie aber nicht die Verfügbarkeit eines Bereichs, in dem individuelle Entwicklung stattfinden kann, sondern besteht aus Normen und Erwartungen, denen die Frau gerecht werden muß.«378 Familie und (Hoch)Schule werden also als ein institutionelles Gefüge von Erwartungen und Wertsätzen inszeniert, die mittels von Zwängen und Gratifikationen aufrechterhalten werden und Frauen daran hindern, ihre materielle, psychische und emotionale Zukunft auf der Basis ihrer eigenen Fähig378 Benard, Cheryl/Schlaffer, Edit: Die ganz gewöhnliche Gewalt in der Ehe. Texte zu einer Soziologie von Macht und Liebe. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1984, S. 156f.
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Erziehungs- und Bildungssysteme als Generatoren
keiten und Entscheidungen zu gestalten. In Anlehnung an Kate Millett könnte man schlussfolgern, dass sowohl bei Barbara Frischmuth wie auch bei Heike Engel und Julia Franck die Erziehungs- und Bildungssysteme – vertreten durch Familie und (Hoch)Schule – als Einzelorgane einer größeren Gesellschaft inszeniert werden. Sie bestärken ihre Mitglieder nicht nur darin, sich anzupassen, sondern handeln als Exekutivorgane eines patriarchalischen Staates, der seine Bürger durch die Familienoberhäupter regiert. Auch wenn Frauen gesetzliche Bürgerrechte zugestanden werden, werden sie meist durch die Familie regiert und haben wenig oder gar keine formalen Beziehungen zum Staat.379 Unterordnungs- und Rechtfertigungsbereitschaft gelten in diesem symbolischen Sinnsystem als Stigmamanagement, mit dem sich die weiblichen Figuren der Situation zu entziehen versuchen, um die schwankende Identität angesichts der ständigen Erfahrung der Exklusion zu stabilisieren und innerhalb der Verhaltens- und Kommunikationsstrukturen der Institution ihr weibliches Schicksal zu meistern. Der wesentliche Beitrag der Familie und (Hoch)Schule zum Erhalt der symbolischen Rangstruktur ist demnach der Sozialisierungsprozess der Kinder. Auf beiden Erfahrungsebenen lernen sie, den Erwartungen der patriarchalen Ideologie in Bezug auf Rolle, Temperament und Rangordnung gerecht zu werden. Obwohl sich im Erziehungs- und Bildungssystem kleine Abweichungen ergeben, die ein flexibleres Verständnis der Kulturwerte zulassen, wird sowieso in ihm doch eine überwältigende geschlechtsspezifisch diktierte Einheitlichkeit erreicht, die durch Kommunikationsmittel, Vermittlungsformen und andere (in)formelle Lehrquellen abgesichert wird und weibliche Akteurinnen auf eine bestimmte Art und Weise fest- und fortschreibt.
379 Millett: Sexus und Herrschaft. 1971, S. 42.
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Krankheitsbild ›Frau‹ – Hormonelle Bedingtheit als Pathologisierungs- und Psychiatrisierungsgrund
In ihrer Studie Krankheit Frau. Zur Geschichte der Einbildungen weist die Medizinhistorikerin Esther Fischer-Homberger darauf hin, dass sich in den wissenschaftlichen Geschlechtertheorien um die Jahrhundertwende die Tendenz abzeichnet, das ›Frau-Sein‹ mit dem ›Krank-Sein‹ gleichzusetzen: »Im 19. und früheren 20. Jahrhundert grassierte eine Krankheit, wie sie vorher und nachher nie grassiert hat, die Krankheit »weibliches Geschlecht«; dies in Europa so heftig wie in Amerika.«380 An medizingeschichtlichen Beispielen zeigt sie dementsprechend, dass die wissenschaftliche Pathologisierung und Psychiatrisierung der Frau, die Menstruieren, Schwangersein, Gebären, Wochenbett und Wechseljahre umfasst, weit über den medizinischen Bereich hinausgeht und nicht nur gesellschaftliche und kulturelle Implikationen verrät, sondern vielmehr eine Entwicklungslinie vorzeichnet, die darauf basiert, Nervenleiden und Geisteskrankheiten in den weiblichen Körper zu verbannen. Mit ihrem medizinhistorischen Beitrag zur Geschichte des Frauenkörpers wird somit gleichzeitig eine »Geschichte von dessen Kontrolle, Enteignung und Bemächtigung durch Zuschreibungen und Eingriffe männlicher Wissenschaftler«381 dargelegt. Die beeindruckende Anzahl an wissenschaftlichen Untersuchungen veranschaulicht, dass der Körperlichkeit der Frau in verschiedener Hinsicht eine besondere Bedeutung beigemessen wird. Allein der Blick auf die zeitgenössische Hysterieforschung, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts aus dem wissenschaftlichen Kontext hinaus zu einem gesellschaftlichen und raumgreifend diskutierten Modethema avanciert, erhellt die Methoden eines (medizinischen) Diskurses, »dem es gelingt, am Geschlecht der Frau nicht nur sexuelle, sondern neurologische und psychische Phänomene abzuhandeln und damit der weiblichen Sexualität und dem weiblichen Körper eine Relevanz zuzuschreiben, die über das 380 Fischer-Homberger, Esther: Krankheit Frau. Zur Geschichte der Einbildungen. Darmstadt: Luchterhand Literaturverlag 1984, S. 92. 381 Kaufmann, Margrit E.: KulturPolitik – KörperPolitik – Gebären. Opladen: Leske + Budrich 2002, S. 87.
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Krankheitsbild ›Frau‹
rein Physiologische nun weit hinausgeht.«382 Auch wenn der Umgang mit der weiblichen Körperlichkeit bis in die heutige Zeit durch Ambivalenz gekennzeichnet ist, wird der Frauenkörper – insbesondere in der feministischen Forschung – als gesellschaftliches Konstrukt und Instrument zur Durchsetzung und Aufrechterhaltung patriarchaler Strukturen diskutiert. Ein spezielles Augenmerk wird in dieser Perspektive der Dämonisierung von Menstruation entgegengebracht, die noch heute die Frage aufkommen lässt, ob Frauen während der Periode gleichermaßen leistungs- und zurechnungsfähig sind wie in der übrigen Zeit. So stolpert man auch in der aktuellen Forschung immer wieder über diverse Theorien, die darauf schließen lassen, dass die Debatte um den Einfluss des hormonellen Zyklus auf den psychischen und physischen Zustand der Frau mit allen möglichen Folgen für das rechtliche, gesellschaftliche und sexuelle Leben nichts an Aktualität eingebüßt hat. Die Überzeugung, dass geschlechtliche Funktionen der Frau unrein sind, herrscht weltweit und hat einen zeitlosen Charakter. Verweise darauf findet man sowohl im primitiven als auch im zivilisierten Kulturraum, der sich an den Kategorien ›Reinheit‹ und ›Unreinheit‹ entlang reibt und dafür sorgt, dass der menstruierende Körper stigmatisiert und verabscheut wird. Verantwortlich für die einseitigen Interpretationen, die Frauen aufgrund der Menstruation als minderwertig betrachten und sie infolgedessen von religiösen wie weltlichen Handlungen ausschließen, liegen aber nicht in Inkulturationsprozessen und Missverständnissen begründet, sondern wurzeln in patriarchalen Systemen. Dies bedeutet, dass sich zahlreiche Ausschlussregeln, die für die Frauen und die ganze Gesellschaft drastische Auswirkungen haben, nicht auf die religiösen Primärquellen zurückzuführen sind.383 Darauf, dass der weibliche Körper nicht nur eine biologische Gegebenheit darstellt, sondern zugleich als Ort kultureller Konstruktion fungiert und als Unterdrückungsinstrument eingesetzt wird, verweist bereits in den 1960er Mary Douglas in ihrer Studie Reinheit und Gefährdung, in der sie ihre Erkenntnisse über verschiedene indigene Völker versammelt. Sie plädiert dafür, die Kategorien ›Reinheit‹ und ›Unreinheit‹ primär als Ordnungskategorien bzw. als Nebenprodukte einer soziokulturellen Ordnung zu betrachten, die (Un)Reinheitsvorschriften schafft, um die Konformität der Gemeinschaft zu stärken und die bestehende Ordnung zu stabilisieren: »Die Kultur, im Sinne der öffentlichen standarisierten Werte einer Gemeinschaft, vermittelt die Erfahrung der Individuen. Sie stellt im voraus einige Grundkategorien bereit, ein positives Muster, in das Vorstellungen und Werte
382 Catani: Das fiktive Geschlecht. 2005, S. 20. 383 Vgl. Hafner-Al-Jabaji, Amira: Die Menstruation – Auszeichnung oder Makel der Frau? In: Körperlichkeit – Ein interreligiös-feministischer Dialog. Hg. von Judith Stofer/Rifa᾽at Lenzin. Markt Zell: Religion & Kultur Verlag 2007, S. 93–111, hier S. 94.
Krankheitsbild ›Frau‹
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säuberlich eingeordnet werden.«384 Durch ein systematisches Ordnen und Klassifizieren von Sachen wird eine ›geeignete‹ Ordnung generiert, in der ›Schmutz‹ fehl am Platz ist: »Unsauberes oder Schmutz ist das, das nicht dazu gehören darf, wenn ein Muster Bestand haben soll.«385 Douglas fasst den menschlichen Körper als Abbild einer Gesellschaft auf, so dass es keine »natürliche«, d. h. von der Dimension des Sozialen freie Wahrnehmung, Betrachtung und Bewertung des Körpers geben kann. Damit wird angedeutet, dass die Art und Weise, mit dem menschlichen Körper umzugehen, durch gesellschaftliche Deutungen und Wertungen geprägt ist, die sich wiederum innerhalb eines Diskurses niederschlagen.386 Dass ihre Erkenntnisse und Thesen bis heute aktuell sind, zeigen unter anderem die Ausführungen von Birgit Heller. Reinheit und Unreinheit definiert sie als Kategorien, die nicht nur einander bedingen, sondern auch einen »kulturell-religiösen Wertekosmos« zum Ausdruck bringen.387 Reinheit ist dabei nicht einfach als ein Synonym für Sauberkeit zu verstehen, sondern bezeichnet weitaus komplexere Sachverhalte und ist in ihrer Grundbedeutung das Ergebnis eines Vorgangs des Scheidens und Absonderns. Unreinheit und Reinheit sind in dieser Perspektive zentrale und einflussreiche kulturell-religiöse Kategorien, die dazu dienen, eine bestimmte Ordnung zu generieren, in der sich symbolische, kultische und soziale Strukturelemente überschneiden. Sie konstruieren aber zugleich eine bestimmte soziale Wirklichkeit, indem die Grenzen nach außen und innen geregelt werden wie etwa zwischen Männern und Frauen. Damit werden bestimmte Hierarchien geschaffen, die dafür sorgen, dass Gruppen, die nicht den Reinheitsnormen entsprechen, stigmatisiert und diskriminiert werden.388 Der Körper spielt in diesen (Un)Reinheitsdiskursen eine besondere Rolle – ein Umstand, der nicht zuletzt auf die Überzeugung zurückzuführen ist, dass insbesondere die Körpergrenzen und Grenzzustände des Körpers bzw. körperliche Grenzüberschreitungen von Unordnung bedroht sind, so dass sie zugleich als gefährlich und verunreinigend gelten. Obwohl Reinheitsnormen in der Regel für beide Geschlechter gelten, werden Frauen im symbolischen (kulturell-religiösen) Raum als potenziell unreiner eingestuft: Zum einen, weil sie durch ihre Körperfunktionen wie z. B. Menstruation regelmäßig in einen Zustand der Unreinheit geraten, und zum anderen, weil sie im dualistischen Denken patriarchal geprägter Gesellschaften generell stärker mit Körper und Sexualität 384 Douglas, Mary: Reinheit und Gefährdung. Eine Studie zu Vorstellungen von Verunreinigung und Tabu. Berlin: Dietrich Reimer Verlag 1985, S. 57. 385 Ebd., S. 59. 386 Vgl. Douglas: Ritual, Tabu und Körpersymbolik. 1993, S. 106. 387 Vgl. Heller, Birgit: Warum Unreinheit stigmatisiert wird? Blasen-, Darm- und Sexualstörungen aus kulturell-religiöser Perspektive. In: »Journal für Urologie und Urogynäkologie«/ Österreich, Vol. 27, 1–2020, S. 33–37, hier S. 33. 388 Vgl. ebd., S. 34.
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Krankheitsbild ›Frau‹
identifiziert werden als Männer.389 Damit wird (un)bewusst an Kate Millett angeknüpft, die schon in den 1970er Jahren darauf hinweist, dass ein großer Teil des Unwohlseins, das Frauen während ihrer Periode durchstehen, psychosomatischen und nicht physiologischen, kulturellen und nicht biologischen Ursprungs sind und patriarchalische Ansichten und Haltungen dafür verantwortlich macht, das Gefühl der körperlichen Identität der Frau mit absurden Theorien so lange zu manipulieren, bis der Körper oft tatsächlich zur Last wird, die er angeblich sein soll.390 In eine ähnliche Richtung argumentiert Carol Hagemann-White, wenn sie den bloßen Hinweis auf die Beteiligung der Hormone an emotionalen Zuständen als unzureichend abtut, um ein Stück rohe Natur mitten in der Gesellschaft zu enthüllen. Sie besteht darauf, die Hormone als eine spezifisch menschliche Möglichkeit zu begreifen, »nicht nur die Gedanken und die Bewegungen, sondern auch die Antriebskräfte und die Gefühle durch symbolische (z. B. sprachliche, bildliche) Vorgänge zu steuern. Eben weil die Hormonproduktion vom Gehirn gesteuert wird, die Hormone aber andererseits gesamtkörperliche Zustände mitbewirken, die wir als Emotionen erleben, sind sie ein Mittel der Integration von Körper, Begierde und symbolischem Denken.«391 Am Beispiel der Menstruation lässt sich diese Verknüpfung von Biologie und Kultur paradigmatisch illustrieren. Unter Berufung auf die Monatsblutung und die damit einhergehenden prämenstruellen Spannungszustände wird die intellektuelle und physische Leistungsfähigkeit der Frau in Frage gestellt und ihr sozialer Status beeinträchtigt. Aufgrund ihrer Fortpflanzungsphysiologie werden Frauen als ungeeignet für bestimmte Tätigkeitsbereiche erachtet und aus diesem Grund in ihrem Handlungsraum eingeschränkt, so dass ihre hormonelle Beschaffenheit zugleich der ideologischen Rechtefertigung ihres marginalen Status als Arbeitskraft dient – ein Umstand, den Judith Lorber wie folgt auf den Punkt bringt: »Was angeblich Frauen zu ›richtigen‹ Frauen macht – ihre Biologie –, macht sie zugleich zu Bürgern zweiter Klasse. Allein unter Berufung auf das Fortpflanzungspotenzial von Frauen wird bestimmt, wo sie arbeiten können und wo nicht, obwohl Untersuchungen ergeben haben, daß giftige Substanzen und andere arbeitsplatzbedingte Risiken die Spermaproduktion nicht minder schädigen dürften.«392 Das biomedizinische Modell, das (Prä)Menstruation und ihre Begleitumstände als eine im weiblichen Körper angesiedelte Pathologie definiert und aus diesem Grund ein hormonorientiertes Lebenskonzept vorschreibt, fließt auch in den 389 390 391 392
Vgl. ebd. Vgl. Millett: Sexus und Herrschaft. 1971, S. 59. Hagemann-White: Sozialisation: Weiblich – männlich? 1984, S. 31. Lorber, Judith: Gender-Paradoxien. Aus dem Englischen übersetzt von Hella Beister. Redaktion und Einleitung zur deutschen Ausgabe: Ulrike Teubner und Angelika Wetterer. Wiesbaden: Springer Fachmedien 1999, S. 97.
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juristischen Diskurs ein, der nach wie vor durch Kategorisierung, Pathologisierung und Psychiatrisierung der Frau gekennzeichnet und diese Mechanismen mit dem Verweis auf das Wohl der Frau zu übertünchen versucht. Im Folgenden soll exemplarisch ein aktuelles juristisches Projekt präsentiert werden, in dem der berühmt-berüchtigte Zusammenhang zwischen (prä)menstrualen Spannungszuständen, destruktiven Handlungen und pathologischen Verhaltensweisen Geltung erlangt. In diesem Zusammenhang werden auch – ebenfalls exemplarisch – Quellen aufgedeckt, die unter Beweis stellen, dass die dem Konzept nachgesagte Innovation im Grunde genommen einem Imitatio-Prinzip folgt, also die altbekannten Thesen auf neue Gegebenheiten anzuwenden versucht. In einem weiteren Schritt soll auf literarische Verhandlungen von ›(prä)menstrualen Verschwörungstheorien‹ und Menstruationsmythen eingegangen werden. Als Untersuchungsgegenstand gelten hierbei die Romane Die Klosterschule von Barbara Frischmuth und Eisblau mit Windschlieren von Anna Maria Leitgeb sowie die Romantrilogie – Mona Liza, Viktor und Nora. X. – von Erika Kronabitter, in denen der gesellschaftliche Umgang mit der Menstruation als Teil eines (Gewalt)Systems entblößt wird, das mit absurden Vorschriften, (Gewalt)Maßnahmen und Sanktionen dafür sorgt, dass Frauen einer kulturellen Hetze anheimfallen und ihre Geschlechtlichkeit als Last empfinden.
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La donna é mobile – Über die ›periodische‹ (Un)Zurechnungsfähigkeit der Frau
Seit Jahrhunderten steht die Menstruation im Mittelpunkt wissenschaftlicher und alltäglicher Diskurse, die unterschiedliche Deutungen, Bewertungen und Vorstellungen generieren und den weiblichen Körper für eine Fremdinterpretation freigeben. Esther Fischer-Homberger verweist in ihrer medizinhistorischen Studie darauf, dass die Menstruation in der Vergangenheit als »Zeichen eines Fehlers« interpretiert wurde und als ein pathologischer bzw. abnormer Zustand mit der »Schwäche des weiblichen Geschlechts« in engstem Zusammenhang stand.393 Nach dem Zweiten Weltkrieg verlor sie jedoch zusehends »an Symbol- und Symptomwert für die weibliche Schwachheit« sowie ganz allgemein an sozialer und kultureller Bedeutung, was sowohl mit der Emanzipation der Frau als auch mit dem Fortschritt in der Antikonzeption in Verbindung steht.394 In den letzten Jahren lässt sich aber eine Neuauflage der vergangenen Brisanz des Themas feststellen, was nicht zuletzt der feministischen Forschung zu verdanken 393 Vgl. Fischer-Homberger, Esther: Krankheit Frau. Und andere Arbeiten zur Medizingeschichte der Frau. Bern-Stuttgart-Wien: Hans Huber 1979, S. 49. 394 Vgl. ebd., S. 81f.
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ist. Es zeichnet sich dabei der Trend ab, der Menstruation Deutungen und Wertungen zuzuschreiben, die ihr einen »überhöhten Stellenwert im Leben der Frauen und somit auch innerhalb der Gesellschaft verleihen.«395 Sabine ZinnThomas, die in ihrer Studie Menstruation und Monatshygiene die Darstellung der Menstruation in den neueren – primär von Frauen verfassten – feministisch orientierten Menstruationsbüchern verfolgt, sieht darin ein Anzeichen dafür, dass im Rahmen des populärwissenschaftlichen Menstruationsdiskurses nicht nur Männer in ihren Darstellungen die weibliche Physiologie für männlich bestimmte biologische, soziale, mentale, psychische oder ökonomische Interessen verwenden, sondern auch die Autorinnen die Menstruation als Projektionsfläche einer zweckgerichteten Argumentation benutzen.396 Daraus folgt, dass die Deutung und Bewertung der Menstruation nach wie vor einen ideologischen Machtkampf wiederspiegelt, in dem sich eine spezifische Zeitsignatur offenbart. Für die Zwecke der vorliegenden Studie werden wissenschaftliche Diskurse der Vergangenheit und Gegenwart herangezogen sowie Verbindungslinien zwischen den einzelnen Theorien aufgezeigt, um die dem Menstruationsdiskurs zugrundeliegenden Intentionen der Autoren in Verbindung mit der These der Stigmatisierung und Instrumentalisierung der weiblichen Physiologie zu veranschaulichen. Dabei spielen die Überlegungen von Medizinern und Juristen eine besondere Rolle, die die Menstruation als eine Plattform für Projektionen verwenden, die zum Ziel haben, patriarchale Wert- und Zielvorstellungen umzusetzen und die dichotome (Geschlechter)Ordnung zu stabilisieren, die für Frauen einen inferioren Status vorsieht. Im Gegensatz zum Mann – so Stephanie Catani –, an dessen Synthese sinnlicher und rationaler Eigenschaften festgehalten wird, bleibt die Frau in wissenschaftlichen Beschreibungen und Analysen lediglich über ihren Körper und dessen Sexualität definierbar. Die Annäherung an den weiblichen Körper erfolgt dabei konsequent in seiner Abgrenzung vom »normalen« – dem männlichen nämlich –, so dass der Mensch als Mann die Prämisse jegliche anthropologischer Arbeit bleibt.397 Diese wissenschaftliche Pathologisierung der Frau lässt sich laut Catani nicht von einem generellen »Kult um Neurose und Krankheit« trennen, der um 1900 die wissenschaftlichen Abhandlungen zur Anthropologie des Menschen prägt und Nervenleiden sowie Geisteskrankheiten im weiblichen Körper positioniert. »Krankheit« meint in dieser Perspektive »einen explizit weiblich konnotierten Begriff, der – auch wenn er in Bezug auf den Mann verwendet wird, nichts von seiner generell femininen Determination einbüßt.«398 Unerlässlich bleibt in diesem Zusammenhang der 395 Vgl. Zinn-Thomas, Sabine: Menstruation und Monatshygiene. Zum Umgang mit einem körperlichen Vorgang. Münster-New York-München-Berlin: Waxmann 1997, S. 4. 396 Vgl. ebd. 397 Vgl. Catani: Das fiktive Geschlecht. 2005, S. 10. 398 Ebd. S. 19f.
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Blick auf die Thesen des Neurologen und Psychiaters Paul Möbius, der sein Forscherleben zum großen Teil dem Hirn von Frau und Mann im Vergleich widmet und daraus Schlüsse auf einen defizitären Zustand der weiblichen Seele und des weiblichen Geistes zieht. In seinem 1900 erschienenen Essay Über den physiologischen Schwachsinn des Weibes, der von der feministischen Forschung als Beispiel dafür zitiert wird, »wie die Wissenschaft Misogynie naturalisiert«399, geht er davon aus, dass die Frau sowohl körperlich als auch geistig »ein Mittelding zwischen Kind und Mann«400 ist. Die defizitäre physiologische Konstitution des weiblichen Geschlechts, die »das Weib thierähnlich, unselbstständig, sicher und heiter« macht, begründet nicht nur seine Inferiorität, sondern stellt vielmehr eine Krankheit unter Beweis, die nur dann kontrollierbar ist, wenn es in seinem Element – in der häuslichen Sphäre – agiert.401 Catani zufolge scheinen die Mediziner des ausgehenden 19. Jahrhunderts insbesondere darauf fixiert zu sein, den Einfluss des Geschlechts auf Nervenerkrankungen zu bewerten, wobei die von ihnen befürworteten Faktoren des Irreseins – geistige und körperliche Unterlegenheit, Menstruation, Schwangerschaft, Geburt etc. – weder empirisch nachgewiesen noch wissenschaftlich fundiert, sondern dogmatisch als bereits erwiesen vorausgesetzt werden.402 Irrt sich aber, wer meint, dass biologistische Theorien und männliche Beherrschungskulturen in den dynamischen Gesellschaften des heutigen Europas fehl am Platz sind, weil sie in demokratischen Strukturen als Störung des sozialen Friedens empfunden werden. Die neue Ordnung ist da, ohne das die alte als überwunden gilt. Die Zählebigkeit jener Formel, die dem Geschlechtersystem den Schein der Naturhaftigkeit verleiht, ist überraschenderweise oder – je nach Perspektive – ›natürlicherweise‹ in gebildeten universitären Kreisen zu spüren, wo der männliche Überlegenheits- und Dominanzgeist weiterhin umherzieht und danach strebt, das weibliche Geschlecht als ›periodische‹ Gefahr für sich selbst und für die betroffene Gemeinschaft darzustellen. Am 15. Mai 2015 wird an der juristischen Fakultät der Universität Wrocław (Polen) eine wissenschaftliche Tagung veranstaltet, deren Motto (nicht nur) in feministischen Reihen für Aufregung sorgt: »La donna é mobile. Der Menstruationszyklus und seine Folgen im juristischen Kontext.«403 Im Beitragsaufruf zur Tagung hebt Jacek Mazurkiewicz – einer der (ausschließlich) 399 Amlinger, Fabienne: Von weiblichem Schwachsinn, Blaustrümpfen und Frauen als Knalleffekt – die lange Tradition des Antifeminismus. In: »genderstudies. Zeitschrift des interdisziplinären Zentrums für Geschlechterforschung« IZFG # 27, Herbst 2015, Universität Bern, S. 2–4, hier S. 2. 400 Möbius: Über den physiologischen Schwachsinn des Weibes. 2017, S. 14. 401 Vgl. ebd., S. 93. 402 Vgl. Catani: Das fiktive Geschlecht. 2005, S. 21f. 403 Das Tagungsmotto in der Originalversion: La donna é mobile. Prawne aspekty naste˛pstw cyklicznos´ci płciowej kobiet.
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männlichen Veranstalter – stolz hervor, dass mit dem geplanten Projekt ein Präzedenzfall geschaffen wird, und zwar nicht nur in der polnischen, sondern auch in der (außer)europäischen Wissenschaftsbranche. Im Rahmen seiner wissenschaftlichen Initiative plädiert er dafür, den mehr oder weniger quälenden Unannehmlichkeiten, die den menstruellen Zyklus ab der Menarche bis zur Menopause begleiten, bei der rechtlichen Beurteilung bestimmter Vorfälle, Aktivitäten und/oder Taten entsprechende Bedeutung beizumessen und zwar nicht nur im Zivilrecht, sondern auch im Straf- und Arbeitsrecht. Auf dem Gebiet des Zivilrechts ist es z. B. das Problem der Willenserklärung, das insbesondere in Bezug auf das Testament von Selbstmörderinnen einer besonderen Beachtung bedarf: »Der polnischen psychiatrischen Fachliteratur ist nämlich zu entnehmen, dass fast die Hälfte aller Selbstmörderinnen sich das Leben entweder während der PMS-Phase oder in den ersten Tagen der Regel nimmt. In Verbindung mit anderen Begleitumständen eines Selbstmordes (Depression, Alkoholkonsum, Psychopharmaka) können die Folgen des Menstruationszyklus bei der Beurteilung, ob ein solches Testament Gültigkeit besitzt, von Bedeutung sein.«404 Eine verwandte Frage – so Mazurkiewicz – betrifft die Verantwortung der Frau für den Schaden, der von ihr beispielsweise beim Autofahren verursacht wird, zumal wenn man bedenkt, dass fast die Hälfte aller Frauen während der PMS-Phase oder in den ersten Tagen der Periode unter (Ge)Hörstörungen leidet, die pathologischer Natur sind. Auf dem Gebiet des Strafrechts verbindet sich das im Tagungsmotto angesprochene Problem mit der begrenzten Schuldfähigkeit der Frau, wenn das Verbrechen in der prämenstruellen Phase oder in den ersten Tagen der Menstruation begangen wird.405 Eine entsprechende Gesetzesänderung solle seiner Meinung nach auch im polnischen Arbeitsrecht erarbeitet werden, weil es heutzutage der Tatsache keine Rechnung trägt, dass die meisten erwerbstätigen Frauen menstruieren und die damit verbundenen Beschwerden von den Arbeitgebern bei der Verteilung von Aufgaben und Zuständigkeiten ignoriert werden. Selbst das Baurecht weist diesbezüglich erhebliche Lücken auf, weil die neugebauten Betriebe sowohl separate Räume für menstruierende Mitarbeiterinnen als auch »spezielle Einrichtungen« vermissen lassen.406 Aus diesem Grund trauert Mazurkiewicz dem Sozialismus nach, der es nicht versäumt hat, die menstruierenden Frauen aufgrund einer entsprechenden Anweisung des Gesundheitsministeriums für zeitweilig arbeitsunfähig zu erklären. In einer solchen Maßnahme manifestiert sich nämlich die authentische Sorge des Staates um das Wohlbefinden der Frau in dieser für sie beschwerlichen Phase, die im 404 http://cbke.prawo.uni.wroc.pl/index.php?option=com_content&view=article&id=252%3& lang=pl (Zugriff am 29. 04. 2020), übersetzt von Arletta Szmorhun. 405 Vgl. ebd. 406 Vgl. ebd.
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Zeitalter des menschenausbeutenden Kapitalismus unverständlicherweise ignoriert wird. Er gibt zu, dass die Menstruation zwar keine Krankheit ist, sondern ein rein physiologischer Zustand, nichtsdestotrotz sollen starke Beschwerden als Krankheitssymptome betrachtet und dementsprechend medizinisch behandelt werden.407 So bemängelt er das in Polen geltende Arbeitsrecht, das dem menstruellen Zyklus nicht gerecht wird und schlägt eine Regelung vor, mit der dieses beträchtliche Versäumnis wiedergutgemacht werden könnte. Seiner Meinung nach soll der Frau in jedem Monat eine eintägige Freistellung unter Fortzahlung des Gehalts garantiert werden. Als Jurist hat er sogar einen passenden Begriff parat und als Mann scheint er besser zu wissen, welcher Tag es genau sein und wie die Frau ihn verbringen sollte. Der von ihm vorgeschlagene Terminus »Weibertag« (babski dzien´), der mit dem zweiten und – seines Erachtens – besonders beschwerlichen Tag der Monatsblutung zusammenfällt, könnte entweder der Rekonvaleszenz und Erholung dienen oder von der Frau als Möglichkeit bzw. Gelegenheit wahrgenommen werden, einen (Frauen)Arzt zu besuchen.408 Auch wenn das Wort »krank« in seiner juristischen ›Menstruationslehre‹ nicht direkt verwendet wird, wird die Monatsblutung unmissverständlich als Leidenszustand definiert und in den größeren Rahmen der physiologischen Krankheit gestellt. Selbst der Begriff »Weibertag«, der seine menstruationsbezogenen Überlegungen begleitet, basiert auf biologischen und physiologischen Parametern und lässt sich unter Naturphilosophie und Anthropologie rubrizieren: Im Begriff »Weib« – so Friederike Kuster – ist das fundamentale Problem der Zweigeschlechtlichkeit angezielt, das Weibliche und das Männliche im Bereich des Humanen entgegenzusetzen und damit die spezifischen Veranlagungen, Eigenschaften und (Un)Fähigkeiten der Frau im Rahmen der menschlichen Spezies in den Blick zu nehmen.409 Im Beitragsaufruf zur Tagung behauptet Mazurkiewicz nahezu anmaßend, mit dem geplanten Tagungsprojekt ein wissenschaftliches Neuland zu beschreiten. Mit einer so angelegten Initiative wird jedoch keine neue Erkenntnis ans Licht gezerrt, sondern lediglich ein Anschluss an die uralte frauendemütigende Menstruationsdebatte hergestellt, die in der Antike einsetzt und im 19. Jahrhundert ihren Kulminationspunkt erreicht. Sein Konferenzbeitrag, von dem die Tagung den Titel entleiht, gleicht einem ›Menstruationsprotokoll‹, das einerseits an die humoralpathologische 407 Vgl. Mazurkiewicz, Jacek: La donna é mobile. Prawne aspekty naste˛pstw cyklicznos´ci płciowej kobiet. In: Ksie˛ga dla naszych kolegów. Prace prawnicze pos´wie˛cone pamie˛ci doktora Andrzeja Ciska, doktora Zygmunta Masternaka, doktora Marka Zagrosika. Hg. von Jacek Mazurkiewicz. Wrocław: Uniwersytet Wrocławski. Prace naukowe Wydziału Prawa, Administracji i Ekonomii Uniwersytetu Wrocławskiego, e-Monografie Nr. 36, 2013, S. 331–352, hier S. 342f. 408 Vgl. ebd., S. 342. 409 Vgl. Kuster: Frau/Weib. 2015, S. 211.
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Tradition anschließt und andererseits einen Weg zurück in Richtung der forensischen Psychiatrie des 19. Jahrhunderts weist, ohne dabei die Wurzeln der aufklärerischen Auffassung von Menstruation als Ausdruck eines Zivilisationsschadens unkenntlich zu machen. Mit dem Verweis auf die durch die monatliche Blutung bedingten pathologische Störungen und Schäden strafbarer Natur, die Frauen direkt vor und/oder während der Periode verursachen (können), wird im hippokratischen Sinne angedeutet, dass die Menstruation mit der körperlichen und psychischen Schwäche des weiblichen Geschlechts in engstem Zusammenhang steht und aus diesem Grund einer Regulierung in Form von Paragraphen bedarf. Die von Mazurkiewicz anvisierte gesetzliche Regelung, die die »weibliche Andersartigkeit« berücksichtigen sollte und nichts als Ausdruck seiner Sorge um Ehefrauen, Töchter, (Groß)Mütter etc. zu verstehen ist410, erinnert dagegen an den sich im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert abzeichnenden ›Liberalismus‹ im Bereich der Rechtspflege, der sich darin äußert, den Frauen gegenüber, unter Bezugnahme auf forensisch-medizinische Argumente ein milderes Urteil zu fällen. Esther Fischer-Homberger bringt diesen Umstand wie folgt auf den Punkt: »Es wird argumentiert, die weiblichen Schwächen – physisch wie psychisch – seien die Voraussetzung dafür, dass die Frau ihre gesellschaftliche Rolle als Gattin und Mutter erfüllen könne, und wenn eine Frau infolge dieser Schwächen straffällig werde, sei das Urteil deshalb fairerweise zu mildern.«411 Die Menstruation und ihre Folgen als Grund für Straf- oder sogar Hafterleichterung tauchen auch in den Ausführungen von Mazurkiewicz auf und gewinnen damit die Züge einer naturalistischen Entschuldigung eventueller krimineller Taten. Unmissverständlich plädiert er dafür, manche Folgen des Menstruationszyklus als gesetzliche Grundlage für beschränkte Zurechnungsfähigkeit und in besonderen Fällen sogar für völlige Unzurechnungsfähigkeit der Frau anzuerkennen und betont dabei, dass eine derartige Empfehlung für Rechtsexperten keineswegs ein Novum darstellt.412 Seine menstruationsbezogene Perspektive deckt sich teilweise mit der ›Menstruationstheorie‹ von Havelock Ellis, der die Monatsblutung als einen hieb- und stichfesten Beweis für die Unfähigkeit der Frau heranzieht, einen Beruf auszuüben und in der Gesellschaftsordnung männertypische Funktionen zu übernehmen. Es ist nämlich undenkbar – so Ellis – wichtigen politischen Pflichten nachzugehen, wenn man jeden Monat nahezu eine Woche lang unter Depression und Apathie leidet, die jegliche Aktivitäten und insbesondere die Fähigkeit, in krisenhaften Situationen verantwortungsvoll
410 Vgl. Mazurkiewicz: La donna é mobile. 2013, S. 333. 411 Fischer-Homberger: Krankheit Frau und andere Arbeiten zur Medizingeschichte der Frau. 1979, S. 64. 412 Vgl. Mazurkiewicz: La donna é mobile. 2013, S. 349f.
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zu handeln, unterbinden. Jede Frau ist periodisch behindert.413 Bei Mazurkiewicz erstreckt sich der ›physiologische Ausnahmezustand‹ auf eine viel längere Zeit, weil nicht nur die prämenstruelle Phase, sondern auch das (post)menopausale Stadium hinzugerechnet wird, so dass die Frau nach dieser Auffassung ungefähr zwei Drittel ihres Lebens von der ›pathologischen Schwäche‹ betroffen ist bzw. sein muss und aus diesem Grund einen gesetzlichen Sonderstatus nötig hat. Mit seinem Appell, den Menstruationszyklus und seine Rückwirkung auf die psychische Verfassung der Frau gesetzlich ins Auge zu fassen, schließt er dagegen an den österreichischen Psychiater, Neurologen und Rechtsmediziner Richard von Krafft-Ebing an, der 1900 in seinem Lehrbuch der gerichtlichen Psychopathologie »die geistige Integrität des menstruierenden Weibes« als forensisch fraglich einstuft und es für notwendig hält, »bei weiblichen Gefangenen festzustellen, ob die incriminierte That mit dem Termin der Menstruation zusammenfiel.«414 Zwei Jahre später widmet er der forensischen Bedeutung der Menstruationsvorgänge eine eigene klinisch-forensische Studie, in der er sich eindeutig dafür ausspricht, »dem menstruierenden Weib« den Anspruch »auf die Milde des Strafrichters« zuzuerkennen, »denn es ist »unwohl« zur Zeit der Menses und psychisch mehr oder weniger afficirt.«415 Er bezieht sich dabei auf die vorausgehenden klinischen Untersuchungen, aus denen sich ergeben soll, dass »die prä- und die menstruale Zeit das Seelenleben des Weibes am intensivsten beeinflusst.«416 Deutlich wird bei den Ausführungen des Mediziners, dass das Irresein ausschließlich der Frau zugeschrieben und als ein fester Bestandteil der weiblichen Existenz definiert wird. Die Hauptursache des »weiblichen Irreseins« ist seiner Meinung nach einerseits auf die weibliche Physiologie zurückzuführen, die Menstruation, Schwangerschaft, Puerperium und Klimakterium umfasst und »das Weib körperlich und geistig weniger widerstandsfähig«417 macht. Andererseits ist dieser Umstand dadurch bedingt, dass die physiologische Konstitution der Frau, die ihren Status als Haus- und Ehefrau begründet, sie zugleich daran hindert, sich im geistigen und beruflichen Bereich zu verwirklichen: »Eine nicht zu unterschätzende Quelle für das Irresein beim Weib liegt dagegen wieder in der socialen Position desselben. Das Weib, von Natur aus geschlechtsbedürftiger als der 413 Siehe mehr dazu: Ellis, Havelock: Mann und Weib. Anthropologische und psychologische Untersuchung der sekundären Geschlechtsunterschiede. Barsinghausen: Unikum-Verlag 2012 (Nachdruck des Originals von 1894), Kapitel XI – Der periodische Verlauf der weiblichen Lebensfunktionen. 414 Vgl. Krafft-Ebing, Richard von: Lehrbuch der gerichtlichen Psychopathologie. Stuttgart: Verlag von Ferdinand Enke 1900, S. 332. 415 Krafft-Ebing, Richard von: Psychosis menstrualis. Eine klinisch-forensische Studie. Stuttgart: Verlag von Ferdinand Enke 1902, S. 93. 416 Ebd. 417 Krafft-Ebing, Richard: Lehrbuch der Psychiatrie auf klinischer Grundlage für praktische Ärzte und Studierende. Stuttgart: Verlag von Ferdinand Enke 1888, S. 156.
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Mann, wenigstens im idealen Sinn, kennt keine andere ehrbare Befriedigung diese Bedürfnisses als die Ehe. Diese bietet ihm auch die einzige Versorgung.«418 Auch wenn Krafft-Ebing die Existenz eines ›männlichen Irreseins‹ nicht grundsätzlich negiert, verrät seine Ursachenforschung eine geschlechtsspezifische Signatur, die dadurch gekennzeichnet ist, »den Frauen eine größere Disposition zu psychischer Erkrankung«419 zuzuschreiben und entscheidende Konsequenzen in Bezug auf die weibliche Kondition offen zu legen: So gibt er in seinem Lehrbuch der gerichtlichen Psychopathologie zu, dass »diese fruchtbaren Ursachen des Irrseins für das weibliche Geschlecht« beim Mann »durch Ueberanstrengung im Kampf ums Dasein, den er grossentheils allein durchkämpfen muss, durch Trunksucht, sexuelle Exzesse, die angreifender für den Mann sind als für das Weib«420 reichlich aufgewogen werden. Allerdings wird dieses kritische Urteil schnell durch die These relativiert, »dass das Irresein beim Weib im Allgemeinen turbulenter indecenter klinisch sich gestaltet als beim Mann, und deshalb zu häufigerer Abgabe an Irrenanstalten nöthigt.«421 Durch generalisierende Argumentationslinien und Definitionen sind auch die meisten Werke geprägt, die sich um 1900 der Hysterie widmen und dem herrschenden Trend huldigen, die Hysterie als Krankheit des weiblichen Geschlechts herauszustellen. Sie scheint dabei ein geeignetes Medium zu sein, »den weiblichen Monatszyklus und seine Erscheinungen aufzuschlüsseln und die Menstruation gleichsam in ihrer Pathologie zu entlarven.«422 Die Kausalität zwischen Nervenleiden und Menstruation steht im Zentrum der wissenschaftlichen Debatte, die darauf orientiert ist, jeden Menstruationsvorgang als pathologisch zu werten, man denke nur an Richard von Krafft-Ebing, Heinrich Schüle, Paul Julius Möbius, Havelock Ellis, Iwan Bloch, Cesare Lombroso etc. Die menstruations- bzw. krankheitsbezogenen Theorien der damaligen Zeit spiegeln sich in den rechtwissenschaftlichen Initiativen von Mazurkiewicz wider, der darum bemüht ist, den menstruellen Zyklus in die Rechtsprechung zu integrieren. Hinter seinen tendenziösen Vorstellungen verbirgt sich die Strategie, unter dem Deckmantel der Sorge um das weibliche Geschlecht die Krankheitsartigkeit des Frauseins bzw. die körperliche und geistige Minderwertigkeit der Frau dem Mann gegenüber herauszustellen und sie als gesetzlich ›geregelt‹ abzustempeln. Seine (hypo)manisch anmutenden Versuche, sich als Rechtswissenschaftler zum ›Menstruationsexperten‹ bzw. zum »Autodidakt-Gynäkologen«423 zu krönen und der Beziehung
418 419 420 421 422 423
Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., 156f. Catani: Das fiktive Geschlecht. 2005, S. 39. Mazurkiewicz: La donna é mobile. 2013, S. 333.
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zwischen weiblichem Seelenleben und »Weibertagen«424 eine rechtliche Sonderstellung einzuräumen, stehen exemplarisch dafür, dass die Entthronung der Menstruation noch nicht in Sicht ist. Auch wenn die emanzipatorische Erweiterung des Spektrums der für die Frau zugelassenen sozialen Handlungs- und Ausdrucksoptionen eine Rückwirkung auf die epochenübergreifenden Lehrmeinungen möglich macht, wird gegenwärtig in manchen (männlichen) Wissenschaftskreisen ununterbrochen den im 19. Jahrhundert üppig florierenden Ressentiments entgegengefiebert. Mazurkiewicz, der sich mit seinem Argumentationsduktus das Recht anmaßt, innovative Lösungen anzubieten, schreibt lediglich den Frauen- und Menstruationsdiskurs vergangener Epochen fort, so dass die Vorstellung von menstruellen Psychosen im 21. Jahrhundert eine unerwartete Renaissance erlebt. Und es ist keineswegs überraschenderweise wiederum ein Mann, der – fixiert auf das Menstruationsblut – besser zu wissen glaubt, wie das weibliche Geschlecht ›tickt‹ und die Frauen aus diesem Grund in ein gesetzliches Raster hineinzuzwängen versucht, das ihrem (prä)menstruellen und (post)menopausalen ›Wahnsinn‹ Rechnung trägt. Möchte man der wissenschaftlichen Idee von Mazurkiewicz ›hinterhertraben‹, müsste man konsequenterweise ein ›männliches Pendant‹, das sich beispielsweise um Erektionsstörungen und ihren Einfluss auf die (Un)Zurechnungsfähigkeit des Mannes drehen würde, in die Rechtsprechung einarbeiten wollen. Eine adäquate Tagung unter dem Motto L᾽uomo é mobile. Erektionsstörungen und ihre Folgen im juristischen Kontext würde einen entscheidenden Impuls zur Vervollständigung der im Sinne von Mazurkiewicz geführten Geschlechterdebatte liefern, die offenkundig darauf orientiert ist, das Hormonelle und seine Auswirkungen auf die Psyche der Betroffenen als Voraussetzung für Strafmilderung und/oder Exkulpation in Gesetzestexte aufzunehmen. Männer menstruieren zwar nicht, aber ähnlich wie Frauen sind sie hormongesteuert. Es ist nach wie vor ein Tabuthema, an das sich nur einige wenige heranwagen, dass auch Männer in die Wechseljahre kommen, in denen sie nicht unerheblich unter Symptomen leiden, die Psyche, Körper und Sex betreffen. Aus psychologischer Sicht untergräbt insbesondere die Impotenz, die relativ früh auftreten kann, das Selbstwertgefühl des Mannes und generiert Probleme sozialer, beruflicher und juristischer Natur. Der durch die Epochen hindurch geführte Geschlechterdiskurs hält jedoch an einer asymmetrischen Medikalisierung und Stigmatisierung von Frau und Mann fest, so dass der weibliche Körper mit einem permanenten Krank-Sein in Verbindung gebracht, während der männliche Körper – auch wenn er von Schwächen gezeichnet ist – geschickt ›entpathologisiert‹ wird. Claudia Sontowski, die in ihrer Studie Viagra im Alltag der Bedeutung von Körperlichkeit und Sexualität für das doing masculinity nachgeht, verweist in diesem Zusammenhang auf eine im Jahr 424 Ebd., S. 342.
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1992 veranstaltete Konferenz des US-amerikanischen National Institute of Health, im Rahmen deren die ExpertInnen aus unterschiedlichen Feldern beschlossen haben, den ihres Erachtens stigmatisierenden Begriff Impotenz durch den Begriff ›erektile Dysfunktion‹ zu ersetzen. Da der Ausdruck Impotenz pejorativ besetzt ist, weil er die wichtige Basis der Männlichkeit – die sexuelle Funktionalität des Mannes – schmälert, sollte erektile Dysfunktion als Strategie der Demedikalisierung und Destigmatisierung von Impotenz dienen, um auf diese Weise sowohl der narzisstischen Verletzung als auch der Beeinträchtigung der männlichen Selbstsicherheit entgegenzuwirken. Sontowski betont, dass die beabsichtigte Destigmatisierung gelungen ist, weil der neue Begriff Erektionsschwierigkeiten ohne Rückgriff auf psychologisches Wohlbefinden beschreibt. Sie fügt aber gleichzeitig hinzu, dass gerade dieser Effekt zur späteren (Bio)Medikalisierung und Legitimation von Viagra beigetragen hat.425 Da der männliche Körper – genauso wie der Frauenkörper – durch hormonelle Prozesse und Veränderungen geprägt ist, dürfen die Hormonstörungen des Mannes und die dadurch bedingten organischen Schwächen sowie ihre Folgen bei einem hormonbezogenen Jura-Projekt von Jacek Mazurkiewicz nicht fehlen, zumal wenn man behaupten will, bahnbrechende Projekte zu realisieren bzw. realisieren zu wollen. Es ist an dieser Stelle zu betonen, dass es inzwischen auch neue Ansätze bei der Auseinandersetzung mit dem Menstruationsgeschehen gibt, die sich zum Ziel setzen, die Menstruation in einer umfassende(re)n Analyse zu erforschen. Insbesondere innerhalb der Frauengesundheitsforschung werden zahlreiche wissenschaftliche Studien angeboten, die nicht nur körperliche Erfahrungen von Frauen während der Menstruation berücksichtigen, sondern auch den soziokulturellen Kontext miteinbeziehen, der das menstruelle Erleben (mit)konstituiert. In den Mittelpunkt geraten in diesem Zusammenhang – um es mit Sabine Zinn-Thomas aufzuzählen – soziokulturelle Determinanten wie Menstruationsmythen und Menstruationstabus, biographische Aspekte, Einstellungen zum Körper, psychosoziale Variablen wie Lebensereignisse und soziale Unterstützungsprozesse sowie körperliche Faktoren, die die These aufstellen bzw. untermauern lassen, dass es keine »natürliche« oder »authentische« menstruelle Erfahrung gibt.426 Die neuen Perspektiven, die darauf abzielen, den Menstruationsvorgang zu ›entstigmatisieren‹ und die Menstruation als eine »von einer historisch konkreten Gesellschaft bereitgestellte Erfahrungsform des Körpers«427 zu beleuchten, werden in der vorliegenden Studie nicht weiter verfolgt. Sie ver425 Sontowski, Claudia: Viagra im Alltag. Praktiken der Männlichkeit, des Körpers und der Sexualität. Wiesbaden: Springer VS 2016, S. 83. 426 Vgl. Zinn-Thomas: Menstruation und Monatshygiene. 1997, S. 1. 427 Jeggle, Utz: Im Schatten des Körpers. Vorüberlegungen zu einer Volkskunde der Körperlichkeit. In: »Zeitschrift für Volkskunde« 76/1980, S. 169–188, hier S. 172.
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schreibt sich nämlich – dem Titel gemäß – diskursiven Praktiken, die im Rahmen oder als Medium struktureller Gewaltmechanismen darauf fixiert sind, »die Stärke des Mannes an die behauptete Schwäche der Frau zu binden.«428 Die hormonelle Bedingtheit wird in diesem Zusammenhang als einer der wichtigsten Gründe dafür herangezogen, Frauen in ihrem untergeordneten Status festzuhalten und ihnen Fähigkeiten abzusprechen, die die Kehrseiten traditioneller Männlichkeit mit ihrem unerreichbaren Ideal des immer aktiven, potenten und selbstsicheren Mannes entblößen bzw. das Unbehagen an der Männlichkeit generieren (würden).
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Pathologisierung, Psychiatrisierung und Stigmatisierung des weiblichen Körpers aufgrund des hormonellen Zyklus fließt auch in literarische Texte ein, die der ästhetischen Inszenierung der inferioren – weil menstruierenden – Weiblichkeit einen Stellenwert einräumen. Exemplarisch dafür steht der Roman Die Klosterschule von Barbara Frischmuth, in dem die Monatsblutung als ein pathologischer Zeitabschnitt inszeniert wird, das nicht nur lästig, sondern vielmehr unerwünscht ist. Am Beispiel der adoleszenten Mädchen, die in einem katholischen Internat auf das Ehe- und Hausfrau-Dasein dressiert werden, zeigt die Autorin, dass der weibliche Körper nicht nur eine biologische Gegebenheit repräsentiert, sondern vielmehr einen Ort darstellt, an dem »die Grenzen der Gemeinschaft, der normativen Ordnungen und Machtverhältnisse markiert, demonstriert, kontrolliert und stabilisiert werden.«429 In ihrem Schulalltag werden die Mädchen regelmäßig abstrusen (Gewalt)Praktiken unterzogen, die durch Kategorisieren, Trennen und Abgrenzen ein Ordnungssystem konstruieren, in dem Erfahrungen und Wahrnehmungen der eigenen Körperlichkeit gemäß den kulturell-religiösen Vorgaben, Bewertungen und Bedeutungszuweisungen strukturiert werden. Reinheit und Unreinheit gelten dabei als zentrale und einflussreiche Kategorien, die dazu dienen, Grenzen nach außen und innen zu regeln, soziale Hierarchien zu schaffen und ungeeignete Elemente auszusondern. Individuen, die den Reinheitsnormen nicht entsprechen, werden stigmatisiert, diskriminiert und isoliert, weil sie als Symbole der Unordnung Angst und Ekel hervorrufen. Auch wenn Reinheitsnormen in der Regel beide Geschlechter betreffen, werden vor allem Frauen als anfälliger für Unreinheit betrachtet und daher stärkeren Reglemen428 Böhnisch, Lothar: Der modularisierte Mann. Eine Sozialtheorie der Männlichkeit. Bielefeld: transcript Verlag 2018, S. 9. 429 Heller: Warum Unreinheit stigmatisiert wird. 2020, S. 34.
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tierungen unterworfen: »Zum einen, weil sie durch ihre Körperfunktionen (Menstruation, Schwangerschaft, Geburt) regelmäßig in einen Zustand der Unreinheit geraten, und zum anderen, weil sie im dualistischen Denken patriarchal geprägter Gesellschaften generell stärker mit Körper und Sexualität identifiziert werden als Männer.«430 In Die Klosterschule von Barbara Frischmuth werden die Einstellungen zu den sogenannten unreinen Körperausscheidungen am Beispiel der Menstruation illustriert, die aufgrund ihrer Unkontrollierbarkeit und der ihr unterstellten Zerstörungskraft als Anomalie und somit als Gefahr für die soziokulturelle Ordnung interpretiert wird. Unter Bedingungen einer patriarchalisch ausgerichteten Geschlechterkultur, innerhalb deren das Männliche idealisiert und das Weibliche abgewertet wird, bedeutet die Menstruation nicht nur eine eindeutige Zuweisung zum weiblichen Geschlecht, sondern vielmehr eine Verortung auf der Seite des defizitären Pols der Geschlechterordnung. Die Regelblutung wird von den Mädchen als ein höchst problematisches, unkontrollierbares und bedrohliches Körpergeschehen wahrgenommen, so dass der eigene Körper zur Quelle des Unreinen, Erschreckenden und Beängstigenden mutiert und sowohl mit dem Kontrollverlust als auch mit dem Ausgeliefertsein assoziiert wird. Das Erleben der Menstruation hat dabei unterschiedliche Facetten, denen vielfältige Bedeutungsinhalte und Ängste zugrunde liegen: Das unreine Blut: Wird ein Weib fließend und ist es der regelmäßige Blutfluß ihres Leibes, so bleibt sie sieben Tage lang in ihrer Unreinheit. Wer sie berührt ist unrein bis zum Abend. Worauf immer sie sich während der Unreinheit legt, das ist unrein. Wer immer ihr Lager berührt, hat seine Kleider zu waschen und sich im Wasser zu baden. Er ist unrein bis zum Abend. Wer irgendein Gerät berührt, worauf sie gesessen ist, der wasche seine Kleider und bade sich im Wasser. Er ist unrein bis zum Abend. Wer etwas auf dem Lager oder auf einem Gerät, worauf sie gesessen ist, berührt, der ist unrein bis zum Abend. Wohnt ihr jemand bei, so geht ihre Unreinheit auf ihn über. Sieben Tage ist er unrein.431
Im Kommentar der namenlosen Ich-Erzählerin, der sich wie ein Zitat aus dem dritten Buch Mose oder aus dem Talmudtraktat Nidda liest, wird die Menstruation in erster Linie mit Unreinheit gleichgesetzt, so dass sie universell negativ konnotiert ist. Das Gefühl der Unreinheit wird zusätzlich dadurch intensiviert, dass die Mädchen in der Zeit der Regelblutung eine Existenz in räumlicher Isolation führen müssen, damit die verunreinigende Kraft, die von der physiologischen Menstruation ausgeht, nicht auf andere übertragen wird. Unrein ist nämlich in dieser Phase nicht nur das menstruierende Mädchen, sondern auch alle Gegenstände, die es berührt sowie Menschen, die mit ihm Kontakt haben. Zu meiden ist demnach sowohl das ›fließende‹ Mädchen als auch all das, 430 Ebd. 431 Frischmuth: Die Klosterschule. 1984, S. 76.
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was mit ihm in direkten körperlichen Kontakt kommt. Die Menstruation entwickelt sich auf diese Weise zugleich zu einer Grenzkategorie, die Kontamination und Absonderung inkludiert und Reinheitszwänge auslöst, durch die das Unreine körperlicher Art beseitigt werden kann und muss. Menstruierende Mädchen dürfen jedoch diesen Reinheitspflichten nicht nachgehen, denn – im Gegensatz zu denen, die in dieser Zeit nicht ›fließen‹ – sind sie nicht imstande, sich während der Menstruation durch Baden und Waschen in den reinen Zustand zu bringen. Sie müssen die Zeit der Blutung abwarten, um die Phase der Reinheit wiederbeleben zu können. Der Beginn der Unreinheitsperiode fällt mit dem ersten Tag der Menstruation zusammen und erstreckt sich – gleichgültig, wie lange die Blutung anhält – auf sieben Tage, an denen das menstruierende Mädchen aus dem Schul- und Ritualleben ausgeschlossen wird, um die Ansteckungsgefahr zu minimalisieren. Die namenlose Ich-Erzählerin kann diesen Absonderungsprozess nicht nachvollziehen und dem Zweifel, der sich bei ihr hinsichtlich ihrer (Un)Reinheit regt, setzt sie logische Argumente entgegen: »Wir waschen uns täglich, besonders an den kritischen Stellen. Uns trifft die Schuld nicht.«432 Anhand lakonischer Kommentare und Gedanken, die nie vollständig ausgeführt werden, zeigt Barbara Frischmuth, dass die mit Körperlichkeit und Sexualität verbundenen Umgestaltungen in eine Vielfalt sozialer Bedeutungszuschreibungen und Weiblichkeitsbilder eingebunden sind, die den Prozess der psychischen Verarbeitung und Aneignung dieser Veränderungen nachhaltig prägen.433 Gezielt bedient sie sich der Begriffe Reinheit und Unreinheit, um eine allgemeine Sicht der sozialen Ordnung, die auf der Überbewertung des Männlichen und Unterbewertung des Weiblichen aufgebaut ist, auf den Punkt zu bringen. Die Verunreinigung durch das Menstruationsblut fällt in dieser Perspektive unter die Kategorie Schmutz, der gegen die Ordnung verstößt, so dass – um es mit Mary Douglas zu formulieren – seine Beseitigung keine negative Handlung darstellt, sondern eine positive Anstrengung symbolisiert, die darauf abzielt, das soziale Umfeld zu organisieren.434 Unreinheitsvorstellungen und Sanktionen für Unreinheit werden dabei als Instrumente entblößt, die Gehorsam, Anpassung und Unterwerfung herbeiführen und die bestehende Geschlechterordnung stabilisieren sollen. Im Umgang mit der Menstruation, die in den kulturellen Vorstellungen und Praktiken einen abstoßenden körperlichen Vorgang repräsentiert, spiegelt sich die Geltung der Frau in der Gesellschaft. Elemente gesellschaftlicher Frauenbilder finden sich auch im Dialog zwischen der Ich-Erzählerin und ihrer Mutter, die bemüht ist, die mit dem Menstruati432 Ebd. 433 Vgl. Flaake, Karin: Körper, Sexualität und Geschlecht. Studien zur Adoleszenz junger Frauen. Gießen: Psychosozial-Verlag 2011, S. 224. 434 Vgl. Douglas: Reinheit und Gefährdung. 1985, S. 12.
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onsvorgang einhergehenden Verunsicherungen und Erschütterungen abzumildern: »Meine Mutter sagt, es sein anders. Die Natur hilft sich selbst. Das ist nicht normal. Sie aber sagt, es sein anders.«435 Während im Schulalltag die Kategorie Unreinheit der Monatsblutung anhaftet, bedient sich die Mutter – um den negativen Botschaften über das Erleben der Menstruation die Schärfe zu nehmen – der Kategorie der Andersheit. Doch ihre Argumentationslinie enthält ebenfalls eine Signatur, die auf eine asymmetrische Aufeinanderbezogenheit der Geschlechter verweist und ihrer Tochter die Chance verbaut, die körperlichen Vorgänge in ein positiv besetztes Selbstbild zu integrieren. Die Attribution von Andersheit, die auch nicht frei von religiösen Einflüssen ist, zeigt an, dass die Frau in einer hierarchischen Beziehung zu jenem – männlichen – Objekt steht, das im Sinne gesellschaftlicher Konstruktionen – Normen, Regeln, Konventionen, Gesetze etc. – als Norm gilt. Es drängen sich an dieser Stelle die Überlegungen von Theresia Heimerl auf, die in ihrem Beitrag Ein Sack von Blut und Schleim, Feuchtigkeit und Galle die Kategorien (Un)Reinheit und Andersheit in Verbindung bringt. Unter Bezug auf Mary Douglas und Kultvorschriften im Alten Testament argumentiert sie, dass es sich bei diesen Kategorien um keine Hygienevorschriften handelt, sondern um ein Deutungsmodell, von dem nicht nur das Verhältnis zur Transzendenz, sondern vielmehr der Fortbestand der Welt abhängt.436 Der von ihr zitierte Gedanke des Benediktinermönches Odo von Cluny aus dem 10. Jahrhundert – »Der weibliche Körper ist ein Sack von Blut und Schleim, Feuchtigkeit und Galle«437 – bietet sich als spontane Assoziation zu Barbara Frischmuths Roman Die Klosterschule an, der unter Beweis stellt, dass der weibliche Körper in seiner direkten Materialität ununterbrochen einen Gegenstand provokativer Diskurse darstellt. Die (Be)Deutung der Menstruation, die sie in ihren Text einfließen lässt, weist darauf hin, dass habituelle Praktiken, denen ihre Protagonistinnen unterworfen werden, mit einer Hierarchisierung entlang der familiären und schulischen Sozialisation verwoben sind, die sich auf den gemeinsamen Nenner – religiöse Glaubensvorstellungen – bringen lassen. Sowohl im Alten Testament als auch in anderen Kulturen – so Theresia Heimerl – werden der Kategorie Unreinheit Körperflüssigkeiten zugeordnet, insbesondere Blut und Sperma. Der weibliche Körper ist, anders als der männliche Körper, in jedem Fall temporär unrein. Es gehört unabänderlich zu ihm, monatlich unrein zu sein, wobei diese Unreinheit einen zwangsläufigen Charakter hat. Der männliche Körper hingegen kann der ejakulationsbedingten Unreinheit durch Enthaltsamkeit entgehen, so dass er – im Gegensatz zur Frau – selbst über seine 435 Frischmuth: Die Klosterschule. 1984, S. 76. 436 Vgl. Heimerl, Theresie: Ein Sack von Blut, Feuchtigkeit und Galle. Eine theologische Exkursion in die Feuchtgebiete. http://www.theologie-und-kirche.de/feuchtgebiete.pdf, S. 10 (Zugriff am 10. 05.2020). 437 Ebd. S. 1.
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(Un)Reinheit bestimmen kann. Die Frau ist ihr Körper und der Mann hat einen Körper.438 Frausein, Leibssein und Anderssein sind in dieser Perspektive nicht zu trennen. Indem Barbara Frischmuth die religiösen und kulturellen Menstruationsvorstellungen aufeinander prallen lässt, zeigt sie, dass die Kategorien (Un)Reinheit und Andersheit nicht im Wesen der Frau liegen, sondern sich zu einer ihnen zugrunde liegenden sozialen Ordnung etablieren. Als Produkte sozialer Aushandlungsprozesse beschreiben sie »ein kontextgebundenes Phänomen, mit dem spezifische In- und Exklusionsverhältnisse gezeichnet werden, die häufig in der Etikettierung münden.«439 In ihrem Familien- und Schulalltag wird die Ich-Erzählerin mit Menstruationsmythen konfrontiert, die ihre Alltagswirklichkeit in die Zonen der Isolation und Integration bzw. Abstoßung und Akzeptanz einteilen und nur scheinbar konträre Prozesse verkörpern. In Wirklichkeit verhalten sie sich komplementär zueinander, in dem Sinne, dass Frauen auch in der menstruationsfreien Zeit durch die Praxis der Klassifikation auf biologische Begebenheiten reduziert und im Status der Zweitrangigkeit festgehalten werden. Während Barbara Frischmuth die Menstruation mit den Kategorien (Un)Reinheit und Andersheit in Verbindung bringt, um geschlechtsspezifischen Stigmatisierungs- und Diskriminierungsprozessen nachzuspüren, wird die Monatsblutung in dem Roman Eisblau mit Windschlieren von Anna Maria Leitgeb als ein stichhaltiges Argument herangezogen, um dem weiblichen Geschlecht den Bildungsweg zu versperren. Ihre Protagonistin Brigitte lässt sie in die Struktur einer Familienordnung einbinden, die auf Sichtweisen, Normen und Narrationen des Vaters gründet, der keine Oppositionskultur duldet und das Verhalten der weiblichen Familienmitglieder mit Gewaltmitteln regelt. Das Vaterrecht, das Vorstellungen von Geschlechterdifferenz instrumentalisiert, um eine disziplinierende Macht zu entfalten, wird mit religiösen Gesetzen untermauert, die das patriarchale Zwangssystem legitimieren, stabilisieren und fortbestehen lassen. Brigitte wächst als Lehrerstochter in Südtirol der Sechziger Jahre auf, wo sie nicht nur rigide Konventionen, sondern auch die Doppelmoral der dortigen Gesellschaft am eigenen Leib verspürt und kritisch hinterfragt: »die Macht und Gewalt des Vaters, die Ohnmacht der Mutter, die Sexualität, die Liebe – alles durchdrungen von der Angst, welche aus dem Nichtverstehen und Selbstdeuten entsteht.«440 Gewalthandlungen, denen sie im Familienalltag ausgesetzt ist und die sie mit christlicher Demut hinnehmen muss, werden in ihren Kommentaren geschlechtsspezifisch eingeordnet: Von ihrer Mutter wird sie mit Vorwürfen, 438 Vgl. ebd., S. 10f. 439 Vgl. Reuter, Julia: Ordnungen des Anderen. Zum Problem des Anderen in der Soziologie des Fremden. Bielefeld: transcript Verlag 2002, S. 37f. 440 Leitgeb: Eisblau mit Windschlieren. 2010, S. 1.
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Unzufriedenheit und Ansprüchen, die sie als Kind überfordern, gepeinigt, während ihr Vater den familiären Frust an ihrem Körper abreagiert. Die Kraft seiner Hände wird mit der Kraft seiner Worte komplementiert, mit denen ein destruktiver Familiendiskurs herausgearbeitet und praktiziert wird. Mit seinen Vorstellungen von Weiblichkeit und Männlichkeit, aus denen er Ansprüche sowohl an seine Kinder als auch an seine Frau und deren Verhalten ableitet, werden Machtmechanismen in Gang gesetzt, die eine unbedingte Konformität erzeugen und den weiblichen Handlungsraum geschlechtsspezifisch abstecken. So wird der Plan seiner Tochter, Architektin zu werden, ausgelacht und mit dem Argument boykottiert, dass Frauen sich für solche Berufe nicht eignen, weil sie jeden Monat menstruieren und auch aus diesem Grund keinen Kopf für komplizierte und ausgetüftelte Angelegenheiten haben. Haus und Familie stellen seiner Meinung nach das einzige Terrain dar, auf dem sie agieren und sich behaupten können. Aus der weiblichen Anatomie leitet Brigittes Vater nicht nur die Unfähigkeit von Frauen für das Studium und anspruchsvolle Berufe, sondern auch ihre biologische Unterlegenheit gegenüber Männern ab. Er geht sogar einen Schritt weiter und behauptet, dass die eheliche Bindung die Frau in der gesellschaftlichen Hierarchie aufsteigen lässt, so dass sie von jeder Frau als oberste Priorität angesehen werden sollte. Mit seiner Argumentation schreibt er sich in den Geschlechterdiskurs des 19. Jahrhunderts, der dadurch geprägt war, die Frau auf ihre Funktion als biologisches und soziales Mutterwesen zu reduzieren und aus den biologischen Unterschieden zwischen den Geschlechtern die These von der Verschiedenheit männlicher und weiblicher Eigenschaften sowie den Zwang zur Unterordnung unter den Mann abzuleiten.441 Im väterlichen Diskurs erweist sich die Menstruation als ein ausreichender Beweis für die Sinnlosigkeit weiblicher (Aus)Bildung, so dass er mit Vehemenz gegen die Pläne seiner Tochter opponiert, Architektur studieren und sich somit auch in der außerfamiliären Sphäre realisieren zu wollen. Die Monatsblutung wird in seiner Argumentation als eine im weiblichen Körper angesiedelte Pathologie definiert, die es nahelegt, von einer geschlechtsspezifischen Funktionsweise auszugehen und Räume zu betreten, die das weibliche Geschlecht nicht überfordern und seiner Natur entsprechen. Weiblichkeit ist im väterlichen Diskurs gleichbedeutend mit einer selbstverständlichen Nachrangigkeit und Abwertung der Frau, die über die Zugehörigkeit zu einem Mann definiert wird. Brigitte erkennt zwar die Absurdität der väterlichen Zuschreibungen, weil seine ›Realitätskonstruktionen‹ in der alltäglichen Wirklichkeit immer wieder widerlegt werden, aber die Angst vor körperlicher Strafe hindert sie daran, frauenfeindliche Vorstellungen des Vaters explizit in Frage zu stellen. In der Innenwelt, in die sich Brigitte regelmäßig flüchtet, um der familiären Gewalt zu entkommen, werden aber die Ideale des 441 Vgl. u. a. Möbius: Über den physiologischen Schwachsinn des Weibes. 2017, S. 16.
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Vaters kritisch hinterfragt. Letztendlich lehnt sie aber – im Gegensatz zu ihrer Mutter, in deren Fall Fremdbilder den Selbstbildern entsprechen – die Bedeutungszuweisungen des Vaters ab und schlägt mit dem Erreichen der Volljährigkeit den Kurs der Selbstbestimmung ein. Anders als Barbara Frischmuth und Anna Maria Leitgeb, die die Menstruation explizit als physiologische Pathologie thematisieren und sie an die Kategorien (Un)Reinheit, Andersheit sowie Geistesunfähigkeit binden, um menstruationsbezogenen Mythen auf den Grund zu gehen, entscheidet sich Erika Kronabitter für eine etwas andere Strategie. In ihrem Roman Mona Liza wird die Menstruation mit Geistes- und Nervenkrankheit(en) in Verbindung gebracht, ohne dass das Wort Menstruation ein einziges Mal in den Mund genommen wird. Ihre Protagonistin Mona flüchtet sich aus einer qualvollen Kindheit – geprägt durch die Ohnmacht der Mutter und die Brutalität des Vaters – in eine Ehe, in der das ihr bekannte Beziehungsmuster seine Fortsetzung findet. Physische Gewalt gegen den Sohn und psychische sowie sexuelle Gewalt gegen sie gehören zum festen Bestandteil ihres familiären Alltags, dem sie nicht entkommen kann. Das Gewaltverhältnis ist dabei im männlichen Recht – im Recht des Ehemannes und Vaters – verankert, über die Frau und die Kinder nach eigenem Willen bestimmen und deren Verhalten nach eigenen Regeln steuern zu können: »Die Stellung als Ehemann und Erzieher hat ihn erhoben. Über alles erhoben. Auch über das Gesetz.«442 So gilt in Monas Familienleben nur ein Gesetz – Viktors Gesetz –, das allen Familienmitgliedern bedingungslose Gefolgschaft vorschreibt und jede Art von Verweigerung mit Gewalt unterbindet. Unter dieses Gesetz fällt auch Monas Sexualität, die von ihrem Ehemann nicht nur bestimmt und bewertet, sondern auch jede Zeit und nach Belieben in Anspruch genommen wird. Dies schafft eine spezifische Verwundbarkeit ihres Selbstbildes und Selbstwertgefühls, zumal sie von ihrem sexuell überaktiven Mann als Belastung bzw. als »ein Klotz am Bein«443 empfunden wird und solche demütigenden Botschaften auch regelmäßig entgegennehmen muss. In Viktors Kommentaren erscheint Mona in erster Linie als »eine Unberührbare«444, die er aufgrund ihrer körperlichen Verfassung »nicht mehr oder nur noch selten ficken darf.«445 Die Frigidität, die er ihr vorwirft und sie zugleich als ausreichende Begründung betrachtet, den Koitus auch ohne Zustimmung seiner Frau durchzuführen, wird auf den menstrualen Zyklus zurückgeführt, der seiner Meinung nach Monas Gemüts- und Geisteskrankheiten bedingt. Durch den Verweis auf ihre »ständigen Krankheiten«446, die zyklisch angelegt sind, zieht Viktor eine Verbindungslinie zwischen Menstruation und 442 443 444 445 446
Kronabitter, Erika: Nora. X. Innsbruck: Limbus Verlag 2013, S. 107. Kronabitter, Erika: Viktor. Hohenems: Limbus Verlag 2009, S. 61. Ebd. Ebd. Vgl. Kronabitter, Erika: Mona Liza. Innsbruck: Limbus Verlag 2013, S. 22.
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emotionalen Schwankungen, die dermaßen intensiv sind, dass Mona in regelmäßigen Zeitabständen in eine psychiatrische Klinik eingewiesen wird: »Ich bin nicht krank. Wir sind alle gesund. Mir geht es blendend. Ich weiß nicht, was der Arzt hier tut. Schick den Arzt weg, sage ich.«447 Monas depressive Zustände, die sie aus dem psychischen Gleichgewicht bringen, erweisen sich in der ehelichen Kommunikation als ein gewichtiges Argument dafür, den Monatszyklus und seine Begleitumstände zu pathologisieren, um Viktors Gewaltverhalten gegenüber seiner Frau zu legitimieren. Monas Körper betrachtet er als einen von Sexualität durchdrungenen Körper, dessen Aufgabe in erster Linie darin besteht, seine sexuellen Bedürfnisse zu stillen und danach wird er auch analysiert und (dis)qualifiziert. Ist Mona imstande bzw. bereit, seinen Erwartungen und Wünschen gerecht zu werden, kann sie sowohl mit Viktors Akzeptanz als auch mit seiner Nachsichtigkeit den Kindern gegenüber rechnen, so dass gewaltlose Momente in den Familienalltag einkehren. Sobald aber ihr Körper hormonellen Schwankungen unterliegt, die sich in Monas Fall auf psychischer und somatischer Ebene manifestieren und stark alltagseinschränkend wirken, wird er aufgrund der ihm innewohnenden Pathologie abgewertet und in das Feld der psychiatrischen Praktiken integriert. Die Menstruation wird auf diese Weise nicht nur zur Chiffre der weiblichen ›Funktionsunfähigkeit‹, sondern auch zur Metapher der Krankheit. Die von Viktor zyklisch eingesetzten Mechanismen der Auf- und Abwertung sowie die damit einhergehenden Demütigungspraktiken und Sanktionen sorgen dafür, dass Mona ihre Sexualität als eine Form von Gewalt erfährt. Dies hat eine negative Auswirkung nicht nur auf ihre Körperwahrnehmung, sondern auch auf sexuelle Begegnungen mit ihrem Mann, die sie sowohl körperlich als auch seelisch belasten: »Endlich, sagt er und öffnet den Reißverschluss. Augenblicklich bringt er ihn und sich zum Vorschein. Ich kenne den Ablauf schon.«448 Geschlechtlichkeit und Sexualität, in die auch die Menstruation mit ihren ›pathologischen Merkmalen‹ eingebunden ist, werden in Kronabitters Roman als Schnittstelle inszeniert, an der sich Körperempfindungen und soziale Bedeutungszuschreibungen begegnen, denen Mona vergeblich zu entkommen sucht. Obwohl Viktor durch seine Gewaltpraktiken ein lustvolles Erleben ihrer Sexualität im Keim erstickt oder ihre körperliche Verfassung eindeutig gegen den Geschlechtsverkehr im Moment seines Vollzugs spricht, duldet sie passiv die Annäherungen ihres Mannes, weil die stereotypen Vorstellungen ihrer Schwiegermutter sie zusätzlich darin bestärken, dies für ihre ›eheliche Pflicht‹ zu halten: »Ein Mann ist ein Mann, sagt Viktors Mutter. Das ist so: Ein Mann fordert sein Recht. Das ist so. So ist das.«449 Mit dem Verweis auf die 447 Ebd., S. 76. 448 Ebd., S. 23. 449 Ebd., S. 22.
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eheliche ›Pflichterfüllung‹ und den damit korrespondierenden Recht des Mannes, den weiblichen Körper in Besitz zu nehmen, wird die gesellschaftliche Instrumentalisierung weiblicher Sexualität hervorgehoben, die sich bei Kronabitter auf zwei Ebenen manifestiert. Einerseits wird von Mona verlangt, ihre Sexualität Viktors Sexualvorstellungen -bedürfnissen zu unterstellen sowie den herrschenden Mythen über männliche Sexualität bzw. der ›überlieferten‹ Tradition zu folgen, was für sie heißt, dass sie ihrem Mann – auch entgegen eigener Lust – ein gewisses Maß an Sex gewähren muss, um ihn zu befriedigen und auf diese Weise ihre Pflicht zu erfüllen. Andererseits ist ihre Sexualität durch sexualisierte Gewalt geprägt, die nicht nur negative Gefühlslagen mit sich bringt, sondern auch zu vielfältigen Störungen der Sexualität führt, zumal der sexuelle Kontakt mit ihrem Mann durch seinen Besitzanspruch und die daran gekoppelte Brutalität als Vergewaltigung empfunden wird. Dazu gesellt sich die Pathologisierung und Psychiatrisierung ihres Körpers, der aufgrund des Monatszyklus und der ihm aus diesem Grund unterstellten psychischen Schwankungen als abnorm angesehen wird. Sowohl Erika Kronabitter als auch Barbara Frischmuth und Anna Maria Leitgeb verbinden den Menstruationsvorgang mit der gesellschaftlichen Rolle der Frau in dem Sinne, dass die Menstruation und ihre Begleiterscheinungen als einer der Gründe hinterfragt werden, die Weiblichkeit als minderwertig zu bewerten und ihr in der Geschlechterhierarchie einen marginalen Platz zuzuweisen. Physiologische Eigenschaften des weiblichen Körpers werden dabei mit Unreinheit(en), geistigen Defiziten und Erkrankungen gleichgesetzt, die das weibliche Geschlecht im Status des Anderen positionieren, das der männlichen Kontrolle bedarf. Mit den auf den menstruellen Zyklus bezogenen Deutungen und Definitionen, die Irritationen, Verwirrungen und Konflikte generieren, werden die Protagonistinnen in unterschiedlichen gesellschaftlichen Kontexten konfrontiert: in den Inhalten des schulischen Unterrichts, in den von den (Schwieger)Eltern vermittelten Vorstellungen sowie im ehelichen Kommunikationsprozess. Die mit der Körperlichkeit und Sexualität verbundenen Interaktionen und die in ihnen enthaltenen Dynamiken und Botschaften sind dabei durchdrungen von (un)bewussten Motiven, die sich an dem kulturell Tabuisierten, Libidinösen und Aggressiven entlangreiben und der weiblichen Biographie eine spezifische Prägekraft verleihen. In allen Texten wird der Umgang mit der Menstruation als Produkt eines dynamischen Herrschaftssystems entblößt, das »über die Geschlechterbeziehungen unter wechselnden Bedingungen, zu denen auch Widerstand von untergeordneten Gruppen gehört, ständig reproduziert und neu konstituiert wird.«450 Das in dieses System eingelassene Wissen 450 Wedgwood, Nikki/Connell, RW: Männlichkeitsforschung: Männer und Männlichkeiten im internationalen Forschungskontext. In: Handbuch Frauen- und Geschlechterforschung. Theo-
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Krankheitsbild ›Frau‹
ist durch die Metaphorik biologischen Denkens gekennzeichnet, in dem der Mann als Kulturwesen gilt, während die Frau aufgrund ihrer (pathologischen) Physiologie einen anthropologischen Sonderfall repräsentiert. So erfahren die Protagonistinnen im Zuge ihrer weiblichen Sozialisierung, dass die Menstruation eine ›Körperbehinderung‹ ist, die ihren Lebenslauf determiniert und als Begründung dafür herangezogen werden kann, den sozialen Status von Frauen zu untergraben. Dazu gesellen sich prämenstruelle Spannungszustände, die aufgrund ihrer Begleitumstände – Spannung, Angst, Depression – ebenfalls mit Krankheit assoziiert werden. Da sich die weiblichen Figuren regelmäßig in einem dieser physiologischen Zustände befinden, sind sie aufgrund ihrer biologischen Beschaffenheit die meiste Zeit krank und aus diesem Grund nicht imstande, solche Eigenschaften wie Durchsetzungsfähigkeit, Ehrgeiz oder Wille zum Erfolg zu entwickeln, um sich in anspruchsvolleren Lebensbereichen – wie z. B. (Hoch)Bildung – behaupten zu können. Die menstruationsbezogenen Mythen und Tabus, die sich in das symbolische System der Zweigeschlechtlichkeit einschreiben, generieren demzufolge eine »Pseudoweiblichkeit«, die die Frauen dazu zwingt, an ihre Ohnmacht, Schwäche und Abhängigkeit zu glauben.451 Die Pathologisierung und Psychiatrisierung des weiblichen Körpers aufgrund seiner hormonellen Bedingtheit lässt das in der Geschlechterordnung bestehende Ungleichgewicht noch weiter vertiefen und hindert die weiblichen Figuren nicht nur daran, eine positive Einstellung zur Körperlichkeit, Sexualität und Weiblichkeit zu entwickeln, sondern auch erschwert die Suche nach Orientierungspunkten, die stark genug wären, polare Entgegensetzungen der Geschlechterdefinitionen entkräften oder sie wenigstens auflockern zu können.
rie, Methoden, Empirie. Hg. von Ruth Becker/Renate Kortendiek. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2010, S. 116–125, hier S. 116. 451 Vgl. Zinn-Thomas: Menstruation und Monatshygiene. 1997, S. 80.
Die Genealogie der sozialen ›Geschlechterlogik‹ zwischen Symbolismus, Ritualismus und Konventionalismus – Fazit
Die Jahrhunderte währende, zum großen Teil in männlichen Kreisen geführte und nicht enden wollende frauenfeindliche Geschlechterdebatte, die in dieser Studie nur an einigen wenigen Beispielen veranschaulicht wird, ist im Großen und Ganzen durch zwei Vorurteile geprägt, denen eine wissenschaftlich exakt messbare ›natürliche‹ Grundlage zugesagt wird: Es ist einerseits die Überzeugung, dass die Frau durch ihre Fortpflanzungsfunktion als Person festgelegt und von ihren Geschlechtsorganen bestimmt ist. Aus diesem biologistischen Begründungszusammenhang bezieht auch die Gleichsetzung von Frau und Mutter sowie ihre Verbannung in den Privatbereich ihre soziale Wirkmächtigkeit. Andererseits ist es die sozialpolitisch gepflegte Erwartung, dass »Verhalten, Leistungen und Fähigkeiten der Menschen nach Geschlecht unterschiedlich sind, wobei jeder Unterschied als Überlegenheit des Mannes gedeutet wird.«452 Auch wenn es in den vergangenen Epochen an Widerspenstigkeitsmomenten sowie (scharfer) Kritik an diesen Vorurteilen nicht gemangelt und die Arbeit vor allem von Frauen innerhalb der Soziologie, Psychologie oder Ethnologie das Bild vom ›Stand der Forschung‹ heftig erschüttert hat, wird die Frau in manchen wissenschaftlichen Bereichen bis zum heutigen Tag auf Eierstöcke und Gebärmutter reduziert. Die angeführten Beispiele, die einen Überblick über epochenspezifische und einander gleichende Aushandlungsprozesse zur sozialen Positionierung von Geschlechtern verschaffen sollten, verdeutlichen, dass die Kategorien Frau/Mann als »Symbole in einem sozialen Sinnsystem«453 zu begreifen sind, das an zeittypische politische und ökonomische Bedingungen, Machtkonflikte und Interessen gekoppelt ist. Der strukturelle Zusammenhang des Geschlechterverhältnisses sorgt dafür, dass »der blau-rosa Code der Zweigeschlechtlichkeit«454
452 Hagemann-White: Sozialisation: Weiblich-männlich? 1984, S. 10. 453 Ebd., S. 79. 454 Knapp, Gudrun-Axeli: Gleichheit, Differenz, Dekonstruktion: Vom Nutzen theoretischer Ansätze der Frauen- und Geschlechterforschung für die Praxis. In: Chancengleichheit durch Personalpolitik. Gleichstellung von Frauen und Männern in Unternehmen und Verwaltungen.
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nicht nur den Schein der Naturhaftigkeit, sondern auch die Resistenz gegen widersprechende Perspektiven erhält, so dass »die in der Geschlechterstruktur von Institutionen und deren Verflechtungen geronnene Geschichte von Diskriminierungen, Differenzierungen und Hierarchisierungen«455 weitergeschrieben werden kann. Das kulturelle System, das einen Statusunterschied zwischen Mann und Frau nicht nur kognitiv ermöglicht, sondern ihn auch der Gesellschaft abverlangt, basiert auf Kategorisierungsprozessen, die »nicht zwei sich ergänzende Wertrangordnungen, sondern nur eine, die die männlichen Eigenschaften höher bewertet456«, entstehen lassen. Dieses epochenübergreifende Machtgefälle bezieht seine Dynamik aus der ritualisierten Tradition, die darauf orientiert ist, die Dominanz des Mannes und die Unterordnung der Frau als auch die daraus resultierenden Aufgaben, Zuständigkeiten und Privilegien zur Natur- und Wesensbestimmung zu machen und ihnen ein offizielles, ›allgemein bekanntes‹ und anerkanntes Dasein zu verleihen. Das gesellschaftliche Deutungsprinzip, das »den Körper als geschlechtliche Tatsache und als Depositorium von vergeschlechtlichten Interpretations- und Einteilungsprinzipien«457 konstruiert, speist sich aus Klassifikationsformen, die durch Willkür, Konvention und Inkorporation gekennzeichnet sind. In Anlehnung an Émile Durkheim fragt Pierre Bourdieu nach der sozialen Genese dieser Klassifikationsprinzipien und verweist auf ein genetisches Verhältnis zwischen den mentalen Strukturen, von denen aus die soziale und physische Welt konstruiert wird und den sozialen Strukturen, innerhalb deren sich die Gegensätze zwischen den Gruppen in logische Oppositionen zurückübersetzen.458 Neben der sozialen Integration über gemeinsame Werte und Normen gibt es auch eine ›logische Integration‹, weil Wahrnehmen, Denken und Sprache über das gemeinsame Kollektivbewusstsein geregelt sind, das wie »eine gigantische symbolische Maschine zur Ratifizierung der männlichen Herrschaft funktioniert.«459 Die Macht der männlichen Ordnung zeigt sich an dem Umstand, dass sie keiner Rechtfertigung bedarf: »Die androzentrische Sicht zwingt sich als neutral auf und muß sich nicht in legitimatorischen Diskursen artikulieren.«460 Die angeführten Beispiele, die den interdisziplinären Geschlechterdiskurs von der Antike bis hin zur Gegenwart veranschaulichen, stehen exemplarisch dafür, dass das Aufzwingen und Einprägen von Disposi-
455 456 457 458 459 460
Rechtliche Regelungen – Problemanalysen – Lösungen. Hg. von Gertraude Krell. Wiesbaden: Gabler 1988, S. 73–81, hier. S. 76. Ebd., S. 77. Hagemann-White: Sozialisation: Weiblich-männlich? 1984S. 80. Bourdieu: Die männliche Herrschaft. 2005, S. 22. Vgl. Bourdieu Pierre: Über den Staat: Vorlesungen am Collége der France 1989–1992. Vorlesung vom 7. Februar 1991. Hg. von Patrick Champagne u. a.. Aus dem Französischen von Horst Brühmann und Petra Willim. Berlin: Suhrkamp 2014, S. 293. Bourdieu: Die männliche Herrschaft. 2005, S. 21. Ebd.
Fazit
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tionen durch die Regelmäßigkeiten und Alltagsriten der physischen und sozialen Ordnung erfolgt, die nach dem androzentrischen Einteilungsprinzip organisiert ist und durch explizite ›pädagogische‹ Aktionen Unterwerfungs- und Exklusionsprozesse generiert. Die Frau wird einer Sozialisationsarbeit unterzogen, die auf ihre Herabsetzung und Verneinung abzielt, indem Selbstverleugnung, Resignation und Schweigen als Grundprinzipien der weiblichen Lebensform definiert und Abweichungen von dieser historisch und kulturell fundierten ›Norm‹ sanktioniert werden. Die zwischen den Geschlechtern instituierten Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnisse prägen sich in zwei verschiedene Klassen von Habitus ein: »Und zwar in Gestalt gegensätzlicher und komplementärer körperlicher hexis und in Form von Auffassungs- und Einteilungsprinzipien – mit dem Effekt, daß alle Gegenstände der Welt und alle Praktiken nach Unterscheidungen klassifiziert werden, die sich auf den Gegensatz von männlich und weiblich zurückführen lassen.«461 Den angeführten Geschlechtertheorien, in denen sich Erkenntnisse unterschiedlicher Disziplinen überschneiden, ist zu entnehmen, dass das über viele Epochen hinweg konstruierte Geschlechtersystem »das Produkt einer geschichtlichen Reproduktionsarbeit«462 ist, an der nicht nur Familie, sondern vielmehr Kirche, Schule und Staat beteiligt sind. Mit den Waffen der symbolischen Gewalt, die in Form von Geboten, Verboten, Erwartungen, Sanktionen etc. zum Vorschein kommen, erzeugen diese Institutionen hegemoniale Männlichkeit, die alle möglichen Bedingungen ihrer vollen Entfaltung in sich vereint und inferiore Weiblichkeit, deren sozialer Status vom Mann anhängig ist. Die ungleiche (Macht)Verteilung sowie die dadurch bedingten ungleichen Entwicklungs- und Handlungschancen sind die eigentlichen Triebfedern der strukturellen Gewalt, aus deren Fängen sich die Abhängigen kaum befreien können. Die Loslösung aus den überkommenen Bindungen wird nicht zuletzt dadurch erschwert, dass bestehende Hierarchien und Machtverhältnisse nicht in Frage gestellt, sondern für selbstverständlich gehalten werden. Die Mechanismen der Fremd- und Selbstabrichtung, die zum Inventar der strukturellen Gewalt gehören, werden auch von Michel Foucault kritisch hinterfragt, ohne dass dieser Begriff in den Mund genommen wird. Er begreift die totalen Institutionen der Moderne – die Familie, die (Hoch)Schule, die Kirche, die Klinik, das Gefängnis etc. – als Orte einer unsichtbaren Macht, die das Subjekt durch Techniken der Disziplinierung in ein unsichtbares Gewebe von Abhängigkeiten verstrickt und versklavt.463 Mit dem über Jahrhunderte hinweg geführten Geschlechterstreit wird vor Augen geführt, dass die sozialen Strukturen Gewinner und Verlierer erzeugen, weil sie den einen – sprich Männern – Möglichkeiten eröffnen und die 461 Ebd., S. 57. 462 Ebd., S. 65. 463 Vgl. Foucault: Der Wille zum Wissen. 1977, S. 161–190.
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anderen – sprich Frauen – unsichtbar machen und sie zur Ohnmacht verdammen.464 Aus diesem Grund spricht Markus Schroer von einer »gesellschaftlich produzierten Gewalt«, die »von den Funktionssystemen vollzogen wird.« Es ist eine »Gewalt ohne Gesicht«, die nur durch die Emanzipation und Befreiung von Abhängigkeit vollzogen werden kann.465 Im Spiegel der Geschlechterproblematik müsste man zwischen Gewinnern, Verlierern und Ausgeschlossenen unterscheiden, die in ein System integriert werden und sich in ihm behaupten können, sobald sie dem ›Prinzip Nützlichkeit‹ gerecht werden und die ihnen zugeschriebene Rolle erwartungsgemäß erfüllen. Ihre eigentliche Wirkung – so Jörg Baberowski – erzielt die strukturelle Gewalt eben bei jenen Individuen, die noch ein Teil des Systems sind und befürchten, aus ihm herausfallen zu können, so dass die erkennbaren Konsequenzen einer Exklusion zugleich als Motiv für weitere Beteiligung und Akzeptanz bestehender Regeln dienen.466 Unter andersartigen kulturellen Bedingungen wird auch in der heutigen Gesellschaft die hegemoniale Männlichkeit weitergegeben, wenn auch die Dominanzstruktur der Männer von einer Krise erschüttert wird, die eine Umstrukturierung notwendig macht. Die moderne gesellschaftliche Vormachtstellung des Mannes ist weder ökonomisch begründet noch wird sie von staatlichen oder rechtlichen Strukturen ausdrücklich eingefordert. Darüber hinaus sorgen Frauen- und Gleichheitsbewegungen dafür, dass der privilegierte Status des Mannes seine Selbstverständlichkeit und Wirkmächtigkeit verliert, so dass die überlieferte Überzeugung von der in die Wiege gelegten Superiorität des männlichen Geschlechts sich gegen alternative (Frauen)Diskurse behaupten muss. Da die ›biologi(sti)sche Begrenzungsmauer‹ unaufhaltbar zusammenfällt und die kapitalistische Gesellschaftsform sowie (neo)liberale Demokratien den Mann vor neue Herausforderungen stellen, bündeln sich männliche Eliten mancherorts zu lokalen Bündnispartnern, die sich nahezu manisch auf retraditionalisierte Muster von weiblicher Schwäche berufen und die Frau aufgrund ihrer biologischen Beschaffenheit zu stigmatisieren suchen. So geistert der weibliche Abhängigkeitsund Unterlegenheitsmythos, in den der Mann nicht nur seine Entwürfe hineinprojiziert, sondern sie auch »mit der absoluten Wahrheit verwechselt«467 – um es mit Simone de Beauvoir auszudrücken – weiterhin umher. Die Resonanz fällt allerdings relativ schwach aus.
464 465 466 467
Vgl. Baberowski: Räume der Gewalt. 2018, S. 117. Schroer: Gewalt ohne Gesicht. 2004, S. 168. Vgl. Baberowski: Räume der Gewalt. 2018, S. 119. Vgl. Beauvoir de: Das andere Geschlecht. 1968, S. 155.
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Conzelmann, Hans 41 Czarnecka, Mirosława 47 Da˛browska-Burkhardt, Jarochna 46 Daldorf, Egon 111 Dauber, Andrea S. 119, 121 Dauss, Markus 112 Domröse, Sonja 47–49 Douglas, Mary 27, 29, 140f., 155f. Drescher, Franziska 23 Druciarek, Małgorzata 21 Dückers, Tanja 70, 77, 79–81, 88f. Ebeling, Smila 122 Eiden, Herbert 45f. Eidukevicˇiene˙, Ru¯ta 71 Elias, Norbert 40, 67 Ellis, Havelock 148–150 Engel, Heike 111, 127f., 130, 136–138 Engler, Steffani 19 Eschebach, Insa 99 Fallada, Hans 70, 95, 99f., 104, 106 Faller, Christiane 110 Felden, Heide von 121f. Fischer-Homberger, Esther 139, 143, 148 Flaake, Karin 127, 155 Flasch, Kurt 52 Foucault, Michel 24f., 29, 56, 165 Franck, Julia 70, 74, 88, 95, 103, 105f., 111, 131f., 137f. Frevert, Ute 74 Frisch, Anja 70, 76, 78, 80f., 88
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Personenregister
Frischmuth, Barbara 111, 132–127, 138, 143, 153–157, 159, 161 Galtung, Johan 12–15, 18, 32 Geier, Andrea 14 Gender-Killer, A.G. 72 Gerheim, Udo 95f. Giech, Carl Graf von 117–119 Gieseke, Wiltrud 110 Giesler, Birte 80 Goffman, Erving 8 Gugutzer, Robert 30 Haekel, Ralf 112 Hafner-Al-Jabaji, Amira 140 Hagemann-White, Carol 27–29, 123, 142, 163f. Halbmayr, Brigitte 74 Hall, Granville Stanley 121 Harten, Hans-Christian 91 Heiden, Herbert 46 Heiler, Friedrich 33 Heimerl, Theresia 156 Heller, Birgit 141, 153 Hensel, Silke 31, 65 Hiltmann, Gabrielle 35f. Höffe, Ottfried 35 Irigaray, Luca
29
Jeggle, Utz 152 John, Claudia 127 Kahlert, Heike 109 Kappe, Dieter 56 Kaufmann, Margit E. 139 Kiss- Deák, Eszter 43f. Knapp, Gudrun-Axeli 163 Knorr, Stefanie 105 Kocher, Eva 69 Kolshorn, Maren 19f. Köster, Rudolf 79 Krafft-Ebing, Richard von 149f. Krais, Beate 22f. Kronabitter, Erika 143, 159, 161 Kuster, Friederike 115, 147
Lehmann, Karl 31 Leitgeb, Anna Maria 35, 57, 62, 64, 143, 157, 159, 161 Lévi-Strauss, Claude 102 Lier, Karl-Heinz B. von 10 Lombroso, Cesare 150 Lorber, Judith 142 Luserke, Matthias 123 Luther, Martin 11f., 47–49, 113 Marcuse, Herbert 91 Mayer, Christine 115–117, 121 Mazurkiewicz, Jacek 145–152 Meyer, Katrin 15 Meyer, Ursula I. 38–40, 44 Micus-Loos, Christiane 136 Millett, Kate 29, 126, 138, 142 Möbius, Paul Julius 120, 145, 150, 158 Morris, Madeline 95 Morrison, Ann 24 Mühlhäuser, Regina 97f., 101 Neckel, Sighard 107 Nick, Dagmar 35, 60–64 Nissen, Ursula 28f. Poullain de La Barre, François Preisner, Mareike 76
112
Respondek, Anne S. 106 Reuter, Julia 25–27, 29, 157 Richter, Hans Werner 70, 95–100, 104, 106 Roock, Marco 91f. Rosenberg, Alfred 77 Rousseau, Jean Jaques 112–114, 125 Sauer, Birgit 16, 67–69, 80f., 88f. Schelkle, Karl-Hermann 38 Schilling, Heinz 49 Schlaffer, Edit 137 Schmid, Josef 568 Schmidt, Dietmar 94, 101f., 104, 107 Schmitz, Sigrid 122 Schopenhauer, Arthur 117 Schroer, Markus 13–15, 18, 67, 166 Schrott, Peter 23
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Personenregister
Schröttle, Monika 87, 105 Schüle, Heinrich 150 Schulz, Irmgard 69 Schulz-Flügel, Eva 42 Seifert, Ruth 98 Sigmund, Georg 39 Sigrist, Christoph 32 Sontowski, Claudia 151f. Stephan, Inge 60 Stögner, Karin 72f. Streeruwitz, Marlene 70, 81f., 88 Stricker, Sarah 70, 83, 88 Sutterlüty, Ferdinand 107 Szczepaniak, Monika 15 Szmorhun, Arletta 11, 31, 49, 51–53, 55, 57, 71, 74, 78, 81, 85, 87, 104
Velsor, Ellen 24 Voß, Heinz-Jürgen 37, 111 Voss, Bastienne 70, 85–88 Wedgwood, Nikki 161 Weigelt, Silvia 47 Wenk, Silke 99 Wetterer, Angelika 23f. White, Randall 24 Winter, Reinhardt 15 Wolf, Hubert 31, 65 Wood, Elisabeth Jean 96 Würzbach, Natascha 62f. Zimmermann, Ernst 48 Zinn-Thomas, Sabine 144, 152, 162 Zipfel, Gaby 71