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German Pages 304 Year 2000
Niels Gottschalk-Mazouz Diskursethik
Niels Gottschalk-Mazouz
Diskursethik Theorien Entwicklungen Perspektiven
Akademie Verlag
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Gottschalk-Mazouz, Niels: Diskursethik : Theorien - Entwicklungen - Perspektiven / Niels Gottschalk-Mazouz. - Berlin : Akad. Verl., 2000 Zugl.: Stuttgart, Univ., Diss., 1999 ISBN 3-05-003574-9 © Akademie Verlag GmbH, Berlin 2000 Das eingesetzte Papier ist alterungsbeständig nach DIN / ISO 9706. Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form - durch Photokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren - reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. Einbandgestaltung: Günter Schorcht, Schildow Druck und Bindung: Druckhaus „Thomas Müntzer", Bad Langensalza Printed in the Federal Republic of Germany
Für Nuri
Auch bei diesen Gegenständen haben wir wie auch sonst dasjenige festzustellen, was an Auffassungen offen vorliegt, dann zunächst die Schwierigkeiten durchzugehen die darin liegen, und auf diesem Wege möglichst Ober alles das, was die Leute [...] urteilen, oder wenn nicht Ober alles, so doch über das meiste und das wichtigste davon uns Klarheit zu verschaffen. Denn wenn die Schwierigkeiten gehoben werden und das bestehen bleibt, was allen einleuchtet, so darf der Gegenstand als ausreichend aufgehellt gelten. Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1143b (Ausg. Lasson)
Inhalt
VORWORT
11
EINLEITUNG
13
1.
13
Aufbau
2. Diskursethik im Kontext - zwei Skizzen 2.1 Diskursethik und Moralphilosophie 2.2 Diskursethik und Habermassche Diskurstheorie
15 15 18
I.
27
BEGRÜNDUNGSFRAGEN
1. Das BegTÜndungsprogramm der Diskursethik 1.1 Universalpragmatik 1.2 Transzendentalpragmatik
30 30 37
2. 2.2 2.3 2.4
44 47 49 50
Durchführungsversuch per materialer Implikation - Rehg (1991) Die erste Hauptprämisse . Die zweite Hauptprämisse Die Ableitung von >U< in zehn Schritten
3. Durchführungsversuch per pragmatischer Implikation - Ott (1996) 3.1 Die Beziehung zwischen Prämissen und Konklusion (Moralprinzip): pragmatische Implikation 3.2 Die Geltung der Diskursregeln: unter einer egalitären Annahme 3.3 Zwei Vorschläge zur Begründung von >D< 3.4 Die anschließende Begründung von >U< 3.5 Die Architektur: >D< als Moralprinzip vor >U< als Argumentationsregel 3.6 Die Formulierung von >U< : Streichung der „Interessen"
55 55 64 65 68 70 70
8
Inhalt
4. Das fortwährende Moralgespräch - Benhabib ( 1990) 4.1 Begründungsschritte 4.2 Neufassung des Begründungsziels
71 72 75
5. 5.1 5.2 5.3
Richtigkeit als Einwandfreiheit - Wellmer (1986) Kritische Bedenken Statt dessen: eine schwache Konsenstheorie Verflechtung von Geltungsansprüchen
77 77 80 83
6. 6.1 6.2 6.3
Die Moral des doppelten Respekts - Wingert (1993) Dimensionen moralischer Verletzung Kommunikative Lebensform und doppelter Respekt Diskursethik als Operationalisierung
85 86 87 89
7. 7.1 7.2 7.3 7.4 7.5 7.6 7.7
Versuch einer Neubegründung aus partikularen Geltungsansprüchen - Kettner (1998) Moralurteile und rationale Bewerter Gründe und gute Gründe Adressaten-Partikularität guter Gründe durch Projektionseigenschaften Noch einmal: Gründe und gute Gründe Gewichtungen von Gründen und Universalisierung Rechtfertigung der Exklusion und Universalisierung Begründungen von Begründungen und Universalisierung
93 94 97 98 101 102 103 105
II.
ANWENDUNGSFRAGEN
109
1. 1.1 1.2 1.3 1.4
Problemtaxonomie Vier Hinsichten des Problems: A1-A4 Exemplarische Erläuterung dieser vier Hinsichten Problemdifferenzierung: Intermediäre Regeln Anwendungsfragen speziell in der Diskursethik
109 110 110 113 115
2. 2.1 2.2 2.3 2.4
Anwendungsprobleme aus Sicht von Habermas Siebziger Jahre: Keine explizite Diskursethik Achtziger Jahre: Hegels Kantkritik Neunziger Jahre: Auch kontextgebundene Diskurse Diskussion der Habermasschen Sicht auf diskursethische Anwendungsprobleme....
117 118 120 138 150
3. Probleme in der Transzendentalpragmatik 3.1 Anwendungsprobleme aus Sicht von Apel 3.2 Ausdifferenzierung des Anwendungsteils Β durch Böhler
155 155 159
4. Ausarbeitung des Problems der Zumutbarkeit - Niquet (1992) 4.1 Der Weg zur Befolgungsgültigkeit
162 163
9 4.2 Betroffenheit und Beteiligung - ein Klärungsversuch 4.3 Kritik der Befolgungsgültigkeit 4.4 Warum überhaupt „allgemeine Befolgung"?
165 168 170
5. 5.1 5.2 5.3 5.4 5.5
Ausarbeitung des Problems der Anwendungsdiskurse - Günther (1988) Anwendungsprobleme von Normen überhaupt Exkurs: Formale Rekonstruktion der Anwendbarkeit von Normen Anwendungsprobleme des Moralprinzips Primat der Anwendung vor der Begründung? Fazit
172 173 175 178 187 190
6. Individuelle Normen und generelle Prinzipien - Alexy (1985/1995) 6.1 Individuelle Normen statt moralischer Faustregeln: Alexys Kritik an Günther 6.2 Anwendungsleitende Prinzipien
190 191 192
7. 7.1 7.2 7.3
194 195 196
Diskursiv integre Texturübergänge - Kettner (1992/1998) Metaethische Neupositionierung (1998) Anwendungsprobleme Kompromißbildung zwischen konfligierenden Moralen ohne Privilegierung der Moral-im-Diskurs?
205
8. 8.1 8.2 8.3
Verschiedene Anwendungsebenen - Ulrich (1990/1997) Diskursethik als Explikation des .moral point of view' Drei Stufen der Zumutbarkeit Institutionalisierung von Diskursen?
207 207 209 210
9. 9.1 9.2 9.3 9.4 9.5 9.6 9.7 9.8 9.9
Anwendung als Rationalisierung von Praxisfeldern - Ott (1996) Kern und Schalen Anwendungsdiskurse - reale Diskurse Die Ableitung von grundlegenden Moral- und Rechtsnormen Zumutbarkeit und Teleologie Anwendungsprobleme zwischen Kern, Schalen und Fällen Abwägung und Normenanwendung Kriterien der Abwägung Exkurs: Umgang mit Normkollisionen und Dissensen Moralprinzipien-Kollision
212 213 216 219 220 221 224 226 233 237
ΠΙ. DISKURSETHIK ALS KOGNITIVISTISCHES RAHMENKONZEPT
243
1.
243
Varianten der Diskursivität
2. Probleme der Standard-Diskursethik 2.1 Probleme von >U< 2.2 Probleme von >D
U< und vertritt ebenfalls die Trennung der philosophischen Begründung des Universalisierungsprinzips von seiner Anwendung durch alle Betroffenen bei der konkreten Normenbegründung (Apel 1988: 122ff.). Er betont jedoch, daß vielfach die Voraussetzungen fehlen, solche Diskurse zu führen, und verlängert deshalb die philosophische Begründung hin zu einem „Teil B" der Diskursethik, der auf die Schaffung solcher Voraussetzungen verpflichtet, wo sie nicht gegeben sind. Sowohl die Formulierungen von >D< und >U< als auch die Begründungs- und Anwendungsüberlegungen beider Autoren werden in den folgenden Kapiteln näher untersucht.
18
Einleitung
Zunächst soll jedoch kurz dargestellt werden, wie die Diskursethik mit Habermas' übrigen diskurstheoretischen und sozialphilosophischen Überlegungen zusammenhängt.
2.2 Diskursethik und Habermassche Diskurstheorie Der Begriff „Diskurs" hat eine weitreichende philosophische Tradition. Hier ein besonders anschaulicher Versuch einer inhaltlichen Bestimmung: „Diskurs (von [lat] discurrere: hin- und herlaufen) heißt ein Gespräch, weil dabei die Rede von einer Person zur anderen übergeht, der Verstand also in der redenden Person gleichsam hin- und herläuft, indem sie sich gegenseitig verständigen wollen." (Krug 1832)
In Analogie zur Diskussion zwischen mehreren Personen kann aber ein fur sich selbst vollzogener Gedankengang diese Bezeichnung verdienen, die „den Vernunftschluß anzeiget, da unterschiedliche Ideen mit einander verknüpft würden, wie bei der äußerlichen [Rede] Worte" (Walch 1775). Ideen zu verknüpfen ist begriffliche Erkenntnis, im Gegensatz zu intuitiver, die Ideen (Begriffe) mit Anschauungen verknüpft (Krug 1832). Aufgrund dieser Unterscheidung, von Kant geprägt und bis zu Wolff und der Scholastik zurückverfolgbar (Eucken 1926), wurde „diskursiv" häufig synonym zu „begrifflich" verwendet und dient heute zur „Charakterisierung eines methodisch fortschreitenden, das Ganze aus seinen Teilen aufbauenden Denkens oder Redens" (Gethmann 1980). Daneben wird aber nicht nur die Art der Darstellung, sondern auch das Ergebnis selbst (eine Kette von Aussagen) als Diskurs bezeichnet, zuweilen auch die Art und Weise seiner Entstehung (religiöser, poetischer, wissenschaftlicher etc. Diskurs). Im zwanzigsten Jahrhundert wurde der Begriff neu geprägt: Jürgen Habermas bezeichnete, als wollte er an die Verständigungsidee von Krug anknüpfen, damit „die durch Argumentation gekennzeichnete Form der Kommunikation [...], in der problematisch gewordene Geltungsansprüche zum Thema gemacht und auf ihre Berechtigung hin untersucht werden" (1973: 214). Ich werde im folgenden diese Theorie kurz skizzieren und untersuchen, inwieweit sie zur Bearbeitung praktischer Dissense herangezogen werden kann. Soweit die in diesem ersten Kapitel aufgrund der gebotenen Kürze nur angeschnittenen Fragen die Diskurstheorie als Diskursethik betreffen, d. h. als Theorie des Umgangs mit normativen Geltungsansprüchen, werden sie im Fortgang der Arbeit näher untersucht. Dort wird dann auch auf die spezifischen Ideen eingegangen, die Karl-Otto Apel zum Programm der Diskursethik beigesteuert hat. In diesem einleitenden Kapitel folge ich der ausführlicheren Darstellung von Habermas.1 2.2.1
Diskurs und Geltungsanspruch
Der Ausgangspunkt von Habermas' Konzept ist eine Reflexion auf die für eine Begründung von Aussagen nötige Kommunikationssituation. Begründet und damit gültig (als nicht von 1 Die folgende einführende Darstellung von Diskurstheorie und Diskursethik verfolgt nicht primär didaktische Zwecke und auch nicht die ideengeschichtlichen Wurzeln. In dieser Hinsicht gibt es geeignetere Arbeiten, etwa die einschlägige Einfuhrungsliteratur zu Habermas.
2. Diskursethik im Kontext - zwei Skizzen
19
faktischer „Geltung", sondern von „Gültigkeit" abgeleitetes Adjektiv) sind nur diejenigen Behauptungen, die sich gegenüber allen (auch künftigen) Einwänden verteidigen lassen. Das Prüfen von Einwänden geschieht im Diskurs. Die Praxis der wechselseitigen Begründung ist dabei eng mit der menschlichen Lebensform überhaupt verknüpft. In einer allgemeinen Analyse der SprachVerwendung, der Universalpragmatik, weist Habermas (1981) kommunikatives, genauer: verständigungsorientiertes Handeln (das über die strategische Herabsetzung anderer Menschen zum bloßen Werkzeug oder Hindernis hinausgeht), als grundlegende gesellschaftliche Integrationsinstanz aus. Ohne diese Form der Interaktion zerfiele gerade eine moderne, pluralistische Gesellschaft, die nicht mehr durch eine verbindliche, fraglos geltende Tradition zusammengehalten wird; sie ist ohne funktionale Alternative. Die Herausbildung personaler Identität, die Individuierung von Personen, all dies setzt solchermaßen intakte, intersubjektive Anerkennungsverhältnisse voraus. Diskurse sind sozusagen ein Problemmodus des verständigungsorientierten Handelns: Wird ein Teil der bisher anerkannten gemeinsamen Grundlagen in Frage gestellt (problematisiert), wird etwa ,eine Norm der Lebenswelt brüchig', kommt es zum Diskurs. Mit dem Begriff „Diskurs" bezeichnet Habermas genauer „die durch Argumentation gekennzeichnete Form der Kommunikation [...], in der problematisch gewordene Geltungsansprüche zum Thema gemacht und auf ihre Berechtigung hin untersucht werden" (1973: 214). Was sind diese Geltungsansprüche? Habermas erläutert es folgendermaßen: „Kommunikativ nenne ich die Interaktionen, in denen die Beteiligten ihre Handlungspläne einvernehmlich koordinieren; dabei bemißt sich das jeweils erzielte Einverständnis an der intersubjektiven Anerkennung von Geltungsansprüchen. Im Falle explizit sprachlicher Verständigungsprozesse erheben die Aktoren mit ihren Sprechhandlungen, indem sie sich miteinander über etwas verständigen, Geltungsansprüche, und zwar Wahrheitsansprüche, Richtigkeitsansprüche und Wahrhaftigkeitsansprüche je nachdem, ob sie sich auf etwas in der objektiven Welt (als der Gesamtheit existierender Sachverhalte), auf etwas in der sozialen Welt (als der Gesamtheit legitim geregelter interpersonaler Beziehungen einer sozialen Gruppe) oder auf etwas in der eigenen subjektiven Welt (als der Gesamtheit privilegiert zugänglicher Erlebnisse) Bezug nehmen." (1983a: 68)
Es gibt laut Habermas (1983a) also drei Geltungsansprüche, Wahrheit, Richtigkeit und Wahrhaftigkeit.1 Normalerweise gehen wir, wenn wir kommunizieren, davon aus, daß ein Gegenüber diese Geltungsansprüche einlösen könnte (was ein Gegenüber natürlich nicht immer kann; deshalb nennt Habermas diese Unterstellungen kontrafaktisch). Dies müssen wir uns gegenseitig unterstellen, sonst könnten überhaupt keine Inhalte transportiert werden: 1 Es müssen nicht immer alle Geltungsansprüche auf einmal explizit erhoben werden, auch wenn jeder Sprechakt in diesen Geltungsdimensionen (mehr oder weniger sinnvoll) hinterfragt werden könnte. Einem Sprechakt kann außerdem in vielen Fällen nicht eindeutig ein Geltungsanspruch zugeordnet werden, häufig nicht einmal der illokutionäre Modus des Behauptens, was sich am Beispiel von ,Hast Du etwa schon wieder Hunger?' vorfuhren läßt (Schneider 1982). Die Unterscheidung von Geltungsansprüchen ist eine analytische, keine extensionale. Zur theorie-internen Ausdifferenzierung der Geltungsansprüche und ihrer Verflochtenheit s. Einleitung. Zudem verstehe ich diese als eine offene Liste; je nach Zweck können (und werden) weitere Geltungsdimensionen unterschieden oder die bestehenden u. U. auch anders zusammengefaßt werden - wenn man Habermas' Fassung der Drei-Welten-Theorie (objektive, soziale, subjektive Welt) nicht ontologistisch mißversteht.
20
Einleitung
alle anderen Kommunikationsformen bauen darauf auf (ζ. B. eine Lüge).1 Diskurse sind nun sozusagen ein reflexiver .Problemmodus' des verständigungsorientierten, kommunikativen Handelns. Bezweifeln wir nämlich eine Aussage hinsichtlich eines dieser Geltungsansprüche, wird gemeinsam geprüft werden müssen: deskriptive Wahrheit und normative Richtigkeit einer Aussage in theoretischen resp. praktischen Diskursen, Wahrhaftigkeit hingegen in therapeutischer Kritik. Wahrhaftigkeit, d. h. ob jemand meint, was er sagt, offenbart sich nämlich nur in seinen Handlungen und kann nicht unabhängig davon durch Gründe festgestellt werden. 2.2.2
Diskursregeln und die „ ideale Sprechsituation "
Diskurse zeichnen sich dadurch aus, daß die ihnen zugrundeliegenden Fragen prinzipiell durch für alle nachvollziehbare Gründe entschieden werden können. Habermas schreibt: „Von .Diskursen* will ich nur dann sprechen, wenn der Sinn des problematisierten Geltungsanspruchs die Teilnehmer konzeptuell zu der Unterstellung nötigt, daß grundsätzlich ein rational motiviertes Einverständnis erzielt werden könnte, wobei .grundsätzlich' den idealisierenden Vorbehalt ausdrückt: wenn die Argumentation nur offen genug geführt und lange genug fortgesetzt werden könnte." (1981: 71)
Offen heißt dabei auch, daß niemand vom Diskurs ausgeschlossen werden darf und alle Teilnehmenden im Diskurs gleiche Chancen haben, Aussagen zu hinterfragen oder zu begründen. Ziel ist eine ,Herrschaftsfreiheit', wo nur der „eigentümlich zwanglose Zwang des besseren Arguments" (1981: 52) die Akzeptanz strittiger Aussagen bestimmt. Diese „Rationalitätsanforderungen" an Diskurse kommen in den Diskursregeln zum Ausdruck, die Habermas (im Anschluß an Robert Alexy) in drei Gruppen einteilt: - Logische Regeln (sichern Widerspruchsfreiheit; Konstanz und Eindeutigkeit der Bedeutung) ohne ethischen Gehalt (1983a: 97). - Dialektische Regeln (sichern Wahrhaftigkeit; Problematisierungsbegründung - „Warum stelle ich ... in Frage?") mit „ersichtlich ethischem Gehalt" (1983a: 98). - Rhetorische Regeln (sichern allgemeines Teilnahmerecht; Problematisierungs-, Vorschlags- und Bedürfnisartikulationsrecht; Recht auf Zwanglosigkeit bei Wahrnehmung dieser Rechte). Diese Regeln, Kennzeichen einer „idealen Sprechsituation", sollen eine „chancengleiche Teilnahme" (ebd.) aller potentiell Betroffenen sichern, d. h. gleiche Chancen auf Diskurs wie auch im Diskurs. Sie sind der ethische Kerngehalt des Diskurses.2 Diese Regeln sind „eine Form der Darstellung von stillschweigend vorgenommenen und intuitiv gewußten pragmatischen Voraussetzungen einer ausgezeichneten Redepraxis" (1983a: 101; Herv. i. Orig.). Zwei Dinge sind Habermas wichtig: Erstens ist das Ergebnis dieser Darstellung (als „know-that" und durch Dritte) des performativ-intuitiv Gewußten (des „know-how" der Argumentierenden) gegenüber den Argumentationsbeteiligten immer nur ein Vorschlag - Habermas spricht in diesem Zusammenhang explizit von einem „hypothetischen Element" (1983a: 106f.). Auch läßt sich die Argumentationspraxis als solche 1 Die Abkünftigkeit auch des offen strategischen Handelns diskutiert Apel (1997: 701ff.). 2 Ich halte diese Forderung für etwas zu stark; eine reelle Chance genügt, da die Forderung nach (strikter) Chancengleichheit überflüssig ist und ein falsches Bild von argumentativen Prozessen nahelegt (s. u.).
2. Diskursethik im Kontext - zwei Skizzen
21
damit nicht begründen, nur die (argumentative) „Nichtverwerfbarkeit" der Diskursregeln daß es also für die genannten Diskursregeln, wenn man überhaupt argumentieren will, keine funktionalen Äquivalente gibt. 2.2.3
Verständlichkeit - ein Geltungsanspruch ?
Eine vierte zwangsläufige Unterstellung von Kommunikation (neben Wahrheit, Richtigkeit und Wahrhaftigkeit) ist die Verständlichkeit der Äußerungen meines Gegenübers. Zunächst nannte Habermas diese eine „Bedingung der Kommunikation", um sie von einlösbaren Geltungsansprüchen zu unterscheiden. Sie ist die Bedingung dafür, daß überhaupt von Kommunikation gesprochen werden kann. Sie ist also ein in der Kommunikation „faktisch schon eingelöster Anspruch; sie ist nicht bloß ein Versprechen" (Habermas 1973: 222). In späteren Arbeiten wird sie dann doch als in explikativen Diskursen einlösbarer Geltungsanspruch bezeichnet (1981:45; beiläufig und in augenscheinlichem Widerspruch zur oben zitierten Stelle 1983a: 68f. auch in 1983a: 115).' Das Gegenstück zur Explikationsmöglichkeit ist die Offenheit des Diskurses fur eine ,Sprachkritik', d. h. dafür, daß die (etwa zur Bedürfnisartikulation verwendeten oder zu verwendenden) Begrifflichkeiten inadäquat sind.2 Die Diskurstheorie muß dabei nicht behaupten (wie manche Bemerkungen von Habermas zum Konstruktivismus nahelegen mögen), daß sämtliche Überzeugungsänderungen per Argumentation erfolgen oder auch nur erfolgen können. Vielfach lassen sich Alternativen nur vorführen, häufig nicht einmal mit sprachlichen Mitteln. Auch die richtige Beobachtung (im Anschluß an Nietzsches polemische Bemerkungen Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne), daß es ein unvermeidlich metaphorisches Element sprachlicher Ausdrücke gebe und daß dieses Element wichtig für die Fortentwicklung sprachlicher Ausdruckmöglichkeiten wäre (Seel 1990) stellt die Argumentationspraxis nicht in Frage, sondern gehört zu ihren Ermöglichungsbedingungen. Doch die Argumentationspraxis ist dasjenige Medium, in dem wir uns der Rationalität unserer Einstellungsänderungen versichern können, soweit wir uns dieser eben versichern können.3 Etwas besseres als unsere besten Gründe steht uns dafür nicht zur Verfügung. 1 Eine gewisse Übereinstimmung in den Hintergmndannahmen muß sicher schon gegeben sein, damit überhaupt von Kommunikation gesprochen werden kann (etwa dafür, daß Kommunikationsversuche als solche verstanden werden). Je nach Grad dieser Übereinstimmung dürfte es dann Unverständnis, Verständnis für die andere Position (die nicht die eigene ist) oder eine gemeinsame Position als Ergebnis noch so idealer Diskurse geben. 2 Keiner der Betroffenen oder der sonstigen Diskursbeteiligten muß sich also in den „herrschenden Diskurs" (im Sinne Michel Foucaults) einfach einpassen. 3 Gern wird im Namen eines Wittgensteinianismus dem Diskurstheoretiker entgegengehalten, man „folge der Regel letztlich blind", da sich „der Spaten irgendwo zurückbiege" u. ä. Der Punkt dabei ist doch das irgendwo: Wo sich der Spaten zurückbiegt, ist alles andere als beliebig, sondern genau da, wo die gegebenen Gründe zu einem zwanglosen Einverständnis sich verdichten. Und wo sie dies nicht tun, läßt sich die Suche abbrechen oder fortsetzen. Denn die Kette von Gründen hat ja nur pragmatisch ein Ende, nicht systematisch. Wittgenstein vernachlässigt zugunsten der logischen Unbestimmtheit der richtigen Regelbefolgung die Teilnehmerperspektive, aus der der Abbruch eben nicht beliebig ist, wie ein Wittgensteinianismus nahezulegen scheint.
22
Einleitung
(Diese Überlegungen und ihre Konsequenzen fur die Ethik werden weiter unten wieder aufgenommen.) 2.2.4
Das Spektrum der Geltungsansprüche
In der Konzeption von 1981 findet sich die evaluative Angemessenheit als fünfter, nicht in Diskursen einlösbarer Geltungsanspruch: In evaluativen Äußerungen erhebt man, so Habermas (66ff.), den Anspruch auf Angemessenheit der Anwendung von Wertstandards". Eine eventuelle Unangemessenheit ist in „ästhetischer Kritik" zu beheben. Dies sei kein Diskurs, weil keine universellen Geltungsanspriiche zur Diskussion stehen: „Kulturelle Werte gelten nicht als universal; sie sind, wie der Name sagt, auf den Horizont der Lebenswelt einer bestimmten Kultur eingegrenzt" (1981: 71).1 Der Bereich deijenigen Fragen, über die sich diskursive Konsense erzielen lassen, wird vom Habermas der achtziger Jahre somit erheblich eingeschränkt: auf Wahrheit und normative Richtigkeit (Normenbegründung). Was Habermas demgegenüber in einer frühen diskurstheoretischen Schrift (1973) noch postuliert hatte, ging über diese in den achtziger Jahren ausgearbeiteten Diskurstypen deutlich hinaus. 1973 wurden den theoretischen Diskursen noch Wahrheits- und pragmatische Fragen zugeordnet und den praktischen Diskursen normative und evaluative Fragen. In Habermas' Hauptwerk von 1981 wird die evaluative Komponente des praktischen Diskurses (wie erwähnt) explizit ausgegliedert, in der 1983er Konzeption wird zudem auch die pragmatische Komponente des theoretischen Diskurses nicht mehr erwähnt. Diese 1983er Konzeption möchte ich die Minimalkonzeption nennen, da sich die hier zugelassenen diskursiv einlösbaren Geltungsansprüche auch in allen weiteren Konzeptionen als solche wiederfinden. In Habermas' Schriften der neunziger Jahre finden sich hingegen auch juristische und politische, evaluative und pragmatische, sowie Normenanwendungs- und (in Ansätzen) ästhetische Diskurse. Seither verwendet Habermas den Diskursbegriff (gegenüber der früheren, rigiden Bindung an intersubjektiv einlösbare Geltungsansprüche) geradezu inflationär. Der Hintergrund liegt in einer Aufweitung des Diskursbegriffes: Habermas will nun bereits dann von Diskursen sprechen, wenn „die Aigumentationsschritte nicht idiosynkratisch sein dürfen, sondern intersubjektiv nachvollziehbar bleiben müssen" (Habermas 1991d: 111). Dieser Diskursbegriff ist weniger rigide als der frühere, aber durch seine größere Offenheit auch stärker erläuterungsbedürftig; ich will im folgenden die einzelnen Diskurs-Spielarten durchgehen und auf ihre Eigenheiten hin untersuchen. In puncto normativer Richtigkeit hat Habermas die Einschränkung auf die Begründung moralischer Normen aufgegeben. Er postuliert inzwischen ein allgemeines Diskursprinzip zur Prüfung von Handlungsnonatn: „Gültig sind genau diejenigen Handlungsnormen, denen alle möglicherweise Betroffenen als Teilnehmer an rationalen Diskursen zustimmen könnten." (1992, S. 138)
Dieses Diskursprinzip soll sich spezifizieren lassen zur Beantwortung moralischer Fragen genauso wie „z. B. für die Beratungen eines politischen Gesetzgebers oder für juristische 1 Karl-Otto Apel trennt ähnlich die Fragen des Guten von denen der Moral und hält erstere für nicht diskursfähig (vgl. Apel 1998: 23 und 637ff.).
2. Diskursethik im Kontext - zwei Skizzen
23
Diskurse" (Habermas 1996: 64 mit Verweis auf Forst 1994).' Die Spezifikation betrifft - so liest man bei (Forst 1994: 387) - die jeweils zuständigen, „mehr oder weniger umfassenden Rechtfertigungsgemeinschaften". Juristische Diskurse leisten die Rechtfertigung von Handlungen „nach Maßgabe des geltenden Rechts", also eine Verantwortung vor dem Recht, politische Diskurse hingegen eine Verantwortung fiir das Recht (ebd.: 396ff). Juristische Diskurse werden damit von der Form her auf die noch zu erläuternden Normenanwendungsdiskurse festgelegt. Politische Diskurse bleiben auf einen moralischen Kern (im Sinne der Diskursethik) bezogen, können aber evaluative Komponenten, d. h. Fragen des guten Lebens beinhalten, soweit dadurch keine Gruppen ausgeschlossen werden: Neben einem „authentischen Selbstverständnis" der Rechtsgemeinschaft umfassen politische Diskurse über legitime Rechtsnormen aber auch „die faire Berücksichtigung der in ihr verteilten Werte und Interessen sowie die zweckrationale Wahl von Strategien und Mitteln" (1992:194). Politische Diskurse sind von der Form her also ein Mischtyp aus Diskursen über moralische, evaluative und pragmatische Fragen. Evaluative und pragmatische Fragen werden seit den neunziger Jahren nämlich von Habermas (wieder) für diskursfahig gehalten (Habermas 1991d: 101). Handlungen lassen sich bekanntlich durch einen praktischen Syllogismus schematisieren: Aus einer Intention (erste Prämisse) und einer Überzeugung, durch welche Aktion A diese Intention verwirklicht werden kann (zweite Prämisse) „folgt" die Handlung (d. h. die Aktion A). Zur Bestimmung der zweiten Prämisse dieses Syllogismus, so möchte ich daher sagen, sieht Habermas nun einen pragmatischen Diskurs vor. Er führt auf Wenn-dann-Aussagen, die wahr oder falsch sind, auf hypothetische Imperative; Habermas vergleicht pragmatische Diskurse mit der „Empfehlung einer geeigneten Technologie" (Habermas 1991d: 108): „Die weitorientierte Abwägung von Zwecken und die zweckrationale Abwägung von verfugbaren Mitteln dient der vernünftigen Entscheidung darüber, wie wir in die Welt eingreifen müssen, um einen erwünschten Zustand herbeizuführen. Dabei geht es wesentlich um die Klärung von empirischen Fragen und um Fragen [zweck-; NGM] rationaler Wahl."
Diese Perspektive ist insofern verkürzt, als der „erwünschte Zustand" gerade nicht nur der Zustand ist, den der Obersatz des Syllogismus vorgibt, sondern auch die Mittelwahl durch andere Ziele und Metaziele (etwa der Effizienz), durch Werte sowie moralisch-normative Überlegungen bestimmt wird. Der pragmatische Diskurs läßt sich nicht, wie von Habermas intendiert, als vorrangig theoretischer Diskurs betrachten. Fragen nach Intentionen in praktischen Syllogismen führen ab einer gewissen Tragweite auf „ethische", wie Habermas sie nennt, Diskurse über das gute Leben.2 Für eine entsprechende „gravierende Wertentscheidung, die die Richtung einer ganzen Lebensführung be1 Diese Architektur wird von Apel vehement abgelehnt. Seiner Meinung nach muß anstelle einer „Verzweigung" wie bei Habermas bereits das „allgemeine Diskursprinzip" als „moralisch gehaltvoll" verstanden werden und sind rechtliche, politische (und andere) Interaktionsformen moralisch zu reflektieren und als Ergänzung der ζ. B. sanktionsfreien Moral zu begründen (Apel 1998: 30 und 727ff.). 2 Ich werde „Ethik" und das Adjektiv „ethisch" zur Klarheit auch weiterhin dort in Anfuhrungszeichen setzen, wo - wie von Habermas i. allg. beabsichtigt - der Bezug auf Fragen des guten Lebens ausgedrückt werden soll. Wo ich keine Anfuhrungszeichen verwende, bezieht sich Ethik - wie in der Philosophie ebenfalls üblich - auf die philosophische Reflexion der Moral. Eine Ethik ist dann eine philosophische Theorie zur Auszeichnung der richtigen Moral.
24
Einleitung
rührt," bedarf es „der hermeneutischen Klärung des Selbstverständnisses eines Individuums" (Habermas 1991d: 108). Auf dem Spiel steht das „authentische Leben" der Betroffenen. Die hierbei ausschlaggebenden Gründe müßten nicht von allen, sondern nur von denjenigen Menschen akzeptiert werden können, die die entsprechenden „Traditionen und starken Wertungen" teilen. Auch hier ist also nach Habermas nur eine eingeschränkte „Rechtfertigungsgemeinschaft" angesprochen. Die Habermasschen Kennzeichnungen des „Ethischen" werden insbesondere in Kap. II.2.3.1 und ΠΙ.2.2.3 näher untersucht.
Geltungsanspruch
1973
1981
1983
1991
1992
1996
Wahrheit von Aussagen
D
D
D
D
D
D
Wahrhaftigkeit von Expressionen
Κ
Κ
Κ
Κ
Κ
Κ
Richtigkeit von (moralischen) Handlungsnormen
D
D
D
D
D
D
D
D
D
D
D
Angemessenheit von (moralischen) Handlungsnormen Richtigkeit juristischer Normen Richtigkeit politischer Normen
D
Angemessenheit von Wertstandards
D
Κ
D
D
D
Wirksamkeit teleologischer Handlungen
D
D
D
D
D
Verständlichkeit bzw. Wohlgeformtheit V symbolischer Konstrukte
D
D?
Tabelle 1 Geltungsansprüche nach Habermas (1973-1996), die entweder im Medium des Diskurses (D) oder der Kritik (K) zu prüfen sind, oder deren Erfüllung Voraussetzung der Kommunikation (V) ist.
Zum praktischen Diskurs zählt Habermas inzwischen neben (Normen-^Begründungsdiskursen auch Anwendungsdiskurse. Der zugehörige Geltungsanspruch sei die normative „Angemessenheit" (nicht zu verwechseln mit der oben erwähnten Angemessenheit von Wertstandards). Als Antwort auf das Problem der Anwendung von Normen auf konkrete Fälle, üblicherweise (und so auch noch Habermas in 1983a) Aufgabe der Klugheit, übernimmt Habermas (1991d) dieses Konzept von Günther (1988). Es wird im Anwendungsteil dieser Arbeit eingehend untersucht werden. Der Logik dieses Arguments nach müßte es auch juristische und politische Anwendungsdiskurse geben, doch diese werden nicht erwähnt.
2. Diskursethik im Kontext - zwei Skizzen
25
Die rigide Bindung der Bezeichnung „Diskurs" an die Prüfung einerseits von Wahrheitsansprüchen und andererseits von Begründungen moralisch richtiger Normen hat Habermas damit aufgegeben. Erschienen sind eine Vielzahl von Diskurs-Spielarten, die ich aufgrund ihrer wechselseitigen Verschränkung allerdings eher als Dimensionen eines allgemeinen Diskurses bezeichnen würde. Der allgemeine praktische Diskurs nach Habermas weist dann pragmatische, „ethische" und moralische Dimensionen (vgl. zu dieser Notwendigkeit auch Kettner 1994) sowie (zumindest in der Moral) Anwendungsdimensionen wie Begründungsdimensionen auf. 2.2.5
Deskriptive und normative Konsenstheorie
Wahrheit und (normative) Richtigkeit, d. h. theoretischer resp. praktischer Diskurs: diese beiden Kernsphären des Diskurses hat Habermas philosophisch ausgebaut, einerseits zu einer Konsenstheorie der Wahrheit (Habermas 1973), andererseits zu einer Diskursethik (Habermas 1983a; 1991; 1996). Die Idee dabei war ursprünglich, daß einen Geltungsanspruch einlösen bedeutet, einen Diskurs gemäß der Diskursregeln zu führen, d. h. im Kern, eine ideale Sprechsituation herzustellen. Inzwischen wird dies von Habermas vorsichtiger formuliert, nämlich so, daß sich Geltungsansprüche immer nur vorläufig einlösen lassen. Habermas meint damit weiterhin, daß wir in der Kommunikation ein prinzipiell mögliches Einverständnis unterstellen müssen, nicht aber, daß dessen Erreichen durch die Herstellung einer idealen Sprechsituation garantiert werden könne. Dabei hat das Vorliegen eines Konsenses jedoch in deskriptiven Fragen einen anderen Sinn als in normativen Fragen: Wahrheit wird durch einen (idealen) Konsens nur angezeigt, normative Richtigkeit hingegen auch konstituiert (Habermas 1996: 55).' Gemeinsam haben beide Geltungsansprüche die Kontexttranszendenz ihres Geltungssinns. Diese Ansprüche seien zwar jeweils immer nur (provisorisch) einlösbar innerhalb eines gegebenen (Welt- und Sprach-)Kontextes, zielten aber von ihrem Sinn her letztlich immer auf Gültigkeit in allen Kontexten: Wenn ich ernsthaft behaupte, die Erde sei keine Scheibe, dann meine ich damit nicht nur: sie sei Jur uns (Mitteleuropäer, neuzeitliche Menschen, deutschsprechende Menschen o. ä.) keine Scheibe, sondern eben: sie sei so - Punkt. Ähnlich richtet sich die Forderung ,Du sollst nicht töten' nicht nur an einen bestimmten Personenkreis. ,In jedem Kontext zu rechtfertigen' läßt sich verstehen als nur „schwache Idealisierung unserer - als fortsetzbar gedachten - Argumentationsprozesse" unter der Verpflichtung, die jeweilige Behauptung „gegen alle künftigen Einwände zu verteidigen" (Habermas 1996: 54), d. h. auch in allen zukünftigen Kontexten. Zugunsten dieser fallibilistischen Konstruktion ist vom Vorliegen einer idealen Sprechsituation als Positiv-Kriterium nun nicht mehr die Rede.2
1 In diesem Punkt hat sich Habermas offenbar von Albrecht Wellmer überzeugen lassen, auf den er ab dieser Stelle auch verweist. Ein Konsens selbst in der idealen Sprechsituation gibt nunmehr zwar kein Wahrheits- oder RichtigkeitsAriferium an die Hand, wohl aber legen nicht-ideale Verhältnisse einen Verdacht auf falsche Ergebnisse nahe. 2 Das ist von Anfang an ein wesentlicher Kritikpunkt Apels an Habermas' idealer Sprechsituation gewesen: Eine rein prozedurale Fassung der Idealisierungen garantiert noch nicht, daß die Diskurs-Teilnehmer auch im Besitz der richtigen Argumente sind (Apel 1973: 139ff.). Daher habe Apel, so Wellmer (1993: 159),
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Einleitung ,,[E]s kann nicht a forteriori ausgeschlossen werden, daß neue Informationen und bessere Gründe vorgebracht werden. Faktisch beenden wir, unter günstigen Bedingungen, eine Argumentation erst dann, wenn sich die Gründe im Horizont bisher unproblematisch gebliebener Hintergrundannahmen zu einem kohärenten Ganzen soweit verdichten, daß über die Akzeptabilität des strittigen Geltungsanspruchs ein zwangloses Einverständnis zustandekommt." (Habermas 1992: 278)
Konsense als Ergebnisse realer Diskurse, egal wie nahe deren Organisationsform den idealen Bedingungen kommt, bleiben prinzipiell fallibel, d. h. sie können sich als falsch herausstellen. Die Konsenstheorie normativer Richtigkeit bildet den Kern der Diskursethik, wie sie eingangs kurz umrissen wurde und nun auf Begründungs- und Anwendungsprobleme hin untersucht werden soll.
das Peircesche Konvergenzprinzip in sein Verständnis von Wahrheit als letztgültigem Konsens einer idealen Kommunikationsgemeinschaft aufgenommen, quasi in Kombination von Habermas (prozedural: ideale Sprechsituation) und Putnam (material: rationale Akzeptierbarkeit).
I.
Begründungsfragen
Folgt man Karl-Otto Apel in seiner Situationsbeschreibung der Philosophie im Bundesdeutschland der frühen sechziger Jahre (Apel 1973), wird zumindest klar, auf welches Defizit eine normative Theorie damals stoßen mußte: Der damalige Mainstream ließ zwischen der positivistischen Wertfreiheit der Wissenschaften auf der einen und der individuellexistentiellen Gewissensentscheidung auf der anderen Seite für intersubjektive Verbindlichkeiten keine Legitimationsstrategie erkennen. Heute dominiert der kognitivistische Relativismus: Moralische Fragen lassen sich demnach diskutieren, aber nur relativ zu (individuell oder kulturell verschiedenen) Prämissen. Die Prämissen lassen sich grob in normative und deskriptive unterscheiden und können in verschiedener Weise auf ihre Stimmigkeit hin untersucht werden, letztlich aber sind zumindest die normativen Prämissen keiner für alle verbindlichen Begründung zugänglich: Man hat sich fur sie mehr oder weniger bewußt entschieden, hat sie per Zufall oder per Tradition, kurz: man hat sie eben. Deskriptive Prämissen allein reichen für eine Begründung aber bereits aus methodischen Gründen nicht aus. Daß ζ. B. der Mensch ein leidensfahiges Wesen ist, daß er gewisse materielle Grundbedürfnisse teilt, daß er jeweils nach Glück strebt usw.: All diese Bestimmungen könnten von mir anerkannt werden und ich könnte mich dennoch fragen, warum ich denn anderen kein Leid zufügen sollte, warum ich zur Bedürfnisbefriedigung anderer beitragen sollte oder zu der Erfüllung ihrer Lebensziele. Man könnte sich nun fragen: Woher ließen sich normative Prämissen überhaupt nehmen, wenn sie nicht von den Moralsubjekten bereits anerkannt wären? Steht nicht jede Moralbegründung im Verdacht, entweder zirkulär zu sein oder dogmatisch? Und doch wollen wir uns nicht damit zufriedengeben, von anderen Menschen nur das zu fordern, was diese ohnehin anerkennen. Wir fordern von ihnen, daß sie diese oder jene normative Aussage anerkennen sollen. Eine Philosophie, die diesem Phänomen Rechnung tragen will, könnte deshalb nach demjenigen suchen, was vernünftigerweise nicht bestritten werden kann. Dann können diejenigen Moralsubjekte „unvernünftig" genannt werden, die normative Aussagen faktisch nicht anerkennen, obwohl sie diese eigentlich anerkennen sollten - und man kann dann sagen, diese normativen Prämissen gelten auch für sie. Doch erfordert diese Strategie nicht nur zu sagen, was vernünftigerweise nicht bestritten werden kann, sondern es ist auch eine Vorstellung davon zu geben, wie etwas vernünftigerweise (nicht) bestritten kann, d. h. wie eine gelungene Begründung aussieht. Kein sinnvoller Versuch wäre, hier von jedem Modell abzusehen und es der faktischen Zustimmung der einzelnen zu überlassen, was sie als für sich einleuchtend ansehen. Erstens
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I. Begründungsfragen
sind alle Inhalte notwendig völlig unbestimmt - was wird also überhaupt begründet? Zweitens ist die Prämisse nicht sehr plausibel, daß richtig ist, was immer mir oder den anderen jeweils richtig erscheint. Durch diese „Lösung" wären wir wieder am Ausgangspunkt angelangt, da Individuen dann „vernünftig zurückweisen" könnten, was immer sie zurückweisen - und die kritische Pointe des „vernünftig" verschenkt wäre. Philosophische Ethiken haben daher versucht, die Zustimmung sinnvoll zu qualifizieren, d. h. an irgendwelche (inhaltlichen oder prozeduralen) Vorgaben zu binden (sonst wäre sie nicht aussagekräftig). Andererseits bietet die qualifizierte Zustimmung dann aber, in ihrer Aussagekraft, Perspektiven für eine Moralbegründung. Solange das zu Begründende, die Moral, vom Begründenden dabei noch unterscheidbar bleibt, ist dies nicht zirkulär. Zwischen den Extremen einer definitorischen Präjudizierung und dem anything goes der bloß faktischen Zustimmung würde eine kognitivistische Moralbegründung sich methodisch zu positionieren haben. Eine Grundeinsicht Immanuel Kants gilt dabei auch heute noch: Jede aussichtsreiche Moralbegründung enthält transzendentale Elemente. Transzendental heißt eine Begründung, wenn sie über den Nachweis der Bedingungen der Möglichkeit von etwas funktioniert. Dies ist identisch mit den notwendigen Bedingungen von etwas. In diesem Argumenttyp wird einem Individuum gezeigt, daß das, was ein Individuum (vielleicht) bestreiten will, die Voraussetzung von etwas anderem ist, was das Individuum nicht aufgeben will oder kann.1 M. a. W.: Gesucht wird nach (einem Bündel von) unkontroversen Anknüpfungspunkten, von denen ausgehend deutlicher normative Gehalte gerechtfertigt werden können. Diese Anknüpfungspunkte sind meistens nicht explizit formuliert, jedoch durch eine Interpretation dessen zu erhalten, was das betreffende Individuum (bzw. „wir alle") gewöhnlich oder ohnehin schon tun, und können dann als etwas erwiesen werden, das es immer schon anerkannt hat (so es die entsprechende Interpretation akzeptiert). Für Kant ist der kategorische Imperativ die Bedingung der Möglichkeit von praktischer Freiheit („ratio essendi"; Kant 1974: A 5) und praktisch unfrei sein zu wollen unvernünftig. Für Karl-Otto Apel ist die Kommunikationsgemeinschaft, für Jürgen Habermas sind die Diskursregeln die Bedingung der Möglichkeit, die Wahrheit oder Richtigkeit einer Aussage zu prüfen, und es wird durch die Diskursregeln ein „Moralprinzip" impliziert. Für Christoph Hubig sind Vermächtnisse und Optionen im Handeln unabdingbar: Man muß bestimmte Optionen haben und sie auf einer Vermächtnis-Basis identifizieren und qualifizieren können, sonst kann man nicht von einer Handlung sprechen. Wer also weiterhandeln können will, muß Options- und Vermächtniswerte beachten. Alan Gewirth wählt einen ähnlichen Ansatzpunkt, indem er zeigt, daß für das Handeln eine materielle Ressourcenausstattung erforderlich ist, auf die sich ein Handelnder als Handelnder ein Recht einräumen muß (Gewirth 1989; dazu Steigleder 1992). Otfried Höffe betont die Hilfe durch andere als Bedingung der Möglichkeit menschlichen Lebens (Säuglings- und Greisenalter), und weil man diese Hilfe immer schon in Anspruch genommen habe, dürfe man - so Höffe (1995) - jeden zu Recht zu Gegenleistungen für diese erhaltenen Vorteile verpflichten. Alle diese Autoren haben zu zeigen, inwiefern es dabei zu einer Gleichbehandlung der Ansprüche anderer Moralsubjekte kommen muß, wenn eine Moral und nicht nur eine mehr oder weniger egoisti1 Dabei ist dieses Nicht-Können erläuterungsbedürftig. Gemeint ist hier etwas, das tiefer liegt als ein bloß kontingentes Wollen (etwa, wenn die Voraussetzungen dafür auf dem Spiel stehen, überhaupt etwas sollen zu können).
29 sehe Klugheitsethik resultieren soll. Dies wird durch einen dazwischengeschalteten Anerkennungsakt erreicht, der zwar aus einer u. U. egoistischen Motivation heraus geleistet worden sein mag, jedoch zur Folge hat, daß die moralischen Inhalte von dieser Motivation entkoppelt sind. So kann es zwar Teil meiner Konzeption einer verantwortungsvollen Person sein, also meiner Identität, moralische Ansprüche anderer gleich ernstzunehmen, mich einer Idee der Menschheit verpflichtet zu sehen, usw. Dennoch bedeutet eine Behandlung anderer Menschen unter diesem Ideal gerade nicht, daß es mir dabei nur um mich geht. Oder ich kann der Meinung sein, daß es (auch) für mich vorteilhaft ist, ein Moralsystem zu „unterschreiben", das mich nicht besser stellt als die anderen, weil es sonst die anderen nicht ebenfalls „unterschreiben" würden, es aber besser ist, ein solches System als gar keines zu haben (vgl. Tugendhat 1997). Dann bedeutet, andere Menschen nach diesem System zu behandeln, auch nicht, nur an seinem persönlichen Vorteil interessiert zu sein.1 Die Liste der notwendigen Bedingungen ließe sich verlängern: Einer allein kann nicht frei sein, also ist die Freiheit der anderen ist Bedingung der Möglichkeit meiner eigenen (Hegel). Und so weiter. Natürlich setzt das voraus, daß man frei sein will.2 Oder daß man Gründe fiir sein Handeln geben können will. Oder daß man handlungsfähig bleiben will. Oder daß man sich nicht schaden oder sich nicht widersprechen will. Doch wenn die Anerkennung schon eines einzigen dieser oder ähnlicher Punkte bereits zuviel verlangt wäre, hätte wohl jede Begründung schlechte Karten. Man könnte es auch irgendwann uninteressant finden, immer nur den radikalen Skeptiker widerlegen zu wollen, der jeden Vorschlag mit den Worten zurückweist: „Und warum sollte ich dies wollen?". Soweit es in der Ethik um die Beantwortung der Frage nach der richtigen Moral und in der Moral um das richtige Handeln geht, darf getrost vorausgesetzt werden, daß es für den Moral-Adressaten selbstverständlich ist, sich (a) als Handelnder zu verstehen, der (b) nach dem richtigen Handeln fragt. Damit bieten sich die Handlungsfähigkeit (vgl. Hubig, Gewirth, Höffe) bzw. die Rechtfertigungsfahigkeit (Kant, Apel/Habermas) als Ansatzpunkt einer Moralbegründung an. Und es ist offensichtlich, daß handlungs- und rechtfertigungsorientierte Begründungen nicht unbedingt miteinander konkurrieren: Während erstere auf die Auszeichnung materialer Gehalte zugeschnitten sind, finden letztere in der Auszeichnung von Verfahren zur Gewinnung solcher Gehalte ihren „natürlichen" Gegenstand. Im folgenden wird ein Teil der rechtfertigungsorientierten Begründungsansätze, und zwar deijenige der Diskursethik, auf ihre Tragfähigkeit hin untersucht. Die Reihenfolge der Darstellung ist ausschließlich von systematischen Erwägungen geleitet. Ich beginne dabei mit der Analyse des Habermasschen Begründungsprogramm von 1983, das relativ klar die Grundidee der diskursethischen Ethikbegründung ausführt, zusammen mit einer kurzen Betrachtung des Letztbegründungsprogramms von Apel und der sich daran anschließenden Arbeiten. In den folgenden beiden Abschnitten werden die Versuche von Rehg und Ott 1 Ich denke, daß Höffe einen solchen Anerkennungsakt durch sein Prinzip des Vorteilstausches gesetzt hat. Gewirth versucht diesen Schritt durch den Begriff eines Rechts als Handelnder, das man dann anderen Handelnden nicht konsistent verweigern könne. Bei Hubig fehlt die Explizierung eines solchen Schrittes; eventuell sind aber Optionen und Vermächtnisse als intrinsisch nicht individuell vorteilhaft anzusehen. 2 Hermann Klings hat den grundlegenden Anerkennungsakt dafür, eine autonomistische Ethik, d. h. auch die Diskursethik, individuell überzeugend zu finden, als Anerkennung der „transzendentalen Freiheit" bezeichnet und reflexiv rekonstruiert (Klings 1980).
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I. Begründungsfragen
betrachtet, diese unausgeführt gebliebenen Programme in einer formal anspruchsvolleren oder wenigstens in einer philosophisch präziseren Form durchzuführen. Anschließend werden die Vorschläge von Benhabib, Wellmer und Wingert zu einer Neubestimmung der Diskursethik diskutiert, die sich noch auf den Boden von Habermas' Überlegungen zum kommunikativen Handeln stellen wollen. Schließlich wird ein Vorschlag von Kettner zu untersuchen sein, der grundlegende Revisionen am gesamten Programm vornehmen will und die Diskursethik aus partikularen Geltungsansprüchen neu errichten möchte - Revisionen, die auch das Praxis-Verhältnis dieser Theorie betreffen.
1. Das Begründungsprogramm der Diskursethik Ich will nun das diskursethische Begründungsprogramm näher betrachten sowie einige Versuche vorstellen, dieses unausgeführt gebliebene Programm in einer formal anspruchsvolleren Form durchzuführen. Jürgen Habermas und Karl-Otto Apel scheinen die Entwicklung dieses Begründungsprogramms gemeinsam vorangetrieben zu haben. In der Darstellung folge ich den Habermasschen Versionen, werde aber an gegebener Stelle auf das Apelsche Letztbegründungsargument eingehen, das das Spezifikum der Transzendentalpragmatik ausmacht. Habermas' Begründungsprogramm ist bis heute ein Programm geblieben, das allerdings mehrfach umgeschrieben wurde. Zu seiner Durchführung finden sich Verweise auf Rehg (1991) in (Habermas 1992: 140) und auch in (Habermas 1991a: 134). In (Habermas 1996: 61) wird statt dessen auf Ott (1996b) verwiesen. Zu den formalen Problemen transzendentaler Argumente verweist Habermas (1996: 61) aufNiquet (1991 und 1995). Doch was eine Begründung sein kann, hängt wesentlich von der Art des jeweiligen Problems ab. Es gibt daher streng genommen nicht die Begründung der Diskursethik. Habermas ζ. B. geht in verschiedenen Aufsätzen verschiedene Wege, auf denen er jeweils unterschiedlichen Einwänden gegen seine Konzeption begegnet (etwa der Leugnung moralischer Phänomene, dem Verweis auf den (auch bei gutem Willen) irreduziblen Pluralismus der Werte usw.). In (1996) wird eine historisch-genealogische Plausibilisierung versucht. Diese Wege will ich hier nicht verfolgen, sondern ausschließlich dem methodischen Kern der Begründungsidee nachgehen.
1.1 Universalpragmatik Die Diskursethik wurde eingangs bereits beschrieben, so daß ich mich hier auf die Angabe der einzelnen Schritte dessen beschränke, was als Begründung einer Diskursethik im engeren Sinne angesehen werden kann: der Begründung eines Moralprinzips als Argumentationsregel aus den Universalien des Diskurses, d. h. im wesentlichen aus den Diskursregeln. Habermas' Begründungsziel scheint also das diskursethische Moralprinzip >U< zu sein: „>U< Jede gültige Norm muß der Bedingung genügen, daß die Folgen und Nebenfolgen, die sich aus der allgemeinen Befolgung der strittigen Norm für die Befriedigung der Interessen eines jeden Einzelnen voraussichtlich ergeben, von allen zwanglos akzeptiert werden können." (1983a: 103)
1. Das Begründungsprogramm der Diskursethik
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Dieses Prinzip dient der Prüfung von Normen auf Universalisierbarkeit. 1 Für >U< gibt es unterschiedliche Formulierungen - ein wesentlicher Unterschied in (1996) ist die Äquivalenz dort, w o im obigen Zitat eine notwendige Bedingung angegeben wird. 2 Die Argumentationsregel vor Augen, lasse sich diese in den folgenden vier Schritten begründen (1983a: 106f.; ähnlich auch 1991a: 133f. und 1996: 62. Herv. NGM): „(1) Die Angabe eines als Argumentationsregel ilmgierenden Verallgemeinerungsprinzips [also von >UD< Normen sind „nur dann" gültig, wenn sie „die Zustimmung aller Betroffenen als Teilnehmer eines praktischen Diskurses finden (oder finden könnten)". (1983a: 103)
Auch hier gibt es in unterschiedlichen Texten unterschiedliche Formulierungen - wie auch schon fiir >U< findet sich auch für >D< an anderer Stelle bei Habermas eine Äquivalenz anstelle der Folgebeziehung.1 Zur Unterscheidung von >U< und >D< heißt es zwar auf derselben Seite (vgl. auch 1991a: 134, 157,185ff.): „Die skizzierte Begründung der Diskursethik vermeidet Konfusionen im Gebrauch des Ausdrucks >MoralprinzipUU< muß sorgfaltig unterschieden werden [...] von >DD< etwas anders: Hier unterscheidet er zwischen allgemeinen Handlungsnormen (auf die ein solches Diskursprinzip sich bezieht) und Moral- und Rechtsnormen. Verfüge man über eine Idee der Rechtfertigung von moralischen Normen, gelange man zum Diskursprinzip der Moral. Lege man an dieser Stelle die bloße Rechtsform zugrunde, verfüge also über einen formalen Begriff juridischer Normen, gelange man zum Diskursprinzip des demokratischen Rechtsstaates. Das Diskursprinzip: „Gültig sind genau die Handlungsnormen, denen alle möglicherweise Betroffenen als Teilnehmer an rationalen Diskursen zustimmen könnten." (1992: 138)
sei, wie Habermas (1996: 64) „rückblickend klargeworden" ist, „umfassender" zu verstehen als früher angenommen wurde, da es von >U< damals nur „im Hinblick auf moralische Fragestellungen operationalisiert" worden ist, aber ebenso auch für die „Beratungen eines politischen Gesetzgebers oder für juristische Diskurse" operationalisiert werden könne (1996: 64). Einmal auf eine solche, institutionelle Ebene gehoben, kann seine Diskurstheorie zur Begründung des modernen Rechtsstaats dienen (durchgeführt in Habermas 1992). Die kognitive Unbestimmtheit (das, was Gründe nicht erreichen) wird im demokratischen Rechtsstaat durch die Faktizität der Rechtssetzung vorläufig beendet (1992: 147). Solange es sich auf einer übergeordneten Ebene (ζ. B. unter Fairneßgesichtpunkten) diskursiv begründen läßt, dürfen reale Konflikte auch durch Verhandlungen, Abstimmungen usw. gelöst werden, ohne daß die Lösungen durch ihr Verfahren bereits illegitim würden. Welche konkreten Fragen
1 „Gültig sind genau die Handlungsnormen, denen alle möglicherweise Betroffenen als Teilnehmer an rationalen Diskursen zustimmen könnten." (1992: 138; Herv. NGM). Die Einfügung von „möglicherweise" lese ich als Erläuterung. Der Realis ist aus dieser Formulierung gestrichen, „praktisch" wurde durch „rational" ersetzt. In (1996: 59) dann aber wieder die Nonnen dürfen Gültigkeit beanspruchen, die in praktischen Diskursen die Zustimmung aller Betroffenen finden könnten" (Herv. NGM).
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I. Begründungsfragen
wann in organisierten Diskursen zu behandeln sind, ist also noch nicht entschieden. Nur die Begründungslast ist verschoben: Diskursvermeidung bedarf der Rechtfertigung. Unklarheiten dieses Programms An diesem Programm ist einiges unklar (vgl. Lumer 1997). Beginnen möchte ich die Diskussion mit einer Anfrage zum Begründungsziel. Wie oben auf S. 31 (Fußnote 2) und S. 33 (Fußnote 1) dargelegt, werden sowohl >U< als auch >D< je als Implikationen oder als Äquivalenzen formuliert - was genau ist gemeint? Zunächst zu >UU< den Passus der allgemeinen Befolgung: Obwohl also u. U. abzusehen ist, daß Nonnen nicht allgemein befolgt werden, greift >U< trotzdem und qualifiziert (so hinreichend) diese Normen als gültig. Dies schafft ein Anwendungsproblem, das Habermas durch eine nachgeschaltete Zumutbarkeitsüberlegung zu lösen versucht. Mit >U< gibt es also ein Problem: Entweder (nicht hinreichend) es erfüllt von vornherein nicht die ihm zugedachte Funktion, oder (auch hinreichend) es blockiert eine realistische Normenbegründung. Nun zu >DU< und >D< unklar. Wenn nun die „Vorstellung von Normbegründung überhaupt" als >D< zu lesen und mit der oben genannten „Idee der Rechtfertigung von Normen" aus Schritt (4) identisch ist, kann >D< nicht eine sparsame Kurzformel, sondern nur eine Prämisse auf dem Weg der Herleitung von >U< sein. Der gerade zitierte Satz ist mit einer Fußnote versehen, die zustimmend
1. Das Begründungsprogramm der Diskuisethik
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auf einen längeren Artikel von Ott (1996) verweist, in dem zwar >D< in der Herleitung vor >U< gestellt wird, jedoch die Gehalte allgemeiner Argumentationsvoraussetzungen bereits zur Gewinnung von >D< ausgeschöpft werden - dieser Aufsatz wird uns noch beschäftigen. Die Frage des Verhältnisses von >D< und >U< muß auf Basis der Habermasschen Ausführungen offengelassen werden. Fragen provoziert auch die Architektur der Begriindungsschritte: Wozu dient denn noch (3), wenn bereits (2b) erfolgt ist? Zumal die Explizierung aus (3) anscheinend keiner mäeutischen Prüfung (2c) mehr unterzogen wird! Ist es der normative Gehalt dieser Explizierung? Von normativen Gehalten ist ja in (2a-c) nicht mehr die Rede - jedoch in (2). Ich denke daher, (3) muß gestrichen werden. Aus der wiederholten Anwendung der Schritte (2) müßten vielmehr schließlich die Diskursregeln resultieren, wenn, ζ. B. in (2a), nach normativen Voraussetzungen gesucht wird. Die Analyseschritte (2b) und (2c) enthalten „unverkennbar hypothetische Elemente" (ebd.). Erstens muß nämlich das intuitive ,know how' als ein explizites, propositionales ,know that' nachkonstruiert werden; es „bedarf daher einer mäeutischen Bestätigung" (durch den Skeptiker). Zweitens die Behauptung der Alternativenlosigkeit: ,,[S]ie muß wie eine Gesetzeshypothese an Fällen überprüft werden" (ebd.). Der erste Punkt dürfte - als Aufgabe - einleuchten, der zweite scheint mir erläuterungsbedürftig. Zu klären ist, wie diese Prüfung „an Fällen" aussehen soll und was dadurch begründet werden kann (ebd.): „Gewiß, das intuitive Regelwissen, das sprach- und handlungsfähige Subjekte verwenden müssen, um an Argumentationen überhaupt teilnehmen zu können, ist in gewisser Weise nicht fallibel - wohl aber unsere Rekonstruktion dieses vortheoretischen Wissens und der Universalitätsanspruch, den wir damit verbinden. Die Gewißheit, mit der wir unser Regelwissen praktizieren, überträgt sich nicht auf die Wahrheit von Rekonstruktionsvorschlägen für hypothetisch allgemeine Präsuppositionen; denn diese können wir auf keine andere Weise zur Diskussion stellen als beispielsweise ein Logiker oder ein Linguist seine theoretischen Beschreibungen."
Die Diskursethik finde sich so wieder im „Kreis jener rekonstruktiven Wissenschaften, die es mit den rationalen Grundlagen von Erkennen, Sprechen und Handeln zu tun haben": „Sie kann, in Konkurrenz mit anderen Ethiken, für die Beschreibung empirisch vorgefundener Moral- und Rechtsvorstellungen eingesetzt, sie kann in Theorien der Entwicklung des Moral- und Rechtsbewußtseins, sowohl auf der Ebene der soziokulturellen Entwicklung wie der Ontogenese, eingebaut und auf diese Weise einer indirekten Uberprüfung zugänglich gemacht werden." (107f.)
Welche „Fälle" sind also gemeint in (2c)? Zunächst würde man doch denken, Fälle von Argumentationen (des Skeptikers). Doch die Situationen, die Habermas anspricht, handeln von etwas anderem, von einer Art Überlegenheit der Gesamtkonstruktion der Diskursethik im Bunde mit empirischen Wissenschaften - diese Strategie verfolgte Habermas auch schon in seiner Gesellschaftstheorie (vgl. Habermas 1981: Π 583ff.). Gehen wir die genannten Beispiele einmal durch: Ein Erfolg bei der Beschreibung empirisch vorgefundener normativer Vorstellungen ist schlicht keine Überprüfung einer normativen Theorie. Ein Erfolg in Entwicklungstheorien ist methodisch komplexer: Hier wird ein empirischer Vorgang, die Veränderung, am Maßstab des Normativen gemessen zu einer „Entwicklung". In der Tat wird man nicht unter jedem Maßstab das empirische Material so ordnen können, daß immer noch eine kontinuierliche Bewegung in eine Richtung resultiert, wahrscheinlich ist die Dis-
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I. Begründungsfragen
kursethik aber nicht der einzige Maßstab. Auf diese Weise eine Alternativenlosigkeit auch nur plausibel zu machen, dürfte schwerfallen. Worauf Habermas hinauswill, scheint eine Art hermeneutischer Erfolg der Rekonstruktion zu sein: Vielleicht wird auch das den Skeptiker beeindrucken. Die in (2c) angesprochene Prüfung jedoch wird wohl angesichts der einzelnen Argumentationen zu erfolgen haben. Nur dort lassen sich Alternativen ausprobieren. Ganz klar läßt sich aber auch diese Option nicht fassen: Denn liegt es nicht einfach begrifflich fest, über die Diskursregeln nämlich, wann wir von einer Argumentation sprechen? So einfach kann man es sich aber auch nicht machen. Denn was garantiert dann die Angemessenheit unserer Definition (sie könnte ja auch eine ganz andere sein)? Vielleicht deshalb - der Text läßt dies immerhin offen - können wir auf die Überprüfung an Fällen nicht verzichten, denn sonst hätten wir keine Revisionsmöglichkeit mehr.1 Nehmen wir einmal an, dieses Problem bestünde nicht und die Argumentationsdefinition wäre unstrittig so, wie Habermas vorschlägt. Wie wäre dann die Alternativenlosigkeit" in (2c) zu verstehen? Hätten wir nun nicht direkt die Gültigkeit der Diskursregeln gezeigt? Habermas zeigt sich hier skeptisch: Die Argumentationspraxis als solche läßt sich nämlich auch dann nicht begründen (1983a: 104), sondern nur die (argumentative) Nichtverwerfbarkeit der Diskursregeln. Im Anschluß an Schönrichs Diktum über Strawsons Präsuppositionsanalyse von Erfahrungsurteilen kann und will Habermas explizit keine transzendentale Deduktion im Sinne Kants geleistet haben: Denn solange dessen, Strawsons, Methode sich „nur auf begriffsimmanente Implikationsverhältnisse richtet, kann es auch keine Möglichkeit geben, ein Begriffssystem a priori zu rechtfertigen, da es prinzipiell offen bleiben muß, ob die erkennenden Subjekte ihre Art und Weise, über die Welt zu denken, nicht einmal ändern" (Schönrich 1981, zit. nach Habermas 1983a: 106). Um dieses Argument richtig einordnen zu können, sollte man sich klarmachen, was dies hier bedeuten würde: Nämlich nicht eine andere Praxis des Argumentierens, ohne die Diskursregeln - denn diese sind ja zugestanden. Vielmehr müssen nun die weiteren Einbettungen des Argumentierens in Erinnerung gerufen werden: sich an Geltungsansprüchen zu orientieren und schließlich, kommunikativ zu handeln. In der Tat drängt Habermas den Skeptiker soweit zurück: Er muß, wenn er jeweils keine Alternativen findet, letztlich bestreiten, kommunikativ zu handeln und sich auf ein rein strategisches Handeln zurückziehen. Habermas scheint dies nicht zu beunruhigen - er nennt diese Alternative „abstrakt, weil sie nur aus der Perspektive eines einzelnen Aktors gegeben ist" und weil sie nur „von Fall zu Fall offensteht"; eine echte, d. h. nicht „selbstdestruktive" Option zum Ausstieg aus der lebensweltlichen Alltagspraxis besteht nach Habermas nicht (112).
1 Diese Figur erinnert nicht zufallig an das von John Rawls ( 1975) im Anschluß an die Arbeiten von Nelson Goodman (1988) in die ethische Diskussion eingebrachte „Überlegungsgleichgewicht". Zu den Differenzen von Goodman und Rawls s. Susanne Hahn (1996): Sie meint, daß bei Rawls die .considered judgements' als individuelles Gleichgewicht angelegt seien, während bei Goodman die .anerkannte Praxis' ein kollektives Gleichgewicht spiegele - was beides je fur sich unhaltbar wäre. Hahn scheint dabei zu übersehen, daß das „wide reflective equilibrium" bei Rawls im Gegensatz zum „narrow reflective equilibrium" gerade dadurch gekennzeichnet ist, daß es in Auseinandersetzung mit den Urteilen anderer sich einstellt, und daß das „full reflective equilibrium" schließlich in dem Wissen eines jeden besteht, daß auch alle anderen zu demselben Gleichgewicht gelangt sind (Rawls 1997: 253).
1. Das Begründungsprogramm der Diskursethik
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Ziel der Habermasschen Begründung ist also explizit nicht, in jedem einzelnen Fall dem Skeptiker einen Widerspruch nachweisen zu können, wo dieser das kommunikative Handeln, das Erheben von Geltungsansprüchen bzw. das Argumentieren doch offenbar konsistent verweigern kann. Er will dem Skeptiker nur zeigen, daß auch in seiner Alltagspraxis normative Elemente stecken, die er auch in diesem Fall zugrunde legen sollte, und daß seine Alltagspraxis als ganze ohne diese normativen Elemente nicht bestehen könnte. Habermas würde sich gern in der Mitte zwischen zwei Positionen wiederfinden: Einerseits der von Carl Friedrich Gethmann, der auf einer dem Diskurs vorgängigen Zwecksetzung (der gewaltfreien Konfliktlösung) beharrt. Hier sagt Habermas, der Zweck von Argumentation überhaupt sei etwas anderes als irgendein kontingenter Handlungszweck. Andererseits der von Karl-Otto Apel, der eine Letztbegründung „infalliblen Wissens" im Rahmen der Diskursethik vornehmen will. Dem stehe schon der hypothetische Status dieses Wissens im Wege, darüber hinaus sei mit der Nichtverwerfbarkeit eines Elements einer Praxis noch nicht die Altemativenlosigkeit dieser Praxis selbst erwiesen. Was Gethmann ausspricht, sollte besser auf den „einzelnen Fall" der Verweigerung von realen Diskursen bezogen bleiben, in dem auch Habermas letztlich kein individuell überzeugendes Argument anbringen kann und will (s. o.). Was Apel ausspricht, ist ein „SinnApriori" dieser Praxis als solcher, also nicht im einzelnen Fall. Sie ist sicher keine beliebige Praxis, sondern eine, ganz ohne die zumindest für uns keine sinnhafte Interaktion mehr möglich scheint. Aber läßt sich hierauf eine Begründung, gar eine „Letztbegründung" der Diskursethik aufbauen? Wir werden dies im folgenden zu prüfen haben (mit negativem Resultat), um dann die Diskussion des Habermasschen Programms wieder aufzunehmen.
1.2 Transzendentalpragmatik Im Unterschied zu Habermas* Begründungsidee der Rekonstruktion universalmoralischer Gehalte der Kommunikation versucht die auf Karl-Otto Apel zurückreichende, transzendentalpragmatische Linie der Diskursethik eine weitergehende Begründung: die Ergebnisse dieser Rekonstruktionen seien gleichzeitig auch die Sinnbedingungen eines jeglichen Arguments. Die Figur des „performativen Selbstwiderspruchs", so Apel, soll diese „Letztbegründung" leisten - wer immer diese Sinnbedingungen argumentativ bestreiten will, werde schlicht unverständlich. Anders als bei Habermas werden hier der Rekonstruktion keine hypothetischen Elemente mehr zugeordnet. Das zunächst Attraktive an dieser Position, daß nämlich bestimmte normative Gehalte notwendig anzuerkennen sind, erweist sich aber als methodisch äußerst problematisch: denn wie sollen sich diese Gehalte genau angeben lassen? Zwar sollen sie schließlich in Form propositionalen Wissens ([know-that) formuliert werden, jedoch liegen sie zunächst nur als performatives Wissen (know-how) eines kompetenten Sprechers vor. Und wenn diese Gehalte in jedem Diskurs bereits vorausgesetzt sind, was ist dann ihr Status - etwa der eines „infalliblen Wissens"? Dieser Frage wird weiter unten nachgegangen werden. Insgesamt scheint mir, daß die Transzendentalpragmatik das konsequentere (aber deshalb nicht unbedingt überzeugendere) Programm vorgelegt hat: Sie konzentriert sich ganz auf
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I. Begründungsfragen
den einen, vermeintlich „letztbegründeten" Punkt des performativen Selbstwiderspruchs.1 Die Ausarbeitung des Begründungsprogramms durch Wolfgang Kuhlmann argumentierte zwar noch ausführlich gegen einen uneingeschränkten Fallibilismus des Kritischen Rationalismus (Popper/Albert) und der Erlanger Konstruktivisten (Gethmann/Hegselmann) (vgl. Kuhlmann 1985: 91ff.). Die transzendentalpragmatische Auseinandersetzung mit Einwänden gegen diese ihre Begriindungsfígur gerät jedoch im Kern regelmäßig zur Wiederholung der These: Daß der Opponent mit eben seinem Einwand doch schon die Sinnbedingungen rationaler Argumentation anerkannt habe. (Oder etwa nicht? - Aber dann ist sein Einwand eigentlich gar keiner!). Auf diese Weise behält der Transzendentalpragmatiker auf sterile Weise immer recht. Doch das andere Lager operiert auch nicht ideenreicher: Durch eine schlichte Entgegensetzung anderer Argumentationsbegriffe und -konzepte wird sich ein Transzendentalpragmatiker nicht „bekehren" lassen. Eine sinnvolle inhaltliche Auseinandersetzung kann jedoch so nicht stattfinden. Von diesem Schema der immunisierten „Widerlegung" einer äußerlichen „Kritik" hebt sich eine jüngere Arbeit (Niquet 1994) wohltuend ab, in der den Paradoxien eines „infalliblen Wissens" aus einer methodisch-reflexiven Perspektive nachgegangen wird. Da ich die dort vorgebrachte Kritik an der transzendentalpragmatischen Begründungsidee (anders als seine Verbesserungsvorschläge) für durchweg überzeugend halte, kann die Darstellung dieser Begründungsidee selbst eher kurz ausfallen. Zunächst wird die transzendentalpragmatische Begründungsidee skizziert, wie sie ursprünglich vorgetragen wurde (1), dann deren bisher detaillierteste Ausarbeitung untersucht (2) und schließlich den jüngsten Vorschlägen von Niquet nachgegangen, auf das Scheitern dieser Ausarbeitung zu reagieren (3). 1.2.1
Letztbegründung
der Diskursethik - Apel (1973)
Die Grundidee des transzendentalpragmatischen Begründungsprogramms ist, daß wer immer auch nur eine Tatsachenbehauptung ernsthaft erhebt, zu ihrer Prüfung die ideale (und damit auch die reale) Kommunikationsgemeinschaft als Bedingung der Möglichkeit ihrer Prüfung anzuerkennen hat (vgl. Apel 1973). Schon der Fallibilismus der Popper-Schule verweist so, sprachpragmatisch informiert, auf eine Kommunikationsethik, auf moralische Gehalte („Präsuppositionen") der Kommunikation. „Ideale Sprechsituationen und Kommunikationsgemeinschaften können also, wie ich es von allen Präsuppositionen des transzendenten Sprachspiels behauptet habe, weder ohne aktuellen Selbstwiderspruch bestritten noch ohne petitio principii deduktiv bewiesen werden. Dies ist die Letztbegründungsformel." (Apel in Oelmüller 1978:165)
Sätze, in denen diese Präsuppositionen ausgedrückt werden, bekommen dadurch allerdings einen prekären Status. Apel sagt hierzu, „daß man von hinreichend explizierten transzendentalpragmatischen Einsichten sagen kann, daß sie als evidente Aussagen zugleich a priori konsensföhig sind" (Apel 1987: 193). Diese Einsichten seien zwar (bezüglich der Wahrheitsgeltung) infallibel, aber dennoch kritisier- und revidierbar:
1 Da dem sog. Begründungsteil Β der transzendentalpragmatischen Diskursethik eine Reflexion auf die Anwendungsbedingungen der Diskursethik zugrunde liegt, wird dieser erst im folgenden Kapitel besprochen.
1. Das Begründungspro gramm der Diskursethik
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„Die entscheidenden Gründe für die Revision von transzendentalen Explikationshypothesen können nicht in empirisch externen Evidenzen liegen [...], sie können nur darin liegen, daß wir als Philosophen immer schon und immer wieder unser infallibles Wissen a priori um die ArgumentationsPräsuppositionen auch gegen die Resultate ihrer Explikation aufbieten können. Wenn es also zu Revisionen von Explikationshypothesen in dem jetzt interessierenden Sinn kommt, dann kann es sich nur um Selbst-Korrekturen handeln, d. h. um Korrekturen, die gerade nicht möglich wären, wenn das zu Korrigierende nicht auch als schon gewußt dabei vorausgesetzt werden könnte." (1987:193f.)
Apel erläutert solche Selbst-Korrekturen dann auch explizit als „ein - immer erneutes .strikt reflektives' - Ausspielen des performativen Handlungswissens von unseren Argumentationsakten gegen die propositionalen Explikationen des Handlungswissens" (1987: 194). Wahrscheinlich meint Apel mit der Se/Zwikorrektur, daß weder auf linguistische noch auf andere empirische Theorien bei einer solchen Korrektur Bezug genommen zu werden braucht. Doch inwiefern läßt sich von einer (apriorischen) „Konsensfahigkeit" sprechen? Kann dieser Konsensbegriff noch jener der Diskurstheorie sein, also eine (wenigstens idealiter) auf Argumenten beruhende Übereinstimmung bezeichnen? Der Vorgang dieser Selbstkorrektur wird nicht weiter erläutert - die Rede von „Kritik" droht damit zu einer nicht erläuterbaren Metapher zu werden. Apel knüpft hier offenbar an die Arbeiten von Kuhlmann an, der diesen Begriff (zusammen mit der Infallibilität des entsprechenden Wissens) im Zuge einer Ausarbeitung des bei Apel nur angedeuteten Begründungsprogramms in die transzendentalpragmatische Debatte eingebracht hat. 1.2.2
Ausarbeitung der Letztbegründung - Kuhlmann (1985)
Der Begründungsgang der Transzendentalpragmatik kommt bei Wolfgang Kuhlmann in folgender transzendentalpragmatischen Letztbegründungsformel zum Ausdruck: „Was man ohne aktuellen Selbstwiderspnich nicht bestreiten, gegen dessen Anerkennung man sich ohne Selbstwiderspruch nicht entscheiden, was man ohne petitio principii nicht durch Ableitung begründen kann, das ist in der Argumentation - und d. h. überhaupt nicht hintergehbar für uns." (Kuhlmann 1985: 23; Herv. getilgt)
Diese Begründung ist von M. Niquet (Niquet 1994) im einzelnen nachgezeichnet und der Weg hin zum „infalliblen Wissen" kritisch kommentiert worden. Ich werde das Kuhlmannsche Programm daher gemäß der Niquetschen Kritik referieren, um dann im Anschluß Niquets eigenen Vorschlag zu diskutieren. Zielbehauptung Kuhlmanns sei die Begründung der Aussage (A): „Die Situation des sinnvoll Argumentierenden ist für mich unhintergehbar" (12). Diese sei sinnäquivalent zu (A'): „Wir können die Regeln und Präsuppositionen sinnvoller Argumentation nicht bestreiten und wir können diese Präsupposition ohne petitio principii nicht begründen und wir können uns nicht sinnvoll gegen ihre Anerkennung entscheiden." Der erste Teil dieser Konjunktion werde nun begründet dadurch, daß gezeigt werden kann, daß die Behauptung (P): ,Die Regeln der Argumentation gelten für mich nicht' notwendig falsch ist. Denn sobald (P) ernsthaft behauptet wird, zeige sich (so Kuhlmann): „Wenn wir nun aber (P) als Argument, d. h. als eine von mir (dem Sprecher von (P)) nach den Regeln der Argumentation gebildete und vorgetragene Äußerung anerkannt haben, ja notwendig aner-
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I. Begründungsfragen kannt haben, solange wir untersuchen, ob (P) sich halten läßt, dann haben wir, indem wir uns dies ins Bewußtsein heben, das Problem schon gelöst. Denn es ergibt sich, daß die Geltung der Argumentationsregeln von mir nur dann sinnvoll bestritten wird (derart, daß es sinnvoll ist, die Wahrheit der bestreitenden Behauptung zu prüfen), wenn ich die Argumentationsregeln zugleich anerkenne." (Kuhlmann 1985: 84, zit. nach Niquet 1994: 13)
Und damit sei die notwendige Falschheit von (P) erwiesen. Warum spricht Kuhlmann nun aber von einem „a priori gewissen Handlungswissen"? Niquet macht dazu auf Zweierlei aufmerksam: Erstens komme darin die Tatsache zum Ausdruck, daß wir die Fähigkeit zur Argumentation nicht nur praktisch verfügen, sondern dies auch wissen und anhand jedes Arguments prüfen können (Niquet 1994:14): „Kommunikativ kompetente Sprecher verfügen nicht nur über die Fähigkeit, sprachliche Äußerungen verschiedener Typen von Redekontexten ,pragmatisch-wohlgeformt' zu produzieren, entsprechende Äußerungen ihrer Redepartner (illokutiv oder prepositional) zu verstehen, die performativillokutionäre Kraft ihrer eigenen Äußerungen zu identifizieren und gegenüber den Redepartnem erläutern[d]-erklärend zur Geltung zu bringen: sie haben auch - genau in dem Maß ihrer .kommunikativen Kompetenz' - ein Wissen davon, ob eine (eigene oder fremde) Äußerung als Redehandlung des Typs XY gelten kann, ob sie Kriterien »pragmatisch-situativer Wohlgebildetheit' (Akzeptabilität) erfüllt, ob sie, obwohl wohlgebildet, trotzdem mißglückt [ist] etc. etc."
Zweitens sei das Letztbegriindungsargument „merkwürdig inhaltslos" (ebd.): „[Es] führt das Argument doch nur zu der Einsicht, daß diejenigen Präsuppositionen oder Argumentationsregeln, welche auch immer das sein mögen, die die Letztbegründungsformel erfüllen, ,für uns' unhintergehbar sind."
Doch die Transzendentalpragmatik habe sich auch das Ziel gesetzt, „den realen Gehalt des damit Bezeichneten im Einzelfall hinreichend präzise" anzugeben (unter Verweis auf Kuhlmann 1985:107). Kuhlmann fordere, ein „relativ gehaltvolles, geordnetes und universell verwendbares" Wissen aufzusuchen, mithin nach Niquets Ansicht nichts weniger als die Explizierung einer „Theorie" der Argumentation. Diese beiden Punkte würden nun von Kuhlmann genau folgendermaßen zusammengeschlossen: „Die geforderte .Theorie' ist nichts anderes als eine im apriorischen ,Handlungswissen vom Argumentieren enthaltene Argumentationstheorie' und als solche von jedem sinnvollen Zweifel ausgenommen." (Niquet 1994: 15)
Der „harte Kern" dieses Wissens umfasse nicht nur die Geltungsregeln einzelner Sprechakttypen, sondern Regeln ,sprechaktübergreifender* Argumentations- und Kommunikationsstrategien, letztendlich solche von Handlungsstrategien, die Sprechakte und Kommunikation integrieren. Damit dieses Wissen aber apriorisch gewiß bleiben könne, dürfe es (obgleich dies möglich wäre) nicht explizit theoretisch rekonstruiert werden, sondern müsse als Resultat einer, die Grenzen dieses Wissens nicht überschreitenden, Selbsttransformation von (kapazitivem) biowing-how in ein in Redeerläuterungen oder Erklärungen gegenüber Redepartnern aufscheinendes und wirksames knowing-that verstanden werden (vgl. Kuhlmann 1985: 138fr.). Niquet geht (1994) dann der Frage nach, wie dies gelingen soll. Die Vorstellung der Selbsttransformation und des sokratisch-mäeutischen Gesprächs, in dem eine solche u. U.
1. Das Begründungsprogramm der Diskursethik
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provozierbar sein soll, wird dabei in verschiedenen Varianten rekonstruiert und nach eingehender Prüfung derselben für ungeeignet erklärt. Der Kern von Niquets überzeugender Kritik ist aber auch ohne Kenntnis dieser Rekonstruktionen verständlich: Zwar gilt für eine intentionale Sprachverwendung (Sprechhandlung), daß der illokutionäre Gehalt eines Sprechakts dem Sprecher bekannt sein muß, d. h. daß ein Sprecher seine Sprechakte auch „expandieren" kann. Wenn jemand ζ. B. „XY" behauptet, dann kann er auch sagen: „Ich behaupte jetzt, daß XY" (22). Somit zehren solche „Wissenspräsuppositionen" von der Notwendigkeit, daß sich ein Sprecher diese als Wissen sinnkritisch zuschreiben muß. Die o. g. Ideen der Übersetzung von performativem in propositionales Wissen scheitern jedoch an folgenden drei Hauptproblemen (1994: 24ff.; 41f.): Erstens unterliegt die Übersetzung keiner „Gelingensgarantie", kann also fehlgehen, ohne daß dies a priori feststellbar wäre. Zweitens kann sie bestenfalls ein „Wissen von", aber nicht gleichzeitig auch ein „Wissen als", d. h. ein Wissen um den Geltungssinn dieser Propositionen gleich miterzeugen, denn dies ist eine höherstufige, reflexive Einsicht. Dieselbe Proposition kann Teil verschiedenartiger Diskurse sein, für dieselbe Proposition kann ein empirischer oder auch transzendentaler Geltungsanspruch erhoben werden. Aber nur an transzendentalen Geltungsansprüchen ist die Transzendentalpragmatik interessiert. Drittens fehlt dem „Wissen von" die Möglichkeit, beliebige kontingente Unterstellungen von den „notwendigen Unterstellungen der Argumentation überhaupt" (den Präsuppositionen der Argumentation), d. h. performative Selbstwidersprüche von strikt performativen Selbstwidersprüchen zu unterscheiden. Apriorische Gewißheit ist so nicht zu erlangen, da Präsuppositionskandidaten immer nur bisher unerkannte empirische Unterstellungen sein könnten. Die Kennzeichnung eines Verfahrens der Präsuppositionsgewinnung als „mäeutischem Dialog" kann diese Kritik nicht entkräften; in ihm sind zudem asymmetrische Sprecherpositionen die Regel (43). Dieses setzt jedoch voraus, daß einer der Teilnehmer (der Diskursethiker?) über Präsuppositionswissen bereits verfügt und dem Gegenüber dieses Wissen andemonstrieren will. Auch wenn somit die Daß-Geltung von Präsuppositionen per strikter Reflexion eingesehen werden kann, führt diese Einsicht nur auf eine Implikation (wenn etwas eine echte Presupposition ist, dann muß es notwendig unterstellt werden). Es bleibt völlig offen, ob ein konkreter Kandidat eine solche Präsupposition darstellt und wie dies methodisch kontrolliert getestet werden könnte. Dies wurde als logisches Problem der diskursethischen Begründung unabhängig von Niquet auch von Christoph Hubig vorgebracht: Erweisen läßt sich nur eine necessitas conseqentiae, nicht aber eine necessitas consequentis (Hubig 1995a), d. h. nur die Richtigkeit der Schlußform selbst, nicht die der Konsequenz des Schlusses. Habermas' Idee der überzeugenden Verwendung solch reflexiv gewonnenen Wissens (dessen hypothetischen Status er ja explizit anerkennt) in einzelwissenschaftlichen Theorien ist hingegen eine aposteriorische Überlegung. Sie wird von dieser Kritik nicht berührt. 1.2.3
Präzisierung des Status transzendentaler Diskurse - M. Niquet (1994)
Die Konzepte der Präsuppositionsanalyse bei Apel und Kuhlmann werden von Marcel Niquet zu Recht zurückgewiesen. Die Universalpragmatik von Habermas, von Niquet als „rekonstruktiver Naturalismus" charakterisiert, verzichtet hingegen ganz auf eine Ausschöpfung des Gehalts der Präsuppositionen. Die alltägliche Verständigungspraxis sei für
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I. Begründungsfragen
Habermas als solche schon unhintergehbar (1994: 172); philosophischer und theoretischer Diskurs würden gleichgesetzt (1994: 164). So sehe Habermas die Korrektur von Präsuppositionswissen durch empirisches Wissen als empirischem Wissen vor - und dies könne nicht gelingen, da es die Ebene von Präsuppositionen von vornherein verfehlt.1 Zudem verlegt er die Bewährung der Rekonstruktionen auf die empirische Ebene (s. o.). Von daher ist die wohl kritisch zu verstehende Bezeichnung .Naturalismus' nicht ganz unberechtigt. Da aber eine „Bewährung" kein rein empirisches Konzept ist, sondern eine evaluative Perspektive voraussetzt, aus der heraus ein empirischer Sachverhalt als Bewährung oder als Scheitern gilt, halte ich sie auch nicht für völlig korrekt. Die offene Frage ist nun, ob Niquet einen strikter „transzendentalen", über eine solche Bewährung hinausgehenden Vorschlag machen kann, Präsuppositionen als solche zu erweisen. Niquet beginnt seine Überlegungen mit dem Hinweis, die Idee der Selbsttransformation wäre ja nicht völlig abwegig; für einfache performative Gehalte scheine es das nämlich durchaus zu geben: Wer ζ. B. etwas behauptet, weiß dabei in der Regel auch, daß er etwas behauptet. Kandidaten für Präsuppositionen liefert jedoch dieses performative Wissen (das zu wenig reflexiv ist) noch nicht, dies kann erst die eine oder andere (Sprechakt-) 77ieorf'e.2 Strikt soll eine Reflexion gerade dann heißen, so Niquets Vorschlag, wenn die Tatsache, daß die gesuchten performativen Gehalte auch Präsuppositionen sein sollen, explizit in der Problemformulierung und -lösung berücksichtigt ist; erst durch eine strikte Reflexion erreiche man die transzendentalpragmatische Ebene der strikt performativen Selbstbezüglichkeit. Durch den Einsatz von praktischem Wissen, das durch theoretisches Wissen informiert und im Rahmen einer strikten Reflexion expliziert werden soll, versucht Niquet nun seinerseits, ein Kohärenz-Testverfahren zu entwickeln, mit dem Präsuppositionen als solche erwiesen werden können. Er gibt ein Schema an, in dem (korrekt) drei Elemente nach ihrem ursprünglichen Geltungssinn (und damit auch nach den sie stützenden Evidenzen) geschieden sind: erstens das propositional gefaßte (einfach) performative Element, zweitens das strikt-performativ-selbstbezügliche (sps-), d. h. das eigentlich transzendentale Element und drittens das theoretische Element. Diese drei Elemente werden ihren jeweiligen Kontexten entnommen und in das Test-Schema „wiedereingebettet"; Niquets Schema lautet in der endgültigen Formulierung wie folgt (mit r der Installierung einer Präsupposition): „[Perf. Satz] ([Klausel der sps-Unterstellung von r]) [Negation von r]" (74; alle Klammem i. Orig.).
Niquet gibt auch ein Beispiel: „[Ich behaupte,] ([und unterstelle dabei als gültig, daß jemand existiert,]) [daß niemand existiert]" (ebd.). Eine Grundidee ist, daß dieses Schema dann, wenn r wirklich einer Präsupposition entspricht, die Behauptung der Negation von r in eine Sinn-Inkohärenz mit der Unterstellung von r führen muß - daher die Negation nur im dritten Term. Die Proposition r soll natürlich zunächst nur hypothetisch sps-unterstellt werden, erst 1
Logisch ist der Punkt klar: Auf notwendige Bedingungen kann nicht rückgeschlossen werden. Kontingente, aber regelmäßig vorliegende Bedingungen der Wirklichkeit können von Bedingungen der Möglichkeit, und die allein sind gesucht, nicht unterschieden werden. Wir werden allerdings sehen, daß Niquet an diesem Punkt auch nicht weiterkommt. 2 Mit dem Verwerfen der Figur der „Selbsttransformation" muß ja auch nicht mehr die These vertreten werden, die Quelle dieser Präsuppositionen sei vor- oder sonstwie außertheoretisch und die Perspektive ihrer Überprüfung sei ausschließlich die der strikten Reflexion.
1. Das Begründungsprogramm der Diskursethik
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eine Sinn-Inkohärenz erweist dann die Legitimität dieser Unterstellung. Falls sich keine Inkohärenz einstellt, war r auch keine Präsupposition. Die Proposition selbst ist, damit nicht auch kontingente performative Widersprüche, sondern nur strikt performative Widersprüche detektiert werden, „semantisch zu entindexikalisieren". Wenn ein Sprecher z. B. paradoxerweise behauptet, er existiere nicht, ist dies nicht nur deshalb ein performativer Widerspruch, weil er nicht existiert, sondern weil kein Sprecher dies sinnvoll sagen kann. Und daraufkommt es bei Präsuppositionen an. Niquet schlägt vor, diese Entindexikalisierung so vorzunehmen, daß in r für ein Indexwort („ich") ein Existenzquantor einzusetzen ist, was in der Klausel der sps-Unterstellung einen Existenzquantor, in der Negation von r hingegen einen Allquantor ergibt: „[Ich behaupte,] ([und unterstelle dabei als gültig, daß jemand existiert,]) [daß niemand existiert]". Dies soll die Inkohärenz gewissermaßen auf die Ebene heben, wo sie hingehört. Diskussion Mit seinem Schema meint Niquet, einen trennscharfen Test auf Präsuppositionalität vorgelegt zu haben. Das große Manko dieses Schemas ist jedoch auf den ersten Blick zu erkennen: Egal was ich für r einsetze, (und egal, welchen performativen Akt ich dabei vollführe,) es kommt immer zu einer Inkohärenz (woran die Entindexikalisierung vor dem Einsetzen in das Schema natürlich nichts ändert)! Konsequenz: Sogar die Verneinungen von Präsuppositionen lassen sich als Präsuppositionen ,erweisen'; ich brauche nur zu behaupten, daß niemand existiert, und es ergibt sich: „[Ich behaupte,] ([und unterstelle dabei als gültig, daß niemand existiert,]) [daß jemand existiert]". Zur Klärung der entscheidenden Frage, ob etwas eine Präsupposition darstellt, und das war Niquets Anspruch, hilft das Schema also sicher nicht. Ich glaube dennoch, daß dieses Schema nicht sinnlos ist. Denn es expliziert immerhin korrekt, wie die Sinn-Inkohärenz vorliegt, wenn eine echte Präsupposition bestritten wird. Es berücksichtigt die von Niquet herausgestellte Unterscheidung von transzendentalem und theoretischem Diskurs. Im theoretischen Diskurs wird implizites Sprecherwissen systematisiert, dort werden Kandidaten für Präsuppositionen gewonnen; Niquet nennt diese Ebene daher auch Generatorebene. Im transzendentalen Diskurs hingegen ist ein solcher Kandidat als Präsupposition erst zu erweisen, und dies kann weder der Intuition noch der Theorie gelingen. Einen solchen Diskurs muß es geben, wenn es kein außerdiskursives, d. h. mit Argumenten nicht einholbares Wissen geben soll (Kuhlmanns Ausführungen schienen darauf hinauszulaufen). In einem solchen Diskurs kann und muß eine „Selbstaufklärung" der Sprechenden stattfinden, wie Niquet schreibt - ein klassisches Reflexionsmodell also: die sprachlich gefaßte Vernunft reflektiert auf die Regeln, denen sie (implizit) folgt, und auch auf die Grenzen, denen eine Veränderung dieser Regeln unterliegt: auf Präsuppositionen. Auf dieser Ebene, und nicht auf der Ebene von kategorialen Schemata (Kant), kann erfolgreich nach transzendentalen Elementen gesucht werden, da sich hier eine echte Nichtverwerfbarkeit demonstrieren läßt. Die Angabe einer Argumentationsregel in diesem Diskurs, die Niquet versucht hat, ist aber mißlungen. Wir sehen uns also in der mißlichen Situation,
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I. Begründungsfragen
daß wir wissen, daß es Präsuppositionen gibt, die sich argumentativ nicht bestreiten lassen, aber nicht wissen, welche genau es sind und wie wir diese finden sollen.1 Welche auch immer es sind, ist natürlich durch unsere Vorstellung dessen, was ein Argument ist, bestimmt. Daß wir hier aber eine bestimmte Vorstellung zugrunde legen sollen, kann auch eine sinn-transzendentale Deduktion nicht zwingend zeigen. Zudem läßt sich, und hier hat Niquet recht, nur die Nichtverwerjbarkeit von Präsuppositionen, nicht die echte Alternativenlosigkeit demonstrieren (denn was wissen wir schon über ein Leben ohne Ketten, die wir nicht ablegen können?).2 Die Demonstration der Nichtverwerfbarkeit allerdings geschieht im „transzendentalen Diskurs" der Philosophie. Ihre Evidenzen sind zwar nicht gleich denjenigen der empirischen Wissenschaften, doch wenn Präsuppositionen ein echtes Wissen darstellen können, müssen auch diesbezügliche Vorschläge in einem Diskurs argumentativ kritisierbar sein. Rekonstruktionsvorschläge werden hierin entwickelt und den Argumentierenden zur Anerkennung vorgelegt, die diese auch verweigern können, wenn sie die Rekonstruktionen für mißlungen halten. Eine Lefzibegründung von Inhalten kann es hierbei nicht geben. Ob man bei transzendentalen Diskursen von Diskursen sprechen sollte, wäre genauer zu prüfen. Wenn Präsuppositionen jedoch ein außerdiskursives Wissen darstellen, dann kein super-, sondern ein subdiskursives Wissen - und eine Letztbegründung scheitert erst recht. Die Apelsche Letztbegründungsidee kann also nicht überzeugen. Dies wirft uns auf das Habermassche Begründungsprogramm zurück. Im folgenden werden die in der Literatur vorfïndlichen Versuche betrachtet, dieses Begründungsprogramm im Detail durchzuführen.
2. Durchführungsversuch per materialer Implikation Rehg (1991) In der Literatur finden sich zwei Durchführungsversuche des universalpragmatischen Programms (die der Transzendentalpragmatik wurden bereits besprochen), von William Rehg und von Konrad Ott. Rehg bemüht dabei die von Habermas vorgesehene materiale Implikation, Ott führt hingegen eine „pragmatische Implikation" ein. Während Rehg Begründungsziel und Architektonik der Diskursethik unverändert läßt, wird Ott bereits einige Modifikationen vornehmen. Erst in den folgenden Kapiteln werden dann solche Weiterführungen des Begründungsprogramms untersucht werden, die sich dies zur Hauptaufgabe gemacht haben. Trotz der Veröffentlichung seines Aufsatzes bereits im Jahre 1991 und wiederholter Habermasscher Hinweise darauf ist er in der Diskussion kaum zur Kenntnis genommen worden. Auch Ott, von dem die m. E. avanciertesten Begründungsversuche stammen (s. u.), zitiert Rehgs Arbeit nur pauschal als „verfeinerte Begründung von >D< und >UUU< in zehn Schritten Rehg schließt sein Vorhaben ab, indem er in zehn Schritten zu >U< fortschreitet (40f.): „(1) Assume [(PI .1), d. h.:] that a norm is a shared behavioral expectation whose general observance (a) has the immediate consequence of coordinating action in potential conflict situations by regulating the satisfaction of the relevant interests of those involved (in light of a value or values the norm defines as having priority for all); (b) has the further consequences and side-effects of contributing to (or at least not hindering) the formation of a specific social order. (2)
Assume the members of a pluralistic group strive to arrive at a norm (regulating potential interest conflicts) through argument, i. e. on the basis of good reasons.
(3)
Assume [(P2Rehg>].
(4)
Therefore, the members of this group strive for a norm supportable by reasons which each affected person can accept as good, i. e. reasons surviving after each has been free to question them (1,2,3)·"
1 Dies ist eine erhebliche Veränderung, wird doch gerade unter Verweis auf mangelnde Sachkompetenz kritischen Personen und Betroffenen die Teilnahme am Diskurs verweigert. Gerade SacAkompetenz läßt sich jedoch (im Diskurs) aufbauen, ist also a priori kein Ausschlußgrund.
2. Durchföhrungsversuch per materialer Implikation
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Was hierbei verblüfft, ist die Stärke der Prämissen. Prämisse (1) wird überhaupt nicht verwendet, und (2) fuhrt den Normbegriff noch einmal verkürzt ein. Prämisse (3) scheint ebenfalls kaum ausgeschöpft. Prämisse (2) macht sehr starke Annahmen: Warum überhaupt eine „pluralistic group" einführen? Dieselbe Schlußfolgerung (4) würde für jede „group" aus (2) gelingen. Und was sind „good reasons"? Dies wird anscheinend erst im Nachsatz von (4), also ungeschickterweise in der Konklusion, erläutert: „reasons surviving after each has been free to question them". Aber ist das wirklich in (2) schon vorausgesetzt, was fügt dann (4) der Prämisse (2) noch hinzu? Vielleicht können wir „good reasons" erst mit (3) in diesem Sinne erläutern, doch dann sollten wir hier eher schreiben: „reasons surviving a discourse". Betrachten wir, wie Rehg diesen Argumentationsschritt zusammenfaßt (41). Der wichtigste Fortschritt sei der Übergang von der „formal universality" in [P2a] zur „more substantive one required for >UU< heraus (Günther 1988:48): Die „Interessen jedes einzelnen" stünden dort gegen das „von allen Betroffenen gemeinsam"; dies verweise auf den intersubjektiven Rollentausch. Entgegen Rehgs Aussage glaube ich aber nicht, daß die Habermassche Doppelung von Gerechtigkeit und Solidarität, die die Diskursethik schützen soll, dadurch schon ausreichend zum Ausdruck kommt (vgl. Habermas 1986: 232; id. auch Habermas 1991e: 70). Solidarität zielt auf das Wohl der anderen (gegenüber der Gerechtigkeit, die auf die Freiheit zielt), konkret und in Gemeinschaft, und dennoch nichtpartikular. Wohl und Freiheit sind, m. E. auch wegen ihres wechselseitigen Voraussetzungsverhältnisses,1 komplementäre Aspekte („zwei Seiten derselben Sache"; ebd.) einer Anerkennung reziproker Anerkennungsverhältnisse, eines gemeinsamen intersubjektiven Lebenszusammenhangs.2 Jedenfalls aber, und in diesem Punkt liegt Rehg sicher richtig, werde der „moral point of view" nun gerade nicht als „impartial standpoint towards the various interests and desires at stake in a conflict situation" beschrieben, wie dies utilitaristische oder kontraktualistische Moralen gewöhnlich tun, sondern: „>UD< und >U< (284), sowie von diesen Prämissen zu den Moralprinzipien (294) führen. Beim Einsatz der pragmatischen Implikation (PI) für die Begründung der Diskursethik ist zu berücksichtigen, daß es bei der angestrebten Moralbegründung um ein erst noch explizit zu machendes Wissen von Argumentierenden bzw. um die Erwartungen an dieselben geht. Die Verpflichtungen der Argumentationspraxis sind i. allg. weniger explizit formuliert als beispielsweise die der medizinischen Praxis (wo es Standesregeln, Ethikkodizes usw. gibt). Diesen Unterschied läßt Ott
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I. Begründungsfragen
(1996b; 1998) beiseite, auch (1997: 65 u. 67) erwähnt ihn nur am Rande. Wirklich problematisch ist der Einsatz der PI für eine Moralbegründung: (1) Die implikative Methode setzt eine gerechtfertigte Moral bereits voraus, da nur moralische Praxen wirkliche Praxen seien (s. o.). Um einen Zirkel vollständig zu vermeiden, müßte dieser Vorbehalt entfallen, d. h., der Inhalt der PI-Verpflichtungen ergäbe sich dann ausschließlich aus den faktischen Erwartungen anderer. Zwei Folgeprobleme liegen auf der Hand : Wenn die Erwartungen schwinden, nicht getäuscht zu werden, fiihrt die PI in einen Widerspruch. Wenn beliebige andere moralische Erwartungen pervertieren, wird die Moralbegründung zur Unmoralbegründung. Die Schlüssigkeit der pragmatischen Implikation (PI) beruht aber bereits auf einer ethischen Prämisse, nämlich der Pflicht zur Erfüllung von (Rollen-)Erwartungen, mithin auf dem Täuschungsverbot.1 Ansonsten wäre der Übergang von den faktischen Erwartungen zur Verpflichtung ein Sein-Sollens-Fehlschluß. Wie sind diese Pflichten bei Ott normativ begründet? Die Moralprinzipien kann Ott hierzu nicht bemühen, da er diese ja selbst mittels der PI gewinnen will. Die PI zur Begründung des Täuschungsverbots einzusetzen - was Ott im Kapitel zur Ethikbegründung in (1997) offenbar versucht - scheint mir zirkulär. Auch die von Ott bemühten Klugheitsüberlegungen (70) überzeugen nicht, denn Ott will an einer deontologischen Moralgeltung festhalten.2 (2) PI-Erwartungen sind hypothetische Imperative - nur wer eine Rolle in einer Praxis übernimmt, braucht die entsprechenden Erwartungen zu erfüllen.3 Die Gültigkeit mindestens der moralischen Grundnormen ist jedoch nicht an die Teilnahme an irgendwelchen speziel-
1 Letzteres ist in Form von Regel (2.1) auch ein Teil der Habermasschen „idealen Sprechsituation", aber als solches nur im Diskurs geboten. 2 In einer Auseinandersetzung mit Kant beantwortet Ott die Frage .Warum aufrichtig sein?' generalisierend: Würden alle lügen, erodierte das Vertrauen der Anderen, und die Erfolgsbedingung des Lügens entfiele (70). Aus Sicht des Lügners (oder allgemeiner gesagt: des free riders) entsteht dadurch aber kein Widerspruch! In der universalistischen Lesart wird demgegenüber der Widerspruch im Willen des Lügners hervorgehoben, etwas gleichzeitig beteuern und nicht beteuern zu wollen, d. h., das Problem ist, „daß man eine Verpflichtung eingeht und doch nicht übernimmt. Einem Versprechen, das man im Wissen und in der Absicht abgibt, es nicht zu halten, liegt eine in sich widersprüchliche Maxime zugrunde" (so Höffe 1988: 194 nach expliziter Abgrenzung von der „empirisch-sozialpragmatischen Interpretation", ebd.: 193). Begründet man das Lügenverbot - wie Ott - generalisierend, bleibt es auf eine beliebige Praxis bezogen, die der Lügner nicht schätzen muß. (Wenn das Vertrauen erodiert ist, läßt er das Lügen eben, bzw. sucht sich, wenn er free rider bleiben will, die nächste für ein parasitäres Verhalten geeignete Praxis.) Der Wissenschaft, zentral in Ott (1997), kommt immerhin entgegen, daß sie keine beliebige Praxis, sondern eine Metapraxis ist, auf die zu verzichten die wissensmäßige Rationalisierung aller Praxen gefährdet. Dennoch wird es aufgrund der Struktur des Ottschen Arguments zu einer Sache der Klugheit, d. h. des eigenen Vorteils, Versprechen zu halten (oder zu brechen); würde die Moralbegründung tatsächlich von einer solcherart verstandenen PI abhängen, könnte - entgegen Otts Wunsch - keine deontologische Moral resultieren. 3 Dieses Problem läßt sich nicht vermeiden, wenn man das Sich-Einlassen auf Diskurse als „kontingenten Handlungszweck" auffaßt (so bereits Habermas gegen die Erlanger Konstruktivisten; s. o.). Bei Ott bleibt ungeklärt, warum man sich auf seine „Praxen" notwendig einlassen sollte. Damit wird das Moralprinzip und mit ihm auch die Moralnormen - zu hypothetischen Imperativen. Aus der Praxis der Argumentation kann man sich hingegen zwar in einzelnen Fällen, nicht aber prinzipiell verabschieden, jedenfalls nicht so leicht, wie aus den einzelnen von Ott besprochenen Praxen.
3. Durchführungsversuch per pragmatischer Implikation
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len Praxen gebunden.1 Nonnative Forderungen danach, wenigstens in bestimmten Konfliktsituationen Diskurse zu fuhren, wären dann kontingente Diskursinhalte, da diese mit Mitteln der Diskursethik nicht privilegiert begründet werden könnten. Zudem kann eine solche Moralbegründung keine Pflicht zu bestimmten, spezielleren Praxen erfassen (es sei denn über die Teilnahme an anderen Praxen: s. den nächsten Punkt). Schon einem möglichen Zerfall der Praxis „Wissenschaft" dürfte man kaum moralisch neutral gegenüberstehen (denn damit ist nach Ott die Rationalisierung aller anderen Praxen in puncto ihrer Wissensbestände gefährdet), um so mehr aber einem Zerfall der Praxen „Medizin" oder „Recht". Auch die notwendige Positionierung von Praxen gegeneinander gerät aus dem Blick; so wäre etwa eine „zweckbewußte" Wissenschaftsethik (Ott 1997) gehalten, stärker über das Verhältnis von wissenschaftsethischen zu anderen (Rollen-)Pflichten nachzudenken, aber auch über Ausrichtung und Gewicht wissenschaftlicher Praxen untereinander und im Verhältnis zu anderen Praxen. Eine Moralbegründung über Rollenpflichten hat das generelle Problem, daß die Pflicht zur Übernahme einer Rolle in einer anderen übernommenen Rolle begründet liegen muß. Einer Begründung von Moralprinzipien droht ein Regreß, wenn nicht eine Rolle bzw. Praxis als in irgendeiner Weise grundlegend ausgezeichnet werden kann. Die Standard-Diskursethik (Apel/Habermas) führt u. a. die Wahrhaftigkeitspflicht auf pragmatische Präsuppositionen der Argumentation zurück, die sich sicher weniger leicht negieren lassen als irgendeine kontingente Praxis, aber auch weniger leicht als die wissenschaftliche Metapraxis. Zu einer solchen (oder einer ähnlich basalen) Begründung im Zuge der Ausweisung einer umfassenden Metapraxis, und das ist die Argumentation, findet Ott m. E. keine überzeugende Alternative. Einer Moralbegründung über das Sich-Einlassen auf Argumentationspraxen droht, moralische Pflichten als letztlich nur gegenüber Diskursteilnehmern bestehende ausweisen zu müssen. Dies führt auf die Problematik „falscher Gründe", die auch Habermas und Apel nicht werden vermeiden können (dazu weiter unten). Moralisch relevante Verhaltenserwartungen bestehen aber (oder können geweckt werden) auch gegenüber Lebewesen, die nicht diskursfahig sind. Ihnen gegenüber von Praxen zu sprechen, wirkt etwas hoch gegriffen und legt das Mißverständnis nahe, man müßte sich irgendwie eingelassen haben, damit überhaupt ein moralisches Problem entstehen kann. Ich finde mich in einer Situation bzw. in Situationen vor, in denen immer schon Verhaltenserwartungen der unterschiedlichsten Art an mich adressiert sind. Die genannten Probleme entstehen durch eine Überdehnung des Anspruchs an die PI. Sie soll normative Gehalte sowohl von kontingenten Praxen als auch von Metapraxen (Wissenschaft), schließlich aber auch - und dies gelingt nicht - vom moralischen Standpunkt und seinen Prämissen selbst begründen helfen. Konsequenzen von (1): Entweder die Definition der Praxis kommt ohne moralische Gehalte aus, oder der Bezug der PI auf „Praxis" muß - wenigstens zur Moralbegründung fallengelassen werden. Ich denke, beides ist möglich. Damit die PI aber überhaupt zu einer Moralbegründung beitragen kann, muß „Pflichterfüllung" oder „Nicht-Täuschung" dem 1 Jedoch daran, an Diskursen teilnehmen zu können - denn wo moralische Einsichten nicht plausibel gemacht und verstanden werden können, sind sie auch nicht mehr sinnvoll zu adressieren.
60
I. Begründungsfragen
Adressaten nahegelegt werden. Hier könnte man argumentieren (ähnlich wie bei der Argumentation im Rahmen der Standard-Diskursethik), jeder und jede stehe immer schon in Rollen/Praxen bzw. sehe sich Erwartungen ausgesetzt und (a) ohne sich an Erwartungen orientieren zu können, bräche die Sphäre des Sozialen zusammen, würde die individuelle Sozialisierung scheitern o. ä. Doch mit dieser konsequentialistischen Argumentation kann man erstens keine deontologische Moral begründen und zweitens die normative Frage nur verschieben (denn warum soll ich an ... interessiert sein?). Erfolgversprechender scheint es, so fortzufahren: .. .und (b) diese Praxen sind mit Erwartungshaltungen verknüpft (und aus diesen heraus eingerichtet), die man als Teilnehmer normalerweise kennt und die man nicht enttäuschen sollte, weil man selbst auch nicht enttäuscht werden will / werden wollte / wurde (ein - u. U. auch transzendentaler - „Erwartungserfüllungstausch", wie man im Anschluß an Höffes transzendentalen Vorteilstausch formulieren könnte). Doch mit diesem Appell an den eigenen Vorteil gelingt auch keine Begründung einer deontologischen Moral (s. Kerstings Beitrag in Kersting 1997). Es muß m. E. so sein, daß man fortfahren kann (wie bei der Argumentationspraxis): ...und (c) darin liegen intersubjektive Anerkennungsstrukturen beschlossen, die man als Beteiligter aktualisiert und die den Kern der Moral selbst ausmachen. Per Rekonstruktion muß deren Gehalt expliziert und vorgeführt werden, ohne daß eine Anerkennung anderweitig „herbeimotiviert" werden könnte. Dies gelingt aber nicht bei jeder beliebigen Praxis, denn mit der moralischen Dignität der aufrichtigen Erfüllung der Erwartungen anderer (Pflichterfüllung) ist es ja u. U. nicht weit her. Deshalb genügt es auch nicht (vermeintlich im Sinne von Kant), fortzusetzen: .. .und (d) Pflichten sind aus Pflicht zu erfüllen. Vielleicht wäre es sinnvoll, die Zirkularität aus (1) zuzugestehen, allerdings die Moralität der Praxen nur unter einem Vorbegriff des Moralischen anzusetzen (über einen solchen verfügen wir ja bereits aufgrund der einzelnen Prämissen von >D " wie bei einer Konjunktion: (w > w) ist w, alles andere i s t / Wahrheit der Prämissen heißt hierbei, daß sie anerkannt werden. Das Zeichen „&" entspricht der logischen Konjunktion („λ").
62
I. Begründungsfragen
(a) Wären die Einhaltung der Diskursregeln und die Anerkennung der weiteren Prämissen X notwendige Bedingungen von M im Sinne der Aussagenlogik, dann würde gelten: M ->P, id. M->(DR λ X). Damit wäre aber für die Vorwärts-Begründung nichts gewonnen, denn trotz Einhaltung der Diskursregeln brauchte das Moralprinzip damit noch nicht anerkannt zu werden (f-^w ist w). (b) Eine gelingende V-Begründung1 scheint zu verlangen, daß die Prämissen hinreichende seien (wenn die Prämissen anerkannt sind, ist der V-Begründungs-Schluß nur dann wahr, wenn die Konsequenz M ebenfalls anerkannt werden muß). Wäre Ρ aussagenlogischhinreichende Bedingung für M, dann würde gelten: P->M. Betrachten wir die drei verbleibenden Fälle: 1. (/"->/ ist w) scheint keine Schwierigkeit darzustellen, denn Prämisse und Konsequenz gemeinsam lassen sich einerseits konsistent bestreiten: Wer ζ. B. die Diskursregeln nicht anerkennt und das Moralprinzip >D< ebensowenig, der widerspricht sich nicht - schon dadurch ist die r-pragmatische Implikation von der p-pragmatischen Implikation unterschieden. 2. (w->/ist J): Andererseits steht, wenn M nicht anerkannt wird, die Nicht-Anerkennung von Ρ zu erwarten, denn sonst beruht die Anerkennung von M auf weiteren Prämissen, die in der V-Begründung übersehen wurden (V-Begründung lückenhaft) oder könnte M auch aus anderen Prämissen hergeleitet werden (V-Begründung nicht alternativenlos). Eine gute Begründung sollte zumindest ersteres vermeiden. 3. (f-iw ist w): Fände sich hier ebenfalls kein Unterschied, wären die Wahrheitsbedingungen der p-pragmatischen gleich der der materialen Implikation. Ich behaupte nun, daß der Unterschied im letzten Fall zu suchen ist (f —-—» w ist f). Denn wie könnte man, um ein Beispiel zu geben, die Diskursregeln negieren und dennoch dem Moralprinzip, bei Ott: >D M) entspricht in seinen Wahrheitsbedingungen idealerweise einer logischen Äquivalenz (POM). Nur wenn die Menge der Prämissen unnötig vergrößert wird, kann aus der Anerkennung der Konklusion nicht mehr auf die Anerkennung der Prämissen rückgeschlossen werden. Wer Ρ anerkennt und irgendeine zusätzliche Prämisse, von dem kann ich immer noch erwarten, daß er M anerkennt.2
1 Hier und im folgenden kennzeichnen die vorangestellten Buchstaben V oder R die Vorwärts- bzw. Rückwärtsrichtung der Begründung, sowie ρ oder r die progressiv- bzw. rekonstruktiv-pragmatische Implikation (Symbole: — - — > bzw. —-—>). 2 Nur wenn dadurch ein Widerspruch in der Pramissenmenge auftritt, scheint ein Problem zu entstehen: Implikationslogisch wäre der Schluß auf die Anerkennung von M gültig, der SchluB auf die NichtAnerkennung von M aber ebenfalls. Was wir pragmatisch erwarten dürfen, wissen wir nicht (wir würden sagen, es seien die Prämissen zu klären und konsistent zu machen). Die Äquivalenz trägt dem Rechnung: Von inkonsistenten Prämissen (Wahrheitswert: J) kann nicht auf die Anerkennung von M (Wahrheitswert: w) geschlossen werden, und wenn M anerkannt ist, dann dürfen wir erwarten, daß die Prämissen nicht inkonsistent sind.
3. Durchführungsversuch per pragmatischer Implikation
(a, b)
a
b
a —
b
a
—
w
w
w
f
f
f
if.f)
w
w
f
(¿W)
w
f
f
(w, w)
b
Tabelle 2 Wahrheitstafel der materialen der progressiv-pragmatischen ( — - — > ) und der rekonstruktivpragmatischen ( > ) Implikation.
Insgesamt entsteht nicht eine einzige Tautologie der Form: KPOPOM, denn die Präsuppositionen von KP müssen nicht alle für das Moralprinzip relevant sein. KP präsupponiert DR & Q. M beruht aber auf P, d. h. neben DR noch auf zusätzlichen Prämissen X, so daß KP — > (DR & Q), aber (DR & X) — M . Damit ist jedenfalls klar, daß auch bei der p-pragmatischen Implikation die Konjunktion der Prämissen eine gleichstarke oder stärkere Behauptung darstellen muß als die Konklusion. Die Anerkennung der Konklusion kann - und das ist gut so - nicht aus zusammen schwächeren Prämissen erschlichen werden. Die Überzeugungskraft beruht vielmehr auf der Konjunktion von mehreren, einzeln leicht zuzugestehenden Prämissen und begründet so das Moralprinzip.1 Die Motivation zur Anerkennung der Einzelprämissen kann demgegenüber nur durch eine Rekonstruktion des alltäglich-kommunikativen Handelns oder ähnlich fundamentale Argumente erbracht werden, die für sich plausibel sein müssen. Ansonsten droht ein Zirkel. Der Hinweis, daß man sich strittiger Einzelprämissen im Diskurs (also unter Voraussetzung von M) versichern kann, ist richtig, aber hier kein Gegenargument. Zurecht setzt Ott an die Stelle der von Habermas vorgesehenen „materialen Implikation" eine „pragmatische Implikation". Diese ist auf „Widersprüchlichkeiten" im oben referierten und phänomenologisch einleuchtenden Sinne bezogen, deren Explikation - da die PI ein Erweiterungsschluß ist - weniger zwingend ist als ein „echter" aussagenlogischer Widerspruch; dies ist auch bei den soeben angestellten Überlegungen zu „Wahrheitsbedingungen" der PI nicht zu vergessen. Jetzt könnte Ott die einzelnen Prämissen (also DR & X, nicht DR & Q) diskutieren. Doch bevor dies geschieht, weist er noch auf eine seiner Meinung nach nicht durch die Praxis der Argumentation (PA) selbst pragmatisch implizierte Teilaussage der Diskursregeln (DR) hin.
1 Lebensweltliche Gründe können häufig nur als Erweiterungs-,Schlüsse' .rekonstruiert' werden, die keine Schlüsse im Sinne der formalen Logik sind. Sie motivieren daher nur zur Anerkennung der „Konklusion" und können diese nicht bei Strafe der Inkonsistenz erzwingen.
64
I. Begründungsfragen
3.2 Die Geltung der Diskursregeln: unter einer egalitären Annahme Nehmen wir also an, es solle ein Diskurs geführt werden, und fragen nach den hierfür konstitutiven Regeln. Eine solche Überlegung erfordert ein Vorverständnis von .Diskurs', das noch nicht die Diskursregeln präjudiziell Ein Vorschlag könnte m. E. die .Prüfung auf Einwandfreiheit' sein. Dann fragt sich, nach welchen Regeln wir verfahren müssen, um evtl. Einwände zum Zuge kommen zu lassen. Habermas unterscheidet (1983: 97ff.) drei Gruppen von Regeln: logische, dialektische und rhetorische (s. Einleitung, 2.2.2). Otts Zweifel betreffen die dritte Gruppe, die „idealisierendefn] Voraussetzungen hinsichtlich der pragmatischen Diskurssituation" (Ott 1996: 34), genauer gesagt, die darin zum Ausdruck kommenden egalitären Teilnahme- und Redechancen aller sprach- und handlungsfähigen Subjekte. Es sei nicht widersprüchlich, wenn die Chance auf Teilnahme an Diskursen einigen Personengruppen prinzipiell verweigert würde; Habermas' Argumentation sei hier zirkulär (vgl. 1996b: 36 und auch Benhabib; s. u.). Die Frage ist also, ob die Normadressaten auch alle Normautoren sein müßten, und nicht alle zusammen der Meinung sein könnten (also auch die betroffenen Gruppen), einige Gruppen seien hiervon auszunehmen. Ott diskutiert diese Frage allerdings ausschließlich auf politischer Ebene, obwohl sie doch zunächst auf sprachpragmatischer Ebene zu klären wäre. Wann können wir also die Diskursteilnahme bestimmten Gruppen widerspruchsfrei verweigern, und zwar nicht in einzelnen Situationen, sondern prinzipiell? Zwei Fälle sind zu unterscheiden je nachdem, ob wir dabei mit diesen Gruppen noch kommunikativ handeln oder nicht. Im ersten Fall wäre eine Diskursverweigerung m. E. pragmatisch widersprüchlich, denn wie könnten wir dann davon ausgehen, daß diese Gruppen sich auch in Zukunft an gemeinsamen Geltungsansprüchen orientieren (und das bedeutet es ja, mit ihnen kommunikativ zu handeln), wenn sie diese im Problemfall (mangels Diskursteilnahme) nicht einsehen können? Der zweite Fall ist weniger klar. Letztlich müßten wir dann wohl bestimmten Gruppen ein fiir uns anknüpftingsfähiges kommunikatives Binnenhandeln absprechen. Ich halte (in beiden Fällen) das Argument für überzeugend, daß es schlicht borniert wäre, anderen Gruppen von vornherein diskursive bzw. kommunikativ-performative Kompetenzen abzusprechen (vgl. die Diskussion von Kettners Vorschlägen; s. u.).1 Wenn man dies gar nicht erst versucht, dürften einem u. U. relevante Argumente mit ziemlicher Sicherheit entgehen. Es ist damit a priori zwingend, alle sprach- und handlungsfähigen Subjekte am Diskurs teilnehmen zu lassen, d. h. ihre Argumente vorbringen zu lassen. Es ist hingegen nicht a priori zwingend, daß eine strikt gleiche Chance bestehen muß, an Diskursen teilzunehmen. Dies gilt auch für die Rederechte im Diskurs, denn es ist einfach falsch, daß eine Ungleichverteilung von Chancen gute Argumente verhindert (die Argumentation dauert vielleicht etwas länger oder kürzer - warum ζ. B. nicht in Wahrheitsdiskursen den wissenschaftlichen Experten mehr Redezeit geben?) oder nicht zwanglos zustimmungsfähig wäre, zumindest nicht solange reelle, wenn auch nicht strikt egalitäre
1 Überdies entspräche ein solches Verhalten nicht dem normalen Sozialisieningspfad (Kinder versuchen ζ. B., mit Gegenständen, Tieren usw. zu sprechen - doch diese antworten nicht).
3. Durchfuhrungsversuch per pragmatischer Implikation
65
Teilnahme- und Redechancen bestehen.1 Ansonsten würde man den Begriff der Zustimmung entsprechend normativ überladen und, so würde ich hinzufügen, den Kognitivismus der Konzeption von Gründen gefährden: Denn dann könnte es so scheinen, als ob erstens die Quantität und nicht die Qualität des Gesagten ausschlaggebend für eine diskursive Übereinstimmung wäre, und als ob zweitens die Konfliktparteien vorrangig für ihren eigenen Vorteil argumentieren würden. Die strikt egalitäre Verteilung der Teilnahme- und Redechancen ist unnötig und irreführend; sie sollte m. E. aus der idealen Sprechsituation gestrichen werden. Was sich hingegen ansonsten als DR ergeben soll, kann auch aus PA gewonnen werden. Ott gesteht weiterhin zu, daß die aufgeführten Diskursregeln möglicherweise nicht vollständig sind (ein Regel-Kandidat betrifft ζ. B. die Verteilung der Argumentationslasten). Einerseits ist es wohl unnötig zu sagen, daß die Vollständigkeit von einer gelungenen Begründung zu erwarten wäre. Andererseits sieht man an diesem Zugeständnis, daß es auch und gerade der „implikativen Methode" nicht darum gehen kann, ein vorgegebenes Begründungsziel zu erreichen, das wir schon genau kennen würden, sondern darum, das Begründungsziel (hier: >DD< Von den Diskursregeln ausgehend hat Ott zwei verschiedene Vorschläge der Begründung, d. h. der pragmatisch-implikativen Ableitung von >D< unterbreitet. 3.3.1
Erster Vorschlag zur Ableitung von >D< (1996; 1997)
In seinen beiden früheren Arbeiten hält Ott folgende Herleitung für überzeugend: „Wir können nun den Knoten schürzen. Voraussetzen dürfen wir (a) den Unterschied von Fragen des guten Lebens und normativen Fragen, (b) den semantischen Begriff der Norm, (c) den Begriff der Argumentation, (d) die Diskursregeln und (e) die PerspektivendifFerenz. Analytische Sätze wie etwa (f) .Gerechtfertigte Nonnen sind gültig' dürfen beliebig hinzugefügt werden. >D< kann man nun in Anlehnung an einen Vorschlag von Keuth (1993, S. 296fF.) als pragmatisches Implikat der Prämissen behaupten. Also gilt: Die Prämissen (a) & (b) & (c) & (d) & (e) & (f) implizieren pragmatisch >DU< ihren Platz hatte. Die Rechtfertigung per Argumentation ist aber kein Spezifikum der Moderne (vgl. Habermas 1981), anders vielleicht als die Moral-"Ethik"-Unterscheidung oder die Idee gleicher juridischer und politischer Rechte für alle Menschen. Wozu dient in (g) der erste Satz „Wer argumentiert, der diskutiert"? Er kann m. E. gestrichen werden, da von Diskussion im folgenden nicht die Rede ist. Der letzte Satz wäre klarer so gestellt: „Indem man argumentiert, erheischt man die Zustimmung, d. h. den Konsens aller." Daß Gründe sich an präsumtiv alle richten, ist eine zentrale, m. E. aber sinnvolle Prämisse (vgl. die Bemerkungen zu Kettner). Allerdings wird in der Schlußfolgerung nur
I. Begründungsfragen
68
noch von „allen von der Normgeltung Betroffenen" gesprochen. Ott (in 1998: 13) läßt sich entnehmen, daß .Betroffene' mit ,NormadressatInnen' identisch sind. Wären dann bei den universalistischen Normen der Moral nicht jede und jeder betroffen? Diese Frage wird uns noch beschäftigen müssen. In (h) kann „in bezug [auf] Fragen der normativen Richtigkeit" gestrichen werden. In „Die allgemeine Beachtung ..." kommt das kontrafaktische Moment der idealen Sprechsituation nicht genügend zum Ausdruck; ich fände „Die Unterstellung der allgemeinen Beachtung ..." besser, gefolgt von „Ihre Befolgung im von den Teilnehmenden als ausreichend angesehenem Umfang ermöglicht den Diskurs." Doch das ist bereits teilweise eine Anwendungsfrage (s. u.). Prämisse (i) enthält, wie auch die oben zitierte Schlußfolgerung, eine Wenn-Dann-Beziehung. Für die von Ott gewählte Formulierung von >DU< betrifft die Gleichheit auf der Handlungsebene, und diese wird auch unter egalitären Teilnahme- und Redechancen im Diskurs sich nicht notwendig einstellen, sondern beruht nach Ott auf einer zusätzlichen normativen Prämisse, die dem moralischen Diskurs vorzugeben ist. Ott führt im ersten Vorschlag (1996b: 43f. und 1997:294) einige Prämissen (gn) ein, von denen mindestens eine als gültig anerkannt werden müsse, um zu >U< zu gelangen. (gl-96/7)
„Habermasens Idee der Rechtfertigung von Normen ist analytisch wahr und darf daher jeder Prämissenmenge hinzugefugt werden (Keuth, 1993)."
Die Aussage (gl) ist nach Otts Ansicht falsch und dient wohl nur als Spitze gegen Keuth. Von den anderen sechs Prämissen sind zwei offensichtlich deplaziert, worauf ich Ott noch 1996 aufmerksam gemacht habe: (g3-96) und (g7-96) sind bereits in (e) ausgedrückt und werden hier gar nicht erst genannt. Die weiteren Prämissen von (1996) finden sich auch in (1997): (g2-96/7)
„Der Gebrauch der Personalpronomina hat egalitäre Implikationen (Humboldt, 1829)."
(g3-97 = g4-96)
,£veryone to count for one and nobody for more than one (vgl. Bentham)."
(g4-97 = g5-96)
„Wir erkennen uns wechselseitig als Personen an, die einander respektieren. Unsere Standpunkte sind gleichermaßen der Berücksichtigung wert (Honneth, 1992; Benhabib, 1990)."
3. Durchführungsversuch per pragmatischer Implikation (g5-97 = g6-96)
„Wir müssen eine moderne, pluralistische Situation voraussetzen, in der es bei unterschiedlichen Wertvorstellungen Normen festzulegen gilt (Rehg, 1991)."
(g6-97)
„Im vernünftigen Leben erkennen sich die Beteiligten praktisch gegenseitig als Personen an (Kambartel, 1989)."
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Aus (g5-97) folgt in puncto Egalität überhaupt nichts. (g6-97) scheint mir auch zu schwach, wenn nicht im Sinne von (g4-97) gemeint (und dann überflüssig). Einzig (g2), (g3-97) und (g4-97) könnten hinreichen - je nachdem, wofiir .egalitäre Konsequenzen' entstehen, oder was ,to count' bzw. .einen Standpunkt gleichermaßen berücksichtigen' meint. Die Prämisse (g2-96/97) wurde in (1998) erläutert, die Prämissen (g6-97) und (g4-97) wurden zu einer verschmolzen und eine dritte Prämisse hinzugefügt; alle weiteren Möglichkeiten wurden, bis auf (g3-97) wohl zu Recht, fallengelassen: (jl)
„Der Gebrauch des Systems der Personalpronomina (ich, du) hat egalitäre Konsequenzen für Anerkennungsverhältnisse (Humboldt 1829)."
(j2)
„Im vernünftigen Leben erkennen sich die Beteiligten gegenseitig praktisch als Personen an. Ihre jeweiligen Standpunkte, Wertvorstellungen und Interessen sind gleichermaßen und gleichmäßig zu berücksichtigen."
(j3)
„Die Akzeptabilität von Normen bemißt sich anhand ihrer Konsequenzen fur alle Betroffenen."
Diese Prämisse (j3) paßt hier nicht hinein - eine Egalität trägt sie nicht bei. Die „faire Berücksichtigung aller Interessen, Standpunkte und Wertvorstellungen" (Ott 1998: 10) ist ja schon in der dritten Gruppe der Diskursregeln ausgedrückt (so verstehe ich diese Stelle); nötig wäre also eine darüber hinausgehende gleiche Berücksichtigung, d. h. „gleichermaßen und gleichmäßig", sei es nun von Interessen, Konsequenzen o. ä., aller Betroffenen. Daß Ott (j3) als „regelutilitaristisch" bezeichnet, unterstreicht dieses Problem, denn der Utilitarismus ist bekanntlich (in seiner Standardvariante) blind gegenüber noch so ungleichen Nutzenverteilungen, da nur die Nutzensumme betrachtet wird.1 Doch eine solche Verteilung entspricht nicht dem in >U< Geforderten. Außerdem halte ich schon den Nutzenbegriff als solchen im Zusammenhang von >UU< und damit schließlich zu >U< führt: Wer einer Norm zustimmt, anerkennt idealiter auch die „Folgen und Nebenwirkungen einer (hinreichend) allgemeinen Normbefolgung (Z -> F)". Genauer müßte es heißen: „Folgen und Nebenwirkungen für die Befriedigung der Interessen eines jeden einzelnen ...". (Z - ) F) ist - da als Implikation formuliert - richtig, auch wenn für einen Gesinnungsethiker andere Faktoren wichtig und Folgenbetrachtungen per se irrelevant sein mögen (vgl. aber in Kap. 2 Rehgs Überlegungen zu direkten Folgen). Man sieht, daß wenn (jl) oder (j2) egalitäre Konsequenzen haben und (Z -> F) gilt, (j3) ohnehin erfüllt sein muß; (j3) ist also nicht nur zu schwach, sondern auch überflüssig. Nun zieht Ott zusammen: „>D< & (Z -> F) & (gx) [bzw. (jx) in 1998; NGM] >U " verstanden werden muß (s. Kap. 3.1.3). Ott nutzt von der Äquivalenzbeziehung im von ihm zitierten >D< jedenfalls nur die eine Richtung; für seinen Beweisgang hätte er auch die schwächere Formulierung von >D< wählen können. Sein >U< läßt es daher zu, daß Normen neben >U< noch weiteren Regeln genügen müssen, um gültig zu sein. Festzuhalten ist: Da Ott >D< abschwächt, erfordert >U< nun eine oder mehrere zusätzliche normative Prämissen (gx bzw. jx) - sowie eine Folgenakzeptanzregel. Von den sieben (1996b) bzw. sechs (1997) vorgeschlagenen Alternativen können aber höchstens drei auch hinreichen. In der Version von (1998) finden sich auch nur noch drei solcher Prämissen, von denen eine aber mit der Folgenakzeptanzregel identisch ist. Ott zufolge könne man „sogar versuchen, die innere Dichte der Ableitung zu erhöhen, indem man versucht, einige der (g)-Annahmen als pragmatische Implikate der [rhetorischen] Diskursregeln 3.1-3.3 nachzuweisen" (1997:294). Genau das ist der Kern der Begründungsidee von Habermas. Ott folgt dieser Idee nicht, vielmehr führt er die fraglichen Gehalte als eigene Prämissen ein.
3.5 Die Architektur: >D< als Moralprinzip vor >U< als Argumentationsregel Ott bezeichnet in (1996b) bereits >D< als Moralprinzip, obwohl eine seiner Meinung nach letztlich erforderliche normative Prämisse, nämlich (gx) bzw. (jx), noch nicht darin enthalten ist. Dann gäbe es zwei Moralen, eine schwache (qua >DUU< die Operationalisierung von >DD< gebracht werden. Es ist unwahrscheinlich, daß er dabei an die Einsparung von normativen Gehalten gedacht hat. >U< sollte vielmehr zeigen, daß ein Konsens möglich ist, und nicht (wie Ott es versteht), die (gesteigerte?) Moralität der Diskursergebnisse sicherstellen. Unter Diskursbedingungen können wir doch schlicht erwarten, daß die Teilnehmenden keine Normen zwanglos akzeptieren, die moralisch fragwürdigen Anerkennungsverhältnissen entsprechen (was immer das jeweils heißt) - denn warum sollten siel Logisch unmöglich ist ein solcher Ausgang nicht, daher erfordert es normative Prämissen, einen egalitären Ausgang per Regel zu erzwingen. Das zeigt Otts Ableitungsversuch. Ich glaube daher, daß >U< in dieser Hinsicht redundant ist (vgl. unten auch Benhabibs Argumente).
3.6 Die Formulierung von >UU< Mißverständnisse provoziert, schlägt Ott (1996b, 1997) vor, jeglichen Hinweis auf Interessen zu tilgen (was er in 1998 stillschweigend getan hat). Dabei kann allerdings auch die Gleichmäßigkeit der Interessenberücksichtigung nicht mehr ausgedrückt werden. Die Streichung der „Interessen" macht diese normative Prämisse, die Ott zwischen >D< und >U< für erforderlich hält, unglücklicherweise wieder unsichtbar.
4. Das fortwährende Moralgespräch
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Die „allgemeine Befolgung", die in der Formulierung enthalten bleibt, verweist m. E. nicht nur auf ein marginales Folgeproblem, sondern auf ein Kernproblem: Warum nicht eine Norm unter realistischer Berücksichtigung ihres voraussichtlichen Befolgungsgrades auf allgemeine Zustimmung überprüfen? Natürlich muß eine Norm den Test der allgemeinen Befolgung bestehen, aber warum nicht den strengeren der nicht-allgemeinen Befolgung? Keine Norm wird immer und überall ausnahmslos befolgt, und welche Norm dadurch schon ihre Zustimmungsfähigkeit einbüßt, taugt nicht viel für die Praxis. Weiter unten wird dieses Problem, als Anwendungsproblem, wieder aufgenommen werden müssen (s. Kap. Π.4). Der 1998er Versuch scheint mir, unter Berücksichtigung der genannten Modifikationen insbesondere der pragmatischen Implikation, das Begründungsziel >D< zu erreichen. Die Positionierung von >U< gegenüber >D< wirft jedoch zu viele immanente Fragen auf, als daß sie überzeugend wirken kann. Der Versuch, Annahmen der Diskursethik in Form von Prämissen offenzulegen und die Art ihrer Verbindung (per pragmatischer Implikation) einer Klärung näherzubringen, hat die Diskussion um die Diskursethik vorangebracht. Die Kernidee des Habermasschen Begründungsprogramms, die Ableitung von >U< aus den Diskursregeln, wird bei Ott jedoch offenbar aufgegeben. Ob >D< allerdings ein erstrebenswertes Begründungsziel ist, wurde bisher offengelassen. Die folgenden Ansätze von Benhabib, Wellmer und Wingert enthalten einige zentrale Einwände und Anregungen für die Diskursethik. Stärker noch als bei Ott ist diesen Ansätzen eine partielle Neubestimmung des Begründungsziels der Diskursethik und eine von Habermas' Vorschlag abweichende Ausführung der Begründung wesentlich. Sie sind in ihren Begründungsansprüchen weniger strikt als die bisher untersuchten Ansätze.
4. Das fortwährende Moralgespräch - Benhabib (1990) Gegen die universalpragmatische Begründung der Diskursethik aus den „Präsuppositionen von Sprechhandlungen, die der Befähigung kompetenter moralischer Aktoren auf der postkonventionellen Entwicklungsstufe entsprechen", wendet Seyla Benhabib zweierlei ein:1 Erstens, worauf schon Thomas McCarthy hingewiesen habe, gebe es keine übereinstimmende Beschreibung der Kompetenz moralischer Subjekte, die eine postkonventionelle Moralstufe erreicht haben. „Habermas' Beschreibung dieser .Befähigung' ist nur eine unter vielen, etwa jener von John Rawls und Lawrence Kohlberg: Auf der Stufe postkonventioneller Moralauffassungen gehören Reversibilität, Verallgemeinerbarkeit und Unparteilichkeit immer zu den Aspekten des moralischen Gesichtspunktes; die wirkliche Herausforderung des Problems besteht in einer annehmbaren oder adäquaten Beschreibung dieser formalen Merkmale des moralischen Standpunktes." (Benhabib 1992b: 41)
1 Benhabibs maßgeblichen Aufsatz In the Shadow of Aristotle and Hegel von 1990 zitiere ich nach der deutschen Fassung in Benhabib (1992b). Darin eingeflossen sind auch ihre 1986 im Original erschienenen, allgemeineren Überlegungen zur kritischen Theorie (Benhabib 1992a).
72
I. Begründungsfragen
Zweitens sei damit eine Begründung der Geltung dieser Präsuppositionen noch nicht geleistet (wenn man einen Sein-Sollens-Fehlschluß vermeiden wolle). Und drittens sei in Habermas' Rekonstruktionsversuch der diskursiven Praxis die Frage schlicht als beantwortet vorausgesetzt, „wer, welche Gruppe von Menschen, als .Gesprächspartner' akzeptiert wird und wer nicht" (44) - nämlich: jede und jeder. Die Grundsätze universaler Achtung und egalitärer Reziprozität, die Habermas aus der idealen Sprechsituation als Presupposition der Argumentation herleiten wollte, bedürften daher einer erneuten Begründung. Benhabib plädiert dabei für einen „Universalismus, der sich seiner Geschichtlichkeit bewußt ist" und setzt fort: „Die Grundsätze universaler Achtung und egalitärer Reziprozität sind unsere philosophische Klärung der Konstituenten des moralischen Gesichtspunktes im Rahmen des Erkenntnishorizonts der Moderne. [...] Zu diesen Grundsätzen gelangt man durch Herstellung eines .Überlegungsgleichgewichts' im Sinne Rawls', wobei man, als Philosoph, kulturell festgelegte moralische Intuitionen im Licht klarer philosophischer Grundsätze analysiert, verfeinert und beurteilt - ein Verfahren, das schließlich in eine .dichte Beschreibung' (thick description·, Clifford Geertz) der moralischen Grundannahmen mündet, die den kulturellen Horizont der Moderne ausmachen." (42).
Warum das so ist, sehen wir schnell ein, wenn wir uns das Begründungsprogramm vorlegen, wie es Benhabib skizziert hat. Betrachten wir zunächst das Begründungsprogramm und diskutieren dann noch einmal explizit die Revisionsvorschläge, die Benhabib macht.
4.1 Begründungsschritte Benhabib schreibt: „Die einzelnen Schritte, die zur Festlegung der Nonnen der universalen moralischen Achtung und egalitären Reziprozität fuhren, sind: 1. Eine philosophische Theorie der Moralität muß zeigen, worin die Begründbarkeit moralischer Urteile und normativer Behauptungen besteht 2. .Begründen' bedeutet zu zeigen, daß Ich und Du, wenn wir über ein bestimmtes moralisches Urteil (etwa Es war falsch, den Flüchtlingen nicht zu helfen, sie auf offener See sterben zu lassen) und verschiedene normative Feststellungen (Schulische Bildung sollte bis zum 19. Lebensjahr für alle kostenlos sein) diskutieren, im Prinzip zu einem rationalen Einverständnis gelangen können. 3. Ein .rationales Einverständnis' muß unter Bedingungen zustande kommen, die unseren Vorstellungen von einer fairen Debatte entsprechen. 4. Die Regeln der fairen Auseinandersetzung können als die .universalpragmatischen' Präsuppositionen der argumentativen Rede gelten und in Form einer Reihe von Spielregeln Gestalt annehmen. 5. Diese Regeln spiegeln das moralische Ideal der gegenseitigen Achtung wider, das darauf beruht, daß wir einander als Wesen betrachten, deren Standpunkte dieselbe Beachtung verdienen (der Grundsatz universaler moralischer Achtung)·, und schließlich sollten wir 6. einander als konkrete menschliche Wesen behandeln, deren Fähigkeit, diesen Standpunkt auch auszudrücken, wir fördern sollten, indem wir, wo immer möglich, soziale Verhaltensweisen pflegen, die das diskursive Ideal (den Grundsatz der egalitären Reziprozität) verkörpern." (42f.)
4. Das fortwährende Moralgespräch
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Die letzten beiden Schritte würden auf substantielle moralische Normen führen. Offenbar sei man dahin „nicht durch philosophische Schlußfolgerungen von Schritt 1 bis 4 gelangt", sondern durch eine „Gruppe von Argumenten und Überlegungen [...], die alle einzeln und für sich dazu beitragen, diesen Grundsatz als moralische Grundnorm in den Mittelpunkt zu rücken" (43). Eines dieser Argumente sei jedoch „in der Tat ein universalpragmatisches": „Jede argumentative Auseinandersetzung bedingt eine grundsätzliche Achtung des Gesprächspartners - eine solche Achtung gehört zu unserer Vorstellung von fairer Argumentation; ein kompetenter Partner in einem solchen Gespräch zu sein bedeutet folglich, den Grundsatz der wechselseitigen Achtung zu respektieren. Schritt 5 ist also in diesem Sinne eine Erklärung des materialen normativen Gehalts der Begriffe Argumentation, faire Debatte etc." (43)
Doch Schritt 5 besagt ungleich viel mehr; in ihm geht es um die universale moralische Achtung, während im gerade ausgeführten Argument nur die Gesprächspartner sich wechselseitig achten müssen, wie Benhabib gleich im Anschluß anmerkt. Daß das ihre Begründung komplett in Frage stellt, scheint sie nicht zu sehen. Ein weiteres Argument „für die Ideale der universalen Achtung und der egalitären Reziprozität stammt aus der Theorie des gesellschaftlichen [gemeint ist wohl: kommunikativen; NGM] Handelns" (44). .Jedes kommunikative Handeln setzt Symmetrie und Reziprozität normativer Erwartungen unter Gruppenmitgliedern voraus. Wir werden dadurch zu Mitgliedern einer Gruppe von Menschen, daß man uns im Sinne dieser Wechselseitigkeit behandelt. .Respekt' oder .Achtung' sind Haltungen und moralische Gefühle, die erst aus solchen Vorgängen der kommunikativen Sozialisierung erwachsen." (ebd.)
Symmetrie und (egalitäre) Reziprozität werden im Text nicht weiter erläutert, sollen aber der „Achtung" offenbar vorausliegen. Die Idee der Achtung" selbst wird fälschlicherweise mit der „goldenen Regel" gleichgesetzt: „Somit ist auf einer Ebene die intuitive Idee hinter den Normen der universalen Achtung uralt, sie entspricht der traditionellen ,goldenen Regel' - Behandle die anderen so, wie du von ihnen behandelt werden willst. Verallgemeinerbarkeit bedingt, daß die Mitglieder einer Moralgemeinschaft ihre Standpunkte vertauschen (,Perspektivenumkehr'), das heißt, auch vom Standpunkt des oder der anderen urteilen." (44; Herv. NGM)
Vom Rück-Übersetzungsproblem einmal abgesehen („wechselseitige Perspektivenübernahme" sollte es heißen) scheint Benhabib zu übersehen, daß mit der goldenen Regel doch gerade die Perspektivenübtmahmt vermieden wird und die je eigenen Vorstellungen projiziert werden!1 Eine so verstandene Achtung leistet schon innerhalb einer konkreten Gemeinschaft, einer Gruppe der je „signifikanten Anderen" nicht das, was Benhabib möchte. Die (sozialisationsnotwendige) Fähigkeit zur wechselseitigen Perspektivenübernahme kann sich nach Benhabib jedenfalls auf eine konkrete Gemeinschaft beschränken, ohne daß funktionierende (Binnen-)Anerkennungsstrukturen dadurch unmöglich würden - während Habermas gerade das universalistische Moment darin aufgegriffen hat. Bei Benhabib wird 1 Auch auf der anderen Ebene, von der Benhabib später spricht, ist nur die konkrete Gemeinschaft überwunden, und das genannte Problem besteht fort. Benhabib deutet mehrfach Beispiele nach der „goldenen Regel" (70f.). Bestenfalls könnte man sagen, daß es sich hierbei um einen Startpunkt moralischer Überlegungen handelt (ihre Beispiele handeln vom Moraldialog mit Kindern), die eigentliche Perspektivenübernahme aber ein weiterer Schritt ist.
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I. Begründungsfragen
der Übergang von der partikularen zur universellen Reziprozität als Erfordernis der Moderne herausgestellt: „Moderne unterscheiden sich von den sogenannten prämodernen Ethiktheorien dadurch, daß sie den Begriff der Moralgemeinschaft auf alle sprach- und handlungsfähigen Wesen, also potentiell auf die gesamte Menschheit, ausdehnen. In diesem Sinn erstellt kommunikative Ethik ein Modell des Moralgesprächs unter Mitgliedern einer modernen ethischen Gemeinschaft, für die theologische oder ontologische Begründungen der Ungleichheit menschlicher Wesen radikal in Frage gestellt sind." (45)
Die Moderne erlaube es jedoch, auch dieses vermeintliche Dogma in Frage zu stellen, ist also doch nicht eine schlichte normative Prämisse: „Indem die Grundannahmen des moralischen Gesprächs innerhalb dieses Gesprächs in Frage gestellt werden dürfen, bleiben sie im Geltungsbereich der Argumentation. Insofern sie aber praktische Regeln darstellen, die nötig sind, um ein solches moralisches Gespräch in Gang zu halten, können wir sie zwar einklammern, um sie zu prüfen, nicht aber insgesamt außer Kraft setzen." (ebd.)
Während konventionelle Moralen an irgendeinem Punkt „vom Standpunkt aller Beteiligten, nicht genügend verallgemeinerungsfähig" sind, unterliegt die kommunikative Ethik keiner Einschränkung an Reflexivität. „In einer entzauberten Welt verweist jede Einschränkung der Reflexivität auf einen Mangel an Rationalität; nur ein moralischer Gesichtspunkt, der alle Verfahren der Rechtfertigung - einschließlich seiner eigenen - grundsätzlich in Frage stellt, kann die Bedingungen fur ein Moralgespräch schaffen, das offen und rational genug ist, um auch andere Gesichtspunkte einzuschließen, auch die Perspektive jener, die ab einem bestimmten Punkt ihre Gesprächshaltung aufgeben. In diesem Sinne sticht die kommunikative Ethik andere, weniger reflexive moralische Gesichtspunkte aus (trumps them, wie Ronald Dworkin sagt); sie kann mit ihnen koexistieren und deren kognitive Schranken als gegeben hinnehmen." (59)
Hinzuzufügen wäre, daß nicht nur keine konventionelle, sondern auch keine andere Ethik der postkonventionellen Stufe den Vorteil der Diskursethik bietet, im Rahmen ihrer selbst ihre Grundlagen reflektieren und für Kritik offen halten zu können (dies wird in Kap. 6.3 weiter ausgeführt werden). Während ich die These von der intrinsischen Nicht-Universalität der prämodernen Ethiktheorien nicht teile (zu Aristoteles s. etwa Höffe 1979), ist es wohl richtig, daß in der Moderne bestimmte Ungleichheits-Äigumente ihre Kraft verloren haben. Die Beweislast für den legitimen Ausschluß potentieller Diskursteilnehmer liege jedenfalls - so Benhabib - beim Kritiker. Dabei kommt Benhabib der glückliche Umstand entgegen, daß die meisten Partikularisten auch noch umfassend missionieren wollen: „Im allgemeinen sollen aber etwa die Frauen nicht nur verschieden behandelt werden, sondern sie sollen dies auch noch wollen, indem sie verstehen, daß dies natürlich sei; Nicht-Weiße sollen freiwillig und dankbar die Überlegenheit des weißen Mannes anerkennen; Ungläubige sollen bekehrt werden, damit sie den richtigen Weg zu Gott erkennen." (46)
Nur unter dieser Bedingung wäre es für den Partikularisten nicht rational, auf deren Zustimmung zu verzichten bzw. sie gar nicht erst ins moralische Gespräch einzubeziehen. Werden sie aber einbezogen, können sie auch widersprechen. Benhabib glaubt schließlich, unter dieser Bedingung folgern zu können:
4. Das fortwährende Moralgespräch
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„Behauptungen, die von der Ungleichheit der Menschen ausgehen, sind somit entweder irrational, das heißt, sie können die Zustimmung derer, die gemeint sind, nicht gewinnen, oder ungerecht, weil sie die Möglichkeit des Widerspruchs der Adressaten von vornherein ausschließen." (ebd.)
Der erste Teilsatz ist ersichtlich falsch - denn nur weil sie widersprechen können, heißt das noch nicht, daß sie widersprechen müssen. Der zweite Teilsatz zehrt von einem Gerechtigkeitsbegriff, der deijenige der Moderne ist und dem ein Partikularist ja gerade nicht anhängen wird. Wir müssen in der Diskursethik nach Benhabib die Situation der Moderne als unseren historischen Kontext voraussetzen. Dieser Kontext hat allerdings den Vorteil, in der angegebenen Weise reflexiv, und das heißt auch: integrativ zu sein. Benhabibs genaue Ideen zur Moralbegründung erschließen sich jedoch insofern nicht, als sie zwar von einzelnen Argumenten für die beiden Grundsätze spricht, aber nicht klar ist, was wodurch begründet werden soll. So wird etwa >U< als „redundant" und >D< als „Prämisse" bezeichnet (51).
4.2 Neufassung des Begründungsziels Wichtiger als Benhabibs Überlegungen zu einer (Neu-)Begründung der Diskursethik scheinen mir die Präzisierungen und Revisionen, die sie vornimmt: 1. Die Diskursethik betrifft nicht irgendwelche abgehobenen Gedankenexperimente, sondern die „Fortsetzung ganz gewöhnlicher Moralgespräche, in deren Verlauf wir uns darum bemühen, die Sichtweise des oder der konkreten anderen zu verstehen und anzuerkennen" (70; Herv. NGM). Allerdings: Die „Diskursethik projiziert solche Moralgespräche, die auf wechselseitiger Achtung beruhen, auf eine utopische Gemeinschaft der Menschheit" (71). 2. In diesen Gesprächen geht es auch nicht lediglich um Fragen der Gerechtigkeit, dies sei eine Unterbestimmung des Moralischen (55). Der andere tritt nicht als (potentieller) Träger von unpersönlichen Rechten gegenüber, die Diskursethik sollte nicht auf ein „Modell der politischen Legitimität" reduziert werden (53).' Es geht in Moraldiskursen zwar vorrangig um Normen, sie erlauben aber auch „Moraldebatten über unsere Auffassungen des guten Lebens und macht sie dadurch der moralischen Reflexion und der moralischen Transformation zugänglich" (85). Auch wenn allgemeinverbindliche Definitionen des guten Lebens in der Moderne nicht erforderlich und nicht einmal erwünscht sind, können unsere Vorstellungen dazu „ebenso wie unsere Vorstellungen von Gerechtigkeit Gegenstand intersubjektiver Debatte und Reflexion sein" (84). Benhabib plädiert offenbar, wie inzwischen auch Habermas, für „ethische" Diskurse. Auch sie läßt aber offen, wie diese als Diskurse funktionieren. 3. Ein solches Dialogverhalten - „Gespräch und wechselseitiges Verständnis" - zu befördern, ist das Ziel der Diskursethik, nicht „Konsens" (71). Diese Forderung trifft sich einerseits mit der Fallibilität von konsentierten Richtigkeitsüberzeugungen (Habermas), betont aber andererseits mehr den Wert des Prozesses als des Ergebnisses, d. h. „die Idee eines fortwährenden Moralgesprächs" (52). Was diese Fortführung unmöglich macht, kann daher 1 Vor dieser Tendenz warnen gerade viele der wohlwollenden Kritikerinnen und Kritiker der Diskursethik, z.B. Wellmer (1986) und Kambartel (1989). Vgl. aber zu Habermas' Verwendungen des Begriffs .Gerechtigkeit' S. 54, insbes. Fußnote 2).
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I. Begründungsfragen
(auch ohne daß ein Diskurs wirklich geführt werden muß) im Lichte der Diskursethik abgelehnt werden. Mehr noch, „wir würden vielmehr fragen, was erlaubt - vielleicht sogar notwendig - wäre, um die Praxis des Moralgesprächs auf Dauer zu gewährleisten" (ebd.). Damit scheint sie strategisches Handeln zur Herstellung der Bedingungen der Praktizierung von >D< zumindest nicht auszuschließen. 4. Habermas sieht in >U< eine „Garantie für die Herstellung von Konsens".1 Wegen der Betonung des Prozeßcharakters gegenüber dem Ergebnis ist >U< überflüssig; es fügt „der grundlegenden Prämisse der Diskursethik, >DU< „Einverständnis in moralischen Argumentationen möglich macht" (1983a: 67). Es kann also höchstens von einer Garantie für die HerstelIteriteli eines Konsenses gesprochen werden, oder besser davon, daß >U< das Finden eines Konsenses möglich macht (aber eben nicht: garantiert). 2 Diese Beobachtung bezieht sich im wesentlichen auf den angelsächsischen Sprachraum, wo die Diskursethik als eine Variante des Regelutilitarismus mißverstanden zu werden scheint (vgl. Kap. 1.2). 3 Obwohl Habermas seine politische Philosophie bereits 1992 ausgeführt hat, hält sich dieses Mißverständnis hartnäckig. Daß Habermas hinsichtlich der Institutionalisierung von Diskursen etwas zu vorsichtig ist, habe ich an anderer Stelle auszuführen versucht (Gottschalk / Elstner 1997; Gottschalk 2000).
5. Richtigkeit als Einwandfreiheit
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konturieren, was in der Diskussion der nun folgenden, ebenfalls abgeschwächten Varianten von Wellmer und Wingert sukzessive erfolgen soll.
5. Richtigkeit als Einwandfreiheit - Wellmer (1986) Zuerst 1979 in einem unveröffentlichten (jedoch in Frankfurt zirkulierenden) Manuskript, dann in Buchform (Wellmer 1986) und später auch in einigen Aufsätzen (Wellmer 1992; Wellmer 1993) hat Albrecht Wellmer eine einflußreiche Kritik an der Diskursethik vorgebracht und eine „schwächere Version der Konsenstheorie" vorgeschlagen. Auf der Basis einer ausführlichen Kritik der Diskursethik von Habermas und Apel (1) schlägt Wellmer eine fallibilistische Deutung von Konsensen vor - diese hat Habermas inzwischen übernommen - und plädiert für einen schwachen und mehrdimensionalen Begründungsanspruch (2), der auch der Verflechtung von Geltungsansprüchen Rechnung tragen kann (3).
5.1 Kritische Bedenken Wellmers Kritik an der Diskursethik betrifft vier Hauptpunkte: Erstens ihre konsenstheoretischen Voraussetzungen (d. h. ihre formal-idealisierenden Begriffsbildungen), zweitens ihr Selbstverständnis als Kommunikationsethik, drittens ihre Assimilation von Moral ans Recht und viertens ihre Fehl-Orientierung an einem .Reich der Zwecke'. Im dritten Punkt sei die Diskursethik zu wenig kantisch, in den anderen drei Punkten bleibe sie zu nahe an Kant. Betrachten wir diese Punkte nun genauer. Wellmer faßt zunächst die Habermassche Konsenstheorie der Wahrheit bzw. Richtigkeit nach der Diskussion einiger alternativer Interpretationen so zusammen, daß ,„wahr' oder .gültig' genau jene Geltungsansprüche genannt werden dürfen, über die ein diskursiver Konsens unter Bedingungen der idealen Sprechsituation herbeigeführt werden könnte" (69). Gegenüber einer bloß formalen Charakterisierung der „Rationalität" eines Konsenses, wie mittels der idealen Sprechsituation von Habermas ursprünglich versucht» beharrt Wellmer auf einer materialen Charakterisierung (70ff.): Wenn ein Konsens „gut begründet" sei, könne er (deshalb) auch rational genannt werden. Von einer solchen formalen Charakterisierung ist Habermas inzwischen - m. E. zurecht - abgerückt (s. Einleitung), so daß mir das ausführliche Referat der Wellmerschen Kritik hier witzlos zu sein scheint. Des weiteren zielt Wellmer auf die Grundarchitektur der Diskursethik: „Meine These ist, daß sich ein universalistisches Moralprinzip nicht aus, wie es bei Habermas heißt, .normativ gehaltvollen Präsuppositionen' der Argumentation ableiten läßt." (102)
Und dies, obwohl zugestanden wird, daß „deijenige, der die Gültigkeit dieser Präsuppositionen argumentativ zu bestreiten versucht, sich in einen performativen Widerspruch verwickelt" (103). Aufrichtigkeit, Vorrang des besseren Arguments, Aigumentationsmöglichkeiten für alle Beteiligten - diese allgemeinen Argumentationsnormen seien „keine universalistischen Moralnormen oder auch Metanormen der Moral"; Aufnahme und Abbruch
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I. Begründungsfragen
von Argumentationen bleibe durch sie notwendig ungeregelt (105). Denn das Verbot der (auch für Wellmer irrationalen) Unterdrückung von besseren Argumenten habe „keinerlei direkte Konsequenzen hinsichtlich der Frage, wann und mit wem und worüber ich zu argumentieren verpflichtet bin." Daher sei fraglich, „ob das .müssen' der Argumentationsnormen sich sinnvoll als ein moralisches .müssen' verstehen läßt" (107). „Überspitzt gesagt: Rationalitäts-Verpflichtungen beziehen sich auf Argumente ohne Ansehen der Person; moralische Verpflichtungen beziehen sich auf Personen ohne Ansehen ihrer Argumente." (108)
Wellmer bezeichnet diese Äußerung selbst als „überspitzt": Es wird genauer zu untersuchen sein (in Kap. III), welche Formen moralischer Achtung durch das Ernstnehmen von Rationalitätsverpflichtungen aufgebracht sind. Dort wird auch die Tendenz der Diskursethik diskutiert, nur solche Wesen moralisch zu berücksichtigen, die argumentationsfähig sind. Doch auch Wellmer bezieht hier, vielleicht um der Prägnanz des Ausdrucks willen, moralische Verpflichtungen ohne Not nur auf „Personen". Wellmer kritisiert drittens die Konfundierung eines „universalistischen Moral- mit einem prozeduralen (naturrechtlichen) Legitimitätsprinzip" (114) in Habermas' Formulierung von >UD< wäre entsprechend zu korrigieren). Das Prinzip des doppelten Respekts moralischer Verletzlichkeit müßte in Wingerts Diskursethik an die Stelle von >U< treten:
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I. Begründungsfragen „Dieses Prinzip besteht darin, daß die allgemein gebotene Handlungsweise oder die moralische Norm Ν jeden der Zusammenlebenden gleichermaßen schützt in seinem Status eines unvertretbar Einzelnen und eines gleichberechtigten Angehörigen." (264)
Es soll wohl gleichzeitig auch als Argumentationsregel dienen, nach der gültige Normen qualifiziert werden können: „Das Urteil, in dem diejenigen, für die eine bestimmte Handlungsweise die Lösung eines moralischen Problems sein soll, übereinstimmen müssen, ist ein Urteil der Form: .Jeder muß Ν einhalten, weil Ν als Bestandteil eines Normensystems den Respekt eines jeden als gleichberechtigten Angehörigen und als unvertretbar Einzelnen wahrt.'" (265)
Was unausgeführt bleibt, ist der Zusammenhang einer „bestimmten Handlungsweise" mit einer Norm. Wir werden im Anwendungskapitel darauf zurückkommen. Diese Begründung wird nun ihrerseits auf ihre Voraussetzungen hin befragt: „Genereller Ausgangspunkt fur die Begründung ist das Erfordernis moralischer Normen, die das Zusammenleben von in einer kommunikativen Lebensform involvierten Subjekten regeln, indem sie die moralisch verletzbaren und handlungsmächtigen Subjekte kategorisch wechselseitig auf bestimmte Handlungsweisen und Unterlassungen verpflichten." (284)
Für Wingert ist die im Diskurs operationalisierte Moral des doppelten Respekts deshalb nur unter drei Voraussetzungen begründbar: „Es wird vorausgesetzt, daß auf Moral nicht verzichtet werden kann, oder nur verzichtet werden kann um den Preis einer gewaltsamen Konfliktlösung. Das ist die erste Prämisse. Eine zweite Prämisse ist, daß die gesuchten moralischen Normen aus intersubjektiv geteilten Gründen akzeptabel sein müssen. [...] Schließlich ist eine weitere Voraussetzung der Begründung, daß für diejenigen, deren Zusammenleben moralischer Regelungen bedarf, dieses Zusammenleben nicht notwendig Teil ihres guten Lebens ist; ob sie wollen oder nicht, sie müssen zusammenleben." (284)
Prämisse (1) wird von Wingert mit einem Verweis auf Habermas (1991a: 178) belegt, wo sich in der Tat eine ähnliche Formulierung findet (und auch eine ähnliche Formulierung des Wingertschen „generellen Ausgangspunktes"). Daß eine gewaltsame Konfliktlösung unerwünscht ist, scheint beiden so selbstverständlich, daß sie es nicht eigens erwähnen.1 Prämisse (3) ist quasi-objektivistisch formuliert: Das Müssen bedeutet aber, daß die Konsequenzen einer Spaltung entweder aus „ethischen" oder aus moralischen Gründen abgelehnt werden bzw. abzulehnen sind (ohne daß das Zusammenleben eigens gewünscht sein muß). Begründen heißt für Wingert nicht, den radikalen Skeptiker zu überzeugen, der sich fragt: ,warum überhaupt moralisch sein?' (das gelänge schon wegen der soeben zugestandenen drei Prämissen nicht, die dieser nicht anerkennen dürfte), sondern die „relative epistemische Überlegenheit" seiner Konzeption zu zeigen: „Darunter ist zu verstehen, daß die normative Erwartung, sich an diese Moral zu halten, nicht vernünftigerweise zurückgewiesen werden kann; es gibt keine guten Gegengründe gegen sie, die diese Zurückweisung stützen." (281) Der Diskursethik ist damit eine „Offenheit fur Kritik" (ebd.) eingeschrieben. Der Anhänger einer Diskursethik wird nämlich
1 Auf diesen vorgängigen Zweck hebt besonders die Erlanger Schule ab (vgl. Einleitung)
6. Moral des doppelten Respekts
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„dazu angehalten, zwischen dem, was ein guter Grund ist, und dem, was er als einen guten Grund ansieht, zu unterscheiden. Sein Anspruch, daß χ ein guter Grund dafür ist, daß sich alle [...] in der so und so bestimmten Weise verhalten sollen, verbindet sich im Bewußtsein dieser Unterscheidung mit dem Anspruch, daß von allen eingesehen werden kann, daß χ ein guter Grund ist: Wenn χ ein guter moralisch-praktischer Grund dafür ist, daß alle sich so und so verhalten sollen, dann ist χ als ein guter moralisch-praktischer Grund von allen einsehbar." (286)
Damit könne auch dem Vorwurf entgegengetreten werden, die Moral des doppelten Respekts gelte nur innerhalb konkreter Gemeinschaften. Denn genau dieser reflexive Zug sei es, durch den eine Gemeinschaft „strukturell offen" bleibe (und die Moral zu einer universalistischen Moral werde). Eine fundamentalistische Position oder diejenige des „rationalen Nazi" (an der Richard Hare die Konsequenzen einer auf interne Widerspruchsfreiheit verkürzten Universalisierung vorführt; Hare 1963), die beide Prämisse (2) der oben genannten drei Voraussetzungen verletzen, können als „epistemisch unterlegen" erwiesen werden, wie Wingert ein Argument von Thomas Nagel aufnimmt: „In der Erklärung der Nicht-Übereinstimmung darüber, ob χ ein guter moralisch-praktischer Grund ist, wird auf eine präsumtiv gemeinsame Basis Bezug genommen, auf ein .common reason in which both parties share, but from which they get different results because they cannot, being limited creatures, be expected to exercise it perfectly' [Unterzitat Nagel 1987:234]. Die Bezugnahme auf eine gemeinsame Rechtfertigungsbasis zwingt Opponent und Proponent eine bestimmte Einstellung zu dem Faktum ihres Dissenses auf. Dieses Faktum muß von beiden als ein Indiz dafür angesehen werden, daß keine Seite gute Gründe für jeweils ihre Überzeugung hat. Jede Seite muß auf die Entkräftung der Kritik des Gegenübers zielen, wenn sie zu dem Anspruch autorisiert sein will, daß χ ein guter moralisch-praktischer Grund ist. Der fundamentalistische Anhänger einer traditionalistischen Moral, die einen ungleichen oder eingeschränkten Respekt zuläßt, kann diese Einstellung nicht einnehmen. Er hält die Normen dieser Moral für Gebote und Verbote einer vorgegebenen Autorität, die lediglich durch ihn spricht, wenn er diese Gebote und Verbote gegenüber anderen geltend macht Er macht diese Normen nicht eigenverantwortlich geltend, indem er sich zumindest ihre Auslegung persönlich zuschreibt Deshalb stuft er die Gründe für seinen Geltungsanspruch nicht zu Gründen herab, die zunächst einmal nur er als gute Gründe ansieht und die sich in der Entkräftung von Kritik anderer als gute Gründe erweisen können müssen." (288)
Kurz und bündig faßt Wingert noch einmal zusammen, worin die epistemische Unterlegenheit dogmatischer, metaphysischer oder religiöser Gegenpositionen besteht: „Beide, der rationale Nazi und der Fundamentalist, unterscheiden nicht zwischen guten moralischpraktischen Gründen dafür, daß alle sich so und so verhalten sollen, und ihrem Glauben was solche Gründe sind." (288)
Die Moral des doppelten Respekts ist epistemisch überlegen, wie Wingert richtig sieht, „weil sie von Haus aus, d. h. durch ihre Operationalisierung im Diskurs, auf Kritik angelegt ist" (285). Nicht nur die inhaltlichen Normen (in denen wir uns als gleiche Mitglieder anerkennen), sondern auch die Kriterien für die Akzeptabilität von Normen selbst (in deren Interpretation wir unvertretbare Einzelne sind) stehen der Kritik offen (289). Wingert vertritt damit ein Gegenkonzept zu der kantisch-universalistischen Wellmer-Variante, die andere nur als „repräsentative andere" zulasse, nämlich qua ihrer Gründe, und nicht als alle andere sans phrase. (275). Aus seiner Perspektive ergibt sich zwanglos die Notwendigkeit der Ein-
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I. Begründungsfragen
Beziehung auch der konkreten anderen in den Diskurs, ohne daß ein Restdezisionismus (274) oder eine bloße Informationsfunktion (276) als Grund zureichen muß. Während sich Wingert sicher ist, daß hier nichts begrifflich erschlichen oder material einfach vorausgesetzt wird, meint er, Zweifel hinsichtlich der Existenz eines intersubjektiven „moralischen Maßstabs" letztlich nicht ausräumen zu können (301). Nur unter der Annahme, daß ein solcher Maßstab existiere, könnten die „maßstabbildenden Überzeugungen ihrerseits einer Bewährung ausgesetzt werden" (ebd.). Die Pointe des reflexiven Konzepts läßt sich dann auch noch auf dieser basalen Ebene möglicher Einwände wiederfinden: „Die Idee ist also, daß die Moral des universellen zweifachen Respekts ihre basalen Prinzipien, soweit sie in Form von (AufForderungs-)Sätzen dargestellt werden, noch einmal der Bewährung in einem diskursförmigen Streit der Interpretationen aussetzt, den sie selbst durch ihre Prinzipien auf der pragmatischen Ebene der Verwendung dieser Sätze ermöglicht." (303)
Diese „prozedurale Repräsentation der praktischen Vernunft" (ebd.) erinnert von Ferne an Niquets „transzendentalen Diskurs" (1996), in dem sich die kommunikative Vernunft per strikter Reflexion ihrer Sinnbedingungen versichert. Auch in den Begründungsschritten (a) und (b) mußte ja auf die Rettung des Sinns rekurriert werden. „Die so verstandene moralisch-praktische Vernunft wird nicht bloß dargestellt von Sätzen, mit denen wir rechtfertigende Gründe geben, sondern auch noch einmal von einem Prozeß der diskursformigen Auseinandersetzung darüber, wie gut diese Sätze ihre Funktion erfüllen, moralischpraktische Gründe zu sein. Das für alle Subjekte moralischer Verpflichtungen akzeptable, minimale Verständnis von solchen Gründen, wie es im Diskurs zur Geltung gebracht werden soll, wirkt als eine Art Korrektiv. Das materiale, erfahrungsabhängige Verständnis von guten moralischen Gründen muß keineswegs geleugnet werden; aber soweit es sich in solchen Sätzen artikuliert, kann es auch kritisiert werden." (303f.)
Jedoch versucht Wingert doch noch ein transzendentales Argument, das auf die Bedingungen der Möglichkeit wirksamen Einspruches zielt: „Die Idee ist, daß die Grundformen des moralischen Respekts, den diese Moral gebietet, als eine unumgängliche Voraussetzung gerechtfertigt werden können für eine Kritik an den vermeintlichen Gütekriterien moralischer Gründe; und daß diese Kritik auch noch das Verständnis dieser Elementarformen des moralischen Respekts, wie es sich auf der Ebene von Normsätzen artikuliert, als unangemessen monieren kann. Das ist keine Letztbegründung. Denn diese Voraussetzung wird nicht im Rekurs auf die Erfahrung eines performativen Widerspruchs, sondern in Ansehung der Erfahrung des von ihr ermöglichten, wirksamen Einspruches gerechtfertigt" ( 19f.)
Wingert benennt, wie auch schon Benhabib, die .Reflexivität' einer moralphilosophischen Konzeption als ein wesentliches Qualitätsmerkmal. Reflexivität bedeutet zuerst einmal die fortwährende Offenheit gegenüber einer inhaltlichen Kritik an Nonnen im Lichte des gewählten Ordnungsgesichtspunkts (nicht jedes Moralprinzip läßt das zu). Ein zweiter Reflexionsaspekt, den Wingert am Rande erwähnt und der erst in der Diskussion der Anwendungsprobleme näher untersucht wird, besteht darin, daß unter einem moralischen Ordnungsgesichtspunkt gerechtfertigte Normen (oder Maximen o. ä.) in ihrer Anwendung überprüft und fortgebildet und Kriterien ihrer Anwendbarkeit entwickelt werden können und daß auch dies im Rahmen der Diskursethik selbst, d. h. in praktischen Diskursen, geschehen kann.
7. Versuch einer Neubegründung aus partikularen Geltungsanspriichen
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Die besondere Reflexivität der Diskursethik hat, vergleicht man Wingerts mit Benhabibs Darstellung, auch selbstkritische Aspekte: Erstens, so Wingert, können Interpretationsvorschläge des moralischen Ordnungsgesichtspunkts (des Involviertseins in eine kommunikative Lebensform) im Rahmen seiner selbst kritisiert werden. Was Wingert offenbar für zirkulär hält ist, auch den moralischen Gesichtspunkt selbst (und nicht nur seine Formulierung) intern kritikoffen zu halten; dies liegt daran, daß in seiner Begründungsvariante der moralischen Gesichtspunkt dem Diskurs vorgegeben bleiben muß, da dieser jenen ja nur operationalisiere. Doch gerade wenn - wie Wingert meint - in der diskursiven Praxis dieselben Grundformen des moralischen Respekts beschlossen liegen, wie sie der moralische Gesichtspunkt fordert, sollten diese Grundformen nicht der Prozedur strikt vorgeordnet sein. Nicht nur die Formulierung, auch die Substanz kann sich als korrekturbedürftig heraussteilen. Benhabib geht diesen Schritt, mit dem zweitens der moralische Gesichtspunkt auch „alle Verfahren der Rechtfertigung - einschließlich seiner eigenen - grundsätzlich in Frage stellt" und so auch „andere Gesichtspunkte einschließen" kann.1
7. Versuch einer Neubegründung aus partikularen Geltungsansprüchen - Kettner (1998) Der ambitionierteste der hier untersuchten Vorschläge einer Neubegründung der Diskursethik stammt von Matthias Kettner (1998). Sein Vorschlag für eine „neue Perspektive": „Es geht in der Diskursethik um die Verwendung diskursiver Macht, moralisch normiert wird die Verantwortung von Argumentationsgemeinschañen für deren vernünftige Ausübung." (4) „Diskursive Macht ist die Macht, Richtigkeitsüberzeugungen, die die Autorität von guten Gründen betreffen, durch Argumentation zu modifizieren - somit die betreffenden Gründe selber zu modifizieren und somit auch das, was fur uns aus diesen Gründen erfolgen oder auf ihnen beruhen darf."
(5) Während Argumentationen zwar darauf zielen, „strittige Gründe mit weniger strittigen neu zu bewerten, um besser unterscheiden („urteilen") zu können" (5), beanspruchen Diskurse (in normativer Begriffsverwendung), so geführt zu werden, als ginge es in ihnen nur um die Erfüllung dieser Argumentationsintention. Das entsprechende Selbstverständnis nennt Kettner dasjenige eines „rationalen Bewerters" von Gründen (6). Die vernünftige Ausübung diskursiver Macht bedeutet daher, sich an einer Orientierungspraxis zu beteiligen mit dem Ziel der „Suche nach der besten uns möglichen Verständigung über unsere möglichst besten Gründe" (8). Diskurse intervenieren in diesem Sinne in die (aus Gründen gewirkten) normativen Texturen und in die Prozesse ihrer Veränderung. Diese Überlegungen zum Verhältnis von Rationalität und Diskurs sind m. E. überzeugend, jedoch auch recht unkontrovers. Kettner verzichtet auf den Ballast der Habermasschen Universalpragmatik und ihrer Ableitung des universalistischen Geltungsanspruchs der „Richtigkeit" als wahrheitsanalog 1 Vgl. zu diesem Begriff der diskursethischen Reflexivität auch Hastedt (1991): Dieser propagiert eine „Selbstthematisierung der Thematisieningsweisen in praktischer Absicht" (284).
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I. Begründungsfragen
und damit auch auf die starke Annahme, erst die Unterstellung, man könnte moralische Fragen eindeutig und universell verbindlich entscheiden, gäbe einem praktischen Diskurs seinen Sinn. Er rückt jedoch nicht davon ab, daß ein moralischer Diskurs einen Konsens erbringt - nur „das kann auch ein Konsens über einen Spielraum von Dissens in der anstehenden Sache sein, oder ein Konsens über einen Spielraum von Konsens, oder ein Konsens über komplementäre Spielräume von Dissens und Konsens" (37). Entsprechend verwirft er die Habermassche Abgrenzung moralischer von pragmatischen oder „ethischen" Diskursen (Kettner 1994). Die Konzeption der Texturen läßt Raum für den Zusammenhang von Geltungsansprüchen, den u. a. Wellmer herausgestellt hat, und trägt der Tatsache Rechnung, daß in moralischen Diskursen gewöhnlich nicht einzelne Normen (oder Gründe) geprüft werden. Ziel seiner Bemühungen ist der Aufweis einer universalistischen „.diskursermöglichenden' Moral-im-Diskurs" MID einerseits, die alle anderen (universalistischen wie partikularistischen) vorfindlichen Moralen Mx zu „diskursiv integren Moralen" DIMX andererseits soll „ummodeln" können (32). Die Berücksichtigung der MID, d. h. die diskursive Integrität dieses Vorgangs, garantiert dabei die NichtVerschlechterung und die Möglichkeit einer Verbesserung im Übergang von einer Textur Ti zu einer Textur T2 von Gründen Texturen, in denen auch Moralvorstellungen eingebettet sind (13f.). Aus den essentiellen normativen Elementen der Argumentation extrahiert er im Begründungsteil seiner Überlegungen jene mit (kommunikations-)moralischem Gehalt, aus denen er die zentrale „diskursethische Hypothese" neu zu füllen und zu begründen versucht: „(Hpg) Richtig zu wissen, was es heißt, argumentieren zu können, schließt die Kenntnis einer bestimmten Moralkonzeption ein, und daß man weiß, was es heißt, dieser Konzeption gemäß oder von ihr abweichend zu handeln." (18)
Diese Moralkonzeption bestimmt ausschließlich darüber, wie diskursiv argumentiert werden soll, ist also eine reine Kommunikationsethik (genauer: ein Teil der Argumentations-, und als diese wiederum ein Teil der Kommunikationsethik). Was dann, in der Entwicklung des „Diskursmodells angewandter Ethik" folgt, ist als eine Entfaltung einiger Konsequenzen von HDE angelegt. (Diese Anwendungskonzeption wird im nächsten Kapitel besprochen werden.) Die nun näher zu betrachtende Begründung der ,„diskursermöglichenden' Moral-imDiskurs" verläuft über eine Untersuchung der Semantik von guten Gründen, d. h. dessen, „wie rationale Bewerter verallgemeinern sollten". Ihr sind einige metaethische Überlegungen vorangestellt, die das Begründungsziel schärfer fassen helfen sollen; diese werden im folgenden kurz skizziert.
7.1 Moralurteile und rationale Bewerter Kettner beginnt seine Argumentation mit einigen begrifflichen Klärungen. Ein moralisches Urteil ist ein normatives Urteil, in dem „emstgenommen wird, wie Aktivitäten und ihre Ergebnisse (=Tun/Lassen) für die Akteure selbst und für andere Wesen, an denen den Akteuren etwas liegt, zum Guten oder Schlechten ausschlagen" (14). Gründe moralischer Urteile repräsentieren daher, wegen dieses Emstnehmens, Zuschreibungen von „moralischer
7. Versuch einer Neubegründung aus partikularen Geltungsansprüchen
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Verantwortung" (14). Eine Moral ist in Kettners Ansatz eine Textur von Gründen der Urteilenden: „Jede Moral kann in gewissem Sinne als eine mehr oder weniger scharf gesonderte (im Extrem sogar: modulare) Textur von Bewertungsgründen angesehen werden, und zwar von solchen Bewertungsgründen, die zur Bewertung von Handlungsorientierungen bzw. Gründen in vielen (im Extrem sogar in allen [Fußnote: Wallace 1996]) übrigen normativen Texturen der Lebenswelt sozial handelnder Personen aus der Sicht der Urteilenden für die Urteilenden wie die Beurteilten dort anzuerkennen sind, wo es darum geht, nach Maßgabe eines .moralisch Richtigen' zu urteilen. Jede artikulierte Moral ist eine Textur, vermittels derer sich alle Adressaten dieser Moral .zwingend' - nämlich um den Preis von Furcht, Scham, Schuld, Selbstachtung oder Wertschätzung seitens anderer Mitglieder einer Moralgemeinschaft (Honneth 1992) - auferlegen, sich um bestimmte Arten des Guten von bestimmten Arten von Wesen zu kümmern (Wingert 1993) und sich hierüber Rechenschaft zu geben. Es ist daher falsch, das Moralische insgesamt ins Prokrustesbett .moralischer Rechte', .moralischer Pflichten', oder gar (wie Habermas) von .Gerechtigkeit' zu zwingen." (15)
Das jeweilige „Prokrustesbett" moralphilosophischer Theorien heißt bei Kettner an anderer Stelle auch (weniger polemisch): „moralischer Einheitsfokus" (Kettner 1996b). In seinem Ansatz ist er sichtlich bemüht, Raum zu lassen für die verschiedensten Moralvorstellungen, vielleicht auch für solche, die durch einen wie auch immer gearteten moralischen Einheitsfokus nicht zu rekonstruieren sind. Ein moralisches Urteil muß aber auch in Kettners Ansatz ein deontisches Urteil sein; die allgemeine Struktur eines deontischen Urteils soll dabei wie folgt lauten (eckige Klammern hier ausnahmsweise im Original): „( W)ir denken: Es ist aus bestimmten (P von spezielleren Moralprinzipien M' hinzufügen, nach denen sich die Schulen binnendifferenzieren können (Durchschnittsnutzen vs. Gesamtnutzen, pure vs. gefilterte oder „wahre" Präferenzen etc.). A2:
„Situationsverstehen"
Es ist andererseits wichtig, daß eine Situation auf eine M gemäße, seinem normativen Gehalt gewissermaßen entgegenkommende Weise wahrgenommen und beschrieben wird, nämlich so, daß sie unter den Definitionsbereich von M fällt. Diese Arbeit ist unabhängig davon, wie weit die Explizierung von Prämissen (in Al) auch betrieben wurde, immer zu leisten (Hubig nennt dies das „Überbrückungsproblem" von Begriffen zu konkreten Entitä-
1 Die Variante, Präferenzen rein deskriptiv zu verstehen (als Beschreibungsweise von äußeren Tätigkeiten), führt erst recht nicht zu einer Ethik, sondern zu einer unüberbrückbaren Sein-Sollens-Kluft. Gerade das, was Präferenzen bzw. ihre Erfüllung ethisch relevant macht, wird durch eine solche Variante offensichtlich ausgeblendet.
112
II. Anwendungsfragen
ten unserer ,Welt'; vgl. Hubig 1993) - ja, eine nennenswerte Konkretisierung von M (zu M') setzt, da diese im Hinblick auf moralisch relevante Probleme geschehen soll, eine im wesentlichen gelungene Situationserfassung bereits voraus. Am Beispiel der Brotverteilung kann dies deutlich gemacht werden, denn warum sollte diese Situation als Brotverteilung beschrieben werden? Das Geben des Brotes könnte ja auch Teil eines Tauschhandels sein, etwa zur Begleichung früherer Schulden dienen, o. ä., kurz: Die Situation kann in vielerlei Hinsicht beschrieben werden, und mit diesen Beschreibungen wechselt die Situation ihren Charakter. Dadurch erscheint dieselbe Tätigkeit als eine veränderte Handlungsweise, und es verändert sich auch ihre moralische Beurteilung unter M'. Aus Sicht einer Prinzipienethik kann daher eine bloße Subsumtion von Fällen unter (noch so präzise) moralische Vorschriften nie wirklich erfolgen, denn es bleibt eine Kluft: die Überbrückung zwischen (wie weit auch immer begrifflich interpretierten) Aussagensystemen und der phänomenalen Welt (die begrifflich unendlich weit bestimmbar ist). Daher kann uns nur die Urteilskraft, in deren Domäne (mit Kant und auch schon mit Aristoteles) die Verknüpfung von Anschauung und Begriff fällt, und nicht der mit Begriffen operierende Verstand hier weiterhelfen. A3:
„Moralnotstand"
Je nach Begründung von M kann es sein, daß die Gültigkeit von M selbst von empirischen Prämissen abhängt (A3a), seien diese in M erwähnt oder nicht. Dann stehen auch alle mit M gewonnenen Aussagen (ζ. B. Normen) unter diesen Vorbehalten. Man könnte dann sagen, daß die entsprechende Ethik selbst nicht anwendbar ist, wenn diese nicht erfüllt sind. Eine andere Sache ist es, wenn M empirische Klauseln enthält, die nicht in der Begründung von M auftreten (A3b). Auch dann stehen die mit M gewonnenen Aussagen unter den Vorbehalten dieser Klauseln. Im Unterschied zu (A3a) würde man nun sagen, daß die Resultate einer Ethik nicht anwendbar sind, wenn diese nicht erfüllt sind. Diese Vorbehalte sind zu unterscheiden von den in A2 erwähnten Situationsspezifizierungen der einzelnen b(X), die nicht (oder nicht ersichtlich) an solchen Klauseln oder Prämissen hängen. Denn im Falle von A2 sind (typischerweise) nur einige der Resultate nicht anwendbar, aber nicht alle (wie bei A3). Empirische Prämissen in A3 definieren den Bezugsbereich einer Ethik, der sich letztlich als ein Passen auf bestimmte Situationstypen verstehen lassen muß. An unserem Beispiel, dem Präferenzutilitarismus, könnten dies sein: die Situation der Moderne (in der nur individuelle Präferenzen zählen), Situationen ausreichender Deutlichkeit und wechselseitiger Anerkennung dieser Präferenzen und ihrer Verrechenbarkeit usw. Soweit sich diese empirischen Prämissen selbst wieder rechtfertigen lassen, kann das im übrigen auch unter Berufung auf ein anderes Moralprinzip geschehen. A4:
„Moralpaternalismus"
Wenn einige Menschen M nicht anerkennen, was durchaus fallweise variieren mag, und dies nicht bereits in Ρ oder M explizit berücksichtigt ist (dann fiele es unter A3), liegt ein viertes Anwendungsproblem vor. Es entsteht häufig dann, wenn einige der Prämissen von M bestritten werden (und nicht, wie bei A3 allseits anerkannt empirisch nicht erfüllt sind) oder wenn der Übergang von Ρ zu M fraglich erscheint, es kann aber auch schlicht in der Nicht-
1. Problemtaxonomie
113
anerkennung von M bestehen. Charakteristisch für das Anwendungsproblem A4 ist ein Dissens: Würde niemand die Gegenpositionen vertreten, gäbe es dieses Problem nicht. Die logisch voneinander unabhängigen Möglichkeiten sind: erstens kann jemand M ablehnen (und sich möglicherweise auf ein anderes Moralprinzip M' berufen), jedoch b(X) zustimmen - es entsteht dann hier kein Anwendungsproblem; zweitens kann jemand ein abweichendes b(X) rechtfertigen (a4a) entweder unter Berufung auf dasselbe M oder auf M' oder auf außermoralische Gründe, und drittens kann jemand auch ohne Begründung b(X) ignorieren (A4b). Hier sind zwei Ethik-Gruppen zu unterscheiden: einerseits solche mit Moralprinzipien, die die Überzeugungen der Betroffenen einbeziehen (Präferenzutilitarismus; Diskursethik), andererseits solche, die das nicht tun (objektiv-idealistische Wertlehren; Theorien „objektiver Bedürfnisse"; rein kontrafaktische Konsenstheorien). Für letztere ist dieses Problem ethik-intern nicht existent (oder nur kontingenterweise existent, wenn es nämlich zu den Moral-Inhalten gehört, und damit auf einfachstufiger Ebene Al zu behandeln ist). Für erstere ist dies dann ein besonderes Problem, wenn sich die Überzeugungen auf M selber richten dürfen (A4a). Betrachten wir unser Beispiel M=Mu, das zur ersteren Gruppe gehört: Zunächst scheint es, als könne es problemlos gelingen, die Ablehnung von Mu als eine Präferenz unter anderen in eine Aggregation zu integrieren. Dabei wird aber gerade unterstellt, daß der Mu Ablehnende auf einer höheren Stufe dann doch Mu zustimmen kann. Aber warum sollte das so sein, wenn er doch im betreffenden Fall bereits auf einer niedrigeren Stufe dieses Prinzip ablehnt? Wenn jemand b(X) bestreiten, aber M anerkennen kann, verweist dies auf ein ungelöstes Al-Problem. Wenn jemand jedoch b(X) unter Verweis auf M-externe Gründe ablehnt, verweist das auf ein Begründungsproblem dieses M. Wenn jemand schließlich auf eine mit b(X) nicht verträgliche Weise handelt, b(X) aber nicht bestreitet, wird dies gewöhnlich als Motivationsproblem oder als Problem der Willensschwäche (akrasia) verhandelt (A4b). Wie aber, wenn jemand über M oder b(X) schlicht uninformiert ist? Dies führt auf ein interessantes, wiederum höherstufiges Anwendungs- oder besser Umsetzungsproblem (A4c). In solchen Ethikkonzeptionen, die die motivationale Dimension völlig vernachlässigen, also nicht zwischen moralkonformem Handeln und Handeln aus moralischen Gründen unterscheiden (wie etwa bestimmten Konsequenzenethiken), kann dies zu extremen Konsequenzen führen: Es kann dann moralisch geboten sein, eine Werbung für die eigene Ethikkonzeption zu unterlassen, falsche Moralvorstellungen bewußt zu verbreiten etc. (Williams 1979). Anderenfalls ist die entsprechende Unterrichtung intrinsisch gefordert, da erst die moralische Einsicht ein Handeln im emphatischen Sinne, d. h. aus moralischen Gründen, möglich macht. In bestimmten Fällen kann es aber auch hier zu Konflikten kommen, in denen es auch aus moralischen Gründen unerlaubt ist (etwa wegen eines anderswo dringlicheren Ressourceneinsatzes), diese Unterrichtung vorzunehmen.
1.3 Problemdifferenzierung: Intermediäre Regeln Je nachdem, welcher Typ philosophischer Ethik vorliegt, müssen die genannten Probleme u. U. weiter differenziert werden. In einer Ethik etwa, deren Moralprinzip sich nicht direkt
114
II. Anwendungsfragen
auf einzelne Handlungen anwenden läßt, sondern über zwischengeschaltete, auf eine Klasse von Situationen {S} bezogene Regeln R (Normen; Maximen; utilitaristische Regeln), ist das Schema zu erweitern: M begründet R-in-{S} und R begründet dann b(H-m-S).' Insgesamt erscheint das Problem Al („angewandte Ethik") dann zweigeteilt (M nach R und R nach b(H)), es zerfallt somit in die Teilprobleme Ala und Alb. Unter Alb fällt nun auch die Möglichkeit der Regelkollision} Noch elaboriertere Ethiken mögen vielleicht zudem mehr als nur eine Ebene von Regeln unterscheiden, die zwischen M und b(X) treten. Das Anwendungsproblem Al zerfallt dann noch weiter. Schließlich kann eine Ethik auch verschiedene Regel-Typen nebeneinander zulassen (etwa: Werte und Normen), also verschiedene Begründungspfade von M zu b(X) mit je unterschiedlichen intermediären Regeltypen. Dann wäre das Problem Al um die Problematik kollidierender Regeltypen zu erweitern. Neben einem jeden M-R-Begründungspfad kann es natürlich auch noch andere Gründe geben, die zu einer anderen Regel R* oder einer anderen Beurteilung b'(H-in-S) fuhren (Ala' bzw. Alb'). Deontologische Ethiken, die Fragen des individuell guten Lebens von einem Kernbereich gemeinsamer Verpflichtungen trennen (Kant; Rawls; Dworkin; Höffe; Habermas), müssen typischerweise divergierende Antworten auf diese Fragen integrieren können; es stellt sich dann als Frage nach dem Verhältnis und der Vereinbarkeit von gutem Leben und Moral. Wo diese „anderen Gründe" einem anderen Moralprinzip entstammen, besteht die Möglichkeit der Kollision von Moralprinzipien (als Ala' oder, wenn indirekt kollidierend, als Alb'). Das bisher betrachtete Moralprinzip M ist ja nicht das einzig existierende, so daß unterschiedliche Prinzipien unterschiedliche Handlungsweisen bzw. Regeln begründen und unter ihnen dieselbe Handlung bzw. Regel unterschiedlich beurteilt wird. Ein bestimmter Ethiktyp wird durch das hier angesetzte Schema nicht erfaßt: Manche Ethiken besitzen Regeln, aber kein Moralprinzip (etwa der moderne Dekalog von B. Gert 1983), manche weder Regeln noch Moralprinzip (etwa narrative Ethiken). Aufgrund des fehlenden Moralprinzips droht den „freischwebenden" Regeln insbesondere dann, wenn auch kein normativer Einheitsfokus erkennbar ist, eine (mehr oder weniger verdeckte) kategoriale Inhomogenität, so daß Regel-Kollisionen nicht sauber formuliert werden können. Meistens jedoch wird implizit doch ein Ordnungsgesichtspunkt angesetzt und es läßt sich formal auch ein Moralprinzip konstruieren, das die Begründunglast tragen helfen kann (etwa der Art, daß die ausgezeichnete Entität - Regeln, Narrationen usw. - überhaupt zur Beurteilung von Handlungssituationen herangezogen und die in ihrem Lichte am plausibelsten erscheinenden Handlungen ausgeführt werden sollen oder sollten. Fassen wir die erweiterte Variante des Schemas zusammen: Ρ begründet M, M begründet R-in-{S} und R begründet b(H-in-S), andere Gründe G, evtl. selbst qua R' und M' gestützt,
1 Regeln verstehe ich hier in einem sehr weiten Sinne: Alles das, was die Beurteilung einer Mehrzahl von Fällen leiten kann, ist eine Regel. Meist gelingt dies zusammen mit anderen Regeln. Normen, Werte, Prinzipien, Kriterien, Begriffe - sind in diesem Sinne Regeln. Intermediäre Regeln sind solche Regeln, die durch ein Moralprinzip gerechtfertigt sind; wir werden weiter unten auch solche Ethiken diskutieren, die ohne Moralprinzip auskommen wollen. 2 Auf einer basaleren Stufe ist jede Ethik von einem strukturgleichen Problem betroffen, denn (1) dem Verhalten in Entscheidungssituationen können verschiedene Handlungen alternativ zugeordnet weiden und (2) das Verhalten kann als kleinere, aufeinanderfolgende Handlungseinheiten interpretiert werden was eben u. U. widersprüchliche ethische Beurteilungen mit sich bringt.
115
1. Problemtaxonomie
begründen dagegen evtl. b'(H'-in-S) tere Regeln R \
P' -empirisch -normativ
Γ >;
M'
und möglicherweise begründet M selbst schon wei-
, ¡" \
r >1
\
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Ii
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M
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b'(H-in-S)
1 |
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/X ^
'' M -empirisch -normativ
, !" \
R
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b(H-in-S)
A2
Alb
Abbildung 2 Schematische Darstellung möglicher Anwendungsprobleme einer Ethik am Beispiel einer Prinzipienethik mit einer intermediären Stufe: Ala betrifft den Übergang von M zu R, Alb den Übergang von R zu b(H-inS), A2 betrifft die Beschreibung von S, A3 das Vorliegen der deskriptiven Prämissen aus Ρ und A4 schließlich die individuelle Anerkennung von P, M, R und b(H-in-S). Β markiert das Begründungsproblem. Die gestrichelten Linien deuten auf mögliche Kollisionen hin, nämlich auf direkte Prinzipienkollisionen (Ala') oder auf Regelkollisionen (Alb').
1.4 Anwendungsfragen speziell in der Diskursethik Im folgenden sollen die genannten Probleme mit Blick auf die Habermassche und die Apelsche Diskursethik präzisiert werden. Die Diskursethik schließt an die alltäglichen Gespräche über moralische Fragen an. In einem gewissen Sinne ist sie also immer schon anwendbar und wird auch angewendet. Allerdings rekonstruiert sie zentrale Gehalte dieser Gesprächspraxis und formuliert sie in einem Moralprinzip. Die Anwendung dieser rekonstruierten Gehalte ist es, worum es im folgenden gehen muß. Al in der Diskursethik Die Diskursethik gibt ein idealisiertes Verfahren an, im Lichte dessen Handlungen moralisch beurteilt werden sollen. Nachdenken („im Geiste vollzogene") und reale Argumentationen stehen dabei in einem Wechselverhältnis und verkörpern gemeinsam die DiskursIdee. Die Frankfurter Diskursethik ist weiterhin eine Normen-Ethik. Von daher untergliedert sich auch hier die Problematik Al in die Normenbegründung (Ala) und die Normenanwendung (Alb). Schließlich trennt sie die normativ-moralische Beurteilungsperspektive
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II. Anwendungsfragen
von anderen Perspektiven, insbesondere von der des je eigenen guten Lebens oder der des eigenen Vorteils. Damit können andere Gründe als die qua Moralprinzip gelieferten neben die moralische Beurteilung treten und mit dieser kollidieren (Ala' bzw. Alb'). Eine Diskursethik ist jedoch nicht in jedem Falle darauf angewiesen, ausschließlich den Einheitsfokus moralischer Normen zu bemühen. Eine allgemeinere Variante wurde soeben vorgestellt (Kettner). Auch Robert Alexy wird, wie wir noch sehen werden, für die Kollision von Normen einen anderen Regeltyp, „Prinzipien" nämlich, zur Entscheidungsfindung bereithalten. In solchen „Nichtstandard-Diskursethiken" tritt dann das ganze Spektrum von möglichen Al-Problemen auf. A2 in der Diskursethik Da die Frankfurter Diskursethik eine Normenethik ist, sind Situationen so zu beschreiben, daß sie einer Beurteilung durch Normen zugänglich sind. Einerseits kann dies die gegenwärtige Situation sein, in der ein Dissens entstanden ist, der den Diskurs eingeleitet hat. Andererseits können dies aber auch vergangene, zukünftige oder hypothetische Situationen sein, die beurteilt oder zur Beurteilung vergleichend hinzugezogen werden. A3 in der Diskursethik Das Moralprinzip M der Frankfurter Diskursethik - also wahlweise >U< wie bei Habermas und Apel, >D< wie bei Ott 1996b und Benhabib 1992 oder beide zusammen wie bei Ott 1997 u. 1998 - beruht auf einer Reihe von Prämissen, die von Ott sorgfaltig herausgestellt wurden. Es sind mehr als von Habermas und Apel ursprünglich benannt (und von Rehg übernommen). Auch von Benhabib und Wingert wurde explizit angegeben, welche Prämissen ihre abgeschwächten Versionen noch enthalten. Als empirische Prämissen aus P, und damit auf A3a führend, können verstanden werden: (1) der Wille zur friedlichen Konfliktlösung (Habermas, Wingert, Erlanger Schule), (2) die Situation der Moderne (Benhabib, Rehg, Ott). Als im Moralprinzip auftretende Klauseln, d. h. als A3b induzierend, kommen in Frage (3) die allgemeine Befolgung, unter deren Annahme eine Norm beurteilt wird, und (4) die allgemeine Zustimmung (soweit nicht als Irrealis zu verstehen). Die Diskursethik lebt vom Spannungsverhältnis zwischen wirklich vollzogener und nur vorgestellter Argumentation. Weitere wichtige empirische Prämissen dafür, das Moralprinzip zum Einsatz bringen zu können, liegen daher in subjektiven und objektiven Voraussetzungen des Kontinuums, das sich zwischen diesen beiden Polen auftut: Mit fehlenden objektiven Voraussetzungen soll gemeint sein, daß keine Handlungsoptionen bestehen, die Begründungsbasis zu verbessern (durch wirkliche Diskussion oder - im Extremfall - auch nur durch längeres Nachdenken) - bis hin zu Zwangs- oder Affektsituationen, in denen von einer Handlung kaum noch gesprochen werden kann. Mit fehlenden subjektiven Voraussetzungen meine ich, daß (z. B. sozialisationsbedingt) notwendige Kompetenzen fehlen, Argumente entwickeln oder auch nur verstehen zu können. So gesehen sind subjektive Voraussetzungen erforderlich, damit objektive Voraussetzungen genutzt werden können.
2. Anwendungsprobleme aus Sicht von Habermas
117
A4 in der Diskursethik Kandidaten für A4 sind zunächst die Prämissen aus A3, soweit sie umstritten sind. Die Prämisse (1) aus A3 bezieht sich jedoch bereits auf Überzeugungen. Sie ist daher so zu verstehen, daß es bereits genügt, wenn irgendeine Person, damit meine ich auch einen „Unbeteiligten", einen solchen Willen hat, damit nicht mehr Problem A3, sondern A4 gegeben ist. Weitere Möglichkeiten sind, daß Bestandteile einer Urteilskette umstritten sind: die Formulierung des Moralprinzips, einzelne Normen, ihre Anwendung auf Situationen und das Verständnis von Situationen selbst. Wer Diskursergebnisse auf diese Weise bestreitet (A4a), mit dem wird anders umzugehen sein als mit jemandem, der diese ignoriert (A4b) oder noch gar nicht kennt (A4c). Da der Fall der Ignoranz gültiger Normen im Moralprinzip der Diskursethik explizit vorgesehen ist, fallt A4b mit A3b, Nummer 3, zusammen. Beginnen wir jetzt - nach diesem kurzen Versuch, den Möglichkeitsraum zu erschließen mit der Betrachtung dessen, was in den diskursethischen Literaturpositionen selbst an Anwendungsüberlegungen zu finden ist. In der universalpragmatischen Tradition werden Normen als eher allgemeine und abstrakte Sollsätze aufgefaßt und wird demzufolge stärker auf die Anwendungsproblematik Al und damit teilweise auch auf A2 fokussiert (Habermas; Günther; Ott). In der transzendentalpragmatischen Diskussionslinie werden dagegen stärker die „Ausnahmesituationen" der Anwendungsprobleme A3 und A4 thematisch (Apel; Böhler; Niquet). In dieser Arbeit sollen die einzelnen Beiträge aber nicht nach diesen Traditionen geordnet präsentiert werden sondern so, daß sich eine inhaltlich fortschreitende, zunehmend fokussierte Problemdarstellung ergibt. Ich beginne zunächst mit Habermas, der in seinen Texten das breiteste Spektrum von Anwendungsproblemen berührt.
2. Anwendungsprobleme aus Sicht von Habermas Habermas' Wahrnehmung von Anwendungsproblemen ist vom über die Jahre modifizierten Status der Diskursethik als ganzer nicht unbeeinflußt geblieben (vgl. das erste Kapitel): Die Frühphase ist geprägt durch einen umfassenden Anspruch der Diskurstheorie (die Bezeichnung Diskursethik fehlt noch) auf praktische Richtigkeit, in der mittleren Phase wird dann die Diskursethik explizit entwickelt und im engeren Sinne auf Fragen der Gerechtigkeit eingeschränkt, d. h. von Fragen nach dem guten Leben unterschieden. In der Spätphase werden diesen beiden noch die Fragen nach der effizienten Mittelwahl (auch: pragmatische Fragen) beiseitegestellt; alle drei Fragetypen seien diskursfähig, allerdings nicht in denselben Typen von Diskursen. Habermas entwickelt seine Anwendungskonzeption explizit erst in der mittleren Phase, in Auseinandersetzung mit Hegels Kritik an Kants Moralphilosophie - die Diskursethik versteht sich ja als in der Kantischen Tradition stehend. Er hat dort, grob gesagt, zuerst zusammen mit der Entwicklung des diskursethischen Begründungsprogramms eine Schematisierung angedeutet, dann besonders das Moral-Ethik-Verhältnis neu geordnet und schließlich
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II. Anwendungsfragen
eine leicht veränderte zweite Schematisierung vorgelegt. Das Verhältnis von Fragen des guten Lebens zu denen der Moral ist für die Konzeption der Anwendungsproblematik von zentraler Bedeutung. „Ethische" Fragen, das ist Habermas' Bezeichnung für solche des guten Lebens (vgl. S. 22, Fußnote 2), dienen ihm nämlich als Kontrastfolie, die bestimmte Eigenschaften (und Probleme) der modernen Moral deutlich werden lassen und die dem Diskurs (zunächst) gerade dadurch entzogen bleiben sollten. Ich versuche nachzuzeichnen, wie Habermas dann über die Jahre hinweg zur Diskursfähigkeit „ethischer" Fragen vorstößt. Diese Revision ist mit einer veränderten Darstellung des Anwendungsproblems insoweit verknüpft, als der Moral - im Vergleich zur „Ethik" - spezifische Abstraktionsleistungen zugeschrieben werden: Vom Kontext, von Motiven der gelebten Sittlichkeit. Diese Leistungen müßten nämlich im Zuge der Moral-Anwendung wieder rückgängig gemacht werden. Was das genau heißt, und inwiefern dies gelingen können soll, wird im folgenden näher ausgeführt. Habermas dringt im Laufe der Zeit zu einer Konzeption vor, in der moralische Nonnen als hochgradig generelle und nur für ideale Verhältnisse gerechtfertigte Sollsätze verstanden werden. Die aus dieser metaethischen Wahl resultierenden Anwendungsprobleme stehen in den neunziger Jahren dann im Zentrum der Untersuchungen von Habermas und seinen Schülern. In dieser Spätphase findet eine Aufwertung „ethischer" Probleme unter einem eigenen Geltungsanspruch statt. Anwendungsprobleme der Moral lassen sich nicht mehr schematisch gegenüberstellen, sondern werden auf eine bestimmte Art kanonisiert: Seit dieser Zeit findet sich der regelmäßige Verweis auf Anwendungsdiskurse sowie auf die eventuelle Unzumutbarkeit moralischer Idealnormen, deren allgemeine Befolgung nicht unterstellt werden kann. Unter ebenso regelmäßigem Verweis auf die entsprechenden Aibeiten von Klaus Günther bzw. Marcel Niquet werden die eigenen Überlegungen nicht mehr weitergetrieben.
2.1 Siebziger Jahre: Keine explizite Diskursethik Eine spezifische Oiskursethik war in der Frühphase noch nicht entwickelt. Die Diskurstheorie sollte bekanntlich dazu dienen, die kritischen Ambitionen der älteren kritischen Theorie (Horkheimer/Adorno) auf eine methodisch weniger angreifbare Basis zu stellen. Eine Anwendung der Diskurstheorie dürfte daher wesentlich auf zwei Feldern intendiert gewesen sein: Einerseits sollte damit die empirische Sozialforschung anzuleiten sein, als empirische Wissenschaft nicht einem positivistischen Wissenschaftsverständnis verfallen zu müssen, sondern gemäß einem kritisch-emanzipatorischen forschungsleitenden Interesse tätig zu werden. Andererseits sollten sich auch konkrete Politiken an dem in Habermas' Philosophie formulierten Ideal orientieren und unverzerrte Kommunikationsverhältnisse sichern bzw. herstellen helfen, über die sich lebensweltliche Zusammenhänge reproduzieren. In dieser Frühphase der siebziger Jahre sollte dieses Ideal in einer umfassenden Art und Weise die gesellschaftliche Wirklichkeit betreffen; es schien eine Art schwacher Teleologie vorgelegen zu haben, nach Möglichkeit Verhältnissen sich anzunähern, in denen nicht nur alle Konflikte diskursiv gelöst werden können, sondern sich (qua ungehinderten konstativen, expressiven und regulativen Sprechakten) die „Ideen der Wahrheit, der Freiheit und der
2. Anwendungsprobleme aus Sicht von Habermas
119
Gerechtigkeit" gemeinsam verwirklichen würden (Habermas 1971a: 139). Die in der Diskurstheorie herausgestellten konstitutiven Unterstellungen kommunikativen Handelns, der „unvermeidliche Vorgriff auf die ideale Sprechsituation" (140), wurden als „Vorschein einer Lebensform" (141) verstanden. Habermas sprach damals von der ,,formale[n] Vorwegnahme des idealisierten Gesprächs (als einer in Zukunft zu realisierenden Lebensform?)" (140). Deren Realisierung würde, wie Habermas wohl sieht, eine gravierende Veränderung unserer jetzigen Lebensform mit sich bringen. Doch ich habe dies als „schwache Teleologie" bezeichnet insofern, als daß sich nach Habermas erst noch herausstellen muß, ob und wenn ja, mit welchen Mitteln das Ziel erreicht und die „ideale Lebensform" (139) verwirklicht werden kann: „Apriori können wir freilich nicht wissen, ob jener Vorschein eine bloße, wie immer aus unvermeidlichen Suppositionen stammende Vorspiegelung (Subreption) ist - oder ob die empirischen Bedingungen fur die, sei es auch annähernde, Verwirklichung der supponierten Lebensform praktisch herbeigeführt werden können." (1971a: 141)
In Habermas' späteren Schriften ist der utopische Gehalt, der dieser Teleologie noch innewohnte, mehr und mehr unsichtbar geworden. Spätestens mit dem Erscheinen der Theorie des kommunikativen Handelns, d. h. mit der umfassenden Ausarbeitung seiner Gesellschaftstheorie (1981), wurden gesellschaftliche Systeme des Marktes und der Verwaltung (mit ihren Medien Geld bzw. Macht) nicht mehr nur als Bedrohung der Lebenswelt, sondern als legitimer Teil ihrer Rationalisierung begriffen. Von nun an galt es, Übergriffe der systemischen Steuerung auf Bereiche zu verhindern, die (weiterhin) über kommunikatives Handeln integriert werden sollen. Lebenswelt und System stehen in einem prekären Wechselverhältnis, das jederzeit in eine „Kolonialisierung der Lebenswelt" umschlagen kann. Es bleibt eine negative Orientierung auf die Verteidigung kommunikativer Kernbereiche der Gesellschaft, wobei diese Kommunikation durchaus gesellschaftsweit zirkulieren sollte (die Massenmedien sind, zumindest nach dem Habermas der frühen achtziger Jahre, immun gegen eine Einverleibung durch die genannten Systeme). Die Diskursethik wurde hiervon abgespalten und besitzt fortan als eigene Theorie auch eigene Anwendungsprobleme. In den neunziger Jahren, seit Fakttität und Geltung (1992), wird die Diskursidee dann stärker dem institutionellen politischen Prozeß zugrunde gelegt, als nämlich die konstitutionelle Demokratie in ihrem institutionellen Kerngehalt als Prozeß der per Verfassung geschützten dauernden Selbstverständigung über normative Grundsatzfragen verstanden werden kann. Anwendungsfragen stellen sich damit insofern neu, als das Verhältnis der Diskursidee zu Moral, Demokratie und Recht nun in den Vordergrund tritt und auch andere Interaktionsformen als der Diskurs (etwa: Verhandlungen) normativ betrachtet jetzt zu ihrem Recht kommen: Anwendungsfragen betreffen nunmehr vorrangig die Rechtfertigung von Institutionendesigns und institutionellen Verfahren. Ich werde mich im folgenden darauf konzentrieren, diejenigen Anwendungsprobleme zu untersuchen, die explizit im Zusammenhang mit der Diskursethik, d. h. seit den achtziger Jahren, angesprochen worden sind.
120
II. Anwendungsfragen
2.2 Achtziger Jahre: Hegels Kantkritik In Habermas' Aufsatz „Diskursethik. Notizen zu einem Begründungsprogramm" (1983a), seiner Ausarbeitung einer expliziten Diskurscí/κ'Λ, wird das Moralprinzip wird expliziert als universalistische Prüfinstanz, nämlich als Argumentationsregel, die in realen Diskursen jeweils fraglich gewordene Normen, genauer: moralische Normen, in legitimer Geltung halten kann. Der Geltungsanspruch der normativen Richtigkeit wird (in Abgrenzung zu Fragen des guten Lebens) klarer gefaßt, über die von Apel übernommene Argumentationsfigur des performativen Selbstwiderspruchs wird eine Begründungsargumentation entwickelt. Mit dieser Ausarbeitung geht auch eine Ausdifferenzierung der Anwendungsfragen einher. Unter der Überschrift des „Formalismus" (später auch unter anderen) stellt sich Habermas der Kluft zwischen „Moralität und Sittlichkeit", zwischen der Sphäre der diskursethisch gerechtfertigten moralischen Sollsätze und dem eingewöhnten, gelebten Ethos einer konkreten Lebensform, die jede normative Theorie aufwirft. Die Anwendungsprobleme der Diskursethik werden neben der erwähnten Publikation auch noch in zwei weiteren Aufsätzen auf ähnliche, aber nicht identische Weise entfaltet. In den folgenden drei Abschnitten, die diese Entfaltung nachzeichnen, soll etwas ausführlicher zitiert werden. 2.2.1
Der Formalismus-Einwand
(1983)
Gegen Ende seines Begründungsprogramm-Aufsatzes behandelt Habermas den aus Hegels Kant-Kritik bekannten „Formalismus-Einwand" (1983a: 112-119). Wie schon der ganze Aufsatz (1983a) ist auch dieser Teil als Auseinandersetzung mit einem vorgestellten Skeptiker gestaltet, der hier nun - als letzte Gegenwehr, nachdem er den einzelnen Schritten des Begründungsprogramms keine Einwände mehr entgegensetzen kann - in vier Runden „den Sinn einer solchen formalistischen Ethik selbst in Zweifel" zieht (112). Erste Runde Habermas läutet die erste der vier letzten Runden mit dem Skeptiker in (1983a) folgendermaßen ein: „Der diskursethische Grundsatz nimmt auf eine Prozedur, nämlich die diskursive Einlösung von normativen Geltungsansprüchen Bezug; insofern läßt sich die Diskursethik mit Recht als formal kennzeichnen. Sie gibt keine inhaltlichen Orientierungen an, sondern ein Verfahren: den praktischen Diskurs. Dieser ist freilich ein Verfahren nicht zur Erzeugung von gerechtfertigten Normen, sondern zur Prüfung der Gültigkeit vorgeschlagener und hypothetisch erwogener Normen. Praktische Diskurse müssen sich ihre Inhalte geben lassen. Ohne den Horizont der Lebenswelt einer bestimmten sozialen Gruppe, und ohne Handlungskonflikte in einer bestimmten Situation, in der die Beteiligten die konsensuelle Regelung einer strittigen gesellschaftlichen Materie als ihre Aufgabe betrachteten, wäre es witzlos, einen praktischen Diskurs führen zu wollen. Die konkrete Ausgangslage eines gestörten normativen Einverständnisses, auf die sich praktische Diskurse jeweils als Antezedens beziehen, determiniert Gegenstände und Probleme, die zur Verhandlung .anstehen'. Formal ist mithin diese Prozedur nicht im Sinne der Abstraktion von Inhalten. In seiner Offenheit ist der Diskurs gerade darauf angewiesen, daß die kontingenten Inhalte in ihn .eingegeben' werden.
2. Anwendungsprobleme aus Sicht von Habermas
121
Freilich werden diese Inhalte im Diskurs so bearbeitet, daß partikulare Wertgesichtspunkte als nicht konsensfähig am Ende herausfallen." (113)
In dieser ersten Runde wird gegenüber dem Skeptiker, der die Inhaltsleere des Moralprinzips bemängelt, der prozedurale Charakter der Diskursethik ausdrücklich betont: Praktische Diskurse seien bloße Verfahren; Inhalte - die lebensweltlich bereits vorliegen - müssen in es eingegeben werden; insofern also eine formale Ethikkonzeption. Zweite Runde In einer zweiten Runde stellt Habermas ein nächstes Merkmal des ethischen Formalismus heraus, die Abtrennung von Fragen des guten Lebens: ,,[D]er Universalisierungsgrundsatz funktioniert wie ein Messer, das einen Schnitt legt zwischen ,das Gute' und ,das Gerechte', zwischen evaluative und streng normative Aussagen. Kulturelle Werte fuhren zwar einen Anspruch auf intersubjektive Geltung mit sich, aber sie sind so sehr mit der Totalität einer besonderen Lebensform verwoben, daß sie nicht von Haus aus normative Geltung im strikten Sinne beanspruchen können - sie kandidieren allenfalls fur eine Verkörperung in Normen, die ein allgemeines Interesse zum Zuge bringen sollen." (113f.)
Eine solche Unterscheidung kann also nicht vordiskursiv getroffen werden, sondern ist im Ergebnis von Diskursen wiederzufinden. Erforderlich ist in praktischen Diskursen eine „hypothetische Einstellung" zu „Normen und Normensystemen, die aus der Gesamtheit des Lebenszusammenhangs herausgehoben werden" (1983a: 114). Ein weiteres Anwendungsproblem auf der Eingangsseite von Diskursen deutet sich dadurch, daß eine bestimmte Distanzierung vonnöten ist, bereits an (dazu später mehr). In „ethischen" Fragen, i. e. denen des guten Lebens, - Habermas ordnet ihnen die Evaluationen zu - sei eine solche Distanzierung hingegen nicht möglich, da dort im Kern Identitätsfragen berührt seien (denen eine Distanzierung die Substanz rauben würde). „Vergesellschaftete Individuen können sich nicht zu der Lebensform oder zu der Lebensgeschichte, in der sich ihre eigene Identität gebildet hat, hypothetisch verhalten." (114)
Dennoch müssen nun (anders als in der frühen Konzeption, wo der praktische Diskurs auch Werte umfassen durfte) moralische Forderungen mit Überlegungen zum (je eigenen) guten Leben in Einklang gebracht werden - ebenfalls ein Anwendungsproblem, das aus konzeptionellen Gründen bereits angelegt, von Habermas aber (noch) nicht ausgeführt wird. Dritte Runde Zwei weitere Anwendungsprobleme sind in der nun folgenden Passage konfundiert, in der Habermas den Hegel-inspirierten Kritiker den nunmehr dritten Anlauf nehmen läßt: „Weiterhin bleibt aber der hermeneutische Zweifel bestehen, ob nicht dem diskursethischen Verfahren der Normenbegründung eine überschwengliche, in den praktischen Auswirkungen sogar gefährliche Idee zugrunde liegt. Mit dem diskursethischen Grundsatz verhält es sich wie mit anderen Prinzipien: er kann nicht die Probleme der eigenen Anwendung regeln. Die Anwendung von Regeln verlangt eine praktische Klugheit, die der diskursethisch ausgelegten praktischen Vernunft vorgeordnet ist, jedenfalls nicht ihrerseits Diskursregeln untersteht. Dann kann aber der diskurs-
122
II. Anwendungsfragen
ethische Grandsatz nur unter Inanspruchnahme eines Vermögens wirksam werden, welches ihn an die lokalen Ubereinkünfte der hermeneutischen Ausgangssituation bindet und in die Provinzialität eines bestimmten geschichtlichen Horizonts zurückholt." (114; Herv. i. Orig.)
Habermas kontert diesen Vorhalt durch einen Verweis auf die Teilnehmerperspektive. Dabei verschiebt er allerdings die Problemstellung von der Anwendung des „diskursethischen Grundsatzes" >DDD< gerechtfertigten Normen ohne Verlust des universalistischen Geltungssinns, aber auch ohne Verlust an applikativer Bestimmtheit sich vollziehen sehen. Auf beiden Anwendungsebenen gilt: Die „Selbstkorrektur" der Anwendung des Prinzips bzw. der Norm wird möglich durch die Kollision eines selektiven oder parteilichen Anwendungsversuchs mit dem Sinn (der Intension?) des Prinzips bzw. der Normen. Das ist eine sehr vage Metapher. Lernprozesse gehen in diesem Modell nur in eine Richtung: Korrigiert wird die Anwendung im Lichte der (erfolgreichen) Begründung. Die Gegenbewegung, daß also über ein Unbehagen in der Anwendung die Begründungsfrage neu gestellt wird, ist nicht vorgesehen. Vielleicht ist dies aber auch schon zu weit gedacht, und es geht Habermas wirklich nur darum, daß der Gegenstandsbereich der Personenvariablen der Norm nicht willkürlich, d. h. anders als in der Norm explizit formuliert, eingeengt wird (Selektivität).
2. Anwendungsprobleme aus Sicht von Habermas
123
Vierte Runde In den darauffolgenden Absätzen, der vierten Runde in der Auseinandersetzung mit dem Skeptiker, kommen hingegen die echten „Beschränkungen, die gegenüber einem fundamentalistischen Selbstverständnis in Erinnerung gebracht werden müssen", zur Sprache (115). Jeder dieser Beschränkungen korrespondiert ein Anwendungsproblem: Da wäre zunächst die im ersten Kapitel bereits erwähnte Verschränkung von praktischen Diskursen mit den (nicht diskursfähigen) Argumentationsformen der ästhetischen und therapeutischen Kritik: Erstens behalten praktische Diskurse, in denen auch die angemessene Interpretation von Bedürfnissen zur Sprache kommen muß, einen internen Zusammenhang mit der ästhetischen Kritik auf der einen, der therapeutischen Kritik auf der anderen Seite; und diese beiden Formen der Argumentation stehen nicht unter der Prämisse strenger Diskurse, daß grundsätzlich immer ein rational motiviertes Einverständnis müßte erzielt werden können, wobei ,grundsätzlich' den idealisierenden Vorbehalt meint: wenn die Argumentation nur offen genug geführt und lange genug fortgesetzt werden könnte. Wenn aber die verschiedenen Formen der Argumentation letztlich ein System bilden und nicht gegeneinander isoliert werden können, belastet eine Verknüpfung mit den weniger strengen Formen der Argumentation auch den strengeren Anspruch des praktischen (auch des theoretischen und des explikativen) Diskurses mit einer Hypothek, die der geschichtlich-gesellschaftlichen Situierung der Vernunft entstammt." (115)
Der Einbezug dieser Fragen, wenn sie denn wirklich nicht konsensfahig sein können, stellt ein u. U. erhebliches Anwendungsproblem dar. Wo diese Problematik im Vordergrund steht, ob etwa in Ala oder in Alb (oder auch in A2), wird von Habermas offengelassen. Noch stärker wäre aber die Begründungsseite getroffen: Denn wenn wir in praktischen Fragen tatsächlich nicht mehr unterstellen dürften, daß eine richtige Lösung existiert, würde die entscheidende Unterstellung der Diskurstheorie hinfallig, nämlich daß „grundsätzlich immer ein rational motiviertes Einverständnis müßte erzielt werden können, wobei .grundsätzlich' den idealisierenden Vorbehalt meint: wenn die Argumentation nur offen genug geführt und lange genug fortgesetzt werden könnte". Aber was dann? „Zweitens können praktische nicht in gleichem Maße wie theoretische und explikative Diskurse vom Druck der gesellschaftlichen Konflikte entlastet werden. Sie sind weniger .handlungsentlastet', weil mit strittigen Nonnen das Gleichgewicht intersubjektiver Anerkennungsverhältnisse berührt wird. Der Streit um Normen bleibt, auch wenn er mit diskursiven Mitteln gefuhrt wird, im .Kampf um Anerkennung' verwurzelt." (115f.)
Inwiefern dies ein Anwendungsproblem darstellen könnte, läßt Habermas offen. Wenn praktische Diskurse prinzipiell nicht handlungsentlastet werden können, ließe sich dieses Faktum nur konstatieren; ein echter Diskurs unter Normbetroffenen wäre dadurch aber unmöglich, denn stets würden auch Anteile strategischen („kämpferischen") Verhaltens zu erwarten sein. Der Begriff der Anerkennung schiebt dabei immerhin bestimmten Auswüchsen einen Riegel vor (etwa, unter Vorspiegelung falscher Tatsachen materielle Zugeständnisse zu erwirken).1 Eine vollständige Handlungsentlastung ist in einem Diskurs über Handlungsnonnen tatsächlich nie zu haben - aber ist dies schon die gesamte Pointe?
1 Zum Kampf um Anerkennung vgl. Honneth (1992), kritisch gegenüber der Rede von einem Kampf um Anerkennung jedoch u. a. Luckner 1995.
124
II. Anwendungsfragen
Wenn hingegen eine Handlungsentlastung im Prinzip möglich wäre, die Diskursteilnehmer sich dazu nur nicht durchringen wollen, geht dieses Problem in das nun folgende Problem über: Ein drittes, echtes Anwendungsproblem ergibt sich nämlich dann, wenn andere nicht bereit sind, praktische Diskurse auch zu führen, oder wenn sie nicht bereit sind, sich nach diskursiven Einsichten auch wirklich zu richten. Die Situation, reale Diskurse nicht führen zu können, sondern das Handeln an idealen Konsensen ausrichten, also auf eine zukünftige Zustimmung spekulieren zu müssen, führt in paternalistische Aporien: „Drittens gleichen praktische Diskurse, wie alle Argumentationen, den von Überschwemmung bedrohten Inseln im Meer einer Praxis, in dem das Muster der konsensuellen Beilegung von Handlungskonflikten keineswegs dominiert. Die Mittel der Verständigung werden durch Instrumente der Gewalt immer wieder verdrängt. So muß sich ein Handeln, das sich an ethischen Grundsätzen orientiert, mit Imperativen ins Benehmen setzen, die sich aus strategischen Zwängen ergeben. Das Problem einer Verantwortungsethik, die die zeitliche Dimension berücksichtigt, ist im Grundsätzlichen trivial, da sich der Diskursethik selbst die verantwortungsethischen Gesichtspunkte für eine zukunftsorientierte Beurteilung der Nebenfolgen kollektiven Handelns entnehmen lassen. Andererseits ergeben sich aus diesem Problem Fragen einer politischen Ethik, die es mit den Aporien einer auf Ziele der Emanzipation gerichteten Praxis zu tun hat und jene Themen auf nehmen muß, die einmal in der Manschen Revolutionstheorie ihren Ort gehabt haben." (116)
In dieser Passage gibt es eine interessante Doppelung, die erst im folgenden differenziert werden wird: einerseits gibt es das Problem einer Verantwortungsethik, das eine Berücksichtigung des strategischen Verhaltens anderer Menschen im moralischen Diskurs selbst betrifft; andererseits gibt es das Problem einer politischen Ethik, die sich der Situation stellen muß, daß - aus welchen Gründen auch immer - Diskurse nicht geführt werden können. Bevor wir untersuchen, welche Erläuterungen Habermas für den systematischen Zusammenhang dieser Probleme gibt, sollen die bisher erwähnten Anwendungsprobleme noch einmal zusammengestellt werden (in Tabelle 3 auf der folgenden Seite). Nicht alle dieser Probleme sind genuine Anwendungsprobleme. Insbesondere (4a) und (4b) reichen weiter, sie gefährden die gesamte diskursethische Konzeption. Speziell (4c) scheint für Habermas die Konsequenz zu haben, daß eine Diskursethik ihren Bezugsbereich verliert. Die anderen Probleme, die Anwendungsprobleme im engeren Sinne, hält Habermas anscheinend für ausreichend gut lösbar, jedenfalls nicht für echte Beschränkungen.
Hintergrund: Abstraktionsleistungen der Moral Nach der Durchsicht von Einzelproblemen kommt Habermas noch einmal auf ihre gemeinsame Wurzel zu sprechen, die Abstraktionsleistungen universalistischer Moralen, und versucht so, einen vereinheitlichenden Hintergrund dieser Probleme auszumachen, den ich zunächst einmal am Stück darstellen will: „In dieser Art von Beschränkungen, denen praktische Diskurse stets unterliegen, bringt sich die Macht der Geschichte gegenüber den transzendierenden Ansprüchen und Interessen der Vernunft zur Geltung. Der Skeptiker neigt freilich dazu, diese Schranken zu dramatisieren. Der Kern des Problems besteht einfach darin, daß moralische Urteile, die auf dekontextualisierte Fragen demotivierte Antworten geben, nach einem Ausgleich verlangen. Man muß sich nur die Abstraktions-
2. Anwendungsprobleme aus Sicht von Habermas
125
leistungen klarmachen, denen universalistische Moralen ihre Überlegenheit über alle konventionellen Moralen verdanken, dann erscheint das alte Problem des Verhältnisses von Moralität und Sittlichkeit in einem trivialen Licht." (116; Herv. i. Orig.)
Im Diskurs werden Geltungsansprüche nämlich hypothetisch erwogen, und zwar beim Sein genauso wie beim Sollen: „Was bis dahin als Tatsache oder Norm fraglos gegolten hatte, kann nun der Fall oder auch nicht der Fall, gültig oder ungültig sein." (117) Wie die
Runden
1983
I
Eingabe vorgefundener Inhalte
2
(a) Hypothetische Einstellung zu Normen, speziell (b) im Zuge der Trennung „ethischer" und moralischer Fragen (a) Praktische Klugheit bei der Prinzipien- bzw.
3
(b) bei der Normenanwendung 4
(a) Verschränkung praktischer Fragen mit ästhetischer und therapeutischer Kritik (b) Mangelnde Handlungsentlastung wg. Verklammerung von Norm und Anerkennung (c) Politische Ethik in gewalttätiger Welt
Gemeinsamer Hintergrund dieser Probleme ist die Abstraktion von Kontexten (des Guten) und Motiven. Tabelle 3 Mögliche Generalkritik an der Diskursethik trotz gelungener Begründung; nach Habermas (1983). Die Probleme 3 (a) und (b) werden dort allerdings nicht unterschieden.
Wissenschaft für die deskriptiven, so habe sich auch die Moralität für die normativen Fragen als eigenständige „Wertsphäre" (Weber) ausdifferenziert. „Die lebensweltliche Fusion von Gültigkeit und sozialer Geltung hat sich aufgelöst. Gleichzeitig ist die Praxis des Alltags in Nonnen und Werte auseinandergetreten, also in den Bestandteil des Praktischen, der den Forderungen streng moralischer Rechtfertigung unterworfen werden kann, und in einen anderen, nicht moralisierungsfahigen Bestandteil, der die besonderen, zu individuellen oder kollektiven Lebensweisen integrierten Wertorientierungen umfaßt." (118)
Gerade die (universalistische) Isolierung von Fragen der Moral gegenüber solchen des guten Lebens, „die einer rationalen Erörterung nur innerhalb des unproblematischen Horizonts einer geschichtlich konkreten Lebensform oder einer individuellen Lebensführung zugänglich sind", bedeute also einen „Rationalitätsgewinn", führe andererseits aber auch auf die „Folgeprobleme einer Vermittlung von Moralität und Sittlichkeit" (118). Antworten auf
126
II. Anwendungsfhigen
Fragen des guten Lebens, eingeführt quasi als Residuen des moralischen Diskurses, bleiben hingegen der je kontingenten Sittlichkeit verhaftet: „Innerhalb des Horizonts einer Lebenswelt entlehnen praktische Urteile sowohl die Konkretheit wie die handlungsmotivierende Kraft einer internen Verbindung mit den fraglos gültigen Ideen des guten Lebens, mit der institutionalisierten Sittlichkeit überhaupt. Keine Problematisierung kann, in diesem Umkreis, so tief reichen, daß sie die Vorzüge der existierenden Sittlichkeit verspielen würde. Genau das tritt ein mit jenen Abstraktionsleistungen, die der moralische Gesichtspunkt fordert. Deswegen spricht Kohlberg vom Übergang zur postkonventionellen Stufe des moralischen Bewußtseins. Auf dieser Stufe löst sich das moralische Urteil von den lokalen Übereinkünften und der historischen Färbung einer partikularen Lebensform; es kann sich nicht länger auf die Geltung eines lebensweltlichen Kontextes berufen. Und moralische Antworten behalten nur mehr die rational motivierende Kraft von Einsichten zurück; sie verlieren mit den fraglosen Evidenzen eines lebensweltlichen Hintergrundes die Schubkraft empirisch wirksamer Motive." (118f.; Herv. i. Orig.)
Fragen des guten Lebens scheinen sich also, im strikten Gegensatz zu moralischen Fragen, stets im Horizont eines (notwendigerweise) unhinterfragten lebensweltlichen Kontextes zu stellen. Die Antworten auf Fragen des guten Lebens, so muß man Habermas wohl verstehen, können zur je konkreten Sittlichkeit auch nicht in Opposition stehen. Moralische Einsichten müssen demgegenüber erst in einen lebensweltlichen Kontext zurückgeholt werden, damit sie praktisch wirksam werden können: „Jede universalistische Moral muß diese Einbußen an konkreter Sittlichkeit, die sie um des kognitiven Vorteils willen zunächst in Kauf nimmt, wettmachen, um praktisch wirksam zu werden. Universalistische Moralen sind auf Lebensformen angewiesen, die ihrerseits soweit .rationalisiert' sind, daß sie die kluge Applikation allgemeiner moralischer Einsichten ermöglichen und Motivationen für die Umsetzung von Einsichten in moralisches Handeln fordern. Allein Lebensformen, die in diesem Sinne universalistischen Moralen .entgegenkommen', erfüllen notwendige Bedingungen dafür, daß die Abstraktionsleistungen der Dekontextualisierung und der Demotivierung auch wieder rückgängig gemacht werden können." (119)
Bevor wir diese Problematik (im nächsten Abschnitt) weiter zu verfolgen haben, sollen die im letzten Abschnitt erwähnten Anwendungsprobleme in den hier anvisierten Gesamtzusammenhang eingeordnet werden: Wenn die eingangs bereits erwähnten Abstraktionen" der gemeinsame Hintergrund für alle Anwendungsprobleme sind, müssen sie intern mit einer Dekontextualisierung oder einer Demotivierung verbunden sein. Praktische Diskurse erfordern, gewissermaßen auf der Eingangsseite, eine hypothetische Einstellung zu Normen (2a) - die Dekontextualisierung. Werte werden dabei in Normvorschläge übersetzt (2b): eine Folge der Hypothetisierung, wie auch der Prozeduralismus (1), da ja alle Inhalte unter Geltungsvorbehalt stehen. Bei der Anwendung von >D< und von durch >D< gerechtfertigten Normen (3a bzw. 3b) muß die Dekontextualisierung rückgängig gemacht werden. Auch die Verschränkung praktischer Diskurse mit ästhetischer und therapeutischer Kritik (4a) kann bei der De- oder der Rekontextualisierung problematisch werden. Die Rekontextualisierung fordert, als Folge von (2b), eine Vereinbarung von moralischer und „ethischer" Perspektive, die bei negativem Ergebnis ein Motivationsproblem mit sich bringt. Würden moralische Diskurse keine Demotivierung mit sich bringen, wäre weder eine mangelnde Handlungsentlastung zu erwarten (4b) noch eine gewalttätige Welt (4c).
127
2. Anwendungsprobleme aus Sicht von Habermas
Eine allgemeine Betrachtung vorweg: Habermas erläutert zwar Formalität über Abstraktheit, .formal' ist aber nicht dasselbe wie .abstrakt'. Während eine formale Moraltheorie nur die Form (und nicht die Inhalte) gültiger Normen bestimmt (eben die Rechtfertigbarkeit im Diskurs), bestehen Abstraktionsleistungen einer solchen Theorie in einem Absehen von bestimmten Merkmalen zugunsten von anderen. Abstraktionen können alle Inhalte zugunsten der bloßen Form ausblenden, müssen dies aber nicht. Weiterhin ist nicht klar, wie Dekontextualisierung und Demotivierung zusammenhängen: Ist das eine die Folge des anderen, oder sind es zwei Seiten derselben (welcher?) Medaille? 2.2.2
Dekontextualisierung
und Demotivierung
(1984)
Bevor wir diesen Zusammenhang näher untersuchen, soll anhand eines 1982 gehaltenen und 1984 veröffentlichten Vortrage (wieder abgedruckt in Habermas 1991c) die Problematik Dekontextualisierung und die Demotivierung näher untersucht werden. Auch dieser Vortrag dreht sich nicht um die Begründung der Diskursethik, sondern stellt sich - anhand der auf der Hegel-Linie von Rüdiger Bubner vorgebrachten Moralitäts-Kritik - der Frage: „was wir mit einer solchen Position gewonnen hätten, wenn sie sich begründen ließe" (1991c: 33). Er ist streckenweise textidentisch mit dem soeben diskutierten Aufsatz (1983), nicht jedoch in den Passagen zu Kontexten und Motivationen. „Praktische Fragen, die die Orientierung im Handeln betreffen, entstehen in konkreten Handlungssituationen - und diese sind stets in den historisch geprägten Kontext einer besonderen Lebenswelt eingelassen. Im Lichte streng moralischer Maßstäbe müssen sich solche lebensweltlichen Fragen verwandeln, denn unter moralischen Gesichtspunkten werden problematische Handlungen und Nonnen nicht mehr nach dem Beitrag beurteilt, den sie zur Erhaltung einer bestimmten Lebensform oder zur Fortsetzung einer individuellen Lebensgeschichte leisten. Sobald wir Handlungsweisen oder Normen unter dem Gesichtspunkt prüfen, ob sie im Falle allgemeiner Verbreitung bzw. Befolgung die ungeteilte Zustimmung aller potentiell Betroffenen finden würden, sehen wir zwar nicht von ihrem Kontext ab; aber die Hintergrundgewißheiten der faktisch eingewöhnten Lebensformen und Lebensentwürfe, in denen die Normen stehen und problematisch geworden sind, dürfen dann nicht mehr als ein fraglos gültiger Kontext vorausgesetzt werden. Die Transformation von Fragen des guten und richtigen Lebens in Fragen der Gerechtigkeit setzt die Traditionsgeltung des jeweiligen lebensweltlichen Kontextes außer Kraft." (33)
Einige Seiten später, nachdem über die Trennung von Fragen des Guten identisch wie in (1983a: 113) gesprochen wurde, führt Habermas diesen Punkt noch einmal klar aus. Abstrahiert werden soll, im hypothetischen Blick, nur von der Geltung, nicht von Inhalten (oder gar dem Kontext selber): „Die Abstraktionsleistungen, die eine formalistische Ethik erfordert, beziehen sich also nicht auf historische Randbedingungen und konkrete Inhalte der regelungsbedürftigen Konflikte, sondern auf etwas ganz anderes. Der hypothetische Blick des moralisch urteilenden Subjekts bringt einzelne problematisch gewordene Handlungen und Normen, gegebenenfalls auch eine Gesamtheit legitim geregelter interpersonaler Beziehungen, unter den Gesichtspunkt deontischer Geltung. Er schneidet diese nicht von dem Kontext der jeweiligen Lebenswelt, sondern von der selbstverständlichen Geltung, d. h. von den Evidenzen des lebensweltliches Hintergrundes ab. Dadurch verwandeln sich die zum Problem gewordenen Normen in Sachverhalte, die gültig, aber auch ungültig sein können." (1991c: 35)
128
II. Anwendungsfragen
Einzelne Nonnen können so von einer (partikularen und konventionellen) Geltungsbasis auf eine (universalistische und postkonventionelle) Gültigkeitsbasis umgestellt werden. Die Sphäre der Moralität wird dadurch von der identitätsverbürgenden, unhinterfragten Totalität der konkreten Sittlichkeit unterscheidbar: „So entsteht eine Differenz zwischen dem Bereich hypothetisch zugänglicher und abstrakter Handlungsnormen einerseits, der Totalität der als Hintergrund fraglos präsenten Lebenswelt andererseits. Intuitiv lassen sich diese Bereiche von Moralität und Sittlichkeit leicht unterscheiden: eine Lebenswelt im ganzen können wir nämlich einer moralischen Betrachtung schon deshalb nicht unterwerfen, weil vergesellschaftete Subjekte zu den Lebensformen und den Lebensgeschichten, in denen sich ihre Identität gebildet hat, eine rein hypothetische Einstellung nicht einzunehmen vermögen." (1991c: 35).
Um die Diskussion der Abstraktionsleistungen vorzubereiten, fragen wir uns zunächst: Wie hat mein sich eine Äekontextualisierung bzw. eine Äemotivierung vorzustellen? Sicher nicht so, daß die nun diskursiv geprüften normativen Überzeugungen wieder in einen lebensweltlichen Horizont reintegriert werden, aus dem sie genau wie vor der Prüfung ihre handlungsleitende Kraft schöpfen. Denn dieses Modell der Reintegration würde ihren besonderen Status wieder unsichtbar machen, kognitive Lernprozesse wieder zurücknehmen müssen. Soweit die Dekontextualisierung die Geltung des lebensweltlichen Kontextes betrifft (und keine Inhalte), wie Habermas ja (in der ersten Runde der Auseinandersetzung, s. o.) explizit schreibt, wäre vor einer Rekontextualisierung also geradezu zu warnen; diese gefährdet den universalistischen Geltungssinn moralischer Normen. Überhaupt läßt sich die reflexiv erzeugte Spaltung von universellen Richtigkeiten und partikulären Identitätskernen nicht mehr zurückdrehen. Der genealogische Prozeß dieser Ausdifferenzierung darf mit dem auch nach dieser Ausdifferenzierung weiterhin bestehenden Abstraktionszwang nicht verwechselt werden, der mit der Einnahme des moral point of view regelmäßig verbunden ist. Zwar verbleiben für jede und jeden die entwicklungspsychologischen Schritte hin zum Verständnis des Geltungssinns einer universalistischen Moral zu tun (und die korrespondierenden Anwendungsprobleme, diese Schritte zu unterstützen). Jedoch müssen die dabei gewonnenen Abstraktionen in einzelnen Handlungskonflikten sich anders als von Habermas angegeben niederschlagen, denn einfach rückgängig gemacht werden können und sollen sie nicht. Nach der genealogischen Ausdifferenzierung ist nämlich nicht mehr zu sehen, wo es überhaupt „fraglose gültige Ideen" mit der Schubkraft „empirisch wirksamer Motive" geben kann: Zugespitzt gefragt, warum sollten Identitäten in der Moderne konventionelle Identitäten sein? Und selbst wenn sie dies wären, wie könnten sich Identitäten, egal ob konventionell oder postkonventionell, unmittelbar in empirisch wirksame Motive transformieren? Es ist schwer zu sehen, was Antworten auf „ethische" Fragen den Antworten auf moralische Fragen prinzipiell voraushaben, soweit es um motivationale Schubkraft geht, denn: „Gewiß, auch die kulturellen Werte transzendieren die faktischen Handlungsabläufe" (1983a: 118). Doch Habermas scheint, wenigstens perspektivisch, ohnehin ein anspruchsvolleres Identitätskonzept auszumachen, wie wiederum der 1982er Vortrag offenlegt: „In dem Maße, wie sich die drei Komponenten einer Lebenswelt, nämlich Kultur, Gesellschaft, Persönlichkeit, voneinander differenzieren, verstärken sich die genannten Trends, von denen niemand a priori wissen kann, wie weit sie sich fortsetzen werden. Die Fluchtpunkte, denen sie
2. Anwendungsprobleme aus Sicht von Habermas
129
zustreben, lassen sich fur die Kultur durch eine Dauerrevision verflüssigter, reflexiv gewordener Traditionen, fur die Gesellschaft durch die Abhängigkeit legitimer Ordnungen von formalen Verfahren der Normsetzung und der Normbegründung, für die Persönlichkeit durch eine hochabstrakte Ich-Identität kennzeichnen." (1991c: 45)
Dieser Äußerung kann man wohl entnehmen, daß moderne Identitäten gewöhnlich abstrakt sind (und im Fluchtpunkt sogar hochabstrakt). Dies darf wohl so verstanden werden, daß Identitäten auch von Traditionen, Kontexten usw. abstrahieren, zumindest doch aber von deren Geltung - wie die Moral. Ein weiteres Indiz für den Verlust der Unmittelbarkeit des „Ethischen" in der Moderne ergibt sich aus dem Problem der Vereinbarkeit von „Ethik" und Moral. Sicher, eine „ethische" Integrität nicht mehr aufrechterhalten zu können, hätte die offen pathologische Konsequenz eines Identitätsverlustes. Einer solchen Konsequenz muß aber eine universalistische Moral keineswegs neutral gegenüberstehen. So verstanden wird, falls es Konflikte gibt, bei der Problemlösung die universalistische Moral in Führung gehen können. Häufig stellt die moralische Integrität aber auch eine Bedingung der individuellen „ethischen" Integrität dar. „Ethische" und moralische Fragen sind nämlich aus Habermas' Sicht nicht vollständig unabhängig voneinander zu beantworten: „Ob ein Leben gelungen oder entfremdet ist, richtet sich nicht nach den Maßstäben normativer Richtigkeit - wenngleich die intuitiven, schwer explizierbaren Maßstäbe für ein, sagen wir es besser. nicht verfehltes Leben auch nicht völlig unabhängig voneinander variieren. [...] Lebensformen kristallisieren sich ebenso wie Lebensgeschichten um partikulare Identitäten. Diese dürfen, wenn das Leben nicht mißlingen soll, moralischen Forderungen, die sich nach Maßgabe des in einer Lebensform jeweils verwirklichten Grades der Rationalität ergeben, nicht widersprechen." (1991c: 48)
Wenn diese Maßstäbe miteinander verknüpft sind, wenn moralischen Forderungen nicht nachzukommen die „ethische" Integrität gefährdet, kann der Kontext einer Lebensform auch in „ethischen" Fragen nicht unhinterfragt gelten. Dennoch gibt es natürlich auch vormodeme, traditionale Identitäten: Während eine „ethische" Identität also nicht reflektiert sein muß, sich also u. U. „ethische" Fragen als Fragen gar nicht stellen, sondern immer schon beantwortet sind, ist dies für moralische Fragen nicht möglich. Eine universalistische Moral ist eine reflektierte Moral, oder sie ist keine. Jedenfalls aber führt die Trennung von moralischen und „ethischen" Fragen auf Folgeprobleme, die sich gerade aus der Teilnehmerperspektive i. allg. nicht über eine Ineinssetzung von „ethischen" Fragen und traditionaler Sittlichkeit verstehen lassen. Die Dekontextualisierung führt, so Habermas, zu einem Verlust an „Konkretheit" (118), nämlich „konkreter Lebensgewohnheiten" (117) sowie der „Aktualität des Erfahrungszusammenhangs" (116). Vielleicht kann man den hier beschriebenen Verlust auch als Verlust an Unmittelbarkeit bezeichnen. Gerade habe ich mit Habermas zu zeigen versucht, daß dieser Verlust - ist die postkonventionelle Stufe einmal erreicht - sowohl die „ethische" als auch die moralische Perspektive betrifft. 2.2.3
Formalismus und Abstraktion (1986)
In einer darauffolgenden Publikation von 1996, die auf einem 1985 gehaltenen Vortrag basiert, wiederabgedruckt in (1991b), wird dieser Problembestand neu gefaßt. Jetzt widmet
130
II. Anwendungsfragen
Habermas den Hegeischen Vorwürfen gegen Kants Ethik einen eigenen Aufsatz, die er als Formalismus, abstrakten Universalismus, Ohnmacht des bloßen Sollens und als Terrorismus der reinen Gesinnung bezeichnet. Auch hier werden nicht explizit Annwendungsprobleme gesucht, jedoch - wie schon in der Diskussion der oben darstellten, ebenfalls durch Hegel inspirierten Generalkritik - einige zentrale Anwendungsprobleme herausgestellt. Formalismus und negatorischer Bezug aufs Gute Formalistisch sei das Moralprinzip der Diskursethik nicht in dem Sinne, daß lediglich „logische und semantische Konsistenz" gefordert wird (da nämlich „die Anwendung eines substantiell gehaltvollen moralischen Gesichtspunktes" auf vorgefundene Inhalte vorgesehen sei; 1991b: 22; Herv. NGM). Es zeichne eine Prozedur aus, die darauf angelegt ist, moralische von „ethischen" Aussagen zu trennen (was allerdings eine formale Bestimmung ist). Trotz dieser „Abstraktion vom guten Leben" muß die Moral aber nicht „ihre Zuständigkeit für die substantiell wichtigen Probleme des täglichen Zusammenlebens" aufgeben man denke an die Menschenrechte. Eine „prinzipielle Frage" sei hingegen schon schwieriger zu beantworten: „ob es überhaupt möglich ist, Grundbegriffe der Diskurstheorie wie universale Gerechtigkeit, normative Richtigkeit, moralischer Gesichtspunkt usw. unabhängig von der Vision eines guten Lebens, vom intuitiven Entwurf einer ausgezeichneten, aber eben konkreten Lebensform zu formulieren." (1991b: 22)
Habermas schlägt hierzu „indirekte Fassungen" des Moralprinzips vor, die sich „aller positiven Beschreibungen enthalten und, wie ζ. B. der diskursethische Grundsatz, negatorisch auf das beschädigte Leben beziehen, statt affirmativ aufs gute". Betrachten wir Habermas' Lösungsvorschlag, den negatorischen Bezug. Erstens ist im „diskursethischen Grundsatz", also in >DU< genommen und von Peter Ulrich schließlich erfolgreich im Bereich moralischen Deliberierens angesiedelt (was bei Habermas offen bleibt). Ich will wiederum zusammenfassen, wie die in Auseinandersetzung mit Hegels Kant-Kritik gewonnenen Anwendungsprobleme konzipiert werden (in Tabelle 4 auf der folgenden Seite). Im Vergleich der beiden Konzeptionen (s. Tabelle 3, S. 125, und Tabelle 4) erkennt man eher eine Neuorganisation als eine substantielle Veränderung der Problemwahrnehmung. Die Abstraktion von Kontexten und Motiven ist nun nicht mehr Hintergrund aller anderen Probleme, sondern Teil der Liste. Der Punkt 2 von (1983a) ist in das FormalismusProblem eingearbeitet, der Punkt 4c weiter aufgefächert und von der Ebene der bloßen Moral·Verweigerung auf die der Voraussetzungen von Moralität gehoben. In den Hintergrund getreten sind die Klugheit bei der Anwendung des diskursethischen Grundsatzes bzw. des Moralprinzips (2a) und die mögliche interne Verbindung der Geltungsansprüche (4a). Neu hinzugekommen sind die Unabhängigkeit der Begrifflichkeit von konkreten Konzeptionen des Guten, der Umgang mit dem Pluralismus (etwa in fairen Verhandlungen), die Folgenberücksichtigung im Dialog und die Rücknahme von institutionellen Abstraktionen.
138
II. Anwendungsfragen
Bezeichnung
1986
Formalismus
(a) Eingabe vorgefundener Inhalte (b) Abtrennung von Fragen des guten Lebens (c) Unabhängigkeit der Grundbegriffe von konkreten Konzeptionen des Guten
Abstrakter Universalismus
(a) Umgang mit Pluralismus (b) Folgenberücksichtigung im dialogischen Moralprinzip (c) Kluge Normenapplikation
Ohnmacht des bloßen Sollens
Terrorismus der reinen Gesinnung
Rücknahme der Abstraktion von (a) vorhandenen Motiven und (b) vorhandenen Institutionen Oft fehlen Voraussetzungen, die vom Diskurs nicht hergestellt werden können und die eine politische Ethik erforderlich machen, d. h.: (a) Institutionen, die Diskurse erwartbar machen (b) Sozialisationsprozesse, die Diskurs-Kompetenzen vermitteln (c) materielle Verhältnisse und gesellschaftliche Strukturen für ein halbwegs würdevolles Leben
Tabelle 4 Hegels Kantkritik, soweit sie auch die Diskursethik trifft; nach Habermas (1991b). Vgl. Tabelle 3.
Im folgenden Abschnitt wird die Kontext-Problematik eine neue Wendung erfahren. Danach kann dann die Habermassche Sicht auf Anwendungsprobleme der Diskursethik vor dem Hintergrund des analytischen Eingangskapitels II.1 diskutiert werden.
2.3 Neunziger Jahre: Auch kontextgebundene Diskurse Ende der achtziger, Anfang der neunziger Jahre nimmt Habermas einige Revisionen seiner Diskurstheorie vor. In der 1988 in Berkeley gehaltenen Howison-Lecture, 1991 in deutscher Sprache veröffentlicht unter dem Titel Zum pragmatischen, ethischen und moralischen Gebrauch der praktischen Vernunft, werden erstmals auch pragmatische und „ethische" Fragen explizit als diskursfähig bezeichnet. Pragmatische Fragen führen auf ein „relatives Sollen", d. h. „es geht um ein rationale Wahl der Mittel bei gegebenen Zwecken oder um die rationale Abwägung der Ziele bei bestehenden Präferenzen. Unser Wille ist faktisch durch Wünsche und Werte schon festgelegt; für weitere Bestimmungen offen ist er nur noch im Hinblick auf Alternativen der Mittelwahl bzw. der Zielsetzung" (Habermas 1991d: 102). Diskurse über pragmatische Fragen sind Diskurse über eine optimale Zweck- oder Präferenzrealisierung, d. h. „es geht allein um geeignete Techniken" (102); pragmatische Fra-
2. Anwendungsprobleme aus Sicht von Habermas
139
gen können (wie technische Fragen auch) eindeutig beantwortet werden: „Technische oder strategische Empfehlungen entlehnen ihre Gültigkeit letztlich dem empirischen Wissen, auf das sie sich stützen" (111). Eine mögliche Verkürzung muß m. E. unbedingt vermieden werden: Die Eignung von Mitteln, und erst recht ihre Empfehlung, bemißt sich auch an ihrem Verhältnis zu Werten und Normen. Es geht bestimmt nicht nur darum, ob bestimmte Mittel hinreichend („geeignet") für einen bestimmten Zweck sind, da es in der Regel auch andere hinreichende Mittel gibt, die den gegebenen Zweck mehr oder weniger gut erreichen, und es je unterschiedliche weitere Auswirkungen (Nebenfolgen) hat, diese Mittel zu mobilisieren. Die Eignung eines Mittels betrifft also auch andere Zwecke als den direkt zu erreichenden Handlungszweck. Deshalb, und dies gilt nun auch für die Technik allgemein, entlehnen technische oder strategische Empfehlungen ihre Gültigkeit keineswegs nur einem empirischen Wissen (vgl. Hubig 1993). Wie sich Zwecke und Mittel bzw. Ziele und Präferenzen zueinander verhalten, macht das angeführte Zitat klar. Doch wie verhalten sich Zwecke, Präferenzen, Wünsche und Werte zueinander? Werte kennzeichnen (nach gewöhnlichem Sprachgebrauch) jedenfalls die subjektiv tiefste Schicht dieser vier Relata pragmatischer Fragen. Deshalb ist es wohl kein Zufall, daß Habermas den Übergang zu „ethischen" Fragen gerade dadurch bezeichnet, daß „die Werte selber problematisch werden" (103). Habermas ordnet „ethischen" Fragen nämlich weiterhin die fundamentale Ebene der ,je eigenen Identität", „existentieller Entscheidungen", „gravierender Wertentscheidungen" (103) zu. Allenfalls noch die Entscheidung über .„starke' Präferenzen" (mit Verweis auf Charles Taylor), später auch: starke Wertungen (112), kann auf dieselbe Stufe gestellt werden. 2.3.1
Kontextgebundenheit
„ ethischer " Diskurse
Habermas' Erläuterungsversuch dessen, was in „ethischen" Diskursen geschehen könnte, beginnt mit einer Beschreibung des Prozesses des „aneignenden Verstehens" der „eigenen Lebensgeschichte wie auch der Traditionen und Lebenszusammenhänge, die den eigenen Bildungsprozeß bestimmt haben" (104, Verweis auf Hans-Georg Gadamer) im Kontrast zum eigenen Ich-Ideal. Hierbei können „hartnäckige Illusionen" aufgelöst werden - wie aber „starke Wertungen auf dem Wege hermeneutischer Selbstverständigung begründet werden" können, bleibt vorerst unklar, weil der Begründungsbegriff an dieser Stelle (noch) nicht ausgeführt ist. Dies geschieht erst einige Seiten später, wo Habermas erläutert, warum Begründungen in „ethisch-existentiellen" Diskursen „ein rationales Motiv für den Wechsel von Einstellungen bilden" (111): „In solchen Selbstverständigungsprozessen überschneiden sich die Rollen von Diskursteilnehmer und Aktor. Wer sich über sein Leben im ganzen Klarheit verschaffen, gravierende Wertentscheidungen begründen und sich seiner Identität vergewissem will, kann sich im ethischexistentiellen Diskurs nicht vertreten lassen - weder als Bezugsperson noch als Bewährungsinstanz. Von einem Diskurs ist gleichwohl die Rede, weil auch hier die Argumentationsschritte nicht idiosynkratisch sein dürfen, sondern intersubjektiv nachvollziehbar bleiben müssen. Reflexiven Abstand gewinnt der Einzelne zur eigenen Lebensgeschichte nur im Horizont von Lebensformen, die er mit anderen teilt und die ihrerseits den Kontext für jeweils verschiedene Lebensentwürfe bilden. Die Angehörigen der gemeinsamen Lebenswelt sind potentielle Teilnehmer, die in Prozessen der Selbstverständigung die katalysatorische Rolle des unbeteiligten Kritikers übernehmen. Diese
140
II. Anwendungsfragen
kann zur therapeutischen Rolle eines Analytikers ausdifferenziert werden, sobald verallgemeinerbares klinisches Wissen ins Spiel kommt. Freilich bildet sich dieses klinische Wissen selbst erst in solchen Diskursen." (111)
Wir sind zunächst an der Art der Kontextabhängigkeit „ethischer" Fragen interessiert. Insgesamt finden wir drei Kembegriffe, die gegeneinander positioniert werden müssen: Lebensentwurf, Lebensform und Lebenswelt. Lebensformen umspannen verschiedene Lebensgeschichten und Lebensentwürfe, soviel scheint gewiß. Lebensformen bilden einerseits den Horizont (im Singular) zur Reflexion der je eigenen Lebensgeschichte, andererseits aber auch, so scheint es, den Kontext (im Singular) für Lebensentwürfe (im Plural). Wie ist das angeführte Zitat weiter zu verstehen - nimmt ein Individuum in der Regel an verschiedenen Lebensformen teil? Oder ist ein Individuum immer nur Teil einer bestimmten Lebensform? Letzteres halte ich für die plausiblere Interpretation. Denn an anderer Stelle war vom „unproblematischen Horizont einer geschichtlichen Lebensform" die Rede, innerhalb dessen „ethische" Fragen nur zugänglich seien (1983a: 118). Das Verhältnis von Lebensform und Lebenswelt ist weniger klar; sind in einer Lebenswelt verschiedene Lebensformen vorfindlich? Liegen u. U. gar verschiedene Lebenswelten separat, so daß es neben Angehörigen der (eigenen) Lebenswelt auch Individuen gibt, die an bestimmten „ethischen" Diskursen vielleicht nicht teilnehmen sollten oder könnten? Zwei Varianten sind vorstellbar erstens, ein Begriff" wird dem anderen übergeordnet; also umspannt entweder eine Lebensform verschiedene, nur teilweise deckungsgleiche Lebenswelten, oder eine Lebenswelt bietet Raum für verschiedene Lebensformen. Eine Lebensform wäre, wenn übergeordnet, vielleicht eher biologistisch, also objektiv konnotiert, bzw. wenn untergeordnet, vielleicht eher kulturalistisch zu verstehen. Die .Lebenswelt' ist jedoch eher ein Begriff des subjektiven oder intersubjektiven Erlebens, bezeichnet also einen Phänomenbereich. Zweitens könnte man daher beide Begriffe auch intern verbinden, etwa indem man sagt: Eine gemeinsame Lebenswelt wird konstituiert durch eine gemeinsame Lebensform. Die gewisse Partikularität, die in diesen Kernbegriffen mitschwingt, scheint Habermas vormals von einer Klassifizierung „ethischer" Fragen als diskursfahig abgehalten zu haben. In der Konzeption von 1981 findet sich die evaluative Angemessenheit als nicht in Diskursen einlösbarer Geltungsanspruch: In evaluativen Äußerungen erhebt man, so Habermas (1981: 66ff.), den „Anspruch auf Angemessenheit der Anwendung von Wertstandards". Eine eventuelle Unangemessenheit ist in „ästhetischer Kritik" zu beheben. Von .Kritik' (und nicht von .Diskurs') ist hier deshalb zu sprechen, weil keine universellen Geltungsansprüche zur Diskussion stehen: „Kulturelle Werte gelten nicht als universal; sie sind, wie der Name sagt, auf den Horizont der Lebenswelt einer bestimmten Kultur eingegrenzt. Werte können auch nur im Kontext einer besonderen Lebensform plausibel gemacht werden. Daher setzt die Kritik von Wertstandards ein gemeinsames Vorverständnis der Argumentationsteilnehmer voraus, das nicht zur Disposition steht, sondern den Bereich der thematisierten Geltungsansprüche zugleich konstituiert und begrenzt." (1981:71)
Was diese Kritik zu einer „ästhetischen" machen soll, wird im Text nicht weiter erläutert. Vielleicht, daß sie die Dimension der Angemessenheit betreffen soll. Doch im angeführten Zitat ist nicht nur von der angemessenen Anwendung von Wertstandards die Rede, sondern
2. Anwendungsprobleme aus Sicht von Habermas
141
von einer Kritik der Wertstandards selbst} Ich will diese Art der Kritik im folgenden als „ethische" Kritik bezeichnen. Diese Form der Kritik muß von der „therapeutischen Kritik" an mangelnder Wahrhaftigkeit unterschieden werden. Therapeutische Kritik war vor 1988 kein Diskurs, da die Rolle der Teilnehmenden nicht mehr symmetrisch ist. Nun umfassen „ethische" Diskurse sowohl „ethische" Kritik als auch (dort nämlich, wo es hartnäckige Selbsttäuschungen zu beheben gilt) therapeutische Kritik - entsprechend der „katalysatorischen Rolle des unbeteiligten Kritikers" bzw. der „therapeutischen Rolle des Analytikers"; nur dann macht es ja Sinn zu sagen, die Rolle eines Diskursteilnehmers kann sich zu der eines Kritikers „ausdifferenzieren". Die Analogie zur Psychoanalyse ist offenkundig: Hier wie dort geht es darum, wie sich die eigene Identität im Umgang mit (kontingenten) Faktoren gebildet hat, und hier wie dort sind nur diejenigen Identitäten stabil, die eine kritische Rekonstruktion ihrer Genese aushalten. Was hat sich nun in Habermas' Einschätzung verändert? Wird der Diskursbegriff abgeschwächt oder wird der „ethische" Phänomenbereich anders beschrieben und so „diskursfähig"? Ich denke, beides ist der Fall. Beginnen wir mit der Suche nach Veränderungen in der Phänomenbeschreibung. „Ethische" Kritik war vor 1988 kein Diskurs, da die fraglichen Geltungsansprüche nicht gegenüber jedem verständlich gemacht werden können. Veränderungen in der Beschreibung könnten das gemeinsame Vorverständnis betreffen, das nun auf eine andere Weise in „ethische" Diskurse eingeht: als lebensgeschichtlicher Zusammenhang des Betroffenen zwar, aber nicht mehr notwendigerweise als lebensgeschichtlicher Zusammenhang auch aller anderer Diskursteilnehmer. Auch wenn Werte nur „im Kontext einer besonderen Lebensform plausibel gemacht" werden können, ist es doch nicht so, daß sie auch nur von Angehörigen dieser besonderen Lebensform diskutiert und kritisiert werden können. Kurz gesagt: Gute Ratschläge können auch „von außen" kommen. Einzig in der Dimension der Lebenswelt klingt eine gewisse Partikularität an: Die Aussage, die potentiellen Diskursteilnehmer müßten eine gemeinsame Lebenswelt teilen, liest sich allerdings so, als könnte sie eine Beschränkung auf diejenigen erforderlich machen, die „ein gemeinsames Vorverständnis" teilen. Bereits im Zitat von 1981 ist vom „Horizont der Lebenswelt einer bestimmten Kultur" die Rede, offenbar in einschränkender Absicht. Damit ist zwar nicht so deutlich wie 1981, aber doch deutlich genug eine Relativierung „ethischer" Geltungsansprüche auf gemeinsame Lebenswelten hin vorgenommen. Hier gibt es m. E. keine wirkliche Differenz, der Phänomenbereich des „Ethischen" wird in dieser Hinsicht ähnlich beschrieben. Die Konsequenzen dieser Partikularität sind aber nicht offenkundig: „Ethische" Ratschläge mögen zwar nicht universal gelten, dennoch können sie aber von anderen als den unmittelbaren Adressaten als richtig für diese Adressaten eingesehen werden. Gewiß, auch hierfür ist ein gemeinsames Vorverständnis erforderlich, dieses ist aber nicht zwingend an die Annahme der „ethischen" Empfehlung för sich selbst gebunden, sondern stellt im Kern die Überwindung einer kognitiven Fremdverstehensbarriere dar. Eine gewisse Gemeinsamkeit der Lebensformen muß wahrscheinlich existieren, um diese 1 Mit Blick auf den folgenden Abschnitt könnte man daher vermuten, daß es für den Habermas der neunziger Jahre „ethische" Begründungsdiskurse (von Wertstandards) und „ethische" Anwendungsdiskurse (derselben) geben müßte. Doch wäre diese Trennung in der „Ethik" nicht weniger problematisch als, wie wir sehen werden, in der Moral.
142
II. Anwendungsfragen
Barriere überwinden zu können, jedoch sicher keine vollständige Identifikation mit dem Fremden. An der möglichen Einsicht in die Angemessenheit „ethischer" Ratschläge hängt aber auch die Frage nach der potentiellen Teilnehmerschaft „ethischer" Diskurse. Ist jene weiter zu fassen, dann auch diese. Warum sind nun aus Sicht der neunziger Jahre „ethische" Diskurse als Diskurse möglich und nötig, aber dennoch keine universellen Antworten zu erwarten? Habermas zufolge liegt das an einer Partikularität der die Antwort stützenden Gründe (1992:139): „Die ausschlaggebenden Gründe müssen von allen Angehörigen, die .unsere' [gemeint sind: ,die in einem konkreten ethisch-politischen Gemeinwesen je unsrigen', NGM] Traditionen und starken Wertungen teilen, akzeptiert werden können."
Hierbei bleibt unentschieden, in welcher Hinsicht Antworten auf solche Fragen partikular bleiben müssen. Meint Habermas die Relativierung auf eine partikulare Kommunikationsgemeinschaft (was Forsts Rede von „Rechtfertigungsgemeinschaften" ja nahe legt, auf den Habermas im Zusammenhang auch „ethischer" Diskurse verweist; s. Einleitung): Die richtige Antwort auf „ethische" Fragen erforderte dann nur die Anerkennung durch jene, in deren Interesse etwas sein soll. Oder meint Habermas die Relativierung des Geltungsanspruchs auf eine bestimmte (objektiv oder subjektiv zugeschriebene) Eigenschaft deijenigen Menschen, um deren starke Wertungen es geht („Für alle, die sich als χ verstehen, ist es richtig, h zu tun")? Ließe sich auch die Frage: „Ist es richtig, sich als χ zu verstehen?" intersubjektiv verbindlich entscheiden, könnte man einen umfassenden praktischen Kognitivismus vertreten. Fragen nach Zielsetzungen und Bewertungen dürften dann nicht in dem Hinweis auf verschiedene Identitäten terminieren, sondern müßten aufgrund moralischer und theoretischer Sätze entscheidbar sein (und nicht nur mit ihnen kompatibel) - ersichtlich nicht Habermas' Position. Soweit sie jedoch in verschiedenen Identitäten (oder schlichter: Kontingenzen)1 terminieren, können im Diskurs immer noch deren rationalisierbare Momente erfaßt werden. Da eine Person sein heißt, sich zu sich (inklusive der Kontingenzen) verhalten zu können, ist dies keine beliebige Zugabe, sondern trifft genau das Medium der Reflexion, in dem sich Identitäten und Ziele hinterfragen lassen. Wechselseitig opake Lebenswelten stellen ohnehin eine höchstens vordergründig plausible Option dar, denn der „ethische" Diskurs wird nun anders gefaßt: Weil nun nämlich die Teilnehmer an „ethischen" Diskursen „die Rolle unbeteiligter Kritiker" spielen können sollen, aber auch weil sich „verallgemeinerbares klinisches Wissen" gerade in „ethischen" Diskursen bilden können soll, dürfen „ethische" Geltungsansprüche nicht an eine unüberwindliche partikulare Perspektive gebunden sein. Damit sind jedoch erhebliche Folgen für den Diskursbegriff impliziert: denn es gab ja gute Gründe, weder die therapeutische Kritik noch die klinische Analyse als Diskurs zu bezeichnen. Letztere ist schon deshalb kein Diskurs, weil sie asymmetrische Sprecherpositionen im Zuge einer (wenn auch im besten Sinne, so aber doch) strategischen und nicht rein verständigungsorientierten Kommunikation notwendig mit sich bringt. Und erstere zielt ja auf Wahrhaftigkeit, die sich im Diskurs gerade nicht feststellen lassen soll, sondern nur durch den Vergleich der Handlungen von 1 Auf der Ebene der Wunsch-Genese können durchaus ζ. B. affektive Komponenten beteiligt sein. Daß die kontingente Genese von Wünschen diese nicht entwertet, zeigt auch (Wolf 1984: 154ff.).
2. Anwendungsprobleme aus Sicht von Habermas
143
Individuen mit ihren Aussagen. Im Diskurs läßt sich also für die Wahrhaftigkeit einer Äußerung nicht hinreichend argumentieren. Doch ist dieser letzte Punkt wirklich so problematisch? Schon das in den neunziger Jahren veränderte Verständnis von Wahrheitsansprüchen läßt Diskurse zu, in denen über Geltungsansprüche letztlich aufgrund externer Evidenzen befunden werden muß. Und auch in moralischen Fragen vertritt Habermas inzwischen ein explizit fallibilistisches Konzept. Warum dann nicht auch für die Wahrhaftigkeit? Daß sie sich nur zeigt, aber nicht im Diskurs einlösen läßt, ist ja nun kein Gegenargument mehr.1 Die vorstehende Überlegung legt natürlich nahe, weiteizufragen: wenn nur in therapeutischer Kritik verallgemeinerbares klinisches Wissen eingebracht wird, welche Art von Wissen denn ansonsten im Spiel ist. Was ist überhaupt nichtverallgemeineibares Wissen? Ein Wissen, das nur auf bestimmte Fälle anwendbar ist, kann man nicht verallgemeinern - es ist also nicht verallgemeinerbar. Formal kann man ein derartiges spezielles Wissen zwar (durch eine entsprechende Angabe des Bezugsbereichs) in allgemeingültiges Wissen verwandeln, doch läuft dies dem (landläufigen) Sprachgebrauch deutlich entgegen. Daß Habermas diese Spezifität, dieses Passen in den „ethischen" Geltungsanspruch hineinziehen möchte, läßt sich auch dort ablesen, wo er über den „eigentümlichen semantischen Status" der kritisch rekonstruierten „ethischen" Einsichten schreibt: „Hier lassen sich Genesis und Geltung nicht mehr wie bei technischen und strategischen Empfehlungen voneinander trennen. Indem ich einsehe, was gut für mich ist, mache ich mir den Ratschlag in gewisser Weise auch schon zu eigen - das ist der Sinn einer bewußten Entscheidung. Indem ich mich von der Richtigkeit eines klinischen Ratschlages überzeuge, entschließe ich mich auch schon zu der angeratenen Umorientierung meines Lebens." ( 1991 d: 112)
Habermas möchte nicht, wie es doch auch möglich wäre, innerhalb des „ethischen" Diskurses die Richtigkeit des Ratschlags unabhängig von der Akzeptanz durch den jeweils Betroffenen bestimmen, etwa als hypothetischen Imperativ: Wer der-und-der ist bzw. sein will, der sollte dies-und-das tun (oder lassen). Die Stelle, an der er einer solchen Position am nächsten kommt, ist diese hier: „Solche Antworten können nicht beanspruchen, eine exemplarische, für alle verbindliche Lebensform auszuzeichnen - so wie Aristoteles die Polis ausgezeichnet hat. Aber relativ auf den gegebenen Kontext können ethische Fragen rational, d. h. so beantwortet werden, daß sie jedermann einleuchten - keineswegs nur den unmittelbar Betroffenen, aus dessen Perspektive die Frage gestellt wird." (1990b: 141)
Dadurch würden „ethische" Fragen in die Nähe von technisch-strategischen Überlegungen rücken. Nun kann ein („ethischer") Ratschlag auch deshalb falsch sein, weil er an den oder die falschen Adressaten gerichtet ist. Sollten daher „ethische" Empfehlungen die Foim haben: Du solltest dies-und-das tun, da Du der-und-der bist bzw. sein willst (die einschränkende, hypothetisierende Klausel müßte dabei nicht explizit ausgesprochen werden; wichtig ist allein die Adressierung der Empfehlung)? Ich denke nicht, daß es einer expliziten Adressierung bedarf, denn eine Adressierung ist in einem „ethischen" Diskurs ja immer schon vorhanden - es geht um ein bestimmtes Individuum (oder um eine bestimmte Gruppe). 1 Es verbleibt das eventuelle Problem, daß Wahrhaftigkeit schon auf Ebene der Diskursregeln für jeden Diskurs vorausgesetzt werden muß (s. Einleitung, II).
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II. Anwendungsfragen
Deshalb dürfte auch ein unpersönlich formulierter Satz (Wer ..., der sollte ...), der den Adressaten nicht trifft, mit Unverständnis aufgenommen werden oder bestenfalls als negative Abgrenzung verstanden werden (Nur wer - anders als Du - ..., der sollte ...). Doch mit der Relativierung auf einen gegebenen Kontext ist es nicht getan: Laut Habermas soll die Frage danach, wer jemand ist und sein will, sich im „ethischen" Diskurs für den Betroffenen auch wirklich beantworten} Nicht nur die Beratung über, sagen wir: Voraussetzungen und Konsequenzen bestimmter Identitäts-Entwürfe, letztlich also hypothetische Sätze, sondern die existentielle Entscheidung der Identitätsfrage selbst soll der „ethische" Diskurs evozieren. Gegenstand und Ziel eines „ethischen" Diskurses ist die „bewußte Entscheidung", und dies ist eine Entscheidung. Das kognitive Moment ist daher im „ethischen" Diskurs weniger stark als in Diskursen über moralische, pragmatische oder empirische Fragen. Notwendig wäre dies jedoch nur dann, wenn sich Beratung und Entscheidung im Fall „ethischer" Diskurse methodisch nicht trennen lassen - ein Schein, dem die verdeckte Adressatenspezifität der Argumente in „ethischen" Diskursen immerhin einigen Vorschub leistet. Rekapitulieren wir jedoch, warum es sich hier aus Habermas' Sicht um einen Diskurs handelt: Die einzelnen Schritte der Argumentation müssen intersubjektiv nachvollziehbar bleiben. Da liegt es doch nahe, rückzuschließen: Die Richtigkeit der Prämissen ist für einen „ethischen" Diskurs kontingent. Dann wäre aber der Kern der Frage, wer jemand sein will, dem Diskurs entzogen - und gar nicht zu sehen, wie im Diskurs eine existentielle Entscheidung als solche begründet werden könnte. Gesteht man im Diskurs dem existentiell Betroffenen eine besondere Rolle zu, etwa dadurch, daß er exklusiv über die Richtigkeit von „ethischen" Geltungsansprüchen befinden kann, gerät (neben dem Kognitivismus) die fur Diskurse zwingende Symmetrie der Beteiligten ins Wanken. Bestenfalls für kollektive „ethische" Entscheidungen (Wer wollen wir sein?) läßt sich eine solche - innerhalb des Kollektivs - aufrechterhalten. 2.3.2
Anwendungsdiskurse
Auch die Anwendungsproblematik erfährt in diesem Text eine entscheidende Wendung: Da sich moralische Begründungen auf ein Prinzip der Verallgemeinerbarkeit2 stützen, sind die Diskursteilnehmer genötigt, Normvorschläge nicht nur „ohne Rücksicht auf vorhandene Motive oder bestehende Institutionen", sondern auch „losgelöst von Situationen" zu prüfen (Habermas 1991d: 114). Neben dem Plädoyer für einen neuen, eigenständigen Diskurstyp (den Anwendungsdiskurs), der diesen Situationsbezug leisten soll, tritt bei der Dekontextualisierung die Problematik der Geltungsabstraktion nun vollends zurück hinter die Problematik des Situationsbezugs von Normen. Unter Verweis auf seinen Schüler Klaus Günther werden diese „Anwendungsdiskurse" nun den bisher bekannten „Begründungsdiskursen" zur Seite gestellt: „Gültige Normen verdanken ihre Allgemeinheit dem Umstand, daß sie den Test der Verallgemeinerung nur in dekontextualisierter Gestalt bestehen. In dieser abstrakten Fassung können sie aber 1 Natürlich auch hier nicht endgültig, sondern immer nur vorläufig. 2 Ich benutze diesen Begriff als Oberbegriff zu Universalisierung und Generalisierung (s. Fußnote 1 auf S. 31). Die Doppeldeutigkeit wurde an dieser Stelle bewußt stehengelassen.
2. Anwendungsprobleme aus Sicht von Habermas
145
umstandslos nur auf jene Standardsituationen Anwendung finden, deren Merkmale als Anwendungsbedingungen in der Wenn-Komponente der Regel von vornherein berücksichtigt worden sind. Nun muß jede Normbegründung unter den normalen Beschränkungen eines endlichen, d. h. geschichtlich situierten und gegenüber der Zukunft provinziellen Geistes operieren. Sie kann deshalb nicht a forteriori schon alle jene Merkmale explizit in Betracht ziehen, die in Zukunft einmal die Konstellationen unvorhergesehener Einzelfälle kennzeichnen werden. Aus diesem Grunde erfordert die Normanwendung eine argumentative Klärung eigenen Rechts. Dabei kann die Unparteilichkeit des Urteils nicht wiederum durch einen Universalisierungsgrundsatz gesichert werden; bei Fragen der kontextsensiblen Anwendung muß vielmehr die praktische Vernunft mit einem Prinzip der Angemessenheit zur Geltung gebracht werden. Hier muß nämlich gezeigt werden, welche der als gültig bereits vorausgesetzten Normen einem gegebenen Fall im Lichte aller relevanten und möglichst vollständig erfaßten Situationsmerkmale angemessen ist." (114)
Diesem Problemaufriß ist zu entnehmen, daß die situative Dekontextualisierung nicht vollständig ist, sondern „Standardsituationen" offenbar auch in Begründungsdiskursen präsent sind. Wäre die Unvorhersehbarkeit der Zukunft das einzige Endlichkeits-Problem, könnten aber immerhin alle bisher aufgetretenen Situationen berücksichtigt werden bzw. angesichts einer konkreten Situation eine ihre Merkmale exakt treffende, also „bessere" Normenbegründung vorgenommen werden. In einem 1990 erschienenen Interview wird diese Möglichkeit explizit ausgeschlossen: „Die einmalige Konstellation eines entscheidungsbedürftigen Falls, die konkreten Züge der beteiligten Personen kommen erst ins Spiel, nachdem die Begründungsprobleme gelöst sind. Allein, sobald geklärt werden muß, welche der prima facie gültigen Normen der gegebenen Situation und dem anhängigen Konflikt am angemessensten ist, muß eine möglichst vollständige Beschreibung aller relevanten Merkmale des jeweiligen Kontextes gegeben werden." (1990b: 121)
So formuliert klingt die Argumentation für die Aufspaltung von Begründung und Anwendung aber erst recht nicht überzeugend: Nun haben die Begründungsprobleme bereits gelöst zu sein und sind nicht mehr nur je als gelöst zu unterstellen. M. E. plausibler ist die Vorstellung, daß fiir die Anwendung die Normen als gültig (also eine gelingende Begründung) unterstellt werden müssen, jedoch für die Begründung andersherum genauso auch die Beziehung von Normen auf Situationen als transparent (also eine gelingende Anwendung) unterstellt werden muß. Doch der Situationsbezug von Normen wird in der Nonnenbegründung von Habermas - mit Günther, dessen Position wir in Kürze untersuchen werden nicht in diesem naheliegenden Sinne gefaßt. Betrachten wir eine weitere Formulierung, wiederum aus einem Interview, diesmal von 1989 (nachgedruckt in „Die nachholende Revolution", 1990a). Dort spitzt Habermas die Anwendungsproblematik der Diskursethik auf genau zwei Punkte zu. Kantische Moraltheorien werden „in einem schlechten Sinne abstrakt ..., wenn man zwei Dinge vergißt" (1990a: 112): „Erstens erfordert die Anwendung von gültigen Normen auf einzelne Situationen eine andere Art von Diskursen und Gesichtspunkten als die Begründung dieser Normen. Während diese unter dem Gesichtspunkt, was alle wollen könnten, vorgenommen wird, verlangt die konkrete Anwendungssituation etwas anderes als eine solche Universalisierung. Anwendungsdiskurse verlangen die Überlegung, welche der prima facie in Frage kommenden und schon als gültig unterstellten Normen der gegebenen Situation angemessen ist, wenn diese in allen ihren normativ relevanten Zügen
146
II. Anwendungsfragen
möglichst vollständig beschrieben wird. Angemessenheit, nicht Verallgemeinerung, ist hier der maßgebende Gesichtspunkt, durch den sich die praktische Vernunft zur Geltung bringt."
Auch hier ist die Intention klar: „Einzelne" oder „konkrete", jedenfalls aber „gegebene" Situationen dürfen und sollen offensichtlich in der Begründung von Normen ignoriert werden. Doch schon formai bleibt unklar, warum eine unparteiliche und angemessene Anwendung etwas ist, das nicht „alle wollen könnten" - sei es nun allgemein oder im einzelnen Fall. Habermas führt diesen Punkt nicht weiter aus, so daß wir (weiter unten) den im Kern identischen Behauptungen von Günther zu folgen haben, auf die sich Habermas ja explizit bezieht. Ein Unterschied zu Günther sei jedoch hier schon erwähnt: Habermas spricht, anders als Günther, von Anfang an von allen relevanten Merkmalen - dies wird er auch durchhalten. Was in einem Anwendungsdiskurs also geschehen soll, wird nicht anders beschrieben als weiter oben, wo Habermas von der „klugen Applikation" sprach - im Verweis nämlich auf die „Beachtung aller relevanten Aspekte eines Falles" in der juristischen Topik. Klarer noch als im Falle „ethischer" Diskurse wird die Beschreibung des entsprechenden Argumentationsprozesses beibehalten, dieser jedoch nun als Diskurs bezeichnet. 2.3.3
Zumutbarkeit
Die zweite in jenem Interview von 1989 benannte „schlechte Abstraktheit" betrifft die notwendige Ergänzung der Moral durch das Recht: „Wichtiger ist aber, zweitens, der Vorbehalt, der sich aus dem Universalisierungsgmndsatz einer Prämisse ergibt, unter der Normen allein als gültig akzeptiert werden: eine gültige, dem Verallgemeinerungstest standhaltende moralische Norm ist nur den Personen zuzumuten, die erwarten dürfen, daß diese auch von allen anderen Personen tatsächlich befolgt wird. In der Welt, wie wir sie kennen, ist das nun oft nicht der Fall. Deshalb sind Rechtsnormen nötig und der Einsatz politischer Macht, die ein für legitim gehaltenes Handeln erzwingen. Freilich ist das rechtlich oder politisch durchgesetzte Verhalten nur dann legitim, wenn das Recht und die politischen Institutionen selber ihren Anspruch auf Legitimität erfüllen. Das ist nun, weiß Gott, noch viel seltener der Fall." (1990a: 112)
In dieser Formulierung findet eine Problematik exakt die Zuspitzung, in der sie von M. Niquet dann weiterverfolgt wird: als genau auf eine Norm eingeschränkte Zumutbarkeitserwägung.1 Im Text von 1991 wird die Zumutbarkeitserwägung, die auf die allgemeine Befolgung von Normen abstellt, hingegen so formuliert, daß möglicherweise nicht mehr nur die einzelne Norm gemeint ist (1991a: 199): „Im Lichte des Moralprinzips werden Normen nur unter der (in ,U' explizit genannten) Voraussetzung einer Praxis allgemeiner Normbefolgung als gültig ausgezeichnet Wenn diese Bedingung nicht erfüllt ist, sind Normen unbesehen ihrer Gültigkeit nicht zumutbar."
Hier könnte man Habermas auch so verstehen, daß das Kriterium für die Zumutbarkeit aller Normen (oder zumindest doch: mehrerer von ihnen) die Praxis der Befolgung aller Normen (oder zumindest doch: einiger von ihnen) ist - wir kommen darauf zurück.
1 Niquet wird fur dasselbe Problem allerdings eine andere Lösung vorschlagen (s. u.).
2. Anwendungsprobleme aus Sicht von Habermas
147
Frühere Formulierungen waren hier noch weniger bestimmt: Ein (salopp formuliert) unmoralischer Wille sei nur dann zu tadeln, „wenn die moralischen Forderungen, gegen die er verstößt, tatsächlich legitim und unter den gegebenen Bedingungen zumutbar sind" (Habermas 1991d: 115). Wann diese zumutbar sind, wurde von Habermas hier offengelassen; seine Überlegungen mögen aber in dieselbe Richtung gegangen sein, denn: „Das Problem der Zumutbarkeit motiviert den Übergang zum Recht" (Habermas 1991d: 117; ähnlich auch 1991a: 198). Vor 1988 wurde diese Problematik hingegen grundlegend anders beschrieben: Noch 1983 sollte auf sie, „im Grundsätzlichen trivial", innerhalb moralischer Diskurse geantwortet werden (vgl. Tabelle 3, Problem 4c). Nicht nur das Recht, sondern (quasi als Moralstrategie) auch politische Macht helfen der allgemeinen Befolgung von moralischen Normen auf die Sprünge; erst im Erfolgsfall kann ihre Befolgung auch moralisch, d. h. ohne Sanktionierung erwartet werden. Ganz ähnliche Formulierungen finden sich auch in dem weiter oben bereits erwähnten, etwas später geführten der beiden Interviews: „Eine Norm, die den Verallgemeineningstest besteht, verdient allgemeine Anerkennung nur unter der Voraussetzung, daß sie auch faktisch von jedermann befolgt wird. Eben diese Bedingung kann eine Reflexionsmoral, die mit den Selbstverständlichkeiten der konkreten Sittlichkeit bricht, von sich aus nicht garantieren. So erzeugen die Prämissen eines anspruchsvollen postkonventionellen Begründungsmodus selbst ein Problem der Zumutbarkeit·. die Befolgung einer gültigen Norm kann nur von jemandem erwartet werden, der sicher sein kann, daß auch alle anderen der Norm Folge leisten." (1990b: 122).
Auch in einer zweiten Hinsicht, nicht nur im Bezug auf verschiedene Anwendungsfalle, scheint dem universellen Moralprinzip eine generalisierende Komponente innezuwohnen (hier: die allgemeine Befolgung). Die Rechtsordnung und die politische Ordnung sind somit zwar moralisch begründet, aber dennoch nicht ausschließlich moralischer Natur, da in ihr auch pragmatische und „ethische" Aspekte berücksichtigt werden müssen (123). Doch nicht nur, weil moralische Normen u. U. nicht allgemein befolgt werden, sondern auch aus einem zweiten Grund können, im Zuge einer, gültige und angemessene Normen für manche Personen „existentiell unzumutbar" sein (1991a: 198). „So mag in einem existentiellen Konflikt die einzig angemessene Norm eine Handlung fordern, die die derart verpflichtete Person durchaus als moralisch gebotene Handlung anerkennt, aber nicht ausführen könnte, ohne sich als Person, die sie ist und sein möchte, aufzugeben - sie bräche unter der Last dieser Verpflichtung zusammen." (ebd.)
Diese „Spannung zwischen moralischer Einsicht und ethischem Selbstverständnis" dürfe „auch unter moralischen Gesichtspunkten nicht einfach zugunsten des moralisch gebotenen aufgelöst werden - so als handele es sich um ein Problem der Willensschwäche. [Fußnote mit nicht weiter eingegrenztem Verweis auf Wingert 1991; s. u.]" (ebd.). Habermas möchte den „Vorrang des Gerechten vor dem Guten" aufrechtzuerhalten und dabei das Problem nicht herunterzuspielen, aber auch nicht „Pflichten gegen sich selbst" einführen (die diesen Konflikt zu einer innermoralischen Pflichtenkollision machen würden), da dies die Symmetrie zwischen Rechten und Pflichten verletzte. Er meint daher eine „selbstbezügliche Reflexion auf die Zumutbarkeit der Moral" vorsehen zu müssen, wenn angesichts des „ethischen" Entwurfs des Moraladressaten im Zuge des „Reflexivwerdens von Anwendungsdiskursen"
II. Anwendungsfragen
148
zu prüfen ist, „ob das [aus einer dem Fall einzig angemessenen Norm] folgende singuläre Urteil eine Handlung fordert, die existentiell unzumutbar ist" (ebd.).
2.3.4
Gefühle
Im zuletzt erwähnten Interview werden zur Lösung von Anwendungsproblemen überraschenderweise auch moralische Gefiihle bemüht: „Erstens spielen moralische Gefiihle eine wichtige Rolle für die Konstituierung moralischer Phänomene. Wir werden bestimmte Handlungskonflikte überhaupt nicht als moralisch relevante wahrnehmen, wenn wir nicht empfinden, daß die Integrität einer Person bedroht oder verletzt wird. Gefühle bilden die Basis unserer Wahrnehmung von etwas als etwas Moralischem." (1990b: 142) Auf der „Eingabeseite" von Diskursen muß das Problem gelöst werden, daß Normen erst einmal problematisch werden müssen, bevor sie im Diskurs geprüft werden. Man könnte sich dies auch als rein interne Veranstaltung vorstellen: Der Diskurs läuft und zieht (durch schrittweises Hinterfragen im Diskurs) eine Norm nach der anderen in Zweifel. So funktioniert der moralische Diskurs aber erstens nicht, und zweitens wurde er von Habermas auch nicht so beschrieben. Es waren die lebensweltlichen Handlungskonflikte, die Ausgangspunkt für die diskursive Prüfung von dahinterstehenden Nonnkandidaten war. Daher sind Habermas' Bemerkungen auch als Beitrag zu einem Anwendungsproblem aufzufassen, nämlich dem der Themensetzung bzw. des Diskurs-Inputs. „Zweitens und vor allem geben uns moralische Gefühle [...] eine Orientierung für die Beurteilung des moralisch relevanten Einzelfalls. Gefühle bilden die Erfahrungsbasis für unsere ersten intuitiven Urteile: Scham- und Schuldgefühle sind die Basis für Selbstvorwürfe, Schmerz und das Gefühl der Kränkung für den Vorwurf gegenüber einer zweiten Person, die mich verletzt, Empörung und Wut für die Verurteilung einer dritten Person, die eine andere verletzt. Moralische Gefühle reagieren auf Störungen intersubjektiver Anerkennungsverhältnisse oder interpersonaler Beziehungen, an denen die Aktoren in der Einstellung einer ersten, zweiten oder dritten Person beteiligt sind. Deshalb sind moralische Gefühle so strukturiert, daß sich in ihnen das System der Personalpronomina spiegelt." (143) Diese unsere ersten intuitiven Urteile sind „nicht letzte Instanz", sie haben - neben der Anfangssensibilisierung - „eine unschätzbare heuristische Funktion" (144). Schon durch diese beiden Funktionen rücken moralische Gefühle an eine prominente Stelle. Doch auch für ein drittes Anwendungsproblem, das der Durchführung von Diskursen nämlich, sind moralische Gefühle wichtig: „Mindestens Empathie, also die Fähigkeit, sich über kulturelle Distanzen hinweg in fremde und prima facie unverständliche Lebensumstände, Reaktionsbereitschaften und Deutungsperspektiven einzufühlen, ist eine emotionale Voraussetzung fur eine ideale Rollenübemahme, die von jedem verlangt, die Perspektive aller anderen einzunehmen. Etwas unter dem moralischen Gesichtspunkt zu betrachten, heißt ja, daß wir nicht unser eigenes Welt- und Selbstverständnis zum Maßstab der Universalisierung einer Handlungsweise erheben, sondern deren Verallgemeineibarkeit auch aus den Perspektiven aller anderen prüfen. Diese anspruchsvolle kognitive Leistung wird kaum ohne jenes generalisierte Mitgefühl möglich sein, das sich zur Einfühlungsfähigkeit sublimiert und über die Gefühlsbindungen an die nächsten Bezugspersonen hinausweist, uns die Augen öffnet für die
2. Anwendungsprobleme aus Sicht von Habermas
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.Differenz', d. h. für die Eigenart und das Eigengewicht des in seiner Andersheit verharrenden Anderen." (143)
An dieser Stelle werden von Habermas deutlich bestimmte emotive Kompetenzen benannt, über die Diskursteilnehmende verfügen müssen, wenn ein Diskurs nicht von vornherein sinnlos sein soll. Neben emotiven Komponenten weist Habermas auch auf kognitive Voraussetzungen hin, die in der „von Anthropologen ausgelösten Rationalitätsdebatte" aufgezeigt wurden: „Für den entscheidenden Punkt dieser Kontroverse halte ich die Frage, ob wir einer Asymmetrie Rechnung tragen müssen, die zwischen den Interpretationskapazitäten verschiedener Kulturen dadurch entsteht, daß einige sogenannte second-order concepts eingeführt haben, andere nicht. Diese Begriffe zweiter Ordnung erfüllen notwendige kognitive Bedingungen für das Reflexivwerden einer Kultur, also dafür, daß deren Mitglieder zu ihren eigenen Überlieferungen eine hypothetische Einstellung einnehmen und auf dieser Grundlage kulturelle Selbstrelativierungen vornehmen können. Ein solches dezentriertes Weltverständnis kennzeichnet moderne Gesellschaften." (1990b: 125)
Wenn, wie in dieser Textstelle vertreten, wirklich die Kultur selbst reflexiv werden muß, kann eine adäquate kulturelle Identität nicht mehr in einem traditionalen Selbstverständnis erfolgen - ein weiteres Indiz auf dem Weg zu einem Verständnis „ethischer" Diskurse in der Moderne. Trotz dieser Dezentrierung schreibt Habermas auch hier der „ethischen" Selbstverständigung einen gegebenen Kontext zu: „Ethische Fragen, Fragen der Selbstverständigung orientieren sich am Ziel je meines oder unseres guten, sagen wir lieber: nicht-verfehlten Lebens. Wir schauen auf unsere Lebensgeschichte oder unsere Traditionen zurück und fragen uns mit jener fur starke Präferenzen kennzeichnenden Zweideutigkeit, wer wir sind und sein möchten. Die Antworten müssen sich deshalb auf den Kontext einer besonderen, für bestimmte Personen oder bestimmte Kollektive als verbindlich unterstellten Lebensperspektive beziehen." (1990b: 141)
Es dürfte sich um denselben Kontext handeln, von dem moralische Fragen abstrahieren. Diese Stelle läßt zwei Lesarten zu. Zuerst die starke, traditionale Lesart: Der je eigene kulturelle Kontext ist unhinterfragt als gültig vorauszusetzen. Dann die schwächere Lesart: Der je gegebene Kontext, die jeweilige Lebensperspektive, gibt bestimmte Hinsichten der Auseinandersetzung vor, ist aber selbst nicht fraglos gültig. Dazwischen schillert Habermas' Formulierung, die jeweilige Lebensperspektive sei als verbindlich zu unterstellen. Ob diese Unterstellung nur in moralischen Überlegungen aufgegeben werden oder auch in der Absicht „ethischer" Selbstvergewisserung in Frage gestellt werden kann, entscheidet zwischen den oben angebotenen Lesarten. Daß Habermas der zweiten Lesart zuzuneigen scheint, offenbart sich erst ganz am Schluß des Interviews: „Ich halte es für die Aufgabe der Philosophie, die Bedingungen zu klären, unter denen sowohl moralische wie ethische Fragen von den Beteiligten selbst rational beantwortet werden können. Dem moralischen Gesichtspunkt, der uns gemeinsam die verallgemeinerungsfähigen Interessen sehen läßt, entspricht ein ethischer Entschluß zur bewußten Lebensführung, der eine Person oder eine Gruppe erst die rechte Einstellung gibt, um sich die eigene Lebensgeschichte oder die identitätsbildenden Traditionen im Lichte eines authentischen Lebensentwurfes kritisch anzueignen." (144)
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II. Anwendungsfragen
In welcher Form der Kontext auch immer gegeben sein mag, die kritische Aneignung von Traditionen erfordert zumindest die Möglichkeit der Einklammerung der Geltung des Kontextes.
2.4 Diskussion der Habermasschen Sicht auf diskursethische Anwendungsprobleme Ich möchte noch einmal betonen, daß eine Auseinandersetzung mit .Anwendungsproblemen" bei Habermas nicht explizit zu finden ist. An verschiedenen Stellen, insbesondere in der Auseinandersetzung mit Hegels Kantkritik, lassen sich dennoch Bemerkungen zu Anwendungsproblemen finden, wie wir sie eingangs analytisch unterschieden haben. Sie wurden am Ende der jeweiligen Abschnitte zusammengefaßt (s. Tabelle 3 und Tabelle 4). 2.4.1
Welche Probleme werden angesprochen
Welche Anwendungsprobleme liegen in den von Habermas bereits angesprochenen Punkten noch verborgen, wenn man die Revisionen der neunziger Jahre hinzunimmt? Zwei gravierende Probleme, die mit der Eingabe vorgefundener Inhalte in den Diskurs (Punkt 1 der Tabellen) zusammenhängen, scheint Habermas übersehen zu haben: Es müßten strittige moralische Fragen nach diesem Konzept ohne Inhaltsverlust in strittige Normen sich übersetzen lassen, wenn sie mittels >D< oder >U< vollständig lösbar sein sollen. Dies stellt ein Unterproblem von Anwendungsproblem Alb dar, nämlich das der Darstellung eines jeden Handlungskonflikts in Begriffen des „normativen Einheitsfokus" (Kettner) des jeweils angelegten Moralprinzips, hier: in Begriffen von Normen und Normenkonflikten. Das Problem Alb, die Anwendung von Normen auf Fälle, erfährt nun jedoch eine Wandlung hin zu den „Anwendungsdiskursen", die Klaus Günther näher untersucht hat. Ich werde dieses Problem daher erst weiter unten diskutieren. Außerdem stellt das genannte Übersetzungserfordernis Anforderungen an die Situationsbeschreibung (Problem A2), die dem gewählten „Einheitsfokus" entgegenkommen muß. Doch nicht nur das: Eine Konfliktbewältigungsethik, die auf die Eingabe von Inhalten angewiesen ist, kann nur auf bereits offenbaren Konflikten aufsitzen. Wo etwas nicht bereits problematisch geworden ist, wo nicht bereits die richtigen Fragen gestellt werden und moralisch problematische Vorgänge nicht als solche bemerkt werden, kann sie nicht greifen. Erst mit der Diskussion moralischer Gefühle wird auf die Notwendigkeit der Sensibilisierung für solche Konflikte eingegangen. Gefühle bekommen zweitens eine Rolle im Normenanwendungsdiskurs (auch hier indizieren sie ein mögliches Problem). Drittens werden einige der individuellen und kulturellen Voraussetzungen damit näher beschrieben, unter denen die unter der Überschrift des „Terrorismus der reinen Gesinnung" benannten Probleme zu entschärfen sind. Insgesamt wird die Problematik der Trennung von moralischen und „ethischen" Geltungsansprüchen zwar deutlich herausgestellt, das Folgeproblem der Vereinbarkeit der Antworten auf diese Fragen wird recht pauschal den reflexiv gewordenen Anwendungsdiskursen überstellt. Der Kern des Problems bleibt in der allgemeinen Problematik der
2. Anwendungsprobleme aus Sicht von Habermas
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(Wieder-)Ankoppelung moralischer Antworten an Motive und Institutionen verborgen. Ein zentrales Problem scheint mir zu sein, daß zu unklar ist, wie „ethische" Geltungsansprüche zu verstehen sind, um über das Verhältnis moralischer und „ethischer" Geltungsansprüche zu befriedigenden Aussagen kommen zu können. Dem Problem, wie wir von einem ideal-prozeduralen Moralprinzip zu gültigen Normen kommen, also dem Anwendungsproblem Ala, wird kaum Beachtung geschenkt. Das ist insofern verblüffend, als eine Verwurzelung der Diskursethik in einer Gesellschaftstheorie durchaus behauptet werden kann. Zwar gibt es Hinweise auf die gesellschaftsweiten Kommunikationsmedien, die evtl. einen diskursiven Gesamtzusammenhang herstellen können. Ansonsten scheint Habermas aber auf die spontane Öffentlichkeit der vielen direkten Kommunikationen zu vertrauen. Die Frage, ob und wie sich Diskurse ansonsten organisieren lassen, stellt sich fur Habermas anscheinend nicht. Das Problem A3, der fehlenden objektiven und subjektiven Voraussetzungen fur Diskurse, ist vom Problem A4 der mangelnden Bereitschaft, diskursiv einsehbare Normen auch zu befolgen, obwohl diese Voraussetzungen gegeben sind, klar zu unterscheiden. Habermas' Überlegungen zur „Unzumutbarkeit von Moralität" liegen auf Ebene A3b genauso wie auf A4b. Habermas fokussiert dabei seit den neunziger Jahren auf die Konsequenzen fiir die Gültigkeit einer einzelnen Norm daraus, daß diese selbst nicht befolgt wird; ein Vorschlag zur Lösung genau dieses Problems wurde von Marcel Niquet vorgetragen und wird weiter unten diskutiert werden. Im nächsten Abschnitt lernen wir zunächst die transzendentalpragmatischen Lösungsvorschläge kennenlemen. 2.4.2
Die „ Zumutbarkeit " der Moral
Zunächst zur Frage der „existentiellen Unzumutbaikeit". Ich sehe nicht, warum eine innermoralische Bearbeitung des Problems eine Reduktion auf „Willensschwäche" bedeuten würde. Außerdem halte ich - anders als Habermas - „Pflichten gegen sich selbst" nicht für eine Absurdität (vgl. Kap. ΙΠ.4). Wahrscheinlich aber ist das Problem als „Pflicht gegen sich selbst" ohnehin unzureichend beschrieben, denn mein möglicher existentieller Zusammenbrach ist nicht nur meine ,Privatsache'. Vielmehr stehe ich in einem Geflecht zwischenmenschlicher Interdependenzverhältnisse. Wichtiger aber ist ein prinzipieller Punkt: Denn auch ohne daß andere Menschen von den Konsequenzen meines Zusammenbruchs (oder sonst einer Verletzung meiner Person) negativ betroffen sein müßten, halten wir alle doch die Integrität jedes einzelnen fur prima facie schützenswert, so daß entsprechende Normen per Universalisierungsprinzip konsensfähig sind. Im fraglichen Fall steht mein prima facie universalisierbares Recht auf „ethische" Integrität gegen das prima facie universalisierbare Recht eines anderen Menschen auf irgend etwas, wobei beide Rechte in der betreffenden Situation nicht zugleich ausgeübt werden können. Daß dieser Konflikt nicht nur meine .Privatsache' ist, sieht man auch daran, daß er sich nur unter Mitsprache der anderen Diskursbeteiligten lösen läßt. Denn schließlich geht es darum, (a) ob mein Selbstentwurf moralisch legitim ist (und nicht etwa als solcher schon verbrecherisch o. ä.) und (b) welches der Rechte Vorrang bekommen soll. Antworten auf diese beiden Fragen können in universellen Termini formuliert werden (so daß nicht, wie Habermas meint, eine singuläre Norm
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II. Anwendungsfragen
zur Diskussion ansteht) und auch gegenüber allen gerechtfertigt werden; diese Fragen werden daher nicht erst auf Ebene von reflexiven Anwendungsdiskursen thematisch.1 Innerhalb der restlichen Zumutbarkeits-Problematik sind zwei Teilaspekte zu unterscheiden: Einerseits handelt es sich um fehlende objektive oder subjektive Voraussetzungen (A3), andererseits um genau die mangelnde Voraussetzung der allgemeinen Befolgung von bereits als gültig eingesehenen Normen. Das zentrale Problem von Habermas' Formulierung der mangelnden Zumutbarkeit liegt darin, daß der Eindruck entstehen könnte, ein Handelnder brauchte sich regelmäßig gar nicht mehr an den besten ihm zugänglichen Gründen zu orientieren, oder doch zumindest nicht mehr an solchen, die allgemeine Zustimmung finden könnten. Nur weil aber - wie so häufig - gute Gründe, ζ. T. auch moralische Gründe, dagegen sprechen, durch wirklich geführte Diskurse die Begründungsbasis moralischer Normen zu verbessern, wird die Orientierung an moralischen Normen nicht obsolet. Das merkt man schon daran, daß wir das Handeln unter solchen Bedingungen dann, wenn es sich noch als ein Handeln und nicht als ein bloßes Verhalten verstehen läßt, durchaus unter moralischen Kategorien beurteilen. Schon daß die objektiven und subjektiven Voraussetzungen fehlen, ist häufig die Folge eines unmoralischen Handelns anderer Personen. Das Brechtsche Diktum „Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral" transportiert doch gegenüber denen, die mehr als genug zu fressen haben, einen moralischen Anspruch, obwohl es propositional einem damit unverträglichen Moralbegriff verhaftet bleibt. Nicht zufällig wird daher von Brecht fortgesetzt: „Erst kommt das Fressen, das ist die Moral"! Selbst wenn es - anders als bei Brecht - nicht genug zu fressen für alle gäbe, wäre dies noch kein Freibrief zur beliebigen Behandlung der anderen Personen. Auch wenn meine Selbsterhaltung auf dem Spiel steht, gilt es ζ. B. die Angemessenheit der Mittel zu wahren - auch dann, wenn die Situation durch einen Angreifer allererst herbeigeführt wurde (vgl. die Rechtsprechung zu Notwehrsituationen). Auch in einem unaufgelösten Handlungskonflikt bleiben die konfligierenden normativen Ansprüche erhalten (und die nicht strittigen normativen Ansprüche erst recht) - sie etwa alle schlicht zu ignorieren, was die Verabschiedung von Moralität ja zulassen würde, ist keine moralisch legitime Lösung. Verschärft wird dieses Problem noch dadurch, daß häufig nicht einmal die Voraussetzungen dafür, Diskurse fuhren zu können, zu Voraussetzungen für moralisches Verhalten erklärt werden, sondern - im Verhältnis zum Moralprinzip - noch viel beliebigere Dinge. Moralität, und das heißt: Gerechtigkeit, wird damit etwas für paradiesische Idyllen, zumutbar erst bei einem rechten Überschuß ζ. B. an Ressourcen. Der methodische Kern dieser mißlichen Moral-Konzeption liegt, was die Diskursethik angeht, in der Fixierung auf reale Diskurse. Die Habermassche Moralkonzeption stellt auf Situationen von Handlungskonflikten ab, in denen unterschiedliche normative Ansprüche bestehen. Daß dieser Konflikt nicht in einem realen Diskurs ausgetragen werden soll, läßt sich u. U. moralisch sehr gut rechtfertigen, d. h. unter für jeden einzelnen zustimmungsfähige Interaktionsnormen bringen. Nur weil Habermas es mit Moralität gleichsetzt, einem
1 Ein anderes, allgemeineres Problem wäre es, wenn der Moraladressat an dem Konflikt zwischen der moralischen Pflicht gegen andere und der mit dieser Pflichterfüllung inkompatiblen eigenen Identität zerbricht, weil er den Konflikt nicht - d. h. auch im Diskurs nicht - austragen kann. Denn ein solcher Zusammenbruch droht genauso bei einer .gewöhnlichen' moralischen Pflichtenkollision (Tragödie).
2. Anwendungsprobleme aus Sicht von Habermas
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Moralprinzip zu folgen, das reale Diskurse erfordert, entsteht der Eindruck, Moralität entfalle dann ganz, wenn diese nicht geführt werden können. Doch dieser Eindruck würde Habermas' Konzeption nicht gerecht, schließlich wird die Zustimmung in >U< auch im Potentialis formuliert: Dort, wo man sich des realen Konsens nicht versichern kann, sind solche Normen zugrundezulegen, von denen man denkt, daß sie Konsens finden „könnten". Von daher vermute ich, daß die Vorbehalte gegen eine Integration von Überlegungen zum richtigen Handeln in Situationen, in denen keine realen Diskurse geführt werden können, tiefer liegen. Interessanterweise scheinen dann ja für Habermas zwar moralische, nicht aber jegliche normative Überlegungen fehl am Platze zu sein. Denn was sonst wollte Habermas mit der „Verantwortungsethik" bzw. der „politischen Ethik" ausdrücken, die dort griffe, wo die Voraussetzungen für diskursive Konfliktlösung fehlen, eine solche aber sinnvoll wäre - ansonsten blieben deren normative Grundlagen ja wiederum unausgewiesen. Der zweite mutmaßliche Vorbehalt, Diskurse politischer Ethik nicht als moralische Diskurse zu bezeichnen, ist, daß in ihnen Strategien gegenüber einem Teil der Diskursunwilligen oder Diskursunfähigen beschlossen werden. Der Bereich diskursiv einlösbarer praktischer Geltungsansprüche zerfällt also bei Habermas nicht nur in Bereiche des .guten Lebens' und der .Moral', sondern es gibt noch einen dritten Bereich .politischer Ethik'. Sein Geltungsanspruch erscheint nach Habermas' Darstellung im Kern als ein pragmatischer, gefragt wird nach Mitteln zum Ziel der Herstellung menschenwürdiger Bedingungen und der Ermöglichung von realen Diskursen, der als pragmatischer aber nicht der moralischen Reflexion entzogen sein soll (s. Kap. ΙΠ). Betrachten wir nun eine Situation, in der diese Voraussetzungen alle gegeben sind, bis auf die eine, daß eine allgemeine Befolgung gerechtfertigter Normen nicht erwartet werden kann. Habermas will (möglicherweise nicht nur, aber jedenfalls) dieses Anwendungsproblem durch den Übergang zum Recht lösen; aufgrund der Sanktionierung der Befolgungsverweigerung dürfen wir die allgemeine Befolgung erwarten, so daß die Befolgung moralischer Normen zumutbar wird. Das Recht bekommt so eine glasklare moralische Funktion, da der Rechtszustand moralisch gefordert werden kann. Die seit 1992 vorgebrachten Aussagen von Habermas, Recht und Moral verdankten sich der Ausdifferenzierung eines diesen Sphären gegenüber noch neutralen Diskursprinzips (s. Einleitung, 2.2.4) lassen jedoch den Schluß zu, das Recht hätte mit der Moral wenig zu tun. Fundamentale Rechte könnten zwar zugleich als moralische wie als juridische Rechte interpretiert werden, es sei jedoch nicht so, daß die Moral den Kerngehalt des Rechts festlege. Sicher ist es so, daß die juridische Rechtsform einen Unterschied macht: Juridische Rechte müssen von einer anerkannten Instanz explizit gesetzt werden, nachweisbare Rechtsverletzungen ziehen äußere Sanktionen nach sich, diese Sanktionen sind von einer rechtshermeneutischen Instanz zu bestimmen und von einer Exekutive durchzusetzen; juridische Rechte sind einklagbar. All das ist bei moralischen Rechten anders. Juridische Rechte sind letztlich als Antworten auf die Frage zu verstehen: Welches nachweisliche Verhalten wollen wir mit welcher äußeren Sanktion belegen? Moralische Rechte antworten auf die Frage: Welche Handlungen glauben wir, voneinander fordern zu dürfen? Einige dieser Handlungen können wir gar nicht, einige wollen wir vielleicht gar nicht erzwingen. Man denke an die Wahrhaftigkeit: Jemanden zu belügen, ist ja an sich nicht rechtswidrig. Und eine wirklich allgemeine Befolgung kann auch durch den Rechtszwang nicht sichergestellt werden, da dieses ja nur Sanktionen bereithält, das Einhalten des Gesetzes aber nicht im wörtlichen Sinne erzwingen kann.
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II. Anwendungsfragen
Sicher, einige moralische Prisoners-Dilemma-Situationen lassen sich durch die Absicherung von Pflichten qua Recht überwinden: wo es etwa klar geboten wäre, zu helfen, ich aber, versuchte ich es allein, mich in höchstem Maße selbst gefährden würde. Viele sind sicher auch dann erst motivational bereit, etwas zu tun, was sie an sich für sinnvoll halten, wenn sie wissen, daß andere sich ebenfalls dieser Pflicht nicht entziehen. Das Recht ist dabei aber nur eine Möglichkeit der organisationellen und institutionellen Überwindung solcher individueller Dilemmata. Sowohl gibt es andere Organisationsformen positiver Pflichten (ζ. B. Ministerien, .Ämter" der staatlichen Verwaltung oder Nichtregierungsorganisationen), als auch gibt es andere Sanktionsmöglichkeiten als die des Rechts (ζ. B. sozialer Druck). Unter Umständen wird mit der rechtlichen Sanktionierung aber auch nicht eine Moral allererst zumutbar, sondern diese vielmehr bedroht oder gar verabschiedet. Denn mit der moralischen Anerkennung eines Gegenübers geht eine bestimmte Form der Achtung einher, die durch ein nur aufgrund von Furcht vor Sanktionen bewirtetes regelkonformes Verhalten prinzipiell nicht aufgebracht werden kann. Wo Menschen also erst durch den Rechtszvtwig Normen zu befolgen, liegt gerade keine moralische Achtung des Gegenübers vor. Es geht mir dann nämlich bei der Normbefolgung nicht um den anderen, sondern um mich. Wo Menschen allerdings erst aufgrund der Rechtsnorm (verstanden als explizite Kodifizierung) bereit sind, Normen befolgen, wird das Gegenüber immerhin als ein solches geachtet, das ein Recht auf eine rechtsförmige Behandlung hat, dem also nicht mit bloßer Willkür begegnet werden darf - mehr aber auch nicht. Das Hauptargument gegen die Herstellung der Zumutbarkeit durch das Recht ist aber, daß es schlicht falsch ist zu sagen, erst durch das Recht würde die Befolgung moralischer Nonnen zumutbar. Ob beliebige andere Normen befolgt werden, ist für die Verbindlichkeit einer bestimmten Norm normalerweise irrelevant (denn nur ausnahmsweise führt dies zu Pflichtenkollisionen). Der Grad der allgemeinen Normenbefolgung ist in der Regel genauso unerheblich: Was hat es in einer Situation zu sagen, daß beliebig viele unbeteiligte Menschen die Norm nicht befolgen, die mich verpflichtet, wenn von deren Nichtbefolgung mein Handlungserfolg nicht abhängt? Und dann gibt es - man denke an die Pflicht zur Hilfeleistung - reichlich Situationen, wo selbst oder gerade dann, wenn alle anderen, auch die Beteiligten, eine moralische Norm nicht befolgen, diese Befolgung von mir erwartet werden kann (sie also durchaus zumutbar ist). Für den Habermasschen Lösungsvorschlag des Zumutbarkeitsproblems gilt: Weder wird generell durch das Recht die Befolgung moralischer Normen zumutbar, noch wird erst durch das Recht die Befolgung zumutbar. Denn es gibt Situationen, in denen auch durch eine Verrechtlichung die Befolgung moralischer Normen nicht erreicht werden kann (und ihre Befolgung dadurch also nicht zumutbar wird), und es gibt Situationen, in denen trotz fehlender allgemeiner Befolgung die Normbefolgung bereits zumutbar ist (und eine Verrechtlichung also gar nicht erforderlich ist, selbst wenn sie die allgemeine Befolgung sicherstellen könnte).
3. Probleme in der Transzendentalpragmatik
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3. Probleme in der Transzendentalpragmatik Bezüglich des Anwendungsproblems verweist die Transzendentalpragmatik regelmäßig auf das Problem der fehlenden Anwendungsbedingungen, reale Diskurse fuhren zu können. In einem sogenannten „Teil B" der Diskursethik, der auf die Herstellung dieser Anwendungsbedingungen zielt, wird dieses Problem dort auf unterschiedliche Arten ausgeführt.
3.1 Anwendungsprobleme aus Sicht von Apel Anwendungsprobleme finden sich auch bei Apel in den diversen Aufsätzen verstreut. Eine Ausnahme bildet das „geschichtsbezogene Anwendungsproblem der Diskursethik" der fehlenden Voraussetzungen realer Diskurse, das Apel als zentrale Aufgabe der Diskursethik ansieht - diesem Thema ist ein ganzes Buch gewidmet (Apel 1988). In abgrenzender Absicht wird aber dennoch auf verschiedene andere Anwendungsprobleme aufmerksam gemacht - wohl auch, um Verwechslungen mit dem Kardinalproblem zu vermeiden. In einem Aufsatz zu Kohlberg wird vom philosophischen Problem der Letztbegründung (das wir oben erläutert haben) dasjenige der existentiellen Motivation abgespalten: „Man muß zugeben, daß man durch rationale Argumentation einen existentiellen Skeptiker nicht .widerlegen' kann. Das besagt aber nur. Man kann ihn allein durch rationale Argumente nicht daran hindern, ζ. B. die rationale Diskussion zu verweigern und eventuell aus Sinnverzweiflung Selbstmord zu begehen. (Aus letztlich denselben Gründen ist es auch nicht möglich, einem Menschen durch rationale Argumente den,guten Willen' anzudemonstrieren, d. h. ihn gewissermaßen definitiv dazu zu zwingen, die kognitive Einsicht in die moralische Pflicht in einen entsprechenden Willensentschluß zum Handeln umzusetzen.)" (Apel 1988:348)
Diese existentielle Frage verweise (Apel zeigt sich hier inspiriert durch Kohlbergs Spekulationen über eine religiös-metaphysische Stufe sieben der Moralentwicklung) auf eine „Harmonie- Vision", die „einerseits existentiell befriedigt" und andererseits „mit der formalstrukturellen Entwicklung des logischen und des moralischen Denkens kompatibel" ist (349), auf eine „Vollendung der integralen Ich-Entwicklung" - aber nicht mehr auf ein moralphilosophisches Begründungsproblem. Mit der Einsicht in die transzendentale Letztbegründung (und dies sei die eigentliche Stufe sieben der Moralentwicklung) sei kognitiv schließlich alles erreicht. Apel wird in diesem Zusammenhang denkbar deutlich: „Vor der Umsetzung der Einsichten der moralischen Urteilskompetenz in Handlungsentschlüsse bedarf es auf allen Stufen der Moral noch einer willentlichen Bekräftigung der Einsicht im Sinne einer Entscheidung firs Moralischsein." (357)
Diese Bekräftigung sei eine „philosophisch begründete postkonventionelle Gewissensentscheidung angesichts der fundamentalen moralisch-strategischen Ambiguität der Rationalität menschlicher Interaktion" (ebd.). Im eingangs zitierten Text zum geschichtsbezogenen Anwendungsproblem der Diskursethik werden einige weitere Probleme abgespalten. Auf der konventionellen Stufe der Moralentwicklung (etwa der relativistischen Üblichkeitsethiken) fallen Anwendungsprobleme, so Apel (1988:133; vgl. auch 295), ausschließlich in die Domäne der Urteilskraft: Ange-
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II. Anwendungsfragen
wendet werden hier Nonnen auf Fälle. Postkonventionelle Moralen müssen erstens ebenfalls Normen auf Fälle beziehen (wie genau sagt Apel nicht). Zweitens jedoch erfordere die Trennung moralischer von Fragen des guten Lebens eine (andauernde) Unterscheidung und Vermittlung von Perspektiven (133). So zeige bereits diese - von Habermas übernommene Unterscheidung, daß es keineswegs Ziel der Diskursethik sei, alle Institutionen und Konventionen durch den argumentativen Diskurs zu ersetzen, sondern diese lediglich so umzubauen, daß sie dem Universalisierungsprinzip >U< nicht widersprechen (148).1 Und weiterhin müsse, drittens, ein Teil der üblicherweise an die Klugheit überwiesenen Probleme der Folgenberücksichtigung bereits auf der Ebene der Normbegründung berücksichtigt werden. Diese Ebene gab es auf konventioneller Stufe ja nicht. Habermas habe diesem Problem durch die Einarbeitung der Folgenberücksichtigung in >U< Rechnung getragen - jedoch nicht umfassend genug. Es stellt sich nämlich immer noch ein viertes Anwendungsproblem („Verantwortungsethik"), das der Berücksichtigung der Folgen der vorschnellen Anwendung der Diskursethik unter (derzeit) nicht gegebenen Anwendungsbedingungen. Dies ist das (zentrale) geschichtsbezogene Anwendungsproblem der Diskursethik. 3.1.1
Der „ Teil Β " der Diskursethik
Wahrscheinlich da Apel glaubt, ein Diskursprinzip letztbegründet zu haben, das einen teleologischen Gehalt besitzt,2 besteht sein Vorschlag in der Einführung eines „Teil B", darin zentral ist das berüchtigte Ergänzungsprinzip (E), das strategisches Handeln mit dem Ziel der „Herstellung der Anwendungsbedingungen der Diskursethik" legitimiert (und somit die deontologische Verständigungsorientierung zugunsten einer teleologischen Erfolgsorientierung aufweicht; 1988: 146). Worum es im Teil Β gehen soll, zeigt die (in Apel / Kettner 1992) vorgenommene weitere Differenzierung in die Teile B1 (Recht) und B2 (Politik). Eine Verantwortungsethik „erweist sich schon bei der normativen Rechtfertigung der Zwangsgeltung rechtlicher Normen als notwendig" (57). Denn das Gewaltmonopol des Rechtsstaats „macht es ja erst möglich, daß die einzelnen Bürger es sich weitgehend ohne Risiko leisten können, moralisch zu handeln" (58). Doch darin erschöpft sich Teil Β nicht (denn nicht die gesamte Lebenswelt kann oder soll verrechtlicht werden). Auf Ebene der Politik, aber auch dort, wo die Verrechtlichung noch nicht ausreichend weit fortgeschritten ist, ist die „Vermittlung von Moralität im engeren Sinne (im Sinne von 1 Allerdings räumt auch Apel ein, in früheren Formulierungen den Anschein einer „substantiell utopischen Programmatik im Geiste von Ernst Bloch" nicht klar genug ausgeschlossen zu haben (1988: 142): daß die ideale Kommunikationsgemeinschaft nämlich in der realen irgendwann einmal abschließend verwirklicht werden könne. Ähnlich Habermas' Abrücken vom antizipatorischen „Vorgriff auf die ideale Sprechsituation" als „Vorschein einer Lebensform" in jedem diskursiven Akt (1971a: 141; vgl. auch Kap. II.2.1). Die Ersatzformuliemng des idealen Diskurses als „regulativer Idee" soll - bei aller sonstigen Unscharfe wenigstens dieses Mißverständnis vermeiden helfen. 2 In seinen Überlegungen zur Realisierung der Voraussetzungen der Moralität als moralischer Pflicht kann sich Apel im Ansatz auf Kant beziehen: Dieser fordert in der „Einleitung zur Tugendlehre" der „Metaphysik der Sitten" die (strategisch-teleologische) Beförderung auch der eigenen Glückseligkeit, da dies die Pflichterfüllung psychologisch wahrscheinlich macht: „Widerwärtigkeiten, Schmerz und Mangel sind große Versuchungen zu Übertretung seiner Pflicht." (Kant 1968: A 17).
3. Probleme in der Transzendentalpragmatik
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Teil A) mit strategischem Handeln" geboten (61), hier also greift nun (E). Bezeichnenderweise findet sich in Apels Buch von 1988, obwohl die Problematik des moralstrategischen Handelns zentrales Thema ist, keine explizite Formulierung dieses Prinzips. Apel ist sich auch unsicher hinsichtlich des Status von (E): „Hat es ζ. B. selbst noch den Charakter einer universalisierbaren Regel der Maximenwahl oder ist es letztlich doch nichts anderes als ein Appell an die Urteilskraft bzw. Phronesis, welche eben stets in der Situation an die Stelle der fehlenden Regel der Regelanwendung treten muß? Hier beginnen in der Tat die Schwierigkeiten von Teil Β der Ethik, die ich fur größer halte als die der Letztbegründung in Teil A der Ethik" (1988:145).
Zumindest im globalen Kontext, etwa der Außenpolitik (Apel bezog sich damals auf die Ost-West-Blockkonfrontation), träte dieses Anwendungsproblem in den Vordergrund, da die Anwendungsbedingungen von >U< hier ohnehin nicht gegeben seien, ja, gravierender noch: dies gelte „für alle im weitesten Sinn politisch relevanten Handlungsentscheidungen" (144). Apels Hoffnung ist. daß sich (E) genauso wie >U< bzw. Uh über den PS-Test philosophisch letztbegründen läßt (142 u. 150). Seine Problembeschreibung, die auf die Notwendigkeit der Reflexion auf die Anwendungsbedingungen von >U< führte, teilt Apel mit vielen anderen Autoren; seine Position ist ähnlich der, die auch Habermas streckenweise vertreten hat (bevor er sich auf den Irrweg der auf genau eine Norm eingeschränkten Zumutbarkeitserwägungen begeben hat).1 So spricht Apel an mehreren Stellen von dem Problem der „Zumutbarkeit" der Moral, welche abhinge vom „Bestehen von Rechtszuständen überhaupt", dem „Stand der sozialen Realisierung [...] des Habermasschen Prinzips >U< als Prinzip der Begründung bzw. Legitimation von Rechtsnormen", sowie von der Existenz einer „.räsonierenden Öffentlichkeit'". Er glaubt, ein Handeln gemäß U-gültigen Normen sei ohne weiteres nur dann verantwortbar, „wenn wir (schon) in einer Welt lebten, in der damit gerechnet werden könnte, daß (1.) alle faktisch befolgten Normen gemäß dem angegebenen Verfahrensprinzip >U< begründet werden könnten, und daß (2.) alle Menschen (zumindest) bereit wären, die im Sinne von >U< begründeten Normen im allgemeinen weiter zu befolgen; kurz: die vorgeschlagene Formel >U< wäre als hinreichendes Verfahrensprinzip für die Lösung aller Probleme der Normbegründung bzw. Normenlegitimation akzeptierbar, wenn wir (schon) unter den Bedingungen der im argumentativen Diskurs faktisch antizipierten idealen Kommunikationsgemeinschaft lebten; oder wenn das Anwendungsproblem der Diskursethik kein geschichtsbezogenes wäre, sondern ein Problem des geschichtlich voraussetzungslosen Anfangs am Punkt Ct\ (1988: 128)
Auch im einzelnen mag diese Formulierung seltsam wirken;2 sie scheint jedoch die Möglichkeit zu unterstellen, man könne überhaupt die ideale Kommunikationsgemeinschaft in der realen restlos verwirklicht haben - eine „konkrete Utopie", wie sie Apel in kritischer Distanz zu früheren Äußerungen doch eigentlich ablehnt (1988: 142,468 u. ö.). Er hätte die
1 In seinen jüngsten Veröffentlichungen scheint Apel allerdings die Niquetsche Konzeption zu übernehmen (Apel 1996: 8, 74f., 118 Fußnote 34). Daraufhat mich Micha H. Werner aufmerksam gemacht. 2 So erschöpfen die von Apel genannten Bedingungen (1.) und (2.) nicht die Bedingungen der idealen Kommunikationsgemeinschaft: Denn es reicht ja nicht, nur im allgemeinen diese Normen zu befolgen, sondern dies muß in jedem Fall geschehen. Und in der idealen Kommunikationssituation können nicht nur praktische, sondern auch theoretische Fragen behandelt werden.
II. Anwendungsfragen
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Idealisierungen im Begriff der „idealen Kommunikationsgemeinschaft" gerne verstanden als „regulative Idee" in Anlehnung an Kant.1 Von daher kann man auch sagen, je offensichtlicher die reale von der idealen Kommunikationsgemeinschaft entfernt ist, desto weniger sind moralische Normen zumutbar und desto eher soll man sich an (E) orientieren als an >UU< keinen methodischen Rückhalt mehr für diese Forderung. Zwar sieht Apel deutlich, daß es sich bei dem (E) zugrundeliegenden Problem nicht darum handelt, Normen auf Fälle anzuwenden (dies war die klassische Domäne der Klugheit im Rahmen einer konventionellen Moral) oder das Moralprinzip anzuwenden und Normen zu begründen. Eine bloße Regression auf irgendwelche Üblichkeiten, die als Üblichkeiten in Geltung zu setzen wären, läßt er zu Recht nicht zu (denn diese dienen ja i. allg. nicht der Verwirklichung der idealen Kommunikationsgemeinschaft). Doch reicht die Orientierung auf ein Ziel nicht, die Mittel als legitim (und nicht nur als geeignet) zu qualifizieren - von daher steht gegenüber einem an (E) orientierten Moralstrategen in dieser Hinsicht alles zu erwarten. Der gute Wille, nicht den Zweck die Mittel heiligen zu lassen, ist bei Apel natürlich vorhanden. Doch auch die von Apel an einer Stelle vorgeschlagene Vermittlungsregel, das „Prinzip der Verhältnismäßigkeit" (V), hilft hier nicht weiter: „Soviel diskursive Konsensbildung [...] wie möglich, soviel strategische Selbstbehauptung [...] wie nötig" (1988:268). Es suggeriert vielmehr, daß die Wahl der Mittel sich empirisch-objektiven Möglichkeiten bzw. Notwendigkeiten verdankt und nicht normativen Überlegungen. Auch durch (V) bleibt die Frage, welche Strategie zu ergreifen sei, ja offen. Ott schlägt hierzu die Formulierung einer „unvollkommenen Pflicht" vor (1997: 310): „Wir sollen uns zwar fur die Realisierung von >D< engagieren, so gut wir es (aufgrund unserer Lebenssituation) vermögen, dies aber unter der Beachtung der Normen (Gert) und der Rechte anderer und immer auf eine Weise, durch die die Idee, die sich in >D< ausspricht, niemals diskreditiert, sondern immer zugleich auch aktuiert wird es sei denn, das Verhalten der anderen zwingt uns eine Strategie reiner Selbstbehauptung auf. [Fußnote: Wann der Augenblick gekommen ist, wo auch für Diskursethiker das Reden keinen Sinn mehr macht und man sich zur Wehr setzen muß, läßt sich
1 Nur, daß von ihnen nun nicht die Einheit der Erfahrung gestiftet wird (wie bei Kant). Der Sinn soll wohl darin liegen, daß regulative Ideen in der Realität nie vollständig erreicht werden können, jedoch als das eigene Handeln orientierend, d. h. ihm eine Richtung weisend, vorausgesetzt werden müssen. Somit lassen sich auch Entfernungen von diesem Ideal bestimmen - eine Richtung weisen zu können setzt ja voraus, an zwei verschiedenen Orten wenigstens relativ den größeren Abstand zum „Ideal" bestimmen zu können.
3. Probleme in der Transzendentalpragmatik
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nicht mittels irgendwelcher Ergänzungsprinzipien ausmachen.] So etwa lautet die Meta-Maxime für eine angewandte Diskursethik."
Vielleicht kann man wenigstens von der Pflicht sprechen, inkrementell den je ersten Schritt zu einer diskursiven Verständigung zu machen (solange das Gegenüber mitgeht). Die (derzeit jedenfalls obsolete) Perspektive auf die Ost-West-Blockkonfrontation legt eine (untypische und wohl selbst dort nicht gegebene) Situation nahe, wo das geringste Kooperationsangebot dem anderen gleich die Gelegenheit zur totalen Vernichtung gibt. Die Möglichkeit offen strategischen Handelns wird von Apel als Ausweg nicht einmal erwähnt, statt dessen geht es um verdeckte Langzeitstrategien. Ein Ausschnitt aus dem Spektrum von Möglichkeiten, mehr oder weniger diskursive Konfliktregelungsverfahren in Kontexten vorwiegend strategischen Handelns durchzufuhren, habe ich an anderer Stelle untersucht (Gottschalk / Elstner 1997; Gottschalk 1998). Es gibt zudem ungemein vielfältige Bemühungen zur Zivilisierung des Austrags von Konflikten, etwa im Rahmen der UN, und insbesondere die in diversen Tagungsbänden der Evangelischen Akademie Loccum dokumentierten - Methoden der Alternative Dispute Resolution. Apel fordert durch (E) ein Handeln, das sich nicht nur nicht an idealmoralischen Normen, sondern anscheinend an gar keinen Normen mehr zu orientieren braucht. (E) qualifiziert entweder Maximen (so Apel 1988:145) oder direkt Handlungen und nicht mehr Normen; eine Begründung dieser Maximen bzw. Handlungen ist zwar noch zu leisten (zur Not allein vor sich selbst), aber nicht mehr qua verallgemeinerbarer Normen. Doch warum sollte die Begründung sich nicht mehr an Normen orientieren - weil moralische Idealnormen gemäß >U< nicht zu gewinnen sind (wie Apel unterstellt)? Dann könnte man wohl immer noch den falschen NormbegrifF haben und eine Argumentationsregel wählen, in der nicht die allgemeine Befolgung vorausgesetzt wird. Oder weil reale Diskurse nicht durchführbar sind (wie Ott unterstellt)? Dann verbleiben immer noch advokatorische Diskurse oder eine Rechtfertigung „in foro interno", und damit moralische Begründungspflichten. Der Sinn moralischer Normbegründung wird bei Apel (wie auch bei Habermas) verlagert: weg von der Formulierung universalisierbarer Regeln für das Verhalten in unserer Welt, hin zu Regeln für das Verhalten in einer Idealwelt. Beide trifft die Bemerkung Wellmers, es würde ein .Reich der Zwecke' konstruiert, das man nun aber (anders als noch bei Kant) im Handeln gleich wieder verabschieden muß. Diese Verabschiedung wird in Apels Teil Β offenbar.
3.2 Ausdifferenzierung des Anwendungsteils Β durch Böhler Ähnlich wie Karl-Otto Apel ist auch Dietrich Böhler von der Letztbegründung der Diskursethik überzeugt. Diese versieht das Diskursprinzip >D< mit „absoluter Geltung": „Als Argumentierender erhebe ich Ansprüche auf Geltung in einem unbegrenzten Diskursuniversum und bin daher zur Bemühung um den argumentativen Konsens verpflichtet, der sich auch und zumal unter den idealen Bedingungen eines Diskursuniversums mit gänzlicher dialogischer Reziprozität einstellen würde." (203)
Als Moralprinzip sieht Böhler anscheinend >U< an, dessen (anders als für Habermas) teleologischer Geltungssinn jedoch qua >Ureg ,el< und >lTs,n,t< erläuterungsbedürftig sei:
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II. Anwendungsfragen
>Un*'te>< steht für die Pflicht, „sich im realen Universum um die Annäherung an Bedingungen eines dialogischen Diskursuniversums (bzw. einer idealen Kommunikationsgemeinschaft) zu bemühen und dabei jene Strukturen zu erhalten und Traditionen auszuschöpfen, die eine solche Annäherung ermöglichen" (205).
Böhler bezeichnet >Ureg"td< auch als „Explikation der Bedingungen, unter denen >U< in der geschichtlichen Realität angewandt werden kann" (218); dies ist etwas schief: Gemeint ist wohl, es sei die Explikation des Geltungssinns von >U< (nach dem nicht direkt zu handeln sei). Doch >Ureg"tel< sei u. U. noch nicht direkt handlungsleitend, man müsse es nämlich so befolgen, daß man nicht „am strategischen Durchsetzungsverhalten realer Systeme und Personen scheitert" (206). Daher müsse man sich an >U"slrat< orientieren, welches fordert, daß die Praktizierung von >Ureg tel< „in dem Maße strategisch erfolgen [soll], als solche Strategien - gemäß D und U - gerechtfertigt sind, um unmoralische Gegenstrategien zu neutralisieren" (ebd.). Dieses Prinzip hat also denselben Status wie Apels (E), sieht aber eine Rechtfertigung der Strategien gemäß >U< und >D< vor. Böhler unterscheidet, analog zu Apel, die Teile A und B, sodann im „idealisierenden Legitimationsteil der Ethik (A)" die „Stufen: reflexiver Aufweis von Letztgültigem, das unbedingt verpflichtenden Anspruch hat (Al), und praktische Diskurse über das, was (im idealisierenden Diskurs-)Blick auf Handlungssituationen als moralisch verpflichtend bzw. normativ richtig gelten kann (A2)" (Böhler 1992: 203f.).' In Al können nach Meinung von Böhler der Menschenwürdegrundsatz (des Grundgesetzes) sowie grundlegende kommunikative Rechte gewonnen werden, und zwar über die Prinzipien >U< und >Ureg telU< daher nicht anwendbar sei. Böhler versteht den Teil Β allerdings explizit als „Konsequenz" des Teils A und nicht wie Apel - als dessen Ergänzung (204). Teil Β zerfällt bei ihm in die Teile der (Bl) „staatlich-rechtlichen" und der (B2) „individuellen Folgenverantwortung" - wobei jene dieser „subsidiär vorgeordnet wird" (220f.). Unter derartigen kollektiven oder individuellen „Zumutbarkeitserwägungen" wären u. U. Handlungen zu billigen, die „strenggenommen moralisch illegitim sind" (220)! Eine entsprechende Rechtfertigung der „Einschränkung der Geltung moralischer Prinzipien" ziele auf „intersubjektiv geltungsfähige Kriterien". Sie gehören daher, wie Böhler Apel zustimmend zitiert (220), zum Begründungsteil. Nun jedoch, und dies ist ein Fortschritt gegenüber der Position von Apel, sind die Strategien „ihrerseits an dem kritischen und kommunikativen Maßstab der argumentativen Konsensfähigkeit zu messen", und zwar im Rahmen von >D< (221; 224). Geltungslogisch wird >D< damit >U< vorgeordnet. Doch folgende Formulierung stellt das Erreichte wieder in Frage: „Das schließt einerseits eine Freigabe der Realisierungsstrategien (im Sinne von ,der Zweck heiligt die Mittel') aus; andererseits ist neben in der anerkannten Pflicht II [gemeint ist: U"*" 1 ; NGM] die Folgeverpflichtung impliziert, in dem Maße telosstrategisch zu verfahren (Pflicht III bzw. Pflicht U"™', als sich in theoretischen Diskursen (über die Verhältnisse der sozialen Welt) die Notwendigkeit herausstellt, amoralische Durchsetzungs-, Profil- oder Machtstrategien zu kontern, um diese zu neutralisieren (moralische Strategie kontra amoralische Strategien)." (219f.)
Denn, ähnlich wie Apel (s. o.), zieht sich Böhler hier nun auf in theoretischen Diskursen, also als nicht-normative Fragen zu behandelnde, Notwendigkeiten zurück. Wann welche Strategie angemessen ist, ist aber letztlich keine theoretische Frage. Um den „begründeten Einschränkungen der Anwendung des Diskursprinzips" eine Perspektive zu bieten, formuliert Böhler (im Blick auf das sensible Problem der Tötung schwerstbehinderter Neugeborener) zwei Kriterien, die sich als „diskussions- und interpretationsbedürftige philosophische Instrumente einer Alltagssokratik" verstünden: „Das Kriterium (Z) der Zumutbarkeit (einer moralischen Verpflichtung) fur Betroffene, und das Kriterium (V) ihrer Vereinbarkeit mit der Verantwortung stellvertretend Handelnder, die die Interessen Dritter zu vertreten haben - etwa Eltern, Ärzte und Pfleger, Politiker)." (226)
Z-Pflichten bestehen dabei für Handelnde auch gegen sich selbst, wo sie nämlich „die Sicherung eines für sie erträglichen, für sie selbst akzeptablen Lebens betreffen" (226). So sei, um bei Böhlers Beispiel zu bleiben, die Tötung schwerstbehinderter Neugeborener im Prinzip verboten (Teil A), aber unter einer gesetzlichen Regelung, die die intensive individuelle Auseinandersetzung mit der Problematik wahrscheinlich macht, als individuelle Gewissensentscheidung zu gestatten (Teil B), wenn nämlich ein rechtliches Verbot die ansonsten entstehende Situation unzumutbar für das Neugeborene (weil nichts als Leid bedeutend), unverantwortbar für die Eltern (weil diese die Entscheidung für das Leben zwingend treffen und in einem solchen Elend durchhalten müßten) und schließlich auch (und keineswegs stillschweigend), und er zieht unter Zumutbarkeitserwägungen auch Konsequenzen daraus (allerdings andere als Böhler und Apel).
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II. Anwendungsfragen
unzumutbar fur die Eltern (weil fìir ihr Familienleben ein solches Elend katastrophal wäre) machen würde. Es sei die „ethische Praxisorientierung" in Teil B, die das gemäß Teil A „eigentlich als moralisch illegitim" Anzusehende verantwortungsethisch in Ausnahmefallen erlaubt. Mit Teil Β gelingt es also - nach Böhler - , Raum für individuelle Gewissensentscheidungen zu schaffen, die angesichts einer nicht abzubauenden Unsicherheit u. U. unausweichlich sind. Die Situationsspezifik macht jedoch nicht den Übergang zu einem Teil Β erforderlich, und soweit sich die Gewissensentscheidung auf Z- und V-geleitete Gründe stützen kann, können und müssen diese auch als (situationsspezifische) Nonnen reformuliert werden. Daß man den einzelnen gerade in gravierenden Fällen nicht rechtlich zwingen sollte, angesichts von Unsicherheit gegen sein Gewissen oder seine Überzeugungen agieren zu müssen, ist selbstverständlich. Dies ist unmoralisch. Doch die äquivalente Gefahr eines .moralischen Zwangs' besteht im Rahmen der Diskursethik nicht. Dieser würde ja nur durch gute Gründe ausgeübt werden können. Wo gute Gründe noch hinreichen, überzeugen sie zwanglos. Wo aber gute Gründe nicht mehr hinreichen, zwingen sie nicht - auch nicht das Gewissen. Wichtig scheint mir aber die Reflexion auf institutionelle (Bl) und individuelle (B2) Entscheidungen, die zusammen zu einem verantwortlichen Handeln führen; was hier noch als Teil der Begründung der Diskursethik bezeichnet wird, ist eigentlich eine Anwendung (und wird weiter unten als solche diskutiert werden). Böhler scheint jedoch zwei Probleme zu vermischen und beide im Teil Β ansiedeln und lösen zu wollen, nämlich das der Normenkollisionen (da durch die Z- und V-Kriterien ja moralische Pflichten bezeichnet werden) mit dem der Herstellung der Anwendungsbedingungen von >UU< nicht gegeben? Der von Böhler beschriebene Konflikt besteht nicht deshalb, weil gültige Normen nicht allgemein befolgt werden. Im folgenden Abschnitt wird hingegen ein Ansatz diskutiert, gerade dieses Problem wieder aufnimmt - unter eher Habermasschen Prämissen.
4. Ausarbeitung des Problems der Zumutbarkeit Niquet (1992) Marcel Niquets Anwendungskonzeption schließt an die von Habermas angestellten Zumutbarkeitsüberlegungen an, allerdings betrachtet er allein die mangelnde Akzeptanz der Nonnadressaten (Problem A4). Er versucht, eine Definition „befolgungsgültiger" Normen zu leisten, die auch für die Situation, daß die Befolgung einer an sich gültigen Norm unzumutbar ist, noch Aussagen darüber zu treffen gestattet, was zu tun sei. Die Idee ist also, die Befolgungsgültigkeit zu unterscheiden von der Gültigkeit qua Moralprinzip (M-Gültigkeit, in Niquets Worten - orientiert an Habermas' Verallgemeinerungsprinzip >U< - U-Gültigkeit). U-gültige Normen seien dann nicht befolgungsgültig, wenn ihre „Anwendungsbedingungen" nicht erfüllt seien. Zu den Anwendungsbedingungen wird von Niquet ausschließlich die (in der Formulierung von >U< unterstellte) „allgemeine Befolgung" der zu prüfenden Norm gezählt. Sei diese Anwendungsbedingung nicht gegeben, könne aber eine
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„Folgenorm" generiert werden. Diese Folgenorm sei dann befolgungsgültig, aber selbst nicht U-gültig. Der Kern von Niquets Überlegungen besteht in der Angabe eines Verallgemeinerungsprinzips für diese Folgenormen. Ich will zunächst Niquets Weg hin zu diesem Prinzip, zugleich letztes Kriterium der Befolgungsgültigkeit, nachzeichnen und erst dann eine allgemeinere Kritik an seinem Vorschlag üben.
4.1 Der Weg zur Befolgungsgültigkeit Ausgangspunkt der Überlegung ist die Beobachtung, daß gültige Normen unter der Prämisse der allgemeinen Befolgung gerechtfertigt werden. Rekapitulieren wir noch einmal Habermas' Formulierung von >UU< Jede gültige Norm muß der Bedingung genügen, daß die Folgen und Nebenfolgen, die sich aus der allgemeinen Befolgung der strittigen Norm fur die Befriedigung der Interessen eines jeden Einzelnen voraussichtlich ergeben, von allen zwanglos akzeptiert werden können." (1983a: 103)
Normen werden jedoch nicht immer allgemein befolgt - was u. U. Auswirkungen für die Bewertung anderer Handlungen und Normen hat: Bei Hilfepflichten etwa ist es wichtig zu berücksichtigen, was andere (bereits) tun. Durch Normen-Nichtbefolgung können sich also bestehende Pflichten verschärfen, es können neue Pflichten entstehen, oder - und darum wird es Niquet gehen - bisherige Pflichten müssen modifiziert oder gar in Verbote verkehrt werden. Dann nämlich, wenn das bisher moralisch Gebotene zu moralisch inakzeptablen Konsequenzen fährt (man denke ζ. B. an das Gebot der Gewaltfreiheit angesichts einer aufgrund einer Normenverletzung eingetretenen - Notwehrsituation). Moral wird dann, so könnte man versucht sein zu sagen, unzumutbar entweder fur die Adressaten oder für die Betroffenen. Niquets Idee ist nun, in dieser Situation moralische „Folgenormen" zu postulieren, welche die durch die Nichtbefolgung der ursprünglichen Normen entstandenen Probleme korrigieren. Dabei muß vorausgesetzt werden, daß einige eben die ursprünglichen Normen nicht befolgen - eine moralische Pflicht, auf die allgemeine Befolgung dieser ursprünglichen Nonnen hinzuwirken, bleibt dennoch bestehen. Niquet nennt die Nonnen, deren Befolgung geboten ist, „befolgungsgültig". Im Laufe der Argumentation werden dabei verschiedene Bedeutungen dieses Begriffs unterschieden, die nun nachgezeichnet werden. Wirklich unübersichtlich wird die Diskussion erst dann, wenn im Sinne der Diskurstheorie unterschieden werden muß, wer denn nun von der wie gearteten Befolgung der ursprünglichen bzw. der Folgenormen betroffen ist und was daraus für eine Teilnahme am Diskurs über die genannten Normen zu folgen hat. Doch beginnen wir mit einer kurzen Darstellung des Niquetschen Konzepts. Zunächst stellt Niquet klar, daß >U< im Sinne eines kontrafaktischen Konditionalsatzes zu lesen ist:1 „>U'U< vor, die nicht spezifisch für seine Fragestellung sind: Er ergänzt die Interessen um Präferenzen und er ersetzt „zwanglos" durch „rational"; auf diese Änderungen möchte ich nicht näher eingehen.2 Das Spezifikum der Definition B3 besteht in den differenzierten Beteiligungsklauseln am, so möchte ich ihn nennen, Folgediskurs. Um seinen Vorschlag besser zu verstehen, werden diese jetzt für sich besprochen, erst im Anschluß soll dann das Gesamtprojekt beurteilt werden. Wir unterstellen also im folgenden eine Modellwelt mit nur einer U-gültigen Norm N, in der es wirklich so ist, daß diese Norm als nicht befolgungsgültig erwiesen wird dadurch, daß sie nicht allgemein befolgt wird, und daher eine Folgenorm N' an ihre Stelle treten muß, die auch bei nicht-allgemeiner Befolgung noch befolgungsgültig ist. Blenden wir außerdem die Problematik der Advokation vorerst aus. Alle diese Unterstellungen werden erst im übernächsten Abschnitt problematisiert. Machen wir uns die Gesamtkonzeption abschließend in einem Flußdiagramm klar:
1 Aus Konsistenzgründen muß diese Definition auch gelten, wenn N'=N, und dann B2-Gültigkeit erläutern: Dies gelingt unter der Prämisse, daß es keine N-Befolger gibt, die nicht von Ν oder Ν' betroffen sind. 2 Wahrscheinlich geht Niquet davon aus, daß eine zwanglose Akzeptanz seitens deijenigen N-Nichtbefolger, die aufgrund von N' Sanktionen oder Zwangshandlungen zu befürchten haben, nicht unterstellt werden kann.
4. Ausarbeitung des Problems der Zumutbarkeit
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Nonnvorschlag Ν
Befolge N!
Befolge N'!
Abbildung 3 Entscheidungsdiagramm für die Gewinnung zu befolgender Nonnen aus einem Normvorschlag Ν anhand von U- und Bx-Gültigkeit einer Norm Ν bzw. ihrer Folgenorm N' (s. Text).
4.2 Betroffenheit und Beteiligung - ein Klärungsversuch Niquets Intuition in den .Beteiligungsklauseln' ist vielleicht folgende: Zu beteiligen sind (I) alle faktischen N-Befolger (die nicht eingesehen haben, daß Ν nicht Bp und auch nicht B2gültig ist), (II) alle faktisch von der nicht-allgemeinen Befolgung von Ν Betroffenen (die über die Legitimität der Folgenorm sicher mitbestimmen sollten, denn ihretwegen wird diese ja erforderlich) sowie (III), advokatorisch, alle von N' Betroffenen (um die „Verhältnismäßigkeit" der Folgenorm zu wahren gegenüber denen, die durch ihre Nichtbefolgung von Ν die Folgenorm N' überhaupt erst erforderlich machen).1
1 Die Unterstellung ist hier offensichtlich, daß ein Mensch, der eine beliebige moralische Norm verletzt, nicht zum Diskurs über die entsprechende Folgenorm zugelassen ist, gleichzeitig aber seine Interessen
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II. Anwendungsfragen
Die Situation wird kompliziert dadurch, daß Niquet davon ausgeht, daß N, obwohl nicht befolgungsgültig, doch von einigen Menschen (ich würde sagen: den „naiven Guten") befolgt wird. Dies könnte daran liegen, daß N' ja noch nicht gefunden ist, und es daher bezüglich einer bestimmten Sache besser erscheint, Ν zu befolgen als gar keine Norm. Doch spätestens mit der Beteiligung am Folgediskurs dürften auch die „naiven Guten" Ν als nicht befolgungsgültig einsehen und zugunsten der gültigen Folgenorm N' verabschieden, so daß es danach keine N-Befolger mehr gibt! Die erste Klausel aus B3 läuft dann leer. Außer den „naiven Guten" gibt es die Gruppen derer, die Ν nicht befolgen; die einen, weil sie es nicht wollen (nennen wir sie die „ B ö s e n " ) , die anderen, weil sie wissen, daß Ν dann nicht mehr befolgungsgültig ist, wenn es „Böse" gibt (die „reflektierten Guten"). Welche der Menschen aus allen diesen Gruppen dann N' befolgen, ist zunächst einmal offen. Eine Möglichkeit wäre aber, daß jeder von ihnen N' befolgt. Die „nicht-allgemeine Befolgung von N'" aus B3 wäre somit nur dann notwendig nicht-allgemein, wenn es N-Befolger gäbe und wenn Ν zu befolgen heißt, N' nicht befolgen zu können. Somit würde ich vorschlagen, B] allgemeiner zu schreiben (B4): Eine Folgenonn N' (zu einer U-gûltigen Moralnoim N) heißt befolgungsgültig, wenn die voraussichtlichen Konsequenzen und Nebenwirkungen der Befolgung von N' für die Befriedigung der Interessen und Präferenzen jedes einzelnen von allen faktischen N-Befolgern, von allen faktisch von der nicht-allgemeinen Befolgung von Ν Betroffenen und von allen advokatorisch vertretenen Betroffenen der Befolgung von N' rational akzeptiert werden können.
An einem einfachen Beispiel läßt sich vielleicht der Sinn dieser Klauseln verdeutlichen (zu Niquets eigenen Beispielen komme ich noch): Mit N=„Sei gewaltfrei" und N'=„Sei gewaltfrei, außer Dir wird versucht, Gewalt anzutun" würde Person A (offenbar eine N-Nichtbefolgerin) zwei andere Personen angreifen, nämlich Person Β (eine „Gewaltfreie", d. h. eine N-Befolgerin) und Person C (die sich nach N' richten will, da sie sieht, daß Ν nicht allgemein befolgt wird); Person D (eine N-Befolgerin) und Person E (eine N'-Befolgerin) stünden daneben. Dann soll wohl die erste Klausel die Legitimität von N' gegenüber den Personen Β und D betreffen, die zweite Klausel die gegenüber den Personen C und E und die dritte Klausel die gegenüber Person A. Ohne daß der Begriff der Betroffenheit von einer Norm geklärt wird, genauer: der Betroffenheit von der allgemeinen oder nicht-allgemeinen Befolgung einer Norm, läßt sich hier kaum weiterkommen. Ich möchte daher folgende Sprachregelung vorschlagen: Betroffene einer Norm sind einerseits die Normadressaten, diese sind aktiv betroffen, und andererseits die Handlungsgegenüber der Normadressaten sowie alle sonstigen Menschen, für die die fragliche Handlung der Normadressaten einen moralischen Unterschied macht; diese sind direkt bzw. indirekt passiv betroffen} Die Rede von Betroffenheit ist mehrdeutig, nicht völlig unberücksichtigt bleiben dürfen. Wann eine Advokation nötig ist, werde ich im nächsten Abschnitt thematisieren. 1 Der naheliegende Einwand wäre: Eine (universalistische) Norm richtet sich doch immer an jede und jeden. Und doch sind immer nur einige in Situationen, in denen diese Nonn Anwendung finden kann: Wer etwa nicht die Mittel zur Verfügung hat, eine normativ verbotene Handlung zu vollfuhren, ist durch diese (zumindest derzeit) nicht aktiv betroffen. So, wie Niquet in der Def. Bj der Befolgungsgültigkeit von den Personengruppen der Klauseln (I) bis (III) spricht, muß er diesen Zeitindex mitführen: Könnten doch die Extensionen der „faktischen N-Befolger", der „faktisch von der nicht-allgemeinen Befolgung von Ν Be-
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es können einerseits alle diese, sich möglicherweise überschneidenden Betroffenengruppen gemeint sein, andererseits aber auch nur die direkt passiv Betroffenen. Ich will im folgenden den weiten Betroffenenbegriff verwenden. Diejenigen, die von der allgemeinen Befolgung einer Norm betroffen sind (weil ihre Interessen betroffen sind), sind identisch mit denjenigen, die von einer Norm betroffen sind. Diejenigen, die von der nicht-allgemeinen Befolgung einer Norm Ν betroffen sind, sind hingegen eine i. allg. größere Gruppe: Denn dann wird (so die Annahme in unserer Modellwelt) eine Folgenorm N' erforderlich, und alle davon Betroffenen sind nicht unbedingt auch von Ν betroffen. Es gibt nämlich die Möglichkeiten des Pflichten-Erlassens (wenn fast keiner sich an xy beteiligt, braucht man es auch nicht zu tun) oder der Pflichten-Ausweitung (weil yz seiner Pflicht nicht nachkommt, muß man selber einspringen). Im von Niquet anvisierten Fall gibt es zwei Normen, Ν und N', so daß hier 3 - 3 = 9 Personengruppen zu unterscheiden sind. Dies ist zu multiplizieren mit den insgesamt vier Möglichkeiten, Ν oder N' zu befolgen oder nicht zu befolgen. Logisch ergeben sich somit 9· 4 = 36 Möglichkeiten. Ich will hier nicht auf logischen Möglichkeiten beharren wie denen, daß es N'-Befolger gibt, die keine N'-Adressaten sind (sondern die irrtümlich die Folgenorm befolgen), oder daß die Norm N' auch noch aus anderen Gründen geboten sein kann, außer deshalb, weil sie die Folgenorm zu Ν ist (dann gäbe es N'-Adressaten, die nicht am Folgenorm-Diskurs zu beteiligen wären). Aber es ist doch schon auffällig, daß die N'-Adressaten in keiner Klausel vorzukommen scheinen. Niquet nimmt vielleicht an, daß für die Adressierung der Folgenorm alle faktischen N-Befolger heranzuziehen sind - Pflichten-Ausweitungen wären dann nicht vorgesehen. Offensichtlich fehlerhaft angegeben ist die Gruppe der „von der Befolgung von N' Betroffenen" aus Klausel (ΙΠ): Diese umfaßt ja nach meiner Lesart sowohl die N'-Adressaten als auch alle passiv N'-Betroffenen (und das heißt auch diejenigen, deren Schutz durch die mangelnde allgemeine Befolgung von Ν die Folgenorm erforderlich macht). Doch diese sind ja nach Niquet nur advokatorisch zu beteiligen, so daß ich denke, er meint eigentlich nur einen Teil der direkt passiv von N' Betroffenen, nämlich diejenigen, die Ν nicht befolgen, obwohl sie dies sollten. Welche Personen umfaßt aber Klausel (II), die Gruppe der „von der nicht-allgemeinen Befolgung von Ν Betroffenen"? Niquet scheint hier, anders als gerade ausgeführt, nur auf die Handlungsgegenüber deijenigen N-Adressaten abzuzielen, die keine N-Befolger sind. Meinte er nämlich auch die N'-Adressaten, hätte er nicht die faktischen N-Befolger in Klausel (I) extra aufgeführt. Die N'-Adressaten drohen also durch Niquets Raster zu fallen, genau wie die N-Adressaten, die keine N'-Adressaten sind, und wie die rein passiv von N' Betroffenen, die nicht passiv N-betroffen sind (dann griffe Klausel II) und die nicht NNichtbefolger sind, aber N-Adressaten (dann griffe Klausel III). Eigentlich gehören zu den von der nicht-allgemeinen Befolgung von Ν Betroffenen sowohl die N-Betroffenen alle dazu, wie auch die N'-Adressaten und die N'-Betroffenen - da es N' ohne die nicht-allgemeine Befolgung von Ν nicht geben müßte und die Einfuhrung troffenen" und die „N'-Betroffenen" mit der Zeit variieren, und somit auch die Beteiligung am Folgediskurs. Ich halte es daher für legitim, den Zeitindex einzuführen und damit die jeweiligen Gruppen der aktiv und passiv Betroffenen wie angegeben einzugrenzen.
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II. Anwendungsfragen
von N' alle N-Betroffenen betrifft. Diejenigen, die an dem ganzen Schlamassel schuld sind, die N-Nichtbefolger, sind aus dieser Gruppe m. E. nicht auszuklammern, denn es ist sementiseli einwandfrei, diese als von ihrer eigenen N-Nichtbefolgung Betroffene zu bezeichnen (denn sie sind ja dann von den von ihnen provozierten Folgenormen betroffen). Jedenfalls aber wäre Klausel (I) überflüssig und Klausel (II) zu präzisieren. Angenommen, daß für Niquet Pflichten nicht erlassen oder ausgeweitet werden und daß „betroffen" bei Niquet nur heißt: direkt passiv betroffen, können wir in seinem Sinne formulieren (B5): Eine Folgenorm N' (zu einer U-gültigen Moralnorm N) heißt befolgungsgültig, wenn die voraussichtlichen Konsequenzen und Nebenwirkungen der Befolgung von N' fur die Befriedigung der Interessen und Präferenzen jedes einzelnen von allen faktischen N-Befolgem (d. h., den N'-Adressaten), von allen Handlungsgegenübern deijenigen N-Adressaten, die Ν nicht befolgen und von allen advokatorisch vertretenen, von der Befolgung von N' betroffenen N-Nichtbefolgem rational akzeptiert werden können.
Lassen wir diese Annahmen fallen, gebrauchen also den weiten Betroffenenbegriff, so können wir schließlich sagen (Bö): Eine Folgenorm N' (zu einer U-gültigen Moralnorm N) heißt befolgungsgültig, wenn die voraussichtlichen Konsequenzen und Nebenwirkungen der Befolgung von N' für die Befriedigung der Interessen und Präferenzen jedes einzelnen von allen von Ν oder von N' Betroffenen rational akzeptiert werden können, wobei die Interessen und Präferenzen der passiv Ν'-betroffenen NNichtbefolger nur advokatorisch zu berücksichtigen sind.
So werden die in Niquets eigener Formulierung enthaltenen Doppelungen vermieden.
4.3 Kritik der Befolgungsgültigkeit Es verbleiben aber immer noch so große Probleme, daß diese Konzeption als vollends untauglich angesehen werden muß. Das läßt sich erkennen, wenn man die (bei Niquet nicht erwähnten) Annahmen der Modellwelt hinterfragt, in der die Befolgungsgültigkeit bisher diskutiert worden ist: daß es nämlich nur eine U-gültige Norm Ν gibt, die wirklich als nicht befolgungsgültig erwiesen wird dadurch, daß sie nicht allgemein befolgt wird, und daher eine Folgenorm N' an ihre Stelle treten muß, die auch bei nicht-allgemeiner Befolgung noch befolgungsgültig ist. Gehen wir die Argumentationsschritte noch einmal durch, so zeigen sich Unstimmigkeiten schon ganz am Anfang (bei B|): Eine Norm ist nämlich keineswegs befolgungsgültig, wenn sie allgemein befolgt wird\ Das hätte auch Niquet auffallen müssen, denn er bemüht (zur Illustration der Befolgungsungültigkeit des Lügenverbots) das Kantisch-Constantsche Beispiel der Notlüge gegenüber einem potentiellen Mörder, der nach dem Aufenthaltsort desjenigen Menschen fragt, den er umbringen will. Legt der Mörder seine Absicht offen, dann lügt niemand und doch wäre die wahrheitsgemäße Auskunft unverantwortlich (gleichwohl wäre nach Niquet das Lügenverbot weiter gültig). Daß der Mörder u. U. lügt, ist hier gar nicht das Problem. Genauso ist eine Norm nicht schon dann befolgungsungültig, wenn sie nicht allgemein befolgt wird: Dies hätte Niquet an seinem zweiten Beispiel sehen
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müssen, der gewaltsamen Befreiung von Folterlager-Insassen: Denn daß die Lager-Aufseher ihre Hilfepflicht verletzen (wenn man das überhaupt so sagen kann), setzt doch diese Pflicht für potentielle Befreier nicht außer Kraft - im Gegenteil! In sehr einfachen Kooperationssituationen greifen Niquets Überlegungen zwar: Dort, wo Kooperation unabdingbar ist zur Erreichung eines moralisch gebotenen Ziels, kann die eigene Pflicht entfallen, wenn man schon weiß, die anderen kooperieren ohnehin nicht (bzw. sie besteht nur dann, wenn die anderen auch kooperieren) - als direkte Pflicht, denn zu Überzeugungsarbeit, Mobilisierung alternativer Mittel etc. bleibt man natürlich weiterhin aufgefordert. Doch die wenigsten moralischen Probleme (und auch nicht Niquets eigene Beispiele) haben diese Struktur. Im Kantischen Notlügebeispiel, das Niquet ja selbst anfuhrt, geht es um eine Normen¡collision; diese adäquat zu diskutieren und sie etwa vom gerade benannten Kooperationsproblem abzugrenzen, gelingt Niquet jedoch nicht. Daß es „unzumutbar" werden kann, einer Pflicht nachzukommen, wenn dadurch eine höherstehende Pflicht verletzt werden würde, ist bei Niquet durch die Beschränkung auf die Betrachtung genau einer Norm nicht vorgesehen. Zu Recht weist Niquet auf die durch die U-Gültigkeit einer Norm implizierte Teleologie hin: Auf die Bi-allgemeine Befolgung der bloß suspendierten Norm ist hinzuarbeiten. Seine Folgenorm drückt das aber nicht mehr aus. Nimmt man die Forderung jedoch ernst, stellt sich sofort die Frage nach den zugelassenen Mitteln sowie der Behandlung dieser „Ergänzungsnorm" im Falle von Konflikten mit moralischen Normen. Doch das fundamentalste Problem liegt m. E. darin, wie Niquet begründet, daß die Folgenorm nicht U-gültig ist (53): Für ihn stellt es sich, wieder am Beispiel des Lagers, so dar (51): „Klar ist: Eine .Norm' der .punktuellen' Gewaltanwendung ist keine U-gültige Norm, da, abgekürzt formuliert, ein allgemeiner Zustand der Gewaltanwendung nicht rational gewollt werden kann."
Wo genau liegt jedoch das Problem der „Allgemeinheit" der Gewaltanwendung? Zunächst (hoffentlich) nicht darin, daß auch Insassen anderer Lager befreit würden. Wahrscheinlich auch nicht darin, daß dann alle auf einmal die Lagerinsassen befreien müßten, denn dies ist ein (behebbares) Problem nur dann, wenn es zu einer Kollision mit anderen Pflichten kommt. Welchen Sinn hätte denn auch die Formulierung von Nonnen, die nicht auch von allen befolgt werden könnten? Hier ist doch schlicht nach einer geeigneten universalistischen Formulierung der Norm selbst zu suchen, z. B. durch Spezifizierung auf bestimmte Positionen oder Fähigkeiten. Zwar dürfte man sagen: Sosehr wir uns doch die Befreiung der Lagerinsassen wünschen, noch lieber würden wir in einer gewaltfreien Welt (d. h. ohne Lager) leben. Aber was spricht dagegen, in dieser Welt die Norm, Lagerinsassen durch punktuelle Gewaltanwendung (so Niquet selbst in obigem Zitat) zu befreien, als für jeden verbindlich zu erklären, der die Möglichkeit dazu hat? Noch deutlicher wird dies im Falle von Notwehn Was hätte Niquet gegen eine Norm, die Gewaltanwendung außer in Notwehr verbietet? Diese wird ja nicht dadurch illegitim, daß andere Menschen sich u. U. ebenfalls wehren müssen. Nicht minder große Probleme offenbart die Diskussion des Niquetschen Kriteriums der Advokation: Betroffene, die Normen verletzen, sind doch nur dann vom Diskurs auszuschließen, wenn die Befolgung dieser Nonnen die Voraussetzung dafür wäre, reale Diskurse
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mit ihnen führen zu können (und keinesfalls dann, wenn sie sich Normen verweigern, die Resultat von idealen Diskursen wären - so aber Niquet 51).' Nur für diejenigen Ν oder N', die kontingenterweise solche Voraussetzungen beinhalten, fallen diese Bedingungen zusammen und dürfen ihre Nichtbefolger wegen mangelnder Normbefolgung nicht direkt zugelassen werden. Diese Voraussetzungen betreffen etwa den Umgang mit dem diskursiven Gegenüber, aber auch die Einhaltung von Normen, deren Nichtbefolgung „Strategiekonterstrategien" (Kettner) erforderlich machen - also verdeckt strategische Reaktionen (wobei auch hier weiter zu differenzieren wäre: Eigene Inputs ζ. Β. wären dadurch nicht ausgeschlossen). Daneben ist zu bedenken, daß es neben der Nichtbefolgung von Normen auch noch weitere Gründe für eine advokatorische Beteiligung gibt, die Niquet nicht anspricht, etwa mangelnde Kompetenz, fehlende Zeit u. ä.
4.4 Warum überhaupt „allgemeine Befolgung"? Niquets Überlegungen schließen an Habermas' Ausführungen zur Zumutbarkeit an, gehen jedoch im Versuch der Gewinnung von „Folgenormen" über diese hinaus. Niquet verengt den Blick dabei auf eine einzelne Norm und konstruiert eine Folgenorm aufgrund der nichtallgemeinen Befolgung genau dieser einen Norm. Doch weder die Nichtbefolgung dieser Norm noch die Nichtbefolgung genau dieser Norm stellt in der Regel das verantwortungsethische Problem dar (wie seine eigenen Beispiele belegen). Seine Position zur Beteiligung an Folgediskursen konnte insgesamt konsistent rekonstruiert werden, seine Ausführungen zur advokatorischen Beteiligung einiger der Folgenorm-Betroffenen sind jedoch im Kern verfehlt, diejenigen zur Nicht-Universalisierbarkeit der Folgenorm sind ebenfalls nicht plausibel. Warum also überhaupt die Klausel in >UUU< diejenigen gefunden werden, die auch in einem anspruchsvolleren Sinne gerechtfertigt sind. Unter den vereinfachenden Annahmen des ersten Schritts bestand die „Anwendung" von Normen in dem Vergleich von Situationsmerkmalen mit je denjenigen Merkmalen, welche gültige Normen erfordern. Im zweiten Schritt ist zu klären, wie sich die Normenbegründung zur Normenanwendung verhält. Günther versucht hierbei nicht nur, deren Verhältnis näher zu bestimmen, sondern auch, für die Eigenständigkeit von Normenanwendungsdiskursen gegenüber Normenbegründungsdiskursen zu argumentieren. In dem in Kap. 1.1 vorgelegten Schema von Anwendungsproblemen nimmt Günther damit zum Problem Alb (von Nonnen zu Einzelbeurteilungen) nun auch das Problem Ala (vom Moralprinzip zu Nonnen) in den Blick. Günther beginnt seine Überlegungen so: >U< fordere bekanntlich die Berücksichtigung der Folgen und Nebenfolgen einer allgemeinen Befolgung einer Norm für die Befriedigung der Interessen jedes einzelnen. Diese drei Forderungen wird Günther im folgenden ausführen, um im Zuge dessen verschiedene Interpretationen von >U< zu unterscheiden. Die erste und die dritte Forderung führen Günther dabei auf epistemische Probleme: Die erwähnten Folgen und Interessen müßte man nämlich kennen, wollte man Normen gemäß >U< begründen - Günther wird versuchen, aus dieser epistemischen Problematik ein Argument für die Notwendigkeit eigenständiger Anwendungsdiskurse zu gewinnen: Schon Habermas konnte schließlich nur die „voraussichtlichen" Folgen zur Berücksichtigung vorsehen. Um die zweite Forderung zu verstehen, sollten wir uns klarmachen was mit „allgemeiner Befolgung" gemeint ist: Günther unterscheidet hier zwei Hinsichten: Einerseits eine Befolgung durch alle potentiellen Adressaten, andererseits eine Anwendung in allen Situationen.1 Die erste Hinsicht sei eindeutig: Es wäre schlicht „falsch, den hypothetisch zur Normenbefolgung befugten Personenkreis einzuschränken", da sich sonst nicht ermitteln ließe, was „wirklich im gemeinsamen Interesse aller Betroffenen liegt" (45). Damit hat Günther sicher recht: Gültige Normen sollten immer auch von allen befolgt werden können, aber die ganze Niquetsche Problematik - daß sie in den seltensten Fällen faktisch von allen befolgt werden - blendet Günther aus. Die zweite Hinsicht läßt unterschiedliche Lesarten zu: Entweder ist hiermit die Berücksichtigung aller Anwendungssituationen gemeint, oder aber nur eine Anzahl von typischen Situationen und hypothetischen Fällen (Beispielen). Die beiden Möglichkeiten, die Normenbegründung zu verstehen, werden von Günther als zwei Lesarten des Moralprinzips >U< hypothetisch ausformuliert, welche wir in den folgenden beiden Unterabschnitten betrachten werden. Auch die epistemische Problematik, auf die die erste und die dritte Forderung führt, wird unter diesen beiden Möglichkeiten jeweils unterschiedlich ausfallen; in einem dritten Unterabschnitt wird diskutiert werden, ob sich daraus - wie von Günther versucht - ein zusätzliches Argument für die von ihm favorisierte Lesart gewinnen läßt.
1 Günther zitiert zum Beleg dieser Behauptung zwei Stellen (Habermas 1973; Habermas 1983a), die nur am Rande von einer unparteilichen Anwendung sprechen.
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5.3.1
II. Anwendungsfragen
Antizipation der Anwendung in der Begründung: Starkes > U
U< die idealisierende Unterstellung zurück, unter der die starke Fassung von >U< allein vertreten werden konnte, nämlich „daß wir alle Situationen voraussehen können, in denen eine Norm anwendbar ist. Nur wenn unser Wissen alle Anwendungsfälle einer Norm umfaßte, könnten wir das Urteil über die Gültigkeit der Norm mit dem Urteil über die Angemessenheit zusammenschließen. Es ist aber offensichtlich der Fall, daß wir niemals über ein solches Wissen verfugen. Damit bricht die Funktion des Universalisiemngsgrundsatzes als eines Unparteilichkeitsprinzips, das sich auf die Anwendung einer Norm in jeder einzelnen Situation bezieht, zusammen." (S 1 )
Wenn wir die möglichen Anwendungssituationen (wie Günther bisher und ich im obigen Exkurs daher ebenfalls) objektivieren, unterstellen wir damit natürlich, wir würden diese alle schon kennen. Und diese Unterstellung ist nach Günther das Problem: „Nach der objektiven Seite der möglichen Anwendungssituationen einer Norm hin ist >U< also ein offenes Prinzip. Die Beschränkung, nach der wir suchen, liegt auf der subjektiven Seite. Sie hängt vom historischen Stand unserer Erfahrungen und unseres Wissens ab. Wir können nur solche Anwendungssituationen voraussetzen, die wir zum gegenwärtigen Zeitpunkt aufgrund unserer Erfahrungen mit uns selbst sowie der objektiven und sozialen Welt vorstellen können. Habermas hat in
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II. Anwendungsfragen
seiner Formulierung von >U< daher schon selbst den Hinweis auf eine schwächere Fassung gegeben: Nur diejenigen Folgen und Nebenwirkungen, die sich aus einer allgemeinen Normbefolgung voraussichtlich ergeben, können berücksichtigt werden. Dadurch ist >U< mit einem Index versehen, der seine Anwendung an den Stand des Wissens zum gegenwärtigen Zeitpunkt bindet." (51 f.)
Epistemische Probleme, wie Günther nun ausfuhrt, stellen sich einerseits, da wir nicht alle Folgen der Normbefolgung kennen (denn dies erfordere ein unendliches Wissen über die soziale und die objektive Welt). Andererseits kennen wir aber auch unsere zukünftigen Interessen nicht genau (ansonsten wären wir uns völlig transparent): ,ΛικΛ der Umstand, daß sich unsere Interessen in unvorstellbarer Weise ändern können, gehört zum Zeit- und Wissensindex von >UU< soll der Anspruch auf Angemessenheit jedenfalls abgespalten sein. Günther schreibt: „Das Urteil über die Angemessenheit einer Norm bezieht sich nicht auf alle Anwendungssituationen, sondern stets nur auf eine einzelne. Angemessenheit bedeutet daher nichts anderes als die Einschränkung der starken Fassung von >U< auf eine einzelne Situation. Die absolute Forderung, zu einem Zeitpunkt alle Situationen zu berücksichtigen, wird gleichsam prozeduralisiert zu der Forderung, in einer einzelnen Situation alle Merkmale zu berücksichtigen." (56)
Zwei Aspekte der Unparteilichkeit seien so gesichert: Das schwache >U< operationalisiere den universell-reziproken Sinn der Unparteilichkeit, und (A) - d. h. die Forderung, in einer einzelnen Anwendungssituation alle Merkmale zu berücksichtigen - operationalisiere komplementär dazu den applikativen Sinn der Unparteilichkeit. (A) dürfte etwa so lauten: Eine Norm ist angemessen, wenn sie die unter Berücksichtigung aller Merkmale einer Situation vorrangig anwendbare Norm ist. Diese „Arbeitsteilung" zieht jedoch einige Folgeprobleme nach sich und hat nach Günthers Meinung auch Konsequenzen für den Situationsbezug in Begründungsdiskursen. Operationalisierbarkeit des schwachen >U< und der Angemessenheit Günthers Idee scheint mir abgekürzt so darstellbar: Die Begründung einer Norm durch das schwache >U< betrachtet je eine Norm und angesichts dieser auch nicht alle möglichen,
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5. Ausarbeitung des Problems der Anwendungsdiskurse
sondern nur alle bekannten oder voraussehbaren Situationen. Die Feststellung der Angemessenheit (A) einer Norm erfordert die Betrachtung genau einer Situation und im Lichte dieser Situation dann aller gültigen Normen. Stellen wir uns gültige Nonnen und Situationen, in denen diese Normen eventuell anwendbar sind, als Matrix vor:
Situationen
s,
s2
S3
...
Normen
N, N2 NJ
Tabelle 7 Matrix-Darstellung gültiger Normen und Situationen, in denen diese Normen eventuell anwendbar sind: Das schwache Prinzip >U< betrifft einzelne Zeilen, (A) hingegen einzelne Spalten dieser Matrix.
Das schwache Prinzip >U< betrifft dann einzelne Zeilen, (A) hingegen einzelne Spalten dieser Matrix. Das starke >U< würde pro Norm die Betrachtung einer Zeile sowie (wegen der Angemessenheit in jedem Fall) die Betrachtung aller Spalten erfordern. Die Angemessenheit erfordert nach Günther jedoch - und dies ist eine weitgehende Forderung - die Berücksichtigung aller Merkmale einer Situation. Deshalb ist mit dem Verweis auf Anwendungsdiskurse die epistemische Problematik noch nicht aus der Welt: „Freilich ist jetzt noch der skeptische Einwand zu bedenken, daß wir ja auch in der einzelnen Situation niemals alle besonderen Umstände berücksichtigen können. Der Mikrokosmos einer jeden einzelnen Situation ist ebenso unendlich wie der Makrokosmos aller Situationen, auf die eine Norm anwendbar ist." (58)
Doch, so Günther weiter, der Anspruch auf umfassende Berücksichtigung bleibt als Anspruch bestehen, ja, ohne ihn hätten wir gar keinen Anlaß zur Fortbildung von Normen (59). Der scheinbar ermäßigte, aber dennoch unerfüllbare Anspruch steht Günthers Wunsch nach einer Operationalisierung der Unparteilichkeit weiter im Wege; hierbei darf man das Günthersche „ebenso unendlich" wohl wörtlich nehmen: Denn da eine Situation von einer anderen gerade durch ihre Merkmale unterschieden ist, muß man alle Situationen kennen, um alle Meikmale einer Situation kennen zu können!1 Gegen die starke Version von >U< wird von Günther immer wieder vorgebracht: Faktisch können wir nicht alle Aspekte einer Situation berücksichtigen (etwa: S. 145). Und nun soll in (A) genau das gelingen? 1 Bereits in der oben versuchten formalen Rekonstruktion fehlte ja ersichtlich eine Möglichkeit, die Elemente der Menge S aller möglichen Situationsmerkmale anzugeben.
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II. Anwendungsfragen
Immerhin muß man diese Situationen nicht auch schon insoweit kennen, daß Klarheit über alle nötigen Norm-Priorisierungen in allen Situationen bestünde. Doch schon bei der angemessenen Anwendung einer Norm in einer Situation muß ich ja alle Normen kennen. Ich muß also alle Normen und alle Situationen kennen, um auch nur eine Norm in einer Situation angemessen anwenden zu können! Insoweit ist also kein Vorteil gegenüber dem starken >U< zu sehen. Immerhin muß ich nun nur in der betrachteten Situation meine Norm gegen die anderen dort anwendbaren Normen abwägen können. Das starke >U< fordert demgegenüber die Lösung von Konflikten der fraglichen Norm mit anderen Normen in allen Situationen, wo die fragliche Norm anwendbar sind. Wie diese Abwägung geschehen soll, dazu liefert aber die „Beachtung aller relevanten Merkmale", also die unparteiliche Anwendung selbst, keinerlei Hilfe - dadurch lassen sich Normenkonflikte doch wohl nur feststellen, aber nicht lösen. Und betrachten wir noch einmal die Formulierung des schwachen >UU< Legen wir uns nun die Frage vor, ob das schwache >U< die eingangs erwähnte epistemische Problematik vermeiden oder wenigstens entschärfen kann. Diese entstand - wie erwähnt durch drei Forderungen in >UU< sieht Günther in der mangelnden Vorhersehbarkeit der Anwendungssituationen, da wir weder Folgen und Nebenfolgen noch unsere zukünftige Interessen präzise absehen könnten; dies waren die erste und die dritte Forderung. Keine Probleme sieht Günther im Gegensatz dazu hinsichtlich der Einbeziehung der Betroffenen selbst, d. h. der zweiten Forderung: „Keine Einschränkung besteht allerdings hinsichtlich der zugelassenen Personen: jeder, dessen Interessen von einer Normanwendung voraussichtlich berührt sind, muß an dem Verfahren teilnehmen dürfen." (52). Dabei ist das Dürfen doch hier nicht der wesentliche Punkt, sondern ob alle Betroffenen am Diskurs teilnehmen können. Auch unsere zukünftigen Interessen dürfen wir selbstverständlich vorbringen, nur können wir das häufig nicht. Was ist nun mit künftig lebenden Menschen? Deren Interessen kennen wir ja noch viel weniger als unsere eigenen zukünftigen Interessen (die sich ja bereits „in unvorstellbarer Weise" ändern können sollten; s. o.). Immerhin sind auch diese von einer Normbefolgung betroffen und somit gemäß >U< zu berücksichtigen. Epistemische Probleme stehen also auch in einem dritten Punkt einem starken >U< entgegen: Wir können nämlich über die Interessen von jetzt noch nicht diskursfahigen Betroffenen nur spekulieren. Günthers Formulierung ist seltsamerweise um diese intertemporale Problemdimension verkürzt, wenn er schreibt, das Geltungskriterium beziehe sich „auf die zum gegenwärtigen Zeitpunkt vorhersehbaren Folgen und Nebenwirkungen, soweit sie für die gegenwärtigen Interessen eines jeden einzelnen relevant sind und von allen gemeinsam akzeptiert werden können" (S3; Herv. NGM). Wohlgemerkt, das Problem ist nicht, daß in Zukunft andere Normen gültig sein könnten, weil andere Interessen vorliegen. Sondern es geht u. a. darum, daß bereits durch unsere jetzigen Handlungen künftig lebende Menschen betroffen sind (Systemtechnik; Umweltprobleme; Kriege). Deren Interessen nur deshalb nicht zu berücksichtigen, weil sie noch nicht diskursfähig sind, ist moralisch absurd. So, wie Günther seinen Zeit- und Lebensformindex einführt, in der expliziten Einschränkung auf die gegenwärtigen Interessen, beschädigt er nicht nur den Kognitivismus seiner Konzeption (denn es ist ja ein wirkliches
S. Ausarbeitung des Problems der Anwendungsdiskurse
187
Gegenargument gegen eine Norm, daß sie den Interessen künftig lebender Menschen zuwiderläuft), sondern auch den Universalismus von >UU< ein unaufhebbares kontrafaktisches Element. Günthers abschwächende Interpretation von >U< nährt die Illusion, wir könnten uns jetzt zusammensetzen und die Gültigkeit einer oder mehrerer Normen abschließend feststellen (wenn auch nur per schwachem >UUU< zwar gemildert, aber erstens über Gebühr und zweitens auf Kosten von (A). Die Frage ist also neu aufzuwerfen, was in einer Anwendungsüberlegung denn anderes geschieht als in einer Begründungsüberlegung und was der Vorteil ihrer Überstellung an zwei verschiedene Diskurstypen ist. Mindestens, so könnte man sagen, erfordert die Feststellung der Angemessenheit die Überprüfung der fraglichen Situation auf diejenigen Merkmale, die von moralischen Normen gefordert werden. Darin kann sich aber eine Angemessenheitsüberlegung nicht erschöpfen, wenn sie ihren kritischen Stachel behalten soll. In den nun folgenden Passagen berührt Günther den m. E. stärksten Punkt einer wenigstens analytischen Unterscheidung von Anwendungs- und Begründungsproblematik. Zur Verdeutlichung der Konsequenzen von Günthers Vorschlägen über Merkmale, Situationen und Normen wurde ja eine Formalisiening vorgeschlagen, die mit unterstellten Mengen von Merkmalen von Situationen operiert. Dabei war anzumerken, daß es sich dort, wo diese über die Anwendbarkeit von Normen entscheiden, um moralisch relevante Merkmale handeln muß, Günther diese Problematik jedoch konzeptuell ausblendet. An einer Stelle kommen Relevanzüberlegungen nun aber doch noch zu einem gewissen Recht: „Merkmale einer Situation sind nicht per se relevant. Diesen Status erhalten sie erst im Lichte verschiedener Deutungen, Weitungen, Interessen, Lebenspläne oder Zwecksetzungen. [...] Die Forde-
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II. Anwendungsfragen
rung der Unparteilichkeit im applikativen Sinne meint nun nichts anderes, als daß diese verschiedenen Deutungen einer Situation thematisiert werden müssen [...]. Es ist der Prozeß, in dem wir uns in einer Situation mit diesen Deutungen auseinandersetzen, konkurrierende und kollidierende Interessen und normative Erwartungen untereinander vergleichen, um diejenige Norm zu bilden, von der wir beanspruchen können, daß sie angesichts der besonderen Umstände des Einzelfalls die angemessene ist. Erst wenn wir diesen Schritt getan haben, können wir aus dem Horizont der besonderen Situation heraustreten und prüfen, ob die angesichts der besonderen Umstände angemessene Norm auch gültig ist, d. h., ob die Folgen und Nebenwirkungen einer allgemeinen Befolgung für die Interessen eines jeden einzelnen von allen akzeptiert werden können. Beide Schritte lassen sich keineswegs in einen zusammenziehen." (57)
In Anwendungssituationen ist eine besondere heuristische Qualität vonnöten: Dort gehe es um die „Entdeckung und Situationsrelevanz" von Interessen im Zuge der Gewinnung relevanter Merkmale der fraglichen Situation und noch nicht um ihre Verallgemeinerungsfähigkeit (57). Anwendungsdiskursen ist insofern eine ästhetische Komponente (im Sinne der Wahrnehmung) genuin zu eigen. Sie wird offenbar, da Günther hier - und nur hier - einmal die unausgesprochene Prämisse fallenläßt, das wir die Merkmale einer Situation und die Relevanz dieser Merkmale bereits kennen würden. Gäbe es diese Stelle nicht, würden die über eine Nonnenbegründung hinausgehenden Probleme sich auf die angemessene Anwendung von Normen durch eine „unparteiische Berücksichtigung" aller Merkmale einer Situation reduzieren lassen. Liest man jedoch die Beschreibung dessen, wie Relevanzen zu bestimmen sind (in einer gegebenen Situation), dann geht es dort um genau dasjenige, was auch fiir die Normenbegründung vonnöten ist: um die wechselseitige Bedürfnisinterpretation und die entsprechende Legitimität von Interessen. Wäre dies nicht so, gelänge es auch nicht, eine Norm zu bilden. All dies geschieht auch im Lichte anderer gültiger Normen. Wie gewinnt man denn etwa den Normvorschlag des Lügenverbots ohne Berücksichtigung von Forderungen nach Autonomie oder Achtung gegenüber sich selbst und gegenüber anderen? Es ist also keineswegs so, daß wir die Berechtigung eines Interesses unabhängig von der vorausgesetzten Gültigkeit anderer Normen bestimmen könnten. Es wäre doch absurd, wenn wir hierbei unsere besten Gründe, d. h. auch die hinter moralischen Nonnen stehenden Gründe, alle nicht einsetzen dürften. Die Bedürfnisinterpretation beschränkt sich aber trotzdem nicht darauf, diese an bereits gültigen Normen zu messen, sondern neue, bisher nicht unter Normen gebrachte Relevanzen können „spontan" einleuchten (aber es können auch Situationen als Situationen neu wahrgenommen werden, etwa durch neu entdeckte Handlungsmöglichkeiten). Wäre das nicht so, würde die Normenbegründung als abgeschlossener Kohärentismus mißverstanden, wo er doch aber erfahrungsoffen bleiben muß. Günther will mit den soeben zitierten Argumenten das Primat von Anwendungs- vor Begründungsschritten behaupten - eine terminologisch recht merkwürdige Angelegenheit. Wie sollen wir denn etwas anwenden, das wir noch gar nicht haben? Günther scheint mir in zweierlei Hinsicht einen Primat behaupten zu wollen: einerseits geltungslogisch, andererseits normen-genealogisch. (1) Ein geltungslogisches Primat entsteht, da adäquate Normen-Kandidaten in der Anwendungssituation gewonnen werden sollen. Der Geltungsanspruch der moralischen Angemessenheit ginge damit dem der Gültigkeit voraus, Gültigkeitsüberlegungen würden in den
5. Ausarbeitung des Problems der Anwendungsdiskurse
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Rang einer nachträglichen Überprüfung abgedrängt. Ein echtes Primat der Anwendung, in der die „considered judgements" (Rawls) als Einschätzungen von Einzelfällen den Ausschlag geben für die Gültigkeit von Normen, möchte jedoch auch Günther nicht vertreten. Eine etwas schwächere Variante des Primats der Anwendung könnte bedeuten, daß in ihr (immerhin noch) der Vorrang von Normen in Kollisionssituationen entschieden wird. Doch Günther lokalisiert die Herstellung von Kohärenz, wie seine Überlegungen zur Normenkollision zeigen, nicht etwa auf Seiten der Anwendung und auch nicht zwischen Anwendung und Begründung, sondern auf Seiten der Begründung. Er bemüht zur Erläuterung der praktischen Kohärenz, dem Metier der Angemessenheit, nämlich schlußendlich die Begründung von Normen selbst (s. o.). Deshalb und auch weil die Argumentation zur Normengenerierung strukturgleich mit deijenigen der Normenbegründung ist, hängt das geltungslogische Primat vom genealogischen Primat ab. (2) Günther schlägt die Situation der Normengenerierung offenbar der Normenawwendung zu, aufgrund des Bezugs auf reale, einzelne Situationen.1 Sinn macht dies im Rahmen des von Günther erwünschten Doppelcharakters der Unparteilichkeit jedoch nur, wenn der Vorgriff wechselseitig ist: Denn der Schritt von Interessen zu einem Normvorschlag steht ja bereits unter der Idee einer Bewährung an >UD< - noch einige weitere Regeln, etwa >U< und die drei Habermasschen Gruppen von Diskursregeln. Die Menge der intendierten Anwendungen sei dabei eine „pragmatisch vorgegebene, jedoch prinzipiell offene Menge die mit dem Fortschreiten der Theorie variiert", wie Ott die einschlägige Arbeit von Stegmüller zitiert (ebd.). Die Angabe eines Moralprinzips reicht also nicht aus - dies die erste Pointe des strukturalistischen Modell - um über eine moralphilosophische Theorie zu verfugen. Alle möglichen Anwendungsfälle sind gegeben durch „die .Menge4 (denk)möglicher praktischer Diskurse", d. h. „der Menge aller möglichen Dissense in bezug auf die Zuordnung von Handlungsweisen zu deontischen Operatoren in allen möglichen Welten, in denen es sprach- und handlungsfähige Wesen gibt" (306).1 Über manche denkmöglichen Normen braucht man „in dieser Welt" keine Diskurse zu führen; nicht alle möglichen Anwendungen sind auch ernsthaft intendiert. Von insgesamt drei von Stegmüller angesprochenen Möglichkeiten der Bestimmung der Elemente von I wählt Ott nicht die Angabe der notwendigen und zureichenden Merkmale oder gar die explizite Aufzählung der Elemente, sondern die „Angabe paradigmatischer Beispiele (IP)" aus der Menge I: „Zu (IP) zählt zweifellos der Diskurs um universell gültige Handlungsnormen (IP-1 ) sowie der Diskurs um Menschenrechte (IP-2). [...] Eine dritte paradigmatische Anwendung (IP-3) bezieht sich auf Grundnormen geschichtlich situierter Praxisfelder (Medizin, Wissenschaft, Sport, Recht, Technik usw.)." (306)
Als aussichtsreiche Kandidaten für Resultate der Diskurse IP-1 und IP-2 sieht Ott den von Gert (1983) aufgestellten „modernen Dekalog" bzw. die von Habermas (1992) vorgeschlagenen Rechtsnormen an.2 In IP-3 stehen „oberste Nonnen" wie ,salus aegroti suprema lex' (Medizin), .pacta sunt servanda' (Ökonomie), Fairneß (Sport) und das Wahrheitsethos (Wissenschaft) im Mittelpunkt (307). Das Bild vom „Kern" wird nun um „Schalen" ergänzt: „Die Menge I .wächst' Stegmüller zufolge aus IP heraus. IP-1,2,3 lagern sich wie (innere) Schalen um den Kern. Damit erstrecken sich die .intendierten Anwendungen' der Diskursethik auf die ,klas-
1 Hier wird ein Diskurs - anders als bei Habermas - als ein Zusammenhang von Aussagen verstanden (vgl. die Einleitung). 2 .Universelle Gültigkeit' (vgl. Fußnote 1 auf S. 31) versteht Ott in einem stäriceren als dem Hareschen, „trivialen" und „ethisch unergiebigen" Sinne (den Ott als Generalisierung bezeichnet, 262). Im Anschluß an Marcus G. Singer, Friedrich Kambartel, Bernard Gert und John Mackie plädiert Ott für ein Verständnis der Universalisierbarkeit über die „vier essentiellen Komponenten (Rational-wollen-können.-daß-einjeder, Rechtfertigen-können-gegenüber-jedermann; Perspektivenübernahme; Interessenberücksichtigung)" (265). Universelle Moralnormen haben für ihn allerdings, wie auch für Habermas, einen generellen Charakter (s. u.) - wahrscheinlich, da seiner Meinung nach nur einige wenige und sehr allgemeine Normen - Ott verweist wiederholt auf den „modernen Dekalog" von Gert (1983) - diesen rigorosen Test überstehen.
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II. Anwendungsfragen
sischen' Felder angewandter Ethik (AE) als weiteren Schalen. Alle spezielleren Diskurse und Debatten auf diesen Schalen sind sowohl durch Κ als auch durch die normativen Gehalte der ersten drei Schalen (IP-1,2,3)partiell mitbestimmt." (308; Herv. i. Orig.)
Die Elemente von IP und AE sowie deren Relationen zueinander zu bestimmen, ist nicht ganz einfach, wie im folgenden klar werden wird. 9.1.1
Elemente von Kern und Schale
Die „Schalen" IP-1, 2 und 3 sind nach Otts Darstellung Elemente einer Menge, nicht selber Mengen. Sie bezeichnen Diskurse, nicht Mengen von Diskursen. Der Kern bezeichnet hingegen eine Menge (von Sätzen), keinen Diskurs. Jede Ottsche Schale steht für einen einzelnen Diskurs, nur AE steht für eine Menge von Diskursen. Anhand des Zitats und auch des restlichen Textes ist nicht wirklich zu klären, ob AE einige der IP-Schalen umfaßt oder nicht. Am ehesten dürfte IP-3 zu AE hinzuzählen.1 Bei IP-3 selbst ist die Interpretation unklar Hier könnten (die AE-Feldern entsprechenden) Mengen von Diskursen gemeint sein, oder auch ein einziger Diskurs um Praxisnormen. Das von Ott im Anschluß an Stegmüller beschriebene Bild scheint mir so auszusehen:
Abbildung 4 Darstellungsversuch von Kem und Schalen aus Otts strukturalistischem Diskursethik-Modell. Nach außen hin differenzieren sich die Schalen mehr und mehr in Segmente (radial gestrichelt), etwa die .klassischen' Felder angewandter Ethik. Dargestellt sind die den Diskursen entsprechenden Mengen der je zu rechtfertigenden Aussagen.
Die Menge I, also alle wirklich intendierten Anwendungen, muß wohl die Elemente der Menge AE und diejenigen aus IP beinhalten. In AE braucht es, wie es scheint, nicht mehr nur um Nonnen zu gehen; Ott spricht nur noch allgemein von „moralischen Fragen", die sich dort stellen würden, und läßt damit offen, ob es immer Normen zu sein haben, die diese beantworten. 1 Anders scheinbar Ott (1998: 7) - dort ist jedoch von den „klassischen" Feldern der AE nicht mehr die Rede (statt dessen von „Querschnittsthemen" der AE; Ott nennt „Verantwortungszuschreibungen, Abwägungsspielräume, Risikobewertung").
9. Anwendung als Rationalisierung von Praxisfeldern
215
Ein Problem dieses Bildes (s. Abbildung 4) ist, daß es suggeriert, die einzelne Handlungsbeurteilung könne nur auf der jeweils äußersten Schale geschehen; dies liefe jedoch auf die These hinaus, die Beurteilung von Handlungen könne ausschließlich über Praxisnormen bzw. auf den Feldern angewandter Ethik geschehen. Ich denke, es wird weiter unten klarwerden, daß Ott eine solche These vertreten muß; ich unterstelle also im folgenden, daß man seiner Meinung nach nicht auf jeder der Schalen zu einer Handlungsbeurteilung kommen kann, sondern dazu vom Kern aus die Schalen nach außen verfolgen muß in Richtung des passenden Anwendungsfeldes. 9.1.2
Beziehungen zwischen Kern und Schalen
Im folgenden betrachte ich die Zusammenhänge zwischen Kern und Schale (a), zwischen den IP-Schalen (b) und zwischen IP-Schalen und AE (c) genauer. a) Das Verhältnis von Κ zu I wird von Ott nicht weiter ausgeführt Hier könnte an die Habermassche Bestimmung angeschlossen werden, daß die zu prüfenden universellen Handlungsnormen aus der Lebenswelt stammen und sich an >U< und >D< bewähren können müssen. Menschenrechte als juridische Rechte haben bei Habermas keinen rein moralischen Status mehr - insofern weicht Otts „Dependenzkonzeption" von Habermas' Rechtsbegründung ab (auch wenn er seine inhaltlichen Vorschläge übernimmt). Praxisnormen und Felder angewandter Ethik, soweit die in ihnen relevanten normativen Aussagen sich nicht auf IP-1 und IP-2 beschränken, sind bei Habermas nicht explizit vorgesehen; hier betritt Ott also diskurstheoretisches Neuland. b) Die von Stegmüller übernommene Metapher vom .Herauswachsen' von I aus IP bzw. von IP-3 aus IP-2 aus IP-1 wirft m. E. mehr Fragen auf als sie beantwortet. Sollte damit etwa eine Art organischer Verbindung gemeint sein, die einen genuinen Zusammenhang und eine Bewegung von inneren zu äußeren Schalen andeutet, vielleicht sogar nach einem genetischen Strukturbauplan unter bestimmten Umwelteinflüssen verlaufend? Wahrscheinlich nicht. Methodisch zu klären ist diese Metapher kaum. So schreibt Ott etwa: „Diese intendierte Anwendung IP-3 wächst insofern aus IP-1 heraus, als Praxisnormen als Rollenpflichten verstanden werden können und, legt man die Position Gerts (1983) zugrunde, sich eine allgemeine Moralnorm bereits auf die Erfüllung spezifischer Rollenpflichten bezieht, indem sie fordert, Pflichten zu erfüllen, die (unter Voraussetzungen anderer Moralnormen) von bestimmten sozialen Rollen .mitgefühlt' werden. [Fußnote: Praxisnormen aweisen sich dabei häufig als .Verschärfungen' im Vergleich zu allgemeinen Nonnen.]" (307)
Praxisnormen können also als Rollenpflichten verstanden werden, Moralnormen nicht. Jedenfalls nicht unmittelbar, wohl aber „beziehen sie sich" auf Rollenpflichten; sie fordern nämlich ihre Erfüllung. Soziale Rollen bringen bestimmte Pflichten mit sich - Ott dürfte sich hier auf sein Konzept der pragmatischen Implikation zu stützen - qua Erwartungen anderer Menschen. Die Interpretation dieser Stelle wird durch die (oben, in Kap. 1.3.1 bereits beklagte) nicht ausreichende Bestimmung des Verhältnisses von Praxisnormen zu allgemeinen Normen erschwert: Warum gebietet nun eine Moralnorm (und das obige Zitat erlaubt sogar zu fragen: jede Moralnorm) die Erfüllung dieser Pflichten? Rein formal, weil Pflichten zu erfüllen sind? Vielleicht, aber nicht jede Moralnorm spricht auch davon (sondern nur das Lügenver-
216
II. Anwendungsfragen
bot bzw. das Aufrichtigkeitsgebot). Oder weil die Pflicht-Inhalte als solche gefordert sind? Dann wäre die „Rolle" über die Wenn-Kautele einer moralischen Norm zu explizieren und eigentlich gar keine besondere soziale Rolle. Oder weil eine soziale Rolle eine bestimmte Verantwortungsverteilung spiegelt, die bestimmte spezielle Pflichten1 delegiert und andere dadurch entlastet (.Bademeister-Modell1)? Wahrscheinlich schon eher, nur sind soziale Praxen für Ott nicht genuin mit moralischen Fragestellungen verknüpft, sondern nur (per definitionem) mor?\konform. Zwar „verweisen" die obersten Praxisnormen auf moralische Grundnormen, „beziehen sich" jene auf diese, sollen sich gar jene aus diesen „ableiten" lassen (307), ihr genaues Verhältnis bleibt jedoch unscharf. Praxisnormen lassen sich jedenfalls, so Otts Idee, nicht nur auf dem Weg ,νοη oben' aus allgemeinen Moralnormen begründen: auf einem Weg ,νοη unten' lassen sie sich auch „(implikativ) als konstitutiv in bezug auf den Sinn bzw. das Gelingen einer Praxis (eupraxia)" erweisen.2 c) Auch I soll aus IP „herauswachsen". Doch die Situation ist eine gänzlich andere als innerhalb von IP. Denn nun „sind allgemeine Moral- und Praxisnormen zu unspezifisch, um viele der moralischen Fragen eindeutig zu beantworten, die sich auf AE-Feldern stellen" (308). Es kann somit gerade kein Ableitungsverhältnis angenommen werden - die Wachstumsmetapher verdeckt diesen wichtigen Unterschied. Was meint Ott jedoch damit, daß eine Fülle gerade der moralischen Fragen unbeantwortet bleiben muß? Die Applikation von Normen auf Fälle geschieht doch nach landläufiger diskursethischer Meinung durch Vergleich von Merkmalen (Habermas; Günther) oder der Belegung von Personenstellen (Alexy). Einerseits könnte gemeint sein, daß universelle Normen in individuelle Normen zu überführen sind. Andererseits könnte Ott auch eine stärkere Spezifizierung allgemeiner Normen anvisieren, die nach wie vor universell bleiben. Wie unterscheiden sich AE-Normen dann von IP-1-Normen? Als IP-1 hat Ott ja gerade den Diskurs über universelle (und nicht: allgemeine oder generelle) Handlungsnormen bezeichnet. Wäre das alles, könnte jede AE-Norm auch unter IP-1 eingeordnet werden. Da Ott jedoch die Gert-Regeln im Auge hat, zielt IP-1 wohl doch auf gleichzeitig universelle wie generelle Normen ab - auf Prima-facieNormen oder „Faustregeln" also.
9.2 Anwendungsdiskurse - reale Diskurse Jedenfalls, so Ott, sind die AE-Felder durch IP-Normen moralisch unterbestimmt. „Aufgrund des dadurch auf den Schalen emeut anfallenden Diskursbedarfs muß >D< auf diesen Feldern wieder .erscheinen'. Der Terminus ist nun ein theoretischer Term (Begriff), der ein allgemeines Modell (Idee) für mögliche Verfahren abgibt. Er wird nun in bezug auf I als eine unteibestimmte Variable behandelt, die durch Verfahrensvorschläge näher zu bestimmen ist. Er bezieht sich somit in bezug auf I auf eine Pluralität intern noch uninterpretierter Diskurs-Formen und -Verfahren, die ihrerseits IP-1,2,3 voraussetzen." (1997: 308)
1 Spezielle Pflichten nenne ich hier solche, bei denen es genügt (oder sogar erforderlich ist), daß nur einige ihr nachkommen (wo es ζ. B. reicht, daß einer hilft; typischerweise: positive Pflichten). Generelle Pflichten sind solche, denen unterschiedslos alle unterliegen (typischerweise: negative Pflichten). 2 Zur Erläuterung dieser Implikationsbeziehung und zum Praxisbegriff allgemein s. Kap. 1.3.1.
9. Anwendung als Rationalisierung von Praxisfeldem
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Die Idee scheint also eine Zweistufigkeit zu sein. Erst auf der zweiten Stufe, deijenigen von AE (und nicht schon in IP), sind reale Diskurs-Verfahren anzusiedeln, so scheint es. Wie aber können wir IP-Normen überhaupt prüfen, wenn nicht in realen Diskursen? Ott stand an dieser Stelle vor zwei Alternativen: entweder, man erlaubt auch beim ersten „ E r s c h e i n e n " des Diskursbegriffs, also in IP, eine Operationalisierungsstrategie, oder man entzieht IPNormen der direkten Rechtfertigung in Diskursen. Die erste Alternative wurde von Ott offenbar verworfen. Die letztere Alternative wäre nun aber nur dann gangbar, wenn man sagen könnte: Sie sind zwar einer direkten, nicht aber einer indirekten Rechtfertigung entzogen. Allgemeine Nonnvorschläge auf den IP-Schalen sind im Lichte einer idealen Zustimmungsföhigkeit vorgebracht, allerdings nur in ihren Konsequenzen auf AE-Feldern überhaupt relevant - und hier natürlich realen Diskursen ausgesetzt. Vorauszusetzen wäre dann, daß zu allen IP-Schalen Anwendungsfelder in AE gehören, so daß die entsprechenden IPNormen nie unmittelbar relevant sein können. (Leider stellt Ott diesen Punkt nicht explizit heraus, so daß wir nicht sicher sein können, ob er eine solche Anwendungskonzeption vertritt.) Dann wäre IP-3 entweder (oben konnte das nicht abschließend geklärt werden) als ein Diskurs zu verstehen, in dem Praxisnormen für verschiedene Praxen diskutiert werden, die je nach Praxis unterschiedlichen Anwendungsfeldern zugehören, oder aber (zwangloser) als eine Menge von Diskursen (mit einem Diskurs pro Praxis). Alle diese realen Verfahren unterscheiden sich untereinander in Graden und Hinsichten der Abweichung vom Ideal: „Diese Diskurs-Formen können konzeptuell weiter differenziert werden. Durch Konzepte, die Verfahrensvorschläge enthalten, wird der Begriff des Diskurses, der ein allgemeines Verfahrensmodell hergibt, zu mehreren partiellen Modellen modifiziert, die sich ähneln, aber sich nicht gleichen. [...] Aus der Perspektive von Κ sind diese konzeptuellen Modifikationen eine Art der bestimmten Negation des Diskursbegriffs [...]. In solchen Konzepten kann der Begriff des Diskurses mit den Sachproblemen von Abwägung, Mehrheitsregel, Ermessensspielräumen, Kompromißbildungen, Verhandlung, Beratungsformen, Moderatorenrolle usw. vermittelt werden." (308)
Die „harte Forderung nach Konsens" könne also konzeptuell modifiziert, der „Umgang mit Dissensen" könne also betrieben werden, wie Ott zwei Bemerkungen von Hubig (1995a) aufnimmt, ohne daß diese Forderung komplett aufgegeben oder in ihr Gegenteil (.Dissensethik') verkehrt werden müsse. „Je bestimmter die Negation wird, um so mehr werden Diskurse realen Bedingungen angenähert. Dabei nimmt die Menge der Nebenbedingungen an Bedeutung zu. Ich unterscheide dabei zwischen konstitutiven (,KN') und restriktiven (,RN') Nebenbedingungen. ,KN' bezieht sich auf die Notwendigkeit, diskursive Verfahren in eine Form zu bringen, während sich ,RN' auf all das bezieht, was der Anwendung der Diskursethik im Wege steht: Konkurrenz von Selbstbehauptungssystemen, undurchschaute Traditionen, partikulare Loyalitäten, ökonomische Interessen, Machtstrukturen usw." (309)
Die Einführung des Diskursbegriffs aus >D< als Modell ist die zweite Pointe, die Ott aus dem strukturalistischen Konzept gewinnt. Gemäß dem Stegmüllerschen Ansatz (Stegmüller 1970) gehören zum Kern bereits alle Modelle, potentiellen Modelle und alle partiellen potentiellen Modelle hinzu, so daß eine Diskursethik als moralphilosophische Theorie nicht ohne dieses ganze Bündel von Verfahrens-,Modellen' auskommt. Mir ist nicht ganz klar, was der Definitionsbereich der Elemente des Kerns und der Modelle bei Ott (1997) ist: >D
U< bestimmt ist, „daß eine Norm genau dann gültig ist, wenn die voraussichtlichen Folgen und Nebenwirkungen, die sich aus ihrer allgemeinen Befolgung für die Interessenlagen und Wertorientierungen eines jeden voraussichtlich ergeben, von allen Betroffenen gemeinsam zwanglos akzeptiert werden könnten." (Habermas 1996: 60; zur Formulierung s. Kap. 1.1.1). Durch >U< wird festgelegt, wie Normen beurteilt werden sollen und dabei insbesondere, wessen Interessenlagen und Wertorientierungen Berücksichtigung finden sollen, nämlich die „eines jeden" (1996) bzw. .jedes Einzelnen" (1983a), d. h. wahrscheinlich jedes (einzelnen) betroffenen Diskursfähigen (D3*, analog zu 02*). Dl
Einwandprüfung bzw. Begründung gegenüber jeder und jedem
D2
Begründung und Anwendung von Handlungsnormen
D2*
D2, wobei Normbetroffene = Diskursteilnehmer
D3
D2, wobei die Art der Normenbeurteilung durch >U< festgelegt ist
D3*
D3, wobei Normbetroffene = Diskursteilnehmer
Tabelle 8 Varianten der Diskursivität: Diskursbegriffe als Festlegungsformen von DO. 1 In der von William Rehg besorgten engl. Ubersetzung der zitierten Passage heißt es: all possibly affected persons could agree..." (S. 107; Herv. NGM) - vgl. dazu u. a. Skiibekk (1997), Benhabib (1992: 283) und Bnimlik (in Brumlik / Bronkhorst 1993).
2. Probleme der Standard-Diskursethik
245
Diese Diskursbegriffe können als schrittweise, vom unspezifischen Diskurs-Vorbegriff DO ausgehende Festlegungen angesehen werden, wie Tabelle 8 verdeutlicht. Im nächsten Abschnitt sollen die wichtigsten der in diesem Buch besprochenen Begründungs- und Anwendungsprobleme der Standard-Diskursethik (von Habermas und Apel) systematisiert und auf die genannten Diskurs-Begriffe bezogen werden.
2. Probleme der Standard-Diskursethik Habermas' Begründungsprogramm läßt hinsichtlich des Begründungsgangs und auch des Begründungsziels wichtige Fragen offen. Die Kernidee ist die - bei Habermas nicht durchgeführte - Ableitung des „Moralprinzips" >U< aus den Präsuppositionen der Argumentation. Rehgs Durchführungsversuch der Begründung von >U< kann wegen seiner Fehlschlüsse kaum überzeugen und unterliegt zudem der einleuchtenden Kritik von Ott an der von Habermas und Rehg vertretenen Position, eine solche Begründung habe sich der materialen Implikation zu bedienen. Die von Ott an die Stelle der materialen Implikation gesetzte „pragmatische Implikation" ist zwar phänomenologisch plausibel eingeführt und konnte in ihren Wahrheitsbedingungen rekonstruiert werden, ist jedoch wegen des ihr von Ott zugeschriebenen Bezugs auf moralisch einwandfreie Praxen für eine Ethikbegründung weniger geeignet als für Zwecke der angewandten Ethik. Otts eigene Arbeiten zeigen weiteriiin, daß >D< nicht nur die Diskursregeln, sondern noch weitere, überwiegend metaethische Prämissen voraussetzt, die keine Argumentationspräsuppositionen sind, und daß >U< gegenüber >D< auf weiteren, normativ gehaltvollen Prämissen beruht. Die transzendentalpragmatische Begründungsidee, die über Habermas hinaus den Status der Begründungsergebnisse festigen und zu einem „infalliblen Wissen" führen soll, leistet aus prinzipiellen Gründen nicht, was sie leisten möchte, wie Niquet durch seine überzeugende Kritik an Apel und Kuhlmann und durch seinen eigenen (gescheiterten) Versuch vorführt, ein Kriterium für die Auszeichnung von Argumentationspräsuppositionen zu formulieren. Insgesamt ist damit gezeigt, daß die Kernideen der Standard-DE nicht überzeugend realisiert worden sind und auch kaum Aussicht auf eine Realisation besteht: Anscheinend sind weder >D< noch >U< durch die Präsuppositionen der Argumentation impliziert (sei es material oder pragmatisch) und kann >U< (oder irgendeine andere Aussage) auch nicht als transzendentale Sinnbedingung jedes Argumentierens erwiesen werden. Dadurch erscheint es durchaus sinnvoll, die Standard-DE zu variieren, was die in den vorigen beiden Kapiteln diskutierten Positionen auf je unterschiedliche Weise und mit je eigenen Gründen versuchen. Bei einer Neuausrichtung der DE sind auch die Anwendungsprobleme der Standard-DE zu berücksichtigen. Schon Habermas versammelt eine ganze Reihe von Anwendungsproblemen, die jedoch größtenteils nicht spezifisch für die DE sind. Eine zentrale, von den einzelnen Autoren kontrovers diskutierte Frage ist, wie die DE in einem Umfeld vorwiegend strategischen Handelns und mehr oder weniger egoistischer Interessendurchsetzung überhaupt praktisch wirksam werden soll: schon jetzt per wirklich durchgeführter Diskurse (so zunächst Habermas), oder per verdeckt-strategischem Handeln, das auf die Herstellung von Diskurs-Bedingungen zielt (so Apel). Angesichts eines solchen Umfelds stellt insbesondere
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III. Diskursethik als kognitivistisches Rahmenkonzept
Habermas die Anschlußfrage, ob die Befolgung von Normen, selbst wenn sie sich in Diskursen begründen ließen, auch individuell zumutbar ist. Er selbst verweist auf das Recht, das die Normbefolgung sichern soll. Schon diese Überlegungen können nicht wirklich überzeugen, die Ausführungen zur Zumutbarkeit von Niquet können es noch weniger; Ulrich hingegen gelingt durch eine Differenzierung von Problemlagen die Skizzierung einer überzeugenderen diskursethischen Lösung. Er expliziert zudem ein plausibles diskursethisches Konzept .angewandter Ethik': die Rekonstruktion vorgefundener Grundnormen und normativ relevanter Prozeduren eines Anwendungsbereichs (bei ihm: der Ökonomie), die dann auf ihre Vereinbarkeit mit >U< geprüft werden. Von Ott werden die allgemeinen Aufgaben einer solchen diskursethischen Analyse von „Praxisfeldern" näher untersucht. Eine zweite zentrale Anwendungsfrage betrifft die nach Habermas zusätzlich zu Normbegründungsdiskursen erforderlichen Normanwendungsdiskurse. Auf dieser Ebene sollen neben der Herstellung des korrekten Situationsbezugs (durch Vergleich von Situationsmerkmalen mit denjenigen, die gültige Normen für ihre Anwendung erfordern) auch die Verarbeitung von Normenkollisionen vorgenommen werden. Günther konkretisiert dieses Konzept zwar, doch die Separabilität von Begründungs- und Anwendungsüberlegungen und damit auch der vermeintliche Vorteil einer besseren Operationalisierbarkeit der DE durch ihre Nacheinanderschaltung bleibt genauso fraglich wie der Beitrag von Anwendungsdiskursen zur Lösung von Normenkollisionen. Alexy bietet ein Gegenkonzept an, nach dem Normenkollisionen in erster Linie auf der Begründungsebene zu lösen und Normen damit .situationssensitiver' werden sollen. Doch auch er faßt Anwendungsüberlegungen zu sehr als Vergleich von (vordiskursiv feststehenden) Merkmalen auf - ich werde weiter unten darauf näher eingehen. In den folgenden Abschnitten wird versucht, eine Alternative zur Standard-DE zu entwickeln, die diese Probleme vermeiden kann, ohne jedoch Intersubjektivität und Universalismus preiszugeben (und sich dadurch neue Probleme einzuhandeln). Zur Vorbereitung möchte ich zusammenführend darlegen, warum >U< kein erstrebenswertes Begründungsziel der DE darstellt (1), was schließlich auch noch gegen >D< als Begründungsziel spricht (2) und inwiefern die Standard-DE als Ganze nicht ausreichend inklusiv ist (3).
2.1 Probleme von >U< Viele der durch >U< ins Spiel gebrachten Festlegungen haben sich als problematisch erwiesen. Einige der Probleme hängen mit der Formulierung von >U< zusammen, andere verbleiben, auch wenn diese behoben wären. (Da >U< gegenüber >D< die spezifischere Formulierung sein soll, betreffen die weiter unten genannten Probleme von >D< auch >U U
U< unter Annahme ihrer allgemeinen Befolgung (a), in Anbetracht der daraus resultierenden Folgen und Nebenwirkungen (b), für die Befriedigung der Interessen und Wertorientierungen (c), eines jeden (Einzelnen) (d) geprüft werden.
2. Probleme der Standard-Diskursethik
247
(a) Die Argumentationsregel >U< ist auf eine Weise formuliert, die sich an der Konstruktion eines Kantischen idealen „Reichs der Zwecke" orientiert: Moralische Normen sind unter der Vorstellung ihrer allgemeinen Befolgung zu beurteilen, so die Formulierung. Die Gültigkeit moralischer Normen soll von ihrer faktisch nicht allgemeinen Befolgung jedoch unberührt bleiben - sie werden dadurch vielmehr unzumutbar (Habermas) bzw. gewinnen einen teleologischen Gehalt (Apel). In der Diskussion der „Zumutbarkeit" verlegt sich Habermas schließlich (wie auch Niquet) darauf, daß jede einzelne Norm unter Annahme (nur) ihrer eigenen allgemeinen Befolgung zu beurteilen sei. Da jedoch die Folgen einer Normbefolgung (und auch die Folgen einer Norm) davon abhängen, ob andere Nonnen ebenfalls (allgemein) befolgt werden, kann dieser Erläuterungsversuch nicht überzeugen. Zudem wird durch die partielle oder auch totale Nichtbefolgung einer Norm diese nicht zwangsläufig unzumutbar, vgl. Kap. Π.4.3. Die Zumutbarkeit von Normen kann - je nach Norm und Situation - die (allgemeine) Befolgung mehr oder weniger vieler anderer Normen voraussetzen oder auch nicht voraussetzen, so daß angesichts des Formulierungsteils (a) u. U. die allgemeine Befolgung aller moralischen Nonnen für die positive Beurteilung einer einzelnen Norm angenommen werden muß - was in massivere Folgeprobleme der Zumutbarkeit von moralischen Forderungen führt als bei Habermas und Niquet vorgesehen. Deren Problemdiagnose ist also erstens dahingehend zu korrigieren, daß die Zumutbarkeit von Normen wenn überhaupt, dann sicher nicht an ihren jeweiligen Befolgungsgrad geknüpft werden kann, da dies die gerade erwähnten Abhängigkeiten und Unabhängigkeiten außer acht läßt. Niquets Lösungsvorschlag des Zumutbarkeitsproblems, die Konstruktion von „befolgungsgültigen", d. h. zumutbaren Folgenormen, konnte jedoch schon aus anderen Gründen nicht überzeugen. Insbesondere wird die Nichtbefolgung gültiger Normen von einer eventuellen Diskursverweigerung nicht klar unterschieden. Der Verweis von Habermas auf das Rechtssystem, das die hinreichende Befolgung moralischer Nonnen erwartbar mache, greift ebenfalls zu kurz, da es eine Reihe von so nicht erzwingbaren Handlungen gibt. Sein Verweis auf eine „politische Ethik" hingegen führt auf ein ähnliches Problem wie Apels Ergänzungsprinzip, da nun moralische Überlegungen der Tendenz nach außerdiskursiv zu rechtfertigen sind. Erst in Ulrichs Konzept gelingt durch die Differenzierung von realen und von virtuellen Diskursbemühungen eine nicht aporetische Lösung des Problems der Diskursverweigerung. Das Problem der voraussichtlich nicht-allgemeinen Befolgung vieler Normen bleibt im Kern ungelöst; aus der argumentationsreflexiven Begründung schon der StandardDE gibt es keine Notwendigkeit, sich dieses Problem aufzubürden. Es ist eine Anlehnung der DE an Kant, die zu der problematischen Konzeption von „Idealnormen" fuhrt; diese Vorstellung wäre jedoch eigens zu rechtfertigen. Vielleicht wird hierin auch ein kontraktualistisches Element sichtbar: Zu halten brauche ich mich an konsentierte Nonnen genau dann, wenn der andere es auch tut bzw. die anderen es auch tun.1 (b) Daß Normen anhand ihrer (sich aus einer allgemeinen Normbefolgung ergebenden) Folgen und Nebenfolgen beurteilt werden sollen, ist nicht leicht zu verstehen.2 Rehg nimmt dies (im Rekurs auf Hare) als Anlaß zur Unterscheidung von direkten und indirekten Folgen einer Norm: Direkte Folgen seien die Handlungsnormierungen selbst, betreffen also Handlungen, indirekte Folgen seien die Folgen der solcherart normierten Handlungen, betreffen 1 Für diesen Hinweis danke ich Nadia Mazouz. 2 Nebenfolgen sind (unbeabsichtigte) Folgen; ich unterscheide im weiteren hier nicht.
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III. Diskursethik als kognitivistisches Rahmenkonzept
also Handlungsfolgen. Doch Habermas möchte nicht die Folgen einer Norm, sondern die Folgen einer Normbefolgung betrachtet wissen, und eine Normbefolgung ist bereits eine Handlung. Um zu gestatten, daß Handlungen auch in sich problematisch sein können, müßte >U< im Sinne der Rehgschen Unterscheidung korrigiert werden. (c) In >U< geht es genau um die Folgen und Nebenfolgen der „Befriedigung der Interessen" bzw. der „Interessenlagen und Wertorientierungen" eines jeden. Dies gab und gibt Anlaß für das Mißverständnis, Interessen würden hier im Sinne eines Kontraktualismus verstanden und damit vordiskursiv individuell festliegen. Interessen sind (für Habermas zumindest) interpretierte Bedürfnisse, die die Diskursbeteiligten in gemeinsamen hermeneutischen Anstrengungen formulieren und sich gegenseitig plausibel machen sollen. Zwar scheint klar, wessen Interessen und Wertorientierungen berücksichtigt werden sollen (nämlich die der betroffenen Diskursfahigen), unklar bleibt aber, worauf sich diese Interessen richten und wie divers sie sein dürfen. „In praktischen Diskursen , zählen' nämlich für das Ergebnis nur solche Interessen, die als intersubjektiv anerkannte Werte präsentiert werden und dafür kandidieren, in den semantischen Gehalt gültiger Normen aufgenommen zu werden. Diese Schwelle passieren nur verallgemeinerbare Wertorientierungen, die von allen Beteiligten (und Betroffenen) für die Normierung einer jeweils regelungsbedürftigen Materie mit guten Gründen akzeptiert werden können - und dadurch normativ verbindliche Kraft erhalten. Ein .Interesse' kann als .Wertorientierung' beschrieben werden, wenn es von anderen Angehörigen in ähnlichen Situationen geteilt wird. Ein Interesse muß also aus der Bindung an die Perspektive einer ersten Person gelöst werden, wenn es unter dem moralischen Gesichtspunkt in Betracht kommen soll. Sobald es in ein intersubjektiv geteiltes evaluatives Vokabular übersetzt wird, weist es über Wünsche oder Präferenzen hinaus und kann, als Kandidat für eine Wertgeneralisierung im Rahmen moralischer Begründungen, die epistemische Rolle eines Argumentes übernehmen. Was in den Diskurs als Wunsch oder Präferenz eintritt, übersteht den Verallgemeinerungstest nur unter der Beschreibung eines Wertes, der für die Regelung der jeweiligen Materie allen Beteiligten allgemein akzeptabel erscheint." (Habermas 1996:102f.)
Erstens ist zu fragen, ob diese diskursiv erhellten und wechselseitig zugestandenen Interessen bzw. Bedürfnisse und Wertorientierungen sich ausschließlich darauf richten sollen, wie man selbst behandelt wird, d. h. auf das eigene Wohlergehen. Dies brächte folgendes zum Ausdruck: Jeder Teilnehmer a soll die Folgen für die Interessenlagen und Wertorientierungen eines jeden Teilnehmers x, also F(x) für alle x, zusammen mit allen anderen Teilnehmern akzeptabel finden. Alle Interessen von α, die sich auf das Wohlergehen anderer richten bzw. darauf, wie andere als man selbst behandelt werden, müßten dann darin, daß >U< befolgt wird, bereits ihren Ausdruck gefunden haben. Diese Konstruktion ist aus dem Kontraktualismus bekannt als Ausschluß „moralischer" Interessen und dient u. a. der Vermeidung von Zirkularitäten. Dann würden Interessen z.B. von nicht diskursfähigen Wesen nicht nur nicht direkt in >U< berücksichtigt werden, sondern auch nicht dadurch, daß die Diskursteilnehmer ein Interesse an deren Wohlergehen haben. Allein wenn es ihrem eigenen Wohlergehen abträglich ist oder sein könnte, wenn die Diskursteilnehmer sich beispielsweise „schlecht fühlen", weil die nicht diskursfähigen Wesen auf eine bestimmte Weise behandelt werden, oder wenn sie befürchten müssen, nach ζ. B. Unfall oder Krankheit selbst einmal zu einem derartigen Wesen zu werden (so meint Werner 1997 die Berücksichtigung der nicht Diskursfähigen begründen zu können), gäbe es einen diskursethischen Grund zur Rücksicht.
2. Probleme der Standard-Diskursethik
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Nun zur Frage der Diversität der Interessen(-lagen und Wertorientierungen). Legitime Normen haben „im gleichmäßigen Interesse aller" zu liegen bzw. „für alle gleichermaßen gut" zu sein, wie Habermas immer wieder betont hat (ζ. B. 1991a: 176). Möglicherweise bezeichnet dies eine Argumentationsregel, die nicht die speziellen Probleme von >U< aufweist. Mir ist nicht klar, wie „gleichermaßen" bzw. „gleichmäßig" genau zu verstehen ist. Einerseits könnte gemeint sein, daß die Diskursteilnehmer einen nicht-beliebigen Kernbereich identischer Interessen entdecken, von dem sie dann auch wissen, das er allen gemeinsam ist. Dies könnte auf die gemeinsame Anerkennung dessen hinauslaufen, was die Standard-DE über das „Involviertsein in eine kommunikative Lebensform" ausbuchstabiert (Habermas; Wingert). Für diese Interpretation spricht auch folgende Stelle von Habermas (1991e: 73): „Einbezogen [in die Moral; NGM] werden jene strukturellen Aspekte des .guten Lebens', die sich allgemein unter dem Gesichtspunkt der kommunikativen Vergesellschaftung überhaupt von den konkreten Totalitäten jeweils besonderer Lebensformen - und Lebensgeschichten - abheben lassen". Eine zweite Interpretation wäre, daß es sich zwar um identische Interessen handelt, diese aber nicht einem Kernbereich zuzurechnen sind, sondern als mehr oder weniger kontingent erscheinen. Eine dritte Interpretation wäre, daß „gemeinsam geteilte Interessen" gar keine substantiell identischen Interessen sind, sondern als legitim anerkannte individuell verschiedene Interessen. Damit ist gemeint, daß jede und jeder von der Berechtigung dieser individuell verschiedenen Interessen überzeugt ist. Wenn dann alle eine Regelung aus wechselseitiger Einsicht in die Begründetheit der jeweiligen Interessen vorziehen, ist die Grenze von Einzel- und Gemeininteresse aufgelöst. Die Interpretationen (2) und (3) lassen sich kombinieren, indem Interpretation (2) auf höherstufige Interessen bezogen wird: Wenn in einer Norm die verschiedenen Interessen (bzw. Wertorientierungen), soweit sie als legitim anerkannt sind, Berücksichtigung finden sollen (3), gibt es ja auch ein identisches Interesse eines jeden an dieser Norm (2). Höherstufige Interessen können identisch sein trotz divergierender und kollidierender einfachstufiger Interessen (diese Eigenschaft haben auch Gründe, vgl. den untenstehenden Exkurs); für eine solche höherstufige Konsensbildung sollte der Interessenbegriff (und auch der Begründungsbegriff) der DE Raum lassen. Wenn Interpretation (3) zurückgewiesen werden würde - was mir wie gesagt bei Habermas nicht ganz klar ist - , schlösse die Standard-DE das aus; damit ginge eine genauso erhebliche wie unnötige Verengung der DE einher. Es bleibt aber immer noch zu fragen, warum und inwiefern die Hinsichtlichkeit der Moral notwendig in der Befriedigung von Interessen (bzw. der Berücksichtigung von Interessenlagen und Wertorientierungen) bzw. von Bedürfnissen bestehen sollte. (d) Schließlich soll die Beurteilung hinsichtlich der Interessen (bzw. der Interessenlagen und Wertorientierungen) „eines jeden (Einzelnen)" geschehen. Sind hiermit nur die Diskursteilnehmer gemeint (s. o.), bleiben zumindest die - mehr oder weniger umfangreich zuschreibbaren, aber doch: zuschreibbaren - Interessen nicht diskursfähiger Wesen als solche unberücksichtigt. Da dieses Problem anscheinend auch >D< betrifft, diskutiere ich es weiter unten.
2.1.2
Probleme einer Argumentationsregel als Universalisierungsprinzip
Mit >U< wird die Angabe einer Argumentationsregel versucht, die einen Diskurs über allgemeine Handlungsnormen zu einem Moraldiskurs macht. Jede Argumentationsregel regelt
250
III. Diskursethik als kognitivistisches Rahmenkonzept
auch die Art der Gründe, die nun (noch) zur Beurteilung einer Handlung vorgebracht werden dürfen. Die Frage nach einer Argumentationsregel ist eine Frage nach den zugelassenen Gründen für eine Zustimmung. Nichts spricht m.E. dafür, den Diskursbeteiligten die Diskussion gerade von „Werten" oder „Interessen" bzw. „Bedürfnissen" diskursvorgängig vorzuschreiben, wessen Interessen und welchen Inhalts auch immer, oder ihnen (das wäre wohl ohnehin tautologisch) sagen zu wollen, daß sie nur legitime Interessen bzw. Bedürfnisse berücksichtigen sollten. Ich meine, Ott und Benhabib haben recht gegenüber Rehg damit, daß Habermas' und Apels >U< kein Zustimmungskriterium für jedweden moralischen Diskurs abgibt, sondern stärkere Anforderungen stellt und unnötige Einschränkungen bringt. Aber ich meine auch, daß Benhabib und Wingert recht haben darin, daß es der expliziten Vorgabe der Argumentationsregel >UD< Da >U< als Argumentationsregel einen Diskurs gemäß >D< regulieren soll, betreffen die nun zu erörternden Probleme von >D< auch >UD< betrifft, wird im Anschluß in einem eigenen Abschnitt diskutiert. Die Besonderheit von >D< ist die Normensemantik (a), der eine ganz bestimmte Normvorstellung zugrunde liegt (b). Habermas selbst konturiert Normen gegen Werte.1 Ich versuche im folgenden, die weithin üblichen von den spezifisch Habermasschen Kennzeichen zu unterscheiden. 1 Habermas profiliert Normen gegen Werte in vier Hinsichten: Durch den Bezug auf Verhalten bzw. Ziele, durch eine binäre bzw. graduelle Kodierung, durch die Bildung eines konsistenten bzw. spannungsreichen
2. Probleme der Standard-Diskursethik
251
(a) Normen sind semantisch auf eine bestimmte Form festgelegt: Die Normierung geschieht durch deontische Operatoren (Ought, Forbidden und Permitted), die die Norm binär kodieren, d. h. die Norm ist entweder richtig oder falsch und sie wird entweder erfüllt oder nicht erfüllt. Darüber hinaus werden gewöhnlich noch folgende Festlegungen getroffen: Gegenstand der Normierung sind Handlungen} In der Moral dürfen zudem die Belegungen der Personenstellen nicht normiert werden (sonst wären die Nonnen semantisch nicht mehr universell; Norm-Adressierungen müssen also in universellen Termini ausgedrückt werden). Hinzu kommen gewöhnlich auch zwei regulative Forderungen an das Normensystem: Erstens soll es konsistent sein, sollen Normenkollisionen also vermieden werden (vgl. Kap. Π.5); zweitens soll es erschöpfend sein, soll das „Netz" von Normen also so weit zusammenhängend und umfassend sein, daß alle moralisch relevanten Handlungen auch normiert werden. Diese Auffassung von Normen könnte das „Grundmodell" genannt werden. Es ist auch bei Habermas und Apel zu finden. Über (a) hinaus scheint Habermas moralischen Normen aber noch weitere Eigenschaften zuzuordnen, die im nächsten Punkt beschrieben werden. (b) Normen sind für Habermas „allgemein und abstrakt' (1991b: 23), da sie viele verschiedene Lebensentwürfe normieren sollen. Sie sind also nicht speziell, sondern generell zu formulieren, d. h. so, daß jede von ihnen (möglichst) viele Fälle gleichzeitig regelt; Pate steht dieser Normenvorstellung wohl so etwas wie ein moderner Dekalog (vgl. Gert 1983 und 1998; dazu Habermas 1991a: 172fF.). Diese Normvorstellung war es, welche die Ergänzung von (Normen-)Begründungs- durch (Normen-)Anwendungsdiskurse notwendig zu machen schien. Die von Alexy vorgetragene Alternative äußerst spezieller Normen läßt sich aber ebensogut vertreten; in diesen Normen sind nur noch die Individuenstellen unbelegt, und in deren Belegung besteht die „ A n w e n d u n g " von Normen, so daß gesonderte Anwendungsdiskurse nicht nötig sind. Auch Ott kennt generellere und speziellere Normen (wobei die Spezifität von Normen auf den äußeren seiner Anwendungs-„Schalen" zunimmt. Dies zeigt m. E., daß es ein Kontinuum der Spezifität von Normen gibt, angefangen von sehr generellen Normen (die aber immer auch zumindest implizit noch einen Situationsbezug haben), über in verschiedenem Maße „situationsspezifische" Nonnen bis hin zu „individuellen" Normen, in denen als Resultat von Anwendungsüberlegungen auch die Personenstellen belegt sind.
Systems, sowie durch ihre absolute bzw. relative Verbindlichkeit (1992: 309ff., id. 1996: 72f.). Die ersten drei Punkte wurden hier, leicht ergänzt, ebenfalls zugrunde gelegt. Die Ausführungen zum vierten Punkt: „Die Sollgeltung von Normen hat des weiteren absoluten Sinn einer unbedingten und universellen Verpflichtung: das Gesollte beanspracht, gleichermaßen gut für alle (bzw. für alle Adressaten) zu sein. Die Attraktivität von Werten hat den relativen Sinn einer in Kulturen und Lebensformen eingespielten oder adoptierten Einschätzung von Gütern: gravierende Wertentscheidungen oder Präferenzen höherer Ordnung sagen, was aufs Ganze gesehen gut für uns (oder mich) ist" (1996: 72) - diese Ausführungen also haben sich schon bei der Diskussion der „Kontextgebundenheit" von Fragen des guten Lebens als problematisch erwiesen; wir kommen darauf zurück. 1 Streng genommen wird nur die Tätigkeit normiert, die „Konklusion" des praktischen Syllogismus, gewissermaßen die „Außenseite" der Handlung. Häufig jedoch wird auch von der Normierung von Handlungen oder Handlungsdispositionen (Tugenden) gesprochen.
252
III. Diskursethik als kognitivistisches Rahmenkonzept
Norm-Vorstellung
Generalität Anzahl der einer Norm Normen
„Allgemein
und abstrakt": Je eine Norm für sehr viele (moralisch relevant verschiedene) Situationen
Ί-
Wenige
Je eine Norm pro Klasse von moralisch irrelevant verschiedenen Situationen {S}
Ο
Viele
-
Sehr viele
-
Maximal
Je eine Norm pro Klasse von nur durch die Belegung der Individuenkonstanten unterschiedenen Situationen {S}, d. h.: je eine Norm pro Lage L „Individuell": Je eine Norm pro Situation S Tabelle 9
Verschiedene Normen-Vorstellungen, angeordnet nach abnehmender Generalität und nach zunehmender Anzahl von für eine erschöpfende Beurteilung moralischer Fälle erforderlichen Normen (unter der jeweiligen Norm-Vorstellung). Zur Unterscheidung von Situationen und Lagen s. Kap. II.5.1.
Die Probleme, die >D< aufwirft und die ich im folgenden besprechen möchte, sind die Probleme einer Ethik der wormengestützten Handlungsb&xñeihxag. Sie betreffen die Fokussierung auf einzelne Normen (1), die Frage des (im Rahmen einer Normenethik) richtigen Normenkonzepts (2), die vermeintliche Notwendigkeit, überhaupt Normen zugrunde zu legen (3), und schließlich die Frage, ob ausschließlich Handlungen Gegenstand einer DE sein sollten (4). 2.2.1
Verflochtenheit normativer Urteile
Habermas strebt, wie die Ausführungen zur Zumutbarkeit zeigen, bereits in >D< unnötigerweise eine Einschränkung der Begründungsüberlegungen auf einzelne Normen an. Wie wir in der Diskussion der Anwendungsfragen gesehen haben, leistet dies viel zu einfachen Vorstellungen Vorschub. Ob eine einzelne Nonn im Diskurs konsensfähig ist, hängt davon ab, welche anderen Normen konsensfähig sind und wie es um die faktische Befolgung aller dieser Normen steht (sowie von den Resultaten anderer Diskursarten). Normenkonflikte und ihre mögliche Auflösung verweisen ebenfalls auf den Zusammenhang von Normen. Plausibel finden wir nur das ganze Netz moralischer Überzeugungen, das auch nur zusammen den moralischen Ansprüchen Rechnung tragen kann, wobei moralische Überzeugungen auch von unseren ethischen, pragmatischen, veridischen etc. Überzeugungen abhängen (vgl. untenstehenden Exkurs, d. h. Kap. III.3.4). Weil alle diese Aspekte in Handlungsbeurteilungen eingehen, muß die Unterscheidung von (entsprechenden) Diskursarten als analytische, nicht als extensionale Unterscheidung verstanden werden (vgl. Gottschalk 1999).
2. Probleme der Standard-Diskursethik
2.2.2
253
Generelle Normen oder spezielle Normen - eine pragmatische Betrachtung
Der „moralische Einheitsfokus" (Kettner) der Standard-DE auf „abstrakte und allgemeine" Nonnen verengt das Spektrum zugelassener deontischer Qualifizierungen in moralischen Diskursen.1 Die Kontroverse um eigenständige Anwendungsdiskurse läßt sich als Streit um den Generalitätsgrad moralischer Normen verstehen: Die eine Fraktion vertritt eine Auffassung von Normen als „allgemein und abstrakt" im Sinne einer Generalität von Normen. Die andere Fraktion will zur Beurteilung von Handlungen letztlich sehr spezielle, gleichwohl aber noch semantisch universelle Nonnen heranziehen. Dazwischen liegt Otts Konzept von Normen abgestuften Generalitätsgrades. Die Diskurstheorie selbst, und auch die StandardDE mit >U< und >DD< ist vorausgesetzt, daß in der Moral ausschließlich Handlungen beurteilt werden und nicht Weltzustände, Institutionen, Personen, Intentionen, Haltungen, Geföhle o. ä. Prima facie können sich moralische Urteile auf alle diese Entitäten richten, und es spricht nichts dagegen, daß wir auch diese Urteile intersubjektiv rechtfertigen können. Nicht alle diese Urteile lassen sich auf Urteile über (mögliche) Handlungen oder Handlungskomplexe zurückführen. Wie Scanion (1998) richtig sagt, geben (negative) Gefühle Anlaß zu einem schlechtem Gewissen auch dann, wenn sie nicht zu Handlungen fuhren. Man schämt sich dann (u. U.) der Gefühle selbst wegen und nicht wegen ihrer Konsequenzen. Ich denke, dasselbe gilt zumindest auch für bestimmte Intentionen. Ich denke dennoch nicht, daß solche Urteile ohne einen Handlungsbezug in Moral und Ethik eine zentrale Rolle spielen können. Primär interessieren dort nämlich die Weltzustände, die dem menschlichen Handeln zugänglich sind, werden Institutionen anhand der von ihnen ermöglichten oder verhinderten Handlungen eingeschätzt, werden Personen anhand ihrer ausgeführten und geplanten Handlungen (auch: Sprechakten) beurteilt, werden Intentionen auf mögliche Handlungen bezogen, Haltungen als Handlungsdispositionen angesehen und Gefühle im Zuge von Handlungen entwickelt (d. h. als Reaktion). Dennoch könnte eine DE auch die Einschränkung auf Handlungen noch abstreifen, ohne ihren Charakter zu verlieren. Sie würde von einer DE der Handlungsrechtfertigung zu einer DE der moralischen Rechtfertigung überhaupt (Dl habe ich daher allgemein genug formuliert).
2.3 Habermas' Moralbegriff und die Berücksichtigung von nicht diskursfáhigen Wesen Oben wurde bereits beschrieben, daß der Standard-DE ein spezifischer Moralbegriff zugrunde liegt: Handlungsbeurteilungen sollen auf allgemeine und abstrakte, binär kodierte und mit absoluter Verbindlichkeit auftretende Verhaltensnormen gestützt werden und Fragen des guten Lebens, die Habermas mit evaluativen Beurteilungen zusammenschließt, sollen ausgeklammert bleiben. Hier nun wird diskutiert, wofür bereits einige Indizien zusammengetragen worden sind: daß und warum die Standard-DE sich auf die Berücksichtigung ausschließlich von diskursfáhigen Wesen beschränkt. Eine eindeutige und gleichzeitig aufschlußreiche Stelle bei Habermas ist wohl diese hier: „Je weiter die Individuierung fortschreitet, um so mehr verstrickt sich das einzelne Subjekt in ein immer dichteres und zugleich subtileres Netz reziproker Abhängigkeiten und exponierter Schutzbedürftigkeiten. Die Person formt deshalb ein inneres Zentrum nur in dem Maße, wie sie sich zugleich an die kommunikativ hergestellten interpersonalen Beziehungen auch entäußert. Daraus erklärt sich die Gefährdung und chronische Anfälligkeit einer versehrbaren Identität. Und eben auf deren Schonung sind Moralen zugeschnitten." (199le: 69)
Auch die Apelsche Begründungslinie zielt nur auf die Anerkennung diskursfahiger Wesen (vgl. die Übersicht in Werner 1997 mit verschiedenen Potentialitätsstufen der „Fähigkeit").
258
ΙΠ. Diskursethik als kognitivistìsches Rahmenkonzept
Die Standard-DE führt damit eine wesentliche Beschränkung ein, die den Formulierungen von >D< und >U< zugrunde liegt: Nämlich (*) die Einschränkung der Gruppe der in der diskursethischen Normbegründung zu berücksichtigenden Handlungsgegenüber auf genau die Gruppe möglicher Diskursgegenüber. Dies schließt bereits im Ansatz eine Reihe von moralischen Intuitionen aus der Begründung aus, die Verpflichtungen gegenüber nicht sprach- und handlungsfähigen Wesen betreffen (z. B. Tiere, aber auch „Kleinkinder, Föten, gewisse Schwerstgeistigbehinderte, gewisse senile Alte", so Krebs 1995) - es entsteht ein erstes Inklusionsproblem. Dieses Problem erscheint mehr oder weniger gravierend je nachdem, ob aktuale oder (in verschieden starkem Maße) potentielle Diskursfähigkeit gemeint ist (dazu Skirbekk 1995). U. U. droht aber - entgegen den Intentionen der Standard-DE - auch sprach- und handlungsfähigen Wesen der Ausschluß, dann nämlich, wenn die Begründung moralischer Pflichten an das Bestehen eines bestimmten gemeinsamen lebensweltlich-kommunikativen Zusammenhangs geknüpft wird. Dieses zweite Inklusionsproblem droht allen denjenigen, mit denen man nicht schon faktisch in einem derartigen Zusammenhang steht. Insbesondere einige der Formulierungen von Wingert lassen sich auf diese Weise verstehen. Nur wenn dieser Zusammenhang als konstitutiv verknüpft mit der menschlichen Lebensform schlechthin angesehen wird, also stets nur im Singular auftritt, entfallt dieses zweite Problem. Der Wortlaut von >D< erzwingt einen Ausschluß jedoch dann nicht, wenn wir (a) unter „Betroffenen" diejenigen verstehen könnten, die sich nach der fraglichen Norm zu richten haben (also die Normadressaten). Dann würde >D< nur die Rechtfertigungspflicht gegenüber Diskursgegenübern in Ansehung ihrer Behandlung auch der nicht diskursfähigen Handlungsgegenüber zum Ausdruck bringen, wäre also nichtexklusiv. Ein zweiter Interpretationsvorschlag, der mehr den Habermasschen Intentionen entspricht, wäre (b), unter den „Betroffenen" diejenigen zu verstehen, die von Handlungen gemäß der fraglichen Norm betroffen sind. Im diesem Fall wird in der Formulierung, daß die Betroffenen „als Teilnehmer an praktischen [bzw. rationalen] Diskursen" zustimmen können müßten, offenbar unterstellt, daß betroffen nur sein kann, wer an Diskursen (im Prinzip jedenfalls) teilnehmen kann. Deshalb wird von Habermas und Apel explizit eine advokatorische Berücksichtigung der Ansprüche nicht diskursfähiger Wesen gefordert. Dies läßt sich mit >D< nur in Einklang bringen, wenn der Potentialis („zustimmen könnten") besonders betont wird: Nämlich, daß wir Diskursfähigen den Ausfall von Normen fur diejenigen, deren Bedürfnisse, Interessen und Gefühle (oder was sonst moralisch einen Unterschied macht - >D< gibt hier ja nichts vor) von unseren Handlungen berührt sind, die der Regelung der fraglichen Norm unterliegen, unter uns Diskursgegenübern nach bestem Wissen und Gewissen artikulieren und bei Richtigkeitsüberlegungen von Normen berücksichtigen sollen. In der Konsequenz sind (a) und (b) dann identisch: In beiden Lesarten können alle potentiellen Normadressaten bei ihren Handlungsbeurteilungen auch die Auswirkungen auf nicht diskursfahige Wesen adäquat berücksichtigen. Beide Interpretationen schränken nicht durch die Diskursfähigkeit die Betroffenheit ein, sondern markieren durch die Betroffenheit den Teilnahmegrund am Diskurs für diejenigen, die teilnehmen können. Die Formulierung „denen alle Betroffenen als Teilnehmer an praktischen Diskursen zustimmen könnten" (bzw. „...als Teilnehmer an rationalen Diskursen...") würde dann den Prozeß der Zustimmung erläutern. Der Ausgangspunkt dieser Überlegungen bezog sich auf die Formulierung von >DD< oder >U< im Rahmen der Standard-DE gemeint sind. Doch ich denke, das
2. Probleme der Standard-Diskursethik
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Problem liegt tiefer. Es liegt in einem Mißverständnis des Begründungsgangs der DE aus dem kommunikativen Handeln heraus, der die Berücksichtigung moralischer Ansprüche von nicht kommunikationsfähigen Wesen als intrinsisches Problem auftreten läßt. Die Ausführung dieser These wird auch plausibel machen, warum die „advokatorische Berücksichtigung" eine (unbefriedigende) Ad-hoc-Lösung genannt werden muß. Die Habermassche DE geht nämlich in ihrer Begründung zwar von kommunikativen Interaktionen aus, aber Habermas scheint zu übersehen (und mit ihm Wingert), daß die Gründe ernstzunehmen, die in kommunikativen Lebensformen eine Rolle spielen, nicht nur die Achtung (bzw. bei Wingert: die Respektierung) von kommunikationsfahigen Wesen bedeutet. Habermas' Bemerkungen etwa zum Schutz von Tieren exponieren das Problem auf deutlichste Weise: da die Moral auf strikte Gegenseitigkeit ziele, könne es Tieren gegenüber nur eine „moralanaloge Verpflichtung" geben. Aus Sicht der Standard-DE können wir moralische Pflichten gegenüber Tieren nur insoweit begründen, wie wir mit ihnen kommunizieren können: „Wir müssen den Tieren Aktoreigenschaften zuschreiben können, unter anderem die Fähigkeit, Äußerungen zu initiieren und an uns zu adressieren. Dann haben wir Pflichten, die unseren moralischen Pflichten analog sind, weil sie wie diese in den Voraussetzungen kommunikativen Handelns ihre Basis haben." (Habermas 1991a: 225)
Ansonsten lassen sich Pflichten der Behandlung nicht diskursfähiger Wesen nur dann begründen, wenn es (kontingenterweise) unseren Wertorientierungen oder unseren Interessen entspricht. Deren Ansprüche können nicht um ihrer selbst willen berücksichtigt werden (und zwar auch nicht in einer an sich gut gemeinten Advokation), denn die Standard-DE gibt in moralischen Diskursen eine Form von Gründen vor, die ein kollektives „Von-sich-auf-andere-Schließen" nötig machen. Als epistemisches Vorgehen ist das wahrscheinlich sinnvoll, als legitimatorisches jedoch nicht akzeptabel. Die Standard-DE ist hier gegenüber Kant keinen Schritt weiter gekommen, der zum Tierschutz deshalb geraten hat, weil die Menschen sonst in ihrem Umgang untereinander verrohten (vgl. Wolf 1990). Selbst wenn es aber die Formulierung von >D< offenlassen würde, gibt es in der Habermasschen DE sicher ein Problem der Inklusion von nicht kommunikativ handlungsfähigen Wesen (denn hier bestehen nicht einmal moralanaloge Pflichten) und wahrscheinlich ein Problem der Einbeziehung von nicht diskursfähigen, aber kommunikativ handlungsfähigen Wesen (denn die Pflichten ihnen gegenüber sind nur moralanalog).1 Die oben vorgeführten beiden Lesarten (a) und (b) der Inklusion von nicht Diskursfähigen sind durch die DE-Begründung aus den Unterstellungen des kommunikativen Handelns, wie Habermas sie versteht, nicht gedeckt. Das Inklusionsproblem bezeichnet aber nur einen Teil der Problematik, die sich aus der Einschränkung (*) ergibt. Wenn wir es nämlich plausibel finden sollen, D*-Diskurse zu praktizieren, dann doch nur deshalb, weil die moralische Berücksichtigung intern mit der Diskursfähigkeit verknüpft zu sein scheint. In diesen Diskursen droht daher auch dem Spektrum guter Gründe eine Einschränkung auf die Berücksichtigung von Autonomie (ver-
1 Eine solche Kritik (vgl. Krebs 199S) trifft die Diskursethik in der Form, wie sie von Habermas und Apel intendiert war, m. E. zu Recht. Krebs schreibt der Standard-DE jedoch nur die Schutzmöglichkeit von aktual argumentationsfähigen Wesen zu - etwas inklusiver ist die Standard-DE schon (vgl. Werner 1997).
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III. Diskursethik als kognitivistisches Rahmenkonzept
standen als diskursive Selbstbestimmung). Weil die Handlungsgegenüber einsichtsfähig, diskursfähig sind, ist es falsch, sie einfach nur zu „behandeln". Diskursfáhige wollen (und sollen) so behandelt werden, wie auch sie (und wir mit ihnen) es für richtig halten. So weit, so richtig. Doch gerade weil dies so ist, liegt die Auffassung nahe, daß dies auch die einzige Hinsicht moralischer Verpflichtungen ist. Kurz gesagt, in D* werden nur autonome Wesen berücksichtigt. Und es besteht die zusätzliche Gefahr, daß dies nur um ihrer Autonomie willen (und damit auch nur auf eine bestimmte Art und Weise) geschieht. Daß die oben dargestellte universalpragmatische Begründung der DE von vornherein auf D* zielt, wird an Wingerts Moralphänomenologie besonders deutlich. Er expliziert die Ansprüche seiner „Moral des doppelten Respekts" sämtlich als durch kommunikative Beziehungen gegenüber anderen Personen erzeugt (weshalb sie auch am besten kommunikativ geschützt werden könnten). Ich werde weiter unten versuchen zu zeigen, wie eine DE auch solche Wesen adäquat berücksichtigen kann, mit denen keine kommunikativen Handlungsbeziehungen bestehen oder möglich sind (und auch keine Diskurse geführt werden können).
3. Diskurs, Gründe und Begründungen Dem Inklusionsproblem, also dem Problem der Berücksichtigung der Ansprüche nicht diskursfähiger Wesen, liegt m. E. ein basales Mißverständnis der Standard-Diskursethik darüber zugrunde, wie Diskurs- und Handlungsebene in der Praxis des Gründegebens zueinander in Beziehung stehen. Handlungsgegenüber sind diejenigen, die von einer fraglichen Handlung betroffen sind bzw. wären, Diskursgegenüber sind diejenigen, denen gegenüber ein Handelnder seine (mögliche) Handlung mit Gründen rechtfertigen können muß bzw. müßte. Nur die letztere Gruppe besteht (notwendig) aus diskursfahigen Wesen, aus Personen. Handlungsgegenüber müssen nicht unbedingt diskursive Fähigkeiten besitzen, brauchen auch keine Personen zu sein, keine Menschen, ja (wenn man Gegenüber nur weit genug versteht) auch nicht einmal höhere Lebewesen, solange die fragliche Handlung nur für dieses Gegenüber einen Unterschied macht. Im einzelnen können wir hier, mit Thomas Scanion (1998: 179), folgende Gruppen unterscheiden: „(I) Those beings that have a good; that is, those for which things can go better or worse; (2) Those beings in group (1) who are conscious, and capable of feeling pain; (3) Those beings in group (2) who are capable of judging things as better or worse and, more generally, capable of holding judgment-sensitive attitudes; (4) Those beings in group (3) who are capable of making the particular kind of judgments involved in moral reasoning; (5) Those beings in group (4) with whom it is advantageous for us to enter into a system of mutual restraint and cooperation."
Während Scanion alle Wesen ab (einschließlich) der dritten Gruppe in seinem Moralvorschlag berücksichtigt, beginnt die Standard-DE erst bei der vierten Gruppe. Scanion ist sich
3. Diskurs, Gründe und Begründungen
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- wie eigentlich auch Habermas - darüber im klaren, daß auch die Handlungen gegenüber Wesen aus den anderen Gruppen einer moralischer Beurteilung zugänglich sind. Scanion meint außerdem zu Recht - wie wahrscheinlich auch Habermas - , daß sich desto mehr Ansprüche begründen lassen, je höher die Gruppe ist, in die die betreffenden Wesen einzuordnen sind. Doch beide meinen, im Namen ihres Moralkonzepts die argumentative Berücksichtigung der Ansprüche bestimmter Gruppen von Wesen nicht begründen zu können.1 Wirklich gravierende Probleme ergeben sich aus dieser Nicht-Inklusion, wenn man das entsprechende Moralverständnis .verabsolutiert'; Scanion sagt deshalb, die von ihm entwickelte Moral des „What we owe to each other" umfasse nur einen Teil aller moralischen Phänomene. In der DE und (eingestandenermaßen) bei Scanion handelt es sich um eine partielle Explikation des moral point of view. Selbst wenn sich im Rahmen der DE oder irgendeiner anderen Ethik nämlich nur eine partielle Berücksichtigung begründen ließe, würden die zahlreichen anderen philosophischen Moralbegründungen, soweit sie ebenfalls überzeugend sind, ja weiterhin greifen. Verabsolutiert man jedoch die partielle Explikation und die Moralphilosophien treten häufig mit einem Alleinexplikationsanspruch gegeneinander an - , so ist man verleitet zu glauben, sämtliche moralischen Überzeugungen in ihrem Rahmen reformulieren oder aufgeben zu müssen. Ich sehe nicht, daß ein solcher Anspruch bisher überzeugend eingelöst worden ist. Ich sehe auch nicht, wie sich dieser Anspruch überhaupt begründen ließe, wie sich also die Alternativenlosigkeit einer Begründung soll begründen lassen (dies ist die allgemeine Pointe der Argumentation von Niquet gegen die Letztbegründung der DE bei Apel und Kuhlmann). Doch auch eine Differenzierungsstrategie wie bei Scanion, die die ausgeklammerten Ansprüche als „moralische" anerkennt (und erst recht eine wie bei Habermas, der sie zu „moralanalogen" degradiert), wirft Probleme auf. Denn so entsteht der Eindruck, als ließen sich jene Ansprüche nicht nur nicht genauso gut, sondern gar nicht gegenüber jeder und jedem begründen. Doch ich denke, es gibt auch hier keine geeignetere Art, diese Wesen und ihre Ansprüche moralisch zu berücksichtigen, als wenn wir unsere sie betreffenden Handlungen gegenüber allen anderen diskursfähigen Wesen begründen müssen. Im folgenden wird zunächst der Frage nachgegangen, warum für die Standard-DE die Gruppe der Diskursgegenüber und der moralisch zu berücksichtigenden Handlungsgegenüber zunächst .natürlicherweise' zusammenfallen müssen (um dann hinterher von den Diskursteilnehmern eine advokatorische Berücksichtigung zu fordern). Anschließend wird das Verhältnis von Gründen und Interessen untersucht Auf dieser Basis kann dann die Inklusionsfrage beantwortet werden. Schließlich werden die InterSubjektivität von Gründen, das Aussehen von Begründungen als Zusammenhang von Gründen, ihre Entstehung und der Sinn der Bezeichnung „Kognitivismus" näher erläutert.
1 Scanion spricht in (1998) über dasjenige „what we owe to each other", verstanden als etwas, was keiner rationalerweise zurückweisen kann („reasonably reject"). Die Möglichkeit der Zurückweisung versteht er - explizit anders als Habermas - als nicht intersubjektiv, sondern je für sich zu prüfen.
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III. Diskursethik als kognitivistisches Rahmenkonzept
3.1 Gründe geben und kommunikatives Handeln Die Standard-DE läßt Diskurs- und Handlungsgegenüber zusammenfallen. „Moral" wird so verstanden, daß nur Handlungen gegenüber Diskursfähigen diskursiv normiert werden, und zwar in Diskursen genau unter den jeweils Betroffenen dieser Handlungen. Wenn man, wie hier nun vorgeschlagen, Diskurs- und Handlungsgegenüber nicht gleichsetzt, lassen sich im praktischen Diskurs auch andere Ansprüche adäquat transportieren. In dem Sinne, in dem die - nach Habermas universale, menschliche - Praxis des wechselseitigen kommunikativen Handelns (d. h. der Orientierung an gemeinsamen Geltungsansprüchen) und der wechselseitigen Begründung von Geltungsansprüchen für die Welt- und Selbstkonstitution fundamental ist, läßt sich auch sagen, daß unsere kommunikative Lebensform die Quelle von moralischen Verpflichtungen ist.1 Ohne eine solche Praxis würden wir moralische Ansprüche weder kennen noch erheben. Wahrscheinlich würden wir uns auch nicht als (in irgendeinem Sinne) verantwortlich Handelnde verstehen können, denn das Sich-Verantworten ist mit der Praxis des Antwortens auf Fragen (anderer) intern verknüpft. Doch fordern wir in dieser unserer Lebensform eben nicht nur Gründe für das als problematisch angesehene gegenseitige Handeln, also für Situationen, wo Handlungsgegenüber auch diskursfähige Wesen sind, wo wir also Gegenüber „behandeln", die von uns Gründe für gerade diese Behandlung fordern können (und wir von ihnen). Die Teilnahme an dieser kommunikativen Lebensform fordert das Ernstnehmen aller guten Gründe, nicht nur deijenigen, die den Umgang mit sprach- und handlungsfähigen Wesen (bzw. mit Angehörigen der zur Beurteilung dieser Gründe zuständigen Kommunikationsgemeinschaft) betreffen. Man könnte sagen, ein Moraladressat versteht sich und seine kommunikative Lebensform falsch, wenn er meint, daß der Verpflichtungsgrund für die Achtung von Handlungsgegenübern in der Tatsache der geteilten kommunikativen Lebensform liegt Das Ernstnehmen von Begründungspflichten ist nicht nur mit Rücksicht auf die Diskursgegenüber zu verstehen: So funktionieren unsere Gründe häufig gerade nicht. Sondern diese Gründe sagen uns vielmehr regelmäßig, daß es um des Wohls des Handlungsgegenübers willen geboten ist, bestimmte Dinge zu tun oder zu lassen. Auf die Frage „Warum soll ich die Katze nicht quälen?" ist doch die erste Antwort: „Weil es ihr weh tut". Handle ich solchen Geboten zuwider, ist dies zuerst einmal eine Mißachtung der Bedürfnisse, Interessen o. ä. des Handlungsgegenübers (im Beispiel: der Katze). Gleichzeitig ist dies auch eine Mißachtung der Kommunikationsgemeinschaft, in der ich mich der Richtigkeit meines Handelns, d. h. auch: dieser Gebote, versichere. Auch wenn man seine Handlung gegenüber einem Wesen nicht rechtfertigen kann, kann man es um seiner selbst willen berücksichtigen - so funktionieren Gründe.
1 Hierin würde ich Habermas' Darlegungen folgen - wenn es auch mehr Geltungsansprüche geben mag als die von ihm unterschiedenen und wenn auch normative Geltungsansprüche in einem weiteren Sinne verstanden werden müssen als bei ihm ausgeführt (vgl. Gottschalk 1999).
3. Diskurs, Gründe und Begründungen
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3.2 Gründe, Sprecher und Sprecher-Interessen Gründe werden häufig (aber fälschlich) mit Wünschen oder Motiven auf Seiten desjenigen gleichgesetzt, der einen Grund hat, etwas zu tun oder zu lassen (vgl. Scanion 1998: 33ff.). Dann bekommen Gründe einen egoistischen Zug, denn Gründe mißachten bedeutet dann, diese Wünsche nicht zu erfüllen oder diese Motive nicht zu berücksichtigen. Vielleicht hängt diese Gleichsetzung mit der Hypostasierung eines bestimmten handlungstheoretischen Modells zusammen.1 Auch Habermas läßt sich so verstehen, als würde mit >U< die Vorstellung eingeführt, daß Gründe zu geben im Kern etwas damit zu tun hat, seine Interessen zu formulieren. Eine Norm zu prüfen hieße dann in einem monologischen Verständnis, jedem einzelnen Gelegenheit zu geben zu prüfen, ob sie (auch) in seinem Interesse liegt, und in einem dialogischen Verständnis, daß diese Prüfung gemeinsam vorgenommen wird. Damit eng verbunden scheint die Idee, daß jeder darüber, was in seinem Interesse liegt, ausschließlich (monologisch) bzw. in letzter Instanz (dialogisch) selbst zu entscheiden hat. Doch diese hermeneutische These ist zu trennen von der advokatorischen These. Nach der hermeneutischen These ist jeder einzelne der erste und wichtigste (aber bei dialogischer Prüfung nicht der einzige) Interpret seiner Belange. Dort, wo wir uns nicht diskursfähigen Wesen gegenübersehen, gibt es natürlich kein solches hermeneutisches Primat (obwohl es Experten für das Wohlergehen bestimmter dieser Wesen geben mag). Anders die advokatorische These: Jeder ist (zwar im Diskurs, aber immerhin) zuerst und vor allem Advokat seiner selbst - diese unausgesprochene Prämisse macht die Forderung nach „advokatorischer Berücksichtigung" nicht diskursfahiger Wesen so einleuchtend. Doch Gründe haben selbst keinen intrinsischen Bezug auf die Interessen oder das Wohlergehen dessen, der sie vorbringt. In Gründen kann höchstens auf etwas Bezug genommen werden, was der vorrangigen Beurteilungskompetenz dessen obliegt, um dessen Behandlung" es geht, etwa auf Interessen. Dies gilt auch, wenn ich eine Handlung beurteile, die mich betrifft. Gründe haben an sich weder einen egoistischen, noch einen altruistischen Zug (und man wird immer Menschen finden, die eher so oder eher so argumentieren). Daher darf die Zustimmung zu einer Norm in Anbetracht der „Befriedigung der Interessen" bzw. der „Interessenlagen und Wertorientierungen" eines jeden nicht so verstanden werden, als habe letztlich jeder für sich die Kompatibilität mit nur seinen (diskursiv erhellten) Interessen zu prüfen und als müßten die Prüfungsergebnisse dann im Diskurs zusammengetragen und auf ein durchgängig positives Resultat geprüft werden. Eine Handlung für richtig zu halten heißt nicht, sie als im eigenen Vorteil anzusehen (wie der normative Individualismus meint). Und auch nicht, sie als im Vorteil eines jeden Diskurs-Beteiligten liegend einzusehen (wie ein moralisch aufgeklärter Kontraktualismus meint). Eine Handlung für richtig zu halten heißt 1 Häufig wird es als besonders mysteriös angesehen, wie gerade Gründe zu Handlungen fuhren können, während Motiven (oder Wünschen) dies ohne weitere Nachfrage zugestanden wird. Gründe haben müsse daher auf Motive (oder Wünsche) haben zurückgeführt werden können. Doch wenn Motive (oder Wünsche) nicht als etwas rein Empirisches verstanden werden, als Ursachen, und damit das Phänomen der Überlegung (Deliberation) geleugnet wird, ist deren Wirksamkeit erstens genauso mysteriös. Und zweitens sind Gründe etwas, was unsere Meinungen und Wünsche beeinflussen kann, was auch diejenigen zugestehen müßten, die eine Handlung als Resultat eines Wunsches und einer Meinung ansehen. Vgl. zu diesem Problem auch Julian Nida-Rümelin (1999).
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III. Diskursethik als kognitivistisches Rahmenkonzept
aber auch nicht, sie als in derselben Hinsicht im (damit: gleichmäßigen) Interesse eines jeden (betroffenen) Diskurs-Beteiligten liegend einzusehen - wie >U< es nahelegt. Eine Handlung für richtig zu halten heißt vielmehr, eine Norm oder eine Handlung als verträglich mit den berechtigten Ansprüchen aller deijenigen Wesen anzusehen, für die es einen Unterschied macht, so oder anders behandelt zu werden (bzw. daß so oder anders gehandelt wird).1 Eine Ethikbegründung über die Rekonstruktion der wechselseitigen Handlungs- und Rechtfertigungserwartungen, wie sie die DE vornimmt, hat also nicht das Problem, daß sie die Achtung anderer um ihrer selbst willen unmöglich macht oder unter einer bestimmten Hinsicht zurichten muß. Da qua guter Gründe in ihr alle .anderen' Moralen zum Zuge kommen können, und auch Gründe, die unabhängig von einer Moral(philosophie) überzeugend sind, ist sie vollständig inklusiv. Da diese Gründe sich auch ,gegen sie selbst' richten können, insoweit nämlich, als die DE auch nur ein Versuch ist, den Weg zu skizzieren, zu Handlungsbeurteilungen zu kommen, ist sie auch selbstreflexiv.
3.3 Die Intersubjektivität von Gründen Zu klären, wie Gründe funktionieren, also eine adäquate Argumentationstheorie zu entwickeln, ist sicher genauso ein diskurstheoretisches wie ein allgemeinphilosophisches Desiderat. Nach den obigen Bemerkungen kann man Gründe nicht auf Motive, Wünsche oder (gar noch: selbstbezogene) Interessen zurückführen, ohne deren mögliche Gehalte zu verzerren. Eine umfassendere Definition bietet Julian Nida-Rümelin an: Ein praktischer Grund ist all das, was eine propositionale Einstellung der Form: ,Ji ist richtig" begründet (Nida-Rümelin 1999), d. h. was für oder gegen die Richtigkeit einer Handlung h spricht. Thomas Scanion schlägt in einer noch allgemeineren Weise vor, den Begriff,Grund' als Undefinierten BasisbegrifF einer kognitivistischen Ethik zu nehmen: „I will take the idea of a reason as primitive. Any attempt to explain what it is to be a reason for something seems to me to lead back to the same idea: a consideration that counts in favor of it. .Counts in favor how?' one might ask. ,By providing a reason for it' seems to be the only answer." (Scanlon 1998:17)
Dies scheint mir auch in der DE sinnvoll. Wenn es nämlich heißt, eine Handlung sei richtig, ist dies mehrdeutig; das „richtig" ist eine Beurteilung, die erläuterungsbedürftig ist. Habermas sagt, dies wäre zu verstehen als: „gerechtfertigten Normen gemäß". Handlungen als richtig oder falsch zu beurteilen ist nur eine (recht einfache) Möglichkeit neben anderen. Schon die normative Semantik kennt drei Beurteilungsoperatoren, so daß die „Richtigkeit der Handlung" mittels einer dieser Beurteilungsoperatoren (oder einer Kombination davon) erläutert werden und dann diese Handlungsbeurteilung auf ihre Richtigkeit hin geprüft wer-
1 Nicht nur die Verträglichkeit, sondern auch die Berechtigung und ob es „einen Unterschied macht", beurteilen dabei die Diskursteilnehmer gemeinsam. „Ansprüche" betreffen die Handlungen anderer gegenüber mir selbst und gegenüber anderen (Wesen) und sind im Diskurs zu begründen durch den Verweis auf Interessen, Bedürfnisse, Weitorientierungen, Gefühle oder ähnliche Entitäten, die der Grund dafür sind, daß die Handlung „einen Unterschied macht".
3. Diskurs, Gründe und Begründungen
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den muß. Auch dadurch kommt zum Ausdruck, daß es einem praktischen Kognitivismus eigentlich um die Richtigkeit der Beurteilungen von Handlungen geht. Bei näherem Hinsehen ist es die Beurteilung von Handlungen, die richtig oder falsch ist in dem Sinne, daß wir unterstellen müssen, hierüber mit Gründen zu einer Übereinstimmung kommen zu können, wenn ein Diskurs sinnvoll sein soll.1 Eine Handlung zu rechtfertigen heißt, sie gegenüber ihren Alternativen (einschließlich ihrer Unterlassung) als vorzugswürdig zu beurteilen. Unser Urteil bemißt sich dabei an Gründen, und in den Gründen kommen die aus unserer Sicht legitimen Ansprüche der Handlungsgegenüber zum Ausdruck. Den praktischen Kognitivismus so zu fassen hat den Vorteil, daß nicht alle Handlungen, auch diejenigen, wo sich nur noch das Schlimmste verhindern läßt, die in tragischen Situationen oder in Zwangslagen ausgeführt werden müssen, unterschiedslos „richtig", d. h. „erlaubt" oder „geboten" genannt werden müssen.2 Dadurch, daß eine entsprechende DE differenzierte Handlungsbeurteilungen (und -rechtfertigungen) vorsehen kann, ist sie nicht gezwungen, entweder ein .richtiges Leben im Falschen' suggerieren oder (wie Habermas) Nonnen angesichts eines idealen Zustands allgemeiner Moralität rechtfertigen zu müssen. Eine Dl-Ethik läßt zudem die Beschränkung auf Handlungsbeuiteihingen fallen (s.o.), was die Ausdrucksmöglichkeiten weiter erhöht. Eine wichtige Frage, die eine Theorie guter Gründe zu berücksichtigen hätte, betrifft den (noch) sinnvollen Grad von Idealisierung. Festzuhalten ist nämlich, daß die endgültige Einlösung eines Richtigkeitsanspruches (und analog: eines Wahrheitsanspruches) zwingend erfordern würde, letztlich die Möglichkeit von Irrtümern ausschließen zu können. Dies ist eine starke Forderung, die im Hier und Jetzt als nicht erfüllbar angesehen werden muß, jedoch den Geltungssinn einer emsthaft erhobenen Behauptung korrekt expliziert. Diese Explikation ist auch eine Warnung, Überzeugungen nicht der diskursiven Kritik zu entziehen (dies gilt auch für die Grundannahmen der DE selbst). Zudem skizziert sie ein Rechtfertigungsideal, in Abweichung von dem wir eine prima facie mehr oder weniger starke Vermutung auf Fehlerhaftigkeit der Rechtfertigung hegen dürfen und auf das sich diejenigen, die eine Behauptung kritisieren wollen, im Zuge ihres Kritikversuches berufen können. Möglichkeiten anderer, von mir erhobene Geltungsansprüche zu kritisieren, ergeben sich auf dreierlei Ebenen: Erstens können meine Behauptungen oder die Gründe, die ich dafür anführe, ihnen unverständlich sein, im Extremfall vielleicht sogar nicht einmal als Behauptungen oder Gründe identifizierbar erscheinen. 1 Wir können diese Beurteilungen wiederum beurteilen, und nun auch differenzierter (als mehr oder weniger gelungen, voreingenommen oder einseitig, ζ. B.). Dies scheint den Richtigkeitsanspruch weg von einem praktischen Kognitivismus zu verschieben, doch betreffen solche Meta-Beurteilungen immer auch die Richtigkeit des ursprünglichen Urteils. 2 In einer Normenethik wird gewöhnlich für selbstverständlich gehalten, daß das Sollen ein Können voraussetzt („ought implies can"). Aber gibt es nicht Situationen, wo man genau weiß, was die richtige Handlung wäre, obwohl einem die nötigen Handlungsmöglichkeiten fehlen und man „hilflos" zusehen muß? Gerade wenn ein Sollen auf moralische Verletzlichkeiten bezogen ist, wird dieses Sollen nicht neutralisiert schon dadurch, daß (gegenwärtig?) keine geeigneten Mittel bereitstehen - zumindest sollte der Unterschied dazu, daß diesem Sollen Genüge getan werden kann, im Rahmen einer Moraltheorie sich ausdrücken lassen. (Hieraufhat mich Nadia Mazouz aufmerksam gemacht.)
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III. Diskursethik als kognitivistisches Rahmenkonzept
Zweitens bieten sich gegenüber der (verständlichen) Begründung einer Behauptung die Möglichkeiten immanenter Kritik, mindestens in dreierlei Hinsicht: Kohärenz und Konsistenz von Aussagensystemen lassen sich evtl. logisch beweisen, aber schon die Idee des Beweises der Fehlerfreiheit dieses Beweises fuhrt in einen Zirkel; die fraglichen Überzeugungen sind nie vollständig in Aussagen übersetzbar, d. h. es kann immer ein Hinweis gegeben werden, der jemanden die Ausformulierung seiner Prämissen überdenken läßt; auch die Schlüsse selbst sind ebenso fragil wie die Formulierung der Prämissen und in den seltensten Fällen auf die Form logischer Deduktionen zu bringen. Drittens aber können auch die Prämissen bzw. das Aussagensystem oder die Begründung insgesamt nicht der intersubjektiven Kritik entzogen bleiben. Die Forderung nach allgemeiner Zustimmungsfähigkeit in Dl bedeutet nämlich eine Absage an wirklich partikulare Geltungsansprüche. Schon Normen enthalten (implizit, durch die verwendeten Begriffe, oder auch explizit) Konditionale der Form: „Wer in Situation xy ist..." genauso wie materiale Komponenten: „...der soll yz tun". „Ethische" Geltungsansprüche sind diejenigen Geltungsansprüche, deren materiale Komponenten relativ zu einer bestimmten Identität oder einem bestimmten Selbstverständnis als angemessen gelten (oder damit konstitutiv verknüpft sind).1 In pragmatischen Geltungsansprüchen geschieht die Beurteilung eines Mittels relativ zum Vorliegen einer bestimmten Zielsetzung. Die Geltungsansprüche selbst sind, voll expliziert, nicht von einer partikularen Bindewirkung. Das richtige Verständnis der Geltungsweisen von Gründen läßt sich allgemein auch entlang der Konzepte von Transsubjektivität und Intersubjektivität erläutern. In ersterem kann die Güte von Gründen eingesehen werden, ohne daß diese Gründe den eigenen Willen dem Anspruch nach binden müßten (ob sie dies faktisch tun, ist hier ohnehin unerheblich). In letzterem hingegen ist ein guter Grund ein solcher, der meinen Willen genauso wie den jeder und jedes anderen binden müßte (universeller Geltungsanspruch). Einen transsubjektiven Grund explizieren bedeutet, diejenige Relativierung zu benennen, die seinen Bindeanspruch beschränkt. Voll expliziert liegt auch einem transsubjektiven Grund damit ein universeller Geltungsanspruch zugrunde. Transsubjektivität setzt daher Intersubjektivität voraus. Eine ausgearbeitete Theorie dessen, was ein „Grund" oder eine „ B e g r ü n d u n g " ij e gt wie erwähnt nicht vor. Für die DE scheint es mir hilfreich, im nun folgenden Exkurs ein Modell auszubreiten, mit dem wenigstens normen- und wertegestützte Handlungsbeurteilungen und -begriindungen expliziert werden können.
1 In „ethischen" Fragen fordern wir eine besondere Art transsubjektiver Einsichtigkeit: Hier hängt es letztlich am Adressaten, ob er sich so (oder anders) verstehen will, was dann aber mit diesem Selbstverständnis notwendig oder bevorzugt einhergeht, haben nicht nur die Adressaten zu beurteilen. Moralische Geltungsansprüche drücken hingegen etwas aus, so könnte man sagen, was ohne ein spezifisches Selbstverständnis vorauszusetzen damit einhergeht, daß ein Adressat überhaupt ein Selbstverständnis hat Im Konfliktfall ist der Anspruch auf unveränderte Beibehaltung eines bestimmten Selbstverständnisses (einer Identität) dabei nur einer von vielen Ansprüchen, die es - im moralischen Diskurs - zueinander in Beziehung zu setzen gilt.
3. Diskurs, Gründe und Begründungen
267
3.4 Exkurs: Syllogismen als Modell gelungener Begründung Diskurse sind orientiert an der (Wiederherstellung von Konsens. Allerdings ist dieser Konsens-Begriff anspruchsvoll: er zielt nämlich auf eine Übereinstimmung nicht nur der Urteile (Ergebniskonsens), sondern auch ihrer Begründungen (vgl. Habermas 1973: 239), die im gemeinsamen Argumentationsprozeß entwickelt werden sollen. Wie aber funktionieren Begründungen? Habermas bietet hier ein allgemeines Modell an: das Toulmin-Schema (ebd.: 244; vgl. Toulmin 1996: 86ff.). Es hat die Form: Fall (data) und Regel (warrant), letztere durch eine Menge an Evidenzen (backing) gestützt,1 ermöglichen den Schluß auf ein Resultat (conclusion). Den Schluß selbst bezeichnet Habermas als Deduktion. In theoretischen Diskursen werde - so Habermas - mittels dieses Schemas eine Behauptung erklärt, nämlich durch „Ursachen (bei Ereignissen)" oder .Motive (bei Handlungen)" als Fall und „empirische Gleichförmigkeitshypothesen, Gesetzeshypothesen usw." als Regel, die durch „Beobachtungen, Befragungsergebnisse, Feststellungen usw." als Evidenzen gestützt ist. In praktischen Diskursen werde mittels dieses Schemas ein „Gebot" oder eine Bewertung" gerechtfertigt, und zwar durch „Gründe" als Fall und „Handlungs- oder Bewertungsnormen oder -prinzipien" als Regel, die durch die „Angabe von gedeuteten Bedürfnissen (Werten), Folgen, Nebenfolgen usw." als Evidenzen gestützt ist (Habermas 1973: 244ff.). Normalerweise, so möchte ich dies an einem Beispiel erläutern, geben wir zur Begründung eines Resultats (etwa eines Wasserschadens) nur den Fall an (etwa einen Rohrbruch) und setzen die Regel (ein Rohrbruch verursacht einen Wasserschaden) stillschweigend voraus. Die Stützung der Regel (etwa vergangene Rohrbrüche und Wasserschäden) und, daß die Regel nur unter bestimmten Umständen gilt (Wasserdruck, Fußbodenbeschaffenheit, evtl. vorhandene Abflüsse, automatische Ventile usw.), wird normalerweise noch weniger explizit gemacht. Habermas vertraut darauf, daß Stephen Toulmin dem selbstgesetzten Anspruch gerecht wird, ein Modell dessen zu liefern, was in alltäglichen Begründungen geschieht. Toulmin und Habermas orientieren sich am bereits von Aristoteles eingeführten Syllogismus als Modell gelungener Begründungen: Ein Obersatz, die Regel, und ein Mittelsatz, der Fall, erlauben den Schluß auf den Untersatz, das Resultat.2 „Schon die erste, die formale Logik des Aristoteles ist von der zeitgenössischen Praxis des Argumentierens ausgegangen", so unterstreicht z. B. Otfried Höffe (1979: 276) die Lebensnähe dieses Modells. Daß Habermas den Schluß selbst als „Deduktion" bezeichnet, ist insofern unglücklich, als er eigentlich einen Oberbegriff sucht fur analytische wie für substantielle Übergänge. Und an solchen substantiellen Argumenten sind wir ja interessiert - denn in analytischen Wahrheiten findet sich bekanntlich nichts, was nicht schon in den Prämissen gelegen hätte. Habermas übernimmt 1 „Gestfitzt" heißt, daß die Regel durch die Evidenzen nicht notwendig impliziert wird, sie aber auch nicht irgendeine mit den Evidenzen bloß verträgliche Hypothese ist. Sie ist eine aufgrund der Evidenzen sehr plausible Hypothese. 2 Diese Interpretation ist nicht fur alle von Aristoteles behandelten Schlußformen sinnvoll, sondern nur für jene mit verschieden generellen Obersätzen. Schlüsse aus gleichartigen Obersätzen verschieben jedoch nur das Problem (s. u.), so daß sie hier - wie auch Negationen der Prämissen - vernachlässigt werden können. Aristoteles' Unterscheidung verschiedener Modalitäten wird aus Gründen der Übersichtlichkeit im folgenden ebenfalls vernachlässigt.
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III. Diskursethik als kognitivistisches Rahmenkonzept
von Toulmin, daß bei einem substantiellen Argument gerade die Regel nicht analytisch aus den Evidenzen folgt. Beide behalten die deduktive Form des Übergangs von Fall und Regel zur Konklusion jedoch bei.
Theoretische Diskurse nomologisch
intentional (pragmatisch)
[Regel]
(Kausal-)Gesetz
Gewußte Mittel-Zweck-Beziehung
ÍFalll
Ursache
Intendierter Zweck
[Resultat]
Wirkung
Handlung
Praktische Diskurse evaluativ
normativ
[Regel]
Bewertungsregel
Handlungsnorm
[Falli
Situation
Situation
[Resultat]
Wertung
Vorschrift
Tabelle 10 Syllogistische Formen der Begründung in theoretischen und praktischen Diskursen; vgl. Habermas (1973).
Ich denke hingegen, die Substantiality alltäglicher Gründe liegt anderswo. Schon Aristoteles hat gesehen, daß häufig ein .unvollständiger' Syllogismus, ein „enthymem", als Argument genügt (Rhetorik 1 1, 1354al5). Ähnlich auch Toulmins treffende Beobachtung, daß wir normalerweise eben nur den Fall und nicht die Regel nennen. Insbesondere bei normativen Begründungen kommen wir so in die Situation, daß die Normen selbst in den seltensten Fällen explizit gemacht werden. Zur Begründung der Regel haben wir zwei Möglichkeiten: entweder (mit Toulmin und Habermas) über nichtkonklusive Evidenzen oder über allgemeinere Regeln (in theoretischen wie in praktischen Problemen kann die Regel selbst wieder zum Fall eines höherstufigen Syllogismus gemacht werden, und so fort). Beide Fälle sind jedoch nur Möglichkeiten der Explikation des Hintergrundkonsenses, auf den sich die Argumentierenden insoweit stützen müssen, wie sie substantielle Argumente gebrauchen.1
1 Dieser Hintergrundkonsens ist es auch, der ggf. den Übergang von den Evidenzen zur Regel plausibel erscheinen läßt.
3. Diskurs, Gründe und Begründungen
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Wenn wir das syllogistische Begründungsmodell zugrunde legen, entsteht ein Dissens jedenfalls durch Uneinigkeit über die Gültigkeit mindestens einer der beiden Prämissen.1 Ein bloßes, grundloses Bestreiten des Resultats kann - dies ist die Kehrseite der anspruchsvollen Konsensdefinition der Diskurstheorie - noch keinen Dissens erzeugen. 3.4.1
Syllogismen und Abduktion
Schon Aristoteles diente der Syllogismus weniger zum deduktiven Schließen als zum (schematisch angeleiteten) Aufsuchen von Prämissen: „Man liest den Syllogismus gern von oben, von den Prämissen, nach unten, zum Schlußsatz, also deduktiv. Die entsprechende Verwendung findet sich aber in Aristoteles' Œuvre so selten, daß es die eigene Logik zu mißachten scheint" (Höffe 1996: 53). Die häufigere Verwendung sei vielmehr die folgende: ,,[Z]u einem schon bekannten Sachverhalt werden die erklärungskräftigen Prämissen aufgesucht. Und in dieser Funktion, der Erklärung bzw. Begründung, wird er dem von Aristoteles tatsächlich praktizierten problemorientierten Argumentationsstil gerecht." (ebd.) Auf dem Weg zu einer Analyse dessen, was genauer in theoretischen und praktischen Fragen umstritten sein kann und wie entsprechende Begründungen aussehen können, werde ich auf die Untersuchung des „Expertendilemmas" durch Christoph Hubig (1997a) zurückgreifen. Sein Modell „abduktiver Schlüsse", vorgelegt für naturwissenschaftlich-technische Fragen, werde ich erst auf die Erklärung von Handlungen und dann auf praktische Urteile übertragen, so daß am Ende eine einigermaßen umfassende Typologie von Dissensen vorliegt. Dabei entspricht jeder Art von abduktivem Schluß eine Art von Dissens. Im folgenden sollen drei Schlußarten unterscheiden werden (vgl. Peirce 1967): Deduktion (von Regel und Fall auf ein Resultat), Induktion (von Resultaten und Fällen auf eine Regel) und Abduktion (von Regel und Resultat auf einen Fall). Nur die Deduktion kann mit dem Anspruch auf notwendige Wahrheit auftreten, Induktion und Abduktion sind Erweiterungsschlüsse. Beide Erweiterungsschlüsse haben sich bestenfalls bewährt, und sowohl unsere induktiven Schlüsse auf die Gültigkeit von Regeln (und Allaussagen), als auch unsere abduktiven Schlüsse auf die Zuordnung von Fällen zu diesen Regeln können problematisch werden, ohne daß sich dieses Risiko kalkulieren ließe. Die Induktion (und somit die Regel, ζ. B. „alle Schwäne sind weiß") ist bekanntlich unsicher, weil endliche Anzahlen von Fällen und Resultaten logisch keine Allaussagen über potentiell unendlich viele Fälle und Folgen belegen können (vgl. Popper 1969). Die Abduktion (und somit die Fallbeschreibung, ζ. B.: „dies ist ein Schwan") läßt sich scheinbar auch über vergangene Situationen rechtfertigen (ζ. B.: „in einer bestimmten, endlichen Anzahl von Situationen war es richtig, alles mit den Eigenschaften xyz als Schwan zu betrachten"), damit wird aber die Abduktion zur verdeckten Induktion („alles mit den Eigenschaften xyz ist ein Schwan") und das Abduktionsproblem nur verschoben („dies hat die Eigenschaften xyz"). Die Abduktion betrifft die Regel-Anwendung, die sich selbst nicht wieder ebenso unter Regeln bringen läßt (sonst droht ein unendlicher Regreß). Durch die Regel-Anwendung wird aber der Definitionsbe1 Auch eine Uneinigkeit über die Evidenzen (backing) stellt einen Dissens dar, allerdings muß, soll dieser Dissens relevant sein können, auch die entsprechende Regel betroffen sein. Wirklich gravierend ist ein Dissens über die Schlußregel, d. h. hier über die Tauglichkeit des Syllogismus als Modell; theoretisch besteht nämlich die Möglichkeit, daß sich die Opponenten auf inkompatible Begründungsmo