Diplomatie und Weltkrieg: Band 1 [Reprint 2018 ed.] 9783111420745, 9783111056319


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German Pages 635 [636] Year 1917

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Table of contents :
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
1. Kapitel. Glasen zur Entstehungsgeschichte des Weltkrieges
2. Kapitel. Über die Quellen im Allgemeinen und über die leitenden Grundsätze ihrer Lenutznng
3. Kapitel. Einige Besondere Lemerlmngen über das französische Gelbbuch und seine Eigentümlichkeiten, Insbesondere die Aktenstücke vor dem Beginn der Urisis, d. h. vor 23. Juli 1914. Die nervöse und mißtrauische Stellungnahme Frankreichs
4. Kapitel. Einige Bemerkungen über das österreichisch-ungarische Uottmq. – Die Zeit vor dem sog. „Ultimatum" vom 22./!3. Juli 1914 nach österreichischer Darstellung
5. Kapitel. Die haltung Serbiens und seine Unterstützung seitens der Entente-Mächte nach dem Morde von Stza\Mo bis ;zum 22. Juli 1914
I. Teil. Von der Übergabe der österreichischen Note vom 22 Juli 1914 bis zur österreichischen Kriegserklärung an Serbien vom 28. Juli 1914
6. Kapitel. Die Note Österreich-Ungarns an Serbien vom 22. Juli 1914 und ihre Anlagen. (Original F. Österreichisches Rotbuch Nr. 7 S. 15, Datiert Wien, am 22. Juli 1914.)
7. Kapitel
8. Kapitel. Die Stellungnahme der einzelnen Regierungen Zur österreichischen Note vom 22. Juli 1914
9. Kapitel. Stellungnahme der anderen Großmächte zu der österreichischen Zirknlarnote vom 22. Juli 1914
10. Kapitel. Die serbische frage Soll zu einer europäischen nach dem Wunsche der Entente-Mächte gemacht werden. (Verhandlungen vom 24. Und 25. Juu 1914. Stellungnahme der einzelnen Großmächte.)
11. Kapitel. Die Antwort der Regierung an die österreichisch-ungarische Regierung und deren Bemerkungen dazu). C„Nordd. Allg. Ztg." vom 29. Juli 1914.)
12. Kapitel. Rußland macht das Anerbieten direkter Verständigung mit Österreich und mobilisiert zu gleicher Zeit (25. Juli) Seine Armer. – Deutsche Warnungen – russisches Ehrenwort und sein Wert
13. Kapitel. Abbruch der Beziehungen zwischen Österreich-Ungarn und Serbien (25. Juli abends). Stellungnahme der übrigen Großmächte, insbesondere Englands dazu. Deutschland legt Rußland die Verantwortung für den Krieg nahe und sucht warnend zu vermitteln. Englands erste Drohung (27. Juli). Nochmals Rußlands Ehrenwort
14. Kapitel. Die Frage der Botschasterkonserenz zur Geilegung des österreichisch- serbischen Konflikts (Vorschlag Gregs vom 26. Juli) und die Stellungnahme der einzelnen Großmächte zu diesem Vorschlage Englands
15. Kapitel. Deutschlands und Österreichs haltung zu der englischen Konferenzidee
16. Kapitel. Ruklands Stellungnahme zur Konserenzidec. Rußland nähert sich zunächst dem deutschen Standpunkte, den auch Sir Edward Grey zuerst unterstützt. Sprunghaftes Wechseln der englischen galtung (27. u. 28. Juli). „Berlin ist der Drehpunkt der Lage.
17. Kapitel. Österreichs Kriegserklärung an Serbien und ihre Deutung (28. Juli 1914)
18. Kapitel. Sir Edward Grey verhandelt im Interesse der Konferezidee weiter, der er eine einschränkende Auslegung im sinne einer bloßen Aussprache gibt, erklärt alber eine direkte Verständigung für das beste. Dieses zweideutige, der haltung Rußlands entsprechende Verhalten Englands wird fortgesetzt
19. Kapitel. Frankreichs Haltung und Stimmung am 28. Juli
II. Teil. Von der österreichischen Kriegserklärung an Serbien vom 28. Juli 1914 bis zum deutschen Ultimatum an Rußland vom 31. Juli 1914
20. Kapitel. Rußlands offizielle Mobilmachung gegen österreich. – Die Verhandlungen zwischen Österreich und Rußland trotzdem fortgesetzt (s. Anch Kap. 23)
21. Kapitel. Deutschlands rastlose Vermittlungstätigkeit in Wien und Petersburg, Sowie in London und Paris
22. Kapitel. Der Depeschenwechsel zwischen dem deutschen Kaiser und Zaren. – Verschlechterung der deutsch-englischen Beziehungen
23. Kapitel. Rußland mobilisiert trotz Ehrenwortes seine ganze Armer (29. Juli Nachts). Die Beziehungen zwischen den Zentralmächten und dem Dreiverband werden feindseliger (29. Bis 31. Juli). Kriegsvorbereitungen frankreichs. Iswolfkis unselige Wirksamkeit. Rußland und frankreich über den Krieg einig. England läßt erkennen, Daß es mitgeht
24. Kapitel. Die Verhandlungen zwischen Deutschland und England nehmen eine merkwürdige Wendung durch weitgehende Konzessionen Deutschlands zur Gewinnung der englischen Neutralität im Wege der Garantien für Frankreich, Holland und Belgien. Der Reichskanzler macht das Anerbieten eines Allgemeinen Neutralitätsvertrages mit England. Grey warnt den deutschen Vertreter vor falscher Sicherheit
25. Kapitel. Rußland und Frankreich, einig in der Aufnahme des Ramipfes, setzen ihre Friedens-Scheinaktionen fort. Safoinow stellt eine Formel zur Verständigung auf, die Für Wiederaufnahme der Verhandlungen führt
26. Kapitel. Trotz des Kriegsznstandes mit Serbien und der tatsachlichen allgemeinen Mobilmachung Nutzlands beginnen neue direkte Verhandlungen mischen Österreich und Nutzland. Deutsche Bürgschaft für Österreichs Versprechungen. Der österreichische Botschafter in Petersburg setzt die Verhandlungen noch nach dem deutschen Ultimatum (31. Juli) fort.
27. Kapitel. Vorzeitige Gerüchte über deutsche Mobilmachung (30. Juli)
28. Kapitel. Zusammenfassender Überblick über die Stillungnahme der deutschen Reichsregierung nach dem Wirtlaute des deutschen „Weißbuchs" (vom 24. Juli Dir 31. Juli). Nochmals der Depeschenwechsel zwischen den deutschen Raiser Und Russischen Zaren
29. Kapitel. Die zunehmende Spannung zwischen Deuschland und England. Antwort Gregs auf des Reichslanzlers Anerbieten betr. Neutralität Englands und Inen allgemeinen Neutralitütsoertrag
30. Kapitel. „Der Letzte Dünne Faden" des Herrn Greis. Zurückweisung der Verdächtigung Deutschlands als Anstifter seitens Österreichs
III. Teil. Der Dreiverband und seine Geschichte. Zur Vorgeschichte der Entente der Dreiverbandsmächte
31. Kapitel. Deutsche Friedenspolitik, englische Ginkreisnngstaktik 1905–1914 in belgischer Beleuchtung: Berichte der belgischen Gesandten in London, Berlin und Paris
32. Kapitel. 25 Jahre Russisch-Französische Freundschaft
33. Kapitel. Die Haltung Englands in der bosnischen Krisis 1909, ein wertvoller Beweis für die englische „Einkreisungspolitik"
34. Kapitel. Die dokumentarische Grundlage des englisch-französischen Bündnisses und seine Anrufung durch Frankreich am 30. Juli 1914
35. Kapitel. Der Briefwechsel zwischen Sir Edward Grey Und Paul Cambon vom 22. U. 23. November 1912 und die Triple- Entente. Kritische Bemerkungen zu ihrer Entstehung. Die deutsch-englische Derständignngsaktion 1912
36. Kapitel. Die Konstruktion des Lündnisfaus: Eine Böse Fälschung
IV. Teil. Die Zeit der Mobilisierungen und Kriegserklärungen. 31. Juli Bis 4. August
37. Kapitel. Deutchland vermittelt trotz der allgemeinen offiziellen ruffifschen Mobilmachung in Wien weiter, während Grey in unverständlichen Erklärungen Zeit gewinnt (31. Juli)
38. Kapitel. Deutschland trifft die entsprechenden militärischen Vorbereitungen (Erklärung des Kriegsznstandes, Ultimatum an Rußland, 31. Juli). – Anfrage bei Frankreich nach seiner haltung.– Hereinhung Belgiens durch Englands
39. Kapitel. Paul Cambon (London) wirbt allzu stürmisch um Englands Hilfe. – Grey muz bis zur Entscheidung des Kabinetts vorfichtig ermunternd lavieren (31. Juli)
40. Kapitel „Durch die Mobilisation Rußlands ist das ganze Spiel verdorben"
41. Kapitel. Die englüscher und russischen Friedensformeln und ihre Ledentung, intbesondere Rußlands Ablehinung der ersteren
42. Kapitel. Die letzten Verhandlungen Deutschlands mit Rußland: Ultimatum. – Die Kriegserklärung an diese (1. August)
43. Kapitel. Rukland sucht sich vergeblich von der Schuld an dem Abbruch der Verhandlungen Loszusprechen
44. Kapitel. Die russische Schuld am Kriege nach der Anschauung des deutschen Botschafters Graf Pourtalés: Zusammenfassende Darlegung, der letzten Verhandlungen zwischen Deutschland und Rußland
45. Kapitel. Frankreichs etzies Spiel vor der Kriegserklärung. – Sern Versuch, Deutschland als Schuldigen hinzustellen. – Litschafter v. Schoens Antwort
46. Kapitel. Zu dem Gerichte des englischen Botschaster: v. Bünsen über die Krisis (v. 1 Sept. 1914)
47. Kapitel. Nochmals idi russische allgemeine Mobilmachung als der letzte und nichtigste Anstoss zum Weltkriege. Greys Haltung ihr Gegenüber. Kritische Bemerkungen des Verfassers darüber
48. Kapitel. Die Antwort der Deutschen Negierung auf die Nchauptungen des Französischen Ministers des Auswärtigen Viviani, daß Deutschland durch den Abbruch der Verhandlungen den Krieg Herbeigeführt habe
49. Kapitel. Russische Stimmen über russische Kriegziele: Beweise für die russische Rriegsabsicht
50. Kapitel. Fortsetzung von Frankreichs unklarem Spiel. – Greg tritt Als Bundesgenosse Frankreichs ohne Kabinettsbeschlntz auf
51. Kapitel. Das englische Kabinett tritt offen als Beschützer frankreichs auf und bedroht Deutschland mit dem Eingreifen der englischen Flotte (2. August): Dies der letzte deutsch-Englische Kriegsgrund
52. Kapitel. Der politische Meinungsaustausch zwischen Deutschland und England, geführt vom Kaiser, dem Könige von England und Prinzen Heinrich von Preußen über die Neutralität Emglands und Frankreichs vom 30. Inli Bis 1 August 1914
53. Kapitel. Ein Depeschenverkehr Zunschen dem zaren und dem Kinige von England Am I. August 1914. (Nordd. Allg. 3. V. 14. 8. 14.)
54. Kapitel. Die Anschauung des Deutschen Kaisers und der deutschen Negierung über den Krieg und die Situation am 4. August 1914. – Englands wahre Gründe zum Kriege
55. Kapitel. Ein wichtiges neutrales Urteil über Englands Schuld am Weltkriege und sein falsches Spiel
56. Kapitel. Die Deutsche Kriegserklärung an Frankreich cm 3.Angust
V. Teil. Die belgische Neutralitätsfrage. - Krieg mit England
57. Kapitel. England und Belgiens „Neutralität" in Vergangenheit und Gegenwart
58. Kapitel. Die Angriffe gegen den Deutschen Reichskanzler wegen Nachgiebigkeit und Friedfertigkeit gegenüber England aus deutschen Lagern: eine Widerlegung feindlicher Verleumdungen gegen angebliche deutsche Kriegspilitik. – Deutschland im August 1914 nicht für den Krieg vorbereitet
59. Kapitel. I. Belgische Vorverhandlungen vor dem 3L Juli M4
60. Kapitel. II Die Verhandlungen über die belgische Neutralität vom 31. Juli an. – Vor allem die Stellungnahme Frankreichs und Deutschlands. – Sir Edward Gregs Intrigenspiel
61. Kapitel. Deutschlands definitive Erklärung an Belgien und dessen Antwort. – König Albert Ersucht um Englands Intervention, die ihm gewährt wird
62. Kapitel. Sir Edward Greiz und Mr. Asqunith über die Haltung Englands in der belgischen und französischen frage vom 3. Bis 5. August 1914 und englische Kritiken dazu, insbesondere über die persönliche Schuld Gregs und des Ministeriums Asqnith
63. Kapitel. Botschaft des Präsidenten der Französischen Republik. Rede des Min.-Präs. Viviani am 4. Augusi 1914
64. Kapitel. Die letzten Verhandlungen zwischen Deutschland und England (4. August 1914). – „For a Scrap of Paper.“ – Englische Legendenbildung?
65. Kapitel. Belgien ruft den Dreiverband an
66. Kapitel. Reichtags-Reden des Kaisers und des Reichskanzlers über den Ansbruch des Krieges, insbesondere über den Einmarsch in Belgien, Vom 4. August 1914
67. Kapitel. Deutsche und belgische Aktenstücke über die Wahrung der belgischen Neutralität nach dem Beginn der Feindseligkeiten
68. Kapitel. Der Verrat Englands gegenüber Belgien: Die Geheimnisvolle „Rote Flugschrift"
69. Kapitel. Kriegserklärung Englands an Österreich, Österreichs an Belgien, die Kriegserklärungen Montenegros und Serbiens
70. Kapitel. Belgiens feierliche Garantie durch die Ententemichte
VI. Teil. Die haltung der anderen Staaten
71. Kapitel. Zur Neutralität Hollands, Schwedens, Norwegens, Dänemarks, Luxemburgs und der Schweiz, Sowie Neutralitätserklärung der Übrigen Neutralen Staaten
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Diplomatie und Weltkrieg: Band 1 [Reprint 2018 ed.]
 9783111420745, 9783111056319

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Diplomatie und Weltkrieg Lin Führer durch die Entstehung und Nusbreitung der Weltkrisis auf Grund der amtlichen Materialien

Dr. Ernst Miiller-Meiningen Mitglied des Deutschen Reichstags und der bayer. Abgeordnetenkammer

Band I

Berlin 1917 Druck und Verlag von Georg Aeinier

Alle Rechte, insbesondere daS der Über­ setzung in fremde Sprachen, vorbehalten.

Vorwort ursprüngliche, bereits Ende 1914 entworfene Plan zu diesem Werke hatte nur eine kritische Bearbeitung des veröffentlichten diplomatischen Aktenmaterials beabsichtigt. Mit der Ausdeh­ nung des gigantischen Krieges und angesichts der ungeheuren Menge des veröffemlichten, vor allem die letzte Vorgeschichte des Krieges be­ handelnden Stoffes wuchs der Umriß und Umfang des Werkes ent­ sprechend. Es wurde allmählich zum ersten Versuche einer politi­ schen, kritischen Darstellung der Entstehung und Ausdehnung der Krisis selbst auf Grund jenes diplomatischen Rüstzeuges. Die Art der Darstellung der kritischen Tage vom 22. Juli bis 4. August 1914 auf Grund des englischen Blaubuches machte es rat­ sam, ja notwendig, die Vorgeschichte der Entente in den letzten zehn Jahren vor Ausbruch des Krieges nicht an den Anfang des Buches, etwa als Einführung zu stellen, sondern an den Punkt der Ver­ handlungen, in dem der Pakt selbst eingelöst werden sollte und wurde. Besondere Berücksichtigung fand natürlich auch die belgische Frage. Das Eingreifen neuer Staaten in den Krieg (Italien, Portugal, Rumänien), die fortgesetzte Erörterung der Schuldfrage, staatsrechtlich und völkerrechtlich wichtige Akte wie die Lösung der polnischen Frage «sw., endlich die Friedensangebote und ihre Aufnahme dehnten den ursprünglichen Plan und Umfang des Werkes immer mehr auS. Die technischen Schwierigkeiten (auch seitens der Zensur) bei Her­ stellung des Buches während des Krieges machen manche Uneben­ heit und kritische Einschränkung erklärlich und entschuldbar. Das Tatsachenmaterial ist bis zum Frühjahr 1917 verarbeitet. Das Friedensangebot der Mittelmächte, die Bemühungen der neu­ tralen Mächte, endlich die Erklärung des uneingeschränkten U-Bootkrieges am 1. Februar 1917 mit ihren Folgen (Abbruch der Be­ ziehungen seitens der Regierung der Vereinigten Staaten) stellten von selbst eine äußere Zäsur für den Abschluß des zweiten Bandes des Werkes her. Der dritte Band wird, wie ich hoffe, die FriedensVerträge umfassen. vA

j

IV

Die Scheidung zwischen objektiven „Bemerkungen" und sub­ jektiven „Anmerkungen", wie sie dem Verfasser ursprünglich vor­ schwebte, ließ sich nicht streng durchführen. Doch hat der Verfasser seine persönliche Meinung als solche scharf genug gekennzeichnet. Wenn das Werk trotz aller Objektivität zu einer scharfen Verurteilung der Politik einzelner Staatsmänner und zur Vertretung des deutschen Standpunttes in der Beurteilung der sogenannten Schuldfrage kommt, vor deren Überschätzung gegenüber der großen elemeMaren historischen, wirtschaftlichen und ethnologischen Entwicklung der Ver­ fasser übrigens immer wieder warnt, so liegt dies in der Gewalt der nachgewiesenen Tatsachen, nicht in einer einseitigen Benutzung des vorhandenen diplomatischen Materials, das möglichst unparteiisch zur Bearbeitung gelangte. Die Fragen der Diplomatie der Zukunft wie der Kriegsztele waren für den Politiker umso verlockender, als die kritische Besprechung der Ende 1916 einsetzenden Friedensbemühungen von selbst zu deren — natürlich rein subjektiver — Behandlung im Schlußkapttel des zweiten Bandes hinüberleitete. Die Gegenwart der Ziele baut sich natur­ gemäß wesentlich auf der jüngsten Vergangenheit, die der Hauptinhalt dieses Buches sein soll, auf. Bald werden auch diese Ziele der Ver­ gangenheit angehören! Der Verfasser fühlt selbst, daß er dem Berge der Ereignisse noch zu nahe steht, um die ganze gewaltige Ausdehnung der Eruption zu übersehen. Abgeklärte, überlegene Geschichtsschreibung gegenüber solchen Umwälzungen, wie sie die Weltgeschichte nimmermehr sah, wird erst nach einem langen Zeitraum, von einer weiten Distanz aus, möglich sein. Und doch reizt es — auch noch im Banne der Leiden­ schaften —, das ungeheure Material der einstigen Geschichtschreibung in seinen rohen Umrissen vorzubereiten. Möge der bescheidene Versuch des Verfassers dieser Vorarbeit förderlich sein und zugleich der so dringend notwendigen Aufttärung, vor allem in de» neutralen Ländern dienen! Der Verfasser.

Inhaltsverzeichnis 1. topüd. Glossen jut Entstehungsgeschichte des Weltkrieges................. 2. Kapkel. Über die Quellen im allgemeinen und über die leitenden Grund­ sätze ihrer Benutzung..................................................... 3. Kapi-el. Einige besondere Bemerkungen über das franjöflsche Gelbbuch und seine Eigentümlichkeiten, insbesondere die Aktenstücke vor dem Beginn der Krisis, d. h. vor 23. Juli 1914. Die nervöse und mißtrauische Stellungnahme Frankreichs........................... 4. Kapitel. Einige Bemerkungen über das österreichisch-ungarische Rotbuch. — Die Zeit vor dem sog. „Ultimatum" vom 22.723. Juli 1914 nach österreichischer Darstellung....................................... Don der Ermordung deS ThroofolgerpaareS (28. Juni) bis zum 23. Juli 1914.............................................................. 5. Kapitel. Oie Haltung Serbiens und seine Unterstützung seitens der En, teatemächt« nach dem Morde von Serajewo bis zum 22. Juli 1914 (insbesondere auf Grund deS serbischen Dlaubochs)......

I. Teil. 6. Kapi-el.

Seite

i

46

;6 67 70 72

Von der Übergabe der österreichischen Note vom 22. Juli 1914 bis ;ur österreichischen Kriegserklärung an Serbien vom 28. Juli 1914........................... 84 Die Note Österreich,Ungarns an Serbien vom 22. Juli 1914 und ihre Anlagen............................................................... 84 I. Stimmung in London und Paris vor der Veröffentlichung der Note........................................................................... 84

7. Kapitel. II. Die Note Österreich-Ungarns an Serbien vom 22. Juli 1914.. III. Begleitende Noten Österreichs über die serbische Gefahr........ 8. Kapitel. Die Stellungnahme der einzelnen Regierungen zur österreichi, schen Note vom 22. Juli 1914......................................... A. Stellungnahme der Deutschen Reichsregierung zur österreichi, schen Note, ausgesprochen in der Instruktion an die diplomati­ schen Vertreter vom 23. Juli 1914.................................. B. Der Reichskanzler an die Bundesregierungen.................... 9. Kapitel. Stellungnahme der anderen Großmächte zu der österreichischen Iirkularnote vom 22. Juli 1914...................................... 1. Erklärung des Zweckes und Zieles dieser Note durch QsterretchUngarn....................

88 97 99 99 101 103 103

VI Stille

2. Englands Stellung nach dem englische» Weißbuche............. io s 3. Rußland- Stellungnahme tut österreichischen Note t»m rr.Juli 1914 und feine offitielle Mobilisierung am 24-/25. ‘u(i........ 11 2 10. Kapitel. Die serbische Frage soll tu einer europäischen nach den Wunsche der Ententemächte gemacht«erben ................................ 119 II. Rußland will Zeit gewinnen und erklärt, baß Hsteeeichs Vor­ gehe» gegen Rußland gerichtet sei. Es sucht Englaibs Hilfe j» gewinne«, bas solche in vorsichtiger Form in Aissicht stellt. Österreich lehnt Fristverlängerungab.................................. 120 III. Frankreichs Haltung im ersten Stadium der Krisis ,m 24. und 25. Juli 1914............................................................... 127 A. In Paris ist man juersi bei Verwerfung des Serapwoer Mor­ des geneigt, die Affäre twischen Ssterrelch und Seibien lokali­ sieren tu lassen............................................................ 131 B. Die französische Stimmung wird unter Einwirkung ter russischen Einflüsse rasch schlechter und feindselig.................. .......... 132 IV. Österreichs Haltung nach Überreichung der Note vcm 22. Juli am 24. und 25. Juli (österr. Rotbuch Nr. 11—18). Erklärung deS Zweckes der Note vom 22. Juli 1914............ ............. 136 V. Die Haltung Deutschlands am 24. und 25. Juli................. 138 11. Kapitel. Die Antwort der serbischen Regierung an die österreichisch-un­ garische Regierung und deren Bemerkungen da»« ................ 140 12. Kapitel. Rußland macht da- Anerbieten direkter Verständigung mit Österreich und mobilisiert t« gleicher Zeit (25. Juli) sein« Armee. — Deutsche Warnungen — russisches Ehrenwort und sei" Wert 152 13. Kapitel. Abbruch der Bestehungen twischen Ssterreich-Ungarn und Ser­ bien Wegfall dieses Hindernisses wieder in Kraft treten sollte. Natürlich hat der engsche Handelskrieg gegen Deutschland die Ausführung verhindert, so baß die Eupensationsklausel in Kraft trat. Die englische Gesellschaft wollte nun aber den Krtz benutzen, um sich ihrer Lieferungspflicht für immer zu entziehen und die freie Dfügung über ihre Produkte zugunsten der nichtdeutsche» Konkurrenten der Käuferi zurückzuerlaugen. Eie hat deshalb vor englischen Gerichten beautragt, de» Dctrag, entgegen den darin enthaltenen ausdrücklichen und unzweideutigen Besttmlungen, wegen des Krieges als aufgelöst zu erkläre». Lr Appellhof beim Supreme Court of Judicature hat dem Verlangen durch tteil vom 21. Dezember 1915 stattgegeben und dies mit folgenden denk­ würdigt Worten begründet: „Wenn die Klägerin, wie es der Vertrag bezweckt, alle vo ihr aufbereiteten Konzentrate für die Beklagten zurückstellte, so würde diese Itoet Lage sein, bet Friedensschluß ihren Handel so schnell und in so großem» Umfan wie möglich wieder aufzunehmen; damit würben aber die Wirkungen des 1*

4 Gestützt wurde diese Anmaßung noch durch religiöse Anschauung gen. Der Puritanismus unter Cromwell, dem Gründer der englischen Seemacht, schuf die günstigste seelische Eignung für den übelsten, egoistischen Kapitalistengeist. Die Theologen stellten den Grundsatz auf: „Im diesseitigen Leben hat sich der Mensch jü bewähren: je reicher er wird, desto mehr wird für die Welt sichtbar, daß er ein Auserwählter ist. Die Engländer sind ausersehen, jur Verherrlichung Gottes die Welt ju beherrschen, sie sind das auserwählte Volk Gottes. Was England tut, ist von vornherein gut." Dieser Gedankengang durchdrang das ganje Volk. Er lebt heute noch in ihm, und er jeigt sich oft störend in seinem alltäglichen, vor allem aber in seinem poli­ tischen Auftreten. Dazu kam als jweiter Grundstein des englischen Denkens der sogenannte Cant, die schlaue Affektation sittlicher Über­ legenheit, die sich in Rechts- und Völkerfteiheitsphrasen da gefiel, wo sie die Freiheit mit Füßen trat (Irland, Indien, Ägypten, Persien, Südaftika, Hinterindien usw.). In der englischen Politik gibt es keine Logik, keine Moral, keinen an­ dern Grundsatz als den Vorteil für das eigene Land, das Reich. Wer der englischen Macht in ihrem Sweben auf Weltherrschaft entgegen­ tritt, ist ihr Todfeind. Jahrhundertelange Bündnisse hindern daran nichts i). Heute Feind, morgen Freund, und umgekehrt, wenn's nützlich Krieges auf die kommerzielle Blüte des feindlichen Landes abgeschwächt, deren Zer­ störung das Ziel unseres Landes wahrend des Krieges ist. Einen solchen Vertrag anzuerkennen und ihm Wirksamkeit zu geben durch die Annahme, daß er für die DertragStelle rechtsverbindlich geblieben sei, hieße das Ziel dieses Landes, die Läh­ mung des feindlichen Handels, vereiteln. Es hieße durch britische Gerichte das Werk wieder ungeschehen machen, daS für die Nation von ihren See- und Landstreltkräften vollbracht worben ist." Die Richter, die dieses „Recht" gefunden haben, sind Lord Justier Swtnfe» Eady, Lord Justier Phillimore und Lord Justier Pickford. *) Die „Nord. Mg. Zlg." vom 17. Dezember 1915 schreibt über den völligen Wandel der englischen Politik in diesem Kriege: „Erst der Zeit nach dem Kriege bleibt eS vorbehalten, die eigentlichen Ur­ sache» der Wkehr Englands von allen guten Traditionen seiner Politik zu er­ forschen, wie wir sie in diesem großen Weltkooflikt erleben. Die Furcht vor dem raschen Anwachsen der deutschen Macht zur See spielt dabei gewiß ein« große Rolle.... ... Das normal organisierte Fassungsvermögen vermag eS nicht zu ver­ stehe», wieso die Angst vor Deutschlands Fortschritt derart alle Geister verwirren konnte, um beispielsweise völlig alle jene Gefahre» vergessen zu mache», die England nach wie vor von Rußland, seinem historischen Widerpart, in dem unermeßlichen Gewirr der asiatischen Machtprobleme drohe». Wie ist es m»glich, baß die sekuläre» Lehrsätze der größten Staatsmänner so sehr mißachtet und vergessen «erben, baß

5 alle Mahtmittel des britische» Reiches aufgeboten «erden, um dem Erbfeind zweier Jahrhunderte die Wege |u den von ihm erstrebten Zielen $u ebnen? ES wird sich vielleicht zeigen, daß diejenigen das Richtige getroffen haben, die meinen, daß die tiefere.Ursache des gruodstürzenben Wechsels aller Gesichtspunkte der britischen Staatskunst «eit mehr in de» Verschiebungen zu suchen sei, die im Laufe des letzter Jahrhunderts in England an Stelle des aristokratischen ein gemischtes radikal-dmokratisches Regime gesetzt habe». Eire recht anschauliche Illustration des katastrophalen UmfalleS, den dt« Staatspüttik Großbritanniens erlitten hat, bildet das nachfolgende Schreibe» Lord PrlmerstonS, eines Staatsmannes also, der zeitlebens seiner Deutschenunfreundichkeit «egen bekannt «ar und dieserhalb zu Lebzeiten des Prtnzregeate» manche bttere Fehde am viktorianischen Hofe auSgefochtea hatte. Das an Russell adressiert Schreiben stammt aus der Zeit des Bismarckschen Zwischenspiels nach dem däoschen Kriege und trägt bas Datum deS 13. September 1865. ES lautet: „Met» liber Russell! ES war unehrlich und unbillig, Dänemark Schleswigs und Holsteins zu berauben. Eine andere Frage ist, wie mit diesen beiden Herzogtümern, nachdem ?« von Dänemark losgelöst stad, am besten zum Nutzen Europas zu »er# fahre» ist Mir scheint es von diesem Gesichtspunkt auS, es sei besser, baß sie zum WachStu» der Macht Preußens beitragen, als daß aus ihnen ein neuer Kleinstaat gebildet ind zu der Gruppe von unbedeutenden politischen Körpern beigefügt «erd«, wiche Deutschland behindern und seine Macht unter das Maß herabdrücken, welches im in der Machtverteilung der Welt zukommt. Preußen, wie es gegen­ wärtig: ist ist zu schwach, um in seinem Handeln ganz ehrlich und unabhängig zu sei», «ntim Hinblick auf die Zukunft ist es wünschenswert, daß Deut schland als Ganzes stark «erd«, baß eS imstande sei, jene beide» ehrgeizige, und streitsüchtigen Mächte, Frankreich.»»!» Rußland, welche im Westen und V>stei auf dasselbe drücken, im Zaume zu halten. Was Frankreich anbelangt, so wissen vir wohl, wie unruhig und streitsüchtig es ist, «nd wie bereit, für Belgien, für dem Ihein, für irgendwas, was «S ohne Anstrengung für sich erwerben möchte, loszubrechn. Was Rußland betrifft, so wird es mit der Zeit zu einer Macht nahezu von der öröße des alten römischen Reiches heranwachsen. Es kann sich zum Herrn doi ganz Asten machen, mit Ausnahme Drttisch-Jndiens, sobald es ihm anstehe, ds zu nehmen; und wenn erst aufgeklärte Maßnahmen seine Einkünfte seinem Lüdergebiet angepaßt haben «erden und wenn Eisenbahnen die Entfernungem «kürzen, dann muß es über gewaltige Menschenmacht und rtesenmäßtg« Geldmättc verfügen, und seine Fähigkeit, Heere über große Entfernungen zu beförderm, ruß im höchsten Grade bedrohlich werden. Deutschland muß stark sei», idanit es russischen Angriffen widerstehen kann; und wenn Oeutschilab stark sein soll, so ist es unentbehrlich, baß Preußen stark sei. Daher gestehe ich obwohl ich das ganze Vorgehen Hsterreichs und Preußens in betreff der Herzogttümr herzlichst mißbillige, daß ich die letzteren weit lieber Preußen einver­ leibe alis »einem neuen Sternleia in dem europäischen Staaiensystem gestaltet sehe» unöite. Freuadschaftlichst Ihr Palmerston." Muvfragen wir — ist die heute von England befolgte Politik nicht geradezu «in PaeSqill auf die in vorstehender Epistel zusammengefaßten Grundsätze altenglisch«« ZtaatSkunst? t"

6 ist, — war und ist Englands Devise. Ob Arier oder Semite, ob Christ oder Muselmann, obWeißer, Gelber oder Schwarzer, alles ist ihm gleich. Seines Landes Vorteils wegen verrät der Engländer Kultur und Rassenbewußtsein, Christentum und Humanität. Sein Natvrsinn, sein Instinkt, seine Heimatliebe gehen auf Macht und Herrschaft um jeden Preis. Es gibt kein Volk Europas, ja der ganzen Erde, das es in diesem Herrschaftsdrange noch nicht verraten hätte *)♦ Der ganze riesige Gebietszuwachs vom Ende des 17. Jahrhunderts bis in unsere Tage, fast sämtliche Kriege Englands in dieser Epoche sind der Beweis für diese Behauptung. Seine diabolische Staatsmaxime war dabei, durch die Uneinigkeit des europäischen Kontinentes die See­ herrschaft und damit die Weltherrschaft zu gewinnen. Vier Fünftel des gesamten Erdballes hat England sich so untertan gemacht; „der Polyp mit dem Zwergenleibe, aber den riesenhaften Fangarmen, welche die Erde umschlingen" (seine unterseeischen Kabel sind wichtiger als alle seine Seefestungen!) ist England der Alpdruck der Menschheit, die Materialisierung des Unrechts geworden. Die Quelle seiner Riesenmacht war stets die Un­ einigkeit des europäischen Festlandes. Europäische kon­ tinentale Kriege waren seine Blüte- und seine Hochzeiten! (S. über das Anwachsen der englischen Ausfuhr nach dem napoleonischen Kriege bet Peez a. a. O. S. 57.) Dabei immer die gleiche Praxis! Zuerst bringt es durch seine Politik die Festlandsvölker in Desorganisation, Krieg und Zwietracht. Muß es wtrlltch einmal eigenes Blut wagen, so „landet" es seine Mannschaften zum letzten Stoß und hat den Vorteil *) Ein Bewunderer Englands, der Amerikaner Emerson, sagt darüber: „Die auswärtige Politik Englands ist, obgleich ehrgeizig und verschwenderisch mit Geld, selten edelmütig ober gerecht gewesen. Ihre Hauptrückflcht war stets das Handels, intereffe. Sie billigte die Teilung Polens, verriet Genua, Sizilien, Parma, Griechen, land, Türkei, Rom und Ungarn" (wohl auch Dänemark, Mexiko, Armenien usw. Der Verfasser). „Treue im Privatleben, Treulosigkeit im öffentlichen Lebe» kenn, zeichnet diese heimatltebenben Menschen". Lord Derbys Urteil aus dem Jahre 1857 ist wohl noch vernichtender. Die „Times" sagte am 26. Januar 1850: „Es ist unmöglich, einen Ort zu finde« vom Tajo bis zu den Dardanellen, von Sizilien bis zum Nordkap, «0 wir etwas getan hätten, um Vertrauen oder Dankbarkeit zu verdienen", und an anderer Stelle: „Es gibt keine gesetzmäßig« Regierung in Europa, mit der wir nicht Streit angefangen, keine Volkserhebung, die wir nicht verraten hätten" (Italien und Ungarn). Und trotzdem diese von Furcht und raffinierter Täuschung getragene Knechtseligkeit aller kleinen und mittlere» Staaten, ja sogar der oft getäuschten Großstaaten!

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aus dem Blutvergießen der andern. „We plough the deep and reap where others sow.“ So war es in den napoleonischen Kriegen, so handelte es gegenüber Frankreich, Dentschland, Österreich, Holland, Italien, Türkei, Spanien nnd Rußland. Die BalkanvSlker nicht ju vergessen! Und England findet stets dienstbereite Bundesgenossen, die ihm die Kriege führen und den Rücken decken1). Die Herrschaft in Ostindien und in Amerika konnte England im 18. Jahrhundert nur erringen, da Preußen Frankreich entsprechend in Europa beschäftigte und schlug. Wie England Frankreich durch Deutschland bezwang, so stürzte es in unsern Tagen Rußland durch Japan. Peez sagt mit Recht: „Der Kern der politischen Überzeugung des Engländers ist eine Art animali­ schen Egoismus, der aus jedem Dinge herauswittert, ob es für Groß­ britannien vorteilhaft ist oder nicht." Dabei folgt die Masse, die Volks­ menge, den politischen Führern blindlings wie kaum irgendwo in der Welt. *) Nicht weniger skrupellos als gegenüber Holland und den andern früheren Gegnern war Englands Haltung j. 93. gegenüber Irland. Der amerikanische Ire James Guire nennt ln seinem Buche „Der König, der Kaiser? Die irische Freiheit" England „den alleinigen Feind Irlands" und begründet bas unter anderem so: Oer wirtschaftliche und industrielle Druck macht England zum natürlichen und logischen Zerstörer der irischen Industrie und des irischen Handels. Aus reinem Selbsterhaltungstrieb erlaubt England nicht, daß Irland fich frei entwickeln könne. Nur als Lieferant für Feld, und Gartenfrüchte, für Vieh und Rohstoffe, die der englischen Bevölkerung jugute kommen, «erde es geschätzt. Und doch berge diese herrliche, grüne Insel alles in stch, um ste zur ungeheuren Fruchtbarkeit und zur Entfaltung einer mächtigen Industrie emporjuheben. England mißt 58000 englische Quadralmeilen, Irland 33 000, die Bevölkerung Englands aber umfaßt 35000000, während Irland auf 4000000 herabgesunken ist. Mit Leichtigkeit könnte die grüne Insel 15 Millionen ernähren. Aber alle ihre Industrien sind brach gelegt worden, ihr Handel zerstört. Als die irische Wollfabrikation die englischen Fabriken beunruhigte, setzten sie es durch, daß bas Parlament einen Ausfuhrtoll auf irische Wolle festsetzte, der mit einem Schlage die Industrie vernichtete. Kein Stück Vieh, kein Produkt der Erde darf von Irländern direkt verkauft «erben, es muß immer erst den Weg nach England nehmen, um dort von einem Agenten losgeschlagen zu «erben. Das gant« Volk ist von England geknechtet oder flüchtet fich ins Ausland. ... England hat Irland »war die „Homerule" versprochen, aber diese selbst, wenn ste |ur Wahrheit «erben würde, müßte Irland zum Unheil werden. Irland würde dadurch für alle Zeiten ju einem rein agrarischen Staate gemacht «erbe», und man würbe damit 1400 neue politische Stellen schaffen, die die Gewalt Eng, land- über die unglückliche irische Bevölkerung nur noch stärker befestigen würben.

8 Das stolze englische Parlament ließ sich von Sir Edward Grey und seinem Dutzend Helfershelfern in unsern Tagen mehr leitgängeln und täuschen als irgendeine Volksvertretung der Welt jemals von ihrer Regierung *). Die arglose, gutgläubige, politisch sehr gering geschulte Menge (wir Kontinentalen haben den politischen Intellekt des engli­ schen Volks, wie die Ereignisse seit August 1914 klar zeigten, gewaltig überschätzt) läuft blind den „Leithammels nach, die ihrerseits ganz unter dem gewaltigen Einflüsse der Londoner City stehen. (S. unten auch die klassische Darstellung Delaisies, des Herausgebers der Guerre sociale, über den kommenden Krieg.) So ist im letzten Effekt eine kleine Clique raffinierter Demagogen, Geschäftsleute und Spekulanten die Lenkerin des größten Weltreiches geworden. Wir haben oben festgestellt, daß oberster englischer Grundsatz in der Politik ist: Wer uns erfolgreiche Konkurrenz in der Seegeltung, in Handel und Industrie macht, ist unser Feind! Immer die stärkste Macht des europäischen Kontinents ist so der instinktive, natür­ liche Feind des Landes geworden. Er wird es doppelt, wenn er den Kanal und damit Englands Südküste bedroht! Nach Spanten, Holland, Frankreich ist Deutschland als der gefährlichste und gefürchtetste derzeitige Konkurrent seit 1870/71 in steigendem Grade verdächtig*2). „Derzeitige" sage ich, denn England weiß recht wohl, daß für die Zu­ kunft die Vereinigten Staaten und Japan seine Hauptkonkurrenten im Weltmeere sein werden. Und es wird nicht säumen, alles zu unter­ nehmen, um sie aneinander verbluten zu lassen, wenn die Zeit der Reife da ist. Aber zunächst gilt sein besonderer Haß, seine Eifersucht, seine Furcht 3) der stärksten europäischen Festlandsmacht, Deutschland. *) Über die englandfreundliche Politik Deutschlands von 1900—1914 s. unten die besonderen Kapitel und die Berichte der belgischen Gesandten, gesammelt und von der Reichsregierung herausgegeben 1915. *) Früher war bas anders. Lord Palmerston sprach verächtlich aus: „Die Deutschen können den Acker pflügen, mit den Wolken segeln oder Luftschlösser bauen; aber nie haben fie den Genius gehabt, das Weltmeer tu durchmessen oder die hohe See oder auch das schmale Gewässer zu befahren." Ironie des Schicksals! Sie segeln heute mit den Wolken und setzen das übermütige britische Volk in den Lüften und den Gewässern in Angst und Schrecken. 3) Das Furchtmotiv neben dem der Eifersucht setzt heute (1915) die ganze objektive neuttale Presse und öffentliche Meinung übereinstimmend als einen der Hauptgründe englischer Politik fest. So schreibt der schwedische Abgeordnete und Profeffor Steffen:

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Oie Veschließung der Landwege nach Asien ist jetzt Eng­ lands goß es Ziel. Die Bagdadbahn in einer Zeit,"in der es von Ägypten lnd Persien ans seine Fangarme nach Mesopotamien, Ara­ bien: untVorderasten reckt, ist ihm das große deutsche Hindernis. Der Brii wirft seine gesamte Türkenpolitik in dem Momente über den Haurn und reizt die Türkei zum Kriege, wo er merkt, daß an Steve eies armen, schwachen, gedemütigten Osmanenreiches, das auf den Kücken englischer Gnade dahinsiecht, ein zielbewußter, er­ wachende: türkischer Staat getreten ist. Und so groß ist sein Haß, „Ei»! müssen wir «ns klar machen. Die Engländer haben Furcht. Der Gedanke a eine deutsche Invasion und an eine erdrückende wirtschaftliche Kon­ kurrent seims Deutschlands jagt ihnen eine Höllenangst «in. Wenn sie jetzt auf Deutschlan: in möglichst entscheidender Weise losschlagen, so geschieht das im guten Glabe» — in dem Glauben, daß ihnen nirgends in der Welt eine solche Gefahr drht, wie von der wirtschaftlichen und militärischen Machtentfaltung Deutschland. Dies ist ein Vorurteil der breiten Massen der Bevölkerung Eng­ lands oderetgentlich des ganten englischen Volkes ohne erhebliche Ausnahmen innerhalb gendeiner sozialen Klasse — und deswegen um so gefährlicher und um so schwer ausjurotten." Steffen hebt übereinstimmend mit andern Beob­ achtern der englischen Charakters hervor, baß dieses Vorurteil eine Folge der „geistigen Jsularität" und des Mangels an Verständnis, und Sympathie für alle andern Meschenarten ist. Cr behauptet, daß die Engländer mehr als irgendein anderes Dlk Europas eines tiefen Verständnisses und einer aufrichtigen Hoch­ schätzung adersartiger nationaler Eigenarten unfähig sind; er sieht darin nicht DoshastigK, sondern direkt „geistige Beschränktheit und eine gewisse geistige Der-' dorrung otr Greisenhaftigkeit". Ja fbst in England beginnt allmählich, nicht bloß in den Arbeiterkreiftrr, die richtige Erkenntnis zu tagen. So schreibt im „kabour Leader" der Sozialistenführer Newold: „England griff in den Krieg ein, weil die ausländische Kon­ kurrent auf>em Weltmarkt immer stärker geworden war. Die Kontinentalmächte, die vor den Abgrund stehen, werden von uns unterstützt und mit Versprechungen in den Krie gelockt. Nach dem Kriege werde« viele Länder unS gegenüber stark verschuldet ein oder Kapital jut Wiederauferstehung ihrer Industrien erbitten. Belgien wir uns siuchen. Am Tage, wo andere Mächte sich verständigen werden, kann keine Zotte, kein Heer den Niedergang des englische« Kaisertums verhindern, das mit der Schwert erobert und tusammengehalten wurde. Wir verteidige» Belgien, wck es die Rhein- und Schelbemündung bewacht, Portugal, weil es uns die nördlichtTür Spaniens offen hält, wir begünstigen Japan, weil Rußland Krieg führte und »eil es jetzt Amerika bewacht. Wo sind aber unsere Sorgen für Finn­ land, die klaren Balkanstaaten, Persien, Ägypten, die Buren? Wir können wohl einig« Dölkc, ja die ganze Welt eine Zeitlang täuschen, nicht aber für immer." Nichts anderes brückt die amtliche englische Presse aus. Die „Morning Post" schreik j. B.: „Es gibt viele Leute, die das Prinzip, der Neutralität und Unabhängigeit der holländischen und belgischen Niederlande nicht verstehen und

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fein Eifer, den deutschen Konkurrenten ju vernichten, daß er von den Bahnen kalter Klugheit, die die englische Politik bis heute 6e* herrschten, in nervöser Hast abweicht und unberechenbare Torheiten, selbst vom englischen Standpunkt aus, macht. Er sieht nicht, daß ihm in Ostasien, wo er Japan die Würger- und Henkerdienste an Kiautschaus Heldenschar verrichten ließ, und am Bosporus Gefahren der Zukunft auftauchen, die seine Weltmacht nicht weniger gefährden wie sein welthistorischer Hochverrat an der weißen Rasse, mit der er grin­ sende Negerhorden von jeder Achtung vor der weißen Rasse entband. glauben, daß England aus Altruismus in den Krieg gegangen ist und die Unab­ hängigkeit der kleinen Nationen als Selbstzweck tu schützen sucht. Das könnte uns den Vorwurf der Scheinheiligkeit zuziehen und den Glauben erwecken, daß unsere Verpflichtungen nach dem Maßstabe der Mildtätigkeit zu bemessen seien. Lord Burghley war einsichtsvoller, als er der Königin Elisabeth zum Kriege gegen Spanien riet, weil die Niederlande „bisher für Euerer Majestät Königreich als Kontereskarpe gedient haben". Die „Times" schreiben: „Die Hauptursachen, warum England die Neutralität Belgiens garantierte und ln den Dreiverband eintrat, waren die praktischen Erwägungen der Selbsterhaltung. Wir sagten unseren Feinden bereits, daß, wenn sie dasEingeständnts verlangen, daß die Erhaltung des Kräftegleichgewichts eine der Ursachen war, warum wir den Krieg begannen, sie es haben kö nnen." Auch die den Krieg begründende Parlamentsrebe Sir Edward Grey>s vom 3. August 1914 zeigt nur eine seltsame Vereinigung von Furcht und kaufmäninischer kühler Kalkulation, eingehüllt io große Worte über „Ehre" usw.: „Wenn «vir mit unserer mächtigen Flotte.. .an dem Kriege teilnehmen, werden wir nur wenig mehr zu leiben haben, als wenn wir uns passiv verhaktem. ... Am Ende des Krieges «erden wir, selbst wenn wir nicht teilnehme», sicherlich nicht in der materiellen Lage sein, unsere Macht entscheidend zu berufen, um uage, schehen zu machen, was im Laufe des Krieges geschehen ist, nämlich dir Ver­ einigung ganz Westeuropas unS gegenüber unter einer einzigen Macht zu verhindern. ..." Dethmaa» Hollweg spricht richtig von einer „unheimlichen Ge, schäftSnüchternheit" am Vorabende des Krieges. Neben der Furcht ihr mißgestalteter Bruder, der Neiv, die Eifersucht. Der viel gelesene englische Schriftsteller tz. G. Wells hat sich bekanniliich nach Kriegsausbruch mit fanatischem Ingrimm gegen Deutschland erklärt. Mach in einem im Mai 1914 veröffentlichten Buche schrieb er: „Wir sind von cheftiger Eifersucht gegen Deutschland erfüllt, nicht nur, weil die Deutschen durch thue Zahl und die Lage ihres größeren «nb verschiedener gearteten Landes im Herzen Europas u»S übertreffen, sondern weil in den letzten hundert Jahren, «ährend «vir uns von Plattheiten und Eitelkeit »ährten, sie die Tatkraft und Demut besaßen, eia glänzendes System nationaler Erziehung zu entwickeln, in Wissenschaft, Kumst und Literatur sich zu mühen, unserer geschäftlichen und gewerblichen Methoden: sich zu bemetstern und sie zu verbessern und auf der Leiter der Zivilisation über «ns empor, zuklimmen."

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II.

atif seinem Wege im Hasse und im materiellen Wettlaufe mit DeutMand fand es zwei gleichartige gute Gesinnungsgenossen. Der Haß uucht nicht nur blind, sondern versöhnt auch alte Feinde! Selbstverstän'lich opferte Frankreich jedes andere Gefühl seinem in den Schule», in der Armee, auf den Straßen, im Theater gepredigten, unbänägen, nur äußerlich zurückgedrängten Revanchedurst, seiner aationcken Gloiresucht. Al das, was seit 1904, seit der Schließung der Entente cordiale geschah die sogenannte Einkreisung Deutschlands, die Erweite­ rung dis Bundes durch die Einbeziehung Rußlands (1907) war der Ausflui des Gedankens von der Notwendigkeit der Vernichtung deutsyer Konkurrenz zu Wasser und zu Landes. Versuche, die derdeutsche Demschenfeind, König Eduard VII., im Sommer 1908 in Jstl machte, um auch Österreich-Ungarn von Deutschland zu trenne», mißlangen. Englands Feindschaft war von diesem Zeitpunkt auch a»f den deutschen Bundesgenossen übertragen, was sein unfreund­ liches Verhalten in der Krisis 1909 bewies. Glücklicher war es mit der UmweHung des neuen sogenannten Bundesgenossen, Italiens, der von Arfang der Weltkrists an (s. unten) mit England ging, so schlechte Erfahrmgen seine einzelnen Telle in der Vergangenheit mit englischer Tre»»e und englischen Versprechungen gemacht hatten. Die Furcht Jtaliers wegen seiner stark entwickelten Küsten mochte nur eine laue ')Anatole France hat in seinem Werk „Unter Nachbarn" geschrieben: „Bet uns gib es einige Millionen wackerer Leute, die fest und steif glauben, das Denken und Lochten des Kaisers sei nur darauf gerichtet, über Frankreich herzufallen. Sie Metten, ste entgehen ihm nur durch Klugheit und Macht, dank unserer um# stchtigen Diplomatie und der Überlegenheit unseres Heereswesens, denn jedes Volk ha schließlich immer die beste Armee der Welt. Die guten Leute irren sich: der gut, Kaiser verspürt keine Lust, über «nS herzufallen, er hat kein Interesse an einen Krieg mit Frankreich. Der Beweis hierfür ist leicht zu erbringen." Anatole France weist das nun im einzelnen sehr gut nach. Er fährt zuletzt fort: .. Ergibt einen Mann, der uns eines TageS ganz unvermerkt einen Krieg auf den Hak lade» könnte. Es ist ein kleiner, untersetzter Man» mit frischer Gesichts# färbe, fq>«nceblauen Augen und graumeliertem Bari. Ganz gutmütig sieht er a«S. Ein wo-lbeleibter Nußknacker mit vornehmen Manieren, der mit Frauen umzu­ gehen wiß. Er reist für feine Krongeschäfte. Oer Onkel! Man hält Ihn für schlau. Er bracht es gar nicht zu sein, wahrhaftig nicht! Uns Franzosen machen die Streiche die er seinem Neffen spielt, oft viel Spaß....König Eduard..." Srhe die belgischen Gesandtschaftsberichte als Beweis für die Richtigkeit dieser Qrstellung l

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Entschuldigung für die Haltung des italienischen Volkes bilden. Das «eitere Verhalten der Regierung Italiens zeigte, daß der Verrat an den Bundesgenossen von Anfang an seine Politik beherrschte, daß diese „Hyäne" der Politik nur auf die Gelegenheit lauerte, die irredentistischen Umtriebe ju unterstützen. Rur die Furcht hielt diesen „Großstaat" anfänglich »«rück, der Größenwahn ließ ihn seine Forde­ rungen immer verwegener stellen, bis der Straßenmob schließlich Par­ lament und Regierung unbeschränkt beherrschte und ihrer Politik die Wege wies. Wie es England gelang, Belgien in seine Netze ju jiehen, haben wir in diesen Tagen selbst miterlebt. Das haben uns, soweit man es noch nicht wußte, die „Brüsseler Dokumente" (s. Nordd. Allg. Ztg. vom 13. Oktober und 25. November 1914 sowie des Verfassers Werk „Der Weltkrieg und der Zusammenbruch des Völkerrechts", 1915, 3. Auflage, Kap. 2, Seite 22ff.) gezeigt und bewiesen. Die geradezu klassischen Berichte der belgischen Gesandten in London, Berlin und Paris haben uns Klarheit über die Vorgeschichte dieses Treibens ge­ liefert. Balfour und die „Times", Lloyd George und andere haben uns bestätigt, daß in erster Linie das englische Interesse es war — nicht die „Heiligkeit der Verträge", die in der ganzen Welt für Eng­ land nichts sind als Fetzen Papier, wenn sie seinen Erfolg und seine Herrschaft lähmen —, das England veranlaßte, das Friedens- und Freundschaftswerben der deutschen Regierung schnöde abzulehnen und den Krieg zu beginnen, der für England in erster Linie ein Handels-, ein merkantiler Konkurrenzkrieg ist. Selbst im englischen Unterhause — wie die charakteristische An­ frage des Liberalen Outhwaite im März 1915 bewies —, beginnt man zu erkennen, wo der große „Bluff" gegenüber dem englischen Parlament inszeniert wurde: nicht in Deutschland, sondern im Foreign office zu London1). l) Die englische Presse sieht die unwürdig« Rolle, die das englische Volk nicht bloß in den ersten Tagen des August, sondern seit 1904 spielte, allmählich ein. „National Labour Preß" (London und Manchester) enthält t- D. April 1915 unter dem Titel „Diplomatische Studien" einen Aufsatz von C.tz. Norman, worin in kräftiger und schonungsloser Weise mit Sir Grey als dem Unglücks, Bringet Englands abgerechnet wird. ES heißt dort u. a.r „Die angebliche Ur­ sache für Englands Kriegsteilnahme — die Verletzung der Neutralität Belgiens — ist ein Scheingrunb. Die wirkliche Ursache war der Wunsch Englands, die deutsche Flotte t» vernichten. ... Die demokratische Regierongsart in England ist durch den Krieg erlahmt. Viele Fragen von einschneidendster Bedeutung sind dem Par-

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Admiral Fitzgerald hatte es in der Guildhallrede vor einigen Jahren bereits ausgesprochen: „Man hat uns den Handschuh hinge­ worfen, wir müssen ihn aufheben." Und der „Standard" traf (1909) die wahre Anschauung der Jingoleute: „Zwei Wochen, vielleicht zwei Lage werden genügen, um des deutschen Kaisers Seemacht ju ver­ nichten; ist sie aber aus der Welt geschafft, so ist der Friede Europas (d. h. der unbestrittenen Weltmacht Englands. Der Verfasser) ge­ sichert." Jahr um Jahr ging das hysterische Geschrei der HarmsworthPresse gegen Deutschland, so daß juletzt ein gut englisch gesinntes amerikanisches Blatt, der „New Port American", voller Ekel schrieb: „Wo ist der Feind? Das weiß niemand. Die Führer dieses dekadenten Reiches reden und kreischen wie im Säuferwahnsinn (like dipsomanes). Sie heulen nach mehr Motten, sie schreien nach größeren Armeen und wissen nicht, wer sie angreifen will." Und das alles gegen einen Staat, von dem zu gleicher Zeit die „Nation" schrieb: „Deutschland ist das fried­ fertigste, in sich genügsamste, wenn auch gewiß nicht das sympathischste Glied der europäischen Völkerfamilte seit 1870 gewesen ... (und sie weist das im einzelnen nach und setzt dieser Politik Lord Roberts Hetze gegenüber, um zu schließen:) ... Die Moral Lord Roberts ist eine Moral für ein Rudel Wölfe, nicht für eine Gesellschaft christlicher Männer, und wurde — als ausgezeichnete Politik — der britischen Nation in Gegenwart eines Bischofs der anglikanischen Kirche emp­ fohlen." (S. Schiemann, Die letzten Etappen zum Weltkriege, S. 303, der mit Recht auf die parallele Politik Rußlands hinweist, s. unten.) lament weder tut Entscheidung noch zur Erörterung vorgelegt worben." Als solche Fragen verzeichnet der Verfasser die Intervention Japans in einem europäischen Konflikt, die Entsendung britischer Armeen nach dem Festlande, die Verwendung wilder astatischer Truppen, wie der GhurkaS, und den Golibaritätsvertrag zwischen England, Frankreich und Rußland. Der Verfasser schließt:„Grey ist schlechterdings der Alleinherrscher Großbritanniens. ... Das Parlament hat versäumt, der Re­ gierung eine Erklärung darüber abzufordern, wie weit ihre jetzige Politik getrieben «erden soll. Das Parlament hat keine Kontrolle gegenüber der von der KriegSlust angestellten Regierungsgewalt ausgeübt, welche die Maschinerie mit höchstem Dampfdruck und größter Geschwindigkeit treibt. Seitdem nun einmal der ver­ brecherische Weg eingeschlagen worden ist, kann niemand sagen, wo das Ganze enden soll. Ein Damoklesschwert hängt immer über den verbrecherischen Taten der Nationen, wie der einzelnen Individuen; — die Handlungen, welche die britische Regierung vollbracht hat, «erden «in« furchtbare Vergeltung finden; das lerne» wir aus den blutbefleckten Seiten der Geschichte, die von Kriegen handelt, welche di« englische Demokratie zu führen sich verlocken ließ. ..."

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Und endlich — stand England nicht tm Jvli 1914 vor einem veritablen Bürgerkriege wegen der irische» Homerule? War es nicht Mr. Balfour, der ausrief: Else nothing, nothing eise will save us from civil war? Er meinte den Ausschluß Ulsters von dem tzomernlesystem. Skrupellosere sahen in einem äußeren Kriege den besten Blitzableiter: Wahrhaftig keine neue Erscheinung in der Weltgeschichte; daher auch die rasche, fast begeisterte, aggressive Zuschrift des konserva­ tiven Führers Bonar Law an Asquith am 2. August 1914. Wenn jetzt Deutschland tm grimmigsten Kampfe mit dem briti­ schen Weltreiche steht, so ist es der Negotiorum gestor, der Geschäfts­ führer der gesamten Welt, um die Freiheit des Weltmeeres ge­ gen Jahrhunderte lange englische Brutalität und Herrschsucht ju retten und mit dieser Freiheit des Weltmeeres die Zukunft des Völker­ rechts zu Wasser und zu Lande. Solange England, der Zertrümmerer jeglichen Völ­ kerrechts, der letzte Bewahrer des rohesten Kaperunrechts in der Seegewalt bleibt, sind alle Hoffnungen auf Schaffung eines wirklichen Rechtes auf die freie See eitel1). Das hat x) Lord Derbys Wort vom Jahre 1857 hat sich so oft erfüllt: »Die Ge, schichte des SeerechtS, bas ich Seeunrecht nennen möchte, ist ein unauslöschliches Zeugnis des ungezügelte» Egoismus und der Habgier des englische» Volks und seiner Regierung." Nie hat stch dies besser bewiesen als jetzt in der Zeit der Ver­ gewaltigung aller neutralen Staaten, in einer Konterbande- und Dlockadepolitik, die die völlige Vernichtung jeglichen Völkerrechts und aller DerttLge seitens England- bedeutet und die in der Brutalisierung Griechenlands ihren Höhe­ punkt findet. England treibt heute noch genau die Methoden der Kriegführung, tu denen der große englische Staatsphilosoph Thomas Morus in seiner 1516 erschie­ nene» „Utopie" den Rat gibt: „Die Utopier »ähren die Keime der Zwietracht bei de» Feinden, indem fle dem Bruder des Königs oder sonst einem Vornehmen Hoffnung geben, sich der Herrschaft t« bemächtigen. Wenn die inneren Zwistig­ keiten erlöschen, bann reizen sie die den Feinden benachbarten Völker an und sta­ cheln fle zum Kampf auf, indem sie irgend veraltete Rechtstitel wieder ausgraben, an denen es de» Königen niemals gebricht." „Ihre Reichtümer versprechen sie nicht nur für den Krieg, sondern unterstützen auch jene mit Gelb reichlich unter der Hand, mit ihren eigenen Leuten aber so sparsam wie möglich. Denn diese letzteren sind für fle von so einzigartigem Wert, und für flch selbst sind sie von solcher wechselseitigen Achtung erfüllt, baß sie niemanden von den Ihrigen, selbst nicht gegen bas feindliche Oberhaupt, auswechseln würden." Da nun die Utopier nicht nur in der Heimat unermeßliche Hilfsquellen befltzen, sondern auch die meisten Völker in ihrer Schuld stehen, so schicken sie von überall her gemietete Soldaten in de» Krieg, besonders aus dem Volk der Zapoleten.

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. von neuem die Behandlung der neutralen Staaten durch die britische Seemacht, nicht zuletzt durch die Erklärung der Nordsee als Kriegsgebiet am 3. November 1914 klar bewiesen. Das hat die englische Presse (z. B. die konservative Zeitung „The Candid“) in diesen Tagen zynisch durch ihre offene Hetze gegen die Londoner Deklarationen von 1909, die Haager Konvention von 1907 und die Pariser Deklaration von 1856 gezeigt: „Das Völkerrecht ist alter Plunder! Wir müssen sehen, wie wir all diesen Plunder los werden" schrieb dieses Sprachrohr der vornehmsten konservativen Führer in ihrem „Free the Fleet“# Artikel und sprach damit nur das aus, was die ganzen politischen führenden Kreise Englands fühlen — und wonach sie nicht bloß seit dem Juli 1914 handeln: Den Krieg aber gegen die Türkei stützte man auf diesen alten „Plunder", indem man dieselbe Londoner De­ klaration, die man systematisch brach, als „geltendes internationales Völkerrecht" pries (s. Nr. 18 des 2. russischen Orangebuches). Ein Musterbeispiel englischer Heuchelei! Nicht deutsche Feindschaft, sondern eigener Mammonismus und eine in despotisch-konservativen egoisti­ schen Überlieferungen auf allen Gebieten erstarrte Zurückgebliebenheit bringen Englands Untergang! III.

England fand einen Bundesgenossen, der an fanatischem Hasse gegen Deutschland mit dem revanchedürstenden Frankreich wohl kon­ kurrieren konnte. Das Allrussentum des östlichen Nachbars Deutschlands, der Träger des moskowitischen Staatsgedankens: der Nationalismus wurde zum Hauptfaktor der inneren Poli­ tik Rußlands, dem Staat und Kirche, Volk und Parlament und in erster Linie die Armee dienten. Rußlands, das Land (nach General Avon im „Eclair“), das Und nun schildert Morus tm folgenden in packender Darstellung, die der Schilderung seines Utopien alias Neuenglands nichts nachgibt, das Ideal eines für die kriegerischen Unternehmungen Utopiens stets bereiten käuflichen Söldner­ volks. (S. den interessanten Aufsatz von Professor Dr. Haymann in der „Franks. Zeitung", Juni 19x5.) l) Aus der riesigen Broschürenliteratur s. u. a.: Hans Delbrück, „Die Motive und Ziele der russischen Politik nach »wet Russen" (Georg Stilke, Berlin), ferner Dr. Alex. Redlich, «Der Gegensatz »wischen Österreich-Ungarn und Rußland"; Graf Julius Andrassy, „Wer hat den Krieg verbrochen?" (S. Hir»el, Leipzig), Richard Charmatz, „Zarismus, Panslawismus, Krieg" (Anjengruber-Derlag, Wien); f. auch Pee» a.a. O. S. 18 ff. Wir erwähnen ferner: „Rußland auf dem

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„eilt durch repräsentative Institutionen temperierte Autokratie be­ herrscht, in welcher das Geheimregiment der Käuflichkeit herrscht, das über die ganze Nation von oben bis unten herrscht und das man die Ära der Trinkgelder, der „pots de vin“ nennen könnte". Seit Ale­ xander III. herrscht in Rußland eine ungemein starke, von undefinier­ baren Treibereien genährter neoslavischer Deutschenhaß, der selbst die Romanows nicht verschonte. Wir verweisen hier auf das Buch Valentin de Gerlous „Origines et bases de Valliance Franco-Russe“, Paris 1913. Dort findet sich der merkwürdige Satz: „Der romanowsche Zäsarismus ist kein Trieb des russischen Baumes: es ist ein ftemder Zweig auf den russischen Stamm gepfropft, ein deutscher Zweig, die Holstein-Gottorper. Von ihnen stammt das Unheil!" Die „Nowoje Wremja" — die in Händen englischer City-Leute ist — ist das Leitorgan dieser wahrhaft russischen Leute, das von der Deutschen­ hetze seit Jahren lebte **) und den widernatürlichen Bund mit England (trotz aller inneren Abneigung gegen England) vertrat *). Mit Recht heben Rohrbach, Silvio Broedrich-Kurmahlen u. a. die große Bedeutung der Stolypin-Kriwoscheinschen Agrarreform auf die russische Bewegung hervor. Das moskowitische Bauernvolk war für den panruffischen Weltherrschaftsgedanken gewonnen, sobald ihm Siedlungsland im reichen Westen als Folge dieses Sieges in sichere Aussicht gestellt war (s. u. a. Broedrtch, „Das neue Ostland"). Dazu kam der geradezu phrenetische Haß und Neid gewisser ruffischer Kreise gegen das wirtschaftliche Emporkommen des deutschen Volkes. BeWege zur Revolution" von Professor Dr. Schiemann (Verlag von Georg Reimer); „Was soll nach dem Kriege aus den 2 Millionen unserer deutschen Brüder in Rußland werden?" von Carl Cäsar Fischer, Juli 1915; „Das neue Rußland" von Silvio Broedrich-Kurmahlen (Ostladerby); „Die litauisch-baltisch« Frage" von Dr. Gaigalat (Verlag des „Grenzboten"); „Russisches", Deukschrift von P. Rohr­ bach u.a.; „Die russische Gefahr und der Friedensschluß" von Professor Dr. Sera­ phim, und „Betrachtungen über den Ursprung des Krieges" von Graf Andraffy, bi« Antwort darauf von Aleksinskjt, und in der Zeitschrift „Polen" S. 330 ff. über den „Ursprung des Krieges" von v. GisbertS-Stodnicki. Dazu Daoilewski, „Ruß­ land und Europa" über die Adriaträume der russischen Politik; ferner die neue Zeitschrift „Osteuropäische Zukunft", 1. Januarheft 1916 (Verlag I. F. kehmann). *) Erst kurz vor dem Kriegsausbruch wies baS Blatt fortgesetzt auf die Gefahr der 200000 deutschen Kolonisten in den drei südwestlichen Gouveraements hin. *) Roch im Dezember 1912 schrieb einer der einflußreichsten russischen Politiker in der „Golos Moskwy": „Unser Hauptfeind und zugleich der Feind der ganzen Welt ist England, daS nicht nur Rußland, sondern ganz Europa in einer Art „Konzentrationslager" gefangen hält, wie einst di« Buren in Südafrika."

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karuttliy hat Rußland schon einmal zu Beginn der neunziger Jahre durch :in Ausfuhrverbot auf Nahrungs- und Futtermittel auf Deutschand eine Preffion auszuüben versucht, und bekannt ist aus der letzte« Zeit vor dem Kriege, welchen Anfeindungen der deutsch,russische Handelivertrag vom Jahre 1904 ausgesetzt war, weil die russische Re, gierutNk der Erhöhung der deutschen Agrarzölle zugestimmt hatte und weil di, rasch wachsende Einfuhr deutscher Erzeugnisse nach Rußland angeblch die Entwicklung einer national,russischen Industrie verhin, derte. Dieser Krieg hat gelehrt, daß die Abhängigkeit der deutschen Er, nährmry von der russischen Einfuhr nicht besteht, er hat aber zugleich ohne Zvetfel die Jndustrieförderung in Rußland zum obersten wirt, schafitsplitischen Prinzip gemacht. Aufsehenerregender Artikel der „Rußkoje Slowo" vom Juni 1915 buchte die russische Stimmung besonders klar zum Ausdruck. Dort hißt es u.a.: „Gwiß sah oft die Welt den Feind von gestern als Verbündeten von heute. Japan» t! unser Bundesgenosse l Warum ist bas mit Deutschland unmöglich? Weil den ersteren befehlen, die ander« ju erschießen i" Dabei wird das Kleinrussische, ias mit dem Ruthenischen fast identisch ist, in Rußland so streng verfolgt, daß die lentenarfeier des kleinrussischen Dichters Schewtschenko untersagt wurde, was bekmntlich zu den Unruhen in Kiew führte, über welche der Abgeordnete Miljukowdie Regierung in der Duma interpellierte. Auch das gehört in den Zu­ sammenhing, baß der bekannte Slawist Professor Baudouin de Courtenay für «in von bm 1912 veröffentlichtes Buch über „Nationale und territoriale Charak­ teristik de Autonomie" z« zwei Jahren Hast verurteilt wurde, weil er für Klein­ rußlands Autonomie eintrat. (Professor Schiemann, „Die letzten Etappen zum Weltkrieg 19t;", Georg Reimers Verlag.)

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land als nobler Sekundant Rußland mitteilen ließ, daß ein Angriff Rußlands auf Österreich Deutschland auf dessen Seite sehen werde. Seitdem galt der gleiche Haß, der, schon ftüher von mächtigen Per­ sonen am kaiserlichen Hofe erfolgreich gereijt, bald höher, bald niedri­ ger im Werte stand, im wesentlichen seit des alten Kaiser Wilhelms Tode als gute politische Münze schien, der Donaumonarchie wie dem Deutschen Reiche. Und wiederum versuchte Rußland die Demütigung der Türkei nach der Zertrümmerung des Balkanbundes, dessen aus­ schließlicher Zweck gegen Österreich gerichtet war, durch Einmischung in Türkisch-Armenten. Daß es auch hier Deutschland wagte, ihm ent­ gegenzutreten, vermehrte nur den Haß der allrussischen Clique, für die es längst ausgemachte Sache war, daß alle russischen Expansions­ bestrebungen in Europa, insbesondere gegen das offene Meer hin, an Deutschlands Wachsamkeit scheiterten. Freilich eine merkwürdige Sache, daß Deutschland ihm gegenüber schließlich Interessen vertrat, die minde­ stens ebenso die der Wesimächte England und Frankreich waren wie die Deutschlands selbst! Hätte Deutschland Rußland Freiheit an den Dardanellen gegeben, so wäre es mit der Tripleentente wohl bald am Ende gewesen! Jedenfalls war die Luft des politischen Rußland längst mit Elektrizität erfüllt, die die Tragödie von Serajewo zur Entladung brachte. Freilich nach der Panik von 1909 versuchte man noch einmal in der Potsdamer Übereinkunft von 1910 ein gütliches Abkommen zwischen den ftüher traditionell so eng verknüpften Reichen herzustellen. Der bundesgenössischen Enttäuschung über Rußland von 1909 folgte andrerseits ein um so engerer Anschluß Englands und Frankreichs. Im Jahre 1911 erklärte der „Standard", daß das Abkommen wörtlich lautete: „Frankreich und England sind verpflichtet, einander zu Wasser und zu Lande, sowohl durch Krieg wie durch Verhandlungen, zu unter­ stützen, falls eine von beiden Mächten durch eine Kombination von Mächten angegriffen werden sollte." War dieses Schutz- und Trutz­ bündnis trotz aller Ableuguung wirklich vorhanden und war der Brief­ wechsel Grey-Cambon vom November 1912 nur die Einleitung? Wir wissen es so wenig wie das so oft getäuschte englische Parlament. Jedenfalls war die Agadir-Affäre geeignet, den Bund der beiden Staaten noch fester zu gestalten. Und Rußland? Die Zuschrift eines russischen Kaufmanns an das bedeutende englische Finaazblatt, den „Economist", vom 7. März 1914, weist mit großer Bestimmtheit und offenbar aus eingehender Kenntnis der inneren Lage Rußlands auf die Gefahren hin, die sich dort auftürmten. Dort heißt es: „Daß man

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hier unzufrieden ist, wirb niemand leugnen, und es wird fest geglaubt, -aß eine geheime Organisation, wie die des Jahres 1905, nur der Gelegenheit harrt, um zur Tat zu schreiten. Zwei Ereignisse können einen solchen politischen Ausbruch plötzlich herbeiführen. Das eine wäre die Verwicklung des Reiches in einen Krieg. Eine Kriegspartei existiert in Rußland, und ste wird mit der Partei identifiziert, die jetzt am Ruder ist. Die Slawenbankette während des Balkankrieges und die chauvinistischen Reden, die auf ihnen gehalten wurden, sind noch in Erinnerung. ... Ein Krieg bricht aus, wenn er am wenigsten er­ wartet wird, und wenn so gefährliche Elemente wie die russische Krtegspartei ihren Einfluß unbehindert ausüben und so wie jetzt durch die große russische Goldreserve ermutigt werde», dann kann der europäische Friede in Gefahr sein." (bet Schiemann a. a. O.) Und auch das tnnerpolitische soziale Problem darf bet der Untersuchung der zum Kriege drängenden Momente nicht unberück­ sichtigt bleiben. In den letzten Jahren war die Unzufttedenheit der breiten Massen der russischen Bauernschaft und Arbeiterschaft und gleichzeitig auch eine gewisse größere politische Selbständigkeit im Wachsen. Dazu noch der oben erwähnte Landhunger des russischen Bauern, raffiniert gezüchtet und nach dem Westen dirigiert. Im Jahre 1912 waren nach der offiziellen Statistik 2032 Arbeiterstreiks erklärt. In der Zeit vom 1. Januar bis Ende Juli 1914 waren es 4098 mit iVz Will. Teilnehmern — meist politischer Natur, die letzten, stärksten im Juli 1914 in Anwesenheit der Herren Mviani und Poincarö. Diesen Gefahren begegnet man erfahrungsgemäß im Westen wie im Osten mit der Anreizung des Chauvinismus, hier der expansivsten Form des russischen Nationalismus. Die offiziöse „Nowoje Wremja" gibt den inneren Zusammenhang in folgenden klassischen Sätzen: „In den Außenbesirken der Hauptstadt gingen noch die Leute mit roten Fahnen und mit dem Gesang der Arbettermarseillaise herum, währenddem in ihrem Zentrum bereits andere Stimmen erschollen und die russische nationale Fahne erschien.

Am 12. (25.) Juli wurde das bekannte österreichische Ultimatum

an Serbien bekannt. Am andern Tage, am Sonntag, begannen in Petersburg in aller Frühe patriotische Manifestationen."

Früher Pogrome, jetzt Demolierung der deutschen und öster­ reichischen Botschaft usw. — unter Führung der Polizei und der „wahrhaft russischen Leute". Die Zusammenhänge zwischen den wahren Urhebern dieses Krieges und den sozialen Motiven sind für jede« Kenner russischer Verhältnisse klar gegeben.

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Endlich dürfen wir bei Betrachtung des russischen Problems nicht außer acht lassen, daß religiöse und kirchliche Fragen eine ganz bedeutende Rolle bei dem Rieseneinflusse der orthodoxen russischen Kirche und ihren engen Zusammenhängen mit der politischen Organisa­ tion -es russischen Reichs spielen. Rußland hat in den letzten Jahren wiederholt erklärt, daß es dem Vatikan auf politischem Gebiete Zu­ geständnisse machen könne, auf kirchlichem niemals. Für Rußland bildet die Geschlossenheit seiner nationalen Kirche eine Lebensftage seiner Macht *). Da nun Rußland die dem Orient gemeinsame Auffassung ver­ tritt, daß Kirche und Nationalität eins sei, sieht es in seinem Vasallen­ staate Serbien und in den Ländern, die es diesem an der Adria ver­ schaffen möchte, nicht nur ein politisches, sondern auch ein Macht­ gebiet seiner orthodoxen Nationalkirche und der einheitlichen Grund­ lage seines Kultus an der Adria unter Verdrängung des Katholizismus. Es ist die Erfüllung des sogenannten „Testaments Peters des Großen", die Besitzergreifung von Konstantinopel und die Er­ richtung eines Patriarchates, das den ganzen Orient auch kirchlich wieder unter einem Zepter vereinigen soll. Neu-Rom gegen Alt-Rom! Das ist das große kirchenpolitische Programm der panrussischen Elemente, die zum Kriege ununterbrochen hetzten und denen der völlige Abschluß der militärischen Reformen im russischen Heere in dem Momente zu lange dauerte, als Serbien, der teure Vasallenstaat, bedroht erschien. Das alles überlegte Italien nicht, als es den Krieg mit seinem bisherigen Bundesgenossen vom Zaune riß. Der Verräter wird seinen Loh« in seiner eigenen Torheit finden. Denn selbst wenn die Feinde der Zentralmächte siegen würden, würde Italien um seinen Judaslohn in Istrien und Dalmatien zugunsten der südslawischen Idee und zu­ gunsten des russischen Satrapenstaates Serbien geprellt werden, was die ganze Welt ergötzen würde. Denn man braucht den Verräter, aber verachtet ihn — auch bei seinen jetzigen Bundesgenossen. Alle Versprechungen des Herrn von Giers werben uns über *) Ein Beispiel dafür, wie es seine kirchlichen Grundsätze jetzt im Kriege an­ wendet, lieferte t« in Lemberg, bet dessen Besetzung der Erjbischof der dem päpst­ lichen Gtubl untergebenen ruthenischen uniert,orientalischen Kirche sofort ins russisch« Innere abgeführt wurde. Auch alle Jesuiten wurden verhaftet und ver­ schleppt. Dort, wie anberwSrts, setzten die Russen eine solenne, grausame Kirchenverfolgung ins Werk.

dieses kommende Zusammenprallen slawischer und romanischer Kultur nicht läuschen können! IV.

Nicht anders war die Stimmung in Frankreich. Die Patrioten­ liga, die nach DeroulLdes Tode junächst am Boden lag, feierte neue Triumphe1). *) Einen Überblick über die französische „Revanchebelletristik" gibt im Aprilheft der „Internationalen Monatsschrift für Wissenschaft, Kunst und Technik" (Verlag B. G. Teubner, Leipzig) der Dresdener Literarhistoriker H. Heiß, der wertvolle Aufschlüsse über die französische Dolkspsyche bietet. Weit gefährlicher war freilich die amtliche französische Schul-Revancheliteratur, auf welche einsichts­ volle Pädagogen diesseits und jenseits der Grenzen jahrzehntelang warnend die Aufmerksamkeit der Welt richteten, in der z. B. Elsaß-Lothringen stets noch als französisches Land behandelt wurde. Freilich: vor dem Kriege war man sich sogar andrerseits in nationalistischen Kreisen Frankreichs über Englands Selbst­ sucht klar. In dem Buche eines der politisch begabtesten Franzosen unserer Zeit, Charles MaurraS' „Kiel und Tanger" (der nationalistische Führer ist ge­ wiß keinerlei Deutschfreundlichkett verdächtig) heißt es: „Der Brite ist „Pirat" geblieben" (S. 104). „Ohne den eingeborenen Haß der beiden großen kontinen­ talen Völker fühlt sich die britische Insel nicht sicher" (S. 119). „Die Macht des englischen Königs über Frankreichs Geschicke hat sich im 19. Jahrhundert und zu Beginn des 20. in geradezu wunderbarer Weise erweitert; sie wird noch größer werden" (S. 124). „England half Frankreichs Kolonien vergrößern; je ausgedehuter sie wurden, um so mehr wuchs des britischen Königs Einfluß auf Frank­ reich; unsere Kolonien sind «in Pfand in Englands Hand. Die englische Politik wird sich eines Tages auf folgende Alternative beschränken: Entweder seid ihr uns zu Willen oder wir nehmen euch die Kolonie« weg" (S. 133). „DaS überall eindringende und alles tyrannisierende England ist genau so liberal wie Karthago oder Venedig", „Die englischen politischen Ideen haben Frank­ reich erniedrigt" (S. 142). „England schob uns, mit ganzer Schnelligkeit, gegen daS beunruhigte Deutschland" (S. 164). „Wie Nachtwandler gehen wir die Wege. auf welcher wir ein Deutschland in Waffen antreffen mußten; wir hatten kein« Absichten gegen Deutschland, wohl aber England, das «ns an der Hand führte" (S. 165). „England hat wohl unsere Armee, nicht aber eigentlich unsern Sieg nötig ... es genügt, daß wir Deutschlands Schläge auffangen" (S. 189). „England verlangt nur daS eine: baß wir «ns von den deutschen Heeren überfluten lassen, «ad wir werden eS tun. Wir werden diesen nieder« Söldnerkrieg führen, wo das Menschenopfer durch keine Vorteile für das Vaterland wird aufgewogen werben; wir werben automatischen Reflexen gehorche», deren Ursprung unser Herr, Ausbeuter und Vormund England bestimmt.... Diese Verbindung ist kein Bund zwischen Staaten, die miteinander handeln wollen; denn hier ist der eine Führer, der ander« aber der Geführte und simple Schützling" (S. 191). („Münch. Ztg", Mai 1915.)

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Die Hoffnungen, die einst Bismarck an seine Unterstützung der französischen Weltpolitik geknüpft hatte, haben sich in keiner Weise erfüllt. Die Franzosen haben trotz aller weltpolitischen Erfolge die blaue Linie der Vogesen nicht aus dem Auge verloren. Ganz im Gegenteil, der Revaachegedanke ist gerade in den letzten Jahren immer mehr hervorgetreten. Gewiß hat die Marokkofrage den Gegensatz zu Deutschland wieder neu aufleben lassen, und die Art ihrer Lösung, die mit einer Abtretung ftanzösischen Territoriums verknüpft war, hat einen Stachel im Gefühl vieler Franzosen zurückgelassen; aber es traten andere wichtige Momente hinzu, die zur Aufgabe der Welt­ politik, zur Wiederaufnahme der Kontinentalpolitik geführt haben. (S. Deutschland und der Weltkrieg" bei Teubner HL) Nichts ist charakteristischer für die Situation, wie sie durch die Debatten über die dreijährige Dienstzeit und den internationalen Pressering im Sommer 1914 in Frankreich geschaffen war, als ein Ar­ tikel in der angesehensten politischen Zeitschrift Frankreichs (15. Juni): In der „Revue Politique et Parlementaire“ von Universitätspro­ fessor Gonnard besprach dieser das Buch von Maurice Legendre „Der künftige Krieg und die Mission Frankreichs". Er gibt einen Kommentar (s. Schiemann a. a. O. S. 226) über den Abschnitt, den Legendre der perversion prussienne (Entartung Preußens) widmet und nennt ihn „vortrefflich und beweisend". Dort finden sich folgende für die französische Stimmung in intelligenten politischen Kreisen be­ zeichnende Stellen: „Heute gibt es zwei überlegene Formen mensch­ licher Gruppierung ... das sind die Patrie in französischer Form und das Empire in englischer. Preußen dagegen ist eine parasitische Grup­ pierung... eine karikierte Nachahmung....Preußen ist aus Entartung geboren.... Die Pazifizisten sollten verstehen, daß ihre Devise „Krieg dem Kriege" Krieg gegen Preußen bedeutet."... „Die jetzige Un­ fruchtbarkeit Preußens in Kunst und Gedankenwelt grenzt ans Wunder­ bare. Wissenschaft und Gelehrsamkeit stehen im Dienste des deutschen Spezereihandels und des Hasses." ... „Preußen ist die Sünde Euro­ pas." ... „es hat als Parasit der Zivilisation den Genius der Ent­ artung". ...„Der Konflikt nähert sich der entscheidenden Phase, der militärischen, die für Frankreich die allerschönsten Aussichten des Sieges bietet". ... Gonnard selbst fügt dieser feinen Schilderung des „Parasiten Preußen" außerordentlich bezeichnende Sätze hinzu: „Damit Europa sich des Friedens erftene, muß Preußen ... aus Deutsch­ land (!) hinausgeworfen werden." „Österreich oder viel-

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mehr Süd- und Rheindeutschland, d. h. das wahre Deutschland, muß die Führung übernehmen." ... Das wird dann eingehend ausein­ andergesetzt, indem Preußen zu Österreich und dem übrigen Deutsch­ land in schärfsten Gegensatz gebracht wird. Das war die Stim­ mung der sogenannten gebildeten politischen Kreise Frankreichs, als der Fürstenmord in Serajewo geschah! Und das alles gegen einen Staat, von dem sogar der „Temps" (27. Juli 1914) zugestand, daß seine Politik 40 Jahre friedlich geblieben ist1). Über die kurz vor Kriegsbeginn geäußerte ftiedliebende An­ schauung hervorragender französischer Politiker über den Krieg, ins­ besondere Jaures', s. „Das neue Europa", Oktober 1915, S. 63 ff.; dagegen über den systematisch gezüchteten Chauvinismus des offi­ ziellen Frankreich s. die belgischen Gesandtschaftsberichte Nr. 26, 27, Z9, 97, 99,101 und 104,105,110, 112, aus denen klar hervor­ geht, daß PoincarL der eigentliche Träger dieses alten französische» Chauvinismus war, seine Helfershelfer Millerand, Delcaffe. Selbst Pichon (l. c. Nr. 104) klagt über diesen gefährlichen Chauvinismus, dem lediglich Calllaux entgegenzutreten wagte (Nr. ho). Bei solcher Stimmung war es gar nicht auffallend, daß unmittel­ bar nach der Ermordung des Erzherzog-Thronfolgers die ftanzösische Regierung eine militärische Sondermission (Oberst Rougier und Major Holzapfel) nach Serbien schickte, um die künftigen Schlachtfelder dort zu studieren. Die Defenstvallianz zwischen Rußland und Frankreich war all­ mählich zur Offensivallianz gegen Deutschland und Österreich ge­ worden. Der Zeitpunkt des Losschlagens war dabei lediglich abhängig von der Verfügung der beiden Staaten über die entsprechenden Macht­ mittel. Sobald England erklärte, daß es mit von der Partie sei, war die Überzeugung von dieser Überlegenheit bei den beiden andern Ge‘) In diesen Tagen (Januar 1916) erzählt der klerikale Senator de Lamarzelle im „Echo de Paris", er und andere hätten eine Flut von Zuschriften ans allen Ecken des Landes erhallen, die den Klerus, den Adel und die Reichen, auch den Präsidenten der Republik und die Minister für den Krieg verantwortlich machen. Er fügt bei: „Die wahren Urheber des Krieges, wiederholt man, sind die Leute, die zu­ gunsten des Gesetzes für die Wiedereinführung der dreijährigen Dienstzeit ge­ schrieben und geredet haben, und diejenigen, die sie in den beide« Kammer» wieder hergestellt haben. Die Annahme dieses Gesetzes wäre eine wahre Herausforderung au Deutschland gewesen, das im Frieden zu lebe« wünschte." So die jetzige Stimmung in Frankreich!

26 «offen von selbst gegeben. Das alles war der Dank des Hanses Romanow an das Haus Hohenjollern, der Dank Rußlands für die Depesche Kaiser Wilhelms an den Aaren: „Russische Trauer ist deutsche Trauer" (1904), der Dank für seine mehr als wohlwollende Neu­ tralität gegenüber dem naturgemäßen, rassengeschichtlichen Todfeinde Deutschlands, die uns den Haß Japans eintrug und im letzten Eft fette den Verlust von Kiantschon brachte: Fehler vergangener deutscher Politik, an deren Folgen wir heute schwer zu leiden haben! Was tut es, daß noch im Jahre 1902, als der Burenkrieg eine der schwersten Krisen über England heraufbeschwor, Rußland an Deutschland die Aufforderung ergehen ließ, über England herzufallen? Statt die Noblesse der Ablehnung dieses Vorschlags seines jetzigen tteuen Bundesgenossen anzuerkennen, operierte der internationale Presselügentrust mit dem Kaisertelegramm an Krüger! All diese redliche Friedenspolitik Kaiser Wilhelms, die bald den englischen Vetter, bald den traditionellen russischen Dynastiesteund aus der Not rettete, bestand für die jahrelangen Treibereien gegen den Lord of war nicht mehr, fand tragische Verkennung und Undank. Statt dessen schmiedete der Onkel, von dem das böse Wort fiel: „Let him play“, gegen den Neffen zu Reval am 9. Jnni 1908 den Ring der Verschwörung zu Ende. Don dort aus schwebte — wie sogar im englischen Unterhause der Vorwurf fiel — „eine latente Kriegs­ gefahr über Europa". Wird die deutsche Politik aus alledem für die Zukunft die nötigen Lehren ziehen? Wird sie es vermeiden, dynastischen Sentimentalitäten und Traditionen, über die nicht bloß Englands politische Kreise seit Generationen lächeln, sondern über die auch die russische Autokratie längst hinausgewachsen ist, nach­ zudenken und nachzuhandeln? Gibt nicht die große, glänzende Berliner Sonveränen-FamUienjusammenkunst im Sommer 1913 die klassische Lehre, daß man auf derartige höfische Geschichten nicht mehr den geringsten Wert legen darf, ja daß sie direkt zur Täuschung über die wirklichen politischen Ziele verwendet wurden *), sondern daß nur die Interessen der Völker und Staaten über die Politik eines Reiches entscheiden dürfen? Es soll hier nicht erörtert werden, ob nicht auch Fehler der deut­ schen Politik gegenüber Frankreich, England und Japan, vor allem ’) Genau ein Jahr nach der Berliner Hochteltsfeier fanden in Paris dl« maßgebenden Zusammenkünfte zur letzten „Einkreisung" Deutschlands statt.

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in der Epoche von 1903—1906, das Einkreisungsspiel erleichterten. Schwere Fehler der österreichischen Diplomatie auf dem Gebiete der inneren und äußeren Politik („sie rasseln mir zu viel mit meinem SäbM, vor allem aber der inneren Politik gegenüber den Nachbarn Serbien, Rumänien und Italien sollen und dürfen, wenn auch zu­ nächst nur andeutungsweise, im Interesse der objektiven Geschichts­ erzählung nicht verschwiegen werden. Auf sie im einzelnen einzugehen und zu zeigen, daß hier eine Umkehr auch mit einer Reform des diplomatischen Verkehrs zwischen den beiden Zentralmächten von­ nöten werden wird, wird Sache späterer kritischer Betrachtung der Politik der letzten 20 Jahre sein müssen. Schaffung von ungenügen­ der Rückendeckung, Mangel an richtiger Fühlungnahme und an Rück­ sicht auf den deutschen Bundesgenossen, ungeschickte Vertretung des Landes nach außen, Rücksichtslosigkeit gegenüber nationalen Minder­ heiten, Überspannung des zoll- und handelspolitischen Systems gegen­ über einzelnen Nachbarländern usw. trugen unzweifelhaft zu der immer größer werdenden Isolierung der beiden Zentralmächte und zu jener Mißstimmung bei, welche sich im entscheidenden Momente zu­ gunsten des Dreiverbandes so unangenehm in der ganzen Welt bemerkbar machte —, wenn auch die systematische, jahrzehntelange, skrupellose, neidgetränkte Stimmungsmache gegen den letzten „Empor­ kömmling" der Weltgroßmächte dadurch noch nicht erklärt, geschweige denn entschuldigt werden kann. V.

Wir wissen alle, daß insbesondere anläßlich des Besuches des englischen Königspaares im April 1914 die Absicht vorlag, die Triple­ entente zur förmlichen Allianz umzubilden. Dazu kam es nicht, da­ gegen zu den Stipulationen über ein Marineabkommen zwischen Rußland und England (s. unten das besondere Kapitel), dessen Grundzüge in den Besitz der deutschen Regierung kamen (Juni 1914), und das für die Kriegslust der russischen Kriegspartei von großer Bedeutung sein mußte. Zu den schon seit mehr als einem Jahrzehnt bestehenden russisch-französischen Kriegskonventionen, die sich stützten auf die Feindseligkeit gegen Deutschland und Österreich, zu der ftanzösisch-englischen Marinekonvention, die die französische Flotte in das Mittelmeer verwies und den Schutz der West- und Nord­ küsten Frankreichs der englischen Flotte überließ, trat sohin als letztes Glied diese englisch-russische Marinekonvention hinzu. Die Kette war

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geschlossen1). Die Frage, ans der Tripleentente eine förmliche Triple­ allianz zu machen, war eine ganz untergeordnete. Sie paßte nicht zu dem System Grey, das Abkommen sucht, die als solche nur den nächsten Auguren erkenntlich stnd (s. unten Engl. Weißb. Nr. 105, Anlagen 1 und 2; die Aktenstücke vom 22. November 1912; das Nähere Kap. 32ff. unten)2). Zuletzt noch die Reise der Herren PoincarL und Viviaui nach Petersburg! Herr PoincarL war von Anfang an der Typus des Trägers einer Politik imperialistischer und chauvinistischer Tendenz, die auf Revanche lauerte, den Deutschenhaß in Rußland nährte und die Eitelkeit und den Größenwahn politischer Pflanzen ä la Winston Churchill oder Intriganten ä la Arthur Mckolson, Sir Bertis usw. l) „National Review": „Anotherlink has been forged in a priceless chain.“ S. auch die Rede Sasanows zur selben Zeit: „Die festen Bande gegenseitiger Freundschaft zwischen Frankreich und England und andrerseits zwischen England und Rußland" haben eine Erweiterung des Kontraktes und die Teilnahme Eng­ lands an den Beratungen gestattet. *) Für englische Hinterhältigkeit gibt es keinen besseren Beweis als die Antwort Greys auf die Anfrage der Abg. King und William Byles über das englisch-russische Marineabkommen vom n. Juni 1914. Sir E. Grey: DaS ehrenwerte Mitglied für North Somerset hat eine ähnliche Frage voriges Jahr in betreff der Landtruppen gestellt, und das ehrenwerte Mitglied für North Salford stellte eine ähnliche Frage gleichfalls an demselben Tage, wie er wiederum heute getan hat. Der Prime Minister antwortete damals, daß, wenn ein Krieg ausbreche zwischen europäischen Mächten, keine unveröffentlichten Vereinbarungen beständen, welche die Freiheit der Regierung oder des Parlaments einschränken oder behindern könnten, darüber zu entscheiden, ob England an einem Kriege teilnehmen solle. Diese Antwort deckt die beiden schriftlich vorliegenden Fragen. Cs bleibt ebenso wahr heute wie vor einem Jahre. Keine Verhandlungen sind seither mit irgend­ einer Macht abgeschlossen worden, welche diese Angabe weniger wahr machen würden. Keine derartigen Verhandlungen sind in Gang (in progress), und es ist, soweit ich urteilen kann, nicht wahrscheinlich, daß irgendwelche in Angriff genommen werden (are likely to de entered). Wenn aber irgendein Abkommen abzuschließen wäre, das es nötig machen sollte, die vorjährige Erklärung des Prime Minister zurück­ zuziehen oder zu modifizieren, so müßte es meiner Ansicht nach und würde es, wie ich annehme, dem Parlament vorgelegt werden." Mit alledem vergleiche man engl. Weißbuch Nr. 105 Anl. i u. 2 und die Entwürfe zum englisch-russischen Ab­ kommen, die in der Hand der deutschen Regierung sind (s. unten). Auch der „Cconomtst" vom 28. Juni 1914 hat im Gegensatz zum „Standard" behauptet, daß es keine militärischen Verpflichtungen gegenüber Frankreich gebe. Freilich ganz anders die bundesgenössische „Nowoje Wremja", die mit aller Bestimmtheit behauptete, daß im Sommer 1913 eine englisch-französische Marine, konvention abgeschlossen worden ist, und „Nowoje Wremja" vom 19. April 1914 LArguö).

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ausgezeichuet für Frankreichs Revanchepläue zu benutzen wußte. Was tut's, daß er selber wie sein Agent Delcasss, der einen kurzen Auf­ enthalt als Botschafter in Petersburg trefflich ausnutzte, um den Haß gegen Deutschland auch in gebildete Kreise Rußlands zu tragen, nur eine Figur des grimmigsten Deutschenhassers Jswolski*) war, der durch Paul Cambon und Graf Benckendorff das Foreign office zu beherrschen wußte, indem er Sir Edward Grey zum Schiedsrichter der Welt in allen europäischen Fragen anzurufen wußte. Und Grey war doch nur das gelehrige und gehorsame Werkzeug der ungesehenen, aber mächtigen Kräfte, die Kabinett, Kammer und Parlament in England restlos beherrschen. Schon viele Wochen vor der Krisis hat z. B. Professor Schiemann in den Wochenübersichten der „Kreuzzeitung" auf die Analogien der stanzösischen Zustände zur Boulanger-Zeit hingewiesen. Die Koalition des Klerikalismus mit dem aufgeregten und aggressiven Nationalis­ mus. hatte sich angebahnt — trotz Viviani und Genossen, trotz ihrer Kirchenpolitik. Maurice Barrös, der Nachfolger DLrouledes, zeigte in seiner Antrittsrede (Juli 1914), daß alle guten Ansätze, wie die Basler parlamentarische Zusammenkunft (31. Mai 1914), die Rede PLdoyas, des Vizepräsidenten des republikanischen Klubs, gegen die dreijährige Dienstzeit usw., nur Träume waren, die die leitende „Nowoje Wremja" auch sofort im Keime zerstörte2). „Die Tripleentente", so schrieb sie, „verkörpert in sich den Gedanken des Friedens — der Dreibund den Gedanken des Angriffs." „Vermag die Diplomatie der Ententemächte die Mächte zweiten Ranges zu gewinnen, so wird das militärische Übergewicht dieser Kombination so groß, daß auch für ') Wir dürfen an die Aufsehen erregende Verleihung des Alexander Newski« Ordens an Herrn Jswolski und bas damit verbundene gnädige Schreiben des Zaren erinnern, das von der „Nowoje Wremja" als ein „historisches Dokument" bezeichnet wurde, bas der beste Beweis sei, daß Rußland wünsche, die mit England bestehende Entente und die Allianz mit Frankreich weiter zu entwickeln". Eia Zeichen, daß die allrussischen Kreise den Willensschwächen Zaren bereits im April 1914 wieder völlig beherrschten. (S. über di« Haltung der russischen „hochbegabten, aber wankelmütigen Politiker" die Äußerungen des belgischen Gesandten in Berlin auf Grund von Mitteilungen Jules Cambons die belgischen Gesandtschaftsberichte, z.D. Nr. 94, 102.) ') Siehe insbesondere die „Fanfaren"-Artikel Suchomliaows vom März und Juni 1914 in der „Birschewyja Wjebomostt" «ab „Nordd. Allg. Ztg." vom 20. Juli 1915. Dort war genau auseinandergesetzt, daß Rußland krtegS- «ad offensivbereit sei; ferner bort den tzedemannschen Artikel im „Matin" vom 18. Juli 1914.

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die „Räuber" keine Chance übrig bleibt." In all diese Pulverfässer platzten die Bomben von Serajewo! Der „Golos Moskwy" sprach offen in den ersten Julitagen von „dem bevorstehenden unver­ meidlichen Kriege" im Zusammenhange mit der Serajewoer Mord­ tat und warnte vor Illusionen freundlicher gegenseitiger Annäherung. Das Werben um Rumänien nahm jugleich stürmische Formen an. Das Werben um Schweden wurde vorzeitig durch den Kriegsausbruch ge­ stört. Der „unvermeidlich bevorstehende Krieg"! DerHochverratsprojeß gegen den Feldwebel Pohl, der von dem kaiserlich russischen Militär­ attache in Berlin Oberst Basarow bestochen wurde, jeigte die Maulwurfsarbeit Rußlands noch in den letzten Tagen vor der Krisis. Die russische und englische Spionenarbeit war es ja, die den Deutschen Reichstag noch im Sommer 1914 jwang, das deutsche Spionagegesetz erheblich ju verschärfen. Freilich kein Mitglied des deutschen Parla­ ments ahnte, daß die Krisis so nahe sei, sonst hätte die betreffende Kommission, der der Verfasser angehörte, wohl noch ganz andere Be­ stimmungen erlassen! Und der „Temps" schrieb damals düster war­ nend von einer „Jnftagestellung des Friedens Europas durch den Geisteszustand gewisser Regierungskreise in der Serajewoer Mordtat", indem er zugleich Serbien als völlig unschuldig an der Tat hinstellte. Und Judet schrieb im „Eclair": „Deutschland ist uns gefährlicher im Frieden als im Kriege" (l'Allemagne nous vise plus par la paix que par la guerre).

Es war ein merkwürdiges Zusammentreffen, daß Herr Poincare mit dem vormaligen Sozialdemokraten Diviant als Consetlpräsidenten just in den kritischsten Tagen in Petersburg mit den Jswolski und Swerbejew zusammensaß. Die Parole, die von der gesamten russi­ schen und dem maßgebenden Teile der französischen Presse ausgegeben wurde, lautete: „Erweiterung der Tripleentente durch Heranziehung der kleineren Mächte!" Herr Waltszewski sagte in der „Nowoje Wremja", daß er bereits den Beweis für dieses Streben und seinen Erfolg in den Besuchen aus Amsterdam, Gent, Madrid und Bukarest in Paris jugleich mit Vertretern der Munizipalitäten von Petersburg und London hätte. Wir wissen nicht, ob hier ernstliche neue Einkreisungspläne unter Zuziehung der kleineren neutralen Staaten bestanden, oder ob man nur die böse Wirkung der Reden der Humbert und Pedoya verwischen wollte. Jedenfalls müßte einer klugen deutschen Regierung der Weg, -er hier angedeutet wurde, nicht bloß zu denken geben, sondern auch

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ihre jukünstige Politik wesentlich beeinflussen und ihr Richtlinien geben, um die mittleren germanischen Staaten, die die politische Klugheit gegen Rußland und England in gleicher Weise leitet, zn einem staatsund völkerrechtlich günstigen Modus vivendi zu bringen. Die Trinksprüche in Petersburg sprachen vom „europäischen Gleichgewicht" als dem Ziele. Was die öffentliche Meinung des politi­ schen Rußlands darunter verstand, hat die „Nowoje Wremja" durch einen ihrer geistigen Leiter, Menschikow, unter der Überschrift „Die Organisation des Sieges" dargelegt1). Man war gut genug informiert, um auf Englands Mitwirkung sicher rechnen zu können, was aus allen französischen und russischen wichtigen Presseäußerungen hervorgeht. Die Stimmung dort gab Francis W. Hirst, der Herausgeber des „Economist", am 29. Juli 1914 im „Daily Chronicle" zur Lage: „Ich notiere, daß die gelbe Presse nach Krieg schreit (is screaming for war). Sie sagt, daß, wenn Frankreich und Rußland mobilisieren, wir auch mobilisieren müssen. Wenn sie kämpfen, müßten wir auch kämpfen. DaS Parlament hat aber die feierliche Erklärung erhalten, daß wir durch keinerlei militärische oder maritime Verpflichtungen weder an Rußland noch an Frankreich gebunden sind. Kein britisches Interesse ist in Frage gestellt, und es fällt sogar schwer, festzustellen, wohin unsere individuellen Sympathien gehen." „Wenn die Afghanen ein größeres Afghanistan auf Kosten Indiens äugestrebt und Prinz und Prinzessin von Wales in den Straßen von Peshawar ermordet hätten, erscheint es mir nicht unwahrscheinlich, daß der mündige Teil des englischen Volkes einen Feldzug nach Kandahar verlangt hätte. Und ich bin ganz sicher, daß Österreich nicht dagegen Protest erhoben hätte. So frage ich denn, waS will Mr. Churchill tun? Welchen denkbaren Grund kann es für die Mobilisierung unserer Flotte geben? Ist es etwa ein Ausbruch chauvinistischer Sucht, sich in An­ gelegenheiten anderer einzumengen?"

Was half es, daß er, wie viele andere Intelligenzen, in bebenden Worten gegen die Einmengung wetterte und unbedingte Neutralität Englands verlangte? Die Winston Churchill und andere Straßen­ demagoge» hatten mit der Harmsworth-Presse2) den Boden bereitet. l) Dort heißt es: „Es genügt, die Weltkarte anjnsehen, um sich tu über­ trugen, daß die Lrtpleentente der gebietende Akkord im Weltkontert ist. Zu Rußland gehSrt fast halb Asien, tu Frankreich halb Afrika, zu England die Hälfte des Erdballs, während die Besitzungen des Dreibundes nur eine Landenge zwischen Nordsee und Mittelmeer umfassen. Einer Volkszahl von 470 Mill. stehen 175 Mill. gegenüber." *) Über das systematische Wirke» der Dreiverbandspresse in der ganten Welt vor dem Kriege f. die interessanten Ausführungen Professor Schiemanns a.a.v. S. 255 ff-

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Oie Saat der Cambon, Delcaffs, Jswolskt und Genosse» in jahre­ langer, wunderbar organisierter Stimmungsmache ging auf1). Die Neutralität Belgiens mußte jur Täuschung der öffentlichen Meinung vorgeschoben werden, nachdem längst Frankreich von dem Eingreifen Englands unter Voraussetzungen, die den Krieg selbst bedeuteten, verständigt war. Der liberale Abgeordnete für Carltsle Mr. R. D. Denman hat im Sommer 1915 unter dem Titel „Auf dem Weg jum Frieden" eine Flugschrift veröffentlicht, die berechtigtes Aussehen erregt. Mr. Den­ man ist kein überspannter Pajifist oder Sozialist; er gehört als Sohn des Barons Denman der herrschenden Klasse an. Cr hat in eivem der vornehmsten Colleges von Oxford studiert; er war längere Zeit der Privatsekretär eines Ministers und nimmt in der Geschäftswelt eine hohe Stelle ein. „Wir blickten um uns", schreibt er, „und entdeckten die empor­ kommende kontinentale Macht. Wir schreiten sofort dazu weiter, in ihr einen Rivalen zu sehen, ihr zu mißtrauen und sie zu fürchten, und, praktische Geschäftsleute, wie wir sind, benutzen wir schließlich die erste gute Gelegenheit, um ihr eins auf den Kopf zu geben." England ist in diesen Krieg nur verwickelt, weil es glaubte, „nie wieder eine so gute Gelegenheit zu finden", um den deutschen Rivalen loszuwerden, und nichts erscheint dem Abgeordneten lächerlicher als die Behauptung, Eng*) Zur Charakteristik einiger tzauptbrahttieher im Vorspiel des Weltkrieges dienen folgende Notiien: Für Sasanow ist nichts charakteristischer als der tartarisch,zynische Ausruf, als ihm der Frevel gegen die deutsche Botschaft mit dem Mord des Hofrats Kattoer und die völlige Vernichtung all des Eigentums von neutraler Seite vorgestellt wurde: „Ils ont cass6 quelques vitres“: Räubermoral! Für korb Churchill mit seiner in Deutschland sprichwörtlichen-Unwahr, Hastigkeit ist die Einschätzung im eigenen Lande charakteristisch. „Daily Tel." untersuchte (1915) «ine Rede Churchills im Unierhause auf Glaubwürdigkeit. Hierbei kam das Blatt $tt folgendem Resultat: Churchill gab die Zahl der verloren gegangenen englischen Kauffahrer mit 63 an. Tatsächlich sind es aber 155! „Daily Tel." bemerkt dazu: „Churchill scheint unsere Verluste in diesem Kriege zu ver, kleinern, während er fle im Kriege gegen Napoleon vergrößert" — von dem er in feiner Rebe gesprochen hatte — „um zu beweisen, wie tief William Pitt unter ihm steht." Dieses Produkt maßloser Eitelkeit und Lügenhaftigkeit regierte lange daS wichtigste Reffort beS großen britischen Weltreichs. Außerordentlich treffende Charakteristiken von Delcaffö, Jswolski, König Eduard usw. flehe insbesondere in den Berichten der belgischen Gesandte» unten unter be­ sonderem Kapitel, über Sir Edward Greys Rolle s. unten, insbesondere daS iuter, effante Urteil Sir Roger Casemenls Kapitel 9.

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land sei Belgiens wegen in diesen Krieg gegangen. „Die Geschichte", sagt er, „wird wenig Sympathie mit der Selbstberäucherung haben, in die wir uns ob unseres Verhaltens gegen Belgien hüllen." „England gab Belgien einen Stein, als es um Brot bat, und nichts ist für den Ausländer schwerer zu verstehen, als Englands Enthusiasmus für kleine Nationen". Daß in Deutschland die Stimmung gegen England sehr bitter ist, erscheint Mr. Denman selbstverständlich; denn „es muß das Gefühl haben, daß es von einer Nation verraten worden ist, die Freundschaft heuchelte". Daß diese Freundschaft neben all den Ein­ kreisungsbemühungen geheuchelt wurde, zeigt die unten gebrachte eingehende Darstellung der Verhandlungen des Jahres 1912 und noch mehr die hochinteressanten Berichte der belgischen Gesandten in Berlin, Paris und London an ihre Regierungen (s. unten das beson­ dere Kapitel). VI.

Auch ohne daß uns die Herren Sasanow und Miljukow am 9. Februar 1915 in zynischer Weise den Zweck des ganzen von Rußland provozierten Weltkrieges, dem der serbische Fall gerade gelegen kam, verraten hätten, hätte man das Ziel gekannt: Zertrümmerung der österreichischen Monarchie durch Loslösung Galiziens, der Buko­ wina und der slawischen Teile im Südosten und die Eroberung Konstantinopels und der Meerengen. Cllbogenfreiheit, Sehnsucht nach Weltmacht, nach dem freien Meere quält den Koloß seit Dezennien. „Constantinople, c’est l’empire du monde.“ Die­ ses Wort des großen Napoleon war bas Leitmotiv zur Erhaltung einer schwachen, kranken Türkei! Diesem Worte entsprechend, hat der politische Instinkt aller am Mittelmeerbecken interessierten Völker es als eine Selbstverständlichkeit erkannt, daß keine der großen Welt­ mächte in den unumschränkten Besitz Konstantinopels und der das Mittelmeer vom Schwarzen Meer trennenden Meerengen gelangen dürfe. Selbst Weltmächte wie England und Frankreich haben diesen Grundsatz bis vor kurzem zu einem Tragpfeiler ihrer Politik gemacht und in allen früheren Krisen, die Konstantinopel betrafen, nach die­ sem Gesichtspunkte gehandelt. Unvergessen ist Benjamin Disraelts Wort über die Meerengen, die nicht eher als eine halbe Stunde nach dem Untergange^des britischen Weltreichs an Rußland fallen dürsten. England war es, das durch sein Einschreiten im Februar 1878 eine Besetzung Konstantinopels durch die Russen verhinderte und sich vom Müller,Melntngen, Entstehung -eS Weltkriegs.

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Sultan Zypern schenken ließ gegen die Verpflichtung, jeden witteren Angriff Rußlands in türkisches Gebiet mit Waffengewalt zu terhinderu (!)1).

l) Siehe die Ansicht des jetzlgen Ministers Marcel Sembat über die kriege, rische Politik des ftanzösischen Republik im Jahre 1913: Ende Juli 1915 hielt der Präsident der französischen Republik golncate anläßlich der Überführung der Überreste Rouget de l'Jsles im Jnvalidendrm «ine Red«, in der er u.a. «örtlich sagt: Jeder von uns, meine Herren, kan» in voller Sicherheit seine Erinnerungen auffrischen und fei» Gewissen befrag:«,. I» keinem Augenblick habe» wir versäumt, etwas zu sagen ober zu tun, was Kriegs, drohungen hätte zerstreue» können, wen» nicht ein wahnsinniger Aaschla; gegen deu europäischen Friede» seit langer Zeit von den unversöhnlichen Feinden ge, wollt und vorbereitet worben wär«. Wir sind die unschuldigen Opfer des brutal, sie« und mit größtem Geschick vorbereiteten Angriffs gewesen." Dies kann man mit einigen Variationen in allen französischen Zeitungm lesen. Alle, welche kaltblütig die Dinge zu beurteilen verstehen, wissen ganz geruu, baß es sich hier um «ine völlig grundlose Behauptung handelt. Marcel Sembat, heute Minister in Frankreich, der vor zwei Jahren ein in jeder Hinsicht intenssaates Buch, betitelt „Falles un roi, si non faites la paix“ („Macht einen Köniz, wenn ihr nicht den Frieden mächtig veröffentlicht hat, ist Zeuger Der eigentliche Zweck des Buches Sembats war, die Republikaner ,» war, ne», die de» Krieg früher ober später wollten, oder die für eine Politik ein treten, die notwendigerweise «inen Krieg herbeiführe» mußte, den bas republikanische Regime im allgemeinen und besonders das tu Frankreich herrschende zu führen nickt geeig, »et war. „Die Republikaner," schreibt er, „die eine kriegerische Politik verfolgen (es gab also nach Sembat solche).. .verkennen die ersten Bedingungen einer auf eine mili, tärische Aktion hinarbeitenden Politik, für die «ach meiner Ansicht die Repullik nicht paffend ist. .. .Hört ihr sie? Sie agitieren, si« führen sich auf wie Besessen:, rufen den Militärs zu r Söhne der Besiegte«, vergeht ihr die Toten? Zum Teufel l Wollen wir eS wieder machen wie nach Sedan? ... I« den Krieg ziehen unter Lerte» wie JuleS Favre, Poincar«, Barthou, Trochu, Gambetta, Clemenceau? Möchte man uns dazu noch einmal verurteilen? Wie könnt ihr eS wagen, ihr, die man nur zu gut kennt, ihr, die ihr im Frieden schon recht mittelmäßige Führer seid, euch als Führer im Krieg vorzuschlagen? Zieht euch zurück, ihr stinkt rach der Niederlage! (Retirez-vous, tous puez la dkaite.) Und doch steht uns da? bevor, wen» nicht mitten im Kampf infolge einer Revolution irgendein Badioxuet, eia Cäsar des Glücks oder ein improvisierter König aas Ruber kommt." Das ist der eigentliche Gegenstand des Buches, wie ihn Sembat in der Eia, leitung seines Buches bezeichnet; in den Hauptteilen des BucheS behandelter dann die „Bedingungen des Krieges" und die „Vorbedingungen des Frieden;". In dem ersten Teil sucht er »achzuwetseo, daß eS für eine Republik unmözlich ist, Krieg zu führen, wenigstens in dem Zustande, in dem sie sich heute in Frankreich befindet, und bei dieser Gelegenheit fällt er ein sehr strenges Urteil über die kttenden Persönlichkeiten der Republik, zu denen er heute selbst gehört.

35 Diese ganze alte kluge britische Politik fällt nun der Furcht und dem Haffe gegen Deutschland zum Opfer! Harakiripolitik, hier wie in Ostasien. Unfaßbar in ihrer Kurzsichtigkeit auf seiten Englands, erklärlich bei Frankreich, einem Volke, bei dem massenpathologlsche Erscheinungen gekränkter Eitelkeit, Herrschsucht und Rachsucht alles verständlich machen.

. In dem (»eiten Teil des Buches führt er zuerst die Gründe an, weshalb man weder auf seine Partei, die Sozialisten, noch auf die franzSstschen Pazifisten rechne» konnte, um den europäischen Frieden aufrechtzuerhalten, und behandelt dann eingehend die elsaß-lothringische Frage. Nebenbei zollt er den friedliche» Absichten des Deutschen Kaisers ein schönes Lob, das wörtlich zitiert zu «erden verdient: „Unterschätzen wir nicht daS kostbare Friedenselement des Kaisers. Wen« Kaiser Wilhelm anderer Gesinnung gewesen wäre, würben wir schock längst den Krieg gehabt haben, und seien wir gerecht: er hat schon gute Gelegenheiten »er# säumt, uns zu Boden zu werfen. Wenn er zur Zeit seiner Rede in Tanger, statt diese zu halten, uns den Krieg erkürt hätte, wo würden wir dann heute sein? Wir müssen diesen Faktor zu unseren Chancen rechnen." „Bis jetzt", sagt Sembat, „haben wir zwei einander widersprechende Dinge gewollt: auf der einen Seite den Frieden behaupten... auf der andern Seite haben wir «nS aber nie dazu verstanden, uns selbst einzugestehen, noch viel weniger, öffentlich zu erklären, daß wir den. Frankfurter Vertrag oder den territorialen Status quo anerkennen. ... Dieser Widerspruch zwischen unseren Wünschen gibt unserer äußeren Politik ewas Zweideutiges und Verlogenes. Wie kann man verlangen, daß die Deutschen unsere FriebenSverstcherungen ernsthaft nehmen, wenn die bekanntesten Revancheschreier sich als Friedensfreunde ausgeben? Sie (die Deutschen) schließen daraus, baß Frankreich die Revanche begehrt, und nur die Klugheit «ns daran hindert, eS ganz laut zu erlisten. Sie wittern uns im Hinter, halt, bereit, die günstige Gelegenheit zu nutzen, die uns den Sieg gestatten würde. Ich frage jeden ehrlichen Franzosen: Haben sie so unrecht? Könntet ihr mit gutem Gewissen versichern, daß sie unrecht haben? Wenn wirklich eine Gelegenheit sich böte — eine augenfällige, einzige —, die das geschwächte Deutschland «nS aus, lieferte und «ns sicheren Sieg verspräche, würden wir zögern, darüber herz«, fallen?..." Und weiterhin schreibt Sembat, indem er die Denkweise der Sozialisten über diesen Punkt behandelt: „Das Kriegsrecht kennen wir nicht. Aber es ist richtig ..., baß nach einer gewissen Zeit das brutale Faktum eine vollendete Tatsache wirb. Wir hassen den Stieg und wollen den Frieden: nun, ber* Friede hat nur einen Sinn, wenn man den Status quo, das Fait accompli anerkennt.... Und übrigens: seien wir gerecht! Wenn die Deutschen, um die Annexion Lothringens zu rechtfertigen, sagen: „DaS ist Kriegsrecht!" zucken wir die Achseln, denn dieses Kriegsrecht ist für uns die Negation deS Rechts, Trotzdem, es ist mehr als wahrscheinlich, baß, wenn Frank, reich im Jahre 1870 siegreich gewesen wäre, es seinen Sieg benutzt hätte, um das linke Rheinufer zu annektieren. Es hat also doch seine Richtigkeit mit dem, was die Deutschen sagen...."

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VII. Unsere Lage glich wirklich in den Augnsttagen 1914 der des großen Friedrich im Jahre 1756 auf ein Haar! Die russische Gier und Falschheit ist dieselbe wie vor 150 Jahren. Neben die ftanjösische Revanche--und Ruhmsucht ist die englische Macht„Die Elsaß,Lothringer", sagt Sembat weiter, „kennen nur mehr sich und richten nicht mehr ihre Blicke nach Frankreich", b.h. sie verlangen nur einSrdie Autonomie. „Und die Erwerbung dieser Autonomie", fragt Sembat, „wird die von «ns den Annektierten erleichtert durch unsere lärmenden Manifestationen, durch unsere Racheschwüre und prahlerischen Gesten? Laßt gut sein. Ihr «ißt recht wohl, daß das Gegenteil bewirkt wirb." Sembat sieht daher nur ein Mittel, um den Elsaß-Lothringern nützlich zu sein, daß Frankreich sich nämlich zu einer französisch-deutschen Annäherung, nötigen­ falls tu einem Bündnis entschließt, nachdem eS den vom Frankfurter Frieden geschaffenen Status quo anerkannt hat, den« bann würbe Deutschland sich von selbst entschließen, aus Elsaß-Lothringen „einen autonome» und freien Staat im Deutsche« Reich« zu machen wie Bayern oder bas Großherzogtum Baden". ES ist klar, fügt er hinzu, baß in diesem Fall das ruffische Bündnis seine Existenz­ berechtigung verlieren und viele Slaweofreunde trostlos sein würden, «eil sie nicht mehr auf die Unterstützung Frankreichs gegen die Deutschen rechnen können.... Aber Sembat würbe sich über den Verlust der slawenfreundlichen Sympathien leicht zu trösten wissen. „Ich habe nie", schreibt er wörtlich, „die Tagesschriftsteller bei «ns verstehen können, die uns durchaus die Rolle von natürlichen Verbündeten der Slawen ans, halsen wollen. Die europäische Zivilisation scheint mir bis jetzt Gemeingut der Franzosen, Deutschen, Engländer, Italiener zu sein, und der Triumph der Slawen, die Hegemonie Rußlands, dieses aufs Spiel zu setzen. So schön auch ihr künftiges Geschick sein mag, die heutigen Slawen sind keine Vertreter der Kultur. Wenn wir uns mit ihnen verbinden, um die Deutschen zu vernichten oder sie unter ihr Joch zu bringe», eia Schicksal, dem wir bann auch nicht lange mehr entgehen würden, hieße das der Welt das Schauspiel geben, wie Frankreich gegen die Zivtlisa, tion arbeitet." Und was die Engländer betrifft, so sind sie Sembat ebenso gleichgültig. „Wenn wir", sagt er, „einige City-Kaufleute in ihren Berechnungen irreführen, brauche» wir das nicht zu bereuen. Wir sind nicht genötigt, uns zu schlagen, um dadurch Leuten einen Gefallen zu tun, die selbst fest entschlossen sind, die gefähr­ lichsten Hiebe zu vermeiden." Die Schlußfolgerung, die Sembat aus all diesem zieht, ist die, daß sein« Lanböleute zu wählen haben. Entweder sie nahmen seinen Vorschlag an, und dann war der Friede möglich, und ein deutsch-französisches Einverständnis ließ sich ver, wirklichen, oder sie lehnten den Vorschlag ab, und dann bedeutete dieses Nein den Krieg. Und in diesem Falle gab er ihnen den Rat, so rasch wie möglich eine» König einzusetzen, um sich dadurch alle Chancen des Sieges zu sichern. So sprach Sembat im Jahre 1913: heute ist er einer der leitenden Männer Frankreichs und hat als einer der ärgsten Chauvinisten in der Mitte derer seinen Platz, die er früher bekämpfte.

37 sucht, der Neid gegen uns getreten1). Nicht die große friedliche Mehrheit der Völker Rußlands, Frankreichs und Englands haben diesen furcht­ baren Krieg gewollt und entfesselt. Nein, wir nehmen dieselbe Friedens­ liebe, die das deutsche Volk beseelte, gern bei den Völkern an. Kleine Cliquen machtlüsterner Streber und Demagogen, hinter ihnen macht­ volle Klüngel merkantiler und großindustrieller Interessenten und eine bejahlte Presse haben das Netz der Entente gesponnen und weiter ') Der Dizekönig voll Indien Lord Hardinge hat im November 1915 bei Schluß der Herbstsitzung des gesetzgebeabell Rats in SImla über die Lag« des Weltkrieges gesprochen. Die „Nordb. Allg. Ztg." gibt einen Auszug aus einem Bericht über diese Rede in indischen Zeitungen. Danach sagte Lord Hardinge u. a.: „Seit mehr als einem Jahr sind wir jetzt im Krieg; wir sind enttäuscht worden in unseren früheren Berechnungen, baß der Krieg kein Jahr dauern werde, und enttäuscht in unseren Hoffnnngen, daß Deutschland und Österreich in dieser Zeit durch die Wucht der gegnerischen Kräfte niedergeworfen sein werden. Gleichwohl aber ist es unbestreitbar, baß bas bisherige Ergebnis des Krieges eine «och viel ärgere Enttäuschung für den Feind ist...." Dazu bemerkt die „Nordd. Allg. Ztg": „Lord Hardinge, vor seiner im Jahre 1910 erfolgten Ernennung tum Vizekönig von Indien, Botschafter in St. Petersburg und während einer Reih« von Jahren ständiger UnterstaatSfekretär im englischen Auswärtigen Amt, war be­ kanntlich ein intimer Freund und Berater sowie der ständige Reisebegleiter König Eduards vil. und einer der Hauptförderer der englischen Eiakreisungspolitik. Die Verständigung von Reval mit ihren verhängnisvollen Konsequenten war in erster Linie auch sein Werk. Lord Hardinge hat den Wert der russischen Dampf­ walte überschätzt, und so wird er einmal in der Geschichte unter der Zahl der Per­ sönlichkeiten in England stehen, die mit der Blutschuld an diesem Kriege beladen sind und ihrem Lande den größten Schaben zugefügt haben. Er weiß sehr wohl, wie die Fäden gesponnen wurden, und kennt die Gedanken und Pläne, von denen die englische Politik und ihre Richtung gegen Deutschland bestimmt wurden. Da ist es besonders interessant, t« hören, wie dieser Eingeweihte von der Enttäuschung spricht, daß Deutschland und Österreich noch nicht durch die Wucht der gegnerischen Mächte niedergeworfen sind. Das Bekenntnis ist ihm entschlüpft, baß man damit gerechnet hat, daß der Krieg nur kurze Zeit dauern «erde. Das ist ein weiterer Beitrag zur Kennzeichnung der selbstsichere» Stimmung, womit die leitenden Männer Englands die Möglichkeit eines europäischen Konflikts betrachtet haben. Die Welt kennt das Wort des englischen Ministers der auswärtigen Angelegen, heilen, baß England nicht viel mehr leiden werde, wenn es am Krieg« teilnehme, alS wenn es abseits bleibe. Ohne allzu große eigene Opfer hoffte man, den deutsche» Konkurrenten mit Hilfe der mächtigen Koalition niederzuringen und daS kon­ tinentale Europa ln kurzer Frist in einer den britischen Interessen entsprechenden Weise geschwächt zu sehen. Die Äußerungen Lord HarbingeS stimmen zu dem Leichtsinn und dem kurzsichtigen Egoismus, mit dem die Londoner Regierung in de» schicksalsschweren Tagen 'beö vorigen JahreS das Gewicht England» in die Wagfchale des Krieges geworfen hat."

38 gewirkt, bis Rußlands Stellungnahme zu Österreich,Ungarn ia der serbischen Revolutionsftage die Entente vor die entscheidende 95e, lasiungsprobe stellte. Und ein Staat hätte ohne den andern die furcht, bare Verantwortung dieses Völkermordes nicht übernommen. Nur die gegenseitige Aufmunterung und Htlfezusage gab dem andern den Mut und den Ansporn zum Kriegsbegtnn. Ein Wort Englands hätte genügt, um die panrussischen Geister zu bannen und den ftav, zöstschen Revanchedurst zu zügeln. Eine solche Neuorientierung, wie sie der deutsche Reichskanzler noch unmittelbar vor Kriegsausbruch als erstrebenswertes Ziel seiner auswärtigen Politik andeutete, hätte die Welt vor unsäglichem Elend bewahrt. Es hat nicht sollen sein. Wie ein unabwendbares Fatum spitzte sich das Axiom von der Notwendigkeit des Kampfes um die Weltherrschaft zwischen England und Deutschland einerseits, Rußland und den Zentral, mächten andrerseits zu. Wertlos und irreführend ist dabei, zu untersuchen, ob England oder Rußland mehr Schuld an dem Ausbruch des Krieges tragen. Das Streben beider Mächte ließ schließ, ltch den Völkern den Krieg als eine Art von Naturnot, Wendigkeit erscheinen. Der Spruch: „Lieber ein Ende mit Schrecken als der Schrecken ohne Ende" wurde ein Axiom der Völker! Die Entladung des Explosivstoffes mußte um so furchtbarer wirken, je länger sie aufgeschoben wurde, je größer das Maß der Rüstungen wurde *) *)8). *) A. H. Fried präzisiert den paztfizisttschea Standpunkt dahin: „Oer Weltkrieg ist die logische Folge jenes Friedens, den wir befaßen. Seine letzte» Ursachen liege» daher nicht in den Absichten und Machenschaften einzelner Regierungen und Diplomaten, sondern in jenem Zustande der zwischen, staatlichen Anarchie, der diese Absichten und Machenschaften beeinflußte und der in einem gegebenen Augenblick jenen toten Punkt erreicht hatte, der durch Ex, ploflon der anarchische« Kräfte zur Entladung geführt hat. Wenn wir von dieser Erkenntnis aus die Geschichte der historischen elf Tage i»S Auge fassen, «erden wir zugeben müsse«, daß in diesem kurzen Zeitraum von der europäischen Diplomatie viel gesündigt wurde, daß bei einigem festen Wille«, ebenso wie in viele» andern und noch schwereren Konflikten der letzten Jahre, daS Blutbad auch diesmal hätte vermieden werden können, daß aber manche ihrer Handlungen, die ohne Eingehen auf die tieferen Beweggründe unverständlich, ja fast verbrecherisch erscheinen, wenigstens eine Erklärung finden. Di« europäische Diplomatie des Sommers 1914 wurde eben noch nicht geleitet von der Idee irgendeines europäischen Staatensystems." Rein theoretisch sehr richtig! Ich bezweifle, ob dieses „Staatensystem", bas ohne Kontrvlle, Aufsicht nicht

39 VIII.

In völliger Übereinstimmung mit den hier vertretenen Anschaumgien schreibt die deutsche Regierung in diesen Tagen (Januar iyr6)t«:m Thema: „Deutschland—Großserbien—Rußland": Lie Waffeastreckung Montenegros bringt die Rolle in Erinnerung, die dieser Feime Balkanstaat und seine Beherrscher in den Ereignissen der europäischen möglich ist:, jemals menschlichem Geiste gelingen wird, und wenn es gelingt, ob es «ich« neue Machtbegriffe «ad damit neuen Streit und neue — Kriegsmöglich, keilen Heisst. Fried ist eben der Meinung, daß Kriege ganz vermieden werden können. Diese Auffassung widerspricht m. E. der menschlichen Natur. ») Umter der Aufschrift: „Wer war kriegslustig: Deutschland oder England ?" führte die „Köln. Ztg." (Sommer 1915) aus: „Vom 1871 bis 1914 hat Deutschland nie im Kriege gelegen. Etwas ga»j anderes halben die Engländer geleistet, die bekanntlich am meisten über unseren „Militarismus" jetern. Sie haben von 1838 bis i«m Jahrhundertende, besonders aber in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, nicht weniger als vierzig Kriege geführt. Es sind folgende: der Krimkrieg gegen Rußland (1854), drei Kriege gegen Afghanistan (1838,1840,1870), vier Kriege gegen China (1841,1848,1856,1860), zwei Krieg e gegen die Stkles (Sikhs) (1845, 1848), drei Kriege gegen die Kaffera (i845z 1852,1877), drei Kriege gegen Birma (1850,1852,1885), neun Kriege gegen Indien (1875, 1860, 1863, 1864, 1868, 1869, 1890, 1895, 1897), drei Kriege gegen die Aschantis (1864,1873,1896), Krieg gegen Abessinien (1852), Krieg gegen Sanfibar (1890), gegen Matabele (1894), drei Kriege im Sudan (1894,1896,1899), zwei Krieg« gegen die Buren (1881, 1899). Das sind nun ja meist keine großen Kriege gewesen, aber im ganzen waren sie sehr erfolgreich; so hat England sein Kolonialreich nach und nach zusammen, geräubert. Sehr bemerkenswert ist aber, daß mit dem Schluß des 19. Jahrhunderts die britischen Kriege ein Ende nehmen. Wie kam das? Seit dieser Frist begann England sich auf den Krieg mit Deutschland vorzubereiten, und vorläufig kümmerte es sich deshalb um „Kleinigkeiten" nicht mehr. Es begann die Politik der „En, tenten" und die der „Einkreisung". Zunächst warf England sein Augenmerk auf Frankreich und dann auf Rußland und andere Staaten." Der bekannteste konservative Publizist Englands, I. £. Garvin, hat eben im „Observer" ganz offen ausgesprochen, jeder Friede, der Deutschland die Möglich, keit einer Erholung ließe, wäre nach seiner Ansicht für England „ein tiefer und verhängnisvoller Fehlschlag". ES «erbe niemals mehr „unter so günstigen Be, dingungen wie heute kämpfen". „Zwischen England und Deutschland sei es ein Vernichtungskrieg, wie zwischen Karthago und Rom, und England müsse seinen ersten punischen Krieg gleich so gewinnen, daß keine wetteren mehr folgen können, baS sei seine einzige Chance". *) Die Phrase des Schutzes der Kleinen durch England behandelte der Reichskanzler in seiner Rede vom 19. August 1915 wie folgt: „...Ob die kleineren Völker wohl jetzt noch glauben, daß England und sein« Alliierten den Krieg führen zum Schutze eben der kleinen Völker, zum Schutze von Freiheit und Zivilisation?!

4o Politik gespielt haben, die in ihren letzten Konsequenten (um gegenwärtigen Kriege führten. Bekanntlich war es der „eintige Freund" Alexanders IIL, der Im Jiahr« 1912 den Balkankrieg eröffnete. Es ist noch nicht authentisch festgestellt, ob daS Vorgehen König Nikilas damals eigener Initiative entsprang, oder ob sei» Worgehen ein vereinbarter Schachjug der Dalkaoverschwörer gewesen ist. Im Frühjahr 1912 hatten Bulgarien und Serbien einen geheimen Bündnisvertrag geschlossen, der die Interessensphären der beide« Staate» in Mazedonien für den Fall eines Den neutralen Handel auf See schnürt England ein, so viel es kann. War« auS Deutschland und für Deutschland darf, auch wenn eS keine Bannware ist, auf neutralen Schiffen nicht mehr verfrachtet werden. England duldet es wicht. Neutrale Schiffe werden getwungen, auf hoher See englische Mannschaftem an Bord tu nehmen und ihren Befehlen t« folgen. England besetzt kurjerhand grie­ chische Inseln, «eil ihm daS für feine militärischen Operationen bequem ist. Mit seinen Alliierten will es jetzt das neutrale Griechenland zu Gebietsabtretungen pressen, um Bulgarien auf seine Seite t« ziehen. In Polen verwüstet das mit seinen Alliierten für die Freiheit der Völker kämpfende Rußland vor dem Rücktug seiner Armee bas gant« Land. Dörfer «erden niedergebrannt, Getreidefelder niedergetrampelt, die Bevölkerung ganjer Städte und Ortschaften, Juden und Christen, werben in unbewohnte Gegenden verschickt, verschmachten in dem Sumpfe russischer Straßen oder in plombierten fensterlosen Güterwagen. So, meine Herren, sieht die Freiheit und Zivilisation aus, für die unsere Gegner kämpfen gegen die Barbarei Deutschlands l Bei seiner Beteuerung, der Beschützer der kleineren Staaten t« sein, rechnet England doch mit einem sehr schlechten Gedächtnis der Welt. Man braucht nur um wenig mehr als ein Jahrjehnt zurückzugehen, um Beispiele genug für den wahren Sinn dieser Protektorenrolle zu finden. Im Frühjahr 1902 werden die beiden Durearepublike» England einverleibt. Dann richten sich die Blicke auf Ägypten. Ägypten war ja schon längst tatsächlich ln englischer Gewalt. Aber der formellen Einverleibung stand daS feierliche Versprechen Englands entgegen, daS Land wieder räumen ju «ollen. Und dasselbe England, das mir auf das Angebot, ihm die Integrität Belgiens t» gewährleisten, wenn es in diesem Kriege neutral bleiben wolle, so stolj erwiderte, England könne seine Verpflichtungen betüglich der belgischen Neutralität nicht jum Gegenstand eines Handels machen, — dieses selbe England trug keine Bedenken, seine gegenüber ganz Europa eingegangene feierliche Verpflichtung an Frankreich j» verhandeln, als es im Jahre 1904 den bekannten Vertrag schloß, der England Ägypten, Frankreich Marokko sicherstellen sollte. Im Jahre 1907 kommt Asien an die Reihe. Der südliche Teil von Persien wird durch das Abkommen mit Rußland umgewandelt in eine englische Inter­ essensphäre, der Norden wird dem freiheitlichen Regiment von russische» Kosaken überliefert. Dieses Abkommen läßt erkennen, wie England bereits seine Arme nach Tibet ausstreckt. Wer eine solche Politik treibt und getrieben hat, der hat nicht das Recht, einem Lande, daS 44 Jahre lang den europäischen Frieden beschützt hat, das während einer Zeit, wo fast alle fremden Mächte Kriege geführt und Länder erobert haben, nur seiner friedlichen Entwicklung gelebt hat, der Kriegswut, des Barbarismus und der Ländergier zu zeihen. DaS ist Heuchelei!"

Krieges gegen die Türkei abgrenjte.

Der Vertrag wurde mit Wissen und Billigung

der russsishen Regierung abgeschlossen, in dem Vertrage dem russische« Jaren daS Amt «ins Schiedsrichters »»gewiesen.

Die franjösische und die englische Re-

gierunig ehielten von dem Vertrage Kenatuis, vor Deutschland und vor ÖsterreichUngar:» vurde er be»etchaeaderweise sorgfältig geheimgehalten, ohne ihnen darum verborser »u bleiben. Spätere Vereinbarungen mit Griechenland und Montenegro vervolllstLidigten den Balkaabuod, der die schwierige Lag«, in der sich die Türkei infolge ilres Krieges mit Italien befand, iut Verwirklichung seiner Eroberungs­ pläne rbemtzte. Der Ausgang des Balkaakrieges, der Serbien den Haoptanteil an der Beut: tuwies, hatte die Folge, de» großserbische» Aspirationen neue Nahrung »u»ufüHrm. Die Verwirklichung des großserbischea Gedankens, der die BUdung eines

eirheitltchen serbische« Staatswesens erstrebte, das auch die GebietSlelle

der öffernichisch-ungarischen Monarchie mit serbischen Bevölkerungselementen um­ fassen solle, standen als Hindernis die konkurrierenden Bestrebungen der beiden Dynastie» in Belgrad und Cetinje entgegen, die, obgleich durch nahe verwandtschaftliiche Bande miteinander verknüpft, sich mit Mißtraue« und Mißgunst be­ trachteter. «Es ist eine bisher in der Öffentlichkeit noch nicht bekannt gewordene Tat­ sache, Daß kur» vor Ausbruch des gegenwärtigen Krieges Serbien und Montenegro sich bemtht haben, unter der Vermittlung und mit Unterstützung der russischen Regierung die bestehenden Gegensätze auSjugleichen. Geheime Verhandlungen über eiam engen Zusammenschluß der beiden Staaten auf diplomatischem, «irtschastliichem und militärischem Gebiet waren eingeleitet worden, während die russi­ sche Regtrrung sich erbot, für die Organisation der Wehrmacht Montenegros, di« beträchtlich erhöht werden sollte, die nötigen Mittel und Instruktoren »ur Ver­ fügung »u stellen. Mrß schon der Ausbruch des Balkankrieges auf die Ermutigung »urückgeführi »erden, di« der Balkanbund von seiten Rußlands gefunden hatte, so ist eS klar, daß in der geplanten Derschmeltuog Serbiens und Montenegros unter dem Protektorat Rußlands mit seiner Spitze gegen die Integrität der österreichischungarischen Monarchie eine eminente Gefahr für de» europäischen Frieden «nt, halten war. Die Ereignisse des Frühjahrs 1914 haben diesen Plan »war nicht reifen lassen, die geschilderte» Vorgänge aber »eigen, daß, wenn der aggressive russische Panslawismus nicht schon jetzt de» Krieg entfesselt hatte, die verhängnis­ volle Tätigkeit der russischen Diplomatie auf dem Balkan den Krieg unabwendbar in wenigen Jahren herbeigeführt haben würde. Wir haben geglaubt, diese Tatsache einmal feststelle» »u sollen, weil der Träger dieser gefährliche« Politik der gegenwärtige russische Minister des Äußern, Herr Sasonow, gewesen ist, der sich vor einiger Zeit dem Vertreter eines englischen Blattes gegenüber in maßlosen Angriffen gegen Deutschland ergangen und sich dazu verstiegen hat, einen Kreuzzug den christlichen Nationen gegen die antichristltche», kulturfeindlichen deutschen Barbaren »u predigen, die seit Jahren auf den Krieg hingearbeitet hätten. Herr Sasonow weiß und hat es selbst wiederholt anerkannt, daß Deutschland während 44 Jahren in Europa der Hort des Friedens gewesen, und daß mehr als einmal die Erhaltung des europäische» Friedens seiner maßvollen Haltung und seinem Eingreifen ;u verdanken gewesen ist.

Um aber im rusflschen Volke

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Stimmung tu machen und diese Stimmung «ach |u erhalten, war es von Beginn des Krieges an notwendig, die Dolksleidenschaften durch Verbreitung der MLr aufzupeitschen, baß Deutschland schon lange den Plan hatte, über das ahnungslose Rußland herzufallen, und die Vorbereitungen zu diesem Überfall schon seit Jahre« betrieb. Dieser Fabel gegenüber möchten wir einmal an das Gedächtnis des Herrn Sasaoow appellieren. Wenige kennen die Geschichte der deutsch-russischen Be, ziehungen der letzten zehn Jahre so gut wie er. Er weiß, welche freundliche Haltung Deutschland während des japanischen Krieges Rußland gegenüber beobachtet und welche Dienste Kaiser Wllhelm dem Zaren geleistet hat, als es für Rußland galt, mit Ehren ans dem Mandschureiabenteuer, «elches dem Land« ungeheure Opfer an Menschenleben und Geld gekostet hatte, herauszukommen. Aus den Akten seines Ministeriums muß Herrn Sasonow bekannt sein, daß Deutschland nach dem Frieden von Portsmouth den Augenblick für gekommen hielt, in seine» seit dem russisch,türkischen Kriege und dem Berliner Kongreß getrübten Beziehungen zu Rußland eine neue Seite aufzuschlagen und diese Beziehungen auf die Basis aufrichtiger gegenseitiger Freundschaft zu stellen. Don Rußland hing es ab, die ihm entgegengestreckte Frenndeshaod zu ergreifen. Daß Rußland in diese Hand nicht einschlug, daß es vielmehr vorzog, eine Annäherung an England zu vollziehen und auf diese Weise dem feindlichen Ring, den diese Macht um Deutschland zu schließen bemüht war, eia neues Glied hinzuzufügen, ist bekannt. !Der Anschluß an England aber war es, der die russische Politik auf die abschüssig« Bahn brachte, auf welcher sie eine immer zunehmende Gefahr für den europäischen Frieden «erben mußte. Untersucht man die Frage, warum Rußland eS abgelehnt hat, in seiner auswärtigen Politik einen Weg zu beschretten, der ihm die Möglichkeit gewährt hätte, geschützt vor auswärtigen Gefahren, die begonnenen innere» Reformen ungestört auszubauen, so erkennt man bald, daß es zum großen Teil innerpolitische Einflüsse waren, welche den Entschluß, sich der gegen Deutschland gerichtete» engll, scheu Politik anzuschließen, herbeigeführt haben. Die von alters her deutschfeind, liche nationalistische Richtung gelangte in Rußland nach dem japanische« Krirge und nach der Revolution zu immer größerer Macht. Die Regierung glaubte, in der Unterstützung dieser Richtung ela Mittel gefunden zu haben, um die revolutio, när« Propaganda zu bekämpfen. Eie ließ es daher geschehe», daß die ungeheuer, ltchsten Lügen über die Haltung Deutschlands während des japanischen Krieges und der Revolution in Umlauf gesetzt wurden «ab im russischen Volke Wurzel faßten. Auf diese Lügen ist z. B. auch die in liberalen russischen Kreisen verbreitete Ansicht zurückzuführen, Kaiser Wilhelm habe während und nach der Revolution alles getan, um die Reaktion in Rußland zu stützen und den Zaren von der Gewährung einer Verfassung abzuhalten. Wer Kenntnis von den tatsächlichen Vorgängen jener Zeit hat, weiß, wie weit solche Behauptungen von der Wahrheit entfernt sind, da «S in Wirklichkeit gerade Kaiser Wilhelm gewesen ist, der den Zaren auf die Gefahren hingewiesen hat, die seiner Dynastie drohten, wenn er sich dauernd den Wünschen seines Volkes nach Einführung einer parlamentarische» Vertretung widersetzte. ES würbe hier zu weit führen, näher auf die Einzelheiten der Politik der Tripleentente während der darauf folgenden Jahre einzugehen. Daß England es

43 mit allen Mitteln darauf absah, Rußland mit den Zentralmächten |u verfeinden, »eigte sich schon an der Haltung, welche die englische Politik «ährend der bosnischen Krisis einnahm. Der englische Vertreter in St. Petersburg, Sir A. Nicolson, einer der Hauptförderer der englisch-russischen Entente, scheute sich im Frühjahr 1909 nicht, offen seiner Enttäuschung darüber Ausdruck zu geben, daß der «egen der Annexion Bosniens und der Herzegowina ausgebrochene Konflikt auf friedlichem Wege bei­ gelegt wurde.

Schon damals aber verlangte die russische Regierung io London

die Gewißheit, daß «in Krieg Rußlands mit den Zentralmächtea England auf seine Seite führen werde. Die Politik Sir E. Greys in der bosnischen Krise bildet neben seiner Haltung in der Marokkofrage im Jahre 1911 die bedeutsamste Etappe auf dem Wege t«m Weltkriege. Im ersten Falle fand der russische Panslawismus, im iweiten der französische Chauvinismus die Ermutigung, deren sie bedurften, um im Frühjahr 1914 im Vertrauen auf die Unterstützung Englands die Kriegsfackel zu entzünden. Vergebens hat Seine Majestät der Kaiser in treuer Freundschaft sich bemüht, den Zaren von dem verhängnisvollen Schritt abzuhalten, der Deutsch­ land zwang, sich an die Seite seines Verbündeten zu stellen.

Kaiser Nikolaus

schlug auch diesmal die Warnungen seines Kaiserlichen Freuades in den Wind. So brach die auf die Tradition eines Jahrhunderts gegründete deutsch-russische Freundschaft zusammen.

Der Zusammenbruch Serbiens und Montenegros aber

besiegelt das Schicksal der Politik, der sie zum Opfer fielen. („Nordd. Allg. Ztg." vom 2z. Januar 1916.)

Nach dem Eintritt Bulgariens in den Weltkrieg (Mitte Oktober 1915), durch seinen Anschluß an die Zentralmächte wurde die Balkan­ frage im größten Stile neuerdings zur Entscheidung gebracht. Das Versagen Griechenlands und Rumäniens waren neue Schläge für den Merverbaad, dessen Diplomatie auch mit dem raffiniertesten Derleumdungs- und Verhetzungssystem den Tate» der Armeen der Zenttalmächte gegenüber nicht mehr gleichen Schritt halten konnte. Der Untergang des von Rußland angestifteten europäischen Stören­ frieds Serbien stand vor der Tür. Der Präsident der türkischen Kammer, Halil Bey, hat Anfang Oktober 1915 in der Kammer trefflich den Kernpunkt der ganzen Situation und ihre welthistorische Bedeutung mit folgenden Worten herausgeschält. Er sagte u.a. von dem Bündnis des „neuen Dreibundes": „Das Bündnis Betrifft Verpflichtungen für eine lange Zukunft und verbindet durch aufrichtige, unveränderliche Freundschaft drei große Armeen und drei große Nationen ..." Dann fuhr er fort: „... Unser Nachbar Bulgarien eröffnet in der Geschichte ein neues und sehr wichtiges Kapitel. Es ist außer Zweifel- daß es ebenso günstig sein wird wie unseres. Das wichtigste Ergebnis dieses Krieges ist, daß von der Nordsee bis zum Indischen Ozean eine mächtige Gruppe geschaffen sein wird, die sich ewig gegen

44 den englischen Eigennutz halten wird, der die Ursache des Verlustes von Millionen Menschenleben und Milliarden VermSgen ist, die sich weiter richtet gegen den russischen Ehrgeiz, die franjösische Revanche und den italienischen Verrat." IX.

Es soll hier ausdrücklich nicht die Anschauung vertreten werben, als wenn der ganze Weltkrieg nur das Produkt der Hetze einiger Dutzend mehr oder minder einflußreicher Diplomaten oder Politiker gewesen wäre. So spielen sich solche große Dölker-Elementarereignisse in der Geschichte nicht ab. Große und zahlreiche wirtschaftliche, soziale und sonstige politische Momente haben seit vielen Dezennien zusammengewirkt, um den Ausbruch des Weltkrieges wie ein großes Naturereignis erscheinen zu lassen. Auch der Verfasser dieser Zeilen ist sich der ganzen ethno­ logischen Entwicklung im Osten, der merkantilen und industriellen vor allem im Westen wohl bewußt, um nicht zu einer so äußerlichen An­ schauung der Dinge zu gelangen. Aber wahr bleibt, daß der schlechte Wille, das Raffinement, das verbrecherische demagogische Treiben einzelner, insbesondere der nationalistischen englischen, französi­ schen und russischen Presse, den Krieg und seinen Ausbruch beschleu­ nigte, ihn schließlich in den Augen der Völker zu einem unabwend­ baren machte und seinen Bereich so furchtbar ausdehnte. Dazu noch das verbitternde Streben, den andern, mit furchtbarer Übermacht An­ gegriffenen als den Schuldigen hinzustellen, um ihn dem Hasse zweifel­ hafter Neutraler und unklarer Köpfe zu überliefern. Nicht der viel­ gescholtene Kapitalismus, der in seinen Hauptvertretern, den Bankiers, krampfhafte Anstrengungen machte, ihn zu verhindern, sondern die durch raffinierte jahrzehntelange Hetzarbeit aufgepeitschte nationale Leidenschaft fegte jeden Widerstand im letzten Moment weg. All das bestätigen die wahrhaft objektiven Berichte der belgischen Gesandten in Berlin, London und Paris in den Jahren 1905—1914 in geradezu klassischer Weise (s. unten das besondere Kapitel). Endlich als Folge dieser skrupellosen jahrzehntelangen Hetze der größte Treubruch der Weltgeschichte, der in keinerlei ethnologischen Gründen, seine Entschuldigung findet. Der Mordavgriff des eigenen Bundesgenossen von gestern unter der zynischen Behauptung der Notwehr — vor dem eigenen Freunde, dem er in der Vergangen­ heit Freiheit und Größe zu verdanken hatte! Italiens Stretch steht isoliert von dem Vorgehen der andern Mächte in seiner ganzen Er-

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bärmlitchkelt da! Jene hatten Verträge einzulösen, große Weltgeschichte liche Probleme nach ihrer Ansicht im Gegensatze zu Deutschlands Politik zu lösen. Bei Italien fallen alle diese Gründe weg: es ist Brigarntenpolitik, wie sie die Welt nimmermehr sah! Um so niedriger, als auch sie mit idealen Phrasen jongliert, zynisch sogar auf Notwehr plädiert: Notwehr gegen das Angebot ganzer Provinzen und ungeheurer politischer Konzessionen seitens des Bundesgenossen von gestern, den man wie ein Strauchdieb angefallen hat! Oie engltsche„cholerische, dickleibige alte Spinne" (nach Washington Irving), „die, in ihrer kleinen Wohnung hockend, ihre Gewebe über die gamze Kammer erstreckt, so daß keine Wege summen, kein Lüftchen sich regen darf, ohne ihre Ruhe zu stören und sie zornig aus ihrem Schlupftvinkel herauszunötigen", hatte geschickt verstanden, Frankreichs Eitelkeit und Italiens Treulosigkeit, Rußlands Machtgier und Belgiens Kurzsichtigkeit für ihre Zwecke auszunutzen. „2(R der Wahl zwischen der Erhaltung der Entente und Erhaltung des Weltfriedens haben die leitenden britischen und ftanzösischen StaatsMänner, durch langjähriges eigenes Tun und Reden innerlich unstet und befangen, unter dem Druck der kriegslüsternen Cliquen den Weltftiedew der Entente geopfert und den überragenden Teil der öffentlichen Meinmng ihrer Länder durch die Berufung auf die Heiligkeit der geschrieb-enen und ungeschriebenen Verträge mit sich fortgerissen. Diese Verflechtung von Schuld und Verhängnis im einzelnen klarzujstellen und darzulegen, wird dereinst die große Aufgabe der Geschichtschreiber unserer Zeit sein", sagt Helfferich a. a. O. Oer Verfasser sieht seine Arbeit belohnt, wenn es ihm gelingt, mit ih« ein kleines zu dieser Klarstellung beizutragen *). *)) Im Jahre 1911 ist in Paris im Verlag der „Guerre Sociale", Rue St. Joseph 8, eine damals in der frantösischen Presse wohl absichtlich fast gan; totgesch wiegene Schrift: „La guerre qui vient“ von Francois Delaisie erschienen. Der Jurhalt der Schrift war durchaus geeignet, größtes Aufsehen i» erregen. Die KriegSlmst Englands, die t»m Kriege trieb und Frankreich mit in den Krieg Hinein­ riß, die Friedensliebe Deutschlands und die bedrohte belgische Neutralität — alles das w. h. den Briefverkehr zwischen dem französischen Botschafter, insbesondere M. Jules Cambon (Berlin), mit dem Minister des Auswärtigen, beginnend am 17. März 1913, sowie des französischen Militärattaches und des französischen Marineattaches mit ihren Chefs. Diese Be­ richte sind über die deutsche Militärvorlage von 1913 erstattet, ferner Anlagen dazu über But et devoirs de notre politique nationale, de notre armee et de nos Organes speciaux au Service de l’armee (s.

Nr. 2 annexe II, S. 10 des Gelbbuchs). Die Berichte der französischen Vertreter, auch des Münchner Ge­ sandten, zeigen alle die Furcht vor der deutschen Rüstung, obwohl (s. Nr. 4) der letztere einen Ausspruch des bayrischen Prinzregenten ihm gegenüber melden muß: „Le sort des armes est toujours incertain; tonte guerre est ime aventure et bien fou est celui qui la cour se croyant assurd de la victoire.“

Interessant ist eine Note eines Unbekannten an den Minister Stsphen Pichon über die öffentliche Meinung in Deutschland d’apres les rapports des agents diplomatiques et consulaires vom 30. Juli 1913 (f. dort Nr. 5 S. 14—19; s. bez. der Kritik des Wertes dieses Stückes Nr. 5 bei Bergsträßer a. a. O. S. 516 Anm. das Nähere, ins­ besondere über die Anlage zu Nr. 2, „rapport officiel et secret sur le renforcement de l'armie allemande“ und den Nachweis, baß es sich um unverantwortliche Geschichten privater Alldeutschen handelt), der mit den bezeichnenden Worten schließt: Les esprits s’habituent ainsi ä considerer la prochaine guerre comme un duel entre la France et PAllemagne1). l) 3u diesem Aktenstück 5 führt die „Nordd. Allg. Ztg." vomJanuar 1-15 folgendes aus: Bezeichnend für die Art, wie das franzSstsche Gelbbuch zusammengestellt wurde, ist folgende Stelle in dem unter Nr. 5 abgedruckten Schriftstück vom 30. Juli 1913; einem Auszug aus Berichten diplomatischer und konsularischer Agenten in Deutschland, der neben den andern dunklen Dokumenten des ersten Kapitels einen weiteren Beweis für den Kriegswillen Deutschlands liefern soll. Es heißt dort im 5. Absatz: „Wenn über den Kaiser diskutiert wird, wenn der Kanzler unpopulär ist, so war Herr v. Kiderlen «ährend des letzten Winters der bestgehaßte Mann in Deutsch­ land. Indessen fängt er an, weniger unbeliebt zu sein, den» er läßt hSren, daß er seine Rache nehmen wird." Wie wir alle wissen, ist der in Deutschland allseitig verehrte Staatssekretär v. Kiderlen-Waechter leider schon im Dezember 1912 gestorben, der nachträgliche Fabrikant der Note vom 30. Juli 1913, der Herrn v. Kiderlen noch 6 Monate nach

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über den Bericht Cambons vom 6. Mai 1913 und seine Tendenz s. Dergsträßer a. a. O. S. 517 Anm. Das 1. Kapitel schließt an den Bericht von Jules Cambon an Pichon vom 22. November 1913 (s. Nr. 6), der so charakteristisch ist für die ganze französische Stimmung und Stimmungsmrche, daß wir ihn hier in der Anlage abdrucken') (s. Nr.6 S. 20 des Gelbbuchs): M. Jules Cambou, französischer Gesandter in Berlin, an M. Sttphen Pichon, Ministre des Affaires itrangires. Berlin, le 22 novembre 1913. Je tiens d’une source absolument stire la relation d’une ccnversation que l'Empereur aurait eue avec le Roi des Beiges, en presence du Chef d’ßtatMajor G4n6ral de Moltke, il y a une quinzaine de jours, ccnversation qui aurait, parait-il, vivement frapp6 le Roi Albert; je ne suis nullement surpris de son Impression, qui repond a celle que moi-meme je ressens depuis quelque temps: l’hostilitt contre nous s’accentue et l’Empereur a cess6 d’etre partisan de la paix.

seinem Tode erklären läßt, baß er sich mit RacheplLnen gegen Frankreich beschäftige, hat daher etwas oberflächlich gearbeitet. Die französische Regierung hätte, wenn sie für die Zusammenstellung der Deutschland betreffenden Dokumente im Gelb, buch schon niemand finden konnte, der über die inneren deutschen Stimmungen und Verhältnisse der früheren Jahre wirklich Bescheid wußte, damit wenigstens solche Leute beauftragen sollen, die ein Konversationslexikon zu benutzen verstehen. *) Die „Rordd. Allg. Ztg." vom 2. Dezember 1914 schreibt hierzu folgendes amtlich: 1. In dem Berichte des Botschafters Jules Cambon vom 6. Mai 1913 ist eine Äußerung des Generalobersten v. Moltke wiedergegeben, in der der Gedanke enthalten ist, man solle alle Gewissensbedenken beiseite lassen und angreifen, wenn der Krieg voraussichtlich notwendig erscheine; Generaloberst v. Moltke hat niemals derartige Äußerungen getan. Alles, «aS Herr Cambon davon zu berichten weiß, ist von seinem Gewährsmann erfunden. 2. Ungefähr ebenso verhält es sich mit dem Cambonschen Bericht vom 22. November 1913, in dem eine Unterhaltung wiedergegeben wird, di« von Seiner Majestät dem Kaiser, dem König von Belgien und dem Generalobersten v. Moltke geführt worden sein soll. In diesem Gespräch soll Generaloberst v. M«ltke die Notwendigkeit und Unvermeidlichkeit eines Krieges mit Frankreich betont haben, und aus den Äußerungen Seiner Majestät des Kaisers soll sich ergeben, deß bieser seinen früheren Friedensstandpunkt schon 1913 aufgehoben hatte. Nach unseren Ermittlungen hat keine Unterredung zu dreien, sondern nur «ine solch« unter vier Augen zwischen dem König von Belgien und dem General, obersten v. Moltke stattgefunden. Dabei hat Herr v. Moltke lediglich seimr über, zeugung Ausdruck gegeben, baß sich das deutsche Heer, wenn es einmal p einem Zusammenstoß kommen sollte, dem französischen an Ausbildung und innerem Wert überlegen zeigen werd«; die ihm von Herrn Cambon in den Mund gelegten Worte, er halte einen solchen Krieg für notwendig und unvermeidlich, und wir müßten jetzt ein Ende machen (cette fois, il saut en finir), hat Gencaloberst v. Moltke nie gebraucht.

59 Ltnterlocuteur de l’Empereur d’AIlemagne pensait jusqu’ici, comme tout le monde, que Guillaume II, dont Vinfluence personnelle s’etait exercäe dans bltn des circonstances critiques au prosit du maintien de la paix, ätait toujomn dans les meines dispositions d’esprit. Cette fois, il l’aurait trouve completeaneit changä: l’Empereur d’AIlemagne n’est plus ä ses yeux le Champion de la pax contre les tendances belliqueuses de certains partis allemands. Guillaunue H en est venu ä penser que la guerre avec la France est inävitable et qu’il fatdra en venir \ä un jour ou l’autre. II croit naturellement ä la supäriorite äcrasane de Farmte allemande et ä son succes certain. Lt Gänäral de Moltke parla exactement comme son souverain. 'Lui aussi, il däclara la guerre necaissaire et inävitable, mais il se montra plus assurä encore (u succös, «car, dit-il au Roi, cette fois, il saut en stnir, et Votre Majeste ne pcut se douter de l’enthousiasme irresistible qui, ce jour-lä, entrainera le peuple illemand tout entier». Lt Roi des Beiges protesta que c'Ltait travestir les intentions du Gou­ vernement frangais que les traduire de la Sorte et se laisser abuser sur les Senti­ ments ce la nation frangaise par les manifestations de quelques esprits exalt6s ou d’umgants sans conscience. L’Empereur et son Chef d’ ßtat-Major n’en persisterent pas moins dans leur maiiere de voir. Ai cours de cette conversation l’Empereur ätait, du reste, apparu surmenc et irritable. A mesure que les annäes s’appesantissent sur Guillaume II, les tradiions familiales, les sentiments rätrogrades de la Cour, et sourtout l’impatience des militaires prennent plus d’empire sur son esprit. Peut-etre eprouvet-il on re sait quelle Jalousie de la popularitä acquise par son fils, qui statte les passions des pangermanistes et ne trouve pas la Situation de V Empire dans le monde egale ä sa puissance. Peut-ätre aussi la räpublique de la France ä la demiere augmentation de l’armäe allemande, dont l’objet ätait d’etablir sans conteste la supärioritä germanique, est-elle pour quelque chose dans ces amertumes, car, quoi qu’on dise, on sent qu’on ne peut guere aller plus loin. On peut se demander ce qu’il y a au fond de cette conversation. L’Em­ pereur et son Chef d’ ßtat-Major Gänäral ont pu avoir pour objectif d’impressionner le Roi des Beiges et de le disposer L ne point opposer de räsistance au cas ou un conflit avec nous se produirait. Peut-etre aussi voudrait-on la Belgique moins hostile ä certaines ambitions qui se manifestent ici ä propos du Congo beige, mais cette demiäre hypoth&se ne me parait pas concorder avec Inter­ vention du Gänäral de Moltke. Au reste, l’Empereur Guillaume est moins maitre de ces impatiences qu’on ne le croit communäment. Je l’ai vu plus d’une fois laisser ächapper le fond de sa pensäe. Quel qu’ait M son objectif dans la conversation qui m’a £t£ rapportäe, la constdence n’en a pas moins le caractäre le plus grave. Elle correspond ä la präcaritä de la Situation genärale et ä l’ätat d’une certaine partie de l’opinion en France et en Allemagne. S’il m’ätait permis de conclure, je dirais qu’il est bon et tenir compte de ce fait nouveau que l’Empereur sc familiarise avec un ordre d’idäes qui lui räpugnait autrefois, et que, pour lui emprunter une locution qu’il aime ä employer, nous devons tenir notre poudre säche.

6o Das 2. Kapitel des französischen Gelbbuchs ist überschrieben und enthält, ebenso willkürlich und lückenhaft wie das i. Kapitel zusammengesetzt, die Aktenstücke vom Tode des Erz­ herzog-Thronfolgers (28. Juni 1914) bis 23. Juli 1914, d.h. dem Tage der Übergabe der österreichischen Note an Serbien sNr. 7—21 tost.]. Dieser Teil beginnt mit der Mitteilung von der Ermordung des österreichischen Thronfolgers durch den französischen Botschafter in Wien vom 28. Juni 1914. Es ist charakteristisch, daß wenige Tage nach dieser Mordtat derselbe Botschafter schreibt von dem „sustiter „Priliminaires“

les plus vives rancunes (!) dans les milieux militaires autrichiens et chez tous ceux qui ne se resignent pas ä laisser la Serble garder dans les Balkans le rang qu’elle a conquis. L’enquSte sur les origines de l’attentat, qu’on voudrait exiger du Gouvernement de Beigrade dans des conditions intolirables pour sa dignitd fournirait ä la suite d’une refus, le grief permettant de procMer ä ime exdcution militaire“. So beurteilt der französische Vertreter eine

der größten politischen Schandtaten; für ihn sieht sofort die „Uner­ träglichkeit" der Bedingungen Österreichs fest, noch ehe Österreich überhaupt Bedingungen gestellt hat. (Siehe unten die folgenden Kapitel das Nähere.) II.

Den Schluß dieser französischen Vorakten macht noch eine merk­ würdige Note des M. AllizL, Ministre de France, in München, an den französischen Minister des Äußern vom 23. Juli 1914. Sie lautet in Übersetzung: „Oie bayrische Presse scheint zu glauben, daß eine ftiedltche Lösung des österreichisch-serbischen Streites nicht nur möglich, sondern sogar wahrscheinlich ist. In den offiziellen Kreisen aber im Gegensatze dazu glaubt man seit einiger Zeit mit mehr oder weniger Aufrichtigkeit' (avec plus ou moins de sincdritd) an einen realen Pessimismus (on affecte ... un reel pessimisme). „Le President du Conseil notamment m’a dit aujourd’hui que la note autrichienne, dont 11 avait connaissance 1), dtait, ä son avis,

*) Dieser Satz ist im Original durchschossen gedruckt. Die frantösische Re­ gierung hat den großen Wert auf dieses Zeugnis gelegt, da sie damit die Be­ hauptung des Rtichskanjlers und v. Jagows widerlegen wollte, daß di« deutsch« Regierung die österreichische Rote vor dem 23. Juli nicht gekannt hätte. Minister, Präsident Graf v. tzertling hat sofort nach Erscheinen des frantbsischeo Gelbbuchs mit aller Bestimmtheit die ihm in den Mund gelegte Äußerung, daß er die Rote vorher gekannt hätte, in Abrede gestellt (f. „Bayr. Staatsjtg.").

6i r4dig£e dans des tennes acceptables pour la Serbie, mais que la Situation actuelle ne lui en paraissait pas moins tres sörieuse.“

III. Das III. Kapitel des französischen Gelbbuchs enthält die Zeit vom Freitag 24. Juli bis Sonnabend 25. Juli (Antwort Serbiens), die wir unten an der Hand des englischen Weißbuches erörtern. Gewissermaßen den Übergang bildet die dringliche Note mit In­ struktionen M. Rene Vivianis, des französischen Ministerpräsidenten, der damals mit Poincars in Rußland weilte. Die Note ist datiert: Reval, le 24 juillet 1914, L I heure du matin. Sie lautet wörtlich: « Au cours de mes entretiens avec le Ministre des Affaires ttrangeres russe, nous avons ete amen Ls ä envisager les dangers qui pourraient rtsulter d’une d£marche Eventuelle de l’Autriche-Hongrie ä l'Lgard de la Serbie, relativement ä l’attentat dont a LtL victime Varchiduc hEritier. Nous sommes tombEs d’accord pour penser qu’il convenait de ne rien nEgliger pour prEvenir une demande d'explications ou quelque mise en demeure qui Equivaudraient ä une Intervention dans les affaires intErieures de la Serbie, et que celle-ci pourrait considErer comme une atteinte 4 sa souverainetE et 4 son indEpendance. En consEquence, nous avons estimE qu’il y avait Heu, dans une conversation amicale avec le Comte Berchtold, de lui donner des conseils de modNa­ tion, propres 4 lui faire comprendre combien serait mal inspirEe une Intervention 4 Beigrade, ou Von pourrait voir une menace de la part du Cabinet de Vienne. L’Ambassadeur d’Angleterre, mis au courant par M. Sazonow, a exprime 1’idEe que son Gouvernement se joindrait sans doute 4 une dErnarche tendant 4 Ecarter un danger qui peut menacer la paix gEnErale, et a tElEgraphie dans* ce sens ä son Gouvernement. M. Sazonow a adressE des instructions ä cet esset ä M. Schebeko. Sans qu’il s’agisse ici d’une action collective ou concertLe des reprdsentants de la Triple Entente ä Vienne, je vous prie de vous entretenir de la question avec les Ambassadeurs de Russie et d’Angleterre, et de vous entendre avec eux sur le meilleur moyen, pour chacun de vous, de faire entendre sans retard au Comte Berchtold les conseils de rnodLration que nous parait rLclarner la Situation präsente. J’ajoute qu’il y aurait Heu de prier M. Paul Cambon de faire valoir aupres de Sir E. Grey Vutilit6 de cette demarche, et d’appuyer la Suggestion que VAm­ bassadeur d’Angleterre en Russie a dü präsenter 4 cet esset au Foreign Office. Le Comte Benckendorff est chargg de faire une recommandation analogue. Ren6 Viviani.»

Anmerkung. Die volle Geschlossenheit des Dreiverbandes in seinem Vorgehen gegen Österreich war vom ersten Moment, ja schon vor dem Eintreffen der österreichischen Note gegeben (s. Nr. 24 und 25 des Gelbbuchs und Kap. 5 unten). Kein Wort von einer ernstlichen Einwirkung auf Serbien — nur Österreich wird wie ein Schulknabe wegen seines Mangels an „moderation“ verwarnt und

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getadelt. Bedenkt man, daß hier, wie in den andern Bnntbüchern, nur bas den Herren paffende Ookumenteamaterial niedergelegt, daß im übrigen dt« münd­ lichen Verhandlungen »wischen Rußland und Frankreich unter Mitwirkung des englischen Botschafters Dnchanan in St. Petersburg zur gleichen Jett schwebte«, so kann man die von zuverlässiger hoher Seit« erhaltene Information der „Münchner Post" lvon Mitte Januar 1915) wohl glauben, die folgendes ausführt: „Oie eigentliche Entscheidung sei schon bei der Anwesenheit PoincarLs und Divianis in Petersburg gefalle»; sie sei nach den Absichten der russischen Kriegs, parlei intensiv vorbereitet worden von Jswolski und Benckendorff, den russischen Botschaftern in Paris und London. Zur Zeit der Anwesenheit PoincarLs und Divianis habe Benckendorff bereits aus London berichtet, daß die von England mit Belgien, Portugal und Japan geschlossene Koalition für alle Teilnehmer jedes Risiko ausschlösse. Einen Haupttrumpf beim Zaren hab« Mkolat Mkolajewitsch mit der angeblichen Versicherung Vivianis ausgespielt, die franrösische Regierung habe mit Ausnahme JaurLs' die ganzen Sozialisten geschlossen hinter sich und könne darum die Gewähr bieten, daß die revolutionären Clement« aller Schat­ tierungen in Rußland während des Krieges von jeder aggressiven Haltung gegen die Zarenfamilie und die Regierung absehen würden. Die dunkle Ahnung jener Großfürstinnen, darunter auch der Großfürstin Sergius, die, ungeachtet persönlicher Kränkungen, die kaiserliche Familie vor dem Unheil des Krieges habe bewahren wollen, sei In Erfüllung gegangen." IV. Die übrigen Teile des Gelbbuchs behandeln wir an der einschlägigen Stelle der Verhandlungen vom 24. Juli bis 3. August 1914. Wir behandeln sie nicht ganz so ausführlich «te das englische Weißbuch, da Frankreich in der neuesten Affäre nur die 2. oder 3. Rolle spielt und als Mitläufer Rußlands unter der geistigen Leitung Englands und Rußlands erscheint. Die Stellungnahme der deutschen Reichsregterung zum französischen Gelbbuch im allgemeinen ist in folgen­ den amtlichen Äußerungen der „Nordd. Allg. Ztg.". (Nr. 315,2. Ausg. vom 13. Dezember 1914 und Nr. 318 vom 20 De­ zember 1914) zum Ausdruck gebracht: A. Das französische Gelbbuch, bat erst jetzt (Dezember 1914) hier einge­ troffen ist, enthält 159 zum Teil umfangreiche Dokumente, die offenbar zu dem Zweck ausgewählt und zurechtgemacht worden sind, um Rußland von dem Vor­ wurf, daß es den Krieg heraufbeschworen hat, rein zu waschen und Deutschland die Verantwortung zuzuschieben. Es muß vorbehalten bleiben, auf die Einzelheiten der Veröffentlichung nach ihrer genauen Durchsicht zurückzukommen. Schon jetzt aber kann gesagt werden, daß der dem französischen Kriegsminister im März 1913 zugegangene angebliche amtliche deutsche Geheimbericht über die Verstärkung der deutschen Armee, der auch teilweise schon die unverdiente Aufmerksamkeit der neu­ tralen Presse gefunden hat, nichts weiter als eine plumpe Erfindung ist. Welches

6Z die „sichere Quelle" ist, aus der daS Aktenstück stammt, wissen wir nicht; eine amt," liche Stelle in Deutschland ist jedenfalls mit ihm nie befaßt gewesen. Anscheinend rührt der Geheimbericht von einem französischen Agenten her, und die Deröffent, lichung im Gelbbuch ist nur yt dem Zweck erfolgt, um Mißstimmung zwischen Deutschland und seine« Bundesgenossen hervorzurufen und die Neutrale», nament­ lich Holland und Dänemark, gegen Deutschland aufzuhetzen. Die ganze Unwahrheit dieses Machwerks wirb dadurch gekennzeichnet, daß darin als Ziel der deutschen Politik hingestellt wird, die Herrschaft deS Deutschtums über die ganze Welt auszubreiten, die lleine» Völker zu unterdrücken und alte Gebiete, die vor Jahrtausenden einmal zum Deutsche« Reich« gehört haben, wie Burgund und das Baltikum, für Deutschland zurückzuerobern. Kein ernster Mann in Deutschland hat jemals solche Phantasien gehegt. Ebenso lächerlich sind andere, im ersten Kapitel des GelLbuchs enthaltene Versuche, durch amtliche Berichte französischer Vertreter in Deutschland eine deutsche Gefahr für den Weltfrieden glaubhaft zu machen. Unterzieht man die Dokument«, durch die eine angeblich seit Jahren vorhandene Kriegslnst Deutschlands bewiesen werden soll, einer näheren Prüfung, so findet man, daß es sich in erster ltnie um Berichte der Militär, und Marineattachös handelt, die offenbar auf Mitteilungen sehr fragwürdiger Agenten beruhen. Würde die deutsche Regierung ebenso ver, fahren, so ließe sich allein mit solchen Schriftstücken ei« dickes Buch zusammen, stellen. Wir könnten z. B. einen Bericht des Militärattaches der Kaiserlichen Bot, schast in St. Petersburg vom io. August 1910 anführen, in dem auf das Zu, nehmen der auf einen Angriffskrieg mit Deutschland hinzielenden Bestrebungen im russischen Heere hingewiesen wird. Der Militärattache war zu seinem Bericht« durch einen Artikel Im amtliche» russischen Militärorgan „Der Invalide" veranlaßt worden, der „Gedanken zum 500jährigen Jubiläum des avslawischen Sieges über die Teutonen" entwickelte. Oer allslawtsche Steg in einem Angriffskriege, von dem der Artikel handelte und dessen Wiederkehr der Verfasser, Oberst im russischen Ge, nrralstabe Eltschaninow, erhoffte, war die Schlacht bei Tannenberg am 15. Juli 1410. B. Durch das französische Gelbbuch wie durch alle amtlichen Deröffent, ltchungen des Dreiverbandes geht als roter Faden der Gedanke, baß Deutschland den Krieg hätte verhindern können, wenn es seinen Einfluß auf Österreich,Ungarn geltend gemacht hätte, damit dieses seine Forderungen gegen Serbien ermäßige. Di« Mächte des Dreiverbandes gehen dabei von dem einseitigen Standpunkt aus, daß Rußland ein Recht halte, sich als Protektor Serbiens zu gerieren, und von Deutschland eine Anerkennung und Berücksichtigung dieses Anspruchs verlangen konnte. Andrerseits sprechen die Mitglieder des Dreiverbandes Österreich,Ungarn das Recht ab, den jahrelangen Herausforderungen eines kleinen Nachbarn gegen, über die Schritte zu tun, die es zur Wahrung seiner Sicherheit und seiner Stellung als Großmacht für nötig fand. Deutschland sollte nach Ansicht Rußlands und seiner Freunde Österreich,Ungarn in den Arm fallen und sich dem von Rußland vertretenen Standpunkt füge», baß den Mächten die Entscheidung darüber zustand, wieweit es Österreich,Ungarn erlaubt sei» solle, sich den serbischen Provokationen gegenüber Genugtuung zu verschaffen. Mil ander» Worten: in dem diplomatischen Duell zwischen dem Dreiverband einer, und Österreich,Ungarn,Deutschland andrer, selts sollten letztgenannte die ihnen von der Trlpleentente zugedachte Niederlage «nd Demütigung ruhig hinnehme». Da sie sich hierzu nicht habe» verstehen

64 »ollen und Deutschland sich, feinen Bündnispflichten getreu, auf die Seite Österreich, Ungarn- gestellt hat, ist der Krieg ausgebrochen. Daß Deutschland, woraus im Gelbbuch wiederholt hingewiesen wirb, sich andauernd geweigert habe, die Hand iut Herbeiführung einer friedlichen Lösung in bieten, ist eine der Wahrheit direkt ins Gesicht schlagende Behauptung, die im Gelbbuch an verschiedenen Stellen selbst widerlegt wird. Deutschland hat gegen den englischen Vorschlag, die Streitfrage in einer Konferenz von vier Mächten oder durch Besprechungen zu vieren zu regeln, nur deswegen Bedenken geäußert, weil jede Einmischung der Mächte in die nach deutscher Auffassung nur Österreich,Ungarn und Serbien angehende Frage dem von Deutschland von Beginn der Krisis an eingenommenen prinzipiellen Standpunkt widersprach, und «eil die bentsche Re, gierung von vornherein der Ansicht war, daß direkte Besprechungen zwischen Wien und Petersburg mehr Aussicht auf Erfolg böten und, falls eine Einigung überhaupt möglich, schneller zum Ziele führen würden. Trotz dieser gewiß gerechtfertigten Bedenken hat das Berliner Kabinett, wie auch aus dem Gelbbuch hervorgeht, bei jeder Gelegenheit die größte Bereitwilligkeit gezeigt, die Hand zur Förderung einer friedlichen Beilegung des Konflikts zu bieten. Ebenso ungerechtfertigt ist der gegen Deutschland erhobene Vorwurf, daß es sich geweigert habe, Österreich,Ungarn maßvolle Ratschläge zu erteilen. Deutsch, land hat alle mit der Würde seines Bundesgenossen vereinbaren Schritte in Wien getan. Es hat sich nur geweigert, die von Rußland und seinen Freunden verlangte Pression auf Hsterreich,Ungarn auszuüben. Den Ratschlägen Deutschlands folgend, hat sich die österreichisch,ungarische Regierung sofort bereit erklärt, die territoriale Integrität Serbiens nicht antasten zu wollen. Deutschland ist es auch zu ver, danken, daß der «ährend einiger Tage unterbrochene direkte Gedankenaustausch zwischen Wien und Petersburg wieder aufgenommen wurde, eine Tatsache, welche sämtliche Veröffentlichungen des Dreiverbandkabinetts allerdings wohlweislich verschweigen. Sehr bezeichnend für den einseitigen Standpunkt des Dreiverbandes ist,, wie das Gelbbuch die Aktion des Botschafters Freiherrn v. Echoen In Paris dar, stellt. Dieser war beauftragt, in freundschaftlicher Weise bei der französischen Regierung ein gemeinsames Wirken im Sinne des Friedens anzuregen, und hatte dabei auch die Bitte geäußert, daß von Paris aus in Petersburg zur Mäßigung' geraten werden möge. Jeder Unparteiische wird zugeben müssen, daß in diesem Schritt ein unwiderleglicher Beweis für die Versöhnlichkeit der deutschen Regierung sowie für ihren Wunsch, den Frieden erhalten zu sehen, zu erblicken ist. In der Anregung des Freiherrn v. Echoen sehen aber die französischen Staatsmänner nichts anderes als einen plumpen Versuch Deutschlands, zwischen Rußland und Frankreich Mißtrauen zu säen. Wohlgemerkt! Die Dreibundmächte verlangen von Deutschland, daß es seinem Verbündeten nicht nur gute Ratschläge gibt, sondern einen Druck auf ihn ausübt. Sie machen Deutschland einen schweren Vorwurf daraus, daß «s auf diese Zumutung nicht eingehen will. Wenn aber Deutschland Frankreich bittet, auf seinen Bundesgenossen mäßigend einzuwirken, so ist dies ein perfider Verhetzungsversuch! Wie stimmt übrigens die von französischer Seite so mißdeutete freundschaftliche Fühlung des deutschen Botschafters mit der fran, zösischen Regierung mit der späteren Behauptung des Herrn Diviani, daß Deutsch, land den Krieg durchaus, und zwar gegen Frankreich, gewollt habe, überein?

65 Die im französischen Gelbbuch veröffentlichten Schriftstücke heben den be* «unbernswerten versöhnlichen und friedfertigen Geist hervor, den die rassische Regierung von Beginn der Krisis an gezeigt habe« soll. Demgegenüber sei nur daran erinnert, daß Herr Safonow schon bei der ersten Unterredung, die er mit dem französischen nnd englischen Botschafter hatte, bemerkte, Rußland werde genötigt sein, mobil zu machen (vgl. englisches Dlaubuch Nr. 6). Es bestand hiernach von vornherein die Absicht, bei den Verhandlungen mit Hsterreich*Ungarn durch rollt* tärische Drohungen einen Druck auszuüben. Bekanntlich wurde dann auch die russische Mobilmachung bereits am 25. Juli beschlösse» und war, wie nachträglich durch einwandfreie Zeugnisse festgestellt worben ist, seit jenem Tage im ganzen russischen Reiche im Gange. Die Berichte des englischen Botschafters in Petersburg, der übrigens in diesem Punkte anscheinend selbständig ohne Weisungen seiner Regierung handelte, be* weisen, daß dieser mit wachsender Besorgnis die in Rußland beginnende mili* tärische Tätigkeit beobachtet und den russischen Minister des Äußern wiederholt vor der vorzeitigen Mobilmachung gewarnt hat. Wie sich die amtlichen Veröffentlichungen des Gelbbuches um diesen wichtigen Punkt herumzuwivdea suchen, ist äußerst bemerkenswert. Es soll um jeden Preis der Beweis erbracht werden, daß es Deutschland gewesen ist, welches mit mili* tLrischen Vorbereitungen deu Anfang gemacht hat. Als solche „Beweise" vermag aber das Gelbbuch nur anzuführen, daß laut Bericht des französischen Konsuls in Frankfurt am 29. Juli Truppen auf den Straßen aus Darmstabt, Kassel und Mainz dort angekommen seien, sowie baß laut Bericht deS französischen Ge* sandten in München vom gleichen Tage die Mühlen in Jllkirch ersucht worden seien, ihre Vorräte für die Armee zu reservieren, und von Straßburg der Transport von Flugzeugen, von Metz die Zurückberufung beurlaubter bayerischer Infanterie, Unteroffiziere gemeldet wurde. Eia dürftigeres Beweismaterial läßt sich kaum denken. Der französische Botschafter in Petersburg sieht sich denn auch genötigt, als er seiner Regierung die Mobilmachung Rußlands gegen Deutschland meldet, in Ermangelung anderer Beweismomente zu seiner Phantasie Zuflucht zu nehmen und zu behaupten, baß die russische allgemeine Mobilisation nur eine Folge der österreichisch*uagarischen allgemeinen Mobilisation und der militärischen Maß* nahmen Deutschlands gewesen sei. Es ist nicht leicht, in wenigen Worten so viel Falsches zu sagen, als in diesem Telegramm des Herrn Palöologue vom 31. Juli Nr. 118 des GelbbucheS enthalten ist. Nicht einmal die russische Regierung hat es gewagt, ihre Mobilmachung in dieser Weise zu rechtfertigen. Es ist allbekannt, daß Deutschland bis zum 31. Juli sich darauf beschränkt hat, die im Hinblick auf die umfangreichen militärische» Maßnahmen seiner Nachbarn unbedingt erforderlichen Vorsichtsmaßregeln zu treffen. Erst nach der am 31. Juli offiziell verkündeten Mobilmachung der gesamten russischen Armee ist in Deutschland der Zustand drohender Kriegsgefahr und erst am Abend des 1. August die Mobilmachung be* fohlen worden. Noch einen Beweis will das französische Gelbbuch führen, den bereits der bekannte, vier Wochen nach Ausbruch des Krieges verfaßte Bericht des englischen Botschafters in Wien vergeblich zu erbringen versucht hatte, daß nämlich Österreich* Ungarn und Rußland im Begriff waren, sich über die Note an Serbien zu verstänbi* Müller,Meiningen, Entstehung des Weltkriegs.

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66 ge», als Deutschland mit seiner Kriegserklärung alle Hoffnungen ans Erh«ltwng des Friedens plötzlich zerstörte. Diese Behauptung ist bereits durch bat „Wiener Frembenblatt" am 25. September in bündiger Weise widerlegt worden. «Gegen­ über der Wiederholung des Märchens sei aber nochmals.darauf Hingeniesien, daß Rußland in dem Augenblick, als es Deutschland gelungen war, die öfemeichischungarisch-russischen direkte» Besprechungen wieder in Fluß tu bringen, in der Rächt vom 30. zum 31. Juli unbekümmert um die vom russischen Kriegsminister und Generalstabschef dem deutschen Militärattacht feierlich gegebenen Versiche­ rungen, daß die Truppen an der deutschen Grenze nicht mobil gemacht «erden sollten, die allgemeine Mobilmachung — also auch gegen Deutschland — befahl und dadurch das ganze Dermittlungswerk Deutschlands zunichte mccht«. Es geht daraus hervor, daß es allen Laschenspielerkunstsiücken des Dreiverbandes nicht gelingen wirb, die Tatsache aus der Welt zu schaffen, daß Rußland die Schuld trifft, den europäischen Krieg entfesselt zu haben. Nachstehend sei noch auf einige Punkte im französischen Gelbbuch hingewiesen, die zeigen, welcher Wert den darin veröffentlichten diplomatischen Aktenstücke» bet­ zumessen ist'). Schlußbemerknngeu des Verfassers. Jedenfalls enthält das französische Gelbbuch allüberall außerordentlich be­ denkliche tendenziöse Streichungen, Lücken, Unzuverlässigkeiten. Bergsträßer gibt a.a.O. S. 515 Anm. dafür ebenso wie Max Beer im „Regenbogenbuch^ zahlreiche Beweise, die seine Ansicht als richtig erscheinen lassen, daß das „ganz« Gelbbuch so zurechtgemacht ist, daß eine logisch klare Linie, man möchte sagen, der gerade Weg eines rechtschaffen durchs Leben Wandelnden herauskonstruiert ist". Auch die tendenziöse Anwendung der Kursivschrift, um die Kriegsabflcht Deutschlands nachzuweisen, ist eine der vielen Subjektivitäten, an denen das Gelbkuch leidet. Die Herren Dumaine, Palsologue und Genossen, wie Herr Berthelot, sind jeden­ falls schlechte und unzuverlässige Zeugen. Ihre Phantasie wie ihr patriotischer Sinn müssen die Nüchternheit und Objektivität ersetzen. Sie finden ihre» ver­ ständnisvollen Partner in der „undisziplinierten", aber raffinierten, geistig hoch­ stehenden russische» Diplomatie'). *) Die betreffenden einzelnen Bemerkungen sind unten an geeigneter Stelle eingereiht. *) Später, am 8. Oktober 1915, wies die „Nordd. Allg. Ztg." halboffiziös auf eine recht merkwürdige Fassung des Gelbbuchs hin. Sie schrieb: „Es ist bereits wiederholt auf die im französischen Gelbbuch über de« gegen­ wärtigen Krieg enthaltenen Fälschungen hingewiesen worden. Eine gelegentliche Nachprüfung hat eine weitete Fälschung festgestellt. In dem Gelbbuch sind be­ kanntlich eine Anzahl Dokumente aus dem englischen Blaubuch wiedergegeben, unter anderem der Bericht des englischen Botschafters in Petersburg vom 24. Juli 1914. In der französische» Wiedergabe sind bezeichnenderweise die beiden Schluß­ sätze des Berichts fortgelassen worden, welche lauteten: „Der Präsident der französischen Republik und der Ministerpräsident können bet ihrer Rückkehr von Rußland nicht vor 4 oder 5 Wochen in Frankreich eintreffe», und eS steht so aus, als ob Österreich-Ungarn absichtlich diesen Augenblick gewählt

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4. Kapitel. Einige Bemerkungen über das österreichisch-ungarische Uottmq. — Die Zeit vor dem sog. „Ultimatum" vom 22./!3. Juli 1914 nach österreichischer Darstellung. i. Dienlich spät erschien — anfangs Februar 1915 — das sogenannte österreichisch - ungarische „Rotbuch": „Diplomatische Aktenstücke zur Vorgeschichte des Krieges 1914". (Seit Charakteristikum ist das genaue Eingehen auf den öster, reichischchrbischen Streit von der Ermordung des österreichischen Thronrfogerpaares am 28. Juni 1914 an. Oat Rotbuch enthält in einer besonderen „Volksausgabe" mit Einleirtmg eine 7 Seiten lange Darstellung der Entwicklung der Dinge bis ;wm Beginn der Feindseligkeiten. Die Einleitung enthält vom Stanvprnkte der Zentralmächte eine kurze, gedrungene Darstellung der Vl0r;eschichte des Krieges, die in folgenden Schlußworten gipfelt (S. 4 l.c. bis S. 7):

„Alle bte t. u. k. Regierung von Serbien forderte, daß es die int Königreich« befindlicher Mitschuldigen an dem Verbrechen von Serajerv» bestrafe und die Pflichten efülle, welche die Voraussetzungen für «in friedliches Verhältnis zwischen Nachbaestarten bilden, verfolgte sie nicht nur bas Ziel, unsere Dynastie vor Akten, taten und den Besitzstand der Monarchie vor frevelhaften Umtrieben zu schützen. Sie vertrat das gemeinsame Interesse der zivilisierten Welt, daß Mordanschläge nicht strafbs als Werkzeug im politischen Kampfe benutzt «erden dürfen, und baß Serbien d:n europäischen Frieden durch seine Aspirationen nicht unaufhörlich bedrohe. hätte, um sein Ultimatum an Serbien zu präsentieren. Cs scheint mir, nach der Sprache b« französischen Botschaft zu urteilen, baß Frankreich und Rußland zu festem Widerstand entschlossen sind, selbst für den Fall, daß wir es ablehnen sollten, «ns ihnen anzuschließen." Man kann im Zweifel darüber sein, ob die französische Regierung dies« beiden Sätze unterdrückt hat, «eil sie sich scheute, dem französischen Volke den Anteil erkenn, bar zu machen, den die verantwortlichen französische» Diplomaten an der pro, «okatorischen Haltung Rußlands gehabt haben, oder ob dabei die Rücksicht auf Sir Edward G:ey maßgebend war, der ungeachtet der Meldung George BuchananS nicht das geringste getan hat, um in Petersburg und Frankreich beruhigend und versöhnend einzuwirken. Vermutlich war eS die Erkenntnis, baß darin das soll, dartsche Verschulden der Ententemächte erkennbar «erde, die die französische Kor, rektur des englischen Blaubuches veranlaßt hat."

68 Eia schweres Unrecht habe« die Ententemächte begangen, alS sie im Banne ihrer politischen Selbstsucht sich diesen Postulaten der öffentlichen Moral und der Menschlichkeit verschlossen und für das schuldbeladene Königreich Partei ergriffen. Hätten sie den Versicherungen der Monarchie, die sich durch ihre konservative Politik und ihre Friedensliebe «ährend der gewaltigen Umwälzungen auf der Balkan, Halbinsel »eilen Anspruch auf Vertrauen erworben hatte. Gehör geschenkt und dem serbischen Streitfall gegenüber eine zuwartende Haltung eingenommen, so wäre der Weltkrieg vermieden worden. Für das unendliche Leid, das nun über die Menschheit hereingebrochen ist, müssen sie vor der Geschichte verantwortlich gemacht «erden. Es kann keinem Zweifel unterliegen, baß der kleine serbische Staat es nie gewagt hätte, in kaum verhüllter Feindseligkeit auf die Losreißung der von Süd, slawen bewohnte» Gebiete der großen Nachbarmonarchie hinzuarbeiten, wenn er nicht des geheimen Einverständnisses und des Schuhes Rußlands sicher gewese» wäre und darauf rechnen konnte, daß die mächtige panslawistische Strömung tm Zarenreiche nötigenfalls die rusilsche Regierung zwingen würde, dem Königreiche im Kampfe für die Verwirklichung der großserbischen Pläne beizuspriugen. Im kaufe der letzten zwei Jahrhunderte hat sich das russische Reich mit der elementaren Gewalt eines Gletschers über riesige Gebiete erstreckt und hat immer neue Völkerschaften unter die moskowitische Herrschaft gezwungen, die ihr« Kultur, Religion und Sprache unterdrückt. Diesem rastlosen Drange zur Weltbeherrschnag schwebt als höchstes und unverrückbares Ziel der Besitz der Meerengen vor, welcher dem russischen Reiche die Vorherrschaft im nahen Orient und in Kleinasien gewähr, leisten und der russischen Ausfuhr einen von fremdem Willen unabhängige» Durch, laß sichern würbe. Da die Verwirklichung dieser Pläne hohe Interessen Österreich-Ungarns und Deutschlands verletzen und daher auf den unausweichlichen Widerstand dieser Mächte stoßen mußte, waren die Bestrebungen der russischen Politik darauf ge, richtet, ihre Widerstandsfähigkeit zu schwächen. Der der russischea Weltherrschaft den Weg verlegende mächtige zentraleuropäische Block sollte zersprengt und Deutsch, land isoliert «erden. Es galt, zunächst die Habsburgische Monarchie durch die Schaffung des Balkanbundes einzukreisen und ihre Herrschaft durch die pan, slawistische und die serbische Wühlarbeit in ihren Grenzgebieten zu untergraben. Die Vorbedingung für die Verwirklichung dieses Planes war die Niederverfung und Zurückdrängung der Türkei, damit die erhöhte Kraft der christlichen Balkan, staaten zur Verwertung gegen die beiden Zentralmächte frei werde. Als der Balkanbund d«rch den Streit um die der Türkei entrissenen Gebiete zerfiel und die russischen Pläne vereitelt zu werden drohten, hat die „Schuzmacht" der Slawen es zugelassen, daß Bulgarien niedergeworfen, gedemütigt und um de» größten Teil seines Besitzerwerbes gebracht wurde. Durch die Aussicht auf Gebiets, erweiterunge», die auf Kosten der Monarchie durch eine staffelweise Vorrückung der Grenze« von Ost nach West geplant waren, sollte der Balkanbund «irderher, gestellt «erden, der seit den Niederlagen der Türkei nur mehr gegen Oferreich, Ungarn und Deutschland gerichtet sein konnte und von Rußland und Frankreich zur Verschiebung des europäischen Kräfteverhältnisses verwertet «erber sollte. In diesem die Existenz der Monarchie und den Weltfrieden bedrohender frevel­ haften Spiele der russischen Diplomatie war Serbien ein wichtiges Stichblrtt, daS



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Rußlaad auch nicht um de» Preis der Verhütung eines Weltkrieges aus der Hand -eben wollte. Oie k. u. k. Regieraag hat — hierfür legen die Aktenstücke dieser Sammlung Zeugnis ab — immer wieder bis knapp vor dem Kriegsausbruch« dem Peters, burger Kabinett versichert, daß sie kein rusiischeS Interesse verletzen, kein serbisches Territorium erwerben und die SouverLnttSt Serbiens nicht aatasien werde und daß sie bereit sei, über die österreichisch, ungarischen und russischea Interessen mit der russische» Regierung zu verhandeln. Diese hat sich jedoch mit den feierlichen Erklärungen der k. u. k. Regierung nicht tustieben gegeben, sonder» bereits im CommuniquL vom 24. Juli «inen drohenden Ton angeschlagen, sie hat am 29. Juli, obwohl Österreich,Ungarn keinen einigen Mann gegen Rußland mobilisiert hatte, die die Monarchie bedrohende Mobilmachung der RllitLrbetirke von Odessa, Kiew, Moskau und Kasan angeordnet- und am 31. Juli die allgemeine Mobllisierung verfügt, der wiederholten Warnungen des k. u. k. Botschafters und der bereits am 26. abgegebenen Erklärung der deutschen Regierung nicht achtend, baß vor, bereitende militärische Maßnahmen Rußlands Deutschland zu Gegenmaßregeln zwingen würben, di« in der Mobllisierung der Armee bestehen müßte», und baß die Mobilisierung den Krieg bedeute. Am 24. Juli hat der k.«. k. Botschafter dem russischen Minister des Äußern gegenüber di« Friedensliebe der Monarchie hervorgehoben. Ihr einziges Ziel sei, daß bet Bedrohung unserer Dynastie durch serbische Bomben und unseres Zettl, toriumS durch die revolutionären Umtriebe Serbiens ein Ende bereitet «erbe. Dieses Ziel zu erreichen war ein« Lebensfrage der Monarchie. Sie konnte sich daher durch die Möglichkeit eines Zusammenstoßes mit Rußland, falls dieses Serbien in Schutz nehmen sollte, nicht abschrecken lassen, der unerträglichen Situ», tioa eia Ende zu bereiten, daß ei» russischer Freibrief dem Savekönigreich« die bauernde ungestrafte und unsirafbare Bedrohung Österreich-Ungarns ermögliche. Am 30. Juli hat der englische Staatssekretär neuerdings angeregt, daß sich Österreich,Ungarn in seinem Konflikte mit Serbien der Vermittlung der Mächte bediene. Don dem Wunsche geleitet, ihr Möglichstes zu tun, um den Weltfrieden zu erhalten, hat sich die k.«. k. Regierung bereit erllärt, diese Vermittlung anz«, nehmen. Die Ehre und das Interesse Österreich,Ungarns aber erheischten, daß dies nicht unter dem Drucke der drohenden Maßnahmen Rußlands geschehe. Sie mußte daher vor allem fordern, daß die feindselige» Mobiliflerungsmaßnahmen des Zarenreiches vorerst rückgängig gemacht werden. Dieses Verlangen hat bas Petersburger Kabinett mit der Mobllisierung der gesamten russischen Streitkräfte beantwortet. Im Bunde mit der Selbstsucht Großbritanniens und der Revanchebegierde der französische« Republik hat die Petersburger Regierung kein Mittel verschmäht, um der Tripelentente die Vorherrschaft in Europa zu sichern und sich selbst freie Bahn für ihre kühnsten Pläne zu schaffen. Mit skrupelloser Hand ist Rußland bestrebt gewesen, die Fäden seiner Politik zu einem Netze über dem Haupte der Monarchie zu verdichten. Als sich Österreich,Ungarn, dem Gebote der Selbsterhaltung gehorchend, entschloß, diese Fäden zu zerreißen, hat Rußland versucht, der k. u. k. Regierung in de» Arm zu fallen und die Monarchie zu demütigen. Ja ihren Lebensinteressen auf das schwerste gefährdet, sahen sich Österreich,

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Ungar» und Deutschland vor die Wahl gestellt, ihre Rechte und ihre Sicherheitz« verteidige« oder vor de» Drohungen Rußlands zurückzuweichen. Sie sind den Weg gegangen, den ihnen Ehre und Pflicht wiesen. II. von -er Ermordung -es Ehroafolgerpaares (28. Duni) bis zum 23. OuH 1914. Die ersten Aktenstücke 1—5 des i. Rotbuches enthalten Berichte über die Frendenkundgebungen in Belgrad bei der Nachricht von der Ermordung des Thronfolgers (Nr. 1); Berichte, daß die serbische Polizei keine Maßnahmen getroffen habe, um die Fäden des At­ tentates in- Serbien zu verfolgen (Nr. 2); einen Bericht über die Freudenkundgebungen in Üsküb und Pristina bei Bekanntwerden des Attentats in Serajewo (Nr. 3). Interessant ist (Nr. 4) die Beileidsübermittlung des Präsidenten PotncarL (4. Juli). Zuletzt heißt es in dem Berichte des Botschafters Grafen SzLcsen:

„Zum Schluß sprach Herr PoincarL die Überzeugung aus, die serbische Re, gierung «erde uns bet der gerichtlichen Untersuchung und der Verfolgung even, tueller Mitschuldiger baS größte Entgegenkommen zeigen. Einer solchen Pflicht könne sich kein Staat entziehen." Der erste Bericht des Freiherrn von Giesl an Grafen Berchtold d. d. Belgrad vom 21. Juli 1914 klingt in folgenden Worten aus (österreichisches Rotbuch Nr. 6):

„Versäumen wir eS, Klarheit in unser Verhältnis zu Serbien zu bringe», so «erden «tr mitschuldig an den Schwierigkeiten und der Ungunst der Verhält, ntffe bei einem künftigen Kampfe, der doch, ob früher oder später, ansgetragen «erben muß. Für den lokale» Beobachter und den Vertreter der österreichisch,ungartschea Interessen in Serbien stellt sich die Frage so, baß «tr eine weitere Schädigung unseres Prestiges nicht mehr ertragen können. Sollten wir daher entschlossen sein, weitgehende Forderungen, verbnnbea mit wirksamer Kontrolle — den« nur eine solch« könnte den Augiasstall der groß, serbsschen Wühlarbeit reinige» — zu stellen, dann müßten alle mögliche» Kon, sequenze» überblickt «erbe», und eS muß von Anfang an der starke und feste Wille bestehen, dnrchzuhalten. Halbe Mittel, ein Stellen von Forderungen, langes Parlamentiere» und schließlich «in faules Kompromiß wäre der härteste Schlag, der Österreich,Ungarns Ansehen in Serbien und seine Machtstellung in Europa treffe« könnte." Gewissermaßen die Antwort auf diesen Bericht war die entschei­ dende Note vom 22. Juli (s. unten Original Nr. 7 S. 15 Rotbuch).

7i Unmittelbar nach der blutigen Tat gegen das österreichische Thronfolgerpaar beschreibt die serbische Stimmung der österreichische politische Gerant Hoflehner in seinem Bericht an Graf Berchtold d. d. Msch, 6. Juli, in folgender drastischen Weise (österreichisches Rotbuch Nr. 5):

„Die Nachricht von dem entsetzlichen, nur tu wohlgelungenen Attentate in Serajewo rief hier Sensation im vollsten Sinne des Wortes hervor. Von Be, stürjnog oder aber Entrüstung war so gut wie nichts zu bemerken, in weitaus vorherrschendem Maße kamen nur Empfindungen der Genugtuung, ja der Freude, und dies vielfach ganz unverhüllt, ohne jede Zurückhaltung, nicht selten in gani roher Form zum Ausdrucke. Dies gilt hauptsächlich für die sogenannten führenden Kreise, die Intelligent, wie Berufspolitiker, Lehrpersonen, Beamte, Offijiere und die Studentenschaft. Etwas turückhaltender jeigfe sich noch die Kaufmannschaft. Alle Erklärungen, die seitens serbischer amtlicher Stelle« ober einzelner höherer Persönlichkeiten abgegeben wurden und die Entrüstung über das Attentat und dessen Verurteilung -um Ausdruck bringen sollen, müssen als bitterste Ironie auf den wirken, der Gelegenheit hatte, in den jüngst verflossenen Tagen in nächster Nähe Einblicke in bas Gefühlsleben der serbischen intelligenten Bevölkerung i» gewinnen. Der Gefertigte hatte am Tage des Attentates gegen 9 Uhr abends ohne Ahnung noch vom Geschehenen «in hiefiges Gartencafe besucht und wurde hier t«erst von einem Bekannten über das ganz bestimmt aufgetretene Gerücht in Kenntnis gesetzt. Es war eine Pein sondergleichen, (u beobachten und tu hören, wie eine förmlich fröhliche Stimmung die zahlreichen Gäste des Lokales erfaßt hatte, mit welcher erfichtlichen Genugtuung man über die Tat debattierte und wie Ausrufe der Freude, des Hohnes und Spottes aufflatterten." Anmerkung. Daß diese abscheuliche schadenfrohe Haltung des serbischen Volkes über die Mordtat gegenüber einem Manne, der dem Slawentum aufs sympathischste gegenüberstand, in ganz Österreich und Ungarn die größte Erbitte, rung und Aufregung hervorrief, ist ganz selbstverständlich. Die verschiedenen Duntbücher der Dreiverbandsmächt« operieren mit dieser »Kriegsstimmung in Wien", ohne auch die Ursachen in objektiver Weis« hervorzuheben. Sie sagen von der rohen Freubenäußerung in Serbien kein Wort. (S. im übrigen die serbisch« Darstellung der Ding« im 5. Kapitel.)

5. Kapitel. Die Haltung Serbiens und seine Unterstützung seitens der Entente-Mächte nach dem Morde von Stza\mo bis ;um 22. Juli 1914.

(Insbesondere auf Grund des serbischen Blaubuchs.)l) I. Geschichtliche Vorbemerkung. Cs wäre lehrreich, an der Hand der diplomatischen Geschichte ju verfolgen, wie Peter Karageorgiewitsch nach der Ermordung seines Vorgängers im Jahre 1904 zu immer größerer politischer Bedeutung emporstieg, ja, wie der anfänglich, vor allem von England Ver­ achtete und Gemiedene schließlich zu einer Hauptfigur auf dem euro­ päischen Schachbrett wurde. ,, und 16. Juli nachmittags abgegeben. Dies berechtigte die deutsche Regierung (f. dertscheS Weiß'-uch Anlage io b) ju erklären: „Nachdem Österreich,Ungarn sein territoricles Desinteressement feierlich erklärt hat, ruht die Verantwortung für eine Eiörrng des europäischen Friedens durch eine russische Intervention allein auf Rußland." Vice versa berichtet übrigens Schebeko, der russische Botschafter

in Wien (Orangebuch Nr. 41), vom 27. Juli von einem Gespräch mit dem österreichischen Sektionschef Macchio. Dott macht Schebeko, ohne daß ein Widerspruch vermerkt ist, folgende auffallende Bemerkung: „Man muß annehmen, daß Österreich unter dem Einfluß der Ver­ sicherung des deutschen Vertreters in Wien, der während der ganzen Krise die Rolle eines Anstifters (instigateur) gespielt habe **), auf die Wahrscheinlichkeit der Lokalisierung seines Konflikts mit Serbien und die Möglichkeit, diesem Lande ungestraft einen schweren Schlag zu versetzen, gebaut hat. Die Erklärung der Kaiser!. Regierung betr. Un­ möglichkeit für Rußland, indifferent zu bleiben, hat hier (in Wien) großen Eindruck gemacht."

16. Kapitel. Nußlands Stellungnahme zur Uonferenzidec. Nußland nähert sich zunächst dem deutschen Standpunkte, den auch Sir Edward Greg zuerst unterstützt. Sprunghaftes Wechseln der englischen Haltung (27. u. 28. Juli). „Berlin ist der Drehpunkt der Lage."

Sir G. Buchanan meldet an Sir Edward Grey (Nr. 44 engl. Weiß­ buch) aus St. Petersburg, den 27. Juli 1914, folgendes: „Der österreichisch-ungarische Botschafter versuchte gestern in einer langen Unterredung, welche er mit dem Minister des Änßere» hattes), l) Siehe auch Dunsen, engl. Weißbuch Der Haß der Orewerbandsvertretcr gegen v. Tschirschky kommt bei jeder Gelegenheit tunt Druchbrvche. *) Es geht aus den Dokumenten nicht ganz klar hervor, ob Buchanan der betreffenden Unterredung beiwohnte oder ob er von Sasonow von dem Inhalt« der Unterredung unterrichtet wurde. Die Unterredung ergibt sich arch klar aus dem österr. Rotbuch Nr. 31 vom 27. Juli 1914.

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die zum Widerffpmü reizenden Forderungen, welche in der kürzlich Serbien überreichen Note Hsterreich-Ungarns enchalten sind, zu er­ klären. Der Minister wies darauf hin, daß er den Standpunkt Hsterreich-Ungarns rvölig würdige, aber das Ultimatum sei so abgefaßt, daß die serbische Regierung, so wie es stünde, dasselbe unmöglich annehmen könme. Lbschon in einzelnen Fällen die Forderungen ver­ ständlich genug scheuen, so könnten andere wieder nicht sogleich erfüllt werden, da ihre Lnrahme nicht nur eine Änderung der betreffenden serbischen Gesetze, fordern auch eine Verletzung des Ansehens Ser­ biens, das es als rncbhängiger Staat genieße, mit sich brächte. Ruß­ lands Anerbieten, in Belgrad helfend einzugreifen, gewähre keine Aussicht auf Erfllg, da eben Rußland seitens Hsterreich-Ungarns mir Mißtrauen betrachtet würde. Um aber der gegenwärtig sehr ge­ spannten Lage ein Erde zu bereiten, meinte er, dürften Großbritan­ nien und Italien gevillr sein, gemeinschaftlich mit Österreich-Ungarn zu wirken. Der ö-kerreichisch-ungarische Botschafter erklärte, die Aus­ führungen S. Ex. nach Wien übermitteln zu wollen. Auf eine diesbezügliche Frage des Ministers des Äußeren ant­ wortete ich ihm, daß ich in meiner Unterredung, welche in meinem Telegramm (Nr. 6) vom 24. ds. wiedergegeben ist, die Haltung Sr. M. Regierung genau bezeichnet hätte. Ich bemerkte noch, daß Sie nicht mehr tun könnten, und daß S. Ex. Unrecht hätten, anzunehmen, daß den Friedensbestrebungen damit gedient wäre, wenn der deut­ schen Regierung mitgeteilt würde, daß, im Falle sie Hsterreich-Ungarn mit den Waffen unterstütze, sie es nicht nur mit Rußland und Frank­ reich, sondern auch mit uns (Großbritannien) zu 'tun hätte. Die Haltung Deutschlands würde sich dadurch nur noch mehr versteifen («Their attitude would merely de stiffened by such a menace»). Wir könnten nichts weiter tun, als in aller Freundschaft Berlin zu bewegen suchen, in Wien dahin zu wirken, daß der Friede erhalten bleibe. Wenn man diesen Bemühungen Erfolg wünsche, dann müßte S. Ex. nichts unternehmen, was den Konflikt beschleunige, und unter den ge­ gebenen Umständen hoffte ich, daß die russische Regierung den Mobilisationsbefehl so lange als möglich hinausschiebe, und daß die Truppen sogar nach Erteilung des Befehles die Grenzen nicht überschritten. Der Minister des Äußeren anwortete darauf, daß bis zum Er­ scheinen des Kaiserlichen Ukas keine Schritte zur Mobilisation unter­ nommen werden könnten, und daß die österreichische Regierung in Müller,Meininger», Entstehung -eö Weltkriegs.

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dieser Zwischenzeit ihre militärischen Vorbereitungen vervollständigen würde, zumal wenn sich dieser Zeitraum zu sehr in die Länge zöge." Anmerkung. Die russische Mobilisation war, wie aus dem Telegramm des Zaren an Kaiser Wilhelm vom 29. Juli und auch aus Sasonows Bemerkung vom 24. Juli ersichtlich, längst, d. h. spätestens am 2;. Juli, begonnen. Hier handelt eS sich um ein formalistisches Spiele» mit Worten. Während Buchanan hier noch kühl blieb und sichtlich den hitzigen Sasonow bremste, gab man in London dem Drängen des JSwolski und Paul Cambon immer mehr nach (s. Gelbbuch 91t. 32, 63, 66).

Rußlands Haltung ergibt sich noch klarer aus Nr. 53 engl. Weiß­ buch. Dort wird ein von Sasonow an den russischen Botschafter in London unter gleichem Tage gerichtetes Telegramm an Grey mit­ geteilt. Dort heißt es: „Der englische Botschafter kam, um zu erfahren, ob wir es für ratsam halte« würden, daß die Einladung zu einer Konferenz, bet welcher die Vertreter Englands, Frankreichs, Deutschlands und Italiens Mittel ausfindig zu mache» hätten, um die gegenwärtige» Schwierigkeiten zu beheben, von Großbritannien angehen solle. Ich antwortete Sr. Exz., baß ich bereits angefangen hätte mit dem öster­ reichisch,ungarische» Botschafter darüber zu beraten, und daß diese Besprechungen hoffentlich zu einem günstigen Resultat führe» möchten, jedoch sei mir bis jetzt noch keine Äußerung betreffs einer redaktionellen Änderung der zwischen den beide» Kabinetten gewechselten Note zugegangen. Sollten sich unmittelbare Erörterungen mit dem Wiener Ka­ binett als unmöglich herausstellen, dann sei ich bereit, den seitens Großbritanniens gemachten Vorschlag anzunehmen, oder irgend einen anderen Vorschlag, welcher dazu beitragen könnte, den Konflikt zu lösen **)«). *) Dom Verfasser durch Sperrdruck hervorgehoben. *) Aus diesem Schriftstücke geht mit großer Deutlichkeit hervor, baß Rußland sich dem deutschen Standpunkt der direkten Verhandlung zwischen Wier und Peters­ burg am 27. Juli wiederum vollständig anschloß und den Greysche» Vorschlag erst als subsidiären anzunehmen beliebte (f. auch Nr. 55 l. c.). (Siehe auch Buchanans Depesche vom 25. Juli, oben Blaubuch Nr. 17: „Wenn Serbien an die Mächte appellieren sollte, so würde Rußland bereit sein, ruhiz zu bleiben." Dort machte man also die Konferenz abhängig von dem Appell Serbiens, s. auch Gelbb. Nr. 53 und unten engl. Weißb. Nr. 58 i. (.) Andererseits erhellt aus Nr. 68 des engl. Weißbuchs (Bericht GreyS an Sir Goschen vom 2?. Juli 1914), „daß die deutsche Regierung im Prinzip, wen» nötig, mit einer Vermittlung zwischen Hsterreich und Rußland durch die vier Mächte einverstander war". Also Deutschland hat sich, wie aus dieser englischen Quelle hervorgeht, obwohl eS primär von Anfang an (wie jetzt Rußland) für direkte Derständixung zwischen Österreich und Rußland war, niemals auf seinen Vorschlag eigensinnig kapriziert. Aus Nr. 67 des engl. Weißbuchs (s. unten S. 185) geht hervor, daß auch Sir Edward Grey, „solange Aussicht vorhanden ist, daß Hsterreich und Rußland ihre Meinungen direkt austauschen, eS vorziehe, keinen anderen Dorsthlig zu machen, da dies mir die beste Gewähr auf Erfolg zu fei» scheint."

179 Jadesse« wünsche ich von vorneheretn voriubeugen, daß die Antwort, welche der franjSsische Jusstminister dem deutschen Botschafter betreffs der dem Kaiser­ lichen Kabinett »u erteilenden Ratschläge t«r Mäßigung gab, nicht mißverstanden «erde *). Bei dieser Sachlage ist ein Bericht Sasonows vom 28. Juli an Graf Benckendorff um so auffallender (engl. Weißbuch Nr. 54), der lautet: „Meine Unterredungen mit dem deutschen Botschafter bestätigen meine An­ sicht, daß Deutschland eher dazu neigt, mit der schroffen Haltung Österreich-Ungarns einverstanden tu sein als nicht. Das Berliner Kabinett, in dessen Macht es lag, die Weiterentwicklung dieser ganjenKriseiuverhindern,scheint auf seinen bsterreichischen Verbündeten gar keinen Einfluß ausiuüben. Oer Botschafter hält die serbische Antwort für ungenügend. Diese Haltung der deutschen Reichsregierung ist äußerst besorgniserregend. Mir scheint England vorteilhaftere Aussichten auf Erfolg als die andern Mächte tu haben, noch einmal in Berlin den Versuch zu unternehmen, die deutsche Reichsregierung t« einem Einschreiten r« bewegen. Zweifelsohne ist der Dreh, Punkt der Lage in Berlin." Anmerkung. Dieser Satz jeigt eine neue Peripetie in dem ewig wechselnden Spiele. Aus dem frantbs. Gelbbuche geht hervor, daß dies die sublim« Idee Paul Cambons war, die man Grey leicht suggerierte und jum Druck auf Deutschland verwandte, dieses als de» „Drehpunkt der Lage" htnjustelleo. Grey ging auch (f. Weißbuch Nr. 84) sofort darauf ein. Er führte dort aus, baß, wenn Deutschland nur auf den Knopf drücken «olle, eine Vermittlung er­ reicht werde» könne. Das schlaue Spiel ging darauf aus, Deutsch, land die gant« Verantwortung für bas Scheitern der Dermittlnngsaktton, das bei der Haltung Rußlands von Anfang an feststand, auftuladen. Interessant ist auch (Nr. 58 des engl. Weißbuchs), was Sir Bucha, nan an Sir Grey meldet: 27. Juli 1914. Erhalten 28. Juli 1914. ... „Der Minister (Sasonow) sagte, daß er seinen ga»t«n Einfluß ln Belgrad geltend machen würde, um die serbische Regierung »u bewegen, so weit wie möglich Österreich-Ungarn Genugtuung »u verschaffe», aber der Länderbefltz Serbiens Dies ist die völlige Atteptierung des deutsche» Vorschlags und dessen völlige Ehrenrettung gegen die nachträglichen Vor­ würfe. Wir konstatieren nochmals, daß am 27. Juli die vier Großmächte Deutschland, Österreich einerseits, Rußland, England andererseits der ursprüng­ lichen deutschen Anschauung beipflichteten, den Meinungsaustausch »wischen Wien und Petersburg direkt durchjuführen. Hier war die Einigung an sich gegeben (s. auch Gelbbuch Nr. 80). *) S. statt». Gelbbuch Nr. 56, 57, 61, insbesondere aber 62 i. f. 12*



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müsse gesichert und dessen Rechte als die eiaes selbständigen Staates geachtet werden, um dadurch die HabSburgmonarchie ju verhindern, Eeriiea iu ein Abhängig, keitsverhLltnis zu bringen. ES sei ihm unbekannt, ob österräch,Ungarn den freund, schaftlichen Meinungsaustausch, welchen er vorgeschlagen, cnnehmen würde, sollte das aber der Fall sein, so wünschte er «ährend der ganzen Zeit eines solchen Der, kehres in engster Fühlung mit den andern Mächten zu verbleiben. Er kam wieder auf die Tatsache zurück, daß die von Serbien im Jahre 1909 unternommenen Verpflichtungen, auf welche das österreichisch,ungarische Ultima, tum Bezug nähme, gegenüber der Gesamtheit der Mächte eingegangen worben seien. Ich fragte, ob er von Ihrem Vorschlag, eine Konferenz der vier Mächte ein­ zuberufen, gehört hätt«, und auf seine Bejahung teilte ich ihm vertraulich die von Ihnen an mich ergangeoen Weisungen mit und wollte wissen, ob er den von ihm vorgeschlagenen direkten Meinungsaustausch einer solchen Konferenz vorzöge. Ja einem Gespräch, das ich soeben mit dem deutschen Botschafter gehabt hätte, wäre dieser der persönlichen Anschauung gewesen, daß ein direkter Meinungsaustausch Österreich,Ungarn genehmer sein dürfte als eine Konferenz. Se. Exz. bemerkte, daß er ganz bereit sei, sich einer Einmischung zu enthalten, wenn die Mächte den Vorschlag einer Konferenz annähmen, aber er hoffte. Sie würden sich in diesem Falle an den russischen Botschafter halten'). Diesem jweideutigen Schwanken Sasonows, dem Paläologue bei jeder Gelegenheit und mit offener Tendenz attestiert (s. z. B. Nr. 54 des franz. Gelbbuchs), wie friedlich er sei, machte die österreichische Kriegs, erklärung an Serbien am selben Tage (28. Juli) ein rasches Ende2).

') Man sieht, daß Sasono« nach der Tageszeit seine Meinung wechselt, bald ist er für direkte Abmachung zwischen Wien und Petersburg, bald für eine Kon, ferenz, bald weicht er, wie hier, der Äußerung überhaupt aus. Das Ganze macht den Eindruck, als wenn man, was als Absicht von Cambon, Grey und ihm zuerst auch offen ausgesprochen wurde, nur Zeit zur «eiteren Mobilisierung gewinnen wollte. •) übrigens ist die Schlußbemerkung: „« hoffe, daß Sie (Grey) mit dem russischen Botschafter „sich halten", «that you wouid keep in touch», außerordent, lieft charakteristisch. Grey hätte natürlich den Vorsitz der Londoner Konferenz ge, führt: Dazu Frankreich. Auf der anderen Seite Italien, bas von Anfang an mit England ging, und Deutschlaad—isoliert. Der Ausgang gegen Österreich war von Anfang an beflegelt, auch wenn Sir Edward Grey sich nicht „an de» russischen Botschafter gehalten hätte".

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17. Kapitel. Österreichs Kriegserklärung an Serbien und ihre Deutung (28. Juli 1914).

Erlaß der Verbalnote d. d. Wien, 28. Juli 1914 (engl. Weißbuch Nr. 50 mit Beilage) mit der Kriegserklärung an Serbien. Sie lautet nach der Übersetzung: „Um den Umtrieben in Belgrad, welche gegen die Integrität der Länder Österreichs-Ungar» gerichtet sind, ein Ende zu machen, hat sich die Kaiserliche und Königliche Re­ gierung veranlaßt gesehen, der Königlich Serbischen Regierung eine Note zu übermitteln, welche eine Reihe von Forderungen enthielt, für deren Annahme Serbien eine Frist von 48 Stunden zugestanden war. Da die Krniglich Serbische Regierung diese Note nicht in be­ friedigender Weist beantwortet hat, sieht sich die Kaiserliche und König­ liche Regierung gezwungen, zu den Waffen zu greifen, um so ihre Rechte und Interessen z, beschützen. Osterreich-Urgarn, das soeben an Serbien eine formelle Kriegs­ erklärung — in Übereinstimmung mit Artikel 1 des Übereinkommens vom 18. Oktober 1907 betreffs Eröffnung von Feindseligkeiten — überreicht hat, bessndet sich von nun an im Kriegszustände mit Serbien. Indem das kaiserliche und Königllche Ministerium des Äußeren Obiges zur Kemtnis der Königlich Großbrttanaischen Regierung bringt, beehrt sich dasselbe zu erllären, daß Österreich-Ungarn während des Kriegszustandes gemäß den Satzungen des am 18. Oktober 1907 im Haag getrosterem Übereinkommens, sowie gemäß denen der Lon­ doner Erllärung vo m 28. Februar 1909 handeln wird, solange als Serbien dasselbe D«erfahren beobachtet. Die Botschaft wird gebeten, die obige Mitteilung sobald als möglich der (Körigilich Großbritannischen) Regierung zugehen zu lassen lV *) Das Original si'iehe österr. Rotbuch Nr. 37. Die Motive |u diesem Schritt stad auch niedergelegt im Nr. 48 des englischen Weißbuchs. Siehe auch 3lr. 6n dortselbst, Bunsen an Grey vom 28. Juli 1914: „Der Minister des Äußer» tfliärte, daß Österreich-Ungarn seine kriegerischen Maßnahmen nicht verrögern könn» umb es verweigern müsse, auf irgendeinen Vorschlag einjur gehen, dahin sielend, daß; Verhandlungen auf Grund der serbischen Antwort unter­ nommen werden soll«. Das Ansehen der Monarchie stehe auf dem Spiele, und nichts könne jetzt rinn Konflikt hintanhalten."

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Das österreichische Rotbuch (Nr. 38 und 39) zeigt, welche An­ strengungen insbesondere am 28. Juli Graf Berchtold machte, um England von seiner Loyalität zu überzeugen. Da Graf Mensdorff die Ansicht anssprach, daß der Greysche Konferenzvorschlag, soweit er Serbien angeht, durch die Ereignisse ange­ sichts des Kriegszustandes überholt schiene, depeschiert am gleichen Tage Graf Berchtold an den österreichischen Botschafter in London Graf Mensdorff (Nr. 39): „Wir legen das größte Gewicht darauf, daß Sir Edward Grey unser Vor­ gehen gegen Serbien im allgemeinen und speziell unsere Ablehnung der serbischen Antwort in unparteiischer Weise würdige, und ersuche ich Euer Exzellenz daher, Gelegenheit zu nehmen, dem Herrn Staatssekretär das Ihnen auf dem Postwege übermittelte Dossier im Detail und unter Hervorhebung der besonders markanten Stellen auseinanderzusetzen; in demselben Sinne wollen Euer Exzellenz die kriti­ schen Bemerkungen zu der serbischen Note (Text der Note mit unseren Bemerkungen versehe» ist gestern an Euer Exzellenz per Post abgegangen) mit Sir Edward Grey durchsprechen und ihm klarlegen, daß das serbische Entgegenkommen nur ein schein­ bares war, bestimmt, Europa zu täuschen, ohne für die Zukunft irgendeine Garantie zu bieten. Da die serbische Regierung wußte, baß uns nur eine vorbehaltlose An­ nahme unserer Forderungen befriedigen könne, ist die serbische Taktik klar &» durch­ schauen; Serbien akzeptierte, um Eindruck auf die europäische Öffentlichkeit zu machen, mit allerlei Vorbehalten eine Anzahl unserer Forderungen, darauf bauend, daß es nicht in die Lage kommen werde, seine Zusagen zu erfüllen. Ein Haupt­ gewicht bei der Konversation Euer Exzellenz mit Sir Edward Grey wäre auf den Umstand zu legen, daß die allgemeine Mobilisierung der serbischen Armee für den 25. Juli nachmittags 3 Uhr angeordnet wurde, «ährend die Antwort auf unsere Note erst knapp vor Ablauf der Frist, das heißt wenige Minuten vor 6 Uhr, über­ reicht wurde. Wir hatten vorher keine militärischen Vorbereitungen getroffen, durch die serbische Mobilisierung wurden wir aber zu solchen gezwungen.

Die Antwort Sir Edwards Greys handlungen enthält das österr. Rotbnch Nr. 41, des österreichischen Ministers des Äußeren Graf Mensdorff über Bunsens Vermittlung unterm 28. 7.14 heißt:

wie die weiteren Ver­ wo es u. a. im Bericht Grafen Berchtold an der Greyschen Ansicht

„Die englische Regierung habe mit lebhaftem Interesse de« Verlauf der Krisis verfolgt und lege Wert darauf zu versichern, daß sie Sympathien für unseren (österreichischen) Standpunkt hege und unsere Haltung (Griefs) gegen Serbien voll­ kommen verstehe. Nur aus dem Grunde, baß der europäische Friede in Frage gestellt «erden könne, habe sich Sir Grey veranlaßt gesehen, den Konferenzgedanken nach dem Muster der Londoner Dotschafterkonfereaz anzuregen. Gegenwärtig wäre es der Wunsch deS Herrn Staatssekretärs, wenn möglich, den Ausbruch der Feindselig­ keiten zwischen Hsterreich-Ungarn und Serbien in elfter Stunde zu verhindern, wenn dies aber nicht tunlich «fite, doch vorzubeugen, daß eS zu einem blutigen

I8Z Zusammenstoße komme, eventuell dadurch, daß die Serben sich zurückziehen könnten, ohne den Kampf aufzunehmen. Die von Serbien an uns eingelangte Antwort scheine die Möglichkeit zu bieten, eine Basis für eine Verständigung abzugeben. England sei gerne bereit, hierbei in unserem Sinne und nach unseren Wünschen seinen Einstuß zur Geltung zu bringen. Ich (Graf Mensdorff) dankte dem Herrn Botschafter für die Mitteilung Sir Edward Greys und erwiderte ihm, daß ich der Auffassung des Herrn Staats­ sekretärs vclle Würdigung zu zollen wisse. Sein Standpunkt sei aber von dem meinigen naturgemäß verschieden, da England an dem Streitfälle zwischen uns und Serbien nicht direkt interessiert sei und der Herr Staatssekretär wohl kaum gründlich orientiert sein könne über die schwerwiegende Bedeutung der zu lösenden Fragen für die Monarchie. Wenn Sir Edward Grey von der Möglichkeit rede, den Ausbruch ter Feindseligkeiten zu verhindern, so komme dieser Gedanke zu spät, da gestern bereits serbischerseits auf unsere Grenzsoldaten geschossen und heute von uns der Krieg an Serbien erklärt wurde. Was die Idee eines Lransigierens auf Grund der serbischen Antwortnote anbelangt, müsse ich eine solche ablehnen. Wir hätten die integrale Annahme gefordert, Serbien habe sich durch Winkelzüge aus der Verlegenheit zu ziehen gesucht. Uns seien diese serbischen Methoden nur zu gut bekannt. Sir Maurice Dunsen könne unseren Standpunkt durch seine hier erworbe­ nen Lokalkcnntnisse gewiß richtig einschätzen und werde in der Lage sein, Sir Edward Grey hierüber ein genaues Bild zu geben. Insofern Sir Edward Grey dem europäischen Frieden dienen wolle, würde er gewiß nicht auf Widerstand bei uns stoßen. Er müsse jedoch bedenken, daß der europäische Friede nicht dadurch gerettet würde, daß sich Großmächte hinter Serbien stellen und für dessen Straffreiheit eintreten. Denn selbst wenn wir auf einen solchen Ausgleichsversuch eingehen wollten, würde dadurch Serbien nur um so mehr ermutigt, auf dem bisherigen Pfade weiterzugehen, was den Frieden binnen der allerkürzesten Zeit abermals in Frage stellen möchte. Der englische Botschafter versicherte mir zum Schlüsse, daß er unseren Stand­ punkt vollkommen verstehe, andrerseits aber bedauere, daß unter diesen Umständen der Wunsch der englischen Regierung, einen Ausgleich zu erzielen, derzeit keine Aussicht auf Verwirklichung habe. Er hoffe, mit mir weiterhin in Kontakt bleiben zu dürfen, was ihm wegen der großen Gefahr einer europäischen Konflagration von besonderem Werte wäre. Ich (Berchtold) erwiderte, ich stünde dem Herrn Botschafter jederzeit zur Verfügung, womit unsere Konversation schloß." Anmerkung. Siehe auch die folgende Berichterstattung Dunsens an Sir Grey (englisches Weißbuch Nr. 62). England kannte serbische Art sehr gut und hat früher die schärfste VerurteUung jenes Mörderstaates und seiner asiatischen Gepflogenheiten in seiner Presse unterstützt, deshalb auch die englische Vertretung längere Zeit von Belgrad abberufen. Der russische Einfluß in London und der Haß gegen Deutschland ließen dies alles vergessen und dem „kleinen helden­ mütigen Staat" jeden Frevel hingehen, wie die weitere Entwicklung der An­ gelegenheit zeigte.

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i8. Kapitel. Sir Edward Grey verhandelt im Interesse der No nserenzidee weiter, der er eine einschränkende Auslegung im Sinne einer bloßen Aussprache gibt, erklärt nlber eine direkte Verständigung siir das beste. Dieses zweideutige, der Haltung Rußlands entsprechende Verhalten Englands wird fortgesetzt.

England verhandelt in der Richtung von Greys Lielbltngsidee (Mer-Mächte-Konferenj) weiter, wie folgender Bericht Bvmsens an Grey vom 28. Juli 1914, am Tage der österreichischen Kriegserklärung an Serbien, beweist (Nr. 62 engl. Weißbuch): „Ich halte heule eine Unterredung mit dem Minister des Äußeren, und zwar in dem Sinne des Inhalts Ihres Telegrammes (Nr. 46), welches Sie nach Berlin sandten. Ich vermied das Wort „Vermittlung", führte aber aus, daß Sie, wie Sie in Ihrer Rede erwähnten (tzausard, Band 65, Nr. 107, Spalte» 931, 932, 933), und wie er mir soeben vorgelesen habe, Hoffnung hätten, daß Unterredungen in London zwischen den vier weniger interessierten Mächten gepfloge»/ zu einem Übereinkommen führen könnten, das die österreichisch-ungarische Regierung als annehmbar bezeichnen dürfte und daher Feindseligkeiten überhaupt nichi begonnen würden. Ich fügte hinzu, daß Sie die serbische Antwort als weit genug gehend betrachteten, um die gerechten Forderungen Österreich-Ungarns zu befriedigen, daß Sie diese Antwort als genügend beurteilten, um darauf Unterhandlungen anzuknüpfen, während welcher der Krieg ruhen könnte, und daß der österreichischungarische Botschafter in Berlin sich in diesem Sinne ausgesprochen hätte. Der Minister des Äußeren sagte ruhig aber bestimmt, daß keine Unterhandlungen auf Grundlage der serbischen Antwort gepflogen werden könnten, daß der Krieg heute erklärt werden würde, und daß die wohlbekannte Friedensliebe des Kaisers und — er dürfte das wohl beifügen — seine eigene als Beweis gelten könne, daß der Krieg sowohl gerecht als unvermeidlich sei. Dies sei eine Angelegenheit, welche zwischen den zwei direkt Beteiligten zum Austtag gebracht werden müsse. Ich antwortete darauf, daß Sie bedauern würden, vernehmen zu müssen, daß den Feindseligkeiten nicht mehr Einhalt geboten werden könne, da Sie die Be­ fürchtung hegten, dieselben könnten zur Ruhestörung ganz Europas führen. Als ich mich von Sr. Exz. verabschiedete, bat ich ihn zu glauben, daß, wenn im Laufe der gegenwärtigen schweren Krise unsere Ansichten manchmal von dev seinigen abweichen würden, der Grund nicht darin läge, daß wir die vielen gerechten Klagen Österreich-Ungarns gegen Serbien nicht verstünden, sondern darin, baß Österreich-Ungarn seinen Streitfall mit Serbien an erste Stelle setze, während Sie sich vor allem für den Frieden Europas bemühten. Ich sei sicher, daß auch Se. Exz. diese größere Tragweite der schwebenden Frage mit derselben Gerechtigkeit beurtelle. Er antwortete, daß dem so sei, doch meinte er, daß Rußland Maßnahmen wie die-

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jenigen, welche jett getroffen werden würden, nicht verhindern sollte, da ja eine Gebietsvergrößerunk nicht beabsichtigt sei, aber trotzdem solche Maßnahmen nicht länger verschoben werden könnten." Anmerkurg. Siehe österr. Rotbuch Nr. 41, S. 121 ff. und S. 178 und 179.

Währendtem nähert sich, wie bereits oben Kapitel 16 erwähnt, Grey wieder tvllständig dem deutschen Vorschlag und nennt ihn die beste Gewähr auf Erfolg, indem er für seine Konferenjidee zugleich eine einschränkende ruthermsche Interpretation gibt (engl. Weißbuch Nr. 67): ELr Edward Grey an Sir E. Goschen (Berlin). London, den 28. Juli 1914. „Der Jnhat des Telegrammes (Nr. 43), welches Sie am 27. Juli sandten, um zu erklären, vas mir vorschwebte, als ich die Abhaltung einer Konferenz vor­ schlug, ist vollstärdig richtig. Es würde kein Schiedsgericht sein, sondern eine private urd zwanglose Verhandlung, um sich über einen Vorschlag zu verständigen, tot zu einer Lösung führen könnte. Kein Vorschlag würde gemacht werden, ohne vorder in Erfahrung gebracht zu haben, ob derselbe Österreich-Ungarn und Rußland genehm sei, mit deren Regierungen die vermittelnden Mächte durch ihre verschiedenen Verbündeten leicht in Fühlung bleiben könnten. Aber so lange Aussicht vorhanden ist, daß Österreich-Ungarn und Rußland ihre Meinungen direkt austauschen, ziehe ich vor, keinen andern Vorschlag zu machen, da dies mir die beste Gewähr auf Erfolg zu sein scheint x). Soviel ich weiß, hat der russische Minister des Äußeren der österreichisch-ungari­ schen Regierung angeboten, mit ihr in einen freundschaftlichen Meinungsaus­ tausch zu treten, rnd sollte die letztere dies annehmen, so würde zweifelsohne eine Entspannung eintreten und so die Lage weniger kritisch gestaltet. Es ist sehr.erfreulich, vom deutschen Botschafter hier zu vernehmen, daß die deutsche Regierung in Wien im Sinne meines gestrigen Telegramms an Sie ein­ geschritten ist." Unmittelbar darauf (28. Juli) teilt Grey an Sir Goschen (Berlin) mit (Nr. 68 l.c.): „Da die deutsche Reichsregierung im Prinzip, wenn *) Nach dem französischen Gelbbuche Nr. 80 meldet auch Paul Cambon nach Paris, daß Grey und Nicolson ihm sagten, daß, wenn es gelänge, eine direkte Verständigung zwischen Petersburg und Wien zu erlangen, ü faudrait s’en ftiiciter. Zweifel über den Erfolg Sasonows werden ausgesprochen, der auch Englands Vorschlag akzeptierte. Siehe das Nähere dort, auch Nr. 97 L c. So geht das Spiel scheinbarer Zustimmung, aber immer größerer tatsächlicher Entfrem­ dung immer weiter, das unter verständigen Menschen nur das Ziel der Zeit­ gewinnung für die Mobilisierung haben konnte. Auch in der Folge streitet man sich (s. stanz. Gelbbuch Nr. 78, 79, 81 ff.) über die Form der „Mediation" der vier Großmächte. Österreich will keine «arbitrage ou wie Conference», daher will das treue Deutschland auch keine Pression auf Österreich in diesem Sinne. — Man vergleiche ülrigens die hier vorgesehene „private und zwanglose Verhandlung" mit dem „Duster der Londoner Botschafterkonferenz" (s. österr. Rotbuch Nr. 41 Kap. 17 S. 182 oben: lauter Widersprüche!).

i86 nötig, mit einer Vermittlung zwischen Österreich-Ungarn und Ruß, land durch die vier Mächte einverstanden ist, so bin ich bereit vorzu­ schlagen, der deutsche Staatssekretär möge die Grundzüge bekannt geben, auf welchen eine solche Vermittlung einsetzen könnte. Ich will jedoch mit dieser Idee zurückhalten, bis sich der Fortschritt der Ver­ handlungen zwischen Österreich-Ungarn und Rußland zeigt 1).,/ Sasanow selbst (s. Nr. 48 Orangebuch und Blaubuch Nr. 70) dringt erneut bei England auf Vermittlung und Aufhaltung der militärischen Schritte Österreichs. „Andernfalls würde die Vermittlung nur als Vorwand dienen, die Lösung in die Länge zu ziehen, und Öster­ reich die Möglichkeit geben, Serbien ganz zu zermalmen und eine dominierende Stellung im Balkan einzunehmen." Die Verhandlungen werden immer unklarer, — je einiger die Vertreter der Großmächte zu sein erklären. Die Vertreter des Drei­ verbandes stellen sich geschickt, als wenn sie Deutschlands und Öster­ reichs Zurückweisung des Greyschen Vorschlags nicht verstehen und verlangen nun von Deutschland, dessen klaren Standpunkt (Lokali­ sierung des Streits, direkte Verhandlungen zwischen Österreich und Rußland) sie zu dem ihrigen soeben neuerdings — wie schon anfangs — gemacht haben, eine nähere Präzisierung, was es eigentlich wolle. In Jules Cambons Bericht vom 28.Juli (Nr. 8r Gelbbuch am Ende) ist folgender Rat Cambons gegeben: „Mit Rücksicht auf den von Herrn von Jagow gezeigten Widerwillen (en raison de la tpugnance mani­ feste) gegen jedes Eingreifen in Wien (!) könnte Sir Edward ihn in die Enge treiben (pourrait le mettre au pied du mur), wenn er von ihm verlangt, daß er selbst die Form angeben könnte, wie die diplo­ matische Aktion der Mächte erfolgen soll, um den Krieg zu vermeiden." Diesem Rate Jules Cambons folgte Sir Edward flugs. Am Schlüsse folgt noch der bereits zitierte französisch-englische Generalplan: „Wir müssen uns allen Bemühungen zugunsten des Friedens anschließen, die mit unseren Verpflichtungen gegenüber unseren Bundesgenossen vereinbar sind; aber um die Verantwortung dort zu lasse», wo sie ist, *) Hier ist also ausdrücklich tugestanden, daß auch Deutschland mit der Dermittluug der vier Großmächte „im Printip, wenn nötig" einverstanden war. Die Idee, den deutschen Staatssekretär die Kastanien aus dem Feuer holen z« lassen, mißlang durch den weiteren Gang der Ereignisse. Jedenfalls leigt aber dieses Do­ kument mit dem vorhergehenden, daß Deutschland rastlos alle Wege unterstützte, die irgendeinen Erfolg der Vermittlung rwlschea Österreich-Ungarn und Rußland versprachen.

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ist es wichtig, von Deutschland j« verlangen, daß es bestimmt angebe, was es will." Aumerkuug. Oer Plan Jules Cambons, des trotz seiner „Gerissenheit" außerordentlich schlecht informierten, weil von Spionage lebenden französische« Ver­ treters, der an Jntelligenj hinter seinem Bruder iurückstand, war gut. Alles mußte aufgeboten werden, um Deutschland schließlich als den allein schul­ digen Teil hinstellen ju können. Nach diesem Rezepte wurde während des ganzen Krieges die In- und Auslandspresse bis zu den tollsten Verleumdungs­ orgien informiert: der Plan wurde auch mit einem in der Weltgeschichte einzig dastehenden Raffinement durchgeführt. Die tollste Phantafle eines Münchhausen und Jules Verne kann nicht annähernd ersinnen, was diese von Anfang an in größtem Stlle aufgebaute sogenannte Geschichtsklitterung der englisch-französtschen Presse, die mittels der Alleinbeherrschung der Kabel und schwerer Fehler der deutschen Regierung in kürzester Zeit allein und konkurrenzlos die Presse der ganzen Welt beherrschte, ersann (s. des Verfassers Buch „Der Weltkrieg und der Zusammenbruch des Völkerrechts", 3. Stuft., Kap. 21 bis 23).

England setzte nach der Kriegserklärung ÖsterreichUngarns an Serbien seine von Anfang an unklare, jwischen Streben nach Friedensstiftung und Aufreijung bjw. Unterlassung jeder ernstlichen Warnung an Ruß­ land schwankende Haltung fort*). *) Kurze Rekapitulier»»- ist vielleicht angebracht. Siehe englisches Weiß­ buch Nr. 3. Dort hatte bereits am 23. Juli Sir Edward Grey zu dem österreichischungarischen Botschafter gesagt, daß alles abhänge: tupon how reasonable were the Austrian demands and how strong the justification that Austria might have discovered for making her demands.» Am Tage darauf erklärte er: «in View of the extraordinary stiff caracter of the Austrian Note, the shortness of the time allowed, and the wide scope of the demands of Servia (engl. Weißbuch Nr. n). Siehe auch Nr. io dortselbst.

Am 25. Juli berichtet Graf Benckendorff nach Petersburg die ablehnende Antwort Englands auf die deutsche Bitte, zu vermitteln (s. russ. Orangebuch Nr. 20 S. 2i, bei Strupp S. 157): «L*Ambassadeur a demands ... si VAngleterre pourrait consentir ä agir ä St. Petersbourg dans un esprit de conciliation. Grey a repondu que tant que les complications n’existeraient qu’entre VAutriche et la Serbie, les interets Anglais n’6taient engages qu’ indirectement mais qu’il devrait prevoir que la mobilisation autrichienne aurait comme suite la mobilisation de la Russie et que des ce moment on se trouverait en pr6sence d’une Situation ä laquelle seraient int6ress€es toutes les Puissances. L’Angleterre se reservait pour ce cas une complete libertö d’aetion.»

Wir verweisen nochmals auf die interessante, oben bereits genau mitgeteilten Gespräche zwischen Sir Buchanan und Minister Sasonow (engl. Weißbuch Nr. 6 und 17, Nr. 24 und 45). — Aus Nr. 46 ebendort erhellt, daß Grey immer nur auf „Mäßigung" in Wien drängt; „die serbische Antwort sei weit entgegenkom­ mender als erwartet"; Rußlands versöhnlicher Rat sei daran schuld (!).

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Sir Edward Grey wird unverkennbar von Tag zu Tag deutlicher — je mehr er sieht, daß die große Allianj gegen die beiden Zentralmächte fester und fester wird — in seiner Stellungnahme jugunsten Rußlands und Frankreichs. Einen starken Beweis bildet Nr.47 des engl. Weißbuchs, die so wichtig ist, daß wir sie wiederholt, und zwar hier wörtlich, zitieren müssen: Sir Edward Grey an Sir Buchanan in Petersburg. 27. Juli 1914. Oer russische Botschafter teilt mir mit, daß in österreichischen und deutschen Kreisen die Meinung vorherrsche, wir würden in jedem Falle unbeteiligt bleiben. Se. Ex;, bedauerte den Eindruck, den eine solche Meinung Hervorrufen müsse. Meine Antwort lautete, ich könne nur schon Vorhergesagtes wiederholen, nämlich, daß dieser Eindruck durch unsern Befehl an die erste Flottendiviston, welche tufällig in Portland vereinigt sei, nicht ;u den Manövern auszulaufen, verwischt werde. Aber dem russischen Botschafter bedeutete ich, daß meine Bezugnahme auf diese Maßregel nur so ausgelegt werden dürfe, daß wir keine andern als diplo­ matische Schritte unternehmen würden. Don deutscher und österreichisch-ungarischer Seite hören wir, daß man er­ wartet, Rußland werde nicht eingreifen, solange Hsterreich-Ungaru kein serbisches Land annektiere. Ich machte auf dies aufmerksam und fügte hinzu, daß es lächer, lich erscheinen dürfte, wenn wir uns den deutschen und österreichischmngarischen Regierungen gegenüber serbienfreundltcher zeigten alö Rußlandl) **). *) Siehe auch franz. Pelbbuch Nr. 63. Grey ironisiert sich hier natürlich absichtlich selbst. Der Hinweis an Rußland, daß es sich nicht durch England an Serbienfreundlichkeit übertreffen lassen möge, ist deutlich genug und wurde in Peters­ burg sehr gut verstanden, wie der weitere Verlauf der Krisis zeigt. Die Drohung mit der Flotte spricht er hier (s. oben Kap. 13) am selben 27. Juli zum zweiten Male aus. Grey weiß jetzt, daß er sich auf Frankreich und Rußland unbedingt verlassen kann, und daß es jetzt für ihn nur gilt, in richtiger Weise den Anschluß an die beiden Mächte zu finden. Er spielt dabei noch den gerechten judex mundi, der scheinb-r bald dem Zweibunde der ZentralmLchte, bald Rußland seine Zurechtweisung zukommen läßt, der aber entzückt ist, daß sein Vertreter Buchanan bereits am 25. gegenüber Sasonow andeutete, daß England aus dem Vermittler „eines Tages Derbündeter Rußlands werden könne", stehe oben engl. Weißbuch Nr. 17, 24, 45. *) Kritisches zur Haltung Englands. Ludwig Bergsträßer nimnt in seiner ausgezeichneten kritischen Studie in der Historischen Zeitschrift (114. B). 3. Folge. 18. Band, 3. Heft S. 489 ff.) „Die diplomatischen Kämpfe vor Kriezsausbruch" S. 547 ff. eine wesentlich andere Stellung zur Haltung Englands und Sir Edward Greys ein als die landläufige, auch von Helfferich u. a.getellte Ansicht, taß England von Anfang an Rußland und Frankreich in den Krieg treiben und sich slbsk auf die Seite seiner beiden Verbündeten stellen wollte. Er meint, daß „England zunächst wenigstens bestrebt war, wirklich und ehrlich zu vermitteln, in voller Erkmntnis, daß bei einer Vermittlung nicht einseitig dem Standpunkte Rußlands Rechnmg getragen werden dürfe.... Am 27. Juli aber änderte die englische Regilru ng ihre Stellung vollständig." Bergsträßer nennt die im engl. Blaubuch Nr. 46 wieder-

i8g gegebene Äußerung Greys „wenn noch nicht eine Drohung, so doch eine Warnung, nicht die falsche Rechnung aufzustellen, England werde neutral bleiben, wie es das früher in kontinentalen Händeln so oft getan hatte". Als Gründe dafür, daß England von vornherein nicht den Krieg gewollt habe, nennt Bergsträßer, daß „dieselben englischen Staatsmänner, deren Politik es 1914 zum Kriege hat kommen lassen, 1913 den Krieg durch eine langwierige und umständliche Vermittlungsaktion ver­ mieden haben", die Lage sei 1914 nicht besser als 1913 für den Dreiverband gewesen. Diese Deduktion erscheint doch außerordentlich zweifelhaft. Es spricht freilich vieles dafür, daß England auch das Jahr 1914 noch nicht völlig für seine lange eingefädelten Pläne gegen Deutschland paßte; Englands maßgebende Staatsmänner wußten genau, daß Rußland noch nicht so fertig war, wie es im Jahre 1916 oder 1917 gewesen wäre; auch der ganze letzte Anlaß, der schändliche Serajewoer Mord, war den Engländern an sich ebenso unsympathisch wie die ser­ bische crux überhaupt. Es kann also die zuwartende, vermittelnde Tätigkeit Sir Edward Greys wohl auf der in der öffentlichen Meinung liegenden Unficherheit und Sympathielosigkeit beruht haben. Dazu kommt aber auch eine Reihe anderer Gründe, die Sir Edwards an­ fängliche Vorsicht und Zurückhaltung außerordentlich naheliegend erscheinen lassen: Am 25. Juli wird Sir Edward sicherlich erfahren haben, daß Rußlands maßgebende Männer behaupteten (s. Helmolt S. 144): „Rußland sei zum Kriege bereit und die übrigen Minister schloffen sich dem Kriegsminister voll an, es wurde ein dement­ sprechender Bericht an den Zaren gefertigt, und dieser Bericht wurde an demselben Abend bestätigt" (s. Bergsträßer S. 542). Der Ministerrat vom 25. Juli 1914 (s. Gelbbuch Nr. 50) beschloß die Mobilmachung gegen Österreich-Ungarn de facto. (Siehe deutsches Weißbuch Anlage 6 und 7.) In der Zwischenzeit vergewisserte sich die englische Regierung von neuem, daß Frankreich und Rußland völlig einig waren und den Bündnisfall im serbischösterreichisch-ungarjschen Streitfall als vorliegend anerkannten. Da war die bisherige Vorsicht nicht mehr notwendig. Und Bergsträßer widerspricht sich im weiteren selbst und widerlegt seine eigene Auffassung, indem er S. 561 anerkennt: „Es zeigte sich immer mehr, daß diese englische (Dermittlungs)-Arbeit nicht recht gedeih­ liche Früchte zeitigen konnte, da die englische Regierung doch zu sehr auf der einen Seite stand, zu sehr durch ihre früheren, wenn auch losen Abmachungen mit Rußland und vor allem mit Frankreich gebunden war." Das ist der eigentliche Grund der Taktik Sir Edwards. Zwischen 1913 und 1914 lag manches, was trotz der oben bemerkten allgemeinen englischen Bedenken gegen den Beginn des Weltkrieges durch Rußlands plumpes Vorgehen rcbus sic stan­ tibus für England ein Eingreifen in den Krieg von Anfang an geratener erscheinen ließ als im Jahre 1913. Die Verhandlungen über die russisch-englische MarineKonvention, die Fortschritte in den russisch-französischen Beziehungen, das Auf­ flammen des russischen und französischen Nationalismus, die Angelruten, die man den neutralen Staaten noch in den letzten Monaten nicht ganz ohne Erfolg legte, waren Vorteile und Gefahren zugleich, deren man sich in England wohl bewußt war. Und auch militärisch war in den letzten zwölf Monaten in Rußland un­ zweifelhaft Gewaltiges geleistet worden. Bereits im April und Mai 1914 hatte man mit der Heranziehung der sibirischen Regimenter begonnen.

igo Oie deutsche MUitärvorlage 1913 kam den Ententemächten freilich unan­ genehm, aber sie war 1914 noch nicht durchgeführt, außerdem erwiesenermaßen provotiert durch die russischen und französischen Rüstungsanstrengungen, ins­ besondere den Übergang Frankreichs zur dreijährigen Dienstzeit, eine Last, die zum baldigen Losschlage» Frankreich gerader« t«ang. Gewiß, ob England vom ersten Augenblick an, d. h. vom 22. oder 24. Juli an, den Krieg wollte, auf ihn hinarbeitete, ist nicht mathematisch nachweisbar, erscheint auch fast glelchgiltig. Wir wiederholen: ein späterer Zeitpunkt wäre sicherlich der englischen Regierung angenehmer gewesen. Rußland „ging vorlos"; man erkennt aus verschiedenen Bemerkungen Buchanans und Sir Edwards, daß man für Rußlands Brutalität oder Plumpheit bangte, — wie der Verlauf zeigte, mit Recht. Vor allem warnte Buchana» wiederholt (über die englische Haltung bis jutn 27. Juli siehe Gelbbuch Nr. 22, engl. Dlaubuch Nr. 6,17, 24,44). Rußland und Frankreich drängte» England (siehe Orangebuch Nr. 17: comptons que l’Angkterre ne tardera pas de se ranger nettement du c6t4 de la Russie; s. auch Orangebuch Nr. 28, 29, 35, 53 und 55, andererseits engl. Blaubuch Nr. 6, 87, 99,105,116, 119, 134 ff., ferner Blaubuch Nr. 54, 58 und Orangebuch Nr.43). Aber das, was Englands Schuld bildet, ist, daß es seinen ausschlaggebenden Einfluß nicht energisch genug einsetzte, um Rußland vor der Mobilmachung, die den Krieg, wie eS wußte, bedeutete, abzuhalten, ja, daß es in Kenntnis der furchtbaren Wir­ kung Rußland absichtlich und wissentlich den Nacken steifte und ge­ radezu veranlaßte, zum äußersten zu schreiten, indem es das Recht Rußlands anerkaonte, sich in den österreichisch-serbischen Streit als Nächstbeteiligter einzumischen und damit die serbische Unnachgiebig, kett erzeugte. Also der dolus eventualis oder die culpa dolo proxima liegt bei der englischen Regierung, auch wen« wir mit Bergsträßer annehmen wollte«, daß zunächst Sir Edwards Vorgehe» (Blaubuch Nr.46) nichts anders sein sollte als ein kurzsichtiger „Bluff". Bergsträßer meint: „ES ge­ wann für Grey ein Gedankengang Bedeutung, der von der russischen Diplomatie die ganz« Zeit hindurch in den englischen Staatsmännern genährt worden war, nämlich, daß ein Nachgeben der Zentralmächte sehr einfach zu erreichen sei, wenn sie nur wüßten, daß England sich im Falle des Krieges auf die Gegenseite schlage; dann würden sie schon nachgeben; ihre Verstocktheit komme daher, baß sie glaubten, England werde neutral bleiben." Als Beweis dafür der Bericht des französische» Geschäftsträgers in London vom 27. Juli 1914 (Gelbbuch Nr. 63), «pour peser sur VAllemagne et pour eviter tm conflit», sei nötig gewest«: «que celle ci (Deutsch, land) soit ammente 4 tenir pour certain qu elle trouverait l'Angleterre et la Russie au cöte de la France». Dieses taktische „Bluff",Mittel gegenüber den Zentralmächte» war hochgefährlich, seine Anwendung ein Spielerkunststück, das Sir Edward als geringwertigen Diplomaten erkenne» läßt, das ihn jedenfalls so fest an Rußland kettete, daß er nicht mehr loSkam, selbst wenn er bis zum 27. Juli ganz uneigennützig vermittelt hätte (s. auch de» Bericht des belgischen Geschäfts­ trägers in St. Petersburg B. de FEscaille vom 30. Juli 1914, veröffentlicht von der deutschen Regierung November 1914, deuisches Weißbuch Aal. 28). Sasonow hat dies auch sofort begriffen (siehe Blaubuch Nr. 72 und 78) und die nötigen Konsequenzen durch die Mobilmachung gegen Österreich-Ungarn am 28. Juli gezogen. Als» Bergsträßer hat jedenfalls recht, wenn er sagt: „Diese verfahrene

Situation wurde durch die englische Politik vom 27. Juli geschaffen." Die un­ seligen Erklärungen von Sir Edward am 29. Juli an den deutschen Botschafter sind die logischen Folgerungen dieser Bluffpolitik (s. unten). Siehe im übrigen „Nordd. Allg. Ztg." vom 27. August 1915 mit der Zurück­ weisung des Vorwurfes Sir Edward Greys, daß die Annahme seines Konferenzvorschlages den Frieden erhalten hatte (s. auch oben Kap. 13 u. 14). Vergessen darf aber bei alledem nicht werden, daß der schwere Verdacht der Absicht, sich den großen Verwicklungen im Innern Englands (Home rufe** Kampf) durch Krieg $u entziehen, durch den Bischof von Kenflngton «ad andere einflußreiche Zeugen voll bestätigt wurde („August 1914 stand England am Rande des Bürgerkrieges", s. das Nähere unten).

19. Kapitel.

Frankreichs Haltung und Stimmung am 28. Juli. Frankreichs Haltung ist von Anfang an in einer Richtung klar gewesen,—trotz der zahlreichen Schwankungen in der Einzelhaltung, die erklärlich durch die Tatsache werden, daß bort eigentlich jeder Po­ litiker zunächst eigene Politik macht. Frankreich tut, was Rußland und England raten (s. engl. Weißbuch Nr. 6 und 45). So unter­ stützte es auch ohne weiteres, wie oben Kapitel 14 (S. 166) gezeigt, Sir Edward Greys Konferenzvorschlag. Der persönliche Einfluß Paul Cambons auf Englands Politik war andererseits freilich un­ zweifelhaft nichr gering anzuschlagen. Auch in den folgenden Stadien unterstützt Frankreich Rußlands diplomatische Schritte unbedingt *). So konnte bereits Sasonow am 25. Juli 1914 Sir Buchanan erklären: ... «if she (Russia) feels secure of the Support of France, she will face all the risks of war» (engl. Weißbuch Nr. 17, s. oben) 2).

*) Es liegen vielerlei Anhaltspunkte vor, daß Paul Cambon und Jswolsky die eigentlichen „bbsen Geister" der KrtegSentente waren, die in den Lord Churchill, Ntcolson, Bertie, Hardinge usw. das richtige Echo fanden. Bereits am 24. Juli erklärt Frankreich (nach dem engl. Blaubuch Nr. 6, s. oben), wie Sir Buchanan an Sir Edward Grey meldet: «The French Ambassador (nämlich PalLologue) gave me to widerstand that France would fulfil all the obligations entailed by her alliance with Russia, if necessity arose, besides supporting Russia strongly in any diplomatic negotiations.»

*) Der Konditionalsatz «if» usw. soll m. E. nicht bedeuteu, daß Rußland sich noch nicht sicher fühlte, von Frankreich unterstützt zu werden, das hätte ein vor­ sichtiger Staatsmann wie Sasonow, wohl auch Sir Buchanan gegenüber kaum ausgesprochen, sondern die Überzeugung, daß Frankreich hinter Rußland steht, und daß dieses daher alle Risiken des Krieges übernehmen werde (anders Helfferich a.a. £>.).



9

* *



Der Ausspruch des Vertrauens der deutscher Regierung auf Frankreich, „mit dem wir uns in dem Wunsche un Erhaltung des europäischen Friedens eins wissen", und die Hossnurg, daß es in St. Petersburg seinen Einfluß in beruhigendem Sinn: geltend machen wird (s. oben Anlage ioa des deutschen Weißbuches), hatten die Stimmung dort, wie die Zwischenfälle mit dem Bot'chafter v. Echoen (s. oben Kapitel 14 S. 166 ff. und Gelbbuch Nr. 56,57,61, 62) zeig­ ten, nicht besonders verbessert. Am Schluffe dieses Abschnittes der Verhandlungen spricht der franjöstsche Botschafter Tumaine in Wien (am 28. Juli) folgende Verdächtigung der deutscher Absichten aus: «Parmi les soup^ons qu'inspire la soudaine et violente rtsolution de VAn­ triebe, le plus inqutetant est que VAllemagne Vaurait pre Bestrebungen im Interesse des allgemeinen Friedens zu unterstützen, Bestrebmgen, mit welchen er aufrichtig einverstanden fei." Anmerkung.

Me wir aus der oben jitierte» Rebe des Reichskantlers

vom ry. August 1915 rossen, hat der Reichskanzler noch weit schärferen Druck in friedlichem Sinne in Dien geltend gemacht, als er es hier mitteilt. Man steht, daß Bethmann Hollweg GreyS doppelte, unklare Politik, die abflchtlich zwischen Friedensvermittlung uni Drohung bjw. Steifung Rußlands schwankt, indem man nur Hsterretch-Ungain t»r Mäßigung ermahnen läßt, sich aber um Rußlands „Mäßigung" gar nicht bemüht, immer noch als klar und ehrlich und ernstlich gemeint annimmt. Nach Anlage 15 des deutschen Weißbuchs hatte der Reichskantler be­ reits am 27. Juli dem Firsten Lichnowsky mitgeteilt, baß er in Wien in dem von Grey gewünschten Sinne sofort die Vermittlungsaktio» eingeleitet habe. „Über­ dies habe er Graf Berchtrld auch den Wunsch des Herrn Sasonow auf direkte Aus­ sprache mit Wien mitgeteilt", fügt er hintu.

Die Antwort Greys auf dieses vertrauensvolle Lob des Reichs-kanjlers lautet charakteristisch kühl folgendermaßen (Nr. 77 des engl. Weißbuchs): 29. Juli 1914. „Ich schätze die Ausführungen des Reichskanjlers, welche Sie mir heute tele­ graphisch (Nr. 75) übermittelten, nach ihrem vollen Werte. S. Ext. kann stch darauf verlassen, baß Großbritannien, so wie es bisher getan hat, fortfahren wird, jede Anstrengung tu machen, um den Krieg und bas von uns allen gefürchtete Unglück $u verhindern. Wenn der Reichskanzler Österreich-Ungarn bewegen kann, Rußland soweit zufriedenzustellen, damit ein Zusammenstoß auf dem Schlachtfelde dieser beiden Länder verhütet wird, werden wir alle Sr. Exz. für die Erhaltung des europäischen Friedens zu großer Dankbarkeit verpfiichtet sein." Anmerkung. Und wieder stößt die Frage auf: Und was tat Sir Edward in St. Petersburg, als höchst zweideutige Derbalwarnunge», die zu gleicher Zeit Er­ munterungen für zukünftige Bundesgenossenschaft enthielten, abgeben zu lassen? S. die „Nordd. Allg. Ztg." über den Streit zwischen Bethmann Hollweg und Sir Edward Grey vom 21. August 1915.

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22. Kapitel. Der Depeschenwechsel zwischen dem deutschen Laiser und Zaren. — Verschlechterung der deutsch-englischen Leziehungen.

i. Neben diesen Anstrengungen des verantvortlichen Reichs­ ministers, des Reichskanjlers und seines Ressortvettreters, des Staats­ sekretärs des Auswärtigen, bemühte sich der Kaiser selbst, in einem regen Depeschenwechsel vom 28. Juli bis 30. Juli mit dem Zaren, den Frieden zu erhalten. (S. diesen De­ peschenwechsel in Anl. 20—233 des deutschen Weißbuchs.) (Nr. 20.) i. Se. Majestät an den Zaren: 28. Juli 10. 45 p. m. Mit der größten Beunruhigung höre ich von dem Eindruck, den Österreich, Ungarns Vorgehen gegen Serbien in Deinem Reiche hervorruft. Die skrupellose Agitation, die seit Jahren in Serbien getrieben worden ist, hat zn dem empörenden Verbrechen geführt, dessen Opfer Erzherzog Franz Ferdinand geworden ist. Der Geist, der die Serben ihren eigenen König und seine Gemahlin morden ließ, herrscht heute noch in jenem Lande. Zweifellos wirst Du mit mir darüber übereinstimmen, daß wir beide, Du und ich sowohl als alle Souveräne ein gemeinsames Interesse daran haben, darauf zu bestehen, daß alle diejenigen, die für den scheußlichen Mord moralisch verantwortlich sind, ihre verdiente Strafe erleiden. Andrerseits übersehe ich keineswegs, wie schwierig es für Dich und Deine Regierung ist, den Strömungen der öffentlichen Meinung entgegenzutreten. Ein­ gedenk der herzlichen Freundschaft, die uns beide seit langer Zeit mit festem Band verbindet, setze ich daher meinen ganzen Einfluß ein, um Österreich,Ungarn dazu zu bestimmen, eine offene und befriedigende Verständigung mit Rußland anzu, streben. Ich hoffe zuverflchtlich, daß Du mich in meinen Bemühungen, alle Schwierigkeiten, die noch entstehen können, zu beseitigen, unterstützen wirst. Dein sehr aufrichtiger und ergebener Freund und Vetter gez. Wilhelm.

(Nr. 21.) 2. Der Zar an Se. Majestät: Peterhof. Palais, 29. Juli 1 p. m. Ich bin erfreut, daß Du zurück in Deutschland bist. In diesem so ernsten Augenblick bitte ich Dich inständig, mir zu helfen. Cin schmählicher Krieg ist an ein schwaches Land erttärt worden, die Entrüstung hierüber, die ich völlig teile, ist in Rußland ungeheuer. Ich sehe voraus, daß ich sehr bald dem Druck, der auf mich ausgeübt wird, nicht mehr widerstehen können und gezwungen sein werde, Maß­ regeln zu ergreifen, die zum Kriege führen werden. Um einem Unglück, wie es ein europäischer Krieg sein würde, vorzubeugen, bitte ich Dich im Namen unserer alten Freundschaft, alles Dir Mögliche zu tun, um Deinen Bundesgenossen davon zurückzuhalten, zu weit zu gehen. gez. Nikolaus.

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(Nr. 22.)

z. Se. Majestät an den Zaren:

2y. Juli 6. 30 p. m. Ich habe Dein Telegramm erhalten und teile Deinen Wunsch nach Er­ haltung des Friedens. Jedoch kann ich — wie ich Dir in meinem ersten Telegramm sagte — Österreich-Ungarns Vorgehen nicht als „schmählichen Krieg" betrachten. Österreich-Ungarn weiß aus Erfahrung, daß Serbiens Versprechungen, wenn sie nur auf dem Papier stehen, gänzlich unzuverlässig sind.

Meiner Ansicht nach ist

Österreich-Ungarns Vorgehen als ein Versuch zu betrachten, volle Garantie dafür zu erhalten, daß Serbiens Versprechungen auch wirklich in die Tat umgesetzt werden. In dieser Ansicht werde ich bestärkt durch die Erklärung des österreichischen Kabinetts, daß Österreich-Ungarn keine territorialen Eroberungen auf Kosten Serbiens beab­ sichtige.

Ich meine daher, daß es.für Rußland durchaus möglich ist, dem öster­

reichisch-serbischen Krieg gegenüber in der Rolle des Zuschauers zu verharren, ohne Europa in den schrecklichsten Krieg hineinzuziehen, den es jemals erlebt hat.

Ich

glaube, daß eine direkte Verständigung zwischen Deiner Regierung und Wien möglich und wünschenswert ist, eine Verständigung, die — wie ich Dir schon tele­ graphierte — meine Regierung mit allen Kräften zu fördern bemüht ist. Natürlich würden militärische Maßnahmen Rußlands, welche Österreich-Ungarn als Drohung auffassen könnte, ein Unglück beschleunigen, das wir beide zu vermeiden wünschen, und würden auch meine Stellung als Vermittler, die ich — auf Deinen Appell an meine Freundschaft und Hilfe — bereitwillig angenommen habe, untergraben. gez. Wilhelm.

(Nr. 23.) 4. Se. Majestät an den Zaren: 30. Juli i a. m. Mein Botschafter ist angewiesen. Deine Regierung auf die Gefahren und schweren Konsequenzen einer Mobilisation hinzuweisen; das gleiche habe ich Dir in meinem letzten Telegramm gesagt. Österreich-Ungarn hat nur gegen Serbien mobilisiert, und zwar nur einen Teil seiner Armee. Wenn Rußland, wie es jetzt nach Deiner und. Deiner Regierung Mitteilung der Fall ist, gegen Österreich-Ungarn Mobil macht, so wirb die Vermittlerrolle, mit der Du mich in freundschaftlicher Weise betrautest, und die ich auf Deine ausdrückliche Bitte angenommen habe, gefährdet, wenn nicht unmöglich gemacht.

Oie ganze Schwere der Entscheidung

ruht jetzt auf Deinen Schultern, sie haben die Verantwortung für Krieg oder Frieden zu tragen. gez. Wilhelm. Anmerkung. Wegen des engen inneren Zusammenhangs mit dem vor­ stehenden Telegrammwechsel bringen wir diese Urkunden bereits hier. Der chrono­ logische Standpunkt läßt sich genau nicht durchführen.

5. Ein interessantes Nachspiel meldet das Telegramm des Militär­ bevollmächtigten in St. Petersburg an Se. Majestät den Kaiser vom 30. Juli 1914 (Nr. 18 des deutschen Weißbuchs).

Es lautet:

Gestern sagte mir Fürst Trubetzki, nachdem er veranlaßt hatte, daß Eurer Majestät Telegramm an Kaiser Nikolaus sofort übermittelt würde: Gottlob, baß ein Telegramm Ihres Kaisers gekommen ist. Cr sagte mir nun soeben, das TeleMüNer-Meirringea^ Entstehung des Weltkrieg-.

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210

gramm hätte auf den Kaiser tiefen Eindruck gemacht, aber da die MobMsierung gegen Österreich bereits befohlen gewesen und Sasonow Seine Majestät wohl davon übertrugt hätte, daß eS nicht mehr möglich fei, jurückjuwelchen, so könne Seine Majestät leider nichts mehr ändern. Ich sagte ihm darauf, die Schuld an den unabsehbaren Folgen trage die frühzeitige Mobilisierung gegen das doch nur in einen lokalen Krieg mit Serbien verwickelte Österreich-Ungarn, denn Deutschlands Antwort darauf sei wohl klar, und die Verantwortung fiele auf Rußland, welches Österreich-Ungarns Zusicherung, daß es territoriale Erwerbungen in Serbien in keiner Weise beabsichtige, ignoriert habe. Österreich-Ungarn habe gegen Serbien und nicht gegen Rußland mobilisiert, und t»m sofortigen Eingreifen sei kein Grund für Rußland. Ich fügte des weiteren hintu, daß man in Deutschland die Redensart Rußlands: „Wir können unsere Brüder in Serble» nicht im Stich lassen", «ach dem furchtbaren Verbrechen von Serajewo sticht mehr verstehe. Ich sagte ihm schließlich, er möge, wenn Deutschlands Streitmacht mobilisiert «erbe, sich nicht wunder». (Unten S. 286 wiederholt abgedruckt.) Anmerkung. Das Charakteristische in diesem Trlegrammwechsel ist das von dem Zaren bereits am 29. Juli abgegebene Geständnis, daß er „dem Drucke sehr bald nicht mehr werde widerstehen können, und baß er getwungen sein werde, Maßregeln zu ergreifen, die r«m Kriege führen". Hier spricht neben der Offenheit die Augst vor der Riesenverantwortung und die Schuld, ja bas böse Gewissen über die Teilnahme an dem Frevel der andern, wen» auch tuglelch in dem Schluß­ passus dem Bundesgenossen Deutschlands der Vorwurf gemacht wird, daß er tu weit gehen könne. Zu berücksichtigen ist bei alledem frellich, daß bereits spätestens am 26. Juli (f. Meldungen des deutschen Militärattaches vom 26. Juli, Anlage 7 des deutschen Weißbuchs) für Kiew und Odessa mobilgemacht wurde; am 27. Juli in Kowno und damit wohl im ganten Norden gegen Deutschland der Kriegstustand erklärt wurde (s. Meldung des kais. Konsularverwesers in Kowno vom 27. Juli 1914» deutsches Weißbuch Anl. 8). II. Auch die Beziehungen zwischen England und Deutsch­ land werden trotzdem täglich steifer, unfreundlicher, feindseliger in demselben Maße, in dem stch die Beziehungen zwischen den Zentral­ mächten und Rußland verschlechtern (29. bis 31. Juli). Der sehr interessante Briefwechsel zwischen Sir Grey und Bot­ schafter Goschen in diesen Tagen enthält den Beweis (s. engl. Weißbuch Nr. 84, 85, 87, 89, Kap. 24 unten). Sir Ä>ward Grey meldet an Sir E. Goschen am 29. Juli 1914 (Nr. 84):

„Der deutsche Botschafter wurde vom Reichskaatler angewiesen, mir mit, tuteilen, baß er sich bemühe, mit Erfolg zwischen Wien und St. Petersburg tu «ermitteln. Österreich-Ungar» und Rußland scheine» in beständiger Fühlung t» sei», und der Kanzler^möchte Wien dahin bringe», in St. PeterS-

2II

bürg In genehmer Form zu erklären, was Österreich-Ungarn inbetreff Serbiens vornehmen wolle *). Ich sagte dem deutschen Botschafter, daß ein direkt zwischen Österreich,Ungarn und Rußland getroffenes Übereinkommen wohl die beste Lösung wäre. Ich würde mit keinem Vorschlage drängen, solange als Aussicht auf eine solche Lösung be­ stünde, aber heute Morgen sei mir berichtet worden, daß die k. und k. Regierung es derjenigen Rußlands abgeschlagen hätte, den österreichisch-ungarischen Bot­ schafter in Et. Petersburg zu ermächtigen, direkt mit dem russischen Minister des Äußeren übn einen Ausweg zu verhandeln, der den österreichisch-serbischen Streit beenden würde. Oie fremden Preßvertreter in St. Petersburg sind von der russi­ schen Mobllsation unterrichtet worben. Die deutsche Regierung hätte verlauten lassen, sie wcre im Prinzip mit einer Vermittlung zwischen Rußland und ÖsterreichUngarn, wein sich eine solche als notwendig erweisen sollte, einverstanden. Da­ gegen hielte man in Berlin dafür, daß die vorgeschlagene Art der Konferenz, der Beratung orer der Verhandlung oder selbst der persönlichen Unterredung zwischen den Dertretcrn der vier Mächte in London, viel zu förmlich sei. Ich drängte wieder darauf, die deutsche Regierung solle irgendeinen Vorschlag machen, wonach der gemeinsame Einfluß der vier Mächte dazu benutzt würde, um einem Kriege zwischen Ssterreich-Uigarn und Rußland vorzubeugen. Sowohl Frankreich als Italien seien damit einverstanden. Deutschland möge irgendeine Methode ausarbeiten, um das vorgeschlagene Vermittlungsverfahren, das sogleich angewendet werden könne, einzuleiten, wenn die von mir beantragte Ausführung der deutschen Re­ gierung nicht angemessen scheine, denn jeder auf den diesbezüglichen Zweck gerichtete Vorschlag Deutschlands würde sogleich praktische Verwendung finden; es dürfe also nur im Interesse des Friedens das Zeichen dazu geben" G>Press the button in the interest of peace“).

Anmerkung i. Daß am 28. Juli noch die deutsche Diplomatie nicht an Krieg dachte, bestätigt ein denkbar einwandfreier Zeuge, der rumänische Deutschen­ hasser und Tripleententeagent Take Jonescu. Er hatte den Fürsten Lichnowsky kurz vor Ausbruch des Weltkrieges in London aufgesucht. Er erzählt, daß der deutsche Botschafter Fürst Lichnowsky bis in die letzten Tage überzeugt gewesen sei, daß der Frieden nicht gestört würde. Er mag aber vielleicht — sagt Take Jonescu — in die wahren Ziele der Berliner Politik nicht eingeweiht gewesen sein (ll). Noch am Montag, den 27. Juli, sei Fürst Lichnowsky so sehr von der Aufrechterhaltung des Friedens überzeugt gewesen, daß er ihm, Take Jonescu, den Rat erteilt hätte, seine beabsichtigte Kur in Aix-les-Bains nicht aufzugeben und nicht nach Rumänien zurückzureisen. Anmerkung 2. Auch hier geht wie ein roter Faden der frellich geschickt verborgene Versuch hervor, Deutschland als den verantwortlichen Schuldigen, der die Vorschläge des Dreiverbandes durchkreuzt, hinzustellen und ihm die volle Verantwortung aufzuladen; s. auch Gelbbuch Nr. 98 Abs. i G»Quelle qu’elle soit, si eile pcrmet de maintenir la paix, eile sera agree par Angleterre, la France et l'ltalie", meldet Paul Cambon unter dem 29. Juli aus London).

l) Dom Verfasser durch Sperrdruck hervorgehoben. Oer Beweis dafür ist in Nr. 14 Anl. des deutschen Weißbuchs enthalten; unten S. 255 abgedruckt.

212 Auf den Vorschlag der direkte« Verhandlung hat man russischerseits nur ein „Selbstverständlich geht das nicht mehr", und Rußlaod mobilisiert zugleich 14 Armeekorps (s. dort Nr. 165), angeblich gegen Österreich, in Wirklichkeit auch gegen Deutschland, und stürzt die Welt so io den Krieg.

23. Kapitel. Rußland mobilisiert trotz Ehrenwortes seine ganze Ärmer (29. Juli nachts). Die Beziehungen zwischen den Zen­ tralmächten und dem Dreiverband werden feindseliger (29. bis 31. Juli). Rriegsoorbereitnngen Frankreichs. Iswolsins unselige Wirksamkeit. Rußland und Frank­ reich Liber den Urieg einig. England läßt erkennen, daß es mitgeht. I. Wir haben oben gesehen (s. Kap. 20 S. 193 ff.), daß am 29. Juli, einer Weisung Sasonows entsprechend, der deutschen Ne­ gierung mitgeteilt wurde, daß Rußland die Militärbezirke Odessa, Kiew, Moskau und Kasan mobilisiere. Die Versicherung, daß man gegen Deutschland keine feindlichen Absichten hege, konnte dabei nicht sehr wirksam sein. Am 29. Juli berichtete der deutsche Militärattache in Petersburg telegraphisch über eine Unterredung mit dem Generalsiabschef der russischen Armee (deutsches Weißbuch S. 7): „Oer Generalstabschef hat mich zu sich bitten lassen und mir eröffnet, daß er von Sr. Majestät soeben komme. Er sei vom Kriegsminister beauftragt worben, mir nochmals zu bestätigen, es sei alles so geblieben, tote es mir vor zwei Tagen der Minister mitgeteilt habe. Er bot mir schriftliche Bestätigung an rnb gab mir sein Ehrenwort in feierlichster Form, baß nirgends eine Mobilmachung, d. h. Einziehung eines einzigen Mannes oder Pferdes bis zur Stunde, 3 Uhr nachmittags, erfolgt sei. Er kbnne sich dafür für die Zukunft nicht verbürgen, aber wohl nachdrücklichst bestätigen, daß in len Fronten, die auf unsere Grenzen gerichtet seien, von Sr. Majestät keine Mobilisierung ge­ wünscht würde. Es sind aber hier über erfolgte Einziehung von Seserviste» in verschiedenen Tellen des Reichs, auch in Warschau und in Wilna, vülfache Nach­ richten eingegangen. Ich habe deshalb dem General vorgehalten, laß ich durch die mir von ihm gemachten ErSffnungea vor ei« Rätsel gestellt sei. Auf Sffiziersparole erwiderte er mir jedoch, baß solche Nachrichten unrichtig seien, is möge hier und da allenfalls ein falscher Alarm vorliegen."

213

Der

Militärattache setzt den bejeichnenden Satz bei: „Ich muß das Gespräch in Anbetracht der positiven, zahlreichen, über er­ folgte Einziehungen vorliegenden Nachrichten als einen Versuch betrachten, uns über den Unfang der bisherigen Maßnahmen irrezuführen."

Und an späterer Stelle ebendort S. izi: „Währcnd in der Zeit vom 29. bis 31. Juli unsere Bemühungen um Ver­ mittlung, tot der englischen Diplomatie unterstützt, mit steigender Dringlichkeit fortgeführt vurden, kamen immer erneute und sich häufende Meldungen über russische Molilisierungsmaßnahmen. Truppenansammlungen an der ostpreußi­ schen Grenze, die Verhängung des Kriegszustandes über sämtliche wichtigen Plätze der russischen Westgrenze ließen keinen Zweifel mehr daran, daß die russische Mobilisierrng auch gegen uns in vollem Gange war, während gleichzeitig unserem Vertreter in Petersburg alle derartigen Maß, regeln erneut eh.renwörtlich abgeleugnet wurden. Noch ehe die Wiener Antwort auf den letzten englisch-deutschen Dermittlungsvorschlag, dessen Tendenz und Grundlage in Petersburg bekannt gewesen sein mußte, in Berlin eintreffen konnte, ordnete Rußland die allgemeine Mobilmachung an." Anmerkung. Das gesperrt Gedruckte ist vom Verfasser hervorgehoben. Diese Berichte des deutschen Militärattaches sprechen wohl für sich selbst. Es ist nicht notwerdig, auf die Niedrigkeit der Gesinnung der Spitzen der russischen Armee, die aus diesen fortgesetzten Ehrenwortbrüchen hervorgeht, noch besonders hinzuweisen (s. auch oben Kap. 12 S. 154 ff. und Kap. 13 S. 157 ff. über russisches Ehrenwort).

Die deutsche Antwort auf die russische Notifikation der Mobili­ sierung seitens Deutschlands (s. auch in Anl. 22 des deutschen Weiß­ buchs die dringende Warnung des Kaisers oben Kap. 22) findet sich auch im franz. Gelbbuch Nr. 100. Dort berichtet am 29. Juli Palsologue aus Petersburg: „Der deutsche Botschafter kam, um Sasonow zu erklären, daß, wenn Ruß­ land nicht mit seinen militärischen Vorbereitungen Einhalt tue, die deutsche Armee die Mobilmachungsorder erhält. Sasonow hat geant­ wortet, daß die russischen Vorbereitungen begründet seien, einerseits durch die „intransigeance obstinee“ Österreichs, andrerseits durch die Tatsache, daß 8 österreichische Armeekorps bereits mobilisiert seien. Nun kommt die außerordentlich merkwürdige und interessante Stelle: „Le ton, sur lequel le comte de Pourtales s’est acquitte de la notification a decide le Gouvernement russe, cette nuit meme, ä ordonner la mobilisation des treize corps destines ä opörer contre l’Autriche.“ Anmerkung. Man bemerke die köstliche Logik. Oer entschiedene Ton, in dem Graf Pourtalis die Demobilisierung forderte, bewog die russische Regierung, nachdem sie seit 25. Juli bereits große Telle mobilisiert hatte (s. deutsches Weißbuch Anl. 23a), die Mobilisierung von 13 Armeekorps gegen Österreich (!) (NB. nachdem schon 16 mobilisiert waren!) anzuordnen. Weder Grey noch das „stieb#

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liebende Frankreich" finden etwas daran, daß Rußland Krers in Wirklichkeit am 29. Juli seine ganze Armee mobilisierte. Mit erfreulicher Deutlichkeit geht aber aus der 9lnivot Sasonows hervor, daß die später unwahrerweise geltend gemachte angebliche Kutsche Mobilisierung am 29. Juli für Rußland nicht bestand und keinen GAnL zur Mobilmachung abgab. Sie wurde erst nach Jahr und Tag ersonnen, im dm verhängnisvollsten Schritt, die russische Mobllmachung, zu bemänteln und nrch Lambons bewährtem Rezept Deutschland die Schuld zuzusprechen, die Rußland ganz allein trifft.

II. Rußland und Frankreich werden trotz der fortgesetzten Beteuernng Sasonows, baß er alles tue, um den Friedm ju erhalten, stünd­ lich immer jurückhaltender und feindseliger. De cußere Folie dafür geben alarmierende Nachrichten über Mehllieferrngen an die deutsche Armee (franjös. Gelbbuch Nr. 89), Nachrichten ürer Truppenbewe­ gungen und militärische Einberufungen (s. l. c. N:. 88—91) ab. Ein Bericht Dumatnes aus Wien läßt die Hoffnung der Hintan­ haltung des Kampfes jwischen Serbien und Österrrich als unmöglich erscheinen (l. c. 93). Frankreich gegenüber setzt Deutschland seine Friedensbemühungen sott. Beweis ist z. B. der Bettcht Bienvenu-Martins an seine auswättigen Dettreter (Nr. 94 des Gelbbuchs), wo folgendes über die Stellung Deutschlands berichtet wird: „Ce matin (29. Juli), la communication suivante m’a M faite par VAm­ bassadeur d’Allemagne A titre officieux: le Gouvernement allem and poursuit ses efforts en vue d'amener le Gouvernement autrichien A une conversation amicale permettra A ce demier de faire connaitre exactement le but et l’extension des operations en Serbie. Le Cabinet de Berlin espfcre recevoir des pr6cisions qui scraient de nature A donner satisfaction A la Russie. Les efforts allemands ne sont aucunement entrav6s par la dtclaration de guerre intervenue. Une communication semblable sera faite A Petersbourg.“

Wie «eit Deutschland ging, jeigt die Fortsetzung dieses Berichts: „Au cours d’une conversation que j’ai eue ce matin avec le baron de Schoen, celui-ci m’a dLclarL que le Gouvernement allemand ignorait les intentions de Vienne. Quand Berlin saura jusqu’oü l’Autriche veut aller, on aura une base de discussion, qui rendra plus faciles les conversations en vue d’une Intervention. Sur mon observation que les optrations militaires engagte ne laisseraient peut-etre pas le temps de causer, et que le Gouvernement allemand devrait user de son influence A Vienne en vue de les retarder, Pambassadeur m’a i€pondu que Berlin ne pouvait exercer de pression, mais qu’il esperait que les operations ne seraient pas pouss6es tres activement.M

Das Telegramm des Reichskanjlers an Botschafter v. Schoen vom 29. Juli 1914 sagt andrerseits:

215

„Die uyS übr französische Kriegsvorbereitungen zugehenden Nachrichten mehren sich von Stürbe zu Stunde. Ich bitte dies bei der französischen Regierung zur Sprache zu bringn und sie eindringlichst darauf hinzuweisen, daß uns derartige Maßnahmen zu Soutzmaßregeln zwingen würden. Wir würden Kriegsgefahr proklamieren müssen und wenn dies auch noch keine Einberufungen und »och nicht Mobllisierung bedeut, so würde dadurch immerhin die Spannung erhöht werden. Wir hofften fortgescht noch auf Erhaltung des Friedens."

III. Jswolskis feindseliges Wirken, das aus dem mss. Orangebuch (Nr. 35 S. 29, 53 u. 55 dort) erhellt, zeigt sich in seinen Wirkungen imrmr deutlicher. Cr schreibt ganz offen, daß die vom Botschafter v. Schoen aufgezeichnete Deklaration der Haltung der deutschen Regierrng, die die „Solidarität der deutschen und fran­ zösischen Jnteresim auf Wahrung des Friedens" warm zum Aus­ druck brachte (s. iben S. 166ff.), nur dazu da sei, um Rußland und Frankreich zu veruneinigen (desunir) und die Verantwortung für den Krieg abzulerken und zum Scheine (employ soi disant) alle An­ strengungen zu nachen, um den Frieden zu erhalten." Jswolski neidet am 29. Juli 1914 von dem Inhalt des Memoires des franzisischea Ministers des Äußeren Btenvenu-Martin über die politische Lage (f. Orangebuch Nr. 53). Dort findet sich der charak­ teristische Satz: »Frankreich und England können keine mäßigende Wirkung auf Rußland ausüben, das bisher den Beweis großer Mäßi­ gung gegeben hat ..." Deutschland und Österreich werden beschul­ digt, die Sache hinzuziehen: „Zu gleicher Zeit ergreift das letztere aktive Maßnahmen, und wenn diese geduldet werden, so werden seine Forde­ rungen im Verhältnis steigen. Es ist sehr wünschenswert, den Dermittlungsvorschlag Sir Greys zu unterstützen." Dieses im Orangebuch erwähnte Exposö des Ministers des Äußeren anläßlich der Ankunft des Präsidenten der Republik vom 29. Juli 1914 (das als Zirkular­ telegramm Bienvenu-Martins uffter Nr. 85 im Gelbbuch sich findet), ist auch sonst für die französische Stimmung, die Poincarö vor­ findet, außerordentlich charakteristisch, so daß wir es im Wortlaute nochmals folgen lassen. „Österreich", heißt es dort im Expoft, „das seine innere Zersetzung fürchtet, bemächtigte sich des Vorwands der Ermordung des Erzherzogs, um zu versuchen, Garantien zu er­ langen, die die Form einer Besetzung der militärischen Verbindungen oder des serbischen Territoriums annehmen können." (Im Gelbbuche selbst heißt es statt der ungewöhnlich scharfen Fassung des Exposes: „L’attitude austro-allemande se präcise. L’Autriche, inquiite de la Propaganda slave, a saisi l’occasion de l’attentat ... pour

216

chatier les raenees serbes“ usw.). „Deutschland unterstützt Österreich" (im Gelbbuche: , .L’Allemagne s’interpose entre soa alli6 et les autres puissances) en declarant qu’il agit d’une questioa locale, chätiment d’une crime politique dans le passe, garanties certaines pour l’avenir que les menees antiautrichiennes prendront sin.“ „Daraus folgert

Deutschland, daß man in St. Petersburg eine beschwichtigende Aktion ausführen muß. Dieser Sophismus ist in Paris wie in London zurückgewiesen worden. In Paris versuchte Frei­ herr v. Echoen vergebens, Frankreich zu einer mitDeutschland solidarischen Einwirkung auf Rußland im Inter­ esse des Friedens hinzureißen (de nous entrainer dans une action solidaire im Gelbbuche). Derselbe Versuch wurde in London gemacht. Es wurde aus beiden Hauptstädten geantwortet, daß die Aktion in Wien ausgeübt werden müsse, denn die übertriebenen Forde­ rungen Österreichs ... drohe», den allgemeinen Krieg hervorzurufen. Frankreich und England können keine beschwichtigende Aktion in Rußland ausüben, das bisher die größte Mäßi­ gung an den Tag gelegt hat, indem es vor allem Serbien riet, anzunehmen, was von der österreichischen Note anzunehmen möglich war. Heute scheint Deutschland auf den Gedanken einer Aktion auf Rußland allein zu verzichten und neigt zu einer vermittelnden Aktion in Petersburg und Wien hin, aber gleichzeitig versucht Deutschland wie Österreich auch, die Sache in die Länge zu ziehen. Deutschland widersetzt sich der Konferenz, ohne ein anderes praktisches Verfahren anzugeben, Österreich führt offenkundig dilatorische Pourparlers mit St. Petersburg. Gleichzeitig ergreift es aktive Maßregeln, und wenn man diese Maßregeln duldet, werden seine Ansprüche proporttonell wachsen. ... Es ist sehr wünschenswert, daß Rußland dem Vermitt­ lungsprojekt, das Sir Edward Grey vorbringen wird, seine ganze Unterstützung gewährt. Entgegengesetztenfalls kann Österreich unter dem Vorwände einer „Garantie" die gesamten orientalischen Territorialverhältnisse ändern." Anmerkung. Der letzte PaffuS ist im Gelbbuch noch schärfer unterstriche», um zu verhüten, daß „Österreichs diplomatischer Vorteil durch einen militärischen verdoppelt werde". Es ist völlig unwahr, wenn die Note Berlins Haltung für dilatorisch erklärte. Deutschland hat, was immer wieder betont werden muß, mit anfänglicher Unterstützung Frankreichs und damaliger Zustimmung Rußlands und Englands den direkten österreichisch-rusflschea Derhandlungsmodus anstatt der von allen Seiten damals (29. Juli) aufgegebenen Konferenzidee befürwortet.

217

Jswolski schreibt (Nr. 55 Orangebuch) am gleichen Tage: „Mviant hat mir hebe» den vollen Entschluß der französischen Regierung bestätigt, einverständlich mit uns vorzugehen (d’agir d’accord avec nous)." ,,Cette resolution est soutenue par les Cercles les plus etendus et par les partis y compris les radicaix-socialistes, qui viennent de lui presenter une ddclaration exprimante la ccnfiance absolue et les dispositions patriotiques du groupe. Des son arrivee ä Paris, Viviani a t&egraphie d’urgence ä Londres que, vu la cessation des pourparlers directs entre Petersbourg et Vienne, il etait necessaire que le Cabinet de Londres renouvelait le plus tout possible, sous teile ou autre forme, sa pioposition concernante la mldiation des Puissances. Avant moi Viviani a regu aujourd’hui VAmbassadeur d’Allemagne, qui lui a renouvel£ Vassurance des tendances pacifiques de VAllemagne. Viviani ayant fait observer que si VAllemagne desirait la paix eile devrait se hAter d’adh£rer a la propositicn de mediation anglaise, le Baron Schoen a r6pondu que les mots „Conference“ ou „arbitrage“ effrayaient VAutriche. Viviani a rLplique qu'il ne s'agissait pas de mots, et qu'il serait facile de trouver une forme de mediation. D'apres Vavis du Baron de Schoen, pour le succes de n6gociations entre les Puissances il serait n4cessaire de savoir ce que VAutriche compterait demander A la Serbie. Viviani a rLpondu que le Cabinet de Berlin pourrait bien facilement s’en enquLnir aupres de VAutriche, mais qu’en attendant la note responsive serbe pourrait servir de base A la discussion; il a ajoute que la France desirait sincSrement la paix, mais qu'elle etait en meme temps resolue d’agir en pleine harmonie avec ses allits et amis, et que lui, le Baron de Schoen, avait pu se convaincre que cette resolution rencontrait la plus vive approbation du pays. (Sign6) Iswolski.“

Anmerkung. Immer das gleiche Spiel: Deutschland soll in Wien ver, Mitteln, was es in offenster Weise tut. Wir erinnern daran: *£>le Verweige­ rung jedes Meinungsaustausches mit Petersburg würde ein schwerer Fehler sein. Wir sind zwar bereit, unsere Dundespflicht zu erfüllen, müssen es aber ablehnen, uns von Ssterreich-Ungarn durch Nichtbeachtung unserer Ratschläge in einen Weltbrand hineinziehen zu lassen. C. Cxz. wollen sich gegen Graf Berchtold sofort mit allem Nachdruck und großem Ernst in diesem Sinne aussprechen" (f. oben). So lautete die Instruktion des Reichskanzlers an Pourtalös am selben Tage. Aber England und Frankreich weigern sich, auch nur annähernd so energisch in Petersburg zu sprechen. Bei solcher Sprache Sir Edward Greys wäre der Krieg wahrscheinlich völlig vermieden worden. Die Phrase „der Drehpunkt der Lage ist in Berlin" ist das schlaue Schlagwort Jules Cambons, um dem Reichskanzler die ganze Schuld am Kriege aufzubürden.

IV. Auch der früher vorsichtige Warner, der englische Botschafter

in Petersburg (Buchanan), wird immer feindseliger. Er kennt die Stimmung in London genau. Die feindselige Gesinnung spiegelt sich in folgender Stelle des

218

Berichts des englischen Botschafters in Petersburg an Siir Edward Grey vom 29. Juli 1914 (engl. Weißbuch Nr. 78) »Ich fragte Sasonow, ob er Bedenken gegen die Alssührumg des Vor­ schlags hätte, der im Telegramm aus Rom (Nr. 57) «oir 27. Julli enthalte» war, «nd welchen ich ihm unterbreitete. S. Ext- erwiderte, baß alles, was die vier Dächte beschlössen und was Serbien genehm sei, auch seinen Beifall finden würde, denn serbischer als Serbien selbst »« sein, stünde Um wohll nicht an. Indessen müßten noch Erläuterungen unterbreitet wertem, um die Schroffheit de- Ultimatums mildern. Der Minister des Äußeren meinte dann, daß der Vorschlag, auf bem Ihr Tele­ gramm (Nr. 69) vom 28. d. Bejug nimmt, weniger wichtic sei, benot unter den geänderten Verhältnissen der Lage könne er die Wichtigkeit derselben niicht einsehen. Sodann, fuhr er fett, hätte ihm der deutsche Botschafter mitgeteilt, baß die Re­ gierung in Berlin ihren beschwichtigenden Einfluß in Wien veiter gelitend machte. Ich selbst befürchte aber, daß der deutsche Botshafter micht datu beitragen wird, die Sache ins Reine »» bringer, wenn er seiner Regierung gegenüber die gleiche Sprache führt, welche er für gut fand, heute in einer Unterredung mit mir anzuwenden. Er be­ schuldigte die russische Regierung, durch ihre Mobilisation den europäischen Frieden tu gefährden, und als ich darauf mit einem Hinweis aus alles, was seit einiger Zeit in Österreich,Ungarn vorgeht, antwortete, meinte er, s-lche Angelegenheiten nicht besprechen t« können. Dann machte ich ihn daraus aufmerksam, daß die öster­ reichisch-ungarischen Konsuln allen Untertanen des durch sit vertretemen Landes, welche noch in einem militärischen Dienstverhältnis standm, mitgeteilt hatten, sie möchten sich stellen, da teilweise mobilisiert werde und Krieg gegen Serbien erklärt worden sei. Österreich,Ungarn sollte doch wissen, daß seit der Dalkankrise ein solcher Mobilisationsbefehl Rußland demütigen müsse (!). Hätte letzteres seinen Ernst durch die Mobilisation nicht bekundet, so würde Asterreich-Ungarn sich auf die russische Friedens­ liebe verlassen und sich alles erlaubt haben'). Der Minister des Äußeren hätte mir tu verstehen gegeben, daß Rußland den Krieg nicht durch eine sofortige Grentüberschreitung beschleunigen wolle, «nd daß jedenfalls ein bis iwel Wochen vergehen würden, bis die Mobilisation beendet sei. Um einen Ausweg tu finden, der die gefährliche Lage entspannen würde, müßten wir mittlerweile alle tusammenwirken')."

') Die gesperrt gedruckten Stellen hier und im folgenden sind vom Ver­ fasser hervorgehoben. *) Die letztere Phrase wird auf ihren wahren Wert wohl nicht bloß durch die scharfen Angriffe gegen Deutschland und Asterreich tnrückgesührt. Auch der naivste Staatsmann mußte ersehen, daß Rußlands angebliche Friedensliebe keinen andern Zweck hatte, als Zeit für die Beendigung des Aufmarsches der russischen Armee t« gewinnen (s. auch den Bericht von de l'CScaille aus Petersburg in verbis: „Unzweifelhaft hat Deutschland hier und in Wien die Mittel t« flnden gesucht, um den Konflikt tu vermeiden. Heute ist man hier fest überteugt, ja man

219

V. Die Verhandlungen zwischen Österreich und Ruß­ land gehen trotz der russischen Mobilisierung vom 29. Juli weiter. Rußland und Frankreich behaupten (s. Nr. 98 Gelbbuch), daß die Eröffnung der direkten Konversation zwischen Rußland und Öster­ reich in Wien keinen Beifall gefunden hätte. Deshalb kam man auf die Greysche Idee zurück. Ein Beweis für diese Behauptung ist nicht erbracht, sondern nur die sonderbare Logik (s. oben engl. Weißbuch Nr. 70 mit Annexen), daß die Kriegserklärüng Österreichs an Serbien „selbstverständlich" eine solche direkte Verhandlung zwischen Wien und Petersburg ausschließe; s. österr. Rotbuch das Ge­ genteil (s. unten), wo die weiteren Verhandlungen nach dem 29. Juli eingehend wiedergegeben sind. Auch Jules Cambons Berichten merkt man die steigende Ner­ vosität deutlich an. Er berichtet noch am 30. Juli von einer Unter­ redung mit v. Jagow u. a. (Nr. 109 Gelbbuch): „Jagow m’a repondu que »pour gagner du temps« il avait decid6 d’agir directement et qu’il avait demandi a l’Autriche de dire sur quel terrain on pourrait causer avec eile."

Cambon bezeichnet als den Effekt dieser Antwort Jagows: „d’eliminer l'Angleterre, la France et VItalie et de confier ä M. de Tschirschky, dont les sentiments pangermanistes et russophobes sont connus, le soir d’amener l’Autriche ä une attitude conciliante.“ Anmerkung. Auch hier tritt also die Verdächtigung zutage, daß Deutsch, land Österreich von einer Versöhnung abgehalten habe. Diese Anschuldigung und die Instruktion Belhmann Hollwegs an Tschirschky vom 29. Juli wird am bündigsten (f. unten die Widerlegung durch bas „Wiener Fremdenblatt") widerlegt durch den «eiteren Inhalt des Schriftstückes, das zeigt, daß bas A und O für die deutsche Regierung die russische Mobilmachung war, die — das kann nicht oft genug unterstrichen «erden — bereits monatelang vorher begonnen hatte, vom Zaren für den 25. Juli selbst zugestanden war (s. deutsches Weiß­ buch Aul. 23a) und jedenfalls am 28-/29. offiziell eingestanden war.

v. Jagow erklärte nach Cambons Bericht dorr, daß die russische Moblliflerung den Erfolg jeder Intention bei Österreich kompromittiere. Er fügt hinzu, daß er fürchte, daß Österreich in­ folge der russischen Mobilisierung dies auch tue, dies würde die Totalmobllisierung Rußlands (NB. die de facto längst erfolgt war. Der hat Versicherungen Darüber empfangen, daß England Frankreich beistehen wird. Dieser Beistand ist von entscheidender Bedeutung und hat zum Siege der (russischen) Kriegspartei wesentlich beigetragen" (30.Juli).

220

Verfasser) und diese die Deutschlands jur Folge haben. Auf die Ein­ wendung Cambons, daß diese Mobilisierung nur Österreich gelte, sagte v. Jagow: „Les chefs de l’Armee insistaient, car tout regard est une parte de forces pour l’armee allemand et que les paroles que je rappelais ne constituaient pas de sa part un engagement ferme.“

Anmerkung. Mit Recht setzten die militärischen deutschen höchsten Stellen der Wortklauberei der russischen Ehrenmänner über „teilweise" und ganze Mobili­ sierung, „Mobilisierung gegen Österreich", „keine Mobilisierung gegen Deutsch­ land", das allergrößte Mißtrauen entgegen (s. auch österr. Rotbuch Nr. 33, wo der deutsche Militärattache dem russischen Geständnisse, daß „natürlich gewisse mllitärische Vorbereitungen getroffen worden seien" — am 27. Juli (!) hinzufügt: „allerdings ziemlich weitgehende", obwohl ihm zur gleichen Stunde der russische Kriegsminister das Ehrenwort gab, „daß nicht ein Mann noch ein Pferd mobilisiert sei".) Die Mobilisierung der Militärbezirke Moskau (!) und Kasan (!) war so wenig wie die in Kowno gegen Österreich gerichtet, sondern in erster Linie gegen Deutsch­ land, das man (s. oben Einleitung und auch die verschiedenen Äußerungen Sasonows vom 24. Juli an) als den Hauptfeind in den maßgebenden panrusflschen Kreisen von Anfang an ansah, während man Österreich halb mitleidig als den verführten Schwächling betrachtete.

24. Kapitel. Die Verhandlungen zwischen Deutschland und England nehmen eine merkwürdige Wendung durch weitgehende Konzessionen Deutschlands zur Gewinnung der englischen Neutralität im Wege -er Garantien für Frankreich, Hol­ land und Belgien. Der Reichskanzler macht das Aner­ bieten eines allgemeinen Neutralitätsvertrages mit Eng­ land. Greg warnt den deutschen Vertreter vor falscher Sicherheit.

1.

Sir C. Goschen meldet an Sir Edward Grey (Nr. 85 des engl. Weißbuchs) am 29. Juli 1914 folgendes: „Ich wurde eingeladen, de» Reichskanzler, welcher soeben von Potsdam zurückgekehrt ist, heute Abend zu besuchen. Er sagte mir, daß, wenn Rußland Österreich-Ungarn angriffe, ihm ein daraus entstehender europäischer Kriegsbrand, trotz seiner Bemühungen, den Friede» zu

221 wahren, unvermeidlich

schiene,

da

Deutschland

Österreich-Ungarn

gegenüber

Bündnispflichten habe. Daraufhin machte er, um die Neutralität Groß­ britanniens

zu

sichern,

das

folgende, schwerwiegende

Angebot **).

Er führte aus, daß — soweit er die Grundzüge der französischen Politik beurteilen könne — es klar ssei, Großbritannien könne die Vernichtung Frankreichs in einem bevorstehenden Kriege nicht mit ansehen.

Deutschland beabsichtige indessen

keine solche Vernichtung, denn wenn die Neutralität Englands Tat­ sache sei, so werde die deutsche Regierung dem Londoner Kabinett die weitgehendste Versicherung geben, daß, im Falle eines deutschen Sieges keine Gebietsabtretungen von Frankreich verlangt würden. Ich berührte die Frage der französischen Kolonien, und S. Exz. sagte, daß er in dieser Hinsicht kein ähnliches Versprechen geben könne. Was indessen Holland beträfe, so sei die deutsche Regierung bereit, der englischen Versicherungen anzu­ bieten, daß sie die Integrität und die Neutralität der Niederlande achten werde, solange als dies seitens der Feinde Deutschlands ebenfalls geschähe. von

Frankreichs

werden

könnte,

Vorgehen in

Belgien

ab,

wie

weit

einzurücken;

Deutschland aber

nach

Es hinge gezwungen

einem

Kriege

sollte die Integrität dieses Landes unverletzt bleiben, wenn es sich Deutschland

gegenüber

nicht feindlich

verhalten

haben

würde.

Der Reichskanzler schloß seine Ausführungen mit dem Hinweis darauf, daß — wie Ihnen ja bekannt — der Zweck seiner Politik von jeher gewesen sei, mit Groß­ britannien ein Einvernehmen herzustellen, und diese Bemühungen seinerseits ließen ihn hoffen, daß eben die oben angeführten Versicherungen die Grundlage des von ihm erwünschten Einvernehmens bilden möchten.

Es schwebe ihm ein all­

gemeiner Neutralitätsvertrag zwischen Großbritannien und Deutsch­ land^) vor, obschon es jetzt natürlich noch zu früh sei, auf Einzelheiten eines solchen Vertrages einzugehen, aber ein Versprechen seitens Englands, im gegen­ wärtigen Konflikt die Neutralität zu bewahren, würde ihm die Abschließung eines solchen in Zukunft einzugehenden Vertrages als ausführbar erscheinen lassen. Als S. Exz. von mir wissen wollte, wie Sie sein Ansuchen wohl aufnehmen würden, meinte ich, es erschiene mir unwahrscheinlich, daß Sie im gegenwärtigen Stand der Dinge geneigt sein würden, bindende Zusagen betreffs Ihrer Hand­ lungsweise zu geben, und daß Sie sich vermutlicherweise Ihre volle Freiheit vor­ behalten wollten, um nach Gutdünken zu verfahren. Nach dieser Unterredung teilte ich Sr. Exz. den Inhalt Ihres heutigen Tele­ gramms (Nr. 77) mit, und er sprach dafür seinen Dank aus." Anmerkung. Dieses wichtige Aktenstück bringt zum ersten Male die Frage *) Vom Verfasser durch Sperrdruck hervorgehoben. *) Es darf hier vie lleicht daran erinnert werden, daß anläßlich deö Erscheinens des zweiten belgischen Graubuchs ein Streit über eine Äußerung v. Jagows ent­ stand („Nordd. Allg. Ztg.." vom 5. August 1915) über die Möglichkeit des Kolonial­ besitzes seitens kleinerer Staaten. Aus der Veröffentlichung geht hervor, daß im Frühjahr 1914 Deutschland mit England und Frankreich über eine allgemeine englisch-französisch-deutsche Kolonialverständigung ernstlich verhandelten: ein neuer Beweis, daß Deutschland nicht, wie Cambon und andere ihm vorwarfen, schon im Frühjahr 1914 „das Schwert wetzte".

222 der belgischen Neutralität in den Vordergrund, die Antwort darauf er­ folgte am 30. Juli (engl. Weißbuch Nr. 101).

Grey bezeichnet die Lage „trts

grav^e“ und verhehlt nicht, daß er wenig Hoffnung zu einer friedlichen Lösung habe (stanz. Gelbbuch Nr. 98). Die Ablehnung des Reichskanzlers bezüglich der Kolonien Frankreichs wurde später nicht aufrecht erhalten: Die Ablehnung aller dieser Anerbietungen Deutsch­ lands s. unten engl. Blaubuch Nr. 101 vom 31. Juli.

Jedenfalls ist es aber im

höchsten Grade bemerkenswert, daß der Reichskanzler mit größtem Freimut bereits fast eine Woche vor dem Einmarsch der deutschen Truppen (am 3. August 1914) klar und deutlich die Haltung des Reichs gegenüber Belgien darlegt: Unverletzlich­ keit

bei

Unterlassung

feindlicher

Handlungen,

falls

Frankreichs

Haltung einen Bruch der Neutralität nötig mache.

Besonders interessant ist auch Nr. 87 des engl. Weißbuchs. Dort meldet Sir Edward Grey an Sir F. Bertie (Paris) am 29. Juli 1914: „Nachdem ich heute Herrn Cambon gesagt hatte, die Lage käme mir sehr ernst vor, teilte ich ihm meine Absicht mit, ebenfalls heute noch dem deutschen Bot­ schafter zu sagen, er solle sich durch den freundschaftlichen Ton unserer Unterredungen nicht in eine falsche Sicherheit wiegen lassen, dahin gehend, daß, wenn alle Friedensbestrebungen, welche wir bisher zusammen mit Deutschland unternommen, mißlängen, wir unbeteiligt bleiben toütbtn2). Ich fand es dann auch angebracht, Herrn Cambon zu sagen, daß die öffentliche Meinung in England die gegenwärtige Schwierigkeit von einem ganz andern Standpunkt aus beurteile als wie vor einigen Jahren die marokkanische Angelegenheit. Damals sei Frankreich an erster Stelle interessiert gewesen, und es schien, als ob Deutsch­ land, um Frankreich zu vernichten, mit dem letzteren einen Streit vom Zaune brechen wollte betreffs einer Frage, welche bereits vertragsmäßig zwischen Groß­ britannien und Frankreich erledigt worden war. Aber in der vorliegenden Frage zwischen Lsterretch-Ungarn und Serbien seien wir nicht genötigt, einzugreifen; auch würde dies dann noch nicht der Fall sein, wenn der Streit Anlaß zu Erweite­ rungen zwischen Hsterreich-Ungarn und Rußland gäbe. Daö wäre dann die Frage der germanischen oder der slawischen Vorherrschaft — ein Kampf um eine solche in den Balkanländern: wir hätten uns jedoch immer von der Ansicht leiten lassen, nicht in einen Krieg wegen irgendeiner Balkanfrage verwickelt zu werden. Wir hätten noch nicht beschlossen, nach welcher Richtlinie wir handeln würden, wenn Deutschland und dann Frankreich in den bevorstehenden Krieg hineingezogen werden sollten; in diesem Falle müßten wir unser Vorgehen erwägen. Frankreich wäre dann in einen Streit verwickelt worden, ohne in demselben Partei zu sein, aber welchen es wegen seines Bündnisses und auch ehren, und inter­ essenhalber gezwungen würde, aufzunehmen. Wir selbst seien ohne Verpflichtungen, und wir müßten uns überlegen, was die Interessen Großbritanniens erheischten. Ich hätte mich gezwungen gesehen, all dies zu erwähnen, weil — wie ihm wohl bekannt — unsere Flotte Vorsichtsmaßregeln träfe; so müßte ich denn Fürst Lichnowsky warnen, nicht darauf zu rechnen, daß wir ab, seits stehen bleiben würden, während andrerseits es nicht recht wäre, Herrn Cam, *) Vom Verfasser wie im folgenden durch Sperrdruck hervorgehoben.

223

Bon den Glauben zu lassen, wir hätten Bereits entschieden, wie wir in einem ge­ wissen, hoffentlich nicht eintreffenden Fall handeln würden. Herr CamBon antwortete, daß ich die Sachlage sehr klar auseinandergesetzt hätte. Seinem Urteil nach dürften wir in einem Kampfe, Bei welchem es sich um die germanische oder die slawische Vorherrschaft handle, nicht eingreifen; sollten sich aber später andere Ziele ergeben, wobei Deutschland und Frankreich mitzureden hätten, so daß die Frage der Hegemonie Europas auf­ geworfen werden würde, dann wäre eS Zeit, uns über ein even­ tuelles Eingreifen schlüssig zu machen. Er hätte diese Erklärung unsererseits erwartet und könne nichts darüber sagen. Cr Bemerkte dann noch, daß die öffentliche Meinung in Frankreich entschlossen, aber ruhig sei. Er erwarte ebenfalls, daß Deutschland verlange, Frankreich möge neutral bleiben, während das erstere Rußland bekriegte; aber eine solche Forderung könne die Republik natürlich nicht erfüllen, da sie verpflichtet sei, im Falle Rußland angegriffen würde, diesem beizuspringen." 1. Anmerkung. Man beachte dieses Jusammenspiel der beiden: Paul CamBon und Sir Edward Grey! Zuerst schon suffliert Grey dem französischen Partner, daß „Frankreich wegen seines Bündnisses und auch ehren- und inter­ essenhalber gezwungen sei, den Streit aufzunehmen". Das Zusammenrücken zwischen England und Frankreich wird von Stunde zu Stunde intimer und deut­ licher. Deutschland wird immer mehr als der „Angelpunkt" der Verhandlungen in den Vordergrund geschoben — in demselben Maße, als die Verhandlungen durch die MobUisierung Rußlands und die Seemobilisterung Englands aussichts­ los erscheinen. Jede ernstliche Einwirkung auf Rußland unterbleibt; um so zuversichtlicher erwartet man — scheinbar — die energischste Einwirkung Deutschlands auf Ssterreich — natürlich nur im Interesse des Weltfriedens, nicht im Interesse der Ent­ zweiung der beiden Zentralmächte! Dabei wird der Ton Englands gegenüber Öster­ reich immer kälter, um nicht zu sagen, verletzender (s. engl. Weißbuch Nr. 91). Nicht minder der Ton Dunsens über Deutschlands Botschafter in Wien, dem Bunsen (s. engl. Weißbuch Nr. 95) vorwirft, daß ihm der Wortlaut des österreichischen Ulti­ matums schon vor der Überreichung in Belgrad bekannt gewesen sei, und daß er den Wortlaut an den Kaiser telegraphisch mitgetellt habe. 2. Anmerkung. Besonders charakteristisch ist der Eingang des obigen merk­ würdigen Schriftstücks Nr. 87: „I told him that I meant to teil the German Ambassador to da7 that he must not be misled by the friendly tone of our conversations into any sense of false security that we should stand aside if all the efforts to preserve the peace ... failed.“

Darnach handelte (s. Blaubuch Nr. 89) auch tatsächlich Sir Edward Grey. Nichts ist charakteristischer, als daß über dieses wichtigste Gespräch, das Grey mit vorherigem Wissen Paul Cambons mit Lichnowsky führte und von dem das Bewußtsein Der aktiven Waffenhilfe durch England für Frankreich datiert, in dem französischen Gelbbuche sich kein Wort findet. Auch keine Instruktion von Paris nach Petersburg über den wichtigen Inhalt dieses Gesprächs: Ein neuer Beweis, wie diese Bumtbücher zurechtfrisiert und ad usum delphini zurechtgestutzt sind! Der Grund der Weglassung ist klar: Es hätte sich auch für den Gegner der Gedanke klar ergeben: „Auf England können wir (d. h. die Franzosen) unter allen Umständen

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rechnen!" Am gleichen Tage (Orangebuch Nr. 58) brückt Sasonow durch Jswolski der französischen Regierung die aufrichtige Erkenntlichkeit der russischen Regierung für die Erklärung der unbedingten Waffenhilfe aus. Diese konnte jetzt offen erfolgen, da man auch Englands sicher war (s. den Bericht des belgischen Geschäftsträgers in Sankt Petersburg Herrn de l'Eöcaille vom 30. Juli an seine Regierung unten: „Heute ist Petersburg fest überzeugt, ja es hat sogar Zusiche­ rungen des Inhalts empfangen, daß England auf der Seite Frankreichs mitgehen wird. Diese Hilfe ist von entscheidender Wichtigkeit und hat wesentlich zum Triumph der Kriegspartei beigetragen."). So schreibt ein damals noch neu­ traler, ausgezeichnet eingeweihter Diplomat! Cambon und Grey haben sich, wie die Antwort Cambons zeigt, ausgezeichnet verstanden. „M. Cambon said I had explained the Situation very clearly .... Should other issues be raised, and Germany and France become involved, so that the question became one of the hegemony of Europe, we should than decide, what it was necessary for us to do.“ Die andern „issues“ (Ausgangspunkte), die die englische öffentliche Meinung

mehr als der unbequeme serbische Streit packten, wurden verständnisinnig rasch geschaffen. Bereits am nächsten Tage präsentierte Paul Cambon den Wechsel vom 22. November 1912: Die Regie funktionierte ausgezeichnet! Das Auffallendste aber ist die Art des persönlichen Vorgehens Greys in der ganzen Unterhaltung. Er unterrichtet bereits am Tage vorher den fran­ zösischen Botschafter, daß er dem deutschen Botschafter diese merkwürdige Warnung am nächsten Tage machen werde. Dieses Vorgehen zeigt nicht etwa den Willen, in einer schwierigen Situation eine Entwirrung zu bringen, sondern im Gegenteil: diese verabredete, „durchaus private und freundschaftliche" Eröffnung, die man zuerst der einen Macht vorherverkündet, zeigt, daß man dem Partner mitteilen will: „Du kannst unbedingt auf mich rechnen!" Darnach muß man den Wert der Fortsetzung der Verhandlungen seitens Greys richtig einschätzen! Die Würfel waren bereits am 27. und 29. Juli zugunsten des englischen Eingreifens gefallen. Es muß hier wohl bemerkt werden, daß am 27V28. Juli Paul Cambon seinen Lon­ doner Posten verlassen hatte und in Paris zur persönlichen Aussprache anwesend war. In so hochwichtigem Momente bedeutete diese Reise wie die kurz vorher aus­ geführte den Ausdruck, daß man diese wichtigsten Dinge nur mündlich abmachen konnte. So fehlen im englischen Blaubuch wie im französischen Gelbbuch die wichtig­ sten Informationen an Paul Cambon wie dessen Bericht über das wichtige Gespräch mit Grey am Morgen des 29. Juli. Oie Eröffnungen an Lichnowsky, die Grey zuerst Paul Cambon macht, sind die Antwort auf Cambons Schritte in Paris. BergstrLßer sagt u. a.: „Wären sie ungekürzt abgedruckt worden, so hätten sie die französische Initiative erkennen lassen; das durfte nicht sein, weil es den Aufbau des englischen Blaubuchs zerstört hätte; dieses hat natürlich auch seine Tendenz, und zwar besteht sie darin, zu beweisen, England sei völlig frei gewesen und habe keinerlei bindende Verpflichtung gehabt, es sei vielmehr nur der belgischen Neutralität wegen in den Krieg gegangen; diese Auffassung brauchte das Kabinett einmal seiner selbst willen, um dem Tadel und offener Opposition derer zu ent­ gehen, die aus der alten Tradition der Nichtiutervention heraus die Bindung von 1912 nicht gebilligt hätten, dann auch wegen des neutralen Auslandes. Wir werden

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sehen, wie auch die weiteren Dokumente sich dieser Auffassung zwanglos einfügen. Der so skizzierte Zusammenhang ergibt sich auch aus einigen Sätzen des Blaubuchs Nr. 87 selbst. Cambon sah die deutsche Anfrage voraus, ob Frankreich im Falle, daß Rußland angegriffen würde, neutral bleiben werde. Das ist ein Argument, dessen sich Cambon Grey gegenüber bedient hat; in der Darstellung GreyS erscheint es, dem inneren Zusammenhang nach, ganz falsch und sinnlos als Antwort auf Greys Auseinandersetzung. Ferner ist Cambon „durchaus vorbereitet auf diese Ankündigung und übt keine Kritik daran"; selbstverständlich, den» sein Schritt ist erfolgreich, da Grey ja dem deutschen Botschafter gegenüber die von Rußland als nötig bezeichnete Pression ausübt. Daß die Eröffnungen Greys an Lichnowsky im wesentlichen auf die Aufforderung der Verbündeten hin erfolgten, zeigt sich schon darin, daß Grey sie am 29. nachmittags machte, in einem zweiten Gespräch, bas er an diesem Tage mit Lichnowsky hatte. Im ersten Gespräch halte er keinerlei diesbezügliche Andeutungen fallen lassen; dieses erste Gespräch hat eben vor dem mit Cambon stattgefunden, vielleicht auch vor dem mit Benckendorff."

II. 1. Nachdem er in einem vorausgegangenen Schreiben (Nr. 88 l. c.) wiederholt konstatierte: „Jetzt wirkte der Reichskanzler im Inter­ esse einer Verständigung zwischen Wien und St. Petersburg. Wenn er einen Erfolg erzielt, ist alles gut, wenn nicht, dann wäre es wichtiger als je, daß der Reichskanzler selbst den vier Mächten den Weg weise, wie sie sich um die Erhaltung des Friedens verdient machen könn­ ten", führt Sir Edward Grey (Nr. 89 des engl. Weißbuchs) seinen Paul Cambon vorher mitgeteilten Plan aus. Er schreibt an Sir E. Goschen (Berlin) folgendes darüber (29. Juli 1914):

„Nachdem ich mich heute Nachmittag mit dem deutschen Botschafter über die europäische Lage unterhalten hatte, sagte ich ihm, daß etwas auf mir laste, das ich ihm gern ganz privat und in steundschaftlicher Weise mitzuteUen wünschte. Die Lage sei äußerst ernst. Solange als nur die jetzt in Betracht kommenden Fragen dieselben blieben, hätten wir entschieden uns nicht hineinzumischen. Sollte aber Deutschland mit hineingezogen werden und daraufhin Frankreich, dann könnte die zu suchende Lösung von weittragender Wirkung sein und die Interessen ganz Europas in Mitleidenschaft ziehen. Es sei nicht meine Absicht, ihn durch den zuvorkommenden Ton unserer Unterredungen, den ich auch in Zukunft festzuhalten hoffte, zu täuschen und ihn glauben zu machen, daß wir unbeteiligt bleiben tüfir&tn1). (And i did not wish him to be misled by the friendly tone of our conversations ... in thinking that we shouM stand aside.)

Er verstand dies vollkommen, fragte mich aber dann, ob ich damit sagen wolle, daß wir unter gewissen Umständen einschreiten würden. Ich antwortete, daß ich das nicht gesagt haben oder Worte gebrauchen wolle, die als eine Drohung angesehen werden könnten, oder gar den Versuch zu machen *) Vom Verfasser durch Sperrdruck hervorgehoben. Müll er,M etningen, Entstehung des Weltkriegs.

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226 wünschte, einen Druck auszuüben, indem ich unsere Cinmischumg, im Frlle die An­ gelegenheit sich noch ernster gestalte, in Aussicht stellte. Unserre Einmi'chung käme nicht in Frage, wenn Deutschland oder sogar wenn Frankreich niicht verw ckelt würde. Aber wir seien unS bewußt, daß, wenn durch die Frage britische Jntenssen berührt würden und wir uns daher zum Einschreiten veranlaßt sähen,, wir das sogleich tun müßten, das heißt ebenso schnell wie die Entscheidung der anderrn Mächte fiele. Ich hoffte, daß unserUmgang in demselben freundschaftlichen Ton nvie bisher fortfahren, und daß ich auch ferner imstande sein würde, mit der Reichsre-'gierung im Interesse des Friedens Seite an Seite zu arbeiten. Sollten aber umsere diesbezüglichen Bestrebungen mißlingen und die Frage tatsächlich eine europäische wrrden, dann wünschte ich, mich seinerseits nicht dem Vorwurf auszusetzen, die in aller Freund­ schaft zwischen uns stattgefundenen Gespräche hätten ihn öden die Reichsregierung irrtümlicherweise dahin geführt, annehmen zu dürfen, daß wir untätig blieben, und dem weiteren Vorwurf, daß, wären sie nicht in dieser Meiste irregeleitet worden, der Lauf der Dinge sich dann anders gestaltet hätte. Der deutsche Botschafter hatte an meinen Ausführungen nichts auszusetzen, im Gegenteil, sagte er, das eben von mir Vorgebrachte stimme mit dem überein, was er in Berlin als seine Ansicht gemeldet hätte." Anmerkung. Wir wiederholen: Diese höchst intime Warnung, die nur gute Wirkung als höchst vertrauliches Geheimnis ausüben sonnte, teilte, wie oben dargelegt, Grey unter Bruch aller diplomatischen Formen und Gewohnheiten Paul Cambon vorher mit, damit die ganzen Ententemächte schadenfroh zusehen konnten, ob Deutschland der englischen, freilich sehr verzuckerten Drohung nachgebe. Dieses merkwürdige, äußerlich loyale, ja treuherzige Verhalten entspricht dem, was Grey wenige (drei) Tage darauf an der wichtigsten Stelle der Verhandlungen von neuem übt. Cs zeigt sich, daß Cambons Einfluß auf Grey ein entscheidender war, und daß er „ihn gut verstand". Die Antwort v. Jagows s. Nr. 98 engl. Weißbuch („Oinze, die er mit Be­ dauern, aber nicht gerade mit Überraschung gehört habe; jedenfalls erkenne er durchaus die Offenheit und Loyalität (!) an, mit der Sir Edward Grey gesprochen hätte"). Jagow wußte damals nicht, wie Grey mit diesen GeheiMlissm Umsprang, daß Cambon in den Plan dieser merkwürdigen „Warnung" bereits vorher einge­ weiht war. Nicht recht klar ist, wie der deutsche Botschafter des von Grey Vor­ gebrachte vorher schon als „seine Ansicht" nach Berlin mittelen konnte. Das stimmt mit der Überraschung des Reichskanzlers vom 3. August krineswegs überein.

2. Aus Nr.yo des engl. Weißbuchs (Schreiben SttEvwardGreys an Sir E. Goschen vom 29. Juli 1914) ist folgende Stelle bemer­ kenswert: „Was die Vermittlung zwischen Österreich - Ungarn und Rußland betrifft, so sagte ich, daß es nicht anginge, das letztere einfach zu drängen, es möchte untätig zusehen, während das erstere nach Belieben schalten könnte. D>as wäre dann keine Vermittlung mehr, sondern nur ein Druck auf Rußland zuzumsten ÖsterreichUngarns. Der deutsche Botschafter sagte, die Reichsregierung fei der Ansicht, daß Österreich-Ungarn nicht gewaltsam gedemütigt werden dürfe, rnd daß es seiner Großmachtstellung nicht entsagen könne. Ich stimme dem ganz Jet, aber es handle sich nicht um die Erniedrigung Österreich-Ungarns, sondern

bctum,

wie weit es

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die Demütig»irg anderer treiben wolle. Serbien müsse natürlich bis ju einem gewissen Grr fort und bemerkte, daß es unmöglich sei, zu sagen, wer im Falle eines europäschen Konfliktes nicht mit hineingezogen werden würde. Sogar die Niederlande schienen Vorsichtsmaßregeln zu treffen. Der deutsche Botschafter «ntgegnete schließlich in nachdrück­ licher Weise, baß irgendein Mittel gefunden werden müsse, um den europäisch,» Frieden zu erhalten')." Anmerkung. Besonders bemerkenswert ist die intime Stellungnahme zugunslen Rußlands, das unter keinen Umstände» gedemütigt werden dürfte. Man merkt, daß Grey allmählich trotz allen Lavierens nur schwer seine offene Parteimahme zurückhalten kann: Seine Entscheidung «var innerlich bereits erfolgt.

25. Kapitel.

Rußland und Frankreich, einig in der Aufnahme des Ramipfes, setzen ihre Friedens-Scheinalrtioncn fort. Safoimm stellt eine Formel zur Verständigung auf, die für Wiederaufnahme der Verhandlungen führt. in Das »st ungefähr der Inhalt des Berichts Vivianis an die franzö sischen Vertreter vom 30. Juli 1914, welcher lautet wie folgt (Nr. toi frarz. Gelbbuch): „3M. Iswolski est venu cette nuit me dire que rAmbassadeur d’Alleimagne a notifi6 ä M. Sasonow la ddcision de son Gouverne­ ment cde motiliser ses forces armöes, si la Russie ne cesse pas ses pröparatifs militaires. Lie Ministre des Affaires 6trang6res du Tzar fait remarquer que ces prrdd. Allg. Ztg." gestern früh veröffentlicht wurde, entfernt sich kaum von dem, war in solche» Fälle» üblich ist. Es heißt darin, daß die Staatsmänner, die die beiten Kaiser begleiteten, sich naturgemäß über die schwebenden politischen Fragen un:erh,lten haben. ES wurde festgestellt, daß in der Auffassung dieser Fragen in bei>en Ländern kein Gegensatz besteht. „Es wurde außerdem anerkannt, daß die bestrheideo international len Abmachungen, an denen Rußland und Deutschland beleiht sind, in keiner Weise diese« guten Beziehungen entgegenstehen." So hat man in Berlin den Dreibund stets aufgefaßt, der loiglich als Defen, flvbündni- abgeschlossen worden ist.

Aus Nr. 63. Baron Gretndl, Gesandter Belgiens in Berlin, an Harr Davignon, Minister des Äußeren. Berlin, den 3. März 1911. Herr Minister! Wie zu erwarten, wurde die Ernennung Herrn Delcassts zrm Marineminister hier um so ungünstiger aufgenommen, alS di« Leitung des KricgSttintsteriums in dem neuen, von Herrn Monis unter großen Schwierigkeiten rebideten Kabinett Herrn Derteaux übertragen worden ist. Die Kaiserliche Regierurg vtrd vermutlich, »ach außen hin wenigstens, für sich behalten, was sie denkt, um feien Schein einer Einmischung in die inneren Angelegenheiten Frankreichs zu verncibt»; offenbar aber unterscheiden sich ihre Eindrücke keineswegs von denen btt Steffis. Wie ich seinerzeit Baron v. Favereau schrieb, sagte mir Freiherr von Aichhofen anläßlich des Rücktritts Delcassss im Jahre 1905, baß der frühere franKsische Minister de- Auswärtige» schon seit Jahre» Deutschland gefiissentlich als rquantit6 n6gligeable“ behandelt habe. Die lange Amtsführung des Herrn Betaffe hatte nach hiesiger Ansicht eine sehr ernste Lage geschaffen. Grundlos war din lauten Beifall gespendet. Herrn Pichon wird es nicht etwa zum Vorwurf rermcht, daß er sich ziemlich unüberlegt auf dieses Abenteuer ringe, lassen hat, sondirn iur, daß er damit keinen Erfolg gehabt hat....

Aus Nr. 65. Baron Grelrdl, Gesandter Belgiens in Berlin, an Herrn Davignon, Minister des Äußeren. Berlin, den 20. März 1911. Herr Minister! Oie Rede üter auswärtige Politik, die Sir Edward Grey vor acht Tagen bei der Debatte über das Marinebudget gehalten hat, hat in der englischen ebenso wie in der Pnsse aller anderen Länder zahlreiche Kommentare hervorgerufen, außer in Deutsclland. Die „Norbd. Allg. Ztg." brachte die Befriedigung der Kaiser, lichen Regierung zum Ausdruck. Als hochoffiziöses Organ mußte sie das. Ihr Stillschweigen väre in London mit Recht als Beleidigung aufgefaßt worden; aber die ankern Zeitungen beschränkten sich darauf, die Rede inhaltlich wiederzu, geben, so wie si? von den Telegraphenagenturen übermittelt wurde, oder knüpften daran nur kurz? nichtssagende Betrachtungen.... Wenn men die Gleichgültigkeit des deutschen Publikums sieht, möchte man glauben, das es durch die unzähligen Begegnungen und gegenseitigen Höflichkeits, bezeugungen, poch niemals irgendein positives Ergebnis zeitigten, abgestumpft worden i|t rnd daß es sich vor neuen Enttäuschungen bewahren möchte. Dieses Mißtrauen ü verständlich, zumal sich die englische Regierung noch ganz kürzlich an der Dljsflngcr Intrige beteiligt hat. Dett Beweis dafür haben wir in der Demarche, die SirA.Hirdinge bei Ihnen machte, um zu versuchen, unsmithtneinzuziehen.... Sir E)ward Greys Rede beschränkte sich nicht auf leere Worte, wie bei frühe, ren Anlässen Eine Aktion begleitete sie oder ging ihr vielmehr voraus. Jahre hindurch hat die englische Presse die unerhörte Anmaßung gehabt, die Vollendung der Bagdadiahn zu überwachen und sogar zu verbieten, d. h. sie wollte die Hand auf ein Unvrnehmen legen, das nur die Türkei, die Konzessionsgesellschaft und mittelbar dü deutsche Regierung, die sie unterstützte, angeht. Sir Edward Grey hat diese Frage wieder auf das juristische Gebiet zurückgeführt.... Ich litt, Sie darauf aufmerksam machen zu dürfen, Herr Minister, daß der vorliegende bericht nicht zum Ausdruck bringen soll, daß ich eine englisch-deutsche Annäherung bereits als vollzogen oder als bevorstehend betrachte. Allerdings würde ich sic von ganzem Herzen wünschen, weil dadurch die Sicherheit Belgiens bedeutend er-öht werden würde. Alles, was ich sagen will, ist nur, daß meines Er, achtens die teutschen Zeitungen die Rede Sir Edward Greys nicht ernsthaft genug

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beachtet haben, und baß man die Ereignisse abwarten muß, ehe man ich ein Urteil über ihre wirkliche Tragweite bilden kann. Die Enttäuschung des,Temps" be, weist, daß die öffentliche Meinung in Paris in der Rede bedeutend rehr sieht als in Berlin. Nach der Art zu urteilen, wie die französische Zeitung sch ausspricht, möchte man meinen, daß sie in der Triple-Entente nur noch eine lereeFormel ohne Bedeutung erblickt. Genehmigen Sie usw. (gez) Greindl.

Aus Nr. 66. Baron Greindl, Gesandter Belgiens in Berlin, an Herrn Davignon, Minister des Äußeren. Berlin, den 21. 5pril 1911. ...Ich glaube nicht, daß man hier im geringsten den Wunsch hegt,in die marok­ kanische Angelegenheit aktiv einzugreifen. Man muß hier seit langem ede Illusion, wenn man überhaupt jemals solche hatte, über den Wert der Algeeias-Akte ver­ loren haben, die Frankreich in der festen Absicht unterzeichnet hat sie niemals zu beobachten. Frankreich hat keinen Augenblick aufgehört, seine Amexionspläne zu verfolgen, sei es, daß es Vorwände gebrauchte, um vorübergeende Besitz­ ergreifungen vorzunehmen, die ewig dauern sollten, sei es, daß es Konzessionen erpreßte, die den Sultan in Abhängigkeit von Frankreich brachten uni ihn allmäh­ lich auf das Niveau des Beys von Tunis herabdrückten. Als sich Le Kaiserliche Regierung durch das Abkommen vom 9. Februar 1909 verpflichtete, Ln politischen Interessen Frankreichs in Marokko keine Hindernisse in den Weg zulegen, wußte sie zweifellos, daß die französische Regierung diese Klausel als Ermtigung aus­ legen würde, auf demselben Wege fortzufahren, und daß sie das Besprechen, die Unabhängigkeit Marokkos zu respektieren, als toten Buchstaben ar'ehen werde. Ein Rückzug würde für Frankreich jetzt eine grausame Demütigung sein... Wie ich die Ehre hatte. Ihnen in meinem Bericht vom 11. Febuar 1909 zu schreiben, wurde das Abkommen vom 9. Februar von allen deutschn Zeitungen kritisiert, die keine offiziösen Beziehungen hatten. Seitdem hat man ae'hr als ein­ mal der Kaiserlichen Regierung zuviel Nachgiebigkeit gegen Frankreich imer Marokko, angelegenheit vorgeworfen. In der Programmrede des Herrn Crurpi im Senat hat man die Stelle sehr bemerkt, wo der französische Minister, ebenso ne sein Vor­ gänger, auf ein europäisches Mandat pocht, das keinem Menschen jmals einge­ fallen ist, ihm zu übertragen. Die Versprechungen Frankreichs erwecrn kein Ver­ trauen mehr. Man kann nicht vergessen, daß die stets korrekte Sprace des Herrn Pichon ausnahmslos im Widerspruch zu seinen Handlungen stand. Jarum sollte Herr Cruppi aufrichtiger sein als sein Vorgänger? Man weist daraufhin, daß alle marokkanischen Schwierigkeiten durch die Eroberungspolitik Frankrichs hervor­ gerufen worden sind. Die Zeitungen wollen immer noch nicht einsyen, daß die Vertragsbestimmungen von Algeciras nur ein Köder waren, und sie h.ben noch die Naivität, ihre Ausführung zu fordern. Wenn es der französischen Regierung wirklich daran liegt, die Möglichkeiten eines Konflikts auszuschalten, so ist es an ihr, genügend Klugheit uw erheuchelte Mäßigung an den Tag zu legen, um Deutschland nicht zu zwinger, aus seiner passiven Haltung herauszutreten. (gez) Greindl. Genehmigen Sie usw.

313 Aus Nr. 67. Varon GuiUaume, Gesandter Belgiens in Paris, an Herrn Davigno», Minister des Äußeren. Paris, den 29. April 1911. .. - Bish er rechtfertigt noch nichts die Befürchtung, daß die französische Expedi­ tion einen Wechsel in der internationalen Politik Hervorrufen könnte. Deutschland beobachtet rulig, was vorgeht, beglückwünscht sich vielleicht wegen der Schwierig­ keiten, die auf den Schultern der Regierung der Republik lasten, und wünscht weiter nrchts, als sich in diese Frage nicht einzumischen, solange es nicht durch seine wirtschaftlichen Interessen dazu gezwungen werden wird. England, das Frankreich in den marokkanischen Handel hinein geritten hat, betrachtet sein Werk mit Wohlgefallen....

Aus Nr. 68. Baron Greindl, Gesandter Belgiens in Berlin, an Herrn Davignon, Minister des Äußeren. Berlin, den 1. Mai 1911. Herr Minister! Seitdem die Marokko-Angelegenheit sich wieder zugespitzt hat, beschränkte sich die Deutsche offiziöse Presse darauf, die von den Lelegraphenagenturen ge­ brachten Nachrichten wiederzugeben, und enthielt sich jedes Kommentars. Gestern früh hat sie dieses Stillschweigen durch den Leitartikel gebrochen, der an der Spitze der „Nordd. Allg. Ztg." erschienen ist. (Dieser Artikel ist wörtlich abgedruckt.) Dieser offiziöse Artikel bestätigt, was ich die Ehre hatte, Ihnen in meinem Bericht vom 21. April d. I. zu melden. Cs ergibt sich daraus, daß die Kaiserliche Regierung aus leicht zu erratenden Gründen die Alarmgerüchte der Pariser Presse über die Lage in Marokko, die mit den in Berlin direkt eingegangenen Nachrichten nicht übereinstimmen, für stark übertrieben hält. Dieser Skeptizismus ist um so verständlicher, äls er auch von den englischen Zeitungen geteilt wird, die sicherlich nicht im Verdacht stehen, gegen Frankreich feindlich gesinnt zu sein und Deutsch­ land zärtlich zu lieben. Nichtsdestoweniger hat die Kaiserliche Regierung kein Verlangen, sich dadurch -äußere Schwierigkeiten zu schaffen, daß sie Frankreichs militärisches Vorgehen in Marokko behindert. Um von einer Intervention absehen zu können, gibt sie vor, den Versicherungen der Französischen Regierung über den vorübergehenden Charak­ ter der Besetzung marokkanischer Gebiete Glauben zu schenken. Gleichwohl hat sie keinen Grund zur Annahme, daß Herr Cruppi aufrichtiger wäre als Herr Pichon, und ihr Vertrauen muß um so geringer sein, als Herr Delcaffe zum französischen Ministerium gehört. Der Schluß des offiziösen Artikels ist bestimmt, der deutschen öffentlichen Meinung Genugtuung zu geben; diese ist tatsächlich erregt und macht es seit langem der Kaiserlichen Regierung zum Vorwurf, der methodischen Nichtbeachtung der Algecirasakte und des Abkommens vom 9. Februar 1909 gegenüber die Augen ju schließen. Welches ist wohl die Tragweite der offiziösen an die Pariser Adresse

3i4 gerichteten Warnung? Will Herr von Kiderlen-Wächter, der weit energisch,er ist als seine Vorgänger, vielleicht zu verstehen geben, daß er keine weitern frarrzöfischerr Übergriffe dulden wird, oder will er nur Zeit gewinnen und gleichzetig vermeiden, das Dolksempfinden zu verletzen? Ich neige zu der letzteren Hypohese.... Der spanische Botschafter in Berlin ist sehr unruhig und machtwegen Marokkos eine Demarche nach der andern; über das Ziel, das er erreichen nöchte, sargt er aber seinen Kollegen nichts. Ohne Zweifel sieht man in Madrid cir, daß Spanien im Jahre 1904 von Frankreich und England übertölpelt worden ist, and man sucht in Berlin Unterstützung. Es ist aber sehr unwahrscheinlich, daß nan sie findet. Deutschland, das es vermeiden möchte, wegen seiner eigenen Interesse! einzuschr eiten, hat keinen Grund, sich um der Interessen Spaniens willen zu konpromittaeren, dessen Haltung auf der Algeciraskonferenz nicht eine solche gewesen st, um frei ihm Gefühle der Dankbarkeit zu erwecken. Der in dem offiziösen Artikel dargelegten Absichten ungeaotet, bleibt die Lage heikel. Irgendeine Ungeschicklichkeit kann Deutschland dazu zwingen, aus seiner Untätigkeit herauszutreten. Diel hängt auch von der Presse w. Französische Zeitungen zeigen viel zu deutlich, daß es sich darum handelt, aus Mavkko ein zweites Tunis zu machen. Die deutschen Zeitungen sind im allgemeinen fefc zurückhaltend, aber die unter alldeutschem Einfluß stehenden Blätter stellen Federungen auf, die für die Politik der Kaiserlichen Regierung äußerst unbequem sird. Genehmigen Sie usw. (tez.) Greindl. Aus Nr. 70. Baron Greindl, Gesandter Belgiens in Berlin, an Herm Oavignon, Minister des Äußeren.

Berlin, den io. Rai 1911. ...Aus indirekter, aber sehr tuverlässiger Quelle weiß ich, daß de französische Botschafter in Berlin sich über diese Zurückhaltung beunruhigt. Es ärzert ihn, daß man hier den Erklärungen, die er Im Namen der französischen Resierung über ihre Loyalität und Uneigennützigkeil abzugeben beauftragt wird, nicht rückhaltlos Glauben schenkt. Er beklagt sich darüber, daß seine zahlreichen Demirchen in der Wilhelmstraße zu keinem greifbaren Ergebnis führen. Erwartete er denn, eine Art Blankovollmacht für die französishe Aktion in Marokko zu bekommen? Wenn man in Paris derartige Hoffnungen legte, so muß man den Anfang der Frage vollkommen aus den Augen verloren haben. Sie begann mit den im Jahre 1904 von England, Frankreich und Spanier getroffenen Vereinbarungen, wobei man sich nicht die Mühe genommen halte, die übrigen interessierten Mächte zu befragen oder sie auch nur zu verständigen. Bis zu dem Augenblick, wo Dentschland seine Einwendungen vorbrachte, spray man ganz offen davon, baß Marokko ein zweites Tunis werden würde.... Kann man die in Vorbereitung begriffenen Expeditionen als ewas andereansehen als einen «eiteren Akt in derselben Komödie?...

315 Ich blebe weiter überzeugt, daß Deutschland es zu vermeiden trachtet, ge§ nötigt z>u werden, ernstlich in die marokkanische Angelegenheit einzugreifen, aber ich muß wiiederh,len, was ich in meinem Bericht vom i. Mai schrieb, nämlich, daß die Frage nrtchtsd'stoweniger eine sehr heikle ist. Sie wird eS sogar immer mehr. Damir die Kaiserliche Regierung ihre Zurückhaltung vor der deutschen öffentlichen Meinung, rechtfertigen :ann, wird man in Frankreich recht geschickt operieren und Mäßigung heucheln mästn, um sie nicht zu zwingen, aus dieser Haltung herauszutreten.

In

der letzten Zet haben aber weder die französische Regierung noch ein großer Teil der französisaen Presse entsprechend gehandelt. Genehnigen Sie usw. (gez.) Greindl.

Aus Nr. 7i. Graf Lalang, Gesandter Belgiens in London, an Herrn Davignon^ Minister des Äußeren. London, den 22. Mai 1911. Herr Minister! Mit Bezug auf meinen Bericht vom 17. d. M. beehre ich mich, Ihnen zu melden, daß dais Laistrliche Paar London am 20. Mai verlassen hat.

Es nimmt, wie ich

von H