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German Pages [377] Year 2003
DIE ZUNFT Das Wesen der Universität, dargestellt an der Geschichte des Professorwerdens und des professoralen Liebeslebens von Siegfried Bär mit Karikaturen von Frieder Wiech
l,; J-
Verlag Herfort & Sailer GbR.
Alte Straße 1 D-79249 Merzhausen Tel.: 0761 - 28 68 69 Fax:0761-35738 [email protected] www.laborjournal.de
Der Autor: Siegfried Bär Rathausgasse20 79098 Freiburg
1. Auflage 2003
©
Lj-VerlagGbR,Freiburg
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Lektorat: Hubert Rehmund Birgit Olbrich Layout: Kai-UweHerfort Druckund Verarbeitung:Dinner Druck, Schlehenweg6, 77963 Schwanau
Dank sage ich ungern. Dennoch muß ich es tun. Dem Lj-Verlagist zu danken. Er hat mir, nachdem das Manuskript die Festplatte durchbrannte, einen neuen Computer zur Verfügung gestellt. Frieder Wiech hat die Karikaturen gezeichnet und das bayerische Landesarchiv hat mir - wenn auch irrtümlich - zu billigem Preise die Dokumente der Rascherschen Abenteuer geschickt. Birgit Olbrich hat mit großer Gründlichkeit Korrektur gelesen und Achim Krämer mich bei den zahlreichen Abstürzen des Word-Programms beraten. Dann gibt es eine Reihe von Informanten, die ungenannt bleiben wollen aber nicht unbedankt sein sollen, und etliche, die Beiträge geleistet haben, sind meinem Gedächtnis entschwunden. So kann ich mich nicht mehr daran erinnern, wie der Herr hieß, der mir die Überschrift „Der Untergang des Hauses Rascher" nahelegte. Als Entschuldigung mag dienen, daß ich dieses Werk schon 1992 begonnen und immer wieder abgesetzt habe. Wem ich ein handsigniertes Exemplar dieses Buches versprach und wer nun vergeblich darauf wartet: Melde Dich und Du wirst beschenkt werden.
Freiburg, im Oktober 2003
Den deutschen Universitäten muß man überhaupt nachrühmen, daß sie den deutschen Schriftsteller, mehr als jede andere Zunft, mit allerlei Narren versorgen, und besonders Göttingen habe ich in dieser Hinsicht immer zu schätzen gewußt. Dies ist auch der geheime Grund, weshalb ich mich für die Erhaltung der Universitäten erkläre, obgleich ich stets Gewerbefreiheit und Vernichtung des Zunftswesens gepredigt habe.
Heinrich Heine, Reisebilder
Über den Autor:
S. Bär lebt im obersten Stock eines Hauses, das seit dem 15. Jhd. den Namen „Zum geharnischten Mann" trägt. Auf das Haus kriecht von links und rechts Universitätsgeschichteein - und das hat nichts mit Verfolgungswahn zu tun. Links droht der Renaissancebau der alten Freiburger Universität. Blinde Fensterrahmen aus rotem Sandstein unterbrechen seine Fassade, und Steinmetz oder Bauherr haben es für hübsch gehalten, aus den unteren Ecken Eulen und vollbusige Frauen herauszumeißeln. Die ersteren stehen für Weisheit und die letzteren vermutlich für der Weisen geheime Sehnsüchte. In jenen Ecken nistet auch der heilige Geist, oder wenigstens seine Symboltiere, die Tauben. Es herrscht ein Hin und Weg, ein Kollern und Gurren, ein Vertreiben von Rivalen, ein Hacken und Schnäbeln. Doch hinterläßt der heilige Geist wenig Substantielles. Man sieht Nester und gelegentlich liegen sogar Eier darin. Junge aber schlüpfen nie. Nichts bleibt von dem Gewese als weißgelbliche Kothaufen. So präsentieren sich Geist und Weisheit dem Autor Tag für Tag als reichlich beschissene Wesenheiten, was vielleicht manche Zeilen diese Buches zu erklären vermag. Dies umsomehr, als ihm von rechts, mit braunem Putz und roten Ziegeln,
ein ehemaliges Jesuitenkolleg dreut, heute Domizil der Forstwissenschaftler. Die scheinen sich viel im Wald aufzuhalten, denn man könnte das Gebäude für unbewohnt halten, fiele an Winterabenden nicht aus stumpfen Fenstern gelegentlich ein funzeliges gelbes Licht. Nicht einmal auf dem Damenklo ist Betrieb. Waldesruh herrscht und ein Lindenbaum weht süß dazu. Man kann in aller Ruhe schreiben. Schreiben tut der Autor gern, aber nicht immer erfolgreich. Manch fehlerhafte Rechnung des Autohauses Georg Krämer stammt aus seiner Feder, ebenso manch falsch ausgefüllter Frachtzettel der Wellpappfabrik Robert Nestler. Dennoch, eine Anlage zum Schreiben ist da, eine vererbte sogar: Schon der Vater des Autors hatte viel mit Schreiben zu tun. Er war Landbriefträger. Aufbuckligen Wegen trug der Briefe und Päckchen aus, kiloweise und zu Fuß, bei Sonne und Regen, und am Abend hatte er 30 km zurückgelegt, ohne damit je die Grenzen des unteren Beamtendienstes zu überschreiten. Ähnlich zähe verfolgte sein Sohn, der Autor, seinen Weg durch Universitäten und Max-Planck-Institute. Auch ihm gelang es nie, so sehr er auch den Buckel über Eppendorfcups und
Mikrotiterplatten krümmte, den unteren Dienst zu verlassen. Der Autor wurde Diplomand, Doktorand, Postdok und damit hatte es sich. Kanäle reinigte er in dieser schweren Zeit. Mit Recht durfte er sich
Kanalarbeiter nennen. Dieser Profession ist er als Schreiberling treu geblieben. Falls Sie es über sich bringen, dieses Buch zu lesen werden Sie feststellen: In Unapetitlichem zu stochern, die Wühlarbeit, das liegt ihm.
Ex Nihilo Nihil
Inhaltsverzeichnis Freie Geister
1
Peter: Der Philosoph und die Eierdiebe
7
Die Zwangsjacke
19
Jämmerliche Anfänge
43
Ulrich: Ein Mann setzt sich durch
60
Bleierne Zeit
80
Johann: Standhaft und 'Irocken
103
Vergebliche Reformen
119
Das große Sterben
144
Ein überschätzter Neuanfang
150
Justus: Es gibt keine.Helden!
167
In Glanz und Gloria
180
Fritz: Der Tapfere
201
Zwischen den Kriegen
220
Sigmund: Der Untergang des Hauses Rascher
241
Vom Niedergang der deutschen Forschung
293
Vom Schein zur Fiktion: Die 70er Reform
313
Botschaften
34 7
Vorwort
Die Universität muß reformiert werden! So pfeift es aus Haushaltslöchern und Zeitungsspalten, so zwitschern Wissenschaftsministerinnen und schmettern Kultusminister. Dabei ist die letzte Reform kaum 25 Jahre alt. Und es war nicht die einzige in diesem Jahrhundert. Die von 1933/34 wollen wir nicht zählen. Aber schon in der Weimarer Republik wurde kräftig gebosselt am baufälligen Haus der Universität. Im Kaiserreich auch. Und 1848. Bekannt ist die Humboldtsche Reform von 1810. Aber auch die war nicht die erste. So alle 20-30 Jahre wurde das ganze 18., 17., 16. und 15. Jhd. hindurch an der Universität geschliffen, geflickt, gebessert. Jede Generation versuchte sich auf's neue an den immer gleichen Übelständen. Fastjede Generation scheiterte. Woran liegt das? Ist die Universität unreformierbar? Was ist eigentlich eine Universität? Was macht ihr Wesen aus? Das Wesen der Universität ist, was sich über die Zeiten nicht ändert. Das Wesen der Universität muß sich also aus ihrer Geschichte schälen lassen, wie zu Weihnachten das immer gleiche Hampelmännchen aus verschiedenen Kartonagen. Es gibt bereits Bücher über die Geschichte der Universität. Sie sind
nicht alle schlecht und an Detailkenntnissen übertreffen mich ihre Autoren bei weitem. Keiner aber hat die Essenz der Universität herausgearbeitet. Also wühlte ich im Staub der Archive, atmete den Mief der Lesesäle, harrte aus im Gedärm der Schlangen vor den Xerox-Kopierern. Es lohnte sich. Es ballte sich die Erkenntnis, daß eine Essenz existiert, und daß diese sich am reinsten im Professorwerden offenbart. Sprach etwas dagegen, dies zu Papier zu bringen? Ja, denn leider - oder Gottseidank wurde ich bei meinen Recherchen auch mit einer zweiten Erkenntnis begnadet: Universitätsgeschichten verkaufen sich schlecht. Für wenig Geld viel schreiben war aber nicht meine Absicht. Sie werden einwenden, daß es auch anderen Lohn gibt als pekuniären, und tatsächlich ist meine Eitelkeit beachtlich - jedoch ist sie nicht größer als mein Hang zum Geldverdienen. Und so wäre dieses Buch beinahe nie geschrieben worden und Sie hätten sich für das Geld zwei Paar neue Socken kaufen können, was vielleicht auch sinnvoller gewesen wäre, wenn nicht - ja, wenn sich nicht die Professorentochter als wichtige Konstante beim Professorwerden herausgestellt hätte. Diese erotische Komponente des Professorwerdens haben frühere Univer-
sitätsgeschichteschreiber zu wenig gewürdigt. Nun verkaufen sich bekanntlich selbst schlechte Bücher gut, solange sie genügend mit Erotik angereichert werden, warum nicht auch eine Universitätsgeschichte, die sich dem Liebesleben der Professoren widmet? Zweifler mögen einwenden, daß dieses Liebesleben nicht eben das spektakulärste sein dürfte, und ich muß zugeben, auch ich hegte diese Befürchtung. Heute aber sage ich, und dies dürfte eine der erstaunlichsten Erkenntnisse dieses an Erkenntnissen nicht armen Buches sein: Die Zweifler haben unrecht! Das professorale Liebesleben kann sich - zumindest gelegentlich - an Verwicklungen und Tragik, an Romantik und Schmalz durchaus mit dem gewöhn-
licher Sterblicher messen. Das Gewicht dieses Buches liegt also auf dem Professorwerden. Ihm, bzw. seiner Geschichte, habe ich mich mit Liebe gewidmet, trotz eigener, unangenehmer Erinnerungen. Ich habe den Prozeß allgemein dargestellt, aber auch an einzelnen Professoren. Denn wer verstehen will, muß die Lupe benutzen: Nur wer einer Mechanik ins Detail schaut, sieht, welche Rädchen treiben. Wenn Sie das Wesen des Professorwerdens verstanden haben, werden Sie das Wesen der Universität erkennen. Sie werden sehen: Die Schwächen der Universität liegen in ihrem Wesen. Die Universität scheitert, weil sie Universität ist. Sie ist unreformierbar.
Freie Geister
Die längste Zeit kam der Mensch ohne Universität aus. Dennoch brachte er griechische Philosophie und römische Technik hervor. Selbst das friihe Mittelalter glaubte, obwohl es recht jämmerlich daherhinkte, auf eine Universität verzichten zu können. Gelehrte gab es dennoch. Die hießen Magister und pflegten, an Kirchen und in Klöstern, die Wissenschaft. Die bestand, noch aus der Antike her, aus den sieben freien Künsten: Grammatik, Rhetorik, Dialektik, Arithmetik, Geometrie, Musik und Astronomie. Im 12. Jhd. kam die Scholastik dazu. Die Scholastiker wollten die christliche Lehre logisch erklären. Dazu stellten sie Fragen an die Bibel, die sie durch Vernunftschlüssebeantworteten. Die Fragen waren von solcher Art: - Konnte Christus auch als Weib geboren werden? - Hätte Jesus auch aus dem Fuß oder der Hand Marias geboren werden können?
- Ist Christus beschnitten oder unbeschnitten auferstanden? - Hatte Adam einen Nabel? Wie man aus der Bibel auf Adams Nabel schließen kann? Adam wurde erschaffen und nicht geboren. Also hing er auch an keiner Nabelschnur. Also fehlte ihm der Nabel. Dies scholastische Frage- und Antwortspiel war ernsthaftes Anliegen gescheiter Männer. Noch im 18. Jhd. erbaute sich daran die gebildete Gesellschaft. So kam Casanova 1 einst in das Haus eines Genfer Pastors. Dessen Nichte, Anne-Marie May, galt als theologische Begabung und der Pastor liebte es, Tafel zu halten und seine Anne-Marie vor Dichtern, Theologen und Gelehrten glänzen zu lassen. Sie müssen sich das so vorstellen: Die Gräten der Forellen waren bereits abgetragen, die Höflichkeiten heruntergeklappert. Käse steht noch da, man serviert Schokolade und die Herren strecken unter dem Tisch die
1 Giacomo Casanova, Geschichte meines Lebens, Verlag C.H. Beck, München, 1986. Casanova hat alles Recht, in einer Universitätsgeschichte erwähnt zu werden. Zum einen, weil er schon mit 17 Jahren in Padua den Doktor beider Rechte erworben hatte, zum anderen, weil er so klug war, eine akademische Karriere erst gar nicht in Erwägung zu ziehen. Wir werden noch öfters auf diesen Herrn stoßen, daher seine Lebensbeschreibung: Casanova wurde 1725 in Venedig als Sohn eines Schauspielerehepaares geboren. Sein Vater starb einige Jahre später. Mit 12 Jahren bezog Giacomo die Universität Padua, um
Beine. Mit nicht ganz reinen Gefühlen betrachten sie Anne-Marie, die appetitlich, blond und vollbusig neben ihrem Onkel sitzt und sich mit dem berühmten Gast unterhält. ,;vonwelcher Art ist das Geschöpf gewesen, das geboren sein würde, wenn Jesus mit der Samariterin ein Kind gezeugt hätte?", fragt Casanova sie gerade. ,,Die Samariterin hätte einen Viertelsgott geboren," antwortet AnneMarie. ,,Einenmännlichen. Denn was ein Gott zeugt muß perfekt sein und perfekt ist nur der Mann." ,,Sie haben Unrecht, Madame", widerspricht ein Theologe. ,,Jesus hätte die Samariterin niemals begatten können. Die Gründe darf ich ihnen leider nicht erklären. Es würde die guten Sitten verletzen." Mokant-verlegenes Lächeln der Herren. Das Dienstmädchen kichert. Anne-Marie traut sich nicht nachzufragen. Die guten Sitten, da sei Calvin vor, sind immer noch eine Macht in Genf. Aber der Einwand fuchst sie.
Später, auf einem Spaziergang, hinter Holderbüschen und Philodendron, bittet sie Casanova zu erklären, was der Theologe wohl gemeint habe. „Jesus konnte die Samariterin nicht begatten, weil Jesus keine Erektion bekommen kann", doziert Casanova. ,;voraussetzung für eine Erektion ist nämlich Begehren. Wer aber begehrt, ist nicht vollkommen, sonst müßte er ja nichts begehren. Ein Gott jedoch ist vollkommen. Womit auch klar ist, warum Jesus keine Kinder hatte und Maria unbefleckt empfangen mußte: Gott kann nicht vögeln." Anne-Marie guckt ratlos. ,,Was ist eine Erektion?" Casanova lächelt, verbeugt sich und nestelt an seiner Hose. Mit Stolz legt er Anne-Marie den Beweis seiner Menschlichkeit vor. Was dann folgte, lassen wir besser. Stattdessen ein weiteres Beispiel für scholastische Beweisführung: Der Beweis, daß Kinderkriegenwichtiger ist als Gottesglauben.
weltliches und Kirchenrecht zu studieren. Sein Interesse galt jedoch der Medizin und Chemie. Weil seine arme Familie aber nur in einer geistlichen Karriere Chancen für ihn sah, mußte er in den beiden Rechten promovieren. So hat er zwei Doktorarbeiten geschrieben, eine zum Zivilrecht „De testamentis" und eine zum Kirchenrecht „Utrum hebrei possint construere novas synagogas". Letztere behandelt die Frage, ob Juden neue Synagogen bauen dürfen. Er versuchte dann auch eine geistliche Karriere, gab sie aber auf, um in die Dienste eines Kardinals zu treten. 1745 verdingte er sich bei den Venezianern als Soldat. Als ihm die versprochene Beförderung verweigert wurde, sagte er den Dienst auf und schlug sich als Geiger, Notargehilfe und Glücksspieler durch. 1755 wurde er verhaftet, angeblich wegen leichtfertiger Gedichte, vielleicht auch wegen seiner Liebschaft mit zwei Nonnen. Man kerkerte Casanova in den Bleikammern ein. Im Jahr darauf gelang ihm die Flucht. Er zog nach Paris, wurde Lotteriedirektor und übernahm diplomatische Aufträge. Bald wurde er aus Frankreich ausgewiesen und bereiste Europa von London bis Petersburg, von Berlin bis Rom - immer auf der Suche nach einer festen Stelle. Sein Geld verdiente er mit Glücksspiel und Scharlatanerien. So machte er Frau d'Urfe, eine begüterte Adlige, glauben, er könne sie in einen Knaben verwandeln. 1780 verdingte er sich bei der venezianischen Inquisition als Geheimagent. Obwohl er für das Sittendezernat arbeitete, also etwas von der Sache verstand, wurde er bald wieder entlassen. 1785 stellte ihn Graf Waldstein in Dux als Bibliothekar ein. Dort starb Casanova 1798 an einem Blasenleiden.
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Im Alten Testament, im 1. Buch Mose, verspricht Gott seinen Auseiwählten, Abraham, Joseph etc., auf jeder zweiten Seite Kindersegen als Gegengabe für ihre Verehrung. Nicht Gold, nicht Vieh, nicht Weiber, sondern Kinder und Enkel: Und dein Ge-
Als Universalien bezeichnete man die allgemeinen Begriffe, z.B. den Begriff „Esel", der alle Esel umfaßt. Die Realisten glaubten, daß die Universalien nicht nur Worte seien, sondern Wirklichkeiten entsprächen. Universalien würden vor den Einzeldingen und als deren Ursache existieren. Die Einzeldinge seien nur der Schatten einer ewigen Idee. Die Nominalisten dagegen behaupteten, nur Einzeldinge seien wirklich vorhanden (z.B. ein bestimmter Esel), der Begriff „Esel" sei nur eine Vorstellung unseres Hirns, nur ein Wort ( =Nomen). An dieser lilliputanischen Eierfrage hingen Dogmen, z.B. die Dreifaltigkeit, die Würde von Autoritäten 3 und der Glanz von Heiligenscheinen. Jahrhundertelang spaltete man über den Universalien Haare und Köpfe, versuchte im Dampf der Wörter, die heilige Dreifaltigkeit glatt zu bügeln. Erst in der Renaissance übeiwanden die Gelehrten das Scheinproblem, d.h. sie wurden seiner überdrüssig und ignorierten es fortan. Sie schmunzeln? Sie lehnen sich zurück und rücken die Lampe der Aufklärung zurecht, damit sie Ihr Haupt bescheine und es umso heller glänze? Tun Sie das, aber glauben Sie nicht, daß die Scholastik verschwunden sei. Der Brauch, unbestimmte Begriffe mit undefinierten zu erklären, lebt nicht nur in den Geisteswissenschaften fröhlich weiter. Man besäuft sich an brillanten Erklärungen, ohne sich einen Deut um ihre Beziehung zur Wirklichkeit zu kümmern,
schlecht soll werden wie der Staub auf Erden ..., will ich dein Geschlecht segnen und mehren wie die Sterne am Himmel... usw.. Zahllose Kinder und
Enkel sind offensichtlich das Beste, was Gott glaubt, geben zu können und weil Gott allwissend ist, ist es das auch. Nun darf man annehmen, daß Gott bei Geschäften ehrlich, ja großzügig ist. Also ist, was Gott gibt, Kindersegen, mehr wert als das, was er von seinen Auseiwählten dafür verlangt, der Glaube an ihn. Also zählt Kindersegen mehr als der Glaube an Gott. Manchmal hat die Bibel recht. Dem Scholastiker galt die Bibel als feste Wahrheit. Als Quellen der Vernunft und unumstößliche Wahrheiten galten ihm aber auch die aus der Antike überkommenen Texte von Aristoteles, Platon, Avicenna2 • Da es nur eine Wahrheit geben kann Zwiedenken und Quantenmechanik waren noch nicht erfunden - mußten also Bibel und Kirchenväter mit den griechischen Philosophen übereinstimmen. Widersprüche konnten nur scheinbare sein und des Scholastikers Aufgabe und Streben war es, sie wegzudenken. Dieses Streben zeitigte seltsame Auswüchse. So den Universalienstreit.
2 Arabischer Philosoph und Mediziner (arab. Name Ibn Sina), 980-1037, stark beeinflußt von der griechischen Philosophie. 3 Die Vorstellungen der Realisten gehen auf Augustinus (354-430) zurück, der als einer der größten Lehrer der Kirche gilt. Dogmatisches Hauptwerk: .,Über die Dreifaltigkeit".
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ja man verachtet diese. Nach der Wrigley-Methode - wiederkäuen bis zur Geschmacklosigkeit und dann ausspucken - lösen Philosophen, Psychologen und Theologen ihre Probleme heute noch. Und was die geistige Wendigkeit betrifft, so ist - Oh, Jesus! - die Frage nach Deiner Erektion wenigstens originell, verglichen mit dem, was heute an soziologischen, psychologischen oder theologischen Fachbereichen als Promotionsthemen ausgegeben wird. Sicher, man muß die Scholastik „aus ihrer Zeit heraus verstehen". Aber Geschwafel ist Geschwafel - zu jeder Zeit. Dieser Ansicht waren auch die Scholastiker selbst, so Simon v Tournay, ein gefeierter Magister um 1200. Nach einem eindrucksvollen Vortrag baten ihn seine Schüler, seine Thesen aufschreiben zu lassen. Simon lachte: 0 Jesulein, o Jesulein wie habe
Fragen zu übertrumpfen. Dieser Sachverhalt war dem Gelehrten durchaus klar, er beklagte ihn häufig genug. Man darf ihn sich nicht als weltfremden Spinner vorstellen. Im Gegenteil. Unsere Fachbereichsintrigen sind von einer geradezu degenerierten Harmlosigkeit gegen scholastische Ränkeschmieden. Da wurde nicht nur verleumdet. Da wurde verketzert, auf Konzilien verklagt, dem Gegner eingeheizt, und dies nicht nur mit Worten, sondern mit Reisigbündeln, Birkenholz und Schwefel. Gelehrt wurde in Latein. Dies, weil die Kirche Latein sprach. Sie hatte auch die antiken Texte über die Völkerwanderungszeit gerettet. Der tiefere Grund aber war, daß Latein und die antiken Texte, die ja meistens in Latein geschrieben waren, das Prestige des römischen Weltreichs trugen. Latein gab dem Gesagten und dem Sager Weihe. In Latein verpackt schmeckte das dümmste Brot wie Pralinen. Latein hielt sich lange als Wissenschaftssprache. Erst im 18. Jhd. fing man an, auf Deutsch zu lehren4, wobei man sich auch weiterhin gerne lateinischer Begriffe bediente oder neue in Latein prägte. In jüngster Zeit allerdings zieht der Akademiker das Englische oder Neudeutsch mit englischem Einschlag vor. Dieser Lateinersatz bietet das Prestige des amerikanischen Weltreichs:Ein glänzendes Packpapier, um darin die modernen Universalien einzuschlagen.
ich heute deine Lehre verteidigt und erhöht, aber wahrlich, wenn ich sie in böser Absicht angreifen wollte, dann würde ich noch viel stärkere Gründe und Beweise dagegen anzuführen wissen.
Gut, diese Klarheit über ihr eigenes Tun mögen nicht viele Gelehrte gehabt haben, doch daß der Kollege leeres Stroh dresche, das war die Meinung aller. Und alle hatten recht. Es ging dem mittelalterlichen Gelehrten nicht um Wahrheit, es wurde nicht experimentiert, nichts gemessen. Ziel war, den Konkurrenten durch schlagfertige Disputation, blendende Sophismen, originelle
4 Die ersten Vorlesungen in Deutsch hielt Paracelsus in Basel, doch war seinem Vorstoß keine Erfolg beschieden. Erst Christian Thomasius brachte den Stein ins Rollen als er 1687 an der Universität Leipzig eine Vorlesung in Deutsch hielt zum Thema Welcher Gestalt man denen Frantzosen in gemeinem Leben und Wandel nachahmen sollte.
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Latein wurde den Buben, deren Väter sich das leisten konnten, im Alter von 7-15 Jahren vermittelt, wobei dies Tor zur Wissenschaft nicht aufgeschlossen, sondern eingeprügelt wurde. Der Boden der Gelehrsamkeit war aus Stöcken und Ruten geflochten und vor dem poetischen Erguß stand der Bluterguß. Es gab Klosterschulen, Domschulen, Stadtschulen, es gab die kahlen Stübchen der Hauslehrer aber überall klatschten Haselnußgerten auf nackte Hintern und Wehgeschreibegleitete den Einzug der klassischen Bildung. Derart versehen mit einer mehr oder weniger gründlichen Kenntnis des Lateinischen und einer gut gespickten Börse konnte sich der Jüngling dann der Wissenschaft widmen. In jenen Zeiten, als es noch keine Universität gab, zog er an eine Kirche, wo berühmte Gelehrte lasen. Den Wissenschaftsbetrieb einer Kirche leitete der Kanzler oder der Scholaster des Domkapitels 5 , wobei die Leitung darin bestand, darauf zu achten, daß in den Vorlesungen keine Ketzereien verbreitet wurden. Dieser Kanoniker wurde durch Pfründen unterhalten. Oft las er selbst. Neben ihm lasen etliche freie Magister. Die kamen und gingen wie
das Unkraut auf dem Felde und lebten von den Hörergeldern ihrer Schüler, den Scholaren 6 . Diese Söhne reicher Adeliger oder Bürger zogen zu tausenden von einem Magister zum nächsten. Denn es lag Reiz in den scholastischen Spitzfindigkeiten, es machte Spaß, Haare zu spalten, und sie dann in Zöpfchen zu flechten. Eine gute Vorlesung hatte Unterhaltungswert in einer Zeit, die kein Fernsehen, kein Radio, kaum Romane kannte. Auch schmierte das Disputieren die Zunge, machte die Sprache gelenkig. Die Hauptanziehungskraft der Wissenschaft lag jedoch in der Tatsache, daß die Scholarenjahre Rang und Ansehen gaben. Die Kenntnis des Lateinischen und scholastischer Spitzfindigkeiten zeigte, daß man sich die Hände nicht hatte schmutzig machen müssen und - zumindest eine Zeitlang - keines Herren Knecht gewesen war. Bildung hatte die Funktion der chinesischen FingernägeF. Sie hat sie bis heute behalten. Gewaltig steigerte es das Ansehen, als Schüler eines berühmten Lehrers zu gelten. Bauern- und Handwerkersöhne konnten so zu Kirchenämtern aufsteigen, die sonst Adligen vorbehalten waren. Bildung war der Leim,
5 Das Kapitel hilft dem Bischof die Diözese zu verwalten. Es hat theoretisch 12 Mitglieder (wie die 12 Apostel) doch schon im 11. Jhd. lag die Zahl der Mitglieder eines Domkapitels jenseits der 30. Jedes Mitglied hatte eine bestimmte Aufgabe und dem gesamten Kapitel oblag die Wahl des Bischofs. Hier aber redeten auch der König/Kaiser/Fürst und der Pabst mit. Im 11. und 12. Jhd. war die Besetzung eines Bischofsstuhles eine politische Angelegenheit (Investiturstreit), bei der man vor keiner Verleumdung, etwa auf sexuellem Gebiet, zurückschreckte. Auch Mord und Totschlag waren üblich. 6 Scholar lat. Schüler. 7 Im alten China ließen sich die Gelehrten und höheren Beamten (was oft das gleiche war) die Nägel der kleinen Finger lang wachsen. Dies machte die Hände zur Arbeit untauglich und zeigte somit, daß man Arbeit nicht nötig hatte. Lange Nägel waren ein Rangabzeichen.
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mit dem manche Fliege die glatten Wände der mittelalterlichen Standesgesellschaft hochkroch. Noch mehr Ansehen als das Lernen verschaffte das Lehren. Ein Lehrer der Wissenschaft konnte reich, konnte Bischof werden. Welch eine Aussicht für einen Bauernsprößling! Statt sich mit Hakenpflug und zwei Ochsen auf disteligen Feldern abzumühen, wo einem die Sonne auf den Brägen knallte und die Griffe die Haut von den Händen schindeten, stand man mit geradem Rücken in kühlen Kirchen, spekulierte in die blauen Lüfte hinein und glänzte vor den Kindern der Reichen und Mächtigen. Der Stand des Gelehrten zog selbst Söhne des Adels an, obwohl bei dem das Lehren immer ein unedles Rüchlein behielt. Aber wie das bei angenehmen Einnahmequellen immer war und sein wird, es wird heiß darum gekämpft. Um die Scholaren herrschte freier Wettbewerb; eine formale Lehrerlaubnis gab es nicht. Auch keine Hierarchie, keine Titel und Diplome. Jeder hergelaufene Scholar konnte sich als Lehrer aufwerfen und altehrwürdigen Gelehrten Schüler und Brot nehmen, wenn er nur besser war, was hieß, das bessere Mundwerk zu haben. Daher die Vorliebe der Scholastiker für schlüpfrige Fragen: Die fesselten das Interesse der Hörer. Die Gelehrtenbalgerei um die Börsen der Schüler lockte Schakale an.
Schon im 12. Jhd. versuchten die Domkapitel, die Lehre an den Domschulen von ihrer Genehmigung abhängig zu machen. So verweigerte der Scholaster an der Kreuzkirche in Orleans um 1170 einem Magister8 Fulco die Erlaubnis, eine Vorlesung an der Domschule anzukündigen. Dabei ging es dem Domkapitel weniger um das Recht, die Lehrerlaubnis zu erteilen, als um das Recht, Gebühren für die Lehrerlaubnis zu kassieren. Die Gelehrten bissen die Schmarotzer ab: Fulco -vermutlich unterstützt von seinen Kollegen - klagte beim Papst. Der verfügte, daß der Scholaster die Erlaubnis zu erteilen habe. Andernfalls müsse er den Beweis erbringen, daß Fulco unfähig sei. Das war eine weise Entscheidung, denn die Stellung des Domkapitels war schlecht. Ein Magister nicht auf die Domschule angewiesen. Er konnte ohne weiteres an der Kirche des nächsten Städtchens oder sogar an einer Feldkapelle eine Schule gründen. Einzige Voraussetzung des Magister-Seinswar es, Schüler anlocken zu können. Auch das Laufbahndenken war dem voruniversitären Gelehrten fremd: Mal lehrte er, mal hörte er. Es kam sogar vor, daß ein Pfründeninhaber sein Lehramt einem anderen anbot und bei diesem hörte. Lesen und staunen Sie!
8 Magister war damals noch kein akademischer Grad, sondern bezeichnete die Tätigkeit
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Der Philosoph und die Eierdiebe 9
In jener Zeit als Papst Gregor VII den Priestern verbot, zu heiraten, Kaiser Heinrich nach Canossa zog und ein normannischer Herzog England eroberte, in der zweiten Hälfte des 11. Jhds. also, im Jahre 1079, wurde in Le Pallet bei Nantes ein Junge geboren. Sein Vater Berengar gehörte als Burgmann von Le Pallet und Aftervasall des Grafen von Nantes dem niederen Adel an. Die glückliche Mutter Lucia,eine Bretonin, war vielleicht die Tochter des Burgherrn. Peter Abälard 10, so hatte man den Jungen getauft, war das erste Kind des
Paares. Mindestens eine Tochter und drei Söhne sollten noch folgen, die alle zu ordentlichen Menschen gerieten 11 • Peter allerdings entwickelte sich zu einer Skandalnudel, deren Lärm bis heute nachtönt. Die Schuld daran trägt - natürlich - der Vater. Berengar hockte lieber hinter den Büchern griechischer Philosophen als sich um Fehden zu kümmern oder seine Bauern zu plagen. Wie viele Väter pflegte er die Ansicht, daß sein Sohn seine Interessen teilen müsse. Also ließ er Peter schon früh in den Wissenschaften unterrichten. Die
9 Das Kapitel und die meisten Zitate darin gründen auf Peter Abälards „Geschichte meiner Niederlagen", Reclam Verlag. Abälard hat das Buch als Briefwechsel zwischen sich und Heloisa angelegt. Es handelt sich eventuell um einen fiktiven Briefwechsel: Textvergleiche weisen daraufhin, daß auch die Briefe Heloisas von Abälard geschrieben wurden. Der Briefwechsel war demnach nicht Dokumentation, sondern Stilmittel für eine moralische Epistel (der bekehrte Sünder). Viele Informationen verdanke ich auch persönlichen Mitteilungen von Werner Robl und seiner Netzseite www.abaelard.de. Robl (geb. 1954) ist kein Historiker, sondern Internist im Kreiskrankenhaus Neustadt/WN. Als Sohn eines Altphilologen beherrscht er Latein, auch das frühmittelalterlicher Texte. Robl beschäftigt sich seit Jahren mit Abaelard und betreibt eigene Quellenforschung. Dem Autor (ebenfalls historischer Laie) scheinen Robls Arbeiten nicht nur originell, sondern auch seriös. Ein Kompliment für die beamtete Historikerzunft sind sie nicht. Ich erwähne Strobls Buch „Heloisas Herkunft: Hersindis Mater". Olzog Verlag. 10 Nach einer Legende soll Abälard kein Beiname, sondern ein Spitzname sein, der von einem lateinischen Wortspiel herrührt. Wahrscheinlicher ist es jedoch, daß es sich um einen bretonischen Namen handelt. 11 Peters Schwester hieß Dionysia, die Brüder Radulf, Porcaire und Dagobert. Dionysia heiratete vermutlich einen benachbarten Burgherrn, stieg also von einer Burgmannstochter zur Burgherrin auf. Über Radulf ist nur bekannt, daß er an einem 4. September starb. Dagobert wurde entweder Geistlicher oder wie sein Vater Burgmanne in Le Pallet. Er war verheiratet und hatte Kinder. Porcaire brachte es vermutlich zum Kanoniker am Domkapitel von Nantes. Er starb als Mönch. (Nach Robl)
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Mühewaltung trug Früchte. Obwohl ein temperamentvolles Bürschchen, fing Peter Feuer an den alten Folianten und zog das Fechten mit der Zunge dem mit dem Degen vor. Zum Jüngling gereift, zog er zu Roscelin v Compiegne. Dieser berühmte Gelehrte saß in der Nähe der elterlichen Burg, bei Vannes in der Bretagne, und war Nominalist. Er war es, der den Universalienstreit eröffnet hatte. Ach, die Schule von Roscelin! Das war ein Leben nach Peters Geschmack: In leichtem Linnen im Schatten sitzen und den Griffel in der Rechten balancieren, während die Brüder in schweißstinkenden Lederkollern die Luft mit rostigem Eisen zerteilen mußten, bis ihnen die Milz schmerzte. Peter tat höchstens der Hintern weh. Dennoch konnte sich der Ehrgeizige in Anerkennung sonnen: Er war wer, einer der es besser weiß, der tiefere Kenntnisse hat, der bei anderen, sogar bei den Mitschülern, Maulsperre auslöst. Denn leicht rollten Peter die Begriffe von der Zunge, Ideen leuchteten ihm wie die Blitze eines nächtlichen Gewitters und der Meister nickte gnädig dazu. Roscelins Meinung wird Peter, in abgeschwächter Form, fürderhin vertreten, er wird gegen die Realisten mit einem Feuer polemisieren, das ihm den Spitznamen „unbezähmbares Nashorn" einbringt. Denn an Bescheidenheit leidet Peter nicht. Otto von Freising, ein Zeitgenosse, sagt von ihm: Er war so anmaßend und nur auf seine eigene Intelligenz einge-
schworen, daß er sich von der Höhe seines Geistes kaum dazu herabließ, seinen Lehrern zuzuhören. In der Tat hatte er sich bald auch mit Roscelin verdorben. Als Peter den Roscelin durch hatte, blieb er im Philosophie-Geschäft und zog nach Nordfrankreich an die Schulen, denn dort lehrten die berühmtesten Männer. Auf Lehmstrassen, auf Karrenwegen, auf Saumpfaden ritt er durch banditenverseuchte Wälder in deren Lichtungen hölzerne Städte faulten. Er traflangbärtige Wanderprediger, Vaganten, Pilger zum heiligen St. Jakob in Compostela und Scholaren über Scholaren. Man zog gemeinsam daher, man redete miteinander, die Lehrer wurden durchgehechelt, dieser gepriesen, jener verdammt. Die großen Namen fielen: Wilhelm v Champeaux, der berühmte Dialektiker, Roscelin, Anselm v Laon, der Theologe. Der Streit der Magister, Realisten gegen Nominalisten, setzte sich unter den Scholaren fort. Um 1100 gelangte Peter nach Paris. Dieses Städtchen von 3000 Einwohnern, auf einer Seine-Insel gelegen, war nicht nur königliche Residenz und Sitz eines Bischofs, es gab dort auch zahlreiche Schulen 12 . Es gab Schulen auf dem Mont Genevieve, vor den Toren der Stadt und welche darin. Letztere lagen um die BischofskircheNotre Dame, damals ein baufälliger romanischer Kirchenbau. In einer solchen Stadtschule nahe der KircheSt. Christophe und des Armenhospitals lehrte Wilhelm von
12 Nach Robl hat es um 1100 in Paris keine Domschule gegeben. Sie sei erst 1127 durch Bischof Stephan von Senlis auf Antrag des Domkapitels errichtet worden.
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Champeaux 13 . Wilhelm war Archidiakon des Domkapitels14 , Magister und strenger Realist. Er nahm Peter freundlich auf und förderte ihn. Doch Peter saß nicht wie seine Mitschüler ehrfürchtig schweigend auf den Eichenbänken des eh~maligen Konventgebäudes von St. Christophe. Er versuchte, einige von Wilhelms Sätzen zu widerlegen, warf Gegengründe auf, Gegengründe, die Wilhelm rot anlaufen ließen, die er, stotternd und schwitzend, nur zu umreden wußte. Dies mißfiel Wilhelm, dies war ihm unbequem. Es mißfiel auch den Lieblingsschülern Wilhelms. Die fanden, daß solch Verhalten einem jungen Naseweis, der erst kurze Zeit beim Meister gehört, nicht zustehe. Keine Art sei das, einem Mann gegenüber, der etwas darstelle, der Kanoniker sei, ein Pfründe habe. Das Ergebnis war, daß Peter weiterzog in das Städtchen Melun an der Seine, zwei Tagesreisenoberhalb von Paris. In Melun wollte er eine eigene Schule gründen. Melun war - vorübergehend - königliche Residenz und Peter rechnete sich aus, dort reiche Schüler zu finden. Wilhelm versuchte, die Gründung zu hintertreiben: Wegen der Konkurrenz und wegen der Respektlosigkeit dieses Kerls. Melun läge zu nahe an seiner Schule, sagte er. Doch Wilhelm hatte einflußreiche Herren 15 zu Feinden und die schützten Peter. Die Schule blühte, Peters Übermut auch. ,,Wiekann ich diesen albernen Wilhelm ärgern?", überlegte er und
fand prompt eine Möglichkeit. Er verlegte seine Schule seineabwärts nach Corbeil. Das war nur eine Tagesreise von Paris und jetzt wechselten viele von Wilhelms Schülern zu Peter iiber. Dies ärgerte Wilhelm, dies ärgerte ihn sogar zwiefach, denn er büßte zwiefach ein: an Ruhm und an Geld. Aber es ärgerte ihn nicht lange. Der Himmel hat ein Einsehen mit dem frommen Philosophen und läßt den übermütigen Peter krank werden. Fiebernd kehrte er nach Le Pallet zurück, um sich pflegen zu lassen. Lassen wir ihn dort einen Weile schwitzen. Wilhelm konnte indessen, befreit von dem Widerling, in Ruhe seine Karriere betreiben. Er wollte Bischof werden. Dazu war es gut, berühmt zu sein und für fromm zu gelten. Berühmt war Wilhelm schon. Den Heiligenschein hoffte er, sich mit dem Eintritt in einen Orden anzupolieren. Es klappte. Das Domkapitel von Chalons wählte ihn zum Bischof. Aber Chalons! Dies Provinznest in der Champagne, mit seinen kreidigen Äckern, behauchten Bürgern und dicken Schweinen, hatte wenig Reiz für einen gebildeten Mann. Abgeschnitten wäre er da vom Puls der Ideen, von den runden, so angenehm das Selbstbewußtsein schmälzenden Blicken der Scholaren. Wer von denen zog schon nach Chalons? Die bessere Lösung war, nominal Bischof in Chalons sein und real in Paris zu leben
13 Die Ortsbestimmung stammt von Robl. 14 Archidiakon ist Wilhelm erst seit 1103, vorher war er nur Magister (Nach Robl).
15 Es scheint sich dabei u.a. um Stephan v Garlande gehandelt zu haben, 1102 Archidiakon von Notre Dame, 1106 Kanzler des Königs.
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und Philosophie zu lesen - womit Nominalismus und Realismus auf's schönste vereint wären. Und so tut Wilhelm denn. Weil er Ordensmann geworden war, las er aber nicht mehr bei St. Christophe, sondern im Kloster St. Victor, wo er auch wohnte. Seine Stelle an der Domschule überließ er einem anderen, nennen wir ihn Hubert 16 . Wilhelm hatte jetzt alles: Reichtum, Amt, Titel und die Verehrung zahlloser Schüler. Aber ach! Das schöne Leben blieb nicht ungetrübt. Kaum hatte er es einige Jahre genossen, da reiste Peter wieder an. Gesund und unverschämt wie zuvor. Er wollte jetzt bei Wilhelm Rhetorik hören. Rhetorik gehörte wie Dialektik zu den freien Künsten, und es war üblich, erst einige der freien Künste zu lernen und sich dann „Höherem" zu widmen, der Theologiebeispielsweise. Dialektik konnte Peter schon, Rhetorik fehlte ihm noch. Aber warum ging er wieder zu Wilhelm? Gab es sonst keine Rhetoriker? Es gab welche, aber in Paris ist Wilhelm der bekannteste und in Paris gefiel es Peter, weil sich da die meisten Studenten herumtrieben und er das größte Publikum hatte. Peter dachte: ,,Der olle Willem wird die alten Geschichten nicht nachtragen". Tat Wilhelm auch nicht. Auf der Höhe seines Erfolgs konnte er es sich leisten, salbungsvoll zu murmeln, vergebet den Schuldigen, damit auch euch vergeben werde. Doch an Peter war diese Großmut verschwendet, auf Peter wirkten die Reden des Al-
ten wie ein Flohstich: es juckte ihn und er mußte kratzen. Wieder stellte er Wilhelm bei den Disputationen bloß; er zwang ihn sogar, seine Lehre in einem wichtigen Punkt zu ändern. Dies blamierte Wilhelm unendlich. Dies sprach sich herum. Auch Hubert, Wilhelms Nachfolger bei St. Christophe, hörte davon und war so beeindruckt, daß er Peter seine Stelle anbot. Peter nahm an und Hubert wurde Peters Schüler. Auch die Schüler Wilhelms liefen zu Peter über. Konnte sich Wilhelm das von dem bretonischen Rotzlöffel bieten lassen? Konnte er nicht. Rasend vor Neid, verleumdete Wilhelm den Hubert der formal noch Wilhelms alte Stelle innehatte - und brachte es dahin, daß das Domkapitel dem Hubert die Stelle entzog, und einem Gegner von Peter gab 17. Diese Runde ging an Wilhelm. Verdrossen zog Peter wieder nach Melun. Aber auch Wilhelm verließ Paris. Seine Schüler hatten an seiner Frömmigkeit gezweifelt, weil er, trotz seines Bischofsamtes, in Paris blieb und Philosophie las, statt sich in Chalons der Theologie zu widmen. Diese Zweifel konnte sich Wilhelm nicht leisten, denn Frömmigkeit gehört zum Bilde eines Bischofs. Kaum war er verschwunden, verlegte Peter seine Schule auf den Berg St. Genevieve, vor den Toren von Paris. Er wollte Wilhelm indirekt schlagen, indem er dessen Schützling, Huberts
16 Nach einigen Historikern soll es Girbert gewesen sein, der spätere Bischof von Paris. Andere bestreiten das. 17 Bei diesem Gegner handelt es sich um einen Grammatiker und Priscian-Experten.
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Nachfolger, die Schüler abspenstig machte. Nun kann man über Wilhelm denken was man will, aber einen Gefolgsmann ließ er nicht im Stich. Wilhelm eilte zurück nach Paris. Diesmal wich Peter nicht und es kam zum Gelehrtenkrieg. Peter und Wilhelm lieferten sich Wortgefechte und ihre Schüler prügelten sich die Spitzfindigkeiten mit Stöcken in die Schädel. Das Ende war, daß Wilhelm und sein Schützling ihre Schüler an Peter verloren und der Schützling an der Welt verzweifelte und ins Kloster ging. Die Runde ging an Peter. Doch wieder konnte er den Sieg nicht ausnützen. Seine Mutter wollte sich ins Kloster zurückziehen, und bat ihn, sie darauf vorzubereiten und nach Hause zu kommen. Das sind so Familienpflichten, denen kann man sich schlecht entziehen. Als Peter zurückkehrte, hörte er, daß Wilhelm nun Theologie lese. Um Wilhelm auch darin zu schlagen, wanderte Peter zu Anselm nach Laon. Man zählte das Jahr 1113. Laon, eine Stadt von 10 000 Einwohnern, lebte vom Weinhandel und war Sitz eines Bischofs. Anselm, eine theologische Kapazität, lehrte an der Bischofskirche. Er war als Kanonikus wohletabliert und der Freund des kürzlich unter tragischen Umständen verstorbenen Bischofs gewesen. Bei Anselm wollte sich Peter auf den Kampf mit Wilhelm vorbereiten. Das hatte er sich gut überlegt: Wilhelm war Anselms Schüler und wird zu Anselms Weisheit nicht viel Neues dazu erfunden haben. Kennt Peter Anselms Theologie, dann kennt er
auch die Wilhelms, und kann in Laon geruhsam die Minen legen, mit denen er Wilhelms Denkgebäude in die Luft zu sprengen gedenkt. Anselm war nicht nur eine Autorität, er hatte auch Zeit gehabt, diese Autorität aufzubauen. Er zählte 63 Jahre und war damit fast doppelt so alt wie Peter mit seinen 34. Das hatte Vorteile und Nachteile. In jenen Zeiten nötigte hohes Alter den Jüngeren Respekt ab, und die weißen Haare (so man sie noch hat) geben ein würdiges Aussehen, worauf man damals noch was gab. Andererseits läßt die geistige Wendigkeit nach und man neigt dazu, immer die gleiche Platte abzuspielen. Peter war nun keiner von denen, die das Alter an sich respektieren. Er fand die Reden Anselms gedankenarm. Bewundernswert war er zwar in den Augen von Hörern, aber ein Nichts im Anblick von Fragern. Seine Wortgewandtheit war erstaunlich, doch der Sinngehalt war armselig und unbegründet. Mit dieser Meinung hielt Peter nicht hinterm Berge. Zudem besuchte er immer seltener Anselms Vorlesungen. So war Peter halt: nicht links und nicht rechts geschaut, keine Konzilianz, keine akademische Höflichkeit, Augen zu und durch. Dies Verhalten wird von Gelehrten nicht geschätzt. Schon damals nicht. Anselms Schüler stellten ihn zur Rede. „Warum verachtest du solch einen Meister?" „Ein richtiger Gelehrter sollte mit dem Text der Bibel und den Glossen hinreichen. Der Anselm aber, der braucht ja noch weitere Anleitung", 11
meinte Peter. ,,Kannst Du es denn besser?" ,,Kann ich" Tuscheln. Gelächter. ,,Beweise das!" ,,Wieihr wollt" Sie gaben ihm ein dunkles Kapitel des Ezechiel zum Auslegen. ,,Morgen früh könnt ihr kommen", prahlte Peter. „Morgen früh? Da hast Du doch gar keine Zeit zum Ausarbeiten und Absichern!" ,,Theologie ist keine Fleißaufgabe, sondern Sache der Auffassung. Ich arbeite nicht mit Routine, sondern mit Genialität." Dies, wie manch andere Äußerung Peters, wurde Anselm hinterbracht und der nahm es nur äußerlich gelassen. Innerlich tobte er: ,,Anmaßung! Größenwahn! Frechheit! 18". Aber hin dem konnte er Peter nicht an seinem Vorhaben. Und so las Peter am nächsten Morgen über Ezechiel. Er las mit solchem Erfolg, daß Anselm die Schüler wegliefen. Dies gefiel weder dem Anselm, noch dessen Lieblingsschülern. Die hatten viel Geld und Zeit in Anselm gesteckt und beides wäre verloren gewesen, wenn Anselms Ansehen sank. Anselm selbst ging es weniger ums
Geld, ihn piesackte die Eifersucht. Es kam zum Streit. Anselm verbot Peter, in Laon zu lehren. Mit Recht konnte er dies nicht Bürgerschaft und Schüler murrten denn auch, zu offenkundig waren Anselms Motive. Jawohl, auch die Bürgerschaft hatte Interesse an dem Gelehrtenstreit. Religion stand damals im Kern der Gesellschaft, Theologie bewegte die Gemüter. Was heute höchstens exaltierten Betschwestern den Schaum in die Mundwinkel treibt, war in jener Zeit Thema in Handwerkerstuben und an Ackerrainen. Peter jedoch wich aus. Das fiel ihm leicht: Das Pariser Domkapitel hatte ihn, den Studentenmagneten, nach Paris gerufen. Noch im gleichen Jahr kehrte er dorthin zurück und nahm bei St. Christophe die Stelle seines alten Feindes Wilhelm ein. Warum ließ es Peter auf keine Auseinandersetzung ankommen? Weil ihm das Laoner Pflaster zu heiß war. Laon war ein Hexenkessel und Anselm einer der Köche, die darin herumrührten. Angeheizt aber hatte der verstorbene Bischof. Der hieß Walderich und einige Jahre vor Abälards Ankunft in Laon hatte er einen seiner Gegner ermorden
18 Bis heute wühlt die Arroganz eines Nachwuchsgelehrten das Bittere auf im Herzen ihrer akademischen Meister. Ein Beispiel aus den 80er Jahren des 20. Jhds.: ein Institut hatte 5 Gruppenleiterstellen ausgeschrieben und 10 Bewerber zum Vortrag eingeladen. Einer berichtete über ein Protein, dessen Funktion er aufzudecken beabsichtigte. ,,Wie wollen Sie das denn anfangen?" fragte ein Professor der Berufungskomission, der für solide Arbeit, nicht aber für originelle Einfälle bekannt war. Der Bewerber zählte einige Experimente auf, die zu machen waren, und zuckte dann die Schultern. ,,Da kommt man mit Routine nicht weiter" sagte er. ,,Da muß man neue Wege gehen, sich was besonderes einfallen lassen." Peinliche Stille. Keine weiteren Fragen. Alle bekamen Stellen, denn der Institutsetat wurde noch um 4 Stellen aufgestockt. Nur der Bewerber mit dem Protein bekam keine. Sie haben richtig vermutet, lieber Leser: Bei dem Bewerber handelte es sich um den Autor.
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lassen und dies auch noch in der Kathedrale. Die Tat hatte die Laoner in zwei Lager gespalten: in Anhänger und Gegner Walderichs. Es war zu Mord und Totschlag gekommen. Um die Stadt wieder sicher zu machen, hatte im Jahre 1111 ein Großteil der Bürgerschaft ein Schutzbündnis gebildet, die „Kommune". Der Bischof hatte die Kommunejedoch mit finanziellen Manipulationen tribuliert und Mitglieder des örtlichen Adels inhaftieren und foltern lassen. Als er vom Papst abgesetzt worden war und daraufhin die Kommune aufhob, explodierte die Stimmung. Am 25.4.1112, also ein Jahr vor Abälards Reise nach Laon, hatten die Bürger ein mit Streitäxten bewaffnetes Freischärlercorps gebildet und das Domviertel gestürmt. Der Vizedom, der weltliche Vertreter des Bischofs,hatte zwar von seinem Tisch herab wacker gegen die Angreifer gefochten. Auch ist ein Tisch keine schlechte Festung. Doch die Kommunisten hatten die vorderen Tischbeine abgeschlagen, so den Vorteil der erhöhten Stellung in ihr Gegenteil verkehrt, und dann die Äxte in vizedomliche Knochen und Muskeln getobt. Zu Fleischhack verarbeitet wurden auch einige Kanoniker und andere Anhänger des Bischofs. Ihn selber hatte man zuerst nicht gefunden: Er hatte sich in einem Faß versteckt. Doch was sucht ein Mob? Was sucht er nach schweißtreiben-
dem Äxteschwingen? Er sucht was zu saufen. Man entdeckte Walderich, zog ihn aus dem Faß und schlug ihn tot. So aufgebracht waren die Bürger, daß sie ihm den Finger mit dem Bischofsring abgehackten. Die Leiche weste dann im Dornhof. Sie wäre von Ratten und Hunden gefressen worden, hätte Anselm dem Prälaten nicht ein anständiges Begräbnis besorgt. Doch der Hader war mit der Leiche nicht begraben, in der Stadt kochte es noch jahrelang. Dieser Hintergrund macht es verständlich, daß Peter Abälard in Laon keine Auseinandersetzung riskierte. Besser in Paris lehren und Schüler und Ehren sammeln. Dort ging auch alles gut - bis zum Jahre 1116. Peter Abälard war nun 38, verfügte über ein gutes Einkommen und war berühmt. Nur eines fehlte ihm, eine Geliebte. Das war ein schweres Problem, denn eine Dienstmagd kam nicht in Frage und vornehme Frauen waren dem Enthaltsamen fremd. Er wußte nicht mit ihnen umzugehen. Er traute sich nicht, sie anzusprechen. In dieser Zwangslage verfiel er auf die Nichte des adligen Kanonikers Fulbert 19 . Die hieß Heloisa und war mit allem geschmückt, was Liebhaber anzulocken pflegt 20 . Sie war zudem - eine Seltenheit in jener Zeit wissenschaftlich gebildet, eine Vor-
19 Nach Robl war Fulbert von Bischof Wilhelm v Montfort protegiert und zwischen 1097 und 1102 mit dem mit der Kirche St. Christophe assoziierten Subdiakonat versehen worden. Fulbert wohnte auch in der Nähe von St. Christophe, war also Nachbar von Abälard. Er war ein mütterlicher Onkel Heloisas, also ein Bruder der Mutter. 20 Heloisa wurde vermutlich um 1095 geboren. Ihre Mutter soll nach Robl eine Dame aus dem angevinischen Hochadel gewesen sein: Hersendis de Campania. Diese war Gründerin
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läuferin von Casanovas Anne-Marie. Also muß sie wissenschaftlichen Ruhm schätzen, rechnete Peter. Zudem war Heloisa erst 21 oder 22 Jahre alt. Da glaubte Peter leicht Eindruck schinden zu können. Wie aber die Sache anpacken? Weil Fulberts Haus nicht weit von Peters Schule lag, stellte Peter dem Fulbert vor, daß die Sorge um seinen Haushalt sein Studium behindere. Ob er ihn nicht in sein Haus aufnehmen wolle? Tisch und Bett wolle er bezahlen. Fulbert war nicht abgeneigt, fiel doch so ein Abglanz des berühmten Mannes auf ihn. Ob er seiner Nichte Privatunterricht in den freien Künsten erteilen könne, fragte Fulbert. Das würde er gerne tun, antwortete Peter. Um der Freundschaft mit solch edlem Mann willen sogar umsonst. Hocherfreut schlug Fulbert ein. Fulbert nämlich war ein Filz. Es kam, wie es kommen mußte. Heloisa war beeindruckt vom flinken Maul des Peter und getrieben von einer in jahrelangem Klosterleben aufgestauten Geilheit. Peter wiederum träumte von den schwellenden Lippen der Heloisa. Auch andere Kör-
perteile bekam er zu Gesicht, denn der Unterricht fand im stillen Kämmerlein statt und es war ja üblich, die Schüler mit der Rute zu züchtigen. Da mußte Peter der Heloisa den Rock hochheben, da griff er an Glieder, die sich seidig anfühlten und köstlich, glotzte auf nie zuvor gesehene Landschaften - denn vor dem schmutzigen Verkehr mit Dirnen schreckteich zurück. Eine Umwertung der Werte fand statt. Peters Interesse für Philosophie nahm ab - Es war mir im Innersten zuwider vor meine Schüler hinzutreten. Stattdessen dichtete er Liebeslieder und spritzte seinen Samen in die Öffnungen der willigen Schülerin vermutlich in alle, denn: KeineStufe derLiebeließenwir Leidenschaftlichen aus, und wo die Liebeetwas Ungeheuerlicheserfindenkonnte,wurdees mitgenommen. Undje wenigerwir bisher diese Freudenerfahren hatten, umso glühender verharrten wir in ihnen. Lange ließ sich das nicht geheimhalten. Fulbert erfuhr es zwar als letzter, aber er erfuhr es. Und fiel aus allen Wolken. „Was?Der fromme, der enthaltsame treibt es mit der Nichte? In meinem
und Priorin des Klosters Fontevraud an der Loire. Genaueres finden Sie in „Heloisas Herkunft: Hersindis Mater", Olzog Verlag, München. Über den Vater gibt es keine sicheren Nachrichten. Brenda Cook vom Institut of Historical Research in London glaubt, ein gewisser Kanoniker Johann (John) habe Heloisa gezeugt. Dieser John stamme aus einfachen Verhältnissen, sein Vater habe zum Haushalt eines Vasallen der Montmorencis gehört, dank der Protektion der Montmorencis sei John aber eine Kirchenkarriere gelungen. Häufig wird auch der Verdacht geäußert, Fulbert selbst sei der Vater Heloisas gewesen und habe sich, um einen Skandal zu vermeiden, als Onkel ausgegeben. Frau Cook schließt aus der Abwesenheit eines Vaters und väterlicher Verwandter Heloisas in den Dokumenten, daß diese ein uneheliches und unter skandalösen Umständen (Nonne mit Kleriker) gezeugtes Kind gewesen sei. Dazu paßt, daß das Kloster Fontevraud Zulauf von verstoßenen Ehefrauen und Prostituierten hatte: Die Atmosphäre dort scheint eine lockere gewesen zu sein. Heloisa wuchs in der Benediktinerabtei von Argenteuil in der Nähe von Paris auf.
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Haus, praktisch vor meinen Augen! Der scheinheilige Bock!" Der Sache wurde ein Riegel vorgeschoben, die beiden getrennt. Doch Peter war nicht nur ein potenter Philosoph, auch in der Biologie wirkte er auf's fruchtbarste: Heloisa wurde schwanger. Das war nun eine ernste Sache, solches wurde in adligen Familien mit Degenstich oder Dolchstoß gerächt. Peter wußte Rat. Er ließ Heloisa zu seiner Schwester Dionysia in der Bretagne entführen und hielt die Geliebte dort als Geisel. Dann wagte er sich zu Fulbert und bot ihm an, Heloisa zu heiraten. Das sei mehr, als Fulbert verlangen könne, brachte Peter vor, und war plötzlich ganz von dieser Welt, seine Nichte sei ja entehrt. Fulbert war einverstanden. Heloisa dagegen riet von einer Heirat ab. Sie wolle lieber Peters Geliebte bleiben, weil doch eine Heirat seinem frommen Ruf schaden würde, und sie ihn vom Denken ablenke. Aber vielleicht war das nur Ziererei. Schon eher leuchtet ein, daß sie es vorzog, die Geliebte eines Herausgehobenen zu sein als die Frau eines Gewöhnlichen 2 1 . Eine Heirat würde
aber Peters Kirchen- und Schulkarriere schaden. Das Prestige wäre hin und auch sein Einkommen und das hätte Heloisa betroffen, denn Peter scheint ein schönes Geld in sie gesteckt zu haben. ,,... Was immer du durch den Verkauf deines Wissens in deinen Vorlesungenüber den täglichen Lebensunterhalt und notwendigen Bedarf hinaus erwerben konntest, du hörtest nicht auf, es in den Schlund deiner Hurerei zu versenken ... schrieb ihm der Prior von Deuil22 • Aber was sollte Peter machen? Er mußte heiraten! Nur so konnte er den Fulbert zufrieden stellen - und den mußte er zufriedenstellen, sonst war er seines Lebens nicht mehr sicher und Schule halten hätte er auch nicht mehr können. Nun, Peter war nicht umsonst Philosoph. Er fand einen Ausweg: Heiraten ja, aber heimlich. Und so wurde es dann auch gemacht 23 • Dem Sohn, den Heloisa kurz vor der Heirat gebar, verpaßte sie den Namen Astrolabius 24 und versteckte ihn bei Peters Schwester. Astrolabius heißt „Der zu den Sternen greift" und war schon zu damaliger Zeit ungewöhnlich: Dame Heloisa scheint ein reich-
21 Rang scheint bei der Partnerwahl der Frau an erster Stelle zu stehen. In akademischen Kreisen noch mehr als in anderen. Lesen Sie die Heiratsannoncen der ,,ZEIT"! Da werben die Herren zuallererst und in Fettdruck mit Rang und Titel (Doktor, Geschäftsmann, Unternehmer, Millionär ...) und Rangabzeichen (eigene Yacht, Golfspielen ...). So peinlich sich das liest, die Reaktion der Damen gibt ihnen Recht. Nach der Expertin auf diesem Gebiet, Constanze Elsner, löst eine mit allen Rangattributen versehene Anzeige hunderte von Antwortbriefen aus. 22 Nach Werner Robl www.abaelard.de 23 Eine Eheschließung galt als weltliches Geschäft. Es gab erst eine Hochzeitsmesse, dann wurde die Morgengabe übergeben und die Ringe angesteckt. Nach Werner Robl hat die Hochzeitsmesse von Abälard und Heloisa im Morgengrauen in der Kapelle St. Aignan stattgefunden. Diese Kapelle gehörte Stephan von Garlande, dem Gönner Abälards und lag auf der Seine Insel in der äußeren Umfriedung des Domherrenhofs. 24 Mittelalterliches Instrument zur Winkelmessung an der Himmelssphäre.
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lieh überspanntes Frauenzimmer gewesen zu sein. Von Astrolabius war dann auch in dem Briefwechsel der beiden nicht mehr die Rede25 , höchstens, daß Heloisa von der beständigen widerlichen Unreinlichkeit der Kinder redete 26 • Die geheime Heirat erwies sich als wahrlich sophistische Lösung, geboren aus einem Bücherhirn - und sie ging denn auch schief. Das Gerücht, Peter habe Heloisa ein lediges Kind angehängt, schlich durch Paris. Es drang zu Heloisas Verwandten und die litten unter der Schande. Um ihr Ansehen aufrechtzuerhalten, verbreiteten sie, daß Peter und Heloisa geheiratet hatten. Ehrenhaft sei alles zugegangen. Doch als die Klatschmäuler Heloisa fragten, bestritt die ihre Heirat: Sie wollte ihren Mann schützen. Dies erbitterte ihre Verwandten. ,,Wasdenkt sich diese Hure eigentlich? Der sitzt wohl die Ehre zwischen den Schenkeln!" Die Frau muß weg, dachte Peter, und steckte Heloisa als Laienschwester ins Nonnenkloster Argenteuil bei Paris. Dort war Heloisa aufgewachsen, dort würde sie sich sicher fühlen vor
dem Klatsch und den Nachstellungen ihrer Verwandten. Den Schleier mußte sie nicht tragen, wohl aber Nonnentracht. Doch damit war nichts gutgemacht. Im Gegenteil. Die Verwandten Heloisas glaubten, daß Peter die Unbequeme habe loswerden wollen: Unliebsame Familienmitglieder ins Kloster zu stecken, war damals Sitte. Die Verwandten fühlten sich hereingelegt. Dem Peter war das schnuppe. Den Verwandten nicht. Sie bestachen den Diener Peters, die Schlafzimmertür des Meisters offen zu lassen. Nachts drangen sie in sein Zimmer ein. Einer zog dem Überraschten das Nachtgewand über den Kopf,so daß der und seine Arme im Dunkeln und gefangen liegen. Zwei rissen ihm die Beine auseinander, ein weiterer schlang eine dreifach gezwirnte Schnur um die Hoden, schnürte sie ab so fest es ging, dann blitzte ein geschliffenes Messer und - schwupp auf dem sich rötenden Bettlaken lag ein Häufchen runzlichter Haut. Das Sehellenwerk war weg, der Zapfen noch dran. 27 Sie müssen anerkennen: Fulbert hat
25 Schwester Dionysia scheint sich gut um Astrolabius gekümmert zu haben. Er überlebt das Kindesalter - keine Selbstverständlichkeit in jenen Zeiten. Im Jahre 1144 bittet seine Mutter den Abt des Klosters Cluny, Petrus Venerabilis, um eine Pfründe für Astrolabius. Die scheint er bekommen zu haben, denn II 50 hieß ein Kanoniker von Nantes Astrolabius. Der Sohn der Nonne und des Mönchs, Enkel einer Nonne und eines Kanonikers, scheint also auch das geistige Fach gewählt zu haben. Von I 162 bis 1165 amtete Astrolabius vielleicht als Abt von Hauterive im Kanton Fribourg. Sein Todestag ist der 30. Oktober. 26 Gab es damals schon Windeln? Oder trippelten die Kleinkinder im Hemdehen rum und ließen ab wann und wo ihnen danach war? Ein Problem, das ich hier ignorieren muß. 27 Nein, der Autor hielt nicht die Lampe, aber auf diese Weise kastrierten die Bauern des Frühmittelalters ihre Tiere. Es liegt daher nahe, daß auch bei Abälard so vorgegangen wurde. Der Blutverlust war gering, die Überlebensrate hoch und normalerweise trat keine Infektion auf. (Werner Robl pers. Gespräch). Die Tiere wurden dadurch zahmer und setzten mehr Fett an: aus Kälbern wurden Ochsen und aus Philosophen Mönche.
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sich,vermutlich nach reiflicher Überlegung (der Knecht rächt gleich, der Sklave gar nicht), für den genialen Philosophen eine geniale Strafe einfallen lassen. Es ist nicht nur, daß Abälard an dem Organ gestraft wird mit dem er gesündigt hat, die Kastration macht es ihm unmöglich, klerikale Würden zu erlangen und Bischof zu werden. Denn in der Bibel (5. Buch Mose 23.2) heißt es: Kein EntmannteroderVerschnittenersoll in die Gemeindedes Herrn kommen. Aber - ach! - Fulberts Genie wurde nicht anerkannt. Im Gegenteil: Das Geschreiwar groß. Peter brüllte, seine Schüler rasten, das Volk von Paris tobte. Der König schickte Häscher aus, um die Zierde der Philosophie zu rächen. Es gelang, zwei der Attentäter einzufangen. Man blendete sie und schnitt ihnen ebenfalls das Gemächte ab. 28 Das brachte des Fulberts Familie noch mehr auf, und das war gefährlich für Abälard: Er hatte zwar die Entmannung überlebt, aber jetzt könnte es ihm ans Leben gehen. Damals pflegten die großen Familien nicht vor der Staatsmacht zu kuschen. Peter flüchtete ins Kloster, in die Benediktinerabtei St. Denis. Vor Klostermauern hatten die Rächer Respekt und Peter hatte Frieden. Nun, nicht ganz. Probleme mit Frau-
en hatte er jetzt nicht mehr, dafür handelte er sich wieder Ärger mit den gelehrten Kollegen ein: Der Abt drängte ihn zum Lehren, wegen des Geldes und des Ruhmes, die seinem Kloster dann zufließen würden. Er wies Peter für seine Vorlesungen ein Landhaus, die „Cella", zu und Peter war es recht: Der Sexualtrieb hatte ihn zwar verlassen, aber der Ehrgeiz war geblieben. Wieder zog Peter Scharen von Studenten an; als er sich mit dem Abt entzweite, folgten sie ihm selbst in die Einöde 29 • Der Neid der Gelehrten folgte ihm auch. Denn die Studenten, die er anzog, die zog er denen weg und mit ihnen ihre Silberlinge. Die Neider wiegelten die Bischöfe auf: Peter habe sich ein theologisches Lehramt angemaßt, ohne dazu legitimiert worden zu sein, er verbreite Ketzereien. Das erstere wurde nicht ernstgenommen, es brauchte für ein Lehramt keine formale Legitimation. Den Vorwurf der Ketzerei dagegen untersuchte die Synode zu Soissons (1121). Auf der Synode saßen dickbäuchige Bischöfe zusammen mit dickbäuchigen Prälaten und hielten ebensolche Reden. In dem Schmalz aber steckten Pfefferkörner. Auch Peters Feinde, die Lieblingsschüler des Wilhelm von Champeaux und Anselm von
28 Fulbert selber kam glimpflich davon: Als Kanoniker war er schwer zu belangen. Nur wenn sieben gut beleumundete Zeugen gegen ihn aussagten, konnte er nach kanonischem Recht verurteilt werden. Zudem lag sein Haus bei St. Christophe im Rechtsbereich des Kapitels, d.h. er durfte dort nur durch das Kapitel, nicht aber durch König oder Bischof verhaftet werden. Dennoch zog der Bischof den Prozeß gegen Fulbert erfolgreich durch und man konfiszierte seine Güter. Doch scheint Fulbert apelliert und ein milderes Urteil durchgesetzt zu haben, jedenfalls besaß er bei seinem Tode wieder ein paar Weinberge, auch seine eine Pfründe als Subdiakon hatte Fulbert nicht verloren. (Nach Robl) 29 Ins Paraklet, eine freie Schule bei Nogent sur Seine
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Laon, waren da und angelegentlich in - aber nicht für - Peters Sache tätig. Sie trugen es Peter nach, daß er einst ihre Meister blamierte und schlimmer: Sie hatten es inzwischen zu Ämtern gebracht, besaßen Einfluß, waren wichtig. „Wichtig kommt von Wicht", dachte Peter, der zu der Synode vorgeladen worden war. Die Bischöfe dachten: ,,Die Schüler ehren ihre alten Meister. Welch schöner Zug!" Es kam zu Auseinandersetzungen, die sowohl die philosophische Ruhe, wie auch die theologische Abgeklärtheit vermissen ließen. Vor Peters Logik und Einfallsreichtum konnten zwar des Wilhelm und Anselm Lieblinge nicht bestehen, aber das hintenrum - bei den Bischöfen, beim päpstlichen Legaten - das konnten sie besser. Mit Ach und Krach, mit Laber und Lügen, brachten sie die Synode dazu, einige der Lehren Peters zu verwerfen. Mit eigener Hand mußte er seine Schrift, „De unitate et trinitate divina" ins Feuer werfen. Das ging ihm nahe, das ging unter Heulen und Schluchzen. Auch mir kommen die Tränen. Nein,
ich bringe es nicht übers Herz, die weiteren Qualen des armen - inzwischen auch etwas fetten - Peter niederzuschreiben. Seine einsamen Jahre unter mißgünstigen Mönchen in der Bretagne, den verlorenen Streit mit Bernhard v Clairvaux, die Verurteilung zu Klosterhaft und Schweigen durch den Papst3°.In diesem heiligen Geruch von auf Kutten gewichster Bauern, in diesem Gestank nach Bock und Samen, in dieser Atmosphäre von durch Geilheit getriebener Intrigen, mit diesem unterschwellig schwulen Liebeswerben kam Peter nicht zurecht. Es ist auch nicht nötig, diese Kalamitäten im Detail vor ihnen auszubreiten. Die Moral von der Geschicht - was das Lehren und das Lernen angeht - läßt sich leicht aus dem bisherigen extrahieren: Wer lehren wollte, der durfte. Jeder konnte sich als Lehrer aufstellen, konnte Schulen gründen, ohne vor Gremien buckeln zu müssen, ohne die Lehrerlaubnis durch Geld oder Dienste zu kaufen. Er mußte nur zahlende Schüler finden. Die eingesessenen Lehrer versuchten allerdings, die Konkurrenzbesserer Mäuler zu unterdrücken.
30 Peter Abälard starb am 21. April 1142: Nach einer Ferndiagnose von Robl litt er an Krätze und aktiver Organtuberkulose.
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Die Zwangsjacke 31
Das in den vorigen Kapiteln beschriebene wissenschaftliche Leben gedieh im 12. Jhd., in Nordfrankreich, zu üppiger Blüte. Zahllose Magister lehrten noch zahllosere Scholaren. All diese Scholaren konnten sich später als Magister betätigen und oft mußten sie es, weil die kirchliche Hierarchie die Magistermassen nicht aufnehmen konnte. Magister brauchen aber Scholaren zu ihrem Lebensunterhalt, daher stieg der Bedarf an Scholaren exponentiell an. Die Wissenschaft des 12. Jhds. war, wirtschaftlich gesehen, ein Schneeballsystem. Bald wurden die Scholaren knapp, die Konkurrenz um sie immer schärfer. So spricht die Bulle von Innozenz III (1160-1216) für das Paris um 1200 von vielen Magistern und wenig Scholaren. Um 1290 klagte der Scholaster der Domschule von Orleans, daß eine so große Zahl von Rechtslehrern aufträte, daß sie nicht
alle eine genügende Zahl von Schülern finden könnten. Die Zentren des wissenschaftlichen Lebens waren die Seine-Insel von Paris mit der Bischofskirche Notre-Dame32 und dem 6-700 m südlich gelegenen Montagne St Genevieve. Auf der ersteren wurde hauptsächlich Theologie, auf der letzteren die Artes gelehrt. Hier sammelten sich die Magister zu hunderten, hier war der Wettbewerb um Scholaren am schärfsten. Denn auch in Paris wurde Magister, wer sich berufen fühlte, eine formalisierte Berufung gab es nicht. Man mußte nur die Erlaubnis der bischöflichen Behörde oder des Dekans von St. Genevieve einholen. Aber diese Lizenz war lediglich eine Geldfrage33 • Scharfe Konkurrenz, schmales Brot was konnte man da tun? Man konnte nichts tun, d.h. die freie Konkurrenz beibehalten. Das hätte zu einem Gleichgewicht zwischen Magister-
31 Viele Daten und Vorgänge dieses Kapitels nach Kaufmann „Geschichte der deutschen Universitäten" Band I. 32 Von 1163 an war der alte romanische Kirchenbau, den Abälard noch gekannt hatte, durch die heutige gotische Kirche ersetzt worden. 1127 hatte man auch eine Domschule errichtet. 33 Dem Bischof, der seine Domschule auf der Seineinsel fördern wollte, waren die unabhängigen Schulen auf St Genevieve ein Dorn im Auge. Schon zu Abälards Zeiten versuchte er, deren Magistern hohe Schulgebühren abzuverlangen. Die Magister weigerten sich, worauf der Bischof den Berg mit dem Interdikt belegte. Die Magister wandten sich an den Papst, der ihnen anscheinend auch beistand. Möglich, daß die Magister damals schon eine Art Schutzbündnis organisiert hatten.
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und Scholarenzahlen geführt, zur Selektion der geschmiertesten Zungen und genügsamsten Mägen. Bequemer aber war es für die Magister, sich zusammenzuschließen und den Zuwachs an Magistern zu beschränken. Diesen Weg schlug man ein. Anfang des 13. Jhds. vereinigten sich die Pariser Magister zu einer Zunft. Was macht eine Zunft aus? Drei Privilegien machen eine Zunft aus: Monopol, Selbstergänzung und Selbstverwaltung.Nur zünftigeSchuhmacher dürfen Schuhe nähen: Das ist ihr Monopol. Da dieses Monopol aber wertlos ist, solange die Zunft jedem offensteht, kommt zum Monopol die Selbstergänzung (Kooptation): Die Zunft, genauer: die Zunftmeister, bestimmen, wer in die Zunft eintreten darf. Die Meister bestimmen auch, wer Meister wird. Die Privilegien Monopol und Selbstergänzung hüten die Meister durch Selbstverwaltung. Mit Monopol und Selbstergänzung kann die Zunft die Zahl ihrer Mitglieder begrenzen und dadurch deren Nahrung sichern. Wenn nur die begrenzte Zahl zünftiger Schuhmacher Schuhe nähen und verkaufen darf, dann können diese - solange Schuhe gebraucht werden - mit einem einigermaßen sicheren Einkommen rechnen. Dies umsomehr, als zünftige Vorschriften (Selbstverwaltung!) dafür sorgten, daß alle mehr oder weniger die gleichen Schuhe in gleicher Qualität herstellten. Daher ver-
gütete das Lehrgeld 34 nicht die Ausbildung, sondern war das Eintrittsgeld in eine privilegierte Vereinigung. Die andern, die Nicht-Zünftigen, konnten schauen, wo sie bleiben und das taten sie auch: sie blieben außen vor - in den Vorstädten, wo sie maulend aufbessere Zeiten warteten. Die aber kamen nicht, denn der nichtorganisierte Mob war gegen die Zünfte machtlos. Das Monopol mußte durchgesetzt und durchgehalten werden, wenn nötig mit Gewalt35 • Eine Zunft wurde daher oft mit Hilfe der Obrigkeit (der Stadt, dem Fürsten) errichtet. Die erteilte ihren Segen gerne, weil ihr die Zünfte dafür Geld und Unterstützung boten. An sie konnte man sich mit Sondersteuern wenden; sie stellten das Fußvolk für die Schlacht, wohlgeordnet und bewehrt mit Armbrust, Spieß und Hellebarde. Eine Zunft ist also ein Verein zur gegenseitigen Lebenssicherung auf Kosten der Allgemeinheit. Ein soziales Meisterwerk! - Für die, die drin sind. Alle Vereinigungen, denen anzugehören Vorteile bringt, neigen dazu, Zünfte zu bilden und streben nach Monopol, Selbstverwaltung und danach, ihre Mitglieder selbst zu bestimmen, zu kooptieren. Zünfte bildeten nicht nur die Meister des alten Handwerks, auch an den Räten der kleinen Reichsstädte und in praxi an den Vorständen politischer Parteien
34 Um Imümem vorzubeugen: Das Lehrgeld mußte vom Lehrjungen bzw. dessen Vater an den Lehrherrn bezahlt werden, ein Lehrlingsgehalt wie heute gab es nicht. 35 Unzünftige Konkurrenz wurde oft mit Waffengewalt niedergehalten. Wenn sich z.B. Landweber erkühnten, eine eigene unzünftige Produktion aufzuziehen, mußten die „Stümperer" mit einem Kriegszug der städtischen Zünfte rechnen.
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haftet etwas Zünftiges: Sie kooptierten und kooptieren und wachen eifersüchtig über ihre Rechte. Anfang des 13. Jhds. waren auch die Gelehrten auf die Zunftidee gekommen. Sie ist allerdings nicht in Gelehrtenköpfen entstanden. Die Magister ahmten die Handwerker nach. Die hatten sich schon ein Jahrhundert früher in Zünften vereinigt, die Mainzer Weber z.B. um 1099, die Wormser Fischhändler um 1106. Auch in Paris wird es schon im 12. Jhd. Handwerkerzünfte gegeben haben, um 1260 zählte man dort schon 130 solcher Vereinigungen. Auch war es nicht so, daß sich die Magister zusammengesetzt und mit Überlegung eine Strategie zur Festigung ihrer Stellung entworfen hätten. Das Leben geht oft verworrene Wege, um überraschend zu fruchtbaren Feldern zu führen, wo die, die zuerst kommen, ihre Ernte einfahren und der Rest sich auf die Stoppeln setzt. Den Anstoß zur Gründung der Pariser Magisterzunft gab eine Prügelei: Man zählt das Jahr 1200. Paris ist keine Kleinstadt mehr, sondern hat jetzt gegen 100 000 Einwohner und erstreckt sich dichtbebaut im Norden und im Süden der Seine-Insel. Im Süden, zwischen der Seine-Insel und dem Berg St. Genevieve, hat sich ein Schulviertel gebildet, das Quartier Latin. Dort, in der Gaststätte „Zum universalen Esel" sitzt der Diener eines vornehmen deutschen Scholaren. Er hat schon einige Liter Roten vertilgt, ist dementsprechend angeregter Stimmung und bemüht sich, den mitzechenden Handwerkern zu erläutern, wie erhaben so ein Scholar von
Adel - und dessen Diener - gegen einen Leistenklopfer oder Nadelritter absteche. Die wiederum dozieren über lateinische Dummschwätzer und erbärmliche Nachttopfputzer und trommeln dazu mit ihren Buchsbaumstöcken auf die Tischplatte. Dies regt den Diener zu tieferen Definitionen der sozialen Stellung ehrsamer Handwerker an, was ihm dieselben mit Ohrfeigen, Faustschlägen und Stockprügeln danken. Mit lockeren Schneidezähnen und roten Ohren rennt der Diener davon. Er rennt schnurstracks zu seinem Herrn. Der sitzt mit etlichen anderen Scholaren gerade beim Mahle und mustert erstaunt das hereinkollernde Häufchen Elend, das Augenwasser hat und dem blutiger Speichel aus den Mundwinkeln läuft. Stockend berichtet der: ,,Ganz unschuldig hab ich meinen Wein trinken wollen", ,,DieMistböcke, die Handwerker", ,,Ich muß doch Eure Ehre verteidigen" usw. usf.. Der Diener findet Glauben, die Scholaren spritzen auseinander und rufen andere Scholaren zu Hilfe. Vor dem Haus des Deutschen rottet sich ein Haufe zusammen, in dessen erregten Hirnen die Begebenheit zu unerträglicher Schrecklichkeit anschwillt. ,,Denen zeigen wir's!", ,,Zum universalen Esel!", ,,Zumuniversalen Esel!", brüllt die Meute. Man zieht zur Kneipe und schlägt den Wirt halbtot. Die Handwerksgesellen hatten sich verdrückt, angesichts der gewaltigen Macht des Geistes. Aber nur, um ihre Genossen und Meister zu alarmieren. Ein zweiter, noch größerer Haufen rottet sich zusammen. Auch der zieht zum universalen Esel - ~
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sich die Scholaren zurückziehen, denn der Klügere gibt nach. Aber ihr Werk, das stöhnende, blutende Stück Fleisch mit Knochen liegt noch auf einer Bank und daneben kreischt die händeringende Gattin. Dies, und der Auflauf, locken weitere Bürger an. Sie erregen sich. Das Geschrei wird ohrenbetäubend. Der Stadtvogt erscheint. Er nimmt den Wirt in Augenschein und hört sich die Handwerker an. Die erzählen viel und laut, nicht nur von dem Diener, auch von anderen Demütigungen durch die „nixnutzigen, liederlichen" Scholaren. Die Umstehenden geben ihnen recht, man stachelt sich gegenseitig auf und das Ende vom Lied ist, daß die Pariser Bürger unter Führung des Stadtvogts das Haus der deutschen Scholaren stürmen. Im Handgemenge erstechen sie den Herrn jenes Dieners und einige seiner Freunde. Nun glauben sich die Pariser Scholaren ihres Lebens nicht mehr sicher. Sie stürzen hilfeschreiend zu ihren Magistern. Die stellen sich auf die Seite ihrer Schüler: weil Akademiker zusammenhalten müssen, und weil die Magister Angst haben, ihre Milchkühe würden sonst abwandern. Die Magister schwören sich, zusammenzuhalten und gemeinsam vorzugehen. Dann tun sie das, was Akademiker immer tun und anscheinend schon seit jeher taten, sie bilden eine Kommission. Die fordert beim König Vergeltung. Ohne Vergeltung, so droht sie, würden Scholaren und Magister Paris verlassen. Die Drohung zieht, denn es gibt tau-
sende von Scholaren in Paris und viele Krämer, Wirte und Handwerker leben von ihnen, nicht nur die Magister. Auch der Prestigeverlust für die Stadt wäre beträchtlich. Also straft der König den Vogt. Zudem unterstellt er die Scholaren dem geistlichen Gericht des Bischofs. Dieser Erfolg zeigte den Magistern, welche Macht in gemeinsamem Geschrei liegt. Um 1207 bauten sie ihre Schwurbruderschaft aus und kämpften um die Zunftprivilegien. Das wichtigste Zunftprivileg ist das der Selbstergänzung. Um den Zustrom an Konkurrenten einzudämmen, wollen die Magister bestimmen, wer in Paris lehren darf. Bisher vergab der Kanzler36 des Pariser Domkapitels die Lehrerlaubnis, die Lizenz. Er vergab sie oft, der Gebühren wegen, und nach Gutdünken. Das Lizenzrecht des Kanzlers mußte also eingeschränkt werden. Wie geht man da vor? Man schiebt edle Gründe vor: ,,Die Anmaßung von Nichtskönnern muß verhindert, die Qualität der Lehre verbessert werden". Die Strategie hatte Erfolg. Schon 1213 durfte der Kanzler einem durch die Magister empfohlenen Kandidaten die Lizenz nicht verweigern. Zwei Jahre später durfte er die Lizenz nur an Scholaren vergeben, die von den Magistern geprüft und für gut befunden worden waren. Die Magister hatten das Kooptationsprivileg erkämpft. Jetzt hatten sie für die nächsten Jahre die Magisterzahlen im Griff und der Wettbewerb um Scholaren und Hörergelder nahm
36 Kanzler = Archidiakon. Dem Archidiakon eines Kapitels unterstand für gewöhnlich die Armenpflege, die Vermögensverwaltung und die Gerichtsbarkeit.
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mildere Formen an. Als angenehme Zugabe durften sie die Lizenzgebühren beanspruchen, die bisher dem Bischof, als Vorgesetztem des Domkapitels, zugeflossen waren. Es ging nicht ohne Streit. Der Bischofwollte die bequeme Einnahmequelle behalten. Er verhängte den Kirchenbann über die Rädelsführer unter den Magistern und bekniete den König,daß das doch nicht ginge, daß schon immer die Lizenzgebühren dem Domkapitel zugestanden hätten, daß dies der Umsturz sei. Das nützte ihm nichts. Auf den Bann antworteten die Magister mit Streik. Zudem beschwerten sie sich beim Papst. Gar gewaltig erhoben sie ihre Stimmen und die Scholaren klagten mit ihnen. Dem König schien es zweckdienlicher, zu den Magistern zu halten. Der Bischof mußte nachgeben. Eine neue Zunft entstand. Das lateinische Wort für Zunft ist Universitas und so nannte man die neue Zunft denn auch; im Deutschen wurde Universität daraus. Die Universität enstand also um die Frage: Werdarfbestimmen, wer Lehrer wird? Das Recht der Lehrer, zu bestimmen, wer Lehrer wird, wurde zum wichtigsten Recht der Universität. Sie hat es gewahrt, bis zum heutigen Tag. Gewahrt blieb auch der Gegensatz zwischen den Universitätsangehörigen und dem gemeinen Volk.Auf der einen Seite stolzierte die Verachtung jener, die sich für etwas Besseres halten, auf der anderen duckte sich mit
scheelem Blick das Gefühl der Minderwertigkeit. Nun war es aber nicht genug mit dem Selbstergänzungsprivileg. Zu einer rechten Zunft gehört ja noch das Monopol. Worauf aber sollten die Magisterzünfte ein Monopol fordern? Sie stellten doch nichts her. Wieder ließ man sich von den Handwerkern inspirieren. Deren Zünfte sind hierarchisch in drei Grade geordnet: Lehrling, Geselle, Meister (lat. Magister). Zudem neigen sie dazu, die Produkte ihrer Genossen zu vereinheitlichen: Zinnkannen z.B., hatten vorgeschriebene Formen und Legierungen. Dies der Qualitätssicherung wegen und damit kein Meister dem anderen Konkurrenz machen konnte. Warum sollte das die Universität nicht ebenso halten? Sie ging hin, packte ihre Weisheit ab und verkaufte sie in handlichen Einheiten: In Grade. Damit besaß sie ein Produkt, dessen Wert darin bestand, daß es seinem Besitzer Ansehen und Rang gab. Gleichzeitig war damit eine hierarchische Ordnung verbunden. Verpackung und Verkauf gingen folgendermaßen vor sich: Der Scholar studierte zuerst die freien Künste. Beherrschte er die Trivia (Grammatik, Dialektik und Rhetorik) wurde ihm das Baccalaureat, der niedrigsten Grad, verliehen. Der nächsthöhere Grad war Magister artium 37 • Der Magister artium durfte als Magister regens die freien Künste lehren, er konnte aber auch als Magister non
37 Meister der freien Künste
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regens eine der höheren Wissenschaften (Theologie, Recht, Medizin38 ) studieren. Er wurde dann Baccalar einer höheren Fakultät und schließlich Doktor, z.B. der Theologie.39 Für jeden Grad war eine Prüfung abzulegen, die Gebühren kostete. Das Studium selbst bestand - wie bisher - im Hären von Vorlesungen für die - wie bisher - Hörergelderbezahlt werden mußten. Der Doktor war der höchste Grad. Ein Doktor durfte an den höheren Fakultäten lehren. Das brachte das meiste Geld ein und deswegen war der Doktorgrad am teuersten, gemessen sowohl in Geld wie auch in Mühe. Wer ihn erringen wollte, mußte sechs Jahre Artistenfakultät nachweisen und sechs Jahre Rechts- oder Medizinstudium. Für die Theologie forderten die Pariser Statuten von 1215 sogar acht Jahre. Lange galt für die Promotion auch ein Mindestalter von 35 Jahren. War es endlich soweit, verschlangen der tagelange Doktorschmaus, die Gebühren und Geschenke einen Betrag, für den ein Handwerker ein Jahr zu arbeiten hatte. Das Eigeninteresse der schon Promovierten gebot es eben, die Promotion so schwer wie möglich zu machen. Eigeninteresse gebot es paradoxerweise auch, die Promotion zu erleichtern. Denn schwere Promotionen schreckten die Scholaren ab,
leichte zogen sie an. Und von den Scholaren lebte man ja. Es war dies ein Widerspruch in der Konstruktion der Universität und es war nicht der einzige, aber darauf kommen wir noch. Die Bewerber um einen Grad wurden von einer Kommissionvon Magistern geprüft und die allein vergab die Grade. Der Kanzler hatte sie zu bestätigen 40 • Was für die Lizenz galt, galt also auch für die Grade, die ja teilweise die Lehrlizenz enthielten. Der Kanzler durfte die Grade nicht verweigern oder selbständig verleihen. Er hatte sie nur mit Würde zu füllen. Die Universität der Magister und Doktoren besaß das Monopol auf Grade, so wie die Schneiderzunft das Monopol auf Nachthauben und Zipfelmützen. Die Universität betrieb eine Maschine, die aus der Eitelkeit Münzen schlug. Das dritte Zunftprivileg, das der Selbstverwaltung, erstritt man sich ebenfalls. Streiten konnte die Universität. Ihre Magister und Doktoren waren ja damals keine Beamten, sondern selbständige Gewerbetreibende, Maulwerker, die ihr Gewerbe an jedem beliebigen Ort treiben konnten. Ihre Druckmittel waren Auszug der Universität und Lehrstreik. Diese Mittel blieben 600 Jahre lang schlagkräftig. Der erste Auszug (der Pariser Studenten nach Orleans)
38 Die Medizin gehörte ursprünglich zu den Artes, spaltete sich aber 1274 ab und wurde zur eigenen Fakultät. 39 Die Abfolge, erst Artes dann eine höhere Fakultät, entsprach alten voruniversitären Gepflogenheiten. Schon Abälard hatte zuerst Dialektik und Rhetorik (die artes) studiert und sich dann erst der Theologie zugewandt. 40 Bei den Artisten durfte auch der Abt von St. Genevieve die Lehrberechtigung aussprechen, was der Kanzler der Domschule verschiedentlich zu hintertreiben versuchte,
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fand 1229 statt, einer der letzten 1848 (der Heidelberger nach Neustadt). Die Kraft von Auszug und Lehrstreik ging erst verloren, als die Professoren vom Staat bezahlt wurden. Mit Streik, Streikdrohung und Auszug erstritt man sich eine Selbstverwaltung, wie sie umfassender nicht gedacht werden konnte. Sie übertraf die der Handwerkszünfte und ging bis zur eigenen Gerichtsbarkeit: Nur der Vorstand der Universität, der Rektor41, durfte Universitätsangehörige verurteilen. Das galt auch für Kapitalverbrechen. Der Universitas gehörten sämtliche Pariser Doktoren, Magister, Baccalare und Scholaren an. Stimmrecht hatten aber nur die Magister regens und die Doktoren - so wie in den Handwerkszünften nur die Meister abstimmen durften, obwohl auch die Lehrlinge und Gesellen zur Zunft gehörten. Juden waren ausgeschlossen 42 , des weiteren unehelich Geborene und die Söhne von Vätern mit unehrlichen Berufen 43 • Nun herrschten unter Magister und Doktoren unterschiedliche Interessen. Die einen liebten Theologie, andere Medizin, wieder andere trieben nur die freien Künste. Da sich Leute mit gleichen Interessen gerne zusammentun und für sich sind, entstanden vier Unterzünfte 44 , die Fakultä-
ten: Artes, Theologie, Medizin und Jurisprudenz. Die Juristenfakultät z.B. besaß das Monopol auf den juristischen Doktor. Die größte Fakultät war die der freien Künste, die Artistenfakultät. Ihre Magister und Scholaren waren in vier Unterunterzünfte gespalten: die vier Nationen. Ein deutscher Scholar mußte in die deutsche Nation eintreten, ein Franzose in die Nation der Franzosen, etc .. Alle Zünfte besaßen Vorstände. Der Rektor, der Vorstand der Gesamtzunft (der Universitas), wurde aus und von den Magister artium gewählt. Er war gleichzeitig Vorstand der Artistenfakultät. Den drei oberen Fakultäten standen Dekane vor, den Nationen Prokuratoren. Für die Scholaren bürgerte sich die Bezeichnung Studenten ein. Student zu sein war lustig, jedenfalls im Sommer, in den Ferien, und als Sohn eines reichen Mannes. Doch auch hagere Gestalten, die auf eine Pfründe oder Schreiberstelle hofften, strömten an die Universität Paris: Aus dem Perigord, aus der Champagne, aus dem Elsaß, vom Oberrhein. Der Student saß im Stroh, auf dem Boden ungeheizter Hörsäle, wo die Flöhe mit den Spitzfindigkeiten der Magister um die Wette hüpften. Hörsaal ist übertrieben: Unterrichtet wurde in wechselnden gemieteten Privathäusern, manchmal sogar auf
41 Anfangs lag die Gerichtsbarkeit noch beim Kanzler. 42 Juden durften an vielen deutschen Universitäten erst im 18. Jhd. promovieren. 43 Z.B. Schinder oder Henker. 44 Eine ähnliche Neigung zeigte sich im Handwerk. So spaltete sich das tuchverarbeitende Gewerbe in mehrere Spezialzünfte auf, in Walker, Weber, Färber. In Paris hatte sich das Schmiedehandwerk schon um 1260 in 22 eisenverarbeitende Zünfte getrennt.
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der Straße, in der Rue de Fouarre und auf der Place Maubert, denn die Universität besaß anfangs keine eigenen Gebäude 45 • Wo auch immer: Mit mäßigem Interesse lauschte der Student der monotonen Stimme des Magisters und versuchte dessen Weisheit in Tinte zu bannen und auf Papier46zu zaubern, denn damals schon herrschte der Glaube, was aufgeschrieben sei, habe man auch aufgenommen. Danach, das frisch bekrakelte Papier im Rock geborgen, stapfte er in Begleitung einiger Genossen nach Hause. In den lehmigen Gassen des Quartier Latin standen die Misthaufen Parade und man mußte sich durch Karawanen von Maultieren zwängen, deren Harn sich über die Gasse breitete und sich mit den Ausflüssen der Misthaufen mischte. Über den Aristoteles wurde diskutiert und dies laut, damit die Passanten merkten, man sei Scholar, denn den mit Lehmrändern verzierten Röcken hätte man's nicht angesehen, so glänzend sie an einzelnen Stellen auch sein mochten. Mißtrauisch folgten ihnen die Blicke der
Hausmütter, die Hühner rupfend unter den Türen standen, und die verächtlichen Mienen der Schankwirte, die ebenfalls gerne gerupft hätten. Aber an den armen Studenten war wenig zu rupfen. Ihr Zuhause war ein Kolleg47, wo sie nach einer Hausordnung lebten, oder ein Hospiz48 oder eine von einem Magister betriebene Pension. Die ganz armen verdrückten sich ins Hotel Dieu an der Südseite von Notre Dame. Seit sechs Uhr morgens hatte man sich die Weisheiten der Magister angehört, jetzt war es Zeit für eine angenehmere Kopfarbeit: das Mittagessen. An grob gehobelten Tannentischen schlang man ungeschrnälzten Getreidebrei und Bohnen hinunter und schüttete dünnes Bier darauf. Gewürzt wurde mit Sehimpfreden auf Universitätsbehörden und Magister, wobei man auch des Hauswirts und der teuren Miete gedachte. Das ging so bis zur Non (1500 ). Danach wurde bis zur Vesper (1800 ) repetiert - oder auch nicht. Die ganz Fleißigen repetierten darüber hinaus (lectiones in vesperis). Dazu flackerten Kien-
45 Erst im 14. Jhd. scheint die Universität eigene Gebäude erworben zu haben. 46 Seit dem 13. Jhd. gab es in Europa Papier aus Leinenlumpen. Pergament, das aus Kalbshaut zubereitet wird, dürfte für die Scholaren zu teuer gewesen sein. Vielleicht liefen sie auch mit Schiefertafeln herum. 47 Kollegien waren Stiftungen zur Unterstützung armer Scholaren. Sie wurden von reichen Gönnern gegründet und mit Statuten und Besitz versehen. Die Kollegiaten beteten dafür in Seelenmessen für des Stifters Seelenheil. Die Kollegien boten den Kollegiaten Wohnung und Mahlzeiten, zudem gaben sie Gelegenheit, das in den Vorlesungen Gehörte zu repetieren. Später dienten die Kollegien aber auch als Lehranstalten, und schon im 14. Jhd. waren sie die eigentlichen Lehreinrichtungen der Universität. Ein Kolleg wurde vom Kollegienrektor geleitet, dem Prokuratoren zur Seite standen. Ihnen gegenüber stand die Vollversammlung der Kollegiaten. 48 Für gewöhnlich taten sich mehrere Studenten zusammen und mieteten ein Haus. Für dieses Hospiz (=Bursa) wählten sie einen Vorstand, auch wurden darin Repetitionen abgehalten. Später gerieten die Hospize unter den Einfluß der Universität, die dort Magister als Leiter einsetzte. Die Magister konnten aber auch aus eigenem Antrieb Bursen eröffnen.
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späne, die gleichzeitigLicht und Wärme spendeten, wenn auch von beidem nur wenig. Doch leuchtete geistiges Licht durch den Dunst der ungewaschenen Köpfeund Streitereien heizten die Gemüter auf. Wer noch Geld in der Tasche hatte ließ der geistige Befruchtung die biologische folgen und schlich in die Rue de Fouarre. Dort faulten nicht nur tote Katzen, dort lag auch, in einer eigenartig aufgeheizten Luft, das Universitätsbordell. Es waren nicht mehr die jüngsten Damen, die dort ihrem Gewerbe nachgingen, es waren auch nicht die schönsten, aber sie hatten alle ein Loch zwischen den Beinen und der junge Akademiker verließ sie nicht immer glücklich, aber immer erleichtert. Endlich legte man sich im Kolleg zu Bett, zu mehreren ins gleiche. Legte sich auf Stroh und Lumpen in ein schmutzig rußigdunkles Loch. Warme feuchte Luft blies regelmäßig aus Nasen und Mündern der Schlafenden und das Wasser kondensierte an den Wänden. Es bildete Rinnsale und floß gleichmütig über die Wanderwege der Wanzenheere, die sehnsuchtsvoll ihrer Ernährer geharrt hatten, und nun aus allen Ritzen strömten. Die armen Studenten lebten schlechter als die Handwerksgesellen. Gelegentliche Saufereien, auf Kosten eines frischgebackenen Magisters oder Baccalars, waren die Höhepunkte ihres akademischen Lebens. Wenn sie es zum Magister gebracht hatten, ermöglichte die Lehrerlaubnis Einkünfte, aber schäbige. Viele Magister blieben denn auch ledig (die meisten waren sowieso Kleriker)
und lebten in Kollegien, wo eine Stiftung für karges Brot sorgte. Diese Kollegien waren meistens zünftig organisiert, wodurch das karge Brot wenigstens gleichmäßig verteilt wurde. Andere Magister eröffneten Privatpensionen (Bursen), in denen sie zahlenden Studenten Unterhalt und Unterricht gaben. Die Magister der höheren Fakultäten hatten oft Pfründen inne. Kollegienplätze und Pfründen wurden durch Kooptation vergeben. Das Zölibat - zumindest das formale - blieb bis ins 15. Jhd. notwendig für einen guten Ruf, vor allem bei den Theologen. Fromm ging es trotzdem nicht zu. Alle Unterzünfte, ihre Würdenträger und Behörden stritten untereinander und mit Bettelorden, Papst und Kanzler um Kompetenzen, Pfründen und Ehren. Von Anbeginn an herrschte an der Universität ein heilloser Wirrwarr - was heutigen Universitätspolitikern zum Troste gereichen mag. Es war eben bei der Gründung der Zunft nicht um eine Verbesserung des Lehrbetriebs gegangen, sondern um die Absicherung der Magister. Die große Idee war gewesen, den Wettbewerb auszuschalten, dem Lebenskampf ein Schnippchen zu schlagen. Die Universität ist also als Zunft entstanden. Dieses Buch wird zeigen, daß sie zünftig geblieben ist bis heute, und daß die Zunft das Wesen der Universität ausmacht. Zünfte sind letztlich dazu da, man kann das nicht oft genug wiederholen, ihren Mitgliedern ein gesicher-
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tes Einkommen zu verschaffen. Darin sind sie in der Regel auch erfolgreich. Dennoch sehen die Außenstehenden das oft mit scheelen Augen an. Zünfte, quengeln sie, seien das Paradies der Risikoscheuen, Schrebergärten der Selbstgerechten, Zuchtbeete der Kleingeister und Neider. Dies Gemärre mag jämmerlich wirken, aber es kam nicht von ungefähr: Zäh wie das Rindfleisch, das die Frau Meisterin den Gesellen auftischte, war der Widerstand der Handwerkszünfte gegen technische Neuerungen. Wer den Wulst eines Kruges änderte, bekam ihn von der Kannegießer Innung wieder gerade gerückt, und den Kopfdazu. Wer einen neuartigen Webstuhl aufstellte, dem spann man einige Intrigen gratis. Wer sich Verbesserungen ausdachte, hatte davon viel Ärger und wenig Nutzen, denn eine Verbesserung hätte ja ihm (oder anderen) einen Vorteil verschafft und die Zunft achtete darauf, daß kein Meister größer werde als der andere. Das Ziel der Zunft war nicht Kaviar für einige, sondern für alle Genossen Rindfleisch mit Kohl und für jeden ein Pfund. Die gleichen Mechanismen wirkten an der Universität, ja sie wirkten dort noch strenger, weil der Druck der Wirklichkeitfehlte, der im Handwerk - wenn auch langsam -Änderungen erzwang. Die Scholastik erstarrte an den Universitäten zu einem Kanon
fester Lehrsätze und dogmatischer Bücher. Damit es nicht allzu langweilig wurde, waren mal die Nominalisten obenauf, mal die Realisten. Um gerecht zu sein: Es hatte dieser Kanon durchaus seinen Segen. Er lenkte die plätschernden Wasser der theologischen Weisheit in feste Betten und hinderte ihre Ausbreitung in endlose Sümpfe, aus denen doch nur Fieberdärnpfe aufstiegen, die die Hirne benebelten. Doch beschränkte sich das zünftige Denken nicht auf die Theologie, es ließ auch die anderen Wissenschaften, selbst die Artes, erstarren. Abu Musas Theorie aus der Zeit Karls des Grossen - Schwefel, Quecksilber und Salz seien die Grundprinzipien aller Dinge - hielt sich bis ins Jahr 1661, bis zum Sceptical Chymistvon Robert Boyle. Die medizinischen Werke des Avicenna las man noch im 17. Jhd. Medizinische Neuerungen wurden unterdrückt. In Salerno 49 hatte Ugo Borgognoni (1155-1254) gefordert, die Wundheilung habe ohne Eiterung zu verlaufen, Arzt, Patient, Messer und Verbandsmaterial hätten sauber zu sein. Die medizinischen Fakultäten lehnten dies ab - es stünde weder bei Galen 50 noch bei Hippokrates 51 - und sie setzten sich durch; Medizin blieb im wesentlichen eine philologische Disziplin, die ihre Erkenntnisse aus der Auslegung antiker Autoren zog. Manchmal sogar
49 In Salemo bestand schon seit dem 9. Jhd. eine Ärztegemeinschaft, die sich im 10. und I 1. Jhd. in eine Schule entwickelt hatte, aber nicht zünftig organisiert war. Dennoch oder deswegen kamen gerade aus Salerno die berühmtesten Ärzte, so der Chirurg Robert Frugardi und der erwähnte Ugo. 50 Galenus von Pergamon (ca. 130 - ca. 200) Griechischer Arzt. Galen wurde von seinem Vater ausgebildet, ging mit 20 Jahren auf Reisen, um Drogen zu sammeln, berühmte Ärzte zu besuchen und in Alexandria Anatomie zu lernen. 158 kehrte er nach Pergamon zurück
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Bischof
Die Universität Paris im 13. Jhd.
(Vorgesetzter des Kanzlers
Domkapitel Allgemeine Versammlung Stimmrecht in 7 Gruppen;
Rektor
3 Gruppen die Magister der oberen
Von und aus den
Fakultäten; 4 Gruppen die Nationen der Magister artium
Artisten gewählt
Dekan Doktoren de~ Theologie
~ ,--------M--..agister
Dekan
Dekan
.Doktorende$
Doktoren der Medizin
• Rechts
Kanzler vergibt die Lizenzen auf Vorschlag und Verlangen der Magister
Baccalare
C
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I!! .c ,o .c
non regens
~ Quereinstieg für reiche >------~ ~ Adlige mit Privatlehrer
Prokurator Aussteiger: Schreiber, Hauslehrer, Söldner, Poeten und andere Herumtreiber
Prokurator
\ Prokurator
Prokurator
Magister regens 1
Baccalare Nation der Franzosen
Nation der Engländer/ Deutschen
Nation der Pikarden
Nation der Normannen
Studenten
aus der Astrologie. Im Oktober 1348 bat Philipp VI die medizinische Fakultät der Universität von Paris um einen Bericht über das Unhei/52, das das Überleben der menschlichen Rasse zu bedrohen schien. Mit gründlicher These, Antithese und Beweisführung machten die Ärzte eine Dreierkonstellation aus Saturn, Jupiter und Mars
verantwortlich, die am 20. März 1345 in einen 40° Winkel zu Aquarius getreten sei. Zudem so erklärten sie, sei aber auch mit Momenten zu rechnen, „deren Ursachen selbst den feinsten Geistern verborgen blieben". 53 Der Widerstand der Fakultäten gegen die praktische Erfahrung hatte nichts mit Dummheit zu tun. Er hing mit
und arbeitete dort als Gladiatorenarzt. 161 reiste er nach Rom. Er wurde zum Modearzt und veranstaltete öffentliche Tiersektionen und physiologische Experimente. 166 sah man ihn wieder als Gladiatorenarzt in Pergamon. Der Kaiser holte ihn jedoch 169 als Leibarzt nach Rom zurück. Galen war ein weitschweifiger Vielschreiber, ein Polemiker bar jeder Selbstkritik. Er diente vom Mittelalter bis in die Neuzeit als medizinische Autorität, als Schrecken
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der Funktion der Universität als Ranggeber zusammen. Hoher Rang verträgt sich nicht mit Handarbeit (mit der praktische Erfahrung nun einmal verbunden ist); Handarbeit schändete, damals noch mehr als heute. Ein vornehmer Mann las und dachte - er arbeitete nicht, zumindest nicht mit der Hand. Daher anerkannte die universitäre Medizin auch die Chirurgie nicht als gleichwertig an und schnitt die chirurgische Praxis aus ihrer Ausbildung heraus. Das Blasensteinschneiden und Knocheneinrenken blieb für Jahrhunderte den Handwerkszünften der Bader und Wundärzte überlassen. Die standen im Rang weit unter den medizinischen Fakultäten und wurden von ihnen beaufsichtigt. Was für die Medizin galt, das galt auch für die Artes, so für Zoologie und Botanik. Dort blieben die zwei Bücher des Albertus Magnus (11931280) Standardtext für die nächsten
400 Jahre. Man bezog seine Kenntnisse nur aus diesen und wenigen anderen Schriften. Selber nachzuschauen, was auf der Wiese wuchs und wer dort fraß, war dem Gelehrten ein abwegiger Gedanke. An den technischen Entwicklungen des Hochmittelalters, dem Eintonnen von Heringen, dem Spinnrad, der Sense, hatten die Universitäten keinen Anteil. Auch das Pulver haben sie nicht erfunden. BeiAlbertus Magnus und Roger Bacon (1214-1292) finden sich zwar Angaben über eine explosive Mischung von Kohle, Schwefel und Kalinitrat, doch haben Magnus und Bacon dieses Wissen aus voruniversitären Schriften übernommen und nie auf eine Nutzung hingewiesen. Die entscheidende Entdeckung - daß Schwarzpulver imstande ist, eine Kugelaus einem Rohr zu treiben - wurde Anfang des 14. Jhds. irgendwo in Schwaben gemacht 54 • Vonwem ist unsicher, sicher
der Medizinstudenten, die seine Schriften auswendig lernen mußten. Zu dieser Verehrung dürfte sein Monotheismus beigetragen haben, der ihn schon den Kirchenvätern empfohlen hatte. Ironischerweise hat Galen Schulen abgelehnt und die Wichtigkeit des Experimentes und der Anschauung betont. Er hat auch selber experimentiert, so hat er durch Abbinden des Harnleiters bewiesen, daß der Urin in der Niere produziert wird und nicht in der Blase. Sektionen am Menschen konnte Galen nicht durchführen, das war damals verboten. Er schloß aus den Verhältnissen beim Tier auf die Anatomie des Menschen, daher auch seine zahlreichen Imümer. Wie aber konnte ein Mann, der immer auf die Wichtigkeit des Experimentes hingewiesen hatte, die Zentralfigur der dogmatischen mittelalterlichen Medizin werden? Weil Galen so viel geschrieben hatte, und das Abschreiben so teuer war, hatten ihn seine Nachfolger auf Merksätze zusammengekürzt. Dabei ging verloren, wie Galen zu seinen Erkenntnissen gekommen war. Ein klassisches Beispiel für die Folgen der Vielschreiberei. 51 Griechischer Arzt (460-377 v Chr). Soll der erste Arzt gewesen sein, der sich hauptsächlich auf die Erfahrung stützte und Spekulation und magisches Denken ablehnte. Grundlage des Erfolges der griechischen Medizin war, daß es in Griechenland kein geschlossenes priesterliches System gab, wie im vorderen Orient. Keine Ärztesekte hatte ein Berufsmonopol. Auch gab es weder Prüfungen noch berufliche Qualifikationen. Arzt war, wer sich so nannte und er mußte mit jedem Quacksalber konkurrieren. 52 Gemeint ist die Pest 53 Aus Barbara Tuchman, Der ferne Spiegel, dtv Taschenbuch.
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aber an keiner Universität, weil es damals in Schwaben keine Universität gab. Nur am Anfang der Universität, zu Beginn des 13. Jhds., als die Zunft noch nicht gefestigt, der Geist noch weich im zünftigen Backblech gärte, gab es vielversprechende Ansätze. So bei Robert Grosseteste (1168-1253), dem vermutlich ersten Kanzler der Universität Oxford, und seinem Schüler Roger Bacon. Grosseteste und Bacon waren die ersten Magister, die forderten, das Experiment zur Basis der Erkenntnis zu machen. Bacon hat auch selbst experimentiert und seine Arbeit hat vielleicht praktische Konsequenzen gehabt. Er hat die Konstruktion eines Teleskopsvorgeschlagen und 1266 55 sogar die Konstruktion einer Brille. Gegen Ende des 13. Jhds. wurden auch die ersten Brillen gebaut, dies allerdings von norditalienischen Handwerkern; eine Verbindung zu einer Universität oder zu Bacons Werken ist nicht nachgewiesen. Dagegen scheint Kolumbus vor seiner Amerikareise Bacons geographische Methoden studiert zu haben und Bacons um 1260 niedergeschriebeneProphezeiungdarf als die einzige der Geschichte gelten, die eingetroffen ist:56
Maschinen für die Schiffahrt ohne Ruderer können so gebaut werden, daß die größten Schiffe auf Flüssen oder Meeren von einem einzigen Mann mit größerer Geschwindigkeit fortbewegt werden können, als wenn sie vollbemannt wären. Auch Wagen können so gebaut werden, daß sie sich ohne Zugtiere mit unglaublicher Schnelligkeit bewegen; etwas derartiges waren unserer Meinung nach die Sichelwagen, mit denen die Männer der Vorzeit kämpften. Auch Flugapparate können so konstruiert werden, daß ein Mann in der Mitte der Maschine sitzt und einen Motor in Schwung hält, durch den künstliche Flügel die Luft schlagen wie bei einem fliegenden Vogel. [ ... ] Auch können Maschinen gebaut werden, um ohne Gefahr im Meer und in Flüssen zu gehen, sogar bis auf den Grund. Denn Alexander der Große hat solche benutzt, damit er die Geheimnisse der Tiefe sehen konnte, wie der Astronom Ethicus erzählt. 57 Überbewerten Sie diese Prophezeiung nicht. Sie gründet weniger auf Einsicht in das technisch Mögliche, als auf Literaturstudium und Autoritätengläubigkeit (der Astronom Ethicus). Um Bacons Denkmal vollends mit Taubenmist zuzukleckem, sei er-
54 Der Legende nach war der Erfinder ein Freiburger Mönch namens Berthold Schwarz. Dessen Denkmal steht vor seinem ehemaligen Kloster, unweit des Wohnortes des Autors. Ob es Zufall ist, daß Berthold süffisant lächelnd das gegenüber liegende alte Freiburger Universitätsgebäude mustert? Praktikabel wurde das Schwarzpulver erst durch eine zweite Entdeckung: das Körnen. Gekörntes Pulver kann man transportieren, ohne daß sich seine Bestandteile entmischen, die leichte Kohle nach oben schwimmt und das schwere Kalinitrat nach unten. Zudem entwickelt Schwarzpulver nur gekörnt seine maximale Treibkraft. Das Körnen wurde Anfang des 15. Jhds. entwickelt. Der oder die Erfinder sind unbekannt. 55 Im Opus Majus, geschrieben um 1266 56 In seiner Epistola de Secretis Operibus. 57 Aus A.C. Crombie, Von Augustinus bis Galilei, Büchergilde Gutenberg, 1966
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wähnt, daß er der Astrologie anhing, über die man sich schon damals lustig machte. So hielt er den Kometen vom Juli 1264 für die Ursache einer Gelbsuchtepidemie. Dennoch bleibt, daß Bacon die naturwissenschaftliche Methode als Grundlage jeder Erkenntnis forderte, eine Leistung, die nicht hoch genug bewertet werden kann. Damals war diese Forderung von umwerfender Neuigkeit - für viele ist sie es heute noch. Lassen wir den Meister selber sprechen. 1268 schrieb er in „communia naturalia": Ich möchte nun die Prinzipien der Weisheit beschreiben. Dies vom Standpunkt der experimentellen Wissenschaften aus, denn ohne Experiment ist es unmöglich, irgendetwas wirklich zu wissen. Es gibt zwei Wege der Erkenntnis, eine durch rationales Nachdenken, die andere durch das Experiment. Durch Nachdenken kommt man zu Schlüssen, die vernünftig klingen, die aber weder sicher sind, noch den Zweifel ausräumen. Dies kann nur das Experiment. [ ... ] Es wird viel geschrieben und die Leute klammern sich daran mit Argumenten, die ohne Experiment zustande kamen und daher vollständig falsch sind. [ ... ] Es ist daher notwendig, alles experimentell zu überprüfen. Des weiteren schrieb Bacon: Es gibt keine Wissenschaft ohne Mathematik. Turmhoch ragt Bacon über seine Zeitgenossen hinaus, eine Tatsache,
die ihm übrigens klar war. An Bescheidenheit litt er so wenig wie an Zurückhaltung. Wie ist es ihm an der Universität ergangen? Über Bacon ist wenig bekannt, selbst Geburtsort (Ilchester?) und Geburtsjahr sind unsicher (vielleicht 1220, vielleicht auch früher). Er stammte aus reicher Familie. 1237 scheint er Magister regens in Paris gewesen zu sein, lehrte dort den Aristoteles und studierte gleichzeitig Theologie. Das Studium schloß er mit dem Doktor ab. 1247 kehrte er nach Oxford zurück. Unter dem Einfluß von Robert Grosseteste konzentrierte er sich von da an auf naturwissenschaftliche Experimente (u.a. zur Optik), Mathematik und Sprachen (Hebräisch, Griechisch etc.). Die Forschungen bezahlte er selbst. 2000 f gab er aus für Pergament, Bücher, Kopisten, Geräte - was damals, als das f noch 454 g Silber galt, eine enorme Summe war58 • Vielleicht weil ihm das Geld ausgegangen war, trat er 1257 in den Franziskanerorden ein. 59 Wenig später verarmte auch seine Familie. Sie hatte sich in den 1258 ausbrechenden Streitigkeiten zwischen dem englischen König Heinrich III und seinen Baronen auf die falsche Seite geschlagen. Ein weiterer Schicksalsschlag war die vom franziskanischen Generalminister 1260 ausgesprochene (nicht speziell gegen Bacon gerichtete) Zensur. Kein Angehöriger
58 Der Silberpreis war vor der Entdeckung der südamerikanischen Silberminen hoch, übertraf zeitweise sogar den Goldpreis. 59 Zu diesen Zeitpunkt muß sich sein Vermögen erschöpft haben, denn die Franziskaner fordern ein Armutsgelöbnis. Auch hat der Mönch Bacon später Papst Clemens IV um Geld (60 f:) für die Herstellung seiner Opii gebeten. Er habe sich das Geld dazu von armen Leuten leihen müssen.
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des Ordens durfte ohne Erlaubnis der Ordensoberen veröffentlichen, bei Strafe des Einzugs des Buches und mehrerer Tage Fasten bei Brot und Wasser. Erst 1266 wurde das Verbot
aufgehoben. Wenn auch die Zensur nicht speziell auf Bacon gemünzt war, so scheint er doch die besondere Aufmerksamkeit der Ordensoberen genossen zu haben. Um ihn unter Aufsicht zu haben, befahlen sie ihn 1257 nach Paris. Dort gab Bacon das Lehren fürs erste auf und lebte als Privatgelehrter. Warum? Mönchtum schloß nicht von der Universität und vom Lehren aus. Im Gegenteil. Die beiden Bettelorden, Franziskaner und Domikaner, hatten Einfluß an den Universitäten. Sie kümmerten sich um kranke Scholaren, ihre Kirchendienten der Universität als Versammlungs- und Beratungsorte und vor allem: sie stellten eine Reihe berühmter Lehrer. Thomas v Aquin60 (1224-1274) und Albertus Magnus, beide Dominikaner, durften lehren, ebenso der Franziskaner Alexander v Haies (11701245) und eine Reihe weiterer Mönche. Warum also lehrte Bacon nicht? Hatte er nicht den Beinamen Doctor Mi-
rabilis bekommen? Die Antwort ist: Man wird ihn nicht gelassen haben. Bacon muß massive Probleme mit der Universität gehabt haben. Der Grund war folgender: Als wenn es nicht genug gewesen wäre mit seinem Eintreten für das Primat des Experimentes 61 , hatte Bacon mit Verve für ein zweites Anliegen gefochten: Die Reform der Universität. Das Studium sei Zeit- und Geldverschwendung, verkündete Bacon jedem, der es hören wollte und auch denen, die es nicht hören wollten. Es überwiege die spekulative Philosophie, die Studenten würden die wichtigen Sprachen, z.B. Hebräisch, nicht kennen, die Schriften, auf die man sich berufe, z.B. die des Aristoteles, seien schlecht übersetzt und fehlerhaft, die Bibel, die Quelle der Weisheit, würde vernachlässigt zugunsten des „liber sententiarium" des Petrus Lombardus und überhaupt sei auch die Bibel an vielen Stellen falsch übersetzt und inkorrekt62 . Mit des Meisters eigenen Worten: Denn Doktoren, besonders Doktoren der Theologie, sind in letzten 40 Jahren in jeder Stadt und in jedem Marktflecken aufgetaucht, vor allem dank der beiden Studentenorden. Aber die Wahrheit ist, daß es noch nie so viel
60 Der Neapolitaner Thomas v Aquin wurde 1243 oder 1244 Dominikaner und studierte danach in Paris und Köln bei Albertus Magnus. 1257 kehrte er nach Paris zurück und wurde Magister (Doktor) der Theologie. Danach lehrte Thomas in Paris, an der päpstlichen Kurie und in Neapel. Dort starb er 1274. 1323 wurde er heilig gesprochen. 61 Dessen Gefährlichkeit für den Glauben scheint weder ihm noch den Zeitgenossen aufgegangen zu sein. 62 Die von der Kirche autorisierte Ausgabe der Vulgata war in der Tat fehlerhaft. Apropos fehlerhafte Texte: der bei Abälard erwähnte Werner Robl schrieb mir über seine Erfahrungen mit modernen Historikern: Erst schrieb ich ab, was andere schrieben. Da merkte ich, daß unzählige Facharbeiten und Übersichtswerke systematische Fehler durch permanentes Abschreiben und Wiederabschreiben enthielten. Ich begann selbst in den Primärquellen zu re-
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Unwissenheit und so großen Irrtum Daß man diesen Mann unter Aufsicht gegebenhat. Ich werdedas klar im folhalten mußte, daß der in einer zünfgenden beweisen, es ergibt sich aber tigen Gemeinschaft auf keinen grüauch eindrücklichaus den Tatsachen. nen Zweig kam, das leuchtet ein. Und weiter unten: Seit 40 Jahren set- Nicht einmal seine Freundschaft mit zen sich an den Universitäten be- Kardinal Guy le Gros de Foulques, stimmte Männer durch und werfen dem späteren Papst Clemens IV, sich zu Meistem und Doktoren der konnte daran etwas ändern. Der hatTheologieund Philosophieauf, obwohl te nach seiner Thronbesteigung von sie nie etwas Wertvollesgelernt haben Bacon zwar dessen Reformvorschläoder ihre Position sie etwas wertvol- ge angefordert und 1267 auch erhalles lernen läßt...63 An anderer Stelle: ten (Opus majus, minus und tertiEs gibt vier größte Hindernisse auf um), jedoch starb Clemens N schon dem Wegzur Wahrheit.Sie behindern im Jahr darauf. Zuvor hatte er imalle und deshalbjeden weisen Mann, merhin erreicht, daß Bacon nach Oxso daß es kaum möglich ist, wahre ford entlassen wurde, wo dieser GeWeisheitzu erlangen.Essind dies:das legenheit fand, sich mit seinen ReBeispiel kläglicher unwürdigerAuto- formforderungen weiter unbeliebt zu ritäten, dieMachtder Gewohnheit,die machen. 1277-1279 wurde Bacon Meinungder Unkundigenund das Ver- vom franziskanischen Generalminisbergen der eigenen Unwissenheit ter Jerome v Ascoli wegen verdächtidurch vorgetäuschteWeisheit.64 ger Neuigkeiten unter Arrest gestellt. Bacon blieb nicht bei allgemeinen 1278 wurden seine Bücher verVorwürfen, er wurde persönlich, er dammt. griff die Galionsfigur der franziskaJa, das waren herrliche Zeiten, als nischen Universitätslehrer, Alexan- man Universitätsreformer einfach arder v Hales, an und wahrscheinlich retieren konnte. Davon mag heute der Vorstand des Hochschulverbanauch Albertus Magnus. Bacon hat des in seinen feuchtesten Träumen nicht einen Universitätsgelehrten für den größten Wissenschaftler seiner schwelgen. Doch genützt hatte es Zeit gehalten, sondern den ihm benichts. 1292 in seinem Compendium freundeten Kriegsingenieur Peter v studii Theologiaewar Bacon so böse wie zuvor. Maricourt65 • cherchieren. [...] Jeder Mensch macht Fehler. Aber es ist unglaublich, in welch unvorstellbarem Umfang selbst namhafte Wissenschaftler auf diesem Gebiet schlampig gearbeitet oder sogar bewußt Geschichtsklitterung betrieben haben. [...] Die Methoden sind übrigens dieselben wie zu Abaelards Zeiten: Ächtung der Konkurrenten, geistiger Diebstahl etc.. 63 Aus Compendium Studii Philosophiae 1271 64 Das Zitat stammt aus dem Opus Majus, den Hinweis darauf verdanke ich Günter Löber, Jena. 65 Peter v Maricourt (Maharn-Curia), ein Pikarde, scheint viele Experimente für Bacon durchgeführt zu haben und gilt als Autor einer Abhandlung über den Magnetismus. Wie Bacon scheint v Maricourt Franziskaner gewesen zu sein. Zu seinen Lebzeiten genoß er wenig Anerkennung, denn Bacon klagt, daß ein Mann wie Peter v Maricourt fast unbekannt sei, während andere, die nur schwätzen könnten, an den Universitäten glänzten.
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Eine Bemerkung nebenbei: Bacon sprach 1272 davon, daß die Universität seit 40 Jahren, seit den 30er Jahren des 12. Jhds. also, im Niedergang war. Das sind ungefähr 30 Jahre, eine Generation nach der Gründung der Universität Paris. Sie werden auf diese 30 Jahre in diesem Buch noch öfters stoßen: In dieser Zeitspanne scheinen neugegründete oder reformierte Universitäten regelmäßig zu erstarren. Daß der Bibeltext korrupt war, daß man den Originaltext aus den griechischen, bzw. chaldäischen Urtexten neu übersetzen müsse, diese Erkenntnisse rufen so sehr den gesunden Menschenverstand an, daß man nicht versteht, wieso Bacon darin von seinen akademischen Kollegen,die ja durchaus über gesunden Menschenverstand verfügten, Widerstand entgegengesetzt wurde. Nun, sie waren Angehörige einer Zunft und Leute mit Charakter und Verantwortungsgefühl. Ihnen ging es - zumindest unterschwellig - nicht um Wahrheitssuche, ihnen ging es um die Zunft. Also um Beständigkeit und Sicherheit für sich und ihre Zunftgenossen. War es denn wirklich wichtig, ob dieser oder jener Satz der Bibel richtig übersetzt worden war? War es nicht wichtiger, daß der Satz autorisiert worden war? Sollte die Arbeit hunderter Magister von hundert Jahren für die Katz gewesen sein? Und die eigene dazu? Sicher, die Studenten hatten sich einen Rang zu erarbeiten. Aber war es nicht zweitrangig, ob das mit einem korrekten oder einem korrupten Bibeltext,ob es überhaupt mit Bibeltexten geschah? War es nicht unverantwortlich, den Bestand der
Gemeinschaft aufs Spiel zu setzen, indem man die Schriften anzweifelte, auf denen die Wissenschaft ruhte, auf die wiederum die Gemeinschaft gebaut hatte? Und dies nur, um den Ehrgeiz eines Mönches zu befriedigen? Das verhüte Gott und sein getreues Werkzeug, die Universitas von Paris. Und die hatte die Macht dazu. Guter Wille zeitigt oft schlimme Folgen. Die Folgen waren: Leute wie Bacon konnten sich an den Universitäten nicht durchsetzen. War die Zunft der Magister erst einmal befestigt, hatten Neuerer keine Chance. Sie wurden kaltgestellt und man sorgte dafür, daß sie keine Schüler fanden. Die entscheidende Größe in der Universität wurde nicht das Experiment, sondern der Fakultätsbeschluß. Wissenschafts- und Lehrfreiheit gab es nicht. An manchen Universitäten verboten die Nominalisten und Realisten per Fakultätsbeschluß der jeweils anderen Partei, Vorlesungen zu halten. In der Regel aber kontrollierte die Fakultät dies schon an der Quelle, indem sie nur solche in ihre Reihen aufnahm, die zu den Vorhandenen paßten. Wer kooptiert schon einen, der anders denkt als er selbst? Im 14. Jhd. herrschte in den akademischen Zünften der Glauben an Magie und Dämonen noch stärker als im 13. Jhd. Die Naturwissenschaften sollten sich erst im 16. Jhd. und ausserhalb der Universitäten entwikkeln. Ursache der geistigen Starre der mittelalterlichen Wissenschaft war nicht die Kirche. Die begnügte sich mit der 35
Kontrolle der Theologie. Den freien Künsten stand sie, solange diese keine Dogmen berührten, neutral gegenüber. Es war die Zunftorganisation der Magister, die die Wissenschaft lähmte. Es ist nun leider nicht zu vermeiden, das Erzählte in einen theoretischen Überbau einzugliedern, wie man 1968 so schön sagte. Aber keine Angst, lieber Leser, ich mißtraue Theorien mindestens so wie Sie. Ich werde mich daher kurz fassen mit den Gesetzen und Prinzipien, auf deren Asphalt die Universitäten durch die Zeiten rollen. Wer dem Ausbildungswesen eine Zunftorganisation aufzwingt, also eine Universität bildet, der muß mit vier Konstruktionsfehlern rechnen. Diese Fehler untergraben die Universität langsam, aber zwangsläufig und machen sie ungeeignet, das zu leisten was sie soll: Ranggeben, Ausbilden und, später, Forschung beherbergen. Zudem und dummerweise: Beseitigt man einen Fehler, so taucht ein neuer auf, der in der Regel noch schlimmere Folgen hat. Die vier Fehler werden uns durch die gesamte Universitätsgeschichte begleiten. Die Universität ist ja bis heute Zunft geblieben. Der erste Fehler: Jeder Magister kann wiederum Magister machen. Als Folge des ersten Fehlers muß die Zahl der Magister zunehmen, und zwar exponentiell. Ein Magister braucht ja mehrere Studenten um zu leben, erzeugt also mehrere Magis-
ter, die wiederum mehrere Studenten brauchen usw.. Mit zunehmender Zahl der Magister bewerben sich diese zwar um immer weniger Studenten, doch gibt das den Studenten eine starke Stellung und erleichtert somit das Magisterwerden. In diesem Punkt unterscheiden sich die Universitäten von den Handwerkszünften. 66 Ein einzelner Magister kann sich dieser ausufernden Produktion von Graden mit Lehrerlaubnis (Doktor und Magister) nicht entziehen. Täte er es, grübe er sich den Studentenzustrom und damit das Wasser ab. Der erste Fehler führt also zu einem Schneeballeffekt bzgl. der Magisterzahlen. Der wirkte, wie wir wissen, schon vor der Universität - auch da galt ja schon, dass jeder Magister Magister machen kann - er wirkte aber auch nach Einführung von Zunft und Graden, nur eben langsamer. Die Folge des ersten Fehlers ist das Gesetz von der exponentiellen Zunahme der Gradierenden. Der zweite Fehler: Die Magister hängen finanziell von den Studenten ab. Als Folge des zweiten Fehlers neigt die Universität dazu, den Erwerb der Grade zu erleichtern, denn innerhalb der Universität und zwischen den Universitäten entwickelt sich ein Wettbewerb um Studenten: Die Gier nach Hörergeldern verführt die Magister dazu, sich mit milder Justiz und milden Prüfungen die Studenten weg zu locken67 . Schon in Paris ließen die Anforderungen an die Gra-
66 Wenn die Lage des Handwerks schlecht war, verfügte die Zunft oft, daß ein Meister nur einen Lehrling aufnehmen dürfe. Auch die Zahl der Gesellen pro Meister wurde beschränkt. Dies stabilisierte die Einkommen der Zunftmitglieder.
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de mit der Zeit nach. Und dieser Trend hielt über die Jahrhunderte an, gelegentlich gehemmt oder umgedreht durch Eingriffe der Obrigkeit. Christoph Meiners (1747-1810), Professor der Weltweisheit, berichtet über Examina: So geschieht es doch äußerst selten, daß selbst Menschen von einer notorischen und schimpflichen Unwissenheit abgewiesen werden. Eine Ursache dieser Gelindigkeit ist unläugbar die Furcht, daß die Abgewiesenen anderswo promovieren, und daß die Facultät die Kosten der Promotion verlieren werde. Der Verfallder Grade wird erleichtert durch die Tatsache, daß ihr Käufer (der Student) nicht auf die Qualität, nur auf den Namen achten muß. Ein schlecht geschnittener Rock drückt, ein geschenkter Doktorgrad nicht. Es drückt den Promovierten umso weniger, als er das, worüber er promoviert hat, später nicht braucht. Vor dem Aufkommen der Naturwissenschaften traf das noch mehr zu als heute. Es war (und ist) also problemlos möglich, die Grade billiger zu machen, um mehr Studenten anzuziehen. Daher gilt das Gesetz vom Verfall der Grade. Der dritte Fehler ist die Selbstverwaltung. Die bedeutet Gremienwirtschaft. In Gremien ist die Mehrheit stark, also die Vorsichtigen, die Zauderer, die Gleichgültigen. Gremien
fehlt der Ehrgeiz, denn bei ihren Entscheidungen trägt niemand die Verantwortung und daher die Ehre. In Gremien geborene Ideen haben den Glanz abgewetzter Hosenböden, tragen den Stempel unsauberer Kompromisse. Mehrheiten wollen nichts Neues. Dies vor allem dann nicht, wenn das Neue nur Einzelne ins Licht stellt und mit Mehrarbeit oder Umdenken verbunden ist und wenn es für die Mehrheit zu finanziellen Nachteilen führt. Alles was recht ist! Stellen Sie sich vor, Sie hätten, um im Gremium sitzen zu dürfen, jahrelang verzichtet, hätten sich zurückgehalten - hätten Charakter gezeigt. Und jetzt kommt einer daher, ein Übereifriger, ein Geltungsbedürftiger, ein überheblicher aufgeblasener Wicht, ohne Respekt, ohne Benimm: Wenn der glaubt, meine Institution, mein Lebensinhalt, sei ein Kaninchenstall für seine abstrusen Theorien, dann aber.. ! Eine Unverschämtheit!! Glauben Sie mir, so würden Sie reagieren - und ich auch. Und wie leicht es ist, in Gremien jemanden auszubremsen. Sind Gremienvorgänge an sich schon bleilahm, kann sie ein Erfahrener mit Teilboykott und ermüdenden Reden auf die Geschwindigkeit einer herzkranken Schnecke herabsetzen. Aufbegehren? Oh bitte! Aber wer
67 Eine Neigung zu milden Prüfungen ist auch heute noch vorhanden, obwohl die Einkommen der Professoren nicht mehr von der Zahl ihrer Studenten abhängen. So ist es in vielen Fachbereichen üblich, nur Einsen zu vergeben. Offensichtlich ist die finanzielle Abhängigkeit nicht die einzige Ursache milder Prüfungen. Eine andere könnte sein, daß die Professoren keine Konsequenzen befürchten müssen, wenn sie zu gut benoten, wohl aber Ärger mit dem Prüfling, wenn sie streng benoten. Dazu kommt, daß in vielen Fächern eine objektive Benotung gar nicht möglich ist.
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kann es sich schon leisten, die Mehrheit zu verärgern? Die kann einem in einer selbstverwalteten Universität das Leben schwermachen. Wozu sollte das einer auf sich nehmen? Was hätte er davon? Nur Ärger! Es leuchtet ein: Die selbstverwaltete Universität ist neuerungsfeindlich. Gegensteuern ist schwer. Die Obrigkeit zwar kann es, aber welcher Staatsbeamte fühlt sich schon kompetent, in die Streitigkeiten der Akademiker einzugreifen? Der vierte Fehler: Ergibt sich aus dem dritten, wird aber wegen seiner Wichtigkeit getrennt aufgeführt. Es ist die Selbstergänzung der Professorenschaft68.Sie führt zwangsläufig zur Qualitätsabnahme des Lehrkörpers. Denn die Zeiten mögen sich ändern, die menschliche Natur ändert sich nicht: Kooptiert werden nicht die Besten, sondern die, die am besten zur Korporation passen. Jedes Gremium, das seine Mitglieder kooptiert, neigt dazu, solche zu kooptieren, die Macht, Stellung und Selbstgefühl der schon Vorhandenen nicht beeinträchtigen. Wenn man dagegen einen besseren Lehrer beruft, kann der einem die Hörer wegnehmen. Oh, wie das im Geldbeutel schmerzt! Wenn man einen besseren Wissenschaftler beruft, kann der einen in den Schatten stellen. Oh, wie das im Selbstgefühl wurmt! Professorengremien kooptieren also Leute, die nicht so gut vorlesen wie die vorhandenen, die weniger gute Wissenschaftler sind. Man bevorzugt Leute, die als verträglich gelten und
von denen man einen Gefallen erwarten kann. Endlich schottet man sich ab gegen die originellen Köpfe, denn leider leider geht Originalität im Denken oft mit originellen Zügen im Charakter einher und die sind nicht immer angenehm. Es gilt also das Gesetz der schlechteren Nachfolge. Nach ihm nimmt das Niveau einer Universität mit der Zeit zwangsläufig ab. Aus dem dritten und vierten Fehler folgt das Gesetz der Erstarrungder Universität. Seine Folgen wurden schon geschildert. Alle vier Fehler - und die aus ihnen folgenden Gesetze - haben die fatale Eigenart, sich nur langsam auszuwirken. Am Anfang scheint alles einigermaßen in Ordnung zu sein. Erst eine Generation nach Universitätsgründung oder Reform zeigen sich die Folgen. Jetzt werden sie angegangen. Wohlgemerkt: Angegangen werden in der Regel die Auswirkungen, die Symptome, nicht die Ursachen. Diese, die Konstruktionsfehler, sind unsichtbar. Sie sind wie Holzwürmer, die sich stetig und fast lautlos durch eine prächtig bemalte Fichtenkiste nagen. Ihr Wirken bleibt der flüchtig guckenden Außenwelt bis auf ein paar unverdächtige Löchlein verborgen. Doch nach einiger Zeit und wenn man darauf klopft, klingt es nicht nur hohl (das klingt es immer), es rieselt auch das Mehl und die morschen Stellendellen ein. Geschrei erhebt sich. Ein Fachmann muß her. Ein Fachmann findet sich, es findet
68 Der Titel Professor kommt erst im 14./15. Jh. auf und wird lange neben dem Magister gebraucht. Er bedeutet aber das gleiche, und weil die vorgestellten Fehler und Gesetze zum Teil bis heute gelten, erlaube ich mir, hier schon den moderneren Begriff zu verwenden.
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wird die Universität schon Freude gemacht haben. Dennoch habe ich mich gefragt, warum diese Institution nicht von selber einging. Denn das tat sie nicht, weit gefehlt. Die Universität überlebte nicht nur das 13. Jhd., sondern auch Investiturstreit, hundertjährigen Krieg, Pest und Kirchenspaltung. Die Universität ist eine Zunft und Zünfte sind zäh wie Unkraut. Wegen der Privilegien haben ihre In Paris verkamen die zünftigen Kol- Mitglieder ein feuriges Interesse an legien innerhalb weniger Jahrzehnihnen. Die Obrigkeit wiederum te zu Rentenanstalten für die Ver- schätzt sie als Ordnungsfaktor und wandten einflußreicher Herren. Nur Hilfsquelle. Bei der Universität kam das einzige nicht-zünftig organisiernoch dazu, daß sie hohes Ansehen te Kolleg gedieh. Dort hatte ein abgenoß. Dies Ansehen floß aus vier setzbarer Provisor die Oberaufsicht. Quellen: Er war nicht den Zunftgenossen, son• Den Graduierten auf der Universidern einem unabhängigen Gremium tät und noch mehr den abgegangeverpflichtet, in dem Rektor, Kanzler, nen Graduierten war daran gelegen, Archidiakon des Kapitels etc. saßen. das Prestige der Universität zu verGestiftet hatte dieses Kolleg ein Bau- teidigen. Von diesem Prestige hing ja ernsohn, der zum Prälaten aufgestieihr eigenes ab. • Von dem, womit sich die Universigen war: Robert de Sorbon 69 • Der tät beschäftigte, verstand der GemeiSorbonne verdankt die Universität ne soviel wie die Kuh von der ChloParis ihren Ruhm. rophyllsynthese - aber gerade das flößte ihm Achtung ein. Noch heute Die Universität, ich habe es angedeutet, hat vielleicht nicht ganz so se- leben ja Kunst und Philosophie vom gensreich gewirkt, wie sie das von Glauben des Laien, hinter eindrucksvollen Worten müßte auch Einsich selber glaubt. Es gibt Autoren, die sie als verworrene, zerstrittene, drucksvolles stecken. • Die Universität (und die Kirche) von Nepotismus zersetzte Institution erlaubten es dem Gemeinen, sich beschimpfen, als ständiger, nur bescheidenster Leistungen fähiger Un- über seinen Stand hochzuarbeiten. Die Universität war Ranggeber. ruheherd und diese Autoren müssen • Die Pariser Universität war wirtes wissen, denn sie sind Universitätsschaftlich unabhängig. Ihre Professoprofessoren. Ich dagegen will nicht ren wurden nicht vom Staat be-zahlt, schimpfen, dem einen oder anderen
sich immer einer, und er ersetzt die schlimmsten Stellen durch kunstvoll zugesägte neue Bretter, bemalt sie auf's schönste, geht davon, lebt noch eine Weile und stirbt dann. Inzwischen haben die Holzwürmer ihr Werk fortgesetzt, das neue Brett ist ebenfalls befallen, ein anderes löst sich in Mehl auf, ein neuer Fachmann kommt: ein noch größerer Künstler, der noch schönere Bretter zusägt ...
69 Robert de Sorbon (1201-1274) war der Kaplan Ludwigs IV (des Heiligen) und besaß den Grad eines Doktors der Theologie. Die Sorbonne stiftete er 1257 für 16 arme Theologiestudenten, d.h. für Magister non regens, die den Doktor der Theologie anstrebten.
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sondern von den Studenten und - immer mehr - von Pfründen privater Stifter. Dies erlaubte den Magistern einen von Kirche und König unabhängigen Standpunkt. Aus diesen Wurzeln sog die Universität Paris Kraft und Ansehen. Lange galt sie als oberste theologische Instanz und Schiedsrichterin in theologischen Streitfragen. Zeitweise stand sie als - schwächliche - dritte Macht neben König und Papst. Ihr Ansehen löste auch immer wieder Rettungsaktionen aus. Wenn sich die Universität an den Rand des Zusammenbruchs gearbeitet hatte, sprangen der König oder reiche Privatleute ein. Neue Pfeiler wurden eingezogen und stützten das Gebäude, bis auch sie wieder verfaulten ... Ihr zünftiger Kern machte die Universität dauerhaft und dies nicht nur in Äußerlichkeiten 70 • Sie ist ein in Granit gemeißelter Rinnstein des Gedankenflusses. Viel Fauliges und Aufgeblähtes gluckert in ihm entlang, allein, dem Rinnstein vermag das nichts anzuhaben. Die scheinbar erfolgreiche Institution wird nachgeahmt. Noch im 13. Jhd. entstanden Universitäten in Toulouse und Montpellier. In Oxford wurde, fast gleichzeitig mit Paris, eine Universität gegründet. Aus ihr
entstand durch Abwanderung die Universität Cambridge. In Italien gab es Universitäten in Bologna und Padua (gegr. 1222) 71, in Spanien in Salamanca (gegr. 1220). Die Deutschen dagegen glaubten lange, ohne Universität auskommen zu können, obwohl doch die erste gewissermaßen mit ihrem Blut gegründet worden war. Erst 1348 wurde von Kaiser Karl N in Prag eine deutsche Universität gegründet. 1365 folgte die Universität in Wien. Ende des 14. Jhds. aber schwang die zögerliche Haltung der Deutschen um - und dies gründlich. Der Anlass war ein Massenmord. Der Neapolitaner Bartolomeo Prignano war am 9. April 1378 von den Kardinälen zum Papst gewählt worden. Dies wegen seiner Bescheidenheit und Führbarkeit, denn die Kardinäle liebten keine Diktatoren, sie herrschten lieber selbst. Prignano nannte sich Urban VI. Kaum im Amt, begann er damit, die Simonie zu unterbinden und die Einkünfte der Kardinäle zu beschneiden. Dornen setzte er den Herren in die weichen Pfühle. Diese Undankbarkeit verdroß die Kardinäle dermaßen, daß sie die Wahl Urbans unter einem fadenscheinigen Vorwand für ungültig erklärten. Um die Absetzung unwiderruflich zu machen
70 Nicht nur Titel (z.B. Rektor, Pedell, Magister) und Gebräuche (z.B. Vorlesungen, Doktorschmaus) auch die 45 minütige Lehrstunde haben ihren Ursprung schon im Paris des 12. Jhds. Letztere geht auf den Dreistundenrhythmus der mönchischen Tageseinteilung zurück. Die Hauptvorlesungen z.B. begannen zur Prim, d.h. um 6 00 Uhr, und dauerten bis zur Terz, d.h. bis 900 Uhr. Die 45 minütige Lehrstunde entstand daraus durch Viertelung. 71 In Neapel wurde 1224 von Friedrich II ebenfalls eine Schule gegründet, die oft als Universität bezeichnet wird. Es ist jedoch keine gewesen, denn diese Schule war keine Zunft. Ihr Vorstand z.B. wurde nicht gewählt, sondern vom Kaiser ernannt und auch die Lektoren wurden vom Kaiser eingesetzt (keine Kooptation). Die Studenten wurden von staatlichen Behörden geprüft.
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wählten sie einen neuen Papst: Kardinal Robert v Genf. Der nannte sich KlemensVII.Sein Beiname aber war: ,,Der Schlächter von Cesena". Cesena liegt an der Adria, zwischen Ravenna und Rimini. Dort hatte Robert im Jahre 1376 eine Schar von bretonischen Söldnern einquartiert, Aushub aus den berüchigten Briganten des hundertjährigen Krieges72 • Mit ihnen hatte er Mittelitalien für den Papst zurückgewinnen wollen. Die Bretonen hatten sich so benommen, wie man es von ihnen erwarten konnte: Sie hatten gegessen, ohne zu zahlen, waren die Zeche schuldig geblieben und hatten den Frauen ihrer Quartiergeber unter die Röcke gegriffen. Dies hatten sie getrieben, bis sich die Cesener zusammenrotteten und die Bretonen aus der Stadt warfen. Dies verdroß Robert. Er hatte andere Truppen zu Hilfe gerufen und war vor die Mauem von Cesena gerückt. Das riesige Heer, die Bliden und Rammböcke, hatten die Bürger eingeschüchtert. Sie hatten um Milde gebeten und Geiseln gestellt. Robert hatte ihnen Milde versprochen, hatte auf seinen Kardinalshut geschworen, und die Geiseln freigelassen. Die Stadttore schwangen auf. Die Bretonen marschierten hinein. Aber hinter sich zogen sie die Tore wieder zu und es begann ein Hauen und Stechen, ein Vergewaltigen und Notzüchtigen, ein Plündern und Mordbrennen, das einzig dastand in der Geschichte der Stadt. Auf den Straßen und in ihren Häusern wurden die Cesener erschlagen, an die
Türen gespießt, durch Fenster gestürzt, aufgehängt und mit Pfeilen gespickt. Der Rest kletterte in Panik über die Stadtmauern, sprang in die Gräben dahinter und wer darin nicht ersoff, zog als Bettler durch die Lande. Zwischen 2500 und 5000 Cesener sollen umgekommen sein. Den Söldnern war das Massaker von Robert von Genf ausdrücklich befohlen worden. Als einige Bedenken über den Eidbruch geäußert hatten, hatte er sie angeschrien „Sangue et Sangue!". Dieser bewiesenen Tatkraft wegen, war Robert von den Kardinälen zum Papst gewählt worden. Nur ihm trauten sie es zu, sich gegen Urban durchzusetzen. Urban dachte nämlich nicht daran abzutreten, und die Kardinäle hatten wenig Rückhalt. Die theologische Fakultät der Universität Paris, die sie um Unterstützung gebeten hatten, wollte sich nicht in den Streit mischen. Sie riet auch dem französischen König Karl V zur Neutralität. Es sah schlecht aus für die Kardinäle. Ihr Gegner Urban ernannte ein neues Kardinalskollegium und heuerte einen Condottiere an. Der schlug die Truppen des Klemens auf's Haupt. Daraufhin erhoben sich die Italiener und jagten ihn aus dem Land. Klemens floh nach Frankreich, nach Avignon. Dort war er willkommen, denn der französische König versprach sich Vorteilevon einem Papst, den er unter Aufsicht hatte. Es gab nun zwei Päpste: Urban IV und Klemens VII. Einer saß in Rom,
72 Krieg zwischen England und Frankreich um englische Ansprüche auf französisches Gebiet (von 1339 bis 1453).
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einer in Avignon. Die Franzosen hielten zu Klemens. Die Engländer, die mit den Franzosen verfeindet waren, hielten zu Urban. Die Schotten wiederum hielten zu Klemens, denn sie waren mit den Engländern verfeindet. Die Deutschen und ihr Kaiser hatten sich für Urban erklärt. Die Welt teilte sich in Klementisten und Urbanisten. Das Schisma, die Kirchenspaltung, war da. Die Folgen waren fatal: Jeder Papst hatte eine ganze Hierarchie von Kardinälen und Prälaten zu füttern, aber nur jeweils die halbe Christenheit zum zahlen. Diese Zwangslage ließ Simonie, Ämterkauf und Ablaßhandel erst recht gedeihen. Korruption durchwucherte die Kirchewie Krebs. Sie wurde herumgezerrt wie eineHure auf einer Orgie. Angesichts dessen schlug die Universität Paris vor, ein Konzil zu berufen, das den wahren Papst bestimmen sollte. Der französische König, Karl V, wollte seinen Klemens aber nicht
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den Zufälligkeiten von Gremienentscheidungen unterwerfen. Er übte Druck aus. Murrend steckte die theologische Fakultät zurück. Aber als Karl zwei Jahre später starb, riefen alle vier Fakultäten zu einem Konzil auf. Wiederum vergebens. Der Regent, der Herzog von Anjou, ein überzeugter Klementist, ließ den Sprecher der Universität, den Theologen Jean Rousse, ins Gefängnis werfen. Aus Protest und aus Angst vor Repressalien reisten daraufhin die urbanistischen Studenten und Doktoren in ihre Heimatländer. Eine schwärzliche Lawine von Magistern und Baccalaureaten rollte von der Pariser Hohen Schule in in die Tiefen der deutschen Barbarei, gewaltige Mengen von Bücherstaub aufwirbelnd, und begleitet von einem dumpfen Grummeln nach Pfründen und Kollegienstellen. Doktoren wurden wohlfeil im Lande östlich der Vogesen.
Jämmerliche Anfänge
Die Flucht der Urbanisten aus der Universität Paris ließ in Deutschland epidemieartig Universitäten aus dem Boden schießen: sieben zwischen 1386 und 1419. In den Jahren 14561506 und 1527-1672 folgten, aus anderen Ursachen, zwei weitere Gründungswellen mit 11 bzw. 18 Universitäten. Bald wies Deutschland die höchste Universitätendichte auf. Ehrwürdige Magister wandelten in den Gassen auch der schäbigsten Fürstenresidenz, bahnten sich Weg zwischen schnatternden Gänsen und triefäugigem Rindvieh. Denn die deutschen Universitäten verdankten ihre Gründung entweder Fürsten oder Stadträten. Von sich aus brachten die deutschen Akademiker nichts zustande. Die Fürsten erhofften sich von einer Universität Prestige für ihre Person und Juristen für ihre Verwaltung. Nicht, daß das Rechtsstudium sich dazu sonderlich geeignet hätte. Das römische Recht der hohen Schulen paßte schlecht in die deutschen Feu-
dalreiche, mußte umgebogen und mit deutschen Rechtstraditionen verschweißt werden. Aber die Fürsten versuchten in jener Zeit, Flächenstaaten aufzubauen und dazu brauchten sie eine hierarchisch geordnete Verwaltung und dafür Leute mit Rang. Den aber vergab die Universität, die ja - früher noch mehr als heute - eine Rangfabrik ist. Der Doktor galt als ranggleich mit dem AdeF3 • Endlich vermochten die Fürsten nicht einzusehen, warum die Söhne ihrer reichen Untertanen das Geld ins Ausland, zu den Universitäten anderer Fürsten, tragen sollten. Die Stadträte brauchten ebenfalls Juristen für ihre Verwaltung. Noch mehr aber lag ihnen am Geld, das die Studenten in die Stadt brachten. Das erklärt vielleicht, warum die wohlhabenden Städte des deutschen Reiches, Nürnberg und Augsburg, keine Universität hatten 74 • Sie hatten keine nötig. Auch die freie Reichsstadt Straßburg errichtete ihre Universität erst 1621.
73 Das heißt aber nicht, daß die Professoren vom Adel als ihresgleichen angesehen wurden. Lernen galt als ehrenvoll, Lehren aber nicht. Lehren setzte herab, war verächtlich. Deswegen studierten zwar mehr Adlige als ihrem Bevölkerungsanteil von 1-3% entsprach (Ingolstadt hatte im 17. Jhd. 17,5% adlige Studenten, Heidelberg 14,8%, Tübingen 7,0%, nach Rainer Müller, Geschichte und Gesellschaft 10 (1984), 31-46), aber nur wenige wurden Professoren. Lehren blieb verächtlich bis heute, ob es nun ein Schulmeister tut oder ein Universitätsprofessor, vielleicht tun sie's deswegen so ungern.
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Schon im Mittelalter stiegen die Studentenzahlen Quelle: Schwinges, R.C. Geschichte und Gesellschaft 10 (1984) S 5-30
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Beteiligt an den Universitätsgründungen waren Kaiser und Papst. Beide mußten die neue Institution privilegieren. Dem Papst, bzw. den Kirchenbehörden, verdankten die Universitäten oft auch die finanzielle Grundlage: Die Kirche übertrug ihnen Pfründen. Diese Nutzungsübertragung verlief allerdings selten problemlos, denn die alten Pfründeninhaber ignorierten sie gerne. Langwierige Prozesse oder gar Handgreiflichkeiten waren notwendig, um die formelle Übertragung zu einer tatsächlichen zu machen. Ich erwähne das dem heutigen Professor zum Troste, der ja auch täglich um Geld
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und Pfründen zu zanken gezwungen ist: Das war schon immer so, das war schon am Anfang so; damals ging es um Gänse und Ochsen und auch heute hat es der Professor mit solchen zu tun, zumindest kommt es ihm so vor. Die deutschen Universitäten zogen anfangs wenig Studenten an. Zwar stiegen die Studentenzahlen das 15. Jhd. hindurch, mehr oder weniger stetig an (Abb 2), doch die Zahl der Magister stieg auch und zwar schneller. Das Gesetz von der exponentiellen Zunahme der Gradierenden und der Schneeballeffekt begannen zu wirken. Die Hörergelder waren
74 Nürnberg und Augsburg waren Zentren des Tuch- Waffen-, Spielzeug- und Silberhandwerks, Sitz der reichsten deutschen Geschlechter, der Fugger, Weiser, Rehlinger und Rehrn. Nürnberg errichtete später doch eine Universität, aber erst 1622 und nicht in der Stadt selbst, sondern in Altdorf.
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knapp und wurden knapper. Von Hörergeldern oder Privatunterricht konnten nur Magister mit bescheidenen Ansprüchen leben. Magister, an denen dem Universitätsgründer oder der Fakultät gelegen war, mußten besoldet werden: Durch Gehalt, eine Kollegiatur75 oder eine Pfründe. Die Verleihung von Pfründen und Kollegiaturen erfolgte auf Lebenszeit, die Berufungen zu Gehalt auf ein oder mehrere Jahre, oder auf unbestimmte Dauer. Damals schon verdienten die Mediziner am meisten, aber auch die Juristen hatten ein ansehnliches Einkommen. Die Theologen dagegen mußten sich mit schäbigen Pfründen zufrieden geben, obwohl sie der Würde nach an erster Stelle standen 76 . Die Artisten hatten die schlechtesten Stellen und den höchsten Anteil von unbesoldeten Magistern. Pfründen, Kollegiaturen, Hörergelder, das waren die ordentlichen Einkünfte. Außerordentliche Einnahmen brachte die Verleihung der Grade: Die Prüflinge zahlten offizielle und inoffizielle Gebühren, verschenkten Handschuhe und nach der Prüfung mußten sie zum Doktorschmaus laden. WeiterenVerdienstbot die Akzisefreiheit. Die Angehörigen der Universität waren befreit von der städtischen Steuer (Akzise) auf den Eigenver-
brauch von Wein und Korn. Nüchtern denkende Magister nutzten das aus und verkauften ihren steuerfreien Wein hintenrum und mit Aufschlag weiter. Juristen und Mediziner besserten ihre Einkünfte auf, indem sie reiche Klienten berieten oder behandelten. Oft sah man sie wochenlang in keinem Hörsaal. Der Herr Doktor ritt über Land seine Klienten ab und statt seiner las ein fleißiger Baccalar - für ein paar Groschen, denn die Hörergelder strich der Herr Doktor trotzdem ein. Schon damals mit der Begründung, er trage die Verantwortung. So kam doch einiges zusammen. Ein Jurist konnte mit 100-150 fl ordentlicher Einkünfte im Jahr rechnen und dazu flossen Prüfgebühren und Beratungshonorare. Zum Vergleich:Ein Handwerksgeselle verdiente 30 fl im Jahr, wovon noch Steuern abgingen. Wie kam man nun zu einer Besoldung? Indem einen diejenigen kooptierten, die schon eine hatten, denn selbstverständlich war die deutsche Universität von Anfang an zünftig organisiert. Gelegentlich zwar beriefen Fürst oder Stadt eigene Kandidaten - besonders die biederen Bürger hingen am „wer zahlt, schafft an" - doch durfte die Fakultät die Kandidaten vorschlagen und dies Vorschlagsrecht
75 Wohnung und Unterhalt in einem Stift bzw. Kolleg. 76 Dies äußerte sich z.B. bei Umzügen. Da durften die Theologen als erste aufziehen. Innerhalb der Fakultäten stellte man sich nach Rang geordnet auf, zuerst der Dekan, dann die Doktoren, dann die Baccalaureaten: Die Stellung im Umzug maß den Rang. Streitigkeiten darüber führten zu jahrelangen Feindschaften, zu Prügeleien und Duellen. Umzüge dienten bis ins 19. Jhd. hinein auch den Handwerkszünften zur Selbstdarstellung. Bei den Akademikern hatten sie aber besonders feierliche Formen. Man macht sich ja keine Vorstellung von den Albernheiten, zu denen akademische Eitelkeit fähig ist.
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mauserte sich über kurz oder lang zum Kooptationsrecht. 77 Kooptiert wurde, wer sich brav die Grade erdient, wer bei der Fakultät zu buckeln verstand - je nach dem auch beim Landesherrn oder den Stadträten - wer leicht zu lenkende Gemütsart zeigte oder vorzutäuschen verstand und wer schließlich das Glück hatte, daß gerade eine Stelle frei war. Dulden und Dienen in Demut hieß die Devise; Können war zweitrangig und oft störend. Leute mit unbequemem Charakter, mit abwegigem Vorleben hatten es schwer, und Juden und uneheliche Geborene waren, wie schon in Paris, auch an deutschen Universitäten ausgeschlossen 78 . Die akademische Freiheit bestand nicht im freien Lebensstil der Studenten, auch nicht in der Freiheit von Forschung und Lehre. Unter akademischer Freiheit verstand man Steuerfreiheit, eigene Rechtsprechung und Selbstverwaltung. Akademische Freiheit war die Freiheit der Zunft. Die Einzelheiten - Universitätsverfassung, Ausbildung des Kooptationsrechtes, Ausstattung mit Pfründen und die Bezahlung - schwankten von Universität zu Universität. Bei allen jedoch löste die Kombination von Besoldung und Selbstverwaltung einen Prozeß aus, an dessen Ende eine
neue Institution stand. Wie lief dieser Prozeß ab und welche Institution entstand daraus? Oberstes Organ der Universität war die Versammlung der Magister; sie wählte den Rektor. Die Leitung der Geschäftejedoch hatte ein Ausschuß, der Senat. Ihn beherrschten die besoldeten Magister, und die nützten diese Stellung, um die ordentlichen (ordinarii) Vorlesungen an sich zu reißen, d.h. die Vorlesungenüber Bücher, die für die Grade notwendig waren. Die warfen nämlich am meisten ab. Das Geld zog zur Macht. Für die besoldeten Doktoren bürgerte sich der Name Professoroder Ordinarius ein. Neben den Ordinarien gab es noch die Extraordinarien. Dieswaren Doktoren oder Magister, die der Landesherr den Universitäten aufzwang und aus eigener Schatulle bezahlte. Die Extraordinarien gehörten nicht zur Zunft, denn waren nicht kooptiert worden. Sie hatten also kein Stimmrecht in Senat, Fakultät und Vollversammlung. Ihre Bezahlung war jedoch vergleichbar mit der der Ordinarien. Der große Rest der Magister und Doktoren war auf Hörergelder und private Vorlesungen angewiesen. Bald aber beanspruchten die Ordinarien auch diese Einkommensquellen
77 Den Mechanismus stelle ich mir folgendermaßen vor: Der Fürst legte sich mit der akademischen Zunft nur im Notfall an, des zähen Streites wegen, der sich erfahrungsgemäß daraus entwickelte. Zudem besaß die Universität das Druckmittel des Auszugs. Auch fühlte man sich nicht kompetent in Fragen der Wissenschaft, ob dieser oder jener, wußte man's wirklich besser? Und was machte es am Ende schon aus? Bequemer war es, dem Vorschlag der Universität zu folgen. Daraus entwickelte sich eine Gewohnheit und aus der Gewohnheit das Recht. 78 In Mainz wurde der erste Jude 1788 promoviert.
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-jedenfalls soweit sie ergiebig waren. gleiche vortrugen, oder gar mit Einern unbestallten Doktor blieb Rangniederen konkurrieren mußten. zwar theoretisch das Recht zu lesen, aber praktisch mußte er dabei verIch fasse zusammen: Die deutschen hungern. Und selbst das formale Le- Universitäten übernahmen von Paris serecht stand ihm nicht ohne weitedas Zunftwesen. Weil sie arm waren, res zu, er mußte es durch ein Gesuch mußten sie einen Teil der Professoum Aufnahme in die Fakultät erbitren besolden. Diesen besoldeten Maten. Die Ordinarien hatten damit das gistern gelang es, Macht und EinZunftprinzip der gesicherten Nahkommen an sich zu reißen und ihre rung auf ihre Gruppe beschränkt. Zunft gegen die anderen Magister Eine weitere Neuerung schlich sich abzuschließen. Damit einher ging die ein: Wurden anfangs die Vorlesungen Erfindung des Lehrstuhles. zu Beginn des Semesters unter den Was heißt, die besoldeten Magister (die Lehrstuhlinhaber) schlossen ihre Lehrberechtigten ausgelost, so fand man es bald bequemer, jedes SemesZunft ab? ter den gleichen Surms zu lesen. JeEs heißt, daß die Zahl der Lehrstühdem Besoldeten wurde also eine bele fest blieb, und sich nicht zwangsläufig vermehrte wie die der Magisstimmte Vorlesung zugeteilt. Da der ter und Doktoren 79 • Damit war eine Ordinarius eine bestimmte Pfründe der Folgen des ersten Konstruktionsbesaß, sein Nachfolger die gleiche Pfründe erhielt und die gleiche Vor- fehlers außer Kraft gesetzt worden: lesung hielt, klebten im Laufe der Der Schneeballeffekt und das Gesetz Zeit Vorlesung und Pfründe aneinanvon der exponentiellen Zunahme der Gradierenden 8°. der. Mit der Zuordnung bestimmter Vor- Aber dafür traten andere Probleme lesungen und bestimmter Pfründen auf. Der Schneeballeffekt hatte - innerauf einen Ordinarius war jene behalb der Universität - zu einem Wettrühmte und begehrte Institution entbewerb um Studenten geführt. In der standen, die die Universität heute charakterisiert: Der Lehrstuhl. abgeschlossenen Zunft der LehrDer Lehrstuhl hatte nicht nur den stuhlinhaber, der Ordinarien, fiel der Vorteilder Arbeitsersparnis, er unterWettbewerbsdruck weg. Jetzt durfte band auch die Konkurrenz zwischen man ein Leben lang den soliden herden Ordinarien. Es kam nicht mehr kömmlichen Wissensstoff auf solide vor, daß zwei Professoren über das herkömmliche Art vortragen. Jetzt 79 Ein eminent zünftiger Gedanke: Auch die Handwerkszünfte strebten danach, die Zahl der Meisterstellen zu begrenzen. 80 Die lukrativen, für die Grade notwendigen Vorlesungen dürften schon in Paris und im 13. Jhd. inoffiziell in die Hände der mit Kollegien und Pfründen ausgestatteten Magister gefallen sein, so daß der Schutz vor dem Schneeballeffekt keine deutsche Erfindung ist. Ich vermute, daß die deutschen Magister, die ja großteils aus Paris kamen und die Pariser Verhältnisse auf ihre deutschen Universitäten übertrugen, diesen Anspruch lediglich verschärften und formal durchsetzten.
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wurde nicht mehr teures Papier für den Ehrgeiz verschwendet, unangreifbare Autoritäten anzugreifen oder gar sich selbst als Autorität aufzustellen. Nun fiel es noch leichter, Schwarmgeister und Neuerer auszuschließen. Denn früher hatte man ja solche gelegentlich zum Lehrkörper zulassen müssen, um die Doktorgebühren nicht zu verlieren. Jetzt konnte man den Herren Feuerkopf und Schnellmaul ohne weiteres den Titel geben, die Gebühren kassieren, und blieb doch unter sich und Schnellmäulchen mußte abziehen. Herrliche Ruhe herrschte an der Universität. Das schon jahrhundertelang Gelehrte wurde noch weitere Jahrhunder-
te gelehrt: Nach den Leipziger Kollegiats-Statuten durfte kein Kollegiat Sätze aufstellen, die der Mehrheit der Kollegiaten mißfielen. Wer es dennoch, tat verlor Tisch und Einkünfte. In Heidelberg wurde jeder neue Magister eidlich verpflichtet, die Worte des Aristoteles und seines Kommentators als Wahrheiten zu verkünden. Die Fakultät schrieb auch das Buch, den Kommentar, die Glosse vor, die zu lesen waren. Zum Lesen mußten die Professoren Mantel und Barett tragen. Der Ruhe besonders zuträglich ist es, sich mit ruhebedürftigen Geistern zu umgeben. Solche pflegten die abgeschlossenen Zünfte denn auch zu kooptieren. Die unruhigen Köpfejener
81 Georgius Agricola oder Georg Pawer, geb, 1494 in Glauchau, studierte in Leipzig und wurde dann Lehrer an der Zwickauer Stadtschule. 1522-26 hielt er sich in Italien auf und erwarb dort den medizinischen Doktor. Danach ließ er sich als Stadtarzt in St. Joachimsthal nieder und beschäftigte sich mit Bergbau. 1534 wurde er Stadtarzt und zeitweise Bürgenneister in Chemnitz. Dort starb er 1555. Er hat zahlreiche Bücher verfaßt (Vom Bergwerck, De re metallica, Maße und Gewichte etc.) und gilt als geistiger Vater der Bergbauwissenschaft und der Mineralogie. 82 Erasmus (1466-1536), als uneheliches Kind eines Geistlichen und einer Arzttochter in Rotterdam geboren, war eigentlich nicht zunftfähig, dennoch wurde er 1533, auf der Höhe seines Ruhms, als „theologiae professor" in die Freiburger Universität aufgenommen und sogar in den Senat gewählt. Vorlesungen hat er allerdings keine gehalten und auch von anderen Tätigkeiten für die Universität ist nichts bekannt. Erasmus diente den Freiburgern wohl nur als Zierat und dies nur bis 1535, dann zog er zurück nach Basel. 83 Albrecht Dürer (urspr. Ajtos) war der Sohn eines aus Ungarn zugewanderten Juweliers, der die Tochter seines Lehrherrn, Hieronymus Holfer, geheiratet hatte. Das Paar hatte 18 Kinder und Albrecht, geb 1471, war das dritte. Er besuchte die Lateinschule und machte bei seinem Vater die Lehre zum Goldschmied. 1486 wurde Albrecht Lehrling bei dem Maler und Holzschnitzer Michael Wolgemut. Danach bereiste er Süddeutschland. 1494, zurück in Nürnberg, heiratete Dürer Agnes Frey und 200 Gulden und machte sich dann alleine auf nach Italien. Wieder in Nürnberg begann Dürer Mathematik zu studieren, dies vielleicht mit Hilfe von Hauslehrern (Nürnberg hatte keine Universität) anscheinend aber weitgehend autodidaktisch. Von 1505-1507, nun schon berühmt, reiste Dürer ein zweitesmal nach Italien, der Mathematik wegen, die er bei Künstlerkollegen (z.B. Barbari) vertiefte. 1508, zurück in Nürnberg, begann Dürer über Mathematik zu schreiben. Erschienen ist u.a. die „Unterweisung der Messung mit dem Zirkel und Richtscheit", eines der ersten Mathematikbücher in Deutsch. Dürer war nicht nur Maler, er war auch einer der bedeutendsten Mathematiker der Renaissance. Mit Universitäten hatte er nie etwas am Hut - zu seinem Glück: er hätte dort
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Zeit wie Georgius Agricola 81 , Erasmus v Rotterdam82 , Albrecht Dürer83 , Leonardo da Vinci84 und Regiomontan 85 blieben außerhalb. Wenn einer Fakultät doch ein geistiger Unruhestifter aufgezwungen wurde, so machte man dem das Leben schwer. Man kann es geradezu als Regel aufstellen: Je origineller ein Kopf,desto größere Schwierigkeiten hatte er an (und mit) der Universität. Die Folge der abgeschlossenen Zunft war also, daß die Universitäten mit rasender Geschwindigkeit verfielen. Schon eine Generation nach der Gründung war ihr geistiges Leben erstam, wie ein Esel zwei Tage nach dem letzten Atemzug. Dies fiel schon den Zeitgenossen auf. Sebastian Brant (1457-1521), Professor in Basel, schrieb:
Auch ists der Fehl der Professoren die Wissenschaft nicht hochzuschätzen zu sinnen nur auf nutzlos Schwätzen Sind sie nicht Narrn und völlig töricht die Tag und Nacht mit diesem Kehricht wie sich so anderen Qual bereiten und nicht zu beßrer Lehre schreiten? Auf die Art geht die Jugend hin zu Leipzig, Erfurt oder Wien und wie in Mainz so auch in Basel wird heut studiert das gleich Gefasel das auch in Heidelberg man lehrt Mit Schanden man nach Hause kehrt
Die Bürger Wiens klagten 1494 beim Rektor über die medizinische Fakul-
wegen seiner nicht gewöhnlichen Eitelkeit die größten Probleme bekommen. Dennoch verkehrte er mit Professoren, so mit Philipp Melanchthon, der sich wunderte, daß ein bloßer Maler dem studierten Pirckheimer in Diskussionen überlegen war. Dürer starb 1528 in Nürnberg. 84 Leonardo da Vinci wurde 1452 als uneheliches Kind eines Notars und einer Bauerntochter in der Nähe von Florenz geboren. Leonardo besuchte eine Lateinschule, und machte dann in Florenz eine Lehre bei Andrea Verrochio. 1472 nahm man ihn in die Malerzunft auf. 1482 ging Leonardo nach Mailand wo er 18 Jahre lang für Ludwig Sforza arbeitete. Dort begann er sich für Mechanik, Anatomie, Biologie, Mathematik und Physik zu interessieren. Näheren Kontakt zu einer Universität hatte er nicht: Mailand hatte damals keine. Leonardos Interesse für wissenschaftliche Grundlagen sollte im Laufe seines Lebens zunehmen und ihm schließlich wichtiger werden als das Zeichnen. 1499 verließ er Mailand und wanderte nach Florenz, um 1506 zurückzukehren. 1513 ging es nach Rom. Ab 1516/17 diente Leonardo König Franz I von Frankreich als architektonischer Berater. Leonardo da Vinci starb 1519 bei Cloux. 85 Als Johannes Müller 1436 in Königsberg/Franken geboren. Regiomontan begann im Alter von 11 Jahren an der Leipziger Artistenfakultät Astronomie und Mathematik zu studieren. 1450 wechselte er an die Universität Wien. 1452 erwarb er dort das Baccalaureat, wurde 1457 Magisterregens und lehrte Mathematik und Philologie. 1461 verließ Regiomontan die Universität und zog im Gefolge eines Kardinals nach Rom, danach nach Ungarn und schließlich nach Nürnberg. In dieser Zeit entstanden seine wichtigen Werke: die astronomischen Tafeln, die Konstruktion von Beobachtungsinstrumenten, sein Observatorium, der 57jährige Kalender. 1475 reiste Müller nach Rom, um an einer Kalenderreform teilzunehmen. Er starb jedoch schon 1476 an einer Seuche.
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Die deutsche Universität im 15. Jhd. Senat Oberste Behörde: Ausschuß der Ordinarien der oberen Fakultäten und besoldeten Magister
Vollversammlia,g
Rektor
(alle Ma11iste.rund höchste Gewah Ord •nam) beaufsichtigt Rechnungs-
wesen, ve,wahetVermögen, richtet.
Kanzler vergibt die Lizenz
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Medizin
Quereinstieg für reiche Adlige mit ~ Privatlehrer (Präzeptor ~
Baccalare
besoldeteMagister(Magistricollegiali) unbesoldeteMagister(Magistriregentes) Aussteiger: Schreiber, Hauslehrer, Söldner, Poeten und andere Herumtreiber
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tät. Die Doktoren seien des Vertrauens unwürdig und unersättlich habsüchtig. Dieser Ansicht war anscheinend auch der Dekan. Er schrieb im gleichen Jahr in sein Dekanatsbuch: Wir machen nur Worte,führen aber keine Reform durch. Es ist alles in Schlaffheit und Trägheit versunken, und durchunserGezänkist es denBürgern bekannt geworden, daß wir gar nichts wissen,daß wir nur Wortemachen und um Wortestreiten, daß wir nichts lehren,was die Schülerfördern 50
könnte, sondern nur die Bücherlesen, schläfrigüber dem Pulte murmelnd. In einem Gutachten, das Kurfürst Ludwig 1522 über die Universität Heidelberg erstellen ließ, hieß es: die zu meiner Studienzeit in derArtistenfakultät herrschendeUnterrichtsweise war die denkbar schlechteste.Man möchteglauben,daß sie eigenszu dem Zweck ersonnensei, um die Geisterzu verderbenund dieZeit zu vertun. Man lasdenAristotelesin einerlateinischen Übersetzung,die von einemMenschen
herrü.hrte,derebensowenigLateinwie Griechischverstanden hatte und weder der Professor,der die Vorlesung hielt, noch seine Zuhörer verstanden etwas davon.86 Erasmus schrieb über die theologische Lehre an den Universitäten 87 : Im glücklichenVollbesitzihrerPhilautia thronen sie gleichsam im dritten Himmel und blicken auf alle Sterblichen wie auf Erdenwünner herab, ja bemitleidensiefast. Umgebenvon einer starken Schanze von Haupt· und Grunddefinitionen,von Schlüssenund Folgerungen,von speziellenund allgemeinen Obersätzen,finden sie so vieleAusflüchte, daß selbst Vulkan nicht imstande wäre, sie mit seinen Netzen festzuhalten. Sie entschlüpfenstets mit HilfeihrerDistinktionen,durchdie sie jeden Knoten leichter trennen, als es das Beil des Tenedosvennag; ist ihre Waffe doch aus allen möglichen geklügelten und ungeheuerlichenAusdrücken zusammengeschmiedet. Das erkennt ihr recht deutlich, wenn sie nach ihrem Gutdünkendie tiefstenGeheimnisse erläutern. Handelt es sich um die Schöpfungund Anordnung der Welt, um die Fortpflanzung der Erbsünde, um die räumlicheund zeitliche Bestimmung der Menschwerdung Christi oder um die Möglichkeit des von ihrer Substanz getrennten Beste· hens der Akzidenzien im Abendmahl, so sind das völlig abgedroscheneThematafür Anfänger.Jener großen und, wie sie sich nennen, erleuchtetenMeister der Theologiesind nur Fragenwürdig wie diefolgenden, bei deren Erörterung sie gleichsam von neuem auf• leben: ,,Kann man bei der göttlichen
Zeugung einen meßbaren Augenblick unterscheiden?"• ,,Stammt Christus aus mehrerenEhen?"• ,,Istjener Satz: Gott, der Vater, haßt seinen Sohn, möglich?"• Ist es denkbar, daß Gott von seiner Personeinem Weibemitgeteilt hat oder dem Teufel oder einem Esel, einem Kürbis, einem Kieselstein?"• ,,Wiewürde ein solcher Kürbisdas Evangeliumpredigen,wie würde er Wunder tun, wie ans Kreuz geschlagen werden?"• Worüber würde Petrus den Segen gesprochen haben, wenn er gesegnet hätte, als der Leib Christi noch am Kreuze hing?" • ,,Konnteman zu ebenjener Zeit sagen, daß derHeilandnoch ein Menschsei?" ,,Wirdes nach derAuferstehunggestattet sein, wie vorher zu essen und zu trinken?" DieseMagen.fragemöchten dieHerrenam liebstenschonjetzt entschiedenwissen... [...] Selbst ich muß bisweilendarüber lachen,daß sich die Theologenerst dann als vollkommen betrachten,wenn sie in ihrem garstigen Kauderwelsch so konfuses Zeug zusammenreden,daß sie höchstensein Verrü.ckterverstehen kann; denn was der Menge unverständlich ist, halten siefür den Gipfeldes Scharfsinns. Sie behaupten,es heiße die Würdeder heiligen Schrift herabsetzen, wenn man sie den Regeln der Grammatik unterwerfen wolle. Fürwahr die Majestät der Theologen ist erhaben, wenn es ihnen allein.freisteht,Sprachfehlerzu machen, und dabei teilen sie dieses Vorrecht doch mit vielen Tagelöhnern... Wie schon gesagt: Im Lehrstoff der Universitäten änderte sich wenig.
86 Ähnliches hatte • Sie erinnern sich?· schon Bacon beklagt. 87 Im Lob der Theologen.
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Gelegentlich wechselten die Vorlieben für die Autoritäten, man zog z.B. den Hippokrates dem Galen vor oder den Aristoteles dem Platon. Aber eines änderte sich doch: Mit der Renaissance bekam man das schlechte Latein über. Der Humanismus kam auf. Dessen Idee war, das Wissen aus den originalen Schriften der Alten zu ziehen und nicht mehr aus schlechten Übersetzungen oder aus Kommentaren 88 . Der Humanist sah in der klassischen Antike das Vorbild vollendeten Menschentums 89 . Es ging diese Bewegung nicht von den Universitäten aus. Die sind ja von ihrer Konstruktion her - siehe Gesetz der Erstarrung der Universität neuerungsfeindlich. Der Humanismus entwickelte sich außerhalb der Universitäten und wurde ihnen von den Landesherren aufgezwungen. Meistens beriefen diese dazu einen Extraordinarius. Wenn nun auch die Humanisten die Scholastiker gründlich als Küchenlateiner verachteten, sie selbst spekulierten ebenfalls in den blauen Lüften herum, nur eben
in gutem Latein. Wobei man sich, dies vielleicht neu, in Vorworten gegenseitig lobte, in der Erwartung, daß der Gelobte auch seinerseits loben würde und man sich so gegenseitig berühmt mache. Frucht und Höhepunkt des Humanismus ist der frühstückseierbärtige, bebrillte Gymnasialordinarius des 19. Jhds., für den sein Studienfach und dessen Vertreter die kulturelle Essenz des Abendlandes darstellten. Nicht immer waren die Früchte der neuen Bewegung so köstlich. In der Medizin verfestigte die neue Ehrfurcht vor den antiken Texten die alte Autoritätengläubigkeit, man hing jetzt noch buchstabengläubiger an Galen und Hippokrates als zuvor. Nur daß man den Galen im Original las. Die Überprüfung der Methoden am Patienten galt als Blasphemie, als Angriff auf die Autorität der antiken Autoren und ihrer Vertreter an den Universitäten. Abweichler konnten sich gegen die Macht der zünftig organisierten Doktoren nicht durchsetzen.
88 Wie Sie wissen, war diese Idee nicht taufrisch. Schon Roger Bacon hatte sie seinen akademischen Kollegen gepredigt, wenn auch vergebens. Bacon war allerdings im 14. und 15. Jhd. in Vergessenheit geraten. 89 Es ging darum, ein Ideal aufzubauen, dem man nahe stand und das einen dadurch erhöhte und vom gewöhnlichen Volk absetzte. 90 Andreas Vesal aus Wesel gilt als Begründer der modernen Anatomie. Er studierte in Leuwen, Paris und Venedig Medizin und wurde einen Tag nach seinem Doktorexamen, am 6.12.1537, mit 23 Jahren, Professor für Anatomie und Chirurgie in Padua. Diese Universität nahm damals wegen ihrer Freiheit eine Sonderstellung unter den Universitäten ein. 1543 veröffentlichte er in Basel sein anatomisches Werk „De humanis corpora fabrica". Er hatte damit den Galen quasi neu geschrieben und das Buch war eine Sensation. Ein Jahr später machte ihn Karl V zu seinem Leibarzt. Die medizinischen Fakultäten jedoch griffen ihn mit Erbitterung an. Er wurde bei der Inquisition angezeigt: sein Werk weiche von Galen ab und stimme nicht mir der Bibel überein. So behaupte Vesal, daß der Mann links und rechts die gleiche Zahl Rippen besitze, wo doch Gott dem Adam eine Rippe entnommen habe, um daraus die Eva zu machen. Vesal wurde anscheinend zum Tode verurteilt, aber zu einer Bußreise nach Jerusalem begnadigt. Auf dieser Reise soll er ums Leben gekommen sein.
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Der Anatom Vesalius (1514-1564) 90 beschreibt den medizinischen Unterricht seiner Zeit: Nach unserem verachtenswürdigen Unterrichtssystem gibt der Lehrer,während ein anderer die Sektion der menschlichenLeiche durchführt, eine literarischeBeschreibung der verschiedenenKörperteile. DerDozent steht hoch auf seinem Podium und doziert mit sichtlicherVerachtung über Tatsachen,die er aus eigenerErfahrungnicht kennt, sondern aus Büchern anderer auswendig gelernt hat oder gar aus dem vor ihm liegenden Buche abliest. Diejenigen, die die Autopsie durchführen,sind so unwissend, daß sie nicht in der Lage sind, den Schülerndie von ihnen präparierten Teilezu zeigenund zu erklären; und da der Professornie die Leiche berührt und seinerseitsder Bader die lateinischenBezeichnungennicht kennt und daher der Reihenfolgedes Vortragsnicht folgen kann, arbeitet jeder auf eigeneFaust.Auf diese Weise ist der Unterrichtsehrschlecht;ganze Tagegehen durchunsinnigeFragen verloren;und in diesem Durcheinander lernt der Student weniger,als ein Metzger den Professorlehren könnte. Die universitäre Medizin hatte bis weit ins 19. Jhd. hinein eher schlechtere Ergebnisse aufzuweisen, als die von ihr als Pfuscher verteufelten Kräuterweibchen, Wunderheiler und Gesundbeter. In der Tat unterschieden sich Pfuscher und akademische Doktoren nur in zwei Punkten. Die Doktoren waren zünftig organisiert und dadurch legitimiert, die Quacksalber nicht. Der zweite Punkt war
der Punkto punkti: Einen Pfuscher konnten sich auch Gewöhnliche leisten, die Doktoren waren für die Reichen da, ihre Pfründen glänzten fett und von den Honoraren triefte der Saft. Hier spielten die universitären Mediziner die segensreiche Rolle der ausgleichenden Gerechtigkeit und sie spielten sie mit Eifer, bis auf die Fälle, wo die suggestive Kraft der hohen Honorare und teuren Arzneien (was teuer ist, muß gut sein) tatsächlich das verlorene Wohlbefinden wiederherstellte. VorPasteur (1822-1895) war die Medizin das, was sie zu bekämpfen vorgab: Eine Krankheit, Helferin des Wundbrands, Dienerin des Kindbettfiebers. Die medizinischen Fakultäten haben nicht nur nichts geleistet, sie haben verhindert, daß andere etwas leisteten. Nehmen wir z.B. Paracelsus (14931541). Der war in vielem, ja fast in allem, ein mystischer Wirrkopf, aber er hat vorgeschlagen, nicht hinter den Büchern zu sitzen, sondern die Natur zu beobachten: Das Experiment sei wichtig, nicht die Bücher 91 . Es kann doch ein Hundschläger aus Büchern nit lernen, einen Hund zu schinden. Mit echten Erkenntnissen allerdings war es bei Paracelsus nicht weit her. Er soll bei Operationen Äther, das süße Vitriol, als Narkotikum benutzt haben, aber sicher ist das nicht. Des weiteren hat er den Gebrauch des Guajakholzes gegen Syphilis als Beutelschneiderei bezeichnet, doch seine Arznei, Quecksilbersalbe, hat gegen die Syphilis eben-
91 Nicht hur hierin, auch in seiner Forderung nach einer Reform des Studiums ähnelt er Roger Bacon. Auch neigten beide zu Mystizismus und Astrologie. Allerdings hat Letzteres bei Paracelsus einen weit größeren Platz eingenommen als bei Bacon.
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falls nicht viel ausgerichtet und war zudem giftig92 • Sein beriihmter Satz Alle Ding sind Gift und nichts ist ohn Gift; alein die Dosis macht das ein Ding kein Gift ist wird gerne als Grundlage der Toxikologie und der Dosis-Wirkungskurvegefeiert, allein Paracelsus mag das ganz anders gemeint haben, als wir das heute verstehen. 93 Anatomie hielt er für wertlos und für einen, der die Wahrheit in der Natur und nicht in Büchern sucht, hat er verdächtig viele verfaßt. Und was für welche! Sturzbäche von Tinte über Hekatomben von Papier, verriihrt zu einem dunklen, krausen, mystisch-esoterischen Gewäsch, gegen das sich die Ergüsse seiner akademischen Gegner geradezu aufgeklärt ausnehmen. Was schließlich den Dogmatismus betrifft, den er ihnen vorwarf, so war darin auch er ein Meister. Zu Recht dient Paracelsus den heutigen Gesundheitsmystikern und Rübenaposteln als Galionsfigur. Immerhin: Seine unermüdlichen Angriffe auf die Medizin und deren kanonisches Denken erschütterten die Büsten des GaJen und des Hippokrates, und wenn auch Paracelsus selber den mühsamen Weg des Experimentes nur selten beschritt und noch seltener handfeste Ergebnisse vorweisen konnte, so wies er doch den Weg dorthin. Es wird niemanden wundem, daß es
diesem Mann an der Universität schlecht erging. Ein Abriß seiner Karriere: Geboren wurde Paracelsus 1493, im schweizerischen Einsiedeln, als Sohn des Wilhelm Bombastus v Hohenheim. Dieser Wilhelm entstammte dem schwäbischen Adelsgeschlecht derer v Hohenheim, war aber unehelich geboren worden und mußte daher als Arzt arbeiten. Die Mutter des Paracelsus war eine Leibeigene des Klosters Einsiedeln und soll gleich nach der Geburt gestorben sein. Der Sohn erhielt die erste Ausbildung vom Vater und, nachdem die beiden 1502 nach Villach gezogen waren, in der dortigen Stadt- und Klosterschule. Mit 14 oder 15 Jahren zog Paracelsus an verschiedene deutsche Universitäten, wo er Philosophie und Medizin studierte. Bald mißfiel ihm der Lehrbetrieb und daher ging er 1513 nach Ferrara, wo, wie er glaubte, Besseres gelehrt werde. Vermutlich haben ihn auch die Italiener enttäuscht, jedenfalls verließ er Ferrara 1517 und reiste dann in Europa umher. 1524 ließ er sich in Salzburg nieder, floh aber 1525 weil er in die Bauernaufstände verwickelt war. 1526 erwarb Paracelsus das Bürgerrecht in Straßburg. Die ganze Zeit hatte er, ein zweiter Luther, gegen die Medizin der Universitäten gewettert. Jetzt sollte es
92 Paracelsus war auch nicht der erste, der Quecksilber gegen Syphilis empfohlen hat. Diese Ehre kommt für Deutschland dem Nürnberger Stadtarzt Hartmann Schedel zu (um 1496). Quecksilber wurde bis zur Erfindung des Salvarsans durch Paul Ehrlich verwendet. 93 Verdächtig ist, daß Paracelsus von „Ding" redet und nicht von Substanz, Element oder Arznei. Hinter „Ding" und „Gift" stehen vermutlich alchemistische Begriffe und unter „Dosis" verstand er den Ausgleich zwischen „prima materia" und ihrer „essentia", Begriffe von weitester Bedeutung, die mit dem schlichten Begriff Dosis, wie ihn ein heutiger Biochemiker oder Pharmazeut versteht, nichts zu tun haben. (Nach William Krieger) Mit anderen Worten: Der Satz klingt vernünftig, doch dahinter steckt Mystizimus.
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ihm geschehen, an eine berufen zu werden. Wie ging das zu? Paracelsus hatte das Glück, den Basler Buchdrucker Froben von einer Beininfektion zu heilen oder wenigstens ging die Infektion während seiner Behandlung zurück. Der dankbare Froben und auch Erasmus machten ihren Einfluß beim Basler Stadrat geltend und der zwang den Paracelsus 1527 der Basler Universität als Professor auf. Das machte in der Fakultät kein gutes Blut, und statt demütig zu versuchen, die Wellen zu glätten, forderte der Hergelaufene die ehrwürdigen Herren heraus. Über die innere Medizin las er zwar in Latein, über Chirurgie aber in Deutsch 94 und nicht im vorgeschriebenen akademischen Habit, sondern in der Lederschürze der Alchemisten. Dies war unerhört und unerträglich sein Prahlen, er sei der erste, der das gewagt habe. Zudem widersprach er bei jeder Gelegenheit den erwiese-
nen Weisheiten der medizinischen Zunft und setzte endlich der Frechheit die Krone auf, indem er die Studenten dazu anstiftete, symbolisch Avicennas Canon ins Mitsommernachtsfeuer zu werfen. Nun geht der Krug solange zum Brunnen, bis er bricht, und bei Paracelsus brach er schon im Jahr darauf. Proben starb, des Paracelsus Heileraura starb mit und die süßsauren Mienen der Fakultätskollegen verzogen sich ins entschieden saure. Sie forderten ihn auf, seine Doktorurkunde vorzulegen, und da er keine hatte 95 , verschwand er bei Nacht und Nebel aus der Stadt - was eine seiner wenigen weisen Basler Taten gewesen sein dürfte. Selbstverständlich war dies seine erste und letzte „Berufung" auf eine Universität, nicht aber seine letzte Schwierigkeit mit einer solchen. So hintertrieb die Leipziger medizinische Fakultät den Druck seiner Bücher 96 . Paracelsus hat bis zu seinem Tod97
94 Chirurgie wurde zwar von Akademikern gehört und gelesen, aber von Barbieren und Wundärzten betrieben. Die verstanden oft kein Latein und bezogen ihr Wissen aus einer Lehre. Vielleicht wollte Paracelsus mit seinen deutschen Vorlesungen die Basler Barbiere und Wundärzte in seine Vorlesungen ziehen. Titel der Vorlesung war: Geschwüre, offene Wunden und andere Gewächse am Leib, woher ihr Ursprung, was ihr Wesen, ihre Form, Zeichung und Endung, samt wahrhaftiger Kur derselben. 95 Wie schon erwähnt, hatte Paracelsus in Ferrara Medizin studiert, aber es ist nicht bekannt, ob er dort einen Grad erworben hat. Vermutlich hat er nie einen besessen. 96 Die Leipziger Fakultät verlangte vom Rat der Stadt Nürnberg, wo Paracelsus seine drei Syphilis-Bücher drucken ließ, er möge den Weiterdruck unterbinden. Der Rat gab dem Ansinnen statt. Paracelsus selbst glaubte, hinter dem Verbot stünden die Fugger, die am Guajakholz verdienten, 97 Man liest gelegentlich, daß er an den Folgen eines Anschlags seiner zünftigen Kollegen verstorben sei, allein, das ist Legende, wie so vieles, was über Paracelsus geschrieben steht. So soll er schon in seiner Jugend entmannt worden sein, weswegen ihm auch kein Bart gewachsen sei und er Frauen gehaßt habe. Aber der einzige „Beleg" für diesen Frauenhaß ist meines Wissens die Tatsache, daß er nie verheiratet war. Ist das erstaunlich bei seinem Wanderleben? Des weiteren soll Paracelsus gestottert haben (nach Johannes Schaber in www.bautz.de). Wie das nachgewiesen wurde, ist mir unbekannt.
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1541 so gut wie nichts bewegt, es gelang ihm nicht einmal, die Äthernarkose einzuführen (wenn er sie denn wirklich erfunden hat). 98 Nun war man zu jenen Zeiten nicht wehleidig. Die Schmerzen, nunja, da brüllte man sich halt den Rachen wund. Schlimmer war, wenn man still wurde, wenn nach der Operation Wundbrand auftrat. Infektionen wären schon mit den damaligen Mitteln zu verhindern gewesen. Unglücklicherweise hatten aber weder Galen, noch Hippokrates von Sauberkeit bei Operationen geschrieben, also konnte sie nicht wichtig sein. Noch Anfang des 19. Jhds. galt der blutige, mit Schleim und Eiter bedeckte Operationskittel als Ehrenkleid des Chirurgen. Es war zum wahnsinnig werden und die ersten beiden, die dagegen einschritten, sind es auch geworden. Ein Assistenzarzt, namens Ignaz Semmelweis (1818-1865), fand 1847 heraus, daß die extrem hohe Sterberate im Wiener Gebärhaus ihre Ursache in den Fingern der Ärzte und Studenten hatte. Die pflegten, nach ihren Sezierübungen, mit ungewaschenen Händen in die Krankensäle zu marschieren und dort die Schwangeren zu untersuchen. Semmelweis führte die Chlorkalkdesinfektion der Hände ein und die Sterberate sank prompt und drastisch. Seine Kollegen an der Wiener Fakultät jedoch folgten ihm nicht, obwohl er systematisch andere Krankheitsursachen ausgeschlossen hatte. Semmelweis verlor sogar seine Stelle nicht wegen des Händewaschens,
sondern weil er an der 48er Revolution beteiligt war. 1850 durfte er vor der Gesellschaft der Ärzte einen Vortrag über seine Entdeckung halten und man bot ihm eine Dozentur für „Theoretische Geburtshilfe" an. Das muß großzügig genannt werden angesichts der Tatsache, daß ihm keiner glaubte, und er bei Vorträgen stotterte wie ein Schuljunge. Nun hatte aber der gute Semmelweis auf einen Lehrstuhl gehofft und wutentbrannt schmiß er Löffel und Skalpell hin und zog nach Pest. Dort, am St. Rochus Krankenhaus, führte er ebenfalls das Waschen ein und senkte die Sterblichkeit an Kindbettfieber, die bei 33% lag, fast auf null. Überzeugen konnte er auch damit nicht, und die Briefe „Das Morden muß aufhören!", mit denen er die Geburtshelfer in ganz Europa belästigte, fanden die Herren unhöflich. Trotzdem erhielt er 1855 einen Lehrstuhl in Pest. Wie das geschehen konnte, müßte noch untersucht werden, aber vielleicht war Semmelweis, bis auf den Sparren mit dem Chlorkalk, gar nicht so unverträglich. An dem allerdings hielt er zähe fest, so in seiner 1861 erschienenen ,,Ätiologie, Begriff und Prophylaxe des Kindbettfiebers". Semmelweis stürzte sich in Unkosten und verschickte das Buch an jeden Mediziner mit Rang. Vergebens. Überzeugender als Fakten wirkt Menschliches und da schnitt Semmelweis nicht gut ab. Durch Contenance, seelische Ruhe, zeichne sich Herr Semmelweis nicht aus, hieß es und mit Recht. 1865 infizierte er sich bei einer Ope-
98 Eingeführt in die medizinische Praxis wurde die Äthemarkose erst 1846
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ration an der Hand, erlitt einen Nervenzusammenbruch und wurde in die Irren-, Heil- und Pflegeanstalt Wien verbracht. Dort starb er am 13.8.1865. Ganz so ein schlechter Apostel war Semmelweis übrigens nicht. Einen Proselyten hatte er schon in seinen frühen Jahren gemacht: den Kieler Hochschullehrer Gustav Adolph Michaelis (1798-1848). Auch der wusch sich die Hände mit Chlorkalk, auch der hatte durchschlagenden Erfolg, auch der wurde ignoriert. Mit der Contenance war es bei ihm allerdings noch weniger her als bei Semmelweis: Angesichts des Massenmordes in den Kliniken seiner Kollegen verfiel Michaelis der Schwermut und brachte sich um. Der Durchbruch kam erst 1867 mit den Untersuchungen von Louis Pasteur. Die Mediziner der alten Universität waren autoritätengläubige Bücherausleger, heillose Schwafler, die aus den antiken Texten auf Krebstherapie oder Magengeschwüre spekulierten, so wie die Theologen aus der Bibel auf die Erektionsfähigkeit ihrer Götter. Die Blüten und Früchte des philologischen Scharfsinns waren die Säftelehre, der Aderlass, das Kauterisieren von Wunden mit Brenneisen oder siedendem Öl, das Einlegen von
Haarseilen, um den Eiterfluß zu fördern, das Schröpfen und Purgieren. Wehe, es wich einer ab von den geheiligten Autoren. Dann steckten sie die Köpfe zusammen, die bewährten Uringucker und Scheißeschmecker Geld stinkt doch - rieben die schwarzen Roben aneinander, nickten mit den Quadratmützen und bestätigten sich gegenseitig tiefe geistige Durchdringung des Faches, dem Kollegen aber platte Ansichten und noch plattere Aussichten. Reste dieser hochfliegenden Gedankenlust, des Primats des Geistes, haben sich bis heute erhalten. Die naturwissenschaftliche Denkweise jedenfalls gedeiht in der Medizin schlecht 99 • So ist nur für etwa 20% der modernen Heilmittel eine Wirkung 100 nachgewiesen, viele Therapien haben okkulten Charakter. Die Ärzte sind fast noch anfälliger für Homöopathie, Akupunktur, Bachblüten und Geistheilung als ihre Patienten und das nicht nur des Geldes wegen, das sich damit verdienen läßt. Ach, das Geld! Das Geld, das heute in der Medizin für esoterische Spekulation und drittklassige Forschung verschwendet wird: Wenn es die Bestattungsunternehmer bekämen, in goldenen Särgen könnten sie die Patienten beerdigen. Wolkenkukucksheimeeloquenter Un-
99 Ein Beispiel: Die Herausgeber der Medizinischen Klinik, eines Fachjournals für Ärzte, ließen 1998 die wissenschaftlichen Publikationen ihres Journals begutachten (Medizinische Klinik, Bd. 94, 1, 1999). Das Ergebnis: Die 132 untersuchten Arbeiten erfüllten die Anforderungen an methodisch hochwertige, kontrollierte Studien „nicht oder nicht befriedigend". Die Liste der gefundenen Mängel ist lang: Sie reicht von simplen Rechenfehlern über fehlende Angaben zu den angewendeten Verfahren. In zahlreichen Studien haben die Autoren zudem Patienten ohne weitere Begründung von der Auswertung ausgeschlossen und so die Ergebnisse verändert. (Süddeutsche Zeitung) 100 Walter A. Brown in Spektrum der Wissenschaft, März 1998, S 68.
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wissenheit waren sie, die alten medizinischen Fakultäten, Zuchtschulen von Intriganten und Pfriindenjägern. Sie trieben - in Denkweise und Methoden -was heute Alternativ-Medizin heißt. Bis Ende des 19. Jhds. bestand das wirksamste Heilmittel in einem Hausverbot für Ärzte. Aber ich gerate ins Moralisieren. Wenden wir uns lieber einem anderen Fach zu, der Juristei. Hier brachte die Universität, es sei anerkannt, Umtrieb und Geschäft. Es ist vielleicht kein Zufall, daß, zumindest in Deutschland, Hexenprozesse und Universitäten ungefähr gleichzeitig aufkamen. An den Prozessen waren, neben der Kirche, maßgeblich die akademisch gebildeten Juristen und Theologen beteiligt: Erst mit der Lehr-und Rechtfertigungsschrift zweier Universitätsprofessoren, dem Hexenhammer 101 , entwickelte sich der Wahn zum Flächenbrand. Es war das erste Mal, daß intellektuelles Spekulationswerk praktische Anwendung fand 102 • Der Hexenhammer argumentiert mit der Bibel, Augustinus und mit Thomas v Aquin und ist ein typisches Kind der Wissenschaft seiner Zeit. Was Logik,Auslegungskunst und Absicherung durch Autoritäten betrifft, steht das Buch sogar über dem
Durchschnitt. Die Fakultät der Universität Köln schrieb dem Hexenhammer denn auch ein nur mit leichten Bedenken versehenes lobendes Gutachten 103 • Das massenhafte Hexenbrennen war nicht die Sache von Bauerntölpeln und Winkeljuristen, entzündet wurden die Scheiterhaufen von den Leuchten der Juristerei. Einer der schärfsten war der Begründer des deutschen Strafrechts, der Fürst der Rechtsgelehrten und Professor der Rechte in Leipzig, Benedikt Carpzov (1595-1666). Regelmäßig holten Hexenjäger bei Universitäten Rechtsgutachten ein. Noch 1706 gibt Johann Klein, Professor des Rechts an der Universität Rostock und Präsident des Mecklenburger Landgerichts, eine Abhandlung heraus, in der er nachweist, daß der Teufeleine fleischliche Verbindung mit Hexen eingehen kann und diese deswegen verbrannt werden müßten. Selbst die höchsten Reichsgerichte, Reichskammergerichtund Reichshofrat, hatten am Hexenbegriff nichts auszusetzen. Zwar verdanken den Einsprüchen des Reichskammergerichts einige Hexen ihr Leben, doch dabei bezweifelte das Gericht nicht den Tatbestand der Hexerei. Es bestand lediglich darauf, daß auch bei
101 Der Hexenhammer, Erstdruck 1487, von Jakob Sprenger und Heinrich Institoris. 102 Die Spekulationen von Gobineau, Marx, Lenin, Stalin endeten ebenfalls in Massenmorden. Bei der Steinerschen Anthroposophie und der Freudschen Psychoanalyse steht diese Periode noch aus, sie haben es noch nicht zur Staatslehre gebracht. 103 Den Autoren war es nicht lobend genug, sie fälschten noch Lobhudelei dazu. 104 Die Halsgerichtsordnung Kaiser Karls V, die Carolina, stammt von 1532. Sie ließ die Folterung von Hexen nur unter bestimmten Bedingungen zu. Die Hexenverfolger jedoch betrachteten die Hexerei als „crimen exceptum", zu dessen Verfolgung man die strafprozessualen Schutzvorschriften außer Kraft setzen dürfe. Diese Vorstellung wurde vom Reichskammergericht bekämpft.
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Hexenprozessen nach der Carolina104 zu verfahren wäre. Die Mehrheit der akademisch gebildeten Juristen war bis ins 18. Jhd. hinein von Hexen und dem Sinn der Hexenprozesse überzeugt. Wenn der Wahn oft ebenso abrupt endete wie er begann, dann nicht der Juristen wegen, sondern weil eine Delinquentin die Folter durchgestanden hatte oder weil den Richtern ob der Uferlosigkeit der Sache schwummrig wurde und sie für ihr eigenes Leben zu fürchten begannen. Jene Juristen, denen der Hexenglauben wider alle Vernunft ging, fanden einen wirkungsvollen Fürsprech erst in ChristianThomasius (1655-1728). 1694, als Referent der juristischen Fakultät der Universität Halle, hatte Thomasius in einem Hexenprozess ein Gutachten zu erstellen. Da ist er noch Anhänger des Carpzov und gutachtet wo nicht mit der Schärfe, doch zum wenigsten mit mäßiger Pein wegen der beschuldigten Hexerei die Delinquenten anzugreifen. Er legt das
Gutachten der Fakultät vor. Diese murrt. Das bringt Thomasius zum Nachdenken. Er dringt in die Materie ein und legt am 12. Nov. 1701 seine Abhandlung De Crimine Magiae
vor. Darin fordert er, alle Hexenprozesse einzustellen, Hexerei sei nur ein fiktives Verbrechen. Erstaunlicherweise hat eine Fakultät des Thomasius Kehrtwende veranlaßt. Erlaubt die Zunftordnung doch gelegentliche Geistesspritzer? Nun, die Universität Halle war erst 1694 gegründet worden, die Zunft noch weich; zudem fehlten gerade in Halle lange Zeit wesentliche Elemente des Zunftwesens. Davon wird noch berichtet werden. Eine latente Bereitschaft zu Hexenprozessen scheint sich in der Juristerei erhalten zu haben. So fühlte sich der Autor im Wormser Kinderschänderprozeß, den er 1993 drei Monate lang verfolgte, ins 17. Jhd. zurückversetzt. Was da bei der Staatsanwaltschaft an Verfolgungswahn hochkochte, an Ignoranz gegen selbst physikalische Fakten, an gläubiger Übernahme feministischer Spekulation, das wurde nur durch die Pseudowissenschaft ihrer psychologischen Gutachter übertroffen 105 . Zur Strafe muß ein Jurist dazu herhalten, das Professorwerden an den deutschen Universitäten des 15. Jhds. mit Fleisch zu füllen.
105 Einen matten Abglanz davon geben die Berichte von Gisela Friedrichs im Spiegel.
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Ein Mann setzt sich durch! 106
Mitte des 15. Jhds. lebte in Konstanz, der freien Reichsstadt, ein Gerber namens Conrad Zäsi 107 . Conrad war arm. Wegen eines Geburtsfehlers - an Conrads linker Hand fehlten die Finger - hatte ihn sein Vater enterbt. Der Conrad, der Krüppel, findet keine Frau und bleibt ohne Nachkommen, hatte der Vater gedacht und den Hauptteil seines Vermögens der Kirche vermacht. Denn wer nicht über die Biologie das ewige Leben erringen kann, versucht es mit der Religion. Nun fand aber der arme Conrad doch eine Frau. Anna Sigwart hieß sie und stammte sogar aus respektabler Familie. Mehr noch: Conrad zeugte einen Jungen. Der wurde im Jahre des Herrn 1461 auf den Namen Huldrych (Ulrich) getauft. Ulrich erweist sich als aufgewecktes Kind, flink mit der Zunge. Den Eltern fällt dies auf. Vater Conrad denkt: „Ich bin ein Krüppel in gedrückten Verhältnissen, aber der Ulrich, der kann mich rächen. Der macht das
Schicksal rückgängig, der steigt die Leiter wieder hinauf." Ulrich darf die Lateinschule besuchen. Er zeichnet sich aus, das Schreiben liegt ihm. Im Alter von 20 Jahren, 1481, kann ihn der Vater auf die Universität nach Tübingen schicken. Mit 20 auf die Universität, das ist spät. Die meisten Studenten immatrikulieren sich schon mit 16, manche sogar mit 14. Aber Vater Conrad konnte halt das Geld nicht aufbringen. Es fällt ihm auch jetzt schwer genug. Er spart sich die Groschen vom Munde ab. Tübingen also. Wo sich die Fachwerkhäuser im Neckar spiegeln. Wo in den engen Gassen zwischen Schloß, Stiftskirche und Kolleg, zwischen Oberstadt und Unterstadt, die Bürger, Gogen und Studenten Lehm und Schweinekot zu zähen Massen stampfen. Ulrich studiert die freien Künste. Auch macht er kleine Gedichte und große Schulden. Am häufigsten aber
106 Als Grundlage diente Rowan, S. ,,Ulrich Zasius", Vittorio Klostermann, Frankfurt a.M. 1987 107 Es ist nicht sicher, daß Konrad Zäsi Gerber war, doch stand sein Haus in der Kreuzlingerstraße vor dem Sehnetztor, dem Konstanzer Gerberviertel. Heute befindet sich dort das Cabaret Corso: Prädikatssekt 80 DM, Bier 17 DM. Täglich von 20° 0 Uhr bis 5° 0 Uhr können Sie dort etlichen Damen beim Ausziehen zuschauen und dabei des Helden dieses Kapitels gedenken, der Sie sicher gerne begleitet hätte.
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schwingt er den Weinkrug. Ein schönes Leben! Und es wäre noch schöner, wenn der Tübinger Wein nicht so sauer wäre. Nebenbei erringt Ulrich den Grad eines Baccalars. 1482 bricht in Tübingen die Pest aus. Die Universität flieht. Ulrich muß bleiben, seiner Schulden wegen. Einsam treibt er sich auf dem Holzmarkt herum, wo es keine lustigen Kommilitonen mehr gibt, nur noch hämische Gogen, mißtrauische Wirte und keifende Schneider. Und Tag für Tag kreischt der Totenkarren über den Platz. Es dauert ein ganzes Jahr, bis Vater Zäsi einen Teil des Schuldbetrags zusammengekratzt und nach Tübingen geschickt hat. Die Gläubiger sehen den guten Willen, sie haben ein Einsehen und lassen Ulrich nach Konstanz ziehen. Geplatzt sind die Träume von Sohn und Vater. Und es sieht nicht so aus, als ob der eine oder der andere je noch zu Reichtum kommen würde. Konstanz, das anfang des Jahrhunderts noch 33 Kardinäle, 900 Bischöfe und 2000 Doktoren vier Jahre lang hatte füttern und wärmen können 108 , das noch Holz übrig gehabt hatte, um
zweie davon, Johannes Hus 109 und Hieronymus v Prag, zu verbrennen, dieses Konstanz verarmt seit der Mitte des 15. Jhds. Fünf bis sechs Jahre hängt Ulrich in seiner Heimatstadt herum und bettelt in den Schreibstuben des Bischofs und des Rats um Aufträge. Täglich klappert er in seinen Holzschuhen, zu mehr reicht es nicht, durch das buckelquadrige, blaugraue Sehnetztor in die Hussenstraße. Etwas gebückt zieht er am Haus zur Täschen vorbei, wo die alte Bärbel von Berg im Fenster hängt - einflußreiche Familie, tüchtig grüßen, daß dich der Teufel hol, du alte Vettel dann kommt die Marktstraße: Ein Spießrutenlaufen unter fett glotzenden Patrizierhäusern, und natürlich, da hockt wieder die Brigit von der Reichenau mit ihren Kohlköpfen, keiner so dick wie einer ihrer Arschbacken, und grinst und kreischt „Jo, dä edle Härr Dokter, wieder unterwägs in d'Konzlei?" und rechts und links gluckert Lachen und von ganz hinten, hinter den Kornsäcken der Bodmaner her, kommt ein „holaro!", was der Konstanzer Narrenruf ist. Der Ulrich zieht den Kopf zwischen die
108 Konzil zu Konstanz 1414-1418. 109 Johannes Hus wurde gegen 1370 in Husinetz, Südböhmen geboren. Sein Vater starb früh und der Halbwaise wuchs in ärmlichen Verhältnissen auf. Er studierte ab 1386 Theologie in Prag. Auf einer Freistelle (eine Art Stipendium) machte er 1396 sein Magisterexamen und wurde 1401 Dekan der philosophischen Fakultät. Später errang Hus das Baccalaureat der Theologie, wurde 1404 Dozent für Theologie und 1409 Rektor der Universität. Schon 1398 hatte Hus die Lehren Wyclifs übernommen und als Prediger an der Bethlehemskapelle weiterverbreitet. Um sich dessen zu verantworten lud man uhn auf das Konstanzer Konzil. Obwohl ihm Kaiser Sigismund freies Geleit zugesagt hatte, wurde er in Konstanz verhaftet, der Ketzerei angeklagt und am 6. 7 .1415 lebend verbrannt. Der Magister Hieronymus v Prag, ein Freund von Hus, eilte 1415 nach Konstanz, um Hus zu verteidigen. Hieronymus wurde selber angeklagt, floh, wurde eingefangen, nach Konstanz zurückgebracht und dort am 30.5.1416 ebenfalls verbrannt.
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Schulter, wird krebsrot und zischelt weder das Wappen des Ulrich von „daß euch der Sack platz, euch Gryfenberg und schon gar nicht den Schwellköpf" und macht, daß er das Gelehrten mit der großmächtigen Haus zum Sattel erreicht, wo sich die Schreibfeder. Er hadert mit seinen Marktstraße wieder verengt. Dort, Mitbürgern: ,,Die Kaibesiachä, daß auch das bleibt ihm nicht erspart, besie Gotz Marter schänd! Jeder so aufsichtigt sein ehemaliger Schulkableed wie zwei paar Ochse. Die wärä merad in der Domschule und jetzino mal guckä, dennä zeig i's no!" ger Tuchherr Rupprecht Häberlin Drinnen mieft es nach Darmgasen Hände in die Seiten gestemmt - den und feuchter Kalbshaut und der ProHausknecht beim Abladen etlicher kurator des Bischofs steht da und Ballen. Nun der Rupprecht, man hat fühlt sich prächtig und Ulrich grüßt erst neulich zusammen gesoffen, demütig, wird nachlässig wiedergegrüßt freundlich genug. Hat auch gut grüßt, und schleicht sich in seine Ekfreundlich sein, hat Einkommen, hat ke an sein tintenfleckiges Pult: AusHaus, hat Frau, hat Kinder. Hat sich gerechnet für die Pfaffen schaffen, im Leben eingerichtet wie die meisdie sich an des Vaters Erbe mästen! ten der Altersgenossen. Ach, wenn Aber auch wenn es nicht für die Pfafnur deren verächtlich-mitleidige Bli- fen ist, sondern für den Rat: das Kocke nicht so in den Rücken stechen pieren von Amtstexten, das Briefwürden. Frau und Auskommen! Wer schreiben für andere, findet Ulrich das besäße! Aber es kommt kein Aus- unter der Würde eines Poeten. Wer kommen, es kommt der Obermarkt, lateinische Verse schreibt, der hat ja dann die Wessenbergstraße - hier wohl Anspruch auf besseres Los?! steht nur die Sattlerbäs herum und Mit dieser Meinung steht er allertrascht mit zwei Baurenweibern - ,,Jo dings allein: Was hat sich Ulrich Uli, bisch flissig?" ,,Ha, I lueg halt" - schon um Schulmeistereien, um jetzt drängt sich blaugrau das MünStadtschreiberstellen beworben, was ster vor,jetzt biegt er in die Münzgas- hat er Gedichte und Bittschreiben an Höfe und Stadträte geschickt - es se ein, die sich im Bogen zum See geht wahrhaft auf keine Kalbshaut. hinunter zieht, dann endlich steht er Selbst die Unterstützung des Konvor dem Rathaus. Der Bau ist neu, stanzer Rats vermag des Ulrich Kargerade ein Jahr alt, und ebenfalls aus dem blaugrauen Kalk, den die Kon- riere nicht zu fördern. So trödeln die Tage, die Monate, die stanzer auf dem Bodanrück brechen und zu allem hernehmen, zu Fenster- Jahre dahin. Dann endlich, man rahmen, zu Kirchen, zu Toren, Tür- schreibt das gesegnete Jahr 1489, kommt Schwung in Ulrichs Leben. men und zum Wall. Blaugrau ist dieDie Apfelbäume tragen gut, das Korn se Stadt, blaugrau und pißgelb, denn wenn die Steine alt werden, verfär- reift, die Pflaumen werden dick - und die schweizerische Tagsatzung in Baben sie sich. Grau und verpißt sind den im Aargau stellt den Ulrich Zäsi auch seine Aussichten. als Schreiber ein. Die Tagsatzung ist Ulrich würdigt das Doppelportal des das oberste Organ der EidgenossenRathauses keines Blickes, beachtet 62
schaft, eine Versammlung der Boten der Orte Zürich, Bern etc. und der Zugewandten. In Baden wird große Diplomatie betrieben, denn die Eidgenossenschaft, gerade erst siegreich aus den Burgunderkriegen hervorgegangen, ist die erste Militärmacht Europas. Sie wird umworben von dem Gesandten des französischen Königs, vom Nuntius des Papstes, von den oberitalienischen Städten, von den Reichsstädten. Baden ist zudem der beliebteste Badeort der Schweiz. Dorthin ziehen die reichen Schweizer Jahr für Jahr und mit Kind und Kegel, um zu trinken, zu parlieren, um in Badegesellschaften im Wasser zu mahlzeiten. Baden war auch ein Heiratsmarkt für die höheren Stände. In Baden lernt das Schreiberlein Ulrich die große Welt kennen. Er nutzt die Gelegenheit. Gerne erweist er dem einen oder anderen Klienten ei-
nen Dienst und knüpft so Verbindungen. Er muß es, denn gut geht es ihm nicht bei den käben Schweizern. Ulrich hat geheiratet, eine unscheinbare Frau - so unscheinbar, daß ihr Name nicht bekannt ist - und Kinder kommen, ein Haus ist gekauft worden und darauf liegen 100 fl Hypotheken. Er hat sich übernommen, es heißt bescheiden wirtschaften. ,,Ueli, s'King brucht a neue Haubä!" ,,1ko's m'r nit us dä Rippä schniidä!" Dies Leben kommt Ulrich hart an. Jetzt nach der schweren, der blaugrauen, der Konstanzer Zeit, will er genießen, will Fasanen, Krammetsvögel, Gänse speisen. Auch besucht er die Badestuben, streichelt die nackten Bademädchen, vögelt sie und alles kostet Geld.110 Zäsi findet, er hat das verdient. Tatsächlich ist er ungeheuer fleißig. Auch hat er Erfolg als lateinischer
110 Zäsis Liebe zum Bad kennt man aus Briefen an seine Freunde. Das erotische Badewesen scheint sich in einigen Orten der Schweiz bis ins 18. Jhd. erhalten zu haben. Casanova berichtet: Auf einer Anhöhe mit weiter Aussicht über eine Ebene, durch die sich ein Flüßchen schlängelt, erblickte ich einen Pfad, den ich auf gut Glück einschlug und der mich zu einer Art Treppe führte. Ich stieg ein paar hundert Stufen hinab und kam zu etwa 40 Kabinen, die ich für eine Badeanstalt hielt. In der Tat, als ich mir den Ort noch ansah, kam ein Mann von ehrbarem Ansehen auf mich zu und fragte mich, ob ich ein Bad nehmen wollte. Ich sagte Ja, er öffnete eine Kabine, und sofort stürzte eine Schar junger Mädchen auf mich zu. ,,Jedes dieser Mädchen", sagte der Bademeister, ,,hofft auf die Ehre, Sie beim Baden zu bedienen. Sie brauchen nur zu wählen. Für einen kleinen Taler haben Sie Bad, Mädchen und Kaffee." Wie der Großtürke musterte ich diesen Schwarm kräftiger Schönheiten und warf mein Taschentuch der zu, die mir am besten gefiel. Als ich meine Kabine betreten hatte, schloß sie von innen zu und begann mich mit der ernstesten Miene auszukleiden, ohne ein Wort zu sagen, ja ohne mir ins Gesicht zu sehen. Dann tat sie meine Haare unter eine Kattunhaube, und als sie mich im Wasser sah, zog sie sich aus, wie sie es gewohnt war, und folgte mir ohne ein Wort ins Bad. Dort begann sie mir den ganzen Körper zu reiben, mit Ausnahme einer Stelle, die ich mit meinen Händen verdeckte. Als ich genug gerieben war, bat ich sie um Kaffee. Sie stieg aus dem Bade, öffnete die Tür, bestellte was ich wünschte, und kehrte dann ohne die geringste Verlegenheit ins Bad zurück. Als der Kaffee kam, verließ sie es aufs neue, um ihn zu holen, schloß die Tür wieder zu, stieg wieder ins Bad und hielt mir das Brett hin, während ich meinen Kaffee trank. Als ich fertig war blieb sie bei mir.
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Dichter, nur leider keinen finanziellen. Er schreibt Briefe an bedeutende Persönlichkeiten, die er in Baden kennengelernt hat, an Bernardo de! Mayno, Seneschal von Ludovico Sforza, an Sforza selbst, an den Stadtschreiber von Bern, an den von Zürich. Eine Stadtschreiberstelle will auch er. Denn ein Stadtschreiber, das ist eine Vertrauensperson, ein wichtiger Mann, der gut bezahlt wird. Ist solch Streben unverschämt? Keineswegs, findet Zäsi. Schließlich hat sich einen Ruf als Humanist erworben und schreibt besser als die vielen Nullen, die durch Verwandschaft in die Pöstchen gedrückt wurden. Auch rechtliche und diplomatischen Kenntnisse hat er sich aneignen können in Baden und in den blaugrauen Jahren. Seine Briefpartner sind auch angetan von den schönen Briefen des Zäsi. Aber morgens setzt ihm seine Frau Roggengrütze vor, ohne Butter. Das jammert ihn. Es ist so schwer. Nichts klappt. Da hat der Rat der Stadt Freiburg i.B. ein Einsehen. Er bietet Zäsi die Stelle eines Stadtschreibers an. Ulrich nimmt dankend an. 33 Jahre ist er jetzt alt. Man schreibt das Jahr 1494. Vor zwei Jahren hat Kolumbus Amerika entdeckt. Freiburg. Eine Gründung der Herzöge von Zähringen, am Rande des Schwarzwaldesgelegen. Immer schon war Freiburg etwas besonderes. Bis 1945 war es besonders antisemitisch, heute ist es besonders grün. Wir aber gehen zurück bis ins Mittelalter als diese besondere Stadt nach dem Aus64
sterben der Zähringer (1218) in die Hände der Grafen von Freiburg überging. Man wurde nicht glücklich miteinander. Von 1366-68 bekriegten die Freiburger ihre Grafen sogar - und verloren. Doch gelang es ihnen, sich unter den Schutz der Habsburger zu begeben und den Grafen ihre Rechte abzukaufen. Dies gegen die enorme Summe von 15000 Silbermark, die die Stadt aufnehmen und mit 10% verzinsen mußte. Diese Schuld, und die Kosten für den Münsterbau, hing nun über Freiburg wie ein Sack Wackersteine. Die Steuern gingen hoch, die Bevölkerung wanderte ab, Häuser standen leer. Die Schuld drohte die Stadt zu ruinieren. Der Freiburger Kleinadel, der den Kampf gegen den Grafen angeführt hatte und den Rat beherrschte, stand dem hilflos gegenüber. Es kam zu Unruhen. Doch konnte sich der Kleinadel halten - bis 1386. Am 9. Juli jenes Jahres, einem entsetzlich heißen Tag, wurde bei Sempach in der Schweiz eine Schlacht geschlagen. Der Habsburger Herzog Leopold III versuchte mit einem Heer aus Rittern und Stadtbürgern den Innerschweizern die Freiheitsgelüste auszutreiben. Der Freiburger Adel stand auf Seiten Leopolds, stand inmitten eines stählenern Viereckes aus Reiterlanzen und Ritterschwertern, denn Leopold hatte befohlen, abzusitzen. „Haruss!", schrien die Schwyzer und warfen sich gegen den Lanzenigel. Die Urner und Luzerner folgten, und das heisere Röhren des Horns von Uri trieb ihnen Fieber in die Augen und Schaum vor den Mund. Wurden ab-
geschlagen. Griffen wieder an. Und so ging es etliche Male, bis sich vor dem Igel ein Kranz von blutigen Leibern wand. Da endlich öffnete sich ein Loch im Hag der starrenden Lanzen, sei es, daß sich ein Winkelried die Spieße in die Brust gestoßen hatte, sei es, daß einige Ritter die Nerven verloren hatten, sei es, daß einige erstickt waren in ihren Stahlblechhäuten, oder daß die Bolzen der Armbrustschützen eine Öffnung geschlagen hatten. Die Schwyzer stießen hinein und scheppernd zerbarst die Habsburger Schlachtordnung unter wie Uhrenpendel schwingenden Hellebarden in Schweiß und Blut und splitternden Schädelknochen. Leopold wurde erschlagen und mit ihm ein Großteil seiner Freiburger Gefolgschaft. Das hatte Folgen. Schon zwei Jahre später, 1388, wurde der Freiburger Kleinadel von den Zünften entmachtet. Zwar versuchten die Habsburger, diese zurückzudrängen. Gleichwohl behielten einige Zunftmeister, die Kaufhausherren m, das Heft in der Hand und beherrschten den Rat. Der ergänzte sich - wie damals üblich - durch Kooptation auf Lebenszeit. Daher entwickelte er sich schnell zu einer Clique, die gewöhnliche Zunftmitglieder von der Macht ausschloß und mit den Stadtgeldern nach Belieben schaltete. Dieser Rat zwiebelte die Zünfte noch mehr, als es zuvor der Kleinadel getan hatte. Dies einerseits
um die Zinsen für die große Schuld aufzubringen, andererseits aber auch aus Gründen, die das Sprichwort „Das stolzeste Tier ist ein Bauer zu Pferd" zum Ausdruck bringt. Kompliziert wurden die Verhältnisse durch den dritten Mitspieler, die Habsburger Verwaltung 112 • Die hielt es, nachdem sich der Rat der Kaufhausherren einmal eingenistet hatte, mehr mit den Zünften als mit dem Rat. Die Habsburger als Oberherren der Stadt verfolgten eine Politik, die darauf hinauslief, keine der städtischen Parteien zu mächtig werden zu lassen. Nach dem Prinzip: Wo zwei sich streiten, freut sich der dritte. Verbindungsperson zwischen Zünften und Habsburger Verwaltung war der Metzger Conrad Waltzenmüller 113• Mit Unterstützung der Habsburger Verwaltung und als Führer der Zunftopposition, gelang es Waltzenmüller 1490, den Zünften Einblick in das Finanzgebaren der Kaufhausherren zu verschaffen. Auch mußten die Kaufhausherren Beobachter der Zünfte im Rat dulden. Dem Rat war dies aufs äußerste zuwider. Er sorgte dafür, daß Waltzenmüller erschlagen wurde (1492). Aber die unbequemen Kontrolleure blieben, und das Streben des Rates war nun, sowohl die Kontrolle der Zünfte als auch die Einmischung der Habsburger Verwaltung loszuwerden. Dazu brauchte man einen fähigen Stadtschreiber, einen Mann, der loyal zum Rat hielt und erfahren war
111 Woher die Bezeichnung Kaufhausherren stammt ist dem Autor unklar. Das berühmte Freiburger Kaufhaus wurde erst 1520-1532 von Lienhart Müller für die städtische Marktverwaltung gebaut. 112 Die saß damals im benachbarten Ensisheim im Elsaß. 113 Vater des Kartographen Martin Waldseemüller
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in Intrigenspiel und Rechtsverdrehen. Der Geeignetste dafür scheint dem Rat der Ulrich Zäsi zu sein. Zäsi ist geeignet. Mit Feuereifer stürzt er sich in die Freiburger Politik, bringt Zuck in die verlotterte Stadtschreiberei. Er führt mehrere Journale gleichzeitig, er bringt die Freiburger Schuld in eine bezahlbare Form, er notiert die Schwächen der Ratsfeinde im untruw Buch. Man muß ja was zur Hand haben, wenn die Kerle reif zum Abschießen sind. Zäsi ist der treue Knecht des Freiburger Rates, der Kaufhausherren, für 59 fl jährlich, freie Wohnung und freies Holz. Doch auf Dauer befriedigt es Zäsis Ehrgeiz nicht, Werkzeug des Rates zu sein. Er will mehr. 1496 gibt er die Stadtschreiberei auf und wird Magister an der Freiburger Latein-schule. Aber auch die Schulmeisterei vermag ihn nicht auszufüllen. Im Juni 1499 stellt er den Schulmeisterstock in eine Ecke und immatrikuliert sich, als 38-jähriger, an der Rechtsfakultät der Universität. Die Universität war 1458 von Erzherzog Albrecht VI gegründet worden. Sie hatte einen schweren Start gehabt und sich größere Summen vom Rat der Stadt leihen müssen. Gleichwohl gab es Reibereien zwischen Rat und Universität. Die Universität achtete eifersüchtig auf ihre Freiheiten (z.B. die Akzise-Freiheit), während dem Rat - immer in Geldnöten wegen der großen Schuld - nicht daran gelegen sein konnte, daß ein großer Teil der Bevölkerung frei von Stadtsteuern war. Zudem gab es Probleme mit den Studenten. Die machten sich 66
durch Saufen, geschlitzte Hosen, federgeschmückte Barette, gewaltige Hosenlätze und ungehöriges Benehmen bei den Bürgern unbeliebt. Die schwache universitäre Gerichtsbarkeit konnte die Gesellen nicht zur Räson bringen, obwohl es sich um kaum 200 Köpfe handelte. Sogar Professoren wurden erschlagen! Der Student Gaudenz v Blumeneck ermordete im Jahre 1509 den Theologieprofessor Georg Northofer und konnte entkommen. Auf eine Karriere an der juristischen Fakultät, dieser Universität also, setzte der Baccalar der Universität Tübingen, gewesene Schreiber zu Baden, gewesene Stadtschreiber und gewesene Schulmeister Ulrich Zäsi. Die juristischen Lehrstühle der Freiburger Universität hatten seit 1497 zwei Mailänder inne, Giovanni Angela de Bisutio und Paolo de Cittadinis. Es waren dies übrigens die letzten Ausländer auf Freiburger Lehrstühlen für Jahrhunderte. Bis zur josephinischen Reform (1765!) pflegte man die Pfründen unter dem Lokalgewächs aufzuteilen - mit entsprechend provinziellen Ergebnissen. Zäsi setzt auf Cittadinis. Er lehrte nichts was nicht elegant, gründlich, fein, an die Zeit angepaßt, nützlich, annehmbar; geräumig war: Er ging mit unvergleichlicher Ehrlichkeit und Fleiß vor;so daß keine seiner Vorlesungen ohne Herrlichkeit und Pracht war... schrieb Zäsi über Cittadinis Vorlesungen, und dieser nimmt sich denn auch dem mit seltener Einsicht gesegneten Studenten an. Schon im Juni 1500 bittet Cittadinis den Senat der Universität, Zäsi zu seinem Stellverteter zu ernennen. Zäsi solle Je-
sen, wenn er, Cittadinis, abwesend sei. Und das ist Cittadinis oft, denn die Beratung der reichen Adligen und Bürger in Elsaß, Breisgau und Schwarzwald wirft mehr ab als die Hörergelder der paar Dutzend Studenten. Zäsi hat Cittadinis Protektion bitter nötig. Wie soll er sonst Frau und Kinder ernähren? Wahrscheinlich auf Bitten des Rats, der sich seinem fleißigen, loyalen und vielwissenden Stadtschreiber verpflichtet fühlt, genehmigt der akademische Senat dem Zäsi zudem, Poesie lesen zu dürfen. 32 fl bringt ihm das ein. Damit, und mit den Einnahmen aus Cittadinis Vertretung, wird Zäsi knapp über die Runden gekommen sein. Poet und Professorenknecht zu werden, kann nicht Zäsis Ziel gewesen sein. Als Zäsi die sichere Schulmeisterstelle aufgab, wollte er einen Lehrstuhl erringen. Doch Cittadinis ist sein einziger Gönner in der Fakultät. Die anderen Professoren hassen den Zäsi. Sie hassen ihn, und wenn er zehnmal seinen Namen latinisiert und sich Zasius nennt. Selbst einen königlichen Erlass, Ulrich die Magisterwürde (in den artes) zu verleihen, läßt der Senat ins Leere laufen. Ein fetter verhurter Sack sei er, eine schmierige Schreiberseele. Alles sachlich richtig. Ein Zeitgenosse bemerkt über Zäsi: Er habe nie jemanden gesehen, der so viel trinke, so viel esse und so viel arbeiten könne. Auch UlrichsPorträt beweist, daß er sich nicht von Steckrüben ernährte. Ein quadratischer, schlechtrasierter Fettschädel, dem der Geifer über die dicken Lippen zu tropfen scheint,
dem die halblangen Haare über die Ohren hängen, guckt schlitzäugig mit ironischem Lächeln auf...Ja was? Ein gebratenes Ferkel? Ein appetitliches Weibchen? Trotzdem sind die Vorwürfe des Senats vorgeschoben. Was die Ordinarien an Ulrich wirklich stört, sind seine Verbindungen zum Rat. Ein Geschöpf des Rats will man nicht im Senat haben. Gerade weil die Universität auf Geldzuschüsse und Bürgschaften der Stadt angewiesen ist! Die Stadt nimmt das ja sowieso schon zum Anlass, sich in die akademische Verwaltung und den Lehrbetrieb einzumischen. Und dann noch eine Kreatur des Rates aufnehmen? Einen, der nicht mal richtig studiert hat? Einen, der nur den einfachen Doktor Juris, den Doktor legum hat, statt, wie es sich gehört, den Iuris Utriusque Doktor, den Doktor beider Rechte (des kirchlichen und des zivilen)? Ulrichs Ruhm als Humanist vermögen diese Bedenken nicht auszugleichen. Im Gegenteil. Er löst bei den Ordinarien Neid und Mißgunst aus. Schon die Lehrerlaubnis haben sie nur zähneknirschend hingenommen. ,,Worauf will das hinaus, Herr Kollega?", hieß es und: ,,Dem wird der Rat auch noch einen Lehrstuhl zuschanzen wollen, werdet's sehen!" Sie sollten recht behalten. 1504 tritt Cittadini ab, und der Rat bittet für Ulrich um den Lehrstuhl Cittadinis. Der Senat sieht seine Befürchtungen wahr werden: Der Rat will bestimmen, wer Professor wird, will das Kooptationsrecht untergraben. Es ist ja nicht das erste Mal! In der Adlerburse, in der Pfauenburse, im Dekaneihof macht sich unter 67
Magistern und Doktoren Empörung privileg! Andererseits: Der Rat, die breit. Wehret den Anfängen! Studenten. Seine Mehrheit neigt Aber der Senat ist in einer Zwickzwar dem Münzthaler zu, aber Rat mühle: Hie das Kooptationsprivileg, und Studenten brüskieren? Besser dort der Geldbeutel des Rats. Der Se- nicht. Man schiebt die Entscheidung nat rettet sich in den Mittelweg. Er hinaus. läßt den Zäsi für ein Jahr lesen und Im Sommer 1505 hängt Zäsi immer zahlt ihm dafür 4