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German Pages 263 Year 1997
SIEGFRIED MAGIERA / HEINRICH SIEDENTOPF (Hrsg.)
Die Zukunft der Europäischen Union
Schriften zum Europäischen Recht lIerausgegeben von
Siegfried Magiera und Detlef Merten
Band 35
Die Zukunft der Europäischen Union Integration, Koordination, Dezentralisierung Tagungsbeiträge der 64. Staatswissenschaftlichen Fortbildungstagung der Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer vom 20. bis 22. März 1996
lIerausgegeben von Siegfried Magiera lIeinrich Siedentopf
DUßcker & Humblot · Berliß
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Die Zukunft der Europäischen Union : Integration, Koordination, Dezentralisierung ; Tagungsbeiträge der 64. Staatswissenschaftlichen Fortbildungstagung der Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer vom 20. bis 22. März 1996 / hrsg. von Siegfried Magiera; Heinrich Siedentopf. - Berlin : Duncker und Humblot, 1997 (Schriften zum europäischen Recht; Bd. 35) ISBN 3-428-09055-1 brosch.
Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 1997 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübemahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0937-6305 ISBN 3-428-09055-1 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 @)
Inhaltsverzeichnis
Begrüßung durch den Rektor der Hochschule für Verwaltungs wissenschaften Speyer, Klaus Lüder ..............................................................................
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Grußwort von Staatssekretär Klaus Rüter .. .. . . . .. . . .. . . . . .. .. . . .. . . . .. . . . .. .. . . .. . . . .. . . .. .. .
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Die Zukunft der Europäischen Union. Einführung in das Tagungsthema Von Siegfried Magiera. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Kompetenzverteilung zwischen der Europäischen Union und den Mitgliedstaaten aus der Sicht der deutschen Länder Von Erwin Vetter ..................................................................
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Diskussion zu dem Referat von Erwin Vetter Bericht von Clemens Kurzidem ....................................................
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Subsidiarität und Deregulierung Von Bemhard Molitor .................................... . ........................
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Subsidiarität und Deregulierung aus europäischer und mitgliedstaatlicher Sicht Von Reinhard Schulte-Braucks . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Diskussion zu den Referaten von Bernhard Molitor und Reinhard Schulte-Braucks Bericht von Christian Theobald . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Perspektiven der Europäischen Union Von Klaus Hänsch ........ . . . . .. .. . . . . . . . . . . .. . .. . .. . . . .. . . .. . . .. .. . . . .. . . . .. . . . .. .
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Inhaltsverzeichnis
Diskussion zu dem Referat von Klaus Hänsch Bericht von Gerd Eckstein .........................................................
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Umsetzung und Anwendung des Gemeinschaftsrechts in Österreich Von Gerhart Holzinger ............................................................
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Umsetzung und Anwendung des Gemeinschaftsrechts in den Mitgliedstaaten Von Heinrich Siedentopj . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 105
Diskussion zu den Referaten von Gerhart Holzinger und Heinrich Siedentopf Bericht von Gerd Eckstein ......................................................... 127
Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres. Bilanz und Perspektiven Von Klaus-Peter Nanz ............................................................. 131
Diskussion zu dem Referat von Klaus-Peter Nanz Bericht von Christian Koch ................................ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 149
Raumentwicklungspolitik als mehrstufige Kooperation, Entscheidung und Kontrolle Von Arthur Benz ................................................................... 157
Raumentwicklungspolitik als Beispiel mehrstufiger Kooperation, Entscheidung und Kontrolle in Frankreich Von Girard Marcou ............................................................... 175
Diskussion zu den Referaten von Arthur Benz und Gerard Marcou Bericht von Matthias Niedobitek . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187
Die Europäische Dimension der Ausbildung und Fortbildung von Beamten Von Girard Druesne ............................................................... 191
Der einheitliche institutionelle Rahmen der Europäischen Union. Art. C EUV im Gefüge der Verfassungsprinzipien . Von Meinhard Hilf ................................................................. 207
Inhaltsverzeichnis
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Diskussion zu dem Referat von Meinhard Hilf Bericht von Sabine Brieger ........................................................ 221
Erwartungen an die Regierungskonferenz 1996 Von Simon Bulmer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 227 Von Bemhard Friedmann .......................................................... 233 Von Gerard Marcou ...................... . .......... . .......... . .......... . ....... 239 Von Wolfgang Wesseis ............................................................. 243 Von Norbert Wieczorek ............................................................ 249
Diskussion zum anschließenden Podium mit Simon Bulmer, Bemhard Friedmann, Gerard Marcou und Wolfgang Wesseis Bericht von Joachim Rumstadt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 257
Verzeichnis der Referenten und Berichterstatter ........................................ 261
Begrüßung durch den Rektor der Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer, Klaus Lüder Meine sehr geehrten Damen und Herren, zur 64. Staatswissenschaftlichen Fortbildungstagung der Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer, die in diesem Jahr unter dem Thema "Die Zukunft der Europäischen Union - Integration, Koordination, Dezentralisierung" steht, darf ich Sie alle recht herzlich begrüßen. Bei einem Blick auf die Themen der bisherigen Staatswissenschaftlichen Fortbildungstagungen der Hochschule stellte ich fest, daß das Thema "Europa" schon Gegenstand der Tagungen von 1958 und 1985 war. Seit 1958 - dem Jahr des Inkrafttretens der Römischen Verträge - waren somit 3 von 39 Staatswissenschaftlichen Fortbildungstagungen dem Thema "Europa" gewidmet. Das sind ca. 8 %. Dieser geringe Anteil ist allerdings zu relativieren: Betrachtet man den Zeitraum seit 1985, so steigt die Quote schon auf das Doppelte, und im übrigen richtet die Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer eine Vielzahl von anderen Veranstaltungen aus, die ausschließlich oder unter anderem Themen der Zukunft Europas zum Gegenstand haben. Dennoch war es gerade zum gegenwärtigen Zeitpunkt vor dem Hintergrund der bevorstehenden Regierungskonferenz zur Überprüfung des Maastricht-Vertrages wichtig, das Europa-Thema wiederum auf die Tagesordnung unserer zentralen Fortbildungstagung zu setzen. Den Kollegen Magiera und SiedentopJ als wissenschaftlichen Leitern der diesjährigen Frühjahrstagung danke ich für ihre Initiative, und ich beglückwünsche sie zum Zustandekommen eines vielseitigen und interessanten Programms mit renommierten Referenten. Sie haben sich, meine sehr geehrten Damen und Herren, für die folgenden beiden Arbeitstage ein umfangreiches Programm vorgenommen. Aufgrund der für die vollständige Behandlung eines derartig komplexen Themas eher knapp bemessenen Zeit, will ich bewußt kein einleitendes Referat zur Zukunft der Europäischen Union halten, sondern die Einführung in das Tagungsthema Herrn Kollegen Magiera überlassen. Dies auch schon deshalb, weil die europäischen Themen, zu denen ich aus eigener Sachkenntnis Stellung nehmen könnte - das sind Wirtschafts-, Währungs- und Finanzfragen - nicht Gegenstand der Tagung sind. Erlauben Sie mir aber, Ihnen als Rektor der Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer einen kurzen Überblick über die europäischen und internationalen
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Begrüßung durch den Rektor
Aktivitäten unserer Hochschule zu geben, aus dem Sie deren hohen Stellenwert entnehmen können. Die Hochschule für Verwaltungs wissenschaften Speyer ist - wie den meisten von Ihnen bekannt sein dürfte - eine postuniversitäre, vom Bund und allen Bundesländern getragene Einrichtung mit Universitätsrang. Sie betätigt sich in Ausbildung, Fortbildung und Forschung.
Im Bereich der Ausbildung bietet die Hochschule ein einsemestriges verwaltungswissenschaftliches Ergänzungsstudium - das sogenannte "Speyer-Semester" - an, das in erster Linie von Rechtsreferendaren im Rahmen ihres juristischen Vorbereitungsdienstes in der Verwaltungs- bzw. in der Wahl station absolviert wird. Mit Blick auf das Veranstaltungsthema darf ich darauf hinweisen, daß die Hochschule seit mehreren Jahren einen Schwerpunktbereich "Internationales Recht und internationale Beziehungen" eingerichtet hat, der sich in erster Linie an Referendare wendet, die im Rahmen ihres juristischen Vorbereitungsdienstes eine entsprechende Schwerpunktwahl getroffen haben. Dem interdisziplinären Ansatz unserer Hochschule folgend, werden dazu rechts-, verwaltungs-, wirtschafts- und sozialwissenschaftliche Lehrveranstaltungen angeboten, in denen u. a. Themen mit europäischem Bezug behandelt werden. Aufgrund der guten Ausstattung unserer Bibliothek sowie des am Lehrstuhl von Herrn Kollegen Magiera angesiedelten Europäischen Dokumentationszentrums verfügen die Hörer über ausgezeichnete Arbeitsbedingungen.
In diesem Zusammenhang erwähnenswert erscheint mir auch der auf Initiative von Herrn Kollegen SiedentopJ zustandegekommene, inzwischen regelmäßige Erfahrungs- und Gedankenaustausch zwischen unseren Hörern und den Studierenden der französischen ENA. Aber auch soweit es die Fortbildung angeht (hier bietet die Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer für Mitarbeiter im höheren Verwaltungsdienst der Länder sogenannte "Speyerer Führungsseminare" an, daneben aber auch Sonderseminare zu besonderen verwaltungswissenschaftlichen Fragestellungen), ist Europa bei uns ein Dauerthema. So befaßt sich stets einer der drei Kurse der Speyerer Führungsseminare auch mit dem Thema "Europa". Und die Hochschule bietet unter der Leitung der Kollegen Magiera und SiedentopJ seit 1990 regelmäßig ein spezielles "Europa-Seminar" an, das mindestens einmal jährlich stattfindet und aktuelle europabezogene Themen zum Gegenstand hat. Dieses einwöchige Seminar wird in enger Zusammenarbeit und in Abstimmung mit dem Europäischen Institut für öffentliche Verwaltung in Maastricht durchgeführt. Schließlich sei der Vollständigkeit halber noch auf das Führungskolleg Speyer hingewiesen, das 1991 als eine bei der Hochschule Speyer angesiedelte Einrichtung von den Ländern Rheinland-Pfalz, Niedersachsen, Hessen, Schleswig-Hol-
Begrüßung durch den Rektor
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stein und dem Saarland sowie der Bundesanstalt für Arbeit geschaffen wurde und dessen besondere Aufgabe die Qualifizierung von "Führungsnachwuchs" für die Übernahme leitender Positionen in der Verwaltung ist. Auch das Führungskolleg Speyer setzt einen seiner Schwerpunkte bewußt im Bereich "Europa". Regelmäßig stehen daher neben Referaten zu europabezogenen Themen die Besuche europäischer Einrichtungen auf dem Programm des Führungskollegs. Nicht zuletzt und im Unterschied zu unseren Schwestereinrichtungen in anderen europäischen Ländern (ENA, INAP) bildet die internationale und europäische Forschung - und hier wiederum insbesondere die vergleichende Forschung - einen Schwerpunkt der Aktivitäten der Hochschule Speyer und des Forschungsinstituts für öffentliche Verwaltung. Nicht nur internationaler Austausch von öffentlichen Bediensteten tut not - es fehlt auch an systematisch autbereiteten Informationen über Strukturen, Prozesse, Verfahren und Techniken in den Verwaltungen anderer europäischer Länder. Diesem Informationsdefizit durch vergleichende Verwaltungsforschung abzuhelfen, sehen wir als eine unserer zentralen Aufgaben an. Ausweislich des Arbeitsplans 1996 des Forschungsinstituts für öffentliche Verwaltung werden derzeit 10 Themen mit europäischem Bezug bearbeitet oder in Kürze in Angriff genommen. Deren Spannweite reicht von - "Umsetzung und Vollzug von EG- Umweltrecht durch die Verwaltung der Mitgliedstaaten" über - "Konkretisierung des SNA durch den ESVG und Probleme der Umsetzung des ESVG in ausgewählten EU-Ländern" bis zu - "Ökonomische Interessen Deutschlands und der EU in Südostasien". Sie sehen, meine Damen und Herren, Europa ist uns wichtig, und wir beschäftigen uns intensiv damit. Daß die ,,zukunft der Europäischen Union" Gegenstand der Vorträge und Diskussionen der Staatswissenschaftlichen Fortbildungstagung und damit der zentralen Fortbildungsveranstaltung der Hochschule in diesem Jahr ist, zeigt ebenfalls den besonderen Stellenwert, den wir dem Thema "Europa" beimessen. Ich danke allen, die am Zustandekommen dieser Tagung mitgewirkt haben und zu ihrem Erfolg beitragen. Ihnen, meine Damen und Herren, wünsche ich spannende Vorträge und anregende Diskussionen und der 64. Staatswissenschaftlichen Fortbildungstagung insgesamt einen guten Verlauf.
Grußwort von Staatssekretär Klaus Röter
Meine Damen und Herren! Ich freue mich, daß ich heute bei Ihnen sein kann und daß ich Sie später einladen darf zu einem Empfang der Landesregierung Rheinland-Pfalz. Die Tatsache, daß die Landesregierung heute anläßlich der 64. Staatswissenschaftlichen Fortbildungstagung drei Tage vor dem wichtigen Termin der Landtagswahlen einen Empfang gibt, druckt zum einen aus, daß wir uns noch durchaus gelassen an die Arbeit machen in diesen Tagen, zum zweiten aber druckt es die enge Verbundenheit mit Speyer und mit dieser Hochschule aus. Ich darf Sie selbstredend grußen von Herrn Ministerpräsident Beck und auch von Hochschulminister Zöllner, die selbstverständlich beide wissen, was sie an ihrer, an dieser Hochschule haben. Meine Damen und Herren, wenn ich mir Ihr Programm ansehe, wenn ich sehe, was Sie alles miteinander zu beraten und zu diskutieren haben und was Sie an Vorträgen hören werden, dann erblasse ich ein wenig vor Neid, zumal ich mit der Europäischen Union nicht nur sozusagen von Amts wegen verbunden bin, sondern auch privat, ich bin nämlich ein Kreisvorsitzender in Rheinland-Pfalz der EuropaUnion und bin persönlich schon lange dem Gedanken des gemeinsamen Europas verbunden. Ich möchte versuchen, im Rahmen der Begrußung und wirklich nur in kurzen Worten zum Seminarthema einen kleinen Beitrag zu leisten, indem ich aus der Sicht der Landesregierung einige Anmerkungen mache zu der eben schon zitierten Regierungskonferenz, zu der Überprufung der Maastrichter Verträge. Zweifellos ist diese Konferenz "Maastricht 11" für die Staaten in Europa ein weiterer Meilenstein auf dem Weg des Zusammenwachsens der europäischen Nationen. Allerdings, dies müssen wir auch konstatieren, ist in den letzten Jahren, insbesondere in den letzten beiden Jahren doch vieles diskutiert und in Frage gestellt worden. Die angestrebte Erweiterung um die Staaten in Süd-, Ost- und Mitteleuropa wirft ganz andere Perspektiven auf, an die fruher keiner gedacht hat. Vieles ist in Bewegung geraten, und die anstehende Konferenz erhält von daher eine ganz besondere Bedeutung für die Zukunft der Europäischen Union. Es ist eben zu Recht gesagt worden, daß Rheinland-Pfalz mit Ministerpräsident Beck und Bayern mit Ministerpräsident Stoiber die Sprecherrolle für die deutschen Länder in der Regierungskonferenz übernommen haben. Wir sehen uns deshalb in einer besonderen Pflicht, an dem bevorstehenden Gestaltungsprozeß aktiv mitzuwirken. Einem Gestaltungsprozeß, bei dem die Weichen für das zukünftige Europa gestellt werden.
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Grußwort von Staatssekretär Klaus Rüter
Es scheint mir besonders wichtig zu sein, daß aus der Sicht der Länder die entscheidenden Strukturfragen des zukünftigen Europas zu diskutieren sind. Die Strukturfragen sind ein großes Thema. Es wird als zentrales Anliegen die internationalen Gespräche beherrschen und seinen Niederschlag auch im Forderungskatalog der Bundesländer zur Regierungskonferenz 1996 begründen. Es geht um die Verbesserung der Zusammenarbeit der Institutionen und der Verfahren der Europäischen Union und insbesondere, und das ist uns sehr wichtig, um eine bürgernähere Gestaltung des demokratischen Prozesses innerhalb der Europäischen Union. Ohne Zweifel müssen die Strukturen angesichts der heutigen Gemeinschaft von 15 Mitgliedstaaten in der angestrebten Süd-Ost-Erweiterung der EU überdacht und in Teilen reformiert werden. Besonders wichtig ist uns in Rheinland-Pfalz der Aspekt der Akzeptanz von Entscheidungen der EU in den Mitgliedsländern. Das heißt nicht nur die Akzeptanz der Staaten, sondern insbesondere auch die Akzeptanz der Betroffenen, der Bürgerinnen und Bürger, schlicht der Menschen. Nach unserer Auffassung kann eine erfolgreiche Weiterentwicklung der EU nur dann möglich sein, wenn die europäische Politik verständlich und bürgernah ist, wenn sie sich im übrigen auf die wichtigen, ihr eindeutig zugeschriebenen Aktivitätsfelder beschränkt und genügend Spielraum für nationale und regionale Entwicklungen läßt. Das klingt jetzt alles sehr pauschal, hat aber jeweils - das werden Sie im Laufe dieser Konferenz sicher erfahren - einen beachtlich politischen Hintergrund. Nach unserer Meinung können nur unter solchen Voraussetzungen, zu denen auch die Stärkung der Rechtsposition des Europäischen Parlaments gehört, Schritte zu einem fortschreitenden Einigungsprozeß geleistet werden, Schritte, die von einer breiten Unterstützung der Bevölkerung getragen sind. Nur dann werden auch die drängenden Vorhaben wie die Europäische Währungsunion und der Kampf gegen die Arbeitslosigkeit in ganz Europa lösbar sein. Die in dem Zusammenhang mit Maastricht I durchgeführten Volksabstimmungen sowie neuere Umfragen in europäischen Ländern haben eindeutig klargemacht, daß die bereits erwähnte Akzeptanz der europäischen Idee gelitten hat und daß neue Impulse dringend gefragt sind. Wenn ich vorhin von meiner Mitgliedschaft in der Europa-Union gesprochen habe, so spreche ich hier auch aus eigenen Erfahrungen. Wenn wir Veranstaltungen durchführen, dann ist es ganz schwer, Interessenten zu gewinnen. Wir in Rheinland-Pfalz wollen gern Impulse geben, die dringend notwendig sind. Wir bestehen aber darauf - ich sage das ganz bewußt -, daß wir kein technokratisches und kein bürokratisches Europa wollen, in dem alles und jedes geregelt wird, sondern ein lebendiges, breit getragenes Europa, in dem neben den Fragen der wirtschaftlichen Einheit und des gemeinsamen Marktes auch entscheidende soziale und arbeitsmarktpolitische Fragen einen anderen und einen höheren Rang bekommen. Wir haben bei den Vorbereitungsarbeiten für die Regierungskonferenz, mit großem Engagement auch der Länderebene, durchgesetzt, daß drängende Bürgeranliegen unserer Zeit wie Umweltschutz, Verbraucher- und Gesundheitsschutz sowie der Aspekt der sozialen Sicherheit gleichberechtigt neben den wirtschaftlichen Zielsetzungen
Grußwort von Staatssekretär Klaus Rüter
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der Europäischen Union und stärker als bisher im Vertrag eingebracht werden sollen. Unsere Bemühungen haben ihre konkrete Ausprägung in einem Beschluß des Bundesrates vom 15. Dezember 1995 gefunden, in dem neben den Forderungen nach dem stärker zu berücksichtigenden Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen und den Ressourcen für Mensch, Tier und Pflanzen ausdrücklich auch die Aufnahme von Grundrechten in das Gemeinschaftsrecht zur Intensivierung des Bürgerbewußtseins in einem gemeinsamen Europa niedergeschrieben ist. Ich weiß, daß diese Forderungen sehr schwer umzusetzen sind, allein schon deshalb, weil viele und sehr unterschiedliche politische Kulturen und Traditionen in der öffentlichen Diskussion mitschwingen. Ich denke aber: das Unternehmen lohnt sich, auch wenn es nicht sofort in die Tat umgesetzt werden kann. Gleichermaßen halten wir es für wichtig, daß vor dem Hintergrund des Urteils des Europäischen Gerichtshofs zu den Gleichstellungsregelungen des Landes Bremen deutliche Weichenstellungen einer aktiven und wirksamen Gleichstellungspolitik in die Europäischen Statuten aufgenommen werden. Jedenfalls darf Europa eine wirksame Gleichstellungspolitik in den Mitgliedstaaten nicht behindern. Hier haben wir manchmal unterschiedliche Auffassungen, je nachdem ob die Staatskanzlei agiert oder ob die Fachminister agieren. Fachminister neigen dazu, ihre Fachpolitiken durchzusetzen. Sie sind dann ganz froh, wenn sie dafür Rückendeckung von Europa haben. Dann stellt sich die Frage der fachpolitischen Subsidiarität nicht in dem Maße, wie das bei denen der Fall ist, die sozusagen global und über Fachgebiete hinaus zuständig sind. Deshalb betone ich ganz bewußt diesen Aspekt bei der Frage der Gleichstellung. Das Entscheidende ist, daß bestimmte Fragen zulässig bleiben, national und regional geregelt werden können und nicht unbedingt von Europa oktroyiert werden. Es ist richtig: Europa darf nicht von oben befohlen werden. Das geht auch gar nicht. Es muß von unten her zusammenwachsen. Deshalb sind wir für die Stärkung des Ausschusses der Regionen als eines der regionalen Ebene vorbehaltenes Gremiums zur Wahrung der Einflußmöglichkeiten von Ländern und Kommunen in Europa. Gerade durch Beachtung des bereits erwähnten Grundsatzes der Subsidiarität, der zunehmend auch inhaltlich an Bedeutung gewinnt und inzwischen eine wirklich politische Dimension angenommen hat, muß das Regionale seinen Rang bewahren. Großräumige wirtschaftliche Verflechtungen müssen einhergehen mit Bewahrung und Stärkung der im weitesten Sinne des Wortes kulturellen Eigenheit und Identität in den vielfältigen Regionen. Ein Einheits-Europa ist absurd und wird unserer geschichtlichen Tradition nicht gerecht und wenn ich das richtig sehe, will das eigentlich auch niemand. Ich bin sicher, daß wichtige und für die Zukunft unserer Länder maßgebliche Zukunftsfragen in der Regierungskonferenz 1996 zur Entscheidung anstehen. Wir werden hoffentlich zu guten und brauchbaren Kompromissen kommen. Aber es wird bei der Vielfalt der Interessen sowie der kulturellen Identitäten der Länder nicht einfach sein, diesen Weg am Ende einvernehmlich zu gehen. Sie selbst wer-
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Grußwort von Staatssekretär Klaus Rüter
den bei der Podiumsdiskussion zum Thema "Erwartungen an die Regierungskonferenz 1996" Gelegenheit haben, einzelne der hier angesprochenen Themen aufzugreifen und weiter zu vertiefen. Soviel zum Thema selbst. Als ich eben hierher gefahren bin, habe ich die neueste "Zeit" gelesen. Darin war Europa ganz groß geschrieben. Das Image von Europa ist nicht so gut, wie wir es gerne haben möchten. Wie kann man etwas zur Verbesserung des Images von Europa tun? Man will eine Werbekampagne in Szene setzen, nicht nur "Die Zeit" sondern die, die in Europa Verantwortlichkeit tragen. "Die Zeit" will daran mitwirken. Man hat sich zu diesem Zweck eine Anzeige mit drei ganz jungen Menschen ausgedacht, die sich noch in Windeln befinden. Dort heißt es: 2035 werden sie Europa regieren, eine schottische Finanzministerin, ein französischer Kulturminister, ein italienischer Ernährungsminister usw.. Gewöhnen Sie sich daran: in Zukunft wird nicht mehr die Generation der nationalen Skeptiker in Europa das Sagen haben, sondern die der europaorientierten, realen Praktiker. Die Anzeige klingt ganz zuversichtlich. Wenn diese Werbeaktion Anklang findet und Erfolg hat, dann sind wir wieder einen großen Schritt voran, genauso wie dann, wenn Maastricht 11 erfolgreich sein wird. Ich möchte abschließend meinen- ganz besonderen Dank sagen den wissenschaftlichen Leitern der diesjährigen Fortbildungsveranstaltung Herrn Professor Magiera sowie Herrn Professor Siedentopf, denen es wieder einmal durch die Auswahl kompetenter Gesprächspartner bei einer wirklich interessanten ThemensteIlung gelungen ist, eine ganz hervorragende Tagung in Szene zu setzen, den Gedankenaustausch zwischen Wissenschaft und Praxis im Sinne der "Speyerer Doktrin" voranzutreiben und damit Ehre für Speyer und für die Hochschule einzulegen.
Die Zukunft der Europäischen Union Einführung in das Tagungsthema
Von Siegfried Magiera Die Frage nach der Zukunft der Europäischen Union bildet in diesem Jahr nicht nur das Leitthema der staatswissenschaftlichen Fortbildungstagung unserer Hochschule, sondern sie steht auch im Mittelpunkt der Bemühungen der europäischen Staaten und Völker um die Bewahrung und Fortentwicklung ihrer jeweils eigenen, aber auch der allen gemeinsamen Identität und Existenzgrundlagen. Auf dem Prüfstand steht der europäische Einigungsprozeß in seiner Gesamtheit und seinen verschiedenen Teilaspekten, die wir im Untertitel zu unserer Tagung mit den Begriffen "Integration, Koordination, Dezentralisierung" umschrieben haben. Sichtbarer Ausdruck für die Bedeutung unseres Themas ist die in der kommenden Woche in Turin beginnende Regierungskonferenz zur Überprüfung des Vertrags von Maastricht über die Europäische Union.
I. Die Regierungskonferenz 1996
1. Die Regierungskonferenz hat zunächst den vertraglich festgelegten Auftrag, einige konkrete Vertragsbestimmungen im Einklang mit den allgemeinen Vertragszielen zu überprüfen, nämlich die Angemessenheit des gemeinschaftlichen Rechtsnormensystems, die Ausdehnung des parlamentarischen Mitentscheidungsrechts, die Erweiterung der Gemeinschaftsaufgaben in den Bereichen Energie, Katastrophenschutz und Fremdenverkehr sowie das Funktionieren der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik. Ferner ist die Regierungskonferenz vom Europäischen Rat und durch interinstitutionelle Vereinbarungen der Gemeinschaftsorgane aufgefordert worden, einige zusätzliche Themen zu behandeln, insbesondere die Reform der Institutionen und Verfahren zur Anpassung an die künftige Erweiterung der Europäischen Union sowie die Überprüfung des Haushaltsverfahrens und der Durchführungsbefugnisse der Kommission zur besseren Abstimmung zwischen den Gemeinschaftsorganen. 2. Die Regierungskonferenz und die genannten Themen sind nicht isoliert, sondern in ihrem Kontext zu betrachten, aus dem sich im Verlauf der Beratungen neue Gewichtungen und Ergänzungen ergeben können. 2 Magiera/Siedentopf
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Im Vordergrund steht dabei die Erweiterung der Europäischen Union nach Osten und Süden. Damit verbunden ist die erforderliche Neuordnung der Unionsfinanzierung, insbesondere die Überprüfung der Agrarmarkt- und der Strukturpolitik als größte Ausgabenbereiche. Zum Kontext gehört ferner die Wirtschafts- und Währungsunion, deren Vollendung nicht automatisch gesichert ist, sondern noch erheblicher Anstrengungen und politischer Entscheidungen bedarf. Obwohl der Kontext nicht unmittelbarer Verhandlungsgegenstand ist, sind einzelne Auswirkungen auf die Regierungskonferenz schon jetzt spürbar, wenn es etwa darum geht, ob und inwieweit die Union eine verstärkte Beschäftigungspolitik verfolgen soll.
11. Schwerpunkte der Unionsentwicklung Die Zukunft der Europäischen Union kann nicht angemessen beurteilt werden ohne einen Rückblick auf die bisherige Entwicklung der Europäischen Gemeinschaften und ihrer Vorgeschichte. Die Gemeinschaftsorgane, insbesondere Parlament, Rat und Kommission, haben in ihren ausführlichen Berichten über das Funktionieren des Unionsvertrages im vorigen Jahr eine kritische, aber auch bemerkenswert einhellige Bilanz der Erfahrungen mit dem Vertrag von Maastricht gezogen. Im Anschluß daran hat die Reflexionsgruppe, bestehend aus den persönlichen Beauftragten der Außenminister der Mitgliedstaaten sowie aus Vertretern des Parlaments und der Kommission, in ihrem differenzierten Bericht die erforderlichen und die wünschenswerten Vertragsänderungen aufgezeigt. Inzwischen liegen auch die entsprechenden Überlegungen der Kommission und des Parlaments vor; darüber hinaus haben sich die Regierungen zahlreicher Mitgliedstaaten, in Deutschland auch die Länder, dazu geäußert. Auf Einzelheiten dieser Analysen und Schlußfolgerungen kann ich hier nicht näher eingehen. Vielmehr möchte ich mich auf drei Schwerpunkte konzentrieren, die aufgrund der bisherigen und der absehbaren Entwicklung für die Zukunft der Europäischen Union von entscheidender Bedeutung sind. Es handelt sich um die Sicherung des Integrationsprinzips bei der europäischen Zusammenarbeit, um die Beteiligung der Bürger an der Europäischen Union und um die Befähigung der Union zur Erweiterung um neue Mitgliedstaaten.
III. Sicherung des Integrationsprinzips I. Die Zukunft der Europäischen Union erfordert zunächst eine Sicherung des Integrationsprinzips. Dieses ist das unverwechselbare Kernelement der Europäi.-
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schen Gemeinschaften und der Europäischen Union. Es führt quantitativ und vor allem qualitativ über die traditionelle zwischenstaatliche Zusammenarbeit hinaus und bewirkt die Errichtung eines neuartigen Gemeinwesens, das neben die beteiligten Staaten tritt und diese unter Einbeziehung ihrer Völker zugleich miteinander verbindet. Integration bedeutet nicht nur gemeinsame Aufgabenwahrnehmung durch die Regierungen der beteiligten Staaten, sondern Vergemeinschaftung von Aufgaben im gemeinsamen Interesse und Wahrnehmung dieser Aufgaben durch besondere Institutionen und Verfahren. Diese sind so gestaltet, daß sie die Einbringung und Abstimmung der verschiedenen Interessen sowie ein institutionelles Gleichgewicht entsprechend der staatlich bewährten Gewaltenteilung zum Schutz der Bürger ermöglichen. Die Rechtsordnung der Gemeinschaft unterscheidet sich von denjenigen der Mitgliedstaaten, gilt aufgrund ihres Vorrangs gleichermaßen in allen Mitgliedstaaten und berechtigt und verpflichtet neben den Mitgliedstaaten auch die einzelnen Bürger. Das Gemeinschaftsrecht kommt unter Beteiligung der mittelbar demokratisch legitimierten Regierungen und des unmittelbar demokratisch legitimierten Europäischen Parlaments zustande und unterliegt der Rechtskontrolle durch die nationale und die gemeinschaftliche Gerichtsbarkeit. 2. Diesen umfangreichen Sicherungen unterliegt die traditionelle zwischenstaatliche Zusammenarbeit nicht in gleichem Maße; insbesondere mangelt es ihr an einer entsprechend wirksamen parlamentarischen und richterlichen Kontrolle. Deshalb erwecken die den ursprünglichen Gemeinschaftsverträgen durch den Unionsvertrag angefügten zwischenstaatlichen Säulen der Gemeinsamen Außenund Sicherheitspolitik sowie der Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres Bedenken nicht nur wegen ihrer praktischen Effizienzmängel, sondern auch wegen ihrer demokratischen und rechtsstaatlichen Strukturmängel. Dies gilt insbesondere für die Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres, die für die individuellen Rechte und Pflichten der Bürger von unmittelbarer und grundlegender Bedeutung ist. Die Bedenken werden dadurch verstärkt, daß das zwischenstaatliche Verfahren im Rahmen der Union nunmehr systematisch und dauerhaft, nicht wie früher lediglich ad hoc und eher sporadisch genutzt wird. 3. Erforderlich und folgerichtig erschiene es deshalb, die Bereiche der zwischenstaatlichen Zusammenarbeit unter Beachtung ihrer jeweiligen Besonderheiten entweder in die Gemeinschaftssäule einzubeziehen oder zumindest die gemeinschaftlichen Institutionen und Verfahren in den zwischenstaatlichen Säulen zu verstärken. Dazu gehören insbesondere die Möglichkeiten von Mehrheitsentscheidungen des Rates, einer Beteiligung des Parlaments im Wege der Mitentscheidung und einer umfassenden Rechtskontrolle durch den Gerichtshof.
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IV. Bürgerbeteiligung an der Europäischen Union
1. Die Zukunft der Europäischen Union erfordert weiter eine Beteiligung der Bürger an ihrer Gestaltung. Das Vertragsrecht hat die europäische Integration von Anfang an auf einen Zusammenschluß nicht nur der Staaten, sondern auch der Völker Europas ausgerichtet. Allerdings waren die Bürger zunächst hauptsächlich in ihrer Eigenschaft als Beteiligte am Wirtschaftsverkehr erfaßt. Im Vordergrund stand zudem ihre eher passive Begünstigung durch die Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts. Erst allmählich erweiterte sich ihre Betroffenheit auf nichtwirtschaftliche Bereiche und in Richtung auf eine aktive Mitwirkung an den Gemeinschaftsangelegenheiten. Sichtbarster Ausdruck dafür waren die Zuerkennung des unmittelbaren Wahlrechts zum Europäischen Parlament Ende der 70er Jahre und die Ausdehnung der Freizügigkeit auf alle Gemeinschaftsangehörigen Anfang der 90er Jahre. Dennoch erfolgte die Zustimmung zum Vertrag von Maastricht in den Mitgliedstaaten, die dafür eine Volksabstimmung benötigten, teilweise nur knapp und erst im zweiten Anlauf. Auch ist es bisher nicht gelungen, die Personenkontrollen an den Binnengrenzen der Europäischen Union als Symbol zwischenstaatlicher Trennung gemeinschaftsrechtlich und gemeinschaftsweit zu beseitigen. 2. Damit sich die Zurückhaltung im Anschluß an die bevorstehende Regierungskonferenz nicht wiederholt, müssen die Unionsbürger angemessener und vor allem aktiver in die Unionsangelegenheiten eingebunden werden. Sie müssen erkennen, daß die Union keine Alternative zu den Mitgliedstaaten ist, sondern zusammen mit diesen und deren Untergliederungen ein einziges, in sich differenziertes Gemeinwesen bildet. Die Unionsbürgerschaft schließt die Staatsangehörigkeit ebensowenig aus wie diese die Landes- oder Gemeindezugehörigkeit. 3. Eine stärkere und aktivere Beteiligung der Unionsbürger an den Unionsangelegenheiten bedingt in erster Linie eine Stärkung des Europäischen Parlaments durch gleichberechtigte Mitwirkung an der bürgerrelevanten Rechtssetzung neben dem Rat und durch wirksame Kontrollmöglichkeiten. Fordert das demokratische Prinzip, wie es das Bundesverfassungsgericht in seinem Maastricht-Urteil annimmt, parlamentarische Aufgaben und Befugnisse von substantiellem Gewicht, so gilt dies nicht nur für die staatliche, sondern auch für die gemeinschaftliche Ebene. Damit das europäische Wahlrecht und die sonstigen Beteiligungsmöglichkeiten von den Unionsbürgern verständig und wirksam genutzt werden können, bedarf es zudem einer erhöhten Transparenz der Europäischen Union. Dazu gehören verständliche Rechtstexte einschließlich der Vertragsgrundlagen, durchschaubare Verfahren und deutliche Verantwortungszuweisungen. Allzu hoffnungsvolle Erwartungen sollten insoweit jedoch nicht gehegt werden. Einfachheit verträgt sich schlecht
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mit der immer wieder beschworenen Vielfalt Europas, und die Union wird sich kaum einfacher gestalten lassen als ihre Mitgliedstaaten. Eine in diesem Zusammenhang vorgeschlagene Kompetenzaufteilung nach Sachgebieten zwischen den verschiedenen Unionsebenen, wie sie etwa zwischen den verschiedenen Staatsebenen in Deutschland besteht, erscheint gegenwärtig noch verfrüht. Zur Verantwortungsklarheit könnte jedoch das Subsidiaritätsprinzip beitragen, wenn es zur Herausarbeitung von objektiven Kriterien genutzt würde, die eine struktur- und funktionsgerechte Aufgabenteilung zwischen den verschiedenen Gemeinschaftsebenen gewährleisten.
v. Erweiterungsfähigkeit der Europäischen Union 1. Die Zukunft der Europäischen Union erfordert schließlich die Befähigung zur Erweiterung um neue Mitgliedstaaten. Auch dieses Ziel lag der europäischen Integration von Anfang an zugrunde. Es kam mit aller Deutlichkeit in der Präambel des EWG-Vertrages zum Ausdruck, in der die Gründungsmitglieder die anderen Völker Europas, die sich zu den gleichen hohen Zielen bekennen, aufforderten, sich diesen Bestrebungen anzuschließen.
Institutionen und Verfahren der neu gegründeten Integrationsgemeinschaften waren ohne Vorbild und zunächst auf die nur sechs Gründungsmitglieder ausgerichtet. Inzwischen ist die Europäische Union auf fünfzehn Mitgliedstaaten angewachsen; ihre Erweiterung um etwa die gleiche Zahl steht bevor. Bei den bisherigen Erweiterungen sind die ursprünglichen Institutionen und Verfahren lediglich fortgeschrieben, aber nicht wirklich der größeren Zahl an Mitgliedstaaten angepaßt worden. Dies hat in der Gemeinschaft der Zwölf und der Union der Fünfzehn zu Spannungen geführt, die durch aufschiebende Kompromisse - zuletzt in Ioannina - überbrückt werden mußten. 2. Eine grundlegende Neuordnung der Institutionen und Verfahren vor der nächsten Erweiterung ist deshalb unabdingbar. Wie sie im einzelnen aussehen wird, ist äußerst umstritten und noch völlig offen. Unklar erscheint vor allem, wie 3ich ein angemessener Ausgleich zwischen den größeren und den - in Zukunft zahlreicher werdenden - kleineren Mitgliedstaaten erreichen läßt. Was das Parlament anbetrifft, so zeichnet sich eine Begrenzung der Abgeordnetensitze auf etwa 700 ab, die - bei einer Mindestzahl zugunsten der kleinsten Mitgliedstaaten - nach dem Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit auf die Mitgliedstaaten verteilt werden. Auf eine Vertretung aller Mitgliedstaaten in den übrigen Institutionen, einschließlich Kommission und Gerichtshof, wird in absehbarer Zeit kaum verzichtet werden können. Dies bedeutet jedoch nicht, daß alle Mitgliedstaaten in allen Institutionen gleichmäßig oder einige von ihnen weiterhin mehrfach vertreten sein müssen. Die Diskussion um die unterschiedliche Stimmengewich-
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tung zwischen größeren und kleineren Mitgliedstaaten im Rat ließe sich dabei entschärfen, wenn das Parlament als proportionale Vertretung der europäischen Völker gleichberechtigt neben dem Rat als Vertretung der Mitgliedstaaten an der Rechtssetzung beteiligt würde. 3. Was die Entscheidungsverfahren anbetrifft, müssen ihre Gesamtzahl und vor allem der Anwendungsbereich des Einstimmigkeitsprinzips erheblich reduziert werden. Es muß ernsthaft die Frage gestellt werden, ob in einer Union von zwanzig oder dreißig Mitgliedstaaten überhaupt noch Raum für das Einstimmigkeitsprinzip bleiben kann. Überzeugender erschiene es, entsprechend der Ewigkeitsgarantie in Art. 79 Abs. 3 des Grundgesetzes die wesentlichen Unionsgrundlagen als unabänderlich festzulegen und unter richterlichen Schutz zu stellen, im übrigen jedoch unterschiedlich qualifizierte Mehrheitsentscheidungen allgemein zuzulassen.
VI. Tagungsrahmen
Aus der Fülle der Fragen und Probleme, denen sich die Europäische Union stellen muß, konnten wir für unsere Tagung nur einen kleinen Ausschnitt auswählen. Dabei haben wir uns bemüht, aktuelle und grundlegende Themen miteinander zu verbinden und Experten aus der Praxis und der Wissenschaft mit, wie wir hoffen, auch unterschiedlichen Ansichten als Referenten einzuladen. Wir freuen uns, daß wir für unsere Tagung nicht nur namhafte Referenten gewinnen konnten, sondern daß auch eine so große Zahl ausgewiesener Wissenschaftler und Praktiker als unsere Gäste nach Speyer gekommen sind. Zugleich im Namen von Herrn Siedentopf begrüße ich Sie nochmals sehr herzlich und wünsche uns allen einen lebhaften Erfahrungsaustausch in den Plenarsitzungen wie in den persönlichen Gesprächen am Rande der Tagung. Die Referate und die Zusammenfassungen der Diskussionen sollen in einem Tagungsband veröffentlicht und damit allgemein zugänglich gemacht werden.
Kompetenzverteilung zwischen der Europäischen Union und den Mitgliedstaaten aus der Sicht der deutschen Länder Von Erwin Vetter Es ist ein Zeichen für die tiefe Verwurze1ung der Hochschule für Verwaltungswissenschaften in der Verwaltungspraxis, daß Kompetenzfragen an den Beginn der diesjährigen Staatswissenschaftlichen Fortbildungstagung gestellt wurden: "Bin ich überhaupt zuständig?" - dies ist eine Frage, die tatendurstigen jungen Regierungsassessoren von gestandenen Oberamtsräten bereits am ersten Tag ihrer Verwaltungslaufbahn eingebleut wird. So mancher kühne strategische Ansatz nahm an dieser - nur auf den ersten Blick kleinlichen - Prüfung sein Ende. Auch in der weiteren Verwaltungskarriere spielt die Kompetenzverteilung eine nicht zu unterschätzende Rolle. Positive und negative Kompetenzkonflikte - je nach Attraktivität der umstrittenen Materie - ergeben ein unerschöpfliches Thema für verwaltungssoziologische Betrachtungen aber auch für Gespräche in Behördenkantinen. In diesen administrativen Karawansereien fesseln Erzählungen über kühne Offensiven und zähe Abwehrkämpfe, ruhmreiche Erfolge und demütigende Niederlagen beim Kampf um Kompetenzen zwischen Referaten, Abteilungen und Ressorts. Quintessenz: Die Frage nach den Kompetenzen trifft mitten ins Herz - auch der aktuellen europapolitischen Diskussion.
I.
Die europäische Integration ist alles andere als ein geschichtsphilosophisch eindeutig auf das Ziel des Vereinten Europas hinstrebender, gesetzmäßiger Prozeß. Ganz im Gegenteil: Die europäische Einigung ist durch ständige Auf- und Abschwünge gekennzeichnet. Besonders bemerkenswert ist die Tatsache, daß dabei Höhen und Tiefen, Erfolge und Stagnation, dicht beieinander liegen. Ein gutes Beispiel dafür ist das Binnenmarktprogramm. Hervorgegangen aus der ersten breit angelegten Überarbeitung der "Römischen Verträge" bedeutete der Binnenmarkt die Überwindung der "Eurosklerose" des Beginns der 80er Jahre. Unter der Leitung von Kommissionspräsident Jacques Delors ist es innerhalb weniger
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Jahre gelungen, mit den 300 Regelungen des Binnenmarktprogramms ein gemeineuropäisches Wirtschaftsrecht zu schaffen. Noch etwas weiteres wurde erreicht: Im Kern ist das Binnenmarktprogramm ein riesiges Deregulierungsprogramm. Mit ihm ist es gelungen, Verkrustungen aufzubrechen, die innerstaatlich allein wohl nicht mehr zu lösen gewesen wären. Gleichzeitig mit der in der Schlußphase des Binnenmarktprogramms auf Hochtouren laufenden Gesetzgebungsmaschinerie (180 Rechtsakte allein im Jahre 1990) setzte jedoch die Diskussion um eine angebliche "EG-Regelungswut" ein. Die Europäische Gemeinschaft, die es geschafft hatte, praktisch über Jahrzehnte hinweg ein Thema allein für Fachleute zu bleiben, bei dem "Politik in Verwaltung" transformiert wurde, sah sich plötzlich einer durchaus kritischen öffentlichen Meinung gegenüber. Die Ursachen für diesen abrupten Stimmungsumschwung sind vielfältig. Ich will hier nur kurz auf folgende Gesichtspunkte hinweisen: - Mit dem Erreichen des Binnenmarktziels war die Finalität der in erster Linie auf die Wirtschaft gerichteten europäischen Einigung im wesentlichen erfüllt. Bereits damit schien die Europäische Gemeinschaft ihren Legitimationskredit fast überzogen zu haben. Nicht geleugnet werden kann eine gewisse bürokratische Eigendynamik des EG-Rechtsetzungsprozesses. Mitunter hat man den Eindruck, daß in den Generaldirektionen der Europäischen Kommission administrative Forschungsreisende unterwegs sind, die sich bemühen, noch den letzten weißen Fleck auf der bürokratischen Landkarte mit einer geeigneten Regelung zu füllen. Unterstützt werden die Kommissionsmitarbeiter dabei - dies muß gesehen werden - durch ganze Legionen von Verbandsvertretern und Lobbyisten, aber auch von nationalen Beamten, für die eine europäische Regelung die Krönung des Lebenswerkes sein kann. Übrigens: Wenn man an zahlreichen, in der Öffentlichkeit kritisierten Regelungen kratzt, so finden sich im Kern auch immer wieder deutsche Anliegen. Hier spielen auch die in einer immer größeren EG schwieriger werdenden politischen Entscheidungsprozesse eine Rolle. Mit den berühmten "Paketlösungen" wird in der Regel zweierlei erreicht: Alle Beteiligten sind mehr oder minder zufrieden, die Regelungsdichte wird jedoch eindeutig höher. Noch etwas hängt mit der EG-Erweiterung zusammen. Die inneren Bindungskräfte sind in einer Europäischen Union, die von Lappland bis zur Algarve reicht, schwächer, die äußeren Herausforderungen größer als in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft der 50er Jahre. Auch die wirtschaftlichen Schwierigkeiten der letzten Jahre haben zu dem Stimmungsumschwung beigetragen. Meinungsumfragen zeigen gerade für Deutsch-
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land, daß die Kompetenz zur Lösung wirtschaftlicher Schwierigkeiten eher auf nationalstaatlicher Ebene vermutet wird. - Ursächlich für das europäische Unbehagen waren jedoch nicht nur endogene Faktoren. Die Zeitenwende des Jahres 1989, die den äußeren Integrationsdruck wegfallen ließ, hat dabei sicher eine große Rolle gespielt. Für diesen Stimmungswandel typisch war die - mehr oder weniger entrüstete Frage nach den EU-Kompetenzen. War die europäische Einigung bis Ende der 80er Jahre noch ein heiliger Strom, dessen Mäandern und dessen gelegentliche Überschwemmungen nicht sonderlich störten, so wurde jetzt der Ruf nach Korrekturen immer lauter. Das Subsidiaritätsprinzip als Staustufe, Kompetenzabgrenzungen als Uferdämme - eine solche Zähmung des Stromes findet zunehmend Anhänger.
11. Für die Länder rückte das Thema mit der Diskussion um die EG-Fernsehrichtlinie in den Mittelpunkt des Interesses. Bei diesem kulturellen Thema wurde eine EG-Kompetenz abgelehnt. Die Fernsehrichtlinie wurde von den Ländern als Menetekel verstanden. Die von ihnen seitdem entwickelten europapolitischen Strategien im Hinblick auf Subsidiarität und Kompetenzabgrenzung finden hier ihren Ausgangspunkt. Mit der Fernsehrichtlinie ist die EG im Kernbereich der Länderzuständigkeiten tätig geworden. Der Rundfunkbereich ist innerstaatlich die piece de resistance der Länderkompetenzen, die bislang dem Erosionsprozeß des kooperativen Föderalismus standgehalten hatte. Das Engagement der Länder in dieser Angelegenheit war bemerkenswert. Nachdem ein jahrzehntelanges Kompetenzwachstum des Bundes zu Lasten der Länder im System des kooperativen Föderalismus mehr oder minder akzeptiert worden war, so klingelten im Hinblick auf die EG nunmehr plötzlich alle Alarmglocken : Zur Klärung der Fragen des BundlLänder-Verhältnisses in diesem Zusammenhang wurde das Bundesverfassungsgericht angerufen. Zur EG-Regierungskonferenz, die 1992 zum Vertrag von Maastricht geführt hat, wurde ein dezidierter Forderungskatalog formuliert. Die Verankerung des Subsidiaritätsprinzips in Art. 3b EG-Vertrag sowie die Schaffung des Ausschusses der Regionen durch die Konferenz geht wesentlich auf diese Initiative der Länder zurück. Für die Regierungskonferenz, die in wenigen Tagen in Turin eröffnet werden wird, haben die Länder neben einer Weiterentwicklung des Subsidiaritätsprinzips vor allem auch eine verbesserte Kompetenzabgrenzung in den Mittelpunkt ihrer Anliegen gestellt.
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Im Beschluß des Bundesrats vom 15. Dezember 1995 (Bundesrats-Drucksache 667/95 Beschluß) wird insbesondere gefordert, den bisher weit gefaßten Zielkatalog von Art. 3 EG-Vertrag "in einen konkreten Aufgabenkatalog umzuwandeln, der lediglich auf die verschiedenen im Vertrag geregelten Einzelbefugnisse verweist und nicht mehr zur Begründung von Kompetenzen herangezogen werden kann". Darüber hinaus sollten aus Sicht der Länder die ausschließlichen EG-Zuständigkeiten enumerativ aufgezählt werden. Die Länder sehen sich in ihren Anliegen vom "Maastricht-Urteil" des Bundesverfassungsgerichts unterstützt, in dem eine erweiternde Auslegung der EU-Befugnisnormen für Deutschland nicht bindend erklärt wurde.
III. Worin liegen nun die Schwierigkeiten einer Abgrenzung der Kompetenzen zwischen Europäischer Union und Mitgliedstaaten begründet? Sollte der Grundsatz, nach dem die Befugnisse der Gemeinschaft nur nach Maßgabe der Gründungsverträge bestimmt und somit von dem erklärten Willen der Mitgliedstaaten abgeleitet werden, nicht mehr gelten? Wenn auch zuweilen ein anderer Eindruck entstanden sein mag, so hält zumindest das geschriebene Gemeinschaftsrecht am "Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung" fest. Die Gemeinschaft soll nur innerhalb der Grenzen der ihr im Vertrag zugewiesenen Befugnisse und gesetzten Ziele tätig werden dürfen. Kein Handeln also ohne ausdrückliche Ermächtigungsgrundlage - so bekräftigt unter anderem durch die Grundsatznorm des Art. 3b Abs. 1 EG-Vertrag. Die Praxis indes zeigt ein ganz anderen Bild: - Zum einen sind bereits die an den Aufgaben der Gemeinschaft ausgerichteten Kompetenznormen teilweise außerordentlich weit gefaßt. So dient zum Beispiel der schlichte Art. 43 EG-Vertrag als Grundlage für das umfassende Regelwerk der Agrarpolitik. Hinzuweisen ist weiter auf Art. 100 und l00a EG-Vertrag, die für den gemeinsamen Binnenmarkt Harmonisierungsmaßnahmen vorsehen, welche praktisch das gesamte Wirtschaftsrecht erfassen. - Eine weitere Ausdehnung der Gemeinschaftszuständigkeiten ermöglicht das Konzept der "implied powers". Hiernach setzt ein Tätigwerden der Gemeinschaft lediglich einen engen Sachzusammenhang mit bereits vorhandenen Zuständigkeitsnormen voraus. - Schließlich sind nach der "Vertragsabrundungskompetenz" von Art. 235 EGVertrag Maßnahmen auf Gemeinschaftsebene schon dann zulässig, wenn sie nur zur Zielverwirklichung der EG erforderlich erscheinen - einer konkreten Ermächtigungsnorm bedarf es in diesen Fällen nicht mehr.
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- Alle diese Vertragskompetenzen werden zudem durch den Europäischen Gerichtshof unter Anwendung der Maxime des "effet utile" weit ausgelegt. Mit dieser an den Zielen und Aufgaben orientierten Auslegung der Ermächtigungsnormen sollen, so der Europäische Gerichtshof, "die allfällig denkbaren Gemeinschaftsbefugnisse wirklich voll ausgeschöpft werden". Vor diesem Hintergrund zeigt sich, daß die Zuständigkeitsfrage oftmals nicht eindeutig geklärt werden kann, das Problem der Kompetenzabgrenzung somit einigen Zündstoff bietet.
Im Vorfeld der Regierungskonferenz ist das Problembewußtsein auf europäischer Ebene allerdings noch nicht sehr ausgeprägt. Sowohl das Europäische Parlament als auch die im Auftrag des Europäischen Rates mit der Entwicklung einer "Strategie für Europa" beauftragte Reflexionsgruppe sprechen sich für die Beibehaltung des derzeitigen Systems aus. Die Ausarbeitung einer genauen Liste der Zuständigkeiten der EU führe zu Unbeweglichkeit. Dem Evolutivcharakter bei der Auslegung der Ziele der Union könne nur unter Beibehaltung des Art. 235 EG-Vertrag Rechnung getragen werden. Gleichwohl sollte die Gemeinschaft von der Generalermächtigung des Art. 235 nur als letzte Möglichkeit und nach Zustimmung des Europäischen Parlaments Gebrauch machen.
IV. Die Vorschläge für eine exaktere Kompetenzabgrenzung sind ein erster Stein, den die Länder ins Wasser der Regierungskonferenz geworfen haben. Der Gedanke muß nunmehr weiterentwickelt werden. Das Konzept weist kurzfristige Aspekte auf, die bereits bei der kommenden Regierungskonferenz relevant werden können. Darüber hinaus gibt es jedoch auch längerfristige Perspektiven, die wohl erst im Rahmen einer Europäischen Verfassung eine Rolle spielen können. Es stellt sich allerdings die Frage, ob der bisherige Zielkatalog von Art. 3 in Verbindung mit Art. 235 EG-Vertrag sowie das allgemeine Ziel der Verwirklichung des Binnenmarktes in Art. 100 und 100a EG-Vertrag wirklich das Eingangstor für überbordende EG-Aktivitäten waren. Eine solche Betrachtungsweise würde den genuin politischen Charakter der europäischen Integration verkennen. Die Bedeutung der EG liegt zwar in ihrer Rolle als supranationaler Rechtsgemeinschaft, in ihrer Rechtsetzung ist sie dagegen nicht unbedingt das Muster exakter juristischer Deduktion. Dies beginnt bereits bei den Gemeinschaftsverträgen, die in vielem eher barocke Linien aufweisen. Festzustellen ist dies auch im Sekundärrecht, wo bereits die Suche nach einem konsolidierten Text zu einem Abenteuer werden kann. Vom Zeitalter der großen Kodifikationen - das die Nationalstaaten des 19. Jahrhundert kennzeichnete - ist die EG noch weit entfernt.
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Zuzugestehen ist jedoch, daß in einer immer größer werdenden EG mit einem immer weiteren Spektrum von Interessen der Kompetenzabgrenzung wachsende Bedeutung zukommt. Nur mit exakteren normativen Vorgaben wird politischer Streit vermieden, kann die EG handlungsfähig bleiben, können Blockaden verhindert werden. Auf was ist also in Zukunft zu achten? Zunächst die erste Frage: Kann es bei der anstehenden Regierungskonferenz um die Übertragung neuer Kompetenzen gehen? In der Schlußakte der Maastrichter Konferenz ist die Prüfung der Themen Katastrophenschutz, Energie und Fremdenverkehr festgelegt worden. Aktuell wird über mögliche EG-Zuständigkeiten für die Beschäftigungspolitik diskutiert. Für die Energiepolitik und den Fremdenverkehr wird von den Ländern kein Regelungsbedarf gesehen. Auch die Beschäftigungspolitik kann wirksam nur auf Ebene der Mitgliedstaaten betrieben werden. Für den Katastrophenschutz könnte dagegen eine vertragliche Grundlage für die bisherigen Aktivitäten gesucht und diese dadurch gleichzeitig begrenzt werden. Mit ähnlicher Zielsetzung tritt Baden-Württemberg auch dafür ein, die bisherigen Aktivitäten der EG bei der Förderung der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit - z. B. in den INTERREG-Programmen - auf eine eindeutige vertragliche Grundlage zu stellen. Hier sollten klare und verläßliche vertragliche Vorgaben geschaffen werden. Damit kein falscher Eindruck entsteht: Die Länder lehnen neue EG-Aktivitäten keineswegs ab. Aus Sicht der Länder sind neue Kompetenzen zur Bewältigung der großen Herausforderungen, die nur auf Gemeinschaftsebene gelöst werden können, notwendig. Zu nennen sind das Asylrecht, eine gemeinsame Visapolitik, die Bekämpfung der illegalen Einwanderung sowie der internationalen Kriminalität. Wie sollten derartige Kompetenznormen aussehen? Musterbeispiel für "moderne" EG-Kompetenzen sind die im Vertrag von Maastricht 1992 eingefügten Zuständigkeiten für Bildung, Kultur und Gesundheit. Diese Bestimmungen wurden in enger Abstimmung zwischen Bund und Ländern erarbeitet. Die Aufgaben der Gemeinschaft sind hier klar bestimmt und ihr Stellenwert gegenüber dem Handeln der Mitgliedstaaten ist eindeutig festgelegt. Im "Kulturartikel" 128 EG-Vertrag ist zum Beispiel geregelt, daß die Gemeinschaft die Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten lediglich "fördert", "unterstützt" und erforderlichenfalls "ergänzt". Klargestellt ist die "Wahrung der nationalen und regionalen Vielfalt" der Kulturen. Unter allen diesen Gesichtspunkten werden - soweit überhaupt möglich - konkrete Vorgaben für mögliches Gemeinschaftshandeln gemacht.
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Soweit es bei der anstehenden Regierungskonferenz - sicher nur in sehr bescheidenem Maße - zu neuen Kompetenzübertragungen kommen sollte, wären diese Vorschriften ein gutes Vorbild. Neben Rechtsakten stellen EG-Förderprogramme einen der Schwerpunkte europäischen HandeIns dar. Durch Ge1dverteilung im Rahmen zahlreicher EG-Programme wird europäische Politik gemacht. Hier sollten Regelungen gefunden werden, mit denen Wildwuchs bekämpft werden kann. Ein Beispiel: Mit einer Gemeinschaftsinitiative für städtische Gebiete namens URBAN, die für den Zeitraum 1994 bis 1999 mit 600 Mio. ECU ausgestattet ist, sollen nach der Vorstellung der EG-Kommission Wege für die Entwicklung der Städte aufgezeigt werden. Die förderfähigen Maßnahmen gehen dabei bis hin zur Renovierung von Gebäuden und der Sanierung öffentlicher Anlagen sowie der Bereitstellung von Einrichtungen für Kultur, Freizeit und Sport. Ein derartiges Programm wirft mehrere Probleme auf: Zum einen werden damit die ohnehin knappen EG-Mittel in Anspruch genommen, der Druck auf weitere finanzielle Transferleistungen steigt. Zum anderen dienen solche Programme oft als Einstieg in neue Kompetenzen: In der Vergangenheit konnte immer wieder eine Entwicklung festgestellt werden, die von ersten Studien der Kommission über Kongresse und Seminare, Förderprogramme, unverbindliche Empfehlungen bis hin zu ausgewachsenen Regelungen reichte. Aus diesem Grunde sollte klargestellt werden, daß EG-Förderprogramme nur im Rahmen der im Vertrag zugewiesenen Kompetenzen möglich sind. Darüber hinaus sollte eindeutig bestimmt werden, daß Förderprogramme grenzüberschreitend angelegt sein müssen und nicht nationale Aktivitäten ersetzen dürfen. Als drittes Kriterium wäre auf eine angemessene Zweck-Mittel-Relation zu achten. Ein krasses Gegenbeispiel war hier ein seit Jahren - bereits vor der Verankerung kultureller Zuständigkeiten im EG-Vertrag - praktiziertes Denkmalpflegeprogramm der EG. Damit wurden mit wenigen Millionen ECU im Jahr und wechselnden Schwerpunkten denkmalpflegerische Maßnahmen gefördert. Ging es das eine Jahr um historische Parkanlagen, so im nächsten um technische Baudenkmäler oder alte Theater. Bei Fördersummen für einige wenige Projekte von etwa 100.000 ECU bestand hier ein eklatantes Mißverhältnis zwischen Hunderten von Anträgen und den wenigen zur Verfügung stehenden Mitteln. Weiter wäre daran zu denken, die Bereiche aufzulisten, die in die "ausschließliche Zuständigkeit" der Gemeinschaft fallen. Diese Frage ist im Hinblick auf die Anwendung des Subsidiaritätsprinzips nach Art. 3b EG-Vertrag von großer Bedeutung. Dort ist festgehalten, daß das Prinzip nur in den Bereichen anzuwenden ist, die nicht in ausschließliche EG-Zuständigkeiten fallen. An anderer Stelle des Vertrages taucht dieser Begriff allerdings nicht weiter auf. In der Vergangenheit hat sich immer wieder Streit darüber ergeben, wie diese Zuständigkeiten abzugrenzen sind. Aus Sicht der EG-Kommission ist z. B. der Binnenmarkt eine ausschließliche
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Zuständigkeit, das heißt der gesamte Binnenmarkt wäre der Subsidiaritätsprüfung entzogen. Hier sollte Klarheit geschaffen werden. Aus Sicht der Länder sind ausschließliche Zuständigkeiten nur: - Gemeinsame Handelspolitik einschließlich Zolltarife und materielles Zollrecht, - Rahmenrecht für Landwirtschafts- und Fischereimarktordnung, - Geldpolitik ab der dritten Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion, - EG-Personalrecht, - Assoziierung mit Drittstaaten und internationalen Organisationen.
V. Zweites Steuerungsinstrument für die Kompetenzverteilung zwischen EG- und mitgliedstaatlicher Ebene ist - wie oben bereits angedeutet - das Subsidiaritätsprinzip. Hier besteht ein enger Zusammenhang: Bei einer eher allgemein gehaltenen Kompetenzzuordnung für die EU wächst die Bedeutung des Subsidiaritätsprinzips für die Balance zwischen EU und Mitgliedstaaten. Auch zur Weiterentwicklung des Subsidiaritätsprinzips haben die Länder Vorschläge gemacht. Hier geht es zum einen um - ich gestehe, äußerst fein ziselierte Änderungen der Formulierung von Art. 3b Abs. 2 EG-Vertrag. Danach soll für ein Handeln der EG zunächst geprüft werden, ob die Ziele nicht ausreichend auf der Ebene der Mitgliedstaaten - einschließlich deren regionaler und lokaler Gebietskörperschaften - erreicht werden können. Die Prüfung eines "europäischen Mehrwerts", der Frage, ob die EG die Ziele nicht "besser" als die Mitgliedstaaten erreichen kann, soll zukünftig unterbleiben. Darüber hinaus soll der Ausschuß der Regionen ein Klagerecht vor dem Europäischen Gerichtshof zur Durchsetzung des Subsidiaritätsprinzips erhalten. Die Bedeutung des Subsidiaritätspinzips geht jedoch über die eines Korrektivs bei der Kompetenzausübung hinaus. Gerade im Hinblick auf die Weiterentwicklung der Kompetenzverteilung zwischen EU und Mitgliedstaaten kann dieser Gedanke eine allgemeine Richtschnur sein. Die Subsidiarität muß zu einem Strukturprinzip für die Weiterentwicklung der Europäischen Verträge werden, die in großen Teilen bisher eine eher zufällige Ansammlung von Handlungsaufträgen darstellen. Subsidiarität kann damit zu einem umfassenden Leitbild - sowohl was die Kompetenzverteilung als auch die Kompetenzausübung angeht - für die künftige Europäische Union werden. Ich werde am Ende meines Vortrages nochmals auf diese Frage zurückkommen.
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Dieses Prinzip kann jedoch nicht allein stehen. Wie bereits in der christlichen Soziallehre herausgearbeitet, ist die Solidarität ein wichtiges Pendant zur Subsidiarität. Auf den EG-Bereich übertragen, ruft dies das Prinzip der Gemeinschaftstreue, wie es in Art. 5 EG-Vertrag verankert ist, in Erinnerung.
In diesem Zusammenhang muß ein Mißverständnis ausgeräumt werden: Den Ländern geht es mit der Subsidiarität nicht darum, ihren eigenen Kompetenzbereich von der europäischen Einigung abzuschotten. Wenn die EG-vertraglichen Voraussetzungen dafür vorliegen, kann es keinen Unterschied machen, ob die EG mit ihren Maßnahmen innerstaatlich im Bereich von Bundes- oder Länderkompetenzen aktiv wird. Subsidiarität bedeutet auch keine Einbahnstraße zu Lasten Europas. Bei der Regierungskonferenz, die zum Vertrag von Maastricht geführt hat, sind die Länder aktiv für - exakt abgegrenzte - neue EG-Kompetenzen in ihrem ureigensten Zuständigkeitsbereich eingetreten. Ergebnisse sind die neuen EG-Zuständigkeiten zum Beispiel für Bildung, Kultur, Jugend, Medien, Gesundheit, aber auch das Komrnunalwahlrecht für Unionsbürger und die Regelungen im Bereich der inneren Sicherheit. Hier wäre Baden-Württemberg sogar zu noch viel weitergehenden Schritten - zum Beispiel für operative Befugnisse des europäischen Kriminalamts EUROPOL - bereit gewesen.
VI.
Die Frage der Kompetenzverteilung zwischen EU und Mitgliedstaaten wird mit dem Fortschreiten der europäischen Integration an Bedeutung gewinnen. Vielleicht noch nicht bei dieser Regierungskonferenz, ganz sicher aber bei weiteren Schritten - eventuell auch in einem engeren Rahmen - werden sich konstitutive Probleme stellen, die grundsätzlicher Entscheidungen bedürfen. Die jetzige Diskussion über Kompetenzfragen ist demgegenüber eher einzelfallbezogen, oft auch defensiv. Allzu leicht gerät bei dieser Diskussion, bei der einzelne mutmaßliche "Kompetenzübergriffe" im Vordergrund stehen, der Gesamtzusammenhang aus dem Blickfeld. Zunächst einmal: Es wäre falsch, die Frage der Kompetenzverteilung als Nullsummenspiel zu betrachten. Aktivitäten der EG müssen keineswegs zu Lasten mitgliedstaatlichen HandeIns gehen. So kann man nicht sagen, daß zum Beispiel Studentenaustauschprogramme wie ERASMUS oder SOKRATES zu Lasten der Kulturhoheit der Länder und der Autonomie der Hochschulen gehen. Eine allein auf Kompetenzverlust abstellende Sicht der Dinge wird derartigem europäischen Handeln nicht gerecht. Insgesamt kann durch Einbeziehung der europäischen Dimension eine Bereicherung und Intensivierung der Aktivitäten erwartet werden.
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Zu einem späteren Zeitpunkt stellt sich die Frage, inwieweit für die Kompetenzverteilung zwischen EU und Mitgliedstaaten - entsprechend bundesstaatlichen Vorbildern - auch das Instrument eines Kompetenzkatalogs, der an die Stelle der bisherigen Zielorientierung der Gemeinschaftsverträge treten würde, genutzt werden sollte. Ich muß gestehen, daß ich hier eher zurückhaltend bin. Die Europäische Union wird als supranationale Gemeinschaft nie durch schlichte Übernahme bundesstaatlicher Muster zu organisieren sein. Für ein Gebilde mit bereits heute 370 Mill. Einwohnern, in dem die verschiedensten Sprachen gesprochen werden, mit 15 verschiedenen nationalen Traditionen, können staatsrechtliche Modelle des 18. und 19. Jahrhunderts nur sehr eingeschränkt übernommen werden. Es müssen vielmehr immer wieder neue und eigene Strukturen gefunden werden, die die notwendige Einheit sichern und gleichzeitig Spielräume für Vielfalt lassen. Wenn der Nationalstaat des 19. Jahrhunderts die Modeme verkörpert, so ist die Europäische Gemeinschaft zum Ende des 20. Jahrhunderts ein Gebilde der Postmoderne. Vielfalt und Mehrstimmigkeit sind Kennzeichen einer derartigen Ordnung. Steigerung der Möglichkeiten und Steigerung der Teilhabe sind Eckpunkte. Die alten Rezepte der Anfangsjahre der Europäischen Gemeinschaft, die Vision der "Vereinigten Staaten von Europa", die das Bundesstaatsmodell 1:1 auf die europäische Ebene übertragen wollte, ist nicht mehr zeitgemäß. Um Mißverständnissen vorzubeugen: Dies muß nicht geringere Geschlossenheit und nicht weniger Handlungsfähigkeit bedeuten. Dies besagt nur, daß nach Organisationsfonnen gesucht werden muß, die dem Stand der Zeit eher entsprechen. Das Rad der Entscheidungsprozesse dreht sich immer schneller. Wir sehen bereits innerstaatlich, welche Schwierigkeiten eine bundesstaatliehe Ordnung hat, hier mitzukommen. Dies muß berücksichtigt werden, wenn es um die künftige europäische Ordnung geht. Ein Nebeneinander zwischen einer eher punktuellen europäischen Zielorientierung und im Prinzip weiterhin umfassenden mitgliedstaatlichen Kompet~nzen erscheint durchaus sinnvoll. Die Übertragung genau abgegrenzter, "flächenhafter" Kompetenzen auf die EG wäre - wohl ganz entgegen der Absicht der Initiatoren eher kontraproduktiv. Gerade die Zielorientierung bedeutet nicht nur Offenheit, sondern auch Beschränkung. Der Verzicht auf einen Zie1katalog müßte als Einladung verstanden werden, die im Vertrag enthaltenen Kompetenzen umfassend und flächendeckend auszuschöpfen. Wenn in den Art. 100 und 100a EG-Vertrag die EG die Kompetenz zum Erlaß von Rechtsvorschriften hat, "welche die Errichtung und das Funktionieren des Binnenmarktes zum Gegenstand haben", dann haben wir eine deutliche Einschränkung des möglichen Handlungsrahmens. Für den Binnenmarkt ist zum Beispiel nicht das gesamte Handels- und Zivilrecht auf die europäische Ebene zu ziehen. Die EG hat sich unter dieser Vorgabe zu Recht darauf beschränkt, Themen wie Produkthaftung, Handelsvertreterrecht, Verbraucherschutz, gewerblichen Rechtsschutz und Urheberrecht zu regeln.
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Auch ein vollständiger Verzicht auf die Vertragsabrundungskompetenz von Art. 235 EG-Vertrag erscheint nicht unbedingt notwendig. Wenn die Europäische Gemeinschaft als eine gemeinsame Veranstaltung der Mitgliedstaaten zur Verfolgung übergreifender Interessen verstanden wird, ist nicht einzusehen, sich hier unnötig Fesseln anzulegen. Die Praxis hat gezeigt, daß es - auch im deutschen Interesse immer wieder nötig ist, auf diese Bestimmung zurückzugreifen. Gegen einen abschließenden und flächendeckenden Zuständigkeitskatalog sprechen im übrigen auch die Erfahrungen des Grundgesetzes. Die dort enthaltenen Kompetenzkataloge, verbunden mit der Bedürfnisklausel von Art. 72 Abs. 2 GG, waren alles andere als ein solides Bollwerk gegenüber einer sich ständig ausbreitenden Bundesgesetzgebung. Richtig ist der Hinweis von Prof. Scharpf auf eine für alle bundes staatlichen Verfassungen typische Asymmetrie: Die Zentralinstanz wird auf ausdrückliche Zuständigkeiten beschränkt und alle übrigen staatlichen Aufgaben den Mitgliedstaaten reserviert. So großzügig und günstig dieses Modell für die Gliedstaaten aussieht - in der Staatspraxis beinahe aller Bundesstaaten hat dies jedoch zu einer ungehinderten Ausdehnung des zentralstaatlichen Bereichs geführt. Scharpf spricht hier von einer "Lebenslüge des Föderalismus". Auch der nur schwächste argumentative Bezug zu einer der ausdrücklich aufgeführten Kompetenzen reicht aus, die nicht spezifizierten Residualkompetenzen der Gliedstaaten aus dem Felde zu schlagen. Von Scharpf wird demgegenüber die Wiederbelebung älterer Modelle eines "dualen Föderalismus", der die Kompetenzen heider staatlichen Ebenen festschreibt, vorgeschlagen.
Eine derartige Lösung würde jedoch den Rahmen eines völkerrechtlichen Vertrages, wie ihn der EG-Vertrag bisher darstellt, sprengen. Es sind die Mitgliedstaaten, die der EG in diesem Vertrag einzelne Rechte übertragen, während ihnen grundsätzlich eine Allzuständigkeit - und vor allem auch die Kompetenz-Kompetenz - zukommt. Eine Verankerung dieser Souveränitätsrechte der Mitgliedstaaten im EG-Vertrag wäre ein Widerspruch in sich. Wenn es um eine Europäische Verfassung geht - also sicher nicht heute - sollten diese Gesichtspunkte jedoch berücksichtigt werden. Um vieles moderner als eine statische - angesichts der Vielzahl der Themen eher lexikographische - Kompetenzabgrenzung erscheinen verfahrensmäßige Instrumente zur Verhinderung von Kompetenzverschiebungen. Mit in diesem Sinne wirkt hier das "klassische" Einstimmigkeitserfordernis im EG-Vertrag. Im Regelfall dürfte es dabei zwar weniger um Rechts- als Interessenwahrung gehen. Dennoch sollte diese "Notbremse" - vor allem bei Anwendung von Art. 235 EG-Vertrag - nicht übersehen werden. Dieser Aspekt ist auch für die Länder von besonderer Bedeutung. In § 5 Abs. 3 des Gesetzes über die Zusammenarbeit von Bund und Ländern in Angelegenheiten der Europäischen Union vom 12. März 1993 (BGBL I S. 313) ist festgelegt, daß die Bundesregierung vor der 3 Magiera/Siedentopf
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Zustimmung zu Vorhaben, die auf diesen Artikel gestützt werden, das Einvernehmen mit dem Bundesrat herstellt, "soweit dessen Zustimmung nach innerstaatlichem Recht erforderlich wäre oder soweit die Länder innerstaatlich zuständig wären". Wahrung von Kompetenznormen ist auch Aufgabe des Europäischen Gerichtshofs, dem insoweit die Aufgaben eines Verfassungs gerichts zukommen. Vor allzu großen Hoffnungen war hier jedoch in der Vergangenheit zu warnen. Ähnlich wie das Bundesverfassungsgericht sich nicht der ausufernden Inanspruchnahme der konkurrierenden Gesetzgebungszuständigkeiten des Bundes entgegengestellt hat, so räumt auch der Europäische Gerichtshof entsprechend romanischer Tradition den europäischen Organen ein weites Ermessen ein. Darüber hinaus hat der Gerichtshof selbst das ganze Repertoire einer "dynamischen" Vertragsauslegung vorexerziert. Hier sollte über neue Lösungen nachgedacht werden. Hauptproblern der bisherigen Situation dürfte die Tatsache sein, daß der Europäische Gerichtshof als EU-Organ bei einem Rechtsstreit gegen die Gemeinschaft selbst einer Partei angehört. Überlegt werden sollte daher, ob nicht für Kompetenzstreitigkeiten ein eigener Kompetenzgerichtshof geschaffen werden könnte. Dieser wäre zur Hälfte mit Richtern des Europäischen Gerichtshofs und Richtern der nationalen Verfassungsgerichte zu besetzen. In einer nicht weiter institutionalisierten Art und Weise wird im übrigen bereits heute die Einhaltung der EG-Kompetenzen im Rahmen des "Kooperationsverhältnisses" gesichert, von dem das Bundesverfassungsgericht in seinem Verhältnis zum Europäischen Gerichtshof ausgeht. Die klaren Aussagen des Maastricht-Urteils zur Nichtanwendung von über die vertraglichen Festlegungen hinausgehendem Recht in der Bundesrepublik Deutschland sind ein Damoklesschwert, das bereits Wirkung gezeigt hat. Höchst aktuell ist dieses Thema im Hinblick auf die Bananenmarktordnung. In einem Beschluß vom 9. Januar 1996 hat der Bundesfinanzhof die Frage aufgeworfen, ob diese Regelungen aus verfassungsrechtlichen Gründen in der Bundesrepublik Deutschland nicht angewendet werden dürfen. Der Bundesfinanzhof wies darauf hin, daß es sich bei der Marktordnung im Hinblick auf übergeordnete völkerrechtliche Verpflichtungen aus dem GATT um einen sogenannten "ausbrechenden Rechtakt" handeln könnte, "an dessen Anwendung in der Bundesrepublik die deutschen Staatsorgane, auch die Gerichte, aus verfassungsrechtlichen Gründen gehindert wären". Derartige institutionelle und verfahrensmäßige Vorkehrungen scheinen mir für die Kompetenzabgrenzung zwischen Europäischer Union und Mitgliedstaaten tauglicher zu sein als statische Kataloge. Im Hinblick auf den immer noch in erster Linie politischen Charakter der europäischen Integration ist allerdings eine rechtliche Überprüfung nur eine ultima ratio.
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Ich teile die Auffassung von Prof. Schwarze (DVBl. 1995, S. 1268), daß, vergleichbar der jüngsten Rechtsentwicklung und Rechtsprechung des Supreme Court in den USA, Garantien für die Mitgliedstaaten "eher im politischen Prozeß als in einer exakten Zuständigkeitsabgrenzung" gefunden werden müssen. Es ist nur schwer möglich und auch nicht sinnvoll "to dictate a sacred province of state automomy". Die Mitgliedstaaten - und auch die Länder - sollten es nicht nötig haben, sich hinter kompetenzielle Festungswälle zurückzuziehen. Dies würde der europäischen Integration als politischem Prozeß nicht gerecht. Die Mitwirkung im Ausschuß der Regionen und im EU-Ministerrat bietet hier wirkungsvollere Möglichkeiten. Die Maxime sollte lauten: Soviel Klarheit der Kompetenzabgrenzung wie nötig, im übrigen sollte ein System von "checks and balances", sollten Instrumente wie Subsidiarität und gegenseitige Gemeinschaftstreue, die notwendige Balance herstellen. Die Länder treten so dafür ein, das Rücksichtnahmegebot von Art. 5 EGVertrag zu einem Prinzip gegenseitiger loyaler Zusammenarbeit - sowie es bereits in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs ausgearbeitet wurde - weiterzuentwickeln. Ähnliches scheint sich im übrigen im Hinblick auf das Subsidiaritätsprinzip abzuzeichnen. Hier dürfte im Rahmen der Regierungskonferenz eine Änderung von Art. 3 Abs. 2 EG-Vertrag kaum zu erreichen sein. Realistisch erscheint demgegenüber der Gedanke, in einem Protokoll zum Vertrag Verfahren festzulegen, mit denen die Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips gesichert werden kann. Gedacht werden könnte dabei auch an eine Vorabprüfung von Kommissionsvorschlägen unter Subsidiaritätsgesichtspunkten auf Antrag eines Mitgliedstaates. Eine Klage im Hinblick auf die Verletzung des Subsidiaritätsprinzips sollte gegenüber derartigen politischen Instrumenten nur eine ultima ratio sein.
VII. Die Diskussion zu Kompetenzfragen zeigt Orientierungsschwierigkeiten über den weiteren Weg der europäischen Einigung. Die immense Expansion der europäischen Regelungswerke in den 80er und zu Beginn der 90er Jahre hat den Blick für die grundlegenden Prinzipien der Europäischen Einigung mitunter verstellt. Entscheidend für eine künftige europäische Ordnung könnte die Erkenntnis sein, daß die Nationalstaaten heute für die großen Aufgaben zu klein und für die kleinen Aufgaben zu groß sind (Daniel Bell). Im Hinblick darauf sollten zukünftig stärker als in der Vergangenheit grundsätzlich drei Kompetenzebenen unterschieden werden: - Auf Gemeinschaftsebene sollten übergreifende Fragen behandelt werden, die die Möglichkeiten der Mitgliedstaaten übersteigen, 3*
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- auf Ebene der Mitgliedstaaten geht es um nationale Ordnung, Integration nach innen, aber auch um Steuerung und Legitimation des europäischen Prozesses, - Aufgabe der regionalen Ebene wäre die Gestaltung von Standort- und Lebensbedingungen für Unternehmen und Bürger. Wie dies in der Praxis aussehen kann, will ich kurz am Beispiel des Umweltschutzes erläutern: - Auf europäischer Ebene anzugehen sind sicher die Herausforderungen des Umweltschutzes, die nurmehr in größeren Zusammenhängen bewältigt werden können. Zu nennen sind hier Probleme wie die zunehmende Erwärmung der Erdatmosphäre, allgemein die Luftreinhaltung, der Schutz der Meere. Auch Bereiche der Umweltpolitik, die in engem Zusammenhang mit wirtschaftlichem Wettbewerb stehen, müssen auf EG-Ebene behandelt werden. Ziel muß hier eine Harmonisierung auf hohem Niveau sein. Dazu gehören umweltrelevante Produktnormen, die Setzung von Emissionsgrenzwerten als Mindestwerte für Anlagen und Verfahren, Mindestanforderungen an die Umweltqualität sowie Mindestregeln für Genehmigungsverfahren. Es geht hier um den "wettbewerbsorientierten Umweltschutz". - Aufgabe der Mitgliedstaaten ist zum Beispiel der Schutz der Umwelt mit Mitteln des Strafrechts. - Auf der Ebene von Ländern, Regionen und Kommunen muß dagegen eine "pflegeorientierte Umweltpolitik" angesiedelt werden. Hierzu zählen vor allem Aufgaben im Natur- und Landschaftsschutz und die Umweltverwaltung. Ein weiteres Beispiel für eine Verteilung nach dem Subsidiaritätsprinzip könnte eine Neuorientierung der EG-Forschungspolitik sein: Auf EG-Ebene wäre danach die Grundlagenforschung zu fördern, auf nationaler Ebene die vorwettbewerbliche industrienahe Forschung und Entwicklung, auf der Ebene der Länder der Technologietransfer von Forschungsergebnissen in die unternehmerische Praxis.
VIII.
Als Schlußfolgerung will ich sieben Thesen aufstellen: Erstens: Die Kompetenzdiskussion ist notwendig. Sie bringt Entwicklungen ans Licht, die bisher subkutan abgelaufen sind und führt die Notwendigkeit von Entscheidungen über den künftigen Weg der europäischen Integration vor Augen. Zweitens: Die Festlegung klarer Kompetenzen ist in einer größer werdenden Europäischen Union von zunehmender Bedeutung. Die Kompetenzdiskussion darf aber nicht defensiv geführt werden. Die Europäische Gemeinschaft ist eine von
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den Mitgliedstaaten und ihren Interessen getragene Einrichtung, sie ist kein nationale Zuständigkeiten aushöhlender Moloch. Drittens: Zuständigkeiten sind in der Regel kein Nullsummenspiel. Ein Zuständigkeitszuwachs auf Seiten der Europäischen Gemeinschaft bedeutet nicht zwangsläufig Verluste für die Mitgliedstaaten. Im Idealfall ergänzen sich beide Zuständigkeitsbereiche und führen insgesamt zu einer intensiveren und breiteren Aufgabenwahmehmung. Viertens: Exaktheit der Kompetenzabgrenzung und Subsidiarität stehen in Beziehung zueinander: Subsidiarität kann zusammen mit gegenseitiger Gemeinschaftstreue bei eher allgemeinen Zielbestimmungen für die EG ein Gleichgewicht zwischen europäischer und mitgliedstaatlicher Ebene herstellen. Fünftens: Die umfassende Ersetzung allgemeiner Aufgaben- und Zielbeschreibungen für die EG durch exakt abgegrenzte Kompetenzformulierungen erscheint nur schwer durchführbar und im Endeffekt auch wenig erfolgversprechend. Flexibilität und Dynamik des europäischen Prozesses sind im Interesse auch der Bundesrepublik Deutschland und ihrer Länder. Im übrigen dürfen vor dem Hintergrund der Erfahrungen der deutschen Staatspraxis die Erwartungen an einen Kompetenzkatalog nicht allzu hoch geschraubt werden. Sechstens: Gegenüber einer statischen Kompetenzzuordnung in Katalogform sind politische Verfahren, mit denen die Einhaltung der Kompetenzen gesichert werden kann, vorzuziehen. Eine rechtliche Überprüfung wäre die ultima ratio. Siebtens: Über seine Rolle als Kompetenzanwendungsrege1 hinaus kommt dem Subsidiaritätsprinzip grundsätzliche Bedeutung für die zukünftige Kompetenzverteilung zwischen Europäischer Union und Mitgliedstaaten zu. Mehr als in der Vergangenheit sollten Kompetenzen nach diesem Prinzip zugeordnet und Mischformen vermieden werden.
Neben der Subsidiarität darf aber die Solidarität im Verhältnis zwischen Europäischer Union und Mitgliedstaaten nicht zu kurz kommen.
Diskussion zu dem Referat von Erwin Vetter Leitung: Heinrich Siedentopf Bericht von Clemens Kurzidem Die Diskussion eröffnete Regierungsdirektor Walter Ortmeier, Ansbach, mit der Frage nach der Bedeutung von Art. 23 n.F. GG für die Abgabe von Kompetenzen des Bundes wie auch der Bundesländer an die Europäische Union. Die baden-württembergische Landesregierung, rein geographisch aus der Nachbarschaft zu Frankreich heraus pro-europäisch geprägt, so der Referent in seiner Antwort, halte Art. 23 GG i.Y.m. dem Gesetz über die Zusammenarbeit in Angelegenheiten der Europäischen Union für Vorschriften, die sich bewährt hätten. Das - funktionierende Beteiligungsverfahren verschaffe den Ländern eine gute Position gegenüber dem Bund. Allerdings, dies gelte es auch anzumerken, stoße der Föderalismus, was seine Entscheidungsgeschwindigkeit betrifft, bisweilen an Grenzen. In einer ergänzenden Bemerkung wies RA Hanns Joachim Beyer, Neuried, auf die seiner Meinung nach zu geringe Größe der Bundesländer Bremen, Hamburg und Saarland im Hinblick auf europäische Notwendigkeiten hin. Die Übertragung respektive Belassung von Aufgaben auf Länderebene im Zuge der Anwendung des Subsidiaritätsprinzips setze größenmäßig handlungsfähige Rechtssubjekte voraus. Um diese auch mit Blick auf die genannten Bundesländer zu gewährleisten, sei es dringend erforderlich, Pläne zur Neugliederung des Bundesgebietes, wie sie beispielsweise der Hamburger Bürgermeister Voscherau äußere, erneut aufzugreifen. Weiterhin stelle seiner Meinung nach, wie jüngst die Kommunalwahlen in Bayern gezeigt hätten, gerade die Währungsunion verbunden mit der Einführung des »Euro« ein die Bevölkerung derzeit in hohem Maße interessierendes Thema dar. In seiner Antwort dazu führte der Referent aus, daß man die Frage einer Länderneugliederung differenziert betrachten müsse. Denn die Wahrnehmung bestimmter Kompetenzen durch einzelne Bundesländer erweise sich vorrangig als Finanzierungsproblem für staatliche Einheiten unterhalb einer bestimmten Größe. Jüngstes Beispiel bildeten in diesem Zusammenhang die Bemühungen der Bundesländer zur Rundfunkneuordnung. Was die Anwendung des Subsidiaritätsprinzips anbetrifft, enthalte, so der Referent, Art. 23 GG "genügend Saft" zur Verwirklichung der Länderinteressen. Auch die Rechtsprechung des BVerfG mit ihrer Akzentsetzung auf die bleibende Bedeutung des Nationalstaates lasse die Länder gegenüber dem Bund eine "eher gelassene Position" einnehmen. Wichtig sei im Zusammenhang mit der Anwendung des Subsidiaritätsprinzips jedoch eine Folgenüberprüfung europäischer Regelungen, verbunden mit einer EG-Verwaltungsreform. In der
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Diskussion um die Währungsunion und die Einführung des »Euro« machte der Referent eine "typisch deutsche Diskussion" aus. Seiner Ansicht nach stelle die Währungsunion aus der Sicht der Experten der deutschen Wirtschaft eine politische Notwendigkeit dar. Eine Abwägung von Alternativen erweise den währungspolitischen "Jetztzustand", durch Währungsdisparitäten gekennzeichnet, als die "schlimmere" Situation. Im nächsten Diskussionsbeitrag rückte RA Dr. Paul Schädler, Dudenhofen, die seiner Meinung nach gegebene Vetofunktion der Bundesländer im Rahmen föderalistischer Kompetenzverteilung ins Blickfeld. Die Entwicklung des Bund-LänderVerhältnisses in der Bundesrepublik Deutschland hin zum gegenwärtig praktizierten »kooperativen Föderalismus« sei das Ergebnis von Zwangsläufigkeiten. Letztlich verbleibe den Ländern gegenüber dem Bund nur spärlich eigene Verantwortung. Mit Blick auf Europa sei daher im Verfahren der Länderbeteiligung ein "Systern des programmierten Immobilismus" zu sehen. Verantwortung für Entscheidungen werde wegen unübersichtlicher Strukturen nicht mehr sichtbar. Ein solchermaßen undurchsichtiges europäisches Geflecht bilde für viele Bürger einen Alptraum, insb. aber die Tatsache, daß bundesdeutsche Ministerpräsidenten Einfluß auf europäische Entscheidungen nähmen. Aus seiner Sicht gestalte sich daher die Stellung des deutschen Föderalismus ambivalent. Das Subsidiaritätsprinzip habe sich im Laufe gerade der deutschen Geschichte nicht immer nur positiv ausgewirkt. Von daher stehe zu befürchten, daß durch die Länderbeteiligung die negativen Erscheinungen des deutschen Föderalismus auf die Europäische Gemeinschaft übertragen werden, ferner, daß bei einer zukünftigen Übertragung von Kompetenzen auf die Gemeinschaft Ergebnisse letztlich ausschließlich im Zuge interministerieller Vereinbarungen erzielt werden, Ergebnisse, die der EU-Außenpolitik in ihrer Kompromißhaftigkeit gleichen werden. Der Bundestagsabgeordnete Norbert Schindler, Speyer, seines Zeichens Mitglied des Finanzausschusses, hob mit Blick auf die bevorstehende Währungsunion die Bedeutung der Geldwertstabilität hervor. Derzeit erreiche selbst die Bundesrepublik die Konvergenzkriterien des Maastricht-Vertrages nicht. Dies mache ihn im Hinblick auf die von Prof. Magiera in seiner Eröffnungsansprache aufgezeigte Perspektive der Öffnung der Europäischen Union für die Länder üsteuropas skeptisch. Vor einem solchen Schritt der Erweiterung der Gemeinschaft müßten zunächst besagte Länder ihre Hausaufgaben machen. Ein übereiltes Vorgehen sei geradezu gemeinschaftsschädlich. Schließlich gelte es ferner die Unübersichtlichkeit der EU-Verwaltungsstrukturen und Entscheidungsprozesse zu beklagen. Nötig wäre auf diesem Sektor einerseits ein gehöriges Maß an Transparenz, andererseits eine Ausweitung des Mehrheitsprinzips. Ministerialrat Jochen Schäfer, Wiesbaden, führte zur Umweltpolitik der Gemeinschaft aus, daß diese ein typisches Beispiel für die Notwendigkeit einer gemeinsamen europäischen Politik bilde. Jede Region Europas müsse, um des internationalen Problems der Umweltverschmutzung Herr zu werden, dazu ihren Bei-
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trag leisten. Die Bürgerfeindlichkeit und das negative Image der Union könnten durch Mittel wie eine gemeinschaftliche Umweltpolitik bekämpft werden. Mit der Umweltpolitik sei aber auch derjenige Bereich angesprochen, in dem sich die sonst vielfach beklagte europäische Regelungsflut positiv für den Bürger auswirke. Für die Zukunft gelte es im Umweltbereich eine sog. "Städteverträglichkeitsprüfung" einzuführen. In seiner Antwort auf den Fragenkomplex entgegnete der Referent Herrn RA Dr. Schädler auf seinen Einwand, Länderbeteiligung führe zu Immobilismus, zunächst scherzhaft, am Föderalismus in Deutschland seien wie immer die Schwaben die Schuldigen. Friedrich 11. im femen Sizilien habe dieses Instrument entdeckt, um Deutschland weiter fernbleiben zu können. Ernsthaft anzugehen sei demgegenüber das Problem der Geschwindigkeit der Entscheidungsprozesse in der Union und die Aufdeckung und Kenntlichmachung der Verantwortungsstrukturen. Erfolge hier einerseits keine Straffung und erziele man andererseits nicht mehr Transparenz, werde die Union bald auf vielen Ebenen ihre Handlungsfähigkeit einbüßen. Das Instrument der Subsidiarität wirke seiner Meinung nach im Rahmen der Entscheidungsprozesse der Union als ein "Wettbewerbsprinzip", das eher zu einer Beschleunigung von Entscheidungen führe. Was die Regelungsdichte der Union anlange, sei gegenwärtig eine Grenze erreicht. Auch die klare Herausstellung von Verantwortlichkeiten müsse zukünftig besser erfolgen, damit in der Union nicht, ähnlich wie beim Verrnittlungsausschuß auf Bundesebene, ein "Nirwana der Verantwortlichkeit" entstünde. Im Gegensatz zum Fragesteller ziehe er aus der Situationsanalyse jedoch eine andere Schlußfolgerung. Die Beteiligung der Bundesländer in Angelegenheiten der Europäischen Union nach Art. 23 GG sei nach wie vor notwendig; die Länder müßten jedoch lernen, national mit einer Stimme zu sprechen, ansonsten gingen sie als eigenständige Beteiligte im europäischen Prozeß verloren. Mit Blick auf die Diskussion um eine Verschiebung der Währungsunion stellte der Referent fest, daß eine solche der "Perpetuierung des jetzigen Zustandes auf Jahr und Tag" gleichkomme. Da bei der Währungsunion deren Vorteile überwögen - zwischen allen Beteiligten bestünde hier ein seltener Konsens - dürfe es kein Abgehen vom gesteckten Ziel geben. Die Kritik an überfrachteten Verwaltungsapparaten teile er, ebenso die häufig geäußerte an der finanziellen Belastung der Bundesrepublik Deutschland durch die Europäische Union, die mit ihren Transfers "ein wenig überfordert" sei. Skepsis müsse jedoch angemeldet werden, was eine Veränderung dieser Situation anbetrifft. Bedenken müsse man weiter gegen die Ausweitung von Verwaltungsbürokratien hegen. Als Gegenvorschlag der deutschen Bundesländer zur ausufernden EU-Verwaltung könne eine Übergabe der Vollzugskompetenz an die deutschen Bundesländer angeregt werden, vergleichbar derjenigen aus Art. 83 GG. Zum Gesetzesvollzug sei schließlich die Länderebene geradezu prädestiniert. Mit Ministerialrat Schäfer stimme er darin überein, daß im Umweltbereich Kompetenzen vorhanden seien, die nur auf europäischer Ebene sinnvoll geregelt werden könnten. So stelle beispielsweise die Bekämpfung der bo-
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dennahen Ozonanreicherung eine geborene Kompetenz der Gemeinschaft dar. Solche geborenen Kompetenzen gelte es viel strikter als bisher auszunutzen. Mit Blick auf den Bürger schließe sich nunmehr der Kreis. Gemeinhin bilde die Europäische Union ein "unbekanntes Wesen", mit der sich der Einzelne meist plötzlich - dann, wenn sich bestimmte Regelungen für ihn unmittelbar auswirken - konfrontiert sieht. Daher stehe das Problem der Undurchschaubarkeit der Entscheidungsprozesse derzeit oben auf der Tagesordnung. Mehr Transparenz erfordere ein Umsteuern auf allen Ebenen. Allerdings dürfe dies nicht nur in der Herausgabe von Faltblättern bestehen. Erst dann, wenn auch auf der Ebene der Gemeinden vor Ort "europäische Politik" diskutiert werde, sei das Ziel eines Europas der Bürger erreicht. Den europäischen Dialog müsse man zu allererst in den Kommunen einüben. Zum Abschluß der Diskussion entgegnete Prof. Siegfried Magiera, Speyer, Herrn MdB Schindler auf seinen Einwand bezüglich einer Osterweiterung der EU, daß allein aufgrund der EG-Verträge für jedes europäische Land die Möglichkeit bestehe, einen Antrag auf Aufnahme in die Union zu stellen. Die jeweiligen Beitrittsbedingungen müßten im einzelnen ausgehandelt werden, so daß die Frage eines Beitritts letztlich stets eine politische Frage bleibe.
Subsidiarität und Deregulierung Von Bernhard Molitor
A. Subsidiarität und Deregulierung als neue Postulate in der EU Subsidiarität und Deregulierung haben seit einiger Zeit in der rechts- und wirtschaftspolitischen Diskussion in Europa ein größeres Gewicht erhalten. Das Subsidiaritätsprinzip wurde in Maastricht ausdrücklich in Art. 3b EGV verankert. Für die Deregulierung gilt dies nicht. Sie ließe sich allenfalls nur indirekt aus dem Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb (Art. 3a EGV) und der Verwirklichung des Binnenmarktes (Art. 7a EGV) ableiten; aber selbst das scheint gewagt. Vielmehr begründet sie sich aus der allgemeinen Forderung, daß alles getan werden muß, um die großen wirtschafts- und sozialpolitischen Ziele des Vertrages zu erreichen und ganz generell eine bestimmte Rechtsvorschrift notwendig, möglichst einfach, verständlich und benutzerfreundlich sein soll. Subsidiarität und Deregulierung sind keineswegs deckungsgleich. Das Subsidiaritätsprinzip bestimmt, auf welcher Ebene Aufgaben wahrgenommen und insbesondere die Gesetzgebungskompetenz liegen sollen. Für die Europäische Union gilt hierbei, daß im Falle konkurrierender Zuständigkeiten die Institutionen der Gemeinschaft nur dann tätig werden dürfen, sofern und soweit die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen auf der Ebene der Mitgliedstaaten nicht ausreichend erreicht und daher wegen ihres Umfanges oder ihrer Wirkungen besser auf Gemeinschaftsebene erreicht werden können. Das läßt erheblichen Interpretationsspielraum, insbesondere angesichts der unbestimmten Rechtsbegriffe in Art. 3b EGV "nicht ausreichend" und "besser". Ein zentralistisch eingestellter Franzose wird dies vermutlich anders sehen als ein mit einem föderalen System vertrauter Deutscher, ganz abgesehen von der auf eine Stärkung ihrer Kompetenzen bedachten Kommission. Die Deregulierungsdebatte hat ihren Ausgang in den Vereinigten Staaten genommen. Zunächst ging es dabei um die Liberalisierung von vorher weitgehend durch Ordnungsrecht hoheitlich geregelten Wirtschaftsbereichen, z. B. des Flugoder Straßengüterverkehrs sowie der Telekommunikation. Später gewann die Überprüfung der Gesetzgebung auf zu komplexe, wenig flexible, für die Wirtschaft kostenträchtige, ja überflüssige Rechtsnormen und der daraus resultierenden Verwaltungspraxis zunehmend an Bedeutung. Besonderes Augenmerk wurde dabei der Belastung kleiner und mittlerer Betriebe durch staatliche Vorschriften zuge-
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wandt. Die Motivation für eine solche Deregulierung liegt vor allem in einer wirtschaftsdynamischen Sicht: Wie können durch Überprüfung, Änderung oder Beseitigung von die Wirtschafts- und Beschäftigungsentwicklung unnötig behindernden Vorschriften und der sich darauf beziehenden Verwaltungspraxis nachhaltig ein kräftigeres Wirtschaftswachstum, eine bessere internationale Weubewerbsfähigkeit und vor allem mehr Arbeitsplätze erreicht werden. Dabei müssen zwei Aspekte besonders unterstrichen werden: Erstens: Ein guter Rechtsrahmen ist ein positiver Produktionsfaktor. Seit Walter Eucken ist bei uns die Interdependenz von Wirtschafts-, Sozial- und Rechtsordnung Grundbestandteil marktwirtschaftlichen Denkens. Es geht also bei der Deregulierung nicht darum, die Rechtsordnung an sich in Frage zu stellen, sondern allenfalls darum, Auswüchse, Inkonsistenzen und für eine modeme Wirtschaft nicht mehr adäquate Regelungen zu beseitigen. In der in Brüssel von Präsident Delors eingesetzten Gruppe unabhängiger Experten für die Vereinfachung der Rechtsund Verwaltungsvorschriften hatten vor allem die Vertreter aus den romanischen Ländern erhebliche Schwierigkeiten mit dem Begriff Deregulierung, den sie mit dem Verzicht auf die Regelung ganzer Rechtsbereiche gleichsetzten. Für die Vertreter aus den nordischen Ländern bestand diese Schwierigkeit nicht, da sie in Deregulierung mehr ein Liberalisierungs- und Vereinfachungsprogramm sahen. 1 Immerhin übernahm der Europäische Rat in Essen in seinem Kommunique den so verstandenen Begriff der Deregulierung (Deregulation im Englischen, Dereglementation im Französischen). Zweitens muß gesehen werden, daß in der Regel - zumindest in der Vergangenheit - fast jede Vorschrift einen Sinn hatte oder noch hat. Oft sind es die Inkonsistenz von politischen Zielen oder ihre aktuelle Priorität, die das eigentliche Problem darstellen. Hinzu kommt die Tendenz zur Perfektionierung der Gesetzgebung, die immer stärker von dem Wunsch geprägt wird, schon vorweg jeden möglichen Einzelfall zu regeln. Eine wichtige Rolle spielen dabei das Streben nach Gerechtigkeit und ein sehr hohes Sicherheitsdenken. Zu wenig werden dabei häufig die Wirkungen auf andere Gebiete bedacht, nicht zuletzt mögliche Hemmnisse für die Wirtschafts- und Beschäftigungsentwicklung. Dabei geht es gar nicht so sehr um die Wirkung einer Einzelvorschrift, sondern um die Kumulation negativer Auswirkungen auf die Wirtschaftstätigkeit und die Schaffung neuer Arbeitsplätze.
B. Zur Unterscheidung von Subsidiarität und Deregulierung Es wurde bereits darauf hinge weisen, daß Subsidiarität und Deregulierung nicht deckungsgleich sind. Dies sei an drei Beispielen dargestellt: I Vgl. Bericht der Gruppe unabhängiger Experten für die Vereinfachung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften, hrsg. von der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, KOM(95) 288endg.l2, Brüssel 1995.
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Das erste ist der europäische Binnenmarkt selbst. Er war nicht nur mit einer Öffnung der Grenzen für den Waren- und Dienstleistungsverkehr verbunden, sondern war zugleich ein Anstoß für eine Entreglementierung in einer Reihe von Bereichen, in denen zuvor die meisten Mitgliedstaaten ein enges hoheitliches Ordnungskorsett für nötig gehalten haben. Zu nennen sind in diesem Zusammenhang die Finanzmärkte, der Straßengüter- und Luftverkehr oder die Telekommunikation. Auch die Brüsseler Bemühungen, nationale Gebietsmonopole in der Elektrizitätswirtschaft zu beseitigen, und stattdessen bei Stromlieferungen dem Wettbewerb stärker zum Zuge zu verhelfen, sind hier zu erwähnen. Angesichts des erheblichen politischen Widerstandes in den Mitgliedstaaten - nicht zuletzt auch von den betroffenen Interessengruppen - wäre hier bei Anwendung des Subsidiaritätsprinzips vermutlich wenig erreicht worden, sondern nur die Deregulierung von oben war ein für Europa erfolgreicher Weg. Das zweite Beispiel ist die Ausnahmebestimmung des Art. 36 EGY. Sie erlaubt den Mitgliedstaaten Einfuhr-, Ausfuhr- und Durchfuhrverbote aus Gründen der öffentlichen Sittlichkeit oder zum Schutze der Gesundheit und des Lebens von Menschen, Tieren und Pflanzen, des nationalen Kulturgutes oder des gewerblichen und kommerziellen Eigentums. Insofern kann der im Cassis-de-Dijon-Urteil vom EuGH entwickelte Grundsatz, daß ein in einem Mitgliedstaat hergestelltes und in Verkehr gebrachtes Gut überall in der Gemeinschaft zugelassen ist, außer Kraft gesetzt werden. Das gilt z. B. für den Bereich des Lebensmittelrechtes oder die Sicherheit am Arbeitsplatz und damit auch für die am Arbeitsplatz benutzten Arbeitsmittel und Maschinen. Dem Subsidiaritätsprinzip hätte am besten der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung der jeweiligen nationalen Vorschriften entsprochen; doch dazu waren die meisten Mitgliedstaten nicht bereit. Deshalb war in diesen Bereichen zur Herstellung des Binnenmarktes eine umfangreiche Rechtsharmonisierung in der Gemeinschaft notwendig. Diese führte häufig auch deshalb zu sehr komplexen, schwer verständlichen und keineswegs immer konsistenten Vorschriften, weil die Mitgliedstaaten möglichst viele ihrer Vorstellungen und bisherigen Praktiken gewahrt wissen wollten. Ein drittes Beispiel ist die Richtlinie des Rates über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung (9311041EG vom 23. November 1993). Sie stützt sich darauf, daß der Rat zur Verbesserung der Arbeitsumwelt nach Art. 118a EGV Mindestvorschriften festlegen kann. Die Richtlinie ist schon rechtssystematisch außerordentlich fragwürdig. Der für dieses Gebiet zuständige Berichterstatter unserer Gruppe, Professor Antoine Lyon-Caen, sieht in ihr eine verfehlte Gesetzgebung, sowohl was die Verhältnismäßigkeit der Mittel zu den angestrebten Zielen angeht, als auch wegen der Komplexität in der Formulierung der Vorschriften und der vorgesehenen Ausnahmen und damit der Verständlichkeit des gesamten Textes. 2 Wirtschafts2 Vgl. Antoine Lyon-Caen, Rapport relatif 11 la politique sociale, in: Report of the Group of Independent Experts on Legislative und Administrative Simplification, Vol. 11. Working Documents, ed. Commission ofthe European Communities, SEC(95) 1379, S. 69ff.
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und sozialpolitisch geht die Richtlinie von dem Konzept der Wochenarbeitszeit und dem Ausgleich von Überstunden in einer Viermonatsfrist aus, während heute viel mehr Fragen der Jahresarbeitszeit und ihrer flexiblen Handhabung im Vordergrund stehen müßten. Man kann sich sogar fragen, ob hier das Postulat von Mindestvorschriften nicht weit überschritten worden ist und man das gesamte Thema nicht weiter den Mitgliedstaaten hätte überlassen sollen. Bedauerlich ist es, daß unter den wenigen Vorschlägen der Gruppe, die die Kommission abgelehnt hat, die angeregte Überprüfung dieser Arbeitszeitrichtlinie gehört. 3 Andererseits ist Subsidiarität keine Garantie gegen Überregulierung. So heißt es in dem Bericht der Gruppe, daß eine Vereinfachung der Unionsvorschriften wenig Nutzen bringt, wenn die Mitgliedstaaten unter dem Denkmantel des Subsidiaritätsprinzips oder der Zuständigkeit für die Umsetzung des Gemeinschaftsrechtes in die entgegengesetzte Richtung wirken. 4 In der Tat hat die Gruppe in einer Reihe von Fällen festgestellt, daß gerade die Umsetzung des Gemeinschaftsrechtes in innerstaatliches Recht beträchtliche wirtschaftliche Probleme aufwirft. Oft erfolgt die Umsetzung nicht oder nur unzureichend oder ihre Anwendung wird ungenügend kontrolliert. In vielen Fällen werden aber auch bei der Umsetzung zusätzliche Rechtsvorschriften auf die Gemeinschaftsnormen draufgesattelt , ohne daß dies notwendig wäre.
C. Deregulierung Die weiteren Ausführungen werden sich auf die Deregulierung konzentrieren und hier vor allem die europarechtlichen Aspekte behandeln. Zunächst einige Bemerkungen zu der Frage, warum Deregulierung so viel an Bedeutung gewonnen hat. An erster Stelle steht die grobe Verfehlung essentieller wirtschafts- und sozialpolitischer Ziele. Fast alle Industrieländer sind mit einer unerträglich hohen Arbeitslosigkeit konfrontiert, die zunehmend strukturellen Charakter trägt und von der nicht zuletzt viele Jugendliche am Anfang ihres Berufslebens bedroht sind. Sicherlich gibt es keine monokausale Erklärung für diese Entwicklung. Auf jeden Fall muß die notwendige Schaffung neuer Arbeitsplätze von vielen Seiten angegangen werden. Facetten sind dabei die Komplexität vieler Rechtsvorschriften, die flexibles Handeln in den Unternehmen erschwert, zu lange Genehmigungs- und Prüfzeiten und überzogene Behinderungen von Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten (z. B. im Bereich der Gen-Technik).
3 Vgl. Kommission der europäischen Gemeinschaften, Bemerkungen der Kommission zum Bericht der Gruppe der unabhängigen Sachverständigen für die Vereinfachung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften, SEK(95) 2121 endg., Brüsse11995, S. 19. 4 Bericht der Gruppe ... , a. a. 0., S. 8.
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Mindestens ebenso wichtig sind die neuen weltweiten Herausforderungen, denen alle Industrieländer gegenüberstehen, insbesondere die zunehmenden Globalisierungstendenzen in der Weltwirtschaft mit den außerordentlich raschen Kommunikationsmöglichkeiten, der großen Beweglichkeit der Finanzströme, dem wesentlich schnelleren Know-how-Transfer und den weltweiten Investitions- und Innovationsoptionen, die vielen Unternehmen offen stehen. Regulierungskosten beeinflussen damit in erheblichem Maße die Standortwahl. Das gilt insbesondere für Hochlohnländer. Besonders betroffen sind kleine und mittlere Unternehmen von den Regulierungskosten; denn diese wachsen nicht proportional zur Größe des Unternehmens oder ihres Umsatzes, sondern tragen weitgehend den Charakter von Fixkosten. Eine Untersuchung in den Niederlanden hat ergeben, daß der Durchschnitt der vom Staat auferlegten Verwaltungskosten, die großenteils mit Regulierungskosten identisch sind, 1993 für alle Unternehmen insgesamt 9.800 ECU oder l.800 ECU je Arbeitnehmer betrug. In Unternehmen mit mehr als 100 Arbeitnehmern belief er sich auf 600 ECU je Arbeitnehmer, in Unternehmen mit 1 bis 9 Arbeitnehmern auf 3.500 ECU. 5 Das bedeutet nicht nur eine erhebliche Beeinträchtigung kleiner und mittlerer Unternehmen im Wettbewerb mit großen, sondern stellt auch ein erhebliches Hindernis für arbeitsplatzschaffende Unternehmensneugründungen dar. Und noch ein Beispiel für die Kostenrelevanz von Vorschriften. Die Maschinenrichtlinie der Gemeinschaft (89/392/EWG vom 14. Juni 1989), die notwendig wurde, damit die Mitgliedstaaten nicht den freien Warenverkehr auf Grund von Art. 36 EGV mit Rücksicht auf die Sicherheit der Arbeitnehmer am Arbeitsplatz in Frage stellen, sieht für neu in Verkehr gebrachte Maschinen Anforderungen vor, die im einzelnen festgelegt sind. Nach der Richtlinie über Arbeitsmittel (89/655/ EWG) müssen Arbeitgeber dafür sorgen, daß Arbeitsmittel, die bereits vor Ende 1992 im Einsatz waren, bis Ende 1996 weitestgehend den in der Maschinenrichtlinie enthaltenen detaillierten Sicherheitsstandards für neue Maschinen entsprechen. Der europäische Unternehmerverband UNICE hat dazu folgende Kostenschätzungen geliefert, die bereits inzwischen von der Kommission erwogene Erleichterungen berücksichtigen: In Großbritannien belaufen sich die Kosten der Anpassung im Zeitraum 199712006 auf 200 Mio. Pfund (ohne Berücksichtigung künftiger Preissteigerungen) und in Frankreich allein in der metallverarbeitenden Industrie auf 30 Mrd. FF. In Deutschland müßten z. B. schätzungsweise 20.000 Bäckereien ihre vorhandenen Knetmaschinen anpassen, was je nach Alter und Größe der Maschinen zwischen 2.000 und 10.000 DM je Maschine kostet; bei Fleischschneidemaschinen müßten rund 300.000 deutsche Betriebe Änderungen vornehmen, deren Kosten je Maschine sich - einschließlich der Montage - auf 1.000 bis 2.000 DM belaufen. 6 Selbst wenn diese Schätzungen eher Obergrenzen darstellen dürften, zeigen sie die Kostenwirkungen eines einzigen Gesetzesaktes. 5
6
A.a. 0., S. 91. A.a. 0., S. 57.
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Zu beachten ist dabei, daß es sich jeweils um Maschinen handelt, die schon heute hohen nationalen Sicherheitsstandards zum Schutze der Arbeitnehmer entsprechen. Diese Beispiele unterstreichen, wie wichtig es ist, sowohl auf Gemeinschaftsebene als auch im nationalen Bereich der Kosteneffizienz von Rechtsbestimmungen Rechnung zu tragen, ohne deshalb auf hohe Schutzstandards zu verzichten. In der Tat ist das Potential für Kostensenkungen bei einer sorgfältigen Prüfung der bestehenden und zukünftigen Gesetzgebung sehr groß, ganz abgesehen davon, daß bestimmte Vorschriften - z. B. in der Biotechnologie - dazu führen, daß Aktivitäten in Europa überhaupt nicht aufgenommen werden, sondern in andere Industrieländer wie die USA oder Japan verlagert werden.
D. Konkrete Schritte in Richtung Verwaltungsvereinfachung und Deregulierung
Inzwischen wurde die Regulierungsproblematik in vielen Ländern aufgegriffen. Vor allem sind die USA, Japan, Neuseeland oder Australien, in Europa vor allem Großbritannien, die Niederlande, Spanien sowie in jüngster Zeit auch Österreich zu nennen. In Deutschland gab es bekanntlich drei Ansätze: - Die unabhängige Kommission für Rechts- und Verwaltungsvereinfachung des Bundes beim Bundesminister des Innern, die sog. Waffenschmidt-Kommission; die unabhängige Expertenkommission zum Abbau marktwidriger Regulierungen beim Bundesminister für Wirtschaft, die sog. Deregulierungskommission; die unabhängige Expertenkommission zur Vereinfachung und Beschleunigung von Planungs- und Genehmigungsverfahren beim Bundesminister für Wirtschaft, die sog. Schlichterkommission. Es ist hier nicht der Ort, ihre Ergebnisse im einzelnen darzustellen. In allen drei Fällen sind konkrete Fortschritte zur Vereinfachung auf den Weg gebracht worden. Freilich könnte noch sehr viel mehr in dieser Richtung geschehen. Von deutscher Seite ging auch die Initiative für eine Vereinfachung des Rechts und der Verwaltungspraxis in der Europäischen Union aus. Angesichts der im zweiten Halbjahr 1994 bevorstehenden deutschen Präsidentschaft schlug Bundeswirtschaftsminister Dr. Rexrodt eine Initiative der Gemeinschaft zur Deregulierung und Entbürokratisierung vor. Im Vordergrund seiner Überlegungen stand die Notwendigkeit einer Durchforstung der vielen Rechtsakte der Gemeinschaft im Hinblick auf eine übermäßige Einengung privater Initiative und zu hoher Regulierungskosten für Bürger und Unternehmen. Die Kommission war am Anfang zögerlich. Nachdem aber der Rat der Wirtschafts- und Finanzminister das deutsche Anliegen unterstützt hatte, berief die Kommission im September 1994 eine Gruppe unabhängiger Experten für die Vereinfachung der Rechts- und Verwaltungsvor-
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schriften, die unter meiner Leitung stand. Ihr Mandat sah vor, die Auswirkungen gemeinschaftlicher und einzel stattlicher Rechtsvorschriften auf Beschäftigung und Wettbewerbsfähigkeit zu prüfen und Vorschläge für ihre Lockerung und Vereinfachung zu machen. Das Mandat sollte bis Juni 1995 ausgeführt sein, damit der Bericht dem Europäischen Rat in Cannes vorgelegt werden konnte, nachdem der Europäische Rat schon frühzeitig sein Interesse an den Arbeiten der Gruppe bekundet hatte.
E. Die Gruppe unabhängiger Experten und ihr Bericht (Molitor-Bericht)
Im folgenden sollen einige Ergebnisse der Arbeit der Gruppe vorgstellt werden. Natürlich war es in der kurzen ihr zur Verfügung gestellten Frist nicht möglich, das Mandat erschöpfend zu behandeln. Die Gruppe hat sich daher auf das Gemeinschaftsrecht und seine Umsetzung in nationales Recht konzentriert, jedoch nicht das einzelstaatliche Recht untersucht. Dazu wären mehrere Jahre notwendig gewesen. Sie hat sich bewußt auf eine begrenzte Anzahl von konkreten Bereichen des Gemeinschaftsrechtes beschränkt, um so beispielhaft aufzuzeigen, wie groß der Handlungsbedarf für Vereinfachung ist und wie sie im einzelnen angegangen werden kann. In diesem Sinne wurden die Bereiche Maschinennormen, Lebensmittelhygiene, Arbeitsrecht und Sicherheit am Arbeitsplatz sowie das Umweltrecht aufgegriffen. Hinzu kamen Einzelaspekte aus dem Gebiet der Biotechnologie, der Ursprungserzeugnisse im Außenhandel, des öffentlichen Auftragswesens und des freien Verkehrs von Baumaterial im Binnenmarkt. In einem Sonderkapitel wurden die Erfordernisse der Rechtsvereinfachung für die kleinen und mittleren Unternehmen analysiert. Die Gruppe hat hier vor allem vorgeschlagen, - schon frühzeitig im Gesetzgebungsverfahren die Interessen der mittelständischen Wirtschaft zu ermitteln; - die Schwellen werte für die Veröffentlichungs- und Prüfungspflichten für GmbH s in der Bilanzrichtlinie um 50 bis 100% zu erhöhen; - die Einbeziehung der GmbH & Co KG in das europäische Bilanzrecht zu überprüfen; - die Einführung eines mittelständisch orientierten Statuts einer europäischen Aktiengesellschaft in Betracht zu ziehen, für die es nach Schaffung der kleinen AG in Deutschland eigentlich kein Mitbestimmungspetitum in Brüssel mehr geben sollte, sowie - die statistischen Meldepflichten zu erleichtern. Obwohl die Kommission in ihrer Stellungnahme zu dem Bericht der Gruppe die Ausführungen zu den kleinen und mittleren Unternehmen besonders lobte, war sie zu einigen dieser konkreten Vorschläge, z. B. zur Frage der Erhöhung der Schwe14 Magiera/Siedentopf
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lenwerte in der Bilanzrichtlinie, der mittelständisch orientierten europäischen Aktiengesellschaft oder zu den Vorschlägen zur Statistik zurückhaltend. 7 Dies steht im Widerspruch zu ihrer immer wieder vorgetragenen großen Betonung der Bedeutung der mittelständischen Wirtschaft für die Wirtschafts- und Beschäftigungsentwicklung. Die Gruppe unterstreicht in ihrem Bericht nachdrücklich, daß dem Anliegen der Deregulierung, daß ja zur dauerhaften Stärkung der Wirtschaftsdynamik und der Beschäftigungsentwicklung beitragen soll, nicht mit einigen kleineren Einzelkorrekturen Rechnung getragen werden kann. Sie sieht vielmehr die Notwendigkeit, eine auf der Ebene der Gemeinschaft und auf nationaler Ebene tief verwurzelte Kultur der Rechtsvereinfachung zu schaffen. In diesem Geiste schlägt sie ein Aktionsprogramm zur Vereinfachung vor, bei dem die Organe der Gemeinschaft eng mit den Mitgliedstaaten zusammenarbeiten sollen. Besonderes Gewicht haben dabei folgende allgemeine Vorschläge: - Beschleunigung der Kodifizierung des Rechtes der Gemeinschaft, um eine vernünftige Grundlage für die Rechtsvereinfachung zu schaffen; - Überprüfung des gesamten Gemeinschaftsrechtes und seiner Umsetzung in nationales Recht im Hinblick auf die damit verbundenen Belastungen für Bürger und Unternehmen sowie die daraus entstehenden Barrieren für die Sicherung bestehender und die Schaffung neuer Arbeitsplätze; - Verbesserung des Gesetzgebungsverfahrens, indem schon im Vorfeld die Betroffenen frühzeitig angehört, größere Transparenz im Gesetzgebungsverfahren geschaffen und jeweils auf das adäquate Rechtsinstrument (Verordnung, Richtlinie oder Empfehlung) zurückgegriffen werden; - Angabe der erwarteten positiven und negativen Wirkungen von Gesetzgebungsinitiativen auf Beschäftigung, Kosten, Wettbewerbsfähigkeit und Innovationstätigkeit; - strikte Überwachung einer eindeutigen Umsetzung und Durchsetzung des Gemeinschaftsrechtes in den Mitgliedstaaten, damit die Einheitlichkeit des europäischen Binnenmarktes und gleiche Wettbewerbsbedingungen gewahrt werden; gegebenenfalls sollte von der in Art. 117 vorgesehenen Möglichkeit Gebrauch gemacht werden, Zwangsgelder gegen die betreffenden Mitgliedstaten zu verhängen; - stärkere Verfolgung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung; - möglichst frühzeitige Bekanntgabe von Gesetzgebungsprogrammen durch die Kommission unter Nutzung des Instrumentes der Weiß- und Grünbücher; - regelmäßige Berichterstattung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat über die Fortschritte bei der Rechtsvereinfachung in der Gemeinschaft und in den Mitgliedstaaten. 7
Bemerkungen der Kommission zum Bericht ... a. a. 0., S. 36ff.
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Die Kommission hat im vergangenen Dezember zu dem Bericht der Gruppe und seinen rund 120 Vorschlägen ausführlich Stellung genommen. 8 Thr Grundton ist positiv. Nur etwa 10 Vorschläge lehnt sie ab, darunter die bereits erwähnte Änderung der Arbeitszeitrichtlinie. Bei einigen Vorschlägen sagt sie weitere Prüfung zu, wenn mehr Erfahrungen mit den Richtlinien gesammelt worden sind. Bei vielen Vorschlägen unterstreicht sie, daß sie das Petitum der Gruppe anr:rkenne und um Änderung bemüht sei bzw. bereits eine entsprechende Haltung gegenüber den anderen Institutionen und den Mitgliedstaaten vertrete. Im Bereich der Biotechnologie hat sie sich die Haltung der Gruppe bereits so weit zu eigen gemacht, daß die entsprechenden Vorschläge der Kommission bereits ausformuliert sind. Kritisch gegenüber der Gruppe war die Kommission insofern, weil die Gruppe es nach ihrer Auffassung versäumt habe, auch die nationale Gesetzgebung zu prüfen, wie es im Mandat vorgesehen war. Aber hier gilt, daß Unmögliches nicht gefordert werden darf oder zumindest eines längeren Zeitraums bedarf, als er der Gruppe eingeräumt worden ist.
F. Schlußbemerkung
Deregulierung braucht einen langen Atem. Sowohl die bestehende als auch die künftige Gesetzgebung gehören auf den Prüfstand, ob und inwieweit sie die Wirtschafts- und Beschäftigungsdynamik unnötig behindern. Obwohl der wirtschaftlichen Sicht angesichts der großen aktuellen Beschäftigungsprobleme naturgemäß ein sehr hohes Gewicht beizumessen ist, bedeutet dies jedoch nicht ein generelles Primat der Wirtschaftspolitik. Es geht vielmehr um eine Rückbesinnung auf die Interdependenz der Rechts-, Wirtschafts- und Sozialordnung. Deregulierung ist dabei eine interdisziplinäre Aufgabe, der sich vor allem auch die Rechtspolitiker stärker widmen müssen. Der Geist des Gesetzgebers muß der Geist der Mäßigung sein. Diese Forderung von Montesquieu gilt auch gegenüber der Wirtschaft. Sie darf in kein zu enges Regelungskorsett gezwängt und vom Staat nicht mit zu hohen Regelungskosten belastet werden, wenn sie ihre potentielle Leistungskraft voll nutzen soll. Die Leidtragenden wären nämlich letztlich alle, vor allem die Arbeitslosen. Auch die Lösung vieler anderer Probleme wird bei einer dynamischen Wirtschaftsentwicklung leichter, z. B. die Verringerung der öffentlichen Neuverschuldung und der Abbau des öffentlichen Schuldenberges, die Bewahrung der sozialen Sicherheitssysterne und die Anpassung der sektoralen und regionalen Wirtschaftsstrukturen an die neuen Herausforderungen des internationalen Wettbewerbs sowie die Sicherung und Fortentwicklung des Wohlstandes der Bürger. Deregulierung wird damit auf absehbare Zeit zu einer Daueraufgabe, der wir uns nicht entziehen dürfen. Sie erfordert Mühe und Durchsetzungskraft, aber die zu erwartenden Wirkungen lohnen den Aufwand. 8
4*
Vgl. Bemerkungen der Kommission zum Bericht ... , a. a. O.
Subsidiarität und Deregulierung aus europäischer und mitgliedstaatlicher Sicht Von Reinhard Schulte-Braucks Die Fortbildungstagung bietet Gelegenheit, eine Art Bestandsaufnahme der europäischen Integration vorzunehmen.
A. Der Kontext
Wir blicken heute nicht ohne Erwartung auf die Regierungskonferenz zum "Maastrichter Vertrag",l die am 29. März 1996 beginnt. Diese Konferenz wird für die weitere Entwicklung der Europäischen Union in jeder Hinsicht entscheidend sein. Insbesondere im Hinblick auf die Praktikabilität der Entscheidungsprozesse in einer größer gewordenen und noch größer werdenden Gemeinschaft muß es gelingen, die Transparenz und Effizienz der europäischen Gesetzgebung für die Zukunft zu gewährleisten. Die Kommission hat hierzu Vorschläge vorgelegt, die sicherstellen sollen, daß auch eine Gemeinschaft von mehr als 20 Mitgliedstaaten noch handlungsfähig sein wird? Es ist klar, daß es sich dabei um eine vollständig demokratisch legitimierte Gemeinschaft handeln muß. Dies erfordert nach Auffassung der Kommission folgende Änderungen unseres institutionellen Gefüges: Das Primär- oder Verfassungsrecht der Europäischen Union, das gegenwärtig in zahlreichen völkerrechtlichen Verträgen mit mehr als 700 Artikeln niedergelegt ist, sollte vereinfacht und konsolidiert werden. 533 dieser Artikel können ohne Änderung in der Sache gestrichen werden? - An dem Nebeneinander von drei rechtlich getrennten Gemeinschaften mit dem überwölbenden Dach der Europäischen Union, die nicht einmal eine eigene Rechtspersönlichkeit besitzt, sollte nicht festgehalten werden. Gleiches gilt für die Komplikationen, die aus dem Nebeneinander von gemeinschaftlichen und zwischenstaatlichen Entscheidungsverfahren resultieren. Siehe Artikel N Abs. 2 des Vertrags über die Europäische Union vom 7. Februar 1992. Stellungnahme der Kommission für die am 29. 3. 1996 beginnende Regierungskonferenz: "Stärkung der politischen Union und Vorbereitung der Erweiterung." Dokument KOM (96) 90 endg. vom 28. 2. 1996. 3 Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie von Roland Bieber; "Simplification des Traites de l'Union", Lausanne 1995. 1
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Die Gesetzgebungsverfahren der Gemeinschaft müssen vereinfacht werden. Insbesondere sollte es künftig nur noch drei Verfahrensarten geben4 , wobei das Europäische Parlament systematisch Verantwortung für das Gesetzgebungsverfahren im Wege der Mitentscheidung (Art. 189b EG-Vertrag) erhalten sollte. Die dritte Lesung im gegenwärtigen Mitentscheidungsverfahren (Art. 189b Abs. 5) sollte gestrichen werden. - Der Ministerrat sollte generell mit qualifizierter Mehrheit abstimmen. Auch das Primärrecht der Gemeinschaft - oder zumindest gewisse Teile davon - sollte mit der Mehrheit der Mitgliedstaaten geändert werden können, da das bisherige Verfahren der einstimmigen Ratifizierung bei mehr als 20 Mitgliedstaaten nicht mehr praktikabel sein dürfte und spätere Erweiterungen illusorisch machen würde. s Der Charakter der Gemeinschaft als einer Rechtsgemeinschaft sollte gestärkt werden. Dies erfordert eine deutlichere Verankerung eines Grundrechtskatalogs im Primärrecht und zum anderen eine bessere Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts. In einer größer werdenden Gemeinschaft nimmt zwangsläufig auch die Divergenz von nationalen Rechts- und Verwaltungssystemen zu, so daß Kommission und Gerichtshof über die erforderlichen Befugnisse verfügen müssen, um daraus resultierende Verstöße gegen das Gemeinschaftsrecht und insbesondere die Nichtbeachtung von EuGH-Urteilen effizienter zu ahnden. 6
B. Die Zuständigkeitsverteilung in der Europäischen Union
Die Europäische Kommission hat die Bedeutung des hier zu behandelnden Themas erkannt und hat der französischen Ratspräsidentschaft den sogenannten "Molitor-Bericht,,7 zur Vereinfachung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften vorgelegt und der spanischen Präsidentschaft einen Bericht zur Stärkung der kleinen und mittleren Unternehmen sowie zum Abbau der sie betreffenden administrativen Belastungen übermittelt. 8
4 Folgende drei Verfahren sollte es künftig geben: Verfahren aufgrund einer Stellungnahme des Parlaments, Mitentscheidungsverfahren und Zustimmungsverfahren, siehe Dokument KOM (96) 90 endg., Ziff. 22. 5 Siehe Dokument KOM (96) 90 endg., Ziff. 44. 6 Ebenda, Ziff. 9 und 10. 7 Bericht der Gruppe unabhängiger Experten für die Vereinfachung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften. Dokument KOM (95) 288 endg./2 vom 21. 6. 1995, im folgenden "Molitor-Bericht". 8 Europäische Kommission: "Kleine und mittlere Unternehmen: Motor von Beschäftigung, Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit in der Europäischen Union." Bericht für die Tagung des Europäischen Rates in Madrid. Dokument CSE (95) 2087.
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Die Fonnulierung des Themas - "Subsidiarität und Deregulierung aus europäischer und mitgliedstaatlicher Sicht" - deutet an, daß die Behandlung dieser Thematik aus unterschiedlichen Perspektiven - der europäischen und der mitgliedstaatlichen - erfolgen kann. Darüber hinaus wäre noch die Ebene der Bundesländer zu berücksichtigen, da dort naturgemäß Fragen der Subsidiarität besondere Aufmerksamkeit geschenkt wird. 9 Zwar mögen die Veranstalter bei der Planung davon ausgegangen sein, daß mein Vorredner, Herr Dr. Molitor, die mitgliedstaatliche und ich die europäische Sichtweise darstellen werden, doch habe ich nach seinem Vortrag den Eindruck, daß sich keiner von uns beiden in solche Schablonen pressen lassen will und daß wir beide versuchen werden, den unterschiedlichen Perspektiven dieses Themas gerecht zu werden. Ich darf dazu anfügen, daß ich hier keine offizielle Stellungnahme der Kommission zum Molitor-Bericht abgebe - diese ist als eigenständiges Dokument veröffentlicht worden lO - , sondern meine persönliche Ansicht vortrage. 11 Dabei sind drei Themenkomplexe auseinanderzuhalten :
I. Das Prinzip der begrenzten Ermächtigungen
Das Prinzip der begrenzten Ermächtigungen besagt, daß die Europäische Union nicht über eine Kompetenz-Kompetenz verfügt. Sie kann sich ihre Regelungsmaterien nicht selbst zuweisen, sondern muß sich an die enumerativ aufgezählten Kompetenzen in den Gründungsverträgen halten. Daran hat sich auch durch den Maastrichter Vertrag nichts geändert. 12 Vielmehr hat der neu eingefügte Artikel 3 b Absatz 1 des EG-Vertrags l3 dieses Prinzip erneut bestätigt. 14
11. Das Subsidiaritätsprinzip
Der Artikel 3 b Absatz 2 des EG-Vertrags sieht vor, daß den Mitgliedstaaten all diejenigen Regelungen zu überlassen sind, die auf der Ebene der Mitgliedstaaten
9 Siehe z. B. Stellungnahme des Bundesrats vom 17. Februar 1995 zum Subsidiaritätsprinzip, Bundesratsdrucksache 1090/94. 10 Dokument SEK (95) 2121 endg. vom 29. 11. 1995. II Siehe hierzu bereits Reinhard Schulte-Braucks, "Das Gemeinschaftsrecht auf dem Prüfstand", EuZW 1995, S. 621.
12 Siehe Siegfried Magiera, "Die Grundgesetzänderung von 1992 und die Europäische Union", Juristische Ausbildung 1994, S. 1,7. 13 Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (EG) in der Fassung des Maastrichter Vertrags vom 7. Februar 1992. 14 Ebenso Art. E des Maastrichter Vertrags.
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ausreichend geregelt werden können und nicht besser auf Gemeinschaftsebene erreicht werden können. Damit ist klargestellt, daß der Tätigkeit der Mitgliedstaaten in weiten Bereichen Vorrang gebührt, da in der Regel zahlreiche Angelegenheiten nationaler, regionaler und insbesondere lokaler Natur besser auf Regelungsebenen geregelt werden können, die dem Bürger so nah wie möglich sind. 15 Damit dürfte die Vielfalt in der Gemeinschaft erhalten bleiben, und Kommissionspräsident Santer hat mehrfach betont, daß die Kommission sich uneingeschränkt zu diesem Prinzip bekennt. Es ist anerkannt, daß das Subsidiaritätsprinzip ein Rechtsprinzip ist, dessen Verletzung vor dem EuGH gerügt werden und zur Aufhebung eines Rechtsakts der Gemeinschaft führen kann. 16 Einige Autoren haben allerdings die Unschärfe dieses Begriffs bedauert und Zweifel an seiner Praktikabilität geäußert. 17 Wenn man berücksichtigt, daß nicht einmal die deutsche Verfassung den Begriff der Subsidiarität definiert hat, muß man wohl doch zu dem Ergebnis kommen, daß der Art. 3 b des EG-Vertrags einen ganz erheblichen Fortschritt in der Geschichte der europäischen Verfassungsgebung darstellt. Auslegungsbedürftig ist in diesem Zusammenhang die Frage, welche Materien in die ausschließliche Zuständigkeit der Gemeinschaft fallen, so daß das Subsidiaritätsprinzip nicht gilt. Die Kommission neigt zu der Auffassung, daß das Wettbewerbsrecht, die Beihilfenkontrolle sowie die Gesetzgebung im Binnenmarktbereich in ihre ausschließliche Zuständigkeit fallen. Sie begründet das damit, daß es sich in all diesen Fällen letztlich um die Beseitigung von Wettbewerbsverzerrungen und die Herstellung der Bedingungen für den ungehinderten Verkehr von Waren, Dienstleistungen, Personen und Kapital im Binnenmarkt handelt - Aufgaben also, die auf der Ebene der Mitgliedstaaten nicht erbracht werden können. 18
Ebenso Art. A Absatz 2 des Maastrichter Vertrags. Jean Bernard Blaise geht in seinem Aufsatz "Subsidiarite a Luxembourg?", EuZW 1994, S. 321, der Frage nach, ob sich der Gerichtshof in seiner neueren Rechtsprechung unausgesprochen - von dem Subsidiaritätsprinzip hat beeindrucken lassen. 17 Siehe z. B. Rupert Scha/z, "Das Subsidiaritätsprinzip im europäischen Gemeinschaftsrecht - ein tragfähiger Maßstab zur Kompetenzabgrenzung?", in: Für Recht und Staat, Festschrift für Herbert HeImrich zum 60. Geburtstag, herausgegeben von K. Letzgus u.a., München 1994, S. 413ff., sowie Wernhard Möschel, "Zum Subsidiaritätsprinzip im Vertrag von Maastricht", NJW 1993, S. 3025. 18 Die Einzelheiten sind stark umstritten. Wie Christian Calliess, "Der Schlüsselbegriff der ,ausschließlichen Zuständigkeit' im Subsidiaritätsprinzip des Art. 3 b 11 EGV", EuZW 1995, S. 693ff., herausgearbeitet hat, fließen in die Beurteilung dieser Frage - zu Recht oder zu Unrecht - eine Reihe verwandter Elemente ein, wie z. B. der Vorrang des Gemeinschaftsrechts, der "acquis communautaire" sowie die amerikanische "pre-emption"-Lehre. 15
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III. Das Verhältnismäßigkeitsprinzip
Das Verhältnismäßigkeitsprinzip ist in Artikel 3 b Absatz 3 EG-Vertrag geregelt und sieht vor, "daß die Maßnahmen der Gemeinschaft nicht über das für die Erreichung der Ziele dieses Vertrags erforderliche Maß hinausgehen". Dazu gehört die Tatsache, daß die Gemeinschaft in ihrer Regelungstiefe und Regelungsintensität eine gewisse Zurückhaltung übt und sich, wann immer das möglich ist, auf die Festlegung von Zielen und Grundsätzen beschränkt. Dies gestattet es dann den Mitgliedstaaten, die Ausformulierung von Details selbst vorzunehmen. Dieser Grundsatz hindert die Gemeinschaft allerdings nicht, entscheidende Probleme des Marktzutritts und des ungehinderten Verkehrs von Waren, Dienstleistungen und Kapital anzufassen. Würde sie diese Fragen nicht oder nicht mit ausreichender Klarheit regeln und entscheiden, so würde dies dazu führen, daß die Mitgliedstaaten unter dem Mantel der Subsidiarität oder der Verhältnismäßigkeit Zugangsbeschränkungen, Vermarktungshindernisse und Wettbewerbsverzerrungen würden aufrechterhalten können, die die gesunde Entwicklung der europäischen Wirtschaft verhindern. In diesen Fällen wird und muß die Europäische Kommission daher auch in Zukunft - aber mit dem gebotenen Augenmaß - gesetzgeberisch eingreifen bzw. die Rechte der Unionsbürger vor dem EuGH verteidigen.
C. Die Rechtsetzungstätigkeit der Gemeinschaft Bei der Beurteilung der Rechtsetzungstätigkeit der Gemeinschaft darf nicht vergessen werden, daß das Europäische Recht nur einen relativ geringen Anteil an dem Verwaltungsaufwand ausmacht, der auf Unternehmen und Einzelpersonen lastet. Das liegt daran, daß die Europäische Union häufig Verordnungen oder Richtlinien erläßt, die dem Abbau überflüssiger und bisweilen sogar schädlicher nationaler Vorschriften dienen. Ich denke dabei insbesondere an den Abbau zahlreicher nationaler Monopole - von Post und Telekommunikation über das baden-württembergische Feuerversicherungsmonopol bis hin zu den Gebietsmonopolen der Energieversorgungsunternehmen. Hier haben die Initiativen der Gemeinschaft dafür gesorgt, daß Bürgern und Unternehmen zusätzliche Freiräume geschaffen wurden, die die meisten Mitgliedstaaten aus eigener Kraft und eigenem Antrieb wohl nicht zustande gebracht hätten. Die Kommission ist damit zu einem Vorreiter der Liberalisierung geworden. Es ist vielleicht nicht allen Bevölkerungskreisen hinreichend bewußt, daß das mittlerweile weitgehend umgesetzte Binnenmarktprogramm der Kommission ein Deregulierungsprogramm par excellence ist. Denn entweder werden gemäß dem Prinzip der "gegenseitigen Anerkennung" überhaupt keine neuen gesetzgeberischen Maßnahmen auf europäischer Ebene erforderlich oder - sollte dies zum Schutz wichti-
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ger Interessen wie z. B. Gesundheit l9 oder Datenschutz20 doch der Fall sein - so werden bis zufünfzehn disparate einzelstaatliche Vorschriften durch einen europäischen Gesetzgebungsakt ersetzt, ergänzt oder aneinander angeglichen. Aus der Sicht des rechtsuchenden Bürgers und Unternehmers sicher ein Gewinn.
I. Der UNICE-Bericht
Der jüngste Bericht der Vereinigung der Europäischen Industrie- und Arbeitgeberverbände (Union of Industrial and Employers' Confederations of Europe UNICE)21 über die Rechtsvorschriften in der Europäischen Union bringt insoweit klar zum Ausdruck, daß die meisten Überregulierungsprobleme, welche die Wirtschaft belasten, auf innerstaatliche Rechtsvorschriften zurückzuführen sind. Die von UNICE breit angelegte Untersuchung hatte das Ziel, aufgrund der Ansichten der Unternehmen die Auswirkungen der Regelwerke auf die Wettbewerbsfähigkeit und die Beschäftigung zu bewerten. Der Bericht empfiehlt auf der Grundlage der Auswertung von 2.500 beantworteten Fragebögen, die schwerpunktmäßig an mittelständische Unternehmen gesandt wurden, eine Straffung und Vereinfachung der einzelstaatlichen Gesetzgebung und fordert die Kommission auf, in diesem Sinne auf die Mitgliedstaaten einzuwirken.
11. Initiativen der Europäischen Union
Die Europäische Union hat ihre Bemühungen für mehr Klarheit und Vereinfachung der Rechts- und Verwaltungs vorschriften in den letzten Jahren in verschiedenen Bereichen wesentlich verstärkt.
1. Mitentscheidungsrechte des Europäischen Parlaments Die durch den Vertrag zur Gründung der Europäischen Union ausgeweiteten Mitentscheidungsrechte des Europäischen Parlaments, die im Rahmen der diesjährigen Regierungskonferenz weiter ausgebaut werden sollen, haben zu einer wesentlichen Verbesserung der Transparenz der Gesetzgebung geführt. 19 Siehe z. B. Richtlinie 94/9/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. März 1994 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten für Geräte und Schutzsysteme zur bestimmungsgemäßen Verwendung in explosionsgefährdeten Bereichen, ABI. L 100 vom 19. 4. 1994, S. 1. 20 Siehe Richtlinie 95/46/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 24. Oktober 1995 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten und zum freien Datenverkehr, ABI. L 281 vom 23. 11. 1995, S. 31. 21 "The UNICE Regulatory Report 1995", Brüssel 1995.
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2. Transparenz im Vorfeld der Entscheidungsfindung
Mit der frühzeitigen Veröffentlichung des jährlichen Gesetzgebungsprogrammi 2 ennöglicht die Kommission allen gesellschaftlichen Gruppen, insbesondere auch den Verbänden der mittelständischen Wirtschaft die aktive Beteiligung an der Diskussion und die rechtzeitige Vorbereitung der Umsetzung neuer Regelungen. Darüber hinaus trägt die Veröffentlichung von Mitteilungen über beabsichtigte Gesetzgebungsvorhaben zur intensiveren Beratung und Anhörung im Vorfeld der Gesetzgebung bei.
3. Konsolidierung und Kodifizierung des Gemeinschaftsrechts
Bereits seit einigen Jahren gibt es einen verstärkten Trend zur Konsolidierung und Kodifizierung des Gemeinschaftsrechts. Die bisherigen Arbeiten in diesem Bereich waren dadurch behindert worden, daß es keine Übereinkunft für die beschleunigte Verabschiedung von Kodifikationsakten durch Rat und Europäisches Parlament gab. Dies wird sich nunmehr ändern, da eine entsprechende interinstitutionelle Übereinkunft verabschiedet worden ist. 23 Sie sieht u. a. vor, daß Rat und Europäisches Parlament künftig Kodifikationsvorschläge der Kommission, die keine Änderungen in der Sache beinhalten, in einem beschleunigten Verfahren verabschieden werden. 4. Rückläufige Zahl neuer Gesetzgebungsvorhaben
Die Zahl neuer Gesetzgebungsvorhaben geht seit Jahren stark zurück (1996 wird die Europäische Kommission nur 19 Gesetzgebungsakte vorschlagen 24 , 1995 waren noch 43 geplant 25 ). Gleichzeitig wird die Kommission 1996 nicht weniger als 35 Diskussionspapiere vorstellen, darunter 9 Grün- und Weißbücher, was im Vergleich zu den 19 neuen Gesetzesvorhaben zeigt, daß die Kommission heute in außerordentlich starkem Umfang vorherige Konsultationen durchführt und im übrigen Zahl und Umfang ihrer Initiativen durch die sorgfältige Anwendung des Subsidiaritätsprinzips und des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit in Grenzen hält.
22 Das Arbeitsprogramm der Kommission für 1996 wurde bereits am 31. Oktober 1995 verabschiedet, siehe Dokument KOM (95) 512 endg. vom 10. 11. 1995. 23 Interinstitutionelle Vereinbarung vom 20. 12. 1994, Beschleunigtes Arbeitsverfahren für die amtliche Kodifizierung von Rechtstexten, ABI. C 293 vom 8. 11. 1995, S. 2. 24 Dokument KOM (95) 512 endg. vom 10. 11. 1995. 25 Arbeitsprogramm der Kommission 1995, ABI. C 225 vom 30. 8. 1995, S. 6.
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D. Der Molitor-Bericht
Die bisherigen Ausführungen dürften gezeigt haben, daß sich die Einberufung der Molitor-Gruppe in eine ganz Reihe von Initiativen einfügt, die eine Rationalisierung der Gemeinschaftsgesetzgebung zum Ziel haben. Die Kommission hat daher die von der Molitor-Gruppe betriebene Durchforstung der Rechtsvorschriften begrüßt. Nach Auffassung der Kommission ist der Bericht der Molitor-Gruppe angesichts der Zeit, die für dessen Ausarbeitung zur Verfügung stand, ein wertvoller Bericht mit Denkanstößen zur Vereinfachung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften in der Gemeinschaft. Die Kommission hat im Molitor-Bericht eine ganze Reihe von Gemeinsamkeiten mit Vorschlägen entdeckt, die ihr gegenwärtig zur Prüfung vorliegen. Es fällt auf, daß der Bericht zahlreiche Vorschläge zur Vereinfachung gemeinschaftlicher Vorschriften bzw. zur Reduzierung ihrer Regelungsintensität enthält, jedoch nur in wenigen Fällen ihre ersatzlose Streichung fordert. 26 Die MolitorGruppe erkennt damit an, daß in der Regel beachtenswerte - und auch heute noch gültige - Gründe für den Erlaß der gemeinschaftlichen Rechtsvorschriften sprachen und noch sprechen. Die Gruppe weist ferner darauf hin, daß wichtige öffentliche Interessen (z. B. im Bereich des Umweltschutzes) das Festhalten an einem hohen Schutzniveau gebieten. Darüber hinaus betont die Molitor-Gruppe an mehreren Stellen des Berichts, daß erhebliche Wettbewerbsverzerrungen zu befürchten wären, wenn die Intensität der gemeinschaftlichen Rechtsangleichung ein gewisses Niveau unterschreiten würde. Dieses Spannungsverhältnis zwischen Deregulierungsbemühungen einerseits und dem Erfordernis gleicher Wettbewerbs bedingungen andererseits wird in dem Kapitel über den Umweltschutz besonders deutlich. 27 Unternehmen können in einem offenen Binnenmarkt nicht mit Wettbewerbern aus anderen Ländern konkurrieren, wenn diese weniger einschneidenden und damit weniger kostenträchtigen Umweltschutzvorschriften unterliegen. Herr Minister Vetter hat in diesem Zusammenhang auf das Problem der sogenannten "Subsidiaritäts-Falle" hingewiesen, das die deutschen Bundesländer zu einer erheblichen Überprüfung ihrer sonst häufig geübten Subsidiaritäts-Euphorie veranlaßt hat. 28 Auch die Molitor-Gruppe geht an die Überprüfung des Umweltschutzrechts sehr differenziert heran: In bestimmten Bereichen hält sie es zwar für möglich, den Unternehmen einen größeren Handlungsspielraum bei der Wahl der Mittel zur Errei26 Einer der wenigen Fälle, in denen eine ersatzlose Streichung gefordert wird, betrifft die Verordnung über die Führung von Unternehmensregistern, siehe Dokument KOM (95) 288 endg./2, S. IOD, Vorschlag 11, siehe Stellungnahme der Kommission dazu unten bei Fußnoten 37 und 38. 27 Dokument KOM (95) 288 endg./2, S. 61 ff.
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Siehe Erwin Vetter. "Angst vor der Subsidiaritäts-FaUe", EU-Magazin 6/1995, S. 7.
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chung der von der Gemeinschaft festgelegten Ziele einzuräumen. 29 Hierin liegt jedoch nur ein Deregulierungsansatz für die Durcliführung von Vorschriften, nicht für die Festlegung von Emissionswerten. Selbst hinsichtlich der Durchsetzung von Vorschriften nimmt die Gruppe viele ihrer Vorschläge teilweise wieder zurück, indem sie letztlich doch für staatliche Intervention, für Kontrollen und sogar für eine gewisse Strenge plädiert, um Wettbewerbs verzerrungen zwischen Unternehmen verschiedener Mitgliedstaaten zu vermeiden. 3o Im Ergebnis fordert die Molitor-Gruppe mehrfach den Erlaß zusätzlicher Gemeinschaftsvorschriften und die Verwendung von Verordnungen 3 ! anstelle von Richtlinien. Sie fordert außerdem die Kommission zu erheblich härterem Durchgreifen gegenüber denjenigen Mitgliedstaaten auf, die die Umsetzung des Gemeinschaftsrechts unvollständig vorgenommen oder unzureichende Sanktionen vorgesehen haben. Die Feststellung mag überraschend klingen, aber für mich ist der Molitor-Bericht kein Deregulierungsbericht - jedenfalls nicht in dem Maße, in dem man dies hätte erwarten können. Damit steht auch im Einklang, daß die Gruppe den bemerkenswerten Vorschlag gemacht hat, europäische Grundrechte im Bereich des Arbeitsrechts einzuführen, die als subjektive Rechte ausgestaltet sind und jedermann entgegengehalten werden können. Die Kommission hat diesen Vorschlag - wie viele andere Vorschläge - begrüßt und wird versuchen, ihn in der Regierungskonferenz zur Überarbeitung des Vertrags von Maastricht weiterzuverfolgen.
I. Kritik
Erlauben Sie mir, an dieser Stelle einige kritische Punkte zum Bericht anzumerken: - Der Bericht stellt einen Zusammenhang her zwischen Rechtsvereinfachung einerseits und Wettbewerbsfähigkeit und Beschäftigung andererseits, ohne jedoch Ebenda, S. 65. Ebenda, S. 66f., Ziff. 16 und 17. Das Dilemma, in dem sich die Gruppe mit ihren Vorschlägen befand, geht aus einigen Formulierungen hervor, die deutlich den ordnungspolitischen Spagat erkennen lassen, der hier erforderlich wurde: "Wenn die Unternehmen einen größeren Handlungsspielraum bei der Wahl der Mittel zur Erreichung der Umweltziele erhalten, kann dies für die Umwelt und die Wirtschaft eindeutig von Vorteil sein. Dabei muß aber unbedingt die Wirksamkeit durch eine angemessene Durchsetzung sichergestellt werden." Ebenda, Ziff. 16. Manch ein Mitglied der Gruppe mag sich in diesem Zusammenhang die Frage gestellt haben, ob gewährleistet werden kann, daß die aus der teil weisen Verlagerung umweltpolitischer Verantwortung auf den Privatsektor resultierenden verstärkten Kontrollpflichten der Aufsichtsbehörden der Mitgliedstaaten tatsächlich vom Polarkreis bis nach Sizilien annähernd gleichmäßig wahrgenommen werden. 31 Kritisch hierzu RolfWägenbaur; EuZW 1995, S. 622. 29
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auf die Zusammenhänge zwischen diesen Faktoren näher einzugehen. Da es sich um nicht ganz unumstrittene Behauptungen handelt, wäre es wünschenswert gewesen, überzeugende Analysen vorzulegen, die den behaupteten Zusammenhang untermauern. Die Gruppe ist nicht auf den Zusammenhang zwischen Deregulierung und Vereinfachung auf Gemeinschaftsebene einerseits und auf der Ebene der Mitgliedstaaten andererseits eingegangen. Die Interdependenz des nationalen Rechts mit dem europäischen Recht ist jedoch ein wesentliches Element der Verwaltungsvereinfachung, das stärker hätte herausgearbeitet werden sollen. Insbesondere hätte die Gruppe die bisher nicht gelöste Problematik vertiefen sollen, wie gewährleistet werden kann, daß eine Vereinfachung, Kodifizierung oder gar Rücknahme von gemeinschaftlichen Richtlinien entsprechende Vereinfachungen im nationalen Recht zur Folge hat und damit letztlich dem Bürger und Unternehmer zugute kommt.
11. Das Mittelstandskapitel
Das Mittelstandskapitel des Molitor-Berichts wird von der Kommission sehr positiv beurteilt. Insbesondere hat die Kommission den Ausschuß zur Vereinfachung und Verbesserung der Rahmenbedingungen für Unternehmen mit dem Auftrag eingesetzt, die Rechts- und Verwaltungs vereinfachung im Rahmen des Integrierten Programms für die KMU und das Handwerk32 zu koordinieren. Die Tätigkeit dieses Ausschusses ergänzt insofern diejenige der Molitor-Gruppe, als der Ausschuß sich im Wege konzertierter Aktionen mit den Mitgliedstaaten schwerpunktmäßig mit dem Abbau und der Vereinfachung von Verwaltungsaufwand auf nationaler Ebene beschäftigt. Meine Generaldirektion hat den Vorschlag des Molitor-Berichts über die Einführung einer "KMU-Verträglichkeitsüberpriijung" vor Verabschiedung eines Gesetzesvorschlags bereits seit einigen Jahren durchgeführt. Künftig werden über qualitative Aussagen hinaus auch verstärkt die quantitativen Auswirkungen auf die Wettbewerbsfähigkeit und die Beschäftigung von mittelständischen Unternehmen geprüft werden müssen, d. h. wir werden in größerem Umfang als in der Vergangenheit Kosten-Nutzen-Analysen durchführen. Mit der in diesen Tagen verabschiedeten Empfehlung der Kommission betreffend die Definition der kleinen und mittleren Unternehmen 33 zielt die Kommission ferner darauf ab, die Mittelstandspolitik transparenter und effizienter zu machen. Durch eine einheitliche Definition der KMU soll die Vielfalt der derzeit verwendeten Definitionen beseitigt werden. Dabei haben wir eine Anhebung des Schwellen32
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Dokument KOM (94) 207 endg. vom 3.6. 1994. ABI. L 107 vom 30. 4. 1996, S. 4 ..
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werts für den Umsatz um 100 % vorgenommen, wie der Molitor-Bericht es für die Vierte gesellschaftsrechtliche Richtlinie 34 vorgeschlagen hatte. Allerdings steht die Umsetzung dieses Grundsatzbeschlusses noch aus, da die Vierte Richtlinie erst in einigen Jahren wieder zur Änderung der Schwellenwerte ansteht und es dann Sache des Europäischen Parlaments und des Ministerrats sein wird zu entscheiden, ob sie den Vorschlag der Kommission annehmen oder nicht. Den Vorschlag der Molitor-Gruppe, die Verordnung über die Europäische Wirtschaftliche Interessenvereinigung (EWIVy3s so zu ändern, daß diese Form der Unternehmenskooperation in ein modemes Rechtsinstrument für kleine und mittlere Unternehmen umgewandelt wird, halte ich im Grundsatz für richtig. Meine Abteilung bereitet gegenwärtig eine Konferenz vor, die am 25. und 26. März 1996 stattfindet und auf der die rechtlichen, insbesondere steuerrechtlichen und praktischen Probleme der EWIV mit Juristen, Steuerrechtlern sowie Mitgliedern und Gründern von EWIV s erörtert werden sollen. Dabei wird sich zeigen, ob und in welchem Maße Änderungen an dieser Verordnung erforderlich sind. Dem Vorschlag der Molitor-Gruppe, die durch statistische Meldepflichten für KMU entstehenden Belastungen zu verringern, kann grundsätzlich zugestimmt werden. Dieses Ziel ist gegenwärtig bereits ganz weitgehend erreicht, da die KMU unterhalb bestimmter Schwellenwerte, die von den Mitgliedstaaten selbst festzulegen sind, von den Meldepflichten befreit sind?6 Von den 16 Millionen Unternehmen der Gemeinschaft überschreiten nur etwa 450.000 Unternehmen diese Schwellenwerte, d. h. nur 2,8% aller Unternehmen unterliegen den statistischen Meldepflichten von Intrastat. Hingegen ist der Vorschlag, die Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur Führung von Unternehmensregistern für statistische Zwecke37 abzuschaffen, für die Kommission nicht annehmbar?8 Solche Register stellen ja gerade keine zusätzliche Be34 Richtlinie Nr. 78/6601EWG des Rates vom 25. Juli 1978, ABI. L 222 vom 14. 8. 1978, S. 11. 35 Verordnung (EWG) Nr. 2137/85 des Rates vom 25. Juli 1985, ABI. L 199 vom 31. 7. 1985, S. 1. 36 Das sogenannte INTRASTAT-System beruht auf der Verordnung (EWG) Nr. 3330/91 des Rates vom 7. November 1991 über die Statistiken des Warenverkehrs zwischen den Mitgliedstaaten, ABI. L 316 vom 16. 11. 1991, S. 1. Die Durchführungsverordnung der Kommission (EWG) Nr. 2256/92 vom 31. Juli 1992, ABI. L 219 vom 4. 8. 1992, S. 40, steckt den Rahmen ab, innerhalb dessen die Mitgliedstaaten die Schwellenwerte selbst bestimmen können. 37 Verordnung (EWG) Nr. 2186/93 des Rates vom 22. Juli 1993 über die innergemeinschaftIiche Koordinierung des Aufbaus von Unternehmensregistern für statistische Verwendungszwecke, ABI. L 196 vom 5. 8. 1993, S. 1. 38 Bei diesem Vorschlag handelt es sich im Grunde um die Fortführung einer Auseinandersetzung zwischen der Bundesrepublik und der Gemeinschaft, in der die überwiegende Mehrheit der Mitgliedstaaten im Ministerrat der Ansicht war, daß Unternehmensregister eine Verringerung der statistischen Meldepflichten für Unternehmen mit sich bringen. Die Bundesrepublik hat diese Frage zum Gegenstand eines Rechtsstreits vor dem EuGH gemacht, den die-
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lastung für Unternehmen dar, insbesondere brauchen Unternehmen sich in solchen Registern - im Gegensatz etwa zum Handelsregister - nicht registrieren zu lassen. Die Unternehmensregister werden vielmehr in Form von Datenbasen von den statistischen Ämtern geführt. Da sie die in den Verwaltungen bereits vorhandenen Informationen und Ressourcen nutzen, führen sie zu einer Reduzierung der Berichtspflichten der Unternehmen und sollten daher erhalten und effizient genutzt werden.
Am Ende meines Vortrags möchte ich nicht versäumen, der Molitor-Gruppe für ihre Arbeit zu danken, die uns allen, den Verantwortlichen in den Mitgliedstaaten und den Institutionen der Europäischen Union wertvolle Vorschläge und Anregungen unterbreitet hat. In diesem Sinne freue ich mich auf den folgenden Meinungsaustausch.
ser durch Urteil vom 9. November 1995, Rechtssache C-426/93, zugunsten der Gemeinschaft entschieden hat. Dabei stellt sich die Frage, ob die Molitor-Gruppe nicht besser daran getan hätte, auf die Erörterung dieser Problematik, die sub judice war, zu verzichten.
Diskussion zu den Referaten von Bernhard Molitor und Reinhard Schulte-Braucks Leitung: Heinrich Siedentopf Bericht von Christian Theobald In der Diskussion unter der Moderation von Professor Dr. Dr. h. c. Heinrich Siedentopf, Speyer, hob dieser eingangs die Bedeutung des Molitor-Berichts nicht nur für die europäische Ebene, sondern auch für die der Mitgliedsstaaten hervor. Er verwies auf dessen Funktion als Grundlage für die Erstellung von Prüfrastern und Prüfchecklisten in einer Empfehlung, die kürzlich von dem Sachverständigenrat "Schlanker Staat" gemacht worden ist. Prof. Dr. Dr. h. c. SiedentopJ konnte sich vorstellen, daß die Darstellungen von Dr. Schulte-Braucks über Bemühungen und Verständnis der Kommission hinsichtlich der Belastungen von kleinen und mittleren Unternehmen - transformiert in den Bereich der Verwaltung - von mancher Kommunal- und Länderverwaltung gerne aufgegriffen würden und eine Verträglichkeitsprüfung von Brüsse1er Vorschriften mit Blick auf die Auswirkungen auf die eigene Verwaltungstätigkeit willkommen wäre. Herr Michael Merkei, Leiter der Kämmerei der Stadt Leipzig, bedauerte, daß die grundsätzliche Frage, ob nämlich die Richtung, in die man sich in Europa bewege, überhaupt Sinn macht, nicht debattiert würde. Mit Blick auf Erfahrungen mit der Währungsunion in Deutschland könne er sich nicht vorstellen, daß die mit Blick auf Maastricht und Währungsunion diskutierten Vorstellungen realiter überhaupt funktionieren könnten. So bildeten zwar die Konvergenzkriterien erst einmal die condicio für eine gemeinsame Währung, fraglich sei aber, wie man den Grundsatz der Subsidiarität aufrechterhalten könne, wie darüber hinaus im Falle der Nichtharmonisierung der nationalen Sozial- und Tarifsysteme, der Steuer- und Wirtschaftspolitik eine gemeinsame Währung in irgendeiner Form funktionieren soll. Er halte dies für unmöglich, weswegen er alsbald mit der Einführung der gemeinsamen Währung infolge des Drucks dieser nicht funktionierenden Systeme den raschen Niedergang eines Goßteils der subsidiären Möglichkeiten prognostiziere. Außerdem setze man damit auf der europäischen Schiene nur das fort, was man in den letzten Jahren in der Bundesrepublik Deutschland erlebt habe, nämlich daß die Expansion des Erlasses von Gesetzen und Verordnungen überwiegend von den Kommunen bezahlt werden müßte. Er erinnerte an die Weisheit, daß "derjenige, der die Musik bestellt, sie auch bezahlen muß", die schon auf nationaler Ebene lange nicht mehr befolgt würde. Das Entstehen einer neuen Politikebene und eine 5 Magiera/Siedentopf
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damit einhergehende "Riesenbürokratie" mache unter Subsidiaritäts- und Deregulierungsgesichtspunkten überhaupt keinen Sinn. Abschreckendes Beispiel sei das britische Kolonialministerium, welches zur Zeit der größten Ausdehnung des Imperiums 328 Mitarbeiter, bei seiner Auflösung hingegen deren annäherend 30.000 umfaßt habe. Nun beginne man bereits mit expansiven Mitarbeitergruppen anstatt schon bestehendes Personal zu reduzieren. Der Preis für die Schaffung neuer Aufgabenfelder und Standards durch Bund und Länder müßte wieder einmal von den Kommunen bezahlt werden. Jede einzelne zusätzliche Behörde entzöge andernorts die Grundlage für die Befriedigung der Grundbedürfnisse der Bürger. Frau Eva Nehrenheim, Sozial- und Arbeitsministerium Hessen, bemerkte, daß auch der Bundesrat den "Molitor-Bericht" geprüft und bewertet habe. Zahlenbeispiele wie 200 Mio. britische Pfund für die Briten, 30 Mrd Francs für die Franzosen, Geldbeträge, die von Bäckereien und Fleischbetrieben für entsprechende Produktionsinnovationen aufgewendet werden müssen, wirkten zunächst ob ihrer Dimensionen erschlagend. Allerdings müsse gegengerechnet werden, daß die Wirtschaftlichkeit der Unternehmen letztlich auch durch die Kosten infolge von Unfällen und berufsbedingten Erkrankungen, zumeist verursacht durch den Einsatz von unzulänglichem Arbeitsschutz, geschmälert würde. Bezogen auf die Ausführungen von Herrn Dr. Reinhard Schulte-Braucks äußerte sie sich dahingehend, daß hinsichtlich des Mitbestirnrnungsproblems weder der Bundesrat in der nächsten Runde der Beratung noch der deutsche Gewerkschaftsbund oder das Arbeitsministerium aus der Phalanx der abweichenden Haltung der Bundesrepublik Deutschland ausbrechen würden. Hierauf erwiderte Dr. Bemhard Molitor, daß man gerade so tue, als ob es in Deutschland keine Berufsgenossenschaften gebe oder diese ihre Arbeit nicht getan hätten. Er betonte die Unterscheidung zwischen bereits im Einsatz befindlichen Arbeitsmitteln und neuen Maschinen, bei denen neue, höhere Standards zugrundegelegt würden. Eine Anpassungspflicht bezüglich alter - bereits von den Berufsgenossenschaften geprüfter und für tauglich empfundener -:- Maschinen sei nicht nachzuvollziehen. Auch in England und in Frankreich bestünde ein sehr hohes Sicherheitsniveau gemäß dem Subsidiaritätsprinzip, in Ländern wie Griechenland sei die Situation dagegen eine andere. Bezüglich der Wirtschafts- und Währungsunion äußerte er Verständnis für die Lage der Kommunen, wenn diese nicht bezahlen wollten, was andere ihnen auferlegten. Vielleicht entspreche dies gerade der Situation in Deutschland, daß Entscheidungen zu weit oben getroffen würden, weniger auf Bundes-, vielmehr auf Länderebene. Wenn Kommunen neue Aufgaben übernehmen müßten, sei korrespondierend eine Kostenerstattung zu gewährleisten. Er sah hierin aber kein Hindernis für die Herstellung der Europäischen Union bzw. der Wirtschafts- und Währungsunion. So seien die Vereinigten Staaten von Amerika in weit größerem Ausmaß von sehr unterschiedlicher Gesetzgebung, getrennt nach Einzelstaaten- und Bundesrecht, geprägt. So existiere dort eine totale Trennung der Finanzverfassung in der Form, daß die Steuern der Länder von diesen bestimmt würden, während sie in Deutschland im Wege der Bundesgesetzgebung im
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Zweikammernsystem beschlossen würden. Nach seiner Einschätzung wird die Wirtschafts- und Wahrungsunion Wirklichkeit werden, mit der Einhaltung der Konvergenzkriterien sei zu rechnen. Er halte jedenfalls nichts von einer Vorverlagerung einer nur möglicherweise in zwei, drei Jahren aufkommenden Diskussion über die Folgen der Nichteinhaltung von Konvergenzkriterien. Zur Mitbestimmungsfrage habe er, als das Bundesministerium für Wirtschaft seinen Vorschlag entwickelt hat, nämlich eine kleine Europäische Aktiengesellschaft zu gründen, die Meinung vertreten, daß nie eine deutsche Zustimmung für eine große Aktiengesellschaft und die hieraus resultierende Gefahr einer Verwässerung des deutschen Mitbestimmungsrechts zustande käme. Er äußerte die Vermutung, daß deshalb die Kommission den Vorschlag zunächst abgelehnt habe. Herr Dr. Reinhard Schulte-Braucks brachte seine Verwunderung zum Ausdruck, daß ein Vertreter einer ostdeutschen Kommune die These aufstellt, daß vor der Einführung einer neuen Währung erst die völlige Harrnonisierung aller Politikbereiche erforderlich sei, denke man etwa an die Einführung der DM zum 1. 7. 1990 in der damaligen DDR ohne eine vorherige irgendwie geartete Rechtsangleichung. In bezug auf die Europäische Aktiengesellschaft ist er sich unsicher, ob die Kommission den Vorschlag abgelehnt hat. Zugleich zeigte er Verständnis für die Position der Gewerkschaften und deren Widerstand gegen mitbestimmungsfreie Zusammenarbeit im Rahmen eines solchen Status für eine Europäische Aktiengesellschaft, wenngleich er die Konsequenzen verdeutlichte, daß, wann immer solche Formen der Zusammenarbeit zustande kämen, die Gesellschaften außerhalb der Bundesrepublik, etwa in Belgien oder Luxemburg - mit der Folge entsprechender Investitionsausfälle in Milliardenhöhe - entstünden. Aus diesem Grund plädiere er für ein Überdenken der ablehnenden Haltung. Die Bundesrepublik Deutschland tue sich ansonsten keinen Gefallen. Herr Klaus Suchanek, Ministerium für Europa- und Bundesangelegenheiten in Schleswig-Holstein, zeigte sich über den Schulterschluß der Kommission mit dem "Molitor-Bericht" verwundert, wenn in der Stellungnahme der Kommission zu lesen sei, daß "nach Auffassung der Kommisson der Bericht der Molitor-Gruppe angesichts der Zeit, die für dessen Ausarbeitung zur Verfügung stand, ein wertvoller Bericht mit Denkanstößen sei (... ). Die Kommission hätte es begrüßt, wenn sich die Gruppe zu einem Bewertungsverfahren für die Auswirkungen der Rechtsvorschriften auf die Wettbewerbsfähigkeit (... ) geäußert hätte. Generell verbindet der Bericht die Vereinfachung mit Wettbewerbsfähigkeit und Beschäftigung, ohne jedoch die Zusammenhänge zwischen diesen Faktoren zu analysieren. " Er frage sich, seit wann sich die Position der Kommission zum Molitor-Bericht geändert habe. Hierauf erwidernd stellte Herr Dr. Reinhard Schulte-Braucks fest, daß er nicht als Vertreter der Kommission offizielle Stellungsnahmen abgeben wolle, er sich hingegen eine eigene Meinung zum Bericht vorbehalte. In der Sache teile er die geäußerte Kritik. Glücklicherweise sei seine Generaldirektion in die meisten Gesetzgebungsverfahren der Kommission nicht eingeschaltet gewesen, was eine rela5*
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tiv neutrale Stellung zu Vorschlägen anderer Generaldirektionen erlaube. Dies entspreche auch dem System, seitens der Kommission eine Folgenabschätzung der im Vorschlagsstadium befindlichen EU-Gesetzgebung vorzunehmen, was eine Unabhängigkeit gegenüber anderen Generaldirektionen voraussetze. Gewisse Nuancen seien daher normal, auch bei "böswilliger Lesart" des Berichts der Kommission seien nur wenige kritische Punkte zu entdecken. Selbst wenn es derer viele wären, sei das nach seiner Ansicht keine Überraschung angesichts der Untersuchung von 30 Jahren Gemeinschaftsrecht durch eine Gruppe von 15 unabhängigen Experten. Wenn diese zu radikalen Schlußfolgerungen gelangt wäre, dann wäre eine gewisse Auseinandersetzung zwischen einer solchen Gruppe und der Kommission das natürlichste von der Welt. Letzteres entspreche aber nicht seiner Lesart des MolitorBerichts. Herr Dr. Bernhard Molitor konstatierte eine gewisse Ambivalenz in der Stellungnahme der Kommission. Die Tatsache, daß der Generalsekretär der Kommission an fast allen Sitzungen der Gruppe teilgenommen hat, spreche für die Kommission und ihre positive Haltung, wobei er die Kommission als ein immer sehr "heterogenes Kollektiv" bezeichnete. Ferner sei der Vorwurf berechtigt, daß nicht für jeden Einzelfall die Bewertung erfolgt sei, wieviele Arbeitsplätze verloren gegangen sind. Hinzuweisen sei auf die Paralleluntersuchung durch UNICE, die man in den eigenen Untersuchungen berücksichtigt habe, deren Verlauf sich aber zeitlich parallel gestaltete und im Ergebnis sogar später veröffentlicht wurde. Bei einer Vielzahl von Komplizierungen, unter anderem bei besonderen Regelungen für Trockenfleisch oder Hygieneanforderungen, stelle sich die Frage nach ihrer Rechtfertigung, existierten solche doch in kaum einem Mitgliedstaat. Problematisch sei insbesondere die Kumulation von unnötigen und zu komplizierten Einzelbestimmungen, weshalb eine "Durchforstung" der Gesetzgebung auch in der Bundesrepublik Deutschland ratsam sei. Weiterhin betonte er mit Nachdruck, daß die Waffenschmidt-Kommission gute Arbeit geleistet habe, insbesondere mittels einer Reihe von Rechtsänderungsgesetzen. Er verwies aber auch auf die lange Zeitdauer, bis beispielsweise der Wucherparagraph und die Genehmigungspflicht für sogenannte mündelsichere Papiere in Deutschland beseitigt waren, Regelungen, die zur Zeit der Kodifizierung des BGB ihre Berechtigung gehabt hätten, mittlerweile aber schon lange überholt gewesen wären. Darüber hinaus sei auch im Bereich der Einzelgesetzgebung vieles vereinfachungsfähig, so bei Verordnungen im Bereich der Berufsgenossenschaften, ohne dabei hohe Standards in Frage stellen zu müssen. Dr. Bernhard Molitor betonte nochmals die Wichtigkeit hoher Standards und propagierte im Zweifel "pro komplizierte Rechtsnorm" zu entscheiden, andernfalls sei zu "entrümpeln". Herr Fliegau, Oberlandesanwalt und Vertreter des öffentlichen Interesses in Baden-Württemberg, griff die Frage auf, was eigentlich das Subsidiaritätsprinzip sei. Nach der Ansicht des Innsbrucker Völkerrechtlers Hummer bedeute dies nicht eine Kompetenzverteilungsklausel, sondern eine Kompetenzausübungsregelung, die überlagert würde von Art. 235 EGV; immer dann, wenn Brüssel dies für gut und
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richtig befinde, stelle diese Nonn de facto das trojanische Pferd dar für den Einbruch in den nationalen Bereich. In bezug auf den Zusammenhang zwischen Subsidüuitätsprinzip und Deregulierung pflichtete er bei, wenn Brüssel sich darauf beschränken will, Ziel- und Zweckvorgaben zu machen, etwa im Bereich des Umweltschutzes. Insofern sei dies nichts anderes als die seit langem bekannte facultas alternativa im Polizeirecht der deutschen Ländern. Deregulierung sei zu befürworten, Regulierungen wie die Größe der Sitzfläche bei Traktoren, Verkrümmung von Bananen usw. könnten kaum ernstgenommen werden. Zunehmend gebe es Bereiche, wo Deregulierung ernsthaft betrieben werden sollte, andererseits seien aber auch Regulierungsdefizite zu beklagen, etwa eine bislang wenig koordinierte gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik oder unzureichende Verfolgung der organisierten Kriminalität. In puncto Währungsunion forderte er, eisern an den Konvergenzkriterien festzuhalten und warnte diesbezüglich vor einer zeitlichen Verkürzung auf eine logische Sekunde, den Augenblick des Eintritts; vielmehr sei eine durchgehende Geltung unabdingbar. Herr Werner Hauser, Altoberbürgenneister, nunmehr Arthur Anderen Co. GmbH Stuttgart, griff die Ausführungen von Herrn Michael Merkel aus Leipzig auf und bezeichnete Regulierung als wesentlich hausgemachte deutsche Angelegenheit. So hätte eine diesbezügliche Recherche des deutschen Ständetags vor einigen Jahren ergeben, daß mehr als 80 % der Regelungen aus Brüssel, über die man sich dieserorts beklage, deutschen Ursprungs seien. An einem Eingeständnis von mea culpa bzw. nostra culpa komme man also nicht vorbei, genauso wenig wie an der Feststellung des sogenannten Standards des Komforts, der jetzt gleichsam zu einem Speckgürtel an unseren Hüften angewachsen sei. Diese Erkenntnisse könnten der Europäischen Union wie auch den einzelnen Mitgliedschaften als Bestandteile einer internationalen Wettbewerbs gesellschaft nicht gleichgültig sein. Das deutsche Wesen und die deutsche Regelungswut dürften nicht auch noch europäischer Standard werden. Betrachte man exemplarisch die Finanzpolitik der 45 größten Städte in den neuen Bundesländern, müsse zur Kenntnis genommen werden, daß das Geld ausgehe. Nichtsdestotrotz verteidigten Fachbrüderschaften heftigst die von ihnen selbst initiierten hohen Standards, von diesen sei verständlicherweise kein "Suizidversuch" in Richtung Standardabbau zu erwarten. Er verwies in diesem Zusammenhang auf die Ausführungen des Vorredners Herrn Minister Dr. Envin Vetter. Abschließend forderte er, Brüssel unmißverständlich den Zustand leerer Kassen deutlich zu machen. Nicht zuletzt die Bundesländer seien in der Vergangenheit über den kommunalen Finanzausgleich als Wegelagerer kommunaler Finanzen in Erscheinung getreten. So habe das Land Baden-Württemberg immer wieder in kommunale Kassen gegriffen. Brüssel müsse sich endlich fragen, was man sich angesichts unserer Wettbewerbsordnung wirtschaftlich und finanzpolitisch noch leisten könne. Herr Dr. Reinhard Schulte-Braucks stimmt dem zuvor Gesagten insofern zu, als ein großer Teil der Gesetzgebung in Brüssel aus Deutschland angeregt worden sei, was im übrigen auch für die zitierten Traktorsitze gelte. Betreffend die Wirtschafts-
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und Währungsunion pflichtete er der Forderung nach der Geltungskraft der Konvergenzkriterien für die Zeit über die logische Sekunde hinaus zu. Diesbezüglich sei der Maastrichter Vertrag sorgfaltig ausgearbeitet, so sehe dieser auch eine Reihe von Kontrollen und Sanktionen vor, bis hin zum Klagerecht des Europäischen Währungsinstituts beziehungsweise der späteren Europäischen Zentralbank vor dem EuGH. Damit übertreffe der Maastrichter Vertrag sogar das Bundesbankgesetz, das solche Sanktionen gegenüber der Bundesregierung nicht vorsehe. Mit einem Höchstmaß an Präzision sei demnach vorgesorgt, daß die Mitgliedstaaten nicht den "Pfad der Tugend" verließen. In diesem Zusammenhang regte er an, die deutsche Tendenz, auf eine harte DM zu pochen und für eine ähnliche Härte des EURO zu plädieren, zu überdenken. So zeigten sich wechselkursbedingte Auswirkungen in Gestalt von Einbußen im Exportgeschäft von bis zu 30 oder 40 % nicht selten als Folge von auf die Stabilität der DM pochenden Äußerungen von Mitgliedern der Bundesregierung in bayerischen Wirtshäusern. Einzuschlagen sei hier eher ein Mittelweg. Dr. Bemhard Molitor unterstützte die Bemerkungen von Dr. Reinhard SchulteBraucks und bekundete nochmals volles Verständnis für die kommunale Seite und die dortigen Auswirkungen der Implementation der Europapolitik. So nannte er Behandlungsanlagen für Wasser als typisches Beispiel für Fälle, in denen die Fristen für die Umsetzung, die auf den damaligen deutschen Umweltminister Prof. Dr. Klaus 1öpfer zurückgingen, viel zu kurz seien. Folge dieser mit fünf Jahren viel zu kurzen Zeitvorgaben - ungachtet der normalen Investitionszyklen - seien rapide steigende Wassergebühren. Er plädierte für ein Neuüberdenken dieser Fristen. Die ungleichen Auswirkungen beziehungsweise Wettbewerbsnachteile für diejenigen, die bereits umgestellt haben, müsse man in Kauf nehmen, einen Fakt, auf den auch schon die Kommission hingewiesen habe. In der Mehrzahl der Fälle träfe es Unternehmen, die ohnehin investiert hätten. Bezüglich der Wirtschafts- und Währungsunion machte er auf Art. 109 c EGVaufmerksam, der die Haushaltspolitik auch für die Zukunft regele. Wenn man dies noch durch den Stabilitätspakt, wie von Bundesminister Dr. Theo Waigel vorgeschlagen, verfestigen könne, sei dagegen nichts einzuwenden, im Gegenteil begrüßenswert.
Perspektiven der Europäischen Union Von Klaus Hänsch Ich bin gern hierher gekommen, weil ich weiß, mit welcher Intensität und Solidität hier Fragen der europäischen Integration wissenschaftlich gründlich und in fruchtbarem Kontakt mit der Praxis nachgegangen und auch voraus gedacht wird. Gerade das Öffentliche Recht und Europarecht braucht diese Symbiose, und ich kann von mir selbst sagen, daß ich von den Veröffentlichungen der Hochschule Anregungen in meiner Arbeit empfangen habe.
I.
Einerseits hat die Europäische Union in der öffentlichen Diskussion keine guten Karten. Was immer an Unbill und Unfug durch die Medien geht, wird Europa, "denen in Brüssel", in die Schuhe geschoben. Andererseits hat die Einigung Westeuropas seit Anfang der 50er Jahre den Völkern eine in ihrer Geschichte einzigartige Periode der wirtschaftlichen und sozialen Stabilität beschert. Sie hat die persönlichen Freiheiten des einzelnen erweitert. Sie hat den Binnenmarkt für über 370 Millionen Europäer vollendet - oder fast. Sie hat den Krieg zwischen jahrhundertelang verfeindeten Völkern undenkbar und unmöglich gemacht. Ihre vierzigjährige Erfolgsgeschichte hat mit sechs Staaten begonnen. Heute gehören ihr fünfzehn an. Und alle sind freiwillig gekommen. Und die Völker in der Mitte und im Osten Europas wollen nichts nachdrücklicher, als dazu zu gehören. Vor dem Hintergrund der europäischen Geschichte in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts und der Jahrhunderte davor, ist die Europäische Union eine einzigartige Erfolgsstory. Einerseits hat die Europäische Gemeinschaft, die aus den Trümmern des Krieges zwischen Deutschland und Frankreich ein neues Gleichgewicht geschaffen und beide Länder zu einer Partnerschaft verbunden hat, den Krieg zwischen ihnen und den anderen Partnern der Europäischen Union so undenkbar gemacht, daß die Union in den Augen mancher sich selbst überflüssig gemacht hat. Andererseits bleibt die deutsch-französische Freundschaft und Zusammenarbeit in der Europäischen Union nicht trotz der Wiedervereinigung, sondern wegen der Wiedervereinigung Deutschlands die Voraussetzung für ein dauerhaftes Gleichgewicht und für Stabilität in Europa.
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Einerseits ist der Europäischen Einigung, die ja immer auch ein Produkt des Kalten Krieges und der Spaltung Europas war, mit der Wiedervereinigung Deutschlands und Europas, mit dem Zusammenbruch des Kommunismus und der Auflösung der Sowjetunion ein wichtiger Teil ihrer "raison d'etre" abhanden gekommen. Andererseits wissen wir, daß das Ende der ideologischen und militärischen Bedrohung durch die kommunistische Sowjetunion nicht der Beginn des ewigen Frieden in Europa ist. Unruhe und Unsicherheit im Osten, ungeheuere wirtschaftliche und soziale Probleme im Süden, extremistische Bewegungen und Staatsterrorismus drohen, die europäischen Staaten mitzureißen. Sie machen die Einigung Europas noch dringender als bisher. Einerseits führen wir laute Klage über die Ohnmacht Europas auf dem Balkan. Andererseits sind wir gegen mehr Macht für Europa. Einerseits hat die politische Notwendigkeit der europäischen Einigung - gerade für das wiedervereinigte Deutschland - noch nie so offen gelegen. Andererseits verkürzt sich - vor allem bei uns - die Debatte um Europas Zukunft darauf, was es uns kostet, - auf den Haushaltsbeitrag und auf die DM.
Noch sind die Bürger nicht gegen Europa, auch nicht gegen Maastricht oder Brüssel; aber sie wissen nicht oder nicht mehr, warum sie dafür sein sollen. Und in dieser Situation - diesem "einerseits" - "andererseits" verändert sich das Meinungsklima in Europa. In ihm wächst neuer Nationalismus - nicht nur in Deutschland, aber auch hier. Der tritt nicht nur mit kahlem Kopf auf und zündet Wohnheime für Ausländer an. Er kommt häufig auch verkleidet daher und behauptet mit der Kreide der "political correctness" in der Stimme, daß er natürlich für Europa, aber gegen die Europäische Union sein müsse. Der neue Nationalismus, der das, was seit 50 Jahren im Westen Europas aufgebaut worden ist, gering achtet, es der politischen und der rechtlichen Erosion preisgibt oder es gar aktiv zerstören will, führt geradewegs zurück in das Vorkriegseuropa - in des Wortes doppelter Bedeutung. Und während - verführt von falschen Propheten - wieder mehr Menschen glauben, daß sie sich in einem Europa der souveränen Nationalstaaten besser zurechtfinden können, können die Nationalstaaten die Erwartungen der Menschen an staatliches Handeln immer weniger erfüllen. Wir brauchen die Union der V6lker Europas immer noch, um die Schatten der Vergangenheit zu bannen. Aber wir brauchen sie noch viel mehr, um den Herausforderungen der Zukunft gewachsen zu sein. 200 Jahre lang, bis in die Mitte unseres Jahrhunderts, haben der Territorialstaat und die Nation alle wichtigen Bereiche des Rechts, der Wirtschaft, der Wissenschaft, der Kultur und der Politik autonom regeln, ihren Bürgern Schutz nach außen und Orientierung nach innen geben können.
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Heute sind die gleichen Nationalstaaten in den Lebensfragen der modemen Gesellschaft längst nicht mehr Herren im eigenen Haus. Die modeme Wirtschaft, die modemen Technologien haben Räume und Entfernungen schrumpfen lassen und die Völker auf unserem Kontinent immer enger miteinander verflochten. Die elektronischen Kommunikationsmittel erlauben es, die sichtbaren, staatlich gezogenen Grenzen unsichtbar zu überschreiten. Kein europäischer Staat - auch der größte nicht - kann für sich allein und souverän seinen Bürgern Schutz bieten, Wohlstand mehren, die Umwelt schützen, Gerechtigkeit herstellen. Nationale Souveränität ist in vielen Bereichen zur leeren Hülle geworden und mit ihr - was das Bundesverfassungsgericht im Maastricht-Urteil souverän übersieht - die auf das Nationalstaatliche bezogene und begrenzte Demokratie. Wenn das, was die Nationalstaaten regeln müßten, außerhalb ihrer Kompetenz liegt, dann muß sich heute auch Demokratie über den nationalstaatlichen Rahmen hinweg erstrecken.
11. Die Modernisierung der europäischen Wirtschaft ist die erste der großen Herausforderungen. Alle nationalen Volkswirtschaften in Europa sind in einer strukturellen Krise. Denn die Massenarbeitslosigkeit der über 18 Millionen in der Union ist nicht die Folge einer konjunkturellen, sondern einer strukturellen Krise. Unsere industrielle Produktion und unsere Landwirtschaft, unsere Dienstleistungen und unser kulturelles Schaffen sind einem doppelten Druck ausgesetzt: Auf der einen Seite von der Revolution, die sich im Bereich neuer Technologien mit dramatischer Geschwindigkeit vollzieht - in Japan und den USA noch schneller als bei uns - und auf der anderen Seite von dem wachsenden Angebot an billigen Arbeitskräften im femen Südostasien und direkt vor unserer Haustür. Wer auf die Globalisierung der Märkte mit der Nationalisierung der sozialen und ökologischen Regeln und Instrumente antworten will, der hat ein untaugliches Konzept. Die Verflechtung der europäischen Wirtschaft, die ja nicht durch die Europäische Union geschaffen worden ist, zwingt uns zu gemeinsamem Handeln. Nicht mehr nur traditionelle Industrien kämpfen ums Überleben, sondern zunehmend auch der Dienstleistungssektor. Wenn Swissair sämtliche Buchungsvorgänge nach Indien auslagert, ist das eine Warnung für den Dienstleistungsbereich ganz Europas. Die Globalisierung der Wirtschaft nötigt uns zur Umstrukturierung unserer Volkswirtschaften, zur Modernisierung von Industrie und Dienstleistungen.
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Wenn die durchschnittlichen Lohnkosten in Staaten der Europäischen Union und, zum Beispiel, in Indien zur Zeit um fast das Hundertfache auseinander liegen, läßt sich diese Kluft mit keinem Lohnverzicht der europäischen Arbeitnehmer und mit keiner noch so starken Drosselung der Arbeitskosten europäischer Unternehmen schließen. Dann gibt es nur den einen Ausweg: die Modernisierung unserer Wirtschaft. Aber unsere Forschungsanstrengungen haben nachgelassen - in Europa, aber auch in Deutschland. Deutschland ist das einzige große Industrieland ohne steuerliche Anreize für Forschung und Entwicklung und sein Forschungshaushalt geht seit 1982 zurück. Wir fangen an, den Preis dafür zu zahlen, daß viele Leute Europa immer noch und ausschließlich als Reparaturbetrieb für veraltete Industriezweige sehen, statt als Motor für Innovation und Umstrukturierung. Eine Europäische Union, die weiterhin jedes Jahr eine Milliarde ECU an Subventionen für den Tabakanbau ausgibt, statt z. B. für die Entwicklung neuer Werkstoffe, ist nicht arm an Geld, sondern arm an Geist.
III.
Die Modernisierung der europäischen Wirtschafts strukturen braucht den funktionierenden Binnenmarkt und der europäische Binnenmarkt braucht eine gemeinsame europäische Währung. Sie ist nicht bloß "irgendeine Idee" - auch nicht bloß ein "europäisches Anliegen". Wir müssen endlich von dem Mythos Abschied nehmen, die Deutsche Mark werde auf dem Altar der Einigung Europas "geopfert". Die Einführung einer gemeinsamen europäischen Währung dient den wohlverstandenen wirtschaftlichen und politischen Interessen Deutschlands in Europa. Der Generalmanager von FORD-Europa hat mir neulich erklärt, daß allein sein Unternehmen mit 400 Mio Dollar Transaktionskosten jährlich rechnen muß. Insgesamt kostet es die europäische Wirtschaft jährlich bis zu 30 Mrd DM, daß wir uns im Gemeinsamen Binnenmarkt den Luxus von über einem Dutzend Währungen leisten. Das sind Kosten, die man sparen kann im Interesse der globalen Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Unternehmen. Deutschland erzielt 70 % seiner Außenhandelsüberschüsse in den vierzehn Partnerländern in der Europäischen Union. Vielleicht erinnert sich der eine oder andere noch daran, wie vor zwei Jahren eine Aufwertungswelle durch Europa lief - gegen die italienische Lira, die spanische Pesete, das britische Pfund. Die indirekte Aufwertung der Mark durch die Spekulationsrunde 1994 hat die deutsche Stahlindustrie eine Million Tonnen Stahlexporte gekostet und die deutsche Textilindustrie soviel wie eine 4 %-Lohnrunde. Aber die Arbeitnehmer hatten deswegen nicht einen Pfennig mehr in der Lohntüte.
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Gerade wir in Deutschland haben kein Interesse an Abwertungswettläufen zwischen den Währungen um uns herum, aber alles Interesse an einer Zone größter Stabilität um uns herum. Die DM ist in der Weltwirtschaft de facto zur zweiten Reservewährung geworden. Die weltwirtschaftliche Bedeutung dieser Rolle wird mit den periodischen Schwächeanfällen des Dollars eher noch wachsen. Wir haben aber die wirtschaftliche Basis nicht, um sie auch verantwortlich auszufüllen. Auf den Weltdevisenmärkten werden täglich eine Billion Dollar umgesetzt. Wenn sich davon auch nur ein Viertel gegen die DM in Bewegung setzt, reichen die gesamten Reserven der Bundesbank nicht, um die DM zu retten. Es ist im deutschen Interesse, die Lasten der Reservewährung auf die breiteren Schultern der EU zu verteilen. Lassen Sie mich ein paar Sätze zur öffentlichen Diskussion in Deutschland sagen: Ich begrüße es, daß über die Einführung der gemeinsamen Währung diskutiert wird. Es wäre schlimm, wenn es diese Diskussion nicht gäbe. Sie ist eine demokratische Notwendigkeit. Aber wir müssen dabei wissen: Es geht nicht um das "Ob" und "Wann", sondern um das "Wie". Was das "Ob" und das "Wann" anlangt, haben wir einen Vertrag unterschrieben und ratifiziert, dem der Bundestag mit Zweidrittel-Mehrheit und der Bundesrat einstimmig zugestimmt haben. Und dieses Land hält die Verträge ein, die es abgeschlossen hat. Einige halten die Währungsunion für ein europäisches Rezessionsprogramm. "Die Konvergenzkriterien schnüren der Konjunktur die Luft ab", heißt es. Die gleichen Leute warnen ein paar Tage später (oder vorher), die Währungsunion bedrohe die Stabilität der Mark. Andere befürchten eine Spaltung der Union in eine harte EURO-Zone und in eine Schwachwährungszone um sie herum, die dazu führen kann, daß die Stabilitätsbemühungen in der EURO-Zone von außen unterlaufen werden. Und viele lesen die Konvergenzkriterien nur halb. Aber die Disziplin, die Konvergenzkriterien einzuhalten, haben alle Volkswirtschaften nötig - und sie wissen das inzwischen auch alle. Selbst ein Land wie Dänemark, das gar nicht mitmachen muß, betreibt die gleiche Stabilitätspolitik wie Deutschland. Die Konvergenzkriterien sind hinreichend hart und zulässig flexibel - und zwar alle: Die Inflations- und Zinskriterien ebenso wie das Kriterium der öffentlichen Verschuldung. Darum bin ich überzeugt, daß 1998 genügend Staaten die Kriterien erfüllen werden. Im übrigen steht nirgendwo geschrieben, daß alle Staaten von Beginn an dabei sein müssen. Und nirgendwo steht geschrieben, daß mit der Währungsunion begonnen werden muß, wenn nur Deutschland und Luxemburg die Konvergenzkriterien erfüllen. Je-
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der weiß, daß es eine Währungsunion ohne Frankreich genauso wenig geben wird wie ohne Deutschland. Und jeder weiß auch, daß sie mit den beiden allein nicht zustande kommen wird. Die Staaten, die die Konvergenzkriterien des Maastricht-Vertrages erfüllen, werden zum festgelegten Zeitpunkt am 1. Januar 1999 mit der Währungsunion beginnen. Und das wird nicht heute (1996), sondern Anfang 1998 in Kenntnis der für 1997 vorliegenden Zahlen entschieden werden. Es wird eine ausreichende Zahl von Mitgliedstaaten sein - sie werden mehr als 60% des Bruttosozialprodukts der Union einbringen. Lassen Sie mich noch etwas zum Thema "Verschiebung" sagen. Eine Verschiebung ist das falsche Signal. Die DM würde unter einen ungeheuren Aufwertungsdruck geraten - mit allen Folgen für unseren Export und die Arbeitsplätze. Es gibt keinen idealen Zeitpunkt. Wer garantiert denn, daß die wirtschaftliche Lage 2002 oder 2005 günstiger sein wird? Wer kann sagen, daß Italien oder Spanien dann die Konvergenzkriterien erfüllen werden? Wer, daß Großbritannien dann eher bereit ist teilzunehmen? "Verschieben" heißt im Klartext "aufgeben": Warum sollten die Finanzmärkte und die Bürgerinnen und Bürger einen Termin, sagen wir 2001, ernster nehmen als 1999? Politik wird nur ernst genommen, wenn sie ihre eigenen Ziele und Versprechen ernst nimmt. Aber etwas anderes ist wichtig: Wir müssen den Menschen zeigen, daß die Union nicht nur eine monetäre Union oder eine Finanzunion ist. Das gemeinsame europäische Geld wird nur akzeptiert werden, wenn wir beweisen, daß es nicht nur beim Geld, sondern in den Lebensfragen, die die Menschen bewegen, eine gemeinsame europäische Politik gibt: für die Modernisierung der Wirtschafts strukturen und die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, für den Schutz der Umwelt, für eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, die mit den moralischen Grundsätzen Europas im Einklang steht, für mehr Sicherheit vor dem international organisierten Verbrechen. Es muß deutlich sein, daß das gemeinsame Geld Teil des großen gemeinsamen Projekts Europa ist.
IV. Die zweite säkulare Herausforderung ist die Sicherung von Frieden und Demokratie in ganz Europa. Wenn die osteuropäischen Staaten daran scheitern, ihre Demokratie zu festigen und die Volkswirtschaften zu modernisieren, die Verwaltungen zu reformieren, die Umwelt zu schützen und soziale Sicherheit aufzubauen, dann scheitern wir mit ihnen. Entweder exportiert die Europäische Union Stabilität nach Osten oder wir werden Instabilität importieren müssen.
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Im Dezember 1995 hat der Europäische Rat in Madrid beschlossen, daß etwa ein halbes Jahr nach dem Ende der Regierungskonferenz über die Reform des Maastricht Vertrages (also in der ersten Hälfte 1998) die Verhandlungen mit beitritts willigen Staaten Europas beginnen. Sicher mit Malta und Zypern, und sicherlich auch mit einer ganzen Reihe von mittel- und osteuropäischen Staaten. 1998 geht es um den Beginn von Beitrittsverhandlungen. Der Beitrittstermin aber wird nach dem Jahr 2000 liegen und dieser Termin verschiebt sich noch weiter, wenn wir die Reformen der Union durch die Regierungskonferenz zur Reform des Maastricht-Vertrages 1996/97 nicht zustande bringen. Wenn deutsche Politiker im Osten herumreisen und die rasche Erweiterung versprechen, aber zugleich den deutschen Haushaltsbeitrag an die Europäische Union drastisch kürzen wollen, reden sie unredlich. Und unsere Partner beginnen das auch zu merken. Die Osterweiterung ist nicht - weder wirtschaftlich noch institutionell - zum Nulltarif zu haben. Nicht nur die Staaten im Osten müssen sich auf den 'Beitritt noch intensiv vorbereiten. Auch die Union muß erst erweiterungsfähig werden. Sie muß ihre Institutionen und Beschlußverfahren so reformieren, daß sie auch mit mehr als 15 Mitgliedstaaten handlungsfähig bleibt. Sie muß ihre Agrarpolitik reformieren. Und sie muß ihre Strukturfonds überholen. Wir stehen wirklich an einem Kreuzweg in Europa. Verweigert die Union den neuen Demokratien und Marktwirtschaften im Osten den Beitritt, wird es sie zerreißen. Versucht sie, sich unreformiert zu erweitern, so zerreißt es sie auch. Deshalb hat sich die Union nicht zu entscheiden, ob sie sich "erweitern oder vertiefen" will. Sie steht vor der Entscheidung: Vertiefung der Union oder Auflösung in eine bloße Freihandelszone. Dazu sage ich Ihnen: Wenn der Preis für die Erweiterung der Union die Aufweichung oder gar Auflösung der bestehenden sein sollte, dürfte dieser Preis nicht gezahlt werden. Er wäre zu hoch, nicht nur für die heutigen Mitgliedstaaten, sondern auch für diejenigen, die beitreten wollen. Denn sie wollen doch gerade einer funktionierenden Union beitreten, nicht jedoch einer Union, die sich in Auflösung befindet. Gerade sie brauchen die solidarische Union und nicht eine Union, die sich in eine Freihandelszone oder in ein "Europa ala carte" zersplittert.
v, Die Reform der Institutionen und Verfahren der Union ist darum die dritte Herausforderung. Sie stellt uns ebenfalls vor ein außerordentlich schwieriges Problem:
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Die Union, die sich auf die Einführung der gemeinsamen Währung vorbereitet, braucht größere, zusätzliche Festigkeit ihrer politischen Strukturen. Aber die Erweiterung erfordert mehr Flexibilität der Strukturen und Politiken. Der Erfolg der Regierungskonferenz und der Bestand der Union hängen davon ab, daß es uns gelingt, diese beiden Erfordernisse zusammenzuführen. Bei der Reform geht es um Institutionen - und das interessiert außer Europapolitikern und Europawissenschaftlern keinen Menschen. Die sind - zu Recht - an politischen, auch europapolitischen, Ergebnissen interessiert. Aber wir müssen wissen, daß es ohne Verbesserung der Institutionen keine bessere Politik geben kann. Die Reform der Union kommt mit Zustimmung der fünfzehn Mitgliedstaaten zustande, oder sie kommt überhaupt nicht. Überlegungen, aus der Regierungskonferenz könne so eine Art Kerneuropa herauskommen, sind Unsinn. Es ist blanke Illusion, sich vorzustellen: Wenn es keine Einigung gibt, würden sich fünf oder sechs Außenminister im Nebenraum zusammensetzen und eine andere Union beschließen. Ja welche denn? Das kann schon deshalb nicht funktionieren, weil sich der Kreis der Teilnehmer an diesem Kerneuropa in den verschiedenen Bereichen, an die da gedacht wird, nicht deckt. Es sind nicht immer dieselben Staaten, mit denen eine Sicherheitsunion geschaffen werden könnte oder eine Umweltunion, eine Währungsunion oder eine Sozialunion. Weil wir den Erfolg zu Fünfzehn brauchen, geht es um eine begrenzte, aber substantielle Reform. Die Union braucht nicht neue Befugnisse, sondern mehr Handlungsfähigkeit, Demokratie und Offenheit. Was heißt Handlungsfähigkeit? Mehrheitsentscheidungen sind die erste Forderung, wenn wir von größerer Effektivität sprechen. Der Binnenmarkt, den Großbritannien, den Margaret Thatcher wollte, wäre nie zustande gekommen ohne Mehrheitsentscheidungen in Artikel 100 a. Heute reicht das nicht mehr, denn die Union ist über das Binnenmarktprojekt hinausgewachsen. In 50 Bereichen normaler Gesetzgebung gibt es heute noch Einstimmigkeit. Fünfzehn Mitgliedstaaten zur Einstimmigkeit zu bringen, ist schon schwieriger als früher zwölf, und es wird noch schwieriger werden, wenn sich die Gemeinschaft um noch mehr Staaten erweitert. Der Einstimmigkeit unterworfen bleiben dann das, was man als "verfassungsmäßige" Entscheidungen bezeichnen kann und die die Zustimmung auch der nationalen Parlamente brauchen. Was heißt: mehr Demokratie? Dazu gehört die wirklich gleichgewichtige und gleichberechtigte Mitentscheidung von Europäischem Parlament und Rat in der normalen Gesetzgebung überall, wo der Rat mit Mehrheit entscheidet. Das heißt, daß die Gesetzgebung der Union auf einer doppelten Legitimation beruhen muß: Auf einer qualifizierten Mehrheit im Rat und auf der Mehrheit im Europäischen Parlament.
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Was heißt "Transparenz"? Eine der berechtigten Kritiken an der Union ist doch der Vorwurf, daß niemand erkennen kann, wer, wann, was und mit welcher Legitimation in Briissel beschlossen hat. Die 22 Verfahren, die es heute gibt, müssen auf drei reduziert werden. Es muß deutlich werden, wer für eine Entscheidung zuständig und verantwortlich ist. "Das Europäische Parlament hat in Maastricht mehr Rechte bekommen. Es braucht keine neuen", sagt der britische Außenminister. Das ist ein grandioses Mißverständnis. Es geht nicht um Eitelkeiten der Europaabgeordneten, sondern um die Demokratie in Europa. Die Europäische Union ist nicht schon deswegen demokratisch, weil es ihre Mitgliedstaaten alle sind. Wenn die Europäische Union weniger demokratisch ist als ihre Mitgliedstaaten, untergräbt das auch die Demokratie in ihnen. Und das Bundesverfassungsgericht irrt, wenn es dem Europäischen Parlament lediglich eine stützende Funktion zuweist und meint, die demokratische Legitimation des Handelns der europäischen Organe werde allein schon durch die Parlamente der Mitgliedstaaten gewährleistet. Denn wo im Rat mit Mehrheit entschieden werden kann, also wo eine, zwei oder drei Regierungen und damit die zu Hause hinter ihnen stehenden parlamentarischen Mehrheiten überstimmt werden können, entgleitet den nationalen Parlamenten auch de facto noch der letzte Rest der Kontrolle über die Europapolitik ihrer jeweiligen Regierung. Deshalb muß dort - und nur dort - das Europäische Parlament künftig gleichberechtigt und gleichgewichtig mitentscheiden können. Das Parlament ist, soll und darf nicht ein allein-, und es wird auch kein allesentscheidendes Parlament werden. Es geht nicht darum, die nationalen Parlamente zu kopieren, sondern um eine klare Rollenverteilung. Die nationalen Parlamente beschließen über alle grundsätzlichen Entscheidungen der Union mit "Verfassungscharakter", die auf der Ebene der Union Einstimmigkeit erfordern und kontrollieren die Europapolitik ihrer Regierung. Das Europäische Parlament entscheidet mit bei der "täglichen" Gesetzgebung der Union und kontrolliert die Europäische Kommission. Alle sprechen von Subsidiarität und Deregulierung. Viele Menschen haben den - manchmal durchaus berechtigten - Eindruck, daß die Union zu wenig tut, wo es um die Schicksalsfragen Europas geht, und sich zuviel einmischt in Angelegenheiten, die die Menschen in den Mitgliedsstaaten auch selber regeln können. Europäische Politik verliert sich zu sehr in Details und erstarrt in Bürokratie. Richtig: Manches von dem, was in Briissel beschlossen wird, ist unverständlich und überflüssig. Die beriihmte Verordnung über die Position des Fahrersitzes auf landwirtschaftlichen Nutzfahrzeugen auf vier Rädern mit Gummibereifung, der Krümmungswinkel der Gurke, die Apfelnorm, um nur ein paar der beliebten Beispiele zu erwähnen. Doch davon ist kaum etwas von der zu Unrecht bezichtigten Briisse-
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ler Bürokratie erfunden und nichts von ihr beschlossen worden. Das ist doch alles durch den Ministerrat gegangen - und wer sitzt dort? Im übrigen legen gerade die Deutschen in den Verhandlungen über Richtlinien und Verordnungen einen ausgeprägten Perfektionsdrang und eine Detailversessenheit an den Tag nach dem Motto: "Nur auf deutschen Paragraphen kann Europa ruhig schlafen". Ich bin für eine substantielle Mitwirkung der Bundesländer an der europäischen Politik - nicht nur an der in Bonn, sondern auch an der in Brüssel. Aber das muß nicht zu einer Beteiligungsbürokratie von 500 Beamten aus den deutschen Bundesländern in Brüssel führen. In der Europäischen Union geht die Übersicht verloren vor lauter Beratungsgremien, bestehend aus nationalen Beamten, und dadurch werden nichts weiter geschaffen als Begründungen für Reisekostenerstattung und Tagegeld. Erlauben Sie mir noch ein besonderes Wort zu Deutschlands derzeitiger Haltung zur Europäischen Union. Es gibt eine - unangenehm - auffallende Diskrepanz zwischen dem Rigorismus, mit dem wir andere beurteilen, ihre Integrationswilligkeit und Integrationsfähigkeit, und der Laxheit und einem gewissen Laissez-faire, das wir selbst uns gegenüber europäischem Recht erlauben. Rechtstreue gegenüber dem Vertrag und Korrektheit im Umgang mit europäischen Geldern stehen nicht hoch im Kurs. Damit meine ich Erscheinungen wie die Affaire Vulkan, in der deutsche Unternehmer glaubten, souverän über europäische Subventionsrege1n hinwegwirtschaften zu dürfen. Damit meine ich manche Kommentare zum Fußballurteil Bosman, die von erschreckender Arroganz bei hochgestellten Politikern sowohl wie bei Verbandsoberen gegenüber der Geltung europäischen Rechts zeugen. Und damit meine ich die jüngsten Feststellungen der Kommission: Deutschland ist absoluter Spitzenreiter in Vertragsverletzungen (,,10" gegenüber ,,0" in Dänemark, Luxemburg und den drei neuen Mitgliedstaaten). Man kann das noch weiterführen: Deutschland ist Spitzenreiter bei binnenmarktwidrigen Handelshemmnissen (Artikel 30 EGV). Auch, daß sich 80% der deutschen GmbH bewußt weigern, die Publizitätspflichten aus der Mitte1standsrichtlinie von 1990 zu befolgen. Der Mythos, wir seien die Musterknaben der Union, wird uns schon 10 km jenseits der Grenze nicht mehr abgenommen.
VI.
Lassen Sie mich zum Schluß noch etwas Grundsätzliches anfügen. Ist die Europäische Union das Ende des Nationalstaats in der Europäischen Geschichte? Müssen wir sie fürchten, weil sie unsere Identität zerstört, die wir Deutschen doch gerade erst gewinnen wollen? Wir haben offensichtlich noch immer (oder schon wie-
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der) besondere Probleme, die Rolle des Nationalstaats im neuen Europa zu bestimmen. Es hat zu den deutschen Übertreibungen der Nachkriegszeit gehört, daß bei uns allenthalben Nekrologe auf den Nationalstaat gehalten wurden. Dabei war seine Auflösung nie Gegenstand der Einigung Westeuropas - jedenfalls nicht für unsere westlichen Partner. Zu den neuen deutschen Übertreibungen gehört es offenbar, im Vertrag von Maastricht, in der Schaffung der Europäischen Union, den Anfang vom Ende der nationalen Existenz Deutschlands zu sehen: Eine groteske Furcht, wenn Nationalstaaten wie Frankreich, Spanien, die Niederlande, sogar Großbritannien dem Vertrag zustimmen und Schweden, Finnland und Österreich der Union auf der Grundlage von Maastricht beigetreten sind. Die Union bleibt eine Union der Staaten. Die Europäische Union leugnet und verachtet das Nationale nicht. Wie könnte sie, da sie doch auf den Nationen und ihren Staaten aufbaut! Sie löst die Völker nicht auf. Sie macht sie nicht unkennt1ich. Im Antlitz Europas werden die Völker auch künftig ihre jeweils eigenen, unverwechselbaren Züge wiedererkennen können. Ein europäischer Bundesstaat, der nach der Blaupause der Bundesrepublik Deutschland oder der USA konstruiert wäre, liegt jenseits der Grenzen des Möglichen und auch des Wünschenswerten - nicht erst durch die kommende Erweiterung nach Osten, auch nicht durch die Erweiterung um Österreich, Schweden und Finnland im vergangenen Jahr-, sondern bereits durch die 23 Jahre zurückliegende Erweiterung von sechs auf neun Mitgliedstaaten. Zur Europäischen Union findet sich nichts Vergleichbares in anderen Verfassungen. Die Union ist ein Unikum und sie wird ein Unikum bleiben. Die Europäische Union ist in mancher Beziehung schon heute mehr als eine Föderation und in anderen weniger als eine Konföderation. Sie ist in jedem Fall mehr als nur die Summe ihrer Teile. Es gibt weder heute noch künftig ein europäisches Volk, sondern viele europäische Völker. Es gibt nicht eine europäische Sprache, sondern eine Fülle von nationalen Sprachen. Es gibt nicht eine europäische Kultur, sondern ein breites Spektrum nationaler und regionaler Kulturen. Die europäischen Völker haben kaum etwas, das sie alle miteinander verbindet und gemeinsam von allen anderen unterscheidet. "Europa" bezeichnete schon immer nur einen - wechselnden - Teil seiner Geographie, seiner Völker, seiner Kultur. Schon immer stand ein Teil fürs Ganze. Als Teil eines unbestimmten Ganzen fehlt der Europäischen Union nahezu alles, was die europäischen Nationalstaaten - jeder für sich - in der Vergangenheit zur Darstellung ihrer Einzigartigkeit einsetzen konnten. Sie ist weitgehend abstrakt und anonym geblieben. Sie vermittelt nicht das Gefühl, in bestimmten, von anderen unterscheidbaren sprachlichen, kulturellen, ethnischen Bezügen zu Hause zu sein. Mit ihr sind keine Erinnerungen an gemeinsame Leiden und Opfer, Niederla6 Magiera/Siedentopf
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gen und Siege verknüpft. Ihre Politik mag Zustimmung oder Widerspruch, Lob oder Tadel auslösen, aber sie weckt und bindet keine Gefühle. Sie erreicht vielleicht den Verstand, aber nicht die Herzen. Europäer fühlen sich nicht so "zu Europa gehörig", wie Franzosen zu Frankreich oder Schotten zu Schottland und Deutsche zu Deutschland. Europäische Identität wird nie ein Ersatz sein für nationale Identität. Aber beide werden sich ergänzen. Bei der europäischen Identität geht es um gemeinsame Werte. Müssen wir Franzosen sein, um für die Menschenrechte einzutreten? Müssen wir Finnen oder Portugiesen sein, um den Wert einer dauerhaften und umweltgerechten Entwicklung zu erkennen? Müssen wir Deutsche oder Schweden sein, um soziale Gerechtigkeit zur Grundlage der wirtschaftlichen Wettbewerbsfähigkeit zu machen? Deutsche und Italiener, Korsen, Basken und Schotten finden sich auf der Grundlage gemeinsamer Werte zusammen. Überall in Europa suchen wir nach der spezifischen Verbindung zwischen wirtschaftlicher Leistung und sozialer Gerechtigkeit, zwischen der Freiheit für den einzelnen und der Verantwortung für das Ganze. Daraus wird sich allmählich ein europäisches Bewußtsein entwickeln von der europäischen Verantwortung für den Frieden, für die Umwelt, für Gerechtigkeit und sozialen Fortschritt in aller Welt. Es ist tausendmal gesagt worden, und es bleibt doch wahr: Die Vielfalt der Völker ist nicht unsere Schwäche, sondern unsere Stärke - wenn es uns gelingt, unsere Kräfte zu bündeln und auf die Bewältigung der Herausforderungen unserer Zeit zu lenken, wenn wir unsere Souveränitäten gemeinsam ausüben und an die Stelle des alten Gegeneinander das neue Miteinander setzen.
Diskussion zu dem Referat von Klaus Hänsch Leitung: Siegfried Magiera Bericht von Gerd Eckstein Ministerialrat Schäfer, Wiesbaden, eröffnete die Diskussion mit der Frage, ob die osteuropäischen Staaten bereits "reif seien" in die Europäische Union aufgenommen zu werden - er selbst bezweifle dies nach dem gegenwärtigen Stand der Entwicklung. Prof. Dr. Hänsch antwortete darauf, daß Erweiterungen erfahrungsgemäß sehr langwierig sind. Er nannte als Beispiel die Verhandlungen mit Spanien und Portugal, die siebeneinhalb Jahre dauerten. Schon aus zeitlichen Gründen sei somit an eine Erweiterung vor dem Jahr 2000 nicht zu denken. Bis dahin gelte es, die bereits bestehende Kooperation fortzusetzen - beispielsweise im Rahmen von Assoziierungsabkommen. Das "gegenseitige Kennenlernen" sei eine wichtige Voraussetzung für das Schaffen einer Vertrauensgrundlage. Außerdem finden - auf Betreiben von Prof. Dr. Hänsch - regelmäßig (alle sechs Monate) Treffen der Parlamentspräsidenten West- und üsteuropas sowie Parlamentariertreffen - erst am vergangenen Wochenende gab es ein solches Treffen in Wien - statt. Frau Nehrenheim, Wiesbaden, wollte im Anschluß daran wissen, ob es in "Maastricht 11" einen beschäftigungspolitischen Artikel geben werde und wie sich das Europäische Parlament in dieser Frage positioniere. Die Forderung nach einer Aufnahme der Beschäftigungspolitik in den Vertragstext unterstützte Prof. Dr. Hänsch nachdrücklich. Damit solle ein jahrzehntealtes Defizit überwunden werden. Gleichzeitig mit der Fonnulierung dieses politischen Zieles warnte er jedoch davor, daraus ein zusätzliches Konvergenzkriterium zu entwickeln oder weitere Gremien - z. B. einen speziellen Parlamentsausschuß - zu schaffen. Prof. Dr. Hänsch nannte es einen "Skandal", daß die europaweite Harmonisierung des Versicherungswesens innerhalb von 14 Monaten erledigt wurde, es aber 14 Jahre dauerte, bis man sich auf die Festlegung einer einheitlichen Arbeitnehmervertretung (Betriebsräte) einigen konnte. Regierungsrat z. A. Wetzet, Dresden, zeigte sich vor allem vom letzten Teil des Vortrags beeindruckt. Er plädierte nachdrücklich für einen "behutsamen" Übergang zur EU und verteidigte die Haltung des Bundesverfassungsgerichtes in dessen "Maastricht-Urteil" in bezug auf die Fragen der Demokratie und der Rolle des Europäischen Parlaments.
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In der deutschen Diskussion über die im Vertrag fixierten Konvergenzkriterien werde häufig übersehen, so die Antwort von Prof. Dr. Hänsch, daß die Preisstabilität und das Zinsniveau flexibel formuliert sind. Es handle sich also nicht um fixe Zahlen, sondern der Tendenzcharakter sei entscheidend. Ergänzend stellte er die Frage, ob irgendeiner vor zehn Jahren daran geglaubt hätte, daß Irland 1996 fast alle vier Konvergenzkriterien erfüllen würde? Dieser Fall zeige, daß ein politisches Ziel notwendig sei. Prof. Dr. Hänsch billigte zu, daß nicht alle Mitgliedstaaten von Anfang an an der Währungsunion werden teilnehmen können. Trotzdem sei es doch besser, einen Binnenmarkt mit vier verschiedenen Währungen zu haben, anstatt mit 14. Beim "Maastricht-Urteil" des Bundesverfassungsgerichts stimme der "Unterton" der Entscheidungsgründe bedenklich, weil hier Demokratie und Parlamentarismus fast ausschließlich nach deutschem Verständnis formuliert seien. Abschließend sagte er, daß es doch eine erfreuliche Entwicklung sei, daß im Europäischen Parlament bestimmte nationale Politiken kritisiert werden können, ohne daß gleich eine Krise zwischen den (nationalen) Vertretern ausbreche. Prof. Dr. Fischer, Köln, wollte wissen, wie weit die Demokratisierung der EU konkret gehen werde und ob dabei über das Mitentscheidungsverfahren hinausgegangen werden soll. Außerdem interessierte ihn, wie das Europäische Parlament in der 2. und 3. Säule der EU tätig werden will und ob in diesem Zusammenhang das Prinzip der Einstimmigkeit gänzlich abgeschafft oder doch sehr stark eingeschränkt werde. Prof. Dr. Hänsch erwiderte darauf, daß das Europäische Parlament in dem Maße in der 2. und 3. Säule tätig werden kann, wie diese Politikbereiche vergemeinschaftet werden. Er nannte als Beispiel die Asylpolitik. Hier werde das Europäische Parlament im Wege der Mitentscheidung beteiligt. In Bereichen der intergouvernementalen Zusammenarbeit bleibt es dagegen (nur) bei Konsultationen. Ministerialrat Dallhammer, Dresden, wies als erstes darauf hin, daß es schon verwunderlich sei, wie häufig über das Ob und Wie einer weiteren Integration gestritten wird - all dies sei bereits in den Texten des Maastricht-Vertrages enthalten und geregelt. Diese Bestimmungen sind - nach dem Grundsatz der Vertrags treue bindend und deshalb einzuhalten. In einem zweiten Teil problematisierte Dallhammer das dem Subsidiaritätsprinzip innewohnende Spannungsverhältnis. Er schlug vor, dem Subsidiaritätsprinzip durch die Installierung von Kollisionsnormen nach dem Vorbild des internationalen Privatrechts - Geltung zu verschaffen. Prof. Dr. Hänsch warnte in seiner Erwiderung davor, neue Gremien zu schaffen, deren Aufgabe es wäre, das Subsidiaritätsprinzip durchzusetzen. Zusätzliche Gremien würden nicht für größere Klarheit sorgen, sondern - im Gegenteil - zu größerer Konfusion führen. Vielmehr seien die nationalen Regierungen gefordert - unter Beachtung des Grundsatzes der Subsidiarität - zu entscheiden, was auf welcher Ebene zu regeln sei. Diese Entscheidungen, die in Zukunft auch unter stärkerer Einbeziehung des Europäischen Parlaments getroffen werden, unterliegen dabei allerdings immer der politischen Beurteilung. Deshalb ist das Verständnis von Sub-
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sidiarität letztlich immer eine politische Entscheidung darüber, welche Regelungen auf europäischer Ebene bzw. auf der nationalen oder regionalen Ebene zu treffen sind. Landwirtschaftsdirektor Zimmerlin, Dresden, stellte die Frage, wem das Letztentscheidungsrecht zukomme für den Fall, daß es - bei neuen Entscheidungsregeln - zu einem Patt zwischen dem Europäischen Parlament und dem Rat oder der Kommission käme. Prof. Dr. Hänsch wies die Befürchtung zurück, daß aus der Gleichung Mehrheitsentscheidung im Rat plus Mitentscheidung des Europäischen Parlaments zwangsläufig eine Erschwernis oder Verzögerung der Entscheidungsfindung resultiere. Die Erfahrung zeige, daß das Europäische Parlament fristgemäß arbeite. Die eigentliche "Blockade" liege im Rat. Dort seien gegenwärtig noch fast 100 Regelungen anhängig. Aus diesen Fakten zog Prof. Dr. Hänsch die Schlußfolgerung, daß die Beteiligung des Europäischen Parlaments keine Verzögerung, sondern eine Erleichterung der Entscheidungsfindung bedeute. Vor allem aber erhöhe sich dadurch der Grad der demokratischen Legitimation und damit der Akzeptanz der getroffenen Entscheidungen. Herr Geywitz, Potsdam, kam am Ende der Diskussionsrunde noch einmal auf die aktuelle Diskussion um die Verknüpfung von Erweiterung und Vertiefung der EU zurück und fragte in diesem Kontext, was - besonders im Hinblick auf die Osterweiterung - derzeit "mehrheitsfähig" sei. Prof. Dr. Hänsch stellte klar, daß die Frage nach der Mehrheitsfähigkeit eigentlich nicht zur Debatte steht, denn bereits vor zweieinhalb Jahren hatte sich der Europäische Rat in Kopenhagen prinzipiell für eine Osterweiterung ausgesprochen. Bei allen damit verbundenen Problemen bestehe auch weiterhin ein breiter Konsens darüber, daß die Osterweiterung unumgänglich sei. Prof. Dr. Hänsch zeigte sich davon überzeugt, daß ein Scheitern der Erweiterung der Union diese in einzelne Regionen mit unterschiedlichen Interessen "zerreißen" würde.
Umsetzung und Anwendung des Gemeinschaftsrechts in Österreich Von Gerhart Holzinger
A. Österreichs Weg in die EU I. Veränderung der außenpolitischen Rahmenbedingungen in der zweiten Hälfte der 80er Jahre
Noch vor zehn Jahren hätte wohl kaum jemand in Österreich vorausgesehen, daß unser Land 1995 Mitglied der EU sein würde. Daraus wird deutlich, daß diese Entwicklung sehr eng mit den Veränderungen der welt- und der europapolitischen Situation in der zweiten Hälfte der 80er Jahre zusammenhängt. Als besonders markante Daten sind dabei vor allem zu nennen: die "Ära Gorbatschow" in der Sowjetunion und die daraus resultierende Entspannung im Ost-West-Verhältnis, der schließliche Zerfall der Sowjetunion und die damit einhergehenden Veränderungen in Mittel- und Osteuropa, das Ende des "Kalten Krieges", der Fall des "Eisernen Vorhanges" und - last but not least - die deutsche Wiedervereinigung. All diese politischen Veränderungen haben maßgeblich dazu beigetragen, daß jene Neugestaltung der österreichischen Integrationspolitik möglich wurde, die schließlich zur Mitgliedschaft Österreichs in der EU führte. Dabei muß man sich insbesondere vor Augen halten, daß früheren Bemühungen Österreichs um eine verstärkte Integration in den westeuropäischen Raum stets der mehr oder weniger explizite Widerstand der Sowjetunion entgegenstand. In diesem Zusammenhang spielte vor allem das Argument eine Rolle, daß eine solche Politik mit dem Status der immerwährenden Neutralität Österreichs unvereinbar sei. Abgesehen davon ist aber auch nicht zu übersehen, daß die Neubelebung des Integrationsgedankens, die nach Jahren der Stagnation im Jahre 1986 mit der Einheitlichen Europäischen Akte und der termin lichen Festlegung des Binnenmarktzieles ihren sinnfälligen Ausdruck fand, die Attraktivität einer Mitgliedschaft Österreichs in den Europäischen Gemeinschaften deutlich erhöhte.
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11. Geänderte innenpolitische Situation in Österreich
Abgesehen von diesen welt- und europapolitischen Veränderungen ist die Neuorientierung der österreichischen Integrationspolitik in der zweiten Hälfte der 80er Jahre aber auch vor dem Hintergrund einer geänderten innenpolitischen Situation zu sehen. Im Jahre 1987 begann in Österreich eine zweite Ära I der "großen Koalition" zwischen der Sozialdemokratischen Partei Österreichs und der Österreichischen Volkspartei. Nur auf Basis dieser breiten Mehrheit, die sich - unbeschadet des Erstarkens der oppositionellen Freiheitlichen Partei Österreichs bei den seither stattgefundenen Wahlen auf Bundes- und Landesebene - auch heute noch auf mehr als 2/3 der Mandate im Nationalrat stützen kann, waren jene strukturellen Veränderungen vor allem im wirtschaftlichen und sozialen Leben möglich, die ihrerseits die Voraussetzung für die Neugestaltung des Verhältnisses Österreichs zu den EG bildete. Die bemerkenswerteste Veränderung in diesem Zusammenhang ist wohl der Wandel der Sozialdemokratischen Partei Österreichs von einer ursprünglich EGskeptischen, ja EG-feindlichen Partei hin zu einem Motor des Europa- und Integrationsgedankens. Ähnliches ist übrigens auch für den Österreichischen Gewerkschaftsbund zu verzeichnen, dem wegen der großen Bedeutung der Sozialpartnerschaft im politischen Leben Österreichs ein besonders hoher Stellenwert zukommt.
111. Die wichtigsten Stationen auf dem Weg Österreichs in die EU 2
In einer Entschließung des Nationalrates vom 29. Juni 1989 wurde die österreichische Bundesregierung aufgefordert, die nötigen Schritte für eine Aufnahme Österreichs in die EG zu unternehmen. Am 17. Juli 1989 richtete der österreichische Außenminister drei übereinstimmende Schreiben an den Präsidenten des Rates, in denen um die Aufnahme Österreichs in die drei Europäischen Gemeinschaften ersucht wurde. Die Schreiben enthielten unter anderem auch einen Hinweis auf den Status Österreichs als dauernd neutraler Staat. Nach einer positiven Stellungnahme der Kommission vom 1. Juli 1991 wurden im Februar 1993 die Beitrittsverhandlungen aufgenommen. Noch während dieser Verhandlungen war am 1. Jänner 1994 das Abkommen über den Europäischen Wirtschaftsraum wirksam geworden, dem Österreich bis zu seinem Beitritt zur EU als EFfA-Staat angehört hat. Die Verhandlungen mit der EU über den Beitritt wurden am 12. April 1994 positiv abgeschlossen. Das Verhandlungsergebnis war ein Vertragsentwurf, der eine Reihe von verfassungsrechtlichen Maßnahmen im innerstaatlichen Bereich ausgelöst hat, auf die im Eine erste derartige Phase gab es zwischen 1945 und 1966. Vgl. dazu allgemein Kunnert, Spurensicherung auf dem österreichischen Weg nach Brüssel, Wien 1992; Rauchenberger (Hrsg.), Entscheidung für Europa, Wien 1995. I
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folgenden noch näher einzugehen sein wird. Dabei war schon von Beginn der österreichischen Beitrittsbemühungen an klar, daß eine EG-Mitgliedschaft mit tiefgreifenden Änderungen der österreichischen Verfassungsordnung verbunden sein würde. 3 Der noch während der Beitrittsverhandlungen, nämlich am 1. November 1993, in Kraft getretene Vertrag über die Europäische Union hat daran substantiell wenig geändert. Formell ergab sich daraus jedoch, daß Österreich nunmehr der EU auf der Grundlage des EUV beitreten würde. In weiterer Folge hat sodann die österreichische Bevölkerung in einer Volksabstimmung am 12. Juni 1994 ihr "Ja" zu einem österreichischen EU-Beitritt gegeben. Auf dieser Grundlage konnte der Beitrittsvertrag abgeschlossen werden. Er ist am 1. Jänner 1995 in Kraft getreten. Seither ist Österreich Mitglied der EU.
IV. Aktuelle Europa-Skepsis
Die österreichische Bevölkerung hat sich bei der erwähnten Volksabstimmung mit 66,58 % für einen Beitritt Österreichs zur EU ausgesprochen. Aus heutiger Sicht ist darauf hinzuweisen, daß dieses Maß an Zustimmung im Laufe des ersten Jahres der Mitgliedschaft Österreichs zur EU deutlich abgenommen hat. Neuere Umfrageergebnisse weisen auf ein beträchtliches Maß an Europa-Skepsis hin: 4 Nur 30 % der Österreicher gewinnen der EU-Mitgliedschaft Positives ab, 28 % sehen sie negativ. Im EU-Durchschnitt liegen die Befürworter der Mitgliedschaft ihres Landes bei 55 %, Spitzenreiter sind die Niederländer mit 83 %. Ähnlich schlecht wie in Österreich ist die Stimmung in Schweden, wo nur 33 % die Mitgliedschaft befürworten, 37 % aber ablehnen. Die Frage nach der Befürwortung der gesamten europäischen Integration beantworten 54 % der Österreicher positiv und 34 % negativ. Auch hier liegt Österreich an letzter Stelle, die durchschnittliche Befürwortung liegt bei 70 %. Ferner glauben nur 34 % der Österreich, daß ihr Land innerhalb der nächsten fünf Jahre von der Mitgliedschaft in der EU profitieren wird. Hier wird der österreichische Pessimismus nur von dem der Deutschen unterboten, von denen nur 33 % an Vorteile glauben. 44 % der Österreicher erwarten dagegen nichts Gutes von den nächsten fünf Jahren. Im EU-Schnitt erwarten 50 % Vorteile. Die Gründe für diese Meinungsänderung sind gewiß vielfältig. Zum einen ist nach einer Phase der Euphorie, die noch einige Zeit nach der Volksabstimmung 3 Vgl. dazu schon frühzeitig Öhlinger; Verfassungsrechtliche Aspekte eines Beitritts Österreichs zu den EG, Wien 1988; ebenso Holzinger; Aktuelle Reforrntendenzen im österreichischen Bundesverfassungsrecht, Österreichische Gemeindezeitung 1991, 15 ff. 4 Zu dem im folgenden wiedergegebenen Ergebnis einer Ende 1995 im Auftrag der EGKommission durchgeführten Umfrage ("Eurobarometer") vgl. Die Presse, 28. Dezember 1995, EU: Österreicher sind die Unzufriedensten.
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währte, wohl eine gewisse Ernüchterung eingetreten. Dabei dürfte - neben anderem - das Ausbleiben von - erwarteten - unmittelbar spürbaren Vorteilen ebenso eine Rolle spielen, wie etwa die gerade in Österreich besonders aufmerksam registrierte "unglückliche Rolle" der EU bei der Lösung der Krise in Ex-Jugoslawien oder auch Verärgerung über manche Auswüchse des "Brüssler Zentralismus". Nicht auszuschließen ist freilich auch, daß die aktuelle "Europa-Skepsis" eine Folge der allgemeinen Verunsicherung ist, die die Menschen in Österreich angesichts der wirtschaftlichen und budgetären Schwierigkeiten zunehmend erfaßt, in die das Land im vergangenen Jahr, nach Jahrzehnten einer im internationalen Vergleich fast einzigartigen Prosperität, geraten ist.
B. Verfassungsrechtliche Grundlagen und Rahmenbedingungen der österreichischen EU-Mitgliedschaft I. Der EU-Beitritt als Gesamtänderung der Bundesverfassung
Mit dem Inkrafttreten des Vertrages über den Beitritt Österreichs zur Europäischen Union hat das österreichische Verfassungsrecht - wenn man von der verfassungsrechtlichen Entwicklung in der Zeit zwischen 1933 und 1945 einmal absieht - die gravierendste Veränderung im Laufe seines nunmehr rund 75 Jahre währenden Bestandes erfahren. Dazu ist vorweg auf folgendes hinzuweisen: Anders als etwa das Grundgesetz (Art.79 leg.cit.) kennt die österreichische Bundesverfassung keine unveränderlichen Verfassungsregelungen. Sehr wohl ist aber eine erhöhte Bestandskraft der "Grundprinzipien" der Bundesverfassung vorgesehen. Dies in folgender Weise: Grundsätzlich werden Verfassungsänderungen auf parlamentarischem Weg herbeigeführt, wobei die entsprechenden Parlamentsbeschlüsse an erhöhte Präsenz- und Konsensquoren gebunden sind (Art. 44 Abs. I und 2 B-VG). Wenn dagegen eine "Gesamtänderung der Bundesverfassung" bewirkt werden soll, so ist über einen derartigen Parlamentsbeschluß hinaus eine obligatorische Volksabstimmung vorgesehen (Art. 44 Abs. 3 B-VG). Eine Schwierigkeit liegt dabei darin, daß die Bundesverfassung nichts darüber aussagt, was unter einer "Gesamtänderung" zu verstehen ist. Nach herrschender Auffassung sind darunter Verfassungsänderungen zu verstehen, die eines der Grundprinzipien der Bundesverfassung wesentlich verändern. 5 Dazu zählen das demokratische Prinzip, die republikanische Staatsform, der Bundesstaat und der liberale Rechtsstaat einschließlich der Gewaltentrennung. Durch den Beitritt Österreichs zur EU haben - von der republikanischen Staatsform abgesehen - sämtliche dieser Grundprinzipien gravierende Veränderungen erfahren!6 5
V gl. AdamovichiFunk, Österreichisches Verfassungsrecht, 98 f.
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Das demokratische Prinzip ist davon insoferne betroffen, als durch die Übertragung von - allein quantitativ erheblichen - Rechtsetzungsbefugnissen an Organe der EG, nämlich an den Rat, unter Mitwirkung der Kommission und des Europäischen Parlaments, das Gesetzgebungsmonopol der nationalen Parlamente, das sind der Nationalrat, der Bundesrat und die Landtage, deutlich geschmälert wird. Dabei fällt besonders ins Gewicht, daß die Rechtsetzung in den EG nicht in einem der österreichischen Bundesverfassung vergleichbaren demokratischen Repräsentationszusammenhang erfolgt: Kommen doch die wichtigsten Rechtsetzungsbefugnisse in der EG einem Organ zu, das sich aus den Vertretern der (Zentral)Regierungen der Mitgliedstaaten zusammensetzt. Das Europäische Parlament hat bei der "Gemeinschaftsgesetzgebung" zwar gewisse Mitwirkungsbefugnisse, aber keine Entscheidungskompetenz, die jener nationaler Parlamente gleichen würde. Von dieser Übertragung von Rechtsetzungsbefugnissen sind auch Hoheitsrechte der Länder betroffen. Diese Kompetenzeinbuße fällt aus der Sicht des bundesstaatlichen Grundprinzips um so mehr in Gewicht als die österreichischen Länder schon auf Grund (bisher) geltender Verfassungsrechtslage - im internationalen Vergleich - über relativ wenige Zuständigkeiten verfügten. Was schließlich das rechtsstaatliche Prinzip anlangt, so finden wesentliche Elemente des Rechtsstaatskonzeptes der österreichischen Bundesverfassung im EGRechtssystem keine Entsprechung. Vor allem ist ihm das Legalitätsprinzip in jener strikten Ausformung fremd, die es im österreichischen Verfassungsrecht erfahren hat: Die EG-Rechtsordnung kennt das Gebot der - relativ - strengen Determinierung des Verwaltungshandelns durch einen parlamentarischen Gesetzgeber nicht. Dies ergibt sich allein aus der im Vergleich zu nationalen Parlamenten unterschiedlichen Funktion des Europäischen Parlaments, aber auch aus dem Fehlen des Gebotes der möglichst präzisen Formulierung genereller Rechtsvorschriften. Ähnlich einschneidend wird auch das System der Rechtskontrolle im Sinne der österreichischen Bundesverfassung tangiert: Im Rechtssystem der EG sind Entscheidungen über die Gültigkeit und die Auslegung des Gemeinschaftsrechtes ausschließlich dem EuGH vorbehalten. Österreichischen Gerichten ist es also verwehrt, über solche Fragen zu entscheiden. Im besonderen ist davon der Verfassungsgerichtshof betroffen, dessen Normenkontrollkompetenz von der Jurisdiktion des EuGH überlagert wird. Veränderungen erfährt schließlich auch die in der österreichischen Bundesverfassung angelegte Trennung von Gesetzgebung, Gerichtsbarkeit und Verwaltung, die auf Ebene der EG - unbeschadet der dort bestehenden "spezifisch gemeinschaftsrechtlichen Funktionsordnung,,7 - kein gleichwertiges Pendant hat.
6 Vgl. dazu und zum folgenden Holzinger; Gravierende verfassungsrechtliche Änderungen im Zusammenhang mit einem österreichischen EG-Beitritt, Juristische Blätter 1993, S. 2 ff. 7 Oppermann, Europarecht Rz 209.
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11. Das Bundesverfassungsgesetz über den Beitritt Österreichs zur EU
Es stand somit von Beginn der österreichischen Beitrittsbemühungen an fest, daß mit dem Beitritt zu den EG eine Gesamtänderung der Bundesverfassung verbunden sein würde. Daraus hat sich aber ein weiteres Problem ergeben: Die österreichische Bundesverfassung trifft zwar eine ausdrückliche Regelung für das Verfahren zur Gesamtänderung der Bundesverfassung. Sie gibt aber keine ausdrückliche Antwort auf die Frage, ob ein solcher Eingriff in das Verfassungsgefüge zulässigerweise auch durch einen völkerrechtlichen Vertrag bewirkt werden kann. Die Verfassungsrechtslage ist in diesem Zusammenhang unklar, sie läßt alle nur denkbaren Auslegungsvarianten zu: Vertretbar ist sowohl die Auffassung, daß eine Gesamtänderung der Bundesverfassung durch Staatsvertrag überhaupt nicht zulässig ist, ebenso aber auch die Auffassung, daß auch gesamtändernde Staatsverträge einer Volksabstimmung bedürfen, und schließlich auch die Meinung, daß eine Gesamtänderung der Verfassung durch Staatsvertrag ohne Durchführung einer Volksabstimmung erfolgen kann. "Letzteres klingt überraschend, scheint dies doch aus teleologischen Gründen die am wenigsten plausible Lösung zu sein. Es ist aber nicht ausgeschlossen, daß genau diese einfache Variante eines totalen Umbaues des Verfassungs werkes den Gründungsvätern der Verfassung vor Augen stand, um eine Vereinigung Österreichs mit Deutschland auf diesem Wege zu ermöglichen. Genaues wissen wir nicht. Immerhin war die Idee eines Anschlusses im Jahre 1918 und danach bei allen Parteien, auch und gerade bei der Sozialdemokratie, stark verbreitet. Die neue Republik verstand sich ja als Teil der Deutschen Republik und bezeichnete sich als ,Deutsch-Österreich'. Das Anschlußverbot im Friedensvertrag von St.Germain (1919) war damals eine schwere politische Enttäuschung ... 8 Im Hinblick auf diese unklare Verfassungslage galt es bei der verfassungsrechtlichen Vorbereitung des österreichischen EU-Beitritts einen Weg zu wählen, auf dem in einer für den Staat geradezu existenziellen Fragen jeder Zweifel über die Zulässigkeit und die Wirksamkeit der hiedurch bewirkten Verfassungsänderung vermieden wird. 9 Damit verbunden war das verfassungspolitische Anliegen, den der Volksabstimmung zu unterwerfenden Gesetzestext möglichst prägnant zu formulieren, um die vom Bundesvolk zu entscheidende Frage so präzise wie möglich fassen zu können. Daher wurde folgender Weg beschritten: Es wurde ein eigenes Bundesverfassungsgesetz beschlossen, dessen hier maßgeblicher Artikel I wie folgt lautet: "Mit Zustimmung des Bundesvolkes zu diesem Bundesverfassungsgesetz werden die bundesverfassungsgesetzlich zuständigen Organe [d.sd. der Bundespräsident auf VorFunk, Österreich und die Europäische Union [im Druck]. Vgl. dazu und zum folgenden ausführlich Holzinger, Die bevorstehende Öffnung Österreichs in den Europäischen Wirtschaftsraum und die Europäischen Gemeinschaften - Rechtsetzung unter besonderer Bedachtnahme auf den demokratischen und den rechtsstaatlichen Aspekt, Gutachten für den 12. Österreichischen Juristentag, Wien 1993, 146 ff. 8 9
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schlag der Bundesregierung] ermächtigt, den Staatsvertrag über den Beitritt Österreichs zur Europäischen Union entsprechend dem am 12. April 1994 von der Beitrittskonferenz festgelegten Verhandlungsergebnis abzuschließen."
Dieses Bundesverfassungsgesetz wurde nach der parlamentarischen Behandlung durch den Nationalrat und den Bundesrat dem Bundesvolk zur Abstimmung vorgelegt. Bei dieser Volksabstimmung am 12. Juni 1994 ergab sich eine Mehrheit von 66,58 % der abgegebenen Stimmen dafür, daß der Gesetzesbeschluß Gesetzeskraft erlangen sollte. 10 Auf der Grundlage dieses Bundesverfassungsgesetzes 11 wurde dann der Vertrag über den Beitritt Österreichs zur Europäischen Union abgeschlossen. Er ist am 1. Jänner 1995 in Kraft getreten. 12 Erst in diesem Zeitpunkt, also mit der Gebrauchnahme von der mit dem BeitrittsBVG eingeräumten Ermächtigung, wurden die dargestellten Änderungen der österreichischen Bundesverfassung bewirkt. Das BeitrittsBVG ist verfassungsrechtlich in zweifacher Hinsicht bedeutsam: Erstens vermeidet es - für den vorliegenden Zusammenhang - "einen Ausweg aus dem vorhin beschriebenen Verfassungsdilemma". 13 Mit der Technik der besonderen bundesverfassungsgesetzlichen Ermächtigung zum Abschluß des Beitrittsvertrages wird "klargestellt, daß in diesem einen Fall eben nur dieser Weg zur Gesamtänderung einzuschlagen ist".14 Zweitens war auf diese Weise auch der Inhalt der Ermächtigung und somit die (Zulässigkeit der) Gesamtänderung selbst Gegenstand des Plebiszits. 15 Die beschriehL'ne Technik der Verfassungsänderung führt freilich noch zu einer weiteren Konsequenz: Da die Ermächtigung zum Abschluß des Beitrittsvertrages durch eine Norm auf der höchsten Stufe der österreichischen Rechts- und Verfassungsordnung erteilt wurde, ist dieser Vorgang "einer inhaltlichen Normenkontrolle durch den Verfassungsgerichtshof [praktisch] entzogen ... Jeder Versuch einer inhaltlichen Anfechtung war und ist daher zum Scheitern verurteilt. Das Volk hat gesprochen. Seine Willensentscheidung kann nicht überprüft werden.,,16 Daraus erklärt sich auch, daß es vor dem österreichischen Verfassungsgerichtshof zu einem Verfahren, wie es dem "Maastricht-Urteil" des deutschen Bundesverfassungsgerichtes 17 zugrundelag, nicht gekommen ist. "Es ist allerdings versucht 10 Diese Form der Fragestellung ist gemäß § 2 Abs. 2 lit b des Volksabstimmungsgesetzes 1972, BGBI. Nr. 7911973, geboten. 1I Vgl. BGBI. Nr. 74411994. 12 Vgl. BGBI. Nr. 4511995. 13 Funk, Österreich und die Europäische Union [im Druck]. 14 Funk, Österreich und die Europäische Union [im Druck]. 15 Daß dem Bundesvolk dabei mehrheitlich nur die Entscheidung über den EU-Beitritt als solche vor Augen gestanden haben dürfte, ändert daran nichts. 16 Funk, Österreich und die Europäische Union [im Druck]. 17 Vgl. EuGRZ 1993,429.
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worden, das Ergebnis vom Prozeduralen her aufzurollen. Den Ansatz dazu bot eine Anfechtung der Volksabstimmung mit der Behauptung, daß die Willens bildung des Bundesvolkes durch eine unzureichende und einseitig parteiliche Information seitens der Bundesregierung verfälscht und den Gegnern des Beitritts keine Gelegenheit gegeben wurde, ihre Argumente mit gleicher Wirkungschance vorzubringen. Der Verfassungsgerichtshof hat diese Anfechtung [jedoch] verworfen, ohne sich auf eine materielle Prüfung der politischen Werbung rund um das Referendum einzulassen.,,18, 19 Eine der verfassungspolitisch bedeutsamen Fragen, die mit dem BeitrittsBVG zu lösen waren, bildete die nach den Grenzen der ..Integrationsermächtigung" Dabei stand - insbesondere im Hinblick auf ausländische Beispiele, vor allem Art. 23 GG - zur Diskussion, in die bundesverfassungsgesetzliche Beitrittsermächtigung einen allgemeinen Vorbehalt zu Gunsten bestimmter Grundwertungen des österreichischen Bundesverfassungsrechts in Form verfassungsrechtlicher ,,Integrationsschranken" aufzunehmen. Dies ausgehend von der Überlegung, daß eine solche Regelung für bestimmte künftige Entwicklungen des Gemeinschaftsrechts, sei es des Primärrechts oder des Sekundärrechts, als zusätzlicher Prüfungsmaßstab für die verfassungsrechtliche Zulässigkeit der damit verbundenen Einwirkungen auf die staatliche Rechtsordnung dienen könnte.
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Das BeitrittsBVG ist letztlich ohne materielle Integrationsschranken erlassen worden. Das bedeutet jedoch nicht, daß die österreichische Rechts- und Verfassungsordnung ohne jede Schranke den Einwirkungen des Gemeinschaftsrechts ..ausgeliefert" worden wäre. Vielmehr ist hier nochmals festzuhalten, daß die Beitrittsermächtigung ausschließlich auf den Abschluß des Beitrittsvertrages beschränkt ist. Daraus folgt aber, daß der Souveränitätsverzicht, der mit dem auf das BeitrittsBVG gestützten Abschluß dieses Staatsvertrages österreichischerseits geleistet wurde, mit den hiedurch eingegangenen Verpflichtungen begrenzt ist. Für künftige Änderungen der Gemeinschaftsverträge ergibt sich daraus, daß es sich dabei um neue Staatsverträge im Sinne des B-VG handeln wird, die jeweils für sich auf ihre verfassungsrechtliche Zulässigkeit zu beurteilen sein werden. Soweit es sich dabei erneut um ..gesamtändernde" Staatsverträge handeln sollte, wird ihr Abschluß wieder einer besonderen bundesverfassungsgesetzlichen Grundlage bedürfen, die einer Volksabstimmung zu unterziehen sein wird. Was sekundäre Rechtsakte anlangt, die in Überschreitung der den Gemeinschaftsorganen mit dem Beitrittsvertrag übertragenen Rechtsetzungsbefugnisse ergehen, so ergibt sich folgendes: Schon aus gemeinschaftsrechtlicher Sicht wären derartige Sekundärrechtsakte rechtswidrig und daher unzulässig. Die Gemeinschaftsorgane unterliegen diesbezüglich der Kontrolle insbesondere durch den 18 19
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Funk. Österreich und die Europäische Union [im Druck]. VfGH 30. 8. 1994, W 1-6/94. Vgl. dazu ausführlich Ho/zinger; Öffnung, 151 ff.
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EuGH, der über die Nichtigkeit solcher Rechtsakte wegen Widerspruchs mit den Gemeinschaftsverträgen zu befinden hätte. Unbeschadet dessen wären aber solche "ultra-vires-Akte" von Gemeinschaftsorganen aus der Sicht des österreichischen Verfassungsrechts, nämlich der mit dem BeitrittsBVG erteilten Integrationsermächtigung, wegen Überschreitung der mit dem Beitrittsvertrag übertragenen Befugnis fehlerhaft und - mangels Aufhebbarkeit - nach Maßgabe ihrer Schwere und Offenkundigkeit - als absolut nichtig zu betrachten. Die Beurteilung wäre inzidenter jedem Staatsorgan bei der von ihm jeweils zu treffenden Entscheidung aufgetragen. III. Die Bundes-Verfassungs-Novelle 1994
Wenige Tage vor dem Inkrafttreten des Vertrages über den Beitritt Österreichs zur EU hat der Bundesverfassungsgesetzgeber mit der Bundes-VerfassungsgesetzNovelle 199421 eine Reihe von Regelungen zur Anpassung der Bundesverfassung im Hinblick auf die durch den EU-Beitritt bewirkten Änderungen der österreichischen Rechtsordnung erlassen. 22 Dem lag die verfassungs politische Absicht zugrunde, mittels gemeinschaftsrechtlich verträglicher bundesverfassungsgesetzlicher Regelungen den im österreichischen Verfassungsrecht erreichten demokratischen und bundesstaatlichen Standard soweit wie möglich zu wahren. Im Sinne dieser Zielsetzung ging es dabei vor allem darum, durch "kompensatorische Maßnahmen" zumindest teilweise jene Zuständigkeitsverluste auszugleichen, die sich aus der weitreichenden Übertragung von Rechtsetzungsbefugnissen an die Organe der EG innerstaatlich auf Ebene des Bundes im Verhältnis zwischen den parlamentarischen Organen der Gesetzgebung und der Bundesregierung und im Bund-Länder-Verhältnis ergeben würden. Von den in diesem Zusammenhang getroffenen verfassungsrechtlichen Regelungen sind vor allem jene hervorzuheben, die die Mitwirkung der parlamentarischen Organe der Bundesgesetzgebung sowie der Länder an der nationalen Willensbildung in EU-Angelegenheiten betreffen. Sie sehen Informations- und Konsultationsverfahren vor, die jenen ähneln, die in vergleichbarem Zusammenhang in Art. 23 GG geregelt sind. Gemäß Art. 23 e B-VG hat das zuständige Mitglied der Bundesregierung den Nationalrat und den Bundesrat unverzüglich über alle Vorhaben im Rahmen der EU zu unterrichten und ihnen Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben. Der Umfang der daraus resultierenden Informationsverpflichtung ist denkbar weit. Der Begriff des "Vorhabens" wird dabei in einem umfassenden, sämtliche Aktivitäten der EU einschließenden Sinn verstanden, soweit sie sich in Dokumenten niederschlaVgl. BGBI. Nr. 1013/1994. Vgl. dazu ausführlich Holzinger, Die Auswirkungen der österreichischen EU-Mitgliedschaft auf das österreich ische Verfassungsrecht, Zeitschrift für Rechtspolitik 1996, 160, 168 ff. 21
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gen, die einer österreichischen Stelle, vor allem der Ständigen Vertretung, zugegangen sind. Wenn dem zuständigen Mitglied der Bundesregierung eine Stellungnahme des Nationalrates zu einem Vorhaben der EU vorliegt, das durch Bundesgesetz umzusetzen ist oder das auf die Erlassung eines unmittelbar anwendbaren Rechtsaktes des Gemeinschaftsrechts gerichtet ist, der Angelegenheiten betrifft, die bundesgesetzlich zu regeln wären, dann ist der Bundesminister bei Verhandlungen und Abstimmungen in der EU an diese Stellungnahme gebunden. Er darf davon nur aus zwingenden außen- und integrationspolitischen Gründen abweichen. Wenn er davon abweichen will, dann muß er den Nationalrat neuerlich befassen. Soweit aber der in Vorbereitung befindliche Rechtsakt der EU eine Änderung des Bundesverfassungsrechts bedeuten würde, ist eine Abweichung jedenfalls nur dann zulässig, wenn ihr der Nationalrat innerhalb angemessener Frist nicht widerspricht. Im übrigen hat das zuständige Mitglied der Bundesregierung, wenn der Nationalrat eine derartige Stellungnahme abgegeben hat, diesem nach der Abstimmung in der EU Bericht zu erstatten. Insbesondere hat es, wenn es von der Stellungnahme des Nationalrates abgewichen ist, dem Nationalrat die Gründe dafür unverzüglich mitzuteilen. Die Wahrnehmung der entsprechenden Zuständigkeiten des Nationalrates obliegt grundsätzlich dessen Hauptausschuß. Die soeben dargestellte Mitwirkung des Nationalrates bezieht sich nicht allein auf Rechtsetzungsvorhaben der EU. Vielmehr erstreckt sie sich gemäß Art. 23 f B-VG ausdrücklich auch auf die Mitwirkung Österreichs an Beschlüssen im Rahmen der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union auf Grund des Titels V EUV sowie an Beschlüssen im Rahmen der Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres auf Grund des Titels VI des EUV. Was den Bundesrat anlangt, so ist das zuständige Mitglied der Bundesregierung, dem eine Stellungnahme des Bundesrates zu einem Vorhaben im Rahmen der EU vorliegt, das zwingend durch ein Bundesverfassungsgesetz umzusetzen ist, das nach Art. 44 Abs. 2 B-VG der Zustimmung des Bundesrates bedürfte, bei Verhandlungen und Abstimmungen in der EU an diese Stellungnahme gebunden. Es darf davon gleichfalls nur aus zwingenden außen- und integrationspolitischen Gründen abweichen. Ohne auf Details einzugehen, sei darauf hingewiesen, daß es sich dabei um die europaweit wohl parlamentsfreundlichste Mitwirkungsrege1ung für die innerstaatliche Willens bildung zu EU-Vorhaben handelt. In der österreichischen Diskussion sind diese Regelungen unter den Gesichtspunkten der europarechtlichen Zulässigkeit sowie der Zweckmäßigkeit einer derart strengen Bindung der österreichischen Verteter im Rat diskutiert worden.2 3 23 Vgl. dazu etwa Griller; Verfassungsfragen der österreichischen EU-Mitgliedschaft, Zeitschrift für Rechtsvergleichung 1995, 102 ff.; Khol, Demokratieabbau durch EU-Regierungs-
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Für die Mitwirkung der Länder in EU-Angelegenheiten sieht Art. 23 d B-VG ein ähnliches Informations- und Konsultationsverfahren vor: Der Bund hat die Länder unverzüglich über alle Vorhaben im Rahmen der EU, die den selbständigen Wirkungsbereich der Länder berühren oder sonst für sie von Interesse sein könnten, zu unterrichten und ihnen Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben. Gleiches gilt auch für die Gemeinden, soweit der eigene Wirkungsbereich oder sonstige wichtige Interessen der Gemeinden berührt werden. Die Vertretung der Gemeinden obliegt dabei dem Österreichischen Städtebund und dem Österreichischen Gemeindebund. Wenn dem Bund eine einheitliche Stellungnahme der Länder zu einem Vorhaben im Rahmen der EU vorliegt, das Angelegenheiten betrifft, in denen die Gesetzgebung Landessache ist, so ist der Bund bei Verhandlungen und Abstimmungen in der EU an diese Stellungnahme gebunden. Der Bund darf davon nur aus zwingenden außen- und integrationspolitischen Gründen abweichen und hat die Gründe hiefür den Ländern gegebenenfalls unverzüglich mitzuteilen. Die Frage, wann eine einheitliche Stellungnahme der Länder vorliegt, ist bundesverfassungsgesetzlich nicht näher geregelt. Auf Grund einer staatsrechtlichen Vereinbarung der Länder untereinander24 ist davon auszugehen, daß für das Zustandekommen eines Beschlusses über eine einheitliche Stellungnahme nicht die Einstimmigkeit, sondern bloß die Einhelligkeit bei Stimmenmehrheit erforderlich ist. Dies bedeutet, daß mindestens fünf der neun Länder zustimmen müssen, ohne daß ein Land dagegen stimmt. Für die Mitwirkung der Länder in EU-Angelegenheiten ist auch noch folgendes bedeutsam: Soweit ein Vorhaben im Rahmen der EU auch Angelegenheiten betrifft, in denen die Gesetzgebung Landessache ist, kann die Bundesregierung einem von den Ländern namhaft gemachten Vertreter die Mitwirkung an der Willensbildung im Rat übertragen. Die Wahrnehmung dieser Befugnis erfolgt unter Beteiligung des zuständigen Mitgliedes der Bundesregierung und in Abstimmung mit diesem.
In das skizzierte Bild weitreichender Mitwirkungsbefugnisse der Organe der Gesetzgebung sowie der Länder in EU-Angelegenheiten fügt sich schließlich auch die Bestimmung des Art. 23 c B-VG. Sie sieht u.a. vor, daß die Bundesregierung bei ihrer Mitwirkung an der Ernennung von Mitgliedern der Kommission, des Gerichtshofes, des Gerichts I. Instanz, des Rechnungshofes und des Verwaltungsrates der Europäischen Investitionsbank das Einvernehmen mit dem Hauptausschuß des gesetzgebung, in FS-75 Iahre Bundesverfassung, Wien 1995, 272 ff.; Schäffer; Österreichs Beteiligung an der Willenbildung in der Europäischen Union, insbesondere an der europäischen Rechtssetzung in: Österreichische Iuristenkommission (Hrsg), Österreich in der EU, Wien 1996, 203 ff. 24 Vgl. die Vereinbarung zwischen den Ländern gemäß Art. 15a B-VG über die gemeinsame Willensbildung der Länder in Angelegenheiteilder europäischen Integration, z. B. LGBI. Wien Nr. 29/1992. 7 Magiera/Siedentopf
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Nationalrates herzustellen hat. Bei der Mitwirkung an der Ernennung von Mitgliedern des Ausschusses der Regionen ist die Bundesregierung an Vorschläge der Länder sowie des Österreichischen Städtebundes und des Österreichischen Gemeindebundes gebunden.
c. Umsetzung des Gemeinschaftsrechtes in Österreich I. VerfassungsrechtIiche Grundfragen
Das österreichische Bundesverfassungsrecht enthält in Art. 23 d Abs. 5 B-VG, der gleichfalls mit der B-VGN 1994 geschaffen wurde, eine ausdrückliche Regelung der Zuständigkeit zur Umsetzung des Gemeinschaftsrechtes in Österreich. Danach sind die Länder verpflichtet, jene Maßnahmen zu treffen, die in ihrem selbständigen Wirkungsbereich zur Durchführung von Rechtsakten im Rahmen der europäischen Integration erforderlich werden. Daraus ist der Grundsatz abzuleiten, daß die Umsetzung des Gemeinschaftsrechtes, insbesondere die Erlassung der zur Ausführung von Richtlinien erforderlichen Gesetze, jeweils jener Gebietskörperschaft obliegt, die auf Grund der bundesstaatlichen Kompetenzverteilung für die betreffende Materie zuständig ist. Die verfassungsrechtliche Zuständigkeitsverteilung zwischen Bund und Ländern hat also durch den EU-Beitritt keine Änderung erfahren. 25 Ein weiterer in diesem Zusammenhang bedeutsamer Aspekt betrifft das verfassungsrechtliche Legalitätsprinzip. Gemäß Art. 18 B-VG darf die gesamte staatliche Verwaltung nur auf Grund der Gesetze ausgeübt werden. Im österreichischen Verfassungsrecht hat dieser - für jede rechts staatliche Verfassungsordnung prägende Grundsatz eine besonders strenge Deutung erfahren: Er wird auch im Sinne eines an den Gesetzgeber gerichteten Gebotes verstanden, das Verwaltungshandeln präzise vorherzubestimmen. 26 Jedenfalls für den Bereich des hoheitlich handelnden Staates folgt daraus die gesetzgeberische Verpflichtung, das Verwaltungshandeln hinsichtlich der zur Regelung oder Entscheidung zuständigen Behörde, des dabei anzuwendenden Verfahrens und des wesentlichen Inhalts des Verwaltungshande1ns gesetzlich zu determinieren. Dies gilt im übrigen nicht nur für individuelle Verwaltungsakte, in der Terminologie des österreichischen Verfassungsrechtes - Bescheide, sondern auch für generelle Verwaltungsakte - Verordnungen. Auch letztere bedürfen einer präzisen - insbesondere inhaltlichen - Vorherbestimmung durch den 25 Bloß dann, wenn ein Land seiner Verpflichtung nicht nachkommt und diese Säumnis von einem Gericht im Rahmen der EU gegenüber Österreich festgestellt wird, sieht Art. 23 d Abs. 5 B-VG einen Übergang der Zuständigkeit an den Bund vor. Die vom Bund - ersatzweise - getroffene Maßnahme, insbesondere ein solcherart erlassenes Gesetz oder eine solcherart erlassene Verordnung, tritt außer Kraft, sobald das Land die erforderliche Maßnahme - nachträglich - getroffen hat. 26 V gl. AdamovichiFunk, Verfassungsrecht 240 ff.
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Gesetzgeber. Es liegt auf der Hand, daß auf diese Weise die Dichte der vom - parlamentarischen - Gesetzgeber zu erlassenden Regelungen vergleichsweise sehr hoch ist. Dies schlägt sich sowohl in der Zahl als auch im Detailierungsgrad gesetzlicher Regelungen nieder. Für die Umsetzung des Gemeinschaftsrechts in Österreich folgt daraus, daß sowohl die Ausführung von Richtlinien der EG als auch die Erlassung flankierender Regelungen zu unmittelbar anwendbaren gemeinschaftsrechtlichen Vorschriften, insbesondere also zu EG-Verordnungen, in vergleichsweise höherem Maße als in anderen EU-Mitgliedstaaten Sache des Gesetzgebers ist. In Ermangelung einer bundesverfassungsgesetzlichen Sonderregelung27 , die in der verfassungspolitischen Diskussion nicht einmal ernsthaft erwogen wurde, ist also auch bei der Umsetzung von Gemeinschaftsrecht kein Raum für die bloße Regelung im Verwaltungswege. Da das parlamentarische Gesetzgebungsverfahren im Regelfall, insbesondere in zeitlicher Hinsicht, aufwendiger ist als die Erlassung von Verordnungen, bedeutet dies eine Erschwernis bei der Umsetzung von Gemeinschaftsrecht. Ob sie - insbesondere im Verein mit der bundesstaatlichen Struktur - insgesamt dazu führt, daß die Umsetzung von Gemeinschaftsrecht in Österreich tendenziell schwerfalliger ist als anderswo, läßt sich noch nicht mit Sicherheit sagen. Bei optimistischer Betrachtung könnten aber gerade die besonders intensiven parlamentarischen Mitwirkungsbefugnisse bei der nationalen Willens bildung in der Phase der Vorbereitung von Rechtsetzungsvorhaben der EU einen gewisse Ausgleich bieten. Ähnliches könnte auch für die entsprechenden Mitwirkungsbefugnisse der Länder und der Gemeinden zutreffen.
11. Anpassung der österreichischen Rechtsordnung an jene der EG
Für Österreich hat sich die Frage der Umsetzung des Gemeinschaftsrechtes bisher vor allem im Rahmen der Vorbereitung des EU-Beitrittes und hier in Form der generellen Anpassung seiner Rechtsordnung an jene der EG gestellt. 28 Dazu ist allgemein auf folgendes hinzuweisen: Im Beitrittsvertrag übernimmt der beitretende Staat vor allem die Verpflichtung die im Zeitpunkt des Beitrittes geltende Gemeinschaftsrechtsordnung zu rezipieren. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, die jeweilige nationale Rechtsordnung derart zu adaptieren, daß sie mit der Gemeinschaftsrechtsordnung harmoniert. Dabei ist zwischen unmittelbar anwendbaren gemeinschaftsrechtlichen Vorschriften, insbesondere Gemeinschaftsverordnungen, einerseits und gemeinschaftsrechtlichen Regelungen, die durch mitgliedstaatliche Rechtsvorschriften auszuführen sind, also vor allem Richtlinien, zu unterscheiden. In bezug auf Gemeinschaftsverordnungen ist die Erlassung mitgliedstaatlicher Ausführungsvorschriften, etwa zur inhaltlichen Präzisierung der ersteren, grund27 28
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Vgl. Holzinger; Öffnung, 180 f. Vgl. Holzinger; Öffnung, 113 ff.
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sätzlich unzulässig. Im Interesse der Rechtssicherheit und der Klarheit rechtlicher Regelungen kann es freilich angezeigt, u.U. sogar gemeinschaftsrechtlich geboten sein, das Verhältnis zwischen dem Gemeinschaftsrecht und der nationalen Rechtsordnung zu bereinigen. Dabei wären innerstaatliche Rechtsvorschriften, die im Hinblick auf das beitritts bedingte Wirksam werden einer unmittelbar anwendbaren Regelung des Gemeinschaftsrechts (wegen des Vorranges des Gemeinschaftsrechts) unanwendbar würden, in diesem Umfang formell aufzuheben. Weiterhin Bestand haben dagegen nationale Rechtsvorschriften, die zur Vollziehung des unmittelbar anwendbaren Gemeinschaftsrechts erforderliche flankierende Regelungen, insbesondere betreffend die Behördenzuständigkeit, das Verfahren oder allfällige Strafsanktionen, enthalten. Sollte es freilich im Zeitpunkt -des Beitrittes in bestimmten gemeinschaftsrechtlichen Zusammenhängen an solchen Regelungen mangeln, so sind diese ergänzend zu erlassen. Dasselbe gilt, wenn die prinzipiell unmittelbar anwendbare gemeinschaftsrechtliche Vorschrift ausdrücklich vorsieht, daß die Mitgliedstaaten in bestimmter Hinsicht Durchführungsmaßnahmen ergreifen. Soweit es sich um ausführungsbedürftige gemeinschaftsrechtliche Regelungen handelt, hat die im Beitrittsvertrag vereinbarte Übernahme des Gemeinschaftsrechts die Verpflichtung des beitretenden Staates zur Folge, diese Vorschriften gegebenenfalls nach Ablauf allfälliger, in der Beitrittsakte vorgesehener Übergangsfristen oder gemeinschaftsrechtlicher Ausführungsfristen, die im Zeitpunkt des Wirksamwerden des Beitrittes noch aufrecht sind - durch entsprechende innerstaatliche Regelungen umzusetzen. Dies kann freilich dann entfallen, wenn die nationale Rechtsordnung bereits Regelungen enthält, die - wenngleich sie ursprünglich außerhalb des gemeinschaftrechtlichen Zusammenhanges erlassen wurden von ihrem Inhalt her die Ausführung der betreffenden Richtlinien schon gewährleisten. Wegen der Vielfalt der gemeinschaftsrechtlich geregelten Bereiche und wegen des großen Umfanges, den die Gemeinschaftsrechtsordnung in den - stellt man auf die Gründung der EGKS ab - mehr als vier Jahrzehnten ihres Bestandes erreicht hatte, hat der österreichische EU-Beitritt eine ebenso tiefgreifende wie weitreichende Reform der österreichischen Rechtsordnung notwendig gemacht. Erleichtert wurde diese Reform dadurch, daß die österreichische Rechtsordnung, gerade in den integrationsrelevanten Bereichen, von jeher ein hohes Maß an Übereinstimmung mit den Rechtsordnungen der meisten Mitgliedstaaten der EG \lufwies. Dies ist im besonderen in der gemeinsamen europäischen Rechtstradition begründet, der Österreich ebenso verpflichtet ist wie die übrigen Mitgliedstaaten der EU und die letztlich auch das Gemeinschaftsrecht selbst prägt. Überdies hat sich - gleichfalls unabhängig von den Beitrittsbemühungen - die Entwicklung der österreichischen Rechtsordnung in den vergangenen Jahrzehnten im Zuge der sich zunehmend intensivierenden internationalen Verflechtung, vor allem auf wirtschaftlichem Gebiet, in einer Reihe von Fällen an den Rechtsordnungen einzelner EG-Mitgliedstaaten, vor allem an jener der Bundesrepublik Deutschland, orientiert; mögen da-
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für bestimmte - vor allem wirtschaftliche - Sachzwänge oder einfach die Attraktivität eines ausländischen Beispiels maßgeblich gewesen sein. Was nun den spezifisch auf die Anpassung der österreichischen Rechtsordnung an jene der EG gerichteten Reformprozeß anlangt, so reichen seine Anfänge schon in das Jahr 1987 zurück. Damals wurde von einer Arbeitsgruppe unter der Leitung des Bundesministeriums für auswärtige Angelegenheiten die österreichische Rechtsordnung systematisch daraufuin untersucht, welcher Reformbedarf sich im Fall einer Rezeption des Rechtssystems der EG ergäbe. Der hiezu an die Bundesregierung erstattete Bericht vom 20. Juni 1988 bildete - in jeweils aktualisierter Fassung - in weiterer Folge eine wesentliche Grundlage für die gemeinschaftsrechtskonforme Rechtsetzung in allen integrationsrelevanten Bereichen. Eine wichtige Rolle bei der sukzessiven Anpassung der österreichischen Rechtsordnung an jene der EG kam auch einem im Jahre 1987 ergangenen Rundschreiben des Bundeskanzleramtes über die EG-Konformitätsprüfung29 zu. Darin wurden die Bundesministerien aufgefordert, bei sämtlichen legistischen Vorhaben die jeweils einschlägigen EG-Rechtsvorschriften als Vergleichsmaßstab mit der geplanten österreichischen Regelung heranzuziehen. Das Ergebnis dieser Prüfung war in den Erläuterungen zur jeweiligen Regierungsvorlage darzustellen. Dabei sollte auch eine Aussage über das inhaltliche Verhältnis der beabsichtigten Regelung zum EGRecht und über die Gründe für ein allfälliges Abweichen von den einschlägigen gemeinschaftsrechtlichen Vorschriften getroffen werden. Eine besondere Intensivierung hat die Reform der österreichischen Rechtsordnung zur Angleichung an jene der EG durch den Abschluß des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum erfahren. 3o Das Wesen dieses Abkommens bestand bekanntlich in einer erweiterten und strukturierten Partnerschaft zwischen EWG und EGKS bzw. ihren Mitgliedstaaten und den damaligen EFfA-Staaten, darunter auch Österreich. Im besonderen ging es darum, die vier Freiheiten des EG-Binnenmarktes mit gewissen Einschränkungen auch im Verhältnis zu den EFTA-Staaten zu verwirklichen. Für die Teilnahme Österreichs am EWR folgte daraus die Verpflichtung, das damals geltende Gemeinschaftsrecht, soweit es für den EWR relevant war - das waren rund 60 % des damals geltenden acquis communautaire - in die österreichische Rechtsordnung zu übernehmen. Damit ergaben sich aber schon bei der Vorbereitung auf die Teilnahme am EWR für einen großen Teil des Gemeinschaftsrechts all jene rechtsetzungstechnischen und meritorischen Fragen, die auch bei einer Reform der österreichischen Rechtsordnung im Hinblick 29 Vgl. die Rundschreiben des Bundeskanzleramtes-Verfassungsdienst vom 9. September 1987, GZ 670.003/48-V/5/87, sowie vom 25. Oktober 1989, GZ 671.804/9-V/8/89, ferner vom 10. Juni 1992, GZ 671.804110-V/8/92, bzw. vom 13. Juni 1995, GZ 671.804/38-V/8/95, (die beiden letzten betreffen den ausdrücklichen Hinweis auf EWR- bzw. EG-Richtlinien in der Kopfzeile jenes Stückes des Bundesgesetzblattes, in dem die jeweiligen innerstaatlichen Aussführungsvorschriften publiziert werden). 30 Vgl. Holzinger, EG-Beitritt und Rechtsangleichung, Österreichische Notariatszeitung 1992, S. 185 ff.
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auf einen künftigen EG-Beitritt zu lösen waren. Die Teilnahme Österreichs am EWR bedingte die Übernahme von ungefähr 1400 Rechtsakten der EG. Im Bundesbereich bedeutete dies die Änderung von rund 100 Bundesgesetzen sowie von 140 Verordnungen, im Landesbereich waren davon etwa 70 gesetzlich und 30 durch Verordnung geregelte Bereiche betroffen. Diese Reformmaßnahmen konnten bis auf wenige Ausnahmen noch vor dem Inkrafttreten des EWR-Abkommens am 1. Jänner 1994 abgeschlossen werden. Auf diese Weise konnte ein großer Teil der Rechtsänderungen, die im Hinblick auf den damals noch in Verhandlung stehenden österreichischen EG-Beitritt erforderlich waren, bereits vorweg realisiert werden. Nach dem erfolgreichen Abschluß der Beitrittsverhandlungen galt es dann das Reformwerk zu komplettieren. Dies bedeutete zum einen die Adaptierung jener österreichischen Rechtsvorschriften, die über den EWR-Zusammenhang hinaus integrationsrelev'ant waren, und zum anderen die Erlassung von Ausführungsregelungen, die im Hinblick auf mittlerweile neu erlassene gemeinschaftsrechtliche Vorschriften geboten waren. Die inhaltliche und zeitliche Koordinierung all dieser Rechtsreformmaßnahmen oblag einer von der Bundesregierung im Jahre 1991 eingerichteten Projektgruppe, der - unter dem Vorsitz des Bundeskanzleramtes - Vertreter aller Bundesministerien, der Länder und der wichtigsten Sozialpartnerorganisationen angehören. Heute ist diese - nach wie vor bestehende - Einrichtung für die Koordinierung der österreichischen Ausführungsregelungen zuständig.
III. Zum gegenwärtigen Stand der Umsetzung des Gemeinschaftsrechts in Österreich
Die Kommission der EG hat dem Europäischen Rat bei seiner Tagung am 15. und 16. Dezember 1995 in Madrid einen Bericht über das Funktionieren des Binnenmarkts im Jahr 1995 unterbreitetY Er weist Österreich als "Schlußlicht" bei der Umsetzung der Gemeinschaftsrichtlinien zur Vollendung des Binnenmarktes aus. Die kritische Passage lautet wörtlich: "Die Umsetzung der Gemeinschaftsrichtlinien in nationales Recht ist 1995 in allen 15 Mitgliedstaaten stetig erfolgt. Bis Dezember 1995 hatten die Mitgliedstaaten insgesamt 93,2 % der erforderlichen einzelstaatlichen Maßnahmen zur Durchführung der Binnenmarktvorschriften erlassen. Allerdings schwankt der Umsetzungsgrad zwischen den Mitgliedstaaten erheblich: Dänemark, Luxemburg, die Niederlande, Portugal und Schweden liegen weit über dem Gemeinschaftsdurchschnitt von 93,2 %, Griechenland, Deutschland und Österreich deutlich darunter." Der Bericht hat in Österreich einiges Aufsehen erregt und Kritik an der Unzulänglichkeit der österreichischen EU-Politik laut werden lassen. Eine "Paketsit31
Vgl. mittlerweile KOM (96) 51 endg.
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zung" am 25. und 26. Jänner 1996 in Wien zwischen Vertretern der betroffenen österreichischen Regierungsstellen und Vertretern des Generalsekretariats der Kommission bot Gelegenheit zu einer eingehenden Analyse des österreichischen Umsetzungsdefizits. Dabei hat sich folgendes ergeben: Von insgesamt 1266 in Betracht kommenden, u. zw. nicht nur den Binnenmarkt betreffenden Richtlinien waren aus der Sicht der Kommission 731 Richtlinien, davon 702 nach Ablauf der Umsetzungsfrist, wegen fehlender Notifizierung ihrer vollständigen Umsetzung 32 offen. Davon konnten 513 durch Durchführung der Notifikation noch während der "Paketsitzung" erledigt werden. (In diesen Fällen war die von der EG-Kommission angenommene fehlende Notifizierung auf Kommunikationsschwierigkeiten im Verhältnis zwischen den zuständigen österreichischen Stellen und der EG-Kommmission, vielleicht aber auch zwischen deren Dienststellen oder auch zwischen der EFTA-Überwachungsbehörde33 und der EG-Kommission zurückzuführen, wobei man davon ausgehen kann, daß es sich dabei überwiegend um Anlaufschwierigkeiten handelt.) Von den 218 weiterhin offenen Richtlinien konnte für 179 ein präziser Zeitplan mit einem absehbaren Zeitziel vor Ende 1996 für die Durchführung der Umsetzung angegeben werden. Für 39 Richtlinien konnten keine präzisen Angaben für ihre Umsetzung gemacht werden. Umsetzungsdefizite bestehen vor allem im Agrarbereich (betreffend Saatgut und Futtermittel), in den Bereichen Finanzdienstleistungen (etwa betreffend Eigenmittel von Kreditinstituten), Telekommunikation (etwa urheber- und leistungsschutzrechtliche Vorschriften für den Satellitenrundfunk und die Kabelweiterverbreitung), Transporte, Umwelt (insbesondere betreffend die Entsorgung von Haushaltsgeräten), Binnenmarkt (etwa betreffend das Kommunalwahlrecht von EU-Bürgern oder die gegenseitige Anerkennung von Zeugnissen), Konsumentenschutz (etwa betreffend Pauschalreisen) oder auch betreffend die Rückgabe von unrechtmäßig verbrachten Kulturgütern. Auf Grund der bisherigen Erfahrungen bei der Umsetzung von EG-Richtlinien ist nicht zu übersehen, daß insbesondere die bundesstaatliche Struktur Probleme bereiten dürfte. So führt allein die Notwendigkeit von neun Ausführungsregelungen der Länder dazu, daß schon dann, wenn auch nur ein Land die entsprechenden Regelungen nicht erlassen hat, Österreich bei der Umsetzung der Richtlinie als "säumig" geführt wird. Daneben sind jedoch gewiß auch politische Interessensgegensätze maßgeblich für Umsetzungsdefizite. Dies trifft etwa im oben erwähnten Agrarbereich bei den Regelungen für Saatgut und Pflanzenschutz zu. Hier dürfte vereinfacht ausgedrückt - das Interesse der Landwirtschaft an möglichst billigen 32 Abgesehen davon ist die mangelhafte Umsetzung von EG-Richtlinien in einer Reihe von Fällen Gegenstand von Verfahren gemäß Art. 169 EGY. Als markante Beispiele seien in diesem Zusammenhang genannt: die monierte mangelhafte Umsetzung der Richtlinie 91/ 308IEWG über die Geldwäsche (Problem anonymer Sparguthaben), Probleme im Zusammenhang mit dem bilateralen Luftverkehrsabkommen mit den USA ("open skies") sowie bei der schrittweisen Umformung des österreichischen Tabak- und Branntweinmonopols und behauptete Vertragsverletzungen beim Vergabeverfahren betreffend den Neubau des niederösterreichischen Landhaus- und Kulturbezirkes in St. Pölten. 33 Vgl. dazu Art. 172 des Beitrittsvertrages, BGBL Nr. 45/1995.
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Betriebsmitteln den umweltpolitischen Zielen des Gemeinschaftsrechts zuwiderlaufen. In manchen Fällen könnte auch die komplexe Zuständigkeitsverteilung auf Ebene der Bundesministerien eine der Ursachen für Umsetzungsdefizite sein; dies insbesondere dann, wenn etwa wirtschafts- oder umweltpolitische Interessensgegensätze auch zu gegensätzlichen Standpunkten entscheidungszuständiger Bundesministerien führen. Wirtschaftliche Interessen - u. zw. diesfalls der betroffenen Banken - spielen wohl auch bei den bestehenden Umsetzungsproblemen im Bereich der Finanzdienstleistungen eine Rolle. Zusammenfassend ist festzuhalten, daß es in vergleichsweiser kurzer Zeit gelungen ist, die mit der Anpassung der österreichischen Rechtsordnung an jene der EG einhergehenden Reformen weitgehend abzuschließen. Die österreichische Rechtsordnung hat hiedurch tiefgreifende Veränderungen erfahren. So gesehen besteht aber auch für die Zukunft, was die Umsetzung des Gemeinschaftsrechts in Österreich anlangt, Anlaß zu Optimismus. Die dabei bestehenden Probleme liegen von Anlaufschwierigkeiten bei der Notifikation österreichischer Umsetzungs vorschriften einmal abgesehen - in politischen Interessensgegensätzen. Sohin unterscheidet sich aber die Rechtsetzung bei der innerstaatlichen Ausführung von EGRechtsvorschriften nicht von jener in anderen Bereichen der österreichischen Rechtsordnung. Überdies ist zu erwarten, daß die besonders intensive Einbindung der Organe der Bundesgesetzgebung sowie der Länder in die nationale Willensbildung bei der Vorbereitung von Rechtsetzungsakten der EG die Probleme bei der nachfolgenden Umsetzung dieser Rechtsvorschriften tendenziell reduziert.
Umsetzung und Anwendung des Gemeinschaftsrechts in den Mitgliedstaaten Von Heinrich Siedentopf
1. Nationalstaatliche Tradition der öffentlichen Verwaltung
Die öffentlichen Verwaltungen in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union sind bisher durch ihre jeweilige nationalstaatliche Tradition in ihren rechtlichen Handlungsgrundlagen, aber auch in ihrem Selbstverständnis und in ihrem Verhalten geprägt. Die öffentliche Verwaltung wird in der kontinental-europäischen Tradition in der Regel unter Bezug auf den sie tragenden, sie einsetzenden, konkreten Staat, eben den jeweiligen Nationalstaat definiert. In den Worten von Lorenz von Stein von 1865: "Jeder Staat hat seine Arbeit. So wird aus dem an sich abstrakten Begriff des arbeitenden Staats der Begriff der Verwaltung. Die Verwaltung bedeutet daher den sein Lebensprinzip durch seine Arbeit verwirklichenden Staat." Entsprechend diesem generellen Auftrag und entsprechend der jeweiligen nationalstaatlichen Tradition hat der einzelne Mitgliedstaat in vielen Jahrzehnten seine Verwaltungsstrukturen ausgebaut, seine inneren und äußeren Organisationsformen, die Verwaltungsverfahren, das Verwaltungsrecht, die administrativen und gerichtlichen Kontrollverfahren wie auch die Gliederung seines öffentlichen Dienstes. Der Nationalstaat hat sich seine spezifische Verwaltung geschaffen. Die öffentliche Verwaltung eines Staates hat damit auch an seiner geschichtlichen Entwicklung, an seinen inhaltlichen, qualitativen Umbrüchen und an seinen programmatischen Systemwechseln teil. Andererseits können die traditionellen Strukturen und Verhaltensweisen einer nationalstaatlichen Verwaltung auch über Systemwechsel hinweg fortwirken. Sie können - das Beispiel Deutschlands und seiner Länderverwaltungen beweist es - auch im Falle einer nationalstaatlichen Einigung als regionale Verwaltungstraditionen fortbestehen und wirksam bleiben. Der Diskontinuität in den politischen Regimewechseln stehen dann beeindruckende Beispiele einer administrativen und bürokratischen Kontinuität gegenüber: Die Konzeption und die Praxis der kommunalen Selbstverwaltung in den deutschen Ländern, die Unterschiede zwischen den norddeutschen und den süddeutschen Ländern in diesem Bereich lassen noch heute die unterschiedlichen Ausgangspunkte für die gemeindliche Verwaltungsreform am Beginn des 19. Jahrhunderts erkennen und lassen sich konkret mit den Persönlichkeiten des Freiherm vom Stein und des Grafen Montgelas verbinden. I
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Es wäre allerdings falsch, aus diesem Beispiel ableiten zu wollen, daß die nationalstaatliche Tradition der öffentlichen Verwaltung ihre Wurzeln ausschließlich in dem nationalstaatlichen Kontext hätte und die Entwicklungen in den europäischen Nachbarstaaten nicht zur Kenntnis genommen hätte. Gerade Freiherr vom Stein und Graf Montgelas sind nachweislich in ihren Konzepten und Plänen von vergleichenden Beobachtungen in anderen europäischen Ländern, von positiven wie negativen "Vorbildern" bestimmt worden. In der vergleichenden Verwaltungswissenschaft wird Deutschland - neben Frankreich - als Beispiel des "klassischen Verwaltungssystems" bewertet und mit den Kriterien des Idealtyps der Bürokratie von Max Weber verbunden? Für beide Länder gilt die Feststellung, daß ihre Diskontinuität des politischen Regimes in einem bemerkenswerten Kontrast zu einer administrativen und bürokratischen Kontinuität steht. Für den externen Beobachter gilt, daß die preußische Verwaltung in ihrer Form nach den Freiheitskriegen zum Modell von Regierung und Verwaltung auch im vereinigten Deutschland wurde. Ähnlich wie in Frankreich, wo die Verwaltung des ancien regime nach der Revolution in der Zeit Napoleons nicht grundsätzlich verändert, sondern konsequent weiterentwickelt wurde. In dieser Kontinuität und parallelen Entwicklung auf dem europäischen Kontinent lassen sich gemeinsame Elemente der administrativen Kultur und Tradition identifizieren, wie die rechts staatliche Bindung der Verwaltung an Gesetz und Recht, die Herausbildung eines selbständigen, in den Grundzügen aber vergleichbaren Verwaltungsrechts, die Einrichtung eigenständiger Verwaltungsgerichte zur Kontrolle des Verwaltungshandelns und eine juristisch geprägte, berufliche Vorbereitung und Karriere des Verwaltungspersonals innerhalb eines spezifisch gegliederten und rechtlich abgesicherten Berufsbeamtenturns. Die Entwicklung dieses klassischen Verwaltungssystems vollzog sich in dem 19. Jahrhundert in den kontinental-europäischen Staaten in relativer Gleichzeitigkeit und durchaus in Kenntnis der jeweiligen Veränderungen in den Nachbarländern. Von einer Vereinheitlichung der öffentlichen Verwaltung in den kontinental-europäischen Ländern - außerhalb der erwähnten Grundprinzipien - wird man dennoch nicht sprechen können. Jeder Staat gestaltete und entwickelte seine öffentliche Verwaltung und ließ sie nach seinem nationalen Verwaltungsrecht handeln.
2. Internationalisierung, Europäisierung der öffentlichen Verwaltung Dieser ausschließlich, zumindest sehr enge rechtliche und territoriale Bezug zwischen dem Nationalstaat und seiner Verwaltung wird heute zunehmend durch 1 Udo WoLter, Freiherr vom Stein und Graf Montgelas - Zwei Modelle der gemeindlichen Verwaltungsreforrn am Beginn des 19. Jahrhunderts, in: Bayerische Verwaltungsblätter 1993, S. 641 ff. 2 FerreL Heady, Public Administration: a comparative perspective, Englewood Cliffs, N. Y. 1966, S. 41 ff.
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Entwicklungen überlagert, die als Internationalisierung oder Europäisierung der öffentlichen Verwaltung bezeichnet werden können. Die internationalen Verwaltungsgemeinschaften sind Einrichtungen, in denen einzelne Staaten - bereits seit Beginn dieses Jahrhunderts - als politisch-territorial getrennte Machteinheiten die Gemeinsamkeit einzelner Wirtschafts-, Verkehrsund Sozialinteressen in institutionellen Ordnungen verdichteten. Die Leitidee dieser Gemeinschaften besteht in dem Vereinbaren und Beschließen gemeinsamer Grundsätze und in einem sich langsam zentralisierenden Vollzug der Verwaltungsaufgaben durch diese Gemeinschaft. Das politisch-territoriale Volkerrecht wird durch ein "unpolitisches", sachlich-funktionales Recht zwischen den Staaten ergänzt. Heute wird man die internationalen Verwaltungsgemeinschaften kaum noch als die Institutionalisierung eines allen Staaten gemeinsamen, wesentlich "unpolitisehen" Interesses, eines Sachinteresses definieren können. Zu groß ist ihre Zahl, zu umfangreich sind ihre Aufgaben geworden. Sie haben die Bereiche von Verkehr, Fernmeldewesen oder Gesundheitswesen inzwischen weit überschritten. Es bleibt aber festzuhalten, daß nicht wenige Einrichtungen und Verwaltungsgemeinschaften mit ihrer internationalen Struktur aus den Fachverwaltungen der Nationalstaaten und ihren identischen fachlichen Interessen hervorgegangen sind. Die "unpolitisehe", fachspezifische Kooperation der nationalstaatlich geprägten Verwaltung auf konkreten, begrenzten Arbeitsfeldern hat ihre eigene Geschichte. 3 Die 1957 geschaffene Europäische Wirtschaftsgemeinschaft sollte von Anfang an etwas grundsätzlich anderes als eine liberale Zollunion sein: diese supranationale Verwaltungsgemeinschaft bestand von Anfang an in der weiteren Funktionalisierung von gemeinsamen Sachinteressen mehrerer Staaten und zwar in einer Funktionalisierung, die so weit getrieben werden soll, daß sich eine institutionelle Ordnung nicht mehr nur zwischen den Staaten, sondern in einem gewissen Umfang auch über ihnen bilden soll. Der Entwicklungsprozeß der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft hin zur Europäischen Union hat trotz des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung in mehreren Schüben zu einem erheblichen Ausbau der supranationalen Aufgabenwahrnehmung geführt. Die Tätigkeit der nationalstaatlichen Verwaltungen wird in vielen Bereichen zunehmend von Rechtsakten der Europäischen Union bestimmt. In der öffentlichen Meinung wird dies - zu Unrecht - als eine weitgehende Fremdbestimmung bewertet: "das europäische Recht kommt aus Brüssel über die nationalen Verwaltungen!" Dieser Beitrag will auf der Grundlage eigener, multinationaler, empirischer Untersuchungen nachweisen, daß das Gemeinschaftsrecht in einem engen Zusammenwirken zwischen den Verwaltungen der Mitgliedstaaten und der Kommission mit ihren fachlichen Generaldirektionen entsteht und deshalb nicht als "fremdes" Recht verstanden werden kann und darf. Dieses wird umso notwendiger, je mehr das europäische Verwaltungs3 Klaus König, Internationalität, Transnationalität, Supranationalität - Auswirkungen auf die Regierung, in: Hans-Hennann Hartwich, Göttrik Wewer, Hrsg., Regieren in der Bundesrepublik, Band 5, Opladen 1993; Hartwig Bülck, Der Strukturwandel der internationalen Verwaltung, Tübingen 1962.
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recht das Verwaltungsrecht der Mitgliedstaaten überlagert oder ersetzt. Der Vollzug des europäischen Verwaltungsrechts ist überwiegend den Mitgliedstaaten anvertraut. Die Mitgliedstaaten, ihre nationalen Verwaltungen wie der innerstaatlichen Gliederungen und der regionalen oder lokalen Gebietskörperschaften müssen bereit und vorbereitet sein auf diese Europäisierung der nationalstaatlichen Verwaltung, auf den loyalen Vollzug des Gemeinschaftsrechts, denn die Europäische Gemeinschaft ist eine Rechtsgemeinschaft.
3. Europäische Gemeinschaft als Rechtsgemeinschaft
Das Recht der Gemeinschaft, sowohl das Primärrecht des Vertrages wie auch das darauf gestützte Sekundärrecht in der Form der Verordnungen und Richtlinien, ist die Basis und der Garant für das Zusammenwirken und den Zusammenhalt der Gemeinschaft. In den Mitgliedstaaten ist die Geltung des nationalen Rechts, d. h. seine Akzeptanz und seine Durchsetzung, als Grundlage für das Zusammenleben in der nationalen Gemeinschaft selbstverständlich. Dies ist Teil der Tradition des kontinental-europäischen ,,klassischen Verwaltungssystems". Dies gilt auch für die Bundesrepublik Deuschland mit dem ausformulierten Rechtsstaat des Grundgesetzes. Aber auch für die Europäische Gemeinschaft ist das einigende Band in erster Linie das Recht: die Europäische Gemeinschaft ist eine "Rechtsgemeinschaft" nach einer Wortschöpfung von Walter HaUstein in ersichtlicher Anlehnung an den Begriff des Rechtsstaats. 4 Eine Rechtsgemeinschaft konstituiert sich jedoch nicht in allgemeinen Deklarationen und in dem Beitrag der einzelnen Mitgliedstaaten zu allgemeinen, rechtsstaatlichen Prinzipien. Eine europäische Rechtsgemeinschaft konstituiert sich vor allem in der gemeinsamen Rechtsetzung auf Gemeinschaftsebene und in der Umsetzung und Anwendung dieses Gemeinschaftsrechts auf der Ebene der Mitgliedstaaten. Die Durchsetzung und die Akzeptanz des Gemeinschaftsrechts von den und in den Mitgliedstaaten bilden deshalb die Grundlagen und Bestandsvoraussetzungen für die Europäische Gemeinschaft. Dies haben die Mitgliedstaaten in ihrer 19. Erklärung zu dem Vertrag über die Europäische Union besonders unterstrichen: "Die Konferenz hebt hervor, daß es für die innere Geschlossenheit und die Einheit des europäischen Aufbauwerks von wesentlicher Bedeutung ist, daß jeder Mitgliedstaat die an ihn gerichteten Richtlinien der Gemeinschaft innerhalb der darin festgesetzten Fristen vollständig und getreu in innerstaatliches Recht umsetzt. Außerdem ist die Konferenz der Ansicht, daß es zwar Sache jedes Mitgliedstaats ist, zu bestimmen, wie die Vorschriften des Gemeinschaftsrechts unter der Berücksichtigung 4 Man/red Zuleeg, Die Europäische Gemeinschaft als Rechtsgemeinschaft, in: NJW 1994, S. 545 ff.; Wolfgang Blomeyer, Karl Albrecht Schachtschneider, Hrsg., Die Europäische Union als Rechtsgemeinschaft, Berlin 1995.
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der Besonderheiten seiner Institutionen, seiner Rechtsordnung und anderer Gegebenheiten, in jedem Fall aber unter Beachtung des Artikels 189 des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, am besten anzuwenden sind, es jedoch für die reibungslose Arbeit der Gemeinschaft von wesentlicher Bedeutung ist, daß die in den einzelnen Mitgliedstaaten getroffenen Maßnahmen dazu führen, daß das Gemeinschaftsrecht dort mit gleicher Wirksamkeit und Strenge Anwendung findet, wie dies bei der Durchführung der einzelstaatlichen Rechtsvorschriften der Fall ist."
Diese Erklärung bestätigt nicht nur die Bedeutung des Gemeinschaftsrechts für den Integrationsprozeß. Sie benennt und bestätigt zugleich auch einige wesentliche Kriterien für die empirischen Forschungsprojekte: die fristgerechte, vollständige und getreue Umsetzung der Richtlinien in innerstaatliches Recht, die Berücksichtigung der mitgliedstaatlichen Besonderheiten der Institutionen und der bestehenden Rechtsordnung sowie ebenso wirksame und strenge Anwendung und Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts wie des mitgliedstaatlichen Rechts. Dennoch sind die in dieser Erklärung genannten Kategorien, Kriterien und Adressaten nicht ausreichend für die empirischen Forschungsprojekte. Der mitgliedstaatlichen Umsetzung und Anwendung des Gemeinschaftsrechts geht in der Regel zeitlich ein langjähriger Vorbereitungsprozeß für die Richtlinie oder die Verordnung voraus. An diesem Vorbereitungsprozeß sind nicht nur die Organe der Gemeinschaft beteiligt, sondern auch die Mitgliedstaaten und ihre Verwaltungen sowie die Interessengruppen auf nationaler und supranationaler Ebene. Die spätere Umsetzung und Anwendung von Gemeinschaftsrecht sind in nachweisbarer, vielfältiger Weise mit der Vorbereitung, dem Aushandeln und der Formulierung dieses Gemeinschaftsrechts verbunden. Und es gibt noch einen Bereich zeitlich nach der Umsetzung und Anwendung des Gemeinschaftsrechts, in dem die Kontrollen dieser Anwendung durch die Kommission und durch den Europäischen Gerichtshof sowie durch die nationalen Gerichte stattfinden. Diese Kontrollen, zentraler und dezentraler Art, sollen dazu beitragen, die Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts zu bewerten und zu seiner Verbesserung beizutragen. 5 Umsetzung und Anwendung von Gemeinschaftsrecht durch die Mitgliedstaaten sind somit nur zwei zeitliche und inhaltliche Ausschnitte aus einem zyklischen Prozeß der Rechtsvorbereitung, der Rechtssetzung und Rechtsanwendung, an dem erheblich mehr Akteure als nur die Organe der Gemeinschaft und die Mitgliedstaaten beteiligt sind. Dieser zyklische Prozeß soll als Grundlage und Raster für den Bericht über Speyerer empirische Forschungsprojekte deshalb zunächst dargestellt werden. 5 Manfred Zuleeg, Umweltschutz in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, in: NJW 1993, S. 31 ff., 35 f. Zum Begriff der "dezentralen Kontrolle" vgl. Claus-Dieter Ehlermann, Ein Plädoyer für die dezentrale Kontrolle der Anwendung des Gemeinschaftsrechts durch die Mitgliedstaaten, in: F. Capotorti u. a., Du droit international au droit de I'integration, Festschrift P. Pescatore, Baden-Baden 1987, S. 206 ff.
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Das Forschungsinstitut für öffentliche Verwaltung bei der Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer führt deshalb - zum Teil in Kooperation mit dem Europäischen Institut für öffentliche Verwaltung in Maastricht - seit einigen Jahren vergleichende, verwaltungswissenschaftliche Untersuchungsprojekte zur Umsetzung und Anwendung von Gemeinschaftsrecht in den Mitgliedstaaten durch. Von der Konzeption und den bisherigen Ergebnissen dieser Projekte, die ich, zum Teil zusammen mit meinem französischen Kollegen Jacques Ziller geleitet und koordiniert habe, will ich heute berichten. Zum einen handelt es sich um die Untersuchung eines repräsentativen Querschnitts von 17 Richtlinien aus unterschiedlichen Politikbereichen. 6 Deren gemeinsames Auswahlkriterium war, daß sie in dem Zeitraum zwischen 1978 und 1980 hätten umgesetzt werden müssen. Von Interesse war bei der Speyer-Maastricht-Untersuchung, die mit Unterstützung der Kommission durchgeführt wurde und für die wir nationale Forschungsteams in allen beteiligten Mitgliedstaaten gebildet hatten, weniger der jeweilige, konkrete Regelungsbereich als die mögliche Generalisierung empirischer Ergebnisse, um in einem horizontalen Vergleich die Charakteristika der Anwendung des Gemeinschaftsrechts im Blick auf die einzelnen Mitgliedstaaten zu analysieren. Bei denselben Richtlinien war den nationalen Forschungsteams auch ein einheitliches Forschungskonzept vorgegeben worden. Unsere Absicht, für jeden untersuchten Mitgliedstaat ein politisch-administratives, verwaltungskulturelles Leistungsprofil zu formulieren, haben wir wohl nicht erreicht. Aber detaillierte, empirisch belegte Aussagen über das Verhalten der Regierungen, Verwaltungen und Interessengruppen in den einzelnen Mitgliedstaaten bei der Setzung, Umsetzung und Anwendung von Gemeinschaftsrecht sind doch herausgekommen. Vor allem konnten die engen Verzahnungen und plausiblen Kausalitäten zwischen den verschiedenen Phasen der Rechtsetzung und des Vollzugs auf der europäischen und der mitgliedstaatlichen Ebene belegt werden. Die Ergebnisse dieses Forschungsprojektes sind im einzelnen in englischer und französischer Sprache, eine Zusammenfassung ist 1990 in einem Aufsatz in der DÖV veröffentlicht worden. 7 Das Forschungsinstitut für öffentliche Verwaltung hat gleichfalls die empirischen Implementationsstudien zum Gemeinschaftsrecht fortgesetzt, mit einem für die Kommission erstellten Rahmenkonzept für den Vergleich der Politikbereiche der regulativen Umweltpolitik und der distributiven Regionalpolitik der Gemeinschaft8 sowie mit einer konkreten Untersuchung zur Implementation der Trinkwas6 Heinrich Siedentopf, Jacques Ziffer, Hrsg., Making European Policies Work - The Implementation of Community Legislation in the Member States, 2 Bde, London 1988, in französischer Sprache: L'Europe des Administrations?, 2 Bde, Brüssel 1988. 7 Heinrich Siedentopf, Christoph Hauschild, Europäische Integration und die öffentlichen Verwaltungen der Mitgliedstaaten, in: OÖV 1990, S. 445 ff. 8 Guenther F. Schaefer, Heinrich Siedentopf, Implementation of Environmental and Structural Funds Policy in the Member States, A Conceptual Framework for the Analysis, Maastricht/Speyer 1992 (unveröffentlichtes Manuskript).
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ser-Richtlinie (RL 801778fEWG vom 15. Juli 1980), die mein Mitarbeiter Christoph Demmke unter dem Titel "Umsetzung und Vollzug von EG-Umweltpolitik in den nationalen Verwaltungen der EG-Mitgliedstaaten - Die Implementation der Trinkwasser-Richtlinie" 1994 veröffentlicht hat. 9 Seitdem haben nationale und vergleichende Studien zur Implementation von Gemeinschaftsrecht in Deutschland und in anderen Mitgliedstaaten offensichtlich Konjunktur. 10 Dabei hat der Umweltschutz einen Vorrang erreicht. 11 In allen diesen Bereichen konstituiert sich die europäische Rechtsgemeinschaft in der gemeinschaftlichen Rechtsetzung auf der supranationalen Gemeinschaftsebene, aber auch in der Umsetzung und Anwendung dieses Gemeinschaftsrechts auf der Ebene der Mitgliedstaaten. Die nationalstaatliche Verwaltung ist - nach unseren Forschungsergebnissen und heute nicht mehr bestritten - sowohl bei der supranationalen Rechtsetzung als auch bei der mitgliedstaatlichen Umsetzung und Anwendung beteiligt. Diese doppelstufige Mitwirkung der Mitgliedstaaten, die Verantwortung für das Zustandekommen, die Umsetzung und die Anwendung von Gemeinschaftsrecht, insbesondere von Richtlinien sind deshalb eine neue, ungewohnte Herausforderung für die Verwaltungen der Mitgliedstaaten. Die Richtlinien sollen nach ihrer Definition in Art. 189 EGV den Mitgliedstaaten Spielräume bei der Umsetzung des Gemeinschaftsrechts, unter Berücksichtigung ihrer Institutionen und ihrer eigenen Rechtsordnung eröffnen bzw. offen lassen. Der Anspruch der Gemeinschaft auf die gleiche Wirksamkeit und Strenge bei der Umsetzung des Gemeinschaftsrechts wie bei den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften stützt sich auf den Grundsatz der Gemeinschaftstreue. Dieser Grundsatz wird durch den Vorrang des Gemeinschaftsrechts gegenüber einem widersprechenden Recht des Mitgliedstaates, und zwar durch einen Anwendungsvorrang im Gegensatz zum Geltungsvorrang gesichert, ergänzt durch die Direktwirkung und den Schadensersatzanspruch bei nicht umgesetzten Richtlinien, die der Europäische Gerichtshof entwickelt hat. Heute wird das nationalstaatliche Verwaltungshandeln weitgehend durch Rechtsvorschriften supranationalen Ursprungs bestimmt. Nach einer Dokumentation des französischen Conseil d'Etat galten Ende 1992 in Frankreich 22.445 Verordnungen und 1.675 Richtlinien gemeinschaftsrechtlichen Ursprungs. Dazu kamen 1.198 Verträge oder Protokolle, 185 Empfehlungen der Kommission oder des Ministerrats, 291 Entschließungen des Ministerrats und 678 Mitteilungen der Kommission. Die Gemeinschaft erließ bereits 1992 mehr Vorschriften als NatioChristoph Demmke, Baden-Baden 1994. Jürgen Schwarze, Die Implementation von Gemeinschaftsrecht - Untersuchungen zur Gesetzgebung und Verwaltungspolitik der Europäischen Gemeinschaft und ihrer Mitgliedstaaten, Baden-Baden 1993; Kieran St. C. Bradley, The increase of effectiveness: problems of implementation, in: Wolfgang Wesseis and Christian Engel, Eds., The European Union in the 1990s - ever closer and larger?, Bonn 1993; Jürgen Schwarze, Hrsg., Das Verwaltungsrecht unter europäischem Einfluß, Baden-Baden 1996. 11 Gertrude Lübbe-Wo1jf, Hrsg., Der Vollzug des europäischen Umweltrechts, Berlin 1996. 9
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naIversammlung und Regierung zusammen. Nach der Einschätzung des Conseil d'Etat kann der Staat höchstens in einem Viertel aller nationalen Regelungen die Vorschriften ohne vorherige Abstimmung mit der Gemeinschaft erlassen. Die Durchdringung und Überlagerung des nationalstaatlichen Rechts durch das Gemeinschaftsrecht wird in diesen Zahlen offenkundig. Das im Maastrichter Vertrag eingefügte Subsidiaritätsprinzip wird an dieser Verflechtung keine wesentlichen Änderungen bewirken können, denn diese Verflechtungen ergeben sich aus den gemeinschaftsrechtlichen Kompetenzen und aus dem gemeinschaftsrechtlichen Rechtsetzungsprozeß. Für einen am deutschen Föderalismus geschulten Beobachter scheinen die Stufen der Rechtsetzung und Rechtsanwendung für das Gemeinschaftsrecht sich nicht wesentlich von dem deutschen Modell zu unterscheiden und auch vergleichbare Fragen aufzuwerfen: Die Prägung der Rechtsetzung durch die Exekutive, die zentralisierende Kraft mehrstufiger Entscheidungsprozesse, Beteiligungsrechte statt eigener Sachkompetenzen, die begrenzte politische Kontrolle und Koordination, die Fragmentierung der Politikfelder, die Dominanz der Fachverwaltungen mit den jeweiligen Sachzwängen der spezifischen Rege1ungsbereiche sowie die freie oder organisierte Einflußnahme der betroffenen Interessen. Der Rechtsetzungsprozeß auf der Gemeinschaftsebene ist darüber hinaus durch das Zusammenwirken unterschiedlich geprägter, sich unterschiedlich verhaltender Verwaltungen sowie durch das Zusammentreffen nationalspezifischer Rechtssystme der Mitgliedstaaten bestimmt. Die Verwaltungen der Mitgliedstaaten beeinflussen ihrerseits auch den supranationalen Rechtsetzungsprozeß, so daß von wechselseitigen Einwirkungen der Verwaltung der Gemeinschaft und der Verwaltung der Mitgliedstaaten gesprochen werden kann.
4. Zyklische Phasen der Rechtsetzung und Rechtsanwendung
Nach unseren empirischen, verwaltungswissenschaftlichen Forschungen zur Rechtsetzung und zur Rechtsanwendung des Gemeinschaftsrechts sind folgende Phasen zu unterscheiden: 4.1 die Verhandlungen auf EG-Ebene zur Politikentwicklung, 4.2 die EG-Rechtsetzung im Ministerrat, 4.3 die Transformation in nationales Recht, Umsetzung der Richtlinien, 4.4 der Vollzug des Gemeinschaftsrechts in den Mitgliedstaaten, 4.5 die Kontrolle des Vollzugs von Gemeinschaftsrecht. In allen diesen Phasen kommt es zu engen Kontakten zwischen den Organen der Gemeinschaft und den Mitgliedstaaten, zwischen der Kommission und den Regierungen, sowie zwischen der Kommission und den mitgliedstaatlichen Verwaltun-
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gen. Die verschiedenen Phasen sind miteinander in der Weise verbunden, daß die Mitwirkung der mitgliedstaatlichen Verwaltungen bei dem Aushandeln und Ausformulieren des Gemeinschaftsrechts in vielfältiger Weise die spätere Umsetzung und Anwendung des Rechts beeinflußt.
4.1 EG-Verhandlungen = Politikentwicklung
Zu den Charakteristika des EG-Rechtsetzungsverfahrens, insbesondere bei Richtlinien der repräsentativen Speyer-Maastricht-Studie, gehörte, daß zwischen den ersten Vorverhandlungen eines Richtlinientextes und der endgültigen Verabschiedung durch den Rat durchschnittlich ein Zeitraum von acht bis zehn Jahren .verging. Das Binnenmarktziel hat indes zu einer wesentlichen Beschleunigung der formellen Verhandlungsphase geführt. Die Verhandlungszeit beträgt für die Binnenmarkt-Richtlinien nur noch zwei bis drei Jahre im Durchschnitt, eine Reihe von Richtlinien wurde innerhalb von fünfzehn Monaten vom Rat angenommen. Heute haben sich die Verfahren eher noch beschleunigt. Das Entwurfs- und Verhandlungsverfahren läßt sich nach zwei Phasen differenzieren, die sich insbesondere im Grad der Formalität unterscheiden. Die erste Phase beginnt lange vor dem ersten Formulierungsentwurf der Kommission in informellen Expertengruppen. In den z. Zt. etwa 500 Gruppen beraten die Fachexperten aus der Kommission und den Zentralverwaltungen der Mitgliedstaaten gemeinsam mit verwaltungsexternen Sachverständigen und Vertretern von Interessenverbänden Vorschläge für legislative Maßnahmen der EG. In den informellen Vorberatungen erfolgt das den späteren Inhalt vorausbestimmende "agenda setting". Die nationalen Beamten handeln in dieser Phase nicht als Vertreter der Mitgliedstaaten, sondern als Experten für die jeweiligen Regelungsbereiche. Das in den EG-Verträgen verankerte und auch durch Maastricht nicht wesentlich eingeschränkte (Art. 138b 11 EGV) Initiativmonopol der Kommission bestimmt daher in erster Linie den formellen Verfahrensgang. Es darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß EG-Recht seinen Ursprung ebenso häufig in den Ministerialverwaltungen der Mitgliedstaaten hat. Mit dem Initiativmonopol verbleibt der Kommission ein wirksames verfahrensrechtliches Druckmittel, denn sie kann jederzeit mit der Rücknahme oder Nichtvorlage eines Initiativantrages drohen. Auch EG-Richtlinien zum Umweltbereich entstehen häufig durch die Initiative eines oder mehrerer Mitgliedstaaten, einzelner Behörden oder Interessengruppen. Zwar bestimmt das Initiativmonopol der Kommission in Kooperation mit dem Rat und dem EP die Politikformulierung und den Verfahrensablauf der Richtlinienentscheidung. Der endgültige Richtlinienvorschlag findet jedoch seine Ausgestaltung im Wege informeller Aushandlungen zwischen Experten und Interessengruppen auf nationaler und EG-Ebene. Diese Expertenausschüsse handeln weitgehend unter Ausschluß der Öffentlichkeit. Ihre transnationale Kooperation kann einerseits die 8 MagieraJSiedentopf
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Integration fördern, andererseits ist sie ein Beispiel fachspezifischer, technokratischer Orientierung ohne öffentliche Kontrolle. Der Umweltbereich auf der EG-Ebene ist dadurch charakterisiert, daß es Unterschiede, oft genug Konflikte zwischen den verschiedenen Mitgliedstaaten, aber auch zwischen der Kommission und den Mitgliedstaaten gibt. Gemeinschaftsaktivitäten im Umweltbereich seit den 70er Jahren stießen praktisch in ein Vakuum. Auch heute haben eigentlich nur die Länder Dänemark, Deutschland und die Niederlande eine eigene Konzeption von Umweltpolitik. Sie versuchen deshalb, die Handlungsfähigkeit der Gemeinschaft auf diesem Gebiet zu unterstützen. Die anderen Mitgliedstaaten sind an ihrer wirtschaftlichen Entwicklung interessiert und versuchen, die Aktivitäten der Gemeinschaft im Umwe1tbereich zu begrenzen. 12 Diese erste Untersuchungsphase des Zyklus fragt in unseren Projekten deshalb nach den Initiatoren der Politikformulierung und den anfänglichen Interessen, aber auch nach den Interaktionen zwischen der Kommission, den Mitgliedstaaten und den Interessengruppen. Es ist naheliegend, aber eben auch empirisch belegt, daß die spezielle Konstellation für eine konkrete Richtlinie in der ersten Phase Auswirkungen noch in der nationalen Umsetzung- und Anwendungsphase hat. Ein weitgehender Konsens zwischen den Hauptakteuren : Kommission, Mitgliedstaaten einschließlich ihrer innerstaatlichen Untergliederungen und Interessengruppen verkürzt nicht nur den Vorbereitungsprozeß, sondern schafft auch für die spätere Anwendung günstige Bedingungen. Auseinandersetzungen in der Vorbereitungsphase lassen Probleme für die innerstaatliche Implementation erwarten, insbesondere wenn eine Regelung von der Kommission und nur einigen Mitgliedstaaten "durchgedrückt" wurde. Es sollte auch in Rechnung gestellt werden, daß innerhalb der Kommission und zwischen den Generaldirektionen der Text einer Richtlinie erst das Ergebnis ausgiebiger Konsultationen ist. Es vergeht in der Regel viel Zeit, bis auf Abteilungsleiterebene der zuständigen Generaldirektion der Entwurf formuliert und vom Juristischen Dienst überprüft wird. Für diese erste Phase der Politikentwicklung ergab die Untersuchung zur Trinkwasserrichtlinie, daß die Informations- und Datenlage zu Anfang völlig unzureichend war, daß z. B. keine ausreichende Kenntnis über die hohe Relevanz dieser Thematik für die Bodenbewirtschaftung bestand. Die Landwirtschaft wurde nicht beteiligt, umweltpolitische Interessengruppen wurden kaum einbezogen. Das Thema war aber auch noch zu neu. Hier stellt sich die Frage, wie der naturwissenschaftlich-technische Erkenntnisfortschritt aufgenommen und in eine Rechtsordnung eingebaut werden kann. Einige Grenzwerte der Trinkwasserrichtlinie waren ohne wissenschaftliche Fundierung, allein mit dem Ziel eines möglichst hohen Ge12 Ulrich Everling, Durchführung und Umsetzung des Europäischen Gemeinschaftsrechts im Bereich des Umweltrechts unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des EuGH, in: NVwZ 1993, S. 209 ff.
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sundheitsschutzes festgelegt worden. Diese umwelt- und gesundheitspolitisch vielleicht sinnvolle Entscheidung hatte negative Auswirkungen auf den Vollzug, da anfangs keine Meßverfahren zur Kontrolle der strengen Grenzwerte vorlagen oder diese unverhältnismäßig aufwendig erschienen. 13
4.2 EG-Entscheidung
=EG-Rechtsetzung im Ministerrat
Die zweite Phase der Beratungen unterliegt in ihrer Ausgestaltung und in bezug auf die Stellung der Verhandlungs partner den Grundsätzen, die sich in den internationalen Beziehungen für Verhandlungen formal gleichberechtigter und souveräner Staaten herausgebildet haben. Diese offizielle Verhandlungsphase wird mit der Ausübung des Vorschlagsrechts durch die Kommission - dem förmlichen Einbringen des Textes einer Gemeinschaftsmaßnahme beim Rat - eingeleitet. Sie gliedert sich in drei Beratungsstadien, in denen der Aspekt eines Interessenausgleichs zwischen den Mitgliedstaaten das Verhandlungsklima bestimmt. Die Beratungen werden auf Initiative der Präsidentschaft in den etwa 200 offiziellen Ausschüssen und Arbeitsgruppen des Rates eröffnet. Wenn der Kommissionsvorschlag als beschlußfähig angesehen wird oder die Präsidentschaft der Ansicht ist, daß bestimmte Hindernisse nur durch die Einschaltung einer höheren Ebene gelöst werden können, erfolgt die Vorlage vor dem Komitee der Ständigen Vertreter der Mitgliedstaaten (COREPER). In dem dritten Beratungsstadium wird der Rat in seinen verschiedenen Zusammensetzungen mit der Regelungsinitiative befaßt, und zwar dann, wenn die Vorlage beschlußreif ist oder sie durch COREPER nicht zu überwindende Differenzen enthält. Im letzten Fall steht es dem Rat frei, die Sache mit der Vorgabe politischer Leitlinien zurückzuverweisen. 14 Die Speyer-Maastricht-Studie enthält eine Reihe von Beispielen, in denen eine einseitige Einflußnahme erfolgte, wichtige Interessen nicht repräsentiert waren oder Interessengruppen zu spät realisierten, daß eine Gemeinschaftsmaßnahme ihren Bereich tangierte. Nach Erlaß einer Richtlinie sind "Korrekturen" auf nationaler Ebene, insbesondere im Rahmen der Umsetzung in nationales Recht, oft nur unter Verletzung des Gemeinschaftsrechts erreichbar. Die fachliche Spezialisierung von EG-Politik und deren Einbindung in die "policy-networks", die Kooperation der Verwaltungsspezialisten, die "copinage technocratique", für die Frido Wagener im Rahmen der deutschen Verwaltung den Begriff der "Fachbruderschaften" geprägt hat, gelten als Hauptmerkmale des Entstehungsprozesses von EG-Recht. Die ressortmäßige Zuordnung von Gemeinschaftsmaßnahmen und ihre Beratung fällt dabei in den Kompetenzbereich der Mitglied13 Christoph Demmke, Umweltpolitik im Europa der Verwaltungen, in: Die Verwaltung 1994, S. 49 ff. 14 M. Mentler, Der Ausschuß der Ständigen Vertreter bei den Europäischen Gemeinschaften, ZfRV 1991, S. 401 ff.
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staaten und ist infolgedessen nicht notwendigerweise einheitlich. Sie kann vielmehr zu sehr gegensätzlichen Ausrichtungen bei der Beratung eines Kommissionsvorschlages führen. Ein anschauliches Beispiel sind hierfür die StraßentransportVerordnungen aus dem Maastricht-Projekt. Wahrend in den meisten Mitgliedstaaten die Federführung für die Verhandlungen in den Bereich der Verkehrsministerien fiel, wurde in Dänemark und in den Niederlanden die Verantwortung den Sozialministerien übertragen. Die Aspekte der transnationalen Wettbewerbsbedingungen und des Arbeitnehmerschutzes wurden deswegen mit unterschiedlicher Präferenz von den nationalen Delegationen verhandelt. Die Organisation von EG-Politik auf nationaler Ebene kann nicht nur als Reflex des europäischen Entscheidungsregimes begriffen werden. Vielmehr verhalten sich ressortmäßige Fragmentierungen in der mitgliedstaatlichen Gemeinschaftspolitik und die in Regelungsbereiche verselbständigten Verhandlungs- und Entscheidungsverfahren auf EG-Ebene in einem wechselseitigen Verhältnis. Dabei ist ohne Zweifel die mangelnde innerstaatliche Koordination der Europapolitik mit ursächlich für Form und Ergebnisse der Gemeinschaftsrechtsetzung. Koordinationsdefizite sind im gemeinschaftsweiten Vergleich nicht auf die Bundesregierung beschränkt, sondern können mit gewissen Abstufungen in allen Mitgliedstaaten ausgemacht werden. 15 Die Koordinationsdebatte betrifft das Verhältnis zwischen den mit einer allgemeinen europäischen Kompetenz ausgestatteten Ministerien, Sekretariaten oder Ausschüssen und den Fachministerien mit ihren eigenen fachorientierten EG-Referaten bzw. Abteilungen. Davon zu trennen ist die Frage der interministeriellen Koordination bei Kommissionsvorschlägen, die in den Kompetenzbereich mehrerer Ministerien fallen, welche im Vergleich überwiegend reibungslos erfolgt. Die europapolitische Koordination und damit die Stellung der mit einer Allzuständigkeit in Europapolitik ausgestatteten Koordinationsinstanzen ist hingegen von der faktischen Aushöhlung der Kompetenzen solcher Koordinationsinstanzen in allen Mitgliedstaaten gekennzeichnet. So haben etwa in Dänemark und Irland die Fachministerien infolge zunehmender Vertrautheit mit den Gemeinschaftsstrukturen eine "we-can-do-it-ourselves"-Einstellung gegenüber ihren jeweiligen Außenministerien entwickelt. Eine relativ wirksame Koordination gewährleistet noch das Secretariat general du Comite interministeriel pour les questions de cooperation economique europeenne (SGCJ) in Frankreich, während das European Secretariat 0/ the Cabinet Office in Großbritannien weder über die personelle Ausstattung noch über das Expertenwissen verfügt, um die fachliche Europapolitik steuern zu können. Zu den überwiegenden Gemeinsamkeiten der Formulierung von EG-Politik auf nationaler Ebene gehört überdies, daß eine frühe Einbeziehung von Interessen15 Les Metcalfe, International Policy Co-ordination and Public Management Reform, in: International Review of Administrative Sciences 1994, S. 271 ff.
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gruppen erfolgt. Ziel dieser Einbeziehung ist eine möglichst umfassende Konsensbildung innerhalb der Mitgliedstaaten. Diese Form der Kooperation führt in Italien soweit, daß externe Interessenvertreter in die italienische Delegation aufgenommen werden. In dem Fall der Richtlinie zum Jahresabschluß der Gesellschaften (78/660 EWG) wurden sogar die informellen Vorverhandlungen von einem Vertreter eines Unternehmerverbandes geführt. Eine gewisse Ausnahme bildet wiederum Frankreich, wo es zu dem Selbstverständnis der Ministerialverwaltung gehört, nicht zuletzt gegenüber privaten Interessenverbänden die Unabhängigkeit staatlicher Willensbildung zu demonstrieren. Weniger routinemäßig als die Einbeziehung von Interessengruppen gestaltet sich die Mitwirkung der nationalen Parlamente sowie Regionen und Kommunen bei der Formulierung von EG-Politik auf der mitgliedstaatlichen Ebene. Eine parlamentarische Mitwirkung ist institutionell nur in Dänemark über einen permanenten EG-Ausschuß verwirklicht. Seit Mitte der achtziger Jahre ist die dänische Regierung bei weitreichenden Entscheidungen des Rates rechtlich verpflichtet, den Ausschuß vorher zu konsultieren. Im Hinblick auf die Einbeziehung subzentraler Ebenen bildet wiederum die nach Art. 23 GG und das Zusammenarbeits-Gesetz von 1993 über den Bundesrat erfolgende Beteiligung der Länder eine Ausnahme innerhalb der EG. 16 Bis zur Entscheidung des Ministerrats über eine Richtlinie kann aufgrund der Einschaltung des Wirtschafts- und Sozialausschusses, jetzt zusätzlich des Ausschusses der Regionen und des Europäischen Parlaments noch viel Zeit hingehen. Aber auch die "offizielle" Beteiligung der nationalen Verwaltungen zeigt ihre wichtige Rolle im Integrationsprozeß, weil sie im Ministerrat gemeinsam Rechtsakte setzen und Beschlüsse fassen, die für das Funktionieren der Gemeinschaft wesentlich sind. Diese Phase ist auch die Phase der Koordination der nationalen Politik der verschiedenen Ministerien, der Einbeziehung der Länder sowie der nationalen Parlamente und ihrer Ausschüsse. Dieses erklärt auch die teilweise langen Zeiträume zwischen der Vorlage eines Kommissionsvorschlages und einer Entscheidung im Rat. In dieser Phase wirken auch die inhaltlichen und verfahrensmäßigen Mechanismen, die seit dem Maastrichter Vertrag der Europäischen Integration ein Mehr an demokratischer Kontrolle, an Effizienz und an Abschichtung der Kompetenzen zwischen den verschiedenen Ebenel1 geben sollen: die Beteiligung des Europäischen Parlaments, das Mehrheitsprinzip im Rat und das Subsidiaritätsprinzip bei der Kompetenzausübung. Hier ist ein breites Feld der gegenseitigen Beeinflussung und Abgrenzung der Organe und Verwaltungen der Gemeinschaft und der Mitgliedstaaten. In der empirischen Erforschung des Zustandekommens der einzelnen Richtlinien ist dies auch nach Maastricht und zukünftig ein faszinierendes Terrain.
16 Georg-Bemdt Oschatz, Horst Risse, Die Bundesregierung an der Kette der Länder? Zur europapolitischen Mitwirkung des Bundesrates, in: DÖV 1995, S. 437 ff.
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Ich beschränke mich hier auf die Feststellung eines prominenten belgischen Mitgliedes des Europäischen Parlaments vor einigen Jahren (zitiert von dem ehemaligen EG-Botschafter Wemer Ungerer): "Wir haben große Fortschritte in Europa erzielt: der Krieg der europäischen Völker konnte durch den Krieg ihrer Verwaltungen ersetzt werden."
4.3 Transformation in nationales Recht = Umsetzung der Richtlinien
Die Umsetzung von EG-Richtlinien in bindendes einzel staatliches Recht durch die Rechtsetzungsorgane der Mitgliedstaaten vollzieht sich nicht als Bruch, sondern als unmittelbare Verlängerung der vorhergegangenen Verhandlungs- und Entscheidungsphase. Die Kontinuität wird oft schon dadurch hergestellt, daß es die gleichen Fachbeamten sind, die die Richtlinien in Brüssel verhandeln und dann für den Entwurf des nationalen Umsetzungsaktes verantwortlich sind. Das gibt diesen Fachbeamten einen privilegierten, von beiden Seiten kaum angreitbaren Vorteil in der Verteidigung ihrer jeweiligen Verhandlungsposition und ihrer Verhandlungsergebnisse. Die enge Verbindung von Verhandlung und Umsetzung erhält in Deutschland eine besondere Ausprägung, weil hier oft gleichzeitig mit den Beratungen in Brüssel der entsprechende Umsetzungsakt vorbereitet wird. In Großbritannien erlebt wegen der regelmäßigen Rotation der Ministerialbeamten kaum einer die Umsetzung der von ihm in Brüssel verhandelten Richtlinie. Zwei analytische Kategorien für die empirische Untersuchung bieten sich an neben dem durch den Europäischen Gerichtshof wiederholt, auch gegenüber der Bundesrepublik Deutschland durchgesetzten Zwang zu Verbindlichkeit und Publizität des Rechtsaktes: die Frist und die Fonn der Transfonnation. Die vorherrschend exekutive Abwicklung der Richtlinienumsetzung, die sich in der Regel frei von parlamentarisch-politischen Vorgaben vollziehen kann, erfährt dennoch ihr größtes Problem in der Einhaltung der Fristen. Die Umsetzung einer Richtlinie innerhalb der meist üblichen Frist von 18 Monaten erfolgte im Fall der untersuchten Richtlinien im Durchschnitt nur bei der Hälfte der Mitgliedstaaten. Die Gründe für eine verspätete oder überhaupt nicht erfolgte Umsetzung lassen sich trotz der Vielfalt der Einzelfälle in zwei Kategorien gliedern. Die erste Kategorie umfaßt die Fälle einer Verletzung der Umsetzungspflicht, die auf innerstaatlichen Verfahrensschwierigkeiten beruhen. Hierzu können die Kompetenzkonflikte zwischen der belgischen Zentralregierung und den Regionen ebenso wie die generelle Schwerfälligkeit der italienischen Gesetzgebung oder die etwa in Griechenland fehlende administrative Kapazität in professioneller und technischer Hinsicht gerechnet werden. Die Autorität des Gemeinschaftsrechts erleidet nicht zuletzt dadurch Schaden, daß die Richtlinienumsetzung ganz überwiegend aus dem parlamentarischen Ge-
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setzgebungsverfahren herausgehalten wird und durch Exekutivrechtsetzung erfolgt. In einer Reihe von Mitgliedstaaten hat die Exekutive weitgehende Rechtsetzungsbefugnisse im Bereich der europäischen Rechtsharmonisierung aufgrund spezieller Rahmenermächtigungen. Zu diesen Staaten gehören Belgien, Griechenland, Irland und Luxemburg. In Italien wird seit 1989 ein neuartiges parlamentarisches Verfahren praktiziert, bei dem eine Bündelung der umzusetzenden Richtlinien erfolgt. Die Parlamente haben zwar die Gefahr einer schleichenden Entmachtung durch die Umsetzungspraxis erkannt, aber generell ist das parlamentarische Interesse am europäischen Integrationsprozeß eher gesunken als gewachsen. Die beiden irischen Häuser des Parlaments haben sich als Ausdruck parlamentarischer Souveränität in dem Ermächtigungsstatut das Recht vorbehalten, die Exekutivrechtsetzung zu annullieren, wenn diese durch den Rahmen der gesetzlichen Ermächtigung nicht mehr gedeckt ist. Von den sechzehn Richtlinien aus dem Speyer-Maastricht-Projekt, die einer rechtsförmlichen Umsetzung in einzelstaatliches Recht bedurften, wurden in Belgien und Luxemburg neun, in Irland zehn und in den Niederlanden sogar dreizehn Richtlinien im Wege der Exekutivrechtsetzung umgesetzt. Eine Ausnahme bildet hier nur die Bundesrepublik, in der sieben Richtlinien im Wege eines parlamentarischen Gesetzgebungsverfahrens umgesetzt wurden. Die Tatsache, daß fünf Richtlinien nicht in das bundesdeutsche Recht zu transformieren waren, da das bestehende Recht den Richtlinieninhalt bereits abdeckte, kann einerseits als Ausdruck der Regelungsdichte, aber andererseits auch als Indiz für das geschilderte Vorbringen von nationalen Regelungsinitiativen auf Gemeinschaftsebene gewertet werden. I? Richtlinien können das mit ihnen verfolgte Harmonisierungsziel nur erreichen, wenn von dem einzel staatlichen Instrument der Umsetzung eine unzweifelhafte Bindungswirkung ausgeht und die Publizität der Umsetzungsmaßnahme gesichert ist. Es ist unbestritten, daß die Änderung einer Verwaltungspraxis diesen Grundsätzen nicht gerecht wird, auch nicht unter dem Aspekt der "Selbstbindung der Verwaltung". Die Handhabung einer bestimmten Verwaltungspraxis, deren Änderung im Ermessen der Verwaltung liegt, vermittelt weder die Rechtssicherheit noch die Rechtsklarheit, die der Prozeß der europäischen Rechtsangleichung erfordert. Insbesondere bei Richtlinien, die Angehörigen anderer Mitgliedstaaten Ansprüche verleihen (z. B. Niederlassungsfreiheit), ist an die Umsetzungsmaßnahme die Anforderung zu stellen, daß die Begünstigten in die Lage versetzt werden, von ihren Rechten Kenntnis zu erlangen und diese durchzusetzen. Ähnliche Zweifel an der ausreichenden Bindungs- und Publizitätswirkung erwachsen bei einer Umsetzung durch Verwaltungsvorschriften, die nur eine verwaltungsinterne Bindung hinsichtlich der Entscheidungspraxis aussprechen. Zu der Kategorie der Verwaltungsvorschriften gehört ebenfalls der im französischen Rechtskreis anzutreffende "circulaire", der im Prinzip lediglich eine Kommentie17 Martin Westlake, The European Parliament, the National Parliaments and the 1996 Intergovernmental Conference, in: The Political Quarterly 1995, S. 59 ff.
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rung und Erläuterung von Rechtsvorschriften gegenüber nachgeordneten Dienststellen enthält, aber in der Praxis rechtsetzende Formen angenommen hat und klassische Regelungsinstrumentarien ersetzt. Eine Richtlinienumsetzung mittels des "circulaire" findet sich neben Frankreich häufig in Belgien und Italien. In dem Beispiel der Speyer-Maastricht-Untersuchung beanstandete die Kommission gegenüber Italien den Gebrauch des "circulaire" bei der Umsetzung der Richtlinie 791116 EWG. Die italienische Regierung konnte jedoch in den Verhandlungen mit der Kommission nachweisen, daß aufgrund des bereits bestehenden einzelstaatlichen Rechts eine normenkonkretisierende Verwaltungsanweisung die Richtlinienanwendung gewährleisten könnte. Die Kommission hat sich angesichts ihrer Erfahrungen mit der Umsetzungspraxis neuerdings einer Politik zur Erhöhung der Transparenz von Umsetzungsmaßnahmen verschrieben. Auf Vorschlag des Europäischen Parlaments fügt die Kommission zu diesem Zweck in ihre neuen Richtlinienvorschläge eine Bestimmung ein, wonach die Mitgliedstaaten verpflichtet sind, in ihren einzelstaatlichen Durchführungsvorschriften ausdrücklich auf die entsprechenden Richtlinien zu verweisen. Eine derartige Verweisung enthielt paradoxerweise bislang nur der französische "circulaire". Die Umsetzung der Trinkwasser-Richtlinie (80/778/EWG) ist in allen Mitgliedstaaten auf erhebliche Schwierigkeiten gestoßen: Die Zuständigkeiten auf Regierungsebene sind in der Regel auf das Umwe1t-, auf das Gesundheits- und auf das Landwirtschaftsministerium verteilt, mit ganz unterschiedlichen Zielen in den Ressorts. Die terminologischen Unsicherheiten und die Vielzahl der Parameter machten bereits die textliche Transformation zu einem umständlichen Vorhaben. Eine Reihe von Ausnahmebestimmungen mögen den unterschiedlichen Interessen dienen, verunsichern aber den wirksamen Vollzug. Die Adressaten der Richtlinie werden nicht deutlich; die Vielzahl der Akteure und Vollzugsorgane läßt den Grad der Vollziehung im einzelnen Mitgliedstaat oder im Vergleich der Mitgliedstaaten nicht mehr erkennbar werden.
4.4 Verwaltungsmäßiger Vollzug von Gemeinschaflsrecht
Der verwaltungsmäßige Vollzug von Gemeinschaftsrecht unterfällt ausschließlich der mitgliedstaatlichen Zuordnung der Verwaltungskompetenzen und Ausgestaltung des Verwaltungsverfahrens. Im Vergleich zwischen den Mitgliedstaaten zeigt sich dabei eine "Gemeinschaftsferne" der Vollzugsverwaltungen. Es sind die Außendienste der Zentral verwaltungen, die regionalen und lokalen Verwaltungsbehörden, die das Gemeinschaftsrecht im Rechtsalltag anzuwenden haben, aber von der integrationspolitischen Intention dieser Maßnahme oft keine direkte Kenntnis haben. In der Alltagsroutine der Verwaltung gerät der gemeinschaftsrechtliche Ursprung damit oft in Vergessenheit.
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Das Ergebnis des Speyer-Maastricht-Projekts, wonach in den Mitgliedstaaten Gemeinschaftsrecht in gleicher Weise wie nationales Recht angewandt wird, weder vollkommener, aber auch nicht mit spezifischen Vollzugsdefiziten, entspricht der angedeuteten Nonnalität des Vollzuges europäischer Rechtsetzung. Die Einmütigkeit, mit der die Länderberichte dieses Ergebnis teilen, kann angesichts einer verbreiteten Gegenansicht als überraschend gelten. Für Frankreich wurde noch in der Vorstudie die Beobachtung wiedergegeben, daß die Verwaltung sich gegenüber dem Gemeinschaftsrecht zögerlich verhält und dieses gegenüber nationalem Recht diskriminiert. Vorbehalte der Verwaltung erklärten sich danach aus dem Entstehungsprozeß von Richtlinien und Verordnungen, die als Ergebnis eines internationalen Verhandlungsregimes nicht die gleiche Wertigkeit hätten, wie das sich aus der Souveränität des Staates ableitende einzelstaatliche Recht. Zu der gegenteiligen Auffassung, die den Gemeinschaftsrechtsvollzug als Teil der einzelstaatlichen Vollzugsnonnalität erfaßt, kam Yves Meny, der eine latente Ablehnung gegenüber dem europäischen Integrationsprozeß innerhalb einiger politischer Kreise und des Conseil d'Etat ausmachte, aber nicht in der ganz überwiegend europafreundlichen Verwaltung. Inzwischen hat der Conseil d'Etat seinen abweichenden rechtlichen Standpunkt korrigiert. Ebenfalls unterschiedslos zum rein nationalen Recht werden von der britischen Verwaltung Vorschriften mit europäischem Ursprung angewandt. Es entspricht dem ausgeprägten Neutralitätsverständnis sowie der Loyalität gegenüber dem Recht unter den britischen öffentlichen Bediensteten, daß die Beamten trotz der breiten Vorbehalte in Regierung und Öffentlichkeit sich auch in EG-Angelegenheiten nicht in ihrer professionellen Einstellung beirren lassen. Dies führt jedoch zu einer Verwaltungspraxis, die oft den EG-Hintergrund verheimlicht, ohne daß sich innerhalb der Politik, der Öffentlichkeit oder der Verwaltung selbst eine breite Zustimmung zu EG-Politiken entwickeln kann. Anwendungsschwierigkeiten beim Gemeinschaftsrecht haben zumeist die gleichen Ursachen, die sich bei der rein nationalen Gesetzgebung ergeben. Die Ausstattung der öffentlichen Verwaltungen der Mitgliedstaaten mit personellen, technischen und finanziellen Ressourcen bestimmt dabei in einem wesentlich erheblicheren Ausmaß das Anwendungsergebnis als der hauptsächlich auf politischer Ebene gemachte Unterschied zwischen nationaler und EG-Politik. Diese Feststellung wird von der Tatsache bestätigt, daß Gemeinschaftsrechtsetzung von hoch entwikkelten Verwaltungssystemen ausgeht mit einem entsprechenden Qualifikationsprofil des Personals und der erforderlichen technischen Infrastruktur. Es ist daher auch nicht verwunderlich, daß die Länder mit einem hohen Verwaltungsstandard Anwendungsprobleme des Gemeinschaftsrechts nur ausnahmsweise auf Ressourcenprobleme zurückführen. Bei dem Vollzug oder Nicht-Vollzug der Trinkwasser-Richtlinie in den Mitgliedstaaten wirkt sich aus, daß sie in Inhalt und Regelungsmechanismen noch aus den 70er Jahren stammt, daß sie die Landwirtschaft als einen Hauptverursacher der
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Trinkwasserverschmutzung nicht berücksichtigt hat und daß sie mit regulativen Instrumenten und einer Vielzahl von technischen Parametern arbeitet, statt durch Anreize umweltschonendes Tätigwerden hervorzurufen. Die detaillierte Verhaltenssteuerung setzt auf Rechtsgehorsam, statt auf ökonomische Instrumente und Eigenmotivation. Damit wird zugleich ein Verwaltungs- und Kontrollaufwand auf der Vollzugsebene ausgelöst, der auch in den Mitgliedstaaten mit selbständiger Umweltpolitik nicht geleistet werden kann. Diese Art Ordnungsrecht setzt ein flächendeckendes Kontroll- und ein funktionierendes Sanktionssystem voraus, das vor allem in den übrigen Mitgliedstaaten nicht vorhanden ist.
4.5 Kontrolle des Vollzugs von Gemeinschaftsrecht
Die Kontrollpraxis im Hinblick auf die Anwendung des Gemeinschaftsrechts vollzieht sich wiederum im Zusammenspiel zwischen europäischen Institutionen und einzelstaatlichen Verwaltungen und Gerichten. Zum wirkungsvollen Instrument hat sich dabei das Vertrags verletzungs verfahren entwickelt, das die Kommission seit 1977 systematisch gegenüber den Mitgliedstaaten einsetzt. Bereits die erste Stufe im Vertragsverletzungsverfahren, das Mahnschreiben der Kommission an den Mitgliedstaat, veranlaßt die Empfänger in einem Großteil der Fälle zum Tätigwerden, um den mit einem Verfahren vor dem EuGH verbundenen Aufwand zu vermeiden. Die Ergebnisse des Speyer-Maastricht-Projekts spiegeln in dieser Hinsicht die Wirksamkeit der offensiveren Kontrollpraxis wider. Vertragsverletzungsverfahren haben allerdings im wesentlichen nur Verstöße der Mitgliedstaaten gegen die formelle Umsetzungspflicht zum Gegenstand. Dem britischen Bericht zufolge vermittelte die Kommission damals nicht den Eindruck, daß sie daran interessiert ist, wie genau und mit welcher Rechtswirkung Richtlinien angewandt werden. Diese Kritik verdeutlicht die institutionellen Grenzen der Kommission, der zwar als Hüterin der Verträge weitreichende Aufsichtsbefugnisse gegenüber den Mitgliedstaaten zukommen, die aber in dem zentralisierten Aufbau der Gemeinschaft von der Verwaltungsrealität in den Mitgliedstaaten teilweise abgeschnitten ist. Als Instrument einer zentralen Kontrolle sind dem Vertragsverletzungsverfahren durch den Gemeinschaftsaufbau strukturell Grenzen gesetzt. Ansprechpartner der Kommission sind in erster Linie die einzelstaatlichen Ministerialverwaltungen. Diese haben, wie etwa im Beispiel der französischen Zentral verwaltung, selbst Informationslücken im Hinblick auf die Verwaltungspraxis der nachgeordneten Außendienste auf Departementsebene. In den Mitgliedstaaten ist die Anwendungskontrolle organisatorisch grundsätzlich innerhalb der Ministerialverwaltungen bei den mit einer europapolitischen Kompetenz ausgestatteten Ressorts konzentriert. Das SGCI hat in Frankreich neben seiner genannten Koordinationsfunktion eine übergreifende "Wächterfunktion" im Hinblick auf die aus der EG-Mitgliedschaft erwachsenden Vertragsverpflich-
Umsetzung und Anwendung des Gemeinschaftsrechts in den Mitgliedstaaten
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tungen. Aus der europapolitischen Koordinationsfunktion erwächst gleichfalls die Zuständigkeit des SGCI bei gegen Frankreich gerichteten Vertragsverletzungsverfahren. Im Gegensatz zur französischen Kompetenzverteilung fallen in anderen Mitgliedstaaten die Kontrollbefugnisse nicht in den Bereich des mit einer europapolitischen Allgemeinzuständigkeit ausgestatteten Ressorts, sondern verbleiben in den auf bestimmte Gebiete der EG-Politik spezialisierten Fachverwaltungen. So sind in Belgien die für die Ausarbeitung und Umsetzung einer Richtlinie verantwortlichen Fachbeamten ebenso für deren Kontrolle zuständig. Insgesamt hat die Politik der systematischen Verfolgung von Verstößen gegen die Umsetzungspflicht zu einem starken Anstieg der Vertragsverletzungsverfahren geführt, die ohne nennenswerten Personalzuwachs zu bewältigen sind. Fehlende personelle Ressourcen sowohl bei der Kommission als auch in den Mitgliedstaaten sind ein weiterer Grund für die Tatsache, daß die Anwendungskontrolle sich auf eine Umsetzungskontrolle reduziert und nur in Ausnahmefällen dem tatsächlichen Vollzug einer Gemeinschaftsmaßnahme nachgegangen wird. Wieweit das Vertragsverletzungsverfahren die Kapazitäten bei der EG-Kommission und den einzeIstaatlichen Verwaltungen auslastet und damit Teil der Europapolitik geworden ist, verdeutlichen ebenfalls die Ergebnisse im 11. Kommissionsbericht vom Juni 1994 an das Europäische Parlament und an die Mitgliedstaaten: 1993 wurden 1.209 Verfahren eröffnet, 352 begründete Stellungnahmen abgegeben, 44 Verfahren vor dem EuGH eröffnet. Allein bei der Richtlinie 79/267 EWG ist gegen sieben Mitgliedstaaten der Zehner-Gemeinschaft zumindest ein Mahnschreiben ergangen. Im Durchschnitt leitete die Kommission bei den sechzehn in förmliches Recht umzusetzenden Richtlinien gegen drei Mitgliedstaaten ein Vertragsverletzungsverfahren ein. Bezogen auf die Mitgliedstaaten richteten sich die meisten Verfahren gegen Italien (elf). Die als europakritisch geltenden Länder Dänemark (vier Verfahren) und Großbritannien (zwei Verfahren) haben sich durch eine vertragskonforme Umsetzungspraxis ausgezeichnet. Mit der vor diesem Hintergrund erhobenen Forderung nach Verfahren der "dezentralen Kontrolle" soll den strukturellen Grenzen des Vertragsverletzungsverfahrens, die sich überdies in der wachsenden Zahl von Fällen der Nichtbeachtung in Verstoßverfahren ergangener Urteile des EuGH widerspiegeln, Rechnung getragen werden. Ehlennann sieht in der Direktwirkung der Richtlinien, dem Vorrang des Gemeinschaftsrechts sowie dem Zusammenwirken von nationalen Gerichten und EuGH über das Vorabentscheidungsverfahren die Grundelemente zur Stärkung der "dezentralen Kontrolle".18 Eine über die europäischen Fachkreise hinausgehende Kenntnis des Gemeinschaftsrechts sowie eine durchgehende Akzeptanz der Integrationsziele können als weitere Voraussetzungen einer wirkungsvollen Dezentralisierung der Umsetzungs- und Kontrollpraxis hinzugefügt werden. Zum Abschluß dieser Darstellung mag von Interesse sein, wie die Kommission in ihrem 11. Bericht an das Europäische Parlament über die Kontrolle der Anwen18
Vgl. Ehlermann, Anm. 5.
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dung des Gemeinschaftsrechts - 1993, in dem immer noch regulativen Umweltbereich die wesentlichen Mängel in der Umsetzung und Anwendung des Gemeinschaftsrechts in den Mitgliedstaaten auflistet: 19 (1) Die Nichtmitteilung der einzel staatlichen Durchführungsmaßnahme führte zu 90 zugestellten Mahnschreiben nach Art. 169 EGV, 26 begründeten Stellungnahmen und 7 Klagen beim EuGH. (2) Die Nichtübereinstimmung der einzelstaatlichen Durchführungsmaßnahmen mit dem Gemeinschaftsrecht, zum Beispiel in Deutschland eine Umsetzung über Rundschreiben der Verwaltung, insbesondere im Bereich des Gewässerschutzes. (3) Die Nichtanwendung der Richtlinien, zum Beispiel in Deutschland bei den Richtlinien zu Abfällen und zur Wasserqualität. Der Bericht enthält aber nicht nur Kritik, sondern entwirft auch neue Instrumente und Kooperationsformen, zum Beispiel "Dialoggruppen" zur besseren Vorbereitung und Koordinierung der Maßnahmen, zur praktischen Weiterverfolgung und strikteren Einhaltungsprüfung. In sog. "Paketsitzungen" werden zwischen der Kommission und dem einzelnen Mitgliedstaat alle Vertragsverletzungen auf einem bestimmten Gebiet erörtert (Art. 30 EG-Vertrag, Landwirtschaft, Umweltschutz, indirekte Steuern). Denn hinter dieser eher verschleiernden Bürokratensprache mögen sich praktische Verbesserungen für die Umsetzung und Anwendung des Gemeinschaftsrechts in den Mitgliedstaaten verbergen. Eher diplomatisch als realistisch ist auch die zusammenfassende Würdigung des Berichts: "In einigen Schlüsselbereichen der gemeinschaftlichen Tatigkeit hat sich die Lage für eine bessere Einhaltung des Gemeinschaftsrechts spürbar verbessert." Immer noch bestehen in den deutschen Landesverwaltungen einige Schwierigkeiten, die Kontrolltätigkeit der Brüsseler Kommission oder des Europäischen Rechnungshofes zu akzeptieren.
5. Abschluß In einer Rechtsgemeinschaft, die eine immer engere Union der Völker Europas anstrebt, ist die fristgerechte, vollständige und getreue Umsetzung und Anwendung des Gemeinschaftsrechts in den Mitgliedstaaten notwendig. Die weitere Verbesserung in der Umsetzung und Anwendung des Gemeinschaftsrechts ist vor allem eine Aufgabe der Mitgliedstaaten und ihrer Verwaltungen, in Deutschland insbesondere auch der Länder. Diese haben über Art. 23 GG ein mehr an Beteiligung, aber auch ein mehr an Verantwortung erhalten. 19 Elfter Jahresbericht an das Europäische Parlament über die Kontrolle der Anwendung des Gemeinschaftsrechts - 1993, in: Amtsblatt der EG 94/154/42.
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Im Mai 1993 sagte auf der Abschlußveranstaltung des I. Führungskollegs Speyer der frühere Botschafter bei der EG, Wemer Ungerer: "Vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen Kommission und nationalen Verwaltungen ist ein Stück integrationsfördemder Partnerschaft. Leider ist diese Zusammenarbeit oft von Mißtrauen geprägt und zwar umso mehr je weniger sich die Partner kennen."
Die Projektforschungen und die Fortbildungen zur europäischen Integration in der Hochschule Speyer sollen gegenseitiges Kennen und Verstehen vermitteln und damit dieses Mißtrauen abbauen. Deshalb haben wir zum Beispiel die Trinkwasser-Richtlinie nach den Ergebnissen unseres Forschungsprojektes in ein Planspiel umgebaut, in dem realitätsnah die Prozesse der Rechtsvorbereitung, der Rechtsetzung dieser Richtlinie, ihrer Transformation und der Rechtsanwendung in den Mitgliedstaaten simuliert werden. Dies ist ein Beitrag der Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer zur europäischen Integration und zur Zusammenarbeit der Verwaltungen der Mitgliedstaaten.
Diskussion zu den Referaten von Gerhart Holzinger und Heinrich Siedentopf Leitung: Siegfried Magiera Bericht von Gerd Eckstein Regierungsdirektor Wolfgang Grötsch, Mainz, eröffnete die Fragerunde mit der Einschätzung, daß Zwangs gelder, die bei Nichtbeachtung von europäischen Regelungen gegenüber den Mitgliedstaaten erhoben werden, als Druckmittel dienen könnten, um den Regelungen mehr Durchsetzungskraft zu verleihen. Er schätzte weiterhin ein, daß die Länder letztlich die Hauptlast bei der Umsetzung von EURecht zu tragen hätten. An Dr. Holzinger gewandt, stellte er die Frage, welche Rolle der "Neutralitätsvertrag" bei der Diskussion um den Beitritt Österreichs zur EU gespielt habe und ergänzte, als "süffisantes Detail", die Frage, ob das Durchreiseverbot für die Mitglieder der Familie Habsburg noch gültig sei. Prof. Dr. Siedentopf und Dr. Hofzinger verständigten sich darauf, daß einige Wortmeldungen "gesammelt" werden sollten, um dann zusammenfassend antworten zu können. Ministerialrat lochem Schäfer, Wiesbaden, kam noch einmal auf den Artikel 23 der Verfassung Österreichs zurück. Er bezog sich dabei speziell auf das Kooperationsverhältnis zwischen Parlament und Regierung, das offensichtlich ein anderes als in der Bundesrepublik sei. Daraus ergebe sich die Frage, wie Kompromisse bei Verhandlungen in Brüssel möglich seien, wenn die Minister mit einem sehr begrenzten Handlungsspielraum dorthin fahren würden? Prof. Dr. Meinhard Hilf, Hamburg, wies darauf hin, daß die Entscheidung über den Beitritt Österreichs zur EU der Überprüfung des dortigen Verfassungsgerichtshofs praktisch entzogen sei. Darauf aufbauend stellte er an Dr. Hofzinger die Frage, was nach österreichischem Verständnis ein "ausbrechender Rechtsakt" sei und wer diesen im konkreten Fall feststellen müsse? Ministerialrat Hartmut Homickef, Schwerin, stellte fest, daß manche Regelung in Brüssel auf das Betreiben von Interessenverbänden hin entstehe. Er zitierte eine Zeitungsmeldung, wonach es demnächst eine europaweit einheitliche Regelung für Feuerwehrschutzanzüge geben solle. Die Umsetzung dieser Vorschrift sei jedoch mit enormen Kosten gerade für die Länder verbunden. Es stelle sich deshalb die berechtigte Frage, wie sich finanzschwache Länder vor derartigen Regelungen "schützen" könnten.
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Gerd Eckstein
Martina Köppen, Hamburg, wollte wissen, warum in Deutschland so viele Richtlinien (noch) nicht umgesetzt seien. Oberbürgermeister a. D. Wemer Hauser fragte sich ebenfalls, aus welchem Grund Deutschland das "Schlußlicht" bei der Umsetzung von EU-Richtlinien sei. Er stellte fest, daß die Kommunen bisher nicht an der Entscheidungsfindung in Brüssel beteiligt seien und leitete daraus die Forderung ab, die Einflußmöglichkeiten der deutschen Städte und Gemeinden auf europäische Entscheidungsprozesse auszuweiten. Ministerialrat Wolfgang Fischer, Bonn, relativierte die immens hohe Zahl an Richtlinien, die Deutschland (noch) nicht umgesetzt habe mit der Feststellung, daß darunter allein zehn Richtlinien seien, die das öffentliche Auftragswesen zum Inhalt haben. An Dr. Holzinger stellte er die Frage, in welchem Umfang der Nationalrat Stellungnahmen abgebe bzw. ob es dafür einen speziellen Unterausschuß bereits gibt oder zukünftig geben soll. Regierungsdirektor Walter Ortmeier, Ansbach, fragte nach dem Vorrang des europäischen Rechts gegenüber dem nationalen Verfassungsrecht bzw. der (Nicht-) Existenz von entsprechenden Schranken. In diesem Zusammenhang verwies er auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ("Solange 1-" und "Solange 11Entscheidung" sowie Maastricht-Urteil). Dr. Hermann Franz, Mainz, appellierte zum Abschluß an die Länder, die die durch Art. 23 GG geschaffenen Möglichkeiten "ernst nehmen" sollten, d. h. sie müßten die gebotenen Gremien besetzen, um sich so Kanäle der Einflußnahme zu sichern. Prof. Dr. Siedentopfbegann seine zusammenfassende Antwort mit der Feststellung, daß es in der europäischen Praxis tatsächlich viele Beispiele gebe, die "bis zur Karikatur gereichen". Der Hauptkritikpunkt sei dabei der technokratische Aspekt, d. h. der Umstand, daß viele Regelungen ohne echte demokratische Kontrolle zustandekommen. Dieser Fakt sei durch empirische Studien belegt. In bezug auf Art. 23 GG sagte Prof. Dr. Siedentopf, daß der Hinweis von Herrn Dr. Franz berechtigt sei, allerdings müsse die Einflußnahme der Länder bereits im "informellen Bereich" stattfinden. Bezüglich der Rolle des Europäischen Parlaments, das zukünftig einen stärkeren Einfluß auf die Entscheidungsfindung innerhalb der EU nehmen werde, verwies Prof. Dr. Siedentopf auf den Vortrag von Prof. Dr. Hänsch, den dieser am Vorabend gehalten hatte. Dr. Holzinger widmete sich in seiner Antwort zuerst der Frage der Neutralität Österreichs. Natürlich hatte diese eine große Rolle in der Diskussion, die im Vorfeld des Beitritts zur EU stattfand, gespielt. Er stellte klar, daß der Staatsvertrag aus dem Jahre 1955 kein "Neutralitätsvertrag" sei. Der Status der Neutralität sei vielmehr in einem Verfassungsgesetz verankert und habe deshalb den Charakter einer "freiwilligen Erklärung". Aus juristischer Sicht müsse hinzugefügt werden, daß im Juli 1989 ein Brief nach Brüssel geschickt worden war, der im Falle des Beitritts ursprünglich einen
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Neutralitätsvorbehalt für Österreich reklamieren wollte. Von dieser Forderung wurde aber in der Folgezeit abgegangen - nicht zuletzt in Erkenntnis der Tatsache, daß dem Europarecht ein Vorrang gegenüber dem Verfassungsgesetz zukäme. Dem Neutralitätsverständnis Österreichs stehe keineswegs entgegen, daß das Land aktiv an der Gestaltung der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) mitwirken wird, z. B. bei Embargomaßnahmen gegenüber Drittstaaten. In diesem Kontext verwies Dr. Holzinger auf die "flankierende Verfassungsnovelle" - und hier besonders auf Art. 23 f der Österreichischen Verfassung. In bezug auf die Familie Habsburg führte er aus, daß sich diese Frage vor mehr als 70 Jahren gestellt habe. Er bestätigte, daß es ein Verfassungsgesetz über die Landesverweisung der Familie Habsburg-Lothringen gebe, das besagt, daß die Mitglieder dieser Familie erst dann nach Österreich einreisen dürfen, wenn sie vorher eine Erklärung zum Herrschaftsverzicht abgegeben haben. Otto von Habsburg habe dieser Forderung in den 60er Jahren entsprochen, wohingegen "zwei ältere Herren" dies bis heute ablehnten. Im übrigen kollidiere diese Regelung nach Meinung von Dr. Holzinger nicht mit europäischem Recht. In einem zweiten Teil seiner Antwort bestätigte Dr. Holzinger, daß die Ratsmitglieder in Österreich stärker als in Deutschland an den Willen des Nationalrates gebunden seien. Als Beleg für diese Feststellung nannte er Art. 23 e der Verfassung Österreichs, speziell Satz 2. Sicherlich sei das in einigen Fällen "etwas umständlich". Der Nationalrat habe im Jahre 1995 in rund 20 Fällen Stellungnahmen abgegeben, worunter sich ein "Problemfall" befand. Hierbei handelte es sich um eine Tierschutz-Richtlinie, die in Brüssel nicht mehrheitsfähig war. Dr. Holzinger bestätigte, daß ein Unterausschuß für diese Fragen gebildet werden soll - eine diesbezügliche Änderung der Geschäftsordnung stehe bevor. Dr. Holzinger betonte noch einmal die schrankenlose Gültigkeit des Gemeinschaftsrechts gegenüber dem nationalen Recht, wenngleich Fragen nach vorhandenen Integrationsschranken auch in Österreich Gegenstand der öffentlichen Diskussion waren und sind. Mit dem Beitritt Österreichs zur EU habe das Land das Gemeinschaftsrecht vorbehaltlos übernommen. Sollte es in Zukunft jedoch zum Erlaß von Sekundärrechtsakten auf europäischer Ebene kommen, die über die Verpflichtungen des Beitrittsvertrags hinausgehen, so könnte es sein, daß sich die staatlichen Organe Österreichs nicht daran gebunden fühlen. Diesbezüglich nannte er "Gravität und Evidenz" des entsprechenden Verstoßes als entscheidende Kriterien, um über seine eventuelle Nichtigkeit zu entscheiden. In Erwiderung auf Prof. Dr. Hilf erklärte Dr. Holzinger abschließend, daß es in Österreich keine Monopolisierung der Überprüfungskompetenz von Gemeinschaftsrecht beim Verfassungsgerichtshof gebe.
9 Magiera/Siedentopf
Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres Bilanz und Perspektiven 1
Von Klaus-Peter Nanz Die Erfahrungen und Ergebnisse der Zusammenarbeit im Bereich Inneres und Justiz nach Titel VI des EU-Vertrages seit dessen Inkrafttreten am 1. November 1993 sind sowohl positiv wie negativ. Positiv sind die Fortschritte vor allem bei der Harmonisierung in den Bereichen Visa, Asyl und Einwanderung; negativ haben sich demgegenüber bestimmte Konstruktionsschwächen dieses sog. Dritten Pfeilers ausgewirkt. Die vorliegende, geraffte Bilanz soll Herkunft und ausgewählte Ergebnisse der Zusammenarbeit verdeutlichen und auf notwendige Verbesserungen bei der am 29. März 1996 eröffneten Regierungskonferenz zur Revision des Vertrages von Maastricht hinweisen.
I. Der Zusammenhang der Dritten Säule mit den Bemühungen zur Herstellung der Personenfreizügigkeit
Historisch gesehen ist die "Dritte Säule von Maastricht", die in Artikel K EUVertrag vereinbarte Zusammenarbeit in der Innen- und Justizpolitik, ein Produkt der Bemühungen, im Rahmen der Vollendung des Binnenmarktes nach Artikel 7a (früher 8a) EG-Vertrag auch die Personenfreizügigkeit voll herzustellen. Einen ersten Impuls erhielten die Arbeiten durch den Auftrag des Europäischen Rates in Fontainebleau im Juni 1984, einen Bericht über das Europa der Bürger zu erstellen. Dieser Bericht, nach dem Vorsitzenden des zuständigen Gremiums Adonnino-Bericht genannt, enthielt eine Fülle von Vorschlägen und befaßte sich auch intensiv mit der Frage einer Abschaffung der Kontrollen an den Binnengrenzen, ohne aber zu einer eindeutigen Empfehlung in diesem Sinne zu gelangen. 2 1 Die Ausführungen geben die persönliche Meinung des Verfassers wieder. Der Vortragsstil wurde beibehalten. 2 Vgl. Europa der Bürger - Berichte des Ad-hoc-Ausschusses für das Europa der Bürger an den Europäischen Rat, hrsg. vom Auswärtigen Amt, Bonn 1985, insbes. S. 10-12; der Bericht hebt auf den großen Umfang der noch zu treffenden Ausgleichsrnaßnahmen ab und empfiehlt unterdessen, "unverzüglich alle Anstrengungen im Hinblick auf eine Erleichterung des Grenzverkehrs für die Bürger Europas" zu unternehmen. Bei der Beratung des Berichts betonte der Europäische Rat in Brüssel (29.130. März 1985), "daß die Verwirklichung des
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Das Weißbuch der Kommission über die Vollendung des Binnenmarktes vom Juni 1985 enthielt die Forderung, die Personenkontrollen an den Binnengrenzen bis Ende 1992 vollständig abzuschaffen, und schlug dazu eine Reihe von Ausgleichsrnaßnahmen, namentlich in den Bereichen Einwanderung und Asyl, vor? Dieses Ziel und die vorgeschlagene Frist fanden durch die Einheitliche Europäische Akte Eingang in Artikel 8a EG-Vertrag, der das Ziel eines Binnenmarktes als Raum ohne Binnengrenzen, in dem auch der freie Personenverkehr gewährleistet ist, für den 1. Januar 1993 vertraglich festlegt. In einer begleitenden Erklärung zur EEA stellen die Mitgliedstaaten die besondere Bedeutung einer engen Zusammenarbeit im Einwanderungs- und Polizeibereich heraus. 4 Schon bald wurde deutlich, daß die Mitgliedstaaten die Bestimmungen unterschiedlich auslegten. Während die Kommission und die Mehrheit der Mitgliedstaaten, insbesondere alle Schengen-Staaten, Artikel 8a dahingehend verstanden, daß er die Aufhebung jeglicher Grenzkontrollen für alle Reisenden - und zwar EGBürger und Drittausländer - bedeute, betonte neben anderen Mitgliedstaaten insbesondere Großbritannien, daß die Freizügigkeit "gemäß den Bestimmungen des EG-Vertrages" anzuwenden sei. Danach gelte Artikel 8a lediglich für Gemeinschaftsbürger und sehe im weiteren die Aufrechterhaltung von Personenkontrollen bei Drittausländem vor, woraus sich keine Verpflichtung ergebe, die Kontrollen aufzuheben. In der Zwischenzeit hatte die Europäische Kommission eigene Anstrengungen hinsichtlich des freien Personenverkehrs und der Ausgleichsrnaßnahmen unternommen. 1985 legte die Kommission den Vorschlag für eine Richtlinie über die Aufhebung von Personenkontrollen an den Binnengrenzen vor, ohne jedoch Ausgleichsmaßnahmen zu erwähnen. Die Mitgliedstaaten erkannten bald, daß man sich vor einer Verabschiedung dieser Richtlinie auf die wesentlichen Ausgleichsrnaßnahmen würde einigen müssen. Deshalb wurde im Oktober 1986 die Ad-hocArbeitsgruppe "Einwanderung" geschaffen, und sie und die bereits bestehende Arbeitsgruppe "TREVI" wurden beauftragt, die erforderlichen Ausgleichsrnaßnahmen als Voraussetzungen für den Verzicht auf Grenzkontrollen an den Binnengrenzen zu schaffen. In diesen Gremien wurden die Grundsteine der Harmonisierung von Visa, Einwanderungs- und Asylpolitik sowie einer engeren polizeilichen und justitiellen Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten gelegt. 5
Ziels der Abschaffung der Grenzformalitäten mit den Erfordernissen der Terrorismus- und Drogenbekämpfung vereinbar bleiben muß" (a. a. 0., S. 46). 3 Vollendung des Binnenmarktes-Weißbuch der Kommission an den Europäischen Rat, Luxemburg 1985, Ziffern 47-56 (S. 14-16). 4 BGB!. 1986 II S. 1102, 1114 f. 5 Vg!. Nanz, Der 3. Pfeiler der Europäischen Union, integration 3/92, S. 128; de Lobkowicz, Intergovernmental Cooperation in the Field of Migration - From the Single European Act to Maastricht, in: The Third Pillar of the European Union, hrsg. v. J. Monar und R. Morgan, Brüsse11994, S. 99,107 f.
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In den Verhandlungen der Regierungskonferenz, die schließlich zum Vertrag von Maastricht führten, wurde bereits unter luxemburgischem Vorsitz im 1. Halbjahr 1991 deutlich, daß ein Vertrag über die Politische Union, der seinen Namen verdient, auch Bestimmungen über Gegenstände der Innen- und Justizpolitik enthalten muß. Den entscheidenden Anstoß für die Entwicklung hin zu den heutigen Vorschriften hat Bundeskanzler Kohl auf dem Europäischen Rat in Luxemburg am 28./29. Juni 1991 gegeben. In einer Initiative, die in den Anhang der Schlußfolgerungen des Rates aufgenommen wurde, schlug der Kanzler die Erarbeitung von Bestimmungen über das Asylrecht und die Einwanderung sowie die Schaffung eines Europäischen Kriminalamtes (Europol) vor. Die Staats- und Regierungschefs erklärten sich mit den Zielsetzungen dieser Initiative einverstanden. 6 Mit dieser Vorgabe war zwar eine Festlegung der zu regelnden Gebiete erreicht, jedoch nicht die Definition der Rechtsform, in der die Mitgliedstaaten auf diesen Gebieten zusammenarbeiten sollen. Denkbar waren zwei Grundlösungen: die Übertragung der erforderlichen Kompetenzen von den Mitgliedstaaten auf die Gemeinschaft oder die Beibehaltung der intergouvernementalen Zusammenarbeit in den rechtlichen Formen, die das Völkerrecht bereitstellt. Die Position, die die Mitgliedstaaten hierzu in der Regierungskonferenz bezogen, spiegelte auch etwas von ihrem Verständnis der Union insgesamt wider, die hier entstehen sollte. Als Ergebnis der Verhandlungen wurde keine einheitliche Lösung, sondern ein Mischmodell festgelegt: Auf die EG wurden nur wenige, eng begrenzte Kompetenzen im Bereich der Visapolitik übertragen. Der weitaus größte Teil der Innenund Justizpolitik wird in intergouvernementaler Zusammenarbeit behandelt, jedoch eingegliedert in den einheitlichen institutionellen Rahmen der Europäischen Union, wie ihn Artikel C vorsieht. Der Zusammenhang der Dritten Säule mit der Personenfreizügigkeit kommt in der Einleitung von Artikel K.l EU-Vertrag zum Ausdruck. Dennoch hat die innenund justizpolitische Zusammenarbeit längst einen Eigenwert bekommen, der über die Schaffung von Ausgleichsmaßnahmen für die Abschaffung der Binnengrenzkontrollen hinausgeht. Einige dieser Bereiche sollen in der Folge dargestellt werden. Zunächst aber erscheint es sinnvoll, die rechtliche Natur der Zusammenarbeit in der Dritten Säule noch näher zu beleuchten.
11. Die rechtliche Natur der innen- und justizpolitischen Zusammenarbeit nach Titel VI EU-Vertrag
In vielerlei Hinsicht ist die innen- und justizpolitische Zusammenarbeit nach Titel VI EU-Vertrag ein Zwitter: Auf der einen Seite findet sie, wie bereits er6 Bulletin, hrsg. v. Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, v. 9. Juli 1991, Nr. 78/S. 625, 630.
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wähnt, entsprechend Artikel C Absatz I EU-Vertrag innerhalb des einheitlichen institutionellen Rahmens der Union statt. Dies gilt insbesondere für den Rat: Die Materien des Artikels K.l werden vom Rat in der Zusammensetzung der Innenund Justizminister entsprechend den Regelungen der Geschäftsordnung des Rates behandelt, dessen Sitzungen wiederum vom Ausschuß der Ständigen Vertreter (AStV) gemäß Artike1151 Absatz I EG-Vertrag vorbereitet werden. Zusätzlich ist aber gemäß KA Absatz I EU-Vertrag an der Vorbereitung der Ratsarbeiten ein Koordinierungsausschuß aus hohen Beamten ("K.4-Ausschuß") beteiligt, der wiederum von drei Lenkungsgruppen und zahlreichen Arbeitsgruppen unterstützt wird. 7 Die Rolle der übrigen Organe der EU ist im Vergleich zu ihrer Stellung im EGVertrag insgesamt schwächer ausgeprägt. Die Kommission ist zwar nach Artikel KA Absatz 2 EU-Vertrag in vollem Umfang an den Arbeiten in der Dritten Säule beteiligt, sie hat jedoch kein Initiativmonopol, sondern nur ein partielles KoInitiativrecht: Gemäß der Einleitung von Artikel K.3 Absatz 2 EU-Vertrag besteht für die Materien in Artikel K.l Nr. I bis 6 ein Initiativrecht sowohl der Kommission als auch jedes einzelnen Mitgliedstaates, während für Artikel K.l Nr. 7 bis 9 die Mitgliedstaaten ein Initiativmonopol haben. Der EuGH kann nur im Rahmen völkerrechtlicher Übereinkommen eine Zuständigkeit für die Auslegung der darin enthaltenen Bestimmungen und für Streitigkeiten über ihre Anwendung erhalten, und das auch nur, wenn in dem betreffenden Übereinkommen eine entsprechende Festlegung getroffen worden ist (Artikel K.3 Absatz 21it. c) a.E.). Diese Option hat, wie noch darzulegen sein wird, etwa im Rahmen der EuropolKonvention zu einer Verlängerung der Arbeiten an der Gesamtthematik um ein ganzes Jahr geführt, da Großbritannien wegen seiner GrundeinsteIlung zur Rolle des EuGH in der Dritten Säule zunächst eine entsprechende Vereinbarung strikt ablehnte. Auch beim Entwurf für ein Außengrenzübereinkommen ist die von der Kommission vorgeschlagene Auslegungskompetenz des EuGH einer der Hauptstreitpunkte, die bisher eine Unterzeichnung verhindert haben. Dem EP gesteht Artikel K.6 EU-Vertrag nur ein Unterrichtungs- und ein Anhörungsrecht zu den wichtigsten Aspekten der Tätigkeiten im 3. Pfeiler zu. Diese Vorschrift wird von den jeweiligen Ratspräsidentschaften unterschiedlich intensiv praktiziert. Von daher ist es nicht verwunderlich, daß das EP hier besonders energisch auf Verbesserungen drängt. Während also, wenn auch mit vielerlei Modifikationen, institutionell der Rahmen der Union benutzt wird, wird der andere Aspekt des Zwitters von den Rechtsformen gebildet. Da die Materien des Artikels K.l nicht in Gemeinschaftskompetenz überführt sind und Artikel K.8 Absatz I nicht auf Artikel 189 EG-Vertrag ver7 Vgl. zur Organstruktur im 3. Pfeiler Niemeier, The K.4 Cornrnittee and its Position in the Decision Making Process, in: lustice and Horne Affairs in the European Union, hrsg. v. Bieber und Monar, Brüsse11995, S. 321-331.
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weist, können die Rechtsfonnen des EG-Rechts, insbesondere Verordnung und Richtlinie, in der innen- und justizpolitischen Zusammenarbeit nicht verwendet werden. Von den in Artikel K.3 Absatz 2 genannten Rechtsbestimmungen sind nur die in lit. c) genannten völkerrechtlichen Übereinkommen stets rechtlich bindend. Gemeinsame Maßnahmen nach lit. b) sind zwar nach Auffassung der meisten Mitgliedstaaten rechtlich verbindlich, doch erzeugen sie keine der Richtlinie nach Artikel 189 Absatz 3 EG-Vertrag vergleichbare Bindung des Gesetzgebers. Diese Überlegungen haben nicht nur rechtstheoretische, sondern ganz erhebliche praktische Bedeutung. Ein Beispiel soll die Konsequenzen illustrieren, die sich aus dieser Rechtslage ergeben: Wenn eine Richtlinie über das Asylrecht erlassen werden soll, dann würde diese im Rat beschlossen. Darin wäre eine Frist vorgesehen, z. B. zwei Jahre, binnen derer der Inhalt in nationales Rechts transfonniert werden müßte. Zwei Jahre nach der Verabschiedung würde es - um bei dem Beispiel zu bleiben - zu einer verbindlichen Vereinheitlichung des Asylrechts aller Mitgliedstaaten kommen. Das wiederum ist nicht möglich, weil die Richtlinie in diesem Bereich keine Anwendung findet, sondern es muß ein Übereinkommen geschlossen werden. Das ist für den beschriebenen Fall so geschehen: Das Dubliner Asylübereinkommen wurde im Juni 1990 unterzeichnet und ist heute - über 6 Jahre später - erst von 10 der 12 Erstunterzeichner ratifiziert, und zwar bei einem Inhalt, der in den Mitgliedstaaten politisch unstreitig ist. Daraus läßt sich schlußfolgern: Solange die EU in diesem Bereich wesentlich auf die Instrumente des Völkerrechts angewiesen ist, wird es sehr schwierig sein, der Zusammenarbeit in der Innen- und Justizpolitik den Grad an Konkretheit und Verbindlichkeit und auch das Tempo zu geben, die angesichts der anstehenden Probleme notwendig wären.
111. Ergebnisse der Zusammenarbeit in ausgewählten Bereichen
Die Arbeiten in der 3. Säule haben einen weiten thematischen Umfang und inzwischen auch innerhalb der Ratsarbeiten eine große Quantität erreicht. Ein vollständiger Überblick über die bisher erzielten Ergebnisse würde den Rahmen dieses Beitrages sprengen. Daher soll sich die vorliegende Darstellung auf einige Kernbereiche beschränken.
1. Visapolitik
Im Unionsvertrag von Maastricht wurde erstmals eine Gemeinschaftskompetenz im Bereich der Innen- und Justizpolitik geschaffen, Artikel lODc EG-Vertrag. Allerdings umfaßt diese Vorschrift nicht die gesamte Visapolitik, sondern lediglich zwei Themen: in Abs. 1 die Liste der visapflichtigen Drittstaaten und in Abs. 3 die
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einheitliche Visagestaltung, womit die Visamarke gemeint ist. Alle anderen Elemente - sowohl bei der Visumpolitik wie bei den Einreisevoraussetzungen im allgemeinen - finden sich in Art. K.1 Nr. 3 EUV, d. h. im Rahmen des 3. Pfeilers. Dies bedeutet, daß für die beiden Elemente in Artikel 100c andere Verfahren anzuwenden sind, insbesondere das Initiativrecht anders geregelt ist. Und die voraussehbaren Friktionen dieser Aufspaltung der Visapolitik in einen Teil erster Pfeiler und in einen Teil dritter Pfeiler haben sich sehr schnell gezeigt. Die Kommission hat rasch Gebrauch gemacht von den beiden Ermächtigungen, die in Art. 100c EGVertrag enthalten sind, und Vorschläge für Verordnungen über die Liste der visapflichtigen Drittstaaten und einen für die Visamarke vorgelegt. Demgegenüber finden sich die Voraussetzungen und Rechtswirkungen eines einheitlichen Visums im Entwurf des EU-Außengrenzübereinkommens, also eines völkerrechtlichen Vertrages im Rahmen des 3. Pfeilers. 8 Die Kommission legte im Dezember 1993 einen Verordnungs vorschlag zur Bestimmung der Drittländer, deren Staatsangehörige beim Überschreiten der Außengrenzen der Mitgliedstaaten im Besitz eines Visums sein mußten, vor, der in seinem Anhang den damaligen Bestand der Schengener Negativliste, die in Schengen visapflichtigen Drittstaaten, enthielt und somit vorschlug, die Schengener Regelungen auf die Ebene der (damals) Zwölf zu übernehmen. 9 Bei den intensiven Beratungen über diese Liste ist man auf ein grundlegendes Problem gestoßen. Es betrifft die Methodik der Visaharmonisierung, genauer die dabei verfolgte Zielsetzung: Wenn eine vollständige Harmonisierung der Regelungen zur Visapflicht angestrebt wird, müßten alle EU-Staaten für sämtliche übrigen Staaten der Welt eine einheitliche Visaregelung - entweder Visapflicht oder Visafreiheit - haben. Eine dritte Liste unterschiedlicher Visaregelungen dürfte es - jedenfalls am Ende des Harmonisierungsprozesses - nicht mehr geben. Dies wäre idealerweise die Lösung, die eine voll harmonisierte Visapolitik schaffen würde. Ihr praktischer Nachteil liegt darin, daß sich die meisten Mitgliedstaaten auf eine so weitgehende Bindung, insbesondere bei den visafreien Staaten, nicht einlassen wollen. Außerdem sind die Divergenzen in den nationalen Visaregelungen noch zu groß. Die andere Lösung besteht in einer schrittweisen Harmonisierung, die zunächst die unterschiedlichen Regelungen akzeptiert. Damit entstünden konzentrische Kreise: Den Kern bildet die Liste der EU auf der Basis von Artikel 100c EG-Vertrag, ein Mindestbestand, auf den sich alle Mitgliedstaaten festlegen. Der zweite Kreis ist die Schengen-Liste mit weiteren Drittländern, die von den derzeit 10 Mitgliedstaaten, die dem Schengener Durchführungsübereinkommen beigetreten sind, 8 Vgl. zur EU-Visapolitik insgesamt Hailbronner, Visa Regulations and Third-Country Nationals in EC Law, in: CMLR 31 (1994), S. 969-995; Nanz, Visapolitik und Einwanderungspolitik der Europäischen Union, in: Europäische Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres, hrsg. v. Müller-Graf{. Baden-Baden 1996, S. 63-74. 9 ABI. 1994 Nr. C 11, S. 15. - Zum Inhalt des Vorschlages ausführlich Hailbronner, Migration Law and Policy Within the Third Pillar of the Union Treaty, in: Justice and Horne Affairs (s. Fn. 7), S. 95-126; ders., Visa Regulations a. a. 0., S. 978 ff.
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beachtet wird. Darüber hinaus behält jeder Mitgliedstaat das Recht, weitere Staaten der Visapflicht zu unterwerfen. Hiervon würde vor allem Frankreich Gebrauch machen. Der Verordnungsvorschlag der Europäischen Kommission vom Dezember 1993 versuchte, den ersten Weg zu gehen und auf der Basis der Schengener Negativliste eine vollständige Harmonisierung der Visapflicht bis zum 30. Juni 1996 zu erreichen. Dieser Ansatz hat sich aus den bereits geschilderten Erwägungen in den Beratungen nicht durchsetzen können. Vielmehr stützt sich die am 25. September 1995 verabschiedete Verordnung lO auf die zweite Methode, diejenige der konzentrischen Kreise. Sie legt eine Liste von 98 Staaten und 3 Gebietskörperschaften, die nicht von allen Staaten anerkannt werden, als für alle EU-Mitglieder verbindlich fest (Artikel I und Anhang). Die weitergehenden Festlegungen der Schengener Staaten bleiben unberührt (Artikel 6), und auch weitergehende nationale Regelungen sind zulässig (Artikel 2 Abs. 1). Die Verpflichtung zur weitergehenden Harmonisierung der Visapolitik entfällt. Weniger komplex als die Gestaltung der Visaliste war die Festlegung der einheitlichen Visagestaltung, d. h. der Visamarke. Durch Verordnung vom 29. Mai 1995 11 wurde die Schengener Visamarke für die Europäische Union übernommen. Sie entspricht hinsichtlich der Fälschungssicherheit höchsten internationalen Standards. Ihre Übernahme war möglich, weil die Symbolik auf der Marke von den Schengen-Staaten bewußt "euro-kompatibel" gewählt worden war. Leider ist der Wert der Visamarke derzeit noch auf die Erhöhung der Fälschungssicherheit beschränkt: Solange es kein für alle Mitgliedstaaten geltendes einheitliches Visum - wie in Schengen - gibt, sind die auf der Visamarke ausgestellten Visen lediglich herkömmliche nationale Visen. Auch insoweit ist Schengen weiter als die EU. In ihrem Vorschlag für die Visaliste hatte die Kommission vorgesehen, daß die Mitgliedstaaten ein Visum, das einer von ihnen einem Staatsangehörigen eines Drittlandes auf der Liste erteilt, anerkennen, so daß dieser jeweils nur ein Visum für alle EU-Staaten benötigt. Die meisten Mitgliedstaaten haben dem entgegengehalten, eine solche Regelung ist von Artikel lOOc nicht gedeckt, vielmehr müsse eine solche Frage auch weiterhin im Außengrenzübereinkommen 12 geregelt werden. Da dieses Übereinkommen bekanntermaßen seit Juli 1991 durch den Streit 10 VO (EG) Nr. 2317/95 zur Bestimmung der Drittländer, deren Staatsangehörige beim Überschreiten der Außengrenzen der Mitgliedstaaten im Besitz eines Visums sein müssen (ABI. 1995 Nr. L 234, S. 1). 11 VO (EG) Nr. 1683/95 über eine einheitliche Visagestaltung (ABI. 1995 Nr. L 164, S. 1). 12 Kommissionsentwurf mit den vor allem durch das Inkrafttreten des EU-Vertrages bedingten Modifikationen in ABI. 1994 Nr. C 11 S. 6 - Zum Inhalt des Vorschlages O'Keeffe, The Convention on the Crossing of the Extemal Borders of the Member States, in: De Schengen a Maastricht: voie royale et course d'obstacles, hrsg. v. Pauly, Maastricht, 1996, S. 33-
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zwischen Großbritannien und Spanien über die Durchführung der Außengrenzkontrollen in Gibraltar blockiert ist, ohne daß Aussicht auf eine baldige Lösung bestünde, bleibt auch das Kernstück der Visapolitik blockiert. Damit ist das gesamte Dilemma der Regelung des Art. 100c EGV sichtbar geworden. Bisher sind zwei Einzelfragen geregelt: eine Liste, aus der im Moment noch keine praktischen Konsequenzen folgen, und eine Visamarke, die den äußeren Anschein erweckt, ein EU-Visum zu sein, aber im jetzigen juristischen Stadium ein strikt nationales Visum ist (mit Ausnahme der Schengen-Staaten, die als Schengen-Visum das gleiche Muster verwenden). Die Erteilungsvoraussetzungen wie die Wirkungen des Visums finden sich im dritten Pfeiler, zwei Ermächtigungen im ersten Pfeiler, die aber leider praktisch noch nicht das bringen, was sie bringen könnten, wenn auch die übrigen Elemente angenommen wären. Daraus drängt sich die Folgerung auf, daß es eine der wichtigsten Aufgaben in diesem Fachgebiet für die Regierungskonferenz sein wird, die Gesamtheit der Visapolitik in Gemeinschaftszuständigkeit zu überführen. Diese Aussage enthält zwei Elemente: Erstens muß die Visapolitik wieder als fachliches Ganzes zusammengebracht werden. Es müssen Voraussetzungen, Rechtswirkungen und äußere Visagestaltung wieder auf eine einzige Rechtsgrundlage gestellt werden. Zweitens besteht aufgrund der Schengen-Regelungen soviel Substanz, die für alle Mitgliedstaaten akzeptabel sein müßte, daß auch aus diesem Blickwinkel die Visapolitik für die Vergemeinschaftung reif ist. All dies ist eine Konsequenz, die sich fast als zwingend aus den bisherigen Erfahrungen ergibt.
2. Asylrecht
Von allen in Artikel K.I genannten Bereichen hat das Asylrecht sowohl vor wie seit dem Inkrafttreten des Vertrages von Maastricht die konkretesten und weitestgehenden Resultate erbracht. 13 Das hat zwei Gründe: Der erste Grund ist, daß der sehr starke Zustrom von Asylbewerbern und Flüchtlingen aus den verschiedensten Weltgegenden ein Problem ist, das die meisten Mitgliedstaaten gemeinsam haben. 14 Es gibt im Moment keinen Mitgliedstaat ohne nennenswertes Problem in diesem Bereich, vielleicht mit Ausnahme von Irland. Kein Staat in Europa ist davon stärker betroffen als Deutschland: 1995, zwei Jahre nach Inkrafttretens des Asylkompromisses, hatte die Bundesrepublik noch etwa 128.000 Asylbewerber. Dazu kamen über 350.000 Bürgerkriegsflüchtlinge, insbesondere aus Bosnien-Herzegowina. Andere Mitgliedstaaten sehen sich auch als zunehmend betroffen und drängen auf Harmonisierung des europäischen Asylrechts. 13 Vgl. dazu insgesamt Hailbronner, Die europäische Asylrechtsharmonisierung nach dem Vertrag von Maastricht, ZAR 1995, S. 3-13. 14 Zur Gesamtproblematik vgl. Fluchtziel Europa, hrsg. v. DrükelWeigelt, München 1993.
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Für die Behandlung dieses gemeinsamen Problems gibt es eine gemeinsame Basis: Alle Mitgliedstaaten haben die Genfer Flüchtlingskonvention ratifiziert und wenden sie an. Diese Konvention ist die Basis für die Flüchtlingspolitik sämtlicher Mitgliedstaaten, und sie bestimmt die gemeinsame Norm, nach der sich die Asylgewährung zu richten hat. Artikel 1 Ader Flüchtlingskonvention definiert, was ein politischer Flüchtling ist. Insofern waren die Voraussetzungen für die weitere Harmonisierung günstig. Die Harmonisierung im Asylbereich hat sich in drei verschiedenen Themenkreisen vollzogen. Wenn man sich ein Asylverfahren vor Augen führt, dann stellt sich als erste Frage im europäischen Rahmen: Wer ist zuständig für die Durchführung des Asylverfahrens? Die zweite Frage betrifft die Regeln, nach denen sich das Asylverfahren vollzieht. Und die dritte Frage wird das materielle Asylrecht sein, d. h. Regeln, nach denen der gemeinsame Flüchtlingsbegriff der Genfer Konvention angewendet wird. In allen drei Bereichen hat die Europäische Union inzwischen einen hohen Grad an Harmonisierung erreicht.
a) Zuständigkeit für das Asylverfahren Wenn ein Raum ohne Binnengrenzen geschaffen wird, besteht rein physisch für einen Asylbewerber die Möglichkeit, zunächst in einen Mitgliedstaat zu gehen, ein Asylverfahren zu beantragen und zu durchlaufen und bei Ablehnung des Antrages in den nächsten Staat zu gehen. Da alle Mitgliedstaaten den Antrag auf der gleichen materiellen Grundlage prüfen, Artikel 1 Ader Genfer Flüchtlingskonvention, besteht keine materielle Berechtigung, daß auf der gleichen Basis nacheinander in mehreren Mitgliedstaaten Asylverfahren durchgeführt werden. Vielmehr mußte Ziel der europäischen Harmonisierung sein, daß die Verfahren so gleichwertig in ihrem Schutzgehalt und in ihrer rechts staatlichen Ausgestaltung sind, daß z. B. gilt: Wenn ein Verfahren in Frankreich durchgeführt worden ist, gibt es keinen inneren Grund mehr, daß noch ein weiteres Verfahren in Deutschland oder in England erfolgt, denn der Asylantrag ist anhand der gleichen Kriterien und in gleichwertigen Verfahren geprüft worden. Auf diesen Überlegungen beruht das Dubliner Übereinkommen vom 15. Juni 1990Y Es kopiert die Artikel 28 bis 38 des Schengener Durchführungsübereinkommens und sagt zweierlei. Erstens, ein Asylbewerber in einem Staat der Europäischen Union hat Anspruch auf die Prüfung seines Asylbegehrens, 16 und zweitens, welcher Staat dieses Asylverfahren durchführt. Zu diesem Zweck enthält das Übereinkommen eine Liste von Kriterien, welcher Staat zuständig ist. Um ein Beispiel zu geben: Wenn Frankreich einem Drittstaatsangehörigen ein Visum erteilt 15
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BGBI. 199411 S. 791. Artikel 3 Abs. 1 des Übereinkommens.
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hat, der Drittstaatsangehörige einreist und anschließend einen Asylantrag stellt, dann ist Frankreich zuständig für die PIiifung dieses Asylbegehrens, denn Frankreich hat das Visum erteilt und damit dem Drittstaatsangehörigen die Einreise in das Unionsgebiet ermöglicht. 17 Dieses Übereinkommen hat zwei praktische Konsequenzen: Wenn der Drittausländer mit einem französischen Visum nach Deutschland kommt und hier einen Asylantrag stellt, hat die Bundesrepublik die Möglichkeit, den Asylbewerber nach Frankreich zu überstellen, und dort wird dann sein Asylverfahren durchgeführt. 18 Wenn das Asylverfahren in Frankreich durchgeführt wurde und der Asylbewerber rechtskräftig abgelehnt ist, dann hat er in aller Regel keinen Anspruch mehr auf ein zweites Asylverfahren in Deutschland, Belgien oder einem anderen Mitgliedstaat. Wie schon erwähnt, ist dieses Übereinkommen bisher noch nicht von allen (damals 12) Unterzeichnerstaaten ratifiziert worden und damit noch nicht in Kraft getreten. Das Schengener Durchführungsübereinkommen ist in Kraft getreten,19 und es kann festgestellt werden, daß ein solches System - jedenfalls zwischen den Schengen-Staaten - funktioniert. Seit dem 26. März 1995 wird es angewendet, und zwar ohne größere Probleme im praktischen Ablauf. Um die Zeit bis zum Inkrafttreten zu nutzen, hat der Rat die notwendigen Maßnahmen zur Umsetzung und Anwendung des Übereinkommens bereits vollständig erarbeitet. Hierzu gehören: ein einheitliches Formular zur Bestimmung des für die PIiifung eines Asylantrages zuständigen Staates,20 Schlußfolgerungen über die ÜbersteIlung von Asylbewerbern an einen anderen Mitgliedstaat und die dafür erforderlichen Unterlagen,21 - die Auslegung bestimmter Begriffe des Übereinkommens, Schlußfolgerungen über Beweislast und Beweismittel. 22 Vgl. Artikel 5 Abs. 2 des Übereinkommens. Vgl. Artikel 10 Abs. I Ht. a) und 11 des Übereinkommens. 19 Übereinkommen zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14. Juni 1985 zwischen den Regierungen der Staaten der BENELUX-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen vom 19. Juni 1990 (BGBI. 199311 S. 1003 ff.). Das Übereinkommen ist am 26. März 1995 für die 5 Erstunterzeichner, Spanien und Portugal in Kraft getreten; Italien, Griechenland, Österreich, Dänemark, Schweden, Finnland, Norwegen und Island sind beigetreten. Für diese acht Staaten ist das Übereinkommen noch nicht in Kraft. Für die Nicht-EU-Mitglieder Norwegen und Island wurde ein besonderer Status geschaffen. 20 ABI. 1996 Nr. C 274, S. 44-48. 21 ABI. 1996 Nr. C 274, S. 42. 22 ABI. 1996 Nr. C 274, S. 35-41. 17
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Von besonderer Bedeutung sind die zuletzt genannten Texte über die Beweismittel, da hierauf die Übernahme von Asylbewerbern durch einen anderen Mitgliedstaat gestützt werden muß. Auch die von der EU erarbeiteten Durchführungsbestimmungen sind ironischerweise zuerst im Schengener Rahmen getestet worden: Die Schengener Staaten haben beschlossen, sie der Anwendung der seit 26. März 1995 in Kraft befindlichen Schengener Asylbestimmungen zugrunde zu legen. Daß selbst EU-Texte zunächst in Schengen "getestet" werden, ist für die Problematik der Dritten Säule fast symbolisch! b) Asylveifahrensrecht
In den 80er Jahren wurde diskutiert, ob die EG eine Totalharmonisierung des Asylrechts anstreben solle. Die nähere Analyse zeigte dann aber, daß ein solches Ziel auf lange Zeit unerreichbar sein würde. Die nationalen Asylverfahren der Mitgliedstaaten sind eingebettet in die jeweiligen Verwaltungs- und Gerichtssysteme. Daher würde eine Totalharmonisierung des Asylverfahrensrechts tiefgreifende Veränderungen dieser Systeme in vielen Mitgliedstaaten erfordern und selbst bei entsprechendem politischen Willen sehr lange Umsetzungsfristen mit sich bringen. Daher haben sich die Mitgliedstaaten statt dessen auf ein Konzept verständigt, wonach bestimmte Schaltstellen oder Knotenpunkte im Asylverfahren eines jeden EU-Staates harmonisiert werden sollen. Entsprechend diesem Konzept konzentrierten sich die Arbeiten zunächst auf den Begriff der offensichtlich unbegründeten Asylanträge, da in allen Mitgliedstaaten die Frage, ob ein Asylantrag offensichtlich unbegründet ist, den weiteren Verlauf des Verfahrens entscheidend beeinflußt. Das Resultat waren zwei Entschließungen sowie Schlußfolgerungen, die die Einwanderungsminister in London am 30. November/I. Dezember 1992 verabschiedeten: 23 - eine Entschließung über offensichtlich unbegründete Asylanträge, - eine Entschließung zu einem einheitlichen Konzept in bezug auf Aufnahmedrittländer, - Schlußfolgerungen betreffend Staaten, in denen im allgemeinen keine ernstliche Verfolgungsgefahr besteht. Grundlage in diesem Bereich ist die Entschließung über offensichtlich unbegründete Asylanträge. Danach gibt es zwei Arten von Gründen, weshalb ein Asylantrag offensichtlich unbegründet ist: - Es besteht offensichtlich kein Grund für die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung in seinem Heimatland. 23 Texte bei GieslerlWasser, Das neue Asylrecht (Bundesanzeiger Nr. 174a v. 16.9. 1993), S.207-214.
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- Der Antrag beruht eindeutig auf vorsätzlicher Täuschung oder stellt einen Mißbrauch des Asylrechts dar. Dieser sowie die beiden anderen, ihn ergänzenden Texte stammen aus der Zeit vor dem Inkrafttreten von Maastricht, müssen aber inhaltlich mit den seither verabschiedeten Texten als Ganzes gesehen werden. Das wichtigste Resultat der Arbeiten im Asylverfahrensrecht ist die vom Innenund Justizrat am 20./21. Juni 1995 verabschiedete Entschließung über Mindestgarantien für die Verfahren zur Prüfung von Asylanträgen. 24 Sie soll sicherstellen, daß die Verfahren in allen Mitgliedstaaten in ihrem Schutzgehalt gleichwertig durchgeführt werden. Damit wird zugleich der bereits beschriebene innere Grund für die Zuständigkeitsverteilung im Dubliner Asylübereinkommen und den grundsätzlichen Ausschluß von Zweitverfahren in einem anderen Mitgliedstaat konkretisiert. In der Entschließung werden zunächst allgemeine Grundsätze für Asylverfahren festgelegt. Sie enthält ferner Garantien hinsichtlich der Prüfung von Asylanträgen, z. B. Aussagen über Qualifikation, Organisation und Ausstattung der zuständigen Behörden, Grundsätze zur Beweisführung und zum Datenschutz sowie das Recht auf Einlegung eines Rechtsmittels gegen eine ablehnende Entscheidung über den Asylantrag. Außerdem werden die Rechte der Asylbewerber im Rahmen des Asylverfahrens einschließlich des Überprüfungsverfahrens bestimmt. Hier sind insbesondere hervorzuheben: - Bleiberecht des Asylbewerbers zumindest bis zur ersten Entscheidung über seinen Asylantrag, Grundsatz des Suspensiveffekts des Rechtsmittels, - Recht auf Anhörung, Recht auf Hinzuziehung eines Anwalts und erforderlichenfalls eines Dolmetschers sowie Möglichkeit des Asylbewerbers, mit dem Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR) in Verbindung zu treten. Die Entschließung sieht überdies für besondere Fallgruppen, nämlich für offensichtlich unbegründete Asylanträge und für Asylanträge an der Grenze, Ausnahmen von den allgemeinen Grundsätzen vor. Mit diesen Texten ist zunächst eine Abrundung der Harmonisierung in diesem Bereich gelungen. Angesichts der eingangs beschriebenen Schwierigkeit, zu einer Totalharmonisierung zu gelangen, stellt sich derzeit eher die Frage nach der Schaffung rechtlich verbindlicher Normen: Eine verbindliche Festlegung in einer Asylkonvention wäre hier de lege lata das einzige Mittel, doch zeigen die Erfahrungen mit der Ratifizierung des Dubliner Asylübereinkommens, welch hohe Zeitverluste dabei auftreten können. Daher drängt sich die - später noch zu behandelnde - Fra24
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ge auf, ob nicht die Zeit für eine Vergemeinschaftung des Asylrechts gekommen ist. c) Harmonisierung des materiellen Asylrechts
Im materiellen Asylrecht' ist vor allem die Frage zu harmonisieren, nach welchen Kriterien ein Drittausländer als politisch Verfolgter anerkannt werden kann. Die maßgebliche Grundnorm für alle Mitgliedstaaten ist. dabei Artikel 1 Ader Genfer Flüchtlingskonvention, der diesen Begriff definiert. Am 4. März 1996 konnte der Rat einen Gemeinsamen Standpunkt betreffend die harmonisierte Anwendung der Definition des Begriffs "Flüchtling" in Artikel 1 des Genfer Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge annehmen. 25 Eine der Herausforderungen lag darin, daß der Flüchtlingsbegriff der Genfer Konvention vor dem Hintergrund historischer Erfahrungen mit totalitären Systemen entstanden ist, in denen die Verfolgung von einem übermächtigen Staatsapparat organisiert wurde, während heute Flucht und Verfolgung häufig von anderen Situationen wie Staatenzerfall, Bürger- und Stammeskriegen (Libanon, Somalia, Sri Lanka, Ruanda, Ex-Jugoslawien) ausgelöst wird. Unter Zugrundelegung des UNHCRFlüchtlingshandbuchs werden die Hauptfragen der harmonisierten Anwendung von Artikel 1 A behandelt, wobei es den Mitgliedstaaten unbenommen bleibt, Personen auch aus anderen als den in der Genfer Konvention genannten Gründen Schutz zu gewähren. Folgende Punkte sind besonders zu erwähnen: - Es gilt der Grundsatz der Einzelfallprüfung, und zwar auch dann, wenn es sich um Angehörige einer Bevölkerungsgruppe handelt, die als solche einer sog. Gruppenverfolgung ausgesetzt ist (Nr. 2). - Der Gemeinsame Standpunkt geht davon aus, daß es keine allgemein anerkannte Definition der politischen Verfolgung gibt, daß aber stets zwei Elemente erfüllt sein müssen: Die geschehene oder befürchtete Verfolgung muß hinreichend schwerwiegend sein, so daß sie es dem Betroffenen eindeutig nicht mehr erlaubt, in seinem Herkunftsland zu leben, und sie muß aus einem der in Artikel 1 A ausgeführten Gründe (Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe, politische Überzeugung) erfolgen (Nr. 4). - Die Verfolgung kann nicht nur durch den Staat in Formen geschehen, die der Standpunkt im einzelnen ausführt (Nr. 5.1), sondern auch durch Dritte. In letzterem Falle ist Artikel 1 A anwendbar, wenn die Verfolgung auf den dort genannten Gründen beruht, sich gegen Einzelpersonen richtet und von den Behörden gefördert oder gebilligt wird (Nr. 5.2). - Bürgerkriegssituation und andere gewaltsame innere Konflikte stellen für sich allein noch keine politische Verfolgung dar. Vielmehr müssen auch hier die in den voranstehenden Anstrichen genannten Kriterien aus Nr. 4 und 5 der Ent25
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schließung erfüllt sein, wobei die faktische Herrschaftsausübung über einen Teil des Staatsgebietes ebenfalls Ausgangspunkt staatlicher Verfolgung sein kann (Nr.6).
- Wenn die Verfolgung nur in einem Teil des Staatsgebiets besteht, ist zunächst zu prüfen, ob es zur Flucht ins Ausland eine sog. innerstaatliche Fluchtalternative gibt (Nr. 8). Der Gemeinsame Standpunkt enthält auch Hinweise für die Anwendung der Konventionsbestimmung über den Verlust der Flüchtlingseigenschaft (Artikel 1 c) und den Ausschluß vom Schutz der Konvention wegen des Begehens schwerer Straftaten (Artikel I F). Die geraffte Übersicht zeigt, daß die Harmonisierung im Asylrecht sowohl in ihrem Umfang als auch in ihrer Detailliertheit sehr weit fortgeschritten ist. Sie belegt auch, daß die Problematik der 3. Säule nicht dort liegt, wo viele Kritiker sie suchen: Nicht das Fehlen von Ergebnissen, sondern deren fehlende rechtliche Verbindlichkeit blockiert die Weiterentwicklung des Asylrechts. Um die Rechtsetzung der Mitgliedstaaten (rechtlich verbindlich) zu harmonisieren, mußte derzeit ein völkerrechtliches Übereinkommen geschlossen werden. Die bösen Erfahrungen mit der Dubliner Asylkonvention, die 6 1/2 Jahre nach Unterzeichnung erst von 10 Mitgliedstaaten ratifiziert worden ist, zeigen, daß in der Regierungskonferenz eine Verbesserung der Rechtsinstrumente im 3. Pfeiler erreicht werden muß.
3. Europäisches Polizeiamt (Europol)
Ein drittes Beispiel betrifft die Bekämpfung von Drogen und organisierter Kriminalität. Die Entwicklung wird täglich aus den Zeitungen ersichtlich, die gleichgerichtete Bedrohung der Mitgliedstaaten der EU durch Drogenhandel und durch Strukturen der organisierten Kriminalität. Insofern besteht wieder, wie beim Asylrecht, die gemeinsame Interessenlage. Auf der anderen Seite wird der polizeiliche Bereich von den Mitgliedstaaten als Kernbereich nationaler Souveränität verstanden, so daß das Vorankommen in diesem Bereich sehr mühsam ist - auch aus psychologischen Gründen. Dessen ungeachtet ist es gelungen, ein Hauptinstrument zur Bekämpfung von Drogen und organisierter Kriminalität auf Unionsebene zu Wege zu bringen, die sogenannte Europol-Konvention. Am 26. Juli 1995 haben die Mitgliedstaaten der EU, darunter auch die drei neuen Mitgliedstaaten Österreich, Schweden und Finnland die Europol-Konvention,26 gestützt auf Artikel K.l Nr. 9 EU-Vertrag, unterzeichnet. Das ist ein großer Fortschritt in der polizeilichen Zusammenarbeit in Europa. Nach der Ratifizierung der Konvention werden die Mitgliedstaaten über ein wirksames gemeinsames Instrument für den Informationsaustausch und die Infor26
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mationsauswertung verfügen. Damit wird die Möglichkeit geschaffen, Entwicklung und Organisations struktur der international operierenden Schwerkriminalität in den EU-Staaten und über ihre Grenzen hinaus auf der Grundlage eines aus vielen Quellen zusammengeführten Datenmaterials zentral zu analysieren. Die nationalen Behörden werden damit in die Lage versetzt, vor allem das Netz der organisierten Kriminalität nachhaltiger als bisher zu bekämpfen. Ein erhebliches Problem war die Rolle des EuGH: 14 Mitgliedstaaten waren zur Ausnutzung der Möglichkeit in Artikel K. 3 Absatz 21it. c a.E. EU-Vertrag bereit, dem EuGH die Befugnis zu verleihen, entsprechend Artikel 177 EG-Vertrag über Vorabentscheidungsvorlagen nationaler Gerichte zu entscheiden. Großbritannien lehnte dies kategorisch ab und leugnete jedes praktische Bedürfnis für eine Befassung des EuGH. Nach einem Jahr zäher Verhandlungen wurde auf der Basis einer Einigung des Europäischen Rates in Florenz (21./22. Juni 199627) am 24. Juli 1996 ein Protokoll über die Auslegung des Europol-Übereinkommens durch den EuGH im Wege der Vorabentscheidung unterzeichnet, das freilich verschiedene Optionen eröffnet; insbesondere steht jedem Mitgliedstaat frei zu entscheiden, ob er seinen Gerichten überhaupt den Weg zum EuGH eröffnet. Nach allem, was bekannt ist, wird Großbritannien dies nicht tun, so daß trotz der Unterzeichnung des Protokolls durch alle EU-Staaten eine einheitliche Auslegung der Konvention durch den EuGH nicht gesichert ist. Dieses Beispiel zeigt, wie unglücklich sich eine nur fakultative Einbeziehung des EuGH im Dritten Pfeiler auswirkt. Da sich die Tätigkeitsaufnahme von Europol noch einige Zeit verzögern wird, hat der Europäische Rat von Essen im Dezember 1994 auf deutsche Initiative beschlossen, das Mandat der Vorläuferorganisation von Europol, der Europol-Drogeneinheit (EDE) für die Übergangszeit bis zur Tatigkeitaufnahme von Europol zu erweitern. 28 Aufgrund einer gemeinsamen Maßnahme vom März 1995 29 ist die Europol-Drogenstelle nunmehr auch für den Handel mit radioaktiven und nuklearen Materialien, die Schleuserkriminalität und die Kfz-Verschiebung sowie die mit diesen Kriminalitätsformen zusammenhängende Geldwäsche zuständig. Mit dieser seit Anfang 1994 bestehenden Vorläuferinstitution von Europol wurden bereits gute Erfahrungen gemacht. Die Entwicklung der Anfragen (gegenwärtiger Gesamtstand: rund 1.500 Anfragen; die Gesamtzahl von 1994 wurde 1995 bereits im 1. Halbjahr erreicht) zeigt, daß die Europol-Drogenstelle auf zunehmende Akzeptanz bei den Mitgliedstaaten stößt. Hierbei ist insbesondere die Geschwindigkeit des Informationsaustausches hervorzuheben: In der weit überwiegenden Zahl der Fälle lag die Antwort binnen weniger Stunden vor. 27 Bulletin, hrsg. v. Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, v. 5.8. 1996, Nr. 64/S. 689, 691. 28 Bulletin v. 19. 12. 1994, Nr. 118/S. 1069, 1075. 29 ABI. 1995 Nr. L 62, S. 1-3.
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Trotz des jetzt erreichten Standes ist bezüglich der künftigen Europol-Behörde vor übertriebenen Erwartungen oder - je nachdem - Befürchtungen zu warnen. Europol ist nicht als eine Art "europäisches FBI" konzipiert. Das Übereinkommen räumt Europol keine eigenen Exekutivbefugnisse ein, sondern beschränkt seine Tätigkeit auf die Aufgaben einer kriminalpolizeilichen Zentralstelle. Aber auch mit dieser Einschränkung kann Europol den Mitgliedstaaten wertvolle Hilfe bei ihren nationalen Ermittlungen leisten. Langfristig müßte Europol allerdings zu einer supranationalen europäischen Polizeibehörde mit Handlungsbefugnissen in allen Mitgliedstaaten der EU ausgebaut werden. In ihrer gemeinsamen Erklärung zur Schlußakte des Maastrichter Vertrages haben die Mitgliedstaaten der Europäischen Union schon ihre Bereitschaft bekundet, neben der Unterstützung von Ermittlungen auch konkrete Maßnahmen zu deren Koordinierung in Aussicht zu nehmen. Dieser Spielraum sollte künftig noch stärker genutzt werden. Auch wenn in vielen Mitgliedstaaten die Ängste vor einem Verlust nationaler Souveränität in dem bedeutenden Politikfeld der Inneren Sicherheit noch groß sind, wird hoffentlich die tägliche Praxis von Europol diese Befürchtungen zerstreuen. Ein Verlust nationaler Souveränität steht vor allem dann zu befürchten, wenn dem organisierten Verbrechen nicht wirksam Einhalt geboten wird.
IV. Schlußfolgerungen und Perspektiven für die Regierungskonferenz
Die Erfahrungen mit dem Funktionieren der 3. Säule haben einerseits gezeigt, daß in vielen Bereichen, besonders Asyl und Visa, beachtliche Harmonisierungsfortschritte erreicht werden konnten. Andererseits sind im institutionellen Bereich und bei den Rechtsformen Schwächen sichtbar geworden, die die Effektivität der Zusammenarbeit ernsthaft behindert haben. Dieser Befund kann nicht einfach hingenommen werden. Meinungsumfragen in den Mitgliedstaaten haben gezeigt, daß Kriminalität und illegale Einwanderung bei den Sorgen der Bevölkerung eine erhebliche Rolle spielen. Daher ist es nicht verwunderlich, daß Verbesserungen in den Bereichen Innen und Justiz zu den Hauptaufgaben der Regierungskonferenz zur Revision der Maastricht-Verträge gehören, die am 29. März 1996 in Turin eröffnet wurde. Dabei ist der 3. Pfeiler ein Prüfstein, welches Verständnis die einzelnen Mitgliedstaaten von Natur und Fortgang des Integrationsprozesses haben: Wer die Materien des Titels VI als ihrer Natur nach fortdauernd intergouvernemental ansieht, wird andere Positionen vertreten als ein Mitgliedstaat, für den das langfristige Ziel eine weitergehende Vergemeinschaftung dieser Materien ist. Die in jedem Falle erforderlichen Veränderungen lassen sich in sechs Thesen zusammenfassen: 1. Die Aufteilung der Visapolitik zwischen 1. und 3. Säule hat sich als unlogisch und hinderlich erwiesen. Die dadurch erzeugten Probleme werden weiter ver-
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schärft, weil die meisten Regelungen der Visapolitik im Außengrenzabkommen enthalten und daher durch das Gibraltar-Problem blockiert sind. Die Lösung hierfür bestünde in der Vergemeinschaftung der gesamten Visapolitik. Zum einen könnte dann die EG eine kohärente Gesamtregelung ihrer Visapolitik schaffen, zum anderen wären die Visabestimmungen endlich aus der "babylonischen Gefangenschaft" im Außengrenzabkommen befreit. 2. Das Asylrecht muß vergemeinschaftet werden. Dann könnten die vereinbarten Texte zur Asylrechtsharmonisierung im Rahmen einer Richtlinie nach Artikel 189 Absatz 3 EG-Vertrag endlich in rechtlich verbindliche Form gegossen werden, für deren Auslegung ohne weiteres der EuGH zuständig ist. 3. Die Rolle der Kommission muß gestärkt werden, indem ihr Ko-Initiativrecht auf alle Bereiche von Artikel K. 1 EU-Vertrag erweitert wird. Umgekehrt ist zu überlegen, ob die Initiativmöglichkeiten der Mitgliedstaaten in den vergemeinschafteten Bereichen der Innen- und Justizpolitik verstärkt werden könnten, etwa durch ein verstärktes Aufforderungsrecht im Rahmen von Artikel 152 EGVertrag. 4. Die Optionen im 3. Pfeiler müssen zugunsten zwingender Regelungen beseitigt werden. Das gilt in besonderem Maße für die Rolle des EuGH: Die Regelung, wonach der EuGH nur dann Kompetenzen hat, wenn dies in einem Übereinkommen ausdrücklich festgelegt ist, hat bei zahlreichen Übereinkommen im 3. Pfeiler - Europol, Außengrenzabkommen, Auslieferungsübereinkommen, Übereinkommen über ein Zollinformationssystem - zu Streitigkeiten in diesem Punkt geführt. Im Falle der Europol-Konvention hat dies die Union ein ganzes Jahr gekostet, das für den gemeinsamen Kampf gegen Drogen und Organisierte Kriminalität verlorengegangen ist. Da diese Frage aber nicht eine Frage der jeweilig zu regelnden Materie, sondern ein Grundsatzproblem ist, muß sie auf der Regierungskonferenz geklärt werden. Die Lösung kann nur lauten, die Kompetenz des EuGH für alle Bereiche des 3. Pfeilers verbindlich festzuschreiben. 5. Das Europäische Parlament darf nicht mehr, wie bisher in Artikel K. 6 EU-Vertrag, auf das Wohlwollen der jeweiligen Präsidentschaft angewiesen sein. Vielmehr muß für alle Bereiche des 3. Pfeilers ein Anhörungsrecht vorgesehen werden, wie dies in Artikel lOOc EG-Vertrag jetzt für Teile der Visapolitik besteht. 6. Bei den Rechtsformen muß ein Instrument geschaffen werden, das die Mitgliedstaaten rechtlich bindet. Hierzu sollte die Gemeinsame Maßnahme als rechtlich verbindlich definiert werden. Darüber hinaus ist zu prüfen, ob eine "Quasi-Richtlinie" geschaffen werden könnte, die entsprechend Artikel 189 Absatz 3 EG-Vertrag auch den nationalen Gesetzgeber bindet. Allerdings ist hierbei zu bedenken, daß damit eine Bindung des nationalen Gesetzgebers durch supranationales Recht entsteht, obwohl die entsprechende Materie nicht vergemeinschaftet worden ist, so daß zwischen 1. und 3. Pfeiler gleichsam ein tertium entstünde.
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Der Erwartungsdruck auf die Konferenz ist hoch. Was am Ende entscheidet, sind nicht juristische Finessen, sondern eine effektive Verbesserung der Instrumente der Union in den Bereichen Innen und Justiz. Vor allem beim Kampf gegen Drogen und Organisiertes Verbrechen drängt die Zeit!
Diskussion zu dem Referat von Klaus-Peter Nanz Leitung: Siegfried Magiera Bericht von Christian Koch In dem den Integrationsgedanken teils unterfangenden, teils von ihm separierten und den mitgliedstaatlichen Vorbehaltsbereichen zugewiesenen intergouvernementalen Gestaltungsbereich der "dritten Säule" der Europäischen Union als "dem vorläufig letzten Aggregatzustand des europäischen Einigungswerkes" (Roman Herzog) läßt sich der derzeitige Stand der Integrationsbereitschaft und Integrationsfähigkeit in den aus nationaler Sicht integrationspolitisch problematischen Bereichen der Außenpolitik, der äußeren und inneren Sicherheit einigermaßen deutlich erkennen.
I. Europäische Integration im Spannungsfeld supranationaler Politikgestaltung und intergouvernementaler Politikvereinbarung
Orientierungspunkte für die Regierungskonferenz zu gewinnen, erhält in der Gemengelage supranationaler Politikgestaltung in den Integrationsfeldern des Binnenmarktes und intergouvernementaler Politikvereinbarung in den Vorbehaltsbereichen mitgliedstaatlicher Souveränität besondere Bedeutung und Brisanz, gerade in den Politikfeldem, die - wie etwa Visapolitik, Drogenpolitik, Kriminalitätsbekämpfung - in den supranationalen wie in den intergouvernementalen Ordnungsrahmen europäischer und europabezogener Politik hineinreichen. 1 Abzuwarten bleibt, in welchem Maße die hier agierenden Institutionen, neben dem Schengener Informations-"System,,2 also vor allem EUROPOL,3 in der Lage sein werden, ei1 Zu den Abgrenzungsfragen vgl. Peter-Christian Müller-Graff, Die Europäische Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres (1IZ) - Verbindungen und Spannungen zwischen dem dritten Pfeiler der Europäischen Union und der Europäischen Gemeinschaft, in: Oie Due/Marcus Lutter/Jürgen Schwarze (Hrsg.), Festschrift für Ulrich Everling, Bd. 11, Baden-Baden 1995, S. 925 ff. 2 V gl. Rainer Pitschas. Europäisches Polizeirecht als Informationsrecht, ZRP 1993, S. 174 ff. 3 Jürgen Storbeck. Europol: Chance für die Verbesserung der gemeinsamen Verbrechensbekämpfung in der Europäischen Union, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 23/95, S. 20 ff.; Helmut Nicolaus. Schengen und EUROPOL - ein europäisches Laboratorium? Europäische Polizeikooperation in deutsch-französischer Sicht, NVwZ 1996, S. 40 ff.
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nen wirksamen Beitrag zu leisten, um dem deutlich anwachsenden Kriminalitätsdruck zu begegnen. In der Spannungslage von Personenfreizügigkeit innerhalb des Binnenmarktes als einer Grundbedingung seiner Funktionsfähigkeit einerseits und den legitimen Sicherheitsbedürfnissen und Anforderungen effektiver und effizienter Kriminalitätsbekämpfung und Strafverfolgung andererseits gilt das Augenmerk insbesondere möglichen Ausgleichssystemen. 4 Im Hinblick auf den Wegfall der Binnengrenzens und die hiermit verbundenen Veränderungen der inneren Sicherheitslage, ihrer politischen Einschätzung und der polizeilichen Aufgabenwahmehmung 6 stellt das Schengener Abkommen 7 ein solches System dar. Gerade das Schengener System offenbart aber auch den Differenzierungsbedarf angesichts für die betroffenen Mitgliedstaaten unterschiedlich ausgeprägter Bedeutung der jeweiligen Binnengrenzen, ihrer Kontroll- und Sicherungsfunktion. Dr. Nanz hatte in seinem Vortrag auf den vor allem zwischen dem Vereinigten Königreich und den kontinentalen Staaten fortbestehenden Dissens bei naturgegeben unterschiedlich eingeschätzter Funktionen der Binnengrenzen hingewiesen. Hingegen würden die sieben bisherigen Teilnehmerstaaten das Schengener System positiv bewerten; es beweise, daß sich Freizügigkeit im Binnenmarkt ohne nachhaltige Sicherheits verluste verwirklichen lasse. Im Verhältnis zu Art. K des Vertrags über die Europäische Union falle es nicht leicht, das Schengen-System angemessen auch hinsichtlich seiner Rechtsnatur zu verorten; immerhin sei es zum Vorreiter der "dritten Säule" geworden, die ja erst später überformend hinzugetreten ist, um das Dach der Europäischen Union mit zu tragen.
4 Vgl. Rainer Pitschas (Hrsg.), Politik und Recht der inneren Sicherheit in Mittel- und Osteuropa, München, Berlin 1996. 5 Vgl. hierzu Hans-Heiner Kühne. Kriminalitätsbekämpfung durch innereuropäische Grenzkontrollen ?, Berlin 1991. 6 Vgl. hierzu etwa Hans Peter Bull. Visionen und Wirklichkeit einer Kriminalpolitik für Europa, KritV 78 (1995), S. 313 ff.; Rainer Pitschas, Integrationsprobleme des Polizeirechts in Europa, NVwZ 1994, S. 625 ff.; ders., Innere Sicherheit und internationale Verbrechensbekämpfung als Verantwortung des demokratischen Verfassungsstaates, JZ 1993, S. 857 ff., sowie jüngst Kay Waechter, Demokratische Steuerung und Kontrolle einer europäischen Polizei, ZRP 1996, S. 167 ff. 7 Übereinkommen von Schengen vom 14. 6. 1985 zwischen den Regierungen der Staaten der BENELUX-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen, GMBI. 1986, S. 79, sowie das Übereinkommen zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen ... (zweites Schengener Übereinkommen), vom 14. 6. 1990, BAnz v. 23. 11. 1990. Der tatsächliche Abbau der Kontrollen an einigen Binnengrenzen samt Beginn des SIS-Betriebs (Schengener Informationssystem) datiert vom 26. 3. 1995. Vgl. hierzu Alberto Achermann/Roland BieberlAstrid EpineylRuth Wehner, Schengen und die Folgen. Der Abbau der Grenzkontrollen in Europa, Bern, München, Wien 1995, dort S. 185 f. zu Schengen als eigenständigem Integrationskonzept.
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11. Integrative Tendenzen Die intergouvernementale Zusammenarbeit im Rahmen des Art. K (und damit unter Rückgriff auf Elemente des Völkerrechts), weise durchaus integrative Elemente auf. Auf Instrumente des Völkerrechts angewiesen zu sein, bedeute indessen nicht nur einen Verlust an konkreter Gestaltung, an Verbindlichkeit, an Tempo, sondern erhöhe zusätzlich die Schwierigkeiten beträchtlich, einen verbindlichen Text zu erreichen. Dies zeige im übrigen auch ein Blick auf das Dubliner Abkommen, mit dem man in der Asylrechtspolitik vorlieb nehmen müsse, an Stelle einer doch elegant vorstellbaren Lösung via einer Gemeinschafts-Richtlinie über das Asylrecht. Zielvorstellung im Asylbereich sei insbesondere, gleichwertige Verfahren in den Vertrags- (und Mitglied-)staaten zu erreichen: Es solle keinen inneren Grund mehr für Folgeanträge geben. Die derzeit praktizierte Zuständigkeitsbestimmung nach dem Veranlassungsprinzip funktioniere innerhalb des Schengen-Systerns. Eine "Totalharmonisierung" werde sich wohl nicht erreichen lassen, angesichts der schwierigen Regelungsmaterie, die weit in die mitgliedstaatlichen Verfahrens- und Prozeßordnungen hineinwirke. So gehe es also vor allem darum, wichtige "Schaltstellen" der Asylpraxis zu harmonisieren sowie Mindestgarantien im Verwaltungsverfahren unionsweit zu etablieren, insbesondere den Anspruch auf rechtliches Gehör zuverlässig zu verwirklichen. Hinsichtlich einer materiellen Harmonisierung bleibe Art. 1 ader Genfer Flüchtlingskonvention nach wie vor verpflichtend; gerade heute seien allerdings Grundsätze über die harmonisierte Anwendung des Flüchtlingsbegriffs angesichts der variantenreichen Bürgerkriegsszenarien weltweit nicht im Wege einer Konvention erreichbar. Dringend wünschenswert sei daher eine Vergemeinschaftung des Asylrechts, über erste Ansätze in der Visapolitik hinaus (vgl. Art. 100 c EGV). Wie am Beispiel von EUROPOL deutlich werde, lasse sich vor allem das Problem gerichtlicher Kontrolle in den Gestaltungsbereichen intergouvemementaler Zusammenarbeit nach Art. K des Unionsvertrags kaum lösen: Vierzehn Staaten befürworteten die Zuständigkeit des EuGH, das Vereinigte Königreich wolle demgegenüber die mitgliedstaatlichen Gerichte entscheiden lassen. Schlußfolgernd im Hinblick auf die Regierungskonferenz votierte Nanz dafür, die integrativen Elemente (EuGH) zu verstärken, möglicherweise im Sinne einer "Rückführung" von Teilbereichen der Inneren Sicherheit in den Rahmen der supranationalen Integrationsgemeinschaft, jedenfalls unterhalb der aufwendigen Schwelle des Völkerrechts.
111. Europäische innere Sicherheit angesichts der Herausforderungen globaler Migration Professor Magiera nahm das Desiderat einer funktionsfähigen Gerichtsbarkeit auf und stellte die immer deutlicher sich abzeichnende Eingriffsperspektive vor Augen, verbunden mit einem sich verdichtenden gemeinschaftlichen Grundrechts-
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system. Ministerialrat lochern Schaefer, Wiesbaden, regte an, angesichts nicht zu leugnender Disparitäten und Umsetzungsprobleme über eine vorübergehende Aussetzung des Schengener Vertragssystem nachzudenken; es umzusetzen, bereite vor allem im Kommunalbereich erhebliche Schwierigkeiten. Anzumahnen sei im übrigen die Kontrollfunktion auch des Parlaments. Bemd Rill, München, bezweifelte die Realisierbarkeit der Ausgleichsrnaßnahmen; man dürfe das Schengener Informationssystem nicht überfordern und überbewerten; aus polizeilicher Perspektive sei möglicherweise kaum vorstellbar, an Stelle der bewährten Kontrollen an den Binnengrenzen ein ähnlich wirksames Ersatzinstrument zu setzen. Nanz nahm den Hinweis auf die Resolution zur Auslegung der Flüchtlingskonvention auf; in der Tat forderten erhebliche Divergenzen zu Auslegung und zur Rechtsnatur dazu auf, nach einem verbindlichen Rechtsrnaßstab zu suchen. Betrachte man den Flüchtlingsbegriff gemäß Art. 1 ader Genfer Konvention mit seinen Elementen politischer, religiöser, rassischer Verfolgung, so stelle sich die Frage, unter welchen Umständen Bürgerkriegssituationen als Szenarien politischer Verfolgung in Betracht kommen: Beispielsweise lasse sich in Burundi auch angesichts des Zerfalls der Zentralgewalt in Ethnien oder im Libanon bei sich verfolgenden Clans die Verfolgungsinitiative durchaus noch der Zentralgewalt zuzuordnen. In der Europäischen Union bemühe man sich um eine weitere Präzisierung; sie werde - wenn auch unverbindlich - demnächst im Amtsblatt, Teil C, veröffentlicht; Verbindlichkeit bleibe auf der Basis der gültigen Richtlinie erhalten.
Zum Schengen-Komplex sei anzumerken, daß Frankreich zwar auf einer Ausnahmeklausel bestehe, die Ausgleichsrnaßnahmen aber voll mittragen wolle. Das SIS habe zu Steigerungen der Fahndungserfolge um bis zu 30% geführt; verbesserungsbedürftig sei allerdings das Reglement der Auslieferungsverfahren. Als doch sehr relativ erweise sich im übrigen der Vergleichsmaßstab für die "sichere" Binnengrenze. Ein hoher Sicherheitsgrad herrsche indessen an der deutsch-polnischen (Außen-)Grenze. Zeichneten sich Flüchtlingsbewegungen größeren Ausmaßes ab, bedürfe es eines gesamtpolitischen Ansatzes; in diesem Gesamtkomplex müsse es zuvörderst um Konzepte gehen, Wanderungsbewegungen zu verhindern helfen; Wanderungsursachen gelte es freizulegen, nicht hingegen lasse sich ihnen mit nachhaltigem Erfolg mittels grenzpolizeilicher Maßnahmen begegnen. Besonderes Augenmerk müsse stattdessen vor allem den subjektiv-psychologisch motivierten Fluchtgründen zukommen.
IV. Innere Sicherheit als Problem institutionenbezogener Integration
Das Europäische Parlament sei in der Tat daran interessiert, in die Kontrolle der EUROPOL einbezogen zu werden. Die EUROPOL-Konvention schaffe selbst noch keine Institution mit Exekutivbefugnissen, wie Nanz betonte.
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Magiera fragte an Rill gewandt nach den Gefahren, die vom weiteren Abbau der Grenzkontrollen ausgehen könnten; schließlich bleibe möglicherweise ein Bestand an eher rudimentären Schutz- und Kontrollmitteln. Weiterhin zu klären bleibe, welche zusätzlichen Dimensionen sich in der polizeilichen Zusammenarbeit mit Justiz und Innenministerien eröffneten. Die Bedeutung jedenfalls der polizeilichen transnationalen Zusammenarbeit sei offenbar. Ministerialrat Dr. Hennann Franz, Mainz, beleuchtete - aus Sicht der Arbeitsgruppe der Innemessorts der Bundesländer - zunächst die Transparenzdefizite des Diskussionsstandes zu Schengen und EUROPOL. Die Länder hätten nun einmal eine abweichende Wahrnehmungsperspektive, zumal die Polizei nach wie vor der Landeskompetenz unterfalle. Schon von daher werde man dem angekündigten Europäischen Kriminalamt erheblichen Widerstand entgegensetzen müssen. Das Verhältnis von "Schengen" zur Europäischen Union sei zunächst von der zumindest bilateralen Funktionsfähigkeit des Systems geprägt. Sehr unterschiedlich werde allerdings - so ergänzte Magiera unter Hinweis auf die Untersuchung von Hans-Heiner Kühne - der tatsächliche Nutzen der Grenzkontrollen beurteilt.
Nanz entgegnete, EUROPOL sei im Rahmen kombinierter, in vieler Hinsicht aufeinander abgestimmter Bund-Länder-Zuständigkeiten zu sehen; noch gebe es keine (kompetenziell problematische) Erweiterung in Richtung auf Exekutivkompetenzen. Auch müsse die im Hinblick auf den Polizeibereich wie überhaupt im Vergleich der Innenressorts spürbare kulturelle Differenzierung sinnvoll in die Konstruktion dieser Institution einbezogen werden. Unbedingt müsse man auch der Gefahr vorbeugen, die aus einem Mangel an Transparenz entstehen könnte. In der Tat bestehe vielmehr ein großer Verrnittlungs- und Orientierungs bedarf. Frau Martina Koeppen, Universität der Bundeswehr, Hamburg, nahm zusammenfassend noch einmal wesentliche Aspekte auf, unter denen EUROPOL ihrer Ansicht nach kritisch zu würdigen sei: erstens im Hinblick auf seine Zusammensetzung, wo es an einer maßgeblichen Beteiligung der Bundesländer fehle; zweitens hinsichtlich der mit den sich entwickelnden Befugnissen dieser Institution aktuell werdenden Frage nach einer angemessenen Rechtsschutzperspektive, wo die Eingriffsdimension deutlicher gesehen werden müsse und um ihretwillen eine klare Basis für den Rechtsschutz unabdingbar sei. Jedenfalls entstehe mit fortschreitender Entwicklung der Grundfreiheiten und eines entsprechenden Bewußtseins auch im intergouvernementalen Bereich ein subjektivrechtlicher Standard, den einfordern zu können effektiver Rechtsschutz bereitgestellt werden müsse. Auf das Transparenzproblem - in seinem engen Zusammenhang mit den Rechtsschutzüberlegungen - sei ebenfalls hinzuweisen. Die Europäische Union müsse sich klar darüber werden, inwieweit und mit welcher Zielvorstellung sie Innenpolitik betreiben wolle. Über der derzeit auf "Schengen" und die institutionelle Verankerung von EUROPOL fokussierten Diskussion dürfe man die Zusammenarbeit im Rahmen der Justiz nicht außer acht lassen.
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V. Probleme innerer Sicherheit als Ausdruck von Defiziten einer europäischen politischen Vision? Von einer allgemeineren Warte betrachtet wäre - so meinte Wilhelm Zimmer/in, Dresden, - vielleicht als Paradoxon nicht von der Hand zu weisen (ohne hier mißverstanden werden zu wollen): Ob man nicht in gewisser Überspitzung die Mitglieder der Organisierten Kriminalität nicht geradezu fast für bessere Europäer halten müßte? Zu sehr erzeigten sich die Entscheidungsträger der Gemeinschaft als die Getriebenen und zu wenig ließen sie sich gerade angesichts ihrer gemeinsamen rechtsstaatlichen Grundüberzeugungen auf eine gemeinsame Konzeption jenseits eher dysfunktionaler Systemvorbehalte ein. Die Sicherung der Außengrenzen müsse - so Ministerialrat Dr. Hartmut Hornikkel, Schwerin - deutlicher in ihren allgemeinpolitischen Dimensionen wahrgenommen werden. Im Hinblick auf die Ostgrenzen lasse sich eben wohl doch in der Mehrzahl der Fälle von Wohlstands- und Wirtschaftsflüchtlingen sprechen, was angesichts eines durchschnittlichen Wohlstands gefälles im Verhältnis eins zu zehn auch kaum verwundern dürfe. Mit der Erweiterung könnte zugleich auch eine Überforderung des Außengrenzenschutzes eingetreten sein. Dr. Nanz führte die verschiedenen Aspekte der Diskussion zusammenfassend aus, Schengen lasse sich wohl am ehesten in seiner Bewegung, als dynamischer Prozeß begreifen, der in mehreren Phasen die Mitgliedstaaten der Union einbinde und sich anschicke, einer Erweiterung um die derzeit assoziierten Staaten den Weg zu ebnen. An der Distanz des Vereinigten Königreichs werde sich allerdings angesichts gegebener innenpolitischer Festlegung kaum etwas ändern lassen. Greife man noch einmal den Bereich der Organisierten Kriminalität heraus, sei in der Tat als Grundannahme wohl nicht zu leugnen: "Wir sind immer die Getriebenen". Die Ermittlungsinstrumente in diesem Bereich zu effektuieren sei unverzichtbar. Ein besonderes Problem stellten - wie zu recht betont worden sei - die Wirtschaftsflüchtlinge dar; bei dieser Gruppe bestärkten die persönlichen Lebensumstände den Entschluß zur Flucht: Zu erfolversprechenden Bemühungen, die Wirtschaft zu konsolidieren, bestünden hier nachweisbare Korrelationen. Professor Magiera wies die Diskussion abschließend noch auf eine spezifisch integrationspolitische Fehlentwicklung hin, die im Grunde sinnvoll nur supranational bewältigt werden könne: die Verfolgung von Vergehen gegen das ebenso notwendige wie störanfällige System der finanziellen Hilfen: im Hinblick auf Beihilfenkonzepte, Strukturfonds, sonstige Förderprogramme. Jüngste deutliche Hinweise der Kommission zum Betrugsaufkommen vor allem im Bereich der Agrarsubventionen bestätigten die eklatanten Mängel in der Prävention.
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VI. Ausblick
Insgesamt erfüllten sich indessen auch in diesem Politikfeld die vorsichtigen Erwartungen, die Magiera zur Zukunft der Europäischen Union formuliert hatte: In der Diskussion im Vorfeld der Regierungskonferenz in Turin gehe es um die Weiterentwicklung der eigenen, je mitgliedstaatlichen Identitäten ebenso wie um die gemeinsam erarbeitete Identität. Zu prüfen sein würde die Angemessenheit des Rechtsnormensystems ebenso wie von Reformbemühungen hinsichtlich Institutionen und Verfahren zur Anpassung an die Anforderungen, die die bevorstehende Erweiterungswelle an den Zusammenhalt und die Funktionsfahigkeit der Union stellen. Weiterhin gelte es, das Integrationsprinzip zu stärken, auch im Rahmen der europäischen Zusammenarbeit. Es gelte, die Substanz des neuartigen Gemeinwesens zu sichern, das neben den Nationen existiere, deren Völker verbindend, unter Vergemeinschaftung von Aufgabenbeständen, zur Wahrnehmung durch besondere Institutionen und in besonderen Verfahren. Der Blick auf diese intergouvernementale Säule der Union offenbare praktische Effizienzmängel, demokratie- und rechtstaatliche Strukturdefizite. Fragen der inneren Sicherheit und der Justiz seien - dies stünde mittlerweile außer Frage - indessen für die individuellen Rechte und Pflichtenbindungen von unmittelbarer Bedeutung. Es bedürfe einer systematischen und auf Dauer angelegten Zusammenarbeit, die sich recht eigentlich nur werde verwirklichen lassen, wenn auch diese Politikfelder in den Bereich der Gemeinschaftssäule einbezogen würden. Zumindest aber sollte der institutionelle und verfahrensmäßige Mitgestaltungsbeitrag durch Gemeinschaftsorgane weiter verstärkt werden.
Raumentwicklungspolitik als mehrstufige Kooperation, Entscheidung und Kontrolle Von Arthur Benz Die Entwicklung der bebauten und der natürlichen Umwelt ist das Ergebnis zahlreicher individueller und kollektiver Entscheidungen. Sie wird beeinflußt durch Aktivitäten in unterschiedlichen Aufgabenbereichen, auf unterschiedlichen Ebenen und durch öffentliche wie private Organisationen. Raumentwicklungspolitik, die diese Entscheidungen nach Zielen steuern und koordinieren will, ist damit in der Sache notwendigerweise auf Kooperation, Entscheidung und Kontrolle in einem Mehrebenensystem angelegt, und sie ist zugleich Querschnittspolitik, die verschiedene Aufgabenbereiche koordinieren muß. Wir wissen, daß diese Anforderungen nicht leicht zu erfüllen sind. Wenn die Raumentwicklungspolitik versagt, wird uns dies unmittelbar vor Augen geführt. Ein Blick auf die Situation in den ostdeutschen Bundesländern genügt, um dies zu bestätigen. Verfallene Altstädte, unattraktive Hochbausiedlungen, ungeordnet gelegene Industriegebiete und Landschaftszerstörungen sind die Folgen der Fehlplanungen in der Planwirtschaft, Zersiedlung der Landschaft durch neue Wohn- und Gewerbegebiete sind die Ergebnisse einer Marktwirtschaft, die sich ohne ausreichende Raumplanung nach 1989 entfaltete. Die Einrichtung des europäischen Binnenmarktes und die Internationalisierung der Wirtschaft stellen die Raumentwicklungspolitik vor neue Herausforderungen. Maßgebende Einflußfaktoren der räumlichen Entwicklung lassen sich nicht mehr ausschließlich im nationalen Kontext beeinflussen, sie entziehen sich dem Zugriff der zuständigen nationalen und regionalen Institutionen. Zugleich tritt mit der EU eine neue Ebene der Fachpolitik auf. Nicht nur für die Raumentwicklung maßgebende wirtschaftliche Zusammenhänge, sondern auch politische Entscheidungen, die auf die Raumentwicklung Einfluß nehmen, wurden europäisiert. Hier sind als unmittelbar raumwirksame Politiken insbesondere die regionale Strukturpolitik, die Agrarpolitik und die Infrastrukturpolitik zu nennen, indirekt wirken natürlich auch die Wirtschaftspolitik, die Umweltpolitik und die Forschungspolitik der EU. Um die europäische Ebene in die Raumentwicklungspolitik zu integrieren, bedarf es neuer Organisationsformen und neuer Verfahren nicht nur der europäischen, sondern auch der nationalen und regionalen Politik. So betrachtet hat die Europäisierung einschneidendere Folgen als die deutsche Einheit. Während für die Lösung der Planungsdefizite in den neuen Ländern mit dem System der Raumordnung und Landesplanung der alten Bundesrepublik im Prinzip Konzepte, Strukturen, Verfah-
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ren und Instrumente vorhanden waren, stellt die Internationalisierung und Europäisierung dieses System selbst in Frage. In Expertenkreisen wird seit einiger Zeit über die Europäisierung der Raumentwicklungspolitik diskutiert. Nach wie vor besteht aber eine beträchtliche Unsicherheit, die sich in zwiespältigen Forderungen ausdrückt. Einerseits plädiert man für eine europäische Raumordnungspolitik, mit der die Kommission ihre Fachpolitiken koordinieren soll. 1 Andererseits befürchtet man gerade durch die europäische Raumordnung eine Zentralisierung, die zu Lasten der Länder, Regionen und Gemeinden geht. Deshalb wird gleichzeitig eine intensive Einbeziehung der dezentralen Gebietskörperschaften gefordert. Damit will man die deutsche Form der vertikalen Politikverflechtung in der Raumordnungs- und Regionalpolitik mit ihren komplexen Koordinationsverfahren auf die europäische Ebene ausdehnen. Diese Lösung ist - wie im folgenden gezeigt wird - in zweierlei Hinsicht problematisch: Zum einen droht gerade die Partizipation der dezentralen Gebietskörperschaften die Zentralisierung zu fördern, die man eigentlich verhindern will. Zum anderen vergibt man mit der bloßen Ausdehnung der Politikverflechtung eine Chance, die die Europäisierung der Raumentwicklungspolitik für die dezentrale Politik bietet. Sie kann nämlich dazu beitragen, die Konsistenz raumbedeutsamer Politiken zu erhöhen, weil sie dazu zwingt, die starke vertikale Verflechtung der bestehenden Strukturen aufzulösen. Diese These soll im folgenden in vier Argumentationsschritten begründet werden: Zunächst sind die Strukturen und Probleme der Raumordnungs- und Regionalpolitik der Bundesrepublik darzustellen (A.). Danach werde ich den Stand der Europäisierung der Raumentwicklungspolitik erläutern (B.), um dann die absehbaren Konsequenzen einer Ausdehnung der vertikalen Politikverflechtung aufzuzeigen (C.). Abschließend werde ich skizzieren, welche Chancen die Europäisierung bietet, um eine Organisation in der EU zu verwirklichen, die dem Charakter von Raumentwicklungspolitik als Querschnittsaufgabe und Mehrebenenpolitik gerecht wird (D.). Meine Überlegungen beruhen auf Theorien und Analysen zur Funktionsweise mehrstufiger Koordinations-, Entscheidungs- und Kontrollstrukturen, deren Verständnis für die Bewältigung der anstehenden Herausforderungen notwendig ist. 2 I Vgl. z. B. Beirat für Raumordnung, Zur Weiterentwicklung der Raumordnungspolitik in Europa (Stellungnahme vom 17. Mai 1994), abgedruckt in: Bundesminister für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau, Empfehlungen und Stellungnahmen des Beirats für Raumordnung, Bonn 1994, S. 79. 2 Arthur Benz 1992, Mehrebenen-Verflechtung. Verhandlungsprozesse in verbundenen Entscheidungsarenen, in: A. Benz / F. W Scharpf / R. Zintl, Horizontale Politikverflechtung, Frankfurt/New York 1992, S. 147-205; Arthur Benz, Kooperative Verwaltung, Baden-Baden 1994, S. 171-221; Roland Czada, Vertretung und Verhandlungen, in: A. Benz / W Seihel (Hrsg.), Beiträge zur Theorieentwicklung in der Politikwissenschaft, Baden-Baden 1997, S. 237-260; Philipp Genschei, Dynamische Verflechtung in der internationalen Standardisierung, in: R. Mayntz / F. W Scharpf (Hrsg.), Gesellschaftliche Selbstregelung und politische
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A. Zur Struktur der Raumordnuugs- und Regionalpolitik in der Bundesrepublik - Vertikale Politikverflechtung und Koordiuationsdefizite Die deutsche Raumentwicklungspolitik wird oft zum Vorbild für andere Mitgliedstaaten der EU erklärt. In vielerlei Hinsicht mag das berechtigt sein. Allerdings hat sie einen entscheidenden Nachteil: Durch eine stark ausgeprägte vertikale Koordination und Verflechtung zwischen den Ebenen des Staates leidet die Koordination zwischen raumbedeutsamen Fachpolitiken. Dies gilt sowohl für Programme und Maßnahmen, die die Raumnutzung öffentlicher und privater Akteure regulieren, als auch für solche, die Aktivitäten fördern oder durchführen, um eine gewünschte Raumentwicklung zu induzieren. Die Regulierung der Raumnutzung erfolgt in der Bundesrepublik durch verbindliche Ziele, die in den Plänen und Programmen der Raumordnung und Landesplanung enthalten sind. Sie werden von den Landesregierungen und den Institutionen der Regionalplanung aufgestellt und binden alle öffentlichen Stellen, während Private erst durch die aus den Regionalplänen abgeleiteten Bebauungspläne der Gemeinden gebunden sind. Die Ziele der Raumordnung und Landesplanung beruhen auf Koordinationsprozessen zwischen Fachbehörden und zwischen Institutionen, die Raumentwicklungsziele für den Gesamtraum, für Regionen und Gemeinden formulieren. Der Hierarchie der Pläne, in der die Ziele für den kleineren Raum den Zielen für den größeren Raum untergeordnet sind, entspricht die Berücksichtigung der Belange der kleineren Räume in der Planung auf der höheren Ebene. Koordination erfolgt zwischen dem Land, den Regionen und den Kommunen nach dem "Gegenstromprinzip", das eine kontinuierliche, dichte Kooperationsbeziehung verlangt. In der Praxis werden die im Raumordnungsrecht vorgeschriebenen Ziel bindungen und Beteiligungsverfahren ausgefüllt durch Verhandlungen zwischen den für die Planung zuständigen Verwaltungen und den Adressaten der Ziele. 3 Die Hierarchie des Zielsystems wirkt also nur als "Schatten", in dem sich kooperative Prozesse entfalten. Steuerung, FrankfurtlNew York 1995, S. 233-265; Peter B. Evans / Harold K. lacobson / Robert D. Putnam (Hrsg.), Double-EdgedDiplomacy. International Bargaining and Domestic Politics, Berkley 1993; Adrienne Hiritier, Innovationsmechanismen europäischer Politik: Regulativer Wettbewerb und neue Koalitionsmöglichkeiten in europäischen Politiknetzwerken, in: D. lansen / K. Schubert (Hrsg.), Netzwerke und Politikproduktion, Marburg 1995, S. 205221; Adrienne Hiritier, Die Koordination von Interessenvielfalt im Europäischen Entscheidungsprozeß: Regulative Politik als "Patchwork", in: A. Benz / W Seibel (Hrsg.), Beiträge zur Theorieentwicklung in der Politikwissenschaft, Baden-Baden 1997, S. 261-279; Robert Putnam, Diplomacy and Domestic Politics: The Logic of Two-Ievel Games, in: International Organization 42, 1988, S. 427-460; Fritz W Scharpf Games Real Actors Could Play: The Challenge of Complexity, in: Journal of Theoretical Politics 3, 1991, S. 277-304; Fritz W Scharpf Politische Optionen im vollendeten Binnenmarkt, in: M. lachtenfuchs / B. KohlerKoch: Europäische Integration, Opladen 1996, S. 109-140. 3 Dazu insgesamt Dietrich Fürst / Emst-Hasso Ritter, Landesentwicklungsplanung und Regionalplanung, Düsseldorf 1993.
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In der Bundesrepublik wird die Raumnutzung effektiv durch Pläne und Programme der dezentralen Ebenen, insbesondere der Regionalplanung und der kommunalen Bauleitplanung, reguliert. Dies ist sachlich begründet, weil nur auf der regionalen und kommunalen Ebene eine hinreichend detaillierte Planung möglich ist. Auf der Landesebene, vor allem auf der Ebene des Bundes sind nur grobe Festlegungen über Raumfunktionen und großflächige Freiräume möglich. Dementsprechend hat der Bund auf die Wahrnehmung der ihm zugeschriebenen Planungskompetenzen für den Gesamtstaat weitgehend verzichtet und sich auf die Festlegung rahmenartiger Grundsätze, Ziele und Organisationregelungen beschränkt. Der Grund hierfür liegt allerdings auch in den Schwierigkeiten, einen Raumordnungsplan für das Bundesgebiet durchzusetzen, da er zwingend die Kooperation zwischen Bund und Ländern erfordern würde. Die Erfahrung mit dem ersten und einzigen Bundesraumordnungsprogramm von 1975 wirkte ernüchternd: Dieses kam erst nach langwierigen Verhandlungsprozessen zustande und war zum Zeitpunkt seiner Verabschiedung bereits durch die reale Entwicklung überholt. Nach der deutschen Einheit, als Bedarf für eine bundesweite Raumplanung gegeben schien, reagierte der Bund mit einem Orientierungs- und Handlungsrahmen, der informierend und nicht regulierend wirken sollte. Die Entscheidungsstrukturen der deutschen Raumordnungspolitik sind demnach stark vertikal verflochten, allerdings zeichnen sie sich aus durch einen relativ hohen Grad an Dezentralisierung, wobei eine weitergehende Zentralisierung nicht zuletzt durch den Einfluß der Länder im kooperativen Föderalismus verhindert wird, eine eher lose Verflechtung der Ebenen durch Verfahren, einen Vorrang informeller Kooperation gegenüber formalen Beteiligungs- und Kontrollstrukturen, was die Flexibilität der Verflechtung erhöht. Der Vorteil dieser Strukturen liegt darin, daß dadurch leistungsfähige Koordination möglich und Konflikte hinreichend bewältigt werden können. Der Nachteil liegt im Verfahrensaufwand, in der eher geringen Steuerungswirkung von verbindlichen Zielen, die oft nur Formelkompromisse bilden und nicht rasch genug an veränderte Entwicklungen angepaßt werden können. Ein weiterer gravierender Nachteil der deutschen Raumentwicklungspolitik besteht darin, daß sie sich auf Regulierung beschränkt, aber über keine politischen oder finanziellen Ressourcen verfügt, um auf die Verwirklichung von Entwicklungszielen hinzuwirken. Faktisch erbringt sie Informations- und Orientierungsleistungen für Fachplanungen und Kommunen, sie kann Maßnahmen zur unmittelbaren Raumbeeinflussung nur durch Beratung und Überzeugung beeinflussen. Die Koordination zwischen Raumplanung und raumbeeinflussenden Fachpolitiken wird zusätzlich erschwert, wenn letztere in Formen der vertikalen Politikverflechtung eingebunden sind. Dies trifft in der Bundesrepublik für die regionale Wirtschaftsförderung ebenso zu wie für wichtige Bereiche der Infrastrukturpolitik.
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Ich will mich im folgenden auf die regionale Wirtschaftsförderung beschränken, zum einen, weil sie zu den wichtigsten Politikfeldern gehört, in denen die Raumentwicklung aktiv gesteuert wird, zum anderen, weil in diesem Bereich die Europäisierung bereits weit fortgeschritten ist. Bekanntlich ist die ursprünglich den Ländern obliegende Aufgabe der Förderung der regionalen Wirtschaftsstruktur 1969 in eine Bund-Länder-Gemeinschaftsaufgabe übergeführt worden. In einem gemeinsam erstellten Rahmenplan legen der Bund und die Länder die Fördergebiete, Förderkriterien, Schwerpunkte und die verfügbaren Mittel fest. Entscheidungen erfordern die Zustimmung der Bundes und einer Mehrheit der Länder. Die Länder konnten bis in die 70er Jahre durch eigene Förderprogramme die Gemeinschaftsaufgabe ergänzen und konterkarierten damit deren Verteilungswirkungen, die Beihilfekontrolle der EU schränkt die Möglichkeit dezentraler Wirtschaftsförderung aber weitgehend ein. Die Politikverflechtung im Bereich der regionalen Wirtschaftsförderung zeichnet sich aus durch - einen hohen Zentralisierungsgrad, d. h. die Steuerung durch den Bund und die Länder, - eine institutionalisierte Verhandlungsstruktur, die den Bund und die Länder zur Kooperation zwingt, - eine starke Formalisierung und Routinisierung der Kooperation. Die Kritik an dieser Art der Politikverflechtung ist bekannt: Beklagt wird die mangelnde Steuerungswirkung und Flexibilität von Programmen, die das Besitzstandsdenken der beteiligten Regierungsvertreter und die Vermeidung konfliktträchtiger Umverteilungen widerspiegeln. 4 Dem steht gegenüber, daß mit der Gemeinschaftsaufgabe ein Ressourcentransfer zugunsten strukturschwacher Regionen stabilisiert wurde. Im übrigen wird oft übersehen, daß die Entscheidungskriterien des Planungsausschusses durch wissenschaftliche Untersuchungen untermauerte Verteilungsnormen darstellen, die durch "landesegoistische" Interessen bestenfalls überformt werden, und daß sehr wohl im Zeitablauf Reaktionen auf veränderte Problemlagen erfolgten. 5 Die Leistungsfähigkeit der einzelnen Teilbereiche der Raumentwicklungspolitik soll an dieser Stelle nicht ausführlich evaluiert werden. Für unser Thema wichtig ist die Feststellung, daß sie sich durch einen hohen Grad an Verflechtung zwischen den Ebenen des föderativen Staates auszeichnen, zugleich in "horizontaler" Hinsicht, also bezogen auf die relevanten Steuerungsaufgaben, stark fragmentiert sind. Programme, die zwischen den Ebenen ausgehandelt werden, sind in der horizontalen Koordination kaum noch veränderbar, weil jede Änderung den Konsens zwi4 Vgl. insbes. Fritz W. Scharpf / Bemd Reissert / Fritz Schnabel, Politikverflechtung. Theorie und Empirie des kooperativen Föderalismus, Kronbergrrs. 1976. 5 Dieter Ewringmann et al., Die Gemeinschaftsaufgabe "Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur" unter veränderten Rahmenbedingungen, Berlin 1986.
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schen den Ebenen in Frage stellen würde. Deshalb tendieren vertikal verflochtene Verwaltungen zur Abschottung gegenüber Ansprüchen, die in der Querschnittskoordination an sie gestellt werden. Schon im nationalen Kontext erwies sich die mangelnde horizontale Integration als ein gravierendes Defizit. Die Europäisierung der Raumentwicklungspolitik kann dieses Problem verschärfen, weil die EU bisher nur durch Fachpolitiken auf die Raumentwicklung einwirkt. Auf der anderen Seite läßt sich zeigen, daß die vertikale Verflechtung in einem europäischen Mehrebenensystem nicht mehr in der bisher bestehenden Weise funktionieren kann. Genau darin liegt eine Chance für eine Änderung und Verbesserung der bisherigen Strukturen.
B. Europäisierung der Politikverflechtung - Ansätze einer Raumentwicklungspolitik der EU
Trotz der fortgeschrittenen Europäisierung und Globalisierung raumbedeutsamer Zusammenhänge gibt es bislang noch keine konsistente europäische Raumentwicklungspolitik. Allerdings besitzt die EU über Fachaufgaben Einflußmöglichkeiten auf die Raumstrukturen. Die Übertragung dieser Zuständigkeiten folgte keiner fachspezifischen Rationalität, sondern einer politischen Logik. 6 Nationale Interessen der Regierungen der Mitgliedstaaten und Steuerungsinteressen der Kommission ergänzen sich hierbei in ähnlicher Weise wie im kooperativen Föderalismus die Interessen der Landesregierungen und der "Fachbruderschaften". In beiden Fällen führten die durch Verteilungskonflikte geprägten intergouvernementalen Verhandlungen zur Verlagerung von Aufgaben auf die höhere Ebene, die in Strukturen der Politikverflechtung erfüllt werden. Das gilt insbesondere für die Entwicklung der Regionalpolitik der EU. Die europäische Integration war und ist zwar geleitet durch die Idee eines freien Binnenmarktes, aber dessen Verwirklichung zog angesichts der unterschiedlichen Entwicklungsniveaus der nationalen Wirtschaften erhebliche asymmetrische Verteilungseffekte nach sich. Die Erweiterung der EG und die Erreichung eines höheren Integrationsniveaus war deshalb in den 70er und 80er Jahren begleitet von Kompensationsmaßnahmen, die die Ungleichgewichte ausgleichen sollten. So entstand und expandierte die europäische Regionalpolitik, für die inzwischen etwa ein Drittel der Haushaltsmittel der EU eingesetzt werden. Im Zusammenhang damit stehen auch erste Ansätze der gemeinsamen Infrastrukturförderung, die im wesentlichen aus dem Kohäsionsfonds finanziert werden. Die Kommission ihrerseits verband mit diesen Programmen ein eigenes Interesse an einer konsistenten Steuerung des Mitteleinsatzes in den Mitgliedstaaten. 6 Liesbet Hooghe / Michael Keating, The Politics of European Union Regional Policy, in: Journal ofEuropean Politics 1, 1994, S. 54-79.
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Sie bemühte sich um eine zielorientierte Programmentwicklung und Implementation. Dabei war sie angesichts ihrer begrenzten administrativen Kapazität, angesichts ihrer Distanz zur Vollzugsebene und aus sachlichen Gründen auf die Kooperation mit den regionalen Organisationen der Mitgliedstaaten angewiesen. In der Strukturpolitik wurde daher das ursprünglich ausschließlich die nationalen Verteilungsinteressen befriedigende Quotensystem in den 80er Jahren auf eine zielorientierte und regionalisierte Politik umgestellt. Die Mittel fließen in Förderregionen, die nach Indikatoren der wirtschaftlichen Entwicklung festgelegt werden. Sie werden aufgrund von Programmen vergeben, die in den Regionen aufgestellt und mit den Förderkonzepten der Kommission abgestimmt werden. Die Verwirklichung der Programme erfolgt durch die zuständigen regionalen Verwaltungen und wird durch Begleitausschüsse kontrolliert. 7 In den anderen für die Raumentwicklung wesentlichen Politikfeldem, der Infrastrukturpolitik und der Raumordnungspolitik, finden sich bislang nur Ansätze einer stärkeren Programmorientierung. Die europäische Infrastrukturpolitik erreichte erst mit der Verabschiedung eines Aktionsprogramms im November 1990 eine nennenswerte Qualität, als ein Leitschema für das Europäische Transportnetz entwickelt wurde, das Schienen, Straßen und Schiffahrtswege einschloß. 8 Durch Art. 129 b Abs. 1 des Maastrichter Vertrags wurde der "Auf- und Ausbau transeuropäischer Netze in den Bereichen der Verkehrs-, Telekommunikations- und Energieinfrastruktur" formal in den Aufgabenkatalog aufgenommen. Das verstärkte Engagement der EU soll einerseits zur Vollendung und Verbesserung des Binnenmarktes beitragen, der auf leistungsfähige Interaktionsmöglichkeiten angewiesen ist. Zum anderen soll durch Maßnahmen der Infrastrukturförderung in benachteiligten Regionen das Wohlstandsgefälle in der Union verringert werden, indem diese Regionen besser an die Verkehrs-, Handels- und Kommunikationsströme angebunden werden. Neben Fördermaßnahmen im Rahmen der Kohäsionspolitik stellt die Union Leitlinien für die Entwicklung der transeuropäischen Netze auf. Das bedeutet jedoch nicht, daß es bereits eine Infrastrukturpolitik der Union gibt, die diesen Na7 Beate Bursig, Die Regionalpolitik der Europäischen Gemeinschaften unter besonderer Berücksichtigung integrationspolitischer Überlegungen, FrankfurtlM. 1991; Fritz Franzmeyer / Bemd Seidel / Christian Weise, Die Refonn der EG-Strukturfonds von 1988 - Konzeption, Umsetzung, Weiterentwicklung aus deutscher Sicht, Berlin 1993; Hans Gabriel/ Waltraud Menzel, Neuordnung der EG-Strukturfonds, in: WSI-Mitteilungen 10 1 1989, S. 584595; Gary Marks, Structural Policy and Multilevel-Governance in the EC, in: Alan Calfruny / Glenda Rosenthai (Hrsg.), The State of the European Community 11, Boulder/Col., 1993, S. 1-30; Gary Marks, Politikmuster und Einflußlogik in der Strukturpolitik, in: M. lachtenfuchs / B. Kohler-Koch (Hrsg.), Europäische Integration, Opladen 1996, S. 313-343; Angelika Poth-Mägele, Das Prinzip der "Partnerschaft" in der Strukturpolitik der Europäischen Gemeinschaft, FrankfurtlM. 1993; Ralf Sitte / Astrid Ziegler; Die EU-Strukturfonds nach der Refonn, in: WSI-Mitteilungen 47, 1994, S. 214-222; Rolf Waniek, EG-Regionalpolitik für die Jahre 1994-1999, in: Wirtschaftsdienst 74,1994, S. 43-49. 8 Wemer Reh, Die Verkehrspolitik der Europäischen Gemeinschaft - Chance oder Risiko für eine umweltgerechte Mobilität, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 5193, 29. 1. 1993, S.34-44.
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men verdient. Entscheidungen über transeuropäische Netze fallen in Verhandlungen zwischen Regierungen der Mitgliedstaaten, werden also nach wie vor im Prozeß der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit koordiniert. Dies sieht Art. 129 c Abs. 3 des EG-Vertrags auch so vor. Die Kommission wirkt auf der Basis der Leitlinien moderierend in den Verhandlungen mit. Ähnliches gilt für die Raumordnungspolitik. Der Vertrag von Maastricht begründet bestenfalls eine Teilkompetenz im Rahmen der Umweltpolitik, die sich auf den Freiraumschutz erstreckt. Zuständig ist der Ministerrat, der Maßnahmen im Bereich der Raumordnung jedoch nur mit einstimmig gefaßten Beschlüssen veranlassen kann (Art. 130 s Abs. 2 EG-Vertrag). Die Kommission strebt ihrerseits eine europäische Raumordnungspolitik an, scheiterte mit ihren Initiativen bisher allerdings im Ministerrat. Von einem integrierten Konzept für die Raumentwicklung, das den Fachpolitiken Orientierung oder Zielvorgaben geben könnte, ist die Union noch ein gutes Stück entfernt. Der 1991 vorgelegte Unionsbericht "Europa 2000 Perspektiven der künftigen Raumordnung in der Gemeinschaft" enthält im wesentlichen eine Beschreibung der Raumstruktur und kann deshalb in der Tat als bloßer "Appendix der Binnenmarktstrategie,,9 gelesen werden. Der 1994 vorgelegte Folgebericht "Europa 2000 + - Europäische Zusammenarbeit bei der Raumentwicklung", plädiert zwar für den auch in der Bundesraumordnung inzwischen verfolgten Ansatz der Städtenetze, gibt aber kaum Auskunft darüber, wie diese zu erreichen sind. 1O Im übrigen sind diese Berichte bestenfalls Informationsgrundlage für die nationale Raumordnungspolitik. Der 1989 eingerichtete "informelle Rat der europäischen Minister für Raumordnung und Regionalplanung" hat inzwischen auf seiner Tagung in Leipzig im September 1994 über Grundlagen einer Europäischen Raumentwicklungspolitik beraten, die durch eine bessere Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten und eine verstärkte Koordination der Entwicklungsziele erreicht werden soll. 11 Die Minister ließen zugleich erkennen, daß sie nicht an eine Erweiterung der Raumordnungskompetenz der Union denken. Zwar planen sie die Ausarbeitung eines europäischen Raumentwicklungskonzepts, dieses aber - so lautet der Beschluß - "wird unter Berücksichtigung der bestehenden Institutionen ausgearbeitet werden und ist für die Mitgliedstaaten nicht verbindlich; es wird das Subsidiaritätsprinzip respektieren; es wird von jedem Land nur so weit berücksichtigt, wie dieses europäischen Raumordnungsaspekten in seiner nationalen Politik Rechnung tragen möchte". 12
9 Wolfgang Knapp, "Europa 2000": Raumordnung als Appendix der Binnenmarktstrategie?, in: Raumforschung und Raumordnung 1993, S. 18-27. IO Als knappe Zusammenfassung vgl. Welf Selke, Summary of the State of Preparation of the European Spatial Development Perspective, in: Eureg 2, 1995, S. 62-65. II Bundesminister für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau (Hrsg.), Grundlagen einer Europäischen Raumentwicklungspolitik. Bonn 1995. 12 Bundesminister für Raumordnung. Bauwesen und Städtebau, (Fußnote 11). S. v.
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Die Tatsache, daß die EU im Rahmen der Raumplanung und Infrastrukturpolitik bisher keine effektive Steuerungskompetenz besitzt, bedeutet nicht, daß damit für die Raumentwicklungspolitik alles beim alten geblieben ist. Die Tendenz einer Europäisierung ist nicht zu übersehen, und sie wird sich in Zukunft wohl noch verstärken. Als Politikarena gewinnt die Europäische Union an Bedeutung. Zu beachten ist dabei aber, daß Entscheidungen in dieser Arena nicht durch eine Regierung oder ein Parlament getroffen werden, sondern Ergebnis "intergouvernementaler" Verhandlungen zwischen den nationalen Regierungen sind, in denen die Kommission als initiierende, beratende und vollziehende Institution teilnimmt. Für alle Bereiche der Raumentwicklungspolitik der EU, für die regionale Strukturpolitik, die Infrastrukturpolitik und die Raumordnungspolitik gilt damit, daß die Politikverflechtung innerhalb der Bundesrepublik nunmehr überlagert wird durch eine "europäische POlitikverflechtung,,13, die überwiegend horizontale Verflechtung zwischen den Regierungen der Mitgliedstaaten ist, im Bereich der Strukturpolitik durch eine vertikale Verflechtung zwischen Kommission, Bundesregierung und Landesregierungen bzw. Regionen ergänzt wird. Es ist diese "Verdoppelung" der Politikverflechtung, und nicht eine wie immer geartete Kompetenzverlagerung vom Bund oder den Ländern auf die EU, die institutionelle Konsequenzen im nationalen Kontext nach sich ziehen muß. Die Unsicherheit über die Konsequenzen, die aus der Europäisierung der Raumentwicklungspolitik zu ziehen sind, sind offensichtlich dadurch verursacht, daß man die neue Struktur des europäischen Mehrebenensystems noch nicht hinreichend analysiert hat.
c. Die Problematik einer "doppelten Politikverflechtung" ein Exkurs zur Theorie von Mehrebenenstrukturen
Der Begriff der "doppelten Politikverflechtung" wurde in der politikwissenschaftlichen Literatur von Rudolf Hrbek geprägt. 14 Er implizierte eine Problembeschreibung, die vor allem von Fritz W. Scharpf untersucht wurde. 15 Argumentiert wird, daß die in der bundesdeutschen Politikverflechtung angelegten Entscheidungsprobleme, Steuerungsdefizite und Tendenzen einer Verselbständigung der Bürokratie durch die Erweiterung um eine zusätzliche Ebene massiv verstärkt würden. Dies läßt sich leicht zeigen, wenn man analysiert, wie politische Entscheidungen zwischen Ebenen koordiniert werden können, die durch Politikverflechtung und Verhandlungssysteme geprägt sind. 13 Edgar Grande. Vom Nationalstaat zur europäischen Politikverflechtung, Habilitationsschrift, Konstanz 1994; Edgar Grande. Das Paradox der Schwäche. Forschungspolitik und Einflußlogik der europäischen Politikverflechtung, in: M. lachtenfuchs I B. Kahler-Koch (Hrsg.), Europäische Integration, Opladen 1996, S. 373-399. 14 Rudolf Hrbek. Die doppelte Politikverflechtung, in: R. Hrbek I U. Thaysen (Hrsg.), Die deutschen Länder und die europäischen Gemeinschaften, Baden-Baden 1986, S. 17-36. 15 Fritz W. Scharpf, Die Politikverflechtungs-Falle: Europäische Integration und deutscher Föderalismus, in: Politische Vierteljahresschrift 26, 1985, S. 323-356.
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Nehmen wir in einem Gedankenexperiment an, die Europäische Union würde einen Raumordnungsplan aufstellen, nach dem sich ihre Fördermaßnahmen im Bereich der Regionalen Strukturpolitik und der Infrastrukturpolitik richten würden. Zuständig für dessen Verabschiedung wäre der Ministerrat. Die Belange der nationalen Teilräume der europäischen Raumplanung werden durch die Regierungen der Mitgliedstaaten formuliert. In Deutschland müßte dies durch Zusammenarbeit zwischen dem Bund und den Ländern geschehen, um dem "Gegenstromprinzip" und den Interessen der dezentralen Gebietskörperschaften gerecht zu werden. Diese würde also in Verhandlungen ihre Entscheidungsvorschläge festlegen, die dann die Bundesregierung (oder auch ein Vertreter der Länder) im Ministerrat vertreten müßte. Man braucht keine tieferen Kenntnisse in Verhandlungstheorien, um zu erkennen, daß sich in einer solchen Konstellation die Bundesregierung in einer prekären Situation befindet. Sie ist an einen Konsens mit den Ländern gebunden, der ihren Verhandlungsspielraum im Ministerrat einengt. Die Möglichkeiten, Kompromisse zu finden, damit Koalitionen zu schließen oder Verhandlungspakete zu schnüren, sind gering. Unabhängig davon, ob nach dem Mehrheitsprinzip oder mit Einstimmigkeit entschieden würde, wäre die Bundesregierung kaum in der Lage, die raumordnerischen Belange der Bundesrepublik wirksam durchzusetzen. Abgesehen von Ergebnissen der experimentellen Verhandlungsforschung l6 gibt es folgende theoretische Ansätze, um die Problematik von mehrstufigen Kooperations- und Verhandlungsprozessen zu begründen: Die durch die Sozialpsychologie geprägte Verhandlungstheorie geht davon aus, daß Vertreter durch die Bindung an Organisationsinteressen in ihrem Verhandlungsverhalten beeinflußt werden. Sie neigen in interorganisatorischen Verhandlungen zu "harter" Positionsbehauptung statt flexiblem Verhandlungsverhalten, praktizieren als Verhandlungsstil "bargaining" statt "problem-solving".17 Dies erkannten schon Richard Walton und Robert McKersie, die in ihrer klassischen Untersuchung zu Verhandlungen zwischen Organisationen feststellten: "Very often integrative bargaining is impeded by intra-organisational pressures which requires negotiators to act in a specific way. His constituents may not tolerate off-the record discussions, subcommittees, and other tactics necessary for integrative bargaining. Nor may the constituents be satisfied with an agreement that had been reached via problem solving".18 Roland Czada l9 begründet die Tendenz von Blockaden der Entscheidungsprozesse mit ei-
nem spieltheoretischen Modell, das eine Verhandlung zwischen zwei Vertretern von Organisationen abbildet. In Verhandlungen, in denen die Vertreter bei der Seiten an vorgegebene Standpunkte gebunden sind und diese durchsetzen müssen (Czada spricht von einem "Durchsetzungsmandat"), kommt es zu folgender Spielsituation: "Bei einem Durchsetzungsmandat bestrafen die Auftraggeber "Nachgeben" in jedem Fall, weil sie darin einen Verrat ihrer Interessen sehen .... Das beiderseitige Durchsetzungsmandat führt unweigerlich zur Blockade.,,2o 16 17 18 New
Nachweise bei Benz, Kooperative Verwaltung (Fußnote 2), S. 189-190. Ebd., S. 187-192, m.w.N. Richard E. Walton / Robert B. McKersie, A Behavioral Theory of Labor Negotiations, York, 1965, S. 350. 19 Czada, Verhandlungen und Vertretung (Fußnote 2). 20 Ebd., S. 253.
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Bestenfalls befinden sich die Verhandlungspartner in einer Situation, bei der sie zwar eine Verhandlungslösung gegenüber der Blockadesituation bevorzugen, aber nicht bereit sind, einseitig nachzugeben. Es entsteht ein Dilemma (Gefangenendilemma), das nur unter bestimmten Voraussetzungen überwunden werden kann. Eine dritte Argumentation kann sich auf die Verhandlungstheorie von Fritz W. Scharpf stützen?1 Dieser geht davon aus, daß eine Einigung zwischen Vertretern, die divergierende Interessen verfolgen, aber eine Verhandlungslösung anstreben oder erreichen müssen, durch Koppelgeschäfte möglich ist. Dabei werden Entscheidungsvorschläge aus unterschiedlichen Themenfeldern zusammen verhandelt. Eine Einigung ist möglich, wenn jeder in der Angelegenheit nachgibt, die für ihn als weniger wichtig oder weniger nachteilig betrachtet wird. In der Bilanz aus Nutzen und Kosten können so alle Beteiligten gewinnen. Wenn nun aber ein solches Paket auf einer anderen Ebene als Entscheidungsvorschlag in Verhandlungen eingebracht wird, so kann es normalerweise nicht verändert werden, mit der Folge, daß eine Einigung unwahrscheinlich wird. Wird das Paket "aufgeschnürt", ergibt sich die nicht weniger problematische Folge, daß seine Bestandteile die Zahl der zu berücksichtigenden Entscheidungsvorschläge erhöhen, wodurch eine Einigung zumindest erheblich erschwert wird. Darüber hinaus muß man auch die Tatsache der institutionellen Grenzen zwischen den Ebenen berücksichtigen. Diese wirken per se konfliktverstärkend und erschweren damit die Konsensfindung. Dies geschieht zum einen dadurch, daß mit der AufgabensteIlung einer organisatorisch abgegrenzten Arena Problemwahrnehmungen und Bewertungsmuster geprägt werden. Zum zweiten werden Kompetenzbereiche definiert, innerhalb derer Einfluß in Koordinationsprozessen akzeptiert wird, während Auswirkungen der Entscheidungen in anderen Arenen besonders gerechtfertigt werden müssen. Schließlich ziehen organisatorische Abgrenzungen auch Grenzen der Verhaltensorientierung. Das Verhalten nach außen ist in aller Regel stärker konfliktorientiert als das Verhalten gegenüber den Angehörigen der eigenen Arena. 22
Das skizzierte Gedankenexperiment ist nicht gänzlich unrealistisch, tatsächlich entspricht die Entscheidungsstruktur, die der neue Art. 23 GG schuf, genau dem skizzierten Muster. Im Extremfall können die Länder mit einer Zweidrittelmehrheit im Bundesrat den Bund zwingen, ihre Stellungnahme als Verhandlungsposition im Ministerrat zu vertreten. Fritz W. Scharpf hat in seiner Expertise vor der Gemeinsamen Verfassungskommission von Bundestag und Bundesrat nachdrücklich vor einer solchen Regelung gewarnt. Wenn die Selbstblockierung oder bloße Einigung auf den kleinsten gemeinsamen Nenner vermieden werden soll, so schreibt Scharpf, "dann ist die europäische Politik künftig noch mehr als bisher angewiesen auf die Verhandlungskompetenz der nationalen Regierungen - das heißt auf deren Fähigkeit und Bereitschaft zur Suche nach flexiblen Kompromissen, kreativen Kompensationsgeschäften und Paketlösungen, in denen heterogene Optionen in unterschiedlichen Politikfeldem miteinander verknüpft werden,m. Durch die Bin21 Fritz W. Scharpf Koordination durch Verhandlungssysteme: Analytische Konzepte und institutionelle Lösungen, in: A. Benz / F. W. Scharpf / R. Zintl, Horizontale Politikverflechtung, FrankfurtlNew York 1992, S. 51-96 (69-75). 22 Benz, Mehrebenen-Verflechtungen, (Fußnote I), S. 162-163. 23 Fritz W. Scharpf Europäisches Demokratiedefizit und deutscher Föderalismus, in: Staatswissenschaften und Staatspraxis 3, 1992, S. 239-306.
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dung der Bundesregierung an die Entscheidung der Länder ist ihr aber - so Scharpf - genau diese Verhandlungsfähigkeit genommen. Nun zeigt die Praxis der Länderbeteiligung seit Verabschiedung von Artikel 23 GG, daß die Befürchtungen von Scharpf nicht eingetreten sind. Das liegt daran, daß auch den Vertretern der Länder das geschilderte Problem der mehrstufigen Verhandlungen im wesentlichen klar ist. Die sozialwissenschaftliche Theorie deckt ja in der Regel nur die "Logik" von Strukturen und Prozessen auf, deren Folgen und Ergebnisse die Praktiker aufgrund ihrer Erfahrung kennen. 24 Es ist ohne weiteres auch für Landespolitiker einzusehen, daß sie ihren Interessen nur schaden, wenn sie in Angelegenheiten ihres Zuständigkeitsbereichs die Bundesregierung mit einem "Durchsetzungsmandat" beauftragen. Statt dessen erteilen sie ihr ein "Kompromißmandat,,25. Dieses verlangt von den Vertretern, daß sie eine Verhandlungslösung erzielen, ohne daß diese vorherbestimmt wäre, wobei ein Abweichen von der vorgegebenen Optimalforderung zur Vermeidung von Verhandlungsblokkaden von vornherein akzeptiert wird. Kompromißmandate setzen ein wechselseitiges Vertrauen zwischen Repräsentanten und Vertretenen voraus. Dies kann man im Bund-Länder-Verhältnis wegen der Dauerhaftigkeit der Beziehungen und wegen der in der föderativen Ordnung enthaltenen Pflicht zur wechselseitigen Rücksichtnahme als gegeben unterstellen. Daß die erweiterte Politikverflechtung in der EU funktioniert oder zumindest nicht in ständige Blockaden mündet, ist nach diesen Überlegungen auf Veränderungen in der bundesstaatliche Kooperationspraxis zurückzuführen. An die Stelle eines auf institutionellen Verflechtungsstrukturen beruhenden Einigungszwangs zwischen Bund und Ländern ist eine eher lose Verbindung getreten, die mehr einem dichten Informationsaustausch als der Festlegung von Positionen und der Entscheidung dient. Die nicht direkt in den europäischen Verhandlungssystemen vertretenen Länder vermitteln ihre Interessen zudem nicht allein über den Bund, sondern auch im Wege ständiger Beratungen mit anderen in der europäischen Politik beteiligten Organisationen. Die Europäisierung führte also nicht zu einer simplen Verdoppelung der Politikverflechtung. Mit dem Aufbau europäischer Verhandlungssysteme lösten sich vertikale Verhandlungsstrukturen im deutschen Bundesstaat auf und wurden ersetzt durch vielfältige Informationsbeziehungen zwischen den Ebenen. Für die Durchsetzung dezentraler Interessen und die vertikale Integration sind diese von nicht zu unterschätzender Bedeutung. Informationen, die in den europäischen Arenen verbreitet werden, wirken sich auf die handlungsleitenden 24 Der britische Soziologe Anthony Giddens sieht die erste - im Vergleich mit der Entdekkung neuer Phänomene nicht weniger wichtige - Aufgabe der Sozialwissenschaft darin, implizites praktisches Wissen explizit zu machen. Dabei geht es um "die Bereitstellung begrifflicher Mittel für die Analyse dessen, was Handelnde über die Gründe ihres Handeins wissen, insbesondere von Fällen, in denen sie sich nicht (diskursiv) bewußt sind, daß sie die Gründe kennen, oder wo den Handelnden in anderen Kontexten ein solches Bewußtsein fehlt". (Anthony Giddens, Die Konstitution der Gesellschaft, Frankfurt / New York 1988, S. 33) 25 Czada, Vertretung und Verhandlungen (Fußnote 2).
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Orientierungen der Akteure aus und können deren Problemwahrnehmungen, Verhandlungsstrategien und Bewertungsmaßstäbe verändern. Sie sind gerade in Verhandlungssystemen effektiv, in denen nicht mit purer Durchsetzungsmacht agiert werden kann, in denen es vielmehr zu den anerkannten Spielregeln gehört, daß Argumente ausgetauscht werden.
D. Raumentwicklungspolitik in der EU als lose gekoppeltes Mehrebenensystem
Die Auflösung der bundesdeutschen Politikverflechtung, oder besser gesagt die Ersetzung institutionalisierter Verhandlungssysteme durch Informations- und Kommunikationsbeziehungen ohne unmittelbaren Konsenszwang bietet eine Chance, im Zuge der Europäisierung die Querschnittskoordination in der nationalen und regionalen Raumentwicklungspolitik zu verbessern. Damit diese Chance realisiert werden kann, müssen die Länder und Regionen anerkennen, daß ihren Interessen nicht durch Beteiligungsrechte in der europäischen Politik nach dem Muster der zustimmungsbedürftigen Gesetzgebung oder der Gemeinschaftsaufgaben Rechnung getragen werden kann. Eine europäische Raumentwicklungspolitik, die in Verhandlungen mit den Regierungen der anderen Mitgliedstaaten erarbeitet werden muß, ist nur realisierbar, wenn die Länder dem Bund ausreichende Verhandlungsspielräume zugestehen. Beharren sie auf der Mitbestimmung über die Position der Bundesregierung, so wird die europäische Politik blockiert, solange Entscheidungen im Rat einstimmig getroffen werden müssen, bei Mehrheitsentscheidungen besteht die Gefahr, daß die Bundesrepublik in eine Minderheitsposition gerät. Die EU wird dann weiterhin unkoordinierte Fachpolitik betreiben und damit die Sektoralisierung der Raumentwicklungspolitik verstärken. Die angesprochene Veränderung der Bund-Länder-Beziehungen in Reaktion auf die Europäisierung von Politik bedeutet gleichwohl nicht, daß damit der kooperative Föderalismus am Ende ist, der Zentralismus im Bund triumphiert. Denkbar ist, die mehrstufigen Planungs- und Entscheidungsstrukturen in ein lose gekoppeltes Mehrebenensystem zu überführen. Dieses kann die Interessen der Länder und Regionen wahren, ist also "autonomieschonend und gemeinschaftsverträglich,,26. Hinweise auf entsprechende Strukturen lassen sich in der europäischen Regionalpolitik und in der bundesdeutschen Raumordnungspolitik finden. Betrachten wir zunächst die europäische Regionalpolitik etwas genauer. Ihre Entwicklung wurde vielfach als Zentralisierungsprozeß interpretiert. Dies triff allerdings nur teilweise zu. Zwar erhielt die EU mit der Beihilfekontrolle ein Eingriffsinstrument gegen die Wirtschaftsförderung des Bundes, der Länder und der 26 Fritz W. Scharpf, Autonomieschonend und gemeinschaftsverträglich. Zur Logik einer europäischen Mehrebenenpolitik, in: ders., Optionen des Föderalismus in Deutschland und Europa, Frankfurt / New York 1994, S. 131-155.
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Gemeinden und mit den Strukturfonds ein eigenes Förderinstrumentarium. Bei genauer Betrachtung zeigt sich aber, daß hierbei nur die Verteilung der Mittel zwischen Regionen zentralisiert wurde, über die Mittelverwendung in den berechtigten Regionen wird hingegen dezentral und in Kooperation zwischen der EU-Kommission und regionalen bzw. nationalen Institutionen entschieden. Die Strukturpolitik beruht also auf einer nach Teilaufgaben abgeschichteten Mehrebenenstruktur27 : Verteilungskonflikte, die in der Gemeinschaftsaufgabe "Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur" die bekannten Probleme der Bund-Länder-Kooperation verursachen, werden in der EU-Strukturpolitik ausschließlich auf europäischer Ebene entschieden. Der Rat beschließt über den Mittelumfang und die Kriterien, nach denen Fördergebiete abgegrenzt werden. Der Einfluß der Regionen, die um Mittel konkurrieren, ist gering, wenngleich sie über die nationalen Regierungen vermittelt zum Tragen kommen können. In der Phase der sogenannten "Programmplanung", wenn also über den Einsatz der Mittel in den Förderregionen zu entscheiden ist, spielen in der Bundesrepublik Verhandlungen zwischen der Kommission und den Landesregierungen eine wichtige Rolle. Hier entstanden zumindest in den westlichen Ländern bilaterale Verflechtungsmuster, in denen die Bundesregierung nur geringen Einfluß hat. Das europäische Mehrebenensystem ist also institutionell differenziert in die Phase der Festlegung des Förderrahmens, der in Verhandlungen zwischen den Zentralregierungen der Mitgliedstaaten beschlossen wird, und die Phase der Programmplanung, in der in Deutschland die Länder ins Spiel kommen, der Bund jedoch zunehmend verdrängt wird. Beide Formen der Verflechtung sind nur lose miteinander verbunden. Damit werden interregionale Verteilungskonflikte und intraregionale Entwicklungsaufgaben getrennt, d. h. in unterschiedlichen Verflechtungsstrukturen bearbeitet. Die regionale Strukturpolitik der EU stellt nur einen Teilbereich der Raumentwicklungspolitik dar. Ihr Ziel ist es, die großräumigen Disparitäten im europäischen Binnenmarkt zu verringern. Die kleinräumige Steuerung erfolgt in den Regionen. Zudem kann und will die Strukturpolitik eine Raumordnungspolitik nicht ersetzen, die neben der Entwicklungsförderung auch der Aufgabe dient, die Raumnutzung zu regulieren und raumwirksame Politiken zu koordinieren. Es bleibt die Frage, wie diese im europäischen Kontext zu organisieren ist. Zu lösen ist hierbei zunächst das Problem, daß die regulative Steuerung der Raumnutzung einerseits kleinräumig ansetzen muß, da Nutzungskonflikte nur "an Ort und Stelle" gelöst werden können, andererseits auch zentrale, d. h. nationale und europäische Fachpolitiken beeinflußt und koordiniert werden müssen. Nach den Erfahrungen mit der Raumordnung in der Bundesrepublik kann dieses Dilemma weder durch eine rechtliche Bindung der zentralen Politiken an regionale Pläne noch durch eine Zentralisierung der Raumplanung gelöst werden. Ersteres scheitert an der Durchsetzungsmacht mächtiger Fachressorts. Letzteres trifft auf Widerstände der dezentralen Planungsebenen, die durch eine zentrale Planung ihre Kompe27
Vgl. Marks (Fußnote 7), S. 313-328.
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tenzen beeinträchtigt sehen. Angesichts des Schicksals des Bundesraumordnungsprogramms von 1975 ist davor zu warnen, den nationalen Planungssystemen eine europäische Raumordnungsplanung hierarchisch überzuordnen. Diese müßte aus Verhandlungen zwischen den Regierungen der Mitgliedstaaten hervorgehen, wobei die Vertreter der Länder, Regionen und Autonomen Gemeinschaften zu beteiligen sind. Eine so angelegte europäische Raumentwicklungs-politik kann nur in der Blockade enden. Ein Ausweg aus diesem Dilemma zeichnet sich ab, wenn wir das bereits in der europäischen Strukturpolitik feststellbare Prinzip der losen Koppelung zwischen funktional arbeitsteilig operierenden Ebenen zugrunde legen. Ansatzweise liegt dieses Prinzip inzwischen auch der Raumordnung in der Bundesrepublik zugrunde. Hier stellte der Bund, nachdem mit der deutschen Einheit eine gesamträumliche Steuerung der Raumentwicklung als notwendig erkannt wurde, keinen umfassenden Raumordnungsplan auf, sondern beschränkte sich auf einen problemorientierten Orientierungs- und Handlungsrahmen. In übrigen hatten wir ja auch festgestellt, daß die Ebenen der Raumplanung in den Ländern nur lose gekoppelt sind, keinesfalls also Verhandlungszwänge institutionalisieren, und daß im formal hierarchischen Planungssystem strikte Rechtsbindungen nur als ultima ratio im Fall gescheiterter Kooperation wirksam werden. Für eine europäische Raumentwicklungspolitik leiten sich aus diesen Überlegungen folgenden Empfehlungen ab: Die EU sollte im Rahmen ihrer Zuständigkeit für Maßnahmen im Bereich der Raumordnung ein raumordnungspolitisches Entwicklungskonzept beschließen, das sich auf zentrale Schwerpunkte der europäischen Raumentwicklung konzentriert. Hierbei sind Aussagen über Funktionen von großen Städten und Regionen, deren Vernetzung über transnationale Verkehrs- und Kommunikationsverbindungen sowie über wirtschaftliche und soziale Disparitäten zu treffen. Für die Aufstellung eines solchen Raumordnungskonzepts ist der Rat zuständig, der das Europäische Parlament, den Ausschuß der Regionen und den Wirtschafts- und Sozialausschuß anhören muß. Soll in einem solchen Verfahren ein Raumordnungskonzept zustande kommen, so müssen die Länder der Bundesregierung weitgehende Freiräume in den Verhandlungen lassen. Ohne einen Verzicht der Länder auf harte Interessendurchsetzung ist eine europäische Raumordnungspolitik zum Scheitern verurteilt. Den Ländern ist dies aus verfassungsrechtlichen wie politischen Gründen zuzumuten: Zwar sind sie als die eigentlichen Träger der Raumordnung und Landesplanung in ihrem Kompetenzbereich betroffen, ein europäisches Raumordnungskonzept der geschilderten Art beschränkt ihre Planungs- und Entscheidungsspielräume aber in keiner Weise. Im Gegenteil, durch ein solches Konzept werden die Entwicklungsvorstellungen, die den raumbedeutsamen Fachpolitiken der EU (Infrastrukturpolitik, Strukturpolitik) zugrunde liegen, zusammengefaßt und damit für die nationalen und regionalen Planungsebenen transparent gemacht. Die verbesserten Informatio-
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nen über großräumige Entwicklungen, die innerhalb des Kompetenzbereichs der Länder ohnehin nicht gesteuert werden können, tragen dazu bei, die Anpassungsfahigkeit der regionalen Planung zu erhöhen. Lose Koppelung zwischen den Ebenen der Raumordnungspolitik heißt aber nicht nur, daß Einigungszwänge reduziert und die Entscheidungsprozesse vereinfacht werden. Es impliziert auch Funktionsteilung, die "autonomieschonend" wirkt, da sie keine hierarchische Zuordnung von europäischer, nationaler und regionaler Planung verlangt. Das Raumordnungskonzept der EU sollte der Verwirklichung interregionaler Ausgleichsziele dienen. Es hat die Aufgabe, die raumbedeutsamen Fachpolitiken, insbesondere die Strukturfonds, die Förderung der "Transeuropäischen Netze" und die europäische Industrie- und Forschungspolitik zu leiten und zu koordinieren. Es muß die Selbstverpflichtung der EU enthalten, ihre für eine europäische Raumentwicklung relevanten Entscheidungen danach zu richten. Die verbindliche Regulierung der Raumnutzung, die Bewältigung von Nutzungskonflikten muß den regionalen Einheiten, in der Bundesrepublik den Ländern, Regionen und Kommunen überlassen bleiben. Um den Ländern und Regionen eine eigene Entwicklungspolitik zu ermöglichen, muß ihnen in europäischen und nationalen Fachpolitiken ein Einspruchsrecht gegen zentrale Fachplanungen eingeräumt werden, wenn diese ihren eigenen Entwicklungsvorstellungen entgegenstehen. Der Einspruch soll bewirken, daß die Planungen und Entscheidungen des Bundes wie der EU unter Berücksichtigung der neuen Informationen über regionale Ziele neu erörtert und angepaßt werden, sofern keine guten Gründe dagegen sprechen. Dezentrale Interventionen sind in einem lose gekoppelten Mehrebenensystem kein Problem, sondern sinnvoll. Sie bedeuten Informationen über Sachverhalte, an die sich die zentrale Politik unter Umständen anpassen muß. Dies steigert die Lemfähigkeit der Raumentwicklungspolitik. Nur wenn man Einsprüche der Betroffenen als Störung einer europäischen Raumordnung qualifiziert, leistet man dem Zentralismus Vorschub. Die übergeordnete Ebene sollte nie die ausschließliche Macht haben, aufgrund der sie es sich leisten kann, nicht lernen zu müssen. 28 Entscheidend für die Integration der Ebenen der Raumentwicklungspolitik sind nicht hierarchische Steuerungs- und Kontrollstrukturen und auch nicht Kooperationszwänge, entscheidend ist vielmehr die Vermittlung von Informationen. Diese sind in die jeweiligen Arenen der Entscheidungsfindung einzuspeisen und wirken um so mehr, als diese Arenen Verhandlungssysteme bilden. Sie zwingen zu ständiger Anpassung von Zielen und Entscheidungen, wenn sich neue relevante Informationen ergeben. Die Wirksamkeit der Raumplanung und Koordinierung wird dadurch nicht beeinträchtigt, wenn das Raumentwicklungskonzept der EU nicht als starrer Plan, sondern als ständig fortzuentwickeltes Konzept gilt, Planung also als Prozeß verstanden wird.
28
Karl W Deutsch, The Nerves of Govemment, New York 1963, S. 224.
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Im Idealfall besteht das mehrstufige System der Raumentwicklungspolitik in Europa aus funktionsteilig arbeitenden Ebenen, die jeweils in ihrem Zuständigkeitsbereich raumbedeutsame Politiken auf der Grundlage eines Entwicklungskonzepts koordinieren. Horizontal, auf den einzelnen Ebenen, ist eine "positive Koordination" der wesentlichen Bereiche der Raumentwicklungspolitik anzustreben, die in Verhandlungsprozessen simultan behandelt werden. Vertikal, d. h. zwischen den Ebenen, findet auf der Basis eines dichten Informationsgeflechts "negative Koordination" statt, indem auf umfassende Abstimmung verzichtet, statt dessen nur über konkrete Zielkonflikte und inkompatible Maßnahmen verhandelt wird, wenn diese durch Einsprüche signalisiert werden. Anzustreben ist ein mehrstufiger Prozeß, in dem die Planungen und Maßnahmen der einzelnen Ebenen in sequentiellen Verhandlungen wechselseitig aneinander angepaßt werden, während auf einseitige Anpassung an verbindliche Ziele verzichtet wird. Die vertikale Integration erfolgt dann weniger durch vollständige Kompatibilität von Plänen, sondern durch einen dynamischen Prozeß, in dessen Verlauf zentrale wie dezentrale Entscheidungen aufgrund neuer Erkenntnisse ständig fortentwickelt werden.
E. Schluß
Die europäische Integration und die Strukturen der EU entwickeln sich ungeplant, eigendynamisch und inkrementei!. Deswegen sollte man auch nicht erwarten, daß die Raumentwicklung in Europa in Zukunft durch ein optimal konstruiertes mehrstufiges System der Kooperation, Entscheidung und Kontrolle gesteuert wird. Die Funktionsweise der europäischen Raumentwicklungspolitik, ihre Effektivität und Konsistenz wird durch geeignete europäische Institutionen und Verfahren bestimmt, sie hängt aber auch von der Anpassungsfähigkeit und Anpassungsbereitschaft der nationalen und regionalen Institutionen ab. Wenn meine Überlegungen zutreffen, so liegt in der Europäisierung der Raumentwicklungspolitik eine Gefahr wie eine Chance. Die Gefahr besteht weniger in einer eher unwahrscheinlichen zentralen, den Regionen hierarchisch übergeordneten Planung der EU als vielmehr darin, daß regionale Regierungen ihre Beteiligungsinteressen durchsetzen und so eine eigene europäische Querschnittskoordination verhindern. Die Chance liegt in der notwendigen Auflösung nationaler Politikverflechtung, die den Übergang zu einem lose gekoppelten Mehrebenensystem der Raumentwicklungspolitik ermöglichen könnte. Eine solche mehrstufige Koordinations- und Entscheidungsstruktur verlangt, daß - die dezentralen Gebietskörperschaften auf Mitentscheidungsrechte in der europäischen Raumentwicklungspolitik verzichten, dem Bund die Führungsrolle überlassen und sich auf Information und Kommunikation beschränken, - zwischen den Ebenen der Raumordnungspolitik eine Funktionsteilung besteht, wonach die europäische und nationale Politik primär mit koordinierten Infra-
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strukturmaßnahmen und Förderprogrammen auf die Verwirklichung großräumig ausgewogener Raumstrukturen hinwirkt, also interregionale Ausgleichsziele verfolgt, während Konflikte zwischen konkurrierenden Raumnutzungen auf regionaler und lokaler Ebene reguliert werden; auch die EU (wie der Bund) ein Raumentwicklungskonzept zur Koordinierung ihrer raumbedeutsamen Fachpolitiken aufstellt, das aber der regionalen und lokalen Planung nicht hierarchisch übergeordnet wird, sondern als Orientierungsrahmen, als Informationsgrundlage für die eigenen Planungen dient; - in europäischen und nationalen Fachpolitiken die Länder/Regionen ein Einspruchsrecht gegen zentrale Fachplanungen erhalten, wenn diese ihren eigenen Entwicklungsvorstellungen widersprechen, wobei der Einspruch bewirken soll, daß die Planungen und Entscheidungen des Bundes wie der EU unter Berücksichtigung der neuen Informationen über regionale Ziele neu erörtert und angepaßt werden, sofern keine guten Gründe entgegenstehen.
Raumentwicklung als Beispiel mehrstufiger Kooperation, Entscheidung und Kontrolle in Frankreich Von Gerard Marcou Mehrstufige Kooperation, Entscheidung und Kontrolle gehören zu den wichtigsten Merkmalen des französischen Verwaltungssystems überhaupt. Sie können als typische Erscheinungen der Politikverflechtung gekennzeichnet werden, und sie haben sich nach den Dezentralisierungsreformen der achtziger Jahre besonders entwickelt. Eine Verflechtung zwischen nationaler und lokaler Politik ist an sich nicht neu und seit Jahrzehnten durch die Haltung mehrerer Wahlmandate verschiedener Ebenen üblich. Diese Praxis hat die Zentralisierung zugunsten der örtlichen Gebietskörperschaften gelockert. Neu ist aber, daß örtliche Gebietskörperschaften mit vollen Selbstverwaltungsrechten auf drei verschiedenen Ebenen bestehen, wobei das Gesetz jegliche Unterordnung einer örtlichen Gebietskörperschaft zu einer anderen ausschließt. Es sind dies: die Gemeinden, die Departements und die Regionen sowie ihre Kooperationsverbände. Seit 1982 haben sie mehr Autonomie, mehr Kompetenzen und mehr finanzielle Mittel. Obwohl zahlreiche Kompetenzen vom Staat den örtlichen Gebietskörperschaften übertragen wurden, tragen diese auch eine allgemeine, offene Kompetenz, um örtliche Fragen zu erledigen. Letztlich wird die Territorialverwaltung somit nicht nur von den örtlichen Gebietskörperschaften allein wahrgenommen, sondern mit den Präfekten untergeordneten Außenstellen der Ministerien geteilt, soweit es staatliche Aufgaben anbelangt. In den letzten Jahren wurden die den Präfekten übertragenen Aufgaben erweitert. Dieser neue institutionelle Zusammenhang hat den Koordinierungsbedarf stark erhöht und die Politikverflechtung der verschiedenen Ebenen vorangetrieben. Mit dem weiteren europäischen Integrationsprozeß und dem Ausbau der gemeinschaftlichen Politiken wurde eine Ebene hinzugefügt und damit die Komplexität erhöht. Die Praxis des Zusammenwirkens hat sich dadurch aber nicht grundsätzlich geändert. Die Raumentwicklung und die Raumordnungspolitik spiegeln dieses Bild ganz eindeutig wider l . Während die Raumentwicklungspolitik früher nur vom Zentral1 Ausführlicher in: H. Kistenmacher I G. Marcou I H.-G. Clev (1994), Raumordnung und raumgezogene Politik in Frankreich und Deutschland, Beiträge der Akademie für Raum-
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staat fonnuliert und geleitet wurde, wird sie heute von einem komplexen Zusammenwirken von staatlichen Behörden und örtlichen Gebietskörperschaften bestimmt. Die Durchführung der Regionalpolitik der EG erfordert von den Institutionen der Mitgliedstaaten auch eine Partnerschaft mit den örtlichen Gebietskörperschaften bzw. anderen Interessen. Die Komplexität wird dadurch zugespitzt, daß keine Hierarchie zwischen diesen verschiedenen Ebenen besteht und daß jede die Neigung aufweist, die höhere bzw. die untere Stufe nach Maßgabe zu umgehen. Es gibt selbstverständlich keine Unterordnung der staatlichen Behörden gegenüber der EG-Kommission; es gibt auch keine Hierarchie zwischen den örtlichen Gebietskörperschaften bzw. zwischen diesen und dem Staat. Ein solches System wirft natürlich die Frage auf, wie Politik und Programme hergestellt und Entscheidungen herbeigeführt werden und ob und unter welchen Voraussetzungen eine Institution bzw. eine Stufe ihren Vorrang bzw. ihre Führung durchsetzen kann. Nach den Erfahrungen der letzten Jahre kann man feststellen, daß der Staat im Bereich Raumordnung und Raumentwicklung im Vergleich zu der früheren Periode von den örtlichen Gebietskörperschaften und der EG-Kommission viel mehr abhängig geworden ist. Die staatliche Verwaltung bleibt jedoch nach wie vor der Kern des Zusammenwirkens und der Entscheidungsfindung. Es ist ihr gelungen, die Durchführung der EG-Politik unter ihrer Kontrolle zu halten und die direkten Beziehungen zwischen der EG-Kommission und den Regionen zu begrenzen. Auf folgende Schwerpunkte möchte ich nun eingehen: - Aufgabenverteilung und Politikverflechtung zwischen dem Staat und den Gebietskörperschaften im Bereich Raumordnung und Raumentwicklung, - Partnerschaftliche Durchführung der EG-Regionalpolitik unter staatlicher Verantwortung.
I. Aufgabenverteilung und Politikverflechtung im Bereich Raumordnung und Raumentwicklung
Als Folge der Dezentralisierungsrefonn ist der Staat nicht mehr die einzige Planungsbehörde. Die Planung hat sich sehr schnell verändert und regionalisiert. Planung ist grundsätzlich raum bezogen geworden. Damit haben sich auch Grundzüge der französischen Planung geändert: sie ist immer mehr eine Planung durch Verträge geworden, eine Vertragsplanung. Und der Vertrag zwischen dem Staat und den forschung und Landesplanung, Nr. 129, Hannover 1994 (in französich: La Documentation Fran~aise, Paris, 1994); G. Marcou / ].-c. Nemery, France: la structure de I'Etat, l'organisation territoriale et les competences relatives a l'amenagement, S. 71-98 in: ARL / DATAR, Institutionelle Bedingungen einer europäischen Raumentwicklungspolitik, unter der Leitung von G. Marcou und H. Siedentopf Hannover 1994.
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örtlichen Gebietskörperschaften hat sich als Hauptinstrument der vertikalen Kooperation durchgesetzt. Die Einschätzung dieser Erfahrung ist umstritten, allerdings mehr in der Rechtslehre als in der Praxis.
1. Dezentralisierung und Verteilung der Planungsaufgaben
Die Dezentralisierungsreform war mit einer Reform der Wirtschaftsplanung verbunden, aber die Verbindung zwischen Wirtschaftsplanung und Raumplanung wurde nicht geregelt. Als neue Gebietskörperschaft ist die Region für die Raumentwicklung im Rahmen ihres Territoriums zuständig geworden. Der Regionalrat (als gewählte Vertretung) hat einen Regionalplan zu verabschieden, und die Region sollte an der Vorbereitung des nationalen Wirtschaftsentwicklungsplans teilnehmen. Als Bindeglied zwischen dem National- und dem Regionalplan wird der Planvertrag zwischen dem Präfekt der Region und dem Regionspräsidenten abgeschlossen. Merkwürdig ist, daß die Region in den letzten Jahren per Gesetz zusätzlich verschiedene Fachplanungsaufgaben bekommen hat in solchen Bereichen wie Bildung, Fortbildung, Tourismus, Forschung, Verkehr, Abfallentsorgung und zuletzt Raumordnung mit dem Gesetz vom 4. Februar 1995. Die Bauleitplanung wurde vor 1983 von der staatlichen Behörde unter Einbeziehung der Gemeinden durchgeführt. Sie ist eine reine Selbstverwaltungsaufgabe geworden und in den Gemeinden, wo diese Bauleitplanung wahrgenommen wird, werden die Baugenehmigungen von dem Bürgermeister erteilt. Außerdem wurden die Gemeinden aufgefordert, gemeinsam örtliche Entwicklungspläne auszuarbeiten; dafür können sie finanzielle Beiträge vom Staat bzw. der Region durch einen Vertrag bekommen. Auf ähnliche Weise entstehen Wohnsiedlungspläne in städtischen Gemeinden. Das Departement übt ebenfalls einige Fachplanungskompetenzen aus: in den Bereichen des Naturschutzes, des Verkehrs, der Sozialeinrichtungen und der Investitionen in ländlichen Gemeinden.
2. Der Untergang der Wirtschaftsentwicklungsplanung und der Übergang zur Raumplanung
Die in 1982 unternommene Wiederbelebung der Wirtschaftsentwicklungsplanung ist nach einigen Jahren gescheitert. Sie wurde zuerst mit der Dekonzentration (d. h. Übertragung zentralstaatlicher Aufgaben auf die Präfekte) als ein Ausgleich zur Dezentralisierung aufgefaßt, um den Zusammenhalt der Nation zu sichern. Mit der Fortführung des europäischen Integrationsprozesses und dem Ausbau des Binnenmarktes wurde diese Politik nicht länger haltbar. 12 MagieraiSiedentopf
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Mit der Errichtung der Region als Gebietskörperschaft wurde dieser Raum (die Region) als Schwerpunkt der Raumentwicklungspolitik bestätigt. Diese Entwicklung wurde von der Regionalpolitik der EG gefördert, zugleich, weil die Region der NUTS lI-Ebene gleichgestellt wurde und weil die neu gewählten Regionalräte versuchten, sich als Partner der EG und als "europaorientierte" Gebietskörperschaften darzustellen, da sie von der EG zusätzliche Mittel erhofften. Sehr schnell haben die Regionen Initiativen in Angriff genommen, um Beziehungen mit ausländischen Gebietskörperschaften herzustellen und sich als attraktiver Standort zu präsentieren. Infolgedessen haben die Staat-Region-Planverträge den Untergang der nationalen Wirtschaftentwicklungsplanung überlebt und sind das Hauptinstrument des Planungs systems geworden. Sie wurden ohne Beziehung zu formalen Wirtschaftsentwicklungsplänen abgeschlossen, wie es zur Zeit der Fall ist (für die Periode 1994-1998). Die Verträge stellen jeweils sehr detaillierte Planungs- und Finanzierungsdokumente dar, die Grundorientierungen geben und in einzelne Maßnahmen untergliedert sind. Sie sind präzise in Artikeln geschrieben und gelten nach einem Urteil des Staatsrates als echte Verwaltungsverträge (CE, 8. Januar 1988). Jeder Vertrag muß separat ausgehandelt werden. Die Staat-Region-Planverträge werden monatelang diskutiert, bevor ein Abkommen erreicht werden kann. Die Durchführung wird von einem von Vertretern des Staates und der Region aufgestellten Ausschuß begleitet und kontrolliert und nach Maßgabe werden gemeinsam Anpassungsmaßnahmen getroffen. Dieser Prozeß hat in der Regel sehr enge Beziehungen zwischen den Beamten und Experten der Präfektur und der Region geschaffen, obwohl sie gleichzeitig in Wettbewerb miteinander stehen. In vielen Fällen kann man die Herausbildung einer Politikgemeinschaft (community policy) beobachten; diese distanziert sich unter Umständen von den gewählten Regionalräten und von den Ministerien. Dadurch kann auch teilweise erklärt werden, warum Streitigkeiten dem Richter nur in Ausnahmefällen unterbreitet werden. Die laufenden Planverträge haben, wie bereits die früheren, eine starke Integrationsfunktion : a) nicht nur Aushandlung von gemeinsamen Prioritäten zwischen Staat und Regionen, sondern auch b) Koordinierung zwischen den staatlichen Außenstellen selbst; die Position des Präfekten wurde dadurch gestärkt; c) Koordinierung mit den anderen Gebietskörperschaften, die zu bestimmten Projekten beitragen, obwohl sie nur Durchführungsverträge unterzeichnen; d) die Regierung ist dazu gekommen, alle ihre Verpflichtungen zu den Regionen in den Planverträgen zu vereinbaren (allerdings sind nicht alle staatlichen Mittel für die Region im Planvertrag festgelegt). Der Planvertrag ist Ausdruck einer integrierten, raumbezogenen, gemeinsam formulierten und durchgeführten Politik des Staates und der Region. Als solcher
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ist er zu einem wesentlichen Instrument der Raumentwicklungspolitik geworden. Die DATAR 2 ist für die Führung dieses Prozesses verantwortlich. In vielen Regionen hat der Regionalrat überhaupt kein bedeutendes Betätigungsfeld außerhalb des Planvertrages. Das Raumordnungs- und Entwicklungsrahmengesetz vom 4. Februar 1995 hat diese Territorialisierung des Planungssystems bestätigt, indem es den Übergang zur Raumplanung verwirklicht hat. Jetzt müssen ein nationales Raumordnungsund Entwicklungsschema vom Parlament und entsprechende regionale Schemata von den Regionalräten verabschiedet werden. Dies sind langfristige strategische Dokumente, die an sich keine verbindliche Kraft haben. Allerdings sind Fachplanungen mit ihnen verbunden. Außerdem werden Vollzugsinstrumente für die Durchsetzung ihrer Prioritäten eingesetzt: auf nationaler Ebene ein fünfjähriges Finanzplanungsgesetz; auf regionaler Ebene der Regionalplan; als Bindeglied der Staat-Region Planvertrag. Dieser wird so in die langfristige Perspektive eingeordnet und als Umsetzungsinstrument neu aufgefaßt. Fachplanungen sind an sich nicht neu; neu ist aber, daß sie für neue Bereiche vorgesehen sind (z. B. Kultur, Telekommunikation, Gesundheitswesen) und vor allem, daß sie an meßbare Ziele gebunden sind, die durch ihre Verwirklichung erreicht werden müssen. Im Verkehrswesen ist z. B. das Ziel formuliert, daß im Jahre 2015 kein Ort weiter als 45 Minuten von einer Autobahn bzw. einem TGV-Bahnhof entfernt sein darf. Fünfjährige Finanzplanungsgesetze müssen die von dem Staat den sich aus diesen Fachplanungen ergebenden prioritären Investitionen gewidmeten Mittel festlegen. Die von den Regionalräten beschlossenen Regionalpläne müssen ebenso die Prioritäten der regionalen Schemata beachten. Die Planverträge zwischen dem Staat und den Regionen setzen die gemeinsam geplanten Mittel ein 3 . Diese Reform hat auch die zentrale Stellung der staatlichen Behörden, nämlich die Präfekten, in dem Planungsprozeß gestärkt. Insbesondere wird ein neues Raumplanungsinstrument der Mittelinstanz geschaffen - die teilräumlichen Raumordnungsvorgaben (deren Inhalt und Funktion mit den deutschen Regionalplänen verglichen werden kann), die von den Präfekten in Abstimmung mit den Gebietskörperschaften vorbereitet, aber von der Regierung beschlossen werden müssen (5 solcher Vorgaben sind zur Zeit für sogenannte "empfindliche Räume" in Vorbereitung).
Delegation a I' amenagement du territoire et a I' action regionale. Vgl. G. Marcou, Das neue französische Raumordnungsrahmengesetz vom 4. Februar 1995 und seine Auswirkungen auf das Raumplanungssystem, Fortbildungstagung der ARL, Bad-Kreuzingen, September 1995. 2
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Gerard Marcou 3. Erweiterung der vertraglichen Beziehungen zwischen den Gebietskörperschaften
Die Raumordnung ist nur das bedeutendste Beispiel für die heute weit verbreitete - und umstrittene - Anwendung des Vertrages als politisches Führungsinstrument4 • Der Verfassungsrat hat diese Praxis bestätigt, indem er grundsätzlich entschieden hat, daß der Staat seine Beziehungen mit Gebietskörperschaften durch Verträge ausgestalten darf, soweit diese Verträge nicht in den Gesetzesbereich eingreifen (Entscheidungen vom 18. Juli 1983 und vom 26. Januar 1995)5. Weitere Anwendungsbereiche der Verträge für raumbedeutsame Planungen sind unter anderem: Hochschulneubauten, Wohnsiedlungspläne, Contrats de Ville sowie die Anpassung der Aufgabenverteilung in verschiedenen Kompetenzbereichen nach Maßgabe des Gesetzes.
4. Fazit
Die Regionen klagen sehr oft, daß ihnen der Staat durch Verträge Lasten aufbürdet, die zu staatlichen Kompetenzen gehören, und daß sie kaum ein Wort zu sagen haben. Bürgermeister kritisieren in ähnlicher Weise die Vertragsverfahren, an denen sie teilnehmen. Diese Kritik ist begründet, zumindest, was die Lastenabwälzung anbelangt. Andererseits haben die Regionen immer dann für die Aufrechterhaltung der Planverträge plädiert, wenn eine neue Regierung die von der früheren Regierung aufgestellten Pläne aufgeben wollte und infolgedessen die Planverträge in Frage gestellt wurden. Eine solche Situation ist schon zweimal entstanden, in den Jahren 1986 und 1993, wobei 20 Regionalräte eine rechtsorientierte Mehrheit hatten. Sie befanden sich somit politisch im Einklang mit der amtierenden Regierung. Entscheidend ist offensichtlich, daß die Regionen durch diese finanzielle Beteiligung einen Einfluß auf Entscheidungen und Politiken haben, die eigentlich in den Kom4 G. Marcou, Les instruments contractuels de l'amenagement du tenitoire dans les relations entre collectivites publiques, in: J.-Cl. Nemery, Le renouveau de l'amenagement du territoire en France et en Europe, Paris 1994, S. 371-384; E. Fatome / J. Moreau (1990), Les relations contractuelles entre collectivites publiques. L'analyse juridique dans le contexte de la decentralisation, in: Act. jur. Droit adm., n° 3, S. 142; A. S. Mescheriakoff(1995), La planification fran"aise entre decentralisation et deconcentration, in: Revue fran"aise de Droit administratif, n° 5, S. 999; J.-M. Pontier; Contractualisation et planification, in: Revue du Droit public et de la Science politique, n° 3, 1993, S. 641; G. Marcou / J.-L. Thiebault (Hrsg.), Le gouvernement des villes et les relations contractuelles entre collectivites publiques, Paris 1996. 5 Entscheidungen n° 83-160 DC, in: Recueil de Jurisprudence constitutionnelle 19591993, Paris 1994, p. 154; und n° 95-358 DC, in: Journal Officiel vom 1. Februar 1995.
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petenzbereich des Staates gehören. In anderen Fällen (für Gemeinden) ist der Anreiz zusätzlicher finanzieller Hilfe ausschlaggebend. Deshalb wurde das Plan vertragsverfahren sehr schnell mit den EG-Verfahren für die Durchführung der Regionalpolitik verbunden.
11. Partnerschaftliche Durchführung der EG-Regionalpolitik unter staatlicher Verantwortung Die EG-Regionalpolitik ist darauf gerichtet, die regionalen Disparitäten auszugleichen, um den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt der Gemeinschaft zu wahren. Sie zielt auch darauf ab, Europa bürgemah zu machen und eine gewisse europäische Sozialisierung zu erreichen. Diese Strategie war erfolgreich, wenn man sieht, wie die örtlichen Gebietskörperschaften in Frankreich mit Eifer der Richtung Europa gefolgt sind. Die französischen Regionen konnten sich jedoch nicht als Träger der Regionalpolitik im nationalen Bereich durchsetzen. Im Gegenteil, die Entwicklung der EGRegionalpolitik hat der staatlichen Verwaltung in den Regionen Anlaß gegeben, eine Führungsrolle zu beanspruchen6 . Es gibt institutionelle und politische Faktoren, die diese Entwicklung bestimmt haben. Sie werden in den folgenden drei Punkten behandelt: a) die örtlichen Gebietskörperschaften haben keine unmittelbaren rechtlichen Beziehungen mit der EG (bei sehr wenigen Ausnahmen); nur der Staat kann mit ihr verhandeln; b) die staatliche Verwaltung kontrolliert den ganzen Planungs- und Programmierungsprozeß, auf dem die EG-Regionalpolitik beruht; c) die Regionalpolitik ist mit den Planverträgen verbunden.
1. Die Beziehungen und die Verhandlungen mit der EG-Konunission sind und bleiben eine Verantwortung des Staates
Wie schon gesagt, Regionen haben versucht, sich zur EG zu orientieren, um ihre Position gegenüber dem Staat zu stärken. Viele Regionen haben die Unterstützung der Kommission für ihre Projekte ersucht, um so besser mit dem Staat verhandeln 6 Die Reform der Regionalpolitik hat diese Verhältnisse nicht geändert: G. Marcou (Hrsg.), L'amenagement du tenitoire et les pouvoirs locaux et regionaux face aux mutations economiques, Institut International des Sciences Administratives, Brüssel 1988, S. 27; R. Balme / B. Jouve, L'Europe des regions: les fonds structurels et la regionalisation de l' action publique en France metropolitaine, in: Politique et Management Public, Band 13, 1995, n° 2, Heft I, insbesondere S. 50-53.
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zu können. Die Kommission hat zum Teil die Selbstbehauptung der Regionen gefördert. Diese Entwicklung (Wettbewerb anstatt Kooperation) ist allerdings begrenzt geblieben und hat bei keiner Regierung (links oder rechts) Verständnis gefunden. Im Gegenteil: a) Das Gesetz vom 6. Februar 1992 hat bekräftigt, daß der Präfekt der Region beauftragt ist, die gemeinschaftlichen und nationalen Sozial- und Wirtschaftsentwicklungspolitiken sowie die Raumordnungspolitik durchzuführen. In diesem Bereich ist ihm der Präfekt des Departements untergeordnet. Der Präfekt der Region ist so die Schlüsselinstitution für die Regionalpolitik in Frankreich. Er entscheidet endgültig über die von Frankreich aus der Region der Kommission unterbreiteten Programme und über die aus dem EG-Geld geförderten, diesen Programmen zugeordneten Maßnahmen (Projekten). Er unterbreitet der EG die Durchführungsberichte, die für die Geldüberweisung Voraussetzung sind, und trifft die Zahlungsentscheidung gegenüber den Begünstigten. b) Mehrere Kommissionen haben die Wettbewerbserscheinungen zwischen Staat, EG-Komrnission und Regionen kritisch ausgewertet. Besonders die Dezentralisierungskommission zur Vorbereitung des XI. Plans in 1993 7 und die Verwaltungsreformkommission in 19948 haben so Stellung genommen. Es folgt daraus, daß nur die Regierungsbehörden mit EG-Behörden verhandeln dürfen. c) Es wurde nach einer grundlegenden Überprüfung von der Regierung bestätigt, daß die gemeinschaftlichen finanziellen Beiträge der Strukturfonds an die Staatskasse überwiesen werden müssen, und erst dann auf verschiedene Haushaltskapitel der betroffenen Ministerien aufgeteilt werden. Sie werden zuletzt den Präfekten überwiesen und von den "Staatskassierern" in der Region bezahlt. Es folgt daraus, daß örtliche Gebietskörperschaften kein Geld aus Brüssel (bei wenigen Ausnahmen) direkt bekommen können und dürfen. Daraus erwächst einerseits ein wichtiger Vorteil auch für die örtlichen Gebietskörperschaften: die Staatskasse finanziert kostenlos Ermächtigungen für das Ganze des jährlichen Anteils des EG-Zuschusses, obwohl die Kommission nur die erste Zahlung durchgesetzt hat. Andererseits trägt das dazu bei, die Schlüsselposition der staatlichen Verwaltung zu sichern. Die Büros der Regionen in Brüssel sind und müssen nur Informationsbüros sein; ihre Wirksamkeit ist nicht besonders hoch: Rhöne-Alpes war in 1993 nahe davor, die Auflösung seines Büros zu entscheiden. Letztendlich hat sich die Kommission verpflichtet, in einer Erklärung zur Ratssitzung vom 19. Juli 1993, 7 Commissariat General au Plan, Decentralisation, I' äge de raison, Bericht der Arbeitsgruppe Decentralisation: bilan et perspectives zur Vorbereitung des XI. Plans, in: Le Moniteur I La Documentation Fran"aise, Paris 1993, insbesondere S. 44-45. 8 L'Etat en FraQce. Servir une nation ouverte sur le monde. Rapport au Premier ministre, Mission sur les responsabilites et I'organisation de l'Etat, presidee par Jean Picq. in: La Documentation Fran"aise, Paris 1995, S. 31.
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die Kompetenzen der jeweiligen designierten Behörden zu respektieren. Im Rundschreiben vom 17. Februar 1994 zur Regionalpolitik werden die Präfekte beauftragt, diese Verpflichtung aufmerksam zu befolgen. d) Mit den Verordnungen über die Strukturfonds werden die Förderzonen von der Kommission beschlossen. Die Abgrenzung und die Bezeichnung dieser Zonen wird allerdings vom Staat auf der Grundlage statistischer Indikatoren mit der Kommission, d. h. ohne Beteiligung der Region bzw. örtlichen Gebietskörperschaften, verhandelt. Diese Aufgabe wurde von der DATAR übernommen. Sie arbeitete auf der Grundlage der von den Präfekten aufbereiteten Vorschläge. Die Regionen konnten auf diese Weise beraten werden, trugen aber nicht die Verantwortung. Diese Position ist keine Eigenart Frankreichs; sie entspricht dem Wort und Sinn des Vertrags und des sekundären Gemeinschaftsrechts. Nur der Staat ist für die Einhaltung der EG-Regelungen und für die Einbeziehung anderer Partner in die Anwendung der Regionalpolitik verantwortlich und zuständig; nur seine Verfassung kann z. B. den Gebietskörperschaften unmittelbare Rechte in den EG-Verfahren anerkennen, und das ist in Frankreich nicht der Fall. Auch im Bereich der Regionalpolitik gibt das EG-Recht den örtlichen Gebietskörperschaften keinen Anspruch auf eine Beteiligung in der Beschlußfassung9 .
2. Die Programmierung der Regionalpolitik unter staatlicher Führung
Die Reform der Strukturfonds (1989) hat die dargestellte Entwicklung gefördert, da Programme und nicht mehr nur Projekte aufgestellt werden sollen. Die Programmierung konnte leichter von den Präfekten übernommen werden. Die Kontrolle über die Durchführung der EG-Regionalpolitik ist um so wichtiger geworden, da die Ausgaben des Staates für die Raumordnungspolitik seit Jahren abgenommen haben. Die staatliche Politik muß in diesem Bereich andere Mittel einsetzen. Die EG-Regionalpolitik verfügt über diese Mittel. Nach den neuen Regelungen muß für jedes Ziel ein Programm partnerschaftlieh beschlossen werden, der "gemeinschaftliche Planungsrahmen" (Cadre Communautaire d Appui), auf der Grundlage des von den nationalen Behörden unterbreiteten Plans. Der gemeinschaftliche Planungsrahmen kann für das ganze Land oder für Teilräume beschlossen werden; die Pläne können auch in einem einheitlichen Programmierungsdokument (Document Unique de Programmation) zusammengefaßt werden.
9 Nach Andrew Evans ist somit Pluralismus im Entscheidungsfindungsprozess auf die nationalstaatliche Ebene begrenzt. Vgl. ders., The law of EU regional policy, in: Jurist-OG 0konomforbundets Forlag / Kluwer / Norstedts Juridik, Stockholm 1995, S. 740.
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In Frankreich wurde von der Regierung beschlossen, daß für die Vorbereitung, Koordinierung und Durchführung der EG-Regionalpolitik der Präfekt der Region die Verantwortung trägt. Deshalb wurde er beauftragt, für die verschiedenen Ziele das einheitliche Programmierungsdokument im Rahmen seiner Region bzw. mit den Präfekten der Nachbarregion vorzubereiten. Er trägt infolgedessen auch die Verantwortung, die Partnerschaft zu organisieren. Das Rundschreiben vom 17. Februar 1994 schreibt den Präfekten vor, in die Beratungen nicht nur die Region (als Gebietskörperschaft), sondern in der Region die Departements und Gemeinden sowie Vertreter des Privatsektors einzubeziehen. Im konkreten Fall können die Großstädte bzw. das Departement die zutreffenden Partner sein. Zuletzt werden von dem Rundschreiben Grundorientierungen vorgeschrieben, um das Programm auszuarbeiten 10. Jede Region bekommt für die Ziele 2 und Sb eine Gesamtsumme zugeteilt. Der Präfekt führt die Programmierung auf der Grundlage dieses Betrags, und er muß die notwendigen nationalen Gegenverpflichtungen sichern. Der Präfekt der Region steht somit als Schlüsselinstitution im Mittelpunkt der Raumordnungs- und Raumentwicklungspolitik. Er trägt die Verantwortung für die Duchführung der staatlichen und der gemeinschaftlichen Politiken in diesem Bereich, und er ist das Bindeglied zwischen allen Institutionen, Gebietskörperschaften und anderen Teilnehmern an diesen Politiken. Dadurch spiegelt sich eine neue, nach der Dezentralisierungsreform unerwartete Entwicklung wider: die Erneuerung und die Stärkung dieser schon bald zweihundertjährigen napoleonischen Institution. Die Dekonzentration, als Übertragung der Verantwortung für staatliche Aufgaben auf die Präfekte, hat die Dezentralisierung begleitet. Viele Politikbereiche wurden vom Gesetz so geregelt, daß eine kooperative Ausübung der jeweiligen Kompetenzen der örtlichen Gebietskörperschaften erforderlich ist, wie z. B. in den Bereichen: Schulwesen, Sozialhilfe, Umweltschutz, Personennahverkehr, Raumordnung, Raumentwicklungspolitik sowie Stadtplanung und -entwicklung insofern, wenn staatliche bzw. überörtliche Projekte berücksichtigt werden müssen 11. Nach empirischen Untersuchungen geben die Beziehungen zu der Kommission, die größere Sachkenntnis der äußeren Dienststellen der staatlichen Verwaltung sowie die vielen Beziehungen, die die Präfekturen mit den Vertretern der Wirtschaft und den örtlichen Gebietskörpershaften unterhalten, im allgemeinen dem Staat gegenüber der Region den Vorzug. In einigen Fällen hat das Departement oder die Großstadt - nach Maßgabe des betroffenen Bereichs - eine größere Rolle gespielt als die Region. 10 Für die Anwendung der EG-Regionalpolitik in Frankreich hat die DATAR Erläuterungsmaterialien ausgearbeitet. Zuletzt: DATAR, Vade-Mecum sur la mise en oeuvre des fonds structurels communautaires en France 1994-1999, Paris 1996. 11 Für eine allgemeine Analyse dieser Entwicklung: H. Oberdorff / J.-Ch. Clement, L'institution prefectorale entre tradition et modernite, insbesondere S. 35, in: J.-J. Gleizal, Le retour des prefets?, Presses Universitaires de Grenoble, Grenoble 1995.
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Diese Entwicklung kann aber nicht einfach als eine Rezentralisierung interpretiert werden, obwohl sie in einigen Fällen diese Wirkung haben könnte. Aus dem institutionellen Gefüge folgt vielmehr, daß alle wichtigen Beschlüsse und Programme von örtlicher Bedeutung mit den Gebietskörperschaften ausgehandelt werden müssen. Die Rolle des Präfekten besteht vor .allem darin, von allen Betroffenen akzeptierte Beschlüsse herbeizuführen. Seine spezifische Verantwortung besteht darin, das allgemeine (überörtliche) Interesse durchzusetzen. Er verfügt zwar über zahlreiche Hoheitsbefugnisse, um das zu erreichen, kann sie aber kaum bzw. nur in Ausnahmefällen einsetzen. Der Präfekt ist heute in einem Kontext tätig, in welchem die politische Legitimität der gewählten örtlichen und regionalen Politiker viel stärker geworden ist. Das ist eine unwiderrufliche Konsequenz der Dezentralisierungsreform. Nach wie vor üben viele Politiker mehrere Wahlmandate gleichzeitig aus; fast alle Mitglieder des Parlaments sind zugleich Bürgermeister oder halten andere örtliche Wahlmandate. Deshalb muß der Präfekt zwar die Regierungspolitik durchführen - das ist seine Grundhaltung in den Diskussionen mit den Gebietskörperschaften. Er kann und darf aber keine eigene politische Initiative ergreifen; vielmehr kann er die Regierungsziele nur erreichen, wenn er erfolgreich wichtige Ziele der Region bzw. anderer wichtiger Gebietskörperschaften übernimmt und gegenüber der Regierung vertritt. Das in den EG-Regelungen formulierte Partnerschaftsprinzip entspricht sehr wohl dieser institutionellen Entwicklung und hat dazu beigetragen, sie zu fördern.
3. Verbindung mit dem Staat-Region-Planvertrag
Die DATAR hat das ganze Verfahren zur Unterbreitung der französischen Vorschläge zu koordinieren. Alle einheitlichen Programmierungsdokumente wurden ihr übermittelt; sie werden später mit der Kommission gemeinsam verhandelt. Die Präfekte müssen ihrerseits die Kohärenz mit den Staat-Region-Planverträgen sichern und versuchen dabei, die größte Hebelwirkung zu erreichen. Auf diese Weise werden die einheitlichen Programmierungsdokumente mit den Staat-Region-Planverträgen eng verbunden. Der Prozeß der Vorbereitung dieser Programme lief parallel zu der Verhandlung der Planverträge: die einheitlichen Programmierungsdokumente mußten der DATAR vor dem 31. März 1994 übermittelt werden, während diese Verträge erst im Spätfrühling unterzeichnet wurden. Die Hilfen aus der EG-Regionalpolitik fanden in den Plan verträgen Berücksichtigung. Sie werden in der Durchführung mit den anderen Beiträgen zusammengeführt; gleiches gilt für Beiträge von anderen Gebietskörperschaften, die nicht vertraglich festgelegt werden können, die aber trotzdem eingerechnet werden. Für die Plan verträge 1994 - 1998 heißt das konkret: die staatlichen Verpflichtungen betragen 81 Mill. FF; von seiten der EG kommen zusätzlich 43 Mill. FF bis
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Ende 1999. Die EG-Verordnungen schreiben eine Evaluierung vor, die partnerschaftlich durchgeführt werden muß. Nach dem Rundschreiben vom 17. Februar 1994 kann diese Evaluierung mit derjenigen des Staat-Region-Planvertrags zusammen durchgeführt werden. Die Präfekte tragen dafür die Verantwortung, die Strategie auf homogene Territorien anzuwenden. Sie müssen die Territorien so bestimmen, daß sie die Zonen, die schon Schwerpunkte der staatlichen Politik sind (z. B.: in Gebirgen und in sanierungsbedürftigen Stadtvierteln), einschließen, sowie solche Gebiete, in denen die staatlichen Verpflichtungen verstärkt wahrgenommen werden müssen. Die staatlichen Gegenverpflichtungen werden im Plan vertrag eingetragen.
III. Schlußfolgerung
Im Laufe einiger Jahre wurde die EG-Regionalpolitik in Frankreich sehr leicht in das institutionelle Gefüge integriert. Sie hat aber nicht die Regionen und die Regionalisierung gefördert, sie festigte vielmehr die zentrale Stellung der staatlichen Behörden in der Region, als Kern der community policy, d. h. des diese Politik herstellenden und durchführenden Netzes. Allerdings müssen diese Behörden mit den Gebietskörperschaften (ver-)handeln. Letztgenannte können ihre eigene Politik durchsetzen - wenn sie über eine verfügen - da sie sich auf ihre unmittelbare demokratische Legitimation berufen können. Es stellt sich aber die Frage nach der Zukunft dieses Systems. Nach 1999 wird die Erweiterung der EU gewiß eine Verschiebung der Strukturfondsausgaben auf die östlichen Länder bewirken. Eine große Zunahme des EG-Haushalts ist nicht zu erwarten und gewiß nicht in dem Maße, um die EG-Regionalpolitik in den reicheren Mitgliedstaaten auf dem heutigen Niveau fortführen zu können. Daraus könnte sich eine teilweise Renationalisierung der Raumentwicklungspolitik ergeben, unabhängig davon, ob es ein Übereinkommen dazu geben wird, der EG eine begrenzte Raumentwicklungskompetenz anzuerkennen oder nicht.
Diskussion zu den Referaten von Arthur Benz und Gerard Marcou Leitung: Heinrich Siedentopf Bericht von Matthias Niedobitek Einleitend wies der Diskussionsleiter unter Bezugnahme auf das Referat von Marcou darauf hin, daß die in Deutschland anzutreffenden Vorstellungen vom französischen Zentralismus dessen Realität häufig nicht gerecht würden. Bei näherem Hinsehen offenbarten sich überraschende Dezentralisierungsansätze. Diese äußerten sich etwa darin, daß der französische Staat mit den Gebietskörperschaften Verträge im Bereich der Raumentwicklung, sog. contrats de plan 1, schließe. Weniger bekannt seien auch die personellen Verflechtungen zwischen der staatlichen Ebene und der Ebene der Gebietskörperschaften. So sei es in Frankreich nicht ungewöhnlich, daß ein Minister zugleich auch das Amt des Bürgermeisters einer Stadt bekleide. Direkte Beziehungen zur EG-Kommission seien den Gebietskörperschaften allerdings verwehrt. Dies habe die französischen Regionen indessen nicht gehindert, ähnlich wie die deutschen Länder Vertretungsbüros in Brüsse1 zu eröffnen, um dadurch ihre Interessen wirksamer wahrzunehmen zu können. In der anschließenden Diskussion wurde das Thema der beiden Referate vor allem unter zwei Gesichtspunkten weiter vertieft. Eine allgemeine Fragestellung betraf die Notwendigkeit bzw. die Wünschbarkeit und die mögliche Gestalt einer europäischen Raumordnungskompetenz (I.). Ein weiterer Schwerpunkt der Aussprache galt den Problemen der Grenzregionen und denkbaren Lösungsansätzen im Rahmen einer europäischen Raumentwicklungspolitik (lI.).
I. Dallhammer berichtete zunächst über die Haltung des Bundesrates zur Frage der Übertragung einer Raumordnungskompetenz auf die EG im Wege der anstehenden Vertragsänderungen. Auch wenn im Bundesrat - so führte er aus - von einigen Ländern befürwortende Anträge vorgelegen hätten, habe sich der Bundesrat letztlich doch gegen eine Ausweitung der EG-Kompetenzen in diesem Bereich ausge1 Vgl. hierzu etwa Phillipe Chain, Les contrats de plan Etat-regions, in: Regards sur l'actualite 11-1995, S. 32-46.
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sprochen 2 . Diese Stellungnahme stehe allerdings unter dem Vorbehalt einer erneuten Überprüfung im Zuge der weiteren Verhandlungen über die Revision des Maastrichter Vertrages. Im weiteren legte Dallhammer dar, welche Punkte aus seiner Sicht klärungsbedürftig wären. Für die Schaffung eines europäischen Raumentwicklungskonzepts könnten zwei unterschiedliche Wege beschritten werden: der Weg der intergouvernementalen Zusammenarbeit oder der Weg der Vergemeinschaftung. Die Auswahl unter diesen Varianten werde insbesondere von der Antwort auf die Frage beeinflußt, ob eine Wirtschafts- und Währungsunion auf eine Raumordnungspolitik, d. h. auf eine Koordination der raumwirksamen sektoralen Fachpolitiken, überhaupt verzichten könne. In institutioneller Hinsicht sei auch an die formelle Einrichtung eines Raumordnungsministerrats unter Einschluß entsprechender Ausschüsse zu denken. Die bisherigen Ansätze zur Schaffung eines europäischen Raumentwicklungskonzepts auf Gemeinschaftsebene hielt Dallhammer für wenig erfolgversprechend. Den möglichen Einfluß und die Wirkungen eines auf Gemeinschaftsebene angenommenen europäischen Raumentwicklungskonzepts auf den Gestaltungsspielraum der unteren Ebenen behandelte Schäfer, Wiesbaden, in seinem Beitrag. Er zog eine Parallele zu dem von der EG-Kommission erarbeiteten "Grünbuch über die städtische Umwelt,,3. Es sei der Kommission - wie sie bei den vorbereitenden Beratungen klar zum Ausdruck gebracht habe - nicht darum gegangen, verbindliche Handlungskonzepte zu entwickeln und in die planerischen Kompetenzen der Kommunen einzugreifen. Sie habe vielmehr nur Leitlinien zur Selbstentfaltung und Selbstentwicklung geben wollen. Es sei anzunehmen, daß die Gemeinschaft im Bereich der Raumordnung ein ähnliches Vorgehen anstreben werde. Benz und Marcou betonten in ihren Stellungnahmen zu den Diskussionsbeiträgen übereinstimmend die Notwendigkeit einer besseren Koordinierung raumwirksamer Politik auf Gemeinschaftsebene und sprachen sich im Ergebnis für eine Raumordnungskompetenz der Gemeinschaft aus. Ähnlich wie Dallhammer äußerte sich auch Marcou zurückhaltend zu den laufenden Bemühungen um die Schaffung eines europäischen Raumentwicklungskonzepts. Es gebe weder über dessen Inhalt, noch über seine Zielrichtung oder seine Funktion einen tragfähigen Konsens. Die Koordinierung raumbedeutsamer Politiken könnte - so führte Benz aus - auf unterschiedlichen Wegen erfolgen. Sicherlich sei es dazu nicht erforderlich, daß die EG nach deutschem Vorbild einen Raumordnungsplan, der im übrigen wenig erfolgreich gewesen sei, aufstelle. Ein Koordinierungsbedarf bestehe aber nicht nur auf der Ebene der EG, sondern auch im innerstaatlichen Bereich. Hier seien mit dem raumordnungs politischen Orientierungsrahmen und dem raumordnungspolitischen Handlungsrahmen neue Formen einer Konzeptionalisierung von Politik entwickelt worden, die zunächst nur die Ebene der horizontalen Koordination beträfen. Die 2 Vgl. die Entschließung des Bundesrates "Forderungen der Länder zur Regierungskonferenz 1996", BR-Drs. 667/95 (Beschluß), S. 4 f. 3 KOM (90) 218.
Diskussion zu den Referaten von Arthur Benz und Gerard Marcou
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Schwierigkeiten solcher horizontalen Koordination bestünden nicht nur darin, daß sie auf vertikale Verflechtungen stoße, sondern auch einfach in Problemen der sachlichen Komplexität.
11. Die besondere Situation der Grenzregionen wurde von Eiß angesprochen. Als Praktiker der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit habe ihn der Vortrag von Benz ernüchtert. Er warf die Frage auf, welche Möglichkeiten eine europäische Raumentwicklungspolitik bieten könne, um die in den Grenzräumen bestehenden Schwierigkeiten zu lösen. Solche Schwierigkeiten resultierten z. B. aus der Tatsache, daß ein Arbeitnehmer auf deutscher Seite bei einem Bruttogehalt von DM 4000.- ein um DM 712.- niedrigeres Nettoeinkommen habe als ein Arbeitnehmer auf luxemburgischer Seite. Hierfür zitierte Eiß Zahlen aus einer Untersuchung des rheinland-pfälzischen Ministeriums für Wirtschaft, Verkehr, Landwirtschaft und Weinbau mit dem Titel "Standortdisparitäten zwischen den Regionen Trier und Luxemburg". Weitere Beispiele seien die unterschiedlichen Ladenschlußzeiten und divergierende Sozialsysteme. Die genannten Unterschiede führten zu Migrationsbewegungen sowie zur Umsiedlung von Arbeitskräften und hätten auch Einfluß auf die Ausweisung von großflächigem Einzelhandel. Die Lösung der von Eiß geschilderten Probleme der Grenzregionen erachtete Benz weniger als Aufgabe einer europäischen Raumentwicklungspolitik, sondern
eher als Gegenstand der grenzüberschreitenden Regionalpolitik. Europäische Raumentwicklungspolitik, d. h. insbesondere ein Raumentwicklungskonzept auf Gemeinschaftsebene, habe sich an groben Strukturen, mithin großräumig zu orientieren. Die Probleme der Grenzregionen resultierten zwar aus unterschiedlichen nationalen Strukturen, konzentrierten sich jedoch kleinräumig in den Grenzregionen und müßten vor allem durch grenzüberschreitende Zusammenarbeit gelöst werden. Was die Möglichkeiten der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit angeht, warnte Benz vor überzogenen Erwartungen. Marcou ergänzte die Ausführungen von Benz durch den Hinweis, daß das Thema der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit Gegenstand neuerer rechtlicher Regelungen auf drei verschiedenen Ebenen sei. Zunächst sei - für die Ebene der EG - die Gemeinschaftsinitiative INTERREG zu nennen, die schon beachtliche Ergebnisse gezeitigt habe. Des weiteren sei auch im zwischenstaatlichen Bereich eine Zunahme von Verträgen zu verzeichnen, deren vorrangiges Ziel es sei, die interkommunale grenzüberschreitende Zusammenarbeit zu fördern. Marcou berichtete von Verträgen, die Frankreich mit seinen Nachbarn Italien und Spanien geschlossen habe, wies aber besonders auf ein zwischen Luxemburg, Deutschland, Frankreich und der Schweiz am 23. Januar 1996 geschlossenes Übereinkommen 4 4 Übereinkommen zwischen der Regierung des Großherzogtums Luxemburg, der Regierung der Bundesrepublik Deutschland, der Regierung der Französischen Republik und dem
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hin. Schließlich seien - aus französischer Perspektive - auch auf der Ebene der innerstaatlichen Gesetzgebung Fortschritte zu verzeichnen. Aufgrund der Gesetze vom 6. Februar 19925 bzw. vom 4. Februar 1995 6 könnten französische Gebietskörperschaften mit benachbarten ausländischen Gebietskörperschaften gemeinsam ihnen obliegende Aufgaben erfüllen und hierzu Verträge schließen.
Schweizerischen Bundesrat, handelnd im Namen der Kantone Solothurn, Basel-Stadt, BaselLandschaft, Aargau und Jura über die grenzüberschreitende Zusammenarbeit zwischen Gebietskörperschaften und örtlichen öffentlichen Stellen. 5 Loi d'orientation no 92-125 du 6 fevrier 1992 relative a I'administration territoriale de la Republique, Journal Officiel, 8. 2. 1992, S. 2064. 6 Loi no 95-115 du 4 fevrier 1995 d'orientation pour l'amenagement et le developpement du territoire, Journal Officiel, 5. 2. 1995, S. 1973.
Die Europäische Dimension der Ausbildung und Fortbildung von Beamten Von Gerard Druesne Die Internationalisierung ist heute ein wichtiger und unausweichlicher Bestandteil der Tätigkeit von Führungskräften in der öffentlichen Verwaltung sowohl in der staatlichen Verwaltung wie auch in der kommunalen Selbstverwaltung. Diese Internationalisierung ergibt sich aus mehreren Faktoren, insbesondere aus der tiefgreifenden Veränderung der wirtschaftlichen Austauschbeziehungen, die heute unter einem weltweiten und globalen Aspekt betrachtet werden müssen. Diese Globalisierung der Wirtschaftsbeziehungen wird in besonders deutlicher Weise erkennbar durch das GATI-Abkommen, in dessen Rahmen seit seiner Unterzeichnung im Jahre 1947 insgesamt sieben verschiedene Runden weltweiter und multilateraler Wirtschafts verhandlungen stattgefunden haben, die in ihrem Verlaufe zu einer Reduzierung der Zollrechte geführt haben und durch die Anwendung der Meistbegünstigungsklausel eine erhebliche Liberalisierung des Welthandels möglich gemacht haben. Die Uruguay-Runde wurde im Jahre 1986 eröffnet und im Dezember 1993 abgeschlossen. Der Abschlußakt wurde in Marrakesch im April 1994 durch die Repräsentanten von insgesamt 122 Ländern paraphiert.' Daraus ergibt sich eine globale Reduzierung der Zollklause1n um 37 %, so daß die Belastung durch Zölle insgesamt von durchschnittlich 6,8 auf 4,1 % des Waren wertes reduziert werden konnte? In acht verschiedenen Sektoren sind sie sogar völlig verschwunden, so z. B. im Bereich der pharmazeutischen Produkte und der Konstruktionsteile. Die Welthandelsorganisation, die am 1. Januar 1994 das GATI ersetzt hat, vereinigt 103 Mitgliedstaaten, die mehr als 90 % des Welthandels repräsentieren. Im europäischen Bereich haben Führungskräfte in einem Raum zu arbeiten, .in dem die internen Beziehungen sich in einem immer homogener werdenden Rechtsrahmen vollziehen: die Europäische Union faßt 15 Mitgliedstaaten zusammen mit einer Gesamtbevölkerung von etwa 370 Mill. Einwohnern. Die Vereinigten Staaten umfassen 258 Mill. Einwohner. Die Europäische Union hat ein "Bruttoinlandsprodukt" von 5.909 Mrd. Ecu, die Vereinigten Staaten von 5.370 Mrd. und Japan von 3.600 Mrd. Ecu. , Bei Abschluß der Tokio-Runde im Jahre 1979 waren es nur 99 Länder gewesen. Sie lagen in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg immerhin bei 40 %.
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Das Ganze ist noch viel größer, wenn man den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) betrachtet, nämlich die 15 Mitgliedstaaten der EU plus Norwegen, Island und Liechtenstein. In diesem EWR wird zu einem großen Teil die Gemeinschaftsrechtsetzung angewandt. Die Europäische Union mit gegenwärtig 15 Mitgliedstaaten wird sich wahrscheinlich auf 27 Mitgliedstaaten Anfang des nächsten Jahrhunderts ausweiten, nämlich um Malta, Zypern und die drei baltischen Staaten, Litauen, Lettland und Estland, um Slowenien und die sechs Länder des mittleren und östlichen Europa, nämlich Polen, Ungarn, die Tschechische Republik, die Slowakei, Bulgarien und Rumänien. Einige denken sogar an eine Union, von 30 Mitgliedstaaten, in die die befriedeten Teile von Ex-Jugoslawien, nämlich Serbien, Bosnien und Kroatien integriert sein könnten.
In demselben Tempo, in dem die Europäische Union sich erweitert, verstärkt und verändert sie weitgehend ihre Natur aufgrund des Maastrichter Vertrages und der Regierungskonferenz, die am 29. März dieses Jahres in Turin eröffnet werden wird. Die Wirtschaftsgemeinschaft des Anfangs verändert und entwickelt sich zu einer politischen Union mit der Anerkennung einer europäischen Staatsbürgerschaft. Die Wirtschafts- und Währungsunion wird im Prinzip ab 1999 verwirklicht werden. Eine einheitliche europäische Währung wird ohne Zweifel ab 2001 Bestand haben. Im übrigen wird, wenn die Vertiefung der Gemeinschaft durch die zukünftige Regierungskonferenz entschieden ist, die Vergemeinschaftung zumindestens des zweiten Pfeilers (Außen- und Sicherheitspolitik) und des dritten Pfeilers (Justiz und innere Angelegenheiten) des Maastrichter Vertrages stattfinden, die bisher noch auf der Regierungszusammenarbeit beruht, um aus diesen echte Aufgabengebiete und Kompetenzen der europäischen Institutionen zu machen. Unser Gegenstand ist deshalb ziemlich eindeutig: Heute üben die Führungskräfte der öffentlichen Verwaltung ihre Entscheidungsbefugnisse nicht mehr in einem nationalen Kontext aus, der durch die Grenzen des Mitgliedstaates und die darin anzuwendende Gesetzgebung bestimmt ist. Sie handeln vielmehr in einem wesentlich größeren geographischen Raum, der durch ein juristisches System bestimmt ist, das die supranationalen Institutionen verabschiedet haben. Daraus resultieren zwei Konsequenzen: - Um in der Lage zu sein, diese europäische Dimension beherrschen zu können, bedarf es einer spezialisierten Ausbildung, die den Beamten unter einem sehr praktischen und operationalen Blickwinkel angeboten wird. Die Ausbildung allein ist jedoch nicht ausreichend: die Beamten müssen gleichzeitig eine direkte und praktische Erfahrung in der Ausübung ihrer Tätigkeit in anderen Mitgliedstaaten haben. Deshalb müssen Mechanismen in Kraft gesetzt werden, die eine europäische Mobilität der Führungskräfte der öffentlichen Verwaltung erleichtern.
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A. Die Europäische Dimension in der Ausbildung der Beamten Die Grundausbildung in europäischen Angelegenheiten wird natürlicherweise durch die Hochschulausbildung vermittelt. Während ihrer Universitätsstudien erhalten die zukünftigen Führungskräfte eine grundlegende Kenntnis der europäischen Institutionen. Dabei handelt es sich aber sehr häufig um eine theoretische Ausbildung, die den Wunsch nach einer operationalen, an der Praxis orientierten Ausbildung noch immer offen läßt. Eine Reihe spezialisierter Einrichtungen ist zur Erfüllung dieser Aufgabe geschaffen worden: Das Europäische Universitätsinstitut in Florenz soll zunächst nur erwähnt werden. Es wurde 1972 durch ein Regierungsabkommen geschaffen, dem jeder neue Mitgliedstaat der Union beitreten mußte. Das Institut ist eine Einrichtung zum Zwecke der Erforschung europabezogener Themen. Auch das Europa-Kolleg Brügge wird nur erwähnt. Es wurde 1949 geschaffen. Sein Klientel sind Postgraduierte nach Abschluß ihres Universitätsexamens. Das Europa-Kolleg nimmt allerdings auch an der Fortbildung junger Beamter der Kommission teil. In diesem Sinne wurde bis vor kurzem jedem neuen Beamten nach ungefähr zwei Jahren Tätigkeit in der Kommission ein Fortbildungsangebot von fünf Tagen in Brügge offeriert, aber die Kommission hat jetzt auf diese Einstiegsfortbildung verzichtet. Und seit der spanischen Präsidentschaft3 ist diese Einstiegsfortbildung durch eine dreitägige Fortbildung in der Hauptstadt des Landes ersetzt worden, das gerade die Präsidentschaft der Union innehat. Drei verschiedene Einrichtungen sollen im folgenden näher betrachtet werden: - Das Europäische Institut für öffentliche Verwaltung in Maastricht, das 1981 geschaffen wurde und dessen statutengemäße Mitglieder die Regierungen der Mitgliedstaaten und die Europäische Kommission sind. Das Institut organisiert eine Fortbildung für Beamte, sowohl Gemeinschaftsbeamte als auch nationale oder regionale Beamte der Mitgliedstaaten oder auch dritter Staaten. Das Institut entwickelt eine Forschungs- und Beratungstätigkeit zum Management öffentlicher Aufgaben für die nationalen und regionalen Verwaltungen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union und auch für Drittstaaten sowie für die Institutionen der Gemeinschaft. Das Maastrichter Institut verfügt über ein Gesamtpersonal von 100 Vollzeitbeschäftigten und einen Lehrkörper von 45 Mitgliedern. Das Maastrichter Institut ist in drei spezialisierte Einheiten mit folgenden Themen untergliedert: die Institutionen der Gemeinschaft und die politische Integration, die Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben in Europa, die Politikfelder der Gemeinschaft und der Binnenmarkt. Zu diesen Bereichen ist noch eine Antenne (Zweigstelle) in Luxemburg hinzuzufügen, das Europäische Zentrum der Rechtsprechung und der juristischen Berufe, das vor allem ein Master-Programm der 3
In der zweiten Hälfte des Jahres 1995.
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juristischen, europäischen Studien offeriert, das sowohl den Beamten der Mitgliedstaaten als auch der Gemeinschaft, den Rechtsanwälten und Richtern und auch den Juristen offensteht, die wenig oder keine Erfahrung im Gemeinschaftsrecht haben. Das Institut hat auch Antennen (Zweigstellen) in Polen (Lodz) und in Montevideo (Uruguay) eröffnet. Das Zentrum für die Ausbildung im Bereich regionaler Integration ist im Rahmen eines Kooperationsabkommens zwischen der Europäischen Union und den Ländern der Rio-Gruppe tätig. - Die Europäische Rechtsakadernie in Trier, die 1992 in der Fonn einer Stiftung des privaten Rechts gegründet worden ist, und deren Träger die Bundesrepublik Deutschland, die Gesamtheit der 16 deutschen Länder, die Stadt Trier und das Großherzogturn Luxemburg sind. Diese Akademie organisiert Seminare für Praktiker und technische Kolloquien für Richter, Rechtsanwälte und Unternehmensjuristen entweder in Trier oder auch in anderen Städten der Europäischen Union sowie in den ost- und mitteleuropäischen Staaten. - Das Zentrum für Europäische Studien in Straßburg wurde 1994 gegründet. Im Gegensatz zum Institut von Maastricht organisiert das Zentrum nur Ausbildung und Fortbildung im Bereich europäischer Fragen, aber gegenüber einem sehr vielfältigen Publikum: Beamte, aber auch Richter, Rechtsanwälte und Führungskräfte von Unternehmen - also einerseits öffentliche Bedienstete und andererseits Führungskräfte des Privatbereichs, aber auch Angehörige der Mitgliedstaaten der Europäischen Union ebenso wie aus den Ländern Zentral- und Osteuropas oder sogar aus Drittstaaten. Das Zentrum hat den Status einer öffentlichen Einrichtung, deren Mitglieder und Träger der Staat, die ENA, das Internationale Institut für öffentliche Verwaltung in Paris, die nationale Stiftung für Politische Wissenschaften und die großen Ingenieurschulen, wie z. B. die Ecole des Mines in Paris und andere sind. Das Zentrum ist mit der ENA sehr eng verbunden und ist im übrigen auch in den Gebäuden der ENA in Straßburg untergebracht. Aber das Zentrum ist nicht etwa nur der europäische Teil der ENA. Es ist ein Ausbildungsinstrument im Bereich der europäischen Angelegenheiten, das von der französischen Regierung errichtet wurde und das der Gesamtheit der Partner Frankreichs sowohl innerhalb als auch außerhalb der Union zur Verfüsung steht. Zahlreiche Ausbildungs- und Fortbildungsaktivitäten wurden so organisiert, z. B. für die Generaldirektoren der Ministerien in Finnland oder für finnische Diplomaten, für hohe Beamte aus Marokko oder für japanische Ingenieure. Im Rückblick auf das Jahr 1995 und mit Blick auf die Ausbildungstage pro Teilnehmer repräsentierte das nichtfranzösische Publikum 28 % der Gesamtsumme. Dieser Anteil soll im Jahre 1996 auf 35 bis 40 % steigen. Das Zentrum für Europäische Studien in Straßburg bemüht sich außerdem, seine Mitwirkungen an der Umsetzung offizieller Programme der Institutionen der Ge-
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meinschaft zu intensivieren und zu entwickeln, z. B. in den Programmen von Phare (Seminare für Ungarn und Litauen mit Blick auf das Weißbuch zum Binnenmarkt), Pilotprojekte zu dem dritten Pfeiler (Kontrolle bei den Außengrenzen der Europäischen Union: Ausbildung und Austausch von Beamten der 15 Mitgliedstaaten, für die Außengrenzen und die Flughafengrenzen im Jahre 1996). Dieses Programm soll ab 1997 auch auf die Meeresgrenzen ausgeweitet werden. Des weiteren findet sich im Bereich des Gemeinschaftsrechts ein Ausbildungsangebot für Richter und Rechtsanwälte, z. B. beim Umweltschutz (Generaldirektion XI) und im Bereich der zukünftigen Aktion Robert Schuman (Generaldirektion XV). Eine zunehmende Anzahl von Aktivitäten werden mit deutschen Partnern durchgeführt, z. B. mit der Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer, mit der Bundesakademie für öffentliche Verwaltung im Rahmen des Programms Leonardo da Vinci, das sich auf Berufsausbildung bezieht, mit der Europäischen Rechtsakademie in Trier mit insgesamt zwei gemeinsamen Veranstaltungen pro Jahr, mit der Fachhochschule für öffentliche Verwaltung des Landes Baden-Württemberg. Ein Projekt mit der Diplomatenschule des Auswärtigen Amtes in Berlin ist in Vorbereitung. Es betrifft die Ausbildung junger Beamter der ost- und mitteleuropäischen sowie aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion. Was kann der Inhalt einer europabezogenen Aus- und Fortbildung für Beamte sein, nach welchen Modalitäten muß eine solche Aus- oder Fortbildung organisiert werden?
I. Der Inhalt der Ausbildung
Jede Ausbildung in bezug auf europäische Angelegenheiten muß einen Kernbestand von Gegenständen enthalten, die jede Führungskraft unbedingt beherrschen sollte: - Eine praktische Kenntnis der Organisation und des Funktionierens der Gemeinschaftsinstitutionen, wobei insbesondere auf die Modalitäten des Entscheidungsverfahrens einzugehen ist: die Unterschiede der Strategie, je nachdem, ob es sich um eine Verordnung oder eine Richtlinie handelt und je nachdem, ob ein Verfahren der Mitbestimmung oder der Kooperation anzuwenden ist. Die Unterschiede zwischen den Expertengruppen, den Arbeitsgruppen und den Komitees in den Verfahren des Ministerrates müssen beherrscht werden. - Der juristische Rahmen des europäischen Binnenmarktes: die Freizügigkeit und der freie Dienstleistungs- und Kapitalverkehr, das Abkommen von Schengen. - Die Regeln des Wettbewerbs, die Regeln, die sich auf private Unternehmen beziehen, Absprachen, der Mißbrauch einer den Markt beherrschenden Stellung (Konzentrationen), Regeln, die sich an die Mitgliedstaaten wenden (öffentliche Zuschüsse, monopolartige Unternehmen). 13*
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Neben diesem Block gibt es andere Unterrichtsbereiche, die im Blick auf die Spezialisierung der jeweiligen Teilnehmer formuliert werden müssen: - Die verschiedenen Politikbereiche der Gemeinschaft: gemeinsame Agrarpolitik, Umwelt, Verbraucherschutz, Transport usw., - die Strukturfonds der Gemeinschaft: die Regionalpolitik, die Verstärkung der wirtschaftlichen und sozialen Kohäsion in der Gemeinschaft, - die gemeinschaftsrechtliche Regulierung der öffentlichen Märkte: der Ministerrat hat verschiedene Richtlinien über das Verfahren öffentlicher Ausschreibungen angenommen, die insbesondere die vorherige Ausschreibung und die Mitteilung auf europäischer Ebene voraussetzen, damit alle möglicherweise interessierten Unternehmen in allen Mitgliedstaaten informiert werden und sich bewerben können, - außerhalb der europäische Fragestellungen (im engeren Sinne des Gemeinschaftsrechts) der Schutz der Menschenrechte im Rahmen des Europarates: die Europäische Konvention der Menschenrechte, die Europäische Kommission und der Europäische Gerichtshof der Menschenrechte in Straßburg sowie schließlich das Protokoll Nr. 11, das in den nächsten Monaten zur Gründung eines einheitlichen und dauernden Gerichtshofes führen wird.
11. Die Modalitäten der Aus- und Fortbildung
J. Die Eingangsfortbildung
Hier geht es um eine Fortbildung, die jungen Beamten angeboten wird, nachdem diese einen Eingangswettbewerb in die öffentliche Verwaltung hinter sich gebracht haben, bevor sie tatsächlich ihre neuen Funktionen übernehmen. Es ist sehr schwer, die Systeme der Eingangsfortbildung der Beamten in Europa zu vergleichen, weil sie mit dem Grundsystem des öffentlichen Dienstes verbunden sind, das in dem jeweiligen Land gewählt worden ist: die Konzeption ist durchaus nicht dieselbe, je nachdem ob es sich um einen öffentlichen Dienst handelt, der auf dem Begriff des Karrieresystems, wie z. B. in Frankreich basiert, oder auf dem Begriff des Dienstpostensystems wie in den Niederlanden. Im folgenden wird das Beispiel Frankreich näher beleuchtet - die Ecole Nationale d' Administration (ENA). Diese wurde 1945 gegründet und ist direkt dem Premierminister unterstellt. Die ENA ist eine anwendungsbezogene Schule, deren Aufgabe es ist, eine berufsbezogene Ausbildung für zukünftige Führungskräfte der öffentlichen Verwaltung anzubieten. Die Schulzeit dauert 27 Monate und ist in zwei Teile gegliedert: ein Jahr des Praktikums mit zwei verschiedenen Praktika: ein Praktikum von sechs Monaten in Frankreich bei einer Präfektur,
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- ein Praktikum von fünf Monaten im Ausland: entweder in einer französischen Botschaft, in einer internationalen Organisation (nonnalerweise bei der Europäischen Kommission, aber auch bei der UNO), in einer Verwaltung eines anderen Mitgliedstaates der Europäischen Union (in einem Ministerium oder in einer dezentralisierten Verwaltung) oder in einem Unternehmen. Jeder Schüler der ENA absolviert deshalb notwendigerweise ein Praktikum von sechs Monaten außerhalb Frankreichs. Nach dem Jahr der Praktika folgen 14 Studienmonate, davon sieben Monate in Straßburg und sieben Monate in Paris. Diese Monate enthalten zwei große Blöcke: - Eine Grundausbildung, die insgesamt sieben Unterrichtsgegenstände umfaßt, von denen zwei in besonderem Maße internationale Probleme berühren: die Verfahren und Angelegenheiten der Europäischen Gemeinschaft, internationale Fragen und das diplomatische Handeln sowie neuerdings vergleichende Verwaltung, insbesondere im Bereich der Territorialverwaltung. Eine Ausbildung im Bereich der angewandten Forschung und der Gruppenarbeit, die insgesamt drei Seminare umfaßt, jedes zu drei Monaten, darunter auch ein Seminar in der vergleichenden Verwaltung, die es ermöglichen soll, die Organisation und das Funktionieren der Verwaltungen in den verschiedenen Mitgliedstaaten der Europäischen Union zu untersuchen. Dabei geht die Analyse von einem großen Politikbereich aus - im Jahre 1995 war dies zum Beispiel die Umweltpolitik. Während des Studienaufenthaltes in Straßburg werden Themen der Europäischen Integration in zwei Unterrichtseinheiten vennittelt: - Eine Unterrichtseinheit von zwei Wochen orientiert sich an den Problemen der europäischen Konstruktion. Die Aufgabe dieses Unterrichtsbereichs ist es, den Schülern einen möglichst präzisen Eindruck von dem Zustand der Union zu vennitteln. Organisiert durch das Zentrum für Europäische Studien in Straßburg wurde dies 1995 zum ersten Mal durchgeführt. Wesentliches Element war ein Zusammentreffen mit den Schülern der Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer mit der Absicht, eine vergleichende Analyse der halbjährigen Präsidentschaften Deutschlands (zweite Hälfte 1994) und der Präsidentschaft Frankreichs (erstes Halbjahr 1995) zu veranstalten. Es ging dabei vor allem darum, den Schülern der beiden Einrichtungen eine Vorstellung der Art und Weise zu vermitteln, in der die großen Problembereiche der Europäischen Integration durch die Regierungen der beiden Partnerländer behandelt werden. Eine Unterrichtseinheit in Verfahren und in Angelegenheiten der Gemeinschaft. Dies entspricht einer völlig anderen Zielsetzung: die Europäischen Angelegenheiten werden hier ausschließlich aus der Sicht der französischen Verwaltung dargestellt und behandelt. Es geht darum zu erläutern, wie das politisch-administrative System Frankreichs organisiert ist und wie es bei der Behandlung der
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europäischen Themen wirkt. Als Beispiel werden hier einige Hinweise aus dem Unterrichtsprogramm des Jahres 1996 zitiert: Der Lehrkörper des Zentrums für Europäische Studien in Straßburg besteht aus hohen Beamten der Institutionen der Gemeinschaft, aus französischen hohen Beamten mit dem Auftrag, bestimmte europäische Themen dienstlich zu behandeln (z. B. aus der Direktion für Europäische Zusammenarbeit im Außenministerium, aus dem Generalsekretariat für die Koordination der europäischen Angelegenheiten, das dem Premierminister unterstellt ist, aus der Ständigen Vertretung Frankreichs bei der Europäischen Union in Brüssel). Diese Unterrichtseinheit hat drei Bestandteile: - Zwei Kurse: die Finanzen der Europäischen Union, von dem Generaldirektor des Budgets der Kommission (in der Generaldirektion XIX) sowie die auswärtigen Angelegenheiten der Europäischen Union (durch einen Direktor des rechtlichen Dienstes im Rat der Europäischen Union). - Neun Studien sitzungen mit Fallbeispielen, die sich z. B. auf die Maßnahmen der Gemeinschaft zum Schutz des Wettbewerbs beziehen, auf die Erweiterung der Europäischen Union um die Mittel- und Osteuropäischen Staaten, auf die Problematik der Konzentration im Wirtschafts bereich oder auf die Maßnahmen im Bereich öffentlicher Ausschreibungen. Jede Sitzung stützt sich auf ein Dossier. Die Studenten sind in Gruppen zu jeweils 20 Personen aufgeteilt. Das Dossier umfaßt mehrere -zig Seiten von Dokumenten. Die Aufgabe des Lehrbeauftragten ist es, die Studenten zu einer Synthese ihrer Überlegungen zu führen, während sie die Arbeitsmethoden und die benutzten Verfahren der französischen Verwaltung zur Behandlung europäischer Angelegenheiten kennenlernen. - Zwei Simulationssitzungen, die einen konkreten Eindruck der Verhandlungen auf der Ebene der Gemeinschaft vermitteln. Diese Sitzungen bezogen sich auf die Zollgemeinschaft mit der Türkei sowie auf die vorbereitenden Verhandlungen eines Abkommens der Europäischen Union mit den südamerikanischen Ländern Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay. 2. Anpassungsfortbildung
Dieser Bereich umfaßt eine Ausbildung in Fragen der Europäischen Angelegenheiten, die die Beamten im Laufe ihrer Karriere wahrnehmen können. Dazu folgende Beispiele: Portugal Für die Beamten organisiert das Nationale Institut für öffentliche Verwaltung in Lissabon mehrere Seminare, deren Resultat - als Indikator für die hervorragenden Kenntnisse, die die Beamten durch diese Fortbildung erhalten haben - das einfache
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Ergebnis war, daß Portugal die vom Strukturfonds angebotenen Finanzierungsmöglichkeiten restlos ausgeschöpft hat. Für die Richter und Rechtsanwälte sind die Seminare des Nationalen Zentrums für Rechtsstudien gedacht, die es den Spezialisten aus den juristischen Berufen erlaubt haben, sich sehr bald und schnell in die Mechanismen der juristischen Zusammenarbeit mit dem Europäischen Gerichtshof und den nationalen Gerichten einzuarbeiten und zu integrieren. Niederlande Hier können hohe Beamte, die über eine gewisse Berufserfahrung verfügen, ein Master-Programm in der öffentlichen Verwaltung in "The Netherlands School of Government" absolvieren. Diese Einrichtung in Den Haag enthält eine starke europäische Orientierung. Frankreich Die Anpassungsfortbildung ist eine wesentliche Aufgabe des Zentrums für Europäische Studien in Straßburg in der Form von ein wöchigen Seminaren für die Beamten einer bestimmten Verwaltungssparte (z. B. Auswärtiges Amt, Polizei, Beamte der territorialen Gebietskörperschaften) oder für Gruppen interministeriellen Zuschnitts, aber auch für Rechtsanwälte und Führungskräfte von Unternehmen. Schließlich muß man auch die Anpassungsfortbildung erwähnen, die in dem Europäischen Institut für öffentliche Verwaltung in Maastricht - für die in der Regel kurze Dauer von zwei oder drei Tagen - angeboten wird. Eine erhebliche Zunahme des Anteils europäischer Elemente in der Anpassungsfortbildung der Beamten ist deshalb heute eine unbedingte Notwendigkeit. Es ist aber nicht ausreichend, daß die Führungskräfte dadurch nur in der Ausübung ihrer beruflichen Tätigkeit einen europäischen Reflex spüren und umsetzen. Man muß ihnen auch die Möglichkeit direkter Kontakte mit ihren Partnern in den anderen Mitgliedstaaten eröffnen. Sie müssen zeitweise ihre Aktivitäten in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union oder bei den Europäischen Institutionen ausüben können. Die Anstrengungen im Fortbildungsbereich müssen deshalb ergänzt und unterstützt werden durch eine tatsächliche Mobilität der Beamten. Erst die Zusammenfassung dieser beiden Faktoren garantiert eine wirkliche Europäisierung von Führungskräften in der öffentlichen Verwaltung.
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B. Die Europäische Mobilität der Beamten
Man kann zwei Modelle. und Modalitäten unterscheiden: ein Beamter kann die Möglichkeit erhalten, zeitweise seine Funktionen im Ausland auszuüben, oder er kann sich entscheiden, seine Berufstätigkeit in einem anderen Lande fortzusetzen.
I. Erste Modalität
Die erste Modalität ist das zeitweise Eintauchen in das Berufsfeld in einem anderen Staat oder in einer europäischen Institution. Dabei gibt es folgende beiden Möglichkeiten: Man kann an einem Austauschverfahren mit Beamten der anderen Staaten teilnehmen und zwar im Rahmen von Gemeinschaftsaktionen und -programmen, oder man kann seine Funktionen in einer europäischen Institution im Rahmen einer Zuweisung ausüben.
J. Die Austauschprogramme der Gemeinschaft
Matthaeus Im Jahre 1991 wurde dieses Programm im Hinblick auf die Errichtung des Binnenmarktes am 31. Dezember 1992 lanciert. Dieses Programm ist insbesondere den Zollbeamten eröffnet worden, weil dieser Berufszweig am direktesten von der Abschaffung der Grenzkontrollen im Inneren der Gemeinschaft betroffen war. Das Programm enthält zwei Ziele: die Beamten der Zollverwaltung der Mitgliedstaaten auf die neuen Gegebenheiten, die sich aus der Errichtung des Binnenmarktes ergeben, vorzubereiten, und diesen Dienststellen das Bewußtsein zu vermitteln, daß sie mehr und mehr für die Gemeinschaft insgesamt handeln. Die Modalitäten bestehen in einem Austausch der Zollbeamten der nationalen Verwaltungen sowie in Ausbildungsseminaren zu speziellen Themen und schließlich in gemeinsamen Programmen beruflicher Ausbildung in den Zoll schulen der Mitgliedstaaten. Als Budget sind dafür 2 bis 2,5 Mill. Ecu pro Jahr vorgesehen. Die Resultate sind nach Einschätzung der Kommission eher positiv, denn sie haben ein gemeinsames Arbeitsverhalten in den Bereichen schaffen können, die bisher durch isolierte Aktionen jeder nationalen Verwaltung bestimmt waren. Matthaeus-Tax Dieses Programm ist insbesondere an die Beamten der nationalen Verwaltungen zur Erhebung der Mehrwertsteuer gerichtet. Das Ziel ist, die Bearbeitung dieses neuen Systems ohne Grenzen zu begleiten und das endgültige System der Mehrwertsteuer vorzubereiten, das im Jahre 1997 eingeführtt werden wird. Als Budget sind dafür 600.000 Ecu pro Jahr angesetzt.
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Karolus Dieses Programm ist seit dem 1. Januar 1993 in Anwendung. Es zielt darauf ab, die Kooperation zwischen den Mitgliedstaaten zu erleichtern und zwar durch eine einheitliche Anwendung der gemeinschaftsrechtlichen Vorschriften zur Realisierung des Binnenmarktes. Dieses Programm richtet sich deshalb an Beamte, die in ihrem Land mit der Umsetzung und der Anwendung der gemeinschaftsrechtlichen Richtlinien in einer Reihe von Bereichen befaßt sind (nationale Verwaltungen, Länderverwaltungen und Lokalverwaltungen). Für 1995 sind folgende Bereiche vorrangig berücksichtigt worden: öffentliche Märkte, pharmazeutische Produkte, Nahrungsmittel, Wettbewerb, Freizügigkeit, freier Dienstleistungs- und Kapitalverkehr (Aufenthaltsgenehmigungen und soziale Sicherheit), Verbraucherschutz, Straßenverkehr. Das Programm soll sich über fünf Jahre erstrecken und soll ungefähr 1.900 Teilnehmer umfassen. Das gesamte Budget umfaßt 17 Mio. Ecu. Die Programme der ausgewählten Beamten bestehen aus folgenden Abschnitten: Ein Eingangsseminar von vier Tagen, das in Maastricht vom Europäischen Institut für öffentliche Verwaltung organisiert wird. - Der eigentliche Austausch, d. h. der Aufenthalt in einer vergleichbaren Verwaltung eines anderen Mitgliedstaates, im Prinzip über zwei Monate, aber mit der Tendenz sich auf einen Monat zu begrenzen. Der Austausch zwischen den Verwaltungen muß nicht unbedingt auf Gegenseitigkeit beruhen. Ein Auswertungsseminar von zwei Tagen im Europäischen Institut für öffentliche Verwaltung in Maastricht. Finanzierung: Die Kosten des Aufenthaltes während des Austausches werden zu 50 % von der Kommission und zu 50 % von der Herkunftsverwaltung des Beamten getragen. 4 Die Reisekosten, die mit dem Austausch verbunden sind, die Fahrtkosten und die Aufenthaltskosten für die Seminare in Maastricht werden von der Kommission getragen. Die Kommission hat darüber hinaus entschieden, daß ab 1996 drei Pilotaktionen für den Austausch von Beamten nach dem Modell Karolus in folgenden Bereichen stattfinden sollen: - Kontrolle an den Außengrenzen der Europäischen Union, dieses Programm ist dem Straßburger Zentrum anvertraut. - Immigrationsprobleme, Asyl, diese beiden Seminare sind dem Institut in Maastricht anvertraut worden.
4 Dabei gilt als Grundlage eine tägliche Pauschale von 120 Ecu für die Mehrzahl der Mitgliedstaaten, von 133 Ecu in Italien und 136 Ecu im Vereinigten Königreich.
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2. Die nationalen Experten in der Zuweisung an eine europäische Institution
Seit 1988 können die Beamten der Mitgliedstaaten (nationale, regionale oder lokale Verwaltungen) den Generaldirektionen der Kommission für drei Monate (Minimum) bis zu drei Jahren (Maximum) zugewiesen werden. Sie werden weiterhin von ihrer Herkunftsverwaltung bezahlt. Die Kommission übernimmt die pauschalen Kostenerstattungen für Aufenthalt und Reisekosten (Budget 1995: 23 Mio. Ecu). Gegenwärtig gibt es 610 zugewiesene nationale Beamte. Hierbei handelt es sich um ein hervorragendes System: Es erlaubt den Verwaltungen der Mitgliedstaaten, über spezialisierte Beamte auf dem Gebiet der verschiedenen europäischen Politiken zu verfügen, wenn sie ihren Aufenthalt in BrüsseI oder Luxemburg beendet haben. Dabei ist von ausschlaggebender Bedeutung, daß sie vor ihrem Aufenthalt in der europäischen Verwaltung gut vorbereitet werden, daß sie ständigen Kontakt mit ihrer Heimatverwaltung während ihres Aufenthaltes halten (hier ist die Rolle der ständigen Vertretungen wichtig) und daß ihre Rückkehr in die Heimatverwaltungen personal wirtschaftlich vernünftig vorbereitet und durchgeführt wird. 5
11. Zweite Modalität: Übergang in die Verwaltung eines anderen Mitgliedstaates Hierbei handelt es sich hypothetisch um einen Beamten, der sich völlig in die Verwaltung eines anderen Mitgliedstaates herüberbewegen will, um dort während mehrerer Jahre oder endgültig seine berufliche Tätigkeit auszuüben. Diese Form der Mobilität ist so angelegt, daß schließlich die gegenseitige Durchdringung der Führungskräfte der verschiedenen europäischen Staaten möglich erscheint. Sie führt nach und nach zum Autbau einer Gruppe öffentlicher Führungskräfte, die in der Lage sind, ihre beruflichen Aufgaben auf der europäischen Ebene zu konzipieren und zu verstehen. Ist eine solche Mobilität tatsächlich möglich?
1. Das Prinzip: die Freizügigkeit
Jeder Angehörige eines Mitgliedstaates hat das Recht, in einem anderen Mitgliedstaat eine berufliche Tätigkeit aufzunehmen und auszuüben, unter denselben 5 Die Beamten sollen nicht das Risiko eingehen, keinen vergleichbaren Arbeitsplatz wiederzufinden - oder in einern besseren Sinne ausgedrückt: Es muß ihnen garantiert werden, daß sie nach ihrer Rückkehr einen Arbeitsplatz erhalten, der in direkter Weise mit europäischen Angelegenheiten zu tun hat.
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Bedingungen wie die Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaates. Das ergibt sich aus dem Grundsatz der gleichen Behandlung von Angehörigen des eigenen Staates und den Angehörigen der anderen Mitgliedstaaten. Dies ist das grundlegende Modell für das allgemeingültige Prinzip, mit dem Diskriminierungen auf der Grundlage von Staatsangehörigkeiten untersagt werden. Der Zugang zu einer beruflichen Tätigkeit kann darin bestehen, daß man einen bezahlten Dienstposten übernimmt, aber auch darin, daß man eine unabhängige Berufstätigkeit ausübt (im Bereich der Industrie, des Handels, des Handwerks, der Landwirtschaft oder eines freien Berufes).
2. Die Ausnahme: Der Zugang zu Positionen in der öffentlichen Verwaltung der anderen Mitgliedstaaten
Der Vertrag schließt Angehörige der öffentlichen Verwaltung von dem Prinzip der Freizügigkeit der Arbeitskräfte aus. Aber der Europäische Gerichtshof hat dem Begriff "Beschäftigung in der öffentlichen Verwaltung" eine restriktive Auslegung gegeben. Nur die Beschäftigungsmöglichkeiten in einem Mitgliedstaat können für die Angehörigen dieses Mitgliedstaates reserviert werden, die eine direkte oder indirekte Teilhabe an der Ausübung öffentlicher Gewalt bedeuten, eine Teilhabe an Funktionen, deren Aufgabe es ist, die allgemeinen Interessen des Staates oder öffentlicher Gebietskörperschaften zu schützen. Es handelt sich deshalb um Dienstposten, die die Möglichkeit eröffnen, hoheitliche Gewalt gegenüber Individuen auszuüben und die sich auf die Souveränität des Staates beziehen. Ein Mitgliedstaat kann deshalb den Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten den Zugang zu folgenden Positionen untersagen: Armee, Polizei, Rechtsprechung, Finanzverwaltung, Diplomatie, die Leitungspositionen in den Ministerien und in den regionalen Gebietskörperschaften. Im Gegensatz dazu sind den Angehörigen anderer Mitgliedstaaten unter denselben Bedingungen wie den eigenen Angehörigen folgende Positionen zugänglich: Die Organisationen, die mit Handel, z. B. öffentlichem Transport, Verteilung von Elektrizität oder Gas, mit Luftfahrtunternehmen oder Schiffahrtsunternehmen, mit Post und Telekommunikation, mit Organisationen des Rundfunks und des Fernsehens zu tun haben, operative Einheiten des öffentlichen Gesundheitswesens, Beschäftigung in öffentlichen Hospitälern, - Unterricht in öffentlichen Einrichtungen, - Forschung für zivile Zwecke in öffentlichen Einrichtungen. Dieses bedeutet nicht nur, daß ein junger Mensch eines europäischen Staates auf öffentliche Posten in einem anderen Staat gelangen kann, sondern auch - und dies ist der wesentliche Aspekt der Mobilität - daß ein öffentlicher Beamter entschei-
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Gerard Druesne
den kann, seine Karriere in einem anderen europäischen Mitgliedstaat fortzusetzen, ohne mit seiner Herkunftsverwaltung völlig zu brechen. Natürlich sind die zahlreichen Probleme, die sich hier ergeben, evident: Kontinuität der Karriere, Niveau der Bezahlung, soziale Absicherung, Rente und Pensionssystem. Aber das entscheidende ist, daß aus juristischer Perspektive eine Möglichkeit besteht. Es ist Aufgabe jedes Mitgliedstaates, die notwendigen Maßnahmen zur Anpassung seiner nationalen Gesetzgebung zu treffen, um diese rechtliche Möglichkeit effektiv zu machen. Eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom 23. Februar 1994 (Rechtssache Scholz, 419/92) erleichtert in großem Maße die Mobilität der Angehörigen der Gemeinschaft auf Dienstposten, für die vorherige berufliche Erfahrung ein Zugangskriterium darstellt. Die Entscheidung sieht in der Tat vor, daß in diesem Falle die öffentlichen Einrichtungen keine Unterscheidung zwischen einer vorherigen beruflichen Tätigkeit in diesem Staat oder in einem anderen Mitgliedstaat treffen dürfen.
C. Zusammenfassung
Dieses Expose hat versucht darzustellen, auf welche Art und Weise die europäische Dimension heute und zunehmend die Aktivität von Führungskräften beeinflußt und welche Konsequenzen aus dieser Tatsache im Blick auf Aus- und Fortbildung gezogen werden müssen. Ist vorauszusehen, daß der Fortschritt der europäischen Integration auf die Beamten so starke strukturelle Veränderungswirkungen ausüben wird, daß wesentliche Charakteristika ihrer statusmäßigen Situation in Frage gestellt werden? Wird die Vertiefung der europäischen Konstruktion zwar noch nicht eine Vereinheitlichung der Konzeptionen des öffentlichen Dienstes in Europa, aber doch ein Hinbewegen auf das eine oder andere Modell bedeuten? Grob gesprochen bestehen zwei große Konzepte und Modelle des öffentlichen Dienstes: - Das französische Modell, das zur Zeit auch im Süden Europas realisiert ist: die Beamten werden durch Wettbewerb rekrutiert und zwar für einen Grad mehr noch als für einen Posten, sie haben eine Sicherheit des Dienstpostens dank ihres öffentlich-rechtlichen Statuts. Das nordeuropäische Modell: die öffentlichen Bediensteten werden durch sehr verschiedene Prozeduren rekrutiert und zwar je nach der Natur ihres Dienstpostens und nach einem System, das sich auf den Dienstposten bezieht und nicht auf die Karriere. Die meisten sind Vertrags bedienstete, deren rechtliche Situation durch Kollektivverträge geregelt ist, und nur die obersten Führungspositionen profitieren von einem spezifischen Status.
Die Europäische Dimension der Ausbildung und Fortbildung von Beamten
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Auf der juristischen Ebene kann jeder Staat seine eigene Konzeption des öffentlichen Dienstes beibehalten. Keine Norm der Gemeinschaft zwingt ihn, eine Konzeption zu akzeptieren, die er nicht will. Auf der anderen Seite drängt die grundsätzliche Philosophie der Gemeinschaft darauf, in allen Bereichen die Hindernisse wegzuräumen, die dem Wettbewerb und der Öffnung der nationalen Systeme im Wege stehen. Die Philosophie strebt vielmehr nach der Überwindung solcher Charakteristika nationaler Systeme, die den europäischen Erwartungen widersprechen. Es gibt eine Verpflichtung der Mitgliedstaaten, auch die Sektoren dem offenen Wettbewerb zu öffnen, die in diesen Mitgliedstaaten manchmal durch Monopolsituationen ausgenutzt werden (Telekommunikation, Postwesen, Verteilung von Elektrizität und Gas, Luft- oder Schienentransport). In gleicher Weise muß diese Verpflichtung auch umgesetzt werden, wobei den statutenmäßigen Garantien für das Personal, die ohne Zweifel der administrativen und sozialen Tradition eines Landes entsprechen, Rechnung getragen werden muß. Diese Garantien dürfen aber die Konformität der gesamten Regelung mit den Zwängen des offenen Wettbewerbs weder verhindern noch schwieriger machen. Die Herausforderung eines integrierten Europas ist immens. Sie eröffnet sich nur mit Schwierigkeiten: Es handelt sich um eine grundlegende Reflexion über den Begriff des service public und seine Konsequenzen im Bereich des Statuts für die öffentlichen Bediensteten. Hier müssen sich die Regierungen und die Sozialpartner engagieren und diese Reflexionen in den nächsten Jahren zu einem guten Ende führen.
Der einheitliche institutionelle Rahmen der Europäischen Union* Art. C EUV im Gefüge der Verfassungsprinzipien
Von Meinhard Hilf Der einheitliche institutionelle Rahmen der Europäischen Union ist ein Thema, dessen Zugänglichkeit sich nicht sofort aufdrängt. Art. C Abs. 1 EUV sagt nicht, die Union "soll" einen institutionellen Rahmen haben. Die betreffende Vertragszeile ist ganz kurz: "Die Union verfügt über einen einheitlichen institutionellen Rahmen". Was soll dieser Satz aussagen? Oder was soll dieser Rahmen bewirken? Das wird in einem zweiten Halbsatz hinzugefügt: Er soll "die Kohärenz und Kontinuität der Maßnahmen zur Erreichung ihrer Ziele unter gleichzeitiger Wahrung und Weiterentwicklung des gemeinschaftlichen Besitzstands" sicherstellen. Hinter einem unbekannten Begriff - dem "institutionellen Rahmen" - kommen zwei ebenfalls neue Begriffe: "Kohärenz" und "Kontinuität", bei gleichzeitiger Wahrung des Besitzstands. Selbst wenn der Besitzstand komplex und in der institutionellen Ausgestaltung uneinheitlich ist, soll dieser Besitzstand gewahrt werden. Hierin liegt ein Spannungsverhältnis, welches es nicht uninteressant macht, sich mit diesem Artikel näher zu befassen. Die EU "verfügt" also. Aber stimmt das? Gibt es einen einheitlichen institutionellen Rahmen? In Art. Abis F EUV, die dem gesamten Unionsgebäude vorangestellt sind, findet sich eine Reihe von verschiedenen Verfassungsprinzipien angesprochen, von denen der einheitliche institutionelle Rahmen nur eines ist. In der Präambel zum EUVerscheinen Prinzipien, von denen bisher in den Vertragstexten der Gemeinschaft keine Rede war. Zum Beispiel die Grund- und Menschenrechte, das Demokratieprinzip und das Rechtsstaatsprinzip. In Art. A EUV findet sich erstmals im Vertragstext der neue Begriff der "Union" gleich in der ersten Zeile, und man fragt sich, was damit eigentlich gemeint ist. Darauf wird später einzugehen sein. Diese Union soll eine immer engere Nähe zwischen den Völkern herbeiführen. "Immer enger" ist eine Schwierigkeit, mit der man logisch fast nicht umgehen kann. Dann wird in Art. A Abs. 3 EUV über die Grundlagen der Union gesprochen.
* Der Vortragsstil wurde im wesentlichen beibehalten und auf Fußnoten weitgehend verzichtet. Zur Vertiefung wird auf die Kommentierung von Hilf/Pache. in: Grabitz/Hilf(Hrsg.), Kommentar zur Europäischen Union, Stand: Oktober 1995, Art. C EUV, hingewiesen.
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Es wird auf die Ziele hingewiesen, die in Art. B EUVentfaltet werden. Und auch dort findet sich wieder der neue Begriff: "Kohärenz" - diesmal nicht mit "Kontinuität" verbunden, sondern mit "Solidarität". Art. B EUVentspricht den anderen drei Gemeinschaftsverträgen, die ebenfalls mit Zielen und Aufgabenbeschreibungen beginnen. Auch hier werden neue Begriffe vorgestellt, wie der der "internationalen Identität", die herzustellen ein Ziel der Union sein soll. Weiterhin werden angesprochen: ein Raum ohne Binnengrenzen, die Verteidigung, die Unionsbürgerschaft, das Prinzip der Subsidiarität - erstmals genannt in Art. B EUV. Nach diesen einleitenden Verfassungsprinzipien kommt Art. C EUV, und im Anschluß dann mit Art. D EUV die Spitze des institutionellen Systems: der Europäische Rat. Dieser ist zusammengesetzt aus den - wie es unzutreffend in der deutschen Übersetzung heißt - "Staats- und Regierungschefs". Man sieht, wie bescheiden die Bundesrepublik ist, wenn sie nur ihren Regierungschef in den Europäischen Rat sendet und nicht auch den Bundespräsidenten. Die Finnen tun es übrigens - sie erscheinen immer mit zwei Amtsträgern im Europäischen Rat, weil Staatspräsident und Ministerpräsident Funktionen in der Staatsleitung innehaben. Dann folgt Art. E EUV, der das Grundprinzip der begrenzten Ermächtigung noch einmal in einer Verfassungsvorschrift hervorhebt. Anschließend kommt Art. F EUV, der in jedem Absatz verfassungsrechtliches Neuland betritt. Wenn man z. B. Art. F Abs. 1 nimmt, stößt man auf die Sicherung und Achtung der "nationalen Identität". Die nationale Verwaltung sieht sich bestätigt: "Hier wird meine Identität, werden meine Aufgaben in den Verfassungsbestimmungen der Union festgeschrieben." Ein moderner Begriff: "Identität", jeder sucht seine Identität, jede Familie, jede Person, jede Gemeinschaft, jede Verwaltung. Im Unions vertrag wird sie gleich dreimal aufgeschrieben - im Grundgesetz sucht man sie vergeblich. Vorhin war die Rede von der internationalen Identität der Union. In der Präambel ist zusätzlich von der europäischen Identität die Rede und hier von der nationalen Identität, die es zu achten gilt. Auch Art. F Abs. 2 EUV ist neu, mit dem Zugehen auf die Europäische Menschenrechtskonvention. Der Gerichtshof hat allerdings in seinem jüngsten Gutachten festgestellt, daß ein Beitritt der EG zur EMRK derzeit kompetenziell nicht in Betracht kommt. 1 Und dann der letzte Baustein dieser einleitenden Bestimmung: Art. F Abs. 3 EUV. Der Maastricht-Vertrag wäre beinahe an dieser Vorschrift vor dem Bundesverfassungsgericht gescheitert. Die Beschwerdeführer behaupteten, hier läge eine unzulässige Kompetenz-Kompetenz: "Die Union stattet sich mit den Mitteln aus, die zum Erreichen ihrer Ziele und zur Durchführung ihrer Politiken erforderlich sind". Wenn man das unvoreingenommen liest, kann man nur erstaunt sein, was offenbar die Union alles machen kann, ohne Parlament, ohne Kommission, ohne Gerichtshof. 2 Das Bundesverfassungsgericht hat auf vier Seiten exegetisch überEuGH, Gutachten 2/94 v. 28. 3. 1996 (EMRK), EuGRZ 1996, 197. Eine Dokumentation des Verfahrens findet sich bei Winkelmann (Hrsg.), Das MaastrichtUrteil des Bundesverfassungsgericht, 1995. 1
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zeugend dargestellt, daß dies nicht wörtlich zu nehmen sei, es handele sich lediglich um ein Vertragsziel. 3 Dieses verfassungsrechtliche Umfeld ist insoweit wichtig, weil Art. C EUVeben keine isolierte Verfassungsbestimmung ist, die man beliebig entfalten und zur Geltung bringen kann. Man muß bei jeder Folgerung, die aus Art. C EUV gezogen werden kann, zugleich fragen, ob damit nicht andere Verfassungsprinzipien aus dem Umfeld beeinträchtigt werden. Eigenartig ist, daß es im deutschen Verfassungsrecht eine solche Bestimmung bzw. Begriffssprache nicht gibt. Das "Rahmen"-Gesetz nach Art. 75 GG ist der einzige Begriff, der einen Anklang vermittelt. In Deutschland würde man im Zusammenhang mit einem einheitlichen institutionellen Rahmen wahrscheinlich die fünf obersten Verfassungsorgane nennen - diese müßten alle staatlichen Funktionen wahrnehmen. Man hat jedoch Schwierigkeiten, wenn man sich die Organisationslandschaft in Deutschland anschaut: Über das Einfallstor des Art. 87 Abs. 3 GG stößt man auf eine Fülle von autonomen Körperschaften, Anstalten und ausgegliederten obersten Bundesbehörden. Wie man das Ganze zusammenhält, ist schon schwierig. Hinzu kommt die Kooperation zwischen Bund und Ländern, von der im Grundgesetz auch kaum die Rede ist. Hier liegen Entwicklungen vor, die die Frage nach einem einheitlichen institutionellen System auch für Deutschland als wichtig erscheinen läßt. Art. C Abs. 1 EUVerscheint also als ein unbekanntes Gelände, welches mit zehn Thesen näher erschlossen werden soll. These J: Die Europäische Union veifügt über ein komplexes institutionelles System, das nur in Ansätzen als einheitlich bezeichnet werden kann. Diese These beschreibt ein Spannungsverhältnis: Die EU verfügt einerseits über einen Rahmen, aber man wird gleich sehen, daß das gegebene institutionelle System nur in Ansätzen als einheitlich bezeichnet werden kann. Der schlechte Zustand des institutionellen Systems der Union ist Anlaß gewesen, die Revisionskonferenz für 1996 einzuberufen. Ein wesentliches Ziel der Konferenz besteht dabei darin, das institutionelle System klarer, verantwortlicher und einheitlicher zu gestalten. So spielt bisher in institutionellen Verfahren der beiden Säulen der Art. J und K EUV das Initiativmonopol der Kommission fast keine Rolle, das Parlament ist ganz am Rande beteiligt, und der Gerichtshof darf dort überhaupt nicht erscheinen. Nur im Rat werden - formal jedenfalls - die Gemeinschaftsstrukturen beachtet. Bei diesen Säulen fehlt die verantwortliche Einbindung in das übrige Gemeinschaftssystem und damit die Transparenz. Man weiß nicht genau, was dort passiert. Und weil im Grunde genommen bisher so wenig passiert ist, ist dies vielleicht letztlich gar nicht so schlimm. Hier liegt eine der wesentlichen Aufgaben der Revisionskonferenz. Art. C EUV kann diese bisher bestehende Uneinheitlichkeit sicher nicht zudecken. Überdies müssen wir in das institutionelle System auch Funktionsträger 3
BVerfGE 89, 155 (l94ff.) - Maastricht.
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auf der nationalen Ebene mit einbeziehen: Die Verwaltung, die Gerichte und die Parlamente der Mitgliedstaaten, die jeweils für sich eine essentielle Funktion für die Union ausüben und damit praktisch doch mit zu dem institutionellen System der Union gehören. Wenn man also zutreffend sagt: Der deutsche Richter ist der europäische Richter erster Instanz, die deutsche Verwaltung ist die eigentliche europäische Vollzugsverwaltung, und die nationalen Parlamente liefern die Legitimation für die gesamte Union. Dies ergibt ein System, das uneinheitlich auf der Unionsebene ist und darüber hinaus in 15 verschiedenen Ausästelungen höchst unterschiedlich ist. Von einem "einheitlichen" System kann man also gar nicht sprechen. Drei Beispiele sollen die Uneinheitlichkeit illustrieren: Wenn die Kommission bei der Firma Hoechst in Frankfurt eine Durchsuchung machen will, um dort nach kartellrechtlich relevanten Dokumenten zu suchen, muß sie umkehren und sich erst durch das Frankfurter Amtsgericht einen Durchsuchungsbefehl erteilen lassen. Diesen kann sie nicht beim Europäischen Gerichtshof einheitlich für alle 15 Mitgliedstaaten erhalten. Sie muß jedes einzelne nationale Prozeßrecht beachten und sich fragen: Brauche ich einen Untersuchungsbefehl? Welche nationale Instanz ist zuständig? Bekomme ich ihn, oder bekomme ich ihn nicht?4 Zweites Beispiel: Wollen Firmen unterhalb der Fusionsverordnungsschwelle fusionieren, also der Eingriffsschwelle, ab der die gemeinschaftliche Fusionskontrolle greift, müssen sie die ganz verschiedenen Kartellsysteme in den Mitgliedstaaten durchlaufen, je nachdem, in welchen Märkten sie tätig werden wollen. Das ist sicherlich kein einheitliches Kartellrecht, wie man es sich vorstellen kann. Und drittes Beispiel: Bananen. 5 Einstweiliger Rechtsschutz wird in allen Mitgliedstaaten sehr unterschiedlich gewährt. Leider hat der Europäische Gerichtshof noch keine Zuständigkeit, für einstweiligen Rechtsschutz in bezug auf das Gemeinschaftsrecht einheitlich zu sorgen. Im konkreten Fall bietet das Finanzgericht Hamburg einstweiligen Rechtsschutz und läßt, weil die betreffende Importfirma vom Konkurs bedroht ist, ohne gemeinschaftsrechtliche Abgaben und ohne Sicherheitsleistung die Bananendampfer nach Hamburg einfahren und einen nach dem anderen abfertigen. 6 Es stellt sich also auch hier die Frage, wie ein einheitlicher Rechtsschutz aussehen müßte, denn im gegebenen Fall wird die Gemeinschaftsrechtsordnung für etwa 16 Monate außer Vollzug gesetzt, bis endlich die Entscheidung zur Hauptsache kommt. 7 Das sind Fragen, die aufzeigen, wie die untere Ebene der 15 nationalen Systeme letztlich zu einem sehr heterogenen Gesamtsystem 4 Vgl. EuGH, Urt. v. 2l. 9. 1989, verb. Rs. 46/87 u. 227/88 (Hoechst AG / Kommissio), Slg. 1989,2859; hierzu Dallmann, Nachprüfung und Richtervorbehalt im KarteIlverfahrensrecht der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, 1994. 5 Zusammenfassend Nicolaysen, Europarecht 11, 1996, S. 424ff.; Wolffgang, ZfZ 6/1996,
S.3. 6 7
FG Hamburg, EuZW 1995, S. 413. Hierzu BunneisteriMiersch, EuZW 1995, S. 840.
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beiträgt. Ein komplexes System also, das nur in Ansätzen als einheitlich bezeichnet werden kann.
These 2: Art. C EUV kommt es nicht auf die Ist-Beschreibung des institutionellen Systems an, sondern auf die Verwirklichung eines Vertragsziels. Art. C Abs. I EUV bedeutet weder Fortschritt noch Rückschritt. Er ist vielmehr als Gestaltungsprinzip und Vertragsziel zu verstehen. Unter Fortschritt und Rückschritt ist folgendes gemeint: Art. C EUV sollte einen Fortschritt insofern bedeuten, als die außerhalb des Gemeinschaftsrahmens entstandenen Aktivitäten der Außen- und Innenpolitik in den Gemeinschaftsrahmen mit einbezogen und in einem Vertrag festgeschrieben werden sollten. Das ist in Art. Kund J EUV sicherlich gelungen. Das ist der Fortschritt. Auf der anderen Seite ist es ein Rückschritt, daß diese beiden Säulen jetzt nicht mehr entwicklungsfähig sind und vielleicht doch noch von Kommission, Rat und Parlament in den Gemeinschaftsrahmen einbezogen werden könnten, sondern daß sie jetzt im Vertrag abgesondert festgeschrieben sind. Sie müssen außerhalb des gemeinschaftsrechtlichen Rahmens bleiben in ihrem typischen Verfahren der Zusammenarbeit. Sie können nur mit einer Vertragsänderung näher an die Gemeinschaft herangerückt werden. Im Falle der Asylrechtsangleichung haben sich deutlich die Schwierigkeiten gezeigt, die damit verbunden sind. Man war bekanntlich auf dem Weg, mit einer Verordnung oder Richtlinie (Art. 235 EGV) die Asylverfahren anzugleichen. Dieser Weg ist jetzt abgeschnitten. Denn jetzt muß es zu einer Verständigung im Rahmen des Art. K EUVkommen. Als Vertragsziel ist Art. C EUV eine Mahnung, von den im EUV verstreuten Evolutivklauseln Gebrauch zu machen. Diese Evolutivklauseln sind Absichtserklärungen, Teile aus den beiden Säulen herüberzuführen in den Bereich der Gemeinschaft. Von den entsprechenden Erklärungen in Art. B, N, J.10 und K.9 EUV ist bisher noch kein Gebrauch gemacht worden. Als Gestaltungsprinzip soll Art. C EUV dazu dienen, nach Möglichkeit mit allen Mitteln - auch während der verschiedenen Revisionskonferenzen - zu einem einheitlicheren Rahmen zu kommen. Diese These betrifft die Auslegung des gesamten Unionsrechts. Das heißt zweierlei: Zunächst ist das Unionsrecht im Zweifel so auszulegen, daß unter verschiedenen Optionen möglichst diejenige gewählt wird, die sich am besten in den einheitlichen institutionellen Rahmen einfügt. Wenn es zum Beispiel darum geht, das Europäische Markenamt in Alicante nicht ganz aus dem Blick zu verlieren und wenn man sich dort mit den Personal-, Finanz- und Kontrollregelungen befaßt, muß darauf geachtet werden, daß möglichst viele einheitliche Regelungen auch in den ausgegliederten Organisationseinheiten festgeschrieben werden. Oder wenn es darum geht, beim Gerichtshof darüber zu streiten, ob er zuständig ist oder nicht, würde immer ein Argument aus Art. C EUV herangezogen werden können, daß eben der Gerichtshof die Achtung des Rechts im gesamten System sichert: Im Zweifelsfalle wäre also für seine Zuständigkeit zu plädieren. Aber dies ist nicht ein dominierendes Auslegungsprinzip, sondern ist immer in Konkordanz mit anderen 14*
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zu sehen. Gerade im letzten Fall, mögen es die Mitgliedstaaten sein, die sagen, der Gerichtshof sei nicht zuständig, da es sich um eine nationale Angelegenheit handele. Damit ist das föderale Verfassungsprinzip der Union mit im Argumentationsprozeß, und man muß miteinander streiten, welches Prinzip - das föderale Prinzip oder die einheitliche institutionelle Struktur - letztlich den Ausschlag gibt. Zum Teil sind die anderen Verfassungsprinzipien gleichlaufend zu Art. C EUV, wie z. B. das Rechtsstaatsprinzip. Es verlangt sehr nachdrücklich die einheitliche Zuständigkeit des Europäischen Gerichtshofs. Auch das Demokratieprinzip steht grundsätzlich im Einklang mit Art. C EUV mit dem Streben nach einheitlicher und umfassender parlamentarischer Transparenz und Verantwortung. Gegenläufig sind dagegen alle Prinzipien, die die föderativen Grundlagen festschreiben. Die Identität der Mitgliedstaaten, die Subsidiarität, die Bürgernähe: Sie alle sprechen eher dafür, institutionell etwas nach unten zu verlagern und nicht einheitlich zentralisierend auf oberster Ebene wahrzunehmen. 8
These 3: Der Begriff" institutioneller Rahmen" ist ein moderner, wenngleich unbrauchbarer Begriff. Im folgenden geht es um eine begriffliche Klärung: Was heißt "institutioneller Rahmen"? Modem ist dieser Begriff insofern, weil jeder es in seinem Arbeitsfeld irgendwo mit einem "Rahmen" zu tun hat. Es erscheint als größtes Vergnügen, Finanzrahmen, Beihilferahmen und sonstige Haushaltsrahmen festzulegen. Damit kann man gut operieren. Man soll wahrscheinlich beruhigt sein, daß alles irgendwie im Rahmen bleibt. Wahrscheinlich hat der Begriff von daher eine angenehme Konnotation. Für die Europäische Union ist er allerdings unbrauchbar, vor allen Dingen im institutionellen Recht. Hier muß man im EUV feststellen, daß die "Europäische Union" keine Organe hat, aber sie hat einen Rahmen. Das klingt äußerst unschön. Zunächst hat sie keine eigene Rechtspersönlichkeit. Das ist im Augenblick herrschende Meinung. 9 Daher hat sie natürlich auch keine eigenen Organe, die für diese Rechtsperson handeln könnten. Der Europäische Rat ist kein Organ der Europäischen Union, sondern er ist eine gemeinsame Einrichtung der Mitgliedstaaten, die auf das institutionelle Gefüge der Gemeinschaft bezogen ist. Man spricht insoweit von einem Vertragsorgan, nicht von einem Organ einer juristischen Person. Die Union muß also borgen, sie muß sich im Wege der Organleihe die bestehenden fünf Organe der drei Europäischen Gemeinschaften (vgl. Art. 4 Abs. I EGV), mit denen sie ihre Ziele erreichen will, ausleihen. Immerhin: Der "einheitliche Rahmen" zieht die äußerste Linie der Tatigkeiten der Union. In diesem Rahmen soll es bleiben. Juristisch ist der Begriff insoweit unschön, verschleiert viel und bringt im Grunde wenig Substanz.
8 V gl. zum Ganzen die Stellungnahme der Kommission v. 28. 2. 1996 ("Stärkung der politischen Union und Vorbereitung der Erweiterung"), KOM (96) 90 endg. 9 Vgl. die Nachweise bei Hilf, in: GrabitziHilf(Fn. *), Art. A Rdnr. 25ff.
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These 4: Art. C EUV ist mit den Vorstellungen über ein Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten nur bedingt vereinbar. Das "Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten" zeichnet sich nach dem ersten ausgeprägten Ansatz im EU-Vertrag (Wirtschafts- und Währungsunion, Sozialpolitik-Protokoll, Schengen-Vertrag) immer mehr ab und dürfte zu einem beherrschenden Thema der Revisionskonferenz werden. 1O Für die Säulen der Art. K und J ist bereits im EU-Vertrag festgeschrieben, daß sich die Mitgliedstaaten in unterschiedlicher Zusammensetzung zu außenpolitischen Aktionen zusammenfinden können, so daß nicht in jedem Falle eine einheitliche Meinungsbildung abgewartet werden muß. Bei allen Modellen der verschiedenen Geschwindigkeiten steht eine institutionelle Schwierigkeit im Vordergrund: In welcher Zusammensetzung dürfen oder müssen die Organe beraten und entscheiden, wenn es um Bereiche geht, an denen nicht alle Mitgliedstaaten beteiligt sind. Man kann den Ministerrat nicht in verschiedene Teilgruppen aufspalten, um ihn einmal zu fünfzehnt, einmal zu zwölft, einmal zu sechst oder sogar auch nur zu zweit tagen zu lassen. Dasselbe wäre undenkbar beim Gerichtshof bzw. beim Europäischen Parlament. Zu unterscheiden wäre, ob die nichtbeteiligten Mitgliedstaaten wenigstens an den Beratungen teilnehmen könnten oder ob sie lediglich vom Stimmrecht ausgeschlossen werden sollen. Mit Art. C EUV sind nur solche Vorstellungen von verschiedenen Geschwindigkeiten zu vereinbaren, die von dem gemeinsamen Willen aller 15 Mitgliedstaaten getragen werden mit dem Ziel, die noch zögernden Mitgliedstaaten mit der Zeit an die neuen Politiken heranzuführen und in einem Endstadium zu einer gemeinsamen Politik zu gelangen. Insoweit bestehen gegen die Vereinbarungen zum Sozialprotokoll bzw. zur Wirtschafts- und Währungsunion aus dem Gesichtspunkt des Art. C EUV heraus keine Bedenken. Die Kommission hat insbesondere für die Währungsunion eine "geordnete Flexibilität" festgestellt. 11 Derartige flexible Ansätze streben im Endeffekt zur Erreichung bzw. Wiedererlangung des einheitlichen institutionellen Rahmens im Sinne des Art. C EUV. Ein beliebiges Europa la carte" mit einer willkürlich vereinbarten Zusammmenarbeit zwischen einzelnen Mitgliedstaaten und dem Ausschluß anderer ließe sich mit Art. C EUV nicht vereinbaren.
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These 5: Die autonome Umbenennung der Organe ist mit Art. C EUV nicht zu vereinbaren. Im Herbst 1994 haben sich der Rat und die Kommission in autonomen internen Organisationsbeschlüssen neue Bezeichnungen zugelegt. Statt "Rat der Europäischen Gemeinschaften" heißt es seitdem "Rat der Europäischen Union". 12 Für die 10 Vgl. Ehlermann, Increased Differentation or Stronger Uniforrnity, EU! Working Paper No. 95/21, 1995; Stubb, The Semantic Indigestion of Differentiated Integration: The Po1itica1 Rhetoric of the pre-1996!GC Debate, College of Europe, 1995. 11 Stellungnahme der Kommission (Fn. 8), S. 17 Rdnr. 45.
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Kommission ist aus der "Kommission der Europäischen Gemeinschaften" die ,,Europäische Kommission" geworden. 13 Derzeit werden aus Sparsamkeitsgründen noch die alten Briefbögen verbraucht, die noch mit der Bezeichnung "Kommission der Europäischen Gemeinschaften" ausgestattet sind. Fast kann man den Ausstoß einer jeweiligen Dienststelle daran messen, ob dort bereits die neuen Briefbögen mit der Aufschrift "Europäische Kommission" verwendet werden. Diese Umbenennung ist weder mit Art. C Abs. I EUV noch mit dem sonstigen Gemeinschaftsrecht vereinbar. Überdies führt der Unterschied zwischen den fortbestehenden Vertragstexten und den neuen Organbezeichnungen zu einer Undeutlichkeit und Verwirrung, die zwangsläufig zu einem vorübergehenden Identitätsverlust innerhalb der Union führen müssen. Weder sind die Grundsätze zur Geschäftsordnungsautonomie oder zur Organisationshoheit der einzelnen Organe in der Lage, die autonom vorgenommenen Umbenennungen zu decken. Die derzeit bestehende Unklarheit über die Organbezeichnung entspricht offenbar der Unklarheit, die über die Rechtsnatur der Europäischen Union insgesamt besteht.
These 6: Art. C Abs. 1 EUV entspricht in seiner Unklarheit der ungeklärten Rechtsnatur der Europäischen Union. Erwähnt wurden bereits die Unklarheiten, die zur Rechtsnatur der Europäischen Union durch den Abschluß des EUVentstanden sind. Das Bundesverfassungsgericht hat sich eindeutig festgelegt: Die Europäische Union hat keine Rechtspersönlichkeit. 14 In der Literatur wird derweil erörtert, ob sich eine solche Rechtspersönlichkeit nicht mit der Zeit und durch Praxis entwickeln kann. In der Tat ist in der Öffentlichkeit und speziell im auswärtigen Bereich grundsätzlich nur noch umfassend von der "Europäischen Union" die Rede. Jeder Drittstaat ist bestrebt, bei der Europäischen Union selbst akkreditiert zu werden, da er an allen Aktivitäten und insbesondere im Bereich der GASP und auch an der Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres teilnehmen möchte. Juristisch wird der Drittstaat vergeblich nach einem Ansprechpartner suchen müssen, da in rechtlicher Hinsicht nur eine Akkreditierung bei den drei Europäischen Gemeinschaften denkbar erscheint. Dennoch scheint sich eine Entwicklung abzuzeichnen, in der sich die Europäische Union als die terminologische Zusammenfassung aller gemeinsamen Aktivitäten mit der Zeit als Rechtsperson etabliert. Im "Bernadotte"-Fall I5 hat der Internationale Gerichtshof zugunsten der Vereinten Nationen das Bestehen einer völkerrechtlichen Rechtspersönlichkeit festgestellt, obwohl in der Charta der Vereinten Nationen keine entsprechende Zu schreibung erfolgt war. Der Gerichtshof ist zu dieser Folgerung gelangt, da sich aus der Aufgabenstellung, der entwickelten Tätigkeit 12 13
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Beschluß des Rates v. 8. 11. 1994, ABI. L 281, S. 18 und L 285, S. 41. Beschluß der Kommission v. 17. 11. 1993, vgI. EG-Nachrichten Nr. 46 v. 29. 11. 1993, BVerfG 89,155 (195) - Maastricht. IGH, Gutachten v. 11. 4. 1949 (Reparation for Injuries), ICJ-Rep. 1949, 174 (178f.).
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bzw. der weltweiten Anerkennung zwangsläufig ergeben hat, daß den Vereinten Nationen eine eigene Rechtspersönlichkeit zustehen muß. Obgleich eine solche Entwicklung auch für die Europäische Union denkbar erscheint, wird man auf der anstehenden Revisionskonferenz nicht umhinkommen, sich mit der Frage der Rechtspersönlichkeit der Europäischen Union zu befassen. Es ist auf Dauer nicht hinnehmbar, im Rechtssinne mit drei eigenständigen europäischen Gemeinschaften zu operieren und zugleich den diffusen Begriff der Europäischen Union in einem umfassenden Sinne zu verwenden. Denkbar ist es, der Europäischen Union für diejenigen Bereiche der Zusammenarbeit, die nicht von den drei Gemeinschaften erfaßt werden, eine eigene Rechtspersönlichkeit zuzuschreiben und ihr eine umfassende Vertretung für den gesamten Integrationsbereich zuzuerkennen. Wollte man dagegen die Rechtspersönlichkeit der drei europäischen Gemeinschaften auslaufen lassen und durch eine einheitliche Rechtspersönlichkeit der Europäischen Union ersetzen wollen, so hätte dies zur Zeit jedenfalls eine Reihe unglücklicher Konsequenzen. Das gesamte primäre Gemeinschaftsrecht müßte umgearbeitet werden, wobei jeweils der Rechtsbegriff der "Gemeinschaft" durch den Rechtsbegriff der "Union" ersetzt werden müßte. Dieses kann nur sinnvollerweise im Rahmen einer Fusion sämtlicher primärer Vertragstexte in Angriff genommen werden. Das Ergebnis der Revisionskonferenz bestünde dann in der Vereinbarung eines überaus umfangreichen Vertragswerkes, das bei der Sensibilität in einzelnen Mitgliedstaaten kaum auf ungeteilte Zustimmung der jeweiligen Bevölkerung stoßen würde. Man kann bei den zu erwartenden Volksabstimmungen nur hoffen, daß die abschließende Konferenz in einer Stadt stattfinden wird, die - im Gegensatz zu "Maastricht 11" - einen günstigen Beiklang für die weitere europäische Integration bietet. Bisher ist die Europäische Union juristisch gesehen nur eine Bezeichnung für die Zusammenfassung der drei Gemeinschaften mit den verschiedenen Formen der Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten. Es ist konsequent, erstaunt aus rechtlicher Sicht jedoch, wenn ein Drittstaat gemäß Art. 0 EUV nur noch einheitlich dieser Europäischen Union beitreten kann. Auch der Art. N EUV, der das Vertragsänderungsverfahren festlegt, bezieht sich einheitlich auf die Europäische Union. Gerade diese beiden Bestimmungen werden dafür herangezogen, daß die Europäische Union letztlich eben doch mehr als eine reine Bezeichnung darstellt, sondern bereits ein rechtliches Substrat abgibt. Wie auch immer: Es handelt sich bisher um eine noch weiche Wachstumsschicht, die die drei gefestigten europäischen Gemeinschaften umfaßt, mit diesen aber noch nicht endgültig verbunden ist. Daß die Frage nach der Rechtsnatur der Europäischen Union nicht rein theoretischer Natur ist, zeigt das schwierige Problem der Haftung: Sollte der "Rat der Europäischen Union" völkerrechtswidrige Sanktionen festlegen, so würde sich unmittelbar die Frage der Haftung innerhalb wie außerhalb der Europäischen Union stellen. Für diese Union stünde bisher kein Haushalt zur Verfügung, die Europäischen Gemeinschaften im engeren Sinne wären bis dahin nicht als handelnde Organe aufgetreten (Art. 215 EGV). Wie auch für die drei bisherigen Gemeinschaften insgesamt stünden
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jedenfalls im Endeffekt alle Mitgliedstaaten sicherlich als Haftungsträger bereit. Allein diese immer drängendere Haftungsfrage setzt eine Klärung der Rechtsnatur der Europäischen Union voraus. Der vom Bundesverfassungsgericht geprägte Begriff des ,,staatenverbundes" führt in diesem Zusammenhang letztlich nicht weiter. 16 Der "Staatenverbund" soll einen Begriff anzeigen, der auf der Achse Bundesstaat-Staatenbund in beweglicher Weise zwischen beiden Extremen pendelt. Dennoch sollte man sich an das drohende Zitat Hegels erinnern: "Was man nicht auf den Begriff bringen kann, existiert auch nicht". Ein letztes Beispiel zur bisher bestehenden Begriffsverwirrung sei angefügt: Das Übereinkommen zur Welthandelsorganisation ist in Marrakesch am 15. April 1994 unterzeichnet worden und am 1. Januar 1995 in Kraft getreten. Dieses Übereinkommen eröffnet die Möglichkeit, daß die Europäischen Gemeinschaften Mitglieder der Welthandelsorganisation werden. Dies stellt eine bedeutende Neuerung gegenüber dem bisherigen GATT dar, das als formelle Vertragspartner nur die Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften kannte. Dennoch hatten sich die Europäischen Gemeinschaften einen wirkungsvollen Platz in der Praxis des GATT unter Anerkennung aller Drittstaaten geschaffen. Die jetzige formale Mitgliedschaft der Europäischen Gemeinschaften Seite an Seite mit ihren Mitgliedstaaten ist jedoch gemeinschaftsintern auf Schwierigkeiten gestoßen. Der Gerichtshof hat in seinem Gutachten zum WTO-Übereinkommen am 15. November 1994 festgestellt,17 daß der EURATOM-Gemeinschaft und der EGKS keine Zuständigkeiten im auswärtigen Wirtschaftsbereich zustehen. Dies hatte konsequenterweise zur Ratifizierung des Übereinkommens lediglich durch die Europäische Gemeinschaft geführt, so daß auch nur diese als Rechtsperson in den Organen der Welthandelsorganisation mitwirken wird. Dennoch wird die Europäische Gemeinschaft nicht unter ihrem eigenen Namen in der We1thandelsorganisation in Genf mitwirken, sondern unter dem einheitlichen Namen der Europäischen Union. Dies Beispiel mag anzeigen, wie wichtig eine Klärung im Rahmen der Revisionskonferenz ist, um den einheitlichen institutionellen Rahmen auch nach außen hin zum Ausdruck zu bringen. These 7: Der einheitliche institutionelle Rahmen hat die Aufgabe, Kohärenz zu sichern.
Dies ist die Aussage des zweiten Halbsatzes des Art. C Abs. 1 EUV. Gemeint ist Kohärenz nicht zwischen den Ebenen der Gemeinschaft einerseits und der der Mitgliedstaaten andererseits, sondern auf der Ebene der Gemeinschaften selbst. Der Begriff der "Kohärenz" fehlt im deutschen Verfassungsrecht. Offenbar ist er aus den englischen und französischen Texten von den Begriffen "coherence" und "co16 Hierzu Hilf, Die Europäische Union und die Eigenstaatlichkeit ihrer Mitgliedstaaten, in: Hommelhojf/Kirchhoj(Hrsg.), Der Staatenverbund der Europäischen Union, 1994, S. 75. 17 EuGH, Gutachten 1/94 v. 15. 11. 1994 (WTO), Slg. 1994, 1-5267 m. Anm. Hilf EuZW 1995,7.
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herence" übernommen worden. Kohärenz bringt dabei den Grundsatz der Abstimmung bzw. der Abgestimmtheit verschiedener Politiken zum Ausdruck. Diese Abgestimmtheit ist insbesondere wichtig im Verhältnis der Außenpolitik und der Außenwirtschaftspolitik, die in Art. J EUV bzw. in Art. 113 ff. EGV geregelt sind. Wenn einerseits Sanktionen gegenüber China auf Grund menschenrechtlicher Vorgänge im außenpolitischen Bereich erwogen werden sollen, so kann nicht gleichzeitig im Rahmen der Außenwirtschaftspolitik eine positive und dynamische Politik verfolgt werden. 18 Kohärenz ist also unabdingbar, die sich in dem einheitlichen institutionellen Rahmen herstellen soll. Hierfür sind Rat und Kommission gemäß Art. C EUV verantwortlich. Kohärenz ist damit ein Handlungs- und Gestaltungsprinzip, das auf den Zusammenhalt der in den drei Säulen verfolgten Politiken abzielt. Demgegenüber meint "Kohärenz" im Sinne des Art. A EUV die Abgestimmtheit der Politiken zwischen der Union einerseits und der Politiken der Mitgliedstaaten andererseits. Eine rechtliche Fixierung und Klärung der Verpflichtungen, die aus der Kohärenz folgen, wird es allerdings kaum geben können, weil der Europäische Gerichtshof nicht die Zuständigkeit hat, sich über die Verpflichtungen in den Art. A und C EUV auszusprechen. Dies ergibt sich eindeutig aus der in Art. L EUV festgelegten Begrenzung der Zuständigkeit des Gerichtshofs. Kohärenz bleibt damit ein politisches Gestaltungsprinzip, das einer Gerichtskontrolle nicht unterliegt.
These 8: Als Gestaltungsprinzip ist Art. C EUV bisher nur begrenzt wirksam geworden. Als fortwirkendes Gestaltungsprinzip hat Art. C EUV bisher nicht viel bewirken können. Es ist bisher nicht gelungen, die Politiken in der zweiten und dritten Säule in das festgefügte Gemeinschaftssystem einzubeziehen. Art. C EUV hat insoweit keine Wirkungen entfalten können. Die von den Mitgliedstaaten außerhalb der drei Gemeinschaften begonnenen Politiken etwa im Rahmen des Schengener bzw. Dubliner Abkommens bzw. im Bereich des Gemeinschaftspatents sind damit noch Vertragsruinen geblieben, für die noch nicht ein gemeinschaftlicher Rahmen gefunden werden konnte. Auch hier liegt eine entsprechende Aufgabe der Revisionskonferenz. Sicherlich haben Rat und Kommission in institutionellen Absprachen zusammen mit dem Europäischen Parlament versucht, einige Züge der Kohärenz sichtbar zu machen. Vor allem gibt es Bestrebungen, insbesondere die Zuständigkeit des Gerichtshofs über Art. L EUV hinaus wenigstens auf diejenigen Gebiete der Zusammenarbeit im Bereiche des Art. K EUV auszudehnen, die für den Rechtsschutz der Bürger besonders relevant sind (EUROPOL-Konvention). Art. C EUV hätte als Gestaltungsprinzip durchaus in letzter Zeit wirksam werden können. Als Beispiele seien zunächst genannt die Errichtung des Europäischen Markenamtes in Alicante. Für eine föderative Struktur wie die der Europäischen 18
Vgl. insbesondere KrenzlerlSchneider. EuR 1994, 144 sowie Schneider. in: GrabitzlHilJ
(Fn. *), Art. 228 a EGY.
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Union ist es angemessen, verschiedene Einrichtungen der Union in verschiedenen Mitgliedstaaten unterzubringen. Art. C EUV hätte sicherlich für die Einrichtung einer Markenabteilung im institutionellen Rahmen der Kommission unter einheitlicher Einbindung in die Parlaments- und Gerichtskontrolle gesprochen. Auf der anderen Seite fordern die Verfassungsprinzipien der Effizienz und Rechtsstaatlichkeit durchaus eine Trennung von den KommissionsdienststeIlen, und auch aus diesen Gründen ist letztlich die unabhängige Einrichtung des Europäischen Markenamtes geschaffen worden. AlIerdings hat man den einheitlichen institutioneIlen Rahmen insoweit verlassen, weil für das Markenamt nicht mehr alle elf Gemeinschaftssprachen verwendet werden, sondern erstmalig nur noch fünf Sprachen. Sämtliche Markenanmeldungen, Markenerteilungen und Schutzverfahren in den elf Gemeinschaftssprachen durchführen zu wolIen, wäre sicherlich schlicht absurd, da dies unter den Gesichtspunkten von Effizienz und Rechtsstaatlichkeit kaum zu rechtfertigen gewesen wäre. Wie aber wird in Zukunft die Rechtsstellung derjenigen Gemeinschaftsbürger festzulegen sein, die sich mit dem Markenrecht befassen müssen, in deren Sprachen aber die jeweiligen Marken nicht ausgedrückt sind? Vorgesehen sind bisher gebührenpflichtige Übersetzungen. Eine Fülle von Rechtsfragen bleibt jedoch in diesem Zusammenhang offen. Art. C EUV hat bisher auch nicht auf dem Gebiete der Komitologie wirksam werden können. 19 Unter dem Hinweis auf den einheitlichen institutionellen Rahmen hätte man alIe Versuche unternehmen müssen, die notwendigen KomitologieVerfahren in ihrer Vielfalt erheblich zu reduzieren. Auch für die Mitarbeit der Europäischen Union in internationalen Organisationen hätte der Hinweis auf Art. C EUV unterstützend herangezogen werden können, um die zum Teil entstehende Verwirrung im Rahmen einzelner internationaler Organisationen zu vermeiden. So wird es insbesondere in den FälIen der Welthandelsorganisation bzw. der Welternährungsorganisation gelingen müssen, im Interesse der einheitlichen Außenvertretung der Union bzw. der Schaffung eines einheitlichen institutioneIlen Rahmens zu einer reibungslosen Zusammenarbeit zwischen Union und ihren Mitgliedstaaten zu kommen. Dies scheint im Rahmen der Welthandelsorganisation zu gelingen, während es am Beispiel der Welternährungsorganisation in letzter Zeit erst eines Gerichtsbeschlusses bedurfte, um die Abstimmung zwischen Union und Mitgliedstaaten herbeizuführen. 2o These 9: Die Herstellung eines einheitlichen institutionellen Rahmens ist das wesentliche Ziel der Revisionskonferenz 1996/1997. Die Revisionskonferenz wird sich letztlich damit befassen müssen, wie der Zusammenhang zwischen den im Maastrichter Vertrag geschaffenen Säulen in sinnvoIlerer Weise hergesteIlt werden kann. Das Ergebnis läßt sich bisher in keiner Weise voraussehen?1 Vor alIem ist es für die Mitgliedstaaten bei jeder Revisions19 Vgl. auch Stellungnahme der Kommission (Fn. 8), S. 10 Rdnr. 22. EuGH, Urt. v. 19. 3. 1996, Rs. C-25/94 (FAO), hekt.
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konferenz eine erhebliche Versuchung, sich bei dieser Gelegenheit noch einmal zu überlegen, wieweit gegebenenfalls der gemeinsame Besitzstand im Rahmen des Integrationswerkes verringert werden kann. Im Falle von "Maastricht I" ist es den Mitgliedstaaten ohne Zweifel gelungen, zum Teil in die Gemeinschaftssubstanz einzugreifen und jedenfalls eindeutige Grenzlinien für das bestehende Gemeinschaftsrecht zu ziehen. In den in Art. J und K EUV fixierten Tätigkeitsbereichen können die Europäischen Gemeinschaften keine Rechtsnormen setzen. In den Mitgliedstaaten sind bisher höchst unterschiedliche Tendenzen sichtbar geworden, die einerseits auf die Ausweitung des gemeinschaftlichen Kerns der Union abzielen und die andererseits jedoch die intergouvernementalen Elemente besonders im außenpolitischen Bereich stärken wollen. Im Zwischenbericht der Beauftragten der Regierungen der Mitgliedstaaten 22 heißt es, man solle "strukturelle Varianten" untersuchen. Gedacht ist hierbei offensichtlich an eine besondere Vertretung der gemeinsamen Außen- und Sicherheits politik durch einen eigenen Sprecher. Derartige Vorstellungen würden allerdings dem Grundgedanken des Art. C Abs. 1 EUV diametral entgegenlaufen, der gerade versuchen soll, den einheitlichen institutionellen Rahmen als Vertragsziel herzustellen und zu verfestigen. Auch würde es sich mit Art. C Abs. 1 EUV nicht vereinbaren lassen, wollte man an die Einrichtung eines neuen "Kompetenzgerichtshofs" denken, der auftretende Kompetenzkonflikte zwischen der Union und ihren Mitgliedstaaten getrennt vom Gerichtshof der Gemeinschaften behandeln soll. Daß es in diesem Falle kaum zu einer Kohärenz zwischen einer sich abzeichnenden Rechtsprechung eines neuen "Kompetenzgerichtshofs" und der bisherigen und künftigen Rechtsprechung des Gerichtshofs kommen kann, scheint auf der Hand zu liegen. Art. C EUV sollte auch bei den Überlegungen eine Rolle spielen, ein Europäisches Kartellamt einzurichten. Ein solches Kartellamt würde sicherlich verschiedene Aufgaben aus der Generaldirektion IV der Kommission herauslösen und damit dem einheitlichen institutionellen Rahmen entziehen. Die Grundsätze der Transparenz und Rechtsstaatlichkeit würden sicherlich für eine solche institutionelle Trennung sprechen können. Dagegen würden einer Ausgliederung die Verfassungsprinzipien der Demokratie sowie auch letztlich der nationalen Identität, in der die einzelstaatlichen Kartellrechte zum Ausdruck kommen, entgegenstehen. Hier zeichnet sich eine vielschichtige Auseinandersetzung auf der Revisionskonferenz ab, für die Art. C EUV nur einen wichtigen Gesichtspunkt beitragen kann. Die bisher angedachte Einrichtung einer unabhängigen Rüstungsagentur23 dürfte auf weniger rechtliche Schwierigkeiten stoßen. Zu einer Fusion der drei bisherigen Gemeinschaftsverträge dürfte es allerdings auf der anstehenden Revisionskonferenz nicht kommen. Hierfür rückt eher das 21 Zu den unterschiedlichen Standpunkten vgl. Griller u.a., Regierungskonferenz 1996 Ausgangspositionen, Forschungsbericht der Julius-Raab-Stiftung Nr. 2, Juli 1996. 22 Bericht der Reflexionsgruppe v. 5. 12. 1995, SN 520/95 (RELEX 21). 23 Stellungnahme der Kommission (Fn. 8), S. 14 Rdnr. 35.
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Jahr 2002 in den Blickpunkt, zu dem der EGKS-Vertrag nach 50jähriger Laufzeit auslaufen wird. Dies dürfte letztlich der Zeitpunkt sein, alle bisherigen zersplitterten Grundlagen des primären Vertragsrechts in einem einheitlichen Vertrags text als sichtbaren Ausdruck des einheitlichen institutionellen Rahmens zusammenzufügen. Das gesamte Gemeinschafts- und bis dahin sich entwickelnde Unionsrecht müßte neu kodifiziert werden, so daß die bisher vertrauten Art. 30, 85 und 177 EGV ihren in der Zwischenzeit errungenen Klang verlieren müßten. Zu einer großartigen Kodifikation, zu der das 19. Jahrhundert im Bereich des nationalen Rechts in der Lage gewesen ist, wird es jedoch nicht kommen können, da zum einen das Verfassungsrecht wesentlich beweglicher sein muß als ein nationales Zivilrecht. Zum anderen ist es unverzichtbar, den höchst unterschiedlichen Interessen aller Mitgliedstaaten in angemessener Weise Rechnung zu tragen. Art. C Abs. 1 EUV spricht auch nicht unbedingt für eine verstärkte Einbeziehung der Länder und Regionen in den institutionellen Entscheidungsprozeß. Die größte Bewährungsprobe für Art. C Abs. 1 EUV wird schließlich dann kommen, wenn bei den künftigen Entwicklungsschritten des primären Gemeinschaftsrechts die nationalen Parlamente zu Wort kommen werden. Bei der Neuregelung der Finanzverteilung (Art. 201 EGV), bei den anstehenden Beitrittsverträgen (Art. 0 EUV), bei den verschiedenen Schritten in die Wirtschafts- und Währungsunion (konstitutionelle Bundestagsbeschlüsse) sowie nach dem Auslaufen des EGKSVertrages (Art. N EGV) und letztlich im Hinblick auf die Ergebnisse der Revisionskonferenz selbst werden die Parlamente der nationalen Mitgliedstaaten ihre große Stunde haben, in der sie die Mitgliedschaft ihres jeweiligen Staates grundlegend überdenken können. Es ist kaum vorstellbar, daß der "einheitliche institutionelle Rahmen" auf Dauer erhalten bleiben kann, wenn sich der eine oder andere Mitgliedstaat aus einer dieser Anlässe entschließen würde, einem der Entwicklungsschritte in die künftige Europäische Union hinein nicht zu folgen. Art. C Abs. 1 EUV scheint dieser Entwicklung gegenüber optimistisch eingestellt zu sein: Festgelegt ist, daß die Union schlicht über einen einheitlichen institutionellen Rahmen "verfügt". Das Ziel ist also nicht nur die Hervorhebung eines Gestaltungsprinzips, sondern auch die Festschreibung der Rechtswirklichkeit. Ohne ein einheitliches überschaubares und einfaches institutionelles System wird die Union keine Zukunft haben.
Diskussion zu dem Referat von Meinhard Hilf Leitung: Siegfried Magiera Bericht von Sabine Brieger Zu Beginn der Diskussion merkte der Diskussionsleiter, Professor Dr. Siegfried Magiera, Speyer, unter Hinweis auf die eher optimistische Grundhaltung der Europarechtler an, er halte es - trotz aller Einzelheiten, die man hier diskutiert habe und habe diskutieren müssen - für notwendig, daß die Staaten ihre Zukunft zusammen bewältigten; eine wirkliche Alternative zu einer gemeinsamen Europäischen Union, wie auch immer sie aussehen möge, bestehe seiner Auffassung nach nicht. Er unterstrich die Bedeutung jeder einzelnen von Professor Dr. Hilfs Thesen. Besonders provokativ sei jedoch der Hinweis darauf gewesen, daß die bei den neu hinzugekommenen Säulen nicht nur, wie zunächst beabsichtigt, die Gemeinschaft stärkten, sondern gleichzeitig auch die bestehende Situation in gewisser Weise zementierten. Er zeigte allerdings einen Lösungsweg über den gemeinschaftlichen Besitzstand auf, der nach dem Vertrag ausdrücklich weiterzuentwickeln sei. Beispielsweise befinde der Bereich des Asylrechts sich nicht eindeutig außerhalb der Gemeinschaft, vielmehr könne im Rahmen der Gemeinschaftsziele auch das Asylrecht in die Gemeinschaft miteinbezogen werden, was allerdings zu schwierigen juristischen Auslegungsproblemen führen könne. Professor Dr. Magiera hob ferner die Wichtigkeit der These Nr. 5 betreffend die verschiedenen, nur schwer mit dem gemeinschaftlichen Rahmen zu vereinbarenden Geschwindigkeiten hervor und wies in diesem Zusammenhang noch einmal auf den - insbesondere angesichts der anstehenden Erweiterungen - nützlichen Begriff der Flexibilisierung hin. Auch machte er auf die Frage aufmerksam, wie in Zukunft Vertrags änderungen zustande kommen könnten. Es sei weniger bedenklich, daß sie von allen Mitgliedstaaten über die Parlamente ratifiziert werden müßten, da die Politiker im allgemeinen das Für und Wider sehr sorgfältig abwägten und auch bereit seien, gewisse Nachteile hinzunehmen. Das Volk hingegen denke und handele anders, das sei im Falle Dänemarks deutlich geworden. Bei kommenden Vertragsänderungen müsse man berücksichtigen, daß das Volk künftig in vielen Staaten mitabs~immen werde. Im Anschluß an diese Ausführungen griff Frau Martina Köppen, Hamburg, Professor Dr. Hilfs Anmerkungen zu der Rechtspersönlichkeit der Europäischen Union auf und stellte die Frage, ob man aus staatsrechtlicher Sicht die Union zu einer Rechtspersönlichkeit machen und sie mit originären Organen ausstatten könne, so daß sie sich diese nicht - wie bislang - leihen müsse, aber dennoch bestimmte Teil-
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bereiche - so wie die zweite und dritte Säule - herausnehmen und diese im Bereich der intergouvernementalen Zusammenarbeit belassen könne. Sodann kam sie auf das Europäische Kartellamt und die möglichen Konflikte mit den Kartellrechtsordnungen der Mitgliedstaaten zurück. Sie verwies darauf, daß man das Europäische Kartellamt gewissermaßen als eine aus dem Kollegialorgan Kommission ausgegliederte Einheit betrachten könne. Dadurch könne man die Kommission davon befreien, sich ständig mit zehn oder elf Generaldirektionen abstimmen und sämtliche, zum Teil eher unwichtige Verknüpfungen berücksichtigen zu müssen, und so das Verfahren insgesamt vereinfachen. Schließlich bat Frau Köppen Professor Dr. Hilfum ein klärendes Wort zu dem Begriff der Kohärenz. Professor Dr. Hilfwies zunächst noch einmal darauf hin, daß die Mitgliedstaaten die Herren der Verträge seien. Es sei ein wichtiger Schritt, wenn diese die Europäische Union künftig als eigene Rechtspersönlichkeit etablierten und ihr auch nach außen sichtbar die internationale Identität verliehen, die sie an sich schon beinahe besitze. Selbstverständlich seien die Mitgliedstaaten befugt, daneben alles Mögliche mit der Union zu machen, also auch ihr gewisse Zuständigkeiten wieder abzuschneiden. Er sehe die Gefahr, daß die Mitgliedstaaten sich diese Zugriffs möglichkeiten nicht nehmen lassen wollten. Die Engländer wollten sicherlich bestimmte Zuständigkeiten von der Union abziehen, ebenso die Franzosen und vielleicht auch die Deutschen. Derartiges könnten die Mitgliedstaaten im Kompromißwege gemeinsam in einem neben der Gemeinschaft bestehenden Bereich der intergouvernementalen Zusammenarbeit regeln, und dies lasse sich, juristisch unangreifbar, durchaus mit der Herstellung der eigenen Rechtspersönlichkeit der Europäischen Union vereinbaren. Im Hinblick auf das Europäische Kartellamt erklärte Professor Dr. Hilf seine Sympathie mit dem deutschen Vorschlag. Er halte die ,,zweiteilung" in Deutschland, wo sozusagen die juristische Antwort aus Berlin, die politische Antwort dagegen aus dem Bonner Wirtschaftsministerium komme, aus Gründen der Transparenz des Kartellrechts und der Klarheit darüber, was kartellrechtlich erlaubt und was verboten sei, für unverzichtbar. Andere Mitgliedstaaten sähen das allerdings ganz anders, vor allem aber die Kommission, die dadurch die Hälfte ihrer Generaldirektion IV verlöre. Die wichtigere Frage sei jedoch in seinen Augen, was aus den nationalen Kartellbehörden werden solle. Angesichts dessen, was in Berlin effektiv geleistet werde, wo nämlich für die kleinen und mittleren Unternehmen, die unterhalb der Schwellengrenze in Brüssellägen, viele Schwierigkeiten ausgeräumt würden, sei er nicht sicher, ob man tatsächlich einen Schluß strich unter die nationalen Kartellbehörden ziehen und sie lediglich als untere Vorbereitungs-, Errnittlungsund Vollzugsbehörden des gemeinsamen Europäischen Kartellamtes beibehalten könne. Auf den Begriff der Kohärenz eingehend, wies Professor Dr. Hilf darauf hin, daß dieser Ausdruck zum einen nicht der deutschen Verfassungssprache entstamme und zum anderen bedauerlicherweise Artikel L EU-Vertrag die Gerichtsbarkeit des
Diskussion zu dem Referat von Meinhard Hilf
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Gerichtshofs für sämtliche gemeinsamen Bestimmungen der Artikel Abis F ausschließe, so daß man vom Gerichtshof insoweit keine Klärung erwarten könne. Eine solche KlarsteIlung könne man sich im übrigen nicht so sehr von den Juristen, sondern eher von den Politikwissenschaftlern erhoffen. An Professor Dr. Hilfs Bemerkung anknüpfend, die Parlamente bekämen demnächst ein stärkeres Wort, warf Ministerialrat Dr. Herrmann Franz, Mainz, die Frage auf, wer eigentlich die Parlamente seien. Es gebe im Moment, vor allen Dingen in Frankreich, starke Bestrebungen, die nationalen Parlamente zu einer Art Kommission oder einem anderen neuen Gremium zusammenzuführen. Diesem Bemühen stehe die Position des Europäischen Parlaments jedoch entgegen, so daß sich die Frage nach dem Verhältnis zwischen den nationalen Parlamenten und dem Europäischen Parlament aufdränge. Professor Dr. Hilf machte in seiner Antwort auf diese Frage deutlich, daß er eine "Parallelveranstaltung" zum Europäischen Parlament durch Mitglieder der nationalen Parlamente nicht für sinnvoll halte. Ein solcher Versuch sei einmal unternommen worden, einige Mitglieder des Europäischen Parlaments seien in Rom mit einer entsprechenden Anzahl von Abgeordneten der nationalen Parlamente zusammengekommen. Diese sogenannten Assisen seien jedoch ein Fehlschlag gewesen und hätten keinerlei Beachtung gefunden. Ein derartiges Doppelmandat könne von den Parlamentariern nicht bewältigt werden. Sie wüßten genau, daß ihre Legitimation, ihre Kraftquelle in ihren Wahlkreisen liege, und die Politik, die sie dort selbst gestalteten, verträten sie in Bonn. Er halte es für wenig effizient, wenn sie außerdem als Mitglied einer solchen gemeinsamen Europäischen Versammlung noch diverse Aufgaben im Rahmen eines ergänzenden Doppelmandats wahrzunehmen hätten. Abschließend stellte Professor Dr. Hilf klar, daß die nationalen Parlamente typischerweise andere Funktionen hätten als das Europäische Parlament. Die nationalen Parlamente seien praktisch diejenigen, die die Vertragsgrundlagen endgültig festlegten, also über das weitere Vorgehen der Mitgliedstaaten entschieden. Sie seien jedoch nicht in der Lage, das sekundäre Gemeinschaftsrecht in irgendeiner Weise sachgerecht zu kritisieren oder zu beeinflussen. Kein nationales Parlament könne einen vom Rat in Zusammenarbeit mit der Kommission und dem Europäischen Parlament erarbeiteten Kompromiß adäquat und sachgerecht beurteilen. Vielmehr fragten die nationalen Parlamente immer lediglich danach, ob ihre eigenen Interessen in einem Kompromiß enthalten seien oder nicht. Schon von der Begrifflichkeit und der Interessenlage her könnten die nationalen Parlamente den sekundären Gemeinschaftsprozeß weder kontrollieren noch steuern. Insofern tue man gut daran, diese beiden Ebenen nicht miteinander zu vermischen. Ministerialrat Wolfgang Willenbacher, Bonn, merkte kritisch an, der Vortrag habe seiner Meinung nach die juristische Sichtweise zu stark in den Vordergrund gestellt, während sich die politische Welt Europas gerade nicht an juristischen Begriffen orientiere. So sei beispielsweise die These Nr. 10, in der Professor Dr. Hilf dargelegt habe, daß die Frage nach der Rechtspersönlichkeit der Europäischen Union
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die wichtigste Frage für die Regierungskonferenz darstelle, für die Bevölkerungen der Mitgliedstaaten völlig uninteressant. Von viel größerer Bedeutung für die Bürger sei hingegen, ob zum Beispiel im Bereich der Verbrechensbekämpfung Fortschritte erzielt würden. Der Inhalt der 10 Thesen habe den Bezug zu den Bürgern und zu deren Interessen vermissen lassen. Auch seien ihm die Ausführungen insgesamt nicht optimistisch genug gewesen. Seiner Auffassung nach sei die Europäische Union durchaus ein gewisser Fortschritt, und man müsse diesem neuen Gebilde einfach noch ein wenig Zeit geben. Ministerialrat Willenbachers Kritik aufgreifend, unterstrich Professor Dr. Hilf noch einmal seine optimistische Grundhaltung. Ihm sei nicht daran gelegen, nur Kritik zu äußern und überall lediglich Schwierigkeiten zu sehen. Gerade aus diesem q~nde störten ihn jedoch gewissermaßen die kleineren Unebenheiten, und er finde zuweilen Genuß daran, diese auch auszubreiten, zu sezieren. Er stimme der Bemerkung von Herrn Willenbacher, daß die Europäische Union noch mehr Zeit brauche, völlig zu. Es sei nahezu unverantwortlich, der Bevölkerung nach drei Jahren "Maastricht I" bereits "Maastricht 11" zu präsentieren - damals die Europäische Union, jetzt möglicherweise wieder ein ganz anderes Gebilde. Diese Vorgehensweise zeuge sicherlich nicht von einer geordneten Verfassungsentwicklung, der man aus vollem Herzen zustimmen könne. Andererseits sei der jetzige Zustand, wie er aus "Maastricht I" hervorgegangen sei, auch nicht zufriedenstellend. Die Mitgliedstaaten selbst hätten an mehreren Stellen im Vertrag zum Ausdruck gebracht, daß sie an manchen Punkten nicht weitergekommen seien, und hätten sich geeinigt, sich bald zusammenzusetzen, um das Ganze noch einmal - im Sinne von Demokratie, Effizienz und Transparenz - zu verfeinern. Daß "Maastricht 11" natürlich auch materielle Ziele brauche, sei anschließend in der Podiumsdiskussion zu erörtern; es sei wohl einsichtig, daß den Bevölkerungen der Mitgliedstaaten im Ergebnis nicht nur ein juristisch verfeinerter Vertragstext vorgelegt werden könne. Herr Dr. Rüdiger Altmann, Bonn, gab zu bedenken, daß man endlich einmal versuchen müsse, sich von den Vorstellungen und Denkformen des traditionellen Verfassungsrechts zu entfernen. Seiner Meinung nach könne die Europäische Union nicht mit den Formen des Staatsrechts arbeiten; sie müsse vielmehr ein Unternehmen, eine Vereinigung, genannt werden. Sicherlich sei es für ein solches Unternehmen nicht leicht, den Nachlaß des 19. und 20. Jahrhunderts zu verarbeiten. Das entscheidende Problem sei jedoch, daß zumeist Werden und Sein miteinander identifizie~ würden. Wenn man das Neue suche, sei es aber wesentlich, nicht das Alte zu bewahren. Die Zukunft liege in der Ablösung der alten Nationalstaaten, die verbraucht seien. Es sei hinlänglich bekannt, daß auch der Staatsbegriff verbraucht, verschlissen und zu einer reinen Funktionsvokabel geworden sei, gleiches gelte für den Gesellschaftsbegriff. Jedenfalls sei heutzutage die Nation kein Maßanzug für die Gesellschaft mehr. Dem ersten Teil der Bemerkung von Herrn Dr. Altmann widersprach Professor Dr. Hilf nachdrücklich. Seiner Auffassung nach solle man sich von den Vorstellun-
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gen und Prinzipien des nationalen Verfassungsrechts keineswegs entfernen. Man könne nicht den Bürgern gegenüber Hoheitsgewalt, die im nationalen Bereich unter den Prinzipien der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit sowie unter verschiedenen Grundrechtskontrollen ausgeübt werde, auf die Europäische Union übertragen und sie auf dieser höheren Ebene nach Art eines Unternehmens ausüben lassen. Das sei ursprünglich der Ansatz der EGKS gewesen. Er sei jedoch der Meinung, wenn man Hoheitsgewalt übertrage, müsse sie an dieselben verfassungsrechtlichen Vorgaben gebunden sein wie auf nationaler Ebene. Es führe kein Weg daran vorbei, sich immer wieder zu vergewissern, ob die gemeinsamen Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten - vom Grundrechtsschutz über die Demokratie bis hin zur Rechtsstaatlichkeit - auf der Ebene der Europäischen Union beachtet würden oder nicht. Zum Abschluß der Diskussion brachte Professor Dr. Hilf allerdings seine Zustimmung zu der letzten Formulierung Herrn Dr. Altmanns zum Ausdruck und unterstrich, daß die Nation heutzutage tatsächlich kein Maßanzug mehr für die Gesellschaft sei.
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Erwartungen an die Regierungskonferenz 1996 Von Simon Bulmer
A. Einführung: Großbritannien als skeptischer Mitgliedstaat?}
Die Geschichte der britischen Europapolitik ist durch eine Reihe politischer Spannungen mit den Partnerstaaten gekennzeichnet. Seit dem Eintritt 1973 sind folgende Episoden Beispiele dieser Spannungen: die Neuverhandlungen der britischen Labourregierung 1974-75 und die damit verknüpfte Volksabstimmung vom Juni 1975; die Nichtteilnahme am Europäischen Währungssystem (EWS) in den Jahren 1979-90 (unter Labour- und Konservativenregierungen) und die Umstände des Austritts aus dem EWS im September 1992 nach einer zweijährigen Teilnahme; die Verweigerung 1989, die Sozial-Charta zu unterzeichnen; und die britischen "opt-outs" des Maastrichter Vertrags. Diese Geschichte ist das Ergebnis einer etwas skeptischen Haltung der britischen Regierung(en) dem Integrationsprozess gegenüber. Werden die Verhandlungen der Regierungskonferenz 1996 ein weiterer Schritt auf diesem schwierigen Weg sein? Natürlich ist diese Zusammenfassung kein vollständiges Bild der britischen Europapolitk. In verschiedenen Fachbereichen der Integration hat Großbritannien einen konstruktiven Beitrag geleistet. Der Höhepunkt der britischen Leistung war 1985 die Förderung des Programms für die Vollendung des Binnenmarktes. Das war das erste Integrationsprojekt, bei dem sich die Interessen einer britischen Regierung im Einklang mit der Vertiefung der Integration befanden. Es ist aber merkwürdig, daß die Schaffung des Binnenmarktes nicht unmittelbar Teil einer Verfassungsrefonn war. Die Einheitliche Europäische Akte (EEA) wurde fast als "notwendiges Übel" für die Vollendung des Binnenmarkts betrachtet. Während der Verhandlungen des Dooge-Ausschusses, der im Vorfeld der EEA tätig war, wurde die britische Regierung unter den drei sogenannten "Fußnotenstaaten" aufgelistet, weil sie sich ablehnend zu verschiedenen supranationalen institutionellen Verbesserungen geäußert hatte. 2 Durch einen Mitgliedstaat ohne ein eigenes einheitliches VerI Verwiesen wird auf das im März 1996 veröffentlichte Weißbuch der britischen Regierung: Foreign and Commonwealth Office, "A Partnership of Nations: The British Approach to the European Union Intergovemmental Conference 1996", Cm 3181, Her Majesty's Stationery Office, London 1996. 2 Damals war der jetzige Außenminister, Malcolm Rifkind, der britische Teilnehmer am Dooge-Ausschuß.
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Simon Bulmer
fassungsdokument wird jede europäische Verfassungsreform als fragwürdiges Ereignis betrachtet. Die Ratifizerung der Einheitlichen Akte wurde im britischen Parlament als eine etwas technische Sache dargestellt und trotz einer Regierungsmehrheit von über 100 Abgeordneten durch ein Schnellverfahren des House of Commons (guillotine procedure) bewilligt. Die Verhandlungen im Rahmen der beiden Regierungskonferenzen, die zum Maastrichter Vertrag führten, wurden von britischer Seite durch den Versuch gekennzeichnet, die integrationspolitischen Wirkungen von spezifischen Entwicklungen zu begrenzen. Die Liste schloß ein: - die sozialpolitische Integration (opt-out); die Wirtschafts- und Währungsunion (opt-out); - in den Bereichen GASP sowie Justiz und Inneres, die intergouvernementalen Verfahren beizubehalten; - die Architektur von drei Pfeilern wurde unterstützt (um deren Integrierung in die supranationalen Verfahren zu verhindern); - und das "F-Wort" - der Föderalismus - mußte aus dem Maastrichter Vertrag ausgeschlossen werden. Trotz dieser ziemlich negativen Diplomatie war die Regierung Major nach dem Regierungswechsel in der Lage, von besseren Verhältnissen mit den Partnerstaaten zu profitieren. Die Regierung konnte die Entwicklungen der Gemeinsamen Außenund Sicherheitspolitik (GASP) und der Zusammenarbeit in Sachen Justiz und Inneres positiv unterstützen. Die derzeitige Befürwortung einer Stärkung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) steht im Kontrast zu der Phase, als starke Kritik am EuGH geübt wurde. 3
B. Erklärungen der britischen Integrationspolitik: Interessen, Institutionen und Identität
Die britische Integrationspolitik hat fünf Leitsätze: 1. Die Integration soll auf der Zusammenarbeit von Nationen aufgebaut werden
("the success of the European Union ... can be achieved if the EU develops as a Union ofnations ... ,,).4
3 Die britische Regierung hat dafür plädiert, daß der EuGH die Möglichkeit haben sollte, Bußgelder gegen diejenigen Mitgliedstaaten zu verhängen, die die Rechtsprechung des EuGH ignorierten. 4 "A Partnership of Nations", p. 4. Diese fünf Leitsätze sind auch der Brügge-Rede von Frau Thatcher und dem September 1993 Economist-Artikel von lohn Major zu entnehmen. Dazu S. George. The approach of the British government to the 1996 Intergovernmental Conference of the European Union, Journal of European Public Policy, Vol. 3, No. 111996, pp. 4562.
Erwartungen an die Regierungskonferenz 1996
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2. Die Integration soll sich eher nach pragmatischen als nach ideologischen Prinzipien entwickeln. "We shall not accept harmonisation for its own sake, or further European integration which is driven by ideology rather than the prospect of practical benefit". 5 3. Die EU soll unternehmerfreundlich sein. Eine Politik von "enterprise" und Deregulierung wird von der britischen Seite befördert. In diesem Sinne unterstützt die britische Regierung die Politik von Jacques Santer, nämlich weniger aber besser zu regulieren (less but better). 4. Die EU soll eine offene Handelspolitik betreiben. 5. Seit dem Ende des kalten Krieges wird die Unterstützung einer Osterweiterung als eine historische Verantwortung für die europäische Integration betrachtet. 6 Analytisch muß man die britische Integrationspolitik durch drei Konzepte erklären: Interessen, Institutionen und Identität. Die britischen wirtschaftlichen und politischen Interessen erklären einige Aspekte dieser Leitsätze. Zum Beispiel die wichtigen Investitionsströme - von Großbritannien nach Nordamerika sowie nach Großbritannien aus Japan und den USA - tragen zu der globalen Handelsorientierung der britischen Europapolitik bei. Auch aus historischen Gründen hat die britische Diplomatie globale Interessen. Es ist merkwürdig, daß die Labour-Party ebenfalls grundsätzlich diese Leitsätze unterstützt.? Vermutlich ist dieser Konsens als gemeinsames Verständnis für britische Interessen zu erklären. Die politischen Institutionen Großbritanniens sind ein wichtiger Teil für das Verständnis der britischen Europapolitik. 8 Wie sind die internen Schwierigkeiten der Major-Regierung zu erklären, wenn es eine überwiegende Mehrheit von Abgeordeneten im britischen Unterhaus gibt, die diese Leitsätze der Europapolitik befürworten? Die Antwort liegt teilweise im britischen Unterhaus selbst. Dort sind die Verfahren, die Normen (adversarial politics) und die Symbole (z. B. der parlamentarischen Souveränität) so eingebettet, daß die britische Europapolitik gelegentlich durch andere Zwecke unterminiert wird. Beispielsweise hat die Labour Partei bei der Ratifizierung des Maastrichter Vertrags ihre Rolle als parlamentarische Opposition ausgefüllt, indem sie versuchte, den Konservativen im Unterhaus durch ein Mißtrauensvotum eine Niederlage beizubringen. Andererseits werden viele Aspekte der britischen Europapolitik effizient auf Beamtenebene vorbereitet: die Koordinierungsmechanismen auf dieser Ebene werden von den Bonner Ministerien mit etwas Neid beobachtet. Dazu kommt die gute britische Leistung bei der Umset"A Partnership of Nations", p. 5. "A Partnership of Nations", p. 3. 7 So der Leader der Labour-Partei. Tony Blair; in seiner Rede im Mai 1995, die von der Friedrich-Ebert-Stiftung in Bonn veranstaltet worden war. 8 Eine institutionelle Interpretierung der britischen Europapolitik befindet sich in: K. Armstrong and S. Bulmer; The United Kingdom, in: D. Rometsch and W Wessels (eds.), The European Union and member states: towards institutional fusion?, Manchester University Press, Manchester 1996, pp. 253-290. 5
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Sirnon Bulrner
zung von EG-Richtlinien in nationales Recht. Diese Leistungsfähigkeit ist ein positiver Effekt des zentralisierten britischen Regierungssystems. Die britische Diplomatie wird auch durch die selbstgeschaffene britische Identität geprägt: Als ehemalige koloniale Großmacht; als ein Land, das seine territoriale Integrität über Jahrhunderte verteidigt hat; als ein Land, das eine erfolgreiche Partnerschaft mit den USA während des zweiten Weltkriegs aufgebaut und danach in verschiedenen Bereichen entwickelt hat. Diese etwas "irrationalen" (non-rational) Aspekte tragen auch zu der Persönlichkeit der britischen Europapolitik bei, z. B. zu dem Wunsch, den Vorrang der NATO im Verteidigungsbereich beizubehalten oder zu der Verteidigung der nationalen Souveränität.
C. Die britische Politik für die Regierungskonferenz Die oben bereits definierten Leitsätze der britischen Europapolitik finden sich in der Haltung für die Regierungskonferenz 1996 (auf englisch abgekürzt: IGC) wieder. Wie werden sie konkret ausgedrückt? Stephen George hat ein neues Konzept in seiner Analyse der britischen Politik eingeführt. Nach dem Luxemburger "non-paper" von 1991 haben wir jetzt die "non-IGC": "As the EU is cornrnitted to holding an IGC, the British airn is to turn it as far as possible into a non-IGC, that is a conference that will not rnake far-reaching changes to the treaties.,,9
Ein Thema, das ganz am Anfang des britischen Weißbuchs erscheint, ist die flexibilität der Integration als eine Lösung für die wachsende Zahl der Mitglieder und künftige Erweiterung der EU. In der Terminologie des Weißbuchs ist von der "variable geometry" eher noch die Rede als vom lockereren Konzept der "Integration ala carte", das früher von John Major benutzt wurde. Ob hier eine substantielle Änderung der Politik vorgenommen worden ist, müssen die Verhandlungen der Regierungskonferenz zeigen. Die Schwerpunkte der britischen Politik betreffen im Integrationsbereich EGSäule folgende Themen: Die Gesetzgebung. Das Subsidiaritätsprinzip soll tiefer in den Vertrag eingebettet werden. Es wird vorgeschlagen, daß Teile der Vereinbarungen des Europäischen Rates über das Subsidiaritätsprinzip, insbesondere 1992 in Edinburgh, in den Vertrag eingebaut werden sollen. Auch in Sachen Gesetzgebung soll die Deregulierung weiter gestärkt werden, so daß die Gesetzgebung in der EG-Säule nicht neue Arbeitsplätze und Konkurrenzfähigkeit seitens der europäischen Wirtschaft verhindert. Ein weiterer Vorschlag betrifft ein Schnellverfahren, bei dem die verfassungs9
George, The approach of the British governrnent, p. 52.
Erwartungen an die Regierungskonferenz 1996
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rechtlichen Grundlagen von Kommissionsvorschlägen vor dem EuGH getestet werden können, wenn ein Mitgliedstaat (oder eine Mehrzahl) Vorbehalte dazu äußern. Mehrheitsentscheidungen im Rat. Auf dieses Thema wurde man zum ersten Mal während der Verhandlungen für die EFfA-Erweiterung aufmerksam, was schließlich zu der Vereinbarung in Ioannina führte. 1O Das Thema wird jetzt wieder aufgegriffen. Eine neue Gewichtung der Stimmen im Rat sei nötig. Einige Lösungen werden im Weißbuch diskutiert, aber keine davon wird als zu verfolgende Politik festgelegt. Die Reichweite der Mehrheitsentscheidungen sei jetzt in Ordnung: eine weitere Ausdehnung werde von der britischen Regierung abgelehnt. Keine neuen EG-Kompetenzen. Punkt! Anzahl der Kommissare. Eine Straffung des jetzigen Systems wird befürwortet; aber keine bestimmte Lösung vorgeschlagen. Die Rolle der nationalen Parlamente und des Europäischen Parlaments. Die nationalen Parlamente sollen stärker in die Arbeit der EU involviert werden. Auf der anderen Seite meint die Regierung, daß das EP keine neuen Kompetenzen braucht. Der EuGH. Das Weißbuch unterstützt einen starken unabhängigen Gerichtshof. Es will das Funktionieren des EuGHs verbessern. Dazu werden keine sehr konkreten Vorschläge gemacht - diese werden aber für die Regierungskonferenz selbst in Aussicht gestellt! Einige Entscheidungen des EuGHs in der Zeit, als die Regierung John Majors nur eine knappe Mehrheit hatte, haben zu Kontroversen geführt, zum Beispiel das Thema Fischereipolitik. GASP. Das Weißbuch gibt eine Übersicht der Entwicklungen der GASP. Die intergouvernementale Persönlichkeit der GASP soll beibehalten werden. Eine Reihe detaillierter Verbesserungen werden vorgeschlagen, die die Planung und Implementierung von GASP-Initiativen betreffen. Zwei Anhänge betreffen diese Punkte, obwohl diese schon auf dem Tisch liegen. In den Sicherheits- und Verteidigungsbereichen wird die NATO als die Grundlage der europäischen Sicherheit betrachtet. Es wird aber anerkannt, daß die WEU die beste Organisation für jene Fälle ist, in denen die Europäer ohne die USA oder Kanada in diesen beiden Bereichen tätig werden müssen. Auch zu diesem Thema gibt es einen Anhang, der schon im März 1995 auf einem Treffen der Außenminister in Carcassonne diskutiert worden war. Die britische Regierung unterstützt die Idee eines HermJ einer Frau Europa als Sprecher(in) der EU auf der Weltbühne. Justiz und Inneres. Auch in diesem Bereich wird die Beibehaltung des Intergouvernementalismus befürwortet. Die Entwicklungen des dritten Pfeilers werden diskutiert, aber keine neuen Vorschläge gemacht, obwohl ein weiterer Anhang frühere Vorschläge von Juni 1995 auflistet. Diese Vorschläge betreffen eine Straffung des Ausschußsystems unter dem K4-Ausschuß. 10 Dazu M. Westlake, The Council of the European Union, Cartennill Publishing, London 1995, pp. 93-95.
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Simon Bulmer
D. Die politische Großwetterlage in Großbritannien: mittelfristige Aussichten
Die konservative Regierung hat bedeutende Schwierigkeiten wegen ihrer knappen Mehrheit und der kleinen Gruppe von Euroskeptikern unter den Hinterbänklern. Trotzdem hat das Weißbuch einen ziemlich positiven Tenor, obwohl es sowohl inhaltlich als auch tatsächlich ein dünnes Buch ist. Die Vorstellung des Weißbuchs in der britischen Presse war somit etwas für die konservativen Euroskeptiker. Die Notwendigkeit, bis Mitte Mai 1997 Neuwahlen im britischen Unterhaus einzuberufen, erschwert die Situation John Majors. Es wäre aber zu optimistisch zu erwarten, daß die britische Europapolitik nach diesen Neuwahlen positiver sein wird. Erstens wissen wir das Ergebnis noch nicht. Eine knappe Mehrheit - für die Konservativen oder für die Labour Party - würde die Situation nicht ändern. Weiterhin gibt es keine großen substantiellen Unterschiede in der Europapolitik. 11 Die einzige Ausnahme betrifft das soziale Kapitel, das eine Labourregierung in den EG-Vertrag einbringen würde. Ohne Zweifel würden Tony Blair und seine Regierung einige stilistische Änderungen an der britischen Europapolitik vornehmen. Wir wissen noch nicht, wer als Vertreter(in) der amtierenden britischen Regierung eine Vertragsänderung unterzeichnen wird. Wir sollten aber keine "Wende" der britischen Europapolitk erwarten. Interessen, Institutionen und Identität werden nicht von einem Tag auf den nächsten umgestaltet.
11
George, The approach of the British govemment, pp. 59-61.
Erwartungen an die Regierungskonferenz 1996 Von Bernhard Friedmann Heute in acht Tagen beginnt die Regierungskonferenz. Eine fertige Tagesordnung gibt es noch nicht. Die Regierungskonferenz wird etwa ein Jahr dauern. Was besprochen werden soll, wurde im wesentlichen bei Maastricht I schon vorprogrammiert. Wesentliche Punkte werden sein: die gemeinsame Außen-, Sicherheitsund Verteidigungspolitik sowie eine stärkere Mitbestimmung des Europäischen Parlaments. Die Währungsunion soll nicht angesprochen werden. Die zentralen Stichworte heißen: Integration und Expansion. Integration würde bedeuten, die bestehenden Institutionen und ihre Zuständigkeiten zu vertiefen. Expansion würde heißen, neue Mitgliedsländer an die EU heranzuführen und aufzunehmen. Im folgenden einige Bemerkungen zu dem Thema der Osterweiterung der Europäischen Union, weil dies im Zusammenhang mit der Podiumsdikussion steht. Es mag - auf den ersten Blick - verwundern, daß der Präsident des Europäischen Rechnungshofs zu einer solchen Frage Stellung nimmt. Bekanntlich ist der Europäische Rechnungshof eines der fünf Organe der Gemeinschaft. Er steht also gleichberechtigt neben Parlament, Rat, Kommission und Gerichtshof. Mit anderen Worten: die institutionelle Stellung ist eine andere als hier in Deutschland. Hinzu kommt, daß nicht nur die Grundsätze der Gesetzmäßigkeit und Ordnungsmäßigkeit, sondern auch Wirtschaftlichkeitsüberlegungen eine sehr große Rolle bei seiner Arbeit spielen. Mit diesem Selbstverständnis kommt der Europäische Rechnungshof natürlich hart an den Rand der Politik heran und auch in die Politik hinein. Erst letzte Woche wurde im Parlament interfraktionell zur Osterweiterung gesprochen sowie im Ecofin-Rat vor den Finanzministern Europas zu dem Problem der Strukturpolitik Stellung genommen. Worum geht es? Die Europäische Union hat sich offiziell zum Ziel gesetzt, Mittel- und Osteuropa mehr und mehr an die Union heranzuführen und aufzunehmen. Sie hat mit zehn dieser Staaten Europa-Abkommen abgeschlossen mit dem Ziel, sie auf die Mitgliedschaft vorzubereiten. Schon allein dies ist ein wichtiger Schritt, denn diese Europa-Abkommen enthalten ganz wichtige (Vor-)Bedingungen. Zum ersten, daß die Menschenrechte eingehalten werden. Wenn man sich zum Beispiel vorstellt, wie es früher in Rumänien unter Ceaucescu aussah, als viele Menschen willkürlich umgebracht wurden, dann ist es schon ein wichtiger Fortschritt, wenn heute die Menschenrechte eingehalten werden. Eine zweite Bedingung ist, daß die Länder, die aufgenommen werden wollen, über eine parlamentarische Demokratie verfügen müssen. Früher waren sie mehrheitlich Staaten mit einer kommunisti-
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Bernhard Friedmann
sehen Einheitspartei. Auch insoweit verlangt man viel. Als dritten Punkt verlangen diese Europa-Abkommen eine Wettbewerbswirtschaft. Die betreffenden Staaten hatten jedoch früher eine kommunistische Planwirtschaft. Allein aus den EuropaAbkommen heraus resultiert eine andere Gesellschaftsordnung in diesen Staaten als Voraussetzung für die Mitgliedschaft in der Europäischen Union. Nun gibt es große Diskussionen, ob diese Osterweiterung finanzierbar sein wird. Dazu muß man die Struktur des Haushalts der Europäischen Union kennen. 50 % der Ausgaben entfallen heute auf die Agrarpolitik und ein Drittel auf die Strukturpolitik. Zunächst einige Bemerkungen zu der Agrarpolitik: Würde man die Agrarpolitik auf diese zehn Staaten so übertragen, wie sie vor der Reform der europäischen Landwirtschaftspolitik war, dann würden allein auf dem Gebiet der Agrarpolitik jährlich 50 bis 60 Milliarden DM mehr anfallen. Tatsächlich wurde im Jahre 1992 eine neue Agrarpolitik eingeleitet. Man hört nichts mehr von Überschüssen, weil es sie nicht mehr gibt bei Getreide, bei Butter, bei Milch. All das ist weg. Warum? Weil die Garantiepreise so gesenkt wurden, daß sie nicht mehr kostendekkend sind. Das heißt, vom Preis her besteht kein Anreiz mehr zur Überproduktion. Zum Ausgleich dafür erhalten die Landwirte direkte Einkommenshilfen. Das ist auch eine Folge der GATT-Verhandlungen. Dieses Modell nun - übertragen auf Osteuropa - muß man vor folgendem Hintergrund sehen: Die 15 EU-Staaten haben eine landwirtschaftliche Nutzfläche von 150 Mio. Hektar. Die zehn in Frage kommenden Staaten haben etwa 40 % dieser Fläche. Die Produktionsstruktur dieser osteuropäischen Staaten ist von den Produkten her vergleichbar mit der in den 15 EU-Staaten von heute. Das heißt, so gesehen würden etwa 40 % der Agrarausgaben zusätzlich nötig werden, wenn wir diese Staaten eines Tages dazunehmen werden. Man muß aber außerdem wissen, wofür die EU ihre Gelder in der Agrarpolitik heute ausgibt. Insgesamt kostet die Agrarpolitik 41 Mrd. Ecu. Ein Ecu entspricht knapp zwei Mark. Davon entfällt ungefähr die Hälfte auf die Garantiepreise, von denen bereits gesprochen wurde. Die zweite Hälfte auf die einkommensstützenden Maßnahmen. Nun sind aber die Preise für die Agrarprodukte in den osteuropäischen Staaten etwa auf Weltmarktniveau. Das heißt, diese zweite Hälfte, die einkommensstützenden Maßnahmen, brauchen wir bei der Osterweiterung nicht, weil es nichts auszugleichen gibt. Mit anderen Worten: Bezogen auf Fläche und Produktionsstruktur brauchen wir 40 % von den 41 Mrd., das sind etwa 16 Mrd. Ecu. Davon die Hälfte, weil keine einkommensstützenden Maßnahmen fällig werden, ergibt etwa 8 Mrd. Ecu. Rechnet man für landwirtschaftliche Strukturausgaben 2 Mrd. Ecu hinzu, so kommt man auf etwa 10 Mrd. Ecu oder rund 20 Mrd. DM, die die Osterweiterung im Rahmen der Agrarpolitik kosten wird. Nun zu der zweiten Komponente, der Strukturpolitik, die ein Drittel der Ausgaben ausmacht. Es wurde bereits festgestellt, daß die südeuropäischen Staaten, die heute die Hauptempfängerländer in der Strukturpolitik sind, große Absorptionsschwierigkeiten haben. Die Europäische Union pumpt zu viel Geld in zu kurzer Zeit in diese Staaten. Daraus ergeben sich enorme Absorptionsschwierigkeiten. Ende letzten Jahres waren 23,5 Mrd. Ecu, die eigentlich für Projekte vorgesehen
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waren, die wenigstens in der Planung hätten sein sollen, überhaupt nicht verplant. Man sieht auch deutlich, daß manche Verwaltungen, wie etwa die griechische, stark überfordert sind, mit dem, was wir von ihnen verlangen. Gerade auf dem Strukturgebiet wird bekanntlich eine Co-Finanzierung verlangt. Und wenn eben Projekte vor drei Jahren begonnen wurden, die noch nicht fertig sind und dazu neue kamen, die vor zwei Jahren begonnen wurden und neue, die im letzten Jahr und in diesem Jahr begonnen wurden, dann führt es dazu, daß wir heute in Griechenland etwa tausend Projekt haben, zu denen die Co-Finanzierung verlangt wird und die schwache griechische öffentliche Verwaltung diese Aufgabe einfach nicht schafft. In Italien sehen wir, wie die Aktion "Saubere Hände" das Land sehr zur Zurückhaltung veranlaßt. Bevor es schiefgeht, verlangt man zur Zeit eher kein Geld. Mit anderen Worten, das vorgesehene Geld für Strukturmaßnahmen kann in Südeuropa gar nicht ausgegeben werden, wie es vorgesehen war. Dies heißt, man wird von diesem Geld erheblich viel umschichten können. Die Erfahrung in Südeuropa zeigt, daß die Strukturhilfen, die zu diesen Schwierigkeiten führen, etwa 3 % des Sozialprodukts ausmachen. Selbst wenn dieser Anteil auf 5 % erhöht und dies auf Osteuropa übertragen wird, kommt man zu folgendem Ergebnis: Das Sozialprodukt dieser zehn mittelosteuropäischen Länder, über die wir sprechen, liegt derzeit bei 200 Mrd. Ecu (rd. 400 Mrd. DM), 5 % davon sind 10 Mrd. Ecu. Das heißt, Strukturhilfen können höchstens - und die Verwaltungen sind dort in keinem besseren Zustand als in Südeuropa - sinnvoll in einer Größenordnung von 10 Mrd. Ecu angelegt werden. Diese 10 Mrd. Ecu kann man, wie gesagt, durch Umschichtung finanzieren, zumal die Haushalte in den folgenden Jahren ein größeres Volumen haben werden. Ein Teil der (profitablen) Investitionen könnte durch zinsverbilligte Darlehen finanziert werden. Das eröffnet zusätzlichen Spielraum. Hinzu kommen noch Ausgaben für Forschung, Umwelt und einige andere Bereiche. Hierfür werden etwa 6 Mrd. Ecu an Mehrkosten entstehen. Auf der anderen Seite werden die mittel- und osteuropäischen Staaten durch ihre Beitragszahlungen den EU-Haushalt mit etwa 3 Mrd. Ecu mitfinanzieren. Das Rechenbeispiel zeigt: Die Osterweiterung ist - bezogen auf diese zehn Länder - finanzierbar. Wegen der Umschichtungsmöglichkeiten insbesondere im Bereich der Strukturfonds wird der Haushalt um nicht mehr als 20 bis 30 Mrd. DM erhöht werden müssen. Dazu ein klärendes Wort: In Edinburgh wurde die Eigenmittelobergrenze, innerhalb derer die Mitgliedstaaten durch ihre Beiträge die Ausgaben der EU zu finanzieren haben, erheblich angehoben. Die Beiträge werden auf 1,27 % des gemeinschaftlichen BSP im Jahre 1999 steigen. Nun zeigt sich aber, daß seit 1988 diese Eigenmittelobergrenze nicht ausgeschöpft werden konnte. Im Jahre 1995 zum Beispiel wurden etwa 30 Mrd. DM weniger ausgegeben, als man im Rahmen der Eigenmittelobergrenze an Verpflichtungsermächtigungen veranschlagt hatte. Dies entspricht also ziemlich genau dem Betrag, der für die Osterweiterung benötigt wird. Meine persönliche Aussage ist: Die Osterweiterung wird
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im Rahmen der beschlossenen Verpflichtungsermächtigungen finanzierbar sein. Ein zusätzliches Argument: Die 15 EU-Staaten konnten in ihren Verteidigungshaushalten durch die Friedensdividende etwa das Doppelte von dem einsparen, was die Osterweiterung voraussichtlich kosten wird. Das heißt, aus finanziellen Gründen kann, darf und soll diese Osterweiterung nicht scheitern. Ein weiterer wichtiger Aspekt ist das internationale Umfeld. Ich bin der Meinung, daß wir die Gunst der Stunde nutzen müssen. Man weiß nicht, wie sich Rußland weiter entwickelt. In der letzten Woche hat die Duma, das russische Parlament, beschlossen, daß der Beschluß über die Auflösung der Sowjetunion nicht mehr gelten soll, d. h., daß die Sowjetunion fortbesteht. Das russische Außenministerium hat erklärt, dies sei nicht rechtsverbindlich. Wenn nun aber im Juni als Nachfolger von Jelzin ein Kommunist gewählt werden sollte, dann braucht er nur diesen Beschluß der Duma zu unterschreiben, und schon sind wir wieder ein Stück in Richtung ehemaliger Sowjetunion. Um es zu wiederholen: die Gunst der Stunde muß genutzt werden, wenn wir die Osterweiterung unter Dach und Fach bringen wollen. Nun wissen wir, daß in Verbindung mit dieser Osterweiterung auch die NATO-Erweiterung eine große Rolle spielt. Rußland will sie nicht akzeptieren. Es wird sicher noch vieler Diskussionen bedürfen, um Rußland zu überzeugen, daß man miteinander auskommen kann. Bei Verhandlungen mit den osteuropäischen Regierungen wird stets deutlich, daß bei ihrem Wunsch, Mitglied der Europäischen Union zu werden, der Sicherheitsgedanke eine ganz große Rolle spielt. Und das ist nicht unbegründet. Wer nämlich Mitglied der EU ist, hat einen Rechtsanspruch darauf, Mitglied der WEU zu werden, der Verteidigungsgemeinschaft an der Seite der EU. Und wer Mitglied der WEU ist, hat einen Rechtsanspruch darauf, im Angriffsfalle den Beistand der anderen WEU-Mitglieder zu erhalten, und das sind meistens NATO-Staaten. Mit anderen Worten: Auch im Rahmen der EU ist eine gewisse Sicherheit, an der diesen mitteleuropäischen Staaten so sehr liegt, möglich. Und deshalb muß man dies alles zusammen sehen. Die ökonomische und politische Entwicklung in Mittelosteuropa berührt deutsche Interessen in besonderem Maße. Deutschland ist Nachbar dieser Staaten. Uns kann nicht daran gelegen sein, daß in diesen Staaten soziale Unruhen ausbrechen. Wir müssen vielmehr daran interessiert sein, daß sie eine geordnete, soziale und ökonomische Entwicklung nehmen. Damit beginnt übrigens auch Friedens- und Sicherheitspolitik. Und deshalb müssen wir Verständnis haben, müssen wir Motor in dieser Richtung sein. Speziell aus England kommt das Argument, dies sei deutsches Interesse: "Dann sollen es auch die Deutschen finanzieren." Dem ist entgegenzuhalten: Schon jetzt hat Deutschland etwa viermal so viel für die mittel- und osteuropäischen Staaten aufgebracht, wie die ganze Europäische Union zusammen. Das hängt auch mit den Besonderheiten Deutschlands zusammen. In den deutschen Zahlen enthalten ist zum Beispiel der Abzug der russischen Truppen aus der DDR, der allein 16,5 Mrd. DM gekostet hat. In den deutschen Zahlen steckt auch die ganze Problematik des Transferrubels, die bei der Wiedervereinigung aufgekommen ist. Trotzdem muß an dieser Stelle nochmals wiederholt werden: die Erweite-
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rung nach Mittel- und Osteuropa ist Politik der ganzen Europäischen Union. Auf dem Gipfel in Madrid hat Regierungschef Gonzales gesagt, es sei ein' ethisches und moralisches Gebot, die Osterweiterung nach vorne zu bringen. Dem ist nichts hinzuzufügen. Das kurze Statement war dazu gedacht klarzulegen, daß diese Osterweiterung aus der Gunst der Stunde heraus machbar ist und im übrigen finanziert werden kann.
Erwartungen an die Regierungskonferenz 1996 Von Gerard Marcou
Das Thema der Podiumsdiskussion ist sehr realistisch formuliert: wir sind aufgefordert, unsere Erwartungen an die Regierungskonferenz zu äußern, nicht unsere Hoffnungen, nicht unsere Wünsche. Was kann man denn erwarten? Voraussetzung wäre eine Analyse, die diese Erwartungen begründen könnte. Das soll hier jedoch nicht versucht werden. Folgende Erwartung, der implizit eine Analyse zugrunde liegt, kann jedoch vorbehaltlos ausgedrückt werden: daß diese Konferenz eine Grundorientierung für den Ausbau der Europäischen Union in den Vordergrund stellen müßte oder zumindest, daß eine Analyse der Ergebnisse der Konferenz ein solches Leitbild liefern könnte. Als Jurist werde ich mich auf einige institutionelle Aspekte konzentrieren, obwohl die inhaltlichen Fragen nicht zu unterschätzen sind. Drei Problemkreise will ich im folgenden behandeln: - die Solidarität, - die Kompetenzverteilung und - die Form der Europäischen Union.
I. Die Solidarität
Die Konferenz muß unbedingt Antworten im Kapitel Solidarität finden, um die zunehmenden Vorbehalte gegenüber der EU zu überwinden. Dies setzt voraus, daß sich bei den Verhandlungen ein gewisser Konsens herausbilden kann, um gemeinschaftliche Maßnahmen einzuführen, die der Forderung nach Arbeitsstellenbeschaffung entsprechen. Ein Übereinkommen über die Sozialsicherung wäre ebenfalls sehr zweckmäßig. Es gibt darüber hinaus ein institutionelles und juristisches Problem, das die Grundwerte der EG betrifft: der Mangel an einem gemeinschaftlichen Konzept des allgemeinen Interesses bzw. des Gemeinwohls. Nach dem Vertrag gibt es nur das "gemeinschaftliche Interesse", das gelegentlich bemüht wird, um Ausnahmen zu Weubewerbsregeln abzulehnen.
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Gerard Marcou
Es gibt also keine gemeinschaftlichen Grundwerte. Um diese im Rahmen der gemeinschaftlichen Rechtsordnung festzulegen, bräuchte man nur ein Gleichgewicht zwischen den vier Grundfreiheiten und dem in Art. 130 a verankerten Gebot des wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalts festzulegen. Zur Zeit ist es so, daß die vier Grundfreiheiten einen nahezu absoluten Vorrang haben. Eine solche Situation kann zu Widersprüchen mit dem Sozialstaatsgebot im Grundgesetz, wie mit den Grundwerten und Zielen des Service Public in Frankreich führen. Eine Änderung des Vertrages in dieser Richtung würde die Öffentlichkeit beruhigen, indem sie ihr aufzeigen würde, daß diese Grundwerte und Grundziele von der EG übernommen werden. Detaillierte Bestimmungen sind allerdings weder möglich noch erforderlich; die Verankerung des Prinzips des sozialen Zusammenhalts in Art. 7 des Vertrages würde gleichzeitig eine neue Richtung für die Auslegung der anderen Artikel bedeuten.
11. Kompetenzverteilung
Es gibt zur Zeit Diskussionen, ob man der EG neue Kompetenzen anerkennt oder nicht, ob die 2. und 3. Säule (gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik; Justiz und Inneres) vergemeinschaftet werden müssen oder nicht. Ein Grundproblem besteht darin, daß die Methodik für die Kompetenzbestimmung der EG nicht mehr den heutigen Erfordernissen angepaßt ist. Obwohl die Kompetenz der EG dem Einzelermächtigungsprinzip folgt, ist ihre Kompetenz nur von Zielen bestimmt, deren Liste ständig erweitert wurde. Außerdem wurden und werden diese durch den EuGH sehr weit ausgelegt. Daraus ergibt sich, daß jeder Vorschlag, eine neue Kompetenz zu der EG zu verlagern, Mißtrauen erweckt, denn viele stellen sich die Frage, ob man die unautbaltsame Ausdehnung der gemeinschaftlichen Kompetenzen unter Kontrolle bringen kann. Deshalb sollte man das ganze Problem der Kompetenzverteilung neu behandeln: Die Zeit ist gekommen (aber vielleicht nicht im politischen Feld), die Liste der zielbegründeten Kompetenzen in einen Kompetenzkatalog nach Bereichen umzuwandeln, wobei die EG-Kompetenzen klar bestimmt und ausgelegt werden müßten. Diese Umwandlung in der Formulierung der Kompetenzen würde es rechtfertigen, der EG neue Kompetenzen anzuerkennen, die völlig notwendig sind, wie die Außenpolitik oder die europaweite Raumordnung. Dies könnte auch Akzeptanz schaffen, um zwischen den Mitgliedstaaten nach dem jeweils erreichten Integrationsgrad zu differenzieren.
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IH. Der Weg zu einer Föderation neuer Art
Von Anfang an lag das föderalistische Modell der Errichtung der EG zugrunde. Wir wissen aber heute mit der wachsenden Heterogenität der EU, daß das Vorbild des klassischen Föderalismus, wie es in den Beispielen Deutschlands oder der Schweiz oder den Vereinigten Staaten wiederzufinden ist, nicht mehr erreichbar ist. Wir sehen auch, daß nicht alle Mitgliedstaaten gleiche Verpflichtungen übernehmen können und an allen Gemeinschaftspolitiken teilnehmen wollen oder können, weil dies sonst mit zu hohen Kosten für andere oder für sich selbst verbunden wäre. Die wachsende Heterogenität der EU macht auch deutlich, daß sich die EU als ein Verbund von "reifen" Staaten mit ihren unterschiedlichen und tief verwurzelten institutionellen Gefügen und Rechtssystemen entwickelt. Diese Verschiedenartigkeit kann nicht in absehbarer Zeit überwunden werden. Merkwürdig ist deshalb, daß Art. F des Maastricht-Vertrags die "gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen" der Grundrechte betont, nicht aber den Pluralismus der Rechtssysteme, obwohl die Rechtssysteme zu den "nationalen Identitäten" gehören. Merkwürdig ist auch, daß kein Verfassungs gerichtshof den Vorrang des Gemeinschaftsrechts gegenüber der Verfassung ohne Vorbehalt anerkannt hat, der schon im Jahre 1970 durch den EuGH proklamiert wurde. Im Gegenteil dazu hat das Bundesverfassungsgericht im Maastricht-Urteil und im Femsehrichtlinien-Urteil die gegenseitige Wirkung der Bundestreue bzw. der Gemeinschaftstreue unterstrichen, nach der eine Rechtsnorm nicht durchgesetzt werden soll, die die verfassungsmäßige Gliederung eines Mitgliedstaates verletzen würde. Diese beiden Urteile lassen auch verstehen, daß das Bundesverfassungsgericht die Anwendung einer Ultra vires-Gemeinschaftsnorm in Deutschland aussetzen könnte. Hierin kommt ein neues Prinzip zum Ausdruck, das ein Ansatz zu einer gemeinschaftlichen Föderation neuer Art sein könnte, d. h. der Verfassungs vorbehalt, nach dem die Entwicklung des EG-Rechts die Verfassungen der Mitgliedstaaten beachten muß. Es wäre die Grundlage für die Anerkennung der dauerhaften Vielfältigkeit der Rechtssysteme der Mitgliedstaaten, als lebendiger Ausdruck der Subsidiarität.
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Erwartungen an die Regierungskonferenz 1996 1 Von Wolfgang Wesseis A. Zur Ausgangsanalyse: Die VVL-Formel B. Zur gegenwärtigen Diskussion: Mehr als begrenzte Anpassungen?
C. Zur Perspektive
A. Zur Ausgangsanalyse: Die VVL-Formel
Die Analyse nach "Maastricht" und in der Regierungskonferenz zeigt, daß drei besondere Schwächen die Diskussion zur Zukunft der EU prägen. Diese sollen mit drei Buchstaben benannt werden, die "VVL-Formel". Es fehlen: eine Vision, ein Verhandlungspaket und die dazu nötige Legitimität. Dieses Manko kann im Vergleich zu den zwei vorangegangenen Regierungskonferenzen, die die Einheitliche Europäische Akte sowie den Maastrichter Vertrag über die Europäische Union hervorbrachten, herausgearbeitet werden. In einer ungefähr vergleichbaren Situation - vor dem jeweiligen Beginn der vorhergegangenen Regierungskonferenzen - gab es so etwas wie eine Vision. Es war das Konzept des Binnenmarktes, das mit dem Leitmotiv eines "Europa ohne Grenzen" politisch aufgewertet wurde. Diese Vision wirkte als ein Ansporn, der über konkrete Probleme hinaus in eine "positive Zukunft" wies, aber gleichzeitig verknüpft war mit konkreten Vorschlägen. Beim Maastrichter Vertrag war mit der Währungsunion und der "einheitlichen Währung" zunächst eine ähnliche Konstellation gegeben. Auch war jeweils ein Verhandlungspaket vorgezeichnet und einlösbar. Simon Bulmer hat bereits darauf hingewiesen, daß dieses Paket durchaus auch interessante Angebote für den am wenigsten integrationsfreudigen Staat, nämlich Großbritannien, bereithielt. Die Memoiren von Frau Thatcher sind in diesem Zusammenhang äußerst lesenswert, nicht zuletzt mit Blick darauf, warum sie damals den Verfahren der qualifizierten Mehrheit im Bereich des Binnenmarktes zugestimmt hat. Für die Deutschen enthielt das Menü der Einheitlichen Europäischen Akte Fortschritte auf dem Weg zum Binnenmarkt und zur Umweltpolitik. Für die südeuI Vgl. ausführlicher dazu: Wolfgang Wesseis, Weder Vision noch Verhandlungspaket - der Bericht der Reflexionsgruppe im integrationspolitischen Trend, in: integration, Nr. 1/96, S. 14 ff.
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ropäischen Staaten lag das Interesse bei den Strukturfonds. Das heißt, mit dem Projekt "Binnenmarkt" konnten weitere politische Ziele verfolgt werden. Von ganz zentraler Bedeutung war dabei, daß jeder Regierungschef nach einer entsprechenden Sitzung des Europäischen Rates zu Hause erklären konnte: "Wir haben etwas erhalten. Wir müssen zwar auch bei Prioritäten anderer Staaten hier und da Konzessionen einräumen, aber wir haben insgesamt mehr Vor- als Nachteile." Das dritte Problem betrifft die Frage der Legitimität. Hier ist ein besonders deutlicher Unterschied im Vergleich zur Einheitlichen Europäischen Akte, aber auch zu der ersten Phase der Maastrichter Regierungskonferenz (1989/90) festzustellen. In der Politikwissenschaft wurde häufig beobachtet, daß es so etwas wie einen "permissive consensus" gab, d. h. eine allgemeine Zustimmung der Bevölkerung zur europäischen Integration - mit den bekannten Ausnahmen Großbritannien und Dänemark. Allerdings erfolgte diese Akzeptanz auf einem relativ niedrigen Informationsniveau. Die "europäische Integration" sei an sich gut, auch wenn teilweise (z. B. agrarpolitische) Probleme und Schwierigkeiten auftauchten. Diese Art von GrundeinsteIlung ist 1996 nicht mehr gegeben und das nicht nur in Großbritannien und Dänemark, sondern auch - wir haben es im Referendum gesehen - in Frankreich; aber auch in der Bundesrepublik Deutschland werden zunehmend kritische Stimmen laut. Bei Betrachtung der halbjährlich erhobenen Eurobarometerdaten stellt man fest, daß es in der ersten Hälfte der 90er Jahre einen erheblicher Rückgang bei der allgemeinen Zustimmung zur Integrationspolitik gab, obwohl Frau Nölle-Neumann behauptet, daß bei einer Volksabstimmung in der Bundesrepublik etwa 56 % der Bürger für den Maastricht-Vertrag gestimmt hätten. Aber schon diese Zahl ist ein Warnsignal. Wir müssen nur die augenblickliche Diskussion um die Währungsunion betrachten, um deutlich zu erkennen, daß eine positive Grundstimmung für die europäische Integration nicht mehr - oder zumindest nicht mehr so uneingeschränkt - gegeben ist.
B. Zur gegenwärtigen Diskussion: Mehr als begrenzte Anpassungen? Ausgehend von dieser Lageanalyse, stellt sich die Frage: Wie geht die gegenwärtige Diskussion auf diese Konstellation ein? Erste Bemerkung: Viele der Vorschläge liegen im Trend der bisherigen Entwicklungen. Es werden zwar immer wieder Strukturreformen angemahnt, zu denen es auch einige Vorschläge gibt. Aber bei einer genaueren Betrachtung dieser Vorschläge stellt man fest, daß lediglich Reparaturen vorgenommen werden. Diese Reparaturen und Ergänzungen können teilweise sinnvoll sein, wie z. B. die Ausweitung der Anwendung des Artikels 189b EGV, also eine erhöhte Nutzung der Mitentscheidung und/oder die Ausdehnung von Mehrheitsentscheidungen. Aber es gibt keinen wirklichen Ansatzpunkt, um das System als solches grundsätzlich zu verändern.
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Zweite Bemerkung: Auch innerhalb des bereits bestehenden Systems werden einige Möglichkeiten nicht ausreichend genutzt. Das betrifft z. B. die Frage, ob die Drei-Säulen-Struktur des Maastrichter Vertrags wirklich noch aufrechterhalten werden sollte. Das impliziert u. a. die Beantwortung der Frage, ob Europäischer Gerichtshof und Rechnungshof nicht nur für die erste Säule, sondern ggf. auch für die zweite und dritte zuständig werden sollten. Bei der GASP kann man diskutieren, ob und wie ein Gerichtshof die Regeln und Verfahren der Außenpolitik kontrollieren sollte. Für die ZJIP muß der EuGH - normativ gesehen - eine nachhaltige Rolle spielen, denn hier werden Entscheidungen getroffen, die die Rechte des einzelnen Bürger betreffen, die also quasi legislativen Charakter haben können. In diesen Bereichen muß ein rechts staatlicher Schutz geschaffen werden. Auch mit einer "Hierarchie der Normen" würde der Entscheidungsprozeß übersichtlicher und damit letztlich auch die Verfahren transparenter gemacht werden. Dieser Einstieg in eine begrenzte Reform wird in dem Bericht der Reflexionsgruppe ebenfalls erwähnt, allerdings nur am Rande. Dritte Bemerkung: Es drohen "Verschlimmbesserungen", das heißt es gibt Vorschläge, die Alibicharakter haben und bei genauerer Betrachtung sogar die Komplexität erhöhen. Diese Einschätzung betrifft insbesondere Vorschläge zur GASP, wonach eine Analyse- und Planungseinrichtung etabliert werden soll. Ein derartiger Planungsstab wird allgemein als notwendig erachtet, damit die Europäische Union handlungsfähiger wird. Diese Argumentation ist jedoch akademisch, denn die Erfahrung zeigt, daß derartige Planungsstäbe bereits in den nationalen Außenministerien die gewünschte Rolle - aus ganz verschiedenen Gründen - nicht spielen können. Deshalb stellt sich die Frage, ob und wie ein europäischer Planungsstab wirkliche Fortschritte erreichen kann. Die daran geknüpften Erwartungshaltungen sind häufig illusionär.
Im Rahmen der Europäischen Union wird auch eine neue "Figur" propagiert, nämlich eine Frau oder ein Herr "GASP", welche(r) der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik Profil geben soll. Je nachdem, wie diese Funktion gestaltet wird, werden diese Vorschläge vermutlich am Ende der Regierungskonferenz zu einer noch höheren Komplexität an Verfahren führen. Für Wissenschaftler, die sich mit europäischen Fragen beschäftigen, sind diese "Reformen" ein "brotbringendes Geschäft". Es werden infolgedessen weiterhin viele Konferenzen stattfinden, auf denen versucht wird, die neuen Regeln und Einrichtungen zu erklären und zu interpretieren. Aber die 'Transparenz', wie wir sie fordern, wird dadurch nicht verbessert. Wir bleiben also in einem Trend der Integrationsentwicklung, wie er sich im Verlauf der letzten 30-40 Jahre entwickelt hat: bestenfalls eine begrenzte Rationalisierung des Systems, sicherlich aber keine grundsätzliche Reform.
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C. Zur Perspektive
Die Regierungskonferenz soll auf zwei Herausforderungen reagieren. Eine Aufgabe besteht darin, "Maastricht I" nachzubessern, also das zu korrigieren, was aufgrund bisheriger Erfahrungen im EU-Vertrag nicht oder nicht zufriedenstellend gelöst wurde. Als zweite Aufgabe wurde dem Europäischen Rat aufgegeben, die Union für die üsterweiterung "fit" zu machen. Nach dem jetzigen Stand der Vorbereitungen wird deutlich: die Regierungskonferenz wird die Europäische Union nicht ausreichend handlungsfähig für eine erweiterte Union gestalten. Stellvertretend für viele Schwierigkeiten sei auf eine "Kleinigkeit" verwiesen, die aber aussagekräftig ist: Wenn der Rat in seinen jetzigen Verfahren und seiner Arbeitsweise belassen wird, würde 25 Ministern das Recht zustehen, zu jedem Punkt eine Einführung von zehn Minuten zu geben. Es folgten noch die Präsidentschaft und die Kommission, d. h. insgesamt also 27 Stellungnahmen a 10 Minuten. 270 Minuten Vortrag - das sind viereinhalb Stunden, in denen nur geredet wird und keine greifbaren Fortschritte erzielt werden. Dieses kleine Beispiel macht deutlich, daß die Institutionen und Verfahren grundsätzlich überdacht werden müssen. Diese Europäische Union/Gemeinschaft wurde ursprünglich für sechs Staaten gegründet und funktioniert jetzt mit 15 - manchmal sogar noch überraschend effizient und effektiv. Die Lösung, die im Zusammenhang mit diesem Problem immer wieder propagiert wird, ist eine Strategie der Flexibilisierung bzw. Differenzierung. Hierfür finden sich verschiedene Begrifflichkeiten, wie z. B.: "abgestufte Integration" oder auch "l'europe a la carte". Letztere Überlegung wird bekanntlich als nicht weiterführend erachtet. Eine Flexibilisierung muß durchdacht werden - nicht zuletzt im Hinblick auf institutionelle Probleme. Man stelle sich vor, daß eine Gemeinschaftspolitik nur von sechs oder zwölf Mitgliedstaaten tatsächlich betrieben wird. Soll dann beispielsweise der Europäische Gerichtshof mit Mitgliedern aus 25 Staaten das Verhalten dieser sechs oder zwölf Staaten kontrollieren dürfen? Ähnliche Probleme könnten auftreten, wenn das Europäische Parlament nach dem Verfahren der Mitentscheidung mitwirken soll. Wenn aber eine Mehrheit der Abgeordneten nicht aus den Ländern kommt, für die Rechte und Pflichten festgelegt werden, stellt sich zwangsläufig die Frage der Legitimität. Ein nachhaltiges Problem bei der Flexibilisierung besteht in der Annahme, daß die Staaten, die vorangehen wollen, denen, die nicht mitwirken wollen oder können, ein Angebot für ein "opting out" unterbreiten. Die Diskussion hat sich jedoch gedreht: Diejenigen, die nicht mitmachen wollen oder können, versuchen, die Bildung einer kleineren Gruppe zu verhindern. Diese Strategie zeigt sich besonders deutlich in der britischen Haltung, die sich nicht mehr nur in der Forderung nach einer Sonderrolle als Außenseiter niederschlägt, sondern die Fortschritte anderer Staaten aufhalten will.
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Notwendig bleibt aber eine Vision von einem gemeinsamen Europa. Alle Beteiligten und Betroffenen müssen den Eindruck gewinnen, daß etwas Gemeinsames, ja etwas Einmaliges geschaffen wird, selbst wenn die Institutionen und die entsprechenden Verfahren weiterhin relativ komplex bleiben. Die Sinnfrage der EU, die untrennbar mit der Frage der Legitimität verknüpft ist, muß immer wieder gestellt werden. Die abschließende Forderung lautet deshalb: Rückkehr zu der Suche nach "VVL".
Erwartungen an die Regierungskonferenz 1996 Von Norbert Wieczorek l Heute in einer Woche werden die Staats- und Regierungschefs der 15 Mitgliedstaaten der Union die sogenannte Regierungskonferenz in Turin eröffnen. Im Deutschen Bundestag verwendet man den Begriff "Folgekonferenz zum Maastrichtvertrag". Dieser Begriff soll zum Ausdruck bringen, daß die Konferenz nicht alleine eine Sache der Regierungen ist, sondern die Bürgerinnen und Bürger der Union und ihre parlamentarischen Vertretungen unmittelbar betrifft. Vor diesem Hintergrund ist die Entscheidung der Außenminister in Palermo enttäuschend, das Europäische Parlament nicht an den Beratungen zu beteiligen. Die Regierungen sind mit dieser Entscheidung hinter dem angestrebten Reformansatz der Folgekonferenz zurückgeblieben. Ein besonders aus Sicht der nationalen Parlamente und dem Europäischen Parlament zu vollziehender Reformschritt, den die Folgekonferenz vollziehen muß, ist die Stärkung der parlamentarischen Kontrollrechte auf europäischer Ebene. In Palermo wurde die Chance vertan, den Parlamenten die Rolle zuzugestehen, die ihnen im europäischen Einigungsprozeß zukommt, nämlich als beteiligter Mittler gegenüber der Bevölkerung. Der Deutschen Bundestag hat die Frage der Stärkung parlamentarischer Kontrollrechte schon im Rahmen der Ratifizierung des Maastrichtvertrages für sich entschieden. Seinerzeit wurde der Ausschuß für die Angelegenheit der Europäischen Union des Deutschen Bundestages in Artikel 45 des Grundgesetzes festgeschrieben. Er soll, wie auch der Europaausschuß des Bundesrates, die Bundesregierung gemäß dem neuen Artikel 23 unserer Verfassung in der Europapolitik kontrollieren. Damit wurde ein entscheidender qualitativer Schritt getan. Die Bundesregierung informiert, anders als vor Maastricht, den Bundestag im Vorfeld einer Entscheidung im Ministerrat und gibt ihm damit Gelegenheit zur Stellungnahme. Der Ausschuß kann gegenüber der Bundesregierung einen verpflichtenden Standpunkt festlegen, den die Bundesregierung in einer konkreten Sachfrage bei ihren Verhandlungen in Brüssel zugrunde legen muß. Diese Festlegung erfolgt in besonderen Fällen sogar stellvertretend für das gesamte Plenum. Damit ist der Deutsche Bundestag in der Lage, Entscheidungen des Ministerrates im Vorfeld inhaltlich zu 1 Dr. Norbert Wieczorek, MdB, konnte aus Krankheitsgründen kurzfristig nicht an der Podiumsdiskussion teilnehmen. Freundlicherweise übersendete er jedoch sein Manuskript, so daß der Beitrag in den Tagungsband aufgenommen werden konnte.
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beeinflussen. Vor dieser Verfassungsänderung hatte der Bundestag lediglich die Aufgabe, ohne sein Zutun gefällte Entscheidungen des Ministerrates in die nationale Gesetzgebung zu überführen. Ein erheblicher Teil des berechtigt beklagten Demokratiedefizites der Europäischen Union wurde in Deutschland somit behoben. Diese Änderung war im übrigen eine der Voraussetzungen, unter denen das Bundesverfassungsgericht der Ratifizierung des Maastrichtvertrages zustimmen konnte. Die Erwartungen an die Folgekonferenz sollten nicht zu hoch geschraubt werden. Gerade nach der Erfahrung mit dem Maastrichter Vertrag wäre es falsch, der Bevölkerung vorzumachen, Maastricht 11 könnte die Europäische Union revolutionieren. Der Folgekonferenz kommt vielmehr die Aufgabe zu, den Prozeß der europäischen Integration voranzutreiben und das bisher Erreichte zu sichern, aber auch die Entwicklungsfähigkeit der Union ins nächste Jahrtausend zu sichern. Hierzu sind weitreichende Reformschritte notwendig, und die Arbeit der Reflexionsgruppe zur Vorbereitung der Folgekonferenz hat gezeigt, daß der Bedarf von den verantwortlichen Verhandlungsführern offensichtlich erkannt wurde. An dieser Stelle sollen die Leistungen der Reflexionsgruppe ausdrücklich gewürdigt werden, die zweifelsohne dazu beigetragen haben, daß die Folgekonferenz ihre Arbeit auf einem hohen Niveau beginnen kann. Die Anforderungen an Maastricht 11 sind trotz der eben geäußerten Bescheidenheit erheblich. Die Europäische Union muß für den Weg ins 21. Jahrhundert gewappnet werden, und sie muß bei ihren Bürgerinnen und Bürgern um Verständnis und Akzeptanz werben. Die Zeit, in der die europäische Integration als Voraussetzung für eine friedliche Entwicklung und einen gemeinschaftlichen Wohlstand wie selbstverständlich angenommen wurde, ist vorbei. Die politischen Rahmenbedingungen, in welchen sich die Europäische Union nach dem Fall des Eisernen Vorhangs bewegt, sind grundsätzlich verschieden gegenüber der Zeit des Kalten Krieges. Die Europäische Union muß nun stärker denn je zeigen, daß sie für die Menschen in Europa von Vorteil ist. Das sie allein als Garant für eine weitere friedliche und wirtschaftliche Entwicklung ihrer Ydlker steht. Dazu sind entscheidende Reformschritte nötig:
A. Die Europäische Union muß mehr Bürgernähe erlangen
Die Entscheidungen der Europäischen Organe müssen transparenter und demokratischer werden. Eine Reduzierung der undurchsichtigen Entscheidungsverfahren zwischen Europäischem Parlament, Ministerrat und Kommission ist dringend erforderlich. Die Bürgerinnen und Bürger Europas haben das Recht, an den Entscheidungsabläufen in Brüssel und Straßburg, die sie in ihrem alltäglichen Leben
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unmittel- und mittelbar betreffen, beteiligt zu sein und sie nachvollziehen und verstehen zu können. Mit der Vereinfachung der Rechtsetzung ist eine Stärkung der Befugnisse des Europäischen Parlamentes zu verbinden. Das durch den Maastrichtvertrag eingeführte Mitentscheidungsverfahren muß erheblich ausgeweitet werden. Das Europäische Parlament sollte neben dem Ministerrat zu einem gleichberechtigten Gesetzgebungsorgan ausgebaut werden. Zugleich muß sichergestellt sein, daß dem Subsidiaritätsprinzip voll Rechnung getragen wird.
B. Die Europäische Union muß institutionell reformiert werden
Der Aufbau der Organe der Europäischen Union und ihr Verhältnis zueinander haben sich seit den Römischen Verträgen 1958 nicht wesentlich verändert. Nicht nur, daß die Anforderungen an eine vertieft integrierte Gemeinschaft vor dem Übergang ins nächste Jahrtausend erheblich gestiegen sind, auch die Zahl ihrer Mitglieder hat sich von 6 auf nunmehr 15 erhöht und die nächsten Kandidaten für einen Beitritt zur Europäischen Union haben bereits angeklopft. Es ist offensichtlich, daß Kommission und Ministerrat sowie das Europäische Parlament in der gegenwärtigen institutionellen Verfassung an die Grenze ihrer Arbeitsfähigkeit gestoßen sind. Eine Union mit 21,24 oder mehr Mitgliedern kann auf dem gegenwärtigen Stand kaum zeitgerecht die Entscheidungen fällen, die Europa vorantreiben und seinen Bestand in einer neuen globalen Wirtschaftsordnung sichern helfen.
C. Die Zusammenarbeit in den Bereichen Inneres und Justizpolitik muß schrittweise vergemeinschaftet werden
Dies gilt insbesondere für die Bereiche Visa und Asylpolitik. Die Akzeptanz für die Europäische Union wird in Deutschland in dem Maße steigen, in dem eine Lastenverteilung hinsichtlich der Zuwanderung stattfindet. Es muß klar werden, daß sich der Europäische Kontinent nicht gegenüber Osteuropa, Asien und Afrika abschotten kann. Der Bürgerkrieg in Jugoslawien hat gezeigt, daß die Flüchtlingsströme nur schwer zu lenken sind. Die Verweigerung der Aufnahme von Flüchtlingen wäre angesichts der Schrecken des Krieges in Ihrer Heimat nicht vorstellbar gewesen. Auch wenn dieses Problem zumindest teilweise gelöst erscheint, ist nicht absehbar, ob und wann uns die nächste vergleichbare Krise ins Haus steht. Beispielsweise wird die französische Regierung bei einer Verschärfung der Lage in Algerien flüchtenden Frankoalgeriern die Einreise ins Mutterland kaum verweigern können. Es zeigt sich, daß eine problemgerechte Lösung dringend erforderlich ist. Diese kann m. E. nicht intergouvernemental, sondern muß gemeinschaft-
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lich gefunden werden. Allein auf diese Weise wird sie Bestand haben und die Akzeptanz der Bevölkerung der Mitgliedstaaten finden. Die Akzeptanz der Bürgerinnen und Bürger wird auch davon abhängen, inwieweit sie ihre Rechte in einer Europäischen Union gesichert sehen. Die rasante Zunahme grenzüberschreitender Kriminalität, seien es Drogenvergehen, Menschenhandel oder Subventionsbetrug, macht gemeinschaftliches Handeln dringend erforderlich. EUROPOL bietet hier einen bedeutenden Ansatz kooperativer Verbrechensbekämpfung. Die Verstärkung polizeilicher Aktivitäten auf gemeinschaftlicher Ebene darf jedoch die Rechte der Bürgerinnen und Bürger der Union nicht unterlaufen. Die Tätigkeit von EUROPOL muß der politischen Kontrolle des Europäischen Parlamentes und die EUROPOL-Konvention der rechtlichen Kontrolle des Europäischen Gerichtshofes unterworfen werden. Zur Sicherung der Bürger- und Menschenrechte ist darüber hinaus eine europäische Grundrechtscharta notwendig. Der verfassungsrechtliche Schutz der nationalen Verfassungen allein reicht nicht aus, in einer sich vertiefenden Vergemeinschaftung die Rechtsgarantien unserer liberalen und sozialen Wertegemeinschaft zu wahren.
D. Die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik muß gestärkt werden
Der Krieg im ehemaligen Jugoslawien hat gezeigt, daß die Europäische Union nach wie vor nicht in der Lage ist, in Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik dann mit einer Stimme zu sprechen, wenn dies zum Erhalt oder zur Wiederherstellung des Friedens in Europa notwendig ist. Auf Dauer riskieren wir unseren Bestand und unsere Freiheit, wenn es nicht gelingt, diesen Mißstand zu beheben. Durch den Maastricht-Vertrag wurde die sogenannte GASP als 2. Säule der Europäischen Union eingeführt. Die Erfolge sind bisher, wie eben angedeutet, nicht sehr vielversprechend. Wir können jedoch nicht auf eine verstärkte sicherheitspolitische Integration in Europa verzichten. Eine ökonomische Union ist ohne den Aspekt der abgestimmten Außenpolitik nicht dauerhaft zu erhalten. Dafür reicht auch eine gemeinsame Außenhandelspolitik, wie sie die Europäische Union bereits heute betreibt, nicht aus. Damit die GASP erfolgreich funktionieren kann, wird den Mitgliedstaaten der Europäischen Union ein erheblicher Souveränitätsverzicht abverlangt. Dies ist nur auf der Grundlage einer klaren Ziel- und Aufgabenbestimmung der GASP vertretbar. Die Folgekonferenz ist daher aufgefordert, die notwendigen institutionellen Reformen anzugehen, um dies zu ermöglichen. Sinnvoll ist es, ein Analyse- und Koordinierungsorgan zu schaffen, das dem Ministerrat in enger Zusammenarbeit mit der Europäischen Kommission entsprechende Vorschläge für eine mögliche Vertiefung der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik unterbreitet.
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E. Die Europäische Währungsintegration muß vorangetrieben werden
Auch wenn die Europäische Währungsunion nicht auf der Tagesordnung der Folgekonferenz steht, so wird sie doch die Verhandlungen um einen Fortschritt in den genannten Bereichen begleiten. An dieser Stelle ist ausdrücklich festzuhalten: Europa braucht die Währungsunion! Sie ist politisch wie auch ökonomisch sinnvoll und vertretbar. Nur durch eine Europäische Währungsunion kann der Binnenmarkt seine positiven Effekte voll entfalten. In der stattfindenden Globalisierung der Märkte muß die Europäische Union ein wirtschaftliches und monetäres Gegengewicht zur Yen- und zur Dollarzone bilden, was im übrigen einen Beitrag zur Stabilisierung des Weltwährungssystems leisten könnte, von dem die Wirtschaftszentren Asien, Nordamerika und Europa gleichermaßen profitierten. Die D-Mark kann der Aufgabe, die ihr gegenwärtig als zweite Weltreservewährung zukommt, nicht dauerhaft gerecht werden. Weder reicht hierzu das ökonomische Gewicht der deutschen Volkswirtschaft, noch ist ein Anhalten der Beschäftigungskrise, die in einem erheblichen Maße auf die fehlgeleiteten Währungsrelationen zurückzuführen ist, weiterhin verantwortbar. Wenn dieses Mißverhältnis nicht behoben wird, wird uns kein noch so engagiertes "Bündnis für Arbeit" aus der Krise führen. Eine Europäische Währungsunion macht jedoch nur dann Sinn, wenn sie als Stabilitätsgemeinschaft gegründet wird. Eine Aufweichung der Konvergenzkriterien des Maastrichtvertrages ist nicht verantwortbar. Eine "weiche" Währungsunion würde die bestehende Krise nur verschärfen. Der durch den Zeitplan entstandene Druck hat hinsichtlich der Haushaltsdiziplin in der gesamten Europäischen Union eine positive Wirkung gebracht. An ihm sollte erst dann gerüttelt werden, wenn die real wirtschaftlichen Daten für den Eintritt in die Dritte Stufe der EWU vorliegen und ein Aufschieben unabdingbar erscheinen lassen. Die Europäische Währungsunion kann ihrer Aufgabe nur dann gerecht werden, den europäischen Integrationsprozeß zu stärken und zu stützen, wenn sie mit möglichst vielen Mitgliedern beginnt. Eine Währungsunion ohne Frankreich oder Deutschland sowie mehrere andere Mitglieder hätte keinen Zweck. Die europäischen Regierungen und die beteiligten Institutionen, wie die nationalen Zentralbanken und das Europäische Währungsinstitut, sind jetzt aufgefordert, die notwendigen Schritte zu unternehmen, um die Währungsunion auf den Weg zu bringen. Dazu gehört ein neues Stabilitätssystem, wie das Europäische Währungssystem, das 1992 faktisch zerbrochen ist. Allein ein neues Stabilitätssystem kann sicherstellen, daß auch die Nichtmitglieder einer Währungsunion an den einheitlichen Währungsraum angebunden bleiben und so schädliche Abwertungen der Nichtteilnehmer verhindert werden. Und sollte die Währungsunion zum beabsichtigten Termin 1999 aufgrund mangelhafter Erfüllung der Konvergenzkriterien nicht zustande kommen, böte ein neues EWS die Grundlage für die weitere währungspolitische Integration und die Verringerung der Währungsdisparitäten.
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An der Frage der Währungsunion hängt nicht das Schicksal der Europäischen Union, aber der weitere Umgang mit ihr wird darüber entscheiden, ob die Bürgerinnen und Bürger ihr Vertrauen nicht nur in die Europäische Union, sondern auch in ihre nationalen Regierungen verlieren. Darum muß klargestellt werden, daß die Maßnahmen im Namen der europäischen Integration zuallererst den Bürgerinnen und Bürgern ihrer Mitgliedstaaten zugute kommen. Gerade im Fall der Währungsunion bedeutet dies, daß sie sich nicht auf die Einführung einer gemeinsamen Währung reduzieren darf. Dieser Schritt muß vielmehr mit einer sozialen und beschäftigungspolitischen Initiative einhergehen, damit Europa und seine neue Währung nicht nur für Stabilität und Wettbewerbsfähigkeit, sondern auch für Beschäftigung und Wohlstandsentwicklung stehen.
F. Die Europäische Union muß die Osterweiterung als Herausforderung annehmen
Die Reform des Maastrichtvertrages hat zum Ziel, die Union zu erhalten und zu stärken. Ihre größte Belastungsprobe wird sie jedoch erst nach dem Ende der Folgekonferenz zu bestehen haben. Dann sollen, nach Ansicht des Deutschen Bundestages mit einer zeitlichen Verzögerung von sechs Monaten nach dem Ende der Konferenz, die Beitrittsverhandlungen mit den beitrittswilligen Staaten des Mittelmeerraums und Mittel- und Osteuropas begin!1en. Europa ist nach dem Fall des Eisernen Vorhangs demokratischer geworden. Dieser Entwicklung muß Rechnung getragen werden. Besonders die Bestrebungen der MOE-Länder nach politischer Stabilität und wirtschaftlicher Entwicklung können nur dann von Erfolg gekrönt werden, wenn wir ihnen die Tür zur Europäischen Union öffnen. Auf dieses, nach meiner Ansicht, großartige Vorhaben muß schon in der Folgekonferenz hingearbeitet werden. Dies gilt besonders für den Bereich der institutionellen Reformen. Nicht im Rahmen der Folgekonferenz, aber im unmittelbaren Anschluß an Maastricht 11 muß das System der Finanzierung der Europäischen Union überarbeitet werden. Dazu gehört die Neuordnung der Strukturfonds und die Reform der Gemeinsamen Agrarpolitik. Eine Agenda der notwendigen Erneuerungen ließe sich weit über das Jahr 1998 hinaus schreiben. Sicherlich wäre der Abschluß der Folgekonferenz schon dann sehr zufrieden stellend, wenn die mehrheitlich gefaßten Schlußfolgerungen der Reflexionsgruppe eine Berücksichtigung werden finden können. Der Deutsche Bundestag hat in seiner Beschlußfassung zur Folgekonferenz klar zum Ausdruck gebracht, daß er die Zukunft Deutschlands nur in einem integrierten Europa sieht. Frieden und wirtschaftliches Wachstum sind keine Selbstverständlichkeit. Man muß sich dafür immer wieder neuerlich einsetzen. Wie zerbrechlich der Friede in Europa ist, hat der Krieg im ehemaligen Jugoslawien gezeigt. Er
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sollte den Generationen, die den Zweiten Weltkrieg nicht mehr bewußt erlebt haben, verständlich machen, wie wichtig und unverzichtbar ein freundschaftliches und partnerschaftliches Verhältnis zu seinen Nachbarn ist. Die Europäische Integration ist trotz aller aktuellen Probleme eine Erfolgsgeschichte. Sie ist einzigartig auf der Welt. Wir sollten diese Geschichte weiter aktiv vorantreiben. Dabei ist konstruktive Kritik angebracht und notwendig. Das Ziel, ein gemeinsames Europa freier V6lker in einer politisch, wirtschaftlich, sozial und kulturell verbundenen Union, kann und darf aber nicht in Frage gestellt werden.
Diskussion zum abschließenden Podium mit Simon Bulmer, Bernhard Friedmann, Gerard Marcou und Wolfgang WesseIs Leitung: Heinrich Siedentopf Bericht von loachim Rumstadt Zu Beginn der Diskussion unter der Leitung von Professor Dr. Dr. h.c. Heinrich Siedentopf standen die Ausführungen von Professor Dr. Friedmann im Vordergrund des Interesses. Ministerialrat lochern Schäfer, Wiesbaden, betonte eingangs den föderativen Charakter der Europäischen Union, der durch die EEA eingeführt worden sei und sich bewährt habe. Er stellte an Professor Dr. Friedmann die Frage nach den Auswirkungen der Kosten für die Osterweiterung in Höhe von 25 Milliarden DM auf die föderative Struktur der Europäischen Union. Assessor Georg Freutag, Frankfurt/Oder, führte daran anknüpfend aus, daß zu den von Professor Dr. Friedmann dargelegten Kosten der Osterweiterung noch erhebliche zusätzliche Kosten zum Ausgleich der unterschiedlichen Strukturen zu erwarten seien. Ministerialrat Wolf-Dieter Dallhammer, Dresden, brachte zunächst seine Begeisterung für den Vortrag von Professor Dr. Friedmann zum Ausdruck und betonte das Interesse Sachsens an diesem Thema als Grenzland der Osterweiterung. Zum Abschluß der Tagung zog er ein persönliches Fazit, wonach die deutschen Staatsvorstellungen nicht unreflektiert auf Europa übertragbar seien. Anknüpfend an die Referate von Professor Dr. Marcou und Professor Dr. Benz vom Vortag betonte Ministerialrat Dallhammer die Notwendigkeit einer Raumordnungskompetenz der Europäischen Union. Abschließend wies er noch einmal auf die Möglichkeit der Schaffung eines neuen Handlungsinstruments für die Europäische Union, welches er in der Setzung von Kollisionsnormen sehe, wie sie beispielsweise im internationalen Privatrecht zur Anwendung kämen, hin. Professor Dr. Wesseis stimmte den Ausführungen von Professor Dr. Friedmann insoweit zu, daß es sich bei der Erweiterung um ein wichtiges Thema handele. Provozierend stellte er jedoch zur Diskussion, ob die "buchhalterische Sicht" der "erleuchtenden Zahlen" ausreiche. Er erweiterte die Problematik der Osterweiterung schlagwortartig um die befürchtete Deindustrialisierung in den Beitrittsländern, die Gefahren von Sozial- und Umweltdumping und die aus der Freizügigkeit resultierenden Herausforderungen an einen modernen Wohlfahrtsstaat wie die Bundes17 Magiera/Siedentopf
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republik Deutschland. Er wies darauf hin, daß zur Bewältigung der Osterweiterung wegen der großen Heterogenität der Beitrittskandidaten die Sektoren der Gemeinschaftspolitiken einzeln geprüft und angepaßt werden müßten, wobei es dabei nicht allein um das Budget, sondern auch um die Frage nach mehr Flexibilisierung und längeren Übergangsfristen gehe. Die wirtschaftliche Erweiterung dürfe nicht wirtschaftlich und sozial destabilisierend wirken, sonst sei auch die politische Stabilität und damit das eigentliche Ziel gefährdet. Sein abschließendes Credo lautete: "Die Erweiterung ist mehr als eine finanzielle Frage". Professor Dr. Friedmann ging auf die vorangegangenen Ausführungen ein, indem er zunächst zustimmend betonte, die Erweiterung sei nicht allein eine finanzielle Frage. Er habe den finanziellen Aspekt gewählt, weil viele Einwände gegen die Osterweiterung aus diesem Bereich kämen und hinter den Zahlen das Leben stehe. Aus seiner langjährigen Tätigkeit als Vorsitzender des Haushaltskontrollausschusses des Deutschen Bundestages sei es ihm anhand der Zahlenentwicklung der Ausgaben im Rüstungsbereich seit 1986 möglich gewesen, die deutsche Wiedervereinigung für machbar zu halten. In Erwiderung der Frage nach den Gefahren der Osterweiterung für das föderale System führte er aus, daß man die EU-Erweiterung nicht mit der deutschen Wiedervereinigung vergleichen könne. Eine Übertragung der Methode der Haushaltstransfers zur Angleichung der Lebensverhältnisse in den deutschen Ländern auf die geplante EU-Osterweiterung sei aus finanziellen Gründen nicht möglich. Dies sei auch nicht nötig, da zwischen den selbständigen Staaten in der EU schon heute starke Gefälle bestünden, beispielsweise zwischen Deutschland und Portugal. Was die Belastung der Fonds angehe, müsse man berücksichtigen, sobald ärmere Staaten zur EU hinzukämen, sinke der Wohlstandsdurchschnitt und damit fielen Gebiete, die derzeit gefördert werden, aus den Förderprogrammen heraus. In diesem Zusammenhang betonte Professor Friedmann noch einmal die Notwendigkeit, bei der Gewährung von Finanzmitteln auch das Eigeninteresse der Begünstigten zu engagieren, um so den Mißbrauch einzudämmen. Abschließend erklärte er zu den Aufgaben des Europäischen Rechnungshofs, daß dieser schon heute auch in der 2. und 3. Säule tätig werde, beispielsweise bei Mostar und Europol. Insoweit wünsche er sich für die Zukunft eine stärker zwischen den Säulen der EU koordinierende Funktion des Rechnungshofs. Seine Erfahrung sei, "ohne Geld läuft meistens nichts". In der zweiten Diskussionsrunde ging es im Schwerpunkt um die Suche nach einer Vision für die Zukunft der Europäischen Union. Klaus Suchanek, Bonn, ging auf die Ausführungen von Professor Dr. Wesseis ein und konstatierte, eine Vision sei da oder nicht, wenn man sie suchen müsse, sei das ein Problem. Ausgehend von der Feststellung, in der Vergangenheit sei der Binnenmarkt eine Vision gewesen, warf er die Frage auf, ob nicht die Wirtschafts- und Währungsunion eine Vision sei. Seinem Eindruck nach bestehe derzeit die Gefahr, daß sich die Europäische Union auf der Reformkonferenz zu sehr mit ihrem inneren Machtgefüge befasse, anstatt die äußeren Herausforderungen anzunehmen. Abschließend fragte er nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner für die Ergebnisse der Regierungskonferenz.
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Professor Dr. Fischer, Köln, fragte Professor Dr. Wesseis, ob man statt von Visionen nicht besser von Aufgaben sprechen sollte. Gemeinsame Aufgaben erblikkte er in der Osterweiterung und in der Verwirklichung der Währungsunion. Für deren Bewältigung müsse die Regierungskonferenz die Europäische Union fitmachen. Nur wenn das gelänge, sei Europa vor den Wellen der Instabilität aus Rußland gesichert - zwischen Rußland und der Ukraine sowie Weißrußland zeichne sich in letzter Konsequenz sogar Krieg ab. Ministerialrat Dr. Hartmut Hornickel, Schwerin, knüpfte an die Ausführungen von Fischer an und gab in bezug auf die Osterweiterung zu bedenken, daß neben der Gefahr einer Deindustrialisierung in den Beitrittsländern aufgrund der Umstrukturierung der dortigen Agrarmärkte mit einer zweistelligen Millionenzahl von Arbeitslosen zu rechnen sei. Derzeit werde dort zwar zu Weltmarktpreisen, jedoch nicht kostendeckend produziert. Die Sicherheitspolitik zwinge aber dazu, die Währungsunion und Osterweiterung gleichzeitig und möglichst schnell voranzutreiben. Landwirtschaftsdirektor Wilhelm Zimmerlin, Dresden, stellte eine direkte Frage an Professor Bulmer nach dessen persönlicher Meinung zur britischen Position in der EU, die sich ihm als Spagat zwischen Blockadepolitik und Wille zum Mitmachen darstelle. Was könne angesichts der britischen Blockadepolitik überhaupt bei der Regierungskonferenz herauskommen? Professor Dr. Wesseis ging auf die an ihn gestellten Fragen ein, indem er zunächst den Begriff Vision erläuterte. Danach gehe es bei einer Vision darum, gemeinsame Grundorientierungen zu entwickeln, Ordnungsmöglichkeiten zu gestalten, insoweit könne man auch von Aufgabe statt Vision sprechen. Festzustellen sei an dieser Stelle, daß die Grundorientierungen der letzten 30 Jahre in Europa verloren gegangen seien. Zum einen sei die Ost-West-Bedrohung weggefallen, zum anderen bestehe ein Zusammenhang zwischen einer erfolgreichen wirtschaftlichen Entwicklung und der Zustimmung der Bevölkerung zum Fortgang der europäischen Integration. Anschließend widersprach Professor Wesseis der Aussage, eine Vision habe man oder nicht, vielmehr sei eine solche in der öffentlichen, politischen Diskussion zu entwickeln und keinesfalls von oben zu dekretieren. Er bedauerte, daß vor Beginn der Regierungskonferenz eine Tendenz der Renationalisierung bestehe. Die Mitgliedstaaten fragten mehr danach, wer etwas gewinne oder verliere und weniger, was die gemeinsamen europäischen Interessen seien. Eine Prognose über die Ergebnisse der Regierungskonferenz wollte er unter Hinweis auf die überraschenden Erfahrungen in der Vergangenheit nicht abgeben. Er brachte jedoch seine Hoffnung zum Ausdruck, daß der französische Staatspräsident gemeinsam mit dem deutschen Bundeskanzler noch etwas herauskristallisieren werde, was über rein institutionelle Fragen hinausgehe. So sei beispielsweise die wichtige Frage nach der Rolle Europas in der Welt bei den bisherigen Betrachtungen vernachlässigt worden. Professor Dr. Bulmer erwiderte auf die Frage nach seiner Meinung zu Großbritanniens Position zur Regierungskonferenz zunächst scherzhaft, daß er kein eige17*
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nes Weißbuch entwickelt habe. Es sei auch sehr schwierig, eine Kosten-NutzenAnalyse für die Mitgliedschaft Großbritanniens in der Europäischen Union zu erstellen. Wichtig sei es, bei der Einschätzung der britischen Position auch die britische Identität zu berücksichtigen, diese laufe den Entwicklungen hinterher. Als Beispiel führte er die WWU an: Die politische Debatte sage nein, der Schatzmeister ließe bewußt die Option offen und die Reaktion der City of London auf den Beginn der WWU sei noch abzuwarten. Im übrigen habe Großbritannien mit Wechselkurs systemen in der Vergangenheit negative Erfahrungen gemacht. Ein postiver Ansatz zur WWU sei deshalb sehr schwierig. Seiner Meinung nach müsse Großbritannien in der Zukunft mehr darauf bedacht sein, positive britische Interessen in die Regierungskonferenz einzubringen, um so in seinem Sinne gestaltend mitwirken zu können. Zwar bestehe kein Enthusiasmus für die europäische Integration, doch gelte dafür, was Premierministerin Thatcher schon über ihre Wirtschaftpolitik sagte: "There is no alternative!" Zum Abschluß der Podiumsdiskussion ergriff Professor Dr. Friedmann das Wort. Er unterstrich die Notwendigkeit von Utopien. Utopien von heute seien die Wirklichkeiten von morgen. Die Gemeinschaft der Mitgliedstaaten bestehe und komme weiter, in ihr ergänzten sich die Einzelinteressen zu einem Ganzen. So hätten das kleine Luxemburg und andere kleine Staaten im Laufe der Geschichte immer Probleme mit ihren Nachbarn bekommen, in der Gemeinschaft stünden sie heute gleichberechtigt neben den Großen. Frankreich habe ein Interesse daran, in politischen Fragen auf seine Nachbarn Einfluß zu nehmen, beispielsweise auch im Rahmen der WWU. Deutschland könne die anderen Länder von seiner Friedlichkeit überzeugen. Deutschland habe wegen seiner geographischen Lage die meisten Nachbarn in Europa. Noch niemals zuvor habe Deutschland wie heute mit allen in einem guten oder sogar freundschaftlichen Verhältnis zusammengelebt. Dies habe auch etwas mit der Europäischen Union zu tun.
Verzeichnis der Referenten und Berichterstatter Benz, Dr. Arthur, Universitätsprofessor an der Universität Halle-Wittenberg Brieger; Sabine, Ass. iur., Forschungsreferentin am Forschungsinstitut für Öffentliche Verwaltung bei der Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer Bufmer; Dr. Simon, Universitätsprofessor an der University of Manchester Druesne, Dr. Gerard, Directeur, Centre des Etudes Europeennes de Strasbourg Eckstein, Gerd, Dipl.-Pol., Mag. rer. publ., wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer Friedman, Prof. Dr. Bemhard, Präsident des Europäischen Rechnungshofes, Luxemburg Hänsch, Prof. Dr. Klaus, Präsident des Europäischen Parlaments, Brüssel Hilf, Dr. Meinhard, Universitätsprofessor an der Universität Hamburg Hofzinger; Dr. Gerhart, Sektionschef, Mitglied des Verfassungsgerichtshofs, Wien Koch, Dr. Christian, wissenschaftlicher Assistent an der Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer Kurzidem, Clemens, Ass. iur., wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer Lüder; Dr. Klaus, Universitätsprofessor, Rektor der Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer Magiera, Dr. Siegfried, Universitätsprofessor an der Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer Marcou, Dr. Gerard, Universitätsprofessor an der Universite deI Lille 11 Molitor; Dr. Bemhard, Ministerialdirektor a. D., Bundesministerium für Wirtschaft, Remagen Nanz, Dr. Klaus-Peter, Regierungsdirektor, Bundesministerium des Innem, Bonn Niedobitek, Dr. Matthias, Forschungsreferent am Forschungsinsitut für Öffentliche Verwaltung bei der Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer Rumstadt Joachim, Ass. iur., Forschungsreferent am Forschungsinstitut für Öffentliche Verwaltung bei der Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer
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Verzeichnis der Referenten und Berichterstatter
Rüter, Klaus, Staatssekretär, Chef der Staatskanzlei des Landes Rheinland-Pfalz, Mainz Schulte-Braucks, Dr. Reinhard, Abteilungsleiter, Europäische Kommission, BrüsseI Siedentopf, Dr. Dr. h. c. Heinrich, Universitätsprofessor an der Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer Theobald, Christian, Ass. iur., Mag. rer. publ., wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer Vetter, Dr. Erwin, Staatsminister im Staatsministerium des Landes Baden-Württemberg, Stuttgart Wessels, Dr. Wolfgang, Universitätsprofessor an der Universität Köln Wieczorek, Dr. Norbert, Vorsitzender des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union des Deutschen Bundestages, Bonn