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German Pages 308 Year 1981
WERNER BERGMANN
Die Zeitstrukturen sozialer Systeme
Soziologische Schriften
Band 33
Die Zeitstrukturen sozialer Systeme Eine systemtheoretische Analyse
Von
Dr. Werner Bergmann
DUNCKER
&
HUMBLOT
I
BERLIN
Alle Rechte vorbehalten & Humblot, Berlin 41 Gedruckt 1981 bei Buchdruckerei A. Sayffaerth - E. L. Krohn, Berlin 61 Printed in Germany
© 1981 Duncker
ISBN 3 428 04857 1
Inhaltsverzeichnis Einleitung und Problemstellung TEIL I: Zeittheoretische und "zeitsoziologische" Grundlagen 1. Zeit, Zeitbewußtsein und Handlung
9 17 17 18
1.1 Die phänomenologische Theorie der Zeit 1.1.1 Ausschaltung der objektiven Zeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
19
1.1.2 Die Struktur des inneren Zeitbewußtseins .................
21
1.1.3 Die Stufe des zeitkonstituterenden Bewußtseinsstroms .....
24
1.1.4 Reale Zeit und Zeitbewußtsein -
Bieris Einwand ..........
27
1.1.5 Konsequenzen für einen soziologischen Zeitbegriff .........
32
1.1.6 Zur Struktur des Zeitbewußtseins ............. . . . . . . . . . . ..
33
1.2 Zeit, Handlung und Sozialität bei G. H. Mead . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
37
1.2.1 Zum Begriff der Perspektive .................. . . . . . . . . . . ..
39
1.2.2 Die "gegenwärtige Situation" ............................. 1.2.2.1 Dte Struktur der Handlung ..... . . . ...... . .........
41 42
1.2.3 Temporalität und Perspektive .............................
46
1.2.3.1 Gleichzeitigkeit .......................... . .........
50
1.2.4 Perspektive und Sozialität ........... . ...... . ...... . .... . .
51
1.2.5 Sozialität und Temporalität .................... . ...... . ...
53
1.3 Temporale und possibilistische Handlungshorizonte ... . ..........
55
2. Zur Konstitution von Zeit in sozialen Systemen -
N. Luhmann
64
2.1 Zur Formulierung eines soziologischen Zeitbegriffs ..............
65
Exkurs: Die Ontogenese des Zeitbegriffs -Jean Piaget .. '.' . . . . ..
67
2.2 System/Umwelt-Theorie und Zeitkonstitution ...................
75
2.2.1 Temporale Modalisierung .... . ...... . .... . . . ...... . .... . ..
78
2.2.2 Reflexive Modalisierung ..................................
79
Inhaltsverzeichnis
6
2.3 Dimensionen der Komplexität
80
2.3.1 Die Selektivität der Zeit
82
2.3.2 Reflexive Mechanismen
85
2.4 System/Umwelt-Beziehungen und Zeit ..........................
86
2.4.1 Input/Outputorientierung und zeitliche Autonomie .........
87
2.4.2 Systemzeit -
Umweltzeit .................................
89
2.4.3 Systemdifferenzierung, Systemreferenzen und Zeitstrukturen ......................................................
90
3. Grundriß eines soziologischen Zeitkonzepts ..........................
92
TEIL 11: Systemtheoretisdle Analysen der Zeitstrukturen sozialer Systeme
104
4. Ausdifferenzierung und Grenzerhaltung
............................ 104
4.1 Das Problem der Abgrenzung sozialer Systeme . . . . . . . . . . . . . . . . .. 104 4.1.1 Grenze und Horizont ..................................... 107 4.2 Zeitgrenzen .................................................... 109 4.2.1 Zeitliche Autonomie ................................. . .... 109 4.2.2 Erhaltung und überschreitung von Zeitgrenzen ............ 117 4.2.2.1 Grenzerhaltung Struktur und Funktion von Grenzsystemen .................................... 4.2.2.2 Grenzüberschreitende Prozesse ..................... 4.2.2.2.1 Der Zeitaspekt bei der Informationsübertragung .................................. 4.2.2.2.2 Die zeitliche Struktur von Statusübergängen
119 125 125 128
5. Systemzeit und Umweltzeiten ....................................... 135
5.1 Soziale Systeme und ihre natürliche Umwelt .................... 137 5.2 Soziale Systeme und der menschliche Organismus ............... 146 5.3 Soziale Systeme und psychische Umweltsysteme ................. 154 5.3.1 Die ontogenetische Entwicklung des Zeitbegriffs .......... 156 5.3.2 Psychische und soziale Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 158 5.4 Soziale Systeme und soziale Umweltsysteme .................... 165
Inhaltsverzeichnis
7
5.5 Zeitknappheit und Warten ..................................... 166 5.5.1 Zeitknappheit ............................................ 166 5.5.2 Warten .......................... . ....................... 168 6. Systemdifferenzierung und TemporaZstruktur ....................... 171
6.1 Segmentäre Differenzierung und Temporalstruktur . . . . . . . . . . . . .. 173 6.2 Schichtenmäßige Differenzierung und Temporalstruktur ........ 182 Exkurs: G. Gurvitch: Zur Zeitstruktur von Feudalgesellschaften .. 185 6.2.1 "Deferred Gratification" und Zeitorientierung ............. 192 6.3 Funktionale Differenzierung und Temporalstruktur ............ 198 6.3.1 Zur Temporalstruktur des Rechtssystems .................. 203 6.3.1.1 Funktionsbezug und Temporalstruktur des Rechtssystems ........................................... 204 6.3.1.2 Leistungsbezug und Temporalstruktur des Rechtssystems ........................................... 210 6.3.2 Zur Temporalstruktur des Wirtschaftssystems ............. 215 6.3.2.1 Funktionsbezug und Temporalstruktur der Wirtschaft 215 6.3.2.2 Leistungsbezug und Temporalstrukturen der Wirtschaft ............................................. 223 7. Zeitliche KompZexität und Formen ihrer Reduktion ....... . . . ........ 228 7.1 Zeitliche Komplexität .......................................... 230 7.2 Formen der Reduktion zeitlicher Komp1exität ................... 235 7.2.1 Geschichte ................................................ 235 7.2.2 Schrift ................................................... 238 7.2.3 Planung .................................................. 243 8. Die TemporaZstrukturen auf den verschiedenen Ebenen der System-
bildung ............................................................ 254
8.1 Temporalstrukturen von Sozialsystemen elementarer Interaktion 254 8.2 Temporalstrukturen von Organisationssystemen ......... . . . .... 259 8.3 Temporalstrukturen von Gesellschaftssystemen
275
Abschließende Bemerkungen
286
Literaturangaben
288
Einleitung und Problemstellung " ,Soziale Zeit' ist in den Sozialwissenschaften kein gebräuchlicher Begriff; er ist in den Abhandlungen über allgemeine soziologische Theorie nur vereinzelt anzutreffen 1 ." Trifft diese Feststellung aus dem Jahre 1971 denn für die vergangene Soziologie zu, wo doch die "Zeit" in den Arbeiten einiger führender Theoretiker wie Durkheim, Mead, Schütz, Sorokin und Gurvitch eine wichtige Rolle gespielt hat, und wenn ja, trifft sie für die heutige Soziologie noch zu? Blickt man auf die neuere Literatur zum Thema "soziale Zeit", so findet sich fast überall die Klage über die Vernachlässigung des Zeitproblems in der Soziologie; bei Lüscher finden wir sie in einem Aufsatztitel bündig formuliert: "Time: A Much Neglected Dimension in Social Theory and Research"2. Dieser Eindruck, daß die Zeit "kein Thema" in der Soziologie ist, ergibt sich auch, wenn man im Kreise von Soziologen über dieses Thema spricht, es wird als "abseitig", ausgefallen, bestenfalls als "philosophisch" empfunden. Arbeitet man jedoch eine Zeitlang am Problem der sozialen Zeit, dann stößt man, ganz im Gegensatz zur überall behaupteten Vernachlässigung, auf eine doch recht umfangreiche Literatur zu diesem Thema. So finden sich in der Soziologie und in angrenzenden Disziplinen, vor allem in der Ethnologie, der Psychologie, der Ökonomie und der Geschichtswissenschaft, zahlreiche Arbeiten zu allen möglichen Aspekten der sozialen Zeit: zur soziokulturell variierenden Form des sozialen Zeitbewußtseins (Evans-Pritchard, Hall)3, zu Differenzen in der zeitlichen Orientierung an Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft (Kluckhohn/Strodtbeck, Schott u. a.)4, zum Zusammenhang von sozialer Kontrolle und Zeit (Heinemann/Ludes, Nowot1 Waldmann, P., Zeit und Wandel als Grundbestandteile sozialer Systeme, in: KZfSS, 23, 1971, S. 686 -703, S.687. 2 Lüscher, K., Time: A Much Neglected Dimension in Social Theory and Research, in: Sociological Analysis & Theory, 4,1974, S.101 -117; und weiter: Zerubavel, E., Timetables and Scheduling: On the Social Organization of Time, in: Sociological Inquiry, 46, 1976, S. 87 - 94; Luhmann, N., Weltzeit und Systemgeschichte, in: ders., Soziologische Aufklärung Bd.2, Opladen 1975, S. 103 - 133, bes. S. 103 f. (im folgenden zitiert als Weltzeit). 3 Evans-Pritchard, E. E., The Nuer, Oxford, 1940; Hall, E. T., The Silent Language, Greenwich, Conn. 1959. 4 Kluckhohn, F. R. / Strodtbeck, F. L., Variations in Value Orientation, Evanston/Ill., New York 1961; Schott, R., Das Geschichtsbewußtsein bei schriftlosen Völkern, in: Archiv für Begriffsgeschichte, 12, 1968, S. 166 - 205 (im folgenden zitiert als Geschichtsbewußtsein).
10
Einleitung und Problemstellung
ny)5, zur sozialen Periodisierung von Abläufen (Kolaja, Roth, Gurvitch)6, zur personalen und sozialen Ausprägung von Zeitperspektiven (MönksF, vgl. die Arbeiten zum "Deferred Gratification Pattern, Kap. 6.2.1), zur historischen Entwicklung des gesellschaftlichen Zeitbewußtseins (Rammstedt, Koselleck, A. v. Brandt)8, zum Problem der Zeitknappheit und des Wartens, zum kulturell variierenden Handlungstempo, etc. Angesichts dieser Fülle von Arbeiten und Material erweist sich die These von der Vernachlässigung der Zeitkategorie in der Soziologie zu einem Teil als eine Schutz behauptung, die es vielen Autoren ermöglicht, stets von neuem und ganz grundsätzlich zu beginnen, ohne die bereits vorliegenden Untersuchungen in größerem Umfang zur Kenntnis nehmen zu müssen. Die Schwierigkeiten bei der Definition eines soziologischen Zeitbegriffs und die Nähe des Themas zur Philosophie mögen zu dieser Arbeitsweise mitbeigetragen und einen kumulativen Erkenntnisfortschritt behindert haben. So ergibt sich bei der Literaturdurchsicht der Eindruck einer zwar großen, aber untereinander kaum verknüpften Zahl von Arbeiten. Doch noch entscheidender für den geringen Fortschritt der Forschung zum Problem der Zeit im sozialen Leben scheint mir die geringe Theoriebindung fast aller vorliegenden Arbeiten zu sein. Die meisten Autoren verlieren sich ganz an die Eigendynamik ihres Gegenstandes, indem sie philosophische, anthropologische und Alltagsbetrachtungen anstellen, so daß die Einordnung der Zeitkategorie in eine allgemeine soziologische Theorie meist nicht geleistet wird. Damit ergeben sich natürlich nur geringe theoretische Anknüpfungs- und Kritikmöglichkeiten, sowie kaum Anreize zur kumulierenden Weiterarbeit. Meine These wird gestützt durch den Befund, daß es in den Fällen, wo man nicht reine "Zeitsoziologie" treiben wollte, sondern die Zeit als eine Variable im Rahmen eines komplexeren Forschungsproblems oder einer Teil-Soziologie untersucht hat, zu einem kumulativen Arbeitsfortschritt, auch in bezug auf das Zeitkonzept, gekommen ist. Ich Heinemann, K. / Ludes, P., Zeitbewußtsein und Kontrolle der Zeit, in: Hammerich / M. Klein (Hrsg.): Materialien zur Soziologie des Alltags, KZfSS, Sonderheft 20, 1978, S. 220 - 243; Nowotny, H., Time Structuring and Time Measurement: On the Interrelations between Timekeepers and Social Time, in: The Study of Time 11, J. T. Fraser / N. Lawrence (Eds.), Berlin, Heidelberg, New York 1975, S. 325 - 342. 6 Kolaja, J., Social System and Time and Space, Pittsburgh 1969; Roth, J., Timetables. Structuring the Passage of Time in the Hospital Treatment and Other Careers, New York 1963; Gurvitch, G., The Spectrum of Social Time, Dordrecht 1964 (im folgenden zitiert als Spectrum). 7 Mönks, F. J., Zeitperspektive als psychologische Variable, in: Archiv für die gesamte Psychologie, Bd. 119, 1967, S. 131 - 161. 8 Rammstedt, 0., Alltagsbewußtsein von Zeit, in: KZfSS, 27, 1975, S. 47"'" 63 (im folgenden zitiert als Alltagsbewußtsein); Koselleck, R., Vergangene Zukunft, Frankfurt a. M. 1979; Brandt, A. v., Historische Grundlagen und Formen der Zeitrechnung, in: Studium Generale, 19, 1966, S. 720 - 731. 5
K.
Einleitung und Problemstellung
11
denke da an die Arbeiten zum "Deferred Gratification Pattern" (vgl. Kap. 6.2.1), zu Arbeit und Freizeit9 , zu Freizeit und AlteriO. Zwar kann auch in der vorliegenden Arbeit auf eine grundlegende Thematisierung des soziologischen Zeitbegriffs nicht verzichtet werden, doch soll diese nur zur sicheren Fundierung der eigentlichen Aufgabe dienen: der Einarbeitung der Zeitkategorie in den Rahmen einer bestehenden allgemeinen soziologischen Theorie. Die Wahl der am besten für mein Vorhaben geeigneten Theorie wird sich danach bestimmen, ob die Theorie eine gewisse "Affinität" zur vorliegenden Thematik besitzt, ob bereits Vorarbeiten da sind und ob die Theorie eine genügende Reichweite hat. Um die "Nähe" von Theorien zum Zeitproblem zu bestimmen, greife ich noch einmal auf die Frage der Vernachlässigung der Zeit und ihre Ursachen zurück.
Waldmann zum Beispiel sieht die Ursache für die zu geringe Beachtung der Zeitkategorie in der Soziologie in der ontologischen Fundierung des Zeitbegriffs, derzufolge eine konstant verfließende Zeit in allen sozialen Systemen als unproblematische Annahme erschien 11 • In die gleiche Richtung zielt die Kritik von Sorokin/Merton in ihrem berühmten Aufsatz "Social time" von 1937 12 • Erst mit der Relativierung des ontologischen Zeitbegrijjs auf eine Vielzahl sozialer Zeiten hin kann ihrer Meinung nach die Zeit als Kategorie für die Soziologie an Bedeutung gewinnen. Die genannte Begründung erscheint mir als nicht stichhaltig, denn ein ontologischer Zeitbegriff muß die Annahme einer Mehrzahl von Zeiten, wie Husserl es in seinem Konzept der regionalen Ontologien aufgewiesen hat, nicht ausschließen13 • Mir scheint vielmehr, daß die transzendental philosophische Fassung der Zeit durch Kant, wonach die Zeit apriori gegeben ist und als notwendige Vorstellung allen Anschauungen zum Grunde liegt 14, für die Vorstellung der Einheit der Zeit für alle Gegenstände des Bewußtseins verantwortlich ist. Die Zeit, als "Form des inneren Sinnes" verstanden, stellt eine invariable StrukKleemeier, R. W. (Hrsg.), Aging and Leisure, New York 1961. Grazia, S. de, The Uses of Time, in: Aging and Leisure, (Ed.) R. W. Kleemeier, New York 1961, S. 113 - 154. 11 Waldmann, S.692 u. 700. 12 Sorokin, P. A. / Merton, R. K., Social Time: A Methodological and Functional Analysis, in: American Journal of Sociology, Vol. 62, 1937, S.615 to 629. 13 Husserl, E., Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, 2. Buch, hrsg. v. M. Biemel, Den Haag 1952 (Neudruck 1969), Husserliana Bd. IV, z. B. S. 178 f.; ders.,. Zur Phänomenologie der Intersubjektivität, Texte aus dem Nachlaß, 2. Teil, Bd. XIV, hrsg. v. I. Kern, Den Haag 1973 (im folgenden zitiert als Hua XIII, XIV oder XV). - Hier vor allem zur Vielfalt sozialer Vergemeinschaftungen und ihrer korrelativen Zeitvorstellungen. 14 Kant, 1., Kritik der reinen Vernunft, Werke Bd.lI, hrsg. v. W. Weischedel, Wiesbaden 1956, S.78. 9
10
Einleitung und Problemstellung
12
tur dar und ist nicht etwas, "was für sich selbst bestünde, oder den Dingen als objektive Bestimmung anhinge, ... "15. Während in der Ontologie der Charakter der Zeit als einer Wirklichkeits struktur gerade nicht geleugnet wird, zieht Kant die Zeit von den Gegenständen ab und versetzt sie ins transzendentale Bewußtsein. Es ist also eher die Transzendentalisierung als die Ontologisierung das entscheidende Hindernis dafür, daß die Zeit als Variable für die Soziologie bisher nicht die genügende Beachtung gefunden hat. Andererseits hat Waldmann mit seiner Behauptung auch etwas Richtiges getroffen, denn zur adäquaten Fassung eines soziologischen Zeitbegriffs gehört sowohl die überwindung ontologischer Zeitvorstellungen in dem Sinne, daß die Zeit in sozialen Systemen nicht als reale Weltstruktur, sondern als Interpretationskategorie verstanden werden muß, als auch die Relativierung der Zeit als einer Kategorie des transzendentalen Bewußtseins. Insofern spielt die Kantische Theorie eine Doppelrolle als Hindernis und Wegbereiter einer soziologischen Zeittheorie, die die Zeit nicht länger nur als transzendentale Bedingung der Erkenntnis, noch als reale Weltstruktur begreift, sondern als eine im empirischen Bewußtsein, relativ zu den Bedingungen der inneren und äußeren Umwelt, vorfindliche Kategorie zur Konstruktion der natürlichen und gesellschaftlichen Wirklichkeit. Durch diesen Argumentationsverlauf wird eine andere Begründung als die Waldmanns für die Vernachlässigung der Zeit in der Soziologie plausibel: nicht ein ontologisch fixierter Zeitbegriff, sondern eine ontologisch und positivistisch eingestellte Soziologie (andere Namen dafür wären: Behaviorismus, Physikalismus oder Reduktionismus), die sich am Verhalten und nicht an der Sinnhaftigkeit des Handeins orientiert hat, hat dazu beigetragen l6 • Sie konnte die Zeit als Variable ignorieren bzw. konnte die Zeit bei ihrer Orientierung an manifestem Verhalten gar nicht anders als in Form von bloßen Verhaltens sequenzen und von meßbarer Uhrenzeit in den Blick bekommen. Die Ausrichtung der positivistischen Soziologie am Ideal naturwissenschaftlicher Methodologie und am Gedanken einer Einheitswissenschaft nach naturwissenschaftlichem Vorbild kann die Varietät der sozialen Zeiten nicht erfassen. Sie muß außer acht bleiben zugunsten einer Auffassung von Zeit als Parameter zur Bestimmung kausaler Zusammenhänge und zur Messung von Bewegungen. Mit der Hinwendung zur Handlungstheorie - ganz gleich welcher Spielart - mußte der Zeitbegriff stärkere Aufmerksamkeit finden l7 , denn Luhmann ist zuzustimmen, wenn er schreibt: "In dem Maße, als die soziologische Theorie das Sinnproblem einbezieht, wird Zeitlichkeit 15 16 17
Kant, S. 80. Lüscher,S. 108. Lüscher, S. 108 ff.
Einleitung und Problemstellung
13
zu einer konstituierenden Dimension ihres Gegenstandes und kann nicht länger nur als Bedingung der Erkenntnis des Gegenstandes behandelt werden I8 ." Der SozialwissenschaftIer muß seine Zeittheorie, anders als der Naturwissenschaftler, mit einer bereits konstituierten Zeit, einem sozialen Zeitbewußtsein auf seiten seines "Gegenstandes" konfrontieren 1g • Eine soziologische Theorie, die es nicht mit bloßen Ereignisordnungen, sondern mit sinnhaften Handlungssystemen zu tun hat, kann sich nicht auf die subjektunabhängige Zeitordnung nach früher/später stützen und ihre Zeit mit der Bewegung des Lichts tautologisch setzen. Für sie wird die bewußtseinsmäßige, subjektiv-intersubjektive Zeiterfahrung der realzeitlich geordneten Daten zentral, also die Ordnung der Zeit und des HandeIns nach Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Der Begriff des HandeIns hat im Gegensatz zum Ereignisbegriff nur im Zusammenhang mit Zeiterfahrung einen Sinn 20 • Die Einbeziehung von Zeit und Zeit erfahrung wird in der heutigen Soziologie je nach Theorievariante verschieden weit gehen. Dabei verläuft die Haupttrennungslinie zwischen der sogenannten "verstehenden Soziologie" und der am Modell kausaler Erklärung orientierten Soziologie. So stellt Martins in seiner Arbeit über "Time and Theory in Sociology" fest: "All variants (erg.: of action theory, WB.) must take some ac count of time, if only because purposiveness is by definition future-directed, and such issues as the structure of human ,subjective time', its relationship to other modes of time ... must be considered with varying degrees of elaborateness, systematization and radicalness 21 ." Martins hat den unterschiedlichen Grad der "Zeitladung" in einer Reihe von Handlungstheorien untersucht und kommt zu dem Ergebnis, daß, abgesehen vom Strukturalismus, die phänomenologische Soziologie und der Symbolische Interaktionismus das Moment der "Zeit" am stärksten berücksichtigen, bzw. von ihrer Theoriekonstruktion her potentiell am besten bearbeiten können 22 • Ich werde deshalb die folgende Arbeit mit einem Rückgang auf die "Väter" der beiden genannten Theoriezweige eröffnen, um von dort her eine sichere Verbindung von soziologischer Theorie und Zeittheorie zu schaffen (Kapitell). Ist also grundsätzlich eine sinnorientierte "verstehende" Soziologie für dieses Vorhaben vorzuziehen, so ergeben sich z. B. aus dem Blickwinkel der soziologischen Systemtheorie berechtigte Zweifel an der Luhmann, Weltzeit, S. 103. temporal symbols are operative in the social image." In: Gunnel, J. G., Political Philosophy and Time, Middletown/Conn. 1968, S. 19. 20 VgL Bieri, P., Zeit und Zeit erfahrung, Frankfurt a. M., 1972, S. 162. 21 Martins, H., Time and Theory in Sociology, in: Approaches of Sociology, (Ed.) John Rex, London, Boston 1974, S. 255. 22 Martins, S. 250 f., siehe dort sein Schema zur Zeitbezogenheit soziologischer Handlungstheorien. 18
19 " •••
14
Einleitung und Problemstellung
Reichweite des Handlungsbegriffs, insbesondere im Hinblick auf die Konstitution komplexer sozialer Systeme. Unter dem Gesichtspunkt der Reichweite und des Grades der Ausarbeitung wäre für unser Thema also eher die funktionalistische Systemtheorie als theoretischer Rahmen zu wählen. Besonders günstig wäre eine Verknüpfung von systemtheoretischer, phänomenologischer und interaktionistischer Theorie. Daß in diesem Synthetisierungsversuch nicht Unvereinbares miteinander vereinbart werden soll, hat sich in der Luhmannschen Version der Systemtheorie bereits gezeigt, in die besonders Erkenntnisse der Phänomenologie E. Husserls eingeflossen sind; so spricht Bühl im Zusammenhang mit Luhmanns Theorie mit Recht von einem "verstehenden Funktionalismus"23. Die funktionalistische Systemtheorie enthält - obwohl als Gesellschaftstheorie angelegt und als "Sozialtechnologie" angegriffen alle Elemente einer "verstehenden Soziologie" und ermöglicht so m. E. am besten eine soziologische Behandlung der Kategorie der sozialen Zeit als einer sinnhaft in sozialen Systemen konstituierten Struktur. Die Systemtheorie im engeren Sinne der System/Umwelt-Theorie kann nun nicht den Anspruch erheben, allgemeine und umfassende soziologische Theorie zu sein. Sie ist nur eine "Supertheorie" unter mehreren und bedarf als Ergänzung der Evolutionstheorie und der Kommunikationstheorie. Alle drei "Supertheorien" sind gleich notwendig zur vollen Erfassung ihres Gegenstandes "Gesellschaft" in allen seinen Dimensionen 24 . Eine Arbeit, die sich den "Einbau" der Kategorie der "sozialen Zeit" in allgemeine soziologische Theorie zum Ziel setzt, wird dieser Dreiheit von Supertheorien in ihrem Aufbau Rechnung tragen müssen, indem sie Zeit im Zusammenhang aller drei Theorien bestimmt. A. Systemtheorie (System/Umwelt-Theorie) - Sie ist im wesentlichen eine Theorie der Systemdifferenzierung, sie untersucht die Prozesse der Ausdifferenzierung und Grenzerhaltung von Systemen gegenüber ihrer Umwelt. Es muß und kann im Rahmen dieser Theorie gezeigt werden, wie sich soziale Systeme zeitlich gegenüber der Umwelt ausdifferenzieren, wie sie eigene Zeitstrukturen bilden, wie sie ihre Zeitgrenzen erhalten und wie sich eine Synchronisation mit anderen (physikalischen, organischen, psychischen und sozialen) Umweltsystemen herstellen läßt. Weiter muß untersucht werden, welchen Einfluß die funktionale Innendifferenzierung, die Ausbildung verschiedener Formen der Systembil-
23 Bühl, W. L., Einleitung. Die alte und die neue Verstehende Soziologie, in: Verstehende Soziologie, Hrsg. W. L. Bühl, München 1972, S. 7 - 76, S.7. 24 Luhmann, N., Systemtheorie, Evolutionstheorie und Kommunikationstheorie, in: ders., Soziologische Aufklärung Bd.2, Opladen 1975, S. 193 - 203, S. 193 ff.
Einleitung und Problemstellung
15
dung und die Komplexität von Systemen auf die Ausformung sozialer Zeitstrukturen besitzen.
B. Evolutionstheorie - Im Rahmen dieser Theorie muß einmal untersucht werden, welche Rolle dem sozialen Zeitbewußtsein und seiner Entwicklung im Rahmen der sozialen Evolution zukommt, zum anderen, ob die Annahme einer Evolution der gesellschaftlichen Zeitstrukturen überhaupt gerechtfertigt ist. Dazu bedarf es einer historischen Rekonstruktion der Formen des Zeitbewußtseins, eventuell der Konstruktion eines Phasenmodells, wie wir es für die ontogenetische Entwicklung kennen (vgl. Piaget - Kap. 2, Exkurs), und der übrigen Zeitund Handlungsstrukturen. Es ist dabei zu vermuten, daß im Laufe des evolutionären Prozesses auch die sozialen Zeitstrukturen ihre Form im Blick auf die notwendig werdende Verarbeitung höherer Komplexität hin verändert haben, d. h. abstrakter und differenzierter geworden sind. Evolutionäre Höherentwicklung bedeutete dann die Zunahme von Zeitbewußtsein und Zeitorientierung insgesamt. C. Kommunikationstheorie - In dieser Theorie, die von den drei genannten Theorien die bislang am wenigsten entwickelte ist, geht es um die Analyse der zeitlichen Struktur kommunikativen Verhaltens. Statthabende Kommunikation definiert für alle Beteiligten "Gegenwart" und darin impliziert die Zeithorizonte Vergangenheit und Zukunft. Hier wären zu untersuchen Fragen der sozialen Gleichzeitigkeit und Ungleichzeitigkeit, der kommunikativen Beziehungen zur Mitwelt, Vorwelt und Nachwelt in ihrer Zeitstruktur, der zeitlichen Struktur der generalisierten Kommunikationsmedien, sowie das Verhältnis von Sprache und Zeit (vgl. dazu: Kap. 7.1.2 Schrift und Zeit). Dieses umfangreiche Programm läßt sich natürlich im Rahmen einer Dissertation nicht realisieren. Deshalb mußte ausgewählt werden: die Wahl fiel auf die funktional-strukturelle System theorie (A), da sie gegenüber den beiden anderen Theorien die heute am weitesten ausgearbeitete Theorie ist, und da in ihrem Rahmen von Luhmann bereits wesentliche Vorarbeiten zu unserem Thema geleistet worden sind (vgl. Kapitel 2). Diese Entscheidung besagt jedoch nicht, daß Fragen der Evolution der Zeitstrukturen und die zeitlichen Strukturen von Intersystemkommunikationen etc. völlig außer acht gelassen würden. Die Arbeit ist im folgenden so aufgebaut, daß in einem 1. Teil die Arbeiten von Autoren vorgestellt und diskutiert werden, die das Zeitproblem bereits im Rahmen der von mir bevorzugten soziologischen Theorien in Angriff genommen haben. Dabei gehe ich für die phänomenologische Richtung auf Husserl und seine Analysen des inneren Zeitbewußtseins zurück und knüpfe daran grundlegende zeittheoretische überlegungen. Dem Zusammenhang von Zeit und Handlung wird
16
Einleitung und Problemstellung
dann anhand der Arbeiten von Mead nachgegangen, bevor ich abschließend auf Luhmanns funktional-strukturelle Theorie und seine Arbeiten speziell zum Thema "Zeit" komme. Auf ein zunächst geplantes und auch ausgearbeitetes Kapitel zur Theorie der sozialen Zeit von G. Gurvitch wird verzichtet, da sie ganz auf seinem höchst eigenen Entwurf einer "typologischen Soziologie" basiert, der es, wie auch Autoren wie Lüscher 25 und Rezsohazy 26 betonen, schwermacht, seine theoretischen Konstrukte in andere Theorien einzubauen 27 • Den Abschluß des ersten Teils, der im wesentlichen die Grundlagen und die Dimensionen eines soziologisch brauchbaren Zeitbegriffs sondieren soll, bildet der Entwurf eines soziologischen Zeitkonzepts, das die Arbeit an den konkreten systemtheoretischen Analysen im H. Teil leiten wird. Die Gliederung des 11. Teils folgt dann einer der funktional-strukturellen Systemtheorie innewohnenden Aufteilungs- und Zuordnungsstruktur.
Lüscher, S. 107. Rezsohazy, R., Temps social et developpement, Bruxelles, 1970, S. 21 - 22. 27 Gurvitch, Spectrum Die theoretische Inkompatibilität verhindert nicht, daß die Ergebnisse seiner Analysen brauchbar sind. So übernehme ich im Kapitel 6 Teile seiner Darstellung der Zeitstruktur von Feudalgesellschaften im Zusammenhang mit der Frage schichtenspezifischer Differenzierung von Zeitstrukturen. 25
26
TEIL I
Zeittheoretische und "zeitsoziologische" Grundlagen 1. Zeit, Zeitbewußtsein und Handlung
Zeit ist nur bestimmbar vom Verstehen der Zeit her, nur im Ausgang vom Zeitbewußtsein läßt sich das Wesen der Zeit bestimmen, was natürlich nicht die Subjektivierung der Zeit bedeuten muß. Entscheidend für den ontologischen Status der Zeit ist nicht der Ansatzpunkt beim subjektiven Zeitbewußtsein, sondern die Bestimmung des Bezuges von Zeitverstehen und Zeit. Was für die Soziologie hier in Frage steht, nämlich der Zusammenhang von Zeitbewußtsein und realer Zeit, haben andere Wissenschaften wie die Psychologie und die Psychophysiologie für sich dahingehend entschieden, daß sie die Frage des Ursprungs von Zeitbewußtsein gar nicht mehr stellen, sondern Zeitbewußtsein wie jedes andere Phänomen ihres Objektsbereichs als Geschehen in der Zeit auffassen l • Die Soziologie könnte die Fragen nach dem Ursprung und der Realität der Zeit ebenso überspringen, indem sie Zeit für ihren Objektbereich von vornherein als soziale Konstruktion auffaßt, also die Seinsfrage in die Sinnfrage umdenkt. Tatsächlich wird in den meisten soziologischen Arbeiten zum Problem der Zeit so verfahren, daß das Verhältnis von Veränderungsprozessen, Zeit und Zeitbewußtsein gar nicht zum Thema wird. Nur wenige Autoren wie Mead, Piaget und Luhmann, auf deren Erörterungen ich deshalb im folgenden zur Klärung und Bestimmung eines soziologisch brauchbaren Zeitbegriffs zurückgreifen werde, haben zumindest ansatzweise Fragen zum ontologischen Status von Zeit und Zeitbewußtsein behandelt. Ich meine deshalb, daß eine vorgängige Klärung der Beziehung von Subjekt und Objekt 2 , d. h. in diesem Fall von Zeitbewußtsein und Zeit, einer Analyse von Subjekt- und Objektseite je für sich vorausgehen muß. Weder kann man in der Soziologie Zeit einfach als Objekt soziologischer Erkenntnis ansetzen, noch die Grundlagen für die intersubjektive Zeitkonstitution unbefragt lassen. Nur eine erkenntnistheoretische Untersuchung kann diese Beziehung von Zeiterfahrung und Zeit aufdecken, deshalb kann auf eine Grundlagendiskussion für die Erarbeitung eines soziologischen Bieri, S. 187. Vgl. dazu: Baier, H., "Soziologie zwischen Subjekt und Objekt", in: Soziale Welt, 14, 1963, S. 278 - 296. 1
2
2 Bergmann
18
1.
Zeit, Zeitbewußtsein und Handlung
Zeitbegriffs hier nicht verzichtet werden. Es scheint mir deshalb sinnvoll zu sein, die Grundlagendiskussion im Zusammenhang mit den "Urvätern" der phänomenologischen und interaktionistischen Soziologie zu führen: also mit E. Husserl und seiner "Theorie der Zeitkonstitution im transzendentalen Bewußtsein" und mit G. H. Mead und seiner Theorie über den Zusammenhang von Temporalität und Sozialität. Dabei soll anhand der phänomenologischen Theorie und ihrer Kritik durch Bieri vor allem die Frage nach dem ontologischen Status der Zeit und nach dem Verhältnis von Zeit und Zeitbewußtsein (Zeiterfahrung) beantwortet werden, während dann im Rahmen der Meadschen "Theorie der Perspektive" die Verknüpfung von sozialer Handlung und Zeitbewußtsein dargestellt werden soll. 1.1 Die phänomenologische Theorie der Zeit
Die transzendentale Phänomenologie scheint auf den ersten Blick für die Klärung der Frage nach der Realität der Zeit denkbar schlecht gewählt zu sein, da in ihr aufgrund der transzendentalen Reduktion und des Rückgangs auf das transzendentale Bewußtseinsleben die Frage nach dem vorgängigen Sein oder Nicht-Sein von Welt und Zeit ausgeklammert wird. Damit fällt die Frage nach der Realität der Zeit in der transzendenten Welt und ihrer Abbildung im Bewußtsein des Menschen weg; die Phänomenologie fragt dann nur noch nach den subjektiven und intersubjektiven Bedingungen der Möglichkeit von Zeit und Zeitbewußtsein, d. h. nach der transzendentalen Konstitutionsweise. Doch gerade die extreme phänomenologische Position, die Konstitution von Zeit letztlich auf ein unzeitliches Bewußtsein zurückführen zu wollen, macht diese Zeittheorie für die "Realitätsfrage" interessant. Denn gelingt der Phänomenologie der Aufweis eines zeitkonstituierenden Bewußtseins, das selber keine zeitliche Struktur zur Voraussetzung oder in sich hat, dann ist die Zeit keine reale Weltstruktur und Zeit und Zeitbewußtsein fallen zusammen. Entsprechend ihres tranzendentalen Ansatzes muß die Phänomenologie Husserls davon ausgehen, daß die Zeit ein Modus der Subjektivität ist. Dieser erfordert nach Bieri 3 eine Konstitutionstheorie der Zeit, derzu folge ein Bedingungszusammenhang zwischen den verschiedenen Stufen der Zeiterfahrung besteht, derart, daß der jeweils komplexeren, höherstufigen eine einfachere zugrunde liegt. Damit diese Stufenordnung nicht in einen unendlichen Regreß führt, darf die unterste Konstitutionsstufe, auf der sich Zeitliches überhaupt erst konstituiert, selbst nicht zeitlich sein. Ist Zeit durch Subjektivität konstituiert, so sind Subjektivität und mit ihr die Zeiterfahrung als etwas zu interpretieren, 3
Bieri, S. 180.
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was selber nicht "in der Zeit" ist. Denn dasjenige, was Zeit erst konstituiert, kann ihr als Konstituiertem nicht selbst wieder unterliegen'. Die erkenntnistheoretische Frage nach der Möglichkeit von Zeiterfahrung ist zugleich die nach dem Wesen der Zeit. Dieses ist nur durch den Rückgang auf "eigentliche Erfahrung" zu ergründen, d. h. die Frage nach dem Wesen der Zeit wird zur Frage nach ihrem Ursprungs. Gemäß der Argumentationsstrategie Husserls müssen wir also zunächst nach der untersten, noch unzeitlichen Stufe fragen, um von dort aus aufbauend den Gang der Sinnaufstufungen zu komplexeren Formen des Zeitbewußtseins zu verfolgen. Husserl unterscheidet folgende drei Konstitu tionsstu jen: 1. den absoluten zeitkonstituierenden Bewußtseinsfluß; 2. die präempirische Zeit mit der Differenzierung von vergangen, gegenwärtig, zukünftig und mit dauernden und sich verändernden Bewußtseinsinhalten; 3. die Erfahrungsgegenstände in der objektiven Zeit, gegliedert nach Stufen des empirischen Seins6 •
1.1.1 Ausschaltung der objektiven Zeit Phänomenologische Analyse der Zeit ist Analyse des Zeitbewußtseins, dabei sind mittels der Epoche alle Annahmen über objektive Zeit auszuschalten. Husserl schließt damit keineswegs aus, daß jedes Erlebnis seine Stelle in der einzigen objektiven Zeit hat. "Aber das sind keine Aufgaben der Phänomenologie. So wie das wirkliche Ding, die wirkliche Welt kein phänomenologisches Datum ist, so ist es auch nicht die Weltzeit, die reale Zeit, die Zeit der Natur im Sinne der Naturwissenschaft ... 7" Husserl fragt nun, ob eine Analyse des Zeitbewußtseins nicht den weltzeitlich-objektiven Zeitverlauf, den "Zeitcharakter der Gegenstände der Wahrnehmung, Erinnerung, Erwartung"8 immer schon voraussetzen muß. Vorausgesetzt ist jedoch nach Husserls Meinung dabei nicht die Existenz einer realen Weltzeit, sondern "erscheinende Zeit" als solche, die für das Bewußtsein eine absolute Gegebenheit ist, deren Bezweiflung sinnlos wäre. Die Zeit der Erfahrungswelt, des transzendenten Seins ist ausgeschaltet, und es bleibt als "seiende Zeit" die "immanente Zeit des Bewußtseinsverlaufs" (§ 1). Jene ist mit dieser verbunden dadurch, daß das transzendente Sein ein intentionales , Bieri, S. 178. 5 Husserl, E., Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins, hrsg. v. R. Boehm, Den Haag 1966, Husserliana Bd. X, S. 9 (im folgenden zitiert als
HuaX). 6
7 8
Husserl, Hua X, S. 73 u. 286 - 287. Husserl, Hua X, S. 4. Husserl, Hua X, S. 5.
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Sein im immanenten Sein ist, daß es in ihm erscheint. Die Ordnungszusammenhänge, die in den Erlebnissen als echten Immanenzen zu finden sind, lassen sich nicht in der empirischen, objektiven Ordnung antreffen, sondern sind bewußtseins mäßig konstituiert. Husserl interessieren die Zeiterlebnisse nicht unter dem Aspekt ihrer weltzeitlichen Bestimmtheit, sondern in ihrem zeitlichen Sinn, darin, daß objektivzeitliche Ereignisse gemeint sind. Beide Ordnungen sind nicht kongruent: "Aber ohne weiteres ist z. B. ein empfundenes Zugleich nicht objektive Gleichzeitigkeit ... 9." Die Analyse der intentionalen Zeiterlebnisse soll durch den Aufweis der Konstitutionsweise das "Apriori der Zeit" deutlich machen. Apriori der Zeit meint den Aufweis essentieller Strukturen der Auffassungsinhalte und Aktcharaktere, die spezifisch zur Zeit gehören, also den Aufweis apriorischer Zeitgesetze der folgenden Art: "daß die feste zeitliche Ordnung eine zweidimensionale unendliche Reihe ist, daß zwei verschiedene Zeiten nie zugleich sein können," uswY). Phänomenologisch befragt werden müssen folglich die intentionalen Erlebnisse, insbesondere diejenigen, die erscheinendes Zeitliches intendieren. Welches Moment am Erlebnis erzeugt nun die Zeiterfahrung: der Erlebnisakt (Bewußtsein) oder der Auffassungsinhalt, wobei letzterer sich noch in reelle Inhalte (Empfindungen) und intentionale Inhalte (erscheinende Gegenstände) differenzieren läßt l l • Husserls Antwort: beide Momente; Zeitcharaktere, Sukzession und Dauer finden wir nicht bloß an den reellen Inhalten und den erscheinenden Gegenständen, sondern auch an den auffassenden Akten. "Eine Zeitanalyse, die sich auf eine Schicht 12 beschränkt, ist nicht zureichend, sie muß vielmehr beiden Schichten der Konstitution folgen I3 ." Als wichtig ist dabei im Auge zu behalten der Unterschied zwischen der Konstitution von Zeitobjekten und der Konstitution der Zeit selbst. Die transzendenten Objekte und Zeitobjekte (Zeitobjekte im speziellen Sinn sind Objekte, die die Zeitextension auch in sich enthalten)14 konstituieren sich in einer Mannigfaltigkeit immanenter Daten und Auffassungen, die selbst als ein Nacheinander ablaufen. Davon zu unterscheiden ist die Konstitution der Zeit selbst als Dauer und Sukzession l5 • Andererseits gehören beide Husserl, Hua X, S. 7. Husserl, Hua X, S. 10. 11 Man findet bei Husserl auch die Auf teilung in Bewußtsein, Erscheinung (immanentes Objekt) und transzendenter Gegenstand (wenn nicht ein primärer Inhalt immanentes Objekt ist) vgl. Hua X, S. 76. 12 Schichten der Konstitution meint hier nicht Konstitutionsstufen, sondern zwei Seiten eines Erlebnisses: die noetische und noematische. 13 Husser, Hua X, S. 17. 14 Husserl, Hua X, S. 23. 15 Husserl, Hua X, S. 22. 9
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Fragen eng zusammen und können nicht unabhängig voneinander gelöst werden, denn Zeit ist immer an "Inhalte" gebunden und kann deshalb selber nicht Datum sein, d. h. das Bewußtsein kann niemals nur "Zeit" präsent haben l6 • In seiner Analyse des inneren Zeitbewußtseins beschränkt sich Husserl auf immanente Zeitobjekte, d. h. er schaltet alle transzendenten Auffassungen und Setzungen aus. So kann Heidegger in seiner Einleitung zu den "Vorlesungen ... " auch schreiben: "Das durchgehende Thema der vorliegenden Untersuchung ist die zeitliche Konstitution eines reinen Empfindungsdatums und die solcher Konstitution zugrunde liegende Selbstkonstitution der ,phänomenologischen Zeit'17." Während in den intentionalen Erlebnissen ein transzendenter Gegenstand erscheint, sind in den Empfindungserlebnissen Empfindung und Empfundenes identisch. Dieses die Erlebnisse erlebende Bewußtsein pflegt man gegenüber dem auf die äußere Welt gerichteten Bewußtsein als das innere Bewußtsein zu bezeichnen l8 . Nachdem nun die entscheidenen Grundvoraussetzungen kurz erörtert worden sind, komme ich zur Deskription der Strukturen des Zeitbewußtseins zurück. Da sich die objektive Zeit als eine schon höherstufig konstituierte erwiesen hat, beginne ich auf der Stufe der präempirischen Zeit (Stufe 2) und gehe von dort aus zurück auf die fundierende Unterstufe des unzeitlichen Bewußtseinsstromes. Abschließend ist dann die Frage des Verhältnisses der Konstitutionsstufen zueinander zu klären.
1.1.2 Die Struktur des inneren Zeitbewußtseins Damit komme ich zum "Kernstück" der Husserlschen Zeittheorie: der Analyse von Jetztbewußtsein, Retention und Protention, "unter welchen Titeln die elementaren Formen von Bewußtsein beschrieben werden, kraft deren sich unsere Daten nach A-Bestimmungen geordnet und dem zeitlichen Werden unterworfen darstellen" 19. Diese Differenzierung des Zeitbewußtseins nach Jetztpunkt, Retention und Protention liegt der traditionellen Unterscheidung von Gegenwarts-, Vergangenheits- und Zukunftsbewußtsein noch konstitutiv voraus, denn die letzteren sind in sich bereits jeweils nach den ersteren geordnet. Zeichnen 16 Entscheidende Stelle: Wie kommt es zum Nacheinanderablaufen der Daten? Ist damit nicht bereits eine zeitliche Ordnung der Daten unabhängig vom Bewußtsein impliziert - wie Bieri es annimmt? Bieri, S. 183. 17 In: Husserl, Hua X, S. XXV. 18 Eigler, G., Metaphysische Voraussetzungen in Husserls Zeitanalysen, Meisenheim am Glan, 1961, S. 77. 19 Bieri, S. 189.
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wir Husserls Analyse der Erfassung von Zeitobjekten durch das Bewußtsein kurz nach: "Der Quellpunkt, mit dem die Erzeugung des dauernden Objekts einsetzt, ist eine Urimpression20." Diese Urimpression, die Eigler als "das Erleben des Empfundenen im inneren Bewußtsein" bezeichnet21 , ist derjenige Ablaufmodus, mit dem das immanente Objekt zu sein anfängt; sie ist charakterisiert als Jetzt. In stetigem Fortgang löst eine Urimpression die andere ab, während das Bewußtsein von der ersten Urimpression in ein Gewesen, d. h. in eine Retention übergeht. Diese Retention ist nun ihrerseits ein Jetzt. "Während sie selbst aktuell ist (nicht aber ihr Datum, nicht der retentional abgewandelte Ton z. B.), ist sie Retention von gewesenem Ton (d. h. dieser ist nicht reell im retentionalen Bewußtsein vorhanden, WB.)22." Die Vergangenheitsanschauung ist keine Verbildlichung, kein Nachhall des urimpressional Aufgefaßten, sondern sie ist originäres Bewußtsein und gehört deshalb zum Jetzt hinzu. So wie sich die Urimpression in die Retention abschattet, so unterliegt auch die Retention dem Gesetz der Modifikation, geht also in die Retention der Retention über. Daraus ergibt sich ein Kontinuum von Retentionen, dergestalt, daß jeder vorangegangene Punkt Retention ist für den folgenden. Diese Kontinuität von Retentionen ist selbst immer ein Punkt der Aktualität, der sich retentional abschattet. Mit dem neuen Jetzt wandelt sich das vorausgegangene in ein Vergangen, und dabei rückt die gesamte Ablaufkontinuität der Retentionen gleichmäßig "herunter" in die Tiefe der Vergangenheit. Mit diesem Herabsinken von Urimpressionen in die Vergangenheit ist eine Abschwächung, ein Abklingen der Impression verbunden, bis hin zu ihrem Verschwinden aus dem aktuellen Zeitfeld. Dabei verändert das retentional Festgehaltene seinen Inhalt nicht, sondern wird nur zeitlich modifiziert. Husserl zieht daraus den Schluß, daß das originäre Zeitfeld offenbar ebenso begrenzt ist wie ein aktuell erfaßbares Wahrnehmungsfeld, wobei er zusätzlich annimmt, "daß das Zeitfeld immer dieselbe Extension hat"23. Die Retention hat ihr Gegenstück in der Protention, die in Form der Erwartung, des Vorgreifens auf die kommende Erlebnisphase auftritt. In der Protention wird Zukunft leer konstituiert 24 • Die Protention kann sich erfüllen, wenn die intendierte Erlebnisphase eintritt, kann aber auch enttäuscht werden, d. h. offen bleiben. InsgeHusserl, Hua X, S. 29. 21 Eigler, S. 83. 22 Husserl, Hua X, S. 29. 23 Husserl, Hua X, S. 3I. 24 Husserl, Hua X, S. 52. 20
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samt gesehen ist die Analyse der Protention bei Husserl im Vergleich zur Retention Desiderat geblieben. Ich fasse zusammen: Erlebnisse als immanente Zeitobjekte (das Gesagte gilt auch parallel für transzendente Objekte) erscheinen als dauernde in stetig sich abwandelnden Erlebnisphasen: die protentional vorgreifenden Phasen erfüllen sich in der Jetztphase, die dann wiederum retentional festgehalten wird. "Wir haben also eine ganze Kontinuität von Ablaufphasen vor uns, in denen sich das ,Objekt im Ablaufmodus' jeweils wandelt und doch als Objekt schlechthin einheitlich, eben als immanente zeitliche Einheit der Dauer ,erscheint'25." Die einzelnen Zeitstellen (Jetzte) wandern aus der Zukunft (Protention) in die Gegenwart und dann in die Vergangenheit (Retention). Durch diesen Ablauf, der nach Meinung Eiglers der Raumbewegung analog gedacht ist, bildet sich für Husserl eine einheitliche, seiende Zeit. Eigler fragt nun, ob eine Interpretation des "Jetzt" am Schema der Dingbewegung zulässig ist und welches die Voraussetzungen für sie sind. Die erste Voraussetzung ist die Parallelität von Raum und Zeit. Diese Orientierung an der Raumbewegung begründet auch den "Fluß der Zeit": die Zeitstellen wandern aus der Zukunft ins aktuelle "Jetzt", um dann in die Vergangenheit zurückzusinken. Diese Auffassung macht die Fundamente der abendländischen Philosophie sichtbar, die auch der Phänomenologie zugrunde liegen: die Welt wird in Bewegung gedacht, und die Zeit ist etwas an dieser Bewegung. "Sein ist im Fluß der Zeit jetzt Anwesen, alles andere ist nicht 26 ." Obwohl Husserl die Weltzeit ausschaltet, bleibt er in seiner Fassung der immanenten Zeit doch an ihr orientiert, da beide sich deutlich an der Raumbewegung orientieren. So bleibt Husserls Zeitinterpretation letztlich an die Bewegung in der Welt des Seienden gebunden. Die andere Voraussetzung betrifft das Jetzt in seinem immer aktuellen Sein. Dieses Jetzt ist kein Ding, sondern Horizont, in dem alles Seiende erscheint - und als dieser Horizont ist es immer dasselbe. Dieses Jetzt, das nicht eine verfließende Zeitstelle ist, ermöglicht als Horizont des "Anwesens" so etwas wie Zeitstellen, wie Zeitdauer etc. Diese Auffassung vom Charakter des "Jetzt" führt letztlich zur Aufgabe der transzendentalen Konstitution des Seins als Jetzt-Sein und damit zur Aufgabe der zeitlosen Struktur der transzendentalen Subjektivität. Konsequenzen, die Husserl sicher nicht zu ziehen bereit wäre. Ich komme später in der Kritik Bieris an den Grundlagen der Phänomenologie der Zeit auf diesen Punkt noch zurück. 25 26
Eigler, S. 80. Eigler, S. 109.
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Auf der Stufe der präempirischen Zeit, von der allein bisher die Rede war, konstituieren also die Urimpressionen mit ihren intentionalen Modifikationen den dauernden Gegenstand oder besser die Dauer des Gegenstandes - also seine Zeit. Die drei begrenzten Felder des retentional, impressional und protentional Bewußten bilden das einheitliche aktuelle Zeitfeld des Bewußtseins. Dieses Feld ist fix, nur das impression al Jetzige, das retention al Vergangene etc. wechselt, d. h. es treten immer neue konstituierte Einheiten auf.
1.1.3 Die Stufe des zeitkonstituierenden Bewußtseinsstroms Im Unterschied zu den konstituierten Einheiten, die in der präempirischen und in der objektiven Zeit dauern und kontinuierlich ablaufen, deren Sein Ruhe oder Veränderung ist, kann man die konstituierenden Phänomene als Fluß verstehen, "und jede Phase dieses Flusses ist eine Abschattungskontinuität"27. Das Bewußtsein in seinen innersten Synthesen - denen des inneren Zeitbewußtseins - muß als intentionales, konstituierendes Leisten begriffen werden: eben als Schaffung eines einheitlichen Zeithorizonts immanenter Zeit sowie der Zeit der elementaren Einheiten, in denen alles Erfahrbare überhaupt zur Erfahrung kommen kann28 . Wie ist es nun zu denken, daß dieser Bewußtseinsstrom nicht selber schon zeitlich geordnet ist?
Eigler gibt darauf die Antwort, daß dieser Fluß eine unwandelbare Struktur hat; er gibt sozusagen die Bewegungsgesetze der retentionalen Flüsse an. "Die Zeit ist starr und doch fließt die Zeit 29 ." Der Zeitfluß wird als Stellenmannigfaltigkeit begriffen, die jeweils als Ganzes fließt, aber hinsichtlich des Stellengefüges starr bleibt. Die ständige Konstitution eines neuen "Jetzt" hält die Zeit im Fließen, die Ständigkeit der Konstitution bewahrt die Starrheit. Der Bewußtseinsstrom ist also das Prinzip der Veränderung, ohne sich selbst zu verändern. Er ist in stetigem, immergleichen Verlauf, er kann weder schneller noch langsamer laufen, denn es fehlt ein Objekt, das sich verändern könnte. Sofern in jedem Vorgang "etwas" vorgeht, handelt es sich hier um keinen Vorgang 30 • "Die Erlebnisphasen des ursprünglichen zeitkonstituierenden Bewußtseins sind als zeitkonstituierende jenseits aller Zeit, weil vor der Zeit31 ." Husserl selbst gibt auf unsere Frage die folgende Antwort: "Dieser Fluß ist etwas, das wir nach dem Konstituierten so nennen, aber es ist nichts zeitlich ,Objektives'. Es ist die absolute Subjek27 Husserl, Hua X, S. 74. 28 Eigler, S. 90. 29 Husserl, Hua X, S. 64. 30 Husserl, Hua X, S. 74. 31 Husserl, Hua X, S. 86.
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tivität und hat die absoluten Eigenschaften eines im Bilde als ,Fluß' zu Bezeichnenden, in einem Aktualitätspunkt, Urquell punkt, ,Jetzt' Entspringenden usw .... Für all das fehlen uns die Namen 32 ." Die Zeitbildung beruht selbst auf einer unzeitlichen Struktur, von der man nicht sinnvoll sagen kann, daß sie sich verändere, noch daß sie dauere. Das absolute Bewußtsein kennt kein früher und später; es konstituiert immer den gleichen Bereich: die Gegenwart mit Vergangenheits- und Zukunftshorizonten. Fließend ist nur das Erfahrbare - es fließen die konstituierten Einheiten und nicht der Bewußtseinsstrom33 • Ich habe Husserl zu diesem Problem so ausführlich zitiert, um zu verdeutlichen, wie schwer sich in unserer "zeitdurchsetzten" Sprache eine unzeitliche Struktur beschreiben läßt. Es bleibt jedoch zu fragen, ob diese Schwierigkeiten in der Beschreibung allein der Struktur unserer Sprache zuzuschreiben sind, oder ob nicht auch sachliche Gründe dafür verantwortlich sind. Letzteres wird durch Bieris Einwand wahrscheinlich, in dem die Unzeitlichkeit des Bewußtseinsstroms begründet bezweifelt wird (s. Kap. 1.1.4). Doch sehen wir uns zunächst noch die Zeitkonstitution des Bewußtseinsflusses näher an. Der Charakter des Flusses kommt allen Bewußtseinsakten zu. In diesem Fluß konstituiert sich die Erscheinung eines immanenten Objekts innerhalb der einen immanenten Zeit in einer spezifischen Dauer. Alles Konstituierte ist Resultat einer beständigen Weltkonstitution, die eine Jetzt-Konstitution und eine Vergangenheits- und Zukunfts konstitution ist. Weltkonstitution ist in ihrem innersten Kern Zeitkonstitution. Diese Konstitution geschieht in den impressionalen, retentionalen und protentionalen Erlebnisabläufen des inneren Zeitbewußtseins 34 . Die immanente Zeit ist als einheitlich für alle immanenten Objekte konstituiert. Dazu korrelativ ist auch das Zeitbewußtsein eine Alleinheit, auch wenn man reflexiv eine Vielzahl von einzelnen Flüssen, d. h. anfangenden Urempfindungen und ihren Modifikationen unterscheiden kann, so besitzen doch alle eine gemeinsame verbindende Form, sind umfassend in der Einheit des Bewußtseins synthetisiert. Husserl unterscheidet zwischen zwei Formen der Einheit, zwei Formen des "Zusammen"35: es gibt einmal ein Zusammenauftreten von Urempfindungsbewußtsein und kontinuierlichen Reihen von Ablaufmodis "früherer" Urempfindungen; dieses Zusammen der form verschiedenen Modi im Bewußtsein ist konstitutiv für die Verhältnisse zeitlicher Folge, während ein " Zusammen " formidentischer Modi wie gemeinsam beginnende Urempfindungen und deren parallel verlaufenden Modifikationen "Grundstück für Konsti32 33 34
35
Husserl, Hua X, S. 75. Eigler, S. 98. Dazu: Eigler, S.97. Husserl, Hua X, S. 78.
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tution der Gleichzeitigkeit" ist 36 . Gleichzeitig ist also alles, was identisch dieselbe Zeitstelle hat und in gleicher Weise retentional sich modifiziert. Gleichzeitig ist demnach, was in einer Phase des Jetzt als seiend konstituiert wird. Diese gleichzeitigen Inhalte können auch weiter gemeinsam dauern. Entsprechend der Alleinheit des Bewußtseins können diese beiden genannten Formen des "Zusammen" nicht isoliert auftreten, sondern Gleichzeitigkeit und Folge müssen sich korrelativ und unabtrennbar zusammen konstituieren. Diese zeitliche Ordnung gilt nur für die noematische Seite, also für die immanenten Zeitobjekte, denn gleichzeitig oder nacheinander sind z. B. eine Farbe und ein Ton, nicht aber Urempfindungen und ihre retentionalen Abwandlungen - diese bei den Komponenten müssen getrennt werden. Andererseits bildet jedoch ein zu einem Objekt gehöriger "abgelaufener" Fluß eine Einheit im Bewußtsein, die ich in der Erinnerung erfassen kann. Das heißt: der Bewußtseinsstrom konstituiert zugleich eine immanente Objekt- und Zeiteinheit und seine eigene Einheit als Fluß. Begründet ist diese Möglichkeit in der doppelten Intentionalität der Retention: Retention ist einmal gerichtet auf die Konstitution eines immanenten Objektes, indem die verflossenen Urimpressionen retention al bewußt gehalten werden. Auf diese Weise konstituiert sich die immanente präempirische Zeit, in der es Dauer und Veränderung gibt. Husserl nennt diese erste Form der Intentionalität: "Querintentionalität"37. Die andere Intentionalität ist konstitutiv für die Einheit der retentionalen Abwandlungen im Bewußtseinsstrom, Husserl nennt sie "Längsintentionaliät". Vermöge dieser Längsintentionalität kann sich die Einheit des Flusses als eine "eindimensionale, quasi-zeitliche Ordnung" im Bewußtsein konstituieren 38 . Diese Selbstbezogenheit des Bewußtseinsstroms heißt bei Husserl die "Selbsterscheinung des Flusses"39; sie erfordert nicht die Verdoppelung des Flusses, sondern der eine Bewußtseinsstrom konstituiert sich in sich selbst als phänomenale Einheit, wobei die konstituierenden und konstituierten Phasen nicht identisch sind. Die Zeitlichkeit des zeitkonstituierenden Bewußtseinsstromes nennt Husserl auch "präphänomenale, präimmanente Zeitlichkeit"40. Über den Stufen des (1) absoluten zeitkonstituierenden Bewußtseins, mit einer präphänomenalen Zeitlichkeit und (2) des subjektiven Zeitbewußtseins mit seiner immanenten Zeit erhebt sich sich als 3. Stufe die intermonadische Zeit, die gemeinsame Zeitform, in der jedes subjektive 36 37 38 39 40
Ebd. Husserl, Hua X, S. 82. Husserl, Hua X, S. 82. Husserl, Hua X, S. 83. Ebd.
1.1 Die phänomenologische Theorie der Zeit
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Zeitbewußtsein mit anderen Zeitbewußtseinen koexistiert. Die transzendentalen egos sind in zeitlicher Gemeinschaft und konstituieren korrelativ zu ihrer jeweiligen Gemeinschaft eine objektive Zeit, die Husserl auch Weltzeit nennt 41 • Auf diese Stufe gehört auch die intersubjektive Konstitution von sozialen Zeiten, jeweils bezogen auf eine zeitkonstituierende intersubjektive Gemeinschaft. Hier liegt also der Anknüpfungspunkt für eine soziologische Theorie der Konstitution sozialer Zeit, doch interessiert im Moment zur Entscheidung der Frage nach dem ontologischen Status der Zeit diese höhere Konstitutionsstufe nicht - die Entscheidung ist vielmehr abhängig vom Nachweis der Zeitlichkeit oder Unzeitlichkeit des Bewußtseinsstroms auf der untersten Stufe: dem absoluten Bewußtsein. Die "Phänomenologie des Zeitbewußtseins" ist nicht unwidersprochen geblieben. Ich werde mich deshalb im folgenden mit einem Einwand auseinandersetzen, der nicht auf einige periphere Resultate der Theorie zielt, sondern auf ihre Grundlage. Ist der Einwand stichhaltig, wäre die phänomenologische Zeittheorie nur als eine Theorie der Zeiterfahrung, nicht aber als Theorie der Zeit anzusehen.
1.1.4 Reale Zeit und Zeitbewußtsein - Bieris Einwand Bieri diskutiert in seinem Buch "Zeit und Zeiterfahrung" die Frage, ob und wie die Existenz einer realen Zeit angenommen werden könnte; einer Zeit, die nicht durch subjektive oder intersubjektive Leistungen (= objektive Zeit) konstituiert wird, sondern die unabhängig davon, ob sie erfahren wird oder nicht, existiert. Nachdem er in seiner Arbeit bis dahin alle Irrealitätsbeweise der Zeit hatte abweisen können, sieht Bieri im Fall der phänomenologischen Zeittheorie die Chance, den Realitätsbeweis positiv zu führen. Dieser Beweis kann gelingen, wenn man zeigen kann, "daß sich Zeiterfahrung, auf die Zeit durch diese (ergänze: die phänomenologische, WB.) Position reduziert wird, nur verständlich machen läßt, wenn man eine Zeitstruktur bereits voraussetzt und damit annimmt, daß sie selber ein Geschehen in der Zeit ist, ••• "42. Es muß also nachgewiesen werden, daß die von uns oben herausgearbeitete unzeitliche Struktur des absoluten Zeitbewußtseins, das alle Formen der Zeit konstituieren soll, keineswegs unzeitIich ist, sondern eine nicht-konstituierte, reale Zeit zur Voraussetzung hat. Dazu muß Bieri auf der untersten Stufe des zeitkonstituierenden Bewußtseins ansetzen, da nur diese als unzeitlich angenommen wird und da hinter sie 41 Husserl, E., Cartesianische Meditationen und Pariser Vorträge, Husserliana Bd. I, hrsg. v. S. Strasser, Den Haag 1973 (2. Aufl.) S. 156 (im folgenden zitiert als Hua I). 42 Bieri, S. 178.
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1. Zeit, Zeitbewußtsein und Handlung
nicht weiter transzendental zurückgegangen werden kann. Die Aufhebung der transzendentaltheoretischen Einschränkung von Zeit auf die Erfahrung von Zeit - also die Reduktion der realen Welt auf Erfahrungsstrukturen, die den konstituierten Gegenständlichkeiten vorausliegen - ist nun nach Bieris Meinung im Fall der Zeit und nur in ihrem Fall möglich: "Die Erfahrung von Zeit kann zusammen mit der Erfahrung von der Zeit dieser Erfahrung auftreten"43, während räumliche Erfahrung sich nicht selbst räumlich im Bewußtsein darstellt. Den Grund für diese strukturelle Gleichartigkeit von Erfahrungsstruktur und Inhaltsstruktur im Fall der Zeit sieht Bieri in ihrer "Universalität" begründet. An drei Punkten in Husserls Theorie des Zeitbewußtseins meint Bieri zeigen zu können, daß Husserl bei der Deskription des zeitkonstituierenden Bewußtseins "faktisch auf Zeitstrukturen, die nicht erst durch es konstituiert sein können" zurückgreift 44 . (1) In der Darstellung der Wandlung des Jetzt in ein Gewesen, also in der Modifikation muß Husserl - wie oben schon angedeutet - auf eine vorgängige Ordnung des Zeitbewußtseins nach B-Relationen zurückgehen. Das gleiche gilt für ein adäquates Verständnis des Retentionskontinuums, das nur durch B-Relationen interpretierbar ist, da jeweils auch innerhalb der Vergangenheit noch zeitliche Unterschiede nach Vorher/Nachher möglich sein müssen. (2) Entgegen der behaupteten Unzeitlichkeit des Bewußtseins gibt Husserl an anderer Stelle zu, wahrscheinlich um der Evidenz der zeitlichen Ordnung des Bewußtseins Rechnung zu tragen: "Der Fluß des Bewußtseins ist zwar selber wieder eine Aufeinanderfolge, ... 45." Dieser Satz wird von Bieri als Eingeständnis gewertet, daß diese Aufeinanderfolge letztlich als reale Zeitstruktur aufgefaßt werden muß46. (3) Die dritte Schwachstelle ist der wenig entwickelte Komplex der Protention, und darin besonders das Problem der Erfüllung einer zunächst "leer" konstituierten Zukunft. Es ergibt sich nämlich die Frage, wie die Daten, die im Bewußtsein die Protention dann im Jetzt erfüllen, geordnet sind. Die Möglichkeit einer völligen Ungeordnetheit der Daten ist nicht auszuschließen, widerspricht aber der Regularität, nach der unsere Erwartungen immer erfüllt werden. Man muß also annehmen, daß sich die Daten selbst schon in einer zeitlichen Ordnung befinden, was wiederum die Annahme einer realen Zeit rechtfertigt. Bieris Fa43 Bieri, S. 179. 44 Bieri, S. 191. 45 Husserl, Hua X, S. 332. 46 Dagegen Husserl: "Da steckt der Grundfehler. Der Fluß der Bewußtseinsmodi ist ein Vorgang, das Jetzt-Bewußtsein nicht selber jetzt." H. war sich darüber im Klaren, daß die Unzeitlichkeit der letzten transzendentalen Struktur Bedingung ist für eine transzendentale Konstitutionstheorie (Husserl, Hua X, S. 333).
1.1 Die phänomenologische Theorie der Zeit
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zit: Auch eine Theorie des Zeitbewußtseins kommt nicht ohne die Annahme einer realen Zeit aus 47 • Nur ein gewichtiges Argument läßt sich diesen Einwänden gegenüber einer phänomenologischen Zeittheorie entgegenstellen. Wie Bieri auch selbst zugibt, ist es möglich, daß wir angesichts der Universalität der Zeit in der Erfahrung auch das Bewußtsein in seiner Selbstauslegung als zeitliches Geschehen auslegen, weil wir gar nicht anders können. "Es könnte sich auch hier um einen leicht unterlaufenden Fehler in der Selbstverständigung des Bewußtseins handeln: sich durch Strukturen zu interpretieren, die es erst möglich macht 48 ." Dieses Kantische Argument könnte dadurch gestützt werden, daß Husserl bei der Beschreibung des nicht-zeitlichen Bewußtseinsstroms auf die Problematik der richtigen Namen hinweist, da unsere zeitdurchsetzte Sprache die Beschreibung einer unzeitlichen Struktur kaum zuläßt. Mit diesem Einwand wird die Realitätsannahme der Zeit nicht widerlegt, doch wird das Realitätsproblem unentscheidbar. Wenn also die transzendentale Zeittheorie letztlich nicht zu widerlegen ist, da ihr stets der eben genannte Ausweg offen bleibt, so hat der Opponent nur die Möglichkeit, eine Alternativtheorie vorzuschlagen, die das Phänomen unter Rekurs auf die reale Zeit "besser" erklären kann, d. h. wenn sie für die Annahme einer realen Zeit eine größere Erklärungskraft nachweisen kann. Auch damit ist natürlich die transzendentale Theorie nicht zu widerlegen, doch bleiben ihre Einwände im Fall der Existenz einer erklärungsstarken Alternativtheorie formalistisch 49 • Bieri versucht als alternative Theorie eine konstruktive Theorie des Zeitbewußtseins zu entwerfen, die die Momente zu rekonstruieren in der Lage ist, die Voraussetzung einer transzendentalen Theorie der Zeit sind, d. h. also Momente, die wir nicht als "Bewußtsein" ansprechen können. Diese Intention führt auf folgende Fragestellung: "Unter welchen Bedingungen organisieren sich bewußte Daten so, daß sie ein ,Bewußtsein' bilden, in dem sie sich nach A-Bestimmungen geordnet und dem zeitlichen Werden unterworfen darstellen? Muß man diese Bedingungen mittels zeitlicher Bestimmungen formulieren oder sind sie auch ohne Bezugnahme auf eine reale Zeit verständlich?50." Außerdem muß im Anschluß daran noch geklärt werden, ob nur die B-Reihe oder ob auch die A-Reihe als reale Zeitstrukturen anzusehen sind. 1. Damit überhaupt von Bewußtsein - und von Zeitbewußtsein gesprochen werden kann, ist Voraussetzung eine Mannigfaltigkeit von
Bieri, S. 199. Bieri, S. 201. 49 Bieri, S. 203. 50 Bieri, S. 205. 47
48
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1. Zeit, Zeitbewußtsein und Handlung
Daten. Diese lassen sich nur schwer als unzeitlich oder als überhaupt ungeordnet denken; d. h. eine realzeitliche Ordnung dieser Daten ist wahrscheinlich. 2. Das Auftreten von Zeitbewußtsein ist weiterhin an die Voraussetzung geknüpft, daß sich diese Mannigfaltigkeit von Daten inhaltlich verändert, und daß jedes Datum einige Zeit im Bewußtsein verbleibt. Außerdem ist Voraussetzung eine Veränderung in der Darstellung der Daten, denn das Bewußtsein ordnet eine Datenfolge in eine A-Reihe: Urimpressionen und retention ale Abwandlungen.
3. Eine dritte Bedingung für das Funktionieren des Zeitbewußtseins ist die "Einheit des Bewußtseins"51, denn nur so kann ein Bewußtsein von A-Relationen entstehen. Wie diese Einheit zu verstehen ist, ob die Annahme einer Gleichzeitigkeit von Daten (geordnet nach der B-Reihe) für die Beschreibung ausreicht, oder ob man Bewußtsein als unzeitliche Struktur verstehen will, dessen Einheit unabhängig von der Einheit der Zeit besteht, bleibt offen. Die erste Annahme besitzt allerdings ein höheres Maß an Plausibilität. Bieri hat den Nachweis der Realität der Zeit auch für die intersubjektive Zeiterfahrung geführt. Er geht dabei aus von dem Sachverhalt, "daß sich im Bewußtsein verschiedener Personen dieselben zeitlichen Verhältnisse darstellen"52. Wenn also die bewußten Daten verschiedener Bewußtseine in einer zeitlichen Beziehung zueinander stehen und wenn diese Beziehung nicht über bereits bewußtseinsunabhängig bestehende zeitliche Relationen der Bewußtseinsdaten hergestellt werden kann, dann muß ein subjektives Zeitbewußtsein zur Herstellung der Intersubjektivität der Zeit dreierlei leisten: 1. "seine eigenen Daten als zeitlich konstituieren", 2. "dieselbe Konstitution bezüglich fremder Daten vornehmen" und 3. "zeitliche Verhältnisse zwischen diesen bei den herstellen"53. Bieri hält dies für einen "absurden Gedanken" und schlägt statt dessen eine plausiblere Lösung unter der Annahme einer realen B-Struktur vor: "Verschiedene Personen können sich über die Gegenwart eines Erzeugnisses einfach deshalb einigen, weil das ihm entsprechende Datum in ihrem Bewußtsein sowohl gleichzeitig mit denjenigen anderer Personen auftritt als sich auch gleichzeitig damit als ,gegenwärtig' darsteIW 4 ."
Diese Argumente reichen nach Bieri aus für den Nachweis, daß "Zeiterfahrung nur als ein Geschehen in der realen Zeit verständlich ist"55. Die realen Ereignisse stellen sich jedoch stets nur nach B-Relationen 51 Bieri, S. 208. 52 Bieri, S. 213. 53 Bieri, S. 215. 54 Bieri, S. 213. 55 Bieri, S. 210.
1.1 Die phänomenologische Theorie der Zeit
31
geordnet dar, d. h. die Veränderung von Daten und die Einheit des Bewußtseins können mit der Relation "früher als", "später als" und "gleichzeitig mit" erklärt werden. Bei der A-Reihe scheint es sich dagegen um einen Darstellungsmodus von Subjektivität zu handeln: Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft bleiben subjektive Zeitbestimmungen. Bieri nennt das Zeitbewußtsein die Form der Selbstdarstellung der Zeit 56• Zeiterfahrung ist demnach ein durch eine reale Zeitstruktur bestimmter Zusammenhang von Ereignissen oder Erlebnissen, der die Eigentümlichkeit besitzt, die zeitliche Ordnung, in der er steht, selber darstellen zu können. Die reale Zeit der B-Reihe stellt sich in dem Bewußtsein, dessen Daten sie ordnet, durch A-Bestimmungen dar. Zeiterfahrung meint also unter der Annahme einer realen Zeit nicht die Kenntnisnahme dieser realen Zeit, denn dieses Verhältnis wäre zirkulär, sondern die Umformung und Darstellung dieser realen Zeit in einer spezifisch bewußtseinsmäßigen Ordnung. Wir haben also als Ergebnis von Bieris Einwand festzuhalten, daß die A-Reihe weiterhin als vom Bewußtsein konstituiert angesehen werden kann, wie es ja auch die phänomenologischen Analysen Husserls aufgewiesen haben, daß aber entgegen dem transzendentalen Ansatz das Zeitbewußtsein selbst nicht als unzeitlich, zeitkonstituierend gedacht werden kann bzw. gedacht werden sollte, sondern der Vorgegebenheit einer realen Zeitordnung bedarf. Ich gehe in der vorliegenden Arbeit über soziale Zeit und Zeitbewußtsein von folgenden philosophischen Grundannahmen aus: Für die menschliche Erfahrung ist etwas "in der Zeit", wenn: 1. Ereignisse nach den Relationen "früher als", "gleichzeitig mit" und "später als" geordnet sind. Diese Zeitordnung ist unveränderlich. Sie ist als reale Zeitstruktur vom erfahrenden Bewußtsein unabhängig. Wir nennen sie nach McTaggert die B-Reihe57 •
2. Ereignisse nach "vergangen", "gegenwärtig" und "zukünftig" unterschieden werden. Diese Ordnung ist nicht "konstant", sie stellt eine Struktur des menschlichen Zeitbewußtseins dar, ist also eine subjektivintersubjektive und keine reale Struktur. Nach McTaggert nennen wir sie die A-Reihe. Aus diesen beiden Voraussetzungen kann man folgenden Schluß auf das Verhältnis der beiden Zeitordnungen zueinander ziehen: Bieri, S. 218. Bieri, S. 16; vgl. dazu: McTaggert, J. E., The Nature of Existence, Cambridge 1968 (2. Aufi.) §§ 305/6; vgl. von der Physik her bestätigend: Hund, F., Die Zeit in der Begriffswelt des Physikers, in: Studium Generale, 8, 1955, S. 469 - 476. 56
57
32
1.
Zeit, Zeitbewußtsein und Handlung
3. Das Zeitbewußtsein, das seine bewußten Daten nach der A-Reihe ordnet, basiert auf Daten, die realiter nach der B-Reihe geordnet sind, so daß das einer "A-Bestimmung jeweils zugeordnete Darstellungsgeschehen ebenso realen B-Relationen unterliegt"58.
1.1.5 Konsequenzen für einen soziologischen Zeitbegriff Als Bedingung der Möglichkeit von Zeiterfahrung und Zeitbewußtsein hat die bisherige Diskussion die Existenz einer realen Zeitstruktur außerhalb des Bewußtseins als plausibel aufgewiesen. Jede sinnhafte subjektive und intersubjektive Konstitution bedarf eines Substrats, z. B. zeitlich geordnete Empfindungsdaten, das eine bewußtseinsmäßige "Konstruktion" der Zeit nach A-Bestimmungen erlaubt. In der Soziologie müssen wir also zwei Typen von Ereignisordnungen unterscheiden: 1. die subjektiv-intersubjektiv konstituierte zeitliche Ordnung der Welt nach Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft - also die eigentliche soziale Zeit, und 2. die reale nach früher-gleichzeitig mit-später geordnete Weltstruktur, die wir als stetige Veränderung oder Bewegung der Welt erfahren und die Bedingung ist für die bewußtseinsmäßige Zeitkonstitution. Es kommt nun nicht darauf an, ob man diese grundlegende B-Struktur schon als Zeit im engeren Sinne auffaßt, oder ob man sie als Wandel, Veränderung oder Bewegung bezeichnet. So schreibt Luhmann: "It begins by making a clear distinction between movement, process, or experience of change on the one hand, and the cultural constitution of time as a generalized dimension of meaningful reality on the other59 ." Entscheidend ist vielmehr, daß das subjektive oder intersubjektive Zeitbewußtsein selbst keine unzeitliche Struktur besitzt und daß es somit nicht aus sich so etwas wie die Zeit überhaupt erst hervorbringt. Wir müssen also in der Soziologie eine Schicht subjektiver-intersubjektiver Zeit von einer zeitlich geordneten Verlaufsstruktur der Welt selbst unterscheiden, können allerdings letztere nicht einfach vernachlässigen, da diese Veränderungsprozesse als Substrat für differierende Konstitutionen sozialer Zeit fungieren. Der Vergleich mit Luhmanns Überlegungen "Toward a Concept of Time", die ebenfalls von der Phänomenologie ausgehen, zeigt, daß unsere Konzepte weitgehend übereinstimmen: " ... I propose to define time as the interpretation of reality with regard to the difference between past and future 60."
58 Bieri, S.218. Zum Verhältnis von A- und B-Reihe ähnlich: Thum, B., Ontologie der Zeitrelationen, in: Salzburger Jahrbuch für Philosophie und Psychologie, 2, 1958, S. 186 - 210. 59 Luhmann, N., The Future Cannot Begin, in: Social Research 43, 1976, S. 130 - 152, S. 135 (im folgenden zitiert als Future). 60 Luhmann, Future, S. 134; vgI. neuerdings ebenso: Koselleck, R., "Erfahrungsraum" und "Erwartungshorizont" - zwei historische Kategorien, in:
1.1 Die phänomenologische Theorie der Zeit
33
Das entspricht dem hier vorgestellten Konzept des (sozialen) Zeitbewußtseins, das seine Daten von einem "Jetzt" aus nach VergangenheitGegenwart-Zukunft ordnet. Luhmann fährt dann fort: "This definition presupposes, of course, that daily life gives the experience of change and contains in itself the point of departure for its own ,timing' ... This experience of change, however, is not yet really time, as Husserl himself came to see in his later years. It is pervasive and unavoidable. If you do not see or hear any change, you will feel it in yourself. It is the dowry of organic life for its marriage with culture. And it predetermines the universality of time on the culturalleveI61 ." Die reale Zeitstruktur der Welt zwingt den Menschen zur Ausbildung eines subjektiven und intersubjektiven Zeitbewußtseins, wobei die reale Grundstruktur sozio-kulturell in ganz unterschiedlicher Weise zur bewußtseinsmäßigen Darstellung kommen kann. Diese soziale Konstitution der Zeit in ihrer Relation zu den realen Umweltveränderungen ist ein wichtiger Aspekt in einer Soziologie der sozialen Zeit. Ich werde in meiner Arbeit den genannten Zusammenhang vor allem in dem Abschnitt über die Umweltbeziehungen sozialer Systeme und im Rahmen des Konzepts der temporalen Komplexität behandeln.
1.1.6 Zur Struktur des Zeitbewußtseins Durch Bieris Einwand, dem ich stattgegeben habe, verliert die Phänomenologie zwar den Status einer Theorie der Zeit, doch bleibt sie natürlich eine Theorie der Zeit erfahrung bzw. des Zeitbewußtseins. Von der Kritik ist nur betroffen die transzendental-philosophische Annahme eines untersten zeitlosen, doch zeitkonstituierenden Bewußtseinsstroms, dagegen bleiben die Strukturanalysen auf den höheren Stufen des subjektiven und des intersubjektiven oder monadischen Zeitbewußtseins weiterhin gültig. Es ist deshalb zum Abschluß dieses Kapitels zu fragen, welche phänomenologischen Konzepte für eine soziologische Theorie des sozialen Zeitbewußtseins zu übernehmen sind62 • Folgende Konzepte bieten sich an: 1. Die Doppelstruktur des Zeitbewußtseins in a) Impression, Retention und Protention, und b) in Gegenwart, Vergangenheit (Wiedererinnerung) und Zukunft (Erwartung).
ders., Vergangene Zukunft, Frankfurt a. M. 1979, S. 349 - 375, bes. 359 ff. (im folgenden zitiert als Erfahrungsraum). 61 Luhmann, Future, S. 135. 62 Die Möglichkeit der übernahme phänomenologischer Ergebnisse in die in natürlicher Einstellung operierenden positiven Wissenschaften wird von Husserl immer wieder betont (Husserl, Hua I, § 61). 3 Bergmann
34
1. Zeit, Zeitbewußtsein und Handlung
Bewußtsein ist immer gegenwärtiges Bewußtsein, ist immer notwendig in einem Jetzt. Dieses Jetzt darf jedoch nicht als ausdehnungsloser Zeitpunkt verstanden werden, sondern als ein Präsenzfeld, das neben einer aktuellen Impression stets einen "Hof" von kontinuierlichen Retentionen und Protentionen besitzt. Jedes aktuelle Erlebnis trägt in sich einen unmittelbaren, zur Gegenwartskonstitution selbst zugehörigen Vergangenheits- und Zukunftshorizont. Diese Horizonte sind stets mitgegenwärtig, d. h. sie gehören mit zur Phase der Aktualität und bedürfen keiner reflexiven Wiedererinnerung oder Erwartung. Diese zeitlichen Modi der Retention und Protention, die man phänomenologisch auch als Appräsentationen bezeichnen könnte, sind zu unterscheiden von den repräsentierenden Akten der Wiedererinnerung und der Erwartung, diese sind in einem Jetzt nicht mitgegenwärtig, sondern müssen vergegenwärtigt werden. Gegenüber der Aktualitätsphase des Bewußtseins kann man hinsichtlich Vergangenheit und Zukunft von "Zonen der Potentialität"63 oder aber von Zeithorizonten sprechen. Entsprechend ihres Horizontcharakters können Vergangenheit und Zukunft nicht aufhören oder beginnen, denn es ist dem Horizont eigentümlich, daß er stets mitwandert, daß er nicht erreicht oder überschritten werden kann. Alles Gegenwartsbewußtsein ist umschlossen von Zeithorizonten, die als Verweisungszusammenhänge für mögliche Reaktualisierungen im Sinne eines "Ich kann immer wieder darauf zurückkommen" und für mögliche Vorwegnahmen im Sinne eines "und so weiter" dienen. Das Konzept des Horizontes, das, wie wir sehen werden, weitgehend mit dem Begriff der Perspektive bei Mead übereinstimmt, erweist sich also als der für uns entscheidende Strukturbegriff für die Analyse des subjektiven wie intersubjektiven Zeitbewußtseins. 2. Auch das Jetzt selbst, das Gegenwartsbewußtsein ist keine verfließende Zeitstelle, kein Ding, sondern ebenfalls Horizont. (S. 1.1.2) Das aktuelle einheitliche Zeitfeld des Bewußtseins mit seiner inneren Differenzierung zwischen impressional, retention al und protentional Bewußtem fließt nicht. Das Feld steht, was sich ändert sind nur die konstituierten Einheiten, an denen sich die Zeitmodi abwechseln. Dieses Gegenwartsbewußtsein besitzt innerhalb der Zeittheorie eine einzigartige Stellung: es ist sozusagen der Knotenpunkt aller Zeitstrukturen64 . In der Jetztphase vollzieht sich einmal die Vermittlung zwischen der realen Zeit, d. h. der nach "früher/später und gleichzeitig mit" geordneten Folge der Ereignisse, und der bewußtseinsmäßigen Darstellung dieser Zeit nach A-Strukturen, zum anderen die Verknüpfung der Ge63 Schütz, A. / Luckmann, Th., Strukturen der Lebenswelt, Neuwied, Darmstadt 1975, S. 67. 64 Dazu gut: Luhmann, N., Zeit und Handlung - Eine vergessene Theorie, in: ZfS Jg. 8 (1), 1979, S. 63 - 81 (im folgenden zitiert als Zeit).
1.1 Die phänomenologische Theorie der Zeit
35
genwart mit ihren Zeithorizonten Vergangenheit und Zukunft. Nur die Gegenwart besitzt demnach einen ausgesprochenen Wirklichkeitscharakter, ihr gegenüber erscheinen Vergangenheit und Zukunft als bloße Möglichkeitshorizonte, mit denen in der Gegenwart selektiv verfahren werden kann. (Vgl. Kap. 1.3). 3. Das Horizontkonzept impliziert einen Nullpunkt, ein Orientierungszentrum, von dem aus etwas horizonthaft gegeben sein kann, m.a.W. Horizonte sind subjektspezifisch, wobei dieses Subjekt im Fall der Soziologie eine intersubjektive Einheit ist. D. h. jedes soziale System verfügt demnach über eigene Zeithorizonte, konstituiert eine eigene soziale Zeit. Allerdings sind alle diese Einzel- oder Sonderhorizonte letztlich rückbezogen auf einen umfassenden Welthorizont, insofern müssen wir unterscheiden zwischen Weltzeit und Systemzeit, letztere tritt bei Husserl unter dem Titel "Umweltzeit"65 auf, damit soll die Relativität gegenüber der einen "Welt" zum Ausdruck gebracht werden. 4. Weltzeit im umfassenden Sinne einer auf der Erde insgesamt geltenden Zeit gibt es erst seit dem 19. Jahrhundert, seitdem so etwas wie eine "Weltgesellschaft" mit einem einheitlichen Welthorizont existiert. Husserl selbst weist des öfteren darauf hin, daß sich die Menschheit als umfassende Gemeinschaft erst im 19. Jahrhundert konstituiert hat, daß wir deshalb auch erst von da ab mit einer Weltzeit im wörtlichen Sinne rechnen dürfen. D. h. jedoch nicht, daß das Konzept der Weltzeit für die Zeit vor dem 19. Jahrhundert unbrauchbar wäre, vielmehr kann die Weite des Welthorizonts und damit der "Einzugsbereich" der Weltzeit variieren. Als Weltzeit soll demnach das generalisierte Zeitschema betrachtet werden, das jeweils ein System und alle seine Umweltsysteme übergreift. Die Weltzeit transzendiert die jeweiligen System- und Umweltsystemzeiten sowohl was ihre Dauer als auch was ihre Geltung betrifft. Weltzeit darf nicht mit der realen Zeit im oben verwendeten Sinn verwechselt werden, sie kann phänomenologisch nur als intersubjektiv konstituierte Zeit des umfassenden sozialen Systems verstanden werden: d. h. als gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Allerdings scheinen Gleichzeitigkeit und Abfolge als Strukturgesetze der realen Zeit als eine wesentliche Bedingung für die Ausbildung einer intersubjektiven Weltzeit. So bestimmt Schütz als die wesentlichen Merkmale der transzendenten Welt in zeitlicher Hinsicht: die Fortdauer der Welt, auch wenn ich mich von ihr abgekehrt habe; die Zwangsläufigkeit der Weltzeit, wie sie sich in den "Strukturgesetzen der Abfolge und Gleichzeitigkeit"66 darstellt und die Irreversibilität der Weltzeit, die sich in meiner Gebundenheit an eine bestimmte historische Situation 65 Husserl, Hua XV, S. 214. 66 Schütz / Luckmann, S. 65. 3'
36
1.
Zeit, Zeitbewußtsein und Handlung
ausdrückt. Schütz redet in diesem Zusammenhang von der Zeitstruktur der Lebenswelt als einer "unmodifizierbaren ontologischen Struktur"67. Diese ontologischen Strukturen bilden jedoch nur die Voraussetzung für die Konstitution der Weltzeit in unserem Sinne, sie ermöglichen eine intersubjektive Konstitution von Zeit, da sich verschiedene Personen (Systeme) über die "Gegenwart eines Ereignisses einfach deshalb einigen (können), weil das ihm entsprechende Datum in ihrem Bewußtsein sowohl gleichzeitig mit denjenigen anderer Personen auftritt als sich auch gleichzeitig damit als ,gegenwärtig' darstellt "68. Von der gemeinsamen Gegenwart aus lassen sich dann entsprechend gemeinsame Vergangenheits- und Zukunftshorizonte bestimmen. 5. Trotz der Destruktion einer untersten, unzeitlichen Konstitutionsinstanz - dem Bewußtseinsstrom -, muß m. E. der Gedanke einer stufenförmigen Konstitution vom subjektiven zum intersubjektiven Zeitbewußtsein nicht aufgegeben werden. Er wäre die Aufgabe einer soziologischen Kommunikationstheorie im oben genannten Sinn (vgl. Einleitung), die konstitutive Aufstufung von subjektiver zu den unterschiedlichen Formen intersubjektiver oder objektiver Zeit aufzuklären. Letztere ist dabei noch weiter zu differenzieren nach der objektiven Zeit der Natur, nach Typen sozialer Gemeinschaft bis hin zur umfassenden Weltzeit. Ich werde im Rahmen dieser Arbeit diesen Konstitutionsfragen nicht nachgehen, ich setzte vielmehr für meine systemtheoretischen Analysen die Existenz der verschiedenen Stufen oder Dimensionen schon voraus. Die umfassende Stufe der lebensweltlichen Zeit baut sich dann letztlich auf in Überschneidungen der subjektiven Zeit des Bewußtseins mit der natürlichen Zeit der inneren und äußeren Natur sowie der sozialen Zeit. Ich werde den Zusammenhang dieser Dimensionen im Rahmen der System/Umwelt-Beziehungen sozialer Systeme zur Sprache bringen, insbesondere die Inkongruenzen der Dimensionen wie sie sich in den Phänomenen des Wartens und der Zeitknappheit zeigen. 6. Die phänomenologische Zeittheorie scheint mir in ihrer Berücksichtigung der temporalen Modalisierung oder Modifikation an zentraler Stelle, die von Luhmann erwogene Verknüpfung von Zeittheorie und Modaltheorie zu begünstigen. Temporale Modifikationen oder Modalisierungen lassen das apperzipierte Objekt identisch bestehen, d. h. es besitzt Kontinuität in der Zeit, verstanden als Einheit des realen Zeitinhalts (noema). Davon zu unterscheiden ist die zeitliche Kontinuität verstanden als Kontinuität der Zeitpunkte69 • Die stetige Modifikation der zeitlichen Auffassung betrifft nicht das "Als was" der Auffassung,
67 Schütz / Luckmann, S. 66. 68 Bieri, S. 213. 69 Husserl, Hua X, S. 243.
l.2 Zeit, Handlung und Sozialität bei G. H. Mead
37
sie meint kein neu es Objekt, sondern stets dasselbe Objekt mit seinen selben Zeitpunkten70 • In jedem aktuellen Jetzt wird ein neuer Objektpunkt geschaffen, der im Fluß der Modifikation als identischer, individueller Objektpunkt festgehalten wird. Die zeitliche Modifikation ist grundsätzlich verschieden von anderen Qualitäten und materialen Momenten des Empfindungsinhalts von Wahrnehmungsobjekten. Husserl vergleicht deshalb die zeitliche Modifikation mit der Phantasiemodifikation, die die Bewußtseinsweise eines Gegenstandes verändert, nicht aber sein intentionales Wesen. Diese phänomenologische Erkenntnis ist wichtig im Hinblick auf den spezifischen Charakter zeitlicher Modalisierung, die man soziologisch auch als Form einer Generalisierung ansehen kann, wobei die Identität eines Systems im zeitlichen Ablauf (Modifikation) gewahrt bleibt. Diese Generalisierungsleistungen sind nicht konstant, sondern variieren mit den Systemstrukturen, d. h. sie sind kein transzendentaler Schein71 • Darüber hinaus bedeutet dieser Befund, daß die Zeit selbst die Objekte und Verhältnisse von sich aus nicht verändert - das Vergehen der Zeit ändert nicht schon von sich aus Erleben und Handeln in der Sozial- und Sachdimension. 1.2 Zeit, Handlung und Sozialität bei G. H. Mead
Nach der Klärung einiger zeittheoretischer Grundannahmen sowie einiger grundlegender Strukturen des Zeitbewußtseins, muß dieses Zeitkonzept jetzt mit einem soziologischen Begriffsrahmen verknüpft werden. Zum Zwecke dieser Verknüpfung von Temporalität und Sozialität greifen wir auf die Theorie G. H. Meads zurück, in der Zeit und Sozialität im Konzept der gegenwärtigen Handlung, "the emergent", in einer Weise verbunden sind, die es der soziologischen Handlungs- und Systemtheorie ermöglicht - wie das Beispiel Luhmanns neuerdings zeigt1 - damit weiterzuarbeiten. Die zentrale Bedeutung der Gegenwartsphase, die in der dort stattfindenden Verknüpfung von Bewußtsein und Gegenstand sowie in der Relationierung von Vergangenheit und Zukunft liegt, habe ich oben schon hervorgehoben. Soziale Zeit und Weltzeit sind stets auf der Basis der gleichzeitigen Anwesenheit in der Gegenwart konstituiert. Als soziologischen Grundbegriff zur Bezeichnung der Konstitution einer sozialen Gegenwart mit ihren entsprechenden Zeithorizonten wählen wir den Begriff der Handlung oder allgemeiner den des Ereignisses. Man kann zur Bestimmung des VerhältnisHusserl, Hua X, S. 65. Luhmann, N., Weltzeit, S. 105. 1 Vgl. Luhmann, N., Handlungstheorie und Systemtheorie, in: KZfSS, 30, 2, 1978, S. 211 - 227 (im folgenden zitiert als Handlungstheorie) und Luhmann, Zeit. 70
71
38
1. Zeit, Zeitbewußtsein und Handlung
ses von Zeit und Sozialität nicht auf den Begriff des sozialen Systems als Grundbegriff zurückgreifen, da komplexe Handlungssysteme (wie soziale Systeme) schon durch Relationierung von Elementen ein höheres Ordnungsniveau erreicht haben. Der "adäquate Elementbegriff" für den Aufbau von Handlungssystemen ist der des "Ereignisses" oder der der Handlung 2 • Soziale Systeme sind "event systems" und nicht Einheiten von handelnden Personen, d. h. die letzten Einheiten für die Konstitution einer sozialen Zeit sind nicht die personalen Zeitbewußtseine, sondern Handlungen, die man mit Luhmann als "temporalisierte Elemente im Aufbau sozialer Systeme"3 bezeichnen kann. Soziale Systeme und mit ihnen ihre Temporalstrukturen bauen sich auf aus der Relationierung gegenwärtiger Handlungen4 , in denen sich zusammen mit der Konstitution einer sozialen Gegenwart jeweils auch bestimmte Vergangenheits- und Zukunftshorizonte konstituieren.
In der Theorie Meads haben wir den Entwurf einer Handlungstheorie, in dem Temporalität und Sozialität oder wie Luhmann sagt "Sinn" und "Zeit"5 zu den wesentlichen Konstituentien jeder Handlung gehören. Diese Theorie Meads ist in der Entwicklung der soziologischen Handlungstheorie weitgehend unberücksichtigt geblieben, da sie im wesentlichen in seinen späteren, stärker philosophisch orientierten Arbeiten entwickelt wurde. Während in den frühen, besser bekannten Arbeiten, z. B. in "Geist, Identität und Gesellschaft (Mind, Self and Society) die Zeit noch eine geringe Rolle spielt, rückt sie später in "Philosophie der Sozialität" und in "The Philosophy of the Act" immer stärker in den Vordergrunds. Vielleicht ist im Umstand der geringen Bekanntheit der späteren Werke auch der Grund zu suchen, für die geringe Berücksichtigung der Meadschen Theorie in Luhmanns neuesten Entwürfen zum gleichen Problemkreis von "Zeit und Handlung", obwohl zwischen bei den Ansätzen eine starke Parallelität besteht. Bevor ich speziell auf den Zusammenhang von Temporalität und Sozialität bei Mead komme, sind vorweg noch einige seiner grundlegenden theoretischen Annahmen kurz einzuführen, denn ohne Kenntnis seines Begriffs von Perspektive, Situation und Handlung ist ein adäquaLuhmann, Handlungstheorie, S. 216. LUhmann, Handlungstheorie, S. 221. 4 Vgl. dazu insges. die "Interpenetrations-Theorie" bei Luhmann, N., in: Interpenetration - zum Verhältnis personaler und sozialer Systeme, in: ZfS, 6 (1), 1977, S. 62 - 76 (im folgenden zitiert als Interpenetration). 5 Luhmann, Handlungstheorie, S. 218. 8 Mead, G. H., Geist, Identität und Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1973 (im folgenden zitiert als Geist); ders., Philosophie der Sozialität, Frankfurt a. M. 1969 (im folgenden zitiert als Sozialität); ders., The Philosophy of the Act, (Ed. Ch. W. Morris) Chicago, London 1967, 6. Auf!. (im folgenden zitiert als 2
3
Philosophy).
1.2 Zeit, Handlung und Sozialität bei G. H. Mead
39
tes Verständnis des Zusammenhangs von Zeit und Handlung nicht möglich.
1.2.1 Zum Begriff der Perspektive Mead übernimmt von Whitehead dessen Konzeption des Relativitätsprinzips, nach der Natur und soziale Welt gleichermaßen als eine Organisation von Perspektiven zu begreifen sind. Perspektive läßt sich bestimmen als die Art und Weise, in der einem System seine Umwelt gegeben ist, wobei es sich um eine nicht-hintergehbare Form der Differenzierung und Selektion handelt. D. h. Perspektiven sind weder Verzerrungen von vollkommenen Strukturen, noch Selektionen des Bewußtseins aus einer Gegenstandsmenge, deren Realität in einer Dingwelt zu suchen wäre 7 • "Nature in its relationship to the organism, is a perspective that is there. Every perspective includes both an organism and at least apart of its environments." Perspektive ist also ein relationaler Begriff: System und Umwelt sind beide in einer Perspektive, aber die Perspektive ist in keinem von beiden und keiner ist unabhängig vom anderen in einer Perspektive. Ein System ist also immer ein System in einer bestimmten Umwelt, genauso wie die Umwelt immer die Umwelt von bestimmten Systemen ist. An die Stelle der substanzontologischen Auffassung von einer Welt als Totalität unabhängiger physikalischer Einheiten tritt die funktionsontologische Annahme, die sich im übrigen ganz mit Husserls Konzeption der Welt als dem Horizont von Horizonten deckt, daß die Welt als Gesamtheit der Perspektiven in ihren Wechselbeziehungen zueinander zu begreifen ist. Ebenso wie in der Luhmannschen Systemtheorie und in der Phänomenologie wird die Welt als Totalität zur Idee, sie wird nur noch als Totalhorizont faßbar und nicht mehr als substantiell zu denkende Einheit. Mead gibt des öfteren als Beispiel für seine Fassung von Perspektive oder System/Umwelt-Verhältnis an, daß Gras als Nahrung erst existiert, wenn es einen Organismus gibt, für den Gras Nahrung bedeutet. Außerhalb dieser Perspektive existiert Gras als Nahrung überhaupt nicht. Das einzelne System (Organismus) darf dieser Auffassung von Perspektive zufolge nicht als substanzhafte Entität aufgefaßt werden, sondern als eine raum-zeitlich erstreckte Struktureinheit, als eine Einheit von Ereignissen (a percipient event). "Like Whitehead, Mead sees the individual organism, the percipient event within nature, as an unitary structure demanding aperiod within which to be 7 Mead, Sozialität, S. 215, Mead spricht deshalb von der "objektiven Realität von Perspektiven". S Miller, D. L.; G. H. Mead Self, Language and the World, Austin, London 1973, S. 32 (im folgenden zitiert als Language) und Mead, Sozialität, S.215.
40
1. Zeit, Zeitbewußtsein und Handlung
itself, and therefore having not only a spatial but also a temporal reference. The organisms of nature are processes of spatio-temporal intersectings9 ." Ein eigenes Raum-Zeit-System wird vom allgemeinen Ereignisablauf abgehoben, d. h. jeder Organismus läßt sich im Sinne eines Schnittpunktes von Perspektiven und nicht im Sinne einer absoluten Lokalisierung durch seine spezifische Zeit stelle bestimmen. "Positiv bedeutet das eine Aufwertung der Zeit, d. h. die Erkenntnis, daß es eine unbegrenzte Zahl möglicher Gleichzeitigkeiten jedes Ereignisses mit anderen Ereignissen gibt und folglich unbegrenzt viele zeitliche Ordnungen derselben Ereignisse; deshalb ist es möglich, sich ein und dieselbe Gesamtheit der Ereignisse in unendlich viele verschiedene Perspektiven eingeordnet zu denken 10 ." Jeder Organismus ist Produkt raumzeitlicher Überschneidungen, nimmt also als eigenes Raum-ZeitSystem allen anderen Individuen gegenüber eine einmalige Stellung (Perspektive) ein, indem es die Ereignisse in der Umwelt in systemspezifischer Weise für sich ordnet. Der Mensch ist für M ead ebenso ein Teil der Natur wie andere Organismen, doch unterscheidet er sich in Bezug auf die Perspektive in einem grundlegenden Punkt von allen anderen Organismen: während jedes Tier sozusagen in seiner eigenen Perspektive eingeschlossen ist, können Menschen ihre Perspektiven mit anderen teilen, die Perspektive von anderen einnehmen; hier sind wir auf das Prinzip der Sozialität gestoßen. Ich kann mich an dieser Stelle ganz kurz fassen, da die Meadsche Theorie der Sozialität in ihrer frühen Fassung von Mind, Self and Society - vom Symbolischen Interaktionismus aufgenommen und weiterentwickelt - inzwischen zum allgemeinen Wissensbestand der Soziologie gehört. Der grundlegende Mechanismus, durch den Perspektivenwechsel möglich wird, ist die menschliche Fähigkeit zum Austausch signifikanter Gesten und Symbole. Eine gemeinsame Welt teilen die Individuen nicht so sehr aufgrund ihrer gleichen organischen Ausstattung oder ihrer Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe, sondern erst relativ zu wechselseitig aufeinander bezogenen Handlungen. Die durch die Verwendung signifikanter Symbole garantierte Intersubjektivität von Verhaltenserwartungen, die am Rollengefüge der Gesellschaft festgemacht ist, läßt sich mit Mead als eine Organisation von Perspektiven erfassen, die die in der sozialen Situation interagierenden Individuen wechselseitig aufeinander bezogen einnehmen. Jeder einzelne besitzt seine eigene Perspektive, sein Zeitsystem von Ereignisabläufen, doch kann im Prozeß der Rollenübernahme seine Zeitperspektive auch von einem anderen eingenommen werden. Jedes Individuum muß also die Fähigkeit haben, sich zugleich in verschiede9 Tillman, M. K., Temporality and Role-Taking, in: Socia! Research, 37, 1970, S. 533 - 546, S. 539. Vgl. Mead, Philosophy, S. 523 ff. "Fragments on Whitehead". 10 Mead, Sozialität, S. 216.
1.2 Zeit, Handlung und Sozialität bei G. H. Mead
41
nen Zeit-Systemen aufhalten zu können. "Sozialität ist die Fähigkeit, mehrere Dinge gleichzeitig zu sein 11 ." An dieser Stelle wird die enge Verzahnung von Perspektivität, Sozialität und Temporalität bei Mead deutlich.
Meads Auffassung von Perspektivität bestimmt nun auch seine Zeittheorie, dessen zentraler Begriff "emergence"12 ein bestimmtes Verhältnis von Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft impliziert. Nur die Gegenwart ist der Ort der Realität, in der der Organismus in notwendiger und andauernder Verbindung mit seiner Umwelt lebt, wobei letztere von Mead auch als in bestimmten Perspektiven organisiert verstanden wird. Jedes Individuum findet sich also an einer gegenwärtigen Raum-Zeit-Stelle mit seiner Umwelt konfrontiert, dies führt uns auf die Begriffe von Situation und Handlung. 1.2.2 Die "gegenwärtige Situation" Die Welt als ganze, die Dinge in ihr und auch die reflexive Erfahrung existieren nur in Form von Situationen, wobei Situationen bei Mead immer gegenwärtige Raum-Zeit-Stellen bezeichnen. Situationen sind weiterhin gekennzeichnet durch die Beziehung des Individuums zu seiner Umwelt (Situation: ein System/Umwelt-Verhältnis); dabei ist die Umwelt bestimmt durch die Sensitivität und Reaktionsfähigkeit des Individuums, das also in gewissem Sinne sich seine eigene Umwelt schafft. Dieses System/Umwelt-Verhältnis wird von Mead als eines der Selektion und Organisation von Umwelt bezeichnet13 • Die Umwelt wäre dann eine Funktion der Situation, deren Perspektive durch das Individuum bestimmt wird, d. h. es gibt Besonderheiten an den Objekten, welche von einem Individuum und seiner spezifischen raumzeitlichen Position abhängen. Wenn eine Situation immer gegenwärtige Situation ist, wobei die Gegenwart bei Mead nicht punktuell gedacht ist, sondern eine gewisse Dauer besitzt, stellt sich die Frage, wie Vergangenheit und Zukunft in der Situation gegeben sind bzw. wie sie repräsentiert werden. Auf der Ebene der tierischen Organismen ist das unmittelbare Jetzt im Fluß der Erfahrungen allein gegeben, es besitzt keine Zeithorizonte. Wie wir unten sehen werden (vgl. Zum Begriff der Handlung) dauert ihre Gegenwart "handlungslos", Tiere "verhalten sich", d. h. gehen in ihrem Handeln mit dem Fluß, mit der realen Ereignisordnung nach B-Bestimmungen mit14 • "Also ist Handeln im Kontrast Mead, Sozialität, S. 280. Vgl. dazu Luhmann sehr ähnlich: " ... ist es möglich, Emergenz geradezu zeitbezogen zu definieren, nämlich als Ordnung von Zeitverhältnissen in der Zeit. Neuheit der emergenten Eigenschaften ... " Luhmann, Zeit, S.74. 13 Mead, Geist, S. 294. 14 Vgl. Luhmann, Zeit, S. 68 - 79. 11
12
42
1. Zeit, Zeitbewußtsein und Handlung
dazu zu verstehen und ist etwas anderes als bloße Bewegung, die sich im stillen Einverständnis mit der Zeit davontragen läßt. Das Handeln gleitet nicht mit der Zeit, es entwindet sich der Zeit.... Es fließt nicht mit dem, es identifiziert sich gegen den Strom der Zeit. Es tut etwas, was nicht geschieht und nicht geschehen würde 15." Mit dieser Differenz von Bewegung und Handeln läßt sich der Unterschied zwischen tierischem und menschlichem Handeln und Zeitbewußtsein gut bestimmen. "Das biologische Individuum lebt in einem undifferenzierten Jetzt; das gesellschaftlich reflektive Individuum nimmt dieses Jetzt in einen Fluß der Erfahrung hinein, in der eine fixierte Vergangenheit und eine mehr oder weniger unbestimmte Zukunft besteht 16." Die gegenwärtige Situation ist bei Mead nicht einfach eine Stelle in der gleichmäßig verfließenden Zeit, sondern jeweils ein neues Ereignis, eine Perspektive, von der aus sich alle vergangenen und zukünftigen Ereignisse neu ordnen. "The present is not a slice of uniformly passing time but refers to the emergent event as something more than all that has led up to it, as something wh ich is constantly changing toward a new self-identity17." Diese Neubestimmung von Vergangenheit und Zukunft in der je gegenwärtigen Handlung, die man mit Luhmann als "Ordnung von Zeitverhältnissen in der Zeit" (auch er verwendet hier den Begriff der Emergenz,)18 beschreiben kann, ist bei Mead begründet in der besonderen Struktur der menschlichen Handlung. Bevor ich also mit der Beschreibung des meadschen Situationsbegriffs fortfahre, muß hier sein Konzept der Handlungsphasen eingeschoben werden. 1.2.2.1 Die Struktur der Handlung
Die einzelne Handlung, die immer in einer raum-zeitlich bestimmten Situation stattfindet, wird von Mead als "ultimate unit of existence" bezeichnet und läßt sich in einzelne Phasen gliedern. Für den besonderen Charakter der menschlichen Handlung ist die zweite, die reflexive Stufe entscheidend. - Ich fasse hier die bei Mead noch einmal differenzierten Phasen des Handlungsimpulses und der Perzeption zusammen, da ihre Differenzen hier nicht zum Tragen kommen 19. a) Die Phase des Wahrnehmungsimpulses (Stage of the Impulse) und die Phase der Perzeption (Stage of Perception). Jede Perzeption schließt einen unmittelbaren Sinnesreiz und eine reaktive Einstellung auf diesen Reiz ein. Mit dieser Antworthaltung 15 16 17 18 19
Luhmann, Zeit, S. 70. Mead, Geist, S. 401. Tillman, S. 536 vgl. dazu: Mead, Sozialität, S. 252 ff. Luhmann, Zeit, S. 79. Vgl. insges. Mead, Philosophy, Part I, S. 3 ff.
1.2 Zeit, Handlung und Sozialität bei G. H. Mead
43
gegenüber dem Stimulus ist zugleich die Idee des Ergebnisses dieser Antwort (Response) gegeben. Bleibt die Perzeption, die von Mead als eine Form von Tätigkeit aufgefaßt wird, ohne manifeste Handlungsfolgen, so erscheint die Reaktion lediglich als Einstellung, die begleitet wird von Vorstellungen, die aus vergangenen Erfahrungen stammen. Das ist der Grund, warum, ohne eine Handlung aktiv beendet zu haben, dennoch die Idee des Ergebnisses der Reaktion vorhanden ist. D. h. die Perzeption enthält in sich schon alle Phasen eines Aktes: den Reiz (stimulation), die Reaktion (response), die durch die Einstellung repräsentiert wird, und die virtuelle Vorwegnahme des Handlungsergebnisses mit Hilfe der Erinnerung an Resultate früherer Reaktionen. "The percept is a collapsed act 20." Perzeption ist also eine spezifische Beziehung eines Individuums zu seiner Umwelt: "The fundamentals of perception, then, are the spatiotemporal distances of objects lying outside the manipulatory area and the readiness in the organism to act toward them as they will be if they come within the manipulatory area. This readiness expresses itself in the selection ... of those characters ... which innervates the process of manipulation when the spatiotemporal distance has been overcome 21 ." Es wird also in der Perzeption ein entferntes Objekt im gegenwärtigen Verhalten oder in der gegenwärtigen Einstellung in Betracht gezogen. Perzeption besitzt damit immer einen Zukunftsbezug, denn das gegenwärtig wahrgenommene Distanz-Objekt soll im weiteren Verlauf der Handlung zum Kontaktobjekt werden. "Every distant object is at present existent 22." In jeder Perzeption ist das Telos von Gegenständen, im Sinne von Handlungen, die man mit diesen Gegenständen in der Zukunft ausführen wird oder ausführen kann, beschlossen. "We see the object as we will handle them 23 ." Die Perzeption gibt den Impuls, eine Handlung zu beginnen, das gesehene Objekt zu ergreifen: sie initiiert die Handlung. b) Die Phase der Manipulation (The Stage of Manipulation). Während bei Tieren auf die perzeptive Stimulation unmittelbar der Akt der Konsumtion folgt, ist beim Menschen die Phase der Manipulation zwischengeschaltet. Schon in der Perzeption ist beim Menschen die Bereitschaft zur Manipulation angelegt, d. h. die Annäherungsweise an das Objekt, (z. B. den Hammer zu ergreifen, um damit einen Nagel einzuschlagen) ist schon vorher bestimmt - darin liegt der teleologische Charakter der Handlung. Voraussetzung für diese Phase der Manipulation ist das Vorhandensein von Bewußtsein (mind). "Mind, Mead conMead, Philosophy, S. 128. Mead, Philosophy, S. 104. 22 Mead, G. H., Relative Space-Time and Simultaneity, in: The Review of Metaphysics, Vol. 17, 1963/64, S. 514 - 535, S. 517. 23 Mead, Philosophy, S. 104. 20 21
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1. Zeit, Zeitbewußtsein und Handlung
tends, would have no function without the intermediary stage of the act, that which lies between the perceptual phase and consummation. Mind applies the relation between means and ends 24." In Bezug auf sein Ziel (end) kann das Individuum in dieser Phase auf die optimalen Mittel reflektieren, da der Reiz in einer Situation durch alternative Manipulation (response) beantwortet werden kann. Die Handlung bleibt in dieser Phase inhibiert. Ohne diese Reflexion gäbe es kein Bewußtsein von physischen Gegenständen, denn diese werden in Kontakterfahrungen (d. h. in der Erfahrung von Widerstand) erst adäquat erlebbar. "In contrast with lower animals, however, man's manual contacts, intermediate between the beginnings and the ends of his act, provide a multitude of different stimuli to a multitude of different ways of doing things, and thus invite alternative impulses to express themselves in the accomplishment of his acts, when obstacles and hindrances arise 25 ." In dieser Rejlexionsphase wird die Zeit gewissermaßen "angehalten", ihr Fluß gestoppt. Stattdessen tut sich in dieser Phase ein Selektionsbereich möglicher Handlungsvollendungen auf, in dem eine Mehrzahl gleichmöglicher Alternativen erscheint. "Trotzdem behält Handeln seinen durch Zeit gestifteten Sinn; es wird aber jetzt die Gegenbewegung zur Selbst annihilation der Zeit 26 ." Der wesentliche Charakter des HandeIns ist also seine Selektivität, je gegenwärtig wird im Handeln eine neue Gegenwart konstituiert und mit ihr jeweils neue Vergangenheits- und Zukunftshorizonte. Handeln bedeutet einmal die Erzeugung einer Diskontinuität, denn der "emergent event" bringt eine neue Gegenwart mit neuen Horizonten hervor, die sich nicht mehr aus der Vergangenheit oder Zukunft herleiten lassen, d. h. es besteht eine Nichtidentität aufeinanderfolgender Gegenwarten, zum anderen bedeutet Handeln auch Kontinuierung, denn trotz der Nichtidentität der Gegenwarten wird in jeder einzelnen Gegenwart ihr Gesamtzusammenhang als Zeit konstituiert. "Die ,Neuheit' der emergenten Eigenschaften ist nicht nur eine sachliche Abweichung von dem, was bisher war oder was sonst ist; sie leistet eine jeweils eigenständige Vergegenwärtigung der Gesamtzeit, indem sie ereignisbezogen (handlungsbezogen, kommunikationsbezogen) Vergangenes und Zukünftiges selektiv relevant werden läßt27 ." Alternativenlose, punktuell verstandene Gegenwart ließe sich nur als passive Bewegung ohne Selektionsmöglichkeiten verstehen, in ihr sind Vergangenheit und Zukunft abwesend. "Wenn die Ausschaltung von Zukunft und Vergangenheit Handeln eliminiert (und umgekehrt), ist zu vermuten, daß die Einschaltung von Zukunft und Ver24 25 26 27
Miller, Language, S. 61. Miller, Language, S. 61 und Mead, Philosophy, S. 363. Luhmann, Zeit, S. 65. Luhmann, Zeit, S. 74 - 75.
1.2 Zeit, Handlung und Sozialität bei G. H. Mead
45
gangenheit Handeln erzwingt (und wiederum: auch umgekehrt)28." In der Manipulationsphase findet also eine Rekonstruktion und Reorganisation von Perspektiven statt, deren Ziel die Aufhebung der Inhibierung der Handlung ist. Erst wenn eine Selektion getroffen werden kann durch Aufhebung der konfligierenden Handlungsimpulse (1. Phase), ist der Weg zum Handlungsabschluß frei. Diese Entscheidungsbildung verläuft in innerer Konversation unter Verwendung signifikanter Symbole. c) Phase der Handlungsvollendung (Stage of Consummation). Die in der Manipulations- oder Reflexionsphase möglichen Handlungen haben nur einen hypothetischen Charakter als eventuell zukünftig mögliche. Die Realität dieser Handlungsfortsetzungen ist erst dann gesichert, wenn die Inhibierung aufgehoben und der Akt der Konsumtion ausgeführt ist. "Jede Handlung geht von ihrem physischen Objekt zu irgendeinem Handlungsvollzug über 29 ."
In diesem Exkurs über die Phasen der Handlung ist deutlich geworden, daß die menschliche Fähigkeit zur Distanz-Erfahrung und zu verzögerten Reaktionen verantwortlich ist für die Gliederung von Situationen in Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft. Ist Distanz-Erfahrung nicht mehr in aktuelle Kontakt-Erfahrung überführbar - wie es z. B. bei Erinnerungen oder Phantasien der Fall ist -, machen wir diese zu Zuständen des Bewußtseins, denen keine gegenwärtige Realität oder Realisierungsmöglichkeit mehr zukommt. Die Distanz-Erfahrung ist also immer eine Tatsache des individuellen Bewußtseins, in dem Zukunft und Vergangenheit als gegenwärtige Vorstellungen erscheinen. Meads Erfahrungsbegriff hat also eine objektiv-reale und eine subjektiv-bewußtseinsmäßige Komponente: Die Erfahrung ist außerhalb in der realen Welt (z. B. in der Phase der Konsumtion) und sie ist im Bewußtsein des Individuums. Außerdem liegt sie stets in der Gegenwart, wobei die objektiv-reale Kontakt-Erfahrung der zeitlosen Gegenwart zugerechnet werden kann, während die Distanz-Erfahrung Vergangenheit und Zukunft als Vorstellungen in der Gegenwart impliziert. Gegenwart ist damit nicht punktuelle, sondern ausgedehnte Gegenwart. Diese aktuelle Dauer einer Situation bezeichnet Mead auch als psychologische Gegenwart oder als "specious present"30, womit ausgedrückt werden soll, daß die Dauer dieser Gegenwart nicht die reale Dauer der Handlung ist, sondern die Dauer der Reflexion, d. h. der Handlungs28 Luhmann, Zeit, S. 69. 29 Mead, Sozialität, S. 129. 30 Vgl. Mead, Philosophy, S. 220 - 223 und Mead, Sozialität, S. 229 und 252 f.; vgl. dazu auch: Dobbs, H. A. C., The Relation Between the Time of Psychology and the Time of Physics, in: British Journal for the Philosophy of Science, 2,1951, S. 122 -177, S. 123 f.
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1. Zeit, Zeitbewußtsein und Handlung
phase, in der sich das Individuum mittels signifikanter Symbole die gegenwärtigen Eigenschaften entfernter Dinge vergegenwärtigt (act of indicating). In jeder aktuellen Gegenwart sind neben den gegenwärtig gegebenen Daten auch Vorstellungen vergangen er und zukünftiger Ereignisse vorhanden, aber die Gegenwartsdauer steht in keiner Beziehung zur Vollendung der Handlungen, die als zukünftige oder vergangene vorgestellt werden. Vielmehr gehören sie zum Beginn einer späteren Handlung und sind als solche in der Gegenwart nur repräsentiert. Damit sind Vergangenheit und Zukunft keine selbständigen Teile der Realität, sondern nur Perspektiven der Gegenwart. Sie "richten sich in der Tat nach der Gegenwart"31. Man kann mit Mead hier von einem Verhältnis der Selektivität sprechen, in dem die Gegenwart zu ihrer Vergangenheit und Zukunft steht. Es ist fundiert in der menschlichen Fähigkeit zur Reflexion32 , durch die Wahlprozesse in der Phase der inhibierten Handlung überhaupt möglich werden, d. h. es können alternative Vergangenheiten rekonstruiert und alternative Zukünfte antizipiert werden. Insofern werden auch die Kausalzusammenhänge zwischen Ereignissen selektiv vom neuen Ereignis (emergence) her jeweils neu gefaßt. In der Vergangenheit wird das hervorgehoben, was als verursachendes, bedingendes Ereignis zum Gegenwartsereignis geführt haben soll. Ebenso wird von der jeweiligen Gegenwart her eine ganz bestimmte neue Zukunftsperspektive ausgebildet - eine in Ideen gegenwärtige Zukunft33 • Diese Repräsentation zukünftiger (Entwurf) und vergangener (Erinnerung) Realität in einer gegenwärtigen Erfahrungsdauer bringt außerhalb des Handlungsbezuges unabhängig voneinander verlaufende Zeitsysteme oder Perspektiven in einer Handlungsgegenwart zur überschneidung (intersecting). Soweit eine kurze Einführung in Grundbegriffe der Meadschen Theorie, die für die folgende Erörterung des Verhältnisses von Sozialität und Temporalität wichtig sind.
1.2.3 Temporalität und Perspektive Zu fragen ist hier, von welchem Punkt des Lebensprozesses und in welcher Weise ein Individuum die Weltereignisse perspektivisch ordnet. Wir begegnen hier bei Mead der gleichen Zuordnung von realen Ereignisabläufen (geordnet nach der B-Reihe) und bewußtseinsmäßiger, perspektivischer Ordnung dieser Ereignisse nach Gegenwart-Vergangenheit-Zukunft wie bei Bieri (vgl. Kap. 1.1). Die Verbindung der bei den 31 Mead, Sozialität, S.57; auch S. 239 f. und 259, S.229: "Die Gegenwart impliziert natürlich eine Vergangenheit und eine Zukunft, von beiden sagen wir, daß sie nicht existieren." 32 Vgl. dazu Meads Ausführungen über die zeitliche Dimension des Zentralnervensystems, sowie zum Zusammenhang von verzögerter Reaktion und Intelligenz (vgl. Mead, Geist, S. 138 f.). 33 Mead, Geist, S. 160.
1.2 Zeit, Handlung und Sozialität bei G. H. Mead
47
Zeitreihen oder anders gesagt die Verknüpfung von Temporalität und Perspektive liegen ebenso wie bei Bieri in der Gegenwart, in der "gegenwärtigen Handlung". Handlung vollzieht sich in der Gegenwart, die damit der einzige Ort der Realität ist, denn alle Kenntnis, die wir über die Realität haben, ist auf gegenwärtige Erfahrung bezogen34 • "It follows that the whole world of things and substances, ... of meanings and possibilities, ... are and are understood in so far as they can be related to present experience. This is the initial eIue to the status of past, present, and future 35 ." Mead begreift die Welt als Prozeß, als eine Welt von Ereignissen, so muß auch die Gegenwart in Beziehung zu einem Ereignis definiert sein. Dieses Gegenwart konstituierende Ereignis nennt Mead "the emergent" oder "the novel"36, es entspricht bei Luhmann dem Begriff der Handlung als eines zeitbindenden Ereignisses 37 . Die Welt besteht aus einer Folge von Ereignissen, auf die sich das Individuum in seinem gegenwärtigen Handeln jeweils neu einstellen muß, es befindet sich in einem beständigen Anpassungsprozeß38. Diese Akte der Anpassung, die neuentstehenden Ereignisse oder Handlungen, sind wesentlich für die Konstitution von Perspektiven, denn außerhalb von geplanten oder aktuellen Handlungen gibt es keine Perspektiven. Die Verbindung von Temporalität und Perspektive liegt also in der gegenwärtigen Handlung und ihrer Funktion der Anpassung an Umweltprozesse. "The emergent event is characterized by uniqueness as weIl as by temporality. The uniqueness is the organization of its perspectives. The bringing together of past and future may here be generalized and called the organization of perspectives39 ." Jede neue Handlung schafft sich eine neue Zeitperspektive oder ein neues Zeitsystem (beide Ausdrücke werden von Mead synonym gebraucht), d. h. Zukunft und Vergangenheit werden von der neuen Perspektive aus rekonstruiert und als Bedingung (Vergangenheit) oder als Folge (Zukunft) des Neu-Entstandenen an dieses angeschlossen. Dieser Ausgangspunkt vom "emergent event" hat Konsequenzen für die Auffassung von Kausalität und für die Theorie der Zeit, da Vergangenheit und Zukunft als nicht-existierend und damit als bewußtseins- und interpretationsabhängig aufzufassen sind. 34 Mead, Sozialität, S. 229 ff. (Kap. 1 des Aufsatzes: "Die Philosophie der Sozialität - engl. The Philosophy of the Present, S. 229 - 324). 85 Leahy, D. M., A Pragmatic Theory of Past, Present, and Future, in: The Review of Metaphysics, Vol. 6, 1952/53, S. 369 - 380, S.372, vgl. Mead, Sozialität, S.255. 36 Mead, Sozialität, S.240, übersetzt als "das Neu-Entstehende". 37 Luhmann, Handlungstheorie, S. 211 f. 38 Mead, Sozialität, S. 106 f. und 118 f. Mead spricht hier vom "Korrigieren unserer Einstellungen bei erfolglosem Verhalten" (S. 118 - 119). 39 Tillman, S. 538.
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1. Zeit, Zeitbewußtsein und Handlung
Zur Kausalität: "Mead holds firmly to the tradition al belief that existing things have causes or necessary conditions for their existence. He holds that its past is the necessary condition for an emergent 40 ." Er hält also durchaus an der traditionellen Kausalitätstheorie fest und lehnt jeden Indeterminismus ab; er übernimmt jedoch nicht die Auffassung, daß Ursache und Wirkung qualitativ gleichartig sein müssen, im Sinne von "e nihilo nihil fit", wo davon ausgegangen wird, die Wirkung müsse in der Ursache liegen und wie diese beschaffen sein. Für Mead ist also die Wirkung nicht wie die Ursache: Ursache und Wirkung sind inkommensurabel 41 . "In fact it is just that qualitative difference between cause and effect which validates our distinguishing between cause and effect 42 ." Gerade diese Differenz macht ja das Neue erst als Neues sichtbar. Um etwas als die Ursache einer Wirkung zu begreifen, verläßt man das alte System der Perspektiven (Zeitsystem) und schließt vom schon vorliegenden Neuen (Wirkung) auf die Ursache, die in der Vergangenheit liegt, zurück - d. h. die Ursache wird immer schon im Lichte der neuen Gegenwart interpretiert, so daß der Zeitfluß als ein ununterbrochener Ursache-Wirkungszusammenhang homogenisiert wird. Das gleiche wie für die Vergangenheit gilt auch für die Zukunft, in die wir gemäß der uns bekannten "Gesetze" (d. h. Ursache-Wirkungs zusammenhänge) hypothetisch bestimmte Ereignisse projizieren. Treffen die angenommenen Ereignisse nicht ein, sondern treten stattdessen unerwartete Ereignisse ein, so setzt die Reflexion ein, verwirft die alten Hypothesen und konstruiert neue "Gesetze". Streng genommen sind also sowohl die Zukunft als auch die Vergangenheit nur hypothetisch gegeben, damit ist impliziert, daß jedes Neu-Entstehende alte Hypothesen über Vergangenheit und Zukunft falsifizieren kann, um seinerseits hypothetisch Vergangenheiten und Zukünfte als seine Ursachen und Folgen zu entwerfen. Eine ähnliche Auffassung von der Selektivität der Gegenwart, mit der sich auch jeweils die Selektionsmuster ändern können, vertritt offenbar Luhmann: "Jeder Moment hat Neuheitsqualität und ist von daher offen für Kontinuieren oder Diskontinuieren, Erhalten oder Verändern, Konformbleiben oder Abweichen im Sinne eines sachlich thematischen Vergleichs 43 ." Emergenz wird von ihm definiert als "Ordnung von Zeitverhältnissen in der Zeit"44. Jede neue gegenwärtige Handlung bringt also einen Perspektivenwechsel mit sich, wobei der "Moment" des Neu-Entstehens noch zwischen der alten und neuen Perspektive liegt, d. h. noch nicht zeitlich eingeordnet ist. Erst wenn die alte Per40 Miller, D. L., G. H. Mead's Conception of "Present", in: Philosophy of Science, 10, 1943, S. 40 - 46, S. 43 (im folgenden zitiert als Present). 41 Mead, Sozialität, S. 246 - 252. 42 Miller, Present, S. 43. 43 Luhmann, Zeit, S. 75. 44 Luhmann, Zeit, S. 74.
1.2 Zeit, Handlung und Sozialität bei G. H. Mead
49
spektive gänzlich von der neuen verdrängt worden ist, werden von ihr aus Vergangenheit und Zukunft neu geordnet. Aus ihrem nur hypothetischen Status folgt für Mead die Inexistenz von Vergangenheit und Zukunft als realen Zeitbestimmungen. Wird nur die Gegenwart als unaufhebbarer Jetzt-Moment erlebt, so heißt das nicht, daß Vergangenheit und Zukunft auf die Gegenwart reduziert würden, beide existieren als Zeithorizonte allerdings nur mehr bewußtseinsmäßig außerhalb jeder aktuellen Erfahrungsmöglichkeit. D. h. Vergangenheit und Zukunft sind in ihrer Bedeutung, die sie in Beziehung zur Gegenwart erhalten, "existent". Diese Arbeit der Deutung, die jedes Neu-Entstehende in einen kontinuierlichen Bedeutungszusammenhang integriert, wird nach Mead vom Geist (mind) geleistet; er betrachtet sie als anthropologische Notwendigkeit 45 . Mit jeder neuen Gegenwart scheint also eine Entstabilisierung verbunden zu sein, jede Gegenwart negiert die vorherige; das heißt jedes neue Erlebnis stellt den Menschen vor das Problem der Anpassung, Reorganisation oder "temporalen Integration"46. "As an organism we seek security and stability, but experience keeps us always off balance by introducing novelties which we must face up to, work out, and understand as dependable parts of our environment47 ." Diese Anpassung wird durch das kausale Anschließen von Vergangenheit (als Ursache) und Zukunft (als Wirkung der Gegenwart) geleistet. Bei Luhmann finden wir eine parallele Auffassung von der gegenwartskonstituierenden und integrierenden Aufgabe des Handeins: "Es ist nicht die sinnhafte Bestimmung, die das Handeln zum Handeln macht, sondern die Notwendigkeit, Gegenwart von Moment zu Moment zu reproduzieren. In diesem Sinne ist Handeln notwendig ... Handeln ist temporale Integration von Moment zu Moment, und dies (... ) als Selektion48 ." - Ich fasse kurz zusammen: Gegenwart kann man als existentiell, Vergangenheit und Zukunft als funktional (in Beziehung auf die Gegenwart) gegeben bezeichnen. Leahy zeigt das am Beispiel der Vergangenheit, die er in drei Formen differenziert: a) the given pastdamit sind die aus der Vergangenheit übrig gebliebenen Spuren (Dokumente etc.) gemeint, die noch in die Gegenwart hineinragen; b) the problematic past - damit ist die Vergangenheit in der bisher behandelten Form als gedankliche Rekonstruktion in Bezug auf die Gegenwart gemeint; c) the past as it was - Vergangenheit als die Summe aller Daten, die vor der Gegenwart lagen49 . Für letztere bestreitet Leahy, 45 46 47 48 49
Dazu: Leahy, S. 373. Luhmann, Zeit, S. 65. Leahy, S. 373. Luhmann, Zeit, S. 65. Vgl. Mead, Sozialität, S.255.
4 Bergmann
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1. Zeit, Zeitbewußtsein und Handlung
daß sie existieren, und zwar mit dem Argument, daß sich vergangene Ereignisse nicht mehr verändern ließen, folglich ihnen auch keine Existenz zugesprochen werden dürfte. - Für die pragmatistische Zeittheorie ist nur die Vergangenheitsform b) akzeptabel - Vergangenheit ist als Moment der Gegenwart nur durch ihre Funktion von dieser zu unterscheiden: daß nämlich für die Handlungssteuerung, die Auswahl von Alternativen auf Kenntnisse und Erfahrungen der Vergangenheit zurückgegriffen werden kann - im Sinne einer Vergegenwärtigung. Genau dasselbe läßt sich von der Zukunft sagen: sie ist ein hypothetisches Konstrukt einer möglichen Ereignisfolge, das auf sichtbare Tendenzen der Gegenwart aufbaut und diese nach vorn verlängert. Ihre Funktion ist die aller Hypothesenbildung: nämlich die Kontrolle der neuen Erfahrungen. - Gibt es Vergangenheit und Zukunft nur als Perspektiven der Gegenwart, wie kann man dann noch von Zeit sprechen? Zeit und Raum dürfen in der pragmatistischen Theorie nicht als existierende Entitäten gedacht werden. Es gibt vielmehr im engeren Sinne keine absolute Zeit und keinen absoluten Raum, sondern nur eine Vielzahl von zeitlichen und räumlichen Beziehungen. Hier greift das Konzept der Perspektive an, das die Wirklichkeit als ein Geflecht von Perspektiven bestimmt, wodurch jeweils spezifische Zeit- und Raum-Systeme ausgegrenzt werden. Es gibt also nicht die Gegenwart, die Vergangenheit und die Zukunft in einem absoluten Sinne, sondern nur systemrelative Zeitperspektiven. Aus dieser Relativität der Perspektiven ergibt sich für die soziale Interaktion das Problem der Integration der personalen Zeitperspektiven zu einer gemeinsamen sozialen Zeit. Dies führt uns im Zusammenhang von Temporalität und Perspektive auf eine letzte Frage: die nach der HersteIlbarkeit von Simultaneität. 1.2.3.1 Gleichzeitigkeit Könnten Individuen ihre Zeitperspektiven nicht teilen, d. h. sich über simultan in ihren Perspektiven auftretende Ereignisse nicht verständigen, wäre so etwas wie soziale Interaktion und Kommunikation nicht möglich. Sollen Perspektiven geteilt werden können, ergibt sich für die Zeitdimension das Problem der Synchronisation. Diese Synchronisation individueller Zeitperspektiven geschieht im wesentlichen durch die Etablierung konventioneller, d. h. intersubjektiv anerkannter Raum-ZeitSysteme (z. B. Uhren). Es muß also eine Handlungsabfolge geben - wie etwa das Abzählen einer sich gleichförmig wiederholenden Ereignisreihe -, die in allen möglichen Zeitsystemen auf alle Perspektiven zutrifft, in denen die raum-zeitliche Abfolge von Ereignissen in der einen Perspektive in einer 1 : I-Relation zur Ereignisfolge in einer anderen Perspektive steht. Die Uhr oder die Erdumdrehung liefern hier den
1.2 Zeit, Handlung und Sozialität bei G. H. Mead
51
Maßstab für die Gleichzeitigkeit. Sie sind Voraussetzung für die Kommunizierbarkeit der individuellen Perspektiven. Die Frage der Synchronisation führt uns aber bereits über den Bereich der Einzelperspektiven hinaus auf die Frage nach dem Zusammenhang von Perspektiven, in dem sich soziale Systeme konstituieren oder - allgemeiner - Sozialität herstellt.
1.2.4 Perspektive und Sozialität In "Geist, Identität und Gesellschaft" ist Sozialität bestimmt als die Fähigkeit, "die Rolle des Anderen" bzw. die Rolle des "generalisierten Anderen" zu übernehmen. "Taking the role of another happens when the individual is able to evoke in himself by his own behavior (gesture) the same response that his behavior evokes in another. The individual is, then, an object to himself, a subject because he looks at his own response, act, from the standpoint of another, or they share perspectives to which - by definition - both belong50." Rollenübernahme auf dem Weg symbolischer Interaktion ist der einzige Weg "to enter the complex system of interrelated perspectives which is social reality"51. Der Zusammenhang dieser Perspektiven, die von allen Mitgliedern einer Gesellschaft geteilt werden, ist in Meads Theorie der "generalisierte Andere", d. h. der Zusammenhang wird vorgängig über gesellschaftliche Normen hergestellt. Die gesellschaftliche Wirklichkeit entsteht nicht aus der überschneidung aller frei variierenden Einzelperspektiven, sondern die Einzelperspektiven entstehen aus einer gemeinsam verbindlichen Gesamtperspektive heraus, insofern ist die Kontingenz der Einzelperspektiven immer schon begrenzt. Die Orientierung am "generalisierten Anderen", der die gesellschaftliche Gesamtperspektive repräsentiert, wird im Sozialisationsprozeß erworben. "Only when the individual internalizes the objective perspectives of the other through taking on a role does socialization take place 52 ." Ist Identität einmal ausgebildet, ist es den einzelnen durchaus möglich, kreativ neue Perspektiven einzunehmen, die kommunizierbar und, wenn sie sich bewähren, auch intersubjektiv gültig werden können. Nach Tillman unterscheidet sich das frühe Konzept des "role taking" von der später von Mead entwickelten Theorie der Perspektive nicht nur in dem Sinne, daß ersteres dann einen Spezialfall der letzteren darstellt, sondern auch darin, daß der Rollenspieler wesentlich nur eine Zeitperspektive einnimmt; d. h. der Zusammenhang der Einzelperspektiven (Sozialität) ist gegeben innerhalb eines Zeitsystems. Mead geht später über diese Fassung des 50
61 52
Miller, Language, S. 33 f. Tillman, S. 541. Ebd.
52
1.
Zeit, Zeitbewußtsein und Handlung
Rollenbegriffs hinaus 53 , indem er eine gleichzeitige Anwesenheit in mehreren Zeitsystemen (multiple systems) annimmt. Dieser simultane Aufenthalt in mehreren Systemen ist nach Mead die präzise Formulierung von Perspektive. Das hat zur Folge, daß Mead das Individuum nicht länger als ein ,,1" und "Me", sondern als den Repräsentanten einer Perspektive erfaßt. Diese Perspektive enthält zwar immer noch ,,1"und "Me"-Aspekte, doch wesentlich ist die Übernahme sich überschneidender Perspektiven. Eingeschlossen in die Übernahme der Rolle eines Anderen ist die Übernahme seiner Zeitperspektive. Das Selbst, die Identität des Individuums wird nicht mehr so sehr über die Form des inneren Dialogs von ,,1" und "Me" hergestellt, sondern wird begriffen als Schnittpunkt (so in "Phi!. of the Present" von Mead neu konzipiert) von zahlreichen Zeitsystemen in der sozialen Erfahrung. Die Konstitution und Erhaltung der Identität ist also gebunden an die zeitlichen Verläufe von Kommunikationen und entsteht durch die Bewußtseinsleistungen der Erinnerung und Antizipation. Die Möglichkeit des Aufenthalts in mehreren Zeitsystemen zugleich ergibt sich aus der Struktur der Handlung, und zwar aus der Zwischenschaltung der reflexiven Phase. An dieser Stelle scheint es mir günstig zu sein, die Unterscheidung von "non-sharable perspectives" und "shared perspectives" nach D. L. Miller einzuführen54 • Ob eine Perspektive "sharable" oder "non-sharable" ist, hängt vom Verlauf der Handlung ab. Ist die Handlung nur der Ausdruck eines Impulses, folgt also dem Stimulus unmittelbar der Response oder, wie Mead sagt, die "consummatory phase" (s.o.), dann fehlt die Möglichkeit, sich selbst in eine andere Perspektive zu versetzen, da Alternativen gar nicht in den Blick kommen. So können Tiere sehr wohl in ihrer Perspektive eine Ereignisordnung herstellen, ihnen fehlt jedoch die Fähigkeit der Wahl, wie sie durch die Rollenübernahme von Anderen möglich wird. Der Mensch ist durch die Inhibierung der Handlung und die Zwischenschaltung der "manipulatory phase" dagegen in der Lage, gleichzeitig eine Vielzahl verschiedener Ereignisreihen zur Fortsetzung der Handlung in Betracht zu ziehen. Er kann virtuell eine Mehrzahl fremder Zeitperspektiven einnehmen, aus der Vergangenheit Anderer lernen, ihre Zukunftsvorstellungen berücksichtigen. Den in dieser Phase vorgestellten alternativen Handlungsabschlüssen entsprechen jeweils auch verschiedene Zeitsysteme. - Man sieht also, daß in der individuellen Handlung nicht nur eine neue Gegenwartskonstitution mit dem Entwurf neuer Zeithorizonte stattfindet, sondern daß in ihr auch jeweils die Zeitperspektiven Anderer miteinbezogen sein können. Damit komme ich zum letzten Punkt: dem Zusammenhang von Sozialität und Temporalität. 53 54
Tillman, S. 542 f. Miller, Language, S. 33.
1.2 Zeit, Handlung und Sozialität bei G. H. Mead
53
1.2.5 Sozialität und Temporalität Dieser Zusammenhang ist nach TiHman 55 auf dem frühen Stand der Meadschen Theoriebildung von "Geist, Identität und Gesellschaft" kaum berücksichtigt worden. Er konnte erst formuliert werden nach der Übernahme des Whiteheadschen Konzepts des Organismus als eines "percipient event" durch Mead in seiner späteren Arbeit "Philosophie der Sozialität". Es ist nach Meinung TiHmans sogar so, daß die Übernahme wesentlich durch Meads Absicht, den Zeitaspekt sozialen Handeins stärker zu betonen, motiviert worden ist. "What accounts for this change, in Mead's own words, is the ,taking of time seriously' " .56." Mit dieser Umstellung auf die Theorie der Perspektive gewinnt Mead einen neuen Begriff von Sozialität. In der alten Bedeutung in "Geist, Identität und Gesellschaft" wird der Begriff "Sozialität" für die "interrelations of individuals belonging to the same system"57 gebraucht. Das Verhalten jedes einzelnen ist normativ integriert über die Orientierung am "generalisierten Anderen". Die neue abgewandelte Fassung des Konzepts von Sozialität und Rollenübernahme kann man so kennzeichnen: "not only does the organism have the capacity of taking on the role of the other, as elaborated in Mind, Self and Society, but it now has the further capacity of occupying different systems at the same time. This simultaneous membership in multiple systems is the precise meaning of a perspective ... 58." Jeder einzelne sieht die Umwelt vom Standpunkt einer anderen Zeitperspektive, was zur Folge hat, daß die gleichen Ereignisse in einer Unzahl von Perspektiven verschieden geordnet gegeben sein können. Besitzen Ereignisse in der individuellen Perspektive jeweils eine eigene Raum-Zeit-Stelle, so kann eine gemeinsame soziale Zeit nur konstituiert werden, wenn jeder einzelne nicht nur in seiner eigenen Perspektive verharrt, sondern gleichzeitig die Zeitperspektiven von anderen Individuen bzw. die von ganzen sozialen Systemen miteinnimmt59 . Die Relativität des eigenen Zeitsystems wird nur deutlich, wenn man eine Ereignisreihe aus verschiedenen Perspektiven betrachten kann. Zur Erkenntnis dieser Relativität und zur Herstellung der Wechselseitigkeit von Perspektiven ist es unumgänglich, sich gleichzeitig in verschiedenen Zeitsystemen aufzuhalten 60 • 55 Tillman, S.542. 56 Ebd. vgl. Mead, Sozialität, S. 216, er spricht dort von der "Aufwertung der Zeit". 57 Miller, Language, S. 190. 58 Tillman, S. 542. Vgl. Mead, Sozialität, S. 217. "Zweitens gilt, daß nur insoweit, als das Individuum nicht nur in der eigenen Perspektive, sondern auch in der Perspektive von anderen, insbesondere in der gemeinsamen Perspektive einer Gruppe handelt, eine Gesellschaft entsteht ... " 59 Mead, Sozialität, S. 165. 60 Vgl. Mead, Sozialität, S. 217 f.
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1. Zeit, Zeitbewußtsein und Handlung
Die Identität der Person, das Selbst, stellt sich dann her in Form eines Schnittpunktes von zahlreichen Zeitsystemen in der sozialen Kommunikation. Diese Identität muß in doppelter Hinsicht einen Perspektivenwechsel überdauern können: a) einmal in der Abfolge von neuen Gegenwarten und entsprechend rekonstruierten Vergangenheits- und Zukunftshorizonten, zum anderen b) in der gleichzeitigen Einnahme verschiedener Zeitperspektiven in dieser Gegenwart. Als Identität kann man dann bestimmen, was sich, trotz dieser zweifachen Negation des jeweils gerade eingenommenen eigenen Zeitsystems, durchhält. " ... what is unique to the human organism (... ) is that it does not simply content itself with this passage (of perspectives, WB.), but can come back upon this very passage in its simultaneously maintained role of the self, and thus can organize and direct the character of this passage into pattern which constitute its new presents, its future. Through role-taking, man can participate in his own becoming, his own identity 61." "Im Prozeß der Kommunikation ist das Individuum ,ein anderer', bevor es es selbst ist. Indem es sich selbst in der Rolle eines anderen anspricht, erfährt es sich selbst als Selbst62 ." Personale und soziale Systeme müssen sich als identische durchhalten können, obwohl sie gleichzeitig (sozial) und nacheinander (temporal) sich in verschiedenen Zeitsystemen: Ordnungen nach Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft aufhalten. In jeder sozialen Handlung ist also stets ein Doppeltes zu leisten: eine temporale Integration der real nach früher/später geordneten Ereignisse von Moment zu Moment, d. h. eine stete Reorganisation der eigenen Zeitperspektive; und eine gleichzeitig-soziale Integration der Handlungs- und Zeitperspektiven der Interaktionspartner oder, abstrakter, der Umweltsysteme. Komplexe Systeme nun, wie psychische und soziale Systeme, können in ihren Reaktionen auf Umweltereignisse selektiv verfahren. D. h. Umweltereignis (Reiz) und Systemreaktionen sind nicht notwendig verknüpft, vielmehr bleibt dem System eine Wahlmöglichkeit zwischen verschiedenen Handlungen. D. h. diese Systeme relationieren ihre Elemente (Handlungen) nicht mehr über Punkt-für-Punkt-Beziehungen mit der Umwelt, sondern selektiv nach Gesichtspunkten dessen, was das System an Möglichkeiten besitzt. In der reflexiven Phase der inhibierten Handlung bei Mead ist diese Wahlmöglichkeit für alternative Fortsetzungen einer Ereignisreihe schon strukturell verankert; in ihr bieten sich gleichzeitig verschiedene Möglichkeiten einer zukünftigen Gegenwart zur Auswahl, von denen jedoch nur eine wirklich werden kann. Wir haben hier die Wahl zwischen alternativen Zeitsystemen und stoßen damit bei Mead auf ein Problem, das sich auch in der Luhmannschen und in der phänomenologischen Fassung des Zeitproblems findet: 61 62
Tillman, S. 540.
Mead, Sozialität, S. 220.
1.3 Temporale und possibilistische Handlungshorizonte
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auf die Verknüpfung der temporalen Modi Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft mit den possibilistischen Modalkategorien Wirklichkeit und Möglichkeit. 1.3 Temporale und possibilistische Handlungshorizonte
Die Analyse des Zusammenhangs von Zeit und Handlung bei Mead hat uns auf das Problem der Selektivität des HandeIns geführt, das dort an einer für die Zeittheorie und die Handlungstheorie entscheidenden Stelle auftrat. In der Reflexionsphase, in der die Handlung inhibiert ist, ist dem Handelnden eine Mehrheit von Möglichkeiten zur Vollendung der Handlung gegeben. In der handlungsabschließenden "consummatory phase" kann hingegen dann nur eine dieser Handlungsalternativen verwirklicht werden. Um Selektivität denken zu können, müssen stets zwei Ebenen der Modalität gleichzeitig vor Augen stehen: die des Möglichen und die des Wirklichen. Schon bei Mead wurde die Verquickung dieser possibilistischen Modi mit den temporalen Modi deutlich, denn die Handlungsgegenwart war als der Ort der Realität aufgefaßt worden und die Möglichkeiten wurden in der Sphäre einer noch offenen, so oder so noch bestimmbaren Zukunft angesiedelt. Doch birgt diese Parallelisierung, wie wir sehen werden, ihre Probleme, zur Zeit noch unlösbare wie Luhmann meint. "Auch heute sind wir weit entfernt, den Unterschied von possibiIistischen und temporalen Modalisierungen geklärt zu haben l ." Die Simultaneität von Möglichkeitsüberschuß und selektiver Wirklichkeit ist seiner Meinung nach mit heutigen Denkmitteln weder systemtheoretisch noch modaltheoretisch zu lösen 2 • Auch wenn ich im Moment keine gültige Lösung für die anstehende Frage formulieren kann, so scheint es doch sinnvoll, sie im Rahmen einer Grundlegung soziologischer Zeittheorie nicht auszusparen und einige mögliche Lösungen hier zu diskutieren. Die naheliegendste und gebräuchlichste Zuordnung der beiden Modalitätsformen ist ihre einfache Parallelisierung, wie man sie etwa in der Arbeit "über die Zeitmodi" von Böhme findet. Er ist der Auffassung, daß sich mittels der zeitlichen Modi auch die ontologischen Modalitäten Wirklichkeit, Möglichkeit und Notwendigkeit näher bestimmen lassen, indem erstere die Weisen, wie das Seiende ist, zeitlich differenzieren. Die Seinsweise des Gegenwärtigen (Handlungen und dynamische Dinge) wird ontologisch benannt als Wirklichkeit, eine Zuordnung, wie wir sie schon bei Mead kennen gelernt haben. Vergangen es Seiendes ist FakLuhmann, Weltzeit, S. 125. Luhmann, N., Grundbegriffliche Probleme einer interdisziplinären Entscheidungstheorie, in: Die Verwaltung, 4, 1971, S. 470 - 477, S. 473 - 474. 1
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1. Zeit, Zeitbewußtsein und Handlung
turn; "die Vergangenheit des Vergangenen ist Faktizität"3. Im ontologischen Sinne kann man diese Faktizität auch als Notwendigkeit bezeichnen. Die Seinsweise des Zukünftigen schließlich ist die der Möglichkeit. Zukünftiges und Vergangenes haben also nicht den Modus Wirklichkeit, sondern nur das Bewußtsein stellt sie als wirklich vor 4• In dieser Zuordnung stecken meines Erachtens zwei Probleme: 1) Es ist fraglich, ob man Gegenwart sowie Vergangenheit und Zukunft als gleichartige Zeitmodi behandeln kann. Nach Mead besitzt die Gegenwart einen besonderen Charakter, auf den auch Luhmann neuerdings in einem Aufsatz hingewiesen hat: "And the main question would be whether the treatment of the present as one of the modes of time is adequate 5." 2) Es ist zu fragen, ob die Ereignisse im zeitlichen Werden neben ihren temporalen Modi auch die ontologische Modalität wechseln, was ja letztlich auf eine Identifizierung temporaler und possibilistischer Modalformen hinausliefe, denn Mögliches wäre immer Zukünftiges, Notwendiges immer Vergangenes. Ich beginne mit der zweiten Frage, wobei ich mich im Hinblick auf das Problem der Selektivität auf die beiden Modalebenen Wirklichkeit/ Möglichkeit und Gegenwart/Zukunft konzentrieren werde. Der Verlauf der Theoriegeschichte (vgl. Pape, Faust, Hartmann) hat dazu geführt, daß wir in der Neuzeit vier verschiedene Möglichkeitsbegriffe unterscheiden müssen, die sich durch je verschiedene Dimensionen der Ermöglichung auszeichnen: 1) die logische Möglichkeit, das mittelalterliche "possibile logicum", das keinerlei weltlich-zeitliche Bedeutung besitzt, sondern der Weltschöpfung aus dem Nichts vorangeht 6 • 2) Die Real-Möglichkeit, die als ontologische Möglichkeit nach Maßgabe realer Ursachen und Bedingungen die Möglichkeit ,zu sein' oder ,zu werden' zuspricht; 3) die Erfahrungsmöglichkeit, die apriorisch, empirisch oder transzendental nach den jeweiligen Bedingungen der Möglichkeit von etwas fragt, damit aber noch keinen zeitlichen Sinn impliziert; 4) die kontingente Möglichkeit, die sich nicht auf wirkende Ursachen in der ontischen Dimension von Wirklichkeit und Möglichkeit bezieht, sondern auf die Dimension Notwendigkeit-Kontingenz. Sie meint die qualitative Stabilität oder zeitliche Permanenz, mit der sich Seiendes im Sein erhält. Möglichkeit besagt hier "Mutabilität", "Vergänglichkeit", "Zeitlichkeit" und Nicht-Seinkönnen7 • Böhme, G.: über die Zeitmodi, Diss., Hamburg 1966, S. 53. Böhme, S. 53. 5 Luhmann, Future, S. 139. 6 Faust, A., Der Möglichkeitsgedanke. SystemgeschichtIiche Untersuchungen, 2 Bde., Heidelberg 1932, S. 59 - 62. 7 Pape, 1., Tradition und Transformation der Modalität, 1. Band: Möglichkeit-Unmöglichkeit, Hamburg 1966, S. 237 f. 3 4
1.3 Temporale und possibiIistische Handlungshorizonte
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Diese verschiedenen Möglichkeitsbegriffe sind inkommensurabel, da sie sich auf je verschiedene Ebenen der einen Wirklichkeit beziehen, auf die hin sie das Möglichsein bezeichnen. In unserem Fall hat Böhme temporale und ontologische Modi in Beziehung gesetzt. d. h. er spricht von Möglichkeit im Sinne einer Realmöglichkeit, von Notwendigkeit im Sinne einer Realnotwendigkeit, denen auf dem Boden einer dynamisch verstandenen Wirklichkeit (vgl. die reale B-Reihe nach Bieri) ein zeitlicher Sinn zukommen soll. Ob die oben genannten Zuordnungen der temporalen und ontologischen Modi zu Recht bestehen, werde ich anhand der ontologischen Modaltheorie N. Hartmanns prüfen. Will man die temporalen und ontologischen Modi in ihrer Verknüpfung problematisieren, so muß man ausgehen vom Werden, vom Prozeß, die nach Hartmann die kategorialen Grundformen des Realen sind. Nicht der übergang von Sein zu Sein, von Nicht-Sein zu Sein (absolutes Werden), sondern die Art, wie überhaupt Dinge, Lebewesen usw. existieren, ist das Thema der Real-Ontologie8 • Läßt sich im Rahmen der Ontologie der Fall des "absoluten Werden" ausschalten, dann kann unsere Frage dahingehend präzisiert werden, daß festgestellt werden muß, ob sich entsprechend dem zeitlichen Werden (d. h. dem Wechsel der A-Bestimmungen: zukünftig, gegenwärtig und vergangen an einem Ereignis) eine ähnliche Abfolge an einem Ereignis für die ontologischen Modi aufweisen läßt. Zeitliches Werden kann man als temporale Modalisierung eines Ereignisses bezeichnen, dem nacheinander die Modi Zukunft, Gegenwart und Vergangenheit zukommen können, ohne daß sich das Ereignis ansonsten irgend wie modifizierte (vgl. Kap. 1.1.6). Können nun einem Ereignis parallel zu den temporalen Modi nacheinander auch die ontologischen Modi zugeschrieben werden? Am ontologischen Möglichkeitsbegrijj lassen sich nach Hartmann zwei Komponenten sondern: die vorschwebende Vielheit von Möglichkeiten oder die disjunktiven Möglichkeiten, die zukünftig offenstehen, teils verwirklicht und teils nicht verwirklicht werden, und die dem Anspruch auf Realität nicht standhalten; und die Real-Möglichkeit, die bezogen ist auf eine Kette von Realbedingungen, in der Späteres von Früherem abhängt und die damit zum Ausdruck eines Realverhältnisses wird. Im täglichen Leben bewegt sich unsere Erkenntnis des Möglichseins in bloß partialer überschau des Möglichen und seiner Bedingungen, Möglichkeit nimmt hier also die Form der Teilmöglichkeit oder der disjunktiven Möglichkeit an. Ein Partialaspekt ergibt im Erkennen notwendig ein doppeltes Möglichsein: nämlich die Möglichkeit des Seins und Nichtseins eines Ereignisses; in der die kontradiktorischen Gegen8 Hartmann, N., Möglichkeit und Wirklichkeit, Meisenheim a. Glan 1949 (2. Aufl.) S.7.
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1. Zeit, Zeitbewußtsein und Handlung
glieder A und non-A koexistieren. Diese disjunktive Möglichkeit hebt sich im übergang zum Wirklichsein auf: entweder A oder non-A kann wirklich sein 9 • Die disjunktive Möglichkeit bedeutet also einen Seinszustand neben der Wirklichkeit, sie ist eine unvollständige, uneigentliche Möglichkeit, die bei vollständiger Bekanntheit aller Bedingungen in die Realmöglichkeit übergehen würde. Genau diesen Charakter einer Teilmöglichkeit scheinen die möglichen Handlungsalternativen in der Phase der inhibierten Handlung zu besitzen. Ihnen fehlt eben zur Verwirklichung noch eine Bedingung, die sich durch die Wahl eines bestimmten Handlungsabschlusses herstellen ließe. Bleiben in diesem Fall Teilmöglichkeiten und Wirklichkeit zwei getrennte, unverträgliche Ebenen, so ist die Realmöglichkeit, die Hartmann auch "indifferente Möglichkeit" nennt, schlechthin verträglich mit der Wirklichkeit und der Notwendigkeit, sie ist kein "separater Seinszustand neben der Wirklichkeit"lo. Die Realmöglichkeit ist "Totalmöglichkeit", d. h. die Bedingungskette ist bis an das mögliche Ereignis heran geschlossen, dieses damit voll determiniert. Hartmann nennt dieses die relationale Struktur der Realmöglichkeit. Ist die Bedingungskette nicht geschlossen, so ist das Ereignis nicht möglich - also unmöglich. Diese Möglichkeit verschwindet nicht im Wirklichwerden, denn das real Möglichwerden ist im Grunde zugleich real ein Wirklichwerden. Wir können also in der Gegenwart von einer Realmöglichkeit nur sprechen, wenn wir die Kenntnis aller wirklichen Bedingungen haben. Daß diese Kenntnis angesichts der Komplexität der Welt kaum je vollständig zu erreichen sein wird, liegt nicht nur in dem eingeschränkten subjektiven Erkenntnisvermögen des Menschen begründet, sondern auch in der zeitlichen Struktur der Welt, in dem realzeitlichen Nacheinander des Auftretens dieser Bedingungen. Gegenwärtig haben wir für zukünftige Ereignisse real noch nicht alle Bedingungen gegeben - eine Vielzahl von Ereignissen bleibt möglich11 • Die Teilmöglichkeit ist also nicht bloße Erkenntnismöglichkeit, sondern sie besitzt einen Realaspekt. Aus all dem ergibt sich, daß die Möglichkeit (das gleiche gilt für die Notwendigkeit) abhängt von Bedingungen, die erkannt oder nicht erkannt in der Wirklichkeit vorliegen. Sie ist deshalb ein relationaler Modus, bezogen auf Wirklichkeit. Anders das Realwirkliche, es ist durch Relationslosigkeit und Abgelöstheit gekennzeichnet. Es ist nichts als das "nackte So-und-nicht-andersSein"12, die Welt so wie sie ist, denn jenseits der Realwirklichkeit gibt es weder Gründe noch Bedingungen; einen Sachverhalt, den man traditionell als "contingentia mundi" bezeichnet. Die fehlende Relationalität Hartmann, S. 49. Hartmann, S. 45 - 47. 11 Hartmann, S. 51. 12 Hartmann, S. 58.
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1.3 Temporale und possibilistische Handlungshorizonte
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drückt sich darin aus, daß Wirkliches unmittelbar gegeben ist als das Erlebte, Beobachtete etc., ohne Rekurs auf Gründe und Bedingungen. Wirklichkeit und Unwirklichkeit sind absolute und fundamentale Modi, denn die Modi Möglichkeit/Unmöglichkeit und Notwendigkeit 13 sind als relation ale und relative stets auf die fundamentalen zurückbezogen. Dies ist nach Hartmann das "modale Grundgesetz"14. Eine Parallele besteht in diesem Punkt zu den temporalen Modi, wo Vergangenheit und Zukunft auch als relationale Modi von der Gegenwart als modaler Grundlage zu unterscheiden sind. Nachdem ich die Modi Möglichkeit und Wirklichkeit je für sich näher bestimmt habe, gilt es nun, ihre Relation zu betrachten. Es lassen sich zwei grundlegend verschiedene Relationsformen aufweisen, je nachdem, ob man von der Realmöglichkeit (1) oder der disjunktiven Möglichkeit (2) ausgeht. (1) Für die Realsphäre gilt die vollständige Determination der realen Prozeßverläufe, also die Bekanntheit aller Bedingungen. Etwas ist erst dann möglich, wenn alle Bedingungen seiner Möglichkeit erfüllt sind, wir sprechen deshalb auch bei dieser Form der Möglichkeit von "Totalmöglichkeit". Sind nicht alle Bedingungen erfüllt, so ist ein Ereignis "nicht möglich", weder gegenwärtig noch zukünftig. Hartmann formuliert deshalb als "Totalitätsgesetz der Realmöglichkeit: Real möglich ist nur das, dessen Bedingungen alle bis zur letzten wirklich sind. Was nur partial möglich ist - woran also nur eine Bedingung fehlt - das ist real unmöglich15 ." Es bestehen also folgende Implikationen: "was real möglich ist, das ist auch real wirklich; und was real wirklich ist, das ist auch real notwendig 16 ." Sind die Bedingungsketten vollständig geschlossen, so gilt auch die Implikation von Möglichkeit und Notwendigkeit: "Die Bedingungen der Realmöglichkeit einer Sache sind zugleich die Bedingungen ihrer Realnotwendigkeit 17 ." Dieses letzte Implikationsverhältnis spielt für unser Problem des Werdens die ausschlaggebende Rolle. Möglichkeit und Notwendigkeit als relationale Modi greifen vor und verbinden - "auseinandergezogen in die zeitlich sukzessiv sich auffüllenden Bedingungsketten" - das Spätere mit dem Früheren 18• Im Realzusammenhang gibt es keine Seinsweise neben dem Realsein: Möglichsein und Wirklichsein, Früheres und Späteres haben dasselbe Realsein, sie liegen allerdings zeitlich auseinander. Dieses Auseinander ist identisch mit der allgemeinen zeitlichen Seins form des Realen, wie 13 Zufälligkeit gehört als Gegenstück zur Notwendigkeit hier jedoch nicht zu den relationalen Modi, sie hebt vielmehr die relationalen Modi auf - und umgekehrt (s. Hartmann, S. 88). 14 Hartmann, S. 71. 15 Hartmann, S. 158. 16 Hartmann, S. 134. 17 Hartmann, S. 163. 18 Hartmann, S. 255.
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1. Zeit, Zeitbewußtsein und Handlung
auch Husserl vom Außereinander der raumzeitlichen Welt als ihrer Grundstruktur spricht 19, nämlich mit dem "Werden". Insofern das Realwirkliche in seinen Bedingungen wurzelt, gehen ihm Möglichkeit und Notwendigkeit zeitlich voraus, so wie Bedingendes dem Bedingten, Früheres dem Späteren - das gilt jedoch nur für komplexere Bedingungsgefüge, nicht für eine einzelne Bedingungskette 20 • Als Ergebnis läßt sich also festhalten, daß eine Zuordnung der realontologischen und zeitlichen Modi der A-Reihe nicht gelingt. Es bestehen zwar auch zwischen den Modi zeitliche Unterschiede, doch in übereinstimmung mit Bieri sind sie als reale Seinsbestimmungen nach der B-Reihe geordnet: Möglichkeit und Notwendigkeit sind in bezug auf die Wirklichkeit zeitlich früher 21 • Böhmes oben beschriebene Zuordnung läßt sich für die real ontologischen Modi nicht aufrechterhalten, doch besteht noch die Möglichkeit, daß sich seine Zuordnung unter dem Gesichtspunkt der Teilmöglichkeit bewährt. (2) Die Form der disjunktiven Möglichkeit ist, wie wir gesehen haben, keine streng ontisch-kategoriale, sie hat einen anderen Bezug zum Modus der Wirklichkeit; sie ist ein Zustand des Seienden neben der Wirklichkeit, wie Hartmann sagt 22 • Was wir im täglichen Erleben als Möglichkeiten projizieren, sind keine Realmöglichkeiten, sondern Erkenntnismöglichkeiten, die auf unserer stets nur partiellen Einsicht in die gesamte Realsituation beruhen. Auf dieser nur partiellen Einsicht beruht die Annahme einer Vielheit von zukünftigen Möglichkeiten. Was in der Zukunft liegt, dessen Bedingungen sind gegenwärtig noch nicht alle gegeben, deshalb kann der Eindruck entstehen, daß unter den gegebenen Bedingungen der Möglichkeit vieles möglich ist, und zwar um so mehr, je weiter in der Zukunft eine Sache liegt. Ist die Bedingungskette bis zu einem möglichen Ereignis heran geschlossen, so bleibt nur noch eine Möglichkeit (die dann auch eine Notwendigkeit ist) übrig, die verwirklicht werden kann, während alle anderen Möglichkeiten zu diesem Zeitpunkt keine Realmöglichkeiten mehr sind. Es scheint, daß eine Zuordnung ontologischer und temporaler Modi nicht gelingt; daß aber eine solche Zuordnung möglich ist zwischen temporalen und gnoseologisch-ontologisch "gemischten" Modi. Auf diesen Modaltyp scheint Böhmes Parallelisierung der temporalen und possibilistischen Modi zu stimmen. Dieses Ergebnis muß nicht überraschen, wenn man bedenkt, daß sowohl die temporale A-Reihe wie auch die Husserl, Hua I, 5. Meditation. Hartmann, S. 256. 21 Damit haben wir nachträglich noch eine Bestätigung für die These, daß "einfaches Werden" als realer Prozeß nur der B-Reihe folgt, während die A-Reihe keine reale Zeitstruktur darstellt (vgl. Bieri, S. 17 f.). 22 Hartmann, S. 13. 19
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1.3 Temporale und possibilistische Handlungshorizonte
61
Teilmöglichkeit gnoseologische Strukturen sind, die sich letztlich an realen Weltstrukturen ausrichten, nämlich an der zeitlichen Abfolge von Ereignissen, die nach der B-Reihe geordnet auftreten. Dieser ontologisch-gnoseologische Mischtyp birgt jedoch einige Probleme in sich, denn wenn man für das alltägliche Realitätsbewußtsein konzediert, daß sein Möglichkeitsbewußtsein unter nicht-ontologischen Modalgesetzen steht und sich vom Wirklichkeitsbewußtsein ablöst, dann werden letztlich Wirklichkeit und Möglichkeit - ebenso wie ich es oben für Vergangenheit-Gegenwart-Zukunft gezeigt habe, zu rein bewußtseinsmäßigen Sinnkonstitutionen. Wirklichkeit und Möglichkeit sind dann nicht mehr Seinsweisen von Dingen und Ereignissen, sondern Korrelate von Bewußtseinsweisen, in denen diese erscheinen. Genau wie im Fall des Zeitbewußtseins müssen dann auch Wirklichkeits- und Möglichkeitsbewußtsein systemrelativ formuliert werden, d. h. jedes System wird von seiner Perspektive aus zu anderen Möglichkeitsprojektionen kommen. Diese Fassung des Möglichkeitsbegriffs fällt nun aber unter keinen der vier oben genannten modaltheoretischen Möglichkeitsbegriffe. - Es scheint mir deshalb sinnvoll, an dieser Stelle die Modaltheorie zu verlassen und statt dessen eine Lösung der Zuordnung von temporalen und possibilistischen Modi im Rahmen des phänomenologischen Horizontbegriffs zu suchen, der sowohl für den Zusammenhang von Wirklichkeit und Möglichkeit als auch - wie wir oben schon gesehen haben - für den Zusammenhang der temporalen Modi ein adäquates Konzept zu sein scheint. Auch Luhmann hat aus den Unklarheiten der Modaltheorie den Schluß gezogen, daß eine systemtheoretische Neuformulierung des Verhältnisses von Möglichkeit und Wirklichkeit nötig sei; er scheint mir dabei ebenfalls auf das phänomenologische Konzept des Horizonts zurückzugreifen (v gl. Kap. 2). Gehen wir zurück zu unserem Ausgangspunkt: der Selektivität gegenwärtigen Handeins und Erlebens. "Im Sequenzieren des eigenen Erlebens und Handeins, beim nächsten Schritt schon, muß man auswählen und beiseite lassen. Das gilt erst recht für den Kommunikationsprozeß sozialer Systeme. Das Woraus der Selektion bleibt mitfungierender appräsentierter Horizont, ohne den Erleben und Handeln nicht konkret erscheinen, nicht in der Welt situiert werden könnten 23 ." Man kann also unterscheiden zwischen aktuellen Handlungen und Erlebnissen, die sich durch wirkliche Präsenz auszeichnen und horizonthaft mitgegebenen Potentialitäten24 • Wie es scheint, lassen sich auch in diesem Fall die nicht-relationalen Modi Wirklichkeit und Gegenwart parallelisieren, so wie schon Mead die Gegenwart als Ort der Realität be23 Luhmann, N., Funktion der Religion, Frankfurt a. M. 1977, S. 22 (im folgenden zitiert als Religion). 24 Vgl. Husserl, Hua I, § 19.
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1. Zeit, Zeitbewußtsein und Handlung
stimmt hatte. Bei Husserl verschmelzen im Begriff der "Aktualität" und im Begriff der "Präsentation" der zeitliche Modus der Gegenwart mit dem Modus Wirklichkeit. Gegenüber dem nicht-relationalen Modus "Aktualität" sind die Zeit- und Möglichkeitshorizonte nur in Relationen auf aktuell Gegebenes bestimmbar. Jede Aktualität impliziert ihre Potentialitäten25, diese sind keine leeren Möglichkeiten, sondern Möglichkeiten, die von einem System auch tatsächlich verwirklicht werden könnten. D. h. ich kann einige der potentiell mitgegebenen oder - wiE' Husserl auch sagt - appräsentierten Gegebenheiten in wirkliche, gegenwärtige Präsentation überführen, damit gewinnne ich eine neue Aktualität mit einem neuen Horizont vorgezeichneter Potentialitäten. Einzelne Ereignisse können also die Modalform wechseln, d. h. gegenwärtig oder vergangen, aktuell oder potentiell gegeben sein, doch bleibt die Ebene von Zukunft-Gegenwart-Vergangenheit und die von Wirklichkeit und Möglichkeit stets voneinander geschieden. Die Möglichkeitsebene aktuell nicht gewählter, aber wählbarer Alternativen begleitet jede aktuelle Selektion. Die Wirklichkeit erscheint auf diese Weise als kontingent, wenn man Kontingenz im Sinne der modaltheoretischen Tradition als nicht notwendige Möglichkeit (vgl. oben die 4. Möglichkeit) versteht 26 . Versteht man Potentialität in diesem Sinne als stete Verweisung auf die Selektivität des je aktuellen Erlebens, ganz gleich ob es sich um vergangenes, gegenwärtiges oder zukünftiges handelt, dann verliert der Begriff der Möglichkeit seinen in der Teilmöglichkeit mitgedachten zeitlichen Sinn. Mit der Horizontkonzeption entfällt die Parallelisierungsmöglichkeit von temporalen und possibilistischen Modi, denn Mögliches geht dem Wirklichen nicht mehr zeitlich voran, sondern ist als Appräsentiertes mit dem Präsentierten gleichzeitig gegeben, beide bilden nach Husserl eine "Funktionsgemeinschaft"27 in der Erfahrung. Die Trennung von Möglichkeit und Wirklichkeit durchzieht alle temporalen Modi, liegt also quer zur temporalen Differenzierung, so verliert eine in der Vergangenheit liegende Selektion nicht ihre damals horizonthaft mitangezeigten Potentialitäten. Was als Selektionshorizont erscheint, ist nun abhängig von Bedingungen der Möglichkeit, denn Möglichkeit ist sozusagen ein unvollständiger Begriff. Mögliches kann in unterschiedlichen Möglichkeitshorizonten auftreten. Mit Luhmann kann man die Bedingungen der Möglichkeit zunächst ganz allgemein nach zeitlichen, sachlichen und sozialen Gesichtspunkten unterscheiden 28. Was in einem System zeitlich möglich ist, hängt ab von seiner temporalen Komplexität. (vgl. Kapitel 7) 25 Vgl. Husserl, Hua I, S. 81. 26 Luhmann, N., Systemtheoretische Argumentationen. Eine Entgegnung
auf Jürgen Habermas, in: Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie, Frankfurt a. M. 1971, S. 291 ff., S.310. 27 Husserl, Hua I, S. 150. 28 Luhmann, Religion, S. 22, Fußnote.
1.3 Temporale und possibilistische Handlungshorizonte
63
Kommen wir abschließend auf die zweite oben gestellte Frage zurück: Wieweit kann man die Gegenwart als einen mit Vergangenheit und Zukunft gleichartigen Zeitmodus behandeln? Luhmann hatte bezweifelt, daß die Gegenwart überhaupt als temporaler Modus anzusehen ist 29 , denn so wie der Modus Wirklichkeit besitzt auch die Gegenwart einen speziellen Status: sie ist nicht-relational. Dagegen sind Vergangenheit und Zukunft relationale Modi oder, anders gesagt, Zeithorizonte der Gegenwart. "The present, then, gets its special status by its function of integrating time and reality and of representing a set of constraints for the temporal integration of future and past30 ." Die Gegenwart wird zum Knotenpunkt in einem doppelten Sinn: einmal ist sie der Nullpunkt oder Bezugspunkt für die Zeithorizonte von Vergangenheit und Zukunft, d. h. diese haben ihre Basis in einem gegenwärtig existierenden Bewußtsein und können nicht unabhängig von ihm existieren; zum anderen leistet das gegenwärtige Bewußtsein die Integration der realen Zeitordnung der Ereignisse und ihrer bewußtseinsmäßigen Darstellung nach A-Bestimmungen. Aufgrund dieser Sonderstellung wird die "Gegenwart" bei Husserl, Mead und auch bei Luhmann zum wichtigsten Modus nicht nur ihrer Zeittheorie. Gegenwart wird zum "Ort der Realität", nur in ihr ist die Welt im Modus des Gegenwärtigens gegeben, während die vergangenen und zukünftigen Ereignisse nur durch Vergegenwärtigungen gegeben sind, die ihre Basis immer in Gegenwärtigungen haben müssen. Reflexive temporale Modalisierungen (s. Kap. 2) müssen deshalb ihre Basis immer in einer Gegenwart haben. Jede Gegenwartskonstitution im Handeln oder Erleben, ganz gleich, ob dieses gegenwärtig statthat oder in der Vergangenheit stattgefunden hat oder in der Zukunft stattfinden wird, steht immer zugleich in zwei Horizonten: im Horizont gegenwärtiger Handlungs- und Erlebensalternativen und im Doppelhorizont der Zeit. In jeder gegenwärtigen Handlung (Gegenwart und Wirklichkeit) müssen also jeweils zwei Ebenen präsentgehalten werden, die die Selektivität des HandeIns erst als solche erscheinen lassen. Der Horizont von Potentialitäten, der nach Husserl jedes aktuelle Erleben umschließt, setzt sich mindestens aus zwei Komponenten zusammen: jedes aktuelle Erleben besitzt als lebendige Horizonte die Retention und die Protention, die zwar in gewissem Sinne noch zur Gegenwartsphase gehören, die aber bereits, wie Fink sagt, "Entgegenwärtigungen" sind31 ; es gibt jedoch noch eine weitere Form der Entgegenwärtigung: die Appräsentation. Diese Form ist m. E. nicht einzuordnen unter die temporalen Modi, denn das Appräsentierte ist nicht das zeitlich Nicht-Gegenwärtige, sondern es ist das in Luhmann, Future, S. 139. Ebd. Fink, E., Vergegenwärtigung und Bild, in: ders., Studien zur Phänomenologie 1930 - 1939, Den Haag, 1966, S. 1 - 78, S. 22. 29 30 31
2. Zeitkonstitution in sozialen Systemen - N. Luhmann
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modifizierter Weise Mitgegenwärtige, und zwar das in der Weise der zu verwirklichenden Möglichkeit Gegenwärtige. Ein anderer Ausdruck in phänomenologischer Sprache wäre für die Ebene des Möglichen der Begriff des "Gegenwartshorizonts"; die Möglichkeiten zeigen für jede aktuelle Selektion simultane Alternativen an, ein "Ich kann anders als ich tue"32. Die Zeithorizonte und der Möglichkeitshorizont bleiben gewöhnlich latent, d. h. eine ablaufende Handlung kann, solange nicht aufgrund einer Störung eine Reflexionsphase eingeschaltet werden muß, beendet werden, ohne daß die Selektivität des Handeins bewußt wird. Erst in der Inhibierung treten der Horizont gegenwärtig möglicher Handlungsalternativen und die Zeithorizonte aus der Latenz heraus und machen die Selektivität des Handeins manifest: die gegenwärtige Handlung kann sich selbst als gegenwärtige Selektion auf dem Hintergrund vergangener und zukünftiger Selektionen und gegenüber anderen gleichzeitigen Möglichkeiten begreifen. Ich komme im folgenden Kapitel noch im Zusammenhang mit Luhmanns Begriff der "Modalisierung" auf dieses Thema zurück. 2. Zur Konstitution von Zeit in sozialen Systemen - N. Luhmann Die voranstehenden, eher philosophisch als soziologisch zu nennenden Erörterungen stellen den Versuch dar, die zeittheoretischen Grundlagen zu explizieren, auf denen sich mein soziologisches Zeitkonzept gründen wird. Diese philosophische Grundlegung, die sich, nun verknüpft mit systemtheoretischen Annahmen, auch in diesem Kapitel noch fortsetzen wird, ist nicht als ein bloß schmückendes Beiwerk anzusehen, von dem die Soziologie unbeschadet absehen kann, sondern Bedingung dafür, daß überhaupt ein klarer soziologischer Begriff von Zeit gewonnen werden kann, der über das bisher vorherrschende verschwommene Alltagsverständnis des Soziologen hinausgeht. M. E. rührt die bisherige Vernachlässigung bzw. inadäquate Behandlung der Zeit in der Soziologie gerade von dem Verzicht auf die Explikation des zugrundeliegenden Zeitbegriffs her - vergleiche etwa die Arbeiten von Sorokin / Merton, Moore, Goody u. a. N. Luhmann ist nun einer der wenigen Soziologen, die sich gegenwärtig um die Erarbeitung eines zeittheoretisch fundierten Zeitbegriffs und seinen Einbau in soziologische Theorie bemühen. Die Verknüpfung meiner zeit theoretischen überlegungen mit den systemtheoretischen Arbeiten Luhmanns zur sozialen Zeit wird relativ leicht möglich sein, da beide weitgehend an den gleichen philosophi32
Husserl, Hua I, S. 82.
2.1 Formulierung eines soziologischen Zeitbegriffs
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schen Theorien orientiert sind; vor allem ist hier die Phänomenologie Husserls zu nennen. Während die herkömmliche soziologische Systemtheorie Parsonsscher Prägung dem Problem der Zeit kaum Aufmerksamkeit geschenkt hat, wird es durch die von Luhmann durchgeführte Vereinigung systemtheoretischer und phänomenologischer Grundkonzeptionen zu einem Zentralproblem. Die Systemtheorie muß sich dem Problem der Zeit stellen, sobald sie das Sinnproblem einbezieht, d. h. nach den sozialen Bedingungen der Konstitution von sozialer Welt und damit auch von Zeit und Geschichte fragt. Zeitlichkeit wird so zu einer konstituierenden Dimension des Gegenstandes der Soziologie. Wie wir im weiteren sehen werden, orientiert sich Luhmann zwar zeittheoretisch weitgehend an der Phänomenologie, doch baut er auch Konzepte aus anderen Theorietraditionen wie der allgemeinen Systemtheorie oder der philosophischen Modaltheorie mit ein.
Luhmann geht davon aus, daß das Zeitproblem in der Soziologie bisher im wesentlichen in zwei Richtungen angegangen worden ist: 1. Die Soziologie hat zwar erkannt, daß das Zeitbewußtsein nicht in allen sozialen Systemen gleich ist, sondern abhängt von deren sozialer Struktur. Sie hat diese These auch hinsichtlich einiger Aspekte (wie Zeittempo, Zeitknappheit und Weite des Zeithorizonts) ausgearbeitet, es jedoch an einer umfassenden theoretischen Begründung fehlen lassen. 2. Die Theorie der bürgerlichen Gesellschaft hat im Anschluß an Marx "die Geschichtlichkeit der je gegenwärtigen gesellschaftlichen Bewußtseinslage und ihrer Reflexionsmittel diskutiert", allerdings noch allzusehr im Rahmen erkenntnistheoretischer Fragestellungen, so daß auch hier von einer soziologisch-theoretischen Behandlung des Zeitproblems nicht gesprochen werden kann 1 • Luhmanns Ziel ist es nun, diese Teilaspekte in einem abstrakten, systemtheoretischen Ansatz zusammenzufassen, der die soziale Konstitution von Zeit, Zeitbewußtsein ete. in und durch soziale Systeme theoretisch befriedigend erfassen kann. Voraussetzung dafür ist eine philosophische Theorie der Zeit. 2.1 Zur Formulierung eines soziologischen Zeitbegriffs
Das Problem bei der Formulierung eines soziologischen Zeitkonzepts liegt für Luhmann nicht so sehr auf seiten der soziologischen Theorie, sondern im Fehlen einer brauchbaren Zeittheorie, die im wesentlichen von der Philosophie zu erarbeiten wäre. "However, we still do not have a satisfaetory eoneept of time. The prevailing solution to this problem is the distinction of several different notions of time 2 ." Welche Zeitbe1 2
Luhmann, Weltzeit, 8.104. Luhmann, Future, 8. 134.
5 Bergmann
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2. Zeitkonstitution in sozialen Systemen - N. Luhmann
griffe Luhmann hier meint, bleibt offen, wahrscheinlich die Auffassung von Zeit als Chronologie und Zeit als "Zeitbewußtsein". Die Unklarheiten in der Zeittheorie machen es der Soziologie schwer, Variationen in der Struktur sozialer Systeme mit Variationen der Temporalstruktur zu korrelieren. Wesentliche Fortschritte in dieser Beziehung können nach Luhmann erst dann erzielt werden, wenn die Zeittheorie von der chronologischen Zeitauffassung, die ja keinerlei qualitative Differenzierung der Zeit und damit auch keinerlei Beschränkung von Kontingenz ermöglicht3 ("everything is possible in the long run"4) übergeht zu einem Zeitkonzept, in dem die Temporalstrukturen selbst schon die Kontingenz, d. h. die Möglichkeiten des Wandels und des Auch-andersmöglich-sein-Könnens einschränken. "It is aprerequisite of correlations that both variables are reduced contingencies in the sense that they cannot assurne any shape whatever. We have, therefore, to look for time-inherent restrictions of possible correlations (... ) before we set out to establish correlations between system structure and temporal structure5 ." Ein soziologischer Zeitbegriff darf sich also nicht wie der naturwissenschaftliche Zeitbegriff auf die Vorstellung von Zeit als einer Reihe qualitätsloser Zeitpunkte gründen, sondern muß soziale Zeit als eine in bestimmter Weise bewußtseinsmäßig konstituierte und qualitativ differenzierte Struktur begreifen. Die Temporalstrukturen dürfen nicht als ontologische Merkmale von Wahrnehmung und Welt gedacht werden, die diesen immer in gleicher Weise zukommen, sondern sie müssen als sozial konstituierte und damit auch als evolutionär variable Strukturen aufgefaßt werden. Zeit ist also ein Aspekt der sozialen Konstruktion von Wirklichkeit. über diesen Punkt dürfte wohl in der soziologischen Literatur Einigkeit bestehen, und auch die phänomenologischen Analysen der intermonadischen Zeit und die Auffassungen Bieris (allerdings nur was die A-Reihe betrifft) unterstützen dieses Zeitkonzept. Bei seinem Versuch, einen soziologisch brauchbaren Zeit begriff zu formulieren, stößt auch Luhmann auf die Frage nach dem Verhältnis von Bewegung und Zeit. Er schließt sich in der Ablehnung der Möglichkeit direkten Zeiterlebens an die von Aristoteles über Augustin, die Scholastik bis hin zu Piaget reichende Tradition an und faßt Zeit demgemäß als eine "intellektuelle Konstruktion" auf 6 • Die Tatsache, daß Zeiterfahrung nicht ohne die Erfahrung von Veränderung, sei diese 3 Vgl. z. B. in der antiken Zeitauffassung die Auszeichnung von günstigen Zeitpunkten für das menschliche Handeln - der Begriff des "kairos"; dazu: Kerkhoff, M., Zum antiken Begriff des Kairos, in: Z.f.phil.F.27, 1973, S.256 bis 274. 4 Luhmann, Future, S. 148. 5 Luhmann, Future, S. 148. 6 Vgl. Rammstedt, Alltagsbewußtsein, S. 47.
2.1 Formulierung eines soziologischen Zeitbegriffs
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eine externe Bewegung oder nur eine interne Veränderung der Daten des Bewußtseins, möglich ist, ist in der Zeitphilosophie - z. B. bei McTaggert 7 und in der empirischen Psychologie weithin anerkannt, sie wird auch von Luhmann nicht bestritten. Er gibt jedoch diesem Zusammenhang von Veränderungs erfahrung und Zeit in seiner Zeitdefinition einen nur untergeordneten Status, indem er, dem späten Husserl folgend, die Erfahrung von Veränderung und Bewegung als Fundierungsstufe begreift, auf der man noch nicht von Zeiterfahrung sprechen könne. "Die Zeit kann nicht als Fluß, als eine Bewegung, und auch nicht als Maß der Bewegung gedacht werden. Im Bewegungsbegriff ist ja in unerkannter Weise der Zeitbegriff schon vorausgesetzt8 ." Luhmann definiert Zeit, um einer Vermengung von Zeitbegriff und Bewegung zu entgehen, ebenso wie wir es für die Soziologie vorschlagen, nur über A-Bestimmungen als "the interpretation of reality with regard to the difference between past and future"9. Diese bewußtseinsmäßige Konstitutionsleistung setzt voraus, daß die Erfahrung von - meiner Meinung nach realzeitlich geordneter - Veränderung und Bewegung im täglichen Leben immer schon gegeben ist und den Ausgangspunkt für "it's own timing"10 darstellt. Diese Erfahrung, die Luhmann noch nicht als Zeiterleben verstanden wissen will, existiert schon auf der Ebene des organischen Lebens und präformiert als fundierende Schicht - im phänomenologischen Sinne - die Universalität der Zeit auf der kulturellen Ebene. Zeiterleben und die Ausbildung von Zeitbewußtsein stellen also bereits höherstufige Konstitutionsleistungen dar, die auf Prozessen der Wahrnehmung von Bewegung, Veränderung und Dauer beruhen. Ob sich dieser Fundierungsgedanke und die "Zeitlosigkeit" der Unterstufe halten lassen, will ich zunächst in einem Exkurs über die Ontogenese des Zeitbegriffs an empirischem Material prüfen, bevor ich dann mit der Darstellung von Luhmanns Zeitbegriff fortfahre.
Exkurs: Die Ontogenese des Zeitbegriffs -
Jean Piaget
Wenn man Zeit als interpretative oder konstruktive Leistung begreift, dann stellt sich natürlich die Frage, ob diese bewußtseinsmäßige Ordnung externer Daten dem Menschen schon von Geburt an möglich ist oder ob sie einer Ontogenese unterliegt; und wenn sie einer Entwicklung unterliegt, wie dann präkonstruktive "Zeitordnungen" aussehen. 7 "It would, ... , be universally admitted that time involves change ... there could be no time if nothing changed." (McTaggert, S. 309, zitiert nach Bieri, S. 21.) 8 Luhmann, N., Vertrauen, Stuttgart 1973, 2. Aufl., S. 8 (in folgenden zitiert als Vertrauen). 9 Luhmann, Future, S. 135. 10 Ebd.
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2. Zeitkonstitution in sozialen Systemen - N. Luhmann
Für Piaget sind Raum und Zeit - zumindest aber ein adäquater, voll entwickelter Zeitbegriff - nicht einfach anschauungsmäßig gegeben, sondern gehen aus bewegungskoordinierenden infra-logischen oder physikalischen Operationen hervor, d. h. aus Operationen, die es mit Lagen und Zuständen zu tun haben und so die Veränderungen von Gegenständen zueinander ausdrücken. Operationen der Doppelreihenbildung führen das Kind über die Anschauung hinaus zur verstandesmäßigen Konstruktion von Zeit, die Piaget dementsprechend als "operative Zeit" bezeichnet. Solange es sich nur darum handelt, die Abfolge einer Bewegung zu erfassen, fällt die zeitliche Bewegung mit der räumlichen zusammen: "Bei dem Wahrnehmen der Bewegung als solchem besteht also kein spezifisch zeitliches Probleml l ." Für einen Nachvollzug der Bewegung reicht deshalb ihre "anschauliche Reproduktion"; auf dieser Ebene kann Zeit intuitiv oder anschaulich erfaßt werden. Diese Form der Zeitanschauung kann die Beziehungen von Folge und Dauer nur so erfassen, wie sie in der unmittelbaren äußeren und inneren Wahrnehmung gegeben sind, das reicht nicht aus zur Bildung adäquater Beziehungen von Gleichzeitigkeit, Sukzession und Dauer. Bewegungen mit zwei verschiedenen Geschwindigkeiten können im Stadium des anschaulichen Denkens nicht koordiniert werden, da die Anschauung ihrem Wesen nach immer nur einen Vorgang erfassen kann, d. h. durch "ihre Bindung an die unumkehrbare Handlung ,realisiert' die Anschauung die Zeit, statt ihre bewegliche Struktur auszubilden, ... "12. Operative Zeit dagegen ergibt sich nicht durch die Anschauung einer einzelnen Bewegung, sondern erst durch das In-Beziehung-Setzen zweier oder mehrerer Bewegungen. Piaget spricht in diesem Zusammenhang von "gleichzeitigen Umstellungen", die entweder direkten Kausalbeziehungen oder den Interferenzen kausaler Reihen entspringen und die die Zeit bestimmen 13 • Diese Koordinationsleistung scheint eine genetisch höhere Stufe der Zeitkonstitution darzustellen, sie ist dem Menschen nicht von Geburt an möglich. Erst im Nachvollzug der genetischen Entwicklung können wir also zu einer Klärung des Verhältnisses von Zeit und Bewegung kommen. Bei seinen Untersuchungen zur Entwicklung des Zeitbegriffs bei Kindern zwischen 5 und 9 Jahren kommt Piaget zur Annahme einer dreistufigen Entwicklung, wobei die zweite Stufe in einigen Fällen noch in zwei Teilstadien differenzierbar ist. Eine Dreistufigkeit von 1. unmittelbarer Anschauung, 2. gegliederter Anschauung und 3. operativer Gruppierung von Zeit findet sich hinsichtlich aller untersuchten Zeit11 Piaget, J., Die Bildung des Zeitbegriffs beim Kinde, Frankfurt a. M. 1974, S. 63 (im folgenden zitiert als Bildung). 12 Piaget, Bildung, S. 99. 13 Piaget, Bildung, S. 56.
2.1 Formulierung eines soziologischen Zeitbegriffs
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aspekte: für Sukzession, Dauer von Intervallen, Gleichzeitigkeit, Vergleich von Zeitstrecken, Transitivität der Gleichheitsrelationen. Stufe 3 setzt ein logisches, nicht zentriertes Denken voraus, das erst mit ca. 8 bis 9 Jahren ausgebildet ist. In den vollausgebildeten Begriff der operativen Zeit gehen drei Arten von Operationen ein: a) Operationen der Reihenbildung, b) Operationen der Klasseninklusion, d. h. der Inklusion von Teilstrecken in eine Gesamtzeitstrecke, c) Operationen der Zeitmessung, die eine Synthese aus den ersten beiden Operationen darstellt 14 • In den Stadien des anschaulichen Denkens (1 + 2) ist keine dieser Operationen möglich. Auf diesen Stufen ist die zeitliche Ordnung einer Bewegung noch undifferenziert von ihrer räumlichen Ordnung, d. h. sie kann nur zu "richtigen" Zeit ordnungen führen, wenn es sich um eine einzige lineare Bewegung handelt. Es fehlt dem Kind auf dieser Stufe die Fähigkeit, eine spezifisch zeitliche Reihe zu bilden, weil es nicht über die Vorstellung einer homogenen Zeit verfügt, die allen sukzessiven Ereignissen gemeinsam ist15 • "Die Zeit des Stadiums 1 ist also eine örtliche Zeit im doppelten Sinne des Wortes: als nicht allgemeine, sondern von einer Bewegung zur anderen wechselnde Zeit und als Zeit, die sich mit der räumlichen Anordnung, ... , deckt. Sie ist also, ... , eine Zeit ohne Geschwindigkeiten oder eine Zeit, die nur dann homogen gemacht werden könnte, wenn alle Geschwindigkeiten dieselben und gleichförmig wären 16 ." Zeit ist hier also noch nicht aus den Wahrnehmungen von Raum und Bewegung ausdifferenziert. Piaget vertritt deshalb die für unsere Fragestellung wichtige These, daß nicht Raum und Zeit als Grundanschauung gegeben sind - wie es der klassischen Mechanik entspräche -, sondern daß entsprechend der Relativitätstheorie "die Anschauungen des durchlaufenen Raumes und der Geschwindigkeit die ursprünglichen sind, und daß die Zeit sich allmählich aus ihnen heraus differenziert, ... "17. Die experimentell gewonnenen Ergebnisse mit Kindern der Stufe 1 + 2 sollen diesen Zusammenhang von Zeit und Bewegung bestätigen, wonach unmittelbar erlebbar nur Geschwindigkeit sein soll, die Bewegung, Rhythmus und Raum einschließt. Dieser Befund Piagets würde die phänomenologische Annahme einer genetischen Stufung stützen, nach der unserem Zeitbewußtsein ein Erleben von Veränderung und Bewegung zugrunde liegt, das man selbst wiederum noch nicht als Zeiterleben begreifen kann. Luhmanns Zeitdefinition wird also von den Ergebnissen der Entwicklungspsychologie gestützt. - Doch sehen wir uns die Ergebnisse Piagets genauer an, indem wir besonders auf die Verhältnisse zwischen den anschaulichen 14 Piaget, J., Einführung in die genetische Erkenntnistheorie, Frankfurt a. M. 1973, S. 86 (im folgenden zitiert als Einführung). 15 Piaget, Bildung, S. 208. 16 Piaget, Bildung, S. 363. 17 Piaget, Bildung, S. 65 - 66.
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2. Zeitkonstitution in sozialen Systemen - N. Luhmann
und den operativen Begriffen von Raum, Zeit und Geschwindigkeit achten. Wie bekannt, führen die Definitionen von Zeit und Bewegung stets in einen Zirkel: Bewegung läßt sich als eine Beziehung zwischen Zeit und Raum bestimmen (v = sft); Zeit wiederum ist nur meßbar, wenn eine konstante Bewegung gegeben ist (t = sfv). Für die Ebene der operativen Begriffe gilt: "Es ist unmöglich, für ,Zeit' eine zirkelfreie Realdefinition zu formulieren, die sie auf Bestimmungen zurückführte, die man nicht bereits als ,zeitlich' bezeichnen würde 18." Piaget erklärt es nun zu einer Aufgabe der genetischen Erkenntnistheorie, diesen Zirkel aufzulösen 19. Dies ist aber nur möglich, wenn sich einer der beiden Begriffe in der genetischen Entwicklung als der fundamentalere, d. h. frühere erweist und die Entwicklung des anderen ermöglicht. Piagets Hypothese ist, daß der Begriff der Bewegung (bzw. der Geschwindigkeit) fundamentaler sei, da es eine primitive Intuition von Geschwindigkeit gibt, während sich im Hinblick auf die Zeit nichts entsprechendes finde 20, und daß sich Zeit als eine Koordination von Bewegungen oder Geschwindigkeiten definieren lasse. Es müssen also zwei verschiedene Geschwindigkeitsbegriffe auseinandergehalten werden: der "klassische Begriff der Geschwindigkeit"21 als Raum-Zeit-Beziehung tritt ontogenetisch erst recht spät auf, dagegen läßt sich früh (bereits auf der I. Stufe) eine intuitive Erfassung von Geschwindigkeit feststellen, die nicht auf der Wahrnehmung zeitlicher Dauer, sondern auf dem Phänomen des "Überholens" basiert. Diese primitive Intuition beruht auf Sukzession, nicht auf der Dauer: sie ist eine Intuition der Ordnung. Damit ist zweifellos ein fundamentalerer Geschwindigkeitsbegriff formuliert als der auf Messung von Zeit und Raum beruhende, es ist allerdings damit noch nicht gezeigt, daß dieser Ordnungsbegriff "zeitfrei" formulierbar ist. Genau das scheint nach Piagets Darstellung gerade nicht der Fall zu sein, wenn er auch in Entsprechung zu den Geschwindigkeitsbegriffen zwei Zeitbegriffe unterscheidet: einen Begriff der Aufeinanderfolge, d. h. der Ordnung von Ereignissen, der allerdings nicht auf einer primitiven Intuition beruhen soll, und einen Begriff, der die Intervalle oder die Dauer zwischen zwei Ereignissen erfaßt. Diese Unterscheidung soll sogar die Voraussetzung für die Möglichkeit sein, zwei Geschwindigkeitsbegriffe zu unterscheiden, was wiederum die Grundlage für die Vermeidung des Zirkels von Zeit und Bewegung sein soll. Mir scheint, daß durch die Unterscheidung eines zeitlichen Ordnungsbegriffs und eines Begriffs der Dauer die Zirkelhaftigkeit gerade nicht aufgehoben wird, denn die 18 Bieri, S. 14. 19 Piaget, Einführung, S. 69. 20 Piaget, Einführung, S. 80. 21 Piaget, Einführung, S. 72.
2.1 Formulierung eines soziologischen Zeitbegriffs
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Intuition von Geschwindigkeit, die sich aus dem Phänomen des überholens ergibt, wird m. E. ermöglicht durch diese Einführung eines "primitiven" Begriffs zeitlicher Ordnung. Piaget gibt den genannten Zusammenhang auch offen zu: "Obwohl es klar ist, daß wir hier (erg.: im Fall des überholens) keine Koordination von gemessenem Raum und gemessener Zeit brauchen, könnten wir dennoch sagen, daß wir es hier mit einer Koordination zeitlicher und räumlicher Ordnung zu tun haben. Denn: was bedeutet "Überholen" eigentlich? 1. In einem ersten Moment mi ist Objekt A hinter Objekt B.
2. In einem zweiten Moment m2 sind A und B auf gleicher Höhe.
3. In einem dritten Moment ma ist A vor B. Wir sehen: die zeitliche Reihe (mi, m2, ma) wird mit der räumlichen Reihe AB, BA) koordiniert 22 ." Damit ist auch auf der Stufe des Ordnungsbegriffs Geschwindigkeit die klassische Definition von Geschwindigkeit als Koordination von Raum und Zeit, wenn auch unter dem eingeschränkten Aspekt von zeitlich-räumlicher Ordnung anstatt von Raum-Zeit-Messung, weiter in Geltung. Statt den Zirkel aufgehoben zu haben, hat Piaget auf der fundierenden Stufe wiederum eine zirkelhafte Beziehung von Zeit, Raum und Bewegung aufgedeckt, so daß wir jetzt auf den zwei verschiedenen Stufen parallelgebaute Zirkel haben: auf der Fundierungsstufe leitet sich eine primitive Intuition der Geschwindigkeit von räumlichen und zeitlichen Ordnungs beziehungen ab, ist also keineswegs unabhängig von einem Zeitbegriff erlebbar. Wenn Piaget dagegen hielte, daß es sich bei diesem zeitlichen Ordnungsbegriff noch nicht im vollen Sinne um Zeit als eine "intellektuelle Konstruktion" handele, so läßt sich dagegen halten, daß der Ordnungsbegriff der Geschwindigkeit ebenfalls rein anschauungsmäßig und unvollkommen erfahren wird, ja ganz offensichtlich ebenso fehlerhaft und täuschungsanfällig ist wie die anschauliche Zeitwahrnehmung auf den ersten beiden Stufen der psychogenetischen Entwicklung. - Auf der fundierten zweiten Stufe finden wir den oben beschriebenen Zirkel, wobei hier der Begriff der Dauer oder der Zeitmessung an die Stelle des Ordnungsbegriffs der Zeit tritt. Piagets Suche nach einem genetisch fundamentalen Begriff ist insofern erfolglos gewesen, als sich sowohl für die Geschwindigkeit als auch für die Zeit wiederum fundamentalere Bestimmungen haben finden lassen, so daß sich keine genetische Stufung nachweisen läßt. Piaget versucht sich nun dieser Folgerung zu entziehen, indem er den Begriff der zeitlichen Ordnung entwertet und ihn als "uneigentlichen" Zeitbegriff auffaßt. "Solange Zeit noch nicht konstruiert ist, bleibt sie nur eine der räumlichen Dimensionen, von denen sie sich nicht trennen läßt, und hat ihren Anteil an der Gesamtkoordi22
Piaget, Einführung, S. 72.
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2. Zeitkonstitution in sozialen Systemen - N. Luhmann
nation, die es gestattet, die kinetischen Umformungen des Universums miteinander zu verbinden." (Gegenstand, Raum, Zeit und Kausalität bilden noch ein undifferenziertes Ganzes)23. Indem Piaget den Ordnungsbegriff "Zeit" als uneigentlichen Zeitbegriff abtut, ohne die gleiche Entwertung auch mit dem Ordnungsbegriff der intuitiv erfaßten Geschwindigkeit vorzunehmen, kommt er zu der m. E. nicht gerechtfertigten Schlußfolgerung, daß die Intuition Geschwindigkeit (gekoppelt an die Ordinalintuition des Überholens) dem operativen Zeit- und Raumbegriff vorausgeht, da sie keinerlei Zeit- und Entfernungsmaß voraussetze 24. Die Tatsache, daß der Ordnungsbegriff Geschwindigkeit aber die zeitlichen und räumlichen Ordnungsbegriffe voraussetzt, also nicht zirkelfrei definierbar ist, meint Piaget aufgrund der Abwertung des Ordnungsbegriffs von Zeit negieren zu können. Es steht also in Frage, ob man zwischen zeitlicher Ordnung und Zeitmaß bzw. zwischen Geschwindigkeitsintuition und einem Begriff von Geschwindigkeit als Maß in gleicher Weise unterscheiden kann und muß, oder ob diese Unterscheidungen nicht parallel laufen. Der Ordnungsbegriff der Geschwindigkeit soll intuitiv aus dem Phänomen des "Vberholens" bei zwei gleichgerichteten Bewegungen gewonnen werden können. Doch scheint mir für die Geschwindigkeit auf der prä-operativen Stufe dieselbe Ungeschiedenheit von räumlichen Anschauungen vorzuliegen wie im Fall der anschaulichen Zeit. Darauf deutet auch folgende Stelle bei Piaget: " ... , solange die eigentliche zeitliche Ordnung nicht gebildet ist, bleibt Geschwindigkeit auf eine ungenügende und manchmal täuschende Anschauung reduziert, nämlich die des Überholens, d. h. wieder auf eine räumliche Anschauung, die durch den Lagewechsel der bewegten Körper charakterisiert ist"25. Von einem unabhängigen Ordnungsbegriff Geschwindigkeit kann damit nicht die Rede sein, denn ebenso wie die Anschauung der zeitlichen Ordnung untersteht er der räumlichen Anschauung von Umstellungen, Zeitbegriff und Geschwindigkeitsbegriff sind auf dieser Denkstufe voneinander unabhängig, sie hängen vielmehr beide von räumlichen Ordnungsbeziehungen ab, die sich schon in früherem Alter herausbilden. Die Trennung vom räumlichen Denken erfolgt für beide Begriffe erst auf der Stufe des operativen Denkens, dann können Geschwindigkeiten ohne sichtbares überholen und die Zeiten auch bei unterschiedlichen Geschwindigkeiten verglichen werden. Die richtige zeitliche Ordnung von Ereignissen gelingt auf der Stufe des anschaulichen Denkens nur in dem Sonderfall einer einzigen linearen Bewegung, da sich hier räumliche und zeitliche Ordnung decken; eine adäquate Erfassung von Geschwin23 Piaget, Bildung, S. 14 - 15. 24 Piaget, Bildung, S. 185. 25 Piaget, Bildung, S. 358.
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digkeit gelingt ebenfalls nur in einem Sonderfall, wenn nämlich beim überholvorgang sich ebenfalls die räumliche (= zeitliche) Ordnung mit der Ordnung der Bewegungen zueinander deckt. Die Ungetrenntheit vom Raum zeigt sich für beide Begriffe darin, daß einem längeren durchlaufenen Weg immer auch eine längere Zeit bzw. eine größere Geschwindigkeit zugeordnet wird, ohne die Zeit auf die Geschwindigkeit und die Geschwindigkeit auf die Zeitdauer zu relativieren. Im Fall zweier gleichgerichteter Bewegungen (auf den sich ja Piaget beim Phänomen des überholens bezieht) existiert im ersten Stadium keine logische, d. h. operative Differenzierung von Raum, Zeit und Geschwindigkeit. Als Beispiel sei eine Rekonstruktion einer kindlichen überlegung zu diesem Zusammenhang angeführt: "Die Überlegung des Kindes ist etwa folgende: 1. Wenn man schneller geht, geht man weiter (die Geschwindigkeit ist proportional zu dem durchlaufenen Raum). 2. Wenn man mehr Weg durchläuft, braucht man mehr Zeit (der durchlaufene Weg ist proportional zur Zeit). 3. Wenn man schneller geht, braucht man mehr Zeit, weil man weiter weg ankommt. So zieht jedes einzelne dieser drei "mehr" (mehr Geschwindigkeit, mehr Zeit, mehr Weg) die andern beiden nach sich26 ." Alle drei Ordnungsbegriffe bilden sich nach der gleichen Logik, ohne sich gegenseitig zu fundieren. Ergebnis: Der operative Zeitbegriff verhält sich zum Begriff der zeitlichen Ordnung auf der Stufe des anschaulichen Denkens genauso wie der operative Geschwindigkeitsbegriff gegenüber dem sogenannten Ordnungsbegriff der Geschwindigkeit. Damit ist keine Möglichkeit gegeben, aus dem Zirkel der Zeitdefinition auszubrechen, wie Piaget es sich vorgestellt hat. Die Rekonstruktion der Psychogenese des Zeitbegriffs unterstützt vielmehr Luhmanns Fundierungsthese: Zeit als "intellektuelle Konstruktion", die von Piaget im übrigen zu stark als Konstruktion eines sukzessiven Verlaufs angesehen wird, während alle A-Bestimmungen fehlen, stellt eine höherstufige Konstitutionsleistung dar, die fundiert ist auf einer Unterstufe, in der Gegenstand, Raum, Zeit und Kausalität noch untrennbar in der Anschauung gegeben sind. Im Unterschied zu Luhmanns Auffassung ist allerdings auch in der Sphäre der bloßen Anschauung etwas wie Zeit miterlebt, wenn auch nur im Sinne einer raum-zeitlichen Ordnung von Ereignissen. Auf der Ebene der bloßen Anschauung ist ein adäquater Zeitbegriff nicht zu gewinnen, er setzt einen Einsatz intellektueller Operationen voraus, für die die anschaulich gegebenen räumlich-zeitlichen Umordnungen nur das "Material" bilden 27 • Wieweit allerdings die höhere Stufe der operativen Zeit für alle Kulturstufen gleiPiaget, Bildung, S. 129 - 130. Es wäre in diesem Zusammenhang interessant zu fragen, ob den ontogenetischen Entwicklungsstufen auch Stufen in der sozialen Evolution des Zeitbewußtseins entsprechen. Forschungen zum Zeitbegriff in primitiven Gesellschaften legen einen solchen Gedanken nahe. Vgl. dazu: Werner, H., Comparative Psychology of Mental Development, Chigaco 1948 (Rev. Auflage). 26
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2. Zeitkonstitution in sozialen Systemen - N. Luhmann
chermaßen vorauszusetzen ist, bleibt offen. - Ich komme nach diesem zeittheoretischen Exkurs zurück zur Diskussion von Luhmanns Zeitbegriff. Seine Fassung des Zeitbegriffs als "Interpretation der Realität" bietet für ihn folgende fünf Vorteile: 1) Sie bietet die Möglichkeit einer klaren Unterscheidung von Bewegung und Erfahrung von Veränderung auf der einen, und der sozio-kulturellen Konstitution von Zeit "as a generalized dimension of meaningful reality" auf der anderen Seite28 • 2) Dieser Zeitbegriff bietet die Möglichkeit, die chronologische Ordnung der Zeit als Schema der Beziehbarkeit und Standardisierung von Bewegung und Zeit zu behandeln, was zahlreiche Vorteile hat. So den Vorteil der Vergleichbarmachung und Integration nicht-simultaner Bewegungen, die Festlegung der Beziehungen von Vergangenheit und Zukunft, die Bewegung zeitlicher Daten von der Zukunft in die Vergangenheit, sowie die Verbindung der täglichen Veränderungs erfahrung mit der Zeitstruktur. "It serves as an evolutionary universal which combines very simple rules for its use with highly complex functions 29 ." 3) Zeit und Chronologie müssen auseinandergehalten werden, wobei Zeit definiert werden kann als die Beziehung von Vergangenheit und Zukunft, die im Verlauf der gesellschaftlichen Evolution als veränderbar gedacht wird 30• Während eine chronologische Ordnung der Zeit ein Formalschema darstellt, das unabhängig vom Zeitbewußtsein anwendbar ist; das gilt, obwohl natürlich die chronologische Erfassung der Zeit selbst eine relativ neue evolutionäre Errungenschaft ist. 4) Die Beziehung von Vergangenheit und Zukunft ist evolutionär variabel und hängt ab von den anderen Variablen des Gesellschaftssystems. Luhmann nennt hier vor allem die Systemdifferenzierung, die korrelieren soll mit der Dissoziierung von Vergangenheit und Zukunft. 5) Die Relevanz der Zeit besteht in ihrer Fähigkeit, Beziehungen von Vergangenheit und Zukunft in einem gegenwärtigen Zeitpunkt zu verbinden. Alle Zeitstrukturen sind somit auf eine Gegenwart bezogen, damit wird auch bei Luhmann die Gegenwart - ähnlich wie bei Mead und in der phänomenologischen Zeittheorie - zum wichtigsten Zeitmodus. Sie verbindet die Zeithorizonte Vergangenheit und Zukunft Luhmann, Future, S. 135. Luhmann, Future, S. 136. 30 Die gleiche Auffassung finden wir bei Koselleck, wo die Veränderung des gesellschaftlichen Zeitbewußtseins ebenfals auf eine Umordnung des Verhältnisses von Erfahrung und Erwartung bzw. von Vergangenheit und Zukunft zurückgeführt wird. Koselleck, Erfahrungsraum, S. 359 ff. 28 29
2.2
System/Umwelt-Theorie und Zeitkonstitution
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sowie die realen Zeitprozesse und ihre bewußtseinsmäßige "Darstellung". Nachdem in Umrissen das Luhmannsche Zeit konzept vorgestellt worden ist, muß jetzt dessen Verbindung mit systemtheoretischen Konzepten dargestellt werden. 2.2 System/Umwelt-Theorie und Zeitkonstitution
Die Konstitution von Zeit setzt voraus, daß in einem Bewußtsein Veränderung und Nichtveränderung, Wechsel und Dauer zugleich gegeben sind. Wenn ein Bewußtsein parallel zur Änderung seiner Daten sich je mit änderte, wäre Zeiterfahrung nicht möglich. Luhmann kommt deshalb zu der system theoretischen Grundthese, "daß die Differenzierung von System und Umwelt Zeitlichkeit produziert" 1, denn die Systemprozesse, die die Ausdifferenzierung erhalten, sind nicht Punkt für Punkt mit Umweltprozessen verknüpft, sondern es besteht zwischen Umweltanforderungen und Systemreaktionen eine Ungleichzeitigkeit. D. h. das System hat für seine Erhaltung Zeit, es hat gegenüber seiner Umwelt eine gewisse Freiheit, auf Umweltereignisse nach systeminternen Gesichtspunkten zu gegebener Zeit zu reagieren. Dieser systemtheoretische Grundgedanke ist schon bei Parsons in seinem AGILSchema zu finden, dessen vier Felder aus der Kreuztabellierung mittels der Achsen: innen/außen und instrumentellikonsumatorisch entstehen. Letztere könnte man als die Zeitachse bezeichnen, wobei instrumentell die verzögerte und konsumatorisch die sofortige Reaktion auf Umweltereignisse meint. Parsons hat jedoch nach Luhmann die Konsequenzen für die Konstitution von Zeitlichkeit nicht gesehen 2 • Voraussetzung für die Differenzierung von System und Umwelt sind Interdependenzunterbrechungen, die verhindern, daß jede Änderung in der Umwelt zugleich auch etwas im System verändert. Diese Abgrenzung wird durch die Systembildung selbst geleistet, denn soziale Systeme sind keine substanzartigen Einheiten, sondern selbstselektive Ordnungen. Trotz der Abgrenzung von der Umwelt, muß ein System zugleich immer auch auf die Umwelt bezogen bleiben. Diese Simultanpräsentation von System und Umwelt leistet in sinnkonstituierenden psychischen und sozialen Systemen der Sinn; er "oktroyiert eine Form für Erleben und Handeln, die Selektivität erzwingt"3. Die systemeigene Selektivität des HandeIns und Erlebens ist nur erfahrbar vor dem konstant bleibenden Horizont anderer Möglichkeiten in der Umwelt, wie 1 2 3
Luhmann, Weltzeit, S. 105. Luhmann, Vertrauen, S. 9. Luhmann, Religion, S. 21.
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2. Zeitkonstitution in sozialen Systemen - N. Luhmann
umgekehrt Umweltereignisse als Veränderungen nur sichtbar werden, wenn das System sich nicht mitverändert. Diese notwendige Selektivität in der System/Umwelt-Beziehung führt zur Konstitution von Zeit, in der Gegenwärtiges und Nichtgegenwärtiges, Dauer und Wechsel aufeinander bezogen werden. "Das Zeitbewußtsein ist mithin eine - ... Antwort auf die Notwendigkeit, als Bedingung von Selektivität im Verhältnis von System und Umwelt Konstanz und Veränderung zugleich zu denken 4 ." Damit ist ein ganz allgemeiner Begriff von Zeitbewußtsein gewonnen, der die verschiedensten konkreten historischen Ausformungen zuläßt: z. B. ist eine bloße Unterscheidung von Gegenwärtigem und Nichtgegenwärtigem möglich, die das letztere nicht weiter differenziert, es ist eine Differenzierung in Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft möglich, wobei diese als offene oder geschlossene Horizonte des Nichtgegenwärtigen gedacht werden können, etc. Bezogen auf das menschliche (psychische wie soziale) Zeiterleben bedeutet die Simultanpräsenz von Dauer und Wechsel, daß in einem soziologischen Zeitbegriff eine doppelte Thematisierung von Zeit berücksichtigt werden muß: entweder wird das gegenwartskonstituierende System mit seinen Zeithorizonten Vergangenheit und Zukunft als veränderlich aufgefaßt, während sich die konstituierten Umwelt ereignisse als dauernde darstellen, oder umgekehrt wird das konstituierende System als dauernder Bestand begriffen, während die konstituierten Umweltereignisse als wechselnd angesehen werden. Oder in unserer Terminologie formuliert: Die A- und die B-Reihe der Zeit als ganze können wechselseitig entweder als feststehend oder als fortschreitend gedacht werden. Ereignisse können an einem chronologisch bestimmten Zeitpunkt oder in einer real-zeitlichen Ereignisordnung feststehen, während das Zeiterleben voranzuschreiten scheint, indem es seine Zukunft in seine Vergangenheit transformiert. Für Ereignisse sind jedoch diese Wechsel der A-Bestimmungen nicht von Bedeutung, denn sie haben ihre Identität in der zeitlichen Ordnung nach früher/später unabhängig von ihrer bewußtseinsmäßigen Darstellung. Das konstituierende Erleben kann andererseits auch als gegenwärtig dauernd und feststehend - als Bestand betrachtet werden, während die konstituierten Ereignisse nach früher/ später geordnet als durch es durchlaufend erscheinen. Luhmann plädiert nun dafür, in der Soziologie beide Anschauungsweisen als gleichberechtigte zu behandeln. "Beide Versionen der Zeit sind möglich und gleichberechtigt ... Die Zeit selbst kann, will man dem Rechnung tragen, nur als die Möglichkeit dieser beiden, sich genau widersprechenden Konzeptionen sein: die Ermöglichung ihres Widerspruchs 5 ." Diese doppelte 4 5
Luhmann, Weltzeit, S. 109. Luhmann, N., Sinn als Grundbegriff der Soziologie, in: Habermas, J. /
2.2 System/Umwelt-Theorie und Zeitkonstitution
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Möglichkeit des Zeiterlebens für ein System ist begründet in der Möglichkeit, die Selektivität von Ereignissen entweder dem System selbst oder aber der Umwelt zuzuschreiben. Schreibt ein System die Selektivität der Ereignisse sich selbst zu, d. h. begreift es sich gegenüber seiner Umwelt als handelnd und sinnkonstituierend, dann erlebt es sich mitsamt seinen Zeithorizonten als fortschreitend gegenüber einer zeitlich dauernden Umwelt; schreibt ein System die Selektivität dagegen der Umwelt zu, d. h. begreift es sich als erlebendes und nicht als handelndes "Subjekt", dann erscheinen die Ereignisse als zeitlich wechselnde, während das Zeitbewußtsein mit seinen Horizonten festzustehen scheint. Die beiden genannten Formen der Zeiterfahrung schließen sich gegenseitig aus, denn jede hält gerade das als ihr Identitätsprinzip konstant, was die andere variieren muß, um ihr Identitätsprinzip zu gewinnen 6 • Durch diese gegenseitige, komplementäre Ausschließung können sich die beiden Formen der Zeitvorstellung wechselseitig definieren, denn Variation und Selektion sind nur begreiflich auf dem Hintergrund von Identität, wie sich umgekehrt alle Identität über Negationen konstituiert. Zeitlich kann Identität entweder an objektiv feststehenden Zeitpunkten oder Ereignisordnungen festgemacht werden, indem die Veränderlichkeit der Zeitlage des Bewußtseins negiert wird, d. h. indem außer acht gelassen wird, ob sich ein Ereignis in einem Bewußtsein als vergangenes, gegenwärtiges oder zukünftiges darstellt. Identität kann andererseits auf ein dauerndes Bewußtseinsleben mit seinen Zeithorizonten bezogen sein, dann erlebt ein Bewußtsein sich als ein zeitlich identisch bleibendes, trotz des Durchlaufs wechselnder Ereignisse.
Luhmann versucht eine historische Zuordnung dieser beiden Erlebnisformen, indem er die Orientierung an Zeitpunkten und die Mobilisierung des Zeitbewußtseins, das als zeitlich fortschreitendes erscheint, dem neuzeitlichen Zeiterleben zuordnet; die Orientierung am ewig präsenten Dasein des Bewußtseins und an einer sich unabhängig vom Subjekt verändernden Umwelt dem antiken, gegenwartsbezogenen Zeiterleben7 • Andererseits betont er, daß ein vollständiges Schema der Zeit in der Soziologie immer beide Formen umfassen müsse: "Mit diesen an je eine der beiden Perspektiven sich bindenden Zeitbegriffen (z. B. dem neuzeitlichen oder dem antiken, WB.) gewinnt man lediglich ein Schema der Problematisierung der Bestände bzw. Ereignisse, das durch ein gegenperspektivisches Zeitdenken korrigiert werden müßte 8." Luhmann, N., Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie, Frankfurt a. M. 1971, S. 25 - 100, S. 60 (im folgenden zitiert als Sinn). 6 Luhmann, Vertrauen, S.10. Vgl. auch: Zur Doppelsinnigkeit der Gegenwart als feststehend und durchlaufend: Conrad-Martius, H., Die Zeit, München 1954, S. 15 f. und S. 22. 7 Luhmann, Sinn, S. 60. 8 Luhmann, Vertrauen, S. 11.
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2. Zeit konstitution in sozialen Systemen - N. Luhmann 2.2.1 Temporale Modalisierung
Selektivität des Handeins oder Erlebens wird nur als Zeit bewußt, wenn in ihnen zugleich die Ebenen des Gegenwärtigen und Nichtgegenwärtigen sowie die Ebenen der Dauer und des Wechsels repräsentiert sind. Zwischen diesen Ebenen besteht nun ein Komplexitätsgefälle, d. h. das Gegenwärtige ist gegenüber dem größeren Bereich des Nichtgegenwärtigen weniger komplex, das gleiche gilt für die Dauer gegenüber dem Wechsel. Dieses Präsenthalten einer jeweils komplexeren zweiten Ebene, die den Selektionsprozeß erst als solchen erscheinen läßt, nennt Luhmann in Anknüpfung an modal theoretische Traditionen "Modalisierung"9. "The theory of modalities has been used since the Middle Ages to formulate a two-Ievel conception of reality, reflecting different mo des in which being and non-being can present themselves 10." Ich habe in Kapitel 1.3 ja bereits den Zusammenhang temporaler und possibilistischer Modi untersucht und bin zu dem Schluß gekommen, daß dieses Problem besser im Rahmen der phänomenologischen Konzepte von Sinn, Appräsentation und Horizont zu behandeln ist als mit einem modaltheoretischen Instrumentarium. Mir scheint, daß auch Luhmann, trotz aller Betonung der Wichtigkeit einer ausgearbeiteten Modaltheorie für das Problem der Zeit in der Soziologie, letztlich den Weg einer systemtheoretisch-phänomenologischen Umarbeitung des Möglichkeitsund Zeitbegriffs geht, in starker Anlehnung an den phänomenologischen Begriff des Horizonts 11 • Dafür sprechen seine Ausführungen in dem Aufsatz "Rechtstheorie ... ", in denen er von der modaltheoretischen Fassung des Möglichkeitsbegriffs abrückt, da sie einige Unklarheiten über den Status der Kategorien Möglichkeit und Wirklichkeit (logisch/ ontologisch) enthält, und stattdessen Möglichkeit als "Generalisierung von Wirklichkeit" begreift. Danach bezeichnen Möglichkeit und Wirklichkeit nicht Modalitäten, die ein Gegenstand annehmen und wechseln kann, sondern "Ebenen sinnhafter Verknüpfung von Erlebnissen und Handlungen, die getrennt bleiben"12. In gleicher Weise müssen wir Gegenwärtiges und Nichtgegenwärtiges einander zuordnen, wobei das Nichtgegenwärtige als Verweisungshorizont für gegenwärtig konstituierten Sinn fungiert. Als Beispiel für temporale Modalisierung nennt Luhmann ein gegenwärtiges Zeiterleben, das auf nichtaktuelle Zeithorizonte verweist - eine Modalisierung gegenwärtigen Erlebens l3 • 9
Luhmann, vgl. Weltzeit, insges.
10 Luhmann, Future, S. 138.
11 Luhmann, N., Manuskript ohne Titel und Jahr, S. 63, Fußnote (im folgenden zitiert als MS). 12 Luhmann, N., Rechtstheorie im interdisziplinären Zusammenhang, in: Anales de la Catedra Francisco Suarez, 12, 1972, S. 201 - 253, S. 219 - 220. 13 Luhmann, Weltzeit, S. 104.
2.2 System/Umwelt-Theorie und Zeitkonstitution
79
Diese Vergangenheits- und Zukunftshorizonte hängen wie alle Modalbegriffe ab von angebbaren "Bedingungen der Möglichkeit", d. h. auch für die Verweisungshorizonte gibt es Schranken des Möglichen, sofern sie nicht nur phantasierte, sondern selektierbare Vergangenheiten und Zukünfte vorzeichnen. Diese Bedingungen der Möglichkeit ändern sich jedoch nicht mit jeder neuen Gegenwartskonstitution, so daß Vergangenheits- und Zukunftshorizonte eine gewisse Stabilität besitzen. Aufgrund dieser Konstanz und der größeren Komplexität können nach Luhmann alle Modalisierungen als Generalisierung von Systemstrukturen (= Sinnstrukturen) begriffen werden. Generalisierung heißt nichts anderes, als daß eine Struktur mit mehr als einem System- bzw. Umweltzustand kompatibel ist. Die Weite von Generalisierungen ist nicht in allen sozialen Systemen gleich groß, sondern variiert mit ihrem evolutionären Niveau, d. h. die Weite der gesellschaftlichen Zeithorizonte variiert in Zusammenhang mit anderen Systemstrukturen, sie muß zunehmen, wenn die sachliche und soziale Verschiedenartigkeit in Systemen zunimmt. Temporale Generalisierung leistet dann die Erhaltung der Systemidentität im Nacheinander verschiedener Zustände, wobei sie es erlaubt, von der Verschiedenartigkeit des Zustands A gegenüber dem folgenden Zustand B in der Sach- und Sozialdimension abzusehen 14 • Die Identität eines Systems wird in die Zeithorizonte von Vergangenheit und Zukunft hinein verlängert. Temporale Modalisierungen sind nun nicht nur von der je gegenwärtigen Gegenwart aus möglich, sondern auch vergangene und zukünftige Systemzustände können mit ihren Verweisungshorizonten vergegenwärtigt werden, dazu sind reflexive Prozesse der Modalisierung nötig.
2.2.2 Reflexive Modalisierung Erst im modernen Geschichtsbewußtsein wird in der Zeitdimension eine reflexive oder Mehrfachmodalisierung möglich, da erst in dieser Zeit die Vorstellung einer durchtemporalisierten Weltgeschichte auftritt. Um zeitliche Generalisierung auch für soziale Systeme der Vergangenheit und Zukunft noch bilden zu können, z. B. die Identität eines Systems der Vergangenheit mit seinen jeweiligen vergangenen und zukünftigen Gegenwarten bestimmen zu können, sind reflexive Modalisierungen nötig. Diese "Strukturierungstechnik" beruht auf der Eigenschaft von Modalbestimmungen, wiederum modalisiert werden zu können. Im Fall der temporalen Modalitäten kommen wir so z. B. zu folgenden reflexiven Zeitbestimmungen: gegenwärtige Zukunft, die etwas anderes ist als zukünftige Gegenwart oder gegenwärtige Gegenwart, da sie mehr Möglichkeiten enthält als in den letzteren Wirklich14
Luhmann, Weltzeit, S. 105.
80
2. Zeitkonstitution in sozialen Systemen - N. Luhmann
keit werden können15 ; zu gegenwärtigen Vergangenheiten und vergangenen Gegenwarten etc. Bei der historischen Erforschung vergangener Gegenwarten muß man sogar mit Dreijachmodalisierungen arbeiten, da die Vergangenheits- und Zukunftshorizonte der vergangenen Gegenwart mit berücksichtigt werden müssen; man kommt dabei zu Formulierungen von Zeitverhältnissen wie: die Zukunft vergangener Gegenwarten. Logisch gibt es für die Iterationsmöglichkeiten der Modalbestimmungen keine Grenze, allerdings sind die Grenzen der Anwendbarkeit schnell erreicht. Diese Mehrfachmodalisierung der Zeit bezeichnet Luhmann auch als ihre "Historisierung", denn die Zeitmodi können nicht mehr als auf der Zeitachse feststehende Qualitäten behandelt werden, noch im Sinne einer fixen Gegenwart mit durchlaufenden Vergangenheiten und Zukünften (wie im zyklischen Zeitmodell), sondern sie müssen insgesamt auf die Zeit relativiert werden. "Was sich in der Zeit bewegt, sind Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zusammen, ist, mit anderen Worten, die Gegenwart mit ihren Zeithorizonten Vergangenheit und Zukunft16." Das einfache Reflexivwerden der Zeit bestimmungen, das als ,Historisierung der Zeit' bezeichnet wurde, kann nun noch einmal in der Zeit gespiegelt werden, indem man nach der Geschichte und der Zukunft der Zeit selbst noch fragen kann, z. B. indem die Historisierung und Futurisierung der Zeit zum Thema gemacht werden. 2.3 Dimensionen der Komplexität
Haben wir bisher die Ebenendifferenzierung der Komplexität in der Zeitdimension besprochen, so kommen wir jetzt auf den Zusammenhang der Zeitdimension mit den beiden anderen Dimensionen von Komplexität: der Sachdimension und der Sozialdimension. Denn Komplexität hat in ihrem Bezug auf Systeme und Umwelten notwendig drei Dimensionen, wobei Komplexität in einer Dimension stets nur in bezug auf die anderen Dimensionen zum Problem wird. Die Problematik in jeder der Dimensionen (von Luhmann meist als Knappheitsproblem behandelt)! ergibt sich aus den Grenzen, die dem menschlichen Erleben und Handeln in jeder Dimension gesetzt sind. Die Konsensbildung in der sozialen Dimension wäre z. B. bei sachlicher Einfachheit der Welt kein Problem und würde auch kaum Zeit kosten. "In Wirklichkeit begrenzen und verknappen die Weltdimensionen sich wechselseitig"2, d. h., daß also die 15 Luhmann, Weltzeit, S. 112. 16 Luhmann, Weltzeit, S. 114. 1 Luhmann, N., Die Knappheit der Zeit und die Vordringlichkeit des Befristeten, in: Die Verwaltung, Bd.1, 1968, S.3 - 30 (im folgenden zitiert als Knappheit). 2 Luhmann, Knappheit, S. 6.
2.3 Dimensionen der Komplexität
81
Zeit mit zunehmender Systemkomplexität immer knapper wird, die Knappheit der Zeit wächst mit der Komplexität in der Sach- und Sozialdimension. Luhmanns Ausführungen weisen darauf hin, daß sich im Verlauf des Zivilisationsprozesses eine Steigerung des Verhaltenstempos und der zeitlichen Präzisierung von Verhalten ergeben hat und nicht etwa eine Minderung der Zeitknappheit3• Diese mehrdimensionale Schematisierung des Erlebens und HandeIns ist funktional als Mittel der Erfassung äußerster Weltkomplexität zu begreifen, indem sie diese aufspaltet und in lösbare Probleme umformt. Aus den anthropologisch vorgegebenen und wohl relativ konstanten Beschränkungen der menschlichen Verarbeitungskapazität für Komplexität folgt, daß die Erhöhung dieser Kapazität nur auf der Ebene sozialer Systeme durch die Entwicklung von Generalisierungen und durch die stärkere Trennung und zugleich stärkere Interdependenz der getrennten Dimensionen erreicht werden kann. Die Interdependenzen wirken sich auf die einzelnen Dimensionen zugleich steigernd und beschränkend aus. Trotz der Interdependenzbeziehungen zwischen den Dimensionen, die in der Luhmannschen Theorie noch kaum ausgearbeitet sind, müssen die einzelnen Dimensionen in sich eine relative Invarianz gegenüber Veränderungen in den anderen Dimensionen besitzen. So implizieren "Negationen in der einen Dimension nicht ohne weiteres Negationen in den anderen"4. Vielmehr müssen sich sogar die Negationen in einer Dimension an die Nicht-Negationen in anderen Dimensionen anlehnen können, da sonst das gemeinte Thema, die jeweilige Sinn einheit, aus der Welt verschwände, während es so, nur partiell negiert, weiterhin möglich ist. So darf z. B. das Fortschreiten der Zeit, also der Wechsel von A-Bestimmungen an einem Ereignis dieses nicht in seinem sachlichen Sinn ändern, sondern die Sach- und Sozialstrukturen müssen in relativer Unabhängigkeit von ihrem zeitlichen Auftreten in Geltung bleiben. Dieses Invariantsetzen einer Dimension gegenüber Änderungen in den anderen geschieht mittels Prozessen der Generalisierung, durch die Abstraktion von der Verschiedenheit des Zeitpunkts, der beteiligten Subjekte oder des sachlichen Sinnes. Diese Generalisierungen oder "Modalisierungen "5 leisten die Aufrechterhaltung der Systemidentität bei partiellem Systemwandel. Diese Modalisierungen kann man unter dem Gesichtspunkt von System/Umweltbeziehungen als Strategie der Reduktion von Komplexität ansehen, indem sich nicht alles in jeder Hinsicht und zu einem Zeitpunkt ändern kann. Betrachten wir nun vor allem die Zeitdimension unter dem Gesichtspunkt der Komplexitätsreduktion. 3 Vgl. dazu: Linder, St. B., Das Linder Axiom oder Warum wir keine Zeit mehr haben, Gütersloh, 1971. 4 Luhmann, Sinn, S. 48. 5 Luhmann, Sinn, S. 61.
6 Bergmann
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2. Zeit konstitution in sozialen Systemen - N. Luhmann 2.3.1 Die Selektivität der Zeit
Im neuzeitlichen Zeitbewußtsein ist die Zeit als universales Schema infiniter, aber reduzierbarer Komplexität vorgestellt. Die Zeitdimension ist in diesem Verständnis eine Auslegung der Welt unter dem Gesichtspunkt äußerster Komplexität, denn sie gibt als Möglichkeit vor, daß alles anders werden kann. Diese totale Kontingenz der Welt würde in die Anomie führen, wenn in der Zeitdimension selbst und in den beiden anderen Komplexitätsdimensionen nicht kontingenzbeschränkende Strukturen gegeben wären. Einmal beschränkt die Zeit die Möglichkeiten des Andersseins durch ihre sukzessive Ordnung von Ereignissen, d. h. es kann sich alles nur in einer festgelegten Abfolge ändern, zum anderen ist der Entwurf äußerster Weltkomplexität zurückgebunden an die Gegenwart des aktuellen, sinnkonstituierenden Erlebens von psychischen und sozialen Systemen, womit alle Komplexität reduziert wird auf die erlebbare Gegenwart mit ihrem jeweiligen Vergangenheits- und Zukunftshorizont. Zeit kann also als Reduktion von Komplexität begriffen werden, da sie die Vermittlung zwischen der Komplexität der Welt und der Aktualität des Erlebens leistet, und zwar entweder, indem die Gegenwart des Erlebens aktuell selektiv voranschreitet oder indem die Gegenwart als feststehender Punkt im Durchlauf der Zeit Zukünftiges in Gegenwärtiges verwandelt. Die Art und Weise, in der Zeit selbst selektiv und damit komplexitätsreduzierend wirken kann, ist evolutionär variabel. Das Ausmaß, in dem Komplexität in die Zeitdimension verlegt wird, steigt mit zunehmender funktionaler Differenzierung von Sozi al systemen an. In der Antike wirkte die Zeit selbst noch selektiv, indem sie in ihrem Kreislauf bestimmte Zeitpunkte auszeichnete; für den Handelnden kam es darauf an, den rechten Handlungszeitpunkt (kairos) abzuwarten. In einer Zeit, die nicht als endlose und zwecklose gedacht wird, ist nicht zu jeder Zeit alles möglich, denn Zeit und Sein sind gegeneinander nicht neutral, somit ist die Weltkomplexität schon immer eine reduzierte. Die zunehmende funktionale Differenzierung der Gesellschaft zwingt mit anwachsender Welt- und Systemkomplexität zur Aufgabe der Selbstselektivität der Zeit. Sie kann damit nicht mehr - wie bis ins Mittelalter hinein - in einem Kausalverhältnis als Ursache fungieren, sondern Sein und Zeit werden voneinander getrennt, die Zeit wird "zur endlos zwecklosen Notwendigkeit, Unbestimmtes zu bestimmen"6. Die Zeit kann nicht mehr selbst bestimmte Zeitpunkte auszeichnen, sondern leistet im Sinne eines endlosen Zeitflusses eine selbständige Reduktion unbestimmter Komplexität nur noch, indem sie Mög6 Luhmann, N., Zweckbegriff und Systemrationalität, Frankfurt a. M. 1973, S. 53 (im folgenden zitiert als Zweckbegriff).
2.3 Dimensionen der Komplexität
83
lichkeiten in Wirklichkeiten transformiert. Durch die Trennung von Zeit- und Sachdimension gewinnen Dinge eine Zeitpunktunabhängigkeit (keine Zeitunabhängigkeit natürlich!), was eine genauere Kalkulation in der Planung von Zweck-Mittel-Relationen ermöglicht. Für die Sach- und Sozialdimension bedeutet die "Verzeitlichung der Komplexität"7 in der Neuzeit eine Erhöhung ihres eigenen Potentials zur Komplexitätsverarbeitung: in der Sachdimension werden längere Handlungsketten möglich, da Ziele hinausgeschoben werden können, in der Sozialdimension wird eine Verlängerung der Konsensbildung möglich (vgl. parlamentarische Demokratie). Diese Erscheinungen werden als Zunahme der Rationalität im Laufe der Gesellschaftsentwicklung seit langem diskutiert. Mit zunehmender Komplexität der Welt wird aber die Zeit (das gleiche gilt für "Konsens" und für "Güter") immer knapper und damit ihre selektive Wirkung immer stärker, denn von immer mehr Möglichkeiten können stets nur gleichviel Wirklichkeit werden. Diese selektiven Effekte des Zeitdrucks und ihre systemstrukturellen Bedingungen hat Luhmann in seinem Aufsatz über "Die Knappheit der Zeit und die Vordringlichkeit des Befristeten" ausführlich beschrieben (insbes. S. 13 ff.). Da Zeit an sich nicht knapp ist, ist nach den Bedingungen ihrer Verknappung zu fragen. Der Eindruck der Zeit knappheit entsteht aus einer Differenz von Erwartung und tatsächlicher Handlungs- bzw. Erlebenskapazität. Sind Gesellschaften wenig differenziert, so daß prinzipiell alles miterlebt werden kann, gibt es kaum Diskrepanzen zwischen der Erwartung objektiven Geschehens und dem eigenen Erleben. Die Eigen- und Fremdselektivität geraten nicht in Konflikt, da die Abstimmung von Erwartungsstruktur und Zeithorizont durch einen geschlossenen und wiederkehrenden Zeitverlauf gegliedert ist. Die Sach- und Sozialdimension sind ebenfalls wenig disponibel und komplex, so daß auch der Reduktionsbedarf in der Zeitdimension gering ist. Erst zunehmende Systemdifferenzierung führt zu Konflikten zwischen der Eigen- und Fremdselektivität von Zeit, indem nämlich Systeme aus ihrem Zeithorizont heraus Ansprüche an die Zeit anderer Systeme stellen, die deren Zeitpläne verzerren können. "Dadurch wird Zeit knapp. Sie kann nicht mehr in einem gemeinsamen Kreislauf des Zeitlebens eingefangen werden, sondern muß, um all den verschiedenartigen Zeitinteressen gerecht werden zu können, zu einem inhaltsleeren Schema der Verteilung knapper Chancen abstrahiert werdenS." Zeit scheint mir bei Luhmann in diesem Sinne sehr an dem Kommunikationsmedium Geld orientiert zu sein, das man ebenfalls als ein "Schema" ansehen muß, das gegenüber den Tauschinhalten neutral ist. 7 Luhmann, N., Der politische Code, in: Zeitschrift für Politik, 21, 1974,
S. 253 - 271, S.260.
S Luhmann, Knappheit, S. 14.
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2. Zeitkonstitution in sozialen Systemen - N. Luhmann
Die Knappheit der Zeit wirkt sich nun wiederum selektiv auf die Sach- und Sozial dimension aus, indem sie Verwirklichungschancen von Möglichkeiten einschränkt. Um dieser Wirkung, z. T. also ungewollt hoher Selektivität und der Annahme von Fremdselektivität, zu entgehen, sind zeitsparende Einrichtungen bzw. Abweisungsstrategien gegen Fremdansprüche entwickelt worden. Die Zeitplastizität von Umwelten kann verschieden groß sein und ist beeinflußbar durch den Einsatz von Kommunikationsmedien wie Macht, Geld oder Liebe, die die Durchsetzung eigener Zeitdispositionen ermöglichen könnenD. Ein Wandel in den Zeitvorstellungen muß also bezogen werden auf die Funktion der Zeit, Komplexität zu reduzieren. Die Art und Weise, sowie das Ausmaß der erforderlichen Selektivität hängen ab von der Größe der Weltkomplexität. Kontingenz und Selektionsbedarf steigern sich im Laufe zunehmender funktionaler Differenzierung der Gesellschaft gegenseitig. Es darf jedoch kein schlichtes Steigerungsverhältnis zwischen Komplexität und Zeitvorstellung unterstellt werden. Einmal läßt sich wegen der Mehrdimensionalität des Komplexitätskonzepts das genaue Maß der Komplexität eines Systems nicht immer angeben, zum anderen bedeutet höhere Systemkomplexität nicht insgesamt eine Steigerung in jeder Dimension und gegenüber allen Umweltsegmenten. Komplexere Systeme haben also nicht notwendig und nicht in jeder Hinsicht ein komplexeres Zeitbewußtsein. Vielmehr scheint man mit Luhmann annehmen zu können, daß sich innerhalb einer Gesellschaft sektoral - sei es teilsystemspezifisch oder schichtenspezifisch - einfachere Zeitbewußtseinsformen erhalten können lO • Die empirischen Befunde der Untersuchungen zum "Deferred Gratification Pattern" (s. u. Kap. 6) stützen diese systemtheoretische Annahme. Das Zeitbewußtsein sozialer Systeme beginnt also unter den Bedingungen hoher Komplexität zu expandieren, damit erhöht sich für das gegenwärtige Handeln zugleich seine Selektivität und es erhöht sich das Bewußtsein für die Kontingenz des Handeins. Zur Reduktion dieser Kontingenz können nur die neu aufbrechenden Zeithorizonte selbst beitragen, indem sie nämlich dem gegenwärtigen Handeln Entscheidungsgesichtspunkte liefern: entweder indem die Systemgeschichte vergangener Selektionen Muster für die Gegenwart abgibt, oder indem geplante zukünftige Zustände strukturierend auf gegenwärtige Selektionen wirken. Unter dem Gesichtspunkt der Reduktion sind Geschichte und Planung funktional äquivalent, sie führen jedoch zu unterschiedlichen Folgeproblemen und sind überdies evolutionär nicht beliebig einsetzbar; so setzt, wie wir sehen werden (s. Teil II, Kap. 7.1.2), Planung schon die Entwicklung reflexiver Mechanismen voraus. 9
10
Dazu ausführlicher: Luhmann, Knappheit, S. 15 ff. Vgl. Luhmann, Weltzeit, S. 108.
2.3 Dimensionen der Komplexität
85
2.3.2 Reflexive Mechanismen Einen reflexiven Mechanismus haben wir schon kennengelernt: die VerzeitZichung der Zeit durch reflexive temporale ModaZisierung. Das Reflexivwerden von Zeitbestimmungen, von Luhmann auch als "Historisierung" oder "Futurisierung" der Zeit bezeichnet l1 , weist große formale Ähnlichkeit mit den Mechanismen sozialer Reflexivität auf. Man kann in diesem Zusammenhang sehr deutlich die Interdependenzen zwischen den drei genannten Komplexitätsdimensionen erkennen. So steigert die temporale Reflexivität die Komplexität in der Sach- und Sozialdimension, indem nicht nur die tatsächlichen historischen bzw. geplanten Selektionen thematisiert werden, sondern auch die jeweiligen Selektionshorizonte. Dieser Steigerung stehen jedoch auch reduktive Leistungen gegenüber: die Verschiebung der Zeithorizonte in der Zeit ermöglicht es einem System, seine Gegenwart von vergangenen und zukünftigen Gegenwarten und ihren jeweiligen Vergangenheitsund Zukunftshorizonten zu unterscheiden. Damit kann höhere Komplexität zugelassen werden, da sie nicht als eigene, gegenwärtig relevante, d. h. in gegenwärtigen Zeithorizonten repräsentierte behandelt werden muß. Durch diese zeitliche Distanzierung vergangener Ereignisse kann in einem System also gegenwärtig mehr sachliche Komplexität zugelassen werden als wenn diese Ereignisse direkt als Systemgeschichte oder Systemzukunft mit entsprechendem Einfluß auf gegenwärtiges Handeln behandelt werden müßten. Geschichtsforschung untersucht also letztlich nicht gegenwärtige Vergangenheit, sondern Vergangenheit als damalige Gegenwart, die wiederum eigene Vergangenheits- und Zukunftshorizonte besessen hat. " ... sie macht damit die Gesellschaft sozusagen unabhängig von ihrem eigenen Gedächtnis, distanziert also das System von seiner Geschichte. Sie weiß sich selbst in einer anderen Gegenwart als ihren Gegenstand, bricht mit allen Versuchen, ihn in ihre Gegenwart zu überführen, und kann sich deshalb nach Maßgabe eigener Forschungsinteressen selektiv zu ihm einstellen 12 ." Man findet also auch bei der temporalen Reflexivität die Form des UmweghandeIns, wie sie für die übrigen reflexiven Mechanismen kennzeichnend ist. Der direkte Zeitbezug auf vergangene oder zukünftige Ereignisse mit seinem geringen Potential für Komplexität wird aufgegeben zugunsten eines indirekten Bezuges, damit wird die Systemgegenwart von temporaler Komplexität entlastet, ohne in der Sachdimension die Komplexität - durch Vergessen z. B. - verringern zu müssen. Diese reflexive Behandlung der Zeit setzt schon einen hohen Grad an funktionaler Differenzierung voraus, denn ein derartiger 11
12
Luhmann, Weltzeit, S. 112 u. 115. Luhmann, Weltzeit, S. 113.
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2. Zeitkonstitution in sozialen Systemen - N. Luhmann
Umgang mit Geschichte und Zukunft ist für das Gesamtsystem nicht möglich, dazu müssen Planungssysteme und Wissenschaft abgestellt werden. Reflexive Mechanismen dienen also in einer Art Relaisschaltung der Reduktion von Komplexität, was den Vorteil hat, nicht stets die Gesamtkomplexität berücksichtigen zu müssen. Für die reflexiven Mechanismen in der sachlichen Dimension von Komplexität bedeutet das im wesentlichen eine Verzeitlichung von Prozessen in ein abgestuftes Nacheinander, so daß höhere Kosten an Zeit entstehen. Sie dienen aber dennoch in einem zweiten Schritt auch zur Reduktion zeitlicher Komplexität, denn sind sie erst einmal etabliert, so erlauben sie dem System, hochkomplexe Sachverhalte rasch zu verarbeiten. Wir haben den paradox anmutenden Befund, daß Umweghandeln zeitsparend ist. "Von einer gewissen Stufe der Systemkomplexität an werden daher reflexive Mechanismen auch als zeitsparende Beschleuniger interessant1 3 ." Die Leistung reflexiver Mechanismen zahlt sich immer erst in einem zweiten Schritt aus: das Lernen des Lernens z. B. kostet zunächst Zeit, bevor man später um so leichter und schneller lernen kann. Die Möglichkeit des Reflexivwerdens von Prozessen in allen drei Dimensionen der Komplexität, ich habe hier die soziale Reflexivität nicht eigens behandelt, und die jeweils damit verbundenen Steigerungen und Beschränkungen der Dimensionen untereinander sind in einer soziologischen Zeittheorie zu berücksichtigen, die die neuzeitlichen grundlegenden Veränderungen der Gesellschaftsstruktur (-funktionale Differenzierung) und des Zeitbewußtseins adäquat erfassen will.
2.4 System/Umwelt-Beziehungen und Zeit
Nachdem ich die grundlegenden Zusammenhänge von System, Umwelt, Komplexität und Zeitkonstitution bei Luhmann nachgezeichnet habe, allerdings nicht ohne gewisse Schwerpunktverschiebungen und Um deutungen im eigenen theoretischen Interesse, komme ich zum Abschluß auf einige systemtheoretische Analysen Luhmanns, in denen die Zeitstruktur von System/Umwelt-Beziehungen in einer Weise erörtert wird, daß diese Untersuchungen als Vorzeichnung meiner eigenen folgenden Untersuchungen gelten können. Beginnen wir mit der Frage der zeitlichen Autonomie von Systemen, die unter anderem Voraussetzung ist für die reflexive Modalisierung der Zeit. Wie oben schon ausgeführt, produziert die Differenzierung von System und Umwelt Zeitlichkeit, da zwischen bei den keine Punktfür-Punkt-Korrelationen bestehen, sondern im System Generalisierun13 Luhmann, N., Reflexive Mechanismen, in: ders., Soziologische Aufklärung, Bd. 1, Opladen 1971, 2. Aufl., S. 92 - 112, S. 105.
2.4 System/Umweltbeziehungen und Zeit
87
gen vorgenommen werden, die dem System genügend Zeit für seine Erhaltung verschaffen. Systeme können also gegenüber der Umwelt bis zu einem gewissen Grade autonom werden, wobei gegenwärtig nur die zeitliche Dimension der Autonomie interessiert. Zur Autonomie eines Systems gehört es, ,Zeit zu haben', es muß die Möglichkeit haben, eigene Selektionsprozesse zu unterhalten, anstatt jeweils sofort auf jeden Umweltreiz in bestimmter Weise reagieren zu müssen. Diese systeminterne Selektion von Umweltursachen und UmweItwirkungen wird nach Luhmann durch das systemtheoretisch-kybernetische Input/ Outputmodell erfaßbar, "das im Kern ein zeitliches Auseinanderziehen von Umweltursachen und Umweltwirkungen unter der Zwischenschaltung systemeigener Prozesse ausdrückt"1.
2.4.1 Input/Outputorientierung und zeitliche Autonomie Das Input/Output-Modell trägt der begrenzten Selbststeuerung umweltoffener Systeme Rechnung, indem es Umweltursachen und -wirkungen nicht einfach kausal mit Ursachen und Wirkungen im System verknüpft, sondern die Selektivität des Systems berücksichtigt. Das System kann unter dem Gesichtspunkt der Bestandserhaltung Umweltereignisse auswählen - also unter dem Gesichtspunkt der eigenen Zwecksetzung -; es kann aber auch die Zwecke auswählen je nach den Mitteln, die die Umwelt gerade günstig bereitstellt. Input und Output sind demnach füreinander wechselseitig Gesichtspunkte der Selektion. Systembildung schafft also bestimmte Zeitgrenzen gegenüber der Umwelt, wobei die Orientierung des Systems an der Input- oder Outputgrenze ein je verschiedenes Zeitverhältnis zur Umwelt impliziert. "Temporale Perspektiven dieser Art zerreißen und regruppieren mithin Umweltkomplexe und verlagern zugleich die Koordinationslast ins Innere des jeweiligen Systems2 ." Auf die Systemgegenwart bezogen liegt der Input des Systems, der ja die Voraussetzung für die Produktion eines Outputs ist, in der Vergangenheit, während der Output in die Zukunft weist. Diese Zeitdifferenz kann mit den Zeitgrenzen oder Zeithorizonten des Systems verbunden werden, so daß Input- und Outputgrenzen zu den Zeitgrenzen des Systems werden. Systeme können sich nun konstant entweder an dem Input oder dem Output orientieren, oder aber den "Orientierungsprimat" nach Bedarf wechseln. "Mit der Orientierung an Input bzw. an Output wechselt die jeweils aktuell fungierende kognitive Komplexität und der in An1 Luhmann, N., Soziologie des politischen Systems, in: ders., Soziologische Aufklärung, Bd. 1, Opladen 1971, S. 154 - 177, S. 157. 2 Luhmann, MS, S. 394.
88
2. Zeitkonstitution in sozialen Systemen - N. Luhmann
spruch genommene Organisations grad des Systems3 ." Setzt ein System seinen Orientierungsschwerpunkt an der Inputgrenze - wie z. B. das Rechtssystem - bedeutet das, daß das System primär auf Umweltereignisse reagiert, indem es gegebene Umweltinformationen aufnimmt und bearbeitet, unter weitgehender Indifferenz gegenüber den damit ausgelösten Folgen. Ein so orientiertes System kann seine Handlungsprogramme zeitpunktunabhängig in der Form von Wenn/Dann-Bestimmungen strukturieren, die immer dann aktiviert werden müssen, wenn bestimmte Umweltinformationen eingehen. Im Fall dieser umweltabhängigen und invarianten Konditionalprogramme ist der Zeitpunkt und die Häufigkeit der auftretenden Information nicht voraussehbar. Das bedeutet natürlich eine gewisse Einschränkung der zeitlichen Autonomie, da das System auf eingehende Informationen reagieren muß. Die Orientierung an der Outputgrenze bedeutet, daß das System seine Funktion in der Erzeugung bestimmter Wirkungen in der Umwelt hat und sich zu diesem Zweck Informationen (Mittel) aus der Umwelt auswählt. Zweckprogramme können nicht zeitpunktunabhängig konzipiert werden, denn das Fehlen einer Zeitvorstellung würde die Zwecke in bloße "Leitideen und Werte an sich" auflösen, die keinerlei Selektionszwang im Hinblick auf bestimmte Wirkungen zu einem bestimmten Moment ausüben könnten. Outputselektion erfordert in gewissem Umfang eine Thematisierung künftiger Zustände, das Zeitbewußtsein beginnt unter diesen Umständen zu expandieren 4 • Größere zeitliche Autonomie besitzt ein outputorientiertes System im Hinblick auf die zeitliche Ordnung des Zweckprogramms, also in der Relationierung von Zwecken und Mitteln, da es den Zweck des HandeIns - den Output - in die Zukunft hinausschieben kann, um so das Erlebens- und Handlungspotential in der Zwischenzeit besser nutzen zu können. "Das ,Haben' von Zeit im Sinne einer zeitlich begrenzten Freiheit zur Wahl des Zeitpunktes für die Verwirklichung eigener Zwecke ist eine wesentliche Voraussetzung für ein rationales Sparen von Zeit im Sinne einer zeitgünstigen Anordnung von Mitteln5 ." Wie weit ein zeitliches Auseinanderziehen von Zwecken und Mitteln jeweils möglich ist, hängt von der Autonomie des Systems ab und muß mit den zeitlichen Interdependenzen von System und Umwelt abgestimmt sein. Die systeminterne Zweck/Mittel-Kalkulation setzt eine bestimmte Auslegung der Weltzeit voraus: es dürfen sich nicht plötzlich die zeitlichen Ordnungen der Umwelt ändern können, was ja zu überraschenden und unvorhergesehenen zeitlichen Anforderungen an das System führen würde.
Luhmann, MS, S. 395. Vgl. Luhmann, MS, S. 416. G Luhmann, Zweckbegriff, S. 306. 3
4
2.4 System/Umweltbeziehungen und Zeit
89
Das System rechnet in der Anordnung seiner knappen Zeit, sowohl im Fall output- als auch inputorientierter Systeme, mit erwartbaren Zeitinteressen anderer Umweltsysteme. Zusammenfassend läßt sich sagen, daß outputorientierte Systeme größere zeitliche Autonomie besitzen und auch in ihren internen Strukturen komplexer gebaut sein müssen als inputorientierte Systeme. Außerdem kann man unterschiedliche Tiefenschärfe in den beiden Zeithorizonten Zukunft und Vergangenheit erwarten. Inputorientierte Systeme richten sich stärker auf Ereignisse der Vergangenheit, auf die sie reagieren müssen, während outputorientierte Systeme ihre Zwecksetzungen in eine noch unbestimmte Zukunft hinein vornehmen.
2.4.2 Systemzeit - Umweltzeit Habe ich bisher nur die systeminterne zeitliche Orientierung ins Auge gefaßt, so komme ich jetzt zum Zusammenhang von systemeigenen und fremden Zeitbestimmungen. Luhmann unterscheidet "zeitlich plastische Umwelten, die ein hohes Maß an Zeitdisposition erlauben und andererseits Umwelten mit einer Eigendynamik, der sich das System anpassen muß, ... "6. Die Grenzen der Zeittoleranz, die dynamische Umwelten sehr eng ziehen, lassen die Zeit im System selbst knapp werden und belasten die Sach- und Sozialdimension mit höherer Komplexität. Dieser Fremdbestimmung kann man nur durch den Einsatz generalisierter Medien - vor allem Geld und Macht - entgehen, indem man die Herrschaft über die Zeitdispositionen bezahlt oder erzwingt. Zum Beispiel erlaubt gewöhnlich ein hoher sozialer Status die Disposition über die Zeitpläne Untergebener, indem man diese warten lassen kann, zugleich wird damit eine rationalere eigene Zeitplanung möglich. Die Möglichkeit interner Zeitplanung hängt also von der Art der Umweltansprüche und von der Verfügbarkeit generalisierter Medien ab. Systeme mit knappen Reaktionszeiten sind, da die Wartefähigkeit der Umwelt Grenzen hat, zu sachlich unteroptimalen Entscheidungen und sozial zu Verzicht auf Konsensus gezwungen, was wiederum interne Folgeprobleme nach sich ziehen kann. Es sei denn, die Umweltanforderungen lassen sich von der zeitlichen Dimension auf die Sach- oder Sozialdimension verschieben, indem z. B. mehr Personal eingestellt oder die sachliche Zuständigkeit eingeschränkt wird. Dies kann jedoch systemintern zu erhöhter Interdependenz führen und damit neue Zeitprobleme hervorrufen. Als systemstrukturelle Bedingungen für die übereinstimmung bzw. die Differenz von Systemzeit und Umweltzeit lassen sich die Art und der Grad der Ausdifferenzierung der Sozi al systeme angeben. So wird 6
Luhmann, Zweckbegriff, S. 307.
90
2. Zeitkonstitution in sozialen Systemen - N. Luhmann
in einer segmentär differenzierten Gesellschaft die soziale Umwelt an das System kaum unerfüllbare und unerwartete Zeit ansprüche stellen, da die Umweltsysteme die gleiche Struktur aufweisen wie das System selbst. Die segmentäre Differenzierung erfordert einen geringeren Interdependenzgrad, so daß die Input-Outputkoordination zwischen System und Umwelt nicht unter Zeitdruck steht. Die Umstellung auf funktionale Differenzierung erhöht sprunghaft die Komplexität der Umwelt und zugleich das Aufeinanderangewiesensein der Teilsysteme untereinander. "Die einzelnen Teilsysteme müssen daher aus ihrem Zeithorizont heraus Ansprüche an die Zeit anderer stellen, die deren Zeitpläne verzerren. Dadurch wird Zeit knapp 7." Es müssen im System zunehmend zeitsparende Strukturen und Mechanismen entwickelt werden, um Dispositionsfreiheit zu bekommen. Außerdem können sich Systeme untereinander auf eine gemeinsame Weltzeit einigen und damit ihre gegenseitigen Anforderungen auf ein Drittes hin festlegen, auf das die internen Zeitpläne abgestimmt werden können. Diese zeitliche Festlegung ist bei funktionaler Arbeitsteilung zwischen den Systemen ein Erfordernis für reibungslose Kooperation, da jedes System wissen muß, wann es mit den Beiträgen der anderen rechnen kann und muß. Wie oben schon gesagt, kann ein komplexes System sektoral komplex oder weniger komplex erleben, d. h. für unsere Frage, daß nicht alle Umweltsektoren gleich zeitbestimmend auf ein System einwirken werden, sondern daß dynamische und zeitplastische Um welten für jedes System nebeneinander bestehen.
2.4.3 Systemdifjerenzierung, Systemrejerenzen und Zeitstrukturen Mit der Steigerung der funktionalen Differenzierung der Gesellschaft steigern sich sowohl die gegenseitigen Interdependenzen als auch die Autonomie der Teilsysteme. Im Extrem "besteht das Gesamtsystem schließlich in nichts anderem als in der Ordnung der Interdependenzen zwischen den Teilsystemen"8. Durch die funktionale Spezifizierung wächst auch die Unterschiedenheit der Systeme und damit auch die ihrer jeweiligen Umweltsichten, so daß schließlich jedes System eine "unvergleichliche Sonderumwelt" gewinnt. Luhmann führt nun diese Differenzen vor allem auf Zeitverschiebungen zurück9 • Diese Zeitverschiebungen entstehen in der Verbindung der Systeme durch Input/Output-Prozesse, wobei ein System z. B. die Leistung eines anderen als Vergangenheit für seine eigenen Zwecksetzungen voraussetzen muß, während für das leistende System seine Leistung in die Luhmann, Knappheit, S. 14. 8 Luhmann, MS, S. 393.
7
9
Ebd.
2.4 System/Umweltbeziehungen und Zeit
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Zukunft weist. Um Wartezeiten und Engpässe gering zu halten, ist es notwendig, die Handlungen aller Teilsysteme in einer gemeinsamen Zeit zu synchronisieren. Die Synchronisation gilt für das Zeittempo ebenso wie für die Zeithorizonte Vergangenheit und Zukunft. In diesem vereinheitlichten Horizont können dann die unterschiedlichen System/ Umwelt-Referenzen mit ihren zeitlichen Schwerpunktsetzungen und konkreten Zeitperspektiven differieren. Mit dem Gesichtspunkt der Synchronisation der Teilsysteme untereinander ist bisher nur eine der drei möglichen Systemreferenzen behandelt worden: der Leistungsbezug, dem Luhmann im wesentlichen einen Zukunftsbezug zuschreibt, mit dem doppelten Aspekt der Herbeiführung und Verhinderung künftiger Zustände. Die Beziehung eines Teilsystems zum Gesamtsystem wird durch die Funktion vermittelt, die das Teilsystem für das umfassende System übernommen hat. "Die Zugehörigkeit zur Gesellschaft ist unausweichlich präsent, sie gewährt keine Wahlmöglichkeit. Anders als bei segmentärer Differenzierung, wo den Teilsystemen die Sezession freisteht, kann kein funktionales Subsystem aus der Gesellschaft austreten 10 ." Für den Vergangenheitsbezug bleibt nur noch die Selbstreferenz, die man auch als Reflexion bezeichnen kann. "Reflexionsprozesse sind immer auch Prozesse der Historisierung. Ein System, das sich reflektiert, profiliert sich damit vor dem Horizont der eigenen Vergangenheit ll ." Der Zusammenhang von funktionaler Differenzierung und Zeit geht nun weit über die Auswirkungen auf das Zeittempo und die Koordinationsprobleme bei knapper Zeit hinaus, da er auch Konsequenzen für das Zeitbewußtsein und die Temporalstrukturen der Gesellschaft hat. Luhmann weist auf den fundamentalen Wandel des neuzeitlichen Zeitbewußtseins um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert hin, der zusammengeht mit einem großen Differenzierungsschub in der Gesellschaft; die Erziehung trennt sich von der Religion, das Wirtschaftssystem von der Familie. Diese funktionale Differenzierung läßt die Orientierung an einer gemeinsamen Systemgeschichte nicht mehr zu (vgl. Ir, Kap. 7.1.1), anstelle der Vergangenheitsorientierung tritt die Orientierung an der Zukunft. Damit verbunden entsteht die Idee von der Offenheit und Machbarkeit der Zukunft (Fortschrittsidee), und es kommt durch die Entlastung der Vergangenheit von normativen Gesichtspunkten zu einer Entdeckung der Geschichte in der idealistischen Geschichtsphilosophie und im Historismus. Die Gegenwart wird zu einem bloßen übergang punktualisiert, was Luhmann auf das Verschwinden einer "über den Funktionen liegenden aggressiven Gemein10 11
Luhmann, MS, S. 476. Luhmann, MS, S. 475.
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samkeit des Gesellschaftsverständnisses"12 zurückführt. Der Wandel der Temporalstrukturen ist demnach auf Systemdifferenzierung, auf Selbstreflexion der Teilsysteme und der damit gegebenen Mehrheit von Systemreferenzen begründet (vgl. Teil II, Kap. 6). Damit wären die wesentlichen Beiträge Luhmanns zu einer systemtheoretischen Fassung des Begriffs der Zeit für die Soziologie vorgestellt, wobei vieles bei Luhmann ein Beiprodukt ist, was von mir hier explizit in den Vordergrund der Diskussion gestellt worden ist. Es dürfte deutlich geworden sein, daß Luhmann in seinen zeittheoretischen Auffassungen weitgehend übereinstimmt mit den von der Phänomenologie und auch von Mead ausgearbeiteten Vorstellungen über die Zeitstrukturen des Bewußtseins und des menschlichen Handelns. Sein Verdienst besteht darin, diese Konzepte, zumindest zum Teil, in seine Theorie sozialer Systeme integriert zu haben; auch wenn es z. B. hinsichtlich der Bestimmung von temporaler Komplexität, des Zusammenhangs von temporalen und possibilistischen Modi und hinsichtlich des Zusammenhangs von Zeit und Bewegung noch Unklarheiten gibt. Ich stelle mich mit dieser Arbeit ausdrücklich sowohl in die angesprochene zeittheoretische als auch die systemtheoretische Tradition und will versuchen, a) aus den voranstehenden eher zeittheoretisch orientierten Erörterungen als Fazit einen "Grundriß" für ein soziologisch brauchbares Zeitkonzept zu entwerfen, und b) mit diesem Instrumentarium die wichtigsten Systemprozesse und Strukturen in ihrer zeitlichen Dimension zu analysieren; also z. B. Prozesse der Ausdifferenzierung und Grenzerhaltung (Teil II, Kap. 4), die Beziehungen sozialer Systeme zu anderen Systemen (Kap. 5); Prozesse der Systemdifferenzierung (Kap. 6), Probleme der temporalen Komplexität von Systemen und deren Reduktion (Kap. 7), Zusammenhänge zwischen Systemebenen und Zeit (Kap. 8). 3. Grundriß eines soziologischen Zeitkonzepts
1. Zeit soll als symbolische Sinnstruktur aufgefaßt werden, mit deren Hilfe die Welt begriffen und geordnet werden kann. Sie ist soziologisch als eine intersubjektive Konstruktion der Wirklichkeit anzusehen, mit deren Hilfe wir natürliche und soziale Ereignisse ordnen. Diese intersubjektive Zeit muß unterschieden werden von der 12 Luhmann, MS, S. 477.
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rein "subjektiven" Zeit psychischer Systeme und ist auch nicht identisch mit der "objektiven" Zeit im Sinne einer chronologischen Zeitordnung; letztere ist vielmehr nur ein Aspekt der sozialen Zeit. Diese Grundannahme bezüglich des Charakters von sozialer Zeit wird heute in der Soziologie allgemein akzeptiert (vgl. Durkheim, Sorokin / Merton, Gunnell, Luhmann, Rammstedt u. a.). "What must be continually stressed is the extent to wh ich time is a created order both in the social and natural world; ,time presupposes the view of time'I." Diese Möglichkeit intersubjektiver Zeit konstitution basiert auf subjektiven physischen und psychischen Strukturen der Informationsverarbeitung, die allen Menschen gemeinsam sind und die ein Erleben von Zeit ermöglichen. Diese physischen und psychischen Gegebenheiten legen den Rahmen von Erfahrungsvarianten überhaupt fest, während Symbolisierung und Konzeptualisierung von Zeit höherstufige soziale Leistungen sind, die an soziale Interaktion und damit an soziale Systeme gebunden sind. "Perception is to a certain extent uniform, while the categories of conception are relative2 ." Aufgrund des sozialen Charakters der Zeit als symbolischer Struktur wird die Form und der Entwicklungsgrad der sozialen Zeit vom Stand gesellschaftlicher Strukturen und Prozesse abhängig sein und mit ihm systemspezifisch variieren. "Whatever conception of time is offered, it is conditioned by the total character of the culture and society ... 3." Welche sozialen Strukturen und welche Umweltstrukturen hier "zeitstrukturierend" wirken, ist ein Thema dieser Arbeit. Mit Maltz kann man grundsätzlich zwischen zwei Formen von Referenzpunkten für zeitliche Orientierung unterscheiden: einer normativen Orientierung, d. h. der Orientierung an den normativen sozialen Beziehungen und Institutionen, und einer "ökologischen" Orientierung, deren wesentliche Referenzpunkte in der naturalen Umwelt sozialer Systeme liegen. In der sozialen Konstruktion von Zeit als symbolischer Struktur müssen beide Orientierungspole integriert werden, und es muß eine Verknüpfung von individueller psychischer Zeiterfahrung und sozialer Zeiterfahrung geleistet werden. "Keeeping experience and idea integrated is the basic problem of a symbolic system 4 ." Wenn man Zeit als bewußtseinsmäßige symbolische Darstellung von realen, sei es von natürlichen oder sozialen Prozessen auffaßt, ergibt sich die Frage, ob es soziale Systeme ohne Zeitbewußtsein in irgendeiner Form geben kann. I Gunnen, S. 20. 2 Gunnen, S. 22. 3 Sorokin, P. A., Sociocultural Causality, Space, Time, New York 1964, S.168. 4 Maltz, D. N., Primitive Time-Reckoning as a Symbolic System. In: Cornen Journal of Social Relations, 3, 1968, S. 85 - 112, S. 90.
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2. Es wird angenommen, daß Zeit als soziale Konstruktion in allen Gesellschaften anzutreffen ist, auch wenn ein expliziter Begriff von Zeit fehlt und die Formen des Zeitbewußtseins und der Zeitrechnung stark variieren; d. h. Zeit ist eine universale Sinnstruktur, ein Strukturmerkmal von Gesellschaft überhaupt. Entgegen der Meinung Gunnells, daß die Erfahrung von Zeit weder für das Individuum noch für die Gesellschaft eine überlebensnotwendige Bedingung ist, legen die empirischen Befunde der Ethnologie eine gegenteilige Auffassung nahe. Denn auch wenn in einzelnen Gesellschaften ein Begriff für "Zeit" fehlt, wenn bei den Hopi nach den Analysen Whorfs temporale Verbformen fehlen, so werden doch in allen bekannten Gesellschaften zeitliche Unterscheidungen getroffen, gibt es in allen ein System von Zeitrechnung5 • Meine Annahme beruht weiterhin aber auch auf dem von mir vorausgesetzten Zeitbegriff (vgl. Kap. 1.1). Die zeitliche Ordnung von Daten nach früher/gleichzeitig mit/ später verlangt nach einer bewußtseinsmäßigen Darstellung und Ordnung, wobei angenommen wird, daß die jeweilige Form dieser Zuordnung, d. h. die jeweilige Form des Zeitbewußtseins verschieden sein kann. In irgendeiner zeitlichen Ordnung müssen jedoch die realzeitlichen Daten im Bewußtsein geordnet werden. Die Ergebnisse der Forschungen Piagets haben im übrigen gezeigt, daß die Ausbildung eines operativen Zeitbegriffs notwendig ist zur richtigen Erfassung von Bewegung, Geschwindigkeit und Raum (vgl. Kap. 2.1).
3. Ich übernehme die in der Zeittheorie gebräuchliche Unterscheidung zweier Zeitreihen, wobei die B-Reihe (Ordnung von Ereignissen nach früher/später) als reale Weltstruktur angesehen wird, während die A-Reihe (Ordnung von Ereignissen nach Vergangenheit-Gegen wartZukunft) als bewußtseinsmäßige Darstellung der realzeitlich geordneten Daten/Ereignisse verstanden werden soll. Eine soziologische Theorie, die soziale Zeit als eine bewußtseinsmäßige, symbolische Konstruktion dieser realen Veränderung/bzw. Nichtveränderung begreift, wird sich dementsprechend in ihrem Zeitbegriff weitgehend auf die A-Reihe beschränken. Wieweit dabei die soziale Zeit voll nach den Bestimmungen Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft differenziert ist, hängt vom evolutionären Niveau von Gesellschaften ab, es können also auch weniger differenzierte Formen des sozialen Zeitbewußtseins auftreten. In jedem Fall sind für Handelnde Ereignisse differenzierbar nach dem Grad ihrer Beeinflußbarkeit, ihrer Gegebenheitsweise und ihrer Bestimmtheit. 5 Goody, J., Time. Social Organization. In: International Encyclopedia of the Social Sciences, Vol. 16, ed. D. L. Sills, New York 1968, S. 30 - 42, S.30 (im folgenden zitiert als Time).
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Ereignisse sind zukünftig: a) wenn sie prinzipiell noch beeinflußbar sind; b) wenn sie nur voraussagbar, aber nicht registrierbar sind; c) wenn sie unbestimmt sind. Ereignisse sind vergangen: a) wenn sie unbeeinflußbar geworden sind; b) wenn sie nur durch Spuren oder Aufzeichnungen erfahrbar sind; c) wenn sie bestimmt sind. Ereignisse sind gegenwärtig: a) wenn sie als bestimmte auftreten; b) wenn sie wahrnehmungsmäßig gegeben sind; c) wenn sie erstmalig Bestimmtheit erreichen 6 • Das zeitliche Werden, d. h. der Wechsel von A-Bestimmungen, ist damit eine Veränderung der Beeinflußbarkeit, der erkenntnismäßigen Zugangsweise und der Bestimmtheit von Ereignissen (vgl. Diskussion, Kap. 1.3). Personales und soziales Zeitbewußtsein hängen also von zwei Faktoren ab: ,,1. von dem Vorhandensein faktisch vergehender und entstehender Weltinhalte und ihrer Wahrnehmung; 2. von der Möglichkeit der Erinnerung und Erwartung. Wenn einer der beiden Faktoren fehlt, kann sich kein Zeitbewußtsein bilden. Insofern setzt das Zeitbewußtsein tatsächliche Weltveränderung einerseits und lineare Bewußtseinsweise (Möglichkeit von Erinnerung und Erwartung) andererseits voraus 7 ." Die nach B-Bestimmungen geordnete Welt stellt zunächst eine gesellschaftsunabhängige, universale Bedingung für Zeiterfahrung und Zeitbewußtsein dar. Welche der Umweltveränderungen als Referenzpunkte für die zeitliche Orientierung gewählt werden, ob astronomische Periodizitäten, jahreszeitliche Veränderungen oder Rhythmen des sozialen Lebens8 , hängt ab von der inneren Systemstruktur und der Umweltlage des Systems. Mit Conrad-Martius kann man gegenüber der realen Zeit und ihrer Vorwärtsbewegung die bewußtseinsmäßig, intentional gegebene Zeit als "transzendental-imaginative Zeit" bezeichnen. "Es ist die unreflektierte, transzendentale "Anschauungsform", in der wir kraft der memoria und expectatio Welt und Weltgeschehen, uns selbst eingeschlossen, ständig ergreifenD." Diese Zeit ist in ihrer Ausprägung und in ihrem Sinn relativ auf ein psychisches oder soziales System. "Es handelt sich hier um die objektive, gegenständlich gehabte Zeit im präzisen Sinne, nicht jedoch um die reale Zeit 10 ."
4. In der Ordnung der sozialen Zeit nach Vergangenheit-GegenwartZukunft nimmt die Gegenwart in zweifacher Hinsicht eine Sonder6 Reichenbach, H., The Direction of Time, Berkeley 1956, S. 21 ff. (zitiert nach Bieri, S. 161). 7 Conrad-Martius, S. 213. 8 Vgl. Maltz, S.87, vgl. auch: Hallowell, A. T., Temporal Orientation in Western Civilization and in Primitive Society, in: American Anthropologist, 39, 1937, S. 647 - 670. D Conrad-Martius, S. 18. 10 Ebd.
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stellung ein: einmal vollzieht sich in ihr die Vermittlung zwischen der Zeit als real vorrückender Weltstruktur und der bewußtseinsmäßigen Darstellung dieser Zeit, zum anderen ist sie Bezugspunkt für Vergangenheit und Zukunft, die ja nicht real gegeben, sondern als Zeithorizonte in der Gegenwart nur mitgegeben sind. Diese Gegenwart besitzt eine gewisse Ausdehnung und eine interne Gliederung nach Protention, Impression und Retention (vgl. dazu den Begriff "specious present" bei Dobbs)l1. Die gegenwärtige Situation ist nach Mead 12 nicht einfach eine Stelle in der gleichmäßig verfließenden Zeit, sondern jeweils ein neues, gegenüber dem Vorhergegangenen und dem Kommenden diskontinuierendes Ereignis; "die Welt tritt unablässig neu ins aktuelle Dasein"13. Die Welt wird als ein Prozeß begriffen, als eine Welt von Ereignissen. Sie konstituiert sich die Gegenwart in Beziehung auf ein Ereignis, das Mead "the emergent" oder "the novel" nennt. "Es ist die reale Kinetik, in der sich das reale Heraustreten der Welt ins aktuelle Dasein fortwährend vollzieht I4." An dieser aktuellen Gegenwartsstelle vollzieht sich die Begegnung der realen Zeit (geordnet nach der B-Reihe) mit dem (transzendentalen) Zeitverlauf des Bewußtseins. Die Welt besteht also aus einer Folge diskontinuierlicher Ereignisse - "der reale Zeitfortschritt ist ... notwendig ein diskontinuierlicher"15 -, auf die hin sich das Individuum oder das soziale System in seinem gegenwärtigen Handeln jeweils neu einstellen muß. Insofern kann man mit Luhmann Handeln als eine "Gegenbewegung zur Selbstannihilation der Zeit"16 begreifen, als Reaktion auf die reale Kinetik der realen Zeit. Handlung vollzieht sich in der Gegenwart, deren Aktualität nicht vom Zeitbewußtsein allein bestimmt ist, sondern vom Zusammentreffen von realen Ereignissen mit einem zeitkonstituierenden Bewußtsein. Die Herstellung einer gemeinsamen Gegenwart in einem sozialen System ist nur möglich, weil alle Systemmitglieder in ihrem Bewußtsein einem realen Ereignis entsprechende Daten gleichzeitig wahrnehmen und gleichzeitig damit als "gegenwärtige" darstellen l7 • Im Gegensatz zur Gegenwart, als dem Ort der Realität, der Daseinsaktualität, sind Vergangenheit und Zukunft seinsabhängig vom Bewußtsein. Ich werde für das Verhältnis von Gegenwart zu Vergangenheit und Zukunft den phänomenologischen Begriff des Horizonts einführen, der in etwa dem 11 Dobbs, S. 123 ff. 12 Mead, Sozialität, S. 252. 13 Conrad-Martius, S. 33. 14 Ebd. 15 Conrad-Martius, S. 36. 16 Luhmann, Zeit, S. 65. 17 Vgl. dazu: Bieri, S. 213.
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Meadschen Begriff der Perspektive in diesem Zusammenhang entspricht (vgl. 1.2.3). Vergangenheit und Zukunft fungieren demnach als Verweisungszusammenhänge für gegenwärtige Orientierung, indem sie selektive Gesichtspunkte bieten können. Andererseits werden von der Gegenwart aus die beiden Zeithorizonte stets neu geordnet, in eine neue Perspektive gerückt. "All temporal structures relate to a present 18." Wir finden diese zentrale Stellung der Gegenwart schon bei Augustinus voll ausgebildet vor: "Es gibt drei Zeiten: eine gegenwärtige mit Bezug auf Vergangenes, eine gegenwärtige mit Bezug auf Gegenwärtiges und eine gegenwärtige mit Bezug auf Zukünftiges (praesens de praeteritis, praesens de praesentibus, praesens de futuris)19." In der Gegenwart sind die Ereignisse im Modus der Gegenwärtigung (z. B. der Wahrnehmung) für das Bewußtsein gegeben, dagegen sind die Ereignisse der Vergangenheit und Zukunft im Modus der Vergegenwärtigung gegeben: in der Wiedererinnerung (memoria) bzw. in der Erwartung (expectatio). Entsprechend ihres Horizontcharakters kann die Zukunft nicht beginnen, die Vergangenheit nicht vergehen. Man muß also zur Kennzeichnung des Beginnens oder Endens von Prozessen - auch von vergangenen und zukünftigen - eine Begrifflichkeit gebrauchen, die zur Gegenwart gehört. Dies führt uns auf die Notwendigkeit iterativer oder reflexiver Verwendung der zeitlichen Modalbegriffe.
5. Der Horizontcharakter von Vergangenheit und Zukunft zwingt dazu, vergangene und zukünftige Ereignisse als vergangene bzw. zukünftige Gegenwart zu behandeln. In den beiden Zeit horizonten der Gegenwart, von der man jeweils ausgeht, tauchen wiederum Gegenwarten mit eigenen Zukünften und Vergangenheiten auf, etc. Um diese zeitlichen Verschachtelungen noch darstellen zu können, sind Modalisierungen der zeitlichen Modalbestimmungen nötig, die ich mit Luhmann Mehrfachmodalisierung oder reflexive Modalisierung nenne. Diese temporalen Mehrfachmodalisierungen haben ihre Basis stets in einer Gegenwart, d. h. nicht alle Verknüpfungen temporaler Modi sind möglich. Bei der einfachen reflexiven Modalisierung muß man gegenwärtige Zeithorizonte wie "gegenwärtige Vergangenheit" und "gegenwärtige Zukunft" unterscheiden von einer Verlegung des Gegenwartspunktes in die Vergangenheit oder Zukunft, denn dann muß man von "vergangenen Gegenwarten" oder "zukünftigen Gegenwarten" sprechen. Im Fall einer Dreifachmodalisierung müssen auch noch die jeweiligen Zeithori18 Luhmann, Future, S. 137. 19 Augustinus, A., Confessiones (lat. u. dt. übersetzt v. J. Bernhard, Mün-
chen 1960, XI, cap. 18 - 20. 7 Bergmann
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zonte der vergangenen oder zukünftigen Gegenwarten berücksichtigt werden, es kommt dann zu Zeitbestimmungen wie: "die Vergangenheit vergangener Gegenwarten" oder "die Zukunft vergangener Gegenwarten". Logisch gesehen gibt es für die Iterationsmöglichkeit der Modalisierungen keine Grenze; es wird daher durch die Grenzen der Praktikabilität zu bestimmen sein, wie weit man gehen will (vgl. Kap. 2.2.2). 6. Die je real und aktuell ins Dasein tretenden Ereignisse (emergent events) zwingen den Menschen zu steten Anpassungsleistungen, d. h.
zum Handeln. Handlung ist also stets gegenwärtige Handlung, sie leistet die temporale Integration von Moment zu Moment, sie stiftet die Einheit der Zeit, trotz der Nichtidentität der Gegenwartsmomente. Jede Gegenwart wird also im Handeln integriert in einen bestimmten Zukunfts- und Vergangenheitshorizont, und in jeder neuen gegenwärtigen Handlung werden neue Horizonte selegiert.
In jeder individuellen Handlung kommt es zum Entwurf einer spezifischen Zeitperspektive, dabei bleibt die Selektivität der Handlung, d. h. das Wissen um alternativ-mögliche Handlungsfortsetzungen, erhalten. Diese Handlungen sind die "temporalisierten Elemente im Aufbau sozialer Systeme"20, letztere sind also Handlungssysteme, die sich konstituieren in der Relationierung gegenwärtiger Handlungen. In der Interaktion erleben und definieren sich die Partner als gleichzeitig und gegenwärtig existierend, das ermöglicht die zeitliche Synchronisation des aktuellen Erlebens mitsamt seinen Zeithorizonten und seinem Zeittempo (zur Abstimmung der Zeitperspektiven, vgl. 0., 1.2.5). Durch diese Synchronisation konstituiert sich eine dem Interaktionssystem eigene intersubjektive Zeit, die die Übertragbarkeit der Erlebnisperspektiven und eine gemeinsame Zugänglichkeit der Welt sicherstellt. Insofern kann man mit Luhmann soziale Systeme bestimmen als "untemporal extensions of time. They make the time horizons of other actors available within one contemporary present"21. Dieses Problem der Konstitution einer intersubjektiven oder sozialen Zeit liegt der engeren system theoretischen Fragestellung, die ich in dieser Arbeit verfolge, voraus, so daß ich auf diese Frage nicht über die bisherigen Ausführungen (vgl. Kap. 2) hinaus eingehen werde.
7. Da soziale Systeme aus einer Menge aufeinander bezogener Handlungen bestehen, unterscheiden sie sich untereinander, wie die einzelnen Handlungen auch, durch ihren spezifischen Sinn. Ist die Zeit eine sinnhaft in Systemen konstituierte Systemstruktur, so ergibt sich als Konsequenz die Annahme von je systemspezifischen Eigen20 Luhmann, Handlungstheorie, S. 221. 21 Luhmann, Future, S. 149.
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zeiten, die ich als Systemzeit bezeichnen werde. Soziale Zeit ist also stets systemrelativ gegeben, d. h. soziale Systeme besitzen Zeitgrenzen gegenüber ihrer Umwelt. Soziale Systemzeit konstituiert sich durch die Ausdifferenzierung oder Abgrenzung von Handlungszusammenhängen gegenüber anderen Handlungen, die dann zu Umweltprozessen des Systems werden. Die Differenzierung von System und Umwelt "produziert" Systemzeiten, denn System- und Umweltprozesse können nicht mehr gleichzeitig Punkt für Punkt korreliert werden - wegen der größeren Komplexität der Umwelt -, sondern werden durch die Ausdifferenzierung so voneinander abgekoppelt, daß ein System auf Umweltereignisse nach Maßgabe eigener Zeitstrukturen reagieren kann. Systembildung wirkt also als Interdependenzunterbrecher und ist damit Voraussetzung für die Konstitution systemspezifischer, umweltunabhängiger Zeit. Der Grad der zeitlichen Autonomie gegenüber Weltansprüchen variiert mit der Systemstruktur (vgl. H. Teil, Kap. 4.2.1).
8. Systeme sind immer Systeme in einer Umwelt. Diese wiederum ist ebenfalls systemförmig geordnet, d. h. jedes Umweltsystem besitzt eine eigene Systemzeit. Damit ergibt sich das Problem des Zusammenhangs von systeminternen und umwelteigenen Zeitbestimmungen. Ich unterscheide folgende vier Typen von Umweltsystemen: das organische System des Menschen (Leib), Systeme in der natürlichen Umwelt der Gesellschaft, personale oder psychische Systeme und andere soziale Systeme. In der soziologischen und philosophischen Literatur finden sich unterschiedliche Einteilungen der wesentlichen "Seinsregionen", um einen Husserlschen Begriff zu gebrauchen; z. B. Parsons' Einteilung des allgemeinen Handlungssystems, Kroebers vier Ebenen des Organischen und Überorganischen, Husserls Stufen der Seins regionen, u. a. Ich folge hier der Parsonsschen Einteilung seines allgemeinen Handlungssystems nur zum Teil und ohne dasselbe insgesamt zu akzeptieren: das kulturelle System soll, Luhmann folgend, nicht eigens vom sozialen System unterschieden werden; die sogenannte "letzte Realität" ist für die Theorie sozialer Systeme kaum relevant 22 . Bei der Untersuchung der Eigenzeiten sozialer Systeme ist stets auf die Umweltbeziehungen der Systeme zu achten, denn man wird davon ausgehen müssen, "daß die Eigenschaften eines Systems sowohl von seinen schon vorhandenen Eigenschaften als auch von den Eigenschaften der Systeme abhängen, die dessen Umwelt bilden"23. Die Zeitstrukturen der genannten Um22 Münch, R., Theorie sozialer Systeme, Opladen 1976, S. 36 (im folgenden zitiert als Theorie). 23 Münch, Theorie, S. 112. 7·
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weltsysteme sind für die Konstitution der sozialen Zeit ein wichtiger Faktor, da sie bestimmte Variationsgrenzen festlegen und Orientierungsmodelle liefern können. Je nach dem Grad der Autonomie eines Systems gegenüber Einflüssen und Ansprüchen der Umwelt wird sich auch die Zeitstruktur eines Systems gegenüber Zeitstrukturen der inneren oder äußeren Natur, der psychischen Zeit und der Eigenzeit anderer sozialer Systeme unterschiedlich stark behaupten können. Für die theoretische Bestimmung der Beziehungen zwischen den oben genannten Systemtypen liegen, abgesehen von Parsons Ansatz, kaum Vorschläge vor. Parsons setzt ein allgemeines Aktionssystem an, dessen Subsysteme Kultur, soziales System, Persönlichkeitssystem und Organismus untereinander in einer Kontroll- bzw. in umgekehrter Richtung in einer Energiehierarchie verbunden sind; d. h. er behandelt die System/Umweltdifferenzierungen noch als systeminterne, nur analytisch zu treffende Unterscheidungen. An jeder menschlichen Handlung sind stets alle Systeme beteiligt. Faßt man Systeme nicht nur als analytische, sondern als reale Einheiten auf, dann sind nach Luhmann die genannten Systeme füreinander als Umwelten zu behandeln und nicht als Subsysteme eines allgemeinen Aktionssystems. Luhmann versucht, den Zusammenhang der unterschiedlichen Systemtypen durch das Konzept der Interpenetration in den Griff zu bekommen. Die anvisierte Theorie der Interpenetration soll sich damit befassen, "wie die Komplexität von Umweltsystemen als Basis für den System aufbau und System erhaltung in das System eingeführt und in ihm genutzt wird"24. Bisher lassen sich jedoch mit diesem Konzept nur System/Umweltbeziehungen eines bestimmten Typs fassen, das Verhältnis personaler und sozialer Systeme25 , so daß eine umfassende Anwendbarkeit noch nicht gegeben ist. Ein umfassendes Konzept zur Erfassung aller Formen von System/UmweltRelationen gibt es in der Systemtheorie bisher nicht, es existieren jedoch Konzepte für einzelne dieser Relationen, die ich in der späteren Ausarbeitung jeweils heranziehen werde (vgl. Teil II, Kap. 5). Die Differenzen zwischen System- und Umweltzeiten können zu den bekannten Phänomenen des Wartens und der Zeitknappheit führen. Sie sind Resultate einer fehlenden Integration oder eines offenen Konflikts zwischen zwei verschiedenen Temporalstrukturen. Aus diesem Grunde sind übergreifende zeitliche Synchronisationsmechanismen notwendig.
9. Die heterogenen Temporalstrukturen der einzelnen Systeme können ohne dysfunktionale Folgen nicht gänzlich unverbunden nebeneinander existieren. Es treten also Probleme des "timing" hinsichtlich der Dauer, des Tempos, der Abfolge etc. von Prozessen auf. Zur 24 Luhmann, Interpenetration, S. 68. 25 Ebd.
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Integration der einzelnen Systemzeiten tritt ein übergreifendes Zeitkonzept in Funktion, das wir als "Weltzeit" bezeichnen werden. Diese Systeme der Zeitrechnung transzendieren die jeweiligen Systemzeiten; dazu werden sie abstrakter und generalisierter sein müssen als diese. Wir haben also zu unterscheiden: Systemzeit, Umweltzeit und Weltzeit. Die Unterscheidung von Systemzeit und Weltzeit beruht auf der system theoretischen Unterscheidung (in der Luhmannschen Theorie) von System, Umwelt und Welt, wobei letztere das System/Umweltverhältnis übergreift - System und Umwelt(-system) stellen selektive Weltausschnitte dar. Die Welt als Horizont ist bezogen und wird konstituiert durch das soziale System der Gesellschaft. Weltzeit ist also die Zeit des Gesellschaftssystems (oder mehrerer Gesellschaften), sie läßt jeweils alle aktuellen Prozesse in den Subsystemen gleichzeitig laufen 26 . In allen menschlichen Gesellschaften finden wir Zeitrechnungssysteme, die sich an den verschiedenartigsten Referenzpunkten orientieren 27. Solange jedoch Gesellschaften intern kaum differenziert sind und kaum Kontakte zu anderen Gesellschaften besitzen, ist der Bedarf für einen relativ kontextfreien Zeitbegriff zum Zweck der Synchronisierung gering. Weltzeit als "kulturelle Abstraktion"28 wird deshalb nicht auf allen Stufen gesellschaftlicher Evolution anzutreffen sein, sondern erst bei zunehmender funktionaler Differenzierung und zunehmenden "internationalen" Kontakten. Um entsprechend abstrakte "koordinierende Generalisierungen" zu leisten, muß die Weltzeit nach Luhmann folgende Eigenschaften besitzen: 1. Homogenität, d. h. Unabhängigkeit von Bewegungen und differierenden Zeittempi; 2. gedankliche Reversibilität, d. h. die Weltzeit betont das Moment der Wiederholung gegenüber dem irreversiblen Verlauf der Lebenszeit eines Systems29 ; 3. Bestimmbarkeit von Zeitpunkten und Ereignisfolgen durch Datierung und Kausalität; 4. Transitivität, zum Vergleich verschiedener Zeitstrecken. Bis zu welchem Grad diese Bedingungen erfüllt werden, hängt ab vom evolutionären Entwicklungsstand von Gesellschaften, auf die bezogen ja auch die Weltzeit systemrelativ ist. Als erfolgreichstes Schema zur Standardisierung und Koordinierung von Zeit und Bewegung bzw. von differierenden Systemzeiten hat sich die Chronologie erwiesen. Sie setzt ein kontinuierliches und gleichmäßiges Verfließen der Zeit voraus und bestimmt Zeitpunkte ohne Rücksicht 26 27 28 29
Vgl. Luhmann, Weltzeit, S. 11l. Vgl. dazu: Hallowell, S. 647. Luhmann, Weltzeit, S. 110. Leach, E., Zwei Aufsätze über die symbolische Darstellung der Zeit, in: Kulturanthropologie, Hrsg. Mühlmann, E. / Müller, W., Berlin, Köln 1966, S. 393 - 408, S. 393 und S. 403.
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auf tatsächliche Ereignisse. Eine chronologische Konzeption der Weltzeit ermöglicht die Orientierung an einer von systemspezifischen Zeiterfahrungen unabhängigen, objektiven Zeitpunktreihe. Luhmann bezeichnet Chronologie als ein "evolutionary universal"30, das einfache Regeln für seinen Gebrauch mit hochkomplexer Funktionserfüllung verbindet.
10. Sind die Systemzeiten und die jeweiligen Weltzeiten in ihrer Struktur abhängig von anderen Strukturen der Gesellschaftssysteme, so ist zu erwarten, daß sie parallel zu diesen eine evolutionäre Entwicklung durchgemacht haben. Diese Evolution der sozialen Zeitstrukturen gilt es soziologisch zu rekonstruieren. Neben einer systemtheoretisch-strukturellen Fassung des Zeitbegriffs muß auch die zeitliche Dimension des sozialen Zeitbewußtseins selbst, also seine evolutionären Veränderungen miterfaßt werden. Die KorreHerung von Temporalstrukturen mit anderen Systemstrukturen verlangt geradezu die Berücksichtigung des sozialen Wandels. Diese Aufgabe der Rekonstruktion der Evolution des sozialen Zeitbewußtseins anhand von ethnographisch-historischem Material kann im Rahmen dieser Arbeit nicht erfüllt werden; ich muß mich auf einige Hinweise im Rahmen des Kapitels über die soziale Differenzierung und ihre Wirkung auf die sozialen Zeit strukturen beschränken (vgl. Kap. 6). 11. Wenn ich auch nicht wie Gurvitch 31 eine Typologie sozialer Zeiten
entwerfen will, so lassen sich doch die Dimensionen angeben, in denen Systemzeiten mit anderen Systemstrukturen variieren können. Die Dimensionen geben zusammen mit ihren Variationsmöglichkeiten ein vollständiges Schema für die Analyse sozialer Zeit.
Dimension 1. Zeithorizonte
a) Zeitorientierung b) Weite der Horizonte c) Tiefenschärfe 2. Zeittempo 3. Kontinuität 4. Qualität 5. Zeitdauer 6. Zeitrichtung
30
Luhmann, Future, S. 136.
31 Gurvitch, Spectrum, insgesamt.
Variationsmöglichkeiten Schwerpunkt in: V-G-Z groß - klein groß - klein schnell - langsam kontinuierlich - diskontinuierlich qualitativ - quantitativ (Grad der Meßbarkeit und Vergleichbarkeit) normative Dauer von Ereignissen: kurz - lang reversibel - irreversibel (Formen: alternierend, zyklisch, linear)
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Entsprechend meiner Grundannahmen handelt es sich bei diesen Dimensionen nicht um solche der realen Zeit, d. h. nicht um ontologische Bestimmungen der Zeit, sondern um die Formen, in denen die Zeit als Interpretationskategorie der sozialen Wirklichkeit überhaupt auftreten kann. Die Angaben der rechten Spalte sollen teils ein Kontinuum von Variationsmöglichkeiten beschreiben, teils sind es alternative, einander ausschließende Kennzeichnungen, zwischen denen kein Übergang möglich ist. Wieweit nun nur bestimmte Kombinationen zwischen den einzelnen Varianten der Dimensionen möglich sind, läßt sich vorab theoretisch schwer bestimmen. Ich denke, daß man bei der Analyse der evolutionären Veränderungen des Zeitbewußtseins auf bestimmte Kovariationen stoßen wird, die vielleicht sogar Verallgemeinerungen zulassen werden.
TEIL H
Systemtheoretische Analysen der Zeitstrukturen sozialer Systeme 4. Ausdifferenzierung und Grenzerhaltung Die vorangegangenen Ausführungen haben uns das zeittheoretische und systemtheoretische Instrumentarium geliefert, um nun in diesem H. Teil in die konkreten systemtheoretischen Analysen der Zeit als eines wichtigen Strukturmoments sozialer Systeme einzusteigen. Wie oben in einer kurzen Übersicht schon angedeutet, beginnen wir mit dem genetisch ersten Schritt der Ausdifferenzierung von Systemen aus ihrer Umwelt und den daran anschließenden Fragen der Grenzerhaltung und des Austausches über diese Grenzen hinweg. In diesem ersten Kapitel bleibt die Umwelt jenseits der Systemgrenzen noch ganz undifferenziert. Diese Differenzierung der Umwelt und die Zuordnung der jeweiligen Umweltzeiten zu den Zeitstrukturen sozialer Systeme ist das Thema des zweiten Kapitels. Wir wenden uns dann von der System/Umwelt-Perspektive stärker auf die internen Systembedingungen, zunächst im dritten Kapitel auf die Frage des Zusammenhangs von Systemdifferenzierung und Zeitstruktur, dann im vierten Kapitel auf die Frage der Bestimmung der zeitlichen Komplexität von Systemen und Formen ihrer Reduktion. Im letzten Kapitel dann werden die bis dahin gewonnenen Ergebnisse angewendet in der Analyse der Temporalstrukturen auf den verschiedenen Ebenen der Systembildung (einfache Sozialsysteme, Organisationen und Gesellschaften). 4.1 Das Problem der Abgrenzung sozialer Systeme
Aubert schließt ein Kapitel über die Bestimmung von Systemgrenzen mit der Bemerkung: "A determination of the borderlines of a social
system is often the endproduct of a study rather than a foregone conclusion1." Damit verweist er auf die Schwierigkeit nicht nur der system theoretischen Soziologie, ihre Untersuchungseinheiten vorweg 1
Aubert, V., Elements of Sociology, London, 1967, S. 77.
4.1 Problem der Abgrenzung sozialer Systeme
105
prazlse abzugrenzen. Anders als im Fall physikalischer, biologischer und psychischer Systeme kann die Grenzbestimmung sozialer Systeme nur selten aufgrund sichtbarer räumlicher Außengrenzen erfolgen; diese können nach Luhmann nur als "Vorstellungshilfen"2 fungieren. In einigen Fällen, z. B. bei territorial gebundenen totalen Institutionen wie Gefängnissen, Klöstern, Irrenanstalten, wo bauliche Grenzen Innenwelt und Außenwelt klar voneinander trennen, mögen territoriale Grenzen oder "geographical distances" die Grenzen der sozialen Systeme markieren und in dieser Funktion als "konkrete Marken"3 von großer Wichtigkeit sein. Zumeist aber versagt die Feststellung von sozialen Grenzen aufgrund territorialer Grenzen oder aufgrund der Interaktionsdichte, gemessen als Interaktionsfrequenz und Interaktionsin tensi tä t 4 • Für die Soziologie gilt eher die umgekehrte Beziehung zwischen sozialen und räumlichen Grenzen, wie es schon Simmel in seinem "Exkurs über soziale Begrenzung" klar formuliert hat: "Die Grenze ist nicht eine räumliche Tatsache mit soziologischen Wirkungen, sondern eine soziologische Tatsache, die sich räumlich formt 5 ." Soziale Grenzen besitzen gemäß der Eigenart sozialer Systeme, sinnhaft integrierte Einheiten zu sein, also eine besondere Qualität: sie sind Sinngrenzen, die ein Gefälle von Komplexität ordnen. Grenzbestimmungen und Identitätsbestimmungen fallen in Sozialsystemen zusammen, sie beruhen auf "struktureller Differenz" (structural distance)6 zwischen System und Umwelt. "Ein System ist seine Differenz zur Umwelt, ist eine grenz definierende, grenzerhaltende Ordnung 7." Soziale Systeme entstehen, wann immer Personen zueinander in Beziehung treten; sie bestehen jedoch nicht aus Menschen, sondern aus der Menge sinnhaft aufeinander bezogener Interaktionen (auch Erwartungen oder Selektionen), die sich zeitlich, sachlich und sozial gegenüber einer Umwelt abgrenzen lassen. Die Identität des Systems wird nicht bestimmt durch die teilnehmenden Personen, die als organische und psychische Systeme der Umwelt des Systems zugerechnet werden müssen, sondern durch den Sinn der Interaktionen. "Damit ein soziales System überhaupt entsteht 2 Luhmann, MS, S. 63. Luhmann, Sinn, S. 74. 4 Vgl. Aubert, S. 74 und vgl. in diesem Zusammenhang das Konzept der "statistischen Grenze" v. A. Rapoport, Statistical Boundaries, in: Toward a Unified Theory of Human Behavior, ed. R. R. Grinker, New York 1956, S. 307 ff. S Simmel, G., Exkurs über soziale Begrenzung, in: ders., Soziologie. Der Raum und die räumliche Ordnung der Gesellschaft, Berlin 1958, 4. Aufi., S. 467 - 470, S.467. 6 Aubert, S. 76. 7 Luhmann, N., Komplexität, in: ders., Soziologische Aufklärung, Bd.2, Opladen 1975, S. 204 - 220, S. 221 (im folgenden zitiert als Komplexität). 3
106
4. Ausdifferenzierung und Grenzerhaltung
und sich gegenüber seiner Umwelt abgrenzt, müssen die Handelnden in einem Mindestmaß Intersubjektivität im Hinblick auf den Sinn der entsprechenden Handlungen erreichen8 ." D. h. ein gewisses Maß normativer Integration ist die Voraussetzung für grenzerhaltende Strukturbildung, von ihr hängt die Eindeutigkeit der Abgrenzung gegenüber der Umwelt ab 9• Diese Abgrenzung gegenüber einer Umwelt ist eine Differenz der Relevanzen: das System baut "Filter" auf, die die Relevanzpunkte festlegen und die Präferenz regeln. Systemgrenzen sind also Grenzen der Relevanz 10 • "Für Organismen sind dies (= die Filter, WB) Sinneskriterien, z. B. Sensoren an der Peripherie, für soziale Systeme Sinnkriterien, z. B. Prämissen der Informationsaufnahme und -verarbeitung 11 ." Die Bewahrung von Systemgrenzen setzt immer auch die Abgrenzung oder Indifferenz gegenüber anderem, externem Handlungssinn voraus: er wird vom System negiert. Grenzziehen bedeutet Unterscheiden, die Grenze ist Negativität, wobei Negation hier ein nur vorläufiges Ausschließen meint, denn der negierte Sinn wird nicht "vernichtet", sondern bleibt für spätere Selektionen im Möglichkeitshorizont mitpräsent. Damit dürfte deutlich geworden sein, daß sich Systemgrenzen nicht adäquat nach dem räumlichen Bild des Randes gegenüber einem Systemzentrum begreifen lassen, denn letztlich wird strukturelle, sinnhafte Grenzziehung von jeder systeminternen Interaktion geleistet. Erst funktional höher differenzierte Systeme können eigens Systeme für den Umweltkontakt ausdifferenzieren, so daß sich dort spezifische Grenzstellen identifizieren lassen, über die die In- und Outputs abgewickelt werden. Wo das innere System aufhört und das jeweils äußere System (Umwelt) beginnt, ist eine Frage der Systemreferenzen: Wir vollziehen mit dem Wechsel der Systemreferenz einen Perspektivenwechsei, die Umwelt eines Subsystems ist selbst System mit einer weiteren Umwelt, etc. Wieweit also z. B. Grenzstellen ihrerseits Systeme sind, hängt ab von der gewählten Systemreferenz 12 • Münch, Theorie, S. 20. Parsons, T., Boundary Relations Between Sociocultural and Personality Systems, in: Toward a Unified Theory of Human Behavior, ed. R. R. Grinker, New York 1956, S. 325 - 339; S.328: "Those who do not recognize the same norms are outside the boundary." Ruesch, J., Analysis of Various Types of Boundaries, in: Toward a Unified Theory of Human Behavior, ed. R. R. Grinker, New York 1956, S. 340 - 361; S. 346: "demarcations defined by rights, laws and rules." 10 Luckmann, Th., On the Boundaries of the Social World, in: Phenomenology and Social Reality, ed. M. Natanson, Den Haag 1970, S. 73 - 110, S. 88 f. 11 Willke, H., Funktionen und Konstitutionsbedingungen des normativen Systems der Gruppe, in: KZfSS, 28, 1976, S. 426 - 450, S.429 (im folgenden zitiert als Funktionen). 12 Reimann, H., Kommunikations-Systeme, Tübingen, 1968, S. 71 - 72. 8
9
4.1 Problem der Abgrenzung sozialer Systeme
107
Systemgrenzen sind im Fall von Sozialsystemen immer Sinngrenzen, d. h. auch die zeitlichen Grenzen müssen als Sinngrenzen aufgefaßt werden: als strukturelle Differenzen zwischen unterschiedlichen sozialen Konstruktionen von Zeit. Um den spezifischen Abgrenzungscharakter von Systemgrenzen kennzeichnen zu können, wollen wir sie mit einer anderen Form der Begrenzung, die in unserem Zeitkonzept ebenfalls eine große Rolle spielt, konfrontieren: mit dem Horizont.
4.1.1. Grenze und Horizont Grenze und Horizont sind beides Formen der Abgrenzung; von beiden gilt Aristoteles Bestimmung der Funktion von Abgrenzung: nur Begrenztes ist erkennbar, nur die Abgrenzung ermöglicht die Konstitution des Gegenstandes 13 • Während in der Spätantike und im Mittelalter Horizont und Grenze nicht unterschieden wurden, sondern vielmehr als Hendiadyoin "Horizon et confinium"14 die Bedeutung von Grenzscheide, vor allem in Bezug auf die Stellung des Menschen zwischen Sinnlichkeit und Vernunft, sowie in der Seele zwischen Zeit und Ewigkeit, besaßen, kommt es in der Neuzeit zu einem Bruch mit der Tradition und zu einer Neuanknüpfung an die antike astronomische Bedeutung von Horizont. "Der Mensch ist nicht. mehr, sondern hat einen Horizont ... "15, damit wird die Frage nach dem Umfang und den Grenzen der menschlichen Erkenntnis unter dem Begriff des Horizonts behandelt. Eine explizite Formulierung findet diese Auffassung vom Horizont als einem Grundzug des Bewußtseins bei Husserl in seiner Theorie der transzendentalen ~ubjektivität. In diesem Husserlschen Sinne ist der Begriff des Horizonts von uns oben schon als Strukturkategorie des Zeitbewußtseins eingeführt worden. (vgl. Kap. 3, Punkt 4) Er bezeichnet ein Erlebniskorrelat, das die in jedem sinnhaften Erleben mitgegebenen Verweisungen zugleich strukturell vorzeichnet und auch begrenzt. "Jede Erfahrung hat ihren Erfahrungshorizont; jede hat ihren Kern wirklicher und bestimmter Kenntnisnahme, ... , aber über diesen Kern bestimmten Soseins hinaus, ... , hat sie ihren Horizont. Darin liegt: jede Erfahrung verweist auf die Möglichkeit, und vom Ich her eine Ver-möglichkeit, nicht nur das Ding, das im ersten Erblicken Gegebene, nach dem dabei eigentlich Selbstgegebenen schrittweise zu explizieren, sondern auch weiter und weiter neue Bestimmungen von demselben erfahrend zu gewinnen ... Ich kann mich aber überzeugen, daß keine Bestimmung 13 Vgl. Stichwort: Grenze, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Hrsg. J. Ritter, Bd. 3, Basel 1974. 14 Historisches Wörterbuch, Stichwort: Horizont. 15 Historisches Wörterbuch, S. 1195.
108
4. Ausdifferenzierung und Grenzerhaltung
die letzte ist, daß das wirkliche Erfahren noch immer, endlos, einen Horizont möglicher Erfahrungen hat ... 16." Die Horizonte sind gebunden an den Standort des Erlebenden und "wandern" mit diesem mit, d. h. sie können nicht erreicht oder überschritten werden. Jedes Fortschreiten auf einen Horizont zu, eröffnet neue Horizonte. Einen Horizont kann man also weniger als den Rand eines Feldes verstehen, denn als "Hof" oder Wahrnehmungsfeld, das jedes aktuelle Erlebnis umgibt. Horizont in diesem Sinne ist eine Verweisungsstruktur, die ein Feld intern strukturiert und begrenzt, ohne daß jedoch das "Jenseits" oder das "Außen" mitbestimmt würden. Horizonte sinnhaften Handeins trennen nach Luhmann (und Husserl) bestimmte und unbestimmte Komplexität, während Systemgrenzen Umwelt- und Systemkomplexität voneinander trennen. Im Gegensatz zum Horizont werden Grenzen standort- und bewegungsunabhängig festgelegt, so daß man sich ihnen nähern und sie überschreiten kann. Aus diesem Grunde wird auch in der Systemtheorie die Welt nicht als System gedacht, da Systeme immer Grenzsetzungen implizieren, sondern in Form eines Letzthorizonts, der alle Teilhorizonte umfaßt und kein "Außen" mehr besitzt. Die Errichtung und Stabilisierung von Grenzen gegenüber einer Umwelt (bei Parsons: boundary maintenance) dient nicht der Verhinderung von Überschreitungen, sondern ihrer Markierung und Regulierung. In diesem Sinn wird Grenze in der politischen Geographie17 als "peripheres Organ"18 aufgefaßt und damit abgesetzt gegen staatsrechtliche Auffassungen der Grenze als fester, linearer, undurchdringlicher Begrenzung des Staatsgebietes. Der Grenze wird eine Doppelfunktion als Schutz und Abgrenzungseinrichtung einerseits und als Ort des Austausches andererseits zugeschrieben. Grenzen werden dabei als gegliederte Grenzzonen begriffen, in denen spezifische politische, rechtliche und ökonomische Strukturen anzutreffen sind. Sie sind ein "milieu de transformation"19. Grenzen müssen Innen und Außen gleichzeitig repräsentieren, sie trennen Innen- und Außenhorizont des Systems als unterscheidbare Regionen der Verweisung auf andere Möglichkeiten. Andererseits verbindet die Grenze auch Innen und Außen, "indem sie durch ihren Sinn als Grenze beide Bereiche füreinander zugänglich macht, indem sie die Bedingungen des Überschreitens mitdefiniert"20. Im Gegensatz zum Ho16 Husserl, E., Erfahrung und Urteil, hrsg. v. L. Landgrebe, Hamburg 1948, S. 27 (im folgenden zitiert als E+ U). 17 Vgl. dazu ausführlich: J. R. V. Prescott: The Geography of Frontiers and Boundaries, Chicago 1965. 18 Konau, E., Raum und soziales Handeln, Stuttgart 1977, S. 80. 19 Prescott, S. 17. 20 Luhmann, MS, S. 63 - 64.
4.2 Zeitgrenzen
109
rizontbegriff ist im Grenzbegriff und Grenzerleben die Möglichkeit des Transzendierens und die Realität der anderen Seite eingeschlossen. Deshalb müssen neben den Fragen der Grenzziehung auch die der Grenzerhaltung und der Form der Grenzüberschreitung im folgenden diskutiert werden. 4.2 Zeitgrenzen
Grenzen trennen Systemkomplexität von Umweltkomplexität. Damit ist zu erwarten, daß die Zeit als eine der drei Dimensionen von Komplexität (Kap. 2.3) eine wesentliche Rolle in der Bestimmung und Aufrechterhaltung der Sinngrenzen sozialer Systeme spielt. Nach Luhmann ist in die Theorie der Differenzierung "eine temporale Perspektive immer schon eingebaut"l. Gemäß der drei Komplexitätsdimensionen besitzen Systeme drei Identitätsdimensionen bzw. drei Formen der Grenzziehung gegenüber der Umwelt. Ein System muß sich keineswegs in allen drei Dimensionen zugleich abgrenzen, vielmehr können die sachliche, soziale oder zeitliche Dimension je für sich oder in Kombinationen die Aufgabe der Grenzbestimmung übernehmen 2 • Hier soll es uns nur um die zeitliche Dimension der Ausdifferenzierung und Grenzerhaltung gehen.
4.2.1 Zeitliche Autonomie Systeme konstituieren sich durch grenzziehende sachliche, soziale oder zeitliche Negationen, indem sie systemzugehöriges Handeln von nichtzugehörigem unterscheiden, wobei die so entstehende Sinn- und Komplexitätsgrenze eine Region bestimmter Komplexität (System) von einer Region unbestimmter Komplexität (Umwelt) trennt. Dieses notwendige Komplexitätsgefälle zwischen Umwelt und System hat zur Folge, daß die Prozesse der Grenzziehung und Grenzerhaltung im System nicht gleichzeitig Punkt für Punkt mit der Vielzahl von Umweltereignissen abgestimmt werden können. Sobald also soziale Systeme sich ausdifferenzieren und Grenzen ganz gleich welcher Art gegenüber der Umwelt ausbilden, entstehen Zeitprobleme. Deshalb müssen Systeme ihre Grenzen stets als Zeitgrenzen verstehen, die es ermöglichen, daß die Verarbeitung externer Ereignisse nach internen zeitlichen Ordnungen erfolgt; auf Ereignisse wird entweder erst später, planendantizipierend oder überhaupt nicht geantwortet, und nur auf einige Luhmann, MS, S. 385. Vgl. Miller, der als Abgrenzungskriterien für Produktionssysteme und ihre Subsysteme wahlweise Technologie, Raum und Zeit ansetzt. Miller. E. J., Technology, Territory, and Time, in: Human Relations, 12, 1969, S. 243 - 272 (im folgenden zitiert als Technology). 1
2
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4. Ausdifferenzierung und Grenzerhaltung
wird sofort reagiert. Zeitliche Autonomie bedeutet also nicht völlige Umweltunabhängigkeit (Autarkie), sondern die Möglichkeit für ein System, die Umweltinformationen nach systeminternen Gesichtspunkten auszuwählen. Autonomie ist also ein Ausdruck der Selektions- und Selbststeuerungskapazität eines Systems; die Fähigkeit, Zwänge (constraints) seiner Umwelt eigenständig zu verarbeiten, indem es interne Strukturentwicklungen durchmacht, die ihm eine Umweltkontrolle ermöglichen. "Die Transformation stochastischer Reize in sinngesteuerte Handlungsprogramme ist Grundlage der relativen Autonomie eines sozialen Systems ... 3." Ein System kann aufgrund seines selektiven Verhältnisses zur Umwelt diese nie vollständig erfassen, sondern besitzt stets nur einen partikularen Umwelthorizont, ein inneres Modell der Außenwelt. Bezogen auf die Zeit müssen wir also einen inneren und äußeren Zeithorizont unterscheiden, wobei im letzteren die Zeitstrukturen der Umwelt repräsentiert werden. Das Ausmaß, in dem zwischen diesen beiden Zeithorizonten Kontinuität bzw. Diskontinuität besteht, kann je nach dem Grad der zeitlichen Autonomie des Systems verschieden sein. Wir sprechen hier von "Graden der Ausdifferenzierung"4. " ... the difference between the extern al and the internal, the ,inside' and ,outside' of a system is not an absolute distinction, and the thickness or permeability of the system boundaries va ries in different zones 5 ." Der Aufbau interner Modelle erfolgt zwar nach systeminternen Gesichtspunkten, doch bleibt er stets gebunden an "eine teilweise übereinstimmung oder Isomorphie mit bestimmten Aspekten der Umwelt"6. Autonomie ist sets nur relative Autonomie, sie ist eine Relation von Interdependenz und Independenz, wobei beide Relationsformen parallel gesteigert werden können. "In Frage steht also der Aufbau von Selektionsmechanismen, die Austarierung von Interdependenzen und Independenzen, der Aufbau bestimmter Indifferenzen und Reaktionsschwellen gegenüber Reizen der Umwelt, kurz: das Problem der relativen Autonomie des mit seiner Umwelt interdependenten Systems 7." Erfolgreiche Ausdifferenzierung ist nur möglich: A) wenn es dem System gelingt, gegenüber seiner Umwelt Diskontinuität aufrechtzuerhalten, 3 Willke, H., Zum Problem der Integration komplexer Sozialsysteme: Ein theoretisches Konzept, in: KZfSS, 30/2, 1978, S. 228 - 252, S.231 (im folgenden zitiert als Problem). 4 Luhmann, MS, S. 66. 5 Gouldner, A. W., Reciprocity and Autonomy in Functional Theory, in: System, Chance, and Conflict, eds. N. J. Demerath III / R. A. Peterson, New York, London 1967, S. 141 - 169, S.167. Zum Begriff der Permeabilität von Grenzen siehe: W. B. Brown: Systems, Boundaries and Information Flow, in: Organizational Systems, ed. F. Baker, Homewood, London, Georgetown 1973, S. 236 - 246, S. 239. 6 Willke, Funktionen, S. 427 - 428. 7 Willke, Problem, S. 233.
4.2 Zeit grenzen
111
d. h. eine Desynchronisation von System/Umweltprozessen zu leisten; B) wenn das Problem des Komplexitätsgefälles zwischen System und Umwelt systemintern bearbeitet werden kann, z. B. durch Generalisierungen 8 • A) Ausdijjerenzierung heißt, Umwelt aufgrund interner Ordnungen im System zu berücksichtigen. Diese Ausdifferenzierung kostet Zeit; ob ein System diese Zeit zum Aufbau kontinuitätsunterbrechender Systemgrenzen besitzt, hängt einmal davon ab, wie häufig zerstörerische Eingriffe der Umwelt zu erwarten sind, zum anderen davon, wie gut die bereits bestehenden Abgrenzungen das System vor übermäßiger Umweltbeanspruchung bewahren können. In unserer Darstellung der Trennung von System/Umwelt-Prozessen und damit der Herstellung relativer Autonomie in Sozialsystemen folgen wir einem Systematisierungsvorschlag Tyrells 9 • 1. Ein System kann zwischen sich und andere Umweltsysteme eine "Schwelle legitimer Indifferenz"lo legen, die das System von Rücksichten auf externe Ansprüche weitgehend befreit. Tyrell und Luhmann halten diese Form der Umwelteinstellung für die primäre in Teilsystemen funktional hochdifferenzierter Gesellschaften. Sie überwiegt die auf Befriedigung von Umweltbedürfnissen gerichtete Leistungs- oder Austauschorientierung 11 • In der "Theorie hierarchischer Systeme" wird diese relative interne Unabhängigkeit von Teil- oder Subsystemen mit dem Begriff des "loose coupling" (vertikal und horizontal) oder bei Simon auch mit dem Begriff "near decomposability" ("Nahezu - Zerfällbarkeit") bezeichnet, und als evolutionär chancenbringende Verknüpfungsform zwischen Systemen angesehen 12 • Demnach können Systeme intern unabhängig von anderen Systemen Strukturen ausbilden, wenn nur die In- und Outputs von und zu den Umweltsystemen "stimmen". "In programming terms, it is permissible to improve the system by modifying any one of the subroutines, provided that the subroutine's inputs and outputs are not altered 13 ." Übertragen auf die Ausbildung interner Zeitstrukturen bedeutet dies, daß diese bei gleicher Umwelt doch ganz unterschiedlich ausfallen können, solange sie funk-
s Vgl. Luhmann, MS, S. 60 f. Tyrell, H., Anfragen an eine Theorie gesellschaftlicher Differenzierung, in: ZfS, 7 (2), 1978, S. 175 - 193, S. 183 ff. 9
10
Ebd.
Tyrell, S. 190. Simon, H. A., Die Architektur der Komplexität (engl. u. dt.), in: Kommunikation !Ir, 2, 1967, S. 55 - 83, S. 70 f. (im folgenden zitiert als Architektur). 13 Simon, H. A., The Organization of Complexity, in: Hierarchy Theory, ed. H. H. Pattee, New York 1973, S. 3 - 27, S. 16 (im folgenden zitiert als Organization). 11
12
112
4. Ausdifferenzierung und Grenzerhaltung
tional äquivalente In- und Outputs gewährleisten. Interne Strukturveränderungen in Subsystemen können also ohne synchrone Veränderungen in ihren Umweltsystemen vor sich gehen. Damit reduzieren sich die gegenseitigen zeitlichen Anforderungen im Intersystemkontakt, denn eine Änderung der Temporalstruktur in einem System ruft nicht automatisch Veränderungsanforderungen für die Struktur eines anderen Systems hervor. Kein System kann es sich leisten, alles von allem abhängig zu machen, das würde den Zeitbedarf für Anpassungen an die Umwelt zu stark erhöhen. Strukturelle Trennung bedeutet also "Indifferenz gegenüber dem ,Innenleben' ... ,nahestehender' anderer Teilsysteme"14. Systeme sind von der Dauerbelastung mit der Umwelt mithin entlastet und können sich auf ihre Eigenthematik konzentrieren, zu der ihr die anderen Systeme die nötige "Hintergrundserfüllung" liefern 15 . Das "loose coupling" führt dazu, daß in Systemen Strukturen fortbestehen können, obwohl sie "ihre Entstehungsbedingungen und auch ihre ,beste Zeit' hinter sich haben, die aber gleichwohl in einer gewissen Unabhängigkeit von anderen Strukturen ihre Funktion noch erfüllen"16. In Systemen sind deshalb Temporalstrukturen zu erwarten, die bis zu einem gewissen Umfang der Entwicklung zeitlicher Strukturen im eigenen System sowie in der Umwelt voraus bzw. hinterher sein können, ohne daß dies die Stabilität des Systems gefährden müßte. Es kann also in der Entwicklung von Zeitstrukturen zu "time-lags" kommen. 2. Strukturelle Trennung und Autonomie setzen weiterhin die "Markierung und Abschirmung der Grenzen"17 gegenüber externen Kontrol-
len und Einmischungen voraus. Das System muß eigene Zeitgrenzen bilden und diese gegenüber den Zeitstrukturen der Umwelt konstant halten können; z. B. durch die Ausdifferenzierung von Grenzkontrollsystemen etc. (vgl. dazu: Kap. 4.2.2.1) Wie schon im Zusammenhang der Luhmannschen Theorie dargestellt (Kap. 2.4.1), besteht eine wesentliche Möglichkeit der Etablierung von Zeitgrenzen in ihrer Trennung in Inund Outputgrenzen; d. h. ein System kann, unter dem Gesichtspunkt der Bestanderhaltung, also unter eigener Zwecksetzung, Umweltereignisse auswählen (Outputorientierung) oder es kann aber auch aufgedrängte Ursachen zum Gesichtspunkt seines systeminternen HandeIns machen (Inputorientierung). Es besteht für Systeme die Möglichkeit, die Input- und Outputperspektive nach Bedarf zu wechseln, den jeweils günstigeren Gesichtspunkt für die Selektion auszuwählen. Es ist jedoch zumindest auf der Ebene der gesellschaftlichen Teilsysteme festzustellen, daß Systeme einen Schwerpunkt der Orientierung an einer der 14 Tyrell, S. 183. 15 Zum Gehlenschen Begriff i. d. Zusammenhang vgl. Tyrell, S. 191. 16 Luhmann, Religion, S. 184. 17
Tyrell, S. 183.
4.2 Zeitgrenzen
113
beiden Grenzen setzen und auch durchhalten, was ein je verschiedenes Zeitverhältnis zur Umwelt impliziert. "Temporale Perspektiven dieser Art zerreißen und regruppieren mithin Umweltkomplexe und verlagern zugleich die Koordinationslast ins Innere des jeweiligen Systems18 ." Von der Systemgegenwart aus gesehen liegen die Inputs in der Vergangenheit, während die Outputs in die Zukunft als noch zu erstellende Leistungen vorweisen. Diese Zeitdifferenz kann das System zur Zwischenschaltung interner Verarbeitungsprozesse nutzen, so daß die Input-Outputgrenzen zu den Zeitgrenzen des Systems werden 19. Je nachdem an welcher Zeitgrenze ein System seinen "Orientierungsprimat" setzt, variiert auch das Ausmaß der zeitlichen Autonomie. Inputorientierte Systeme haben zwar die Möglichkeit, zeitpunktunabhängige Konditionalprogramme aufzustellen, die beim Eintreffen eines Inputs konstant und ohne Rücksicht auf die Folgen angewendet werden können, aber sie können den Zeitpunkt und die Häufigkeit der auftretenden Inputs nicht voraussehen und sind deshalb in ihrer zeitlichen Autonomie eingeschränkt. Den Zeitpunkt ihrer Reaktion auf Umweltreize können diese Systeme eigenmächtig nur unwesentlich variieren. Ein outputorientiertes System besitzt einen größeren Spielraum in der zeitlichen Ordnung seiner Zweckprogramme, da es die Zwecke und die Zeitpunkte ihrer Realisierung selber setzen und in die Zukunft hinausschieben kann. "Das ,Haben' von Zeit im Sinne einer zeitlich begrenzten Freiheit zur Wahl des Zeitpunktes für die Verwirklichung eigener Zwecke, ist eine wesentliche Voraussetzung für ein rationales Sparen von Zeit ... 20" (vgl. dazu die Kap. 6.3.1 und 6.3.2). 3. Zeitliche Autonomie läßt sich ebenfalls gewinnen und stabilisieren durch exklusive Spezialisierung auf ein gesellschaftliches Bezugsproblem. Die funktionale Differenzierung, die immer eine Spezialisierung ist, impliziert die "Unzuständigkeit für die anderen Funktionsbereiche"21. Gibt es keine konkurrierenden Systeme, so kann ein System als Monopolist auch die zeitliche Struktur seiner Tätigkeit weitgehend selbst bestimmen, auch wenn natürlich von anderen Systemen Leistungen erwartet werden, die einen gewissen Zeitdruck auf das System ausüben können. Die institutionelle Trennung von Zuständigkeiten und Kompetenzen sichert die Autonomie auch dadurch, daß eine Art "Pauschalkredit der Teilsysteme beieinander" in Bezug auf eine vertrauensvolle Einstellung 18 Luhmann, MS, S. 394. 19 Vgl. bei Miller, E. J. / Rice, A. K., Systems of Organization, London 1967, S. 9 f. die Unterscheidung von "Operating activities" und der "boundary control function" an den "Intake" und "Output-Grenzen". 20 Luhmann, Zweckbegriff, S. 306. 21 Tyrell, S. 183. 8 Bergmann
114
4. Ausdifferenzierung und Grenzerhaltung
hinsichtlich der Leistungsfähigkeit anderer Teilsysteme besteht 22 • Zwischen funktional differenzierten Systemen ist also weniger gegenseitiger "Zeitdruck" möglich, da die Monopolisierung und die Zuständigkeitsgrenzen eine wirksame Kontrolle und einen Vergleich überhaupt nicht zulassen. Anders ist es bei segmentärer Differenzierung, wo ähnliche oder gleiche Funktionen von mehreren gleichartigen Systemen wahrgenommen werden, hier ist aufgrund des Konkurrenzdrucks ein sehr viel geringeres Maß an zeitlicher Autonomie zu erwarten. 4. Ein vierter Gesichtspunkt struktureller Autonomie ist die "thematische Reinigung"23, d. h. die Ausbildung und Freisetzung systemspezifischer Verhaltensstile, Handlungslogiken und Rationalitätsmuster. Zu den spezifischen Verhaltens stilen und Handlungslogiken gehören sicherlich auch ihre zeitlichen Strukturen, das sie begleitende Zeitbewußtsein. Wissenschaftliches Handeln besitzt andere Zeitperspektiven, ein typisch anderes Prozeßtempo etc. als wirtschaftliches oder familiales Handeln. Für jedes gesellschaftliche Teilsystem ist also mit einem spezifischen "Zeitstil", einem spezifischen Zeitbewußtsein zu rechnen - das gleiche ist z. B. auf der Ebene von Nationalgesellschaften zu erwarten, man denke an das amerikanische im Vergleich zum orientalischen Verständnis von Zeit 24 • Tyrell betont VOr allem den trennenden Gesichtspunkt, die Inkommensurabilität dieser heterogenen Handlungslogiken: " ... ihre Übertragbarkeit in thematisch anders orientierte System- und Handlungskontexte ist strukturell blockiert 25 ." Zusammenfassend kann man sagen, daß die Stabilisierung externer Grenzen im wesentlichen abhängt von der Errichtung interner Grenzen durch funktionale Innendifferenzierung des Systems und von einer Spezialisierung gegenüber benachbarten Umweltsystemen. Es ergibt sich daraus folgende Relation von Systemkomplexität und Zeitdruck: "Je komplexer Systeme gebildet sind, desto größer kann ihr Anpassungs- und Reaktionspotential sein, desto geringer kann die Wahrscheinlichkeit werden, daß Umweltveränderungen das System zerstören, desto mehr Zeit haben sie also; desto mehr Zeit brauchen sie aber auch, um sich aufzubauen und sich Umwel tveränderungen anzupassen 26." B) In den vorausgegangenen vier Punkten haben wir mit Tyrell die autonomisierenden Wirkungen funktionaler Differenzierung beschrieben, es gibt jedoch noch einen zweiten - eng damit verbundenen Strukturaspekt in sozialen Systemen, nämlich Generalisierung, der ebenfalls zur Ausdifferenzierung beiträgt. 22 23
24 25 26
Ebd. Tyrell, S. 184. Vgl. Hall, Kapitell, Voices of Time. Tyrell, S. 184. Luhmann, Reflexive Mechanismen, S. 105.
4.2 Zeitgrenzen
115
Aus dem Komplexitätsgefälle zwischen System und Umwelt ergibt sich, daß kein System komplex genug sein kann, die eigenen Strukturen und Prozesse Punkt für Punkt auf diejenigen der Gesamtumwelt zu beziehen. Systemgrenzen sorgen hier für selektive Kontaktverengungen, indem sie Umwelt- und Systemprozesse voneinander abkoppeln 27 • Diese selektiven Regelungen schaffen dem System Zeit- und Kapazitätsgewinne, die es ermöglichen, die Relationen zwischen seinen verschiedenen Umweltkontakten zu generalisieren, d. h. abstrakte Muster der Verarbeitung von Komplexität aufzubauen, die dann in einem zweiten Schritt wiederum zeitsparend wirken. Generalisiert werden kann in allen drei Dimensionen von Komplexität: der sachlichen, der sozialen und der zeitlichen Dimension. Generalisierung kann man als eine Form der Reduktion von Komplexität bestimmen, die unschädliche Indifferenz gegenüber Unterschieden zwischen Personen, Sachen und Zeitpunkten institutionalisiert und insofern eine Vereinfachung und Konstanz der Orientierung ermöglicht28 (z. B. durch Verfahren der Pauschalisierung, der Simplifizierung, der Aggregierung, usw.). Zeitliche Generalisierung liegt immer dann vor, wenn Normen, Informationen, Werke durch Strukturaufbau auf Dauer gestellt werden können, also unabhängig sind von der immer erneuten Hervorbringung in konkreten Situationen. Im Fall sozialer Beziehungen z. B. bedeutet Generalisierung die Ausbildung von Erwartungen, die kontrafaktische Dauergeltung besitzen, d. h. die Erwartungen werden normativ aufrechterhalten, auch wo sie in einzelnen Situationen gebrochen wurden. Je nachdem wieweit es gelingt, enttäuschungsfeste Erwartungen über die Handlungen und Erwartungen der Anderen auszubilden, ist ein System mehr oder weniger stabil. Unterschiede der zeitlichen Situation werden also durch Generalisierung pauschal negiert, d. h. ein System reagiert auf Umweltereignisse - ihre Differenzen negierend - mittels einer konstanten "Antwortstruktur" . 5. Systeme wählen im Prozeß der funktionalen Differenzierung bestimmte exklusive Bezugsprobleme (s. unter 3). Mit der Differenzierung der Umwelt nehmen durch die Multiplikation der Systemreferenzen auch die divergierenden Anforderungen an das System zu. Divergierende zeitliche Umweltanforderungen zwingen das System zu Entscheidungen nach internen Gesichtspunkten. Dies kann geschehen durch die Generalisierung des Bezugsproblems 29 , es wird abstrakter. D. h. die Vgl. Luhmann, Religion, S. 92. Vgl. zu Formen system interner Generalisierung im Fall der Wahrnehmung: Rosenblatt, F., Perceptual Generalizations Over Transformation Groups, in: Self Organizing Systems, eds. M. C. Yovits / S. Cameron, Oxford, London, New York, Paris, S. 63 - 100, S. 68 ff. 29 Zum Begriff der Wertgeneralisierung, vgl. Münch, R., Evolutionäre Strukturmerkmale komplexer Sozialsysteme. Am Beispiel des Wissenschafts27
28
8·
116
4. Ausdifferenzierung und Grenzerhaltung
Wirtschaft z. B. kann nicht mehr von außen auf die Produktion bestimmter Güter und Dienste, das Wissenschaftssystem nicht auf das Finden vorweg bestimmter Wahrheiten verpflichtet werden, vielmehr gewinnen sie zeitlichen Spielraum, indem sie unter Verfolgung eines generalisierten Bezugsproblems wie Wahrheit, wie das Treffen bindender Entscheidungen oder Produktivität ete. sowohl die jeweiligen Teilziele als auch die Mittel zu deren Realisierung nach Maßgabe eigener Zeit-, Sach- und Personalkapazität bestimmen können. Diese Generalisierung von Werten und Bezugsproblemen hat ihr Pendant auf der Ebene der Handlungsprogramme in der Etablierung formeller Verfahren 30 • Diese stellen ein systeminternes zeitliches Ablaufschema dar, das unabhängig ist von externen und inhaltlichen Veränderungen, denn es wird formal festgelegt und bleibt deshalb übersituativ verwendbar; darin steckt wiederum ein Zeitgewinn, denn ein solches Problemlösungsschema braucht nicht jeweils neu entwickelt zu werden. "Daß die Handlungen ... durch formelle Verfahren reguliert und nicht inhaltlich bis ins einzelne vorprogrammiert werden, ist ein Charakteristikum des Problemlösungsverfahrens von Systemen, die einer komplexen Umwelt gerecht werden müssen 31 ." Generalisierung durch Verfahren leistet zweierlei: das System bleibt offen und flexibel gegenüber den divergierenden Ansprüchen der Umwelt, kann also seine Interdependenz mit anderen Systemen auf hohem Niveau etablieren, andererseits bleibt es aber auch hochgradig independent, denn es transformiert die externen Ansprüche, indem es sie seinen eigenen Verfahrens regeln unterwirft. Damit trägt verfahrensmäßige Generalisierung ebenfalls zur Steigerung der relativen Autonomie von Systemen bei, sie steigert zugleich Interdependenz und Independenz. Die Möglichkeit von Systemen, sich durch Binnendifferenzierung, funktionale Spezialisierung und Generalisierung von Systemstrukturen zeitweilig gegenüber wechselnden Umweltbedingungen invariant zu setzen, meint nicht, daß Systemgrenzen "als feste Scheide zwischen Starrheit und Bewegung zu verstehen seien"32, wobei dann Umwelt mit Bewegung und System mit Starrheit identifiziert würden. Die Grenzziehung, die es erlaubt, innere und äußere Prozesse zu desynchronisieren, bezeichnet sowohl für das System selbst als auch für die soziologische Theorie die Möglichkeit, entweder Innen oder Außen konstant zu setzen. "Die Vorstellung von der relativen Invarianz von System systems, in KZfSS, 26, 1974, S. 681 - 714, S. 691 (im folgenden zitiert als Strukturmerkmate). 30 Vgl. Münch, Strukturmerkmale, S. 692. 31 Münch, Strukturmerkmale, S. 692. 32 Luhmann, Funktionale Methode und Systemtheorie, in: ders., Soziologische Aufklärung, Opladen 1971, 2. Aufl., S. 31 - 53, S. 40 (im folgenden zitiert als Funktionate Methode).
4.2 Zeitgrenzen
117
und Umwelt ist also zeitpunktbedingt gemeint33 ." Sie berücksichtigt, daß Änderungen im System und in der Umwelt Zeit brauchen, so daß nicht sofort reagiert werden kann. Das Sich-invariant-Halten des Systems durch Grenzziehung und Generalisierung bedeutet eine Erhaltung der Funktionstüchtigkeit der internen Leistungen, während Umweltbedingungen erkämpft, eingetauscht und kompensiert werden müssen.
Grenzziehung und Generalisierung sind zwei sich gegenseitig bedingende und verstärkende Leistungen von Systemen: Soziale Systeme gewinnen durch Generalisierung eine über die Situation hinausreichende, Systemgrenzen definierende und verstärkende Systemstruktur; andererseits sind Generalisierungen und der Aufbau komplexer Sozialstrukturen nur möglich, wenn Systemgrenzen als Kontaktverengungen die nötige Zeit dafür beschaffen und die hochspezialisierten internen Strukturen gegen schädliche Umwelteinflüsse abschirmen. 4.2.2 Erhaltung und Überschreitung von Zeitgrenzen Grenzerhaltung und Grenzziehung (Ausdifferenzierung) sind im Fall sozialer Systeme natürlich nur durch ein bestimmtes Untersuchungsinteresse voneinander zu trennen, denn Grenzerhaltung kann als immer erneute Leistung der Grenzkonstitution verstanden werden. Trotz der angesprochenen Relativität der Unterscheidung, lassen sich dennoch sinnvoll der Prozeß- und der Strukturaspekt der Abgrenzung trennen, die Grenzziehung betont den aktiven prozeßhaften Aufbau von Systemgrenzen, sozusagen den genetischen Aspekt gegenüber dem statischen der Aufrechterhaltung einmal etablierter Grenzen, sowie der Austauschprozesse über diese Grenzen hinweg. In der Systemtheorie Parsonsscher Prägung ist bisher der Prozeßaspekt der Ausdifferenzierung kaum beachtet worden, während der Strukturaspekt der "boundary maintenance" besonders betont wurde. Wir haben deshalb im vorigen Abschnitt weitgehend auf Luhmanns Weiterführung der Systemtheorie zurückgreifen müssen. Grenze meint bei Parsons einfach eine theoretisch und empirisch signifikante Differenz zwischen systeminternen und externen Strukturen und Prozessen, die dazu tendiert, aufrechterhalten zu werden. Diese Abgrenzung darf nun aber nicht im Sinne einer völligen Abwehr aller Umwelteinflüsse verstanden werden, sondern Grenzerhaltung ist nur möglich, indem ein ständiger Austauschprozeß über die Grenze hinweg das System mit der Umwelt verbindet. Diese Doppelung von Innen und Außen, von System und Umwelt ist bei Parsons im Funktionsbegriff erfaßt: das System ist trotz seiner Grenze ein offenes System, das auf 33
Ebd.
118
4. Ausdifferenzierung und Grenzerhaltung
grenzüberschreitende Austauschprozesse angewiesen ist 34 . Die Leistungen eines Systems sind also meßbar durch die Differenz zwischen seinen In- und Outputs. Wir sehen hier wieder den Doppelcharakter der Grenze (vgl. 4.1.1): System und Umwelt sind einmal voneinander abgegrenzt, independent; andererseits bestehen notwendige Austauschbeziehungen, d. h. beide sind interdependent. Nach Parsons werden die In- und Outputs der einzelnen Systeme nicht wahllos an beliebigen Punkten über die Grenzen transferiert, sondern laufen in bestimmten Bahnen und überschreiten die Grenzen an bestimmten Punkten und auf bestimmte Zielsysteme hin. Diesen Gedanken gilt es im folgenden auszuarbeiten, auch wenn wir Parsons nicht darin folgen, daß entsprechend seines AGIL-Schemas ein Grenzaustausch immer nur zwischen den gleichen funktionalen Subsystemen stattfinden kann: das funktionale Subsystem A hat nur externe Kontakte mit dem Subsystem A eines anderen Systems, nicht aber zum G-, I- oder L-Subsystem. Damit setzt das Parsonssche Schema m. E. zu starre Beziehungsmuster fest, die den Funktionshaushalt und die Zahl der möglichen Kommunikationsmedien zu eng begrenzen. Systemgrenzen können also gewöhnlich nicht an beliebigen Stellen überschritten werden, sondern es gibt Grenzkontrollstellen mit regulierenden Funktionen, die sicherstellen, daß die Input/Output- sowie die internen Bearbeitungsprozesse koordiniert werden. Miller / Rice nennen diese an den In- und Outputgrenzen auftretenden regulierenden Tätigkeiten "Grenzkontrollfunktionen"35. Wieweit diese Grenzkontrollen ausdifferenziert sind, d. h. also die Form spezialisierter Grenzstellen oder -systeme annehmen, hängt vom Organisationsgrad und der Innendifferenzierung des Systems ab. Wir werden diesen Zusammenhang in dem Kapitel über die drei grundlegenden Systemtypen: einfaches Sozialsystem, Organisation und Gesellschaft ausführlich abhandeln. Die Grenzsysteme lassen sich schematisch in einem kybernetischen Modell als "Regler" beschreiben. Der Regler (F) verhindert die Übertragung von schädlichen Werten aus der Umwelt (D) in das System (E). Das einfachste Modell sieht nach Ashby dazu so aus 36 :
34 Vgl. Parsons, T., Sozial systeme, in: ders., Zur Theorie sozialer Systeme, hrsg. u. eingeleitet von St. Jensen, Opladen 1976, S. 275 - 307, S. 278 - 279. 35 Miller / Rice, S. 8 - 9. 36 Ashby, W. R., Einführung in die Kybernetik, Frankfurt a. M. 1974, S. 288. Weitere und kompliziertere Modelle siehe S. 290.
4.2 Zeitgrenzen
o
)
F
119
-----E
D = Quelle von störungen aus der Umwelt F = Regler / Grenzsystem E = Menge der wesentlichen Variablen (SystemstI1Uktur)~7
Der Steuerungsprozeß durch selektive Regelung verzichtet auf universelle Beeinflussung der Umwelt zugunsten einer qualitativen und sehr ökonomischen selektiven Kontrolle 38 • Der Regler kann durch passive Abwehr oder durch ausgearbeitete Gegenreaktionen (Gegensteuerung) die Abweichung vom Sollwert für das System E in akzeptablen Grenzen halten. "Regelung blockiert den Fluß der Vielfalt 39 ." Das Einsetzen des Reglers verringert die Komplexität, die von D auf E übertragen werden kann: d. h. Störungen von D können auf die wesentlichen Variablen in E nicht unbegrenzt einwirken. Regelung ist also Grenzerhaltung durch Selektion, diese Selektion ist für das System überlebensnotwendig, da die Menge der für ein System zulässigen Werte geringer ist als die der möglichen Werte, erstere ist eine Teilmenge der letzteren. Grenzen (Regler) kontrollieren und erhalten durch Selektion ein Komplexitätsgefälle zwischen System und Umwelt. 4.2.2.1 Grenzerhaltung Zur Struktur und Funktion von Grenzsystemen System grenzen müssen durch regulierende Tätigkeiten aufrechterhalten werden, diese Grenzkontrollfunktionen oder Regler treten an den In- und Outputgrenzen auf und regeln die Transaktionen zwischen System und Umwelt. Schematisch kann man diese Grenzkontrollfunktion so darstellen 40 : Grenzkontrollfunktion
In pu t
37
38 39
)
interne
Ashby, S. 288. V gl. dazu: Reimann, S. 43. Ashby, S. 288.
)
Operationen Output
120
4. Ausdifferenzierung und Grenzerhaltung
Die Grenze um ein System ist demnach keine einfache Linie, sondern eine Region mit ihrerseits zwei Grenzen: mit einer Grenze zu den inneren Systemoperationen und einer weiteren zur Systemumwelt. Zu beiden "Umwelten" bestehen prozessuale und strukturelle Diskontinuitäten. Die Übernahme der Grenzkontrollfunktion ist bei etwas komplexeren Sozialsystemen bestimmten Grenz- und Kontaktsystemen aufgetragen, doch sind auch soziale Systeme denkbar, bei denen die Grenzkontrolle vom Gesamtsystem von Fall zu Fall selbst geleistet werden muß (vgl. Kap. 8.1). Grenzsysteme ermöglichen eine Differenzierung und Kanalisierung grenzüberschreitender Prozesse. Transaktionen mit der Umwelt sind dann nicht mehr überall an den Systemgrenzen möglich, sondern müssen bestimmte Tore (Gates) passieren, die vom System leichter zu überwachen sind. In seinen "Theorems on Boundaries " hat Platt die allgemeinen Kennzeichen dieser "Tore" benannt 41 • 1. "Tore" können auf bestimmte Flüsse von Umweltinformation spezialisiert
sein. 2. "Tore" für verschiedene Flüsse fallen in vielen Fällen zusammen. Es kann in diesen Fällen entweder zu einer gegenseitigen Verstärkung (mutual reinforcement) oder zu einer gegenseitigen Störung des Informationsflusses kommen. 3. Transaktionen können entweder durch bestimmte "Tore" laufen oder sie können überall auf der Grenzoberfläche vorkommen. 4. Für einige Prozesse werden gleichartige, aber räumlich getrennte "Tore" benötigt, deren räumliche Anordnung als limitierender Filter für die aufzunehmende Umweltinformation wirkt. (z. B. Tastrezeptoren, mosaic receptors) 5. Inputs eines bestimmten Tores können nur für dieses "wahrnehmbar" sein, d. h. Tore können "privat" sein.
6. Es gibt "Tore", die zeitlich und räumlich begrenzt offen sind. Zeitliche Periodisierung meint, daß jedes Tor bestimmte On- und Off-Phasen besitzt, in denen Transaktionen vollzogen bzw. gestoppt werden. Die periodischen Phasen für verschiedene Prozesse verstärken sich gegenseitig und tendieren dazu, miteinander verbunden zu werden. 7. Die einzelnen Tore sind nicht nur funktional auf bestimmte Flüsse spezialisiert, sondern sie verändern die eintreffenden Flüsse in ihrer Qualität nach Maßgabe interner (beim Input) bzw. externer (beim Output) Anforderungen. Sie sind keine bloße Öffnungen, sondern Filter und Transformationsstellen. 8. Die Zahl der Eingangstore in ein System ist geringer als die Zahl der
internen Verknüpfungen (nodes) im Strukturnetzwerk des Systems.
Miller / Rice, S. 9. Platt, J., Theorems on Boundaries in Hierarchical Systems, in: Hierarchical Structures, eds. L. L. Whyte et al., New York, Amsterdam, London 1969, S. 201 - 213. Man kann diese "Tore" noch weiter differenzieren, z. B. in "openings" und "filters" wie Ruesch, S. 345 oder in "filters", "sieves" und "screens" wie Brown, S. 244 (auch Kap. 8.2). 40 41
4.2 Zeitgrenzen
121
Beziehen wir nun diese Theoreme über die Struktur von Grenzsystemen auf unsere Frage der Erhaltung zeitlicher Systemgrenzen gegenüber Zeitanforderungen der Umwelt. (1) Grenzsysteme können so ausdifferenziert sein, daß sie Umweltinformationen nur im Hinblick auf ihre sachliche, soziale oder zeitliche Dimension bearbeiten und transferieren, so sind z. B. in Produktionssystemen die Grenzsysteme für die Materialbeschaffung (Einkauf; Sachdimension), die Regelung des Mitgliederstandes (Personalbüro; Sozialdimension) und die zeitliche Koordination mit der Umwelt (Auftragsannahme) voneinander getrennt. Diese Delegation von Außenkontakten auf mehrere spezialisierte Grenzstellen ist für größere Systeme mit einer komplexen Umwelt unausweichlich. Die Spezialisierung ermöglicht zum einen durch Arbeitsteilung einen Schutz vor Informationsüberflutung, zum anderen eine bessere Einstellung auf die entsprechenden Umweltausschnitte. Die zeitliche Koordination interner und externer Zeitstrukturen erfordert eine gute Kenntnis beider Bereiche, nur so sind Feinabstimmungen und Vorausplanungen möglich, die das System sowohl vor zeitlichem Leerlauf als auch vor zeitlicher überforderung bewahren. Die Kehrseite dieser Spezialisierung auf bestimmte Informationsflüsse ist die starke interne Belastung des Systems mit der sachlichen, sozialen und zeitlichen Synchronisation der getrennten Flüsse. Diese internen Probleme werden jedoch in Kauf genommen für die bessere Umweltkontrolle, die durch die Spezialisierung möglich wird. (2) Statt im Inneren des Systems können Koordinationen auch schon in den Grenzsystemen selbst geleistet werden, wenn diese als "Tore" für mehr als einen Umweltfluß fungieren. Im Extremfall können alle Umweltkontakte über eine Grenzstelle laufen, z. B. können Sekretärinnen für ihre Chefs diese totale Pförtnerfunktion wahrnehmen, indem sie ihn zeitlich, sachlich und sozial abschirmen und zugleich noch für die Transformation der einkommenden Informationen sorgen. Durch die Multifunktionalität eines Tores bekommt ein System eine sehr klar definierte Grenze, Informationen können sich gegenseitig verstärken und interpretieren und die internen Synchronisationsprobleme werden vermindert. Andererseits verhindert diese "ökonomische" Verknüpfung 42 aber die Sensibilisierung des Grenzsystems gegenüber der Umwelt, ermöglicht nur einen geringen Grad von Selektivität, da nur wenige Umweltinformationen überhaupt in den Blick kommen, und trägt die Gefahr der Informationsüberlastung und der gegenseitigen "Störung" der Informationsflüsse in sich. (3) Wieweit überhaupt spezifische GrenzkontrollsteIlen institutionalisiert werden können, hängt ab vom Komplexitätsgrad des Systems. In einfachen Sozialsystemen können Transaktionen überall an den Gren42
Platt, S. 206.
122
4. Ausdifferenzierung und Grenzerhaltung
zen vorkommen, denn "Gatekeeper-Funktionen" sind meist nur rudimentär ausgebildet. Die prekäre Umweltlage dieser Systeme besteht ja gerade darin, daß Störungen sachlicher, sozialer oder zeitlicher Art überall und zu jeder Zeit erwartet werden müssen und keine kontaktverengenden Tore existieren, die leichter kontrolliert werden können. Wenn Systeme dagegen intern stärker differenziert sind, dann ist der "Verkehr mit Außenstehenden nicht in gleicher Weise Sache aller Mitglieder"43, sondern läuft über dafür vorgesehene und spezialisierte "Tore". Die Einrichtung von Grenzstellen, seien sie spezialisiert oder nicht, erhöht die zeitliche Autonomie von Systemen. Grenzüberschreitungen an dafür nicht vorgesehenen Stellen werden leichter als Grenzverletzungen sanktionierbar, wenn klar definierte Ubergangsstellen existieren, während im Fall der nicht differenzierten Grenzen, erlaubte und unerlaubte Grenzüberschreitungen nur schwer zu unterscheiden sind und damit wahrscheinlich häufiger vorkommen. Die Abwehr unberechtigter Zeit an forderungen seitens der Umwelt ist dann nur schwer möglich, die zeitliche Autonomie ständig bedroht. (4) Grenzkontrollfunktionen können unterschiedlich angeordnet werden: ein Informationsfluß kann auf ein Tor, auf eine zentrale Grenzstelle zentriert sein (z. B. in Form einer zentralen Verkaufsabteilung) oder über ein Netz raum-zeitlich getrennter "Tore" aufgenommen werden (z. B. über "Vertreter"). Die raum-zeitliche Trennung der "Rezeptoren" liefert ein differenziertes Bild der Umwelt und ermöglicht größere Sensibilität ihr gegenüber, da die verteilten Grenzsysteme eine größere Anpassungsfähigkeit und weniger generalisierte Reaktionsmöglichkeiten gegenüber zeitlichen Umweltansprüchen besitzen. Das Gesamtsystem gewinnt so ein größeres Auflösungsvermögen hinsichtlich seiner Umwelt und kann situationsangemessener reagieren. Andererseits wird durch die Organisationsform der segmentären Binnendifferenzierung einer spezialisierten Grenzstelle schon letztere mit sehr hohen Koordinationslasten belegt, die, bei der chronisch knappen und daher kostbaren Koordinationskapazität 44 in Systemen, diese Form der Anordnung von "Toren" leicht ineffektiv machen. Ob ein System sich also diese dezentralisierte Anordnung der "Tore" leisten kann oder nicht, hängt ab von der Synchronisationskapazität des betreffenden Grenzsystems insgesamt.
(5) Anstatt einen Informationsfluß über mehrere verteilte "Tore" einzuspeisen, kann für ein System u. U. das Umgekehrte funktional sein: die Inputs können exklusiv nur für ein "Tor" bestimmt und nur 43 Luhmann, N., Funktionen und Folgen formaler Organisation, Berlin 1964, S. 220 (im folgenden zitiert als Funktionen). 44 Vgl. dazu neuerdings: Schunck, H., Analyse der Organisation von Regierung und Verwaltung, in: ZfS., Jg. 8 (2), 1979, S. 183 - 193, S. 183.
4.2 Zeitgrenzen
123
von diesem "wahrnehmbar" sein. Durch die Festlegung und Monopolisierung bestimmter Kommunikationswegregelungen können In- und Outputs geheimgehalten werden, bzw. kann für einige Stellen im System ein exklusiver Zugang zu Informationen gesichert werden 45 . Diese Form der Sicherung eines Informationsflusses kann z. B. eine "Direktschaltung" zwischen Grenzstelle und Führungsstelle ermöglichen, die letzterer einen sachlich-zeitlichen Informationsvorsprung verschafft, und damit die Zeit für interne Programmierung. Außerdem werden natürlich die Grenzstellen selbst durch exklusive Spezialisierung stärker entlastet, da sie einen großen Teil eintreffender Umweltinformation gar nicht "wahrzunehmen" brauchen, sondern nur bei "entsprechenden" Inputs reagieren müssen. Diese Entlastung von Informations- und Zeitdruck wird allerdings erkauft durch die Möglichkeit von Informationsverlusten. (6) Grenzüberschreitungen sind jedoch nicht nur räumlich, sondern auch zeitlich nur begrenzt möglich. Die Transaktion zeitlicher, sachlicher und sozialer Inputs ist nochmals zeitlich geordnet und limitiert, zumeist in Form periodischer On- und Off-Zeiten, z. B. Öffnungszeiten, Sprechstunden etc. Besonders weniger differenzierte Systeme können auf diese Weise Zeit für die interne Verarbeitung von Umweltinformationen gewinnen und sich zugleich vor "Information input overload"46 schützen; Zeiten der Aufnahme wechseln periodisch mit Zeiten der Verarbeitung des Aufgenommenen. Die "objektive" Zeit oder die Weltzeit, die von System und Umwelt gleichermaßen als koordinierende Generalisierung anerkannt wird, fungiert hier als Synchronisationsbzw. Desynchronisationsinstanz: System und Umwelt kennen die Öffnungszeiten gleichermaßen; d. h. man hat zu den Öffnungszeiten zu erscheinen. Natürlich kommen zeitliche Grenzverletzungen immer wieder vor, d. h. Transaktionen oder Transaktionswünsche außerhalb der Öffnungszeiten. Ruesch weist darauf hin, daß diese Transaktionen an nicht dafür vorgesehenen Stellen und Zeitpunkten meist illegalen Charakter tragen 47 . Da Systeme zumeist eine Mehrzahl von "Toren" besitzen, müssen die periodischen On- und Off-Zeiten miteinander synchronisiert werden, was nach Platt zu einer gegenseitigen Verstärkung der Phaseneinteilung führt. Es müssen jedoch nicht nur die Inputs oder die Outputs koordiniert werden, sondern auch die Inputs mit den Outputs; es müssen hier bestimmte Periodisierungen und Sequenzen festgelegt werden (vgl. dazu: Kap. 8.2).
45 Luhmann, Funktionen, S. 235. 46 Meier, R. L., Information Input Overload, in: Mathematical Explorations in Behavioral Seien ce, eds. F. Massarik / Ph. Ratoosh, Homewood 1965, vgl. auch: ders., "Communications Overload: Proposals from the study of a University Library", in: Admin. Science Quarterly, 7, 1962/1963, S. 521 - 544. 47 Ruesch, S. 357.
124
4. Ausdifferenzierung und Grenzerhaltung
(7) Die "Tore" sind keine bloßen "Löcher" in der Grenze, sie müssen vielmehr als TransformationssteZlen aufgefaßt werden, die die Inputs nach Maßgabe interner Anforderungen und die Outputs nach Maßgabe externer Anforderungen qualitativ verändern. Jede Grenzregion muß nach Miller / Rice folgende drei Aktivitätsformen umfassen: Eingabeaktivitäten, Umwandlungsaktivitäten und Ausstoßaktivitäten 48 • Die exponierte Stellung des Grenzsystems, das gewissermaßen zwischen zwei "Systemen" steht und partiell an beiden orientiert sein muß, führt dazu, daß Grenzsysteme selbst den Charakter eines teilweise autonomen Systems annehmen, das im Normativen wie im Faktischen vom Gesamtsystem abweicht 49 • In der politischen Geographie werden Grenzzonen deshalb beschrieben als "milieus de transformation" mit eigenen politischen, rechtlichen und ökonomischen Strukturen, als Zonen, die neben zwei peripherischen Regionen eine dritte Zentral region besitzen, in der sich die angrenzenden Systeme "vermischen" (Prescott). Der Verkehr zwischen zwei Systemen nimmt deshalb oft die Züge eines eigenen Systems an, das sich nur teilweise mit den beiden zu vermittelnden Systemen überschneidet. Wir finden diesen Sachverhalt bei Miller / Rice an einem Beispiel graphisch dargestellt: M anufactu rer
I
Representative:
, I
Customer Buyer
»Selling-task-system boundary"50
Grenzstellen werden, soweit sie dazu tendieren sich systemhaft auszudifferenzieren, eine strukturell-vermittelnde eigene Zeitstruktur ausbilden. Auf diese Weise kann eine Grenzstelle die divergierenden Zeitanforderungen von System und Umwelt integrieren und zugleich in einem gestuften Transformationsprozeß die eine mit der anderen koordinieren (dazu vgl. die folgenden Abschnitte). Die partielle Umweltorientierung führt dazu, daß Grenzstellen dem Verdacht ausgesetzt sind, nicht immer die Interessen des Gesamtsystems zu vertreten; ihre zeitliche Autonomie ist deswegen stets prekär, gefährdet durch zeitliche Korrekturmaßnahmen des Systems. 48
49
50
Milller / Rice, S. 283. Luhmann, Funktionen, S. 221. Miller / Rice, S. 53.
4.2 Zeitgrenzen
125
(8) Die Zahl der systeminternen Verknüpfungspunkte in einem System ist stets um vieles höher als die Zahl der Verknüpfungspunkte mit der Umwelt. Eine Vermehrung der Grenzstellen erhöht also die Zahl der internen Entscheidungs- und Koordinationsstrukturen überproportional. Koordination kostet jedoch Zeit, d. h. die koordinierenden Subsysteme - die Hierarchie, "Querschnittsabteilungen", Ausschüsse, Projektgruppen, "partizipatives Management"51 geraten unter Zeitdruck. Der Spezialisierung und Ausdifferenzierung von Grenzstellen müssen parallel laufen Einrichtungen der Informationsverarbeitung und Koordination innerhalb des Systems, die sowohl die externen Zeitanforderungen in interne Zeitpläne übersetzen als auch intern die divergierenden Subsystemzeiten synchronisieren müssen.
Wir haben unsere Ausführungen an dieser Stelle bewußt sehr abstrakt gehalten, da wir die konkreten Analysen von Grenzstellen in Interaktions-, Organisations- und Gesellschaftssystemen im Kapitel über diese drei System ebenen durchführen wollen (vgl. Kap. 8). 4.2.2.2 Grenzüberschreitende Prozesse
Die Möglichkeit und der Erfolg grenzüberschreitender Transaktionen hängen wesentlich mit ab von der zeitlichen Abstimmung zwischen dem "Sender" und dem "Empfänger". Beide müssen ihre Sende- bzw. Empfangszeiten synchronisieren und dabei auch noch berücksichtigen, daß die mediale übermittlung in vielen Fällen Zeit kostet. Sollen Grenzüberschreitungen erfolgreich sein, d. h. sollen "Sendungen" ankommen und angenommen werden, dann müssen Sendesysteme und Empfangssysteme ihre Zeitperspektiven wechselseitig verschränken. Eine wichtige Rolle bei dieser Synchronisation kommt den generalisierten Medien der Kommunikation zu. 4.2.2.2.1 Der Zeitaspekt bei der Informationsübertragung
Die übertragung von Informationen über Systemgrenzen hinweg und ihr "überdauern" auf dem Weg zwischen Sender und Empfänger setzen Trägermechanismen voraus, die einmal die Information sicher übertragen, die zum anderen den Empfänger zur Annahme der Information motivieren. Beide Leistungen werden in besonderem Maße durch generalisierte Medien erbracht52 : diese können aufgrund ihrer symbolischen und generalisierten Struktur Informationen bestandsicher "speichern", d. h. sie ermöglichen eine größere zeitliche Reichweite von Kommunikationsprozessen und damit eine sicherere übertragung zwischen zeitlich differierenden Systemen (z. B. ist Geld vererbbar, Wahrheit 51 Schunck, S. 184. 52 Ridder, P., Bewegung sozialer Systeme, in: KZfSS, 26, 1974, S. 1 • 28, S. 5.
126
4. Ausdifferenzierung und Grenzerhaltung
sichert die Annahme von Selektionen über lange Zeiträume hinweg). Neben dieser Speicherfähigkeit besitzen die Medien auch noch motivierende Kraft, indem sie die Möglichkeit des Rücktausches der symbolischen Einheiten in reale, symbiotische Einheiten garantieren; d. h. Geld ermöglicht den Rücktausch in Sachwerte, Liebe den "Anspruch" auf Sexualität. Generalisierte Medien leisten zwischen zeitlich voneinander abgegrenzten Systemen deshalb eine so gute Vermittlung, weil sie selbst zeitpunktunabhängig "gefrorene" Möglichkeiten speichern, die von den einzelnen Systemen nach Maßgabe ihrer eigenen Systemzeit aktualisiert werden können. "Die Medien halten Reaktionsinformationen lediglich verfügbar, sie garantieren noch keine wirksame übertragung" von Informationen 53 . D. h. neben die Analyse der zeitlichen Struktur der Trägermechanismen (Medien) muß eine Analyse der übernahme- und Weitergabefaktoren nach zeitlichen Gesichtspunkten erfolgen, d. h. nach ihren Veränderungen im Zeitablauf (z. B.: zeitlicher Wandel der Ausgabe- und Aufnahmebereitschaft, On- und Off-Zeiten). Der Erfolg grenzüberschreitender Prozesse hängt vom richtigen "timing" ab, da Systeme ihre "Tore" nicht permanent geöffnet halten, sondern nach Maßgabe interner Verarbeitungskapazitäten öffnen und schließen. Ridder unterscheidet für Empfangssysteme vier zeitliche Entwicklungsphasen der Empfangsbereitschaft: ,,1. noch nicht aufnahmebereit, 2. aufnahmebereit, 3. aktive übernahme, 4. indifferent nach vorhergegangener Übernahme von Neuerungen 54 ." Systeme besitzen also Ruheperioden (psychologisch: Refraktärperioden, Ridder, S. 11), in denen Informationen nicht aufgenommen werden. Die Annahme oder Nicht-Annahme wird zeitlich über Schwellenwerte gesteuert, die durch die zeitliche Verarbeitungskapazität des Systems bestimmt sind. Ein und dieselbe Information kann also "je nach den Zeitunterschieden in der Empfangsbereitschaft unterschiedliche Wirkungen hervorrufen"55. Für eine möglichst erfolgreiche übertragung muß der Sender für eine "Synchronisation der ,Uhren' von Sendern und Empfängern"56, eine Verschränkung der Zeitperspektive, des Zeittempos, etc. sorgen. Eine derartige Synchronisation kann z. B. durch eine Staffelung der Kommunikation oder, falls Unterschiede im Kommunikationsniveau vorliegen, durch "Treppenschleusung" geschehen57 . Medien leisten eine Vermittlung also nicht aktiv, wie etwa Grenzsysteme, die sich um eine Synchronisierung externer und interner Zeitstrukturen bemühen, sondern gleichsam pas53 54 55 56 57
Ridder, S. 9. Ridder, S. 10. Ridder, S. 18. Ebd.
Reimann, S. 162 - 164.
4.2 Zeitgrenzen
127
siv, indem sie Informationen zeitunabhängig verfügbar halten, die dann von Systemen nach ihren eigenen Zeitplänen aktiviert werden können. Zeitdifferenzen werden in diesem Fall also durch Zwischenschaltung eines zeitpunktunabhängigen "Mediums" überbrückbar, ohne daß die Differenzen aufgehoben werden müßten. Auf diese Weise wird Synchronisierung trotz bestehenbleibender Diskontinuitäten möglich. Generalisierte Medien besitzen aufgrund ihrer symbolisch-realen Doppelstruktur noch eine zweite Möglichkeit der Koordination von Systemen, trotz bestehender Zeitdifferenzen. Die Medien enthalten symbolische und symbiotische Einheiten, die relativ unabhängig voneinander variieren können, d. h. deren wertmäßige Relation kann sich im Laufe der Zeit ändern: inflationär oder deflationär, und die zu verschiedenen Zeitpunkten erworben werden. Dieses zeitliche Spannungsverhältnis, die notwendige Diskontinuität zwischen der Verfügung über symbolische oder symbiotische Einheiten wird in Parsons Modell des Double-Exchange sehr gut deutlich: stellt das L-System (Haushalt) dem A-System (Ökonomie) Arbeitskraft zur Verfügung, dann erhält es dafür Lohn in Geldform (Wages); zugleich stehen die bei den Systeme noch in einer zweiten Austauschbeziehung, dem Tausch von Geld (Lohn) gegen Güter und Dienstleistungen. Dieser doppelte Austausch kann nur funktionieren, wenn die Zeitdifferenz zwischen Produktion und Konsumtion aufrechterhalten wird 58 . Werden beide Bereiche zeitlich kurzgeschlossen durch Mechanismen der Selbstbefriedigung wie Falschmünzerei, Diebstahl etc., so entsteht ein überschuß an symbolischen Einheiten, die kein reales symbiotisches Pendant mehr besitzen. Die Medien verlören rasch ihren motivierenden Wert, wenn die in Aussicht gestellten Bedürfnisbefriedigungen faktisch nicht eingelöst werden könnten. Dieser Gefahr versucht die Gesellschaft durch Selbstbefriedigungsverbote zu begegnen, womit zeitliche Umwege zwischen Bedürfnis und Bedürfnisbefriedigung institutionalisiert werden; im Sinne von "Erst die Arbeit, dann das Vergnügen". In der diskontinuierlichen Struktur der Medien liegt also die Möglichkeit, Zeit zu gewinnen für die Produktion der realen Einheiten, die nötig sind, um "symbolische Versprechungen"59 einzulösen wenn es gelingt, die "zeitliche Diskrepanz zwischen abstrakten Kategorisierungssystemen und konkreten Äußerungen zu überbrücken"60. Ein sinnvolles Nacheinander verschiedenartiger Prozesse: das Auseinanderziehen von Produktion (+ Gelderwerb) und Konsumtion, die über den Marktmechanismus zeitpunktunabhängig miteinander verknüpft sind, ermöglicht durch Arbeitsteilung und Spezialisierung eine umfangreiche58 Parsons, T. I Smelser, N. J., The Primary Subsystems of Society, in: System, Change, and Conflict, eds. N. J. Demerath I R. A. Peterson, New York, London 1967, S. 131 - 140, S. 139. 59 Ridder, S. 7. 80 Ebd.
128
4. Ausdifferenzierung und GrenzerhaItung
re und differenziertere Warenproduktion und damit auch die Befriedigung diversester Konsumwünsche. Sehr komplexe Probleme können aufgrund der Trennung von symbolischen und symbiotischen Einheiten sequentiell bearbeitet werden, die Komplexität wird durch Verzeitliehung reduziert, in Einzelphasen aufgeteilt. In dem Aufschub konsumatorischer Prozesse steckt ein Zeitgewinn, der einmal eine instrumentelle oder reflexive Verwendung der Medien erlaubt, indem z. B. Geld gekauft, die Liebe geliebt werden kann, der zum anderen zur Schwerpunktbildung der Zeitorientierung in der Zukunftsdimension führt. Gerade die Entwicklung der Geldwirtschaft dürfte wesentlichen Anteil an der neuzeitlichen Umstrukturierung des Zeithorizontes der bürgerlichen Gesellschaft hin auf eine offene Zukunft haben. Wir werden auf diesen Zusammenhang der Zeitorientierung mit den Medien in Kap. 6 noch weiter eingehen, dort am Beispiel des Mediums Geld im Wirtschaftssystem. 4.2.2.2.2 Die zeitliche Struktur von Statusübergängen
Grenzen werden nun nicht nur von Informationen passiert, sondern auch Personen wechseln von einem System oder von einem Status in andere über. Der Statusübergang, den wir hier vor allem im Hinblick auf seine Funktion als zwischenzeitliche übergangs- und Vermittlungsphase betrachten wollen, ist im Grunde nichts anderes als der Prozeßaspekt eines Grenzsystems, er beschreibt die Verlaufsform des Übergangs zwischen zwei in ihrer Zeitstruktur differierenden Systemen. Derartige Übergangsphasen, die meist durch überleitungsrituale (rites de passage) religiöser oder sonstwie symbolischer Art stabilisiert werden, haben die Funktion, die Orientierungsschwierigkeiten, die beim Übergang in ein neues Sozialsystem oder einen neuen Status im gleichen System entstehen, zu verringern und aufzufangen. Die übergangslage ist deshalb so problematisch, weil sie für eine gewisse Zeit alle Positionsbestimmungen aufhebt, d. h. "der überzuleitende ist ,sowohl als auch' oder ,weder-noch' und zwar gleichzeitig"81. Eine klare zeitliche Zäsur zwischen dem vorher und dem nachher Geltenden ist nicht möglich, da die Umstellung für den überzuleitenden Zeit braucht und "weil im Wechsel die Identität durchgehalten werden muß"62. Für die Übergangsphase müssen deshalb eigene, zwischen dem Vorher und Nachher vermittelnde Zeitstrukturen ausgebildet werden, die für die Zwischenzeit als Ersatzorientierungen dienen können. Je nach dem Grad der Institutionalisierung des Status überganges, werden die Probleme der Umstellung der Zeithorizonte, des übergangstempos, der Koordination der Phasen und ihrer Reihenfolge unterschiedlich stark auftreten. Ganz 81 Luhmann, Religion, S. 115. 82 Ebd.
4.2 Zeitgrenzen
129
aufzuheben werden diese Probleme nicht sein, denn trotz aller institutioneller Vorkehrungen haben diese übergangssituationen typischerweise einen anomischen Charakter, was sich auch in der zeitlichen Bestimmtheit der Situation niederschlägt. Jeder Statusübergang läßt sich in seiner Struktur nach Glaser und Strauss mit Hilfe folgender sechs Dimensionen näher bestimmen, von denen vor allem die drei ersten die zeitliche Struktur der übergänge betreffen: 1. zeitplanmäßiger - nichtzeitplanmäßiger Übergang; 2. vorgeschriebene Statusübergangssequenz - keine vorgeschriebene Sequenz; 3. hoher Grad an institutioneller Regulierung - geringer Grad; 4. erwünschter - nicht erwünschter Statusübergang; 5. vermeidbarer - unvermeidbarer Übergang; 6. Klarheit - Unklarheit über den Prozeß des übergangs 63 • Zwischen diesen sechs Dimensionen sind zahlreiche Kombinationen möglich: "Differences between two sets of these conditions will, therefore, tend to explain why two types of status passage are managed differently 64." Wir wählen zur Analyse der Zeitstruktur von Statusübergängen die beiden Extremkombinationen aus: den Typ eines zeitlich vollständig bestimmten übergangs und den Typ eines in allen Dimensionen zeitlich unbestimmten Übergangs. a) Zeitlich bestimmter Statusübergang Auch beim geregelten Statusübergang wird die Identität des Überzuleitenden zeitweilig unbestimmt. Diese Unbestimmtheit wird entweder dadurch erträglich gemacht und zugleich verringert, (1) daß man gewisse Ablösezeiten gewährt, in denen der Überzuleitende noch im alten Status verbleibt bzw. Anlaufzeiten in der neuen Position zugebilligt bekommt; oder dadurch, (2) daß man den "übergänger" zeitweise entfernt, wegdefiniert, übermalt ... "65 und ihn in eine zeitlich geordnete "Lern- und Verwandlungssituation" bringt, die die Abtrennung vom alten Status und die Ausrichtung auf den neuen erleichtert. Die eine oder andere Lösung ist möglich, denn der neue Status wird bestimmte Erfahrungen, Verhaltens- und Leistungsstandards verlangen, die am leichtesten und sichersten in Form institutionalisierter "Rites de passage" gelernt werden können. 1. Zumeist sind bei Statusübergängen, die geregelt verlaufen, gewisse "Abschiedszeiten" oder Rituale der Ablösung eingeplant, die als eine erste Phase die Gesamtsequenz einleiten und die Umstellung erleichtern sollen. Da auch in zeitplanmäßig festgelegten Statusübergängen die übereinstimmung aller Beteiligten nie vollständig gewähr83 Glaser, B. G. / Strauss, A. L., Temporal Aspects of Dying as a NonScheduled-Status Passage, in: American Journal of Sociology, 71, 1965, S.48 bis 59, S. 57 - 58. 64 Ebd. 65 Luhmann, Religion, S. 115.
9 Bergmann
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4. Ausdifferenzierung und Grenzerhaltung
leistet ist 66 , können diese Ablösungszeiten zu Synchronisationsproblemen führen, wenn für die zu verlassende Position schon ein Nachfolger bereitsteht, oder wenn gar ein ganzes Netzwerk von Positionsveränderungen von dem Ausscheiden eines Positionsinhabers abhängt. Strauss führt das Beispiel einer irischen Bauernfamilie an, wo die Heirat des Sohnes an den Rückzug der Eltern aufs Altenteil geknüpft ist 67 • Können die verschiedenen übergangsgeschwindigkeiten nicht synchronisiert werden, d. h. stimmt der Zeitrhythmus des Statuswechsels nicht überein, entstehen Spannungen in den betreffenden sozialen Systemen. "Selbst in relativ stabilen Strukturen, in denen Laufbahnen gut geregelt sind, entstehen immer Probleme im Hinblick auf das Tempo und dessen Regulierung 68 • " Diese Probleme entstehen jedoch nicht nur hinsichtlich der Loslösung von der alten Position, sondern auch bei der übernahme der neuen. Auch nach der formalen Zulassung zum neuen Status - im Zuge der vorgeschriebenen Sequenz - wird dem Neuling eine informelle Toleranzperiode zugebilligt. Die Einarbeitung braucht Zeit, diese wird gewährt als eine übergangszeit zur informellen Einlösung der formalen Vorgabe. Das bedeutet, der Status wechsler muß in seiner neuen Position zunächst sein "Schrittempo" drosseln und bestehende "informelle Zwischenstationen"69 in der richtigen zeitlichen Reihenfolge durchlaufen, bevor er die volle Anerkennung seines neuen Status erlangt. Der "Neue" ist in dieser Zeit Loyalitätsprüfungen unterworfen und muß die "Toleranzperiode" zur Anpassung an die neue Umwelt nutzen, z. B. durch Akkumulation von Kenntnissen, durch die Demonstration von Durchsetzungsvermögen etc. Sind also keine ausdifferenzierten übergangsphasen (transitional status) vorgesehen, die einen eigens strukturierten zeitlichen Aufenthalt "zwischen" dem alten und dem neuen Status darstellen, dann werden die Aus- bzw. Eintrittsphasen zu einer solchen übergangs station, in der symbolisch regulierte Abschieds- und Aufnahmerituale existieren, die zeitlich eine Reihenfolge des Übergangs ordnen, und die eine allmähliche Umstrukturierung der Zeithorizonte durch Neuinterpretation der Vergangenheit und durch Strukturierung einer neuen Zukunftperspektive bewirken. 2. Statusübergänge, die als eine "Lernphase" institutionell extra ausdifferenziert sind, stellen eine spezifisch strukturierte Zwischenzeit dar. Glaser / Strauss schreiben dazu: "Transitional status is a concept denoting social structural time. If we ask how a social system keeps a person in passage between two statuses for aperiod of time, the answer is: He
66 Vgl. Glaser / Strauss, S. 59. 67 Strauss, A. L., Spiegel und Masken, Frankfurt a. M., 1968, S.110. 68 Ebd. 69 Strauss, S. 111.
4.2 Zeitgrenzen
131
is put in a transition al status or sequence of them which denotes a period of time that he will be in a status passage. Thus the tradition al status of ,initiate' will, ... , carry with it the amount of time it will take to make a non-member a member - a civilian is made a soldier by spending eight weeks as a basic trainee 7o ." Der zeitliche Übergang ist also bestimmt durch die Anforderungen des neuen Status. Er wird gelenkt und überwacht durch diejenigen, welche den Statuswechsel schon vollzogen haben, die also seine Phasen und somit die zukünftig zu leistenden Schritte schon kennen; bei Strauss werden diese Personen als "Trainer" bezeichnet, die entsprechenden Beziehungen zum Statuswechsler als "Trainingsbeziehungen"71. Durch den Eintritt in spezifische übergangs systeme verändern sich die zeitlichen Orientierungen des übergängers sehr deutlich: wie man vor allem bei Fällen von nahezu "totaler Transformation" oder "Verwandlung"72, in denen ein Mensch Welt und Zeit völlig umstrukturiert, sehen kann, wird der Vergangenheitshorizont entweder total transformiert oder aber total abgeschnitten, vergessen. Man kehrt der Vergangenheit den Rücken 73 und beginnt ein "neues Leben" ohne Vergangenheit bzw. mit einer von neuem aufzubauenden Vergangenheit. Der Verkürzung des Vergangenheitshorizonts entspricht ein nur kurzer und unbestimmt bleibender Zukunftshorizont - dies gilt auch, wenn auf seiten des Statuswechslers klare Kenntnisse über den Endstatus und den Weg dorthin vorliegen (Dirn. 6) -, denn ein Teil der Aspekte dessen, was sich am Horizont abzeichnet, bleibt für den überwechsler verschwommen. Totale Verwandlungen lassen sich nur in zeitlich-räumlicher Distanz zur bisher vertrauten Umgebung bewerkstelligen, da nur so radikales Vergessen bzw. Uminterpretieren der Vergangenheit und Zukunft möglich sind. Ist der neue Status erreicht und stabilisiert, kann die Isolierung wieder aufgegeben oder zumindest gelockert werden. Die Übergangsphase ist also - trotz Kenntnis des Zeitplans und der zu absolvierenden Phasen - gekennzeichnet durch die Kürze und Unbestimmtheit, sowie durch eine fortschreitende Verlagerung der Zeithorizonte, eine Verlagerung hin auf das Zeitbewußtsein des neuen Status. In undifferenzierten Gesellschaften bedeutet der Statuswechsel, wegen des Fehlens von Rollendifferenzierungen und Differenzierungen der Komplexitätsdimensionen über die zeitliche Differenzierung hinaus, auch die völlige Umwandlung der sozialen Identität: Zeitlicher Identitätswechsel (z. B. durch die verschiedenen Altersstufen innerhalb des 70 Glaser / Strauss, S. 57 - 58. 71 Strauss, S. 118. 72 Berger, P. L. / Luckmann, Th., Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, Frankfurt a. M. 1971, S. 167 - 168. 73 Strauss, S. 124. 9·
132
4. Ausdifferenzierung und Grenzerhaltung
Lebenslaufes) ist zugleich ein Wandel der Welt insgesamt. Erst in stärker differenzierten Gesellschaften, in denen jeder gleichzeitig eine Vielzahl von Rollen innehat, wird der zeitliche Statuswechsel in einer Sozialbeziehung durch das Identischbleiben anderer aufgefangen. Zeit und Welt werden schärfer und abstrakter differenziert, "so daß das Übergangsproblem durch eine rein zeitliche Zäsur artikuliert werden kann, die als solche die Identität sowie die Bestimmtheit des Vorher und Nachher Jlicht in Frage stellt"74. Doch auch in diesen Gesellschaften bedarf der Überzuleitende der Führung durch einen Trainer, der ihn Schriti; für Schritt auf den neuen Status hin lenkt, denn nur letzterer 1,{ennt die zurückzulegenden Schritte, ihre Reihenfolge und ihr Tempo. Strauss betont die Wichtigkeit der richtigen Zeitplanung beim Trainieren: Zur Vermeidung von überforderung oder von Unterforderung (die sich in Langeweile äußert) muß das Trainerprogramm auf die Fähigkeiten des Wechslers zugeschnitten sein und ein adäquates "timing" erlauben. Dem überzuleitenden erschließen sich die neuen zeitlichen Perspektiven nur langsam, und da auch der Vergangenheitshorizont keine Orientierungsfunktion mehr besitzt, bedarf der Übergänger einer Außensteuerung, denn für ihn ist weder die Planung der nächsten Handlungsschritte in vollem Umfang möglich, noch kann die "Geschichte" mit ihren sedimentierten Erfahrungsregeln in der veränderten Situation als Stabilisierung und Orientierung gegenwärtigen HandeIns dienen. " ... einem Lehrer anvertraut, welcher ihn zumindest teilweise dunkle Kanäle entlangführt75." Bestimmend ist demnach in dieser Phase die Gegenwartsorientierung von einem Zeitpunkt zum nächsten - ohne weite, tiefenscharfe Zeithorizonte -, wobei auch die anderen Strukturen des Zeitbewußtseins wie Temporegulierung, die Reihefolge der Zeitpunkte, die zeitliche Kontinuität etc. wenig tragfähig sind, da sich das Zeitbewußtsein insgesamt im Umbau befindet. Diese Einschränkungen gelten natürlich nur für den Statuswechsler selber, nicht für die Struktur des übergangs oder das Zeitbewußtsein des sonst beteiligten "Personals". Für letztere folgt der übergang einem bestimmten Zeitplan, der institutionell eine Reihenfolge und ein Tempo des übergangs festlegt, und der Übergangsregelungen vorsieht. b) Zeitlich unbestimmter Statusübergang Der unbestimmte Übergang - als Extremtypus genommen - unterscheidet sich vom bestimmten dadurch, daß der Übergang nicht nur für den überzuleitenden, sondern auch für den " Führer " letztlich relativ unbestimmt und unvorhersehbar bleibt. D. h. es gibt niemanden, der 74 Luhmann, Religion, S. 115 f. 75 Strauss, S. 118.
4.2 Zeitgrenzen
133
den übergang steuern könnte, der seine Phasen, sein Ablauftempo genau kennt. Glaser/Strauss haben die Aspekte eines nicht-zeitplanmäßig verlaufenden, nicht fest sequenzierten Statusübergang für den (Grenz-)Fall des Sterbens untersucht. Ähnliche Analysen über die "Timetables", die zeitliche Vorstellungen von Kranken in Hospitälern strukturieren, finden wir bei J. Roth76 • Entsprechend der oben angeführten Dimensionen kann der Statusübergang des Sterbens in seinen zeitlichen Aspekten so charakterisiert werden: er folgt keinem Zeitplan, der sozial verbindlich wäre; er ist nicht nach vorgeschriebenen Sequenzen geordnet; er ist unerwünscht, ist nach einem gewissen Punkt nicht mehr umkehrbar; er ist teils institutionell geregelt, teils nicht; er ist teilweise für die Beteiligten in seiner Struktur erkennbar, teilweise aber nicht. Trotz der sachlichen und zeitlichen Unbestimmtheit des übergangs, werden alle daran irgendwie Beteiligten sich ein Ablaufschema zurechtlegen, d. h. die reale zeitliche Unbestimmtheit durch die Interpretation vorhandener Anzeichen (des Krankheitsverlaufs z. B.) zu reduzieren suchen. Roth hat das Zustandekommen dieser "Career Timetables" für unterschiedliche "Karrieren" untersucht und kommt zu folgendem Ergebnis: "People will not accept uncertainty. They will make an effort to structure it ... One way to structure uncertainty is to structure the time period through which uncertain events occur. Such a structure must usually be developed from information gained from the experience of others who have gone or are going through the same se ries of events. As a result of such comparisons, norms develop for entire groups about when certain events may be expected to occur77 ." Die auf diese Weise durch Vergleich mit ähnlichen Karrieren gewählten zeitlichen Referenzpunkte und" Timetables" fungieren dann als Maßstäbe für den "Fortschritt" des übergangs, für ein zeitliches Voraussein oder Nachhinken. Abgesehen von dem Problem, ob die Statuswechsler die Phasenabfolge und die Geschwindigkeit des übergangs richtig interpretieren und ob sie sich an wirklich vergleichbaren "Vorbildern" orientieren, entsteht ein zusätzliches Problem durch die differierenden Zeitvorstellungen anderer an dem Prozeß teilnehmender Personen. D. h. in dem genannten Fall des Sterbens oder überhaupt in Krankheitsfällen, daß der Arzt, das Personal, die Verwandten und der Patient selbst unterschiedliche Vorstellungen vom zeitlichen Verlauf des Prozesses haben, da nicht alle die gleichen "Orientierungsmarken" für ihre Beurteilung des Prozesses heranziehen. "When differential perceptions of timing exist, the legitimation, announcement and co ordination of the passage become problematic, and interaction strategies to handle these issues 76 Roth, J., Timetables. Structuring the Passage of Time in Hospital Treatment and Other Careers, New York 1963. 77 Roth, S. 93.
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4. Ausdifferenzierung und Grenzerhaltung
become cruciaFB." Die konfligierenden Orientierungen und Zeitpläne werden nach Roth in einem dialektischen Prozeß miteinander vermittelt, ein Komprorniß muß ausgehandelt werden. ("Bargaining as a Dialectic Process", S. 54 ff.) Keiner der Beteiligten kann seine eigenen Zeitvorstellungen einfach durchsetzen, mögen sie auch, z. B. im Falle des Arztes, auf besseren Informationen beruhen. "Most of all, such bargaining consists of a dialectic of anticipation of reactions of the other party - the patient is not free in his own mind to make unreasonable demands and the doctor is likewise not free to ignore the press ure from the patients. The actual timetable of treatment is a resultant of the interaction of such explicit and implicit forces 79 ." Während in zeitlich geregelten Statusübergängen eine objektive "Weltzeit", Rituale, Routinen usw. die Synchronisation differierender Zeitperspektiven leisten, fehlt es bei unbestimmten Übergängen an einem derartigen Standardisierungsschema, so daß integrierende Kompromisse kontinuierlich neu ausgehandelt werden müssen. Die Unbestimmtheit des zeitlich unbestimmten Statusübergangs, die allerdings mit dem fortschreitenden Absolvieren bestimmter Phasen im Laufe der Zeit abnimmt, bezieht sich einmal auf die Frage, ob das Ziel des Übergangs überhaupt erreicht werden wird (ob z. B. der Patient tatsächlich sterben oder gesund werden wird), zum anderen auf die des Zeitpunkts für den Übergang, der noch schwerer zu bestimmen ist als das zu erwartende Resultat. Die Zeithorizonte aller Beteiligten werden deshalb relativ beschränkt sein, die Gegenwartsorientierung mit einigen vagen Interpolationen auf zukünftige Zustände wird vorherrschen. Anders als beim bestimmten Statusübergang gilt diese Zeitbewußtseinsstruktur in diesem Fall auch für den "Trainer", der auch hier eine Führerfunktion einnimmt. Er kann aufgrund seiner Ausbildung und Erfahrung Hinweise auf eine bestimmte Ablaufstruktur des Übergangs besser erkennen: "While the transitional status-sequence in dying is not institutionally prescribed, many typicaiones are known that help the doctor to anticipate a schedule of periods ... 80." Doch bleiben, insbesondere hinsichtlich des exakten Ablaufs, immer Unbestimmtheiten übrig. "That indeterminacy is reflected in such phrases as that the patient may die 'some time' or 'any time':ll." Die Unbestimmtheit des Verlaufs sowie die doppelte Kontingenz der Situationsdefinition verlangen von seiten des "Führers" viel Geschick, um nicht durch falsches "timing" den Übergangsprozeß zu stark zu beschleunigen bzw. zu sehr zu verzögern; was zu einem verfrühten bzw. verspäteten Grenzübertritt führen würde. 78
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81
Glaser / Strauss, S. 48. Roth, S. 61 - 62. Glaser / Strauss, S. 50. Glaser / Strauss, S. 50.
4.2 Zeitgrenzen
135
Bisher haben wir bei der Analyse der Zeitgrenzen und sie überschreitender Prozesse gleichsam immer vom System aus gedacht, ohne in der Umwelt viel mehr zu sehen als ein weitgehend unbestimmtes "Außen". Wir wollen nun übergehen zur Betrachtung dessen, was jenseits dieser Systemgrenzen die Temporalstruktur sozialer Systeme mitbestimmt. Dazu gilt es, die Umwelt nach bestimmten Typen zu differenzieren, und deren Temporalstrukturen in ihrem Einfluß auf die Temporalstruktur sozialer Systeme näher zu bestimmen. 5. Systemzeit und Umweltzeiten
Bisher habe ich meist undifferenziert von der "Umwelt" sozialer Systerne schlechthin gesprochen und dabei implizit vor allem an andere Sozialsysteme und ihre Zeitstrukturen gedacht. Im folgenden gilt es nun, diese Umwelt sozialer Systeme als eine in Systeme unterschiedlicher Art geordnete zu begreifen und in ihrem Verhältnis zum sozialen System zu bestimmen. In der soziologischen Systemtheorie findet sich eine systematische Gliederung der Umwelt nach Systemtypen bei Parsons. Er unterscheidet innerhalb seines "Allgemeinen Handlungssystems" analytisch vier primäre Subsysteme menschlichen HandeIns, die jeweils füreinander Umwelt sein können, und die in einer Kontrollhierarchie bzw. in umgekehrter Richtung in einer Energiehierarchie geordnet und miteinander verbunden sind. Diese Vierteilung ergibt als primäre Subklassen menschlichen HandeIns: 1. den menschlichen Organismus, 2. das psychische System, 3. das Sozialsystem und 4. das kulturelle System. Bei jeder konkreten menschlichen Handlung sind meist mehrere Systeme beteiligt. Neben diesen Subsystemen des HandeIns, die, wie man sieht, im Sinne einer systeminternen Differenzierung des Gesamtsystems "Allgemeines Handlungssystem" verstanden werden und nur analytisch zu trennen sind, gibt es bei Parsons noch zwei "Umwelten des HandeIns" : die "letzte Wirklichkeit" (ultimate reality) und die "physisch-organische Umwelt"l. Die jeweilige Umwelt eines Sozialsystems besteht einmal aus den drei anderen der genannten Subsysteme, die das Milieu des Sozialsystems bilden und bei Parsons als "Intra-Aktionsumwelten der Sozialsysteme"2 bezeichnet werden, zum anderen unterhalb der Handlungsebene aus der physisch-organischen Welt, die wjr nur über unseren Organismus erfahren können, und oberhalb der Handlungsebene, vermittelt über das Kultursystem, aus der "letzten Realität" (z. B. Tod, Krankheit, das Numinose). Mit diesen Um1
Parsons, T., Zur Theorie sozialer Systeme, hrsg. v. st. Jensen, Opladen
1976, S. 154. 2 Ebd.
136
5. Systemzeit und Umweltzeiten
weltsystemen unterhält das Sozialsystem als offenes System Austauschprozesse über seine Systemgrenzen hinweg. Als selbstregulierendes System hat es die Eigenschaft "to eat energy and order from its environment3 • Bedingt durch seine Stellung in den beiden Hierarchien (s.o.) im Rahmen des "Allgemeinen Handlungssystems" , bekommt das Sozialsystem von dem in der Hierarchie höher stehenden kulturellen System einen Steuerungs- oder Ordnungsinput, während es von seiten der tieferstehenden Systeme (Verhaltensorganismus und psychisches System) Energie- oder Motivationsinputs bekommt. Dieses Parsonssche Modell des "Allgemeinen Handlungssystems" stellt m. W. die bisher detaillierteste Systematisierung von Systembeziehungen in der Soziologie dar, seine übernahme würde jedoch verlangen, sich insgesamt in die Parsonssche Theoriearchitektur zu begeben, was ich aus einer Reihe von Gründen nicht tun will. Deshalb werde ich, im Anschluß an Luhmanns Parsons-Kritik4, den Zusammenhang des "Allgemeinen Handlungsschemas" aufbrechen und die Subsysteme des HandeIns nicht länger als Subsysteme eines Gesamtsystems begreifen, sondern nach dem Muster von System/Umwelt-Relationen einander zuordnen. Die Subsysteme des HandeIns rücken damit in eine Reihe mit der physisch-organischen Umwelt und der letzten Realität, die ja auch bei Parsons schon als äußere Umwelt des Handlungssystems begriffen sind. Das hat den Vorteil, daß wir die einzelnen Umweltsysteme als unabhängige Systeme betrachten können, die weder durch eine Funktionsfestlegung im AGILSchema, noch durch eine bestimmte Position in der Kontroll- bzw. Energiehierarchie im Vorhinein bestimmt sind. Ich verstehe darüber hinaus die verschiedenen System arten nicht als nur analytisch zu trennende Aspekte eines umfassenden Systems, sondern als reale, selbstregulierende Entitäten mit jeweils unterschiedlichen organisierenden Prinzipien der Selektion, Variation und Stabilisierung. Parsons hat den Weg einer "Analytik des Elementarbegriffs" Handeln in seiner Theoriekonstruktion eingeschlagen, während ich mit Luhmann umgekehrt danach frage, wie Systeme durch Relationierung von Elementen "Emergenzniveaus" erreichen, die so etwas wie Handeln überhaupt erst möglich machen5 • Dieser veränderte Ansatz legt eine etwas andere Gliederung der Umweltsysteme sozialer Systeme nahe. Die "letzte Realität" und das "kulturelle System" werden wir dem sozialen System zurechnen, da es sich hier um intersubjektiv konstituierte Systeme auf dem Emergenzniveau "Sinn" handelt. Denn anders als die übrigen Systeme besitzen beide keine handlungsfähigen Einheiten, d. h. sie fallen offen8 Foerster, H. v., On Self-Organizing Systems and Their Environment, in: Self-Organizing Systems, eds. M. C. Yovits / S. Cameron, Oxford, London, New York, Paris 1960, S. 31 - 48, S. 36. 4 Luhmann, Interpenetration, S. 65. G Luhmann, Handlungstheorie, S. 215 - 216.
5.1 Soziale Systeme und ihre natürliche Umwelt
137
sichtlich nicht in die Klasse der selbstregulierenden Systeme, "weshalb Parsons das kulturelle System auch immer als Grenzfall behandelt hat"6. Beide Systeme können deshalb nach unserer veränderten Konzeption nicht als Umwelten des Sozialsystems gelten, vielmehr gilt, daß die Untersuchung des Symbolsystems im Kontext einer Analyse des Trägersystems zu erfolgen hat (personality and society)1. Ich werde also im folgenden das Verhältnis sozialer Systeme zu diesen vier Umweltsystem-Typen behandeln: 1. zur natürlichen Umwelt, 2. zum menschlichen Organismus, 3. zum psychischen oder personalen System, 4. zu anderen sozialen Systemen. Dabei werden vor allem die Gesichtspunkte der gegenseitigen zeitlichen Anforderungen, ihrer gegenseitigen Limitierung und der Synchronisierbarkeit der divergierenden Strukturen im Vordergrund stehen. 5.1 Soziale Systeme und ihre natürliche Umwelt
Was als Teil des sozialen Systems gilt und was zur äußeren Umwelt zählt, ist in der menschlichen Geschichte ganz unterschiedlich beantwortet worden. Luckmann hat in seinem Aufsatz: "On the boundaries of the social world" den Prozeß der Ausbildung eindeutiger und engerer Grenzen des Sozialen in den archaischen Gesellschaften als einen Prozeß der "De-Sozialisation" beschrieben8 • Es gehört also in den frühen Gesellschaften ein großer Teil der natürlichen und übernatürlichen Umwelt mit in das Sozialsystem Gesellschaft hinein, während nicht alle Menschen als alter egos betrachtet werden. Für die archaischen Gesellschaften kann man deshalb mit Luhmann von einem Primat der Sozialdimension sprechenD. Im Prozeß der De-Sozialisation expandieren dann die Bereiche rein sachlicher Weltbeziehungen, "mit denen man nicht, aber über die man dann um so besser sprechen kann. "10. Die Griechen haben später diesen Unterschied von sozialer und sachlicher Welt in den Begriffen "nomos" und "physis" formuliert. 6 Döbert, R., System theorie und die Entwicklung religiöser Deutungssysteme, Frankfurt a. M. 1973, S.75; Döbert, S.76, "Kulturelle Systeme besitzen keinen perzeptorischen Apparat, keine reaktiven Teile, keine Energiequelle. Sie haben deshalb kein überlebens- und Anpassungsproblem, sondern nur ein Konsistenzproblem, das aber ein internes und kein Umweltproblem ist." Dagegen: In Parsons Theoriezusammenhang ist die Ausdifferenzierung eines "kulturellen Systems" absolut berechtigt, da bei ihm alle Subsysteme des "Allgemeinen Handlungssystems" nicht als "lebende Systeme", sondern als Systeme von Handlungen aufgefaßt werden (vgl. Jensen, Anmerkungen, in: T. Parsons, Zur Theorie sozialer Systeme, Opladen 1976, S.158). 7 Döbert, S. 77. 8 Vgl. Luckmann. D Luhmann, MS, S. 404. 10 Ebd.
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5. Systemzeit und Umwelt zeiten
Für die Untersuchung der Beziehung sozialer Zeitstrukturen zu den zeitlichen Ordnungen in der physisch-organischen Umwelt bedeutet dies, daß dasjenige, was als äußere, natürliche Zeit gegolten hat und gilt, im Laufe der evolutionären Entwicklung von Gesellschaft verschieden weit gefaßt worden ist. Aus der Perspektive archaischer Gesellschaften etwa könnte der Hell-Dunkel-Wechsel zwischen Tag und Nacht, von Mondphasen etc. als Werk von Geistern oder Göttern durchaus als soziale Zeitordnung des eigenen oder aber eines anderen "himmlischen" Sozialsystems aufgefaßt werden. Insofern wäre in diesem Fall gar nicht von einer System/Umwelt-Beziehung in unserem Sinne zu sprechen: natürliche und soziale Zeit können in diesen Gesellschaften teils dekkungsgleich sein, da die Natur zum Teil als Bestandteil des Systems selbst gilt, teils als Beziehung zwischen zwei Sozialsystemen gedacht werden, z. B. zwischen einem irdischen und einem himmlischen System, mit jeweils differierenden Zeitordnungen. "The upper world and the human world have each a time of its own without any mutual concordance 11 ." Was als soziale Zeit und was als natürliche Zeit begriffen wird, ist also niclli im Voraus festgelegt, ich nehme an, daß sich im Laufe der gesellschaftlichen Evolution der Bereich der sozialen Zeit auf menschliche Gesellschaften und ihre Subsysteme einschränkt. Nach Rammstedt ist die Veränderung des Verhältnisses von Natur und Gesellschaft ein Grund für die Veränderung des gesellschaftlichen Zeitbewußtseinsl2 • Der Einfluß externer Periodizitäten in der Natur auf die Ordnung der sozialen Zeit ist evident: der Sonnentag, der Mondrnonat, das Jahr mit seinen Klimaveränderungen; der jahreszeitliche Wandel in der Vegetation und der Tierwelt im Bereich der organischen Natur sind als zeitliche Referenzpunkte so stark und eindrücklich, daß sie in allen uns bekannten Gesellschaften in irgendeiner Weise die Grundlage der zeitlichen Orientierung gebildet haben und bilden. "The reckoning of days, months and years occurs universally I3." Dagegen scheint z. B. die Woche eine rein sozial definierte Zeiteinheit zu sein, die in der äußeren Umwelt keinen Anhaltspunkt besitzt und die deshalb von Gesellschaft zu Gesellschaft in ihrer Länge schwankt 14 • Evans-Pritchard unterscheidet deshalb in seiner Arbeit über die Zeitrechnung bei den Nuer zwischen einer "oecological time", in der sich die Relation des Sozialsystems auf seine natürliche Umgebung spiegelt, und einer "structural time", die sich rein aufgrund sozialer Interaktionen konstituiert1s• Beide sollte 11 Bogoras, A., Primitive Ideas of Space and Time, in: American Anthropologist NS. 27, 1925, S. 229 - 266, S. 232. 12 Rammstedt, Alltagsbewußtsein, S. 50. 13 Goody, Time, S. 32. 14 Goody, Time, S. 33. 15 Evans-Pritchard, S. 94.
5.1 Soziale Systeme und ihre natürliche Umwelt
139
man, einem Vorschlag von MaLtz zufolge, jedoch nicht als zwei qualitativ verschiedene Typen von Zeit auffassen, sondern als die entgegengesetzten Pole eines Kontinuums, das von dem ökologischen Pol einer weitgehend durch externe, natürliche Vorgänge bestimmten Zeitorientierung bis zum "strukturellen" Pol einer rein sozial oder normativ bestimmten Zeit reicht1 6 • Dieses Konzept eines Kontinuums zwischen natürlich und normativ bestimmter Zeitorientierung ermöglicht es uns, den Grad der zeitlichen Autonomie sozialer Systeme gegenüber ihrer natürlichen Umwelt festzustellen, und verhindert, daß zwischen der natürlichen und sozialen Ereignisordnung, die als temporale Referenzpunkte für die Ausbildung sozialer Zeitstrukturen dienen können, ein typenmäßiger Unterschied gemacht wird. Evans-Pritchard charakterisiert das Verhältnis der beiden Zeitorientierungs-"Pole" ganz kurz am Beispiel der Nuer: "Their oecology limits and in other ways influences their social relations, but the value given to oecological relations is equally significant in understanding the social system, which is a system within the oecological system, partly dependent on it and partly existing in its own right. Ultimately most, perhaps all concepts of time and space are determined by the physical ambient, but the values they embody are only one of many possible responses to it and depends also on structural principles, which belong to a different order of reality 17." Diese Stelle formuliert sehr deutlich das Moment der relativen zeitlichen Autonomie des Sozialsystems, das einerseits seine Zeitstrukturen teilweise an den Gegebenheiten der natürlichen Umwelt ausrichtet, ausrichten muß, das andererseits jedoch diese natürlichen Vorgaben aufgrund interner Strukturen se legieren und interpretieren kann, d. h. auch eine gewisse Independenz von der Umwelt besitzt. Abgesehen von ihrer Funktion als Referenzpunkte sozialer Zeitorientierung dürften die astronomischen und in ihrer Folge die jahreszeitlichen Periodizitäten zugleich auch das Grundmodell für ein zyklisches Zeitkonzept abgegeben haben. Eliade spricht in diesem Zusammenhang vom Mythos der ewigen Wiederkehr, in dem, nach dem Vorbild des Kreislaufs des Entstehens und Vergehens in der Natur, eine zyklische Erneuerung der Welt gedacht wird. Dennoch ist es keineswegs so, wie es in der Literatur immer wieder behauptet wird, daß die zyklische Zeit-Vorstellung in den frühen Gesellschaften bis hin zur Antike die allein gültige Zeitvorstellung gewesen ist. Vielmehr ist anzunehmen, daß zyklische und lineare Zeitvorstellungen - man könnte als dritte noch die "oszillatorische" Zeitvorstellung nennen, die sich am HellDunkel-Wechsel von Tag und Nacht ausgebildet haben könnte 18 16 17
18
Maltz, S. 87. Evans-Pritchard, S. 94. Vgl. Leach.
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5. Systemzeit und Umweltzeiten
nebeneinander und miteinander verbunden existiert haben, wobei der linear verlaufende menschliche Alterungsprozeß als Grundmodell für die lineare Zeitvorstellung gedient haben wird l9 • Es handelt sich also beim Übergang zu einer stärker linear betonten Auffassung von Zeit nicht um einen grundlegenden, alte Vorstellungen umstürzenden Umbau der Zeitvorstellung, sondern um eine Schwerpunktverschiebung. "Cyclical and linear patterns and systems of time reckoning occur in all human societies, but the emphasis differ20 ." Die natürliche Zeit "versorgt" den Menschen also wesentlich mit wiederkehrenden, regelmäßigen zeitlichen Ordnungen, die intern natürlich jeweils noch linear differenziert werden können. "It is the rhythmic recurrence of pattern that permits the sense of structure and the sense of temporal unit. Recurrent sequences may determine the temporal units that form boundaries of action21 ." Die kosmischen und irdischen Periodizitäten bieten natürliche Referenzrahmen zur zeitlichen Lokalisierung anderer Veränderungen und sie fungieren als Mittel der Zeitrechnung 22 • Tag und Nacht. - "Perhaps the most nearly universal, and in a sense most "natural" temporal unit combines physiology and astronomy: the physiologie al need for sleep and the earth's rotation to produce day and night23 ." Diese doppelte Umweltstruktur hat besonders nachdrücklich auf die soziale Organisation der Zeit eingewirkt, teils verstärkt dadurch, daß der Hell-Dunkel-Wechsel noch als symbolischer Rahmen für menschliche und übermenschliche Aktivitäten diente. So ist die Nacht verbunden mit allerlei bösartigen Handlungen wie Hexerei und Verbrechen, bzw. mit Verhaltensweisen, die eine gewisse Distanz zur Realität haben, wie z. B. das Träumen. Das Tageslicht macht derartigem Treiben ein Ende, der Tag ist die Zeit für die produktiven Tätigkeiten. Für die Synchronisationserfordernisse und für die Messung der Dauer sozialer Handlungen reichte diese grobe Einteilung von Tag und Nacht nicht aus. So finden wir denn auch universell verbreitet eine weitere Unterteilung des Tages nach dem Stand der Sonne: Morgendämmerung, Mittag, etc.; der Gebrauch von Sonnenuhren konnte die Zeitmessung nach dem Sonnenstand später weiter differenzieren und formalisieren. Goody nennt vor allem ökonomische, rituelle, militärische und politische Interessen, die an der Entwicklung präziser Meßinstrumente beteiVgl. dazu: Goody, Time, S. 21 u. Leach, S. 393. Goody, Time, S. 31. 21 Moore, W. E., Man, Time, and Society, New York, London 1963, S.16 (im folgenden zitiert als Man). 22 Fraisse, P., Psychology of Time, New York 1963, S.2 (im folgenden zitiert als Psychology). 23 Moore, Man, S. 5. 19
20
5.1 Soziale Systeme und ihre natürliche Umwelt
141
ligt waren24 • Der Gebrauch von Uhren, insbesondere natürlich die Einführung der mechanischen Uhr, erlaubte präzisere Synchronisation von Prozessen und eine Einteilung der Tage und Nächte in gleichgroße Abschnitte, unabhängig von ihrer jeweiligen Länge. Damit hatte man die soziale Zeit zum Teil vom natürlichen Hell-Dunkel-Wechsel unabhängig gemacht, denn die Einteilung des Tages erfolgte nicht mehr aufgrund äußerer Bedingungen, sondern aufgrund sozialer und kultureller Vorschriften. "When the artificial instruments of such co ordination were invented (watches and c10cks of various types) they began to be used as such means (of time coordinating, WB) more regularly than the natural phenomena25 ." Während also die zeitliche Ordnung von sozialen Aktivitäten in einfachen Gesellschaften noch eng an die Natur und ihren Tages- bzw. Jahreszeitenrhythmus gebunden ist, verlangt der Übergang zu komplexeren sozialen Organisationsformen die Einführung präziserer Meßmethoden. Anders als ich ist Sorokin der Meinung, daß auch die Tageseinteilung und -unterteilung auf rein sozialzeitlichen, d. h. strukturell oder normativ bestimmten Rhythmen beruht. Er leugnet also den Einfluß der natürlichen Rhythmen und räumt allein den sozialen Aktivitäten selbst strukturierende Wirkung ein. Diese strukturelle Bestimmtheit trifft sicherlich für einen Teil der sozialen Aktivitäten zu, wie auch Evans-Pritchard in seinem Konzept der "structural time" angedeutet hat26 , doch keineswegs für alle oder auch nur den überwiegenden Teil. Sorokin kommt zu seiner Behauptung, weil er fälschlicherweise natürliche Zeitrhythmen und mathematisch-quantitative Zeiteinteilungen gleichsetzt. Es stimmt, wenn er behauptet: "A uniform and quantitatively equal mathematical hour was practically unknown in the past27 ." Doch kann man dies nicht als Argument gegen die Existenz natürlicher Referenzpunkte für soziale Zeitorientierungen verwenden, wie er es tut. Außerdem ist nun gerade die Stunde keine natürliche Einheit des Tages, sondern eine soziale Konvention. In ähnlicher Weise wie bei der Tageseinteilung argumentiert Sorokin auch hinsichtlich der Natureinheiten von Monat und Jahr. Monat und Jahr. - Sorokin ist zuzustimmen, wenn er Monat und Jahr "as a numerical quantity"28 als eine recht spät auftretende Errungenschaft bezeichnet und stattdessen die Wichtigkeit des jahreszeitlichen Wandels der Natur und der entsprechenden sozialen Aktivitäten betont. Doch scheint er m. E. die sozialen Tätigkeiten in ihrer zeitstrukturierenden Wirksamkeit zu überschätzen, denn einmal können sie nicht
Goody, Time. Sorokin, S. 173. 26 s. o. und vgl. Evans-Pritchard, S. 94 ff. 27 Sorokin, S. 177. 28 Ebd. 24
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5. Systemzeit und Umweltzeiten
zugleich als Maß und als zu Messendes fungieren, bedürfen also der Orientierung an stabilen externen Periodizitäten, zum anderen hängen sie gerade im Fall archaischer Gesellschaften, z. B. im Ackerbau und in der Jagd, von den natürlichen Umweltgegebenheiten ab, die von diesen Sozialsystemen keineswegs gesellschaftlich kontrollierbar sind. "Mit anderen Worten: Zeitstückelung und daraus folgend Zeitrechnung, als Zählung der Wiederkehr gleicher Vorgänge, mußte zunächst an leicht zu beobachtende und ihrer Dauer nach leicht zu überschauende und zu identifizierende Vorgänge gebunden sein. Diese boten sich vor allem in zwei Erscheinungsgruppen der menschlichen Umwelt an .... : nämlich einmal in den astronomischen Vorgängen ... , und zum zweiten in den von diesen abhängigen, regelmäßig wiederkehrenden Licht-, Klimaund Vegetationsverhältnissen auf der Erde 29 ." Entsprechend der oben dargestellten Vorstellungen über die zeitliche Autonomie sozialer Systeme (vgl. Kap. 4.2.1) heißt das nun nicht, daß diese Naturzyklen etwa den Zeit ab lauf der archaischen Gesellschaften determiniert hätten, vielmehr haben Gesellschaften diese natürlichen "Zeitgeber" als Rejerenzpunkte zur Entwicklung eigener sozialer Rejerenzsysteme benutzt und sie entsprechend ihrer praktischen und rituellen Bedürfnisse ausgewählt. Dennoch darf man nicht, wie Sorokin, den Einfluß der zeitlichen Ordnung der Natur auf soziale Systeme zu gering einschätzen. Die Verschränkung natürlicher Vorgänge mit sozialen Aktivitäten und ihr jeweiliger Einfluß auf die Ausformung der Zeitstruktur in sozialen Systemen wird im folgenden am Beispiel des Monats und des Jahres sehr deutlich. Der Monat und das Jahr finden sich als Zeiteinteilung in allen Gesellschaften, doch basieren sie zunächst nicht auf astronomischen Periodizitäten, also dem Mondmonat und dem Sonnenjahr, sondern werden entsprechend des saisonalen Wandels der natürlichen Lebensbedingungen und den damit verbundenen sozialen Aktivitäten ganz unterschiedlich aufgeteilt. "Some people devide our year into two, so me into three, four, five, eight or more seasons or months, according to their mode of life and its geographical surroundings ("Wet and dry", "Cold and warm" ... )30." In Nilssons Buch über "Primitive Time-Reckoning" finden sich Darstellungen des Zusammenhangs von Zeitrechnung und den Formen der Subsistenzsicherung. So finden wir bei ackerbauenden Völkern die Einteilung des "Agricultural Year"31 in einzelne Monate oder Jahreszeiten, die dem Wachstumsverlauf der angebauten Pflanzen entsprechen. Nilsson gibt als ein Beispiel die reisbauenden Bahau auf Borneo, die das Jahr in acht Perioden einteilen: "the clearing of the Brandt, v., S. 721. Sorokin, S. 177. 31 Ebd. 29
30
5.1 Soziale Systeme und ihre natürliche Umwelt
143
brushwood (... ), the felling of the trees, the burning of the wood felled, the sowing or celebration of the seed-time festival, the weeding, the harvest, the conclusion of the harvest, the celebration of the new riceyear32 ." Nicht immer war die Zuordnung zum Sonnenjahr gegeben, so daß die Bezeichnung und Monatszählung unregelmäßig waren. Eine von YermolZojf gesammelte Aufstellung von Monatsnamen in den slawischen Sprachen macht m. E. den Zusammenhang von sozialer Zeit und sozialen Aktivitäten mit den jeweils dominierenden natürlichen Gegebenheiten deutlich: 1. Achtzehn Namen stammten aus dem Bereich der Pflanzenwelt, d. h. der angebauten Früchte und ihren jahreszeitlichen Veränderungen: so Heu-Monat, Eichen-Monat u. ä.
2. Neun Namen stammten aus dem Tierreich, verbunden mit dem Ackerbau und den Subsistenzmitteln; 3. Sieben Namen wurden entsprechend allgemeinen Naturerscheinungen gebildet, wie Wintermonat, Schnee-Monat oder Trocken-Monat; 4. Zehn Namen wurden nach periodisch wiederkehrenden Handlungen benannt, so der Monat des Säens, des Pflügens, der Sichelmonat, etc. 5. Fünfundzwanzig Namen waren religiösen Ursprungs oder hatten ihn von Gebräuchen und Festen, wie Weihnachtsmonat u. a. Nach Nilsson bieten Untersuchungen von Monatsnamen anderer Völker gleiche Ergebnisse. Sorokin zieht aus dieser Liste folgenden überraschenden Schluß: "All these divisions have little in common with natural phenomena as such, are little related to them, and are little due to them in their origin and nature 33 ." Abgesehen von 5. legt m. E. keiner der Punkte diesen Schluß nahe. Im Gegenteil, die Jahreseinteilung, nicht im Sinne einer quantitativ exakten Einteilung nach astronomischen Berechnungen, wird doch wesentlich zeitlich strukturiert durch den Wechsel der äußeren Lebensbedingungen34 • Gerade wenn man die Lebensweise der primitiven Völker als Beispiel wählt, so ist doch deutlich, daß ihre wesentlich von Sammeln, Ackerbau und Jagd bestrittene Subsistenzsicherung noch stark von externen Periodizitäten bestimmt 32 Nilsson, M. P., Primitive Time-Reckoning, London, Paris, Oxford, Leipzig 1920, S. 68. 33 Sorokin, S. 179. Ähnlicher Auffassung scheinen Nilsson und EvansPritchard (zum Teil s. S. 95 und 102) zu sein. Dagegen sprechen Orme, J. E., Time, Experience, and Behavior, London o. J.: "Devision of the day and year are intimately connected with the characteristic natural and human events of the period. " (S. 44) und Hallowell, S. 656 und 669. 34 Vgl. die jährliche Nilüberschwemmung als Referenzpunkt für die Jahreszählung in Ägypten. Otto, E., Zeitvorstellungen und Zeitrechnung im Alten Orient, in: Studium Generale, 19, 1966, S. 743 - 751, S. 746.
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5. Systemzeit und Umweltzeiten
ist, denen gegenüber soziale Aktivitäten sehr viel weniger eigene Strukturen etablieren konnten. Die uneinheitliche Länge der Monate spiegelt deutlich ihren "natürlichen" Ursprung, denn die Einführung einheitlicher Tages- und Stundenlängen, einheitlicher Monats- und Jahreslängen ist eher ein Zeichen für das Heraustreten aus den übermächtigen Bindungen an die äußere Natur und die Etablierung rein sozio-kulturell begründeter Zeiteinteilungen. Abgesehen von den natürlich induzierten Perioden gibt es, wie oben (s. Evans-Pritchard: "structural time" gegenüber der "oecological time") schon gesagt, auch rein sozial begründete Zeitperioden und Zeitpunkte: da sind vor allem zu nennen Markttage oder -wochen, Ruhetage, jährlich wiederkehrende Messen, Fastenzeiten und religiöse Feste35 • Typischerweise sind diese sozialen Zeitbestimmungen nicht auf Tätigkeiten bezogen, die sich mit der äußeren Natur zu beschäftigen haben und deshalb auch von ihr ihren Rhythmus vorgeschrieben bekommen, sondern auf das "timing" sozialer Beziehungen, sei es zu den Stammes mitgliedern, den Nachbarstämmen oder den Göttern. Arbeit ist - um die Habermas'sche Unterscheidung hier aufzugreifen - also wesentlich durch externe Periodizitäten bestimmt, während Interaktion nach sozial konstituierten Zeitplänen geregelt wurde; dies ist meine These gegen Sorokin. Die sozialen "Zeitpunkte" unterbrechen den periodischen Ablauf von Monaten und Wochen. "For many social purposes time is reckoned not by regular units of measurement but by the major festivals that break up the continuity of the passage36 ." Abgesehen von den Festen, die das Ende oder den Anfang von Ackerbau-Perioden begleiten, z. B. Erntedankfeste, die noch sehr an den natürlichen Rhythmus der Jahreszeiten gebunden sind, gelten die anderen Feste, Märkte etc. dem sozialen Austausch von Waren, Frauen etc. (z. B. das Pottlach), dem Vollzug von sozialen Übergängen z. B. der Initiation, der Streitschlichtung innerhalb der Gruppe wie auch zwischen Nachbargruppen, der Festigung politischer Bündnisse, etc. Im Laufe der evolutionären Entwicklung der Gesellschaft hat mit zunehmender funktionaler Differenzierung (Arbeitsteilung) und Naturbeherrschung eine Loslösung der sozialen Zeitrechnung vom jahreszeitlichen Gang vor allem der pflanzlich-animalischen Umwelt stattgefunden37 • Damit folgt die Zeitorientierung nur der allgemeinen evolutionären Entwicklung, die in der Umkehrung der natürlichen Determination des Menschen durch seine leibliche und physische Umwelt zur kul35 s. dazu zahlreiche Beispiele bei v. Brandt, S. 726, Olympiade, JobelJahre, Agis-Periode, usw. 36 Goody, Time, S. 36. 37 So ist z. B. der Anteil der Bevölkerung, der im agrarischen Sektor tätig ist, stark geschrumpft. De Rudder berichtete von der Tendenz, Berufe zu vermeiden, die noch eine gewisse Anpassung an Naturzyklen fordern. B. de Rudder, Der Mensch im Jahreszeitenrhythmus, in: Studium Generale, 8, 1955, S. 776 - 782, S. 776.
5.1 Soziale Systeme und ihre natürliche Umwelt
145
turell-sozialen Überdetermination der Natur durch den Menschen geführt hat38 • Komplexere soziale Organisationsformen benötigen darüber hinaus auch eine Ausweitung der Zeiteinheiten. Die Entwicklung von Zeitrechnungsformen, die unabhängig von dem jahreszeitlichen Wandel der physisch-organischen Umwelt sind, wurde notwendig. Man griff dabei zunächst auch wieder auf Periodizitäten der äußeren Natur zurück, doch dieses Mal auf die stellare Natur, d. h. auf den Lauf der Sonne und des Mondes, die einen präziseren und universaleren Rahmen für eine Zeitrechnung boten als die regional und zeitlich schwankenden und mit sozialen Handlungen verknüpften Vorgänge in Vegetation und Tierwelt39 • Das Problem der Inkommensurabilität von Sonnenjahr und Mondmonat (und Tages- und Nachtlänge) wurde teils durch die Einführung nicht-lunarer Monate, die von einer Länge von zehn Tagen bis zu etwas weniger als einem Jahr dauern konnten und können, teils durch das Fallenlassen des Sonnenjahres (im Islam) gelöst, d. h. durch einen teilweisen Verzicht auf natürliche Periodizitäten40 • Einen wichtigen Schritt zur weiteren Formaliserung des Kalenders bedeutete die Entwicklung der Schrift, die Zeitzählung und Benennung nach Jahren wurde möglich; damit wurde die zyklische Naturzeit durch einen historisch-linearen Zeitverlauf ergänzt bzw. in ihrer Bedeutung herabgesetzt. Weiterhin ermöglichte die Schrift eine Synchronisation der Zeit zwischen entfernten Gesellschaften (z. B. eine Voraussetzung für Fernhandelsbeziehungen), die Koordination militärischer und administrativer Maßnahmen über größere Räume hinweg. "Indessen mußte jeder höhere Kulturzustand doch auch das Bedürfnis nach größeren Zeiteinheiten, d. h. in erster Linie nach Mehrfachen von Jahren, empfinden - sei es aus praktischen, politischen oder administrativen oder historischen, sei es wiederum auch aus kultischen GrÜnden41 ." Die Entwicklung von Kalendern - und ihre heute fast weltweite Geltung -, die Festlegung der Zeitgrenzen (Internationale Datumslinie, 1884), die Benutzung von Uhren hat heute den Abstand von den natürlichen Periodizitäten und ihrem strukturierenden Einfluß weiter vergrößert. Zwar sind jahreszeitlich wechselnde klimatische Bedingungen auch weiterhin wirksam, doch sie geben nur noch einen ganz allgemeinen Rahmen für jahreszeitbedingte soziale Aktivitäten - wie Baden, Skilaufen, Reisen etc. 38 Vgl. dazu ausführlich und kritisch: Hawley, A., Human Ecology, New York 1950, S. 58 f. 39 Zu den Bedingungen, die ein Kalender erfüllen muß: accurate, regular and widely known; Goody, Time, S. 35. 40 Dazu ausführlich: v. Brandt, S. 722 ff.; v.Otto, S.747. Am Ende der Synchronisationsversuche stand eine rein rationelle Lösung, "die das Relikt des Mondkultus gänzlich von der ursprünglichen astronomischen Bindung befreite, d. h. die den Monat aus einer rein naturgesetzlichen zu einer rein menschengesetzlichen Zeiteinheit umformte" (v. Brandt, S. 724). 41 v. Brandt, S. 725.
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5. Systemzeit und Umweltzeiten
- und die daran angeschlossenen Industrien ab. Studien über den Einfluß der physisch-organischen Umwelt auf unser gegenwärtiges soziales Leben liegen m. W. kaum vor, so daß unsere Schlüsse weitgehend aufgrund verbreiteter entwicklungsgeschichtlicher Beobachtungen wie der Zunahme der technischen Naturbeherrschung, der Verschiebung der Arbeitskräfte aus dem primären und sekundären Sektor in den tertiären, in dem eine direkte Auseinandersetzung mit der Natur gewöhnlich nicht mehr stattfindet, der Verstädterung u. ä. gezogen werden mußten. 5.2 Soziale Systeme und der menschliche Organismus
"Alle biologischen Eigenschaften von Menschen bilden dessen Organismus. Biologische Grundbedürfnisse, ... , die der Anpassung an bestimmte Umweltgegebenheiten dienen, sind typische Eigenschaften von Menschen als biologischen Organismen!." Nach Parsons muß die "Erörterung der Beziehung des Sozialsystems zu seinem organischen Fundament ... bei den physischen Erfordernissen des organischen Lebens einsetzen"2. Diese organisch-leibliche Umwelt des Sozialsystems setzt dem personalen wie dem sozialen Zeitbewußtsein bestimmte, schwer überschreitbare Grenzen, die in den genetisch fixierten Mustern des Gattungstypus liegen. "The sense of time and its constraints are thus intrinsic to the human condition. The units by which it is devided are always likely to have so me biological or environmental basis3 ." Neben diesem Gesichtspunkt der Fundierung und der Limitierung der Kontingenz der sozialen Zeit durch den Organismus, müssen wir auch die umgekehrte Einflußrichtung vom sozialen System auf den Organismus im Sinne der "Conditioning to time"4, z. B. in einer historisch erfahrungsbedingten Prägung des Nervensystems, als einen Lernvorgang seitens des Organismus erfassen. Dabei ist nicht gemeint, daß sich die genetische Konstitution selbst durch Umwelteinflüsse ändern würde, "vielmehr enthalten die genetischen Bedingungen ein allgemeines Orientierungsmuster, das sich dann zu spezifischen anatomischen Strukturen, physiologischen Mechanismen sowie bestimmten Verhaltensschemata im Leben des Organismus voll ausprägt"5. "The first level of adaptation is biological ... Whenever the changes to which we are exposed have some measure of regularity, they give rise, through conditioning, to synchronous changes in our organism6 ." Folgenden zwei 1 2 3
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6
Münch, Theorie, S. 37. Parsons, T., Gesellschaften, Frankfurt a. M. 1975, S. 29. Moore, Man, S. 7. Fraisse, Psycho!ogy, S. 11. Parsons, Zur Theorie, S. 122. Fraisse, Psycho!ogy, S. 11.
5.2 Soziale Systeme und der menschliche Organismus
147
Fragekomplexen ist nachzugehen: a) welche zeitlichen Rhythmen und Prozesse des Organismus wirken sich strukturierend und begrenzend auf das soziale Handeln aus?; b) wie formbar ist das durch die genetische Konstitution bedingte allgemeine organische Orientierungsmuster seitens psychosozialer Einflüsse? Ich werde beide Komplexe nicht getrennt nacheinander behandeln, sondern in jedem der folgenden Gliederungspunkte jeweils gemeinsam. Ich schließe mich in der Gliederung dieses Kapitels Aschoff an, der für die Analyse von Zeitstrukturen in der Biologie drei Problemkreise angibt: 1. "Das Werden des Organismus in Ontogenese und Phylogenese:
2. "Das Problem der subjektiven Zeit; es betrifft Fragen nach dem Wesen des "biologischen Moments" und der "erlebten Zeit" .... " 3. "Der zeitliche Ablauf einzelner biologischer Vorgänge7 ."
ad 1. - In der Biologie der Zeitstrukturen in Organismen nimmt man eine psychogenetische Höherentwicklung der Fähigkeiten zur Zeitwahrnehmung und -kontrolle an. "It is obvious that an increasing development and complexity of time factors occurs as an aspect of general human development. B" Unumstritten ist also die Evolution des Zeitbewußtseins9 , doch ist umstritten, ob diese Entwicklung auf der Evolution von spezifischen Gehirnstrukturen beruht oder auf der Herausbildung des Selbst oder des Ego; letztere Position wird z. B. von WaHace und Rabin vertreten: "Attempts to localize the 'time sense' cortically or in any functional physiological system of the body have so far received little experimental support. There appears to be more evidence which points toward the development of temporal experience which paralleIs the evolvement of self or ego 10 ." Sie räumen also psycho-sozialen Einflüssen einen größeren Effekt ein als die Vertreter der These von der evolution ären Entwicklung des Gehirns. Letztere führen die Evolution des Zeitbewußtseins zurück auf Entwicklungen von spezifischen Gehirnpartien oder im zerebralen Cortexl l • Der wichtigste evo7 Aschoff, J., Zeitliche Strukturen biologischer Vorgänge, in: Nova Acta Leopoldina N.F., Bd.21, Nr.143, 1959, S. 147 - 177, S. 147 (im folgenden zitiert als Zeitliche Strukturen). Barme, S. 33. 9 Vgl. Schaltenbrand, G., Consciousness and Time, in: Annals of the New York Academy of Science, Vol. 138, 1966/67, S. 632 - 645, S. 638. 10 Wallace, M. / Rabin, A. 1., Temporal Experience, in: Psychological Bulletin, 57/3, 1960, S. 213 - 236, S. 231. 11 "Our spatial conceptions are older than those of time. This is parallel with the evolution of the brain, which in primates already has an enormous occipital and parietal lobe whereas the temporal lobe with its definite relation to audition and time concept is underveloped." (Schaltenbrand, S.638.)
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5. Systemzeit und Umweltzeiten
lutionäre Schub für die Entwicklung des Zeitbewußtseins scheint die Vergrößerung des Gehirns von 1000 cm3 auf 1400 cm3 im mittleren Pleistozen gewesen zu sein, wobei vor allem die Gehirnbezirke zur Steuerung manueller Tätigkeiten überproportional zugenommen haben. "The increase in size seems to be directly associated with the use of tools and speech, such usa ge itself being related to increased memory and planning ability l2. Es ist nun die Frage, ob die Sprache, die ::lern Menschen die symbolische Behandlung von nicht gegenwärtigen Gegenständen und Ereignissen erlaubt und damit eine Ausweitung des Zeithorizonts ermöglicht, und das expandierende Zeitbewußtsein unabhängige Aspekte in der gleichen Entwicklungsrichtung sind, oder ob eine Kausalrelation in einer Richtung besteht. Orme nimmt aufgrund der Gehirnvergrößerungen an, daß diese eine Erweiterung der Zeitwahrnehmung und des Zeitbewußtseins hervorgerufen haben, die ihrerseits die Entwicklung symbolischer Prozesse erst möglich gemacht hat l3 . Die organische Evolution hätte damit die Grundlagen geschaffen für ein durch Sprache, Werkzeuggebrauch und später durch die Schrift enorm erweitertes und modifizierbares Zeitbewußtsein, die Grundlage für personale und soziale Ausformung des genetisch fixierten Orientierungsmusters. Die ontogenetische Entwicklung ist zunächst gekennzeichnet durch ein Vorherrschen organischer "Programme", seien es Essenaufnahme und -ausscheidung, Wachen und Schlafen, Puls und Atmung, seien es bestimmte Wachstumskurven z. B. für Körpergröße, für Intelligenz etc. "The supremacy of human physiology as a principal focus of action, almost complete with the infant, diminishes in the process of reaching maturity, ...14" Die Sozialisation des Kleinkindes besteht zunächst vor allem darin, die zeitlichen Anforderungen des Organismus an die Umwelt (hier meist die Eltern) in eine, zumindest teilweise, Anpassung des Organismus an seine soziale Umwelt "by social constraints of 'proper' tim es ... 15." umzuwandeln. Die zyklischen organischen Anforderungen werden sozial überformt und nach personalen und sozialen Zeitplänen abgewickelt, dabei sind natürlich gewisse organische Grenzen nicht überschreitbar, ohne das organische Substrat zu schädigen oder zu zerstören. Diese soziale überformung gilt nicht in gleicher Weise für alle zyklischen organischen Prozesse, einige wie z. B. Atmung oder Puls12 Orme, S. 39. Während retentionale und protentiale Prozesse im phänomenologischen Wortsinn schon früh in der Evolution auftreten, stellt die Wiedererinnerung schon eine höherentwickeIte Form des Zeitbewußtseins dar. (SchaItenbrand, S. 638 - Diese Annahme basiert auf neurophysiologischen Befunden.) 13 Vgl. dazu: Orme, S.40. 14 Moore, Man, S. 16. 15 Moore, Man, S. 15.
5.2 Soziale Systeme und der menschliche Organismus
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schlag sind sozial weitgehend unkontrollierbar, andere wie Nahrungsaufnahme, Schlaf etc. sind weitergehend überformbar 16 • Auf diese zyklischen Prozesse komme ich unter (3) noch zurück. Der Organismus als ganzer bewegt sich, trotz aller zyklischen und wiederaufbauenden Regenerationsprozesse, unumkehrbar in der Zeit vorwärts, auch wenn im Lebenszyklus die vergangene Zeit nicht in allen Teilen gleichmäßige Alterungsprozesse bewirkt1 7 • Nach Strehler ist der Alterungsprozeß ("cellular aging") einer der am wenigsten untersuchten Bereiche in der Biologie. Die genetische Basis des Alterns besteht darin, daß die Gene den Entwicklungsprozeß von Individuen steuern, ihn jedoch nicht unbegrenzt aufrechterhalten können18 • Die ontogenetische Entwicklung folgt einem nach Sequenzen geordneten Programm (- "maturation, learning and aging")19, in dem bestimmte frühere Phasen Voraussetzung sind für folgende. "If this sequential order is broken by growth at the wrong time or rate, abnormalities result20 ." Diese Programme legen keine absoluten Zeitpunkte fest, sondern sind nach früher/später geordnet, d. h. sie lassen zur Bestimmung der konkreten Zeitpunkte individual-genetische und umweltbedingte Einflüsse zu. Die organisch bedingten Veränderungen im Lebenszyklus des Menschen geben ihm eine spezifische zeitliche Struktur, die allerdings durch psycho-soziale Faktoren und Strategien bis zu einem gewissen Grad verändert werden kann, so z. B. wenn die Abnahme der Lernfähigkeit mit zunehmendem Alter kompensiert wird durch größere Motivation und bessere Lernmethoden. Die Position des Individuums im Lebenszyklus, sein Alter also, "set limits on social definitions of position and role but never adequately account for the actual cultural definitions and practices 21 • Zahlreiche soziale Rollen und Gruppenzugehörigkeiten sind altersabhängig und es wäre interessant genauer zu untersuchen, wieweit und in welcher Form die "organische Wachstumszeit"22, die physi16 "The physiological time demands pers ist throughout life, even though partially modified and often greatly elaborated." (Moore, Man, S.15.) 17 "Parts of the body may oeeasionally even exhibit different direetions in time." (Orme, S.129.) 18 Strehler, B. L., Cellular Aging, in: Annals of the New York Academy of Seience, Vol. 138, 1966/67, S. 661 - 679, S. 666 vgl. dazu ausführlich: Strehler / Sacher und Schaltenbrand. ,,(1) aging in biologie al systems is a eonsequenee not of metabolie activity per se but rather of the produetion of entropy eoneomitant with metabolie aetivity, and (2) the principal faetor governing the rate of entropy production in highly evolved organisms ... is the size and funetional capa city of the overall information and eontrol system." Sacher, G. A., The Complementary of Entropy. Terms for the TemperatureDependence and Aging, in: Annals of the New York Aeademy of Seien ce, Vol. 138, 1966/77, S. 680 - 712, S. 680 - 68!. 19 Orme, S. 127. 20 Orme, S. 129. 21 Moore, Man, S. 55. 22 Aschoff, Zeitliche Strukturen, S. 147.
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5. Systemzeit und Umweltzeiten
kalische Zeit (also die Altersbestimmung anhand von Jahren) und die sozialen Lebensphasen synchronisiert sind, bzw. wie sie ineinander transformiert werden, z. B. in den "rites de passage", in der Festlegung von Altersgrenzen für Ausbildung und Pensionierung, im Heiratsalter etc. Sorokin weist mit Recht auf die Probleme hin, die sich daraus ergeben, daß man zur Festlegung dieser sozial relevanten Zeitgrenzen die physikalische Zeit und nicht die davon abweichende physiologische Zeit heranzieht, denn die Alters- und Entwicklungsprozesse verlaufen nicht für jedes Individuum und in jedem Alter gleichschnell23 . Für die Individuen sowie für einfache Sozialsysteme, die auf eine gemeinsam erlebte Geschichte angewiesen sind, ergeben sich aus dem irreversiblen Ablauf der organischen Zeit Grenzen, die einmal ihre Existenz insgesamt betreffen, die zum anderen im sozialen und personalen Leben Probleme der Zeitknappheit und der Wahl des richtigen Zeitpunkts stellen. Die Irreversibilität der organischen Zeit wirkt hier noch selektiv auch für den Bereich sozialer Möglichkeiten; wie Luhmann sagt, eliminiert nicht die vorläufige sinnhafte Negation die nicht-gewählten Möglichkeiten, sondern der irreversible Zeitverlauf24 • Andererseits sind auch die sozialen Einflußmöglichkeiten auf die Phasenlänge organischer Zeiten nicht unbeträchtlich, wie die Erhöhung der durchschnittlichen Lebenserwartung durch hygienische, technische und medizinische Maßnahmen zeigt. Es scheint dabei so, daß die Anordnung der Phasen selbst genetisch programmiert und nicht veränderbar ist, diese durch innere Notwendigkeit verknüpfte Reihenfolge biologischer Vorgänge nennt Aschoff "zeitliche Struktur" oder "Zeitgestalt"25, daß aber die Phasenlänge und damit der Zeitpunkt ihres Auftretens im Lebenszyklus sozialer Beeinflussung und Änderungsmöglichkeit unterliegt.
ad 2. - Das Moment der subjektiven oder der erlebten Zeit, das ich ausführlicher in dem Abschnitt über die psychische Zeit (5.3) behandeln will, besitzt anscheinend eine physiologische Basis, die sich je nach der Gattung des Organismus und je nach seinem Alter auf das Zeiterleben auswirkt. So nimmt man in der Biologie an, daß die biologische Eigenzeit, z. B. die Lebenszeit und ihre Phasen, ein artindividuelles Zeitmaß darstellen. "Die Annahme liegt nahe, daß alle Arten, trotz z. T. erheblicher Unterschiede in der objektiven Lebensdauer, ein "gleichlanges" Leben haben. In ihrer Zeit vollendet sich ihr Leben, ... 26." Die unterschiedlichen objektiven Zeitlängen beruhen auf einem "je verschiedenen Lebenstempo" . "Ein langlebiges, aber langsamlebiges Tier 23 Sorokin, S. 162 - 164. 24 Luhmann, Sinn, S. 36. 25 Aschoff, Zeitliche Strukturen, S. 147. 26 Schumacher, W., Untersuchungen zur Psychopathologie des Zeiterlebens, Habil. Schrift, Gießen 1966, S. 8.
5.2 Soziale Systeme und der menschliche Organismus
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hat - ... - subjektiv kein längeres Leben als ein kurzlebiges, aber schnellebiges27 ." Auch das Alter des Organismus kann einen Einfluß auf das Zeiterleben haben, da zahlreiche Prozesse wie die Heilung von Wunden, die Bewegung der Glieder, etc. verlangsamt ist. Insgesamt scheint die Zeit im Alter als schneller vergehend erlebt zu werden als in jüngeren Jahren. "Thus, when we take physiological time as a unit of comparison, physical time no longer flows uniformly. From this standpoint, one year of clock time for a child ... physiologically, is much longer physiologically and psychologically than for his parents, or for old persons 28 ." In diesem Bereich zwischen physiologischer, personaler und sozialer Zeit fehlt es m. W. bisher völlig an Forschungsarbeiten. ad 3. - Neben den einmaligen, zeitlich irreversiblen Prozessen der Ontogenese und der Phylogenese des menschlichen Organismus wirken besonders die zyklischen Abläufe biologischer Vorgänge ordnend und rhythmisierend auf das soziale Leben ein. Derartige physiologische Zeitmessungsvorgänge, deren Periodenlängen höchst unterschiedlich sein können, finden sich bei primitiven Einzellern wie bei den höchstentwikkelten Wirbeltieren; ihnen wird in der biologischen Evolution ein hoher Selektionswert zugesprochen29 • Auch Aschoff betont den Selektionsvorteil zyklischer Prozesse, sie sind a) ökonomischer, b) sie ermöglichen die Synchronisation mehrerer Vorgänge und c) sie ermöglichen rechtzeitige Reaktionen auf Umweltveränderungen, noch bevor diese eintreten30 • Die physiologische Uhr funktioniert nicht nur als periodische Kippschwingung - wie die Sanduhr -, um den Organismus mit dem Tag-Nacht-Rhythmus zu synchronisieren, sondern diese Uhr kann auch wirklich zur Chronometrie genutzt werden, diese Zeitmessung geschieht auf der Basis von Schwingungen31 • Die rein endogen bestimmten Rhythmen, die mit hohen Frequenzen ablaufen, für die es in der natürlichen Umwelt keine Korrelate gibt und die sich überwiegend auf Einzelstrukturen und einzelne Funktionskreise des Organismus beziehen32 , wie z. B. die Impulsfolgen des Nervensystems, Kreislaufrhythmen, Puls, Atmung etc. können wir hier beiseite lassen, da ihre Spezialisiertheit und ihre hohe Frequenz kaum sozial relevante externe Auswirkungen erwarten lassen, wie sie umgekehrt auch gegenüber externer Beeinflussung weitgehend stabil sind. Anders ist das bei den "niederfrequenten Schumacher, S. 8 - 9. Sorokin, S. 164. 29 Vgl. dazu: Bünning, E., Mechanismus und Leistungen der physiologischen Uhr, in: Nova Acta Leopoldina NF Bd.21, Nr.143, 1959, S. 179 -195, S. 180 (im folgenden zitiert als Mechanismus). 30 Aschoff, Zeitliche Strukturen, S. 148 - 169. 31 Bünning, E., Die physiologische Uhr, Berlin, Göttingen, Heidelberg 1963, S. 1 - 2 (im folgenden zitiert als Uhr). 32 Vgl. dazu: Aschoff, Zeitliche Strukturen, S. 151. 27
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Periodizitäten"33 des Organismus, der Tagesperiodik (die ca. 24 Stunden beträgt - circandianisch), der monatlichen, jahreszeitlichen und jährlichen Periodik. Auch die niederfrequenten Periodizitäten lassen sich noch einmal unterscheiden in rein endogene Prozesse, zu denen Aschoff den Menstruationszyklus - der meist mit der Mondperiode in Zusammenhang gebracht wurde und Anlaß zu rituellen Praktiken war - und Populationsschwankungen zählt34, und in umweltsynchrone Periodizitäten, die durch externe Einflüsse angestoßen werden, die aber ebenfalls endogen programmiert sind.
Die Tagesperiodik. Innerhalb von 24 Stunden ist der Organismus regelmäßigen Wandlungen unterworfen; am Menschen sind für über 40 Funktionen die tagesperiodischen Schwankungen näher untersucht35 • Danach besitzt auch der Mensch eine endogene Spontanfrequenz, die von den exogenen Periodizitäten abweicht, wenn sie nicht permanent extern angestoßen wird. Unter natürlichen Bedingungen wird aber diese Spontanfrequenz in ihrer Periodenlänge und ihrer Phasenlänge mit der Periodik der Umwelt synchronisiert. Die Umweltfaktoren, die diese Synchronisation bewirken, nennt Aschoff "Zeitgeber" . Bei der endogenen Tagesrhythmik wirken vor allem der Licht-Dunkel-Wechsel sowie der Wechsel ho her und niedriger Temperaturen in dieser Weise, beim Menschen fungieren darüber hinaus natürlich noch sozio-kulturelle Faktoren, wie Uhren, soziale Kontakte, Lebensgewohnheiten etc. als wichtige nicht-natürliche Zeitgeber. Auch hier gilt wieder, daß die biologische Periodik innerhalb gewisser Grenzen - "dem Ziehbereich"38 - durch externe, z. B. sozial determinierte Zeitgeber veränderbar ist, werden diese Grenzen jedoch überschritten oder fehlen zeitgebende Umweltreize, so macht sich z. B. die Wach-Schlaf-Periodik selbständig und folgt einer Spontanfrequenz. Bünning spricht von "Grenzen der Steuerungsfähigkeit" , die er bei einer Periodenlänge von weniger als sechzehn Stunden lokalisiert37 • D. h. auch wenn sich der Mensch heute weitgehend vom Hell-Dunkel-Zeitgeber auf soziale Zeitgeber umgestellt hat, wird damit nicht die endogene Periodik als solche ausgeschaltet, sondern nur die Phasen des Rhythmus verlegt, wobei das Zeiterfordernis für die Phasenverschiebung beim Menschen 11-16 Tage beträgt38 • Das Zusammenspiel endogener Zeitrhythmen und sozialer Zeit Ebd. Diese Schwankung von Tierpopulationen hat soziale Auswirkungen z. B. in den erzwungenen Migrationen von Jägervölkern - aufgrund des Mangels an jagdbarem Wild. 35 Vgl. Aschoff, Zeitliche Strukturen, S. 162. 36 Aschoff, Zeitliche Strukturen, S. 165. 37 Dazu findet sich bei Orme ein Beispiel: "In Spitzbergen tendierte unter fortgesetztem Tageslicht das Wach-Schlaf-Verhältnis dazu, je individuell konstant zu bleiben, unabhängig von der Länge des ,Tages' " (S.110). 38 Vgl. dazu Bünning, Uhr, S. 61 - 62. 33
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5.2 Soziale Systeme und der menschliche Organismus
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wird besonders im Fall der Nachtarbeit deutlich: Wie gerade nachgewiesen39, funktioniert die Phasenverschiebung, wie wir sie nach Kontinentalreisen kennen, auch bei fortgesetzter Nachtarbeit nicht. Es wird vermutet, daß die Diskrepanz zwischen den vom vegetativen Nervensystem vorgegebenen Rhythmen und dem Rhythmus gesellschaftlichen Verhaltens eine Anpassung an die Phasenverschiebung verhindert. Erfolgreiche Phasenverschiebungen setzen also anscheinend eine Synchronisierung der Zeitgeber natürlicher und sozialer Herkunft voraus. Trotz der Benutzung von Uhren besitzt also der Mensch auch heute die Fähigkeit zur physiologischen Zeitmessung. Periodische Aktivitäten natürlicher und sozialer Art verwandeln unseren Körper in eine physiologische Uhr - Clauser spricht von der "Kopfuhr" -, die uns Orientierungspunkte gibt, an Hand deren wir die Tageszeit richtig abschätzen können4o • "Man spontaneously makes use of the temporal point of reference provided by his organism. We are conditioned to the rhythm of meals, sleep and so forth. Even amental defective is able to demand his me al at a set hour 41 ." Hier ist angedeutet, auf welche Weise die zeitliche Struktur biologischer Vorgänge, die einem Tagesrhythmus folgt, die Abfolge sozialer Rhythmen mitbestimmt: sie fungieren als Referenzpunkte für die zeitliche Orientierung innerhalb der natürlichsozialen Einheit eines Tages. Welcher Vorgang in einer Gesellschaft als Referenzpunkt ausgewählt wird, ist wiederum soziokulturell bestimmt; so ist nach Hallowell in den westlichen, urbanen Zivilisationen das Essen zu bestimmten Zeiten ein etabliertes Muster, das als nicht-formalisierter Referenzpunkt für zeitliche Orientierung dienen kann, während bei den Saulteaux - einer Jäger- und Fischergesellschaft - aufgrund ihrer regelmäßigen und räumlich weit auseinanderliegenden Tätigkeiten das gemeinsame Essen keine derartige Orientierungsfunktion übernehmen kann, stattdessen fungiert hier die Schlafperiode als Referenzpunkt 42 • Die Jahresperiodik. Abgesehen von der rein endogen induzierten Menstruation finden sich beim Menschen keine weiteren Rhythmen, die auf eine monatliche Periodizität hinweisen, anders ist es mit dem jahreszeitlichen Rhythmus. "Der zivilisierte Mensch, ... glaubt, den wechselnden Einflüssen von Winter und Sommer weitgehend entzogen zu sein. Dennoch ändern sich seine Funktionen von Monat zu Monat. Allerdings sind diese Wandlungen weit geringer, als wir sie etwa an 39 Jennrich, P., Schichtarbeit ist Dauerstreß, in: "Die Zeit" Nr. 31,28.7.1978, S.42, vgl. auch: N. N., Die Friedhofsschicht, in: "Der Spiegel", Nr.38, 18.9. 1978, S. 253 - 255. 40 Clauser, G., Die Kopfuhr, Stuttgart 1954. 41 Fraisse, P., Time. Psychological Aspects, in: International Encyclopedia of the Social Sciences, Vol. 16, ed. D. L. Sills, 1968, S. 28 ff., S. 28 (im folgenden zitiert als Time). 42 Vgl. dazu: Hallowell, S. 655 - 656.
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5. Systemzeit und Umweltzeiten
der Pflanzenwelt oder den kaltblütigen Tieren erleben43 ." Als Zeitgeber fungieren hier die jahreszeitlich wechselnde Tageslänge, Temperaturschwankungen oder Regenzeiten44 • Beschränkt man sich ganz auf die endogenen physiologischen Wandlungen im Verlauf eines Jahres und läßt mögliche externe Einflüsse wie die Schwankungen von Temperatur und Klima außer acht, so kann man diesen organischen Prozessen nur wenig Einfluß auf die Strukturierung der sozialen Zeit einräumen, wie auch umgekehrt der sozio-kulturelle Einfluß auf organische Prozesse wie z. B. die Veränderung der Zykluslängen bei der Menstruation im Verlauf eines Jahres, die Zunahme der Todeshäufigkeit bei Herzkrankheiten, Grippe und Lungenentzündung im Frühjahr, den jahreszeitlichen endokrinen Wandel, der zu winterlicher Inaktivität führt, etc. sehr gering zu veranschlagen ist 45 • Für die monatlichen, jahreszeitlichen und jährlichen Periodisierungen der sozialen Zeit dürften also die endogenen Prozesse des menschlichen Organismus weitgehend bedeutungslos gewesen sein, hier haben die Rhythmen der physischorganischen Umwelt das Muster abgegeben. 5.3 Soziale Systeme und psychische UmweItsysteme
Soziale Systeme bestehen nicht aus einer Mehrzahl von Personen, die miteinander in Beziehung stehen, sondern sie sind Handlungssysteme, d. h. Systeme aufeinander bezogener Handlungen1 . Personen oder psychische Systeme können deshalb nicht Teile von sozialen Systemen sein, sie werden aus diesem Grund bei Parsons zu einem Subsystem neben dem sozialen Subsystem im Rahmen des "Allgemeinen Handlungssystems" , bei Luhmann zu Umweltsystemen sozialer Systeme. Indem man sie in die Umwelt versetzt, gehen die personalen Systeme für die Theorie sozialer Systeme keineswegs verloren, nur wird die Relation von Sozialsystem und psychischem System nicht mehr als eine "Ganzes-Teil"-Beziehung, sondern als System/Umwelt-Beziehung gefaßt; allerdings als eine spezifische Form der System/UmweltBeziehung, die von Parsons und Luhmann als Interpenetration bezeichnet wird, wobei sich ihre Konzepte, gemäß ihrer abweichenden Systemkonzeption, nicht decken. Bei Parsons stehen die in der Kontrolhierarchie jeweils benachbarten Subsysteme des "Allgemeinen Handlungssystems" in Interpenetrationsbeziehungen. Interpenetration ist hier also der Oberbegriff für mehrere Systemrelationierungen: für das Verhältnis von Organismus und konAschoff, Zeitliche Strukturen, S. 167. Aschoff, Zeitliche Strukturen, S. 168. 45 Vgl. dazu bestätigend auch: Orme, S. 121 - 127. 1 Vgl. Luhmann, Handlungstheorie, S. 217.
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44
5.3 Soziale Systeme und psychische Umweltsysteme
155
trollierendem psychischen System (per Lernprozeß), für das von psychischem und kontrollierendem sozialen System (Internalisierungsprozeß) und für das von sozialem und kulturellem System (Institutionalisierung). Parsons versteht das vorliegende Verhältnis also als einen Fall von Interpenetration, im Prozeß der Internalisierung werden interne Außenweltmodelle aufgebaut und gelernt. D. h. im Sozialisationsprozeß werden die externen Komponenten des Sozialsystems zu einem internen Verhaltensprogramm im psychischen System geordnet. Das Sozialsystem und das psychische System sind jedoch nicht nur einseitig durch eine Kontrollhierarchie verknüpft, in der umgekehrten Richtung (energetische Hierarchie) bilden psychische Systeme "externe Innenweltkomponenten" des Sozialsystems, d. h. sie sind zwar Umweltsysteme, aber sie sind zugleich "die wichtigsten Komponenten der sozialen Situation des HandeIns" , z. B. indem sie für den motivationalen Input an psychischer Energie in das Sozialsystem sorgen2 • Luhmann faßt den Interpenetrationsbegriff anders, er spricht von Interpenetration, wenn "die Eigenkomplexität von Umweltsystemen als Unbestimmtheit und Kontingenz für den Aufbau eines mit ihnen nicht identischen Systems aktiviert wird3 • Für unseren Zusammenhang ist nun wichtig, daß bei Parsons und Luhmann - ungeachtet der Differenzen ihres Ansatzes gleichermaßen im Begriff der Interpenetration der Doppelaspekt von Adaption und Selbstregulierung psychischer Systeme gegenüber dem Sozialsystem gedacht wird. Bei Parsons sorgt die kybernetische Kontrollhierarchie für die Ausbildung homologer sozio-kultureller Muster im psychischen System, während in der entgegengesetzten Richtung, von der Persönlichkeit her, ein energetischer Input in das Sozialsystem als motivationale Komponente einfließt4 • Bei Luhmann setzt Interpenetration voraus, daß in der Umwelt des Sozialsystems hochkomplexe Systeme bestehen, die für sich selbst ein hohes Maß an ,,1. Stabilität, 2. Individualisierung und 3. Feinregulierung gewährleisten"5. Nur unter dieser Vorausetzung können sich psychische Systeme im Sozialsystem sowohl adaptiv als auch selbstreguliert verhalten. Personen sind demnach interpenetrierende Systeme, die durch interaktive Beziehungen untereinander soziale Systeme konstituieren, d. h. soziale Systeme sind durch Interpenetration konstituierte Systeme. Sie verdanken sich in ihrem Aufbau also den interpenetrierenden psychischen Systemen, andererseits aber benötigen die letzteren als notwendige Umwelt für ihre Existenz soziale Systeme. Personale und so2 Jensen, St., Interpenetration Zum Verhältnis personaler und sozialer Systeme?, in: ZfS, 7, 1978, S. 116 -129, S.128 (im folgenden zitiert als Interpenetration). 3 Luhmann, Interpenetration, S. 67. 4 Vgl. Jensen, Interpenetration, S. 127. 5 Luhmann, Interpenetration, S. 67.
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5. Systemzeit und Umweltzeiten
ziale Systeme sind also in spezifischer Weise füreinander Umwelt, "so daß die Relationierung der Außen- und Innenhorizonte in keinem dieser Systeme ganz unabhängig davon erfolgen kann, was für das je andere System möglich ... ist"6. Das bedeutet, daß psychische Strukturen und Kapazitäten die Ausprägung und die Grenzen sozialen Zeitbewußtseins mitbestimmen, daß andererseits die jeweilige Ausformung der psychischen Zeit (vgl. Kap. 6.2.1) durch Sozialisationsprozesse mitgeprägt ist. Da es mir hier vor allem darum geht, den Einfluß der temporalen Struktur von Umweltsystemen auf das Sozialsystem und seine Zeitstrukturen zu bestimmen, will ich den richtungsverschiedenen Aspekt der Sozialisation, in der ein Zeitbegriff ausgebildet wird und es zum Aufbau eines individuellen Zeitbewußtsens kommt, nur knapp behandeln (Kap. 5.3.1), zumal ja oben die entsprechenden Forschungen Piagets schon kurz mitangesprochen worden sind (s. Kap. 2, Exkurs), und mich stattdessen vor allem auf den Aspekt der Selbstregulierung des psychischen Systems konzentrieren, um zu sehen, wie sich von daher Bedingungen und Limitierungen für Zeitstrukturformen sozialer Systeme angeben lassen, d. h. also Grenzen in den interpenetrierenden Systemen, die den Bereich des Möglichen für das soziale System strukturell beschränken (Kap. 5.3.2).
5.3.1 Die ontogenetische Entwicklung des Zeitbegrifjs Der Zeitbegriff, lange die Domäne der Philosophie, ist zunehmend zu einem psychologisch-empirischen Gegenstand geworden7 • "Despite Kant's speculations, there is evidence to indicate that the capacity to experience time and to estimate it is a gradually developing human characteristic 8 ." Im wesentlichen lassen sich eine psychoanalytische und eine empirisch-experimentelle Zugangsweise unterscheiden. Die Psychoanalyse führt die Entwicklung des kindlichen Zeitbegriffs und seiner Zeiterfahrung im wesentlichen auf Frustrationserlebnisse zurück, die auf den Aufschub von Gratifikation zurückgehen; so verdankt sich nach Freud die Entwicklung des Zeitbewußtseins den wiederkehrenden Unterbrechungen der Stimulation des zeitlosen ·Unbewußten durch das Wahrnehmungssystem. "Nach Freuds Auffassung ist also das Zeiterlebnis der erlebnismäßige Niederschlag des ständigen Wechsels in der (libidinösen oder aggressiven) Besetzung der Objekte9 ." Es besteht eine enge Verknüpfung von Triebgeschehen und Zeiterleben, das hat in der Theorie nach Freud dazu geführt, die Entwicklung des Zeiterlebens mit den psychosexuellen Phasen der Triebentwicklung zu parallelisieren, 6 7 8
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Luhmann, Religion, S. 32. Fraisse, Psychology, S. 5. Wallace / Rabin, S. 213. Schumacher, S. 42.
5.3 Soziale Systeme und psychische Umweltsysteme
157
wobei die Schwerpunkte teils mehr in der oralen, teils in der analen, teils sogar in der ödipalen Phase gesehen werden; etwa im Zusammenhang zwischen der Gewöhnung an regelmäßige Eß- und Ausscheidungszeiten und der Ausbildung des Zeitbegriffs10 • "The child's time development is equated with reality training in contrast to the 'timelessness of the unconsciousness'll." Hier wäre also der soziale Einfluß auf die Entwicklung des kindlichen Zeitkonzepts in der Durchsetzung sozialer Normen und Anforderungen gegenüber dem organisch-psychischen System zusehen; Realitätsanforderungen werden internalisiert, im Ich werden interne und externe zeitliche Ansprüche integriert. "Maturity and culture make it possible to break free of the dominance of the pleasure principle and to adjust better to the reality of time12 ." Von psychoanalytischer Seite fehlt es bisher an empirischer überprüfung ihrer Theorie, doch hat die empirisch-experimentell arbeitende Psychologie zum Teil zur Bestätigung der psychonalytischen Theorie geführt. Bisher behandeln diese empirischen Studien jeweils nur einseitig entweder Prozesse der Zeitwahrnehmung, der Zeitschätzung und der Zeitrechnung, d. h. nur die Zeitdauer oder die Reihenfolge (B-Reihe) von Ereignissen, oder einseitig Fragen der Zeitperspektive und des Zeitbewußtseins, d. h. nur die Zeitordnung von Erlebnissen nach den Zeitmodi Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft. In den Arbeiten zur Entwicklung des kindlichen Zeitbegriffs finden sich diese Einseitigkeiten wieder, z. B. bei Piaget (vgl. Kap. 2, Exkurs), die nur die Entwicklung des Bewußtseins von B-Relationen bearbeitet und entsprechend auch ihre experimentellen Anordnungen gewählt haben; aber ebenso auch bei Ames13 und Fraisse l 4, die nur die Kenntnis von A-Relationen testeten, indem sie im wesentlichen den Wortgebrauch von Kindern als Index für die Weite des Zeitbewußtseins benutzten. Trotz dieser Differenzen, herrscht doch über die Phasenabfolge und die allgemeine Struktur der Entwicklung des kindlichen Zeitbewußtseins weitgehende übereinstimmung, strittig sind die Phasenlängen einzelner Abschnitte, das genaue Alter, in dem Entwicklungen beginnen oder enden. Die Entwicklung des Bewußtseins von Sukzessivität und Simultaneität, sowie die eines adäquaten Geschwindigkeitsbegriffs (also B-Bestimmungen) und die des Bewußtseins von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, sowie die Ausweitung der Zeithorizonte (Fraisse) scheinen parallel zu laufen, wobei möglicherweise die erste früher abgeschlossen ist, denn bei Piaget ist die Entwicklung im wesentlichen nach 7-8 Jahren Vgl. dazu insgesamt: Schumacher, S. 40 - 46. Orme, S. 51. 12 Fraisse, Time, S. 29. 13 Ames, L. B., The Development of the Sense of Time in a Young Child, in: Journal of Genetic Psychology, 68, 1946. 14 Fraisse, Psychology. 10 11
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5. Systemzeit und Umweltzeiten
abgeschlossen, während Ames u. a. das Ende der Entwicklung nach ihrer Methode erst bei 13-14 Jahren ansetzen. Abgesehen von der psychoanalytischen Annahme, die die Entwicklung des Zeitbewußtseins auf die Zunahme des nötigen Befriedigungsaufschubs im Laufe der Kindheit zurückführt, und den Studien zum "Deferred Gratification Pattern" (s. Kap. 6.2.1), die Zeitbewußtseinsformen mit dem schichtenspezifisch variierenden Aufschub von Gratifikation korrelieren, ist noch recht wenig über die Internalisierungsvorgänge im Fall des Zeitbegriffs bekannt. "At present hardly anything is known of individual variations in the child of time development and their relationship to personality and behavior I5 ." Die Übernahme sozialer Zeitstrukturen durch das psychische System geschieht in seinen Grundstrukturen sicherlich in der Phase der primären Sozialisation, doch setzt es sich, wie ich oben im Zusammenhang mit grenzüberschreitendem Statuswechsel ausgeführt habe, im Erwachsenenalter fort, wo mit dem Wechsel von Berufspositionen, dem Übergang in neue AItersrollen etc. auch die Internalisierung neuer Zeitorientierungen notwendig wird. Diese adaptiven Leistungen des psychischen Systems werden in funktional stärker differenzierten Sozialsystemen weit mehr beansprucht werden als in wenig differenzierten, da wir in den letzteren relativ wenig voneinander abweichende soziale "Eigenzeiten" antreffen werden.
5.3.2 Psychische und soziale Zeit Übliche Unterscheidungen von "subjektiver" und "objektiver" bzw. "sozialer" Zeit verfehlen m. E. die in der Interpenetration gedachte Beziehung zwischen psychischen und sozialen Systemen, indem sie einerseits die subjektive Innerlichkeit und Gesellschaftsunabhängigkeit der "subjektiven" Zeit überschätzen, wie sie andererseits die "Objektivität" der sozialen Zeit überschätzen, weil sie deren intersubjektive Konstitution vergessen. Es kann also nicht darum gehen, im psychischen System eine "innere" Zeit finden zu wollen, die völlig eigenständig ist und frei von externen Einflüssen verläuft1 6 , sondern darum, daß sich trotz der adaptiven Prozesse im psychischen System ein individuell ausgeprägtes, selbstreguliertes Zeitbewußtsein entwickelt. Dieses spezifische personale Zeitbewußtsein leistet eine Integration der organischneurologischen Struktur (Es) und der sozialen, normativen Zeitansprüche an die Person (Über-Ich), bildet aber unabhängig von beiden eine Orme, S. 56. Wie eine derartige "reine" psychische Zeit aussähe, deutet Sorokin an: "Without any social referent the individual's time based on his personal experiences and memory would be something exceedingly bizarre and incongruous." (S.167). 15
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5.3 Soziale Systeme und psychische Umweltsysteme
159
eigene Ordnungsstruktur (Ich oder Selbst). An dieser Eigenständigkeit der Ich-Funktion ist festzuhalten, d. h. man darf nicht reduktionistisch verfahren und zur Bestimmung des Aufbaus personaler Systeme letztlich auf neurophysiologische Prozesse zurückgreifen, sondern man muß höhere Ordnungsniveaus annehmen, "die dem Prozeß des Auflösens und Tieferlegens Grenzen setzen, weil jeder Ordnung ein für sie typisches und unerläßliches Aggregationsniveau entspricht, auf dem Elemente und Relationen als Einheiten konstituiert sind 17 ." Ebensowenig darf man allerdings umgekehrt das psychische System als ganz und gar vom sozialen System her determiniert verstehen. Das psychische System basiert auf interpenetrierenden neurochernischen und physiologischen Prozessen, stellt aber ihnen gegenüber ein höheres Ordnungsniveau dar. "Danach ist eine Handlung auf der Basis physischer, chemischer und neurophysiologischer Prozesse nicht angemessen zu begreifen, weil sie in Handlungssystemen (zu denen auch da psychische System zählt, WB) als Element höherstufiger Relationierungen in Anspruch genommen wird ... Die sehr vielschichtigen genetischen Bedingungen, die Handeln ermöglichen, bleiben in Handlungssystemen vorausgesetzt, werden aber nicht, oder nur äußerst verkürzt thematisiert1 8." Wir können also davon ausgehen, daß psychische Systeme eine Eigenzeit von besonderer Struktur und Qualität besitzen, die nicht auf organische Zeitstrukturen reduziert werden kann. Psychische Systeme stehen in einem doppelten Umweltbezug: einmal sind sie durch Interpenetration neuro physiologischer Prozesse konstituierte Systeme, zum anderen konstituieren sie inter penetrierend soziale Systeme; sie stellen also ein spezifisches Systemniveau sinnhaften Erlebens und HandeIns zwischen den beiden genannten Umweltsystemtypen dar. Aufgrund der ganz spezifischen Relation von psychischen Systemen und dem Sozialsystem wird die Darstellung der System/Umwelt-Beziehung in bezug auf die je internen Zeitstrukturen hier anders zu geschehen haben. Denn es geht nicht um die Frage, wieweit im echten Sinne externe Zeit- und Ereignisordnungen einen Einfluß auf die Form sozialer Zeit haben, sondern es geht um die psychischen Strukturen, die überhaupt durch ihre Eigenkomplexität zum Aufbau personaler wie intersubjektiver Zeitorientierungen führen. Die Formen des sozialen Zeitbewußtseins prägen sich gewissermaßen den psychischen Systemen ein, wobei diese wiederum überhaupt erst die "Bedingungen der Möglichkeit" zur Ausbildung von Zeitbewußtsein beistellen. Diese Grundformen der psychischen Zeit konstitution, die auch die Grundformen für die interaktive, intersubjektive Konstitution der sozialen Zeit sind, sollen im folgenden aufgewiesen werden; d. h. es wird eine Struktur17
18
Luhmann, Handlungstheorie, S. 213. Luhmann, Handlungstheorie, S. 213 und 217.
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5. Systemzeit und Umweltzeiten
analyse des kognitiven Systems vorgenommen werden müssen, da bei der "Zeit"-Konstitution vor allem kognitive Prozesse eine Rolle spielen. Die Psychologie der Zeit hat bisher ihre Teilergebnisse und Teilkonzepte m. W. noch nicht zu einer umfassenden Theorie integrieren können, so weit fortgeschritten und materialreich sie im Vergleich z. B. mit der "Soziologie der Zeit" auch ist. Diese fehlende Verankerung der einzelnen Konzepte in einer umfassenden psychologischen Theorie, die sich schon in der sehr uneinheitlichen Terminologie zeigV 9 , macht eine systematische Behandlung der Formen der Zeiterfahrung schwierig. Das kognitive System ist eine in sich abgestufte Einheit, ich unterscheide nach Toda 20 im folgenden zwei Ebenen:
1. Ebene - The primary system. Das kognitive System insgesamt bildet interne Repräsentationen der äußeren Umwelt des Menschen. Diese internen Außenweltmodelle basieren auf einem kohärenten System interner Strukturschemata, ohne die menschliches Verhalten kaum in zusammenhängender, adaptiver Weise möglich wäre. Das primäre System ist ein Subsystem des kognitiven Gesamtsystems auf der untersten Stufe der Hierarchie, doch ist es bei einem derart stark integrierten System wie dem kognitiven schwer, eine klare Grenze zwischen den Systemebenen zu ziehen. "Anyway, by the primary system I me an roughly the part of cognitive system which is in charge of moment-by-moment actions of aperson, covert as weIl as overt actions21 ." Im Fall der Zeit ist die Zeitwahrnehmung eine derartige "Aktion", die sich weitgehend unbewußt vollzieht und nur die Apprehension von Veränderungen im Augenblick ihres Erscheinens erlaubt2!. Damit die einzelnen Empfindungsdaten aber nicht völlig unverbunden - als Zeitatome - auftreten, muß das kognitive System intern stets ein Muster alternativer Möglichkeiten bieten, demgegenüber das gegebene Datum als Selektion erscheint. Diese Simulation gelingt nur auf 19 Unserer Meinung ist auch Goldstone, S., The Human Clock, in: Annals of the New York Academy of Seien ce, Vol. 138, 1966/67, S. 767 - 783, S.768. Uneinheitlich werden gebraucht: Zeitperspektive, Zeithorizont, Zeitorientierung, Zeitwahrnehmung, Zeiterleben, Zeitbewußtsein, Zeitschätzung, usw. 20 Toda, M., Time and the Structure of Human Cognition, in: The Study of Time 11, eds. J. T. Fraser / N. Lawrence, Berlin, Heidelberg, New York 1975,
S. 314 - 324.
Toda, S. 315. Nun besitzt der Mensch kein Organ, das Zeit direkt wahrnehmen könnte, insofern ist die Bezeichnung "Zeitwahrnehmung" etwas irreführend. Vgl. dazu: Gibson, J. J., Events Are Perceivable But Time is Not, in: The Study of Time 11, eds. J. T. Fraser / N. Lawrence, Berlin, Heidelberg, New York 1975, S. 295 - 301. 21
22
5.3 Soziale Systeme und psychische Umweltsysteme
161
der Basis des Gedächtnisses, denn man darf das Gedächtnis nicht als strukturlosen Speicher ansehen. "To me, it is all the more plausible to consider memory as a dynamic system itself rather than a silent heap of information, and we often get a wrong impression about the true nature of memory only because we tend to view it from the angle of the secondary, conscious use of it23 ." Nach Trincker muß man sich die Arbeitsweise des primären Systems, die so etwas wie die Wahrnehmung von Zeitdauer erzeugt, so vorstellen: "Gehen wir davon aus, daß sich in dem z. B. visuelle Eindrücke verarbeitenden System Transformationen eines bestimmten, als optisches Erscheinungsbild zu bezeichnenden Erregungsmusters abspielen, und lassen wir ein neues Erregungsmuster von den Receptoren her hineingelangen, so werden dessen Transformationen auch in dieselben Dimensionen gelangen. Wenn jetzt auf einer Stufe des Scannings (Abtastvorgangs, WB) der Transformationen altes und neues Muster vollständiger zusammenfallen, als eine gegebene Toleranz erlaubt, so wird das registriert und diese beiden werden "gleich" genannt. In die Sprache der Psychologie übersetzt: Die "Gestalt" wird als solche erkannt24 ." Um seine Aufgabe der ständigen Anpassung an Umweltvorgänge erfüllen zu können, besitzt das primäre Subsystem zumindest drei wesentliche Eigenschaften: ,,1. an enormously good environmental simulation system 25 , 2. a fairly large processing capacity for the oncoming information, and 3. a precise real-time c1ock26." Das primäre System arbeitet auf real zeitlicher Basis; diese kann einmal durch ein konstantes Feedback aus der Umwelt garantiert werden "one may let the real world keep timing for the system"27, doch reicht diese Außenweltsteuerung nicht aus, so daß weiterhin das Vorhandensein einer inneren Uhr anzunehmen ist, die das präzise interne timing der Wahrnehmung realzeitlich steuert28 . Toda führt drei Operationen des primären Systems auf, die in einer realzeitlich bestimmten Weise ablaufen müssen: a) "The sensory input requires an integration over time; b) "identification of a sensory image against a given context may be easy or difficult, and the information processing time may vary accordingly; c) " ... the providing of the next context according to the identified feedback message would consume some finite time29 ." Eine interne Steuerung der Zeit23 Toda, S. 133. 24 Trincker, D., Das Gedächtnis als physiologisches Problem, in: Studium Generale, 8, 1955, S. 504 - 514, S. 507. 25 Mit diesem Simulationssystem ist das Gedächtnis gemeint. 26 Toda, S. 316. 27 Toda, S. 318. 28 Zur "internal or psychological clock" vgl. Cohen, J., Time in Psychology, in: Time in Science and Philosophy, ed. J. Zeman, Amsterdam, London, New York 1971, S. 153 - 164, S. 162; Wallace / Rabin, S. 226. 29 Toda, S. 318. 11 Bergmann
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5. Systemzeit und Umweltzeiten
wahrnehmung ist wichtig für das präzise Ausführen bestimmter Reaktionstypen und für die Koordination der Motorik. Das primäre kognitive System leistet also für psychische wie für soziale Systeme letztlich die realzeitliche Koordination mit der Außenwelt - wahrscheinlich aufgrund neurophysiologischer Prozesse. Psychologen unterscheiden zwischen der Fähigkeit, Zeitintervalle in ihrer Dauer einzuschätzen30, und der Fähigkeit der zeitlichen Orientierung im Sinne der Bestimmung von Zeitpunkten, was das Vorhandensein eines internen Chronometers voraussetzt, der nicht nur Intervalle mißt (Time orientation sense). "The human timer is bipolar, it estimates durative and successive properties of perception within the framework of intraorganic reference scales as before-now-after, long-medium-short, and more-equal-Iess31 ." Eine relativ präzise Zeitbestimmung gelingt nur im Fall kurzer Intervalle, die noch vom primären System verarbeitet werden, für längere Intervalle, die von höheren Ebenen des kognitiven Systems bearbeitet werden, gibt es anscheinend keine derartige interne Koordinierung, die verläßlich funktionierte. Die zahlreichen biologischen Rhythmen wie Atmung, Herzschlag etc., an denen sich das sekundäre System orientiert, sind nicht im gen auen Sinne Uhren, sondern nur rhythmische Prozesse, die von internen und externen Kontexten beeinftußt werden können. " ... they are lousy timers because they are not generally built as timers and they are context bound 32 ."
2. Ebene - das sekundäre (höhere) kognitive System. Toda nimmt an, daß gerade das Fehlen einer inneren Uhr für die Prozesse der höheren kognitiven Ebenen zur Ausbildung eines Zeitbegriffs geführt hat. " ... and I conjecture that our secondary system would never have acquired a notion of time if the primary system had no internal c10ck or if the secondary system had a perfect intern al c1ock33 ." Die Ausbildung eines Zeitbegriffs für die höheren kognitiven Prozesse wie die Zeitschätzung längerer Intervalle, die Ausbildung einer Zeitperspektive und einer Zeitrechnung kann also als Kompensation für das Fehlen eines brauchbaren internen Zeitgebers verstanden werden. Allerdings basiert die Ausbildung dieses Zeitbegriffs auf Lei30 "Time duration Sense." Die Genauigkeit des Urteils ist einmal abhängig von der Dauer des Intervalls, zum anderen gibt es Unterschiede je nach den beteiligten Sinnesorganen: visuelle Reize werden als kürzer empfunden als akustische, diese kürzer als die taktilen. Vgl. Lehmann, H. E., Time in Psychopathology, in: Annals of the New York Academy, Vol. 138, 1967/68, S. 798 - 821, S.800 und Sollberger, A., Biological Measurements in Time, in: Annals of the New York Academy of Science, Vol. 138, 1966/67, S. 561 - 599, S. 563. 31 Goldstone, S. 773. 32 Toda, S. 319. 33 Toda, S. 320.
5.3 Soziale Systeme und psychische Umweltsysteme
163
stungen des primären Systems. Beide Systemebenen arbeiten auf dem Hintergrund eines Gedächtnisses, das zweite System tritt jedoch nur korrigierend in Aktion, wenn dem primären System eine exakte Verarbeitung von Wahrnehmung nicht gelingt; es kann allerdings, entlastet von Umweltanpassungsleistungen, eigenständig "prozessieren". Das Operieren mit Begriffen und kognitiven Schemata ermöglicht dem sekundären System eine zeitsparende Durchführung der "Korrektur" des primären Systems durch systematische und effiziente Fehlersuche im Gedächtnis, wozu dem realzeitlich justierten primären System keine Zeit bleibt. "Zeitbewußtsein" kann also Informationen zeitraffend verarbeiten, es arbeitet schneller als das realzeitgebundene primäre System. Erst auf dieser Ebene der sinnhaften Verarbeitung von Erlebnissen finden wir die für die intersubjektive Zeitkonstitution wichtigen Strukturen des Zeitbewußtseins. Während das primäre System in der Wahrnehmung nur zeitliche Reihenfolgen und Dauern von Ereignissen ordnen und präzise bestimmen kann (d. h. Ordnungen nur nach früher/ später, lang-kurz herstellen kann), kommen im sekundären System ganz neue Leistungen hinzu: a) Die Fähigkeit der bewußtseinsmäßigen Ordnung der realzeitlich wahrgenommenen Daten nach Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft. (vgl. die übereinstimmung mit unserer grundsätzlichen Erörterung zum Realitätscharakter der Zeit, Kap. 1). Diese Form der bewußtseinsmäßigen Darstellung von Daten setzt das Vorhandensein eines Gedächtnisses voraus, setzt voraus die Fähigkeit zur Wiedererinnerung und Antizipation. Dieser Aspekt der bewußtseinsmäßigen Orientierung wird in der Psychologie unter den Titeln Zeitperspektive, Zeithorizont (Fraisse) oder Zeitorientierung abgehandelt, wobei es einmal um den Aspekt ihrer "thematischen Durchgliederung und Strukturierung", zum anderen um die Frage der "vergangenheitsbzw. zukunftsbezogenen Ausdehnung" geht34 • Kastenbaum differenziert hier - für die Zukunftsperspektive - die Zeitperspektive nach vier Dimensionen: nach ihrer Dichte (density), ihrer Reichweite (extension), ihrer inneren Ordnung (coherence) und ihrer Richtung (directionality)35. Die Struktur dieses Zeitbewußtseins mit seinen Formen der Vergegenwärtigung ist vor allem in der Phänomenologie vorbildlich herausgearbeitet worden (vgl. Husserl, Fink u. a.). b) Eine zweite Form kognitiv-perzeptiver Zeiterfahrung, die das quantitative Moment der Zeitlänge von Ereignissen betrifft, ist die Zeitschätzung längerer Intervalle. Diese bewußtseinsmäßige Einschätzung der zeitlichen Dauer gegebener Intervalle, ohne die Hilfe technischer Instrumente, wird dadurch möglich, daß diese Intervalle im Bewußtsein mit gewissen StandardMönks, S. 156. 35 Kastenbaum, R., The Dimensions of Future Time Perspective. An Experimental Analysis, in: Journal of General Psychology, 65, 1961, S. 203 - 218, S. 206 (im folgenden zitiert als Dimensions). 34
11°
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5. Systemzeit und Umweltzeiten
intervallen verglichen werden, die in der Vergangenheit gelernt worden sind und die gen au erinnert, reproduziert und verglichen werden können36 • c) Wird mit dem Konzept der Zeitschätzung an den rein quantitativen Aspekt der Zeiterfahrung gedacht, so ist im Moment des Zeiterlebens ("time-awareness" - Lehmann, a. a. 0., S.802) die qualitative Seite angesprochen. Zeiterleben ist die jedem Erleben immanente Erfahrung von Zeit und Zeitvergehen37 , die Erfahrung, daß Zeit unterschiedlich schnell verfließen kann, je nach der psychischen Befindlichkeit und dem Lebensalter des Erlebenden. Hierher gehört das Problem der Synchronisierung von innerem Zeiterleben und externer Uhrenzeit bzw. von sozialer Zeit - ein System/Umwelt-Problem für das psychische System. d) "The secondary system develops 'notions' and builds conceptual schemata with them 3s." Diese Fähigkeit zur Begriffsbildung und zum Umgang mit symbolischen Inhalten ist entscheidend für den Aufbau eines abstrakten Zeitbegriffs und damit für die Konstruktion von Zeitmessungs- und Zeitrechnungssystemen. Wir finden also im kognitiven psychischen System die grundlegenden Strukturen und Fähigkeiten für den Aufbau sozialer Zeitstrukturen vor: die "Zeitwahrnehmung", die Schätzung der Zeitdauer, das Erleben des Verfließens von Zeit in variierenden Zeittempi, die bewußtseinsmäßige Gliederung in Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft, die Grundlagen zum Aufbau von Zeitbegriffen und von Zeitrechnung. Soziale Systeme sind in der Konstitution ihrer Eigenzeiten immer an die individuelle psychische Repräsentation von Zeit gebunden, dies darf jedoch nicht dazu verleiten, soziale Zeitbewußtseinsformen auf personale zurückzuführen. Soziale Systeme stellen vielmehr ein neues und eigenständiges Systemniveau gegenüber den personalen Systemen dar, auch wenn sie sich letztlich in interaktiven, interpersonalen Interpenetrationsprozessen aufbauen. Rammstedt weist mit Recht darauf hin, daß z. B. die großen Einheiten der Zeitrechnung kaum als Vergegenständlichung individueller Zeitmessungsinteressen angesehen werden können, ebensowenig wie die Entwicklung der Vorstellung einer "offenen Zukunft" auf dem Hintergrund eines zeitlich eng begrenzten individuellen Lebens sinnvoll ist39 • Der Zwang, die subjektiven Zeiten bei gemeinsamen Handlungen und Erlebnissen aufeinander abzustimmen, führt zum Aufbau intersubjektiver Zeitstrukturen, die über die fundierende Unterstufe der personalen-psychischen Zeit hinausgehen und sie andererseits in Prozessen der Sozialisation wiederum "rückwirkend" beeinflussen. 36 37 38
39
Vgl. Lehmann, S. 800. Schumacher, S. 22. Toda, S. 320. Rammstedt, Alltagsbewußtsein, S. 48.
5.4 Soziale Systeme und soziale Umweltsysteme
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Eine präzisere Ausarbeitung des Verhältnisses von psychischer und sozialer Zeit bedarf der weiteren und detaillierteren Entwicklung des Interpenetrationsbegriffs im Rahmen der Systemtheorie, denn wir stehen hier erst an einem Anfang. 5.4 Soziale Systeme und soziale Umweltsysteme
Im Rahmen der Behandlung der Umwelten sozialer Systeme sollen hier die temporalen Beziehungen zwischen sozialen Systemen nur ganz kurz angesprochen werden, da sie letztlich ein Hauptthema meiner gesamten Arbeit darstellen und an anderen Stellen (Kap. 4, 6, 8) ausführlich behandelt werden. In der Umwelt sozialer Systeme befinden sich andere soziale Systeme, die zeitliche Anforderungen stellen können. Soziale Umweltsysteme interessieren hier unter dem Gesichtspunkt des "Umwelt-seins" vor allem hinsichtlich des "environmental demand", d. h. der Erwartbarkeit bzw. Ungewißheit von zeitlichen Ansprüchen an ein Sozialsystem1 . Maßstab für die "relative uncertainty of environmental sectors" sind a) die Klarheit der einkommenden Information, b) die Sicherheit bzw. Unbestimmtheit kausaler Verknüpfungen und c) die Zeitspanne für ein bestimmtes Feedback aus der Umwelt2• Je nach dem Grad, in dem die Umwelt organisiert ist und koordinierte Anforderungen an das System stellt, kann man mit Luhmann von "zeitdynamischen" und "zeitplastischen" Umwelten reden 3• Die zeitliche Autonomie eines sozialen Systems wird also einmal abhängen von dem Grad der Ordnung in seiner Umwelt, zum anderen von der Fähigkeit des Systems zur Grenzziehung und Grenzerhaltung (vgl. Kap. 4.2.1.). Eine weitere Differenzierung des Umweltbezuges liegt in der Unterscheidung von drei allgemeinen Beziehungsformen zwischen sozialen Systemen. Jedes Sozialsystem besitzt eine dreifache Systemreferenz: es ist als Teilsystem bezogen auf ein umfassendes System, für das es eine bestimmte Funktion erfüllt; es ist als Teilsystem bezogen auf andere, parallele Teilsysteme, für die es bestimmte Leistungen erbringt und von denen es bestimmte Leistungen empfängt; es ist reflexiv auf sich selbst bezogen. Diese dreifache Systemreferenz werde ich unten am Beispiel der gesellschaftlichen Teilsysteme Recht und Wirtschaft in ihrer zeitlichen Struktur analysieren. Zum Abschluß will ich hier noch zwei Probleme behandeln, die sich als Koordinationsschwierigkeiten zwischen System/Umwelt-Prozessen beschreiben lassen: die Zeitknappheit und das Warten. 1 Lawrence, P. R. I Lorsch, J., Organization and Environment, Boston 1967, S.16 und 84. 2 Vgl. Lawrence I Lorsch, S. 25 - 29 u. 94 f. 3 Luhmann, Zweckbegriff, S. 307.
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5. Systemzeit und Umweltzeiten 5.5 Zeitknappheit und Warten
Die beiden genannten Phänomene sollen hier zusammen abgehandelt werden, da sie komplementäre Resultate mißlungener zeitlicher Synchronisation zwischen Systemen darstellen: das Warten des einen Systems auf die Outputleistungen eines anderen setzt dieses in Zeitdruck in Bezug auf seine eigenen Leistungsverpftichtungen, erzeugt also Zeitknappheit. Asynchronitäten sind nun nicht nur auf der Ebene sozialer System/Umweltbeziehungen zu erwarten, sondern auch zwischen den "Eigenzeiten" sozialer, psychischer, organischer und natürlicher Systeme, die verschieden "schnell" ablaufen können; so kann z. B. der Heilungsprozeß einer Wunde langsamer verlaufen als es die personalen oder sozialen Zeitplanungen des Betroffenen verlangen, d. h. er muß warten und gerät eventuell in Zeitknappheit hinsichtlich seiner sozialen Verpflichtungen. 5.5.1 Zeitknappheit Anders als Moore t , der von einer "ultimate scarcity of time" spricht, wobei er m. E. für die Beschreibung der sozialen Zeit fälschlicherweise auf die lebenszeitlich begrenzte Perspektive personaler Systeme zurückgreift, gehe ich mit Luhmann davon aus, daß die Zeit in sozialen Systemen nicht "an sich" knapp ist, so daß wir nach den Bedingungen und Funktionen ihrer Verknappung fragen müssen2 • In einer sachlich und sozial wenig komplexen Welt gäbe es keine Verknappung der Zeit, da alle sachlichen und sozialen Probeme im Nacheinander abgearbeitet werden könnten. Mit zunehmender Komplexität der sozialen Systeme steigt der Bedarf an sachlichem Sinn, an sozialem Konsens und an verfügbarer Zeit, die sich damit gegenseitig verknappen. Der Eindruck der Zeitknappheit entsteht also aus der Differenz zwischen dem, was in einer Situation alles möglich wäre, und dem, was verwirklicht werden kann. Knappheit ist somit eine Disproportion zwischen der Weltkomplexität (dem Horizont des Möglichen) und der Verarbeitungskapazität des Systems3 • Knappheit resultiert aus der Tatsache, daß nicht alle anstehenden Systemprobleme gleichzeitig gelöst werden können, die Prämisse der "Summenkonstanten" im System garantiert, "daß im Bereich von Knappheit kein Gewinn ohne Verlust, keine Selektion ohne entsprechende Verzichte möglich ist'." Das führt zu der zunächst paradox Moore, Man, S. 5 - 8. Vgl. dazu: Luhmann, N., Soziologie als Theorie sozialer Systeme, in: ders., Soziologische Aufklärung, Opladen 1971, S. 113 - 136, S. 118 (im folgenden zitiert als Soziologie als Theorie). 3 Vgl. dazu: Luhmann, N., Knappheit, Geld und bürgerliche Gesellschaft, in: Jahrbuch für Sozialwissenschaft, 23, 1972, S. 186 - 210, S. 183 (im folgenden zitiert als Knappheit, Geld). 4 Luhmann, Knappheit, Geld, S. 189. 1
I
5.5 Zeitknappheit und Warten
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erscheinenden These, daß die Knappheit im Laufe der gesellschaftlichen Evolution, die eine Entwicklung zu immer komplexeren Systemen ist, nicht ab-, sondern zunimmt. Deshalb ist meine These, daß die für das Erleben von Zeitknappheit verantwortlichen Synchronisierungsprobleme zwischen den systemspezifischen Eigenzeiten mit zunehmender funktionaler Differenzierung der sozialen Systeme zunehmen. Solange Gesellschaften in sich noch wenig differenziert sind und sich wenig gegenüber ihrer natürlichen Umwelt differenziert haben, leben alle Systemmitglieder noch in einer gemeinsamen Handlungs- und Erlebniszeit, und Desynchronisationsprobleme sind nicht zu erwarten. Da in derartigen Gesellschaften auch die Sach- und Sozialdimension noch wenig komplex und disponibel sind, bleibt der Reduktionsbedarf in der Zeitdimension entsprechend gering, d. h. der gegenseitige zeitliche Anspruch der Systemmitglieder ist aufgrund geringer Spezialisierung und sozialer Differenzierung gering und kann durch einen geschlossenen, für alle verbindlichen Zeitablauf leicht synchronisiert werden. Zunehmende Differenzierung sprengt den allgemeinverbindlichen zeitlichen Rahmen und führt zur Ausbildung unterschiedlicher Systemzeiten, wodurch es zu Kollisionen zwischen der Eigen- und Fremdselektivität von Zeit kommen kann, indem zeitliche Ansprüche an andere Systeme gestellt werden, die deren internen Zeitplänen nicht entsprechen und die deren Zeit verknappen 5 • "Grenzen und Zeittoleranz, die die Umwelt festlegt, lassen ... die Zeit im System selbst knapp werden, und diese Zeitknappheit belastet sowohl die Konsensbildung (...) als auch die sachliche Auswahl der Programme und Entscheidungen6 • Diese Limitierungen zeitlicher Toleranzen gehen nun nicht nur von anderen sozialen Systemen aus, sondern ebenso von den anderen genannten Umweltsystemen. Eine Analyse der Beziehung von Sozialsystemen zu ihren physisch-organischen, leiblichen und psychischen Umweltsystemen unter dem Gesichtspunkt der Verknappung von Zeit gibt es m. W. bisher noch nirgends. Die Plastizität dieser Umweltsysteme ist unterschiedlich einzuschätzen, doch werden sie alle gewisse Aufschiebbarkeitsspannen besitzen, die nicht überschritten werden dürfen. Soziale Systeme haben nun die Möglichkeit, zeitsparende Einrichtungen zu entwickeln. Eine Entlastung vom Zeitdruck seitens der inneren und äußeren Natur bieten technische Einrichtungen, die es ermöglichen, die unaufschiebbaren und unabtauschbaren Ansprüche der genannten Umweltsysteme mit geringem zeitlichen Aufwand zu erfüllen. Weiterhin kann ein System zur sparsamen und rationellen Nutzung der Zeit eigene Zeitpläne aufstellen, die dann allerdings mit der Umwelt nicht mehr vollständig ko11 Um zur Synchronisation der verschiedenen Systemzeiten dienen zu können, muß die Weltzeit zu "einem inhaltsleeren Schema der Verteilung knapper Chancen abstrahiert werden". Luhmann, Knappheit, Geld, S. 14. 6 Luhmann, Soziologie des politischen Systems, S. 157.
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5. Systemzeit und Umweltzeiten
ordiniert werden können und sekundäre Anpassungsschwierigkeiten erzeugen7 • Diese Durchsetzung eigener Zeitpläne gelingt nur in "zeitplastischen" Umwelten, die dann entsprechend "warten- müssen. Zeitsparend wirken auch interne Strukturbildungen wie Arbeitsteilung und Spezialisierung, die ein höheres Prozeßtempo ermöglichen, die Vorschreibung vertikaler Kommunikationswege, das Prinzip der Schriftlichkeit in Organisationen usw. Neben diesen zeitsparenden Einrichtungen können auch Abweisungsstrategien zur Verminderung von Zeitknappheit beitragen, z. B. Verzögerungstaktiken, Aufbau von Grenzfiltern etc. Eine weitere Entlastungsmöglichkeit bietet der Einsatz generalisierter Tauschmedien, so kann durch Geld, Macht oder Liebe die Durchsetzung eigener Zeitpläne eingetauscht werden.
5.5.2 Warten Das Phänomen des Wartens, das bisher vor allem in der existentialphänomenologischen Philosophie, der Sozialpsychologie und in der Ökonomie (Warteschlangentheorie)8 abgehandelt worden ist, läßt sich als komplementäre oder umgekehrt-proportionale Erscheinung zur Zeitknappheit ebenfalls als ein Resultat mangelnder zeitlicher Synchronisation zwischen Systemen verstehen. Der Zeitnot in einem System steht gegenüber das Wartenmüssen in einem anderen, das auf den Input seitens des ersteren angewiesen ist, um seinerseits handeln zu können. Warten ist also eine aufgezwungene Zukunftsorientierung: "Der Wartende verhält sich im Hinblick auf ein zukünftiges Ereignis, mit dessen Eintritt das Warten endet ... 9." Der Output des einen Systems (dessen vergangene Leistung) ist die Zukunft (Input) des anderen, beide müssen in der weltzeitlichen Gegenwart koordiniert sein, ist dies nicht der Fall, bleibt ein System auf die Zukunft verwiesen und muß warten; daher der oftgenannte Zusammenhang von Warten und Hoffen. Auch im Fall des Wartens ist - mit der Steigerung der Interdependenzen zwischen den Systemen-mit einer Zunahme der Wartezeiten im Laufe der evolutionären Entwicklung zu rechnen. "Waiting thus finds its organizational precondition in the scarcities occasioned by an advanced division of labor10 ." In der Terminologie der Ökonomie gesprochen ist Ebd. "Die Warteschlangentheorie stellt die Formalisierung des alltäglichen Phänomens des Wartens dar." Ihr liegt das Bild schlangestehender Menschen zugrunde. Kern, L., Zur Verwendung von Konzepten des Operationsresearch in der rechts- und sozialwissenschaftlichen Forschung, in: KZfSS, Sonderheft 16, 1972, S. 180 - 195, S. 181. 9 Husserl, G., Person, Sache, Verhalten, Frankfurt a. M. 1969, S.207. 10 Schwartz, B., Waiting, Exchange and Power: The Distribution of Time in Social Systems, in: American Journal of Sociology, 79, 1974, S. 841 - 870, S.843. 7
8
5.5 Zeitknappheit und Warten
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Warten verursacht durch eine Disproportion in der Angebot-NachfrageRelation: "When the number of arrivals in some time unit is less than the number an organization can accomodate, waiting time will be relatively brief, but if the arrival rate exceeds the service rate, a 'bottleneck' is created and a longer waiting period results 11 ." Warten wird hier also als Resultat von Engpässen im Output, als Resultat der Knappheit von Zeit als generalisierter Ressource12 im Austausch zwischen Systemen verstanden: "disturbances at the level of synchronization of supply and demand results in congestion." (ebd.) Auf Seiten des Wartenden verursachen Wartezeiten Kosten, sei es daß andere Ansprüche und Chancen nicht wahrgenommen werden können - G. Husserl betont die Passivität im Warteverhalten 13 - , sei es, daß das Warten als langweilig, entnervend und das Selbstwertgefühl herabsetzend empfunden wird 14 • Das Warten hat eine dynamische Grundstruktur und Spannung, d. h. im Verlauf des Wartens erhöhen sich die "Kosten" des Wartenden, zugleich verliert das Erstrebte an Wert, die Geduld des Wartenden erschöpft sich. Da niemand gern wartet und da die Zeit knapp ist, so ist nach den Bedingungen zu fragen, warum Systeme mehr oder weniger Wartezeiten haben, d. h. wir fragen nach der Zeitplastizität von Systemen. Da Zeit an sich nicht knapp ist, ist zu vermuten, daß ein System seine zeitlichen Ressourcen "profitmaximierend" einsetzt, also die Nachfrage bedient, die viel Gewinn verspricht oder aber keinen Aufschub duldet - die Vordringlichkeit des Befristeten15 • "We must therefore explore the institution al constraints which sustain observable levels of scarcity and which organize the priorities granted to different groups of clients 16 ." Diese "constraints" sind nach Schwartz Ausdruck von MachtRelationen zwischen oder in sozialen Systemen17 • Die Macht eines Sy11 Schwartz, S. 842. Diese Relation ist besonders ungünstig, wenn das Angebot monopolisiert ist; derartige Monopolisten tendieren dazu, ihre Zeitressourcen so zu allokieren, daß sie Zeit sparen auf Kosten der Nachfrager. (Vgl. z. B. den Unterschied in der Abfertigung in staatlichen Institutionen im Vergleich zu konkurrierenden Bankinstituten.) 12 Schwartz, S.843. Zur Ähnlichkeit von Zeit und Geld in dieser Hinsicht: "Both time and money may be regarded as generalized means because of the indefinity of possibility of their utilization; both are finite quantities, both may be counted, saved ... "; Schwartz, S. 868. 13 Husserl, G., S. 206. a Dazu: Schwartz, S 844 u. 857. 15 Wartende Systeme können nämlich auch das Warten aufgeben und alternativ handeln. G. Husserl spricht von einer "Ermattung des Zukunftsglaubens" (S. 209). "Alles Warten hat einen Zeitrahmen, der dehnbar sein mag, aber der Wartende wird sich kaum damit abfinden wollen, daß die Zeitgrenzen seines Wartens beliebig hinausgedrückt werden." (Ebd.) 16 Schwartz, S. 842. 17 "not to keep the boss waiting" (Schwartz, S. 842).
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5. Systemzeit und Umweltzeiten
sterns "warten zu lassen" hängt ab von dem Vorhandensein oder Nichtvorhandensein alternativer Anbieter und von der Verfügung des Nachfragenden über bestimmte Ressourcen wie Macht, Geld u. a., die zur Bereitstellung von Outputs motivieren können. Entsprechend des systern theoretischen Konzepts der generalisierten Tauschmedien sind m. E. über Machtrelationen hinaus, wobei Schwartz "Macht" wohl umfassender versteht und unsere Erweiterungen wohl teils mitmeint, Wartezeiten auch durch Einsatz anderer Medien regulierbar, auch Geld, Einfluß, Liebe können einem System "Zeit kaufen". Schwartz hat mit seiner Betonung der Machtrelation insofern recht, als Macht dasjenige Medium ist, das eine direkte Einflußnahme von Egos Handeln auf Alters Handeln ermöglicht, während alle anderen Medien Handeln und Erleben von Ego und Alter relationieren 18. Schwartz spricht deshalb hinsichtlich des Wartenmüssens auch von der "Immunity of the privileged"19. Warten ist also der Ausdruck einer asymmetrischen Relation zwischen Systemen: "The relative immunity from waiting which the powerful enjoy is guaranteed because they have the resources to refuse to wait"20, diese Ressourcen können Macht, Geld, Einfluß u. ä. sein. Im Fall von Monopolen auf der Anbieterseite verlieren allerdings auch diese Mittel etwas an Wirksamkeit, so z. B. hinsichtlich staatlicher Organisationen. Das Warten ist also nur zum Teil der Ausdruck einer objektiv vorliegenden zeitlichen Desynchronisation, es ist ebenso ritualisierter Ausdruck asymmetrischer sozialer Beziehungen. Es kann Statusgrenzen symbolisieren, es kann Ausdruck für Autonomie sein, es kann aggressiv als Strafmaßnahme benutzt werden etc. 21 . So können also lange Wartezeiten in Institutionen sogar normativ abgesichert sein: gerechte Urteile in Gerichtsverfahren sind wichtiger und verläßlicher als schnelle Urteile22 . Das Phänomen des Wartens ist natürlich nicht nur auf Desynchronisationen zwischen sozialen Systemen zurückzuführen, diese können natürlich genauso im Verhältnis zur physischen, organischen oder psychischen Umwelt in Sozialsystemen auftreten, wenn die Eigenzeiten und systeminternen Zeitpläne differieren. So besteht eine wesentliche Aufgabe der frühkindlichen Sozialisation darin, dem organisch-psychischen System des Kindes Wartezeiten aufzuerlegen, um so eine zeitliche Synchronisation mit sozio-kulturellen Prozessen zu erreichen; so kann eine Sportveranstaltung erst beginnen, wenn es aufgehört hat zu regnen; 18 Luhmann, Systemtheoretische Argumentationen, S. 345. 19 Schwartz, B., S. 848. %0 Schwartz, B., S. 849. !1 Vgl. dazu: Schwartz, B., S. 860 ff. %2 Kern, S. 184.
5.5 Zeitknappheit und Warten
171
die Schule erst besucht werden ab einem gewissen Grad psychophysischer Reife. Auch in bezug zu den nicht-sozialen Umweltsystemen gibt es Machtrelationen (s.o. Kind vs. Gesellschaft) und damit Mittel zur Abkürzung von Wartezeiten, z. B. durch verbesserte Naturbeherrschung mittels Technik, Medikamenten etc. 6. Systemdifferenzierung und Temporalstruktur In den vorangegangenen Abschnitten ist auf den Zusammenhang von Systemdifferenzierung und entsprechenden systemspezifischen Zeitstrukturen schon mehrfach kurz hingewiesen worden, ohne allerdings genauer zwischen den verschiedenen Formen der Binnendifferenzierung sozialer Systeme zu unterscheiden, wie sie heute im Rahmen der Theorie der gesellschaftlichen Differenzierung herausgearbeitet worden sind. Diese Theorie charakterisiert Gesellschaften nicht mehr nach Herrschaftsformen oder ihren primären Führungsschichten wie bisher üblich, sondern nach ihren primären (dominierenden) Differenzierungsformen. Die Auffassung von Gesellschaft und ihren Subsystemen nach dem Schema Ganzes/Teil wird abgelöst durch eine System/Umwelt-Theorie, die Systemdifferenzierung versteht als interne Wiederholung der System/Umwelt-Differenz, so daß wir interne und externe Umwelten von Systemen unterscheiden müssen. Systemdifferenzierung ist der reflexive Prozeß der "Anwendung der Systembildung auf sich selbst"1 und impliziert insofern schon eine temporale Perspektive: "a process of differentiation proceeds in a temporal sequence of 'from-to'. In this process it brings ab out differences among parts of the system which did not previously exist 2 ." So besteht in einer segmentär nach Klans differenzierten primitiven Gesellschaft ursprünglich eine Funktionsgleichheit zwischen allen Segmenten. Diese strikt egalitären Systeme gehen später zu einem fortgeschrittenen primitiven Typus über, in dem ein Klan sich gegenüber den anderen ausdifferenziert und politische Führungsfunktionen übernimmt. Diese Funktion wird also im Verlauf der Evolution einem speziellen "politischen System" übertragen (vgl. Kap. 6.1). Differenzierung darf nicht begriffen werden als die Zerlegung eines vorgegebenen Ganzen in seine Teile, so wie es im klassischen Ganzes/TeilSchema gedacht wird, sondern als die "Ersetzung eines Leistungsträgers durch eine Mehrheit verschiedenartiger Leistungsträger, die im Zusammenwirken die Funktion des ersetzten Trägers besser erfüllen"3. Die Luhmann, MS, S. 386. Parsons, T., Comparative Studies and Evolutionary Change, in: Comparative Methods in Sociology, ed. by I. Vallier, Berkeley, Los Angeles, London, 1971, S. 97 - 139, S. 100 (im folgenden zitiert als Studies). 3 Luhmann, MS, S. 386. 1
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6. Systemdifferenzierung und Temporalstruktur
neuen Systeme sind strukturell untereinander und in Bezug auf das ursprüngliche System verschieden, funktional gesehen jedoch äquivalent. Anders als im Ganzes/Teil-Schema bleibt hier also das Ganze nicht immer dasselbe, die Welt ist nicht als Aggregat oder als "universitas rerum" aufgefaßt, sondern als Welthorizont, der als erweiterungsfähig zu denken ist. "In fact, world conceptions covariate with increasing system differentiation4 ." Durch die Subsystembildung entstehen innerhalb des Gesamtsystems neue Grenzen, Diskontinuitäten und interne System/Umweltbeziehungen. An die Grenz- und Strukturselektion des ersten Systems können so weitere, voraussetzungsvollere angeschlossen werden, die mit einer durch das umfassende System schon domestizierten inneren Umwelt rechnen können. Durch dieses reflexive Umweghandeln, das Zeit kostet und deshalb ein stabiles Gesamtsystem bereits voraussetzt, kann das System insgesamt höhere Selektivitäten erreichen und damit letztlich wieder Zeit einsparen (vgl. Kap. 2.3.2). Innerhalb des Gesamtsystems werden so systeminterne Sonderumwelten etabliert, die von der Gesamtumwelt erheblich abweichen können. Damit wird für das Gesamtsystem ein höherer Grad an Ausdifferenzierung und damit auch an Autonomie gegenüber der Umwelt möglich. Komplexe Systeme, die für ihre In- und Outputselektionen viel Zeit brauchen, können diese nur gewinnen durch interne Differenzierung in Subsysteme, die jeweils nicht alle gleichzeitig mit In- oder Outputproblemen befaßt sind. Interne Differenzierung kann im System zeitliche Diskontinuitäten erzeugen (systemspezifische Zeitstrukturen), die bewirken, daß Umweltanforderungen im System differenziert beantwortet werden können. Mit Luhmann kann man deshalb sagen: "System differentiation, then, is the structural technique for solving the temporal problem of complex (time consuming) systems existing in complex environments5 ." Diese Theorie der Differenzierung, die zugleich "Theorie der gesellschaftlichen Entwicklung" ist, indem sie den evolutionären Stufen der Gesellschaft je unterschiedliche primäre Differenzierungsformen zuordnet6 , und ebenso "Strukturtheorie der modernen Gesellschaft"7 sein will, unterscheidet im wesentlichen drei Differenzierungsformen: die segmentäre, die schichtenmäßige und die funktionale Differenzierungs. Diese Differenzierungsformen ergeben sich aus der Kombination der 4 Luhmann, N., Differentiation of Society, in: The Canadian Journal of Sociology, 2, 1977, S. 29 - 53, S. 32 (im folgenden zitiert als Differentiation). 5 Luhmann, Differentiation, S. 30. 6 Vgl. dagegen: Eder, K., Die Entstehung staatlich organisierter Gesellschaften, Frankfurt a. M. 1976, S. 122, der den Differenzierungsaspekt nicht evolutionär verstanden wissen will. Evolution ist nicht gleich Differenzierung. Vgl. dafür: Luhmann, Differentiation, S. 40. 7 Vgl. dazu: Tyrell, S. 175 -176. 8 Zur Problematik der schichtenmäßigen Differenzierung im Rahmen einer systemtheoretischen Differenzierungstheorie vgl. Tyrell, S. 180 - 182.
6.1 Segmentäre Differenzierung und Temporalstruktur
173
beiden jeweils asymmetrischen Gegensatzpaare: System/Umwelt und Gleichheit/Ungleichheit. Segmentäre Differenzierung erfolgt auf der Basis der Gleichheit sowohl der differenzierten Systeme als auch ihrer gemeinsamen Umwelt; schichtenmäßige Differenzierung beruht auf rangmäßiger Gleichheit im System und Ungleichheit in den Umweltbeziehungen; funktionale Differenzierung schließlich erfolgt nach dem Prinzip der funktionalen Gleichheit im System und der funktionalen Ungleichheit im Bezug zur UmweItD. Der Zusammenhang dieser Hauptdifferenzierungsformen mit der Temporalstruktur der entsprechenden sozialen Systeme ist das Thema der folgenden Analyse. Gemäß der Abfolge ihrer Dominanz in der evolutionären Entwicklung von Gesellschaft beginne ich mit dem Typus der segmentären Differenzierung, der vor allem und als dominierende Form in primitiven Gesellschaften auftritt. "Im großen und ganzen kann man sagen: archaische Gesellschaften sind in ihrer Primärstruktur segmentär differenziertl°. 6.1 Segmentäre Differenzierung und Temporalstruktur "Die begriffliche Unterscheidung von segmentärer und funktionaler Differenzierung gehört traditionell zum konzeptionellen Kernbestand der Theorie gesellschaftlicher Differenzierung", sie findet sich bereits bei Spencer, Durkheim und Parsons ll • Wie ich bereits gesagt habe, ist Segmentierung System differenzierung nach dem Prinzip der Gleichheit der Teile. Die Untergliederung eines Gesamtsystems besteht in einem Nebeneinander von struktur- und funktionsgleichen Segmenten, die sich durch Reihung oder Addition zu größeren Einheiten zusammenfügen, die dann ebenfalls Segmente eines größeren Zusammenhangs sein können, z. B. werden Verwandtschaftsgruppen zu Stämmen zusammengefügt, Stämme wiederum zu Stammesföderationen. Der segmentäre Systemtypus ist weiterhin durch "eine Struktur minimaler oder doch geringer Interdependenz" zu kennzeichnen 12 • Die Verflechtung der Segmente kann gering bleiben wegen der "Multi-Funktionalität" oder "funktionalen Diffusität" des einzelnen Segments 13 • Segmentierung und funktionale Diffusität als die beiden Hauptkennzeichen des segmentären Systemtypus lassen sich verbinden, wenn man die funktionale Diffusität nicht auf das umfassende Gesamtsystem bezieht, sondern auf die einzelnen Segmente, in denen jeweils eine diffuse Bündelung der gesamtsystemisch notwendigen Funktionen anzutreffen ist. Siehe Luhmann, Differentiation, S. 32 ff. Luhmann, Systemtheorie, S. 198. 11 Tyrell, S. 177. 12 Tyrell, S. 178. 13 Tyrell, S. 178. 9
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6. Systemdifferenzierung und Temporalstruktur
In der weiteren Behandlung des Themas beschränke ich mich auf die Analyse der segmentären Differenzierung und der korrelativen Zeitstruktur primitiver Gesellschaften, da hier der Typus der segmentären Differenzierung das primäre Strukturmerkmal ist und am reinsten hervortritt. Das soll nicht heißen, daß wir in primär funktional oder schichtenmäßig differenzierten Gesellschaften keine segmentären Differenzierungen anträfen. Wir finden sekundäre segmentäre Differenzierung z. B. in der Binnendifferenzierung der Wirtschaft in konkurrierende Betriebe und Haushalte, in der Nebenordnung der EinzelfamiIien etc. Segmentäre und funktionale Differenzierung sind also begrenzt kombinierbar, allerdings wohl nur in der Weise der Segmentierung in funktionalenSubsystemen, während umgekehrt primär segmentär differenzierte Systeme kaum interne funktionale, sondern höchstens schichtenmäßige Differenzierungen aufweisen. Ich wähle die primitiven Gesellschaften als Ausgangspunkt, weil hier der Zusammenhang von segmentärer Systemdifferenzierung und Zeitstruktur am klarsten hervortritt, denn es fehlen auf dieser Stufe noch weitgehend alle evolutionär höherstufigen Differenzierungsformen. Hinter dieser Wahl steht somit die Annahme, daß es im wesentlichen die Differenzierungsformen und -grade sind, die für die Form und die Komplexität der systemspezifischen Temporalstrukturen verantwortlich sind. Entsprechend wähle ich auch für die beiden anderen Differenzierungsformen jeweils die Gesellschaftsformationen als Beispiel, in denen sie als primäre Differenzierungsformen auftreten, d. h. also die Ständegesellschaften der Antike und des Mittelalters als Prototypen für schichtenmäßig differenzierte Systeme; die modernen Gesellschaften als Beispiel für funktional differenzierte Systeme. Auf diese Weise kann deutlich werden, wie die Evolution des gesellschaftlichen Zeitbewußtseins abhängt von der Evolution der Differenzierungsformen und damit der Evolution von Gesellschaft überhaupt. Der Funktionshaushalt segmentärer Gesellschaften ist anders als der funktional differenzierter arrangiert: die wesentlichen Funktionsbereiche wie Wirtschaft, Erziehung, Religion und Politik sind in einer "multifunktionalen Monostruktur" fusioniert - in der Familie. Alle zentralen gesellschaftlichen Funktionen werden im "Strukturkontext des Verwandtschaftssystems" abgewickelt 14 • Primitive Gesellschaften sind intern segmentär differenziert in einzelne Familien, Klans, Verwandtschaftsgruppen, diese sind die zentralen Einheiten der sozialen Organisation und zwischen ihnen existieren kaum Statusunterschiede und Funktionsdifferenzierungen. "Es gibt keine Klans, die einen allgemein höheren, mit besonderer politischer Autorität, religiösen Vorrechten 14
Tyrell, S. 179.
6.1 Segmentäre Differenzierung und Temporalstruktur
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oder Zugang zu Reichtum verbundenen Status beanspruchen15 ." Geht man von der Subsystemebene auf die Rollenebene hinunter, so ergibt sich aus der Diffusität und Multifunktionalität der Systemstruktur, daß der Rollenhaushalt in segmentär differenzierten Systemen nur einen geringen Umfang hat und "für den Einzelnen eine Kombinierbarkeit oder gar Wählbarkeit unterschiedlicher Rollen nicht vorsieht"16. Zur Ausdifferenzierung spezifischer Rollen kommt es innerhalb des Verwandtschaftssystems nur situationsweise oder in Form bestimmter Verwandtschaftsrollen, die zumeist auf Unterschiede von Alter und Geschlecht zurückgehen. Die Statuspositionen innerhalb der Verwandtschaftsgruppe bilden die Grundlage für alle speziellen sozialen Rollen, sei es in der Arbeitsteilung 17 , seien es spezifische ökonomische oder technische Funktionen bei der Verteilung oder Produktion von Gütern und Werkzeugen. Abgesehen von den elementaren Differenzierungen von Positionen und Rollen entlang der Unterschiede von Geschlecht und Alter, werden die zahlreichen anderen Handlungsbereiche nicht rollenmäßig ausdifferenziert, das Leben bietet dem einzelnen nur eine Lebensmöglichkeit. "A man's structural future is likewise already fixed and ordered into different periods, so that the total changes in status a boy will undergo in his ordained passage through the social system, ... , can be foreseen 1S ." Entsprechend der aufgezeigten sozialen Strukturen ist nun zu erwarten, daß es Differenzen in den Temporalstrukturen nur zwischen den Männer- und Frauengruppen und ihren altersmäßigen Sondergruppierungen gibt, während zwischen den Verwandtschaftsgruppen keine strukturellen Unterschiede bestehen. Leider finden sich in der ethnologischen Literatur keine Hinweise auf die Existenz unterschiedlicher Zeitstrukturen und Zeitbewußtseinsformen in den einzelnen Alters- und Geschlechtsgruppen, doch läge es nahe, z. B. der Gruppe der erwachsenen Männer aufgrund ihrer politischen, militärischen und wirtschaftlichen Tätigkeiten einen weiteren Vergangenheits- und Zukunftshorizont zuzuschreiben als den weniger am öffentlichen Leben 15 Parsons, Gesellschaften, S.63. "In den primitiven politischen Systemen ist die Differenzierung minimal und politische Funktionen werden - intermittierend - von diffusen Rollen und Strukturen wahrgenommen." Flora, P., Modernisierungsforschung, Opladen 1974, S. 55. 16 Tyrell, S. 179. 17 Wildbeuter leben in Horden für sich. "Kennzeichen: Männer vorwiegend Jäger und Fänger, Frauen hauptsächlich Sammlerinnen; homogene Gesellschaft ohne Schichtung." Vgl. Thurnwald, R., Die menschliche Gesellschaft, Bd. 1, Berlin, Leipzig 1931, S. 33. lS Evans-Pritchard, S. 95. Dagegen betont Fohrbeck den Aspekt der Individualität und der Möglichkeit abweichenden Verhaltens auch in diesen Systemen. Vgl. Fohrbeck, K., Wissen und Bewußtsein als Elemente der Konstitution von "Geschichte" am Beispiel primitiver Gesellschaften, Diss. Frankfurt a. M. 1970.
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6. Systemdifferenzierung und Temporalstruktur
beteiligten Jugendlichen und den Frauen. Wenn es also in diesen segmentären Gesellschaften subsystemspezifische zeitliche Sonderhorizonte gibt, dann sind sie entlang dieser Alters- und Geschlechtsdifjerenzierung ausgebildet. Für die einzelnen Verwandtschaftssegmente dagegen existieren keine alternativen Handlungshorizonte und damit keine alternativen zeitlichen Orientierungen. Die funktionale Diffusität und Egalität der Segmente führt dazu, daß jedes Segment zeitlich weitgehend autonom ist, da die Interdependenzen zwischen den Segmenten gering sein können, ohne den Bestand der Einzelsysteme zu gefährden. Die geringen Synchronisationsprobleme lassen die Ausbildung einer differenzierten übergreifenden Zeitrechnung überflüssig erscheinen, entsprechend sind auch die Zeithorizonte wenig differenziert und reichen nicht sehr weit. Trotz der zeitlichen Autonomie sind, aufgrund der egalitären Struktur der Segmente, strukturell gleichartige Systemzeiten zu erwarten, deren Synchronisation unproblematisch ist und z. B. durch Orientierung an externen Periodizitäten erzeugt werden kann. Es sollen im folgenden die Auswirkungen segmentärer Differenzierung an dem am besten untersuchten Aspekt des Vergangenheitsbewußtseins primitiver Gesellschaften untersucht werden. Wie diese Untersuchungen gezeigt haben, beschränkt sich die geschichtliche Überlieferung, deren Träger meist die Sprecher oder Familienoberhäupter der Klans sind 19 , wesentlich auf die eigene Klangeschichte, d. h. jedes Segment ist vor allem an seiner eigenen Vergangenheit interessiert. Die Traditionsbildung entsteht auf dem Boden der wirtschaftlichen Einheit der Familie in Form familiengeschichtlicher Erinnerungen, vor allem in Form der Ahnenverehrung. Allerdings bleibt der Zeithorizont aufgrund der geringen sozialen Differenzierung in den Segmenten und wegen der mündlichen Form der Überlieferung kurz, deshalb wird allgemein von der Gegenwartsorientiertheit dieser Gesellschaften gesprochen, man spricht sogar von einer "Hypertrophie der Gegenwart". "In der Regel scheint die persönliche Verehrung der verstorbenen Ahnen auf die zwei, drei Vorfahrengenerationen beschränkt, die der Lebende noch selbst gekannt hat20 (vgL den sog. "DrittväterkuIt" bei den Indogermanen). Alles was über den Urgroßvater hinausgeht, bekommt stark mythische Züge mit Einsprengseln von wirklichen Gegebenheiten. Die Klans haben also nur den kurzen Zeithorizont einfacher Sozialsysteme, ihre Geschichte ist begrenzt auf die gemeinsam erlebte Interaktionsgeschichte. Die Identität des gegenwärtigen Systems wird aus der gegenwärtig ablaufenden Interaktion und der unmittelbaren Erinnerung gewonnen und nicht in Absetzung von einer andersartigen Vergangenheit oder 19 Vgl. dazu: Mohr, R., Historische überlieferungen und Gesellschaftsordnung in Kpunda, in: Zeitschrift für Ethnologie, 88, 1963, S. 243 - 265. 20 Kirchner, H., über das Verhältnis des schriftlosen frühgeschichtlichen Menschen zu seiner Geschichte, in: Sociologus NF, 1, 1954, S.9 - 22, S.12.
6.1 Segmentäre Differenzierung und Temporalstruktur
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Zukunft21 • In diesen primitiven Gesellschaften finden wir typisch eine Zwei- oder auch Dreiteilung des Vergangenheitshorizonts: über einige wenige Generationen bleibt, wie wir gesehen haben, die Überlieferung recht präzise und tiefenscharf, eine mittlere Phase ist weitgehend erinnerungs- und datenleer, während noch weiter zurück ein ursprüngliches "Primordium", "a precosmic unhistorical primordiality"22 angenommen wird, "in welchem alle Ereignisse auf der gleichen Zeitebene vorgestellt werden"23. Diese Unterscheidung eines mythischen Primordiums von einer geschichtlichen Zeit ermöglichte gegenüber der sogenannten "dreamtime", einer "präkausal-magischen Strukturierung der Zeit"24, die Ausweitung der segmentären Differenzierung und Verknüpfung von Verwandtschafts gruppen durch die gemeinsame Bezugnahme auf die gleiche Ahnenreihe. Die Verwandtschaftsbeziehungen gewinnen durch diese Verknüpfung eine neue, eine historische Dimension. Diese Verbindung von Geschichte oder Zeitrechnung mit dem Interesse an klar definierten Abstammungs- und Verwandtschaftsbeziehungen wird deutlich bei den Nuer, wo die Zeit weniger als ein Mittel zur Koordinierung von Ereignissen als vielmehr zur Koordination von Sozialbeziehungen verwendet wird, und wo sie deshalb wesentlich in ihrem Vergangenheitsaspekt betont wird, da Verwandtschaftsbeziehungen nur von der Überlieferung her zu bestimmen sind 25 . Diese enge Verbindung von Verwandtschaftsgruppe und erinnerter Geschichte kann auch die partikularistische Beschränkung der Tradition auf die eigene Verwandtschaftslinie verständlich machen. In segmentär differenzierten Sozial systemen scheint der Bedarf für eine übergreifende "Universalgeschichte" aufgrund der strukturellen Gleichartigkeit der Segmente gering zu sein, stattdessen werden segmentspezifische Traditionen ausgebildet. "Das gemeinsame geschichtliche Schicksal des Stammes interessiert kaum jemanden und dementsprechend gibt es auch keine epochale zeitliche Gliederung eines größeren Geschehenszusammenhanges 26 ." Schott führt als Beispiel die Bewohner des LuapulaTales in Sambia an, die genau unterscheiden zwischen den detailliert überlieferten Traditionen einzelner Familien und Verwandtschaftsgruppen und den ziemlich vagen, oft unzusammenhängenden Überlieferungen, die sich auf das Schicksal des ganzen Landes beziehen27 . Die Ver21 Vgl. Luhmann, Weltzeit, S. 117. 22 M. Eliade, zitiert nach Eder, S.56. 23 Schott, Geschichtsbewußtsein, S. 172. 24 Eder, S.55, vgl. dazu auch: Stanner, H., The Dreaming, in: Reader in Comparative Religion, eds. W. A. Lessa / E. Z. Vogt, New York 1972 und ders., The Design of Timeless Myth, in: Oceania, 31, 1961, S. 233 - 258. 25 Vgl. dazu: Evans-Pritchard, S.108. 26 Schott, Geschichtsbewußtsein, S. 172. 27 Schott, Geschichtsbewußtsein, S.186. 12 Bergmann
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6. Systemdifferenzierung und Temporalstruktur
gangenheit erscheint also für die einzelnen Segmente nicht als ein universaler Horizont, sondern bleibt partikularistisch und "egozentrisch". Die segmentspezifische Form der Geschichtsbildung führt dazu, daß auch die Zeitrechnungssysteme partikularistisch auf die Verwandtschaftsgruppen bezogen sind; übergreifende zeitliche Ordnungen oder gar eine abstrakte Chronologie fehlen oder sind zumindest nur sehr inkohärent und vage in ihrer Struktur. Die gemeinsame Zeitrechnung in den Klans und teilweise auch klanübergreifend beruht im wesentlichen: a) auf der Wahl bestimmter vergangener Ereignisse als zeitlichen Referenzpunkten, b) auf der Klan-Genealogie, c) auf der regelmäßigen Struktur des "Age-Set-Systems"28.
ad a) Da die Tradition nicht mit Hilfe einer abstrakten und übergreifenden Chronologie zeitlich geordnet werden kann, orientiert man sich an Ereignissen der Vergangenheit, die aufgrund ihrer Seltenheit oder Besonderheit einen hohen Erinnerungswert besitzen und deshalb als Rejerenzpunkte für die zeitliche Orientierung dienen können. Die je ausgewählten Ereignisse sind natürlich nicht in allen Familien, Dörfern, Stämmen dieselben, so daß es für die einzelnen Einheiten je nach Wohnort und Lebensumständen verschiedene Traditionen und Zeitrechnungseinheiten gibt, die wegen der fehlenden abstrakten, inhaltslosen Zeitzählung nur schwer ineinander umgerechnet werden können. ad b) Die Klan-Genealogie ermöglicht entsprechend der Generationenjolge und der zeitlichen Distanz zwischen den Generationen eine Gliederung der Geschichte und damit eine, wenn auch nicht sehr genaue, Form der Zeitrechnung. ad c) Der Übergang von einer Altersstufe zur nächsten ist in den primitiven Gesellschaften normal nicht fließend, sondern abrupt und genormt und vollzieht sich durch übergangsriten. "Die individuellen Lebensläufe werden dadurch in diskrete und miteinander gleichsetzbare Teilstrecken untergliedert29 ." Diese Normierung und regelmäßige Abfolge der Altersgruppen machen sie als Einheiten der Zeitrechnung brauchbar. Allerdings schränken die lokalen Besonderheiten in der Festlegung der Teilstrecken die übergreifende Verwendung dieser Zeitrechnung ein, auch sie bleibt an einzelne Segmente und lokale Traditionen gebunden. Am ehesten scheint eine Koppelung der segmentspezi28 Evans-Pritchard dazu für die Nuer: "The structural system of timereckoning is partly a seleetion of points of referenee of signifieanee to loeal groups which give these groups a eommon and distinetive history; partly the distanee between sets in the age-set-system; partly distances of a kinship and lineage order." Evans-Pritchard, S. 105 - 106. 29 Stagl, J., Die Morphologie segmentärer Gesellschaften, Meisenheim a. Glan 1974, S.253.
6.1 Segmentäre Differenzierung und Temporalstruktur
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fischen Traditionen durch den Rückbezug auf eine gemeinsame, sich meist in mythische Fernen verlierende Genealogie möglich zu sein. Auf diese Weise gelingt die Integration verschiedener Verwandtschaftsgruppen in ein - wenn auch sehr vages - zeitlich kohärentes System. Diese mythologischen und genealogischen Überlieferungen haben für die einfachen Gesellschaften eine normierende und integrierende Funktion. "Berichte über vergangene Ereignisse dienen der Gruppe als ,Grundgesetz' (Charta), besonders wenn diese Gruppe sich gegenüber anderen Gruppen zu rechtfertigen habe, eigene Ansprüche begründen oder ihren jetzigen Status glorifizieren wolle 30 ." Geschichte wird stark selektiv Barnes spricht in diesem Zusammenhang von "struktureller Amnesie"31 - zur Begründung bestehender Beziehungen zwischen Verwandtschaftsgruppen benutzt; Ereignisse, die dem heutigen Zustand widersprechen, werden vergessen. Geschichtliche Überlieferung dient in diesen Gesellschaften, denen funktionale Äquivalente wie Organisation und Schrift fehlen, sowohl für die Legitimation von Rechts- und Besitzansprüchen als auch für die Orientierung gegenwärtigen HandeIns, für das die historischen Ereignisse als Präzedenzfälle und Vorbilder angesehen werden. Schott spricht deshalb davon, daß "Rechtsbewußtsein und Geschichtsbewußtsein aus einer gemeinsamen Wurzel" hervorgehen, "aus der Erinnerung an Vergangenes, welches für die Gegenwart normative Kraft beansprucht"32. Wir können also insgesamt für die primitiven Gesellschaften von einer Prävalenz der Gegenwartsorientierung sprechen, wobei die Vergangenheit insoweit berücksichtigt wird, als sie für die Gegenwart handlungsrelevante Gesichtspunkte liefern kann. Dagegen bleibt die Zukunft in ihrer Bedeutung zurück. Die funktionale Diffusität und die Egalität der Segmente halten das Ausmaß alternativer Handlungsmöglichkeiten gering, die Folge ist, daß ein planender Vorgriff auf die Zukunft nicht nötig ist, daß also der Zukunftshorizont wesentlich ein Nahhorizont bleiben kann 33 . Solange die primitiven Gesellschaften rein segmentär differenziert bleiben und keine Schichtung der Segmente kennen, bleibt die geschichtliche Überlieferung an die einzelnen Verwandschaftsgruppen gebunden, d. h. auch: an die kurzen Zeithorizonte einfacher Interaktionssysteme, die sich über das Prinzip der gleichzeitigen Anwesenheit der Mitglieder definieren (vgl. Kap. 8.1). Diese partikulare Sippengeschichte kann zur offiziellen 30 Schott, Geschichtsbewußtsein, S. 184, unter Bezug auf Malinowski. 31 Barnes, J. A., The Collection of Genealogies, in: Rhodes-Livingstone Journal: Human Problems in British Central Africa, 5, 1947, S. 48 - 56, S.52. 32 Schott, Geschichtsbewußtsein, S. 185. Kirchner geht sogar noch weiter und spricht der kultischen und rechtlichen Sphäre den größten Einfluß auf die Ausbildung eines "historischen Sinnes" zu (vgl. Kirchner, S. 16). 33 Zum Fehlen eines entwickelten Planungsbegriffs, vgl. Bailey, F. G., The Peasant View of the Bad Life, in: Peasants and Peasant Society, ed. T. Shanin, Harmondsworth 1973, S. 299 ff., S. 313 - 316. 12·
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6. Systemdifferenzierung und Temporalstruktur
Überlieferung eines ganzen Stammes werden, wenn es einer Verwandtschaftsgruppe gelingt, die politische Führung zu übernehmen. Damit gehen allerdings die strikt segmentären oder "egalitären" Systeme zu einem "fortgeschrittenen primitiven Typus"34 über, denn sobald Herrscherfamilien politische Führungfunktionen übernehmen, ist die strikte Statusäquivalenz der Verwandtschaftsgruppen aufgelöst; statt von egalitären Abstammungssystemen sprechen wir dann von hierarchisierten Systemen35 • Während es in den segmentär differenzierten Gesellschaften nur eine beschränkte Ungleichheit in Form von Alters- und Geschlechtsdifferenzierung gab, erfolgt in den fortgeschritteneren archaischen Gesellschaften eine Hierarchisierung der Verwandtschaftsgruppen selbst: "Es entstehen vertikal geschichtete Statusgruppen, es entsteht Stratifikation 36 ." Die Hierarchisierung erzeugt soziale Ungleichheit im Hin~ blick auf den Zugang zu Prestige, Wissen und Macht und tendiert letzt~ lich zur funktionalen Differenzierung dieser Bereiche in Form von ständischen Hierarchien; damit wären wir dann schon bei der nächsten Hauptform von Differenzierung (vgl. Kap. 6.2)37. Über die Veränderung der Temporalstrukturen in dieser Übergangsphase ist wenig auszumachen. Die Übernahme der politischen Führung durch eine Verwandtschaftsgruppe führt meist zu einer Verabsolutierung ihrer Geschichte, die zur Tradition eines ganzen Stammes wird. So nennt auch Kirchner die Namensreihen der Herrscher- und Fürstengeschlechter bzw. die Genealogie des regierenden Häuptlings das "Grundgerippe" stammesgeschichtlicher Überlieferung, dies gilt gleichermaßen für germanische Stämme der Völkerwanderungszeit wie für primitive afrikanische Stämme38 • Parsons betont für die Übergangsphase die wachsende Bedeutung der Kollektivität als solcher, es entsteht ein Bedürfnis nach Abgrenzung. "Daher besteht ein Zwang, die kollektive Identität der Gesellschaft eindeutiger und expliziter zu symbolisieren ... 39." Dazu gehört vor allem auch die Herstellung einer offiziell und für alle geltenden Stammesgeschichte. Erfolgte die Weitergabe der Tradition bis dahin innerhalb der Generationsfolge vom Vater auf Parsons, Gesellschaften, S.71. In der Ethnographie werden Abstammungssysteme in sogenannte "egalitäre" und "hierarchisierte" unterschieden. Egalitäre Abstammungssysteme hierarchisieren die Abstammungslinien nicht und kommen deshalb auch zu keiner bedeutenden "Politisierung" der Gesellschaft (vgl. Eder, S.75). 36 Eder, S. 178. 37 Eder spezifiziert den Selektionsdruck, unter dem Verwandtschaftssysteme durch politische Organisationsformen ersetzt werden; eine Ursache liegt in demographischen Veränderungen (Bevölkerungswachstum u. B.dichte), eine andere in ökologischen Bedingungen (vgl. Eder, S. 64 - 66). 38 Kirchner, S. 16 - 18. 39 Parsons, Gesellschaften, S.74. 34
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6.1 Segmentäre Differenzierung und Temporalstruktur
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den Sohn, so werden entsprechend der gewachsenen Bedeutung der Stammesgeschichte jetzt im politischen "System" spezifische HistorikerRollen ausdifferenziert, z. B. die Rolle des Chronisten, die des Sängers und Rhapsoden, die meist zur Gefolgschaft des politischen Führers gehören 40. Diese Spezialisierung führt zur Lebendighaltung der Tradition und sicher auch zu einer Ausdehnung der Weite und Tiefenschärfe des Vergangenheitshorizonts - auch wenn nach wie vor nur eine relative Chronologie existiert. So verfügen z. B. die Polynesier über Stammbäume, die an die mythische Zeit anknüpfen und sich bis auf ungefähr hundert Generationen ausdehnen41 • Ob und wieweit die sich funktionsspezifisch aufschichtenden Teilsysteme eigene, abweichende Temporalstrukturen ausgebildet haben, läßt sich anhand des vorliegenden Materials nicht sagen, doch ist eine Entwicklung hin auf die Temporalstrukturen geschichteter Sozialsysteme zu erwarten (vgl. folgendes Kap.). Soweit eine Analyse der Temporalstrukturen primär segmentär differenzierter Gesellschaften. Sicherlich gehen nicht alle aufgeführten Strukturmerkmale des archaischen "Zeitbewußtseins" allein auf die Form der sozialen Differenzierung zurück, es sind auch Faktoren wie Bevölkerungszahl, ökologische Gegebenheiten u. ä. zu bedenken. Außerdem ist einschränkend zu sagen, daß die Aussagen sich nur auf primär segmentär differenzierte Gesellschaften beziehen und nicht auf segmentäre Sekundärdifferenzierungen primär geschichteter oder funktional differenzierter Gesellschaften, denn dort herrschen für die Segmente ganz andere innere Umweltbedingungen, die zur Ausbildung ganz anderer Zeitstrukturen auch in den Segmenten nötigen. Was bleibt also an temporalen Strukturen rein auf die segmentäre Form der sozialen Differenzierung beziehbar? 1. Für die einzelnen Segmente herrschen weitgehend gleiche Umweltbedingungen, d. h. es sind grundlegend gleiche Temporalstrukturen für alle zu erwarten, wenn auch die konkreten Systemgeschichten variieren können. Alle Segmente operieren auf der gleichen evolutionären Stufe des Zeitbewußtseins, was in funktional differenzierten Gesellschaften nicht immer der Fall ist.
2. Die Multifunktionalität der Segmente hält die Synchronisationserfordernisse zwischen den System zeiten gering. Gegenüber ihrer sozialen Umwelt besitzen die Segmente also eine hohe zeitliche Autonomie, d. h. Phänomene wie Zeitknappheit und Wartezeiten wird es im sozialen Verkehr kaum geben. 3. Da die Segmente unabhängig voneinander operieren können und nicht auf die Bereitstellung spezifischer Leistungen für andere und 40 41
Vgl. dazu Schott, Geschichtsbewußtsein, S.186 und Kirchner, S.18. Kirchner, S. 18.
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6. Systemdifferenzierung und Temporalstruktur
durch andere Segmente angewiesen sind, "arbeiten" alle Segmente sozusagen parallel in der gleichen Gegenwart, d. h. es gibt zwischen den Segmenten keine sukzessiv geordneten Input-/Outputbeziehungen, damit auch keine besonderen "Tempoansprüche". 4. Die geringen Synchronisationsbedürfnisse lassen präzise Zeitrechnungssysteme und eine integrierende "Weltzeit" als weitgehend überflüssig erscheinen. Eine gemeinsame, übergreifende Zeit- und Geschichtsorientierung ist nur wenig ausgebildet. Die Zeithorizonte der Segmente bleiben familiengeschichtlich begrenzt. 6.2 Scbicbtenmäßige Differenzierung und Temporalstruktur
Die Unterscheidung von sozialer Schichtung und funktionaler Differenzierung steht quer zu der von segmentärer und funktionaler Differenzierung. Sie beruht nicht auf dem Gegensatz Gleichheit/Ungleichheit der Teile, sondern auf dem abstrakten Gegensatz der Gleichheit und der Ungleichheit des Ranges der Teile. Während segmentäre und funktionale Differenzierung miteinander unverträglich sind, besteht zwischen Schichtung und funktionaler Differenzierung eine gewisse Kompatibilitätl . In der Systemtheorie von Parsons und Luhmann wird Schichtung im Kontext der Theorie gesellschaftlicher Differenzierung abgehandelt, doch ist diese Plazierung in der Diskussion noch umstritten2 • Die Ausdifferenzierung von Herrschaftsrollen in archaischen Gesellschaften und die Etablierung vertikaler Statusdifferenzen wird als "epochaler Differenzierungsvorgang" gewertet, der aus der segmentären Gesellschaftsstruktur herausführt und der den evolutionären, kaum mehr reversiblen Durchbruch zur "Hochkultur" wesentlich ausmacht 3 • über die Hierarchisierung von Verwandtschaftsgruppen gehen die segmentären Gesellschaften also in geschichtete über; funktionale Spezialisierung wird in Form vertikaler Differenzierung institutionalisiert. Die Kombination funktionaler und vertikaler Differenzierung ergibt in den hochkulturellen Gesellschaften eine Stratifikation in Stände oder Schichten, in der "funktional differenzierte Handlungsbereiche (Religion, Politik, Handel, Landwirtschaft, WB) als vertikal geschichtete Statusgruppen miteinander verbunden werden"4, im Gegensatz zu den archaischen Gesellschaften, in denen gleiche Segmente in eine hierarchische Ordnung gebracht werden. Stellte die segmentäre Differenzierung die früheste Stufe gesellschaftlicher Differenzierung dar, so dominiert Vgl. Luhmann, MS, S. 447 f. Vgl. dazu: Tyrell, S. 180 f. und Rüschemeyer, D., Reflections on Structural Differentiation, in: ZfS, 3, 1974, S. 279 - 294, S. 284. 3 Tyrell, S. 180. 4 Eder, S. 178. 1
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6.2 Schichtenmäßige Differenzierung und Temporalstruktur
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die schichtenmäßige auf der "mittleren Stufe" des vorherrschenden Drei-Stufen-Modells gesellschaftlicher Evolution5 , man bezeichnet diesen Gesellschaftstyp übergreifend als hochkulturelle, traditionale oder Ständegesellschaft6 • Ich wähle also wie schon im vorigen Abschnitt zur Analyse des Verhältnisses von Schichtung und Zeitstruktur den Gesellschaftstyp, in dem schichten- oder standesmäßige Differenzierung die primäre Differenzierungsform ist, d. h. natürlich nicht, daß es nicht schon in primitiven Gesellschaften Ansätze zu sozialer Schichtung zumindest auf Rollenebene (Alters- und Geschlechtsrollen) gibt, und daß nicht moderne Gesellschaften auch stratifiziert sein können. Auf beiden Stufen haben aber jeweils andere Differenzierungsformen als die Schichtung den Primat7. Systemtheoretisch läßt sich diese Differenzierungsform wie folgt be~ schreiben: "Stratification differentiates the society into unequal subsystems. It brings to coincidence the asymmetries of system/environment and equality/inequality in the sense that equality becomes a norm for internal communication and inequality becomes a norm for communication with the environments." Schicht wird hier also als ein soziales System aufgefaßt und nicht als ein Aggregat von Rollen und Positionen; die Identität der Subsysteme ergibt sich aus der Gleichheit des sozialen Status. Wir haben also eine einheitliche, eindimensionale Hierarchie, denn die Oberschichten sind in jeder Hinsicht privilegiert - sie besitzen mehr Macht, die Kontrolle der wirtschaftlichen Güter etc. Diese eindimensionale Statushierarchie wird durch die zunehmende funktionale Differenzierung in der Moderne aufgelöst, da soziale Schichtung mit einem hohen Ausmaß funktionaler Differenzierung nicht mehr kompatibel zu sein scheint9 • Die eindimensionale Hierarchisierung durch Schichtung zielt funktional gesehen auf "Kommunikationserleichterung zwischen Ranggleichen"lO aufgrund von Statusgleichheit, wie umgekehrt die Ungleichheit zwischen den Schichten Grenzen der Kommunikation zieht - "status differences inhibit social intercourse" , d. h. wir können Differenzierung definieren in Begriffen der Restriktion von Interaktionl l . Für die Kommunikation unter Gleichen gelten andere 6 Flora unterscheidet in seiner Entwicklungstypologie politischer Systeme drei Stadien: primitive, traditionelle und moderne Systeme (S. 54). 6 Vgl. Tyrell, S. 180. 7 Mit dieser Aussage ist natürlich eine Abwertung der Schichten- und Klassenproblematik für die Moderne verbunden, denn Stratifizierung erscheint hier nurmehr als sekundärer Differenzierungsmodus. - Welche Folgen hat das für die Theorie des schichtenspezifischen Zeitbewußtseins z. B. für das DGP? - dazu: Kap. 6.2.1. S Luhmann, Differentiation, S. 33. 9 Vgl. dazu: Luhmann, MS, S. 448 u.451. 10 Tyrell, S. 181.
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6. Systemdifferenzierung und Temporalstruktur
Regeln als für die zwischen Ungleichen. Schichtengrenzen sind also Kommunikationsgrenzen und Sinngrenzen, deshalb spricht Tyrell auch von der "Etablierung von kulturell deutlich geschiedenen Schichten oder Klassen 12. Wie in der Systemtheorie übereinstimmend betont wird, sind Differenzierungsprozesse systeminterne Prozesse der Trennung eines Systems in Subsysteme, d. h. "strukturell fusionierte Funktionskomplexe (treten auf) jeweils stärkere Spezialisierung und ,relative Autonomie' hin" auseinander13 . Es kommt zur Ausbildung von ökonomischen (Städten), religiösen (Tempeln) und politischen Zentren, zur sozioökonomischen und symbolischen Differenzierung von Zentren und Peripherie etc. 14 • Wir können also erwarten, daß sich entsprechend dieser auch symbolisch vollzogenen schichtenmäßigen Differenzierung auch die Temporalstrukturen differenzieren, d. h. statt der für die segmentäre Form typischen Gleichheit des Zeitbewußtseins der Segmente, werden wir schichten-funktionsspezifische Unterschiede finden. Denn parallel zur sozialen Differenzierung kommt es auch zu einer Differenzierung der Symbolsysteme, zu denen ich ja auch das Zeitbewußtsein und Systeme der Zeitrechnung zähle. Gemäß der These von der "horizontalen Kommunikationserleichterung" und ihrem Pendant der vertikalen Kommunikation als "grenzüberschreitender Kommunikation"15, ist innerhalb der Schichten von einer sehr einheitlichen Zeitstruktur auszugehen, während zwischen den Schichten deutliche Unterschiede zu erwarten sind. So betont Ullmann sehr deutlich die große Kluft zwischen der politisch-religiösen Oberschicht und dem "Rest" der Gesellschaft: "Precisely because there was a gulf between the ,higher and lower regions' it would appear not only that the somewhat rarefied dortrines propounded within the former failed to reach the latter, but also that extremely little effort has in fact been made to extend theory and speculation to the illiterate and uneducated sections 16 ." Er spricht damit ein Problem an, das sich sehr ungünstig auf die Vergleichsmöglichkeiten schichtenspezifischer Zeitstrukturen in traditionalen Gesellschaften auswirkt, nämlich die sehr einseitige historische überlieferung. Das historische Material überliefert stets nur das Zeit- und Geschichtsverständnis der herrschenden, schriftkundigen Oberschichten, während die Auffassungen der unteren Schich11 Blau, P. M., Parameters of Social Structure, in: American Sociological Review, 39, 1974, S. 615 - 635, S. 620 u. 624. 12 Tyrell, S. 180. 13 Tyrell, S. 182. 14 Vgl. dazu: Eisenstadt, S. N., Social Differentiation and Stratification, Glencoe, Ill., London 1971, S. 77 (im folgenden zitiert als Social Differentiation). 15 Luhmann, MS, S. 452. 18 Ullmann, B. L., The Individual and Society in the Middle Ages, Baltimore 1966, S. 55.
6.2 Schichtenmäßige Differenzierung und Temporalstruktur
185
ten im Dunkeln bleiben. Wir finden deshalb in der Literatur, anders als im Fall der gut untersuchten und einheitlicheren primitiven Gesellschaften, nur verstreute Hinweise, aber keine zusammenhängende Darstellung der schichtenspezifischen Ausprägung der Zeitstrukturen für die Hochkulturen. Zu dieser Schwierigkeit kommt für den Soziologen noch eine weitere hinzu, nämlich ein Abstraktionsniveau zu finden, das eine Vergleichbarkeit der vielgestaltigen, sich über einen Zeitraum von ca. 5000 Jahren hinziehenden, hochkulturellen Gesellschaften unter dem einheitlichen Gesichtspunkt ihrer Differenzierungsform erlaubt. Die Analyse der Auswirkungen schichtenspezifischer Differenzierung auf die Temporalstruktur wird deshalb nur stark generalisierte und damit auch unbestimmte Aussagen treffen können. Die einzige mir bekannte soziologische Arbeit, die sich überhaupt mit der Zeitstruktur hochkultureller Gesellschaften beschäftigt, stammt von G. Gurvitch; sie kann uns einige Hinweise geben und soll deshalb hier kurz referiert werden, auch wenn ich den zugrundeliegenden Zeitbegriff und seine typologische Methode ablehnen muß (vgl. Einleitung).
Exkurs: G. Gurvitch -
Zur Zeitstruktur von Feudalgesellschaften
In seinem Buch: "The Spectrum of Social Time" findet sich ein Kapitel, das die Temporalstrukturen der verschiedenartigen Typen stratifizierter Gesellschaften zum Gegenstand hat (Kap. VII, S.103 bis 128). Da Gurvitch nicht ganz allgemein nach der Wirkung von Stratifikation auf Zeitstrukturen fragt, sondern die Zeitstrukturen aller historisch bekannten Gesellschaftstypen analysieren will, findet sich auch bei ihm kein umfassender Begriff von tradition al er oder hochkultureller Gesellschaft. Statt dessen differenziert er - gemäß der klassischen politischen Theorie - Gesellschaften nach ihrer vorherrschenden politischen Organisationsform in vier Typen l7 : 1. charismatische Theokratien, 2. patriarchalische Gesellschaften, 3. Feudalgesellschaften, 4. antike Stadtstaaten und Imperien l8 . Ich wähle seine Analyse der Feudalgesellschaft und ihrer Zeitform als Beispiel. Nach Gurvitch ist die Feudalgesellschaft gekennzeichnet durch die Existenz und den Wettstreit verschiedener, teilweise voneinander unabhängiger Hierarchien: 1. der militärischen Hierarchie, 2. der patriarchalischen Hierarchie, 17 Nach Luhmann ist diese Form der Schematisierung für eine soziologische Theorie, die auch Evolution berücksichtigen will, nicht sehr gut geeignet und sollte durch eine System/Umwelt Theorie und eine entsprechende Theorie der gesellschaftlichen Differenzierung ersetzt werden. Luhmann, Differentiation, S. 40. 18 Vgl. eine teils übereinstimmende, teils abweichende Typisierung bei Eisenstadt : 1. Häuptlingstümer, 2. Stammesföderationen, 3. patrimoniale und feudale Gesellschaften, 4. Stadtstaaten, 5. imperiale Staaten. Eisenstadt, Social Differentiation, S. 87.
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6. Systemdifferenzierung und Temporalstruktur
3. der staatlichen Hierarchie, 4. der Hierarchie der Kirche, 5. der internen hierachischen Ordnung der Freien Städte. Weiterhin sind kennzeichnend ein starker Stadt/Land-Gegensatz, das Vorherrschen korporativer Vereinigungen wie z. B. Gilden etc., sowie eine starke soziale und eine geringe technische Arbeitsteilung. Aufgrund dieser strukturellen Kennzeichen stellt Gurvitch eine "feudal time sc ale" auf, womit gemeint ist eine entsprechende Ordnung seiner acht Zeittypen19 nach dem Grad ihrer Wichtigkeit für die Feudalgesellschaft. Gurvitch bestimmt mit seinen Zeittypen nicht das soziale Zeitbewußtsein eines Sozialsystems - wie ich es tue -, sondern seine Analyse richtet sich auf eine als objektiv angenommene Zeitstruktur, d.h. eine Zeitstruktur, in der die Ereignisse in diesen Systemen geordnet sind; er benutzt damit den von den Historikern der "Annales" herausgearbeiteten Begriff von historischer Zeit, d. h. einer Zeit, in der auf verschiedenen Ebenen die Ereignisse verschieden schnell und in allen möglichen Formen ablaufen. Zeit wird also hier wesentlich als reale Zeit, geordnet nach der B-Reihe begriffen, sie ist bewußtseinsunabhängig und setzt sich "quasi hinter dem Rücken" des systemspezifischen Zeitbewußtseins durch. Seine "time scale" für die Feudalgesellschaft sieht nun folgendermaßen aus: 1. "Deceptive time" - es herrscht vor eine Täuschungs- und Überraschungszeit; unter dem Anschein einer langsam und gleichmäßig verlaufenden Zeit können unerwartete Krisen aufbrechen, die zu einer zeitlichen Diskontinuierung zwischen Vergangenheit und Zukunft führen (ev. ist hier an Bauernkriege, an das Auftreten religiöser Erneuerungsbewegungen wie Reformorden, Wiedertäufer etc. gedacht); 2. Alternierende Zeit, d. h. eine Zeit, die ein diskontinuierliches Tempo besitzt; sie entsteht aus dem Konflikt der Hierarchien untereinander, Reformationen und Gegenreformationen wechseln sich ab; 3. so kann es zum Aufeinanderprall der vorlaufenden und der retardierenden Zeit kommen, 4. die Trennung von Stadt und Land drückt sich aus in zwei gegensätzlichen Zeitformen" "time is leaping forward in the city"20, während auf dem Land die Zeit langer, unterschiedsloser Dauer dominiert; 5. "Erratic time" - Zeit der Diskontinuitäten und Rhythmenwechsel, die begründet ist im Konflikt der Hierarchien und einem plötzlichen Aufbrechen demographischer Verschiebungen; es dominiert die Gegenwart und ein Endzeitbewußtsein. Neben bzw. unter diesen Ereignisstrukturen der Oberflächenstruktur gibt es bei Gurvitch jeweils noch eine Zeitskala für die zugrundeliegenden "total social phenomena"21. In unserem Fall bleiben die Zeitstrukturen der Tiefenschicht hinter denen der "feudal structure" zurück, was im wesentlichen auf die ökologische Basis der Feudalgesellschaft 19 Vgl. Gurvitch, Spectrum, S. 30 f. 20 Gurvitch, Spectrum, S. 120. 21 Vgl. dazu: Gurvitch, G., Dialektik und Soziologie, Neuwied, Köln, 1965,
S.307.
6.2 Schichtenmäßige Differenzierung und Temporalstruktur
187
(Landwirtschaft) zurückzuführen ist. Denn hier herrscht 1. die Zeit der verlangsamten Dauer und langsamer Veränderungen vor, sie verläuft kontinuierlich und vergangenheitsbezogen. An zweiter Stelle steht die zyklische Zeit, sie beruht auf dem jährlichen Naturrhythmus; an dritter die retardierende Zeit. Die Verschiedenheit der Zeitstrukturen in der Oberflächen- und Tiefenstruktur der Gesellschaft führt zu zusätzlichen Konflikten in dem Zeithaushalt der Gesamtgesellschaft. Man sieht, daß auch bei Gurvitch das Moment der Schichtung, d. h. das Moment der vertikalen Verknüpfung der von ihm aufgeführten Teilhierarchien, und eine entsprechende Analyse schichtenspezifischer Zeitbewußtseinsformen vernachlässigt wird; stattdessen analysiert er den Feudalismus als Globalstruktur, ohne überdies genügend von seiner historischen europäischen Erscheinungsform zu abstrahieren. Dennoch ist seine Zuordnung von Zeitstrukturtypen auch für mich interessant, wenn ich sie auf die starke vertikale Differenzierung der Gesellschaft beziehe, d. h. auf Schichtendifferenzen hin uminterpretiere. Es soll versucht werden, nun einige allgemeine Aussagen hinsichtlich des Zusammenhangs von Schichtendifferenzierung und Zeitbewußtseinsformen in hochkulturellen Gesellschaften zu treffen. Wie wir oben schon gesehen haben, erfolgt der übergang von den primär segmentär differenzierten Gesellschaften zu den stratifizierten archaischen und hochkulturellen Gesellschaften auf dem Wege der Ausdifferenzierung politischer Herrschaftsgruppen, begleitet von einer parallel laufenden Ausdifferenzierung religiöser Systeme. Die so entstehenden funktional spezialisierten Gruppen werden als vertikal geschichtete Statusgruppen miteinander verbunden. Diese hierarchische Gliederung und zugleich Zentrierung funktional spezialisierter Gruppen in der hochkulturellen Gesellschaft hat drei wesentliche Folgen: zwischen den einzenen Ständen, insbesondere an der Spitze der Hierarchie, kommt es zu Konflikten (bestes Beispiel ist hier der "Investiturstreit"); es besteht ein starker Gegensatz zwischen Zentrum (Stadt) und Peripherie (Land); es besteht eine besonders ausgeprägte Differenz zwischen den "höheren" Schichten und den "niederen". Die Ausdifferenzierung der Herrschaftsrollen und der Konflikt insbesondere zwischen Adel und Priesterschaft stellen an die einzelnen Schichten Legitimationsanforderungen, die wegen der weitgehenden Selbstrekrutierung der Mitglieder aufgrund ihrer Herkunft nur in der Vergangenheit gefunden werden kann. Die Legitimationsbedürftigkeit der politischen und religiösen Ordnung führt zu einer Expansion des Vergangenheitshorizonts und zu einer Aufhebung der Zweiteilung des Zeitbegriffs in mythische Vorzeit und historische Nahzeit. An die Stelle der zwei getrennten Zeitformen tritt, zumindest für die Oberschichten,
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6. Systemdifferenzierung und Temporalstruktur
eine einheitliche, kontinuitätsstiftende Konstruktion der historischen Zeit, sie wird gewöhnlich bis zu einem absoluten Ursprung im Kosmos zurückgeführt und von dort her als fiktive Stammes- und Reichsgeschichte rekonstruiert. Wie wichtig die Geschichte als einheitsstiftender und legitimierender Faktor bestehender politischer Ordnung ist, wird daran deutlich, daß alle Geschichten koexistierender Gesellschaften nicht als parallele, sondern als bloße Vorgeschichte der eigenen Gesellschaft in die eigene Geschichte integriert werden. Voegelin spricht deshalb auch von einer "brutalen Konstruktion linearer Geschichte"22. Da der Kosmos nur eine zeitliche Ordnung haben kann, ein abstrakter Zeitbegriff, der so etwas wie Gleichzeitigkeit und Umrechenbarkeit ermöglichen würde, aber fehlt, wird Koexistenz in ein Folgeverhältnis, in eine eindeutige Ordnung uminterpretiert. "Linearische Konstruktionen entspringen der Angst um Bestand und Legitimität der Ordnung; sie haben die Funktion, durch eine Art von magischem Zwang die jeweilige Ordnung zu restaurieren, zu legitimieren oder revolutionär zu etablieren23 ." Diese einheitliche Geschichtskonstruktion ermöglicht per Extrapolation auch die Eröffnung eines beschränkten und noch geschlossenen Zukunfts horizonts. Die Historie konnte als "magistra vitae" begriffen werden und erlaubte so die Ableitung "moralischer und rationaler Schlüsse", d. h. kausaler Ursache- und Wirkungsverhältnisse sowie auch die Verlängerung der Geschichte in die Zukunft im Sinne von "Handlungsdirektiven"24. Die Auseinandersetzung zwischen der religiösen und der politischen Oberschicht, die z. B. ja in Europa die gesamte Spätantike und das Mittelalter durchzieht, wird vor allem auf dem Hintergrund der Geschichte geführt, da Ansprüche nur mit Hilfe historischer Legitimation, sei es durch Urkunden, durch bestimmte Ereignisse der Vergangenheit, sei es durch Tradition oder Sitte, durchgesetzt werden können. Ein Indiz dafür ist die Häufigkeit von Fälschungen im Mittelalter, prominentestes Beispiel dürfte die "Konstantinische Schenkung" sein. - Voraussetzung für die Expansion des Zeitbewußtseins in den Oberschichten und zugleich ein wesentliches Differenzierungsmerkmal gegenüber den unteren Schichten ist die Erfindung und Beherrschung der Schrift. Die schriftliche Fixierung von Ereignissen und Regeln ermöglicht einmal ein weiteres und tiefenschärferes Vergangenheitsbewußtsein, die Aufrechterhaltung einer schriftlichen Tradition, zum anderen ist sie ein "Mechanismus der Invarianz gegenüber kontingenten Veränderungen"25, d. h. ein letzten Endes zeit ausschaltendes und damit stabilisierendes Medium, denn schriftliche Fixierungen bleiben unab22 Voegelin, E., Anamnesis. Zur Theorie der Geschichte und Politik, München 1966, S. 84 (im folgenden zitiert als Anamnesis). 23 Voegelin, Anamnesis, S. 9. 24 Luhmann, Weltzeit, S. 117. 25 Eder, S. 89.
6.2 Schichtenmäßige Differenzierung und Temporalstruktur
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hängig von ihrem raum-zeitlichen Entstehungsvorgang erhalten. Die Schriftbeherrschung dürfte ein sehr wesentlicher Mechanismus der schichtenspezifischen Differenzierung des Zeitbewußtseins in den Hochkulturen sein, sie ermöglicht den Oberschichten eine bessere Bewahrung der Tradition, einen größeren raumzeitlichen Kommunikationsradius (Fernhandel, politische Organisation), die Etablierung einer leistungsfähigen Administration, die Fixierung rechtlicher Regeln, die gegenüber sich ändernden Machtverhältnissen stabil bleiben usw. Eder sieht in der Schrift und der damit verbundenen Möglichkeit der Fixierung rechtlicher Regeln "das zentrale Indiz für eine gelingende institutionelle Stabilisierung des Organisationsprinzips hochkultureller Gesellschaften"26. Der Hauptgegensatz besteht, trotz aller Interessenkonfiikte zwischen den oberen Schichten, zwischen den "höheren" und "niederen" Ständen, die sich in ihren Lebensformen weit stärker unterscheiden dürften als die Angehörigen der verschiedenen Stände an der Spitze der Hierarchie. Die Schärfe dieser Grenze wird aufgrund der askriptiven Basis der Schichtzugehörigkeit nicht durch die Möglichkeit des Aufsteigens gemildert. Ein sozialer Aufstieg oder überhaupt eine Aufstiegsorientierung, und damit auch eine Orientierung am Zeitbewußtsein der Zielschicht, sind selten 27 • Die Schichtenschranke (und damit die Bewußtseinsschranke) ist auch deshalb noch wesentlich unübersteigbarer als in modernen Gesellschaften, weil sie nicht nur auf einem Merkmal beruht, z. B. auf Herkunft oder Reichtum allein, sondern zugleich mit niederer Herkunft einschließt: politische Machtlosigkeit28 , geringe Teilnahmemöglichkeit an der Kultur, ökonomische, rechtliche und teils auch religiöse Unterprivilegierung. Wir können also mit einer entsprechend großen und scharf ausgeprägten Differenz zwischen den Zeitstrukturen der Ober- und Unterschichten rechnen, wobei jedoch leider über das Zeitbewußtsein der Unterschichten historisch kaum etwas auszumachen ist. Man kann sie meist überhaupt nur als ein Gegenbild oder als eine defiziente Form der Zeitstrukturen in den Oberschichten darstellen. Teils verstärkend, teils abschwächend wirkt der Gegensatz von Zentrum (Stadt, Königssitz) und Peripherie (Land und Provinz) auf die Schichtendifferenzierung ein. Er wirkt abschwächend, insofern die 26 Ebd. 27 Vgl. die Zahlen für soziale Mobilität in Ständegesellschaften b. Flora,
S.43.
28 Vgl. für das Athen des 5. Jhdts. C. R. Seager: Die übernahme eines Amtes setzt "Muße" voraus, diese besitzen jedoch nur die Aristokraten und die Wohlhabenden. Seager, C. R., Elitism and Democracy in Classical Athens, in: The Rich, the WeIl Born and the Powerful, ed. F. C. Jaher, Urbana, Chicago, London 1973, S. 7 - 26, S. 13 - 14.
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6. System differenzierung und Temporalstruktur
Ausbildung von politischen oder religiösen Zentren innerhalb einer Gesellschaft nach Eisenstadt die Loslösung von der Herkunftsgruppe ermöglichte. "The center in these first stages of differentiation was not only structurally differentiated from the major ascriptive groups, but also distinct from them, being largely identical with relatively c10sed but al ready differentiated high er status-groups29." In den Zentren entwickeln sich spezifische Schichtungssysteme mit eigener hierarchischer Ordnung, die quer stehen zu den traditionellen, ländlichen Hierarchien; das kann zur Folge haben, daß entweder die Schichten- und Zeitgrenzen sich auflockern, oder daß die Hauptdifferenzen in den Strukturen des Zeitbewußtseins nicht mehr den schichtenmäßigen Differenzen, sondern der Differenz von Zentrum und Peripherie entsprechen. Der Gegensatz von Stadt und Land kann aber auch verstärkend wirken, wenn sich die religiös-politischen Oberschichten in den Zentren konzentrieren und damit noch mehr Abstand zum Leben der ländlichen Bevölkerung bzw. der niederen Schichten bekommen. Insgesamt können wir erwarten, daß "Zeit" für die Oberschichten und für die Stadtbewohner bei der Regelung ihres Zusammenlebens und bei der Erfüllung ihrer politischen, religiösen und ökonomischen Aufgaben eine größere Rolle spielte als für das Gros des Volkes. Die Entwicklung der Uhr im Umkreis des Mönchtums spricht für diese These. Außerdem bedeutete das "Stadtleben" eine gewisse Loslösung vom naturbestimmten Leben auf dem Lande, d. h. an die Stelle der Orientierung an den zeitlichen Veränderungen in der Natur trat die an politischen und ökonomischen Ereignissen. Mit Gurvitch 30 ist deshalb ein Unterschied im Zeittempo zwischen beiden Bereichen zu erwarten: auf der einen Seite ein Bewußtsein von Dauer oder langsam verfließender Zeit mit einer Dominanz der Gegenwartsorientierung, auf seiten der Oberschicht in den Zentren dagegen ein Bewußtsein raschen Wandels und eine Orientierung an der Vergangenheit (Legitimation) und beschränkt auch an der Zukunft. Für den Bauernstand z. B. dürfte sich der Zeithorizont auf den jährlichen Naturzyklus, die Abfolge kirchlicher Feste und auf die Spanne der eigenen Lebenszeit beschränkt haben, denn der Bedarf für die Ausbildung weitreichender Planungs- und Geschichtshorizonte ist bei dieser Lebensweise gering. Hinzu kommt das Fehlen der Schriftbeherrschung, so daß man weitgehend auf die orale und damit ungenaue Überlieferung von Ereignissen angewiesen ist. Die angesprochenen Differenzen zwischen den schichtenspezifischen "Systemzeiten", die große räumliche Expansion der hochkulturellen Gesellschaften und ihre zunehmenden Beziehungen zu anderen Gesell29 Eisenstadt, S. N., Social Change, Differentiation and Evolution, in: American Sociological Review, 29, 1964, S. 375 - 386, S.377 (im folgenden zitiert als Change). 30 Gurvitch, Spectrum, S. 156.
6.2 Schichtenmäßige Differenzierung und Temporalstruktur
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schaften machen die Etablierung von systemintegrativen Weltzeiten und den Aufbau präziserer Zeitrechnungssysteme und Mechanismen notwendig. Uns sind kulturgeschichtlich ja gerade diese Zeitrechnungssysteme überliefert, die verschiedenen Formen von Kalendern, Genealogien, Stundentafeln etc. 31 • Abgesehen von den rituellen Interessen der Kirche, insbesondere der Mönche, an einer präzisen Zeitrechnung, verlangen vor allem die städtische Lebensform und die ökonomischen Verkehrsformen eine genauere zeitliche Abstimmung, was dann letztlich zur Erfindung und Einführung der mechanischen Uhr führt, die allen sichtbar am Uhrenturm das Leben der Städter zunehmend bestimmt. "L'horloge communale est un instrument de domina ti on economique, sociale et politique de marchands qui regentent la commune32 ." Im Übergang zur neuzeitlichen Gesellschaft wird der wesentlich religiös bestimmte Zeitbegriff, in dem die Zeit als Eigentum Gottes gedacht wurde, abgelöst von einem säkularisierten, ökonomisch beeinflußten Begriff von Zeit als meßbarem und teilbarem Objekt, als rein menschlich bestimmter Zeit der Arbeit33 • Nun finden sich Schichtenunterschiede auch in modernen Gesellschaften, doch bleibt Schichtung hier als ein sekundärer Modus der Differenzierung an Bedeutung hinter der funktionalen Teilsystemdifferenzierung zurück. Die zunehmende Mobilität, die Umstellung der Statusbestimmung von zugeschriebenen auf erworbene Rollen, Maßnahmen zur Herstellung von Chancengleichheit, d. h. alle Ausweitungen der Partizipationsmöglichkeiten an den zentralen gesellschaftlichen Funktionen, die Parsons mit dem Begriff der "Inklusion" belegt34, haben in der Moderne zur Auflösung der eindeutigen und eindimensionalen Statushierarchie geführt, d. h. die Schichten besitzen heute nur noch unklar definierte Systemgrenzen. "Perhaps the most important aspect of this differentiation and specialization of roles is the separation between an individual's various roles. His economic role is separated from his political role" etc. 35 • Entsprechend schwer wird es für die soziologische Forschung, Unterschiede zwischen den Schichten und ihren Zeitbewußtseinsformen festzustellen. Wie schwierig der Nachweis einer schichten31 Vgl. z. B. für die Antike eine sehr ausführliche Darstelung der Zeitrechnungsformen: Kubitschek, W., Grundriß der antiken Zeitrechnung, München 1928. 32 LeGoff, J., Temps de l'Eglise et temps du marchand, in: Annales (ESC), 15, 1960, S. 417 - 433, S. 425. 33 Zu diesem Zusammenhang siehe sehr gut: LeGoff, vgl. auch: Leclercq, J., Zeiterfahrung und Zeitbegriff im Spätmittelalter, in: Antiqui und Moderni, Miscellanea Mediaevalia, Bd. 9, hrsg. v. A. Zimmermann, Berlin, New York 1974, S.1 - 20; vor allem Abschnitt C. Uhr, Wirtschaft, Gesellschaft, S. 14 ff. 34 Parsons, Studies, S. 111 ff. 35 Eisenstadt, Social Differentiation, S. 125.
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6. Systemdifferenzierung und Temporalstruktur
spezifischen Differenz, z. B. der Zukunftsperspektive zu führen ist, zeigt sich an den Arbeiten zum "Deferred-Gratification-Pattern", die ich im folgenden hier diskutieren möchte, da sie zu den wenigen empirischen Arbeiten in der Soziologie gehören, die sich mit Fragen der Zeitorientierung beschäftigt haben.
6.2.1 "Deferred Gratification" und Zeitorientierung Die unter dem Titel "Deferred gratification pattern"36 zusammenzufassende Forschungsrichtung beschäftigt sich im Zusammenhang mit schichten- und rassenspezifischen Verhaltens- und Sozialisationsmustern mit der Frage des Einflusses der Zukunftsorientierung und der Weite des Zeitbewußtseins auf die soziale Schichtung und Mobilität. Der Begriff und das Konzept des "deferred gratification pattern" wurde im Jahre 1953 von Schneider und Lysgaard, in Form einer "preliminary Study", als Vorschlag einer Synthese zahlreicher verstreuter Einzelresultate soziologischer Forschung eingeführt, um das Phänomen der freiwilligen Zurückstellung von Belohnungen und Befriedigungen im Hinblick auf zukünftige Ziele umfassend beschreiben zu können 37 . Dieses Phänomen ist nun in der Soziologie und Sozialpsychologie schon lange Gegenstand der Analyse gewesen, so finden wir es bei Weber unter dem Titel "innerweltliche Askese" behandelt, bei Parsons in seiner Unterscheidung von "instrumenteller" und "konsumatorischer Orientierung" berücksichtigt, bei Freud im Konzept des Triebaufschubs bzw. Triebverzichts und in der amerikanischen Ich-Psychologie in der "delay capacity" des Ich. Das Neue am Konzept des DGP scheint mir zu sein, daß es Verhaltensformen aus ganz unterschiedlichen Lebens- und Handlungsbereichen wie: Beruf, Erziehung, Sexualität, ökonomisches Verhalten, Benehmen zu einem einheitlichen kulturellen und personalen Verhaltensmuster zusammenfaßt und es zugleich mit der sozialen Schichtung und Mobilität der Gesellschaft in Beziehung setzt38 . Das DGP wird von Schneider/Lysgaard als ein normatives Verhaltensmuster eingeführt, welches in der Mittelschicht gilt und funktional 36 Im folgenden abgekürzt als DGP. 37 Schneider, L. / Lysgaard, S., The Deferred Gratification Pattern - A Preliminary Study, in: American Sociological Review, 18, 1953, S. 142 -149. 38 Allerdings muß Strauss in seiner Kritik Recht gegeben werden, daß die beiden Autoren nicht zeigen, wie die einzelnen Dimensionen zu einem Muster zusammenstimmen: "The data which they report simply relate discrete indicators of deferment to social class position, and no ,pattern' is actually demonstrated." (328) Wie er selbst und andere (z. B. R. Bergius) gezeigt haben, läßt sich die Unidimensionalität des Konzepts stützen, wenn einige Modifikationen vorgenommen werden (s. dazu: S. 330), s. Straus, M. A., Deferred Gratification, Social Class, and the Achievement Syndrome, in: American Sociological Review, 27, 1962, S. 326 - 335; vgl. auch: Bergius, R., Formen des Zukunftserlebens, München 1957.
6.2 Schichtenmäßige Differenzierung und Temporalstruktur
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ist für den Aufstieg oder den Verbleib in dieser Schicht. Das Vorherrschen der "Orientierung auf Befriedigungsaufschub" hin wird als die Basis für den sozialen und ökonomischen Erfolg der Mittelschicht angesehen; ihr Fehlen in den "non-middle classes", insbesondere innerhalb der schwarzen Unterschicht, wird als Barriere für deren Aufstieg und Vorwärtskommen gewertet - als Erklärung "of why the poor are poor"39. Als Pendant zum DGP als normativem Verhaltensmuster der Mittelschicht ist von Schneider/Lysgaard auch das Negativbild für die Unterschicht entwickelt worden, das von Miller et al. auch als "non-DGP" bezeichnet wird und ebenfalls normative Elemente enthält, auch wenn es als Gegenbild zu Mittelschichtsnormen geradezu als normlos erscheinen mag. Diese starre Dichotomisierung der Verhaltensmuster wird von Miller et al. kritisiert, da sie aufgrund der engen Verknüpfung mit psychischen Persönlichkeitsstrukturen nur geringe Veränderungschancen durch Lernen oder situationsspezifische Gegebenheiten zuzulassen scheint. Eine derart fixe Verknüpfung von Schicht und Verhalten, daß alle Angehörigen der Mittelschicht dem DGP, alle Angehörigen der Unterschicht dem non-DGP folgen, wird mit Recht von den Autoren zurückgewiesen. Ich will dennoch die wesentlichen Verhaltenskennzeichen der beiden Muster gegenüberstellen, wobei Schneider/ Lysgaard betonen, daß es sich um "a rough listing"40 handelt. (Allerdings ist meines Wissens keine spezifiziertere Ausarbeitung zustande gekommen.) DGP
non-DGP
Aufschub von:
impulsives Nachgeben gegenüber:
sofortiger Aggressionsabfuhr sexueller Befriedigung ökonomischer Unabhängigkeit Konsum Kontakt mit Gleichaltrigen (affiliation)
physischer Gewalt freier sexueller Betätigung Wunsch nach Unabhängigkeit Konsumwünschen frühe Unabhängigkeit von den Eltern
des weiteren:
des weiteren:
hohes Aspirationsniveau geringes Aspirationsniveau Zukunftsorientierung Gegenwartsorientierung (nach: Schneider / Lysgaard, S. 143, sowie Straus, S.329). 39 Miller, S. M. / Riessman, F. / Seagull, A. A., Poverty and Self-Indulgence: A Critique of the Non-Deferred-Gratification Pattern, in: Poverty in America, Hrsg. L. A. Ferman / J. L. Kornbluh u. a., Ann Arbor/Mich. 1965, S. 416 - 432, S.419. 40 Schneider / Lysgaard, S 143. 13 Bergmann
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6. Systemdifferenzierung und Temporalstruktur
Dieses Grundkonzept von Schneider/Lysgaard, das von den Autoren nur als ein forschungsleitender Vorschlag gemeint war, ist dann in der Folgezeit von anderen Autoren aufgenommen und teils ausgearbeitet, teils modifiziert worden; es hat aber auch harte Kritik erfahren, die sich vor allem auf die sehr schmale empirische Basis, auf die Interpretation der so gewonnenen Daten sowie auf die logische Konsistenz des DGP bezieht. Zu den Studien, die die "Aufschub-Hypothese" stützen, gehören einmal Brim/Forer4l, die herausgefunden haben, daß Kinder aus der Mittelschicht länger in die Zukunft vorausplanen als Kinder aus der Unterschicht. Zu ähnlichen Ergebnissen kommen auch LeShan42 - in seiner Untersuchung über die Zeitorientierung sozialer Klassen -, der ebenfalls Klassendifferenzen in den Zeitperspektiven von Kindern nachweisen konnte, und Barndt/Johnson43 , die in einer ähnlichen Untersuchung mit straffällig gewordenen Jugendlichen und einer "normalen" Kontrollgruppe ebenfalls zu Differenzen in der Zeitperspektive kamen. Zu negativen Ergebnissen hinsichtlich der Relation von sozioökonomischem Status und dem DGP kommt Straus 44 ; er kommt zu dem Ergebnis, daß "Befriedigungsaufschub" nicht mit dem Verhaltensmuster einer sozialen Schicht korreliert, sondern mit der "Aufstiegsorientierung" von Personen - also funktional ist für vertikale Mobilität. Diese Korrelation von DGP mit dem "achievement syndrome" findet sich auch bei Rosen 45 , während Jessor et al. 46 keinen Zusammenhang zwischen Aufstiegsorientierung und Zeitperspektive aufweisen konnten. Die entscheidenderen Einwände kommen jedoch von Miller et a1. 47 und Beilin 48 , die nicht allein die Interpretation der empirischen Daten kritisieren bzw. zu etwas anderen Ergebnissen kommen, sondern die die logische Konsistenz des Modells selbst in Frage stellen. Ihrer Meinung nach müssen für einen validen Vergleich zweier sozialer Schichten folgende Bedingungen erfüllt sein, die bisher bei keiner der aufgeführten DGP-Studien auch nur annähernd erfüllt worden sind: 41 Brim, o. G. / Forer, R., A Note on the Relation of Values and Social Structure to Life Planning, in: Sociometry, 19, 1956, S. 54 - 60. 42 Leshan, L. L., Time Orientation and Social Class, in: Journal of Abnormal and Social Psychology, 47, 1952, S. 589 - 592. 43 Barndt, R. J. / Johnson, D. M., Time Orientation in Delinquents, in: The Journal of Abnormal and Social Psychology, 51, 1955, S. 343 - 345. 44 Straus, M. A. 45 Rosen, B., The Achievement Syndrome: A Psychocultural Dimension of Social Stratification, in: American Sociological Review, 21, 1956, S. 203 - 211. 46 Jessor u. a., zitiert nach Kasakos, S. 90. 47 Miller / Riessman / Seagull. 48 Beilin, H., The Pattern of Postponability and Its Relation to Social Class Mobility, in: The Journal of Social Psychology, 44, 1956, S. 33 - 48.
6.2 Schichtenmäßige Differenzierung und Temporalstruktur
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1. Beide Vergleichsgruppen müssen die Befriedigung, die aufgeschoben werden soll, gleichhoch bewerten. 2. Beide Gruppen müssen das gleiche Verständnis und die gleiche Gelegenheit haben, einen jetzt möglichen Gewinn zugunsten eines zukünftigen aufzugeben. 3. Beide Gruppen müssen gleich stark unter dem Aufschub leiden. 4. Beide Gruppen müssen die zukünftige Befriedigung gleichwahrscheinlich am Ende der Aufschub-Zeit erlangen können49 • 5. Die Bedingung für das Vorliegen eines echten Befriedigungsaufschubs ist nur gegeben, wenn ein Konflikt zwischen Nah- und Fernzielen vorliegt. Nicht immer müssen Langzeit-Ziele mit kurzfristigen kollidieren50• Diese Kritik zeigt deutlich, wie sehr das DGP ein Konzept der Mittelschicht ist und wie sehr es deren Normen mit universalem Anspruch ausstattet, demgegenüber das Verhalten anderer Schichten nur als Unvermögen und Abweichung zu kennzeichnen ist. Miller et al. wenden mit Recht gegen diese Betrachtungsweise ein: " ... it is important to recognize that the same act canhave quite different meanings and implications in the different settings of middle class and working cl ass life.... Caution must be exercised in order to avoid analyzing the behavior of the poor in terms of middle class experience without consideration of alternative explanations51 ." Die Zentrierung auf die Wertmuster der Mittelschicht muß also aufgegeben werden zugunsten eines Konzepts, das die Verhaltensmuster der Schichten wirklich vergleichbar macht. Dies könnte geschehen durch die Berücksichtigung der oben genannten Voraussetzungen (Punkt 1-5). Die allgemeinen Erörterungen über das DGP sollen hier abgeschlossen werden. um auf unser engeres Thema zu kommen: den Zusammenhang von Zukunftsorientierung und der Fähigkeit, Befriedigung aufzuschieben. "The concepts of ,future orientation' and DGP overlap substantially since the idea of deferment, ... , implies future satisfaction of the deferred need 52 ." Mir geht es im folgenden darum zu klären, ob und in welchem Ausmaß auch in der modernen, funktional differenzierten Gesellschaft schichtenspezifische Differenzen im Zeitbewußtsein auftreten. Bei Leshan finden wir die folgende, zunächst nur hypothetische Zuordnung von Zeit orientierung und Schichtenzugehörigkeit: ,,1. In the lower-lower class, the orientation is one of quick sequence of tension relief. One does not frustrate oneseU for long periods or plan action with goals far in the future. The future generally is an indefinite, Vgl. dazu: Miller I Ries'SIllan I Seagull, S.421. Dazu: Belin, siehe dazu unten Caros Vorschlag, von der Existenz eines "Zeitkonfiikts" auszugehen und ihn mit Reaktionen von Befriedigungsaufschub zu korrelieren. 51 Miller I Riessman I Seagull, S. 422. 52 Straus, M. A., S. 327. 49
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6. Systemdifferenzierung und Temporalstruktur
vague, diffuse region and its rewards and punishments are too uncertain to have much motivating value ... 2. In the upper-lower class, middle, and lower-upper class, the orientation is one of much longer tension relief sequences. As the individual grows older, he plans further and further into the future and acts on these plans ... 3. In the upper-upper class, the individual seems himself as part of a sequence of several or more generations, and the orientation is backward to the past ... 53." In ihren Studien erheben Leshan und Barndt/Johnson die Zukunftsorientierung der Unter- und Mittelschichten (1 + 2) mittels projektiver Verfahren54 • Sie beschränken ihre Untersuchungen auf die Dimension der Weite des Zeithorizonts, die ihrer Ansicht nach bestimmt wird durch die Beziehung des einzelnen zu seinen Zielen. Folgende Fragen sollen beantwortet werden: "How far ahead is the time span with which the individual is concerned? What is the crucial time limit during which he will frust rate himself in order to attain a goal? Does he relate his behavior primarily to the far future, the immediate future, the present, or the past55 ?" Trotz der geringen empirischen Basis und der meines Erachtens keineswegs sehr eindeutigen statistischen Werte, sehen die genannten Autoren ihre Hypothesen über die Zuordnung von unterschiedlichen Zeitorientierungen zu den verschiedenen sozialen Schichten als bestätigt an. Zwei einander entgegengesetzte Einwände sind gegen diese Arbeiten vorzubringen: a) man kann mit der Unterscheidung schichtspezifischen Zeitbewußtseins ernst machen, und muß dann die Absolutsetzung der mittelschichtspezifischen Zeitstandards kritisieren, oder b) man kann die Zeitorientierung als situationsbedingt ansehen und Schichtenunterschiede in dieser Hinsicht leugnen. a) Der erste Einwand geht nicht gegen die empirisch erhobenen Ergebnisse, in diesem Punkt stimmen die Auffassungen überein, sondern dagegen, daß im Konzept des DGP von so etwas wie systemunabhängigen, für alle Systeme gleichen Dimensionen der Zeit ausgegangen wird. Die fragliche Zukunftsorientierung wird nicht auf ein systemspezifisches (hier schichtenspezifisches) Zeitbewußtsein und auf systemspezifische Möglichkeits- und Wirklichkeitsvorstellungen bezogen, sondern auf ein als Standard gesetztes Bewußtsein der Mittelschicht. Unter diesem Blickwinkel kann die schichtenspezifische RatioLeshan, S. 589. Kasakos weist auf einen wichtigen Punkt hin, der die Ergebnisse dieser empirischen Tests fragwürdig macht, nämlich auf die Tatsache, daß Phantasie und Verhaltensebene psychologisch keineswegs vergleichbar sind, wie es projektive Tests unterstellen. Vgl. Kasakos, G., Zeitperspektive, Planungsverhalten und Sozialisation, München 1971, S. 30. S5 Leshan, S. 589. 53
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6.2 Schichtenmäßige Differenzierung und Temporalstruktur
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nalität der verschiedenen Zukunftsorientierungen nicht erfaßt werden, die vom Standard abweichenden Orientierungen erscheinen dann nur als "defiziente Modi". Das Zukunftsbewußtsein einer Schicht muß also vielmehr auf ein systembedingtes Möglichkeitspotential bezogen werden, denn nur so wird es in seiner Rationalität bestimmbar, d. h. "es kann also rational sein, ausschließlich in der Gegenwart zu handeln"56. Für jede soziale Schicht müßte ihr Verhaltensmuster bezüglich der Zeitorientierung in Relation gesetzt werden zu allen übrigen Systemstrukturen, nur so wird die Funktionalität und Rationalität eines Orientierungsmusters erkennbar und bewertbar. b) Der zweite Einwand zielt nun gen au gegen die Annahme, daß es sich bei der Zukunftsorientierung um ein schichtenspezifisch festgelegtes Muster handelt. So sehen Miller et al. das DGP nicht als ein festgelegtes soziales und personales Verhaltensmuster an, sondern eher als eine situationsspezifische Reaktionsweise. Noch stärker hebt Caro 57 den persönlichen und situationalen Bezugsrahmen hervor, in dem die Entscheidung für oder gegen einen Befriedigungsaufschub fällt. Damit überhaupt sinnvoll von einem Aufschub gesprochen werden kann, muß sich der Aufschiebende in einer spezifischen Konfliktsituation befinden: in einem Zeit konflikt zwischen Nah- und Fernzielen. Ein Zeitkonflikt wird definiert als eine Entscheidungssituation, in der eine Person 1. "has a preferred outcome in the non-immediate future, 2. believes that one course of action in the immediate future is more likely than than another to lead hirn to his preferred non-immediate outcome, and 3. prefers in the immediate future course of action other than that he believes most likely to lead to his preferred non-immediate outcome58 ." Die Bevorzugung sofortiger Befriedigung oder aber ihr Aufschub stellen die alternativen Lösungsmöglichkeiten dieses Zeitkonflikts dar; und nur in Hinblick auf einen derartigen Konflikt bekommt das Verhaltensmuster des DGP oder des non-DGP seinen Sinn. "Where there is no time conflict, deferred gratification is an irrelevant conceptS9 ." Es muß also hinsichtlich der Beziehung von Befriedigungsaufschub und sozialer Schicht zweierlei berücksichtigt werden: einmal das Ausmaß, in dem Personen in den verschiedenen Schichten überhaupt mit Zeitkonflikten bei der Erreichung ihrer Ziele konfrontiert werden, zum anderen das Ausmaß, in dem die Personen dann fähig und willens sind, Befriedigungen aufzuschieben. Caro kommt aufgrund seiner Studie, in der er Zeitkonflikte hinsichtlich der Entscheidung College-Besuch oder Berufs56 Rammstedt, 0., Revolution und das Bewußtsein von Zukunft, MS, Zentrum für interdisziplinäre Forschung, Bielefeld o. J., S. 99. 57 Caro, F. G., Deferred Gratification, Time Conflict, and College Attendance, in: Sociology of Education, 38, 1965, S. 332 - 340. 58 Caro, S. 334. ~9 Ebd.
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6. Systemdifferenzierung und Temporalstruktur
eintritt untersucht hat, zu dem Schluß, daß sich das Konzept des DGP weniger zur Erklärung unterschiedlichen Verhaltens in den verschiedenen Schichten eignet, als vielmehr zur Erklärung unterschiedlicher sozialer Mobilität in der Unterschicht 60 . D. h. Zeitkonflikt und damit der Zwang zur Ausbildung eines weiteren Zukunftshorizonts ergeben sich nur für diejenigen, die in der sozialen Hierarchie aufsteigen wollen, d. h. die Ziele anstreben, die außerhalb ihrer schichtenspezifischen Erwartungshorizonte liegen61 . Damit wäre die Weite des Zukunftshorizonts weniger ein schichtenspezifischer Unterschied als ein Merkmal von Personen (in allen Schichten), die aufstiegsorientiert sind und unvertraute "Zielregionen" ansteuern. Das von Caro vorgeschlagene Konzept erfüllt, im Gegensatz zu den Arbeiten zum DGP, die Forderung, "daß die Entscheidungssituation, aus der sich das beobachtete Verhalten ergibt, psychologisch vergleichbar sein müsse"62. Die vorangegangenen Erörterungen dürften zumindest gezeigt haben, daß die geläufige soziologische Annahme schichtenspezifischer Differenzen des Zeitbewußtseins weit weniger theoretisch und empirisch abgesichert ist als allgemein angenommen. Der systemtheoretischen Theorie sozialer Differenzierung entsprechend wäre es aussichtsreicher, in modernen Gesellschaften die Differenzen der Temporalstrukturen zwischen den funktional spezialisierten Teilsystemen zu untersuchen, anstatt die zwischen den sich immer stärker auflösenden Schichten. 6.3 Funktionale Differenzierung und Temporalstruktur
Solange die funktionale Differenzierung der Gesellschaft gering ist, können die funktional differenzierten Systeme noch durch schichtenmäßige Hierarchisierung vertikal miteinander verknüpft werden. Nimmt die funktionale Differenzierung aufgrund technischer Innovationen und wachsenden gesellschaftlichen Reichtums zu, so reicht die schichtenmäßige Differenzierung zur Erfassung der steigenden Komplexität nicht mehr aus, sie muß in eine horizontale funktionale Systemdifferenzierungsform überführt werdeni. Die Transformation des Differenzierungsmodus beginnt in Europa im Mittelalter, wo sich zunächst auf Rollenebene, später dann auf Teilsystemebene Religion, Politik und Vgl. Caro, S. 339. Gegen den methodischen Ansatz Caros läßt sich nichts einwenden, doch scheint mir die Interpretation der Daten, angesichts der geringen Größe der Stichprobe, zu weit zu gehen. Insbesondere der Zusammenhang von Aufwärtsmobilität und Befriedigungsaufschub findet in den Daten kaum eine Stütze. 82 Kasakos, S. 91. 1 Vgl. dazu Luhmann, Differentiation, S.34 und ders., Gesellschaft, in: Soziologische Aufklärung, Bd. 1, Opladen 1971, S. 137 - 153, S. 139 f. (im folgenden zitiert als Gesellschaft). 80 81
6.3 Funktionale Differenzierung und Temporalstruktur
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Wirtschaft funktional differenzieren; später folgen dann Erziehung, Wissenschaft und Kunst. Dieser übergang zur Neuzeit wird gemeinhin mit Begriffen wie Modernisierung, Urbanisierung, Säkularisierung oder Industrialisierung gekennzeichnet, die alle nur einen Teilaspekt des Gesamtprozesses für das Ganze setzen. Bei Eisenstadt finden wir folgende Kennzeichnungen des Strukturwandels: ,,1. Development of a high degree of social differentation and occupational specialization. 2. Development of specialized and diversified types of social organization that are not embedded in a fixed, ascriptive framework (... ).3. Development in all major institution al spheres of a) specialized roles, b) free-floating resources (money, support, etc.) and c) special and wider regulative and allocative mechanisms and organizations (markets. etc.)2. Die funktionale Differenzierung der Gesellschaft führt zu einer größeren Diskrepanz zwischen den Teilsystemen und zu einer stärkeren Innendifferenzierung dieser Systeme. Jedes Funktionssystem gewinnt auf diese Weise aus seiner jeweiligen Funktionsperspektive heraus eine gegenüber anderen Systemen unvergleichbare interne Sonderumwelt; d. h. es besitzt sowohl eine spezifische Beziehung zum Gesamtsystem (funktionaler Bezug) als auch zu den anderen Teilsystemen (Leistungsbezug) - auf diese Relationen komme ich in Kap. 6.3.1 und 6.3.2 genauer zu sprechen. Diese starke interne Differenzierung und Spezialisierung bedarf integrativer Gegensteuerungen. Die Ungleichheit der Funktionserfüllung muß kombiniert werden mit einem allgemeinen und gleichen Zugang zu den Leistungen der Teilsysteme, d. h. jedermann und jedes System muß freien Zugang zu den Märkten haben, muß an der Kultur teilhaben können, muß wählen können etc. Parsons hat für dieses Erfordernis des freien Zugangs zu funktionsspezifischen Outputs den Begriff der "Inklusion" geprägt. Als integrative Mechanismen wirken hier vor allem die generalisierten Kommunikationsmedien, die allgemeine Teilnahmemöglichkeiten trotz funktionaler Spezialisierung sichern. Funktionale Differenzierung steigert also die Autonomie oder Independenz der Teilsysteme und zugleich ihre Interdependenz. Funktionale Differenzierung bedeutet eine Differenzbildung in allen drei Komplexitätsdimensionen: Differenzen zu anderen Systemen werden sachlich erzeugt durch thematische Spezialisierung, sozial durch die Ausbildung spezifischer Verhaltensstile, Handlungslogiken und Zugehörigkeitsvoraussetzungen und zeitlich durch "Zeitverschiebungen"3 zwischen den Teilsystemen. Diese Zeitverschiebungen resultieren, obwohl natürlich alle Teilsysteme objektiv gleichzeitig operieren, aus der sukzessiven Koordination der Intersystemprozesse: ein System muß die 2
3
Eisenstadt, Sodal Differentiation, S. 124. Luhmann, MS, S. 393.
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6. Systemdifferenzierung und Temporalstruktur
Leistungen (Outputs) eines anderen Systems bereits als Voraussetzung (Input), d. h. letztlich als eigene Vergangenheit für die gegenwärtige Produktion eigener Outputs behandeln, während für das Teilsystem, welches den Output zu produzieren hat, diese Leistung als Systemziel in der Zukunft liegt. Wenn also nicht mehr alle Teilsysteme funktionsund strukturgleich sind - wie in segmentären Gesellschaften -, dann wächst die wechselseitige zeitliche Abhängigkeit der Teilsysteme untereinander und vom Gesamtsystem. Die Teilsysteme sind zur zeitlichen Synchronisierung ihrer internen Prozesse mit den Prozessen in den anderen Teilsystemen auf ein ständiges "Prozessieren von Informationen über die Umwelt" angewiesen 4 • Die Spezialisierung der Systeme und der dadurch bedingte Zwang zu höherer Interdependenz führen zu einer Beschleunigung des sozialen Wandels, dem wohl unter dem Zeitaspekt auffallendsten Kennzeichen der Neuzeit. Die Anpassung an die Veränderungen in anderen Teilsystemen zwingt zu einem immer rascheren Handlungstemp05. Zeitknappheiten, Wartezeiten und AnpassungsLags sind die Folgeprobleme (vgl. Kap. 5.5). Dieser beschleunigte Wandel, "the loss of the stable state", führt zu einer Auflösung der Orientierung an Tradition und Vergangenheit und erzwingt zukunftsgerichtete Verhaltensweisen und Orientierungen. Es kommt deshalb im Laufe der funktionalen Differenzierung der modernen Gesellschaft im 17./18. Jahrhundert zu einer Umstellung des Zeitbewußtseins von einem Bewußtsein mit "geschlossenem Zukunftshorizont" zu einem mit "offenem Zukunftshorizont". "Grob gesprochen war die Zukunftserwartung bis in die Mitte des 17. Jahrhunderts begrenzt durch das kommende Jüngste Gericht, in dem das irdische Unrecht seinen transhistorischen Ausgleich finden würde .... Gerade weil sich vor dem Ende grundsätzlich nichts Neues einstellen würde, konnte man es sich leisten, von der Vergangenheit auf die Zukunft zu schließen. Der Schluß von der bisherigen Erfahrung auf die zu erwartende Zukunft bediente sich strukturell gleichbleibender Faktoren. Das änderte sich erst im 18. Jahrhundert, als die Wirkungen von Wissenschaft und Technik einen unbegrenzten Raum neuer Möglichkeiten zu erschließen schienen6 ." Die Zukunft als offener Horizont verweist auf ein "Surplus" an Möglichkeiten, die über das aktuell Gegebene und Machbare hinausweisen. Luhmann nennt diese Umorientierung auf eine offene Zukunft "Futurisierung"7. Diese " Vgl. dazu: Luhmann, Differentiation, S. 36. Vgl. in diesem Zusammenhang die Kommunikationsbeschleunigung durch die Massenmedien, die zu einer beständigen Informiertheit zwingen. Luhmann, Differentiation, S. 44 - 45. 6 Koselleck, R., Die Verfügbarkeit der Geschichte, in: ders., Vergangene Zukunft, Frankfurt a. M. 1979, S. 260 - 277, S.266; Koselleck weist hier auch auf das Auftreten des Kollektivsingulars "Geschichte" und auf den Fortschrittsbegriff hin. Vgl. auch den Artikel "Fortschritt" v. J. Ritter, im Historischen Wörterbuch f. Philosophie, Bd. 2, bes. S. 1038. 7 Luhmann, The Future, S. 141. 5
6.3 Funktionale Differenzierung und Temporalstruktur
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Futurisierung weist ebenso wie die Historisierung der Zeit (die ebenfalls ein "Produkt" der modernen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts ist) auf eine grundlegende Veränderung im gesellschaftlichen Zeitbewußtsein hin: auf die Relativierung von Raum und Zeit 8 • Die funktionale Differenzierung läßt, trotz der hohen Interdependenz zwischen den Systemen, eine derart große Teilsystemautonomie zu, daß die Handlungsentwürfe und Ziele der Teilsysteme nicht mehr in die Gesamtgesellschaft integrierbar sind. D. h. es existieren in einer Gesellschaft und in einer Gegenwart mehrere Wirklichkeiten und Zeiten nebeneinander, ebenso wird akzeptiert, daß es vor und nach der gegenwärtigen Wirklichkeit andere gegeben hat bzw. andere geben wird. Mit dieser Relativierung der Zeit, die man mit Luhmann auch als reflexive Anwendung der Zeit auf sich selbst, mithin als Verzeitlichung der Zeit bezeichnen könnte (s. Kap. 2.2.2), wird die Komplexität für das System in zeitlicher Hinsicht erweitert: Vergangenheit-Gegenwart-Zukunft lassen sich insgesamt auf der Zeitachse verschieben. Zukunft und Vergangenheit werden besser erforschbar bzw. planbar, wenn man die Zukunft als zukünftige Gegenwart auffaßt und entsprechend die gegenwärtige Gegenwart als zukünftige Vergangenheit zu ihrer Ermöglichung benutzt, bzw. wenn man vergangene Ereignisse betrachtet vom Standpunkt der vergangenen Gegenwart aus, die ihre spezifischen Zukunfts- und Vergangenheitshorizonte besaß. Die hohe System autonomie in funktional differenzierten Gesellschaften führt zur Ausbildung systemrelativer Eigenzeiten, die sich in der Weite ihrer Zeithorizonte, in ihrem Handlungstempo, in bezug auf die Schwerpunktsetzung in Vergangenheit oder Zukunft, etc. unterscheiden. Die Teilsysteme besitzen ihre je verschiedenen Systemgeschichten, die kaum noch zu einer übergreifenden Gesellschaftsgeschichte zu integrieren sind. Gab es in den hochkulturellen Gesellschaften nur eine Unterscheidung von politischer und religiöser Geschichte, die nicht immer klar getrennt waren, so folgen auf die funktionalen Trennungen der Teilsysteme auch die entsprechenden Differenzierung-en der Universalhistorie in politische Geschichte, Kunstge~chichte, Sozialgeschichte, Wirtschaftsgeschichte, Geschichte der Wissenschaft usw. Diese Differenzen der innergesellschaftlichen System geschichten und Zeitstrukturen müssen jedoch gewissen Kompatibilitäts- und Gegenseitigkeitsanforderungen im Gesamtsystem genügen; d. h. es müssen die systemspezifischen Zeiten miteinander synchronisierbar sein. Dabei ist anzunehmen, daß "Teilsysteme, die überlebenswichtige oder evolutionär zentrale Funktionen erfüllen (z. B. Wirtschaft, Politik, Erziehung, WB), in geringerem Maße der Anforderung unterliegen, eine geeignete Umwelt für andere Teilsysteme zu sein, daß dagegen die mehr luxurie8
Vgl. dazu: Rammstedt, AIltagsbewußtsein, S. 56 - 57.
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6. Systemdifferenzierung und Temporalstruktur
renden Teilsysteme (z. B. Kunst, Religion, WB) strengeren Anforderungen der Kompatibilität unterworfen werden"9. Die Temporalstrukturen wichtiger Teilsysteme können also andere Lebensbereiche dominieren. Dies gilt vor allem für Phasen des Übergangs, in denen die funktionale Trennung und Autonomisierung noch nicht voll gelungen ist: so wird z. B. mit der beginnenden Industrialisierung die (Arbeiter-)Familie in ihrem Lebensrhythmus gänzlich vom Wirtschaftssystem bestimmt, sie stellte für das Wirtschaftssystem eine zeitplastische Umwelt dar, der eine fremde Zeitstruktur aufgezwungen werden konnte; in umgekehrter Perspektive war die Wirtschaft für die Familie eine zeitdynamische, unbeherrschbare Umwelt, der gegenüber ein gewisses Maß an zeitlicher Autonomie erst langsam erkämpft werden mußte. Die Verschiedenheit der System zeiten erfordert die Etablierung einer allen gemeinsamen "Weltzeit", die sicherstellt, daß die Systemzeiten aufeinander bezogen werden können. Weltzeit ist sozusagen die integrative Komplementärstruktur zur Ausdifferenzierung in voneinander abweichende Systemzeiten, sie muß als "koordinierende Generalisierung"10 die Homogenität der Zeit, ihre gedankliche Reversibilität, ihre Bestimmbarkeit durch Datierung oder kausale Verknüpfung (früher/später) und ihre Transitivität sicherstellenl l • Die Verschiedenheit der konkreten Teilsystemhorizonte, die Verschiedenheit des Handlungstempos, etc. erfordern eine sehr abstrakte Formulierung der Weltzeit. Diesem Erfordernis der Abstraktheit und Inhaltsleere entspricht ein Zeitbegriff, der die Zeit als eine bloße lineare Zeitpunktreihe begreift und absieht von allen innerzeitlichen Ereignissen, Tempodifferenzen etc. Die Zeit selbst kann nichts mehr bewirken, sie ist zu einem bloßen Schema der Ordnung von Ereignissen geworden, deren Verknüpfung und Zusammenhang zeitlich kontingent ist. Die Weltzeit kann also aufgrund dieser Eigenschaften den allgemeinverbindlichen, synchronisierenden Rahmen bilden für alle systemspezifischen Eigenzeiten, die damit, trotz aller Differenzen, letztlich auf eine gemeinsame Zeit beziehbar bleiben. Im folgenden soll am Beispiel zweier Teilsysteme, am Rechts- und am Wirtschaftssystem, die sich strukturell wesentlich unterscheiden, die Differenz der Temporalstrukturen in funktional ausdifferenzierten Systemen gezeigt werden. Dabei wird hielö vor allem das Moment der Interdependenz mit dem Gesamtsystem und mit den anderen Teilsystemen im Vordergrund stehen, d. h. die Teilsysteme werden im Hinblick auf ihren funktionalen Beitrag zum Gesamtsystem und auf ihren leistungsmäßigen Bezug zu den Teilsystemen untersucht, ihr reflexiver Selbstbezug bleibt dagegen weitgehend außer acht. 9 Luhmann, MS, S. 390. 10 Luhmann, Weltzeit, S. 110. 11 Luhmann, Weltzeit, S. 110.
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6.3.1 Zur Temporalstruktur des Rechtssystems Wenn ich hier nach den spezifischen Temporalstrukturen des Rechtssystems frage, so interessiert mich vor allem ihr Zusammenhang mit der, infolge der funktionalen Ausdifferenzierung, "gereinigten" Thematik des Teilsystems. Jedes Teilsystem steht mit seiner spezifischen Thematik in einem mehrfachen Bezug zu seiner Umwelt, so muß eine Theorie der Differenzierung nicht nur das Prinzip der Trennung, sondern zugleich auch Prinzipien der Relationierung der ausdifferenzierten Einheiten formulieren. Ich folge an dieser Stelle der Luhmannschen Differenzierung des Umweltbezuges in drei grundlegende Beziehungsformen l2 : "Jedes Teilsystem hat immer drei verschiedenartige Systemreferenzen: (1) die zu dem umfassenden System, dessen Teil es ist; (2) die zu den anderen Teiltystemen; und (3) die zu sich selbst I3 ." Die Beziehung auf das Gesamtsystem wird geleistet über die Erfüllung einer Funktion für das umfassende System seitens des Teilsystems, d. h. im Rahmen der vorliegenden Arbeit ist zu fragen nach dem Zusammenhang der Temporalstruktur mit der Form der Funktionserfüllung durch das Rechtssystem. Die Beziehung zu den anderen Teilsystemen erfolgt über Input-/Outputprozesse, wobei wir die Outputs des Teilsystems für andere Teilsysteme als Leistung bezeichnen; auch hier muß wieder nach dem Zusammenhang von Zeit und Leistungsbezug gefragt werden. Den dritten Referenztyp, die Beziehung des Teilsystems zu sich selbst, die sich in Prozessen der Selbst-Thematisierung oder Reflexion vollzieht, werde ich nur sehr kurz behandeln, da in der Theorie der Differenzierung diese Relation bisher nur am Rande eine Rolle spieW 4 • Es sind also für die Analyse der Temporalstrukturen des Rechtssystems eine Mehrheit von Systemreferenzen zu berücksichtigen. "Dieser Struktureffekt hat große Tragweite und durchdringende Relevanz. Er bezieht sich nicht nur auf diejenigen Prozesse, durch die Teilsysteme miteinander kommunizieren, ... , vielmehr ist die Mehrheit der Systemreferenzen auch und gerade relevant für die Analyse systeminterner Strukturen und Prozesse. Das ergibt sich aus der Grundthese unserer Systemtheorie, daß Systeme sich stets in bezug auf eine Umwelt kon12 Parsons unterscheidet ebenfalls drei Relationstypen : das Teilsystem ist durch seine Funktion auf das Gesamtsystem bezogen; die Teilsysteme sind in einer Kontrollhierarchie hierarchisch-linear miteinander verbunden (L-IG-A); die Teilsysteme sind darüber hinaus noch durch input/output-Interchanges verbunden. Man sieht, wo Luhmann angeknüpft hat, wo er erweitert hat (Selbstbezug) und wo er Parsons aufgrund seiner spezifischen Theoriearchitektonik nicht folgen konnte. 13 Luhmann, MS, S. 472. 14 Vgl. Willke, Zum Problem der Integration komplexer Sozial systeme, S.243; der Aspekt der Selbstreferenz ist bisher nur von Luhmann thematisiert worden.
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6. Systemdifferenzierung und Temporalstruktur
stituieren 15 ." Ich gehe bei der folgenden Analyse von einem neuzeitlichen System/Umwelt-Verhältnis des Rechtssystems aus, das Rechtssystem ist danach funktional ausdifferenziert und besitzt relative Autonomie. Andere Möglichkeiten der System-/Umwelt-Beziehung, wie die überhaupt fehlende Ausdifferenzierung, die Einlagerung als Subsystem in ein anderes Teilsystem oder die völlige Autonomie bleiben hier außer acht16 . 6.3.1.1 Funktionsbezug und Temporalstruktur des Rechtssystems
Das Recht bezieht sich, ganz allgemein gesprochen, auf das Problem der selektiven Abstimmung wechselseitiger sozialer Erwartungen, die angesichts einer komplexen und kontingenten Welt unsicher und enttäuschbar sind. In der Erwartung sind wir auf die Zukunft bezogen, die ihrem Wesen nach nie völlig vorhersehbar und beherrschbar ist, die das Recht jedoch, soweit es geht, kalkulierbar machen will, d. h. "was in der Zukunft geschehen wird, wird zur zentralen Sorge des Rechts"17. Ziegert spricht im Anschluß an die Parsonssche Unterscheidung zwischen "expressiver" und "instrumenteller" Orientierung von einer doppelten zeitlichen Funktionalität des Rechts: es stellt je gegenwärtig (expressive 0.) die Geltung von Erwartungen sicher, gibt aber zugleich auch Erwartungssicherheit für die Zukunft (instrumentelle Orientierung)18. Solange der Umfang der Sozialbeziehungen in Systemen gering ist, kann die Abstimmung der Erwartungen und des Verhaltens durch die gemeinsam erinnerte Systemgeschichte sichergestellt werden. Was zukünftig erwartet werden kann, wird durch den Rückgriff auf vergangene Erfahrung einschätzbar. Mit zunehmender Komplexität der Sozialbeziehungen ist eine derart konkrete und fallweise Abstimmung nicht mehr möglich, da eine gemeinsame Geschichte für alle Systemmitglieder nicht mehr besteht und da die Zahl der Sozialbeziehungen eine fallweise Vorstellung der Erwartungen nicht mehr zuläßt, ohne die Orientierungsfähigkeit des Menschen zu überfordern l9 • Hinzu kommt, daß die moderne Gesellschaft ihre Zeitorientierung auf die Zu15 Luhmann, MS, S. 472. 16 Mayhew unterscheidet vier Formen der System/Umweltbeziehung: a legal system may be: a) undifferentiated, b) sub ordinate, c) autonomous, d) partially independent, vgl. Mayhew, L., Artikel: The Legal System, in: International Encyplopedia of the Social Sciences, Bd. 9, ed. D. L. Sills, New York 1968, S. 59 - 67, S.62. 17 Luhmann, N., Rechtssoziologie, 2 Bde., Reinbek b. Hamburg 1972, Bd. II, S. 343 (im folgenden zitiert als RechtssozioZogie). 18 Ziegert, K., Zur Effektivität der Rechtssoziologie: Die Rekonstruktion der Gesellschaft durch Recht, Stuttgart 1975, S. 175 u. 233. 19 Vgl. Luhmann, N., Positivität des Rechts als Voraussetzung einer modernen Gesellschaft, in: Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie, Bd. 1, Hrsg. W. Maihofer / H. Schelsky, Bielefeld 1970, S. 17(i - 202, S. 177 (im folgenden zitiert als Positivität).
6.3 Funktionale Differenzierung und Temporalstruktur
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kunft umstellt und daß in der Folge der Zukunftshorizont expandiert, mit der Folge größerer Unbestimmtheit der Zukunftserwartungen. Damit wird die Etablierung übergreifender normativer Regelungen zunehmend wichtiger, die für die Zukunft Sicherheit im Erwarten bieten und zugleich durch Sanktionierung abweichenden Verhaltens das Durchhalten enttäuschter Erwartungen ermöglichen. "Ohne Zweifel gehört das Recht in den Bereich der normativen Erwartungen. Es impliziert, daß die Erwartungen im Enttäuschungsfalle nicht aufgegeben oder modifiziert, sondern als Prämisse weiteren Verhaltens festgehalten werden. Als Norm zielt das Recht auf enttäuschungsfeste, gegebenenfalls auf kontrafaktische Stabilisierung von Verhaltenserwartungen 2o ." Als eine erste Funktion des Rechts in zeitlicher Hinsicht kann man festhalten, daß es ein funktionales Äquivalent für "Geschichte" darstellt, indem es deren stabilisierende Funktion für Sozialsysteme erfüllt, deren Komplexität die Orientierung an einer gemeinsamen Geschichte nicht mehr zuläßt. Es ist deshalb nicht verwunderlich, wenn in der Frühzeit der Rechtsentwicklung das Recht noch sehr eng an die Überlieferung gebunden ist, man beruft sich bei rechtlichen Regelungen auf die Tradition und das "Recht der Väter"21. Die Geltung und die Dauerhaftigkeit der Rechtsnormen wird legitimiert und garantiert durch Berufung auf eine seit den Uranfängen bestehende Tradition, sie allein kann bei fehlender politischer Zentralgewalt einen Konsensus sichern 22 . Die Traditionsbezogenheit älteren Rechts und primitiver Gesellschaften beruht also wesentlich auf dem "Interesse am Ausschluß anderer Möglichkeiten, ein Interesse an Regulierung von Angst"23. In dieser Zeit fehlt der Gesellschaft und auch dem Recht die eigenständige Zukunftsdimension - in archaischen Gesellschaften ist der Zukunftshorizont nur sehr mangelhaft ausgebildet. Der Ausschluß von Komplexität erfolgt hier dadurch, daß die Vergangenheit, die als Zeithorizont keine offenen, unbekannten Möglichkeiten mehr enthält, projiziert wird auf Gegenwart und Zukunft. Man sieht die enge Verknüpfung von gesamtgesellschaftlichem Zeitbewußtsein und der Struktur des Rechts. Ebenso wie die Traditionsorientierung ermöglicht auch die Normativität des Rechts eine "Entzeitlichung" der Zukunft, indem sie sie ihrer Offenheit be20 Luhmann, Positivität, S. 179. 21 Zum Zusammenhang von Geschichte und Rechtsbewußtsein bei primitiven Völkern vgl. Schott: Das Geschichtsbewußtsein, S. 185, ebenso Luhmann, Positivität, S.180: "Recht wird in älteren Gesellschaften als von alters her geltend angesehen, als ewig oder in der Vorzeit gestiftet. Die Vergangenheit dient als Symbol seiner Unabänderlichkeit: man kann es genausowenig ändern, wie man Vergangenes ändern kann." 22 Vgl. Schott, R., Die Funktion des Rechts in primitiven Gesellschaften, in: Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie. Bd.1, Hrsg. W. Maihofer / H. Schelsky, Bielefeld 1970, S. 107 - 174, S. 122 (im folgenden zitiert als Funktionen). 23 Luhmann, Positivität, S. 180.
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raubt; in gewissem Sinne besitzt die Normativität eine zeitüberbrükkende Wirkung. "Normativität verstärkt diese Indifferenz gegen unabsehbare Zukunftsereignisse, intendiert diese Indifferenz und versucht damit die Zukunft festzustellen 24 ." Sowohl in der Gesellschaft als ganzer als auch in der Rechtsentwicklung kommt es im Verlauf der sozialen Evolution zur langsamen Ablösung der Vergangenheitsorientierung, d. h. für das Recht, daß seine Geltung nicht mehr oder nur zum kleinen Teil (Gewohnheitsrecht) traditionalistisch begründet werden kann, sondern teils durch Rückgriff auf die Natur, als Prinzip der Invarianz und Unverfügbarkeit, teils kraft Setzung oder Gewohnheit. Für das Naturrecht der Antike und des Mittelalters tritt so anstelle der Vergangenheitsorientierung eine Gegenwartsorientierung im Sinne einer allgegenwärtigen, ewigen Gültigkeit des Rechts 25 . Das Recht kann seine gesellschaftliche Stabilisierungsfunktion erfüllen, indem ihm überzeitliche Geltung verliehen wird, und zwar indem seine soziale Konstitution, die ja in der Traditionsorientierung durchaus mitgedacht war, "vergessen" wird, bzw. indem ihr in Form des veränderlichen lex positiva am Rande Rechnung getragen wird. Sowohl die traditionalistische als auch die naturrechtliche Form der Rechtsbegründung bieten für das mit der sozialen Evolution anwachsende Veränderungstempo der Gesellschaft keine adäquaten Lösungen mehr, da eine Veränderung der Rechtsnormen, d. h. ein Lernen im normativen Bereich, für diese Begründungsformen nur schwer möglich ist. Schon innerhalb des Naturrechtsdenkens kommt es zu Konstruktionen, die es erlauben, "Verhaltenserwartungen als lernunwillig und anpassungsfähig, als invariant und variabel zugleich zu institutionalisieren - ... "26, Z. B. in Form der Hierarchisierung der Rechtsquellen, wo auf der untersten Stufe der Hierarchie das änderbare positive Recht angesiedelt wurde 27 .AndieserStelle setzt denn auchdieUmstrukturierung der Grundlagen des Rechts ein, die Umstellung auf "in der Gesellschaft selbst entscheidbares, strukturell variables Recht"28. Dieses positiv genannte Recht wird gesetzt und gilt kraft Entscheidung. Die 24 Luhmann, Rechtssoziologie Bd. 2, S. 343. 25 Dies gilt so kraß nicht, denn auch "das mittelalterliche Recht ist seinem Wesen nach altes Recht. In seinem Alter liegen Geltungsgrund und Güte gleichermaßen beschlossen. Es ist im Grunde zeitlos, von Anfang an da; in der Sprache der christlichen Vorstellungen, die hier keinen Bruch bedeuten; es ist Gott entflossen, ,ipsa fons justiae deus'. Es wird nicht künstlich geschaffen, es kann nur als vorhanden, ... , ans Licht gebracht werden." Krause, H., Dauer und Vergänglichkeit im mittelalterlichen Recht, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, 75, 1958, Germanist. Abteilung, S. 206 - 252, S. 207 f. 28 Luhmann, Positivität, S. 178. 27 Hierarchie der Rechtsquellen im Mittelalter: Lex divina, Lex aeterna, Lex naturalis, Lex positiva. 28 Luhmann, Positivität, S. 178.
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damit verbundene "Legalisierung von Rechtsänderungen"29 bedeutet, daß zu unterschiedlichen Zeiten verschiedene, ja sogar widersprüchliche Rechtsnormen gelten können, womit die Frage aufgeworfen wird, wie das Recht seine orientierende und antizipierende Funktion hinsichtlich der Verhaltenserwartungen noch soll erfüllen können. Denn statt eines Auf-Dauer-Stellens von Erwartungen, scheint positives Recht gerade die Mobilisierung und Veränderbarkeit von Erwartungen zu fördern. Jedoch nur durch die Mobilisierung der Normenänderungen, die zeitlich verschiedenes Recht ermöglicht, kann das Rechtssystem mit dem, infolge der innerer Differenzierung und den dadurch anwachsenden Interdependenzen, steigenden Zeittempo in der neuzeitlichen Gesellschaft Schritt halten. Das Recht gerät so selbst in Fluß, "es stellt sich auf eine rascher fließende Zeit ein"30. Die neuzeitliche Umstellung des Zeitbewußtseins auf eine offene, machbare Zukunft, die Ausweitung der Zeithorizonte und die Erhöhung des allgemeinen Prozeßtempos scheinen also auch für die Begründung dauerhafter Rechtsgeltung, d. h. für die Sicherung von Erwartungen in die Zukunft hinein, neue strukturelle Lösungen zu fordern. "Das ,Woraus' der Selektion, die Zukunft anderer Möglichkeiten der Gegenwart, übernimmt die Führung des Zeiterlebens und des rechtlichen Entscheidens31 ." Die zeitliche und sachliche Mobilisierung des Rechts durch seine Positivierung trägt dieser neuzeitlichen Umorientierung des sozialen Zeitbewußtseins Rechnung, sie wirft jedoch Konsensprobleme in der Sozialdimension auf: wie soll die orientierende Funktion des Rechts wirksam bleiben, wenn das Risiko beliebiger Rechtsänderungen im positiven Recht schon mitinstitutionalisiert ist? Das Problem des Konsensus stellt sich als Frage nach der Legitimität der Legalität: "Wie ist es möglich, wenn nur wenige entscheiden, die faktische Überzeugung von der Richtigkeit oder der verbindlichen Kraft dieses Entscheidens zu verbreiten 32 ?" Diese Legitimation für Entscheidungen wird durch Verfahren und durch die Gleichheit der Chance, befriedigende Entscheidungen zu erhalten, gewonnen. Legitimität heißt also die Anerkennung von Entscheidungen durch Gerichtsverfahren und die Anerkennung der rechtlichen Entscheidungsprämissen, die durch verfahrensmäßig organisierte politische Entscheidungen - Gesetzgebung - getroffen werden. Die Verfahrensform leistet in zweierlei Hinsicht etwas für die zeitliche Stabilität und für die orientierende Funktion des Rechts für gegenwärtige und zukünftige Entscheidungen: a) Die verfahrensmäßige Rechtsetzung kostet Zeit, 29 Rotter, F., Verfassung und sozialer Wandel. Studien zur systemtheoretischen Rechtssoziologie, Hamburg 1974, S. 12. 30 Luhmann, Positivität, S. 186. 31 Luhmann, Rechtssoziologie Bd. 2, S. 346. 32 Luhmann, N., Legitimation durch Verfahren, Neuwied 1969, S.27 (im folgenden zitiert als Legitimation).
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Konsens ist ebenfalls knapp, und sachlich stehen eine Vielzahl von Themen zur Entscheidung an - das hat zur Folge, daß immer nur ein geringer Teil des Rechts zur Disposition steht, denn es kann nicht alles gleichzeitig geändert werden. Also auch im positiven Recht ist Vergangenheit als Ordnungsvorgabe unersetzbar, denn jede Rechtsänderung muß von dem bereits vorhandenen Rechtsbestand ausgehen. Innovationen müssen sich in den bestehenden Rechtszusammenhang einfügen, um überhaupt wirksam werden zu können. Gegenüber dem kleinen Teil der Rechtsnormen, die zu einer Zeit in den Prozeß der Rechtsänderung gelangen, bleibt der überwiegende Teil stabil. Daraus ergibt sich ein Vertrauen in die relative Stabilität von Rechtsnormen, die damit wieder regulative und antizipierende Funktion übernehmen können. b) Die zeitliche Verlaufsform des Verfahrens 33 selbst hat zugleich eine stabilisierende und entstabilisierende Wirkung. Die Erzeugung einer gemeinsamen Systemgeschichte im Verlauf des Entscheidungsverfahrens ermöglicht einen stufen weisen Lernprozeß, d. h. es kommt nicht zu einer plötzlichen und unerwarteten Enttäuschung von Erwartungen, sondern zu ihrer sukzessiven Umstrukturierung durch den faktischen Kommunikationsprozeß. Nach Luhmann kann man deshalb die Legitimation von Entscheidungen als einen "institutionalisierten Lernprozeß, als laufende Umstrukturierung von Erwartungen, die den Entscheidungsprozeß begleitet"34, begreifen. Verfahren laufen als Entscheidungsgeschichten ab, wobei jede einmal getroffene Entscheidung alle zukünftigen Entscheidungen mitbestimmt. Wir sehen, daß auch hier der Vergangenheitshorizont komplexitätsreduzierende Funktion besitzt und so die Konsensbildung im Laufe des Verfahrens fördert, was nicht heißen soll, daß die Legitimation durch Verfahren immer zu realem Konsens führt, vielmehr sind Enttäuschungen von Erwartungen unvermeidlich. Abgesehen von dem Problem der Legitimität muß man hinsichtlich der Änderbarkeit des Rechts fragen, woran sich diese Änderungen wiederum orientieren, eine Frage, die sich für traditionell oder göttlich/ natürlich begründetes Recht gar nicht stellen konnte. Rechtsänderungen können einmal von sich ändernden Umweltbedingungen des Rechtsbzw. politischen Systems erzwungen werden, es kommt dann meist nur zu ad-hoc-Änderungen von Rechtsnormen, die die akute Störung beseitigen sollen, ohne daß die Interdependenz zu anderen Normen und der Zukunfts aspekt der Entscheidung besonders berücksichtigt würden. Rechtsänderungen können heute jedoch zum anderen als Aufgabe gesamtgesellschaftlicher Planung angesehen werden, in diesem Sinne 33 Zur Beschreibung des Verfahrens als eines sozialen Systems, vgl. Luhmann, Legitimation, S. 38 ff. 34 Luhmann, Legitimation, S. 36.
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spricht Schelsky von der rationalisierenden Funktion des Rechts: "Bewußte Regelung und Gestaltung sozialer Beziehungen durch freies und bewußtes Zweckhandeln"35. Mit dem Aspekt rationaler Planung von programmierenden, rechtsetzenden Entscheidungen rückt die Zukunftsperspektive in den Vordergrund. Gegenwärtige Entscheidungen werden nicht mehr in Bezug auf Traditionen oder gerade bestehende Entscheidungsnotwendigkeiten getroffen, sondern in bezug auf zukünftige Wirkungen. "Damit steht die Gegenwart unter dem Entscheidungsdruck, durch geeignete Selektionsverfahren jene Vergangenheiten zu schaffen, die künftig - Systemgeschichte als Struktur - brauchbar sein würden36 ." Gegenwärtiges Entscheiden muß also betrachtet werden als Vergangenheit zukünftiger Gegenwarten, die man planerisch für anstrebenswert hält37 . Diese auf Zukunft gerichtete Funktion nennt Maihofer die "antizipierende Funktion des Rechts"38, Luhmann bezeichnet sie als die "programmierende Funktion des Rechts"39. Allerdings ist die Verbindung von Planung und Recht heute noch recht wenig entwickelt, so daß Pläne oft als "Gesetzesersatz" fungieren, da sich die Vielzahl der planerisch notwendigen Rechtsänderungen aufgrund der geringen Interdependenz der Rechtsnormen zeitlich nicht durchführen läßt. Die Zukunftsorientierung des Rechts würde eine Umorientierung in der primären Zeit- und Grenzorientierung des Rechtssystems erfordern: von der Input/Vergangenheitsorientierung hin auf eine Zweckund Zukunftsorientierung. Das Rechtssystem erfüllt also für die Gesellschaft (Funktionsbezug oder Gesellschaftsreferenz) vor allem die Funktion der Zukunftssicherung im Bereich der Verhaltenserwartungen, sei es durch die Aufrechterhaltung des Status quo (regulative oder orientierende Funktion des Rechts), sei es durch rechtliche Planung (antizipierende oder programmierende Funktion des Rechts). Alle diese Leistungen müssen jeweils in der Gegenwart sichergestellt werden, um den Bestand des umfassenden Systems zu gewährleisten. "Der Bezug auf das umfassende Gesell35 Schelsky, H., Systemfunktionaler, anthropologischer und personfunktionaler Ansatz der Rechtssoziologie, in: Jahrbuch f. Rechtssoziologie und Rechtstheorie, Bd. 1, Hrsg. W. Maihofer / H. Schelsky, Bielefeld 1970, S.39 bis 86, S. 66. 36 Rotter, S. 13. 37 Zu den komplizierten Zeitverhältnissen im Fall der Planung vgl. Kap. 7.1.3, auch: Luhmann, Rechtssoziologie Bd. 2, S. 351 - 352. 38 Maihofer, W., Die gesellschaftliche Funktion des Rechts, in: Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie, Bd. 1, Hrsg. W. Maihofer / H. Schelsky, Bielefeld 1970, S. 11 - 36, S. 34 (im folgenden zitiert als Funktion). 39 Luhmann, Positivität, S.190. "Dieser Entwurfscharakter des menschlichen Daseins, ... ist auch dem Recht eigen. Schon das positive Recht unserer Gesetze kennt an seinen ,utopischen Rändern' Postulate wie das der Gleichberechtigung ... , in denen eine bessere und vollkommenere Ordnung anvisiert und als besseres Recht antizipiert ist." Maihofer, Funktion, S.35. 14 Bergmann
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schaftssystem ist ... als Gegenwart aktuell. Die Zugehörigkeit zur Gesellschaft ist unausweichlich präsent40 ." Noch nicht gesprochen wurde von einer Leistung des Rechts, die man gemeinhin als seine Hauptfunktion ansieht: die integrative Funktion4 1, und zwar deshalb nicht, weil es sich m. E. hier nicht um eine Funktionserfüllung für das Gesamtsystern, sondern um eine Leistungserfüllung für andere Teilsysteme handelt. D. h. wir haben es im Fall der integrativen Funktion mit einer anderen Systemreferenz zu tun, so daß wir genauer nicht von integrativer Funktion, sondern von integrativer Leistung sprechen sollten. Ich komme damit zu dem zweiten System/Umwelt-Bezug: der Teilsystemreferenz. 6.3.1.2 Leistungsbezug und Temporalstruktur des Rechtssystems In der Leistungsperspektive geht es um die temporalen Beziehungen zwischen dem Rechtssystem und anderen funktionalen Teilsystemen der Gesellschaft. Es ist zu fragen, in welcher Weise sich die Input/Outputrelationen des Rechtssystems in seiner zeitlichen Binnenstruktur niederschlagen. Während die Funktionen des Rechts stets gegenwärtig wirksam sein müssen, werden die integrativen Leistungen nur von Fall zu Fall von der System umwelt abgefordert. So bleibt die integrative Aufgabe im Normalfalllatent, sie wird erst offensichtlich im Konfliktfall der Normverletzung, nämlich immer dann, wenn eine Normverletzung zum "Rechtsfall" geworden ist und eine rechtliche Entscheidung verlangt, die notfalls mit Hilfe von physischem Zwang durchgesetzt werden kann. Diesen letzten Punkt hebt Maihofer besonders hervor: Reintegration der Gesellschaft nach einem Konflikt fordert noch einen anderen Mechanismus als den von Verträgen und Gesetzen, von denen die regulative Funktion des Rechts ausgeht, nämlich "Erzwingungsstäbe", welche den Ausgleich bei Interessenverletzungen real herbeiführen können42 • Die rechtliche Entscheidung zielt letztlich auf die Wiederherstellung des ursprünglichen Zustandes, normverletzende Handlungen sollen ungeschehen gemacht werden. An diesem Restitutionsinteresse der Rechtsprechung wird deutlich, daß sich das Rechtssystem schwerpunktmäßig auf die Vergangenheit hin orientiert. Es tritt aufgrund bestimmter Inputs in Aktion, die von seiner Gegenwart aus gesehen in der Vergangenheit externer Systeme liegen. Es erfüllt seine integrative Leistung nicht durch eigene, zukunftsgerichtete Zwecksetzung, sondern in Form einer "formalisierten Reaktion" auf Umweltereignisse 43 • Das RechtsLuhmann, MS, S. 476. Bei Parsons gehört das Recht in seinem AGIL-Schema zur I-Funktion; vgl. auch: Maihofer, Funktion, S. 28 f. 42 Maihofer, Funktion, S. 30. 40
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system gehört seinem Typ nach zu den inputorientierten Systemen (vgl. Kap. 2.4.1), die nach Konditionalprogrammen verfahren. Das Rechtssystem agiert also aufgrund festgelegter Entscheidungsprämissen (Gesetze), die auf die eintreffenden Inputs angewendet werden, d. h. liegt ein bestimmter "Wenn-Input" vor, kann nach gesetzlichen Bestimmungen ein "Dann" selegiert werden. Diese reaktive Umwelteinstellung bedeutet eine gewisse Einschränkung der zeitlichen Autonomie, da das System auf einkommende, nicht kontrollierbare Inputs reagieren muß, ohne den Zeitpunkt des Eintreffens selber regulieren zu können. Denn die "Entscheidung über das Anlaufen gerichtlicher Entscheidung steht typisch nicht den Gerichten ZU"44. Diese externe Bestimmbarkeit kann das System der Rechtsprechung unter Zeitdruck setzen, die Zeit im Rechtssystem ist chronisch knapp, die Wartezeiten auf Prozesse nehmen zu. Die konditionale Programmierung des Rechts macht eine Orientierung an der Zukunft und damit an den Folgen der rechtlichen Entscheidung schwer. Das Rechtssystem kann sich im Laufe eines programmierten Entscheidungsverfahrens kaum an den spezifischen Gegebenheiten des Umweltsystems ausrichten und seinen Output darauf abstimmen. Die Folgelasten der rechtlichen Entscheidung trägt das betroffene Umweltsystem bzw. sie werden dem Gesetzgeber angelastet, für den der rechtliche Entscheidungsoutput einen Input darstellt, der Prämissen für Rechtsänderung liefern kann. Die Rückmeldung dysfunktionaler Folgen geht nicht, oder nur in geringem Umfang, direkt an das rechtsanwendende System, sondern an das rechtsetzende politische System, das dann die Möglichkeit der Umprogrammierung besitzt. Je nachdem, ob man die programmierende oder die programmierte Seite des Rechtssystems ins Auge faßt, ändert sich die vorherrschende zeitliche Orientierung. Luhmann spricht deshalb davon, daß die Normativität des Rechts eine Negation der offenen Zukunft darstellt, während die Positivierung des Rechts gerade in einer Negation der Vergangenheit besteht45 • In der Gesetzgebung ist, wenn auch noch kaum praktiziert, eine Zukunftsorientierung des Rechts möglich, Gesetze können sozialplanerisch als legale Programme eingesetzt werden. Dieser Aspekt der Rechtsetzung gehört jedoch zur Systemreferenz des Rechtssystems auf das Gesamtsystem und nicht in die Leistungsper43 Vgl. dazu die Stellung des Rechts in Parsons' AGIL-Schema: Seine Einteilung des AGIL-Schemas mit der Einteilung der Zeitachse in instrumentelle (zukünftige) und expressive (gegenwärtige) Funktionserfüllung läuft in die gleiche Richtung: die I-Funktion, der das Recht hauptsächlich zuzurechnen ist, stellt den Generalmechanismus dar, die interne Ordnung aktuell und von Fall zu Fall zu sichern. 44 Ziegert, S. 143. 45 Vgl. Luhmann, Rechtssoziologie Bd. 2, S.359.
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spektive. Hier steht die vergangenheitsorientierte Rechtsprechung im Vordergrund, die bestimmte OutputIeistungen für die anderen Teilsysteme - und nicht für die Gesamtgesellschaft - erbringt. Das Rechtssystem beschäftigt sich mit den vergangenen Ereignissen in anderen Teilsystemen, und zwar mit der Absicht, diese Vergangenheit genau zu rekonstruieren. Ziegert spricht von der "starken Stellung der Vergangenheitsobservation", es wird nach dem tatsächlich Geschehenen gefragt46 • Die zeitliche Asynchronität von ursprünglichem Geschehen und seiner Rekonstruktion birgt erhebliche Probleme für die Feststellung des Sachverhalts, denn die Gegenwart des Rechtssystems und die Gegenwart der "Tat" sind zeitverschoben. Komplementär zum zeitlichen "Nachhinken" des Rechtssystems und der daraus resultierenden Zeitknappheit, kommt es im betroffenen Teilsystem, das von der rechtlichen Entscheidung betroffen ist, zu einer Wartezeit; die Zeit im eigenen System geht weiter und man muß auf die Entscheidung des Rechtssystems warten. D. h. der Output des Rechtssystems kommt als Input in ein System, für das die Gegenwart des Geschehens (die "Tat") schon lange vergangene Gegenwart ist. Diese komplizierten Zeitverhältnisse werden aber synchronisiert durch die gesellschaftlich übergreifende Weltzeit, in der die Zeit zu einer eigenschaftslosen und wirkungslosen Datenreihe geworden ist, in der verschiedene Systemzeiten an inhaltslosen, bloßen Zeitpunkten verknüpfbar werden. Im Falle der Rechtsanwendung übernimmt die Prozessualisierung der Entscheidung im Verlaufe von Gerichtsverfahren eine zeitliche Synchronisierungsfunktion zwischen allen beteiligten "Parteien". Mir scheint, daß Verfahren, die man mit Luhma.nn als ausdifferenzierte Systeme elementarer Interaktion mit dem Ziel der Entscheidungsfindung auffassen kann, zeitlich begrenzt existierende Grenzsysteme sind, in denen alle an einer Entscheidung interessierten Parteien zusammentreffen. Die Grenzsysteme müssen in Form von ausdifferenzierten Rollen, von Verfahrensregeln und Rechtsnormen eine Struktur vorgeben, wenn ein gewisses Maß an Autonomie gegenüber externen Ansprüchen erreicht werden soll. Andererseits dürfen die Strukturvorgaben nicht soweit gehen, daß ein Verfahren die Form eines Rituals annimmt, dessen Ausgang schon vorher feststeht, vielmehr muß die letzte Entscheidung offen sein, sie wird erst im zeitlichen Verlauf des Verfahrens gemeinsam "erarbeitet". Die Entscheidungsempfänger engagieren sich im Verfahren nur im Hinblick auf diesen zukünftigen, ungewissen Entscheidungsausgang, in der Hoffnung, ihn beeinflussen zu können. Die Offenheit des Ausgangs ist also im Verfahren der eigentlich legitimierende Faktor. Alle Beteiligten müssen sich bei der Teilnahme an Verfahren auf einen bestimmten Handlungssinn, auf ein gewisses Maß an Intersub46
Ziegert, S. 143.
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jektivität einlassen. Das schließt auch die zeitliche Synchronisation des Verhaltens ein, wie umgekehrt auch eine Abkoppelung von den laufenden Umweltereignissen. Erforderlich sind vor allem Abstimmungen des Verfahrenstempos und die Konstitution einer gemeinsamen Verfahrensgegenwart, in der die notwendigen Selektionen vorgenommen werden, die im Laufe des Verfahrens zu einer gemeinsamen Systemgeschichte führen, die dann zunehmend die Funktion einer Systemstruktur gewinnt. Diese Systemgeschichte kann von den Beteiligten nur schwer negiert werden, sie legt außerdem durch einmal gemachte Aussagen den Horizont dessen, was zukünftig noch möglich ist fest. Auf diese Weise gewinnt das Verfahrenssystem zunehmend eine eigene Identität, womit zugleich der Rekurs auf außerhalb, z. B. in den Herkunftssystemen der Beteiligten liegende Zeithorizonte abgeschnitten wird. Diese Synchronisation der Zeitstrukturen ist insofern besonders schwierig, als im Grenzsystem "Verfahren" verschiedenartige Zeitperspektiven, Interessen an zeitlicher Tiefenschärfe und an der Weite des Zeithorizonts etc. aufeinandertreffen. Verfahren sind also divergierenden Zeitanforderungen ausgesetzt und tendieren deshalb dazu, diese durch die Ausbildung einer eigenen Temporalstruktur zu vermitteln. Verfahren ähneln damit in ihrem zeitlichen Charakter den "Rites de passage" (vgl. Kap. 4.2.2.2.2), sie sind zwischenzeitliche übergangsphasen, in denen ein Lernprozeß stattfinden soll. Das Verfahren ist ein "milieu de transformation", in dem Erwartungen und Horizonte umgebildet werden, hin auf die Anerkennung der Entscheidung am Schluß des Verfahrens. Die Annahme der rechtlichen Entscheidung (Output) hängt zu einem großen Teil vom richtigen "timing" ab, da die adressierten Empfängersysteme nicht immer gleich aufnahmebereit für Inputs sind47 • Für eine möglichst erfolgreiche übertragung muß der Sender (Rechtssystem) für eine Synchronisation von Empfangs- und Sendesystem sorgen, genau dies leistet ein Verfahren. Durch seine Beteiligung am Entscheidungsverlauf wird für jeden Beteiligten, trotz der möglichen Enttäuschung seiner Erwartung, die Annahme der Entscheidung (Output) unausweichlich. Das Verfahren überbrückt die Zeitdifferenz von "Sachverhalt" und seiner Behandlung im gerichtlichen Verfahren durch die Reaktualisierung des ersteren in Form einer kollektiven Erinnerung der beteiligten externen Systeme. Die Annahme der rechtlichen Entscheidung in der Gegenwart wird, trotz der Zeitdifferenz zwischen "Tat" und Entscheidung, durch diese Reaktualisierung im Verfahren motiviert, die Entscheidung wird so als Folge oder Antwort auf die in der Vergangenheit liegende Ursache verstehbar.
47
Ridder, S. 11.
214
6. Systemdifferenzierung und Temporalstruktur
Im Unterschied z. B. zum Kontaktsystem des Marktes, das ebenfalls Synchronisationsfunktion hat (vgl. Kap. 6.3.2), steht den Prozeßparteien die Annahme oder Ablehnung gerichtlicher Entscheidungen nicht frei, d. h. das Verfahren motiviert die Annahme, doch führt es nicht unbedingt zu einem realen Konsens. Entscheidend ist vielmehr, daß es zu einer Umstrukturierung der Rechtserwartungen kommt, ganz gleich ob diejenigen, die ihre Erwartungen umstrukturieren müssen, zustimmen oder nicht48 • So tragen die Folgelasten rechtlicher Outputs immer die betroffenen Personen oder sozialen Systeme, denn anders als z. B. das Wirtschaftssystem ist ja das Rechtssystem inputorientiert, es orientiert sich also nicht an den Folgen seiner Entscheidungen, sondern an bestehenden Konditionalprogrammen. In Verfahren lernen wesentlich nur die Adressaten der rechtlichen Entscheidungen und kaum das entscheidende Rechtssystem selbst. Als ein dritter Typ von Systemreferenz soll hier die Beziehung von Teilsystemen auf sich selbst nur kurz genannt werden. "A reflexive orientation, ... , becomes unavoidable if problems of continuity or discontinuity spring up and have to be solved by going back to the conception a system has of its own identity49." Im reflexiven Bezug auf sich selbst thematisieren Systeme ihre eigene Identität vor dem Hintergrund ihrer Geschichte und im Hinblick darauf, für andere Teilsysteme eine adäquate Umwelt zu sein. In zeitlicher Hinsicht sind "Selbstthematisierungen" oder Reflexionsprozesse immer Prozesse der Historisierung, d. h. ein System bestimmt seine Identität vor dem "Horizont der eigenen Vergangenheit"50. Gegenwart und Zukunft des Systems können entweder affirmativ an die Vergangenheit angeschlossen werden, indem die Kontinuität. betont wird, oder sie können per Negation gegen sie abgesetzt werden, indem die Diskontinuität und die Distanz zur Vergangenheit betont werden. Die Selbstthematisierung des Rechts erfolgt vor allem in den "Basisdisziplinen der Jurisprudenz": der Rechtstheorie, der Rechtssoziologie und der Rechtsphilosophie51 . Diese Basisdisziplinen sind vom je gegenwärtigen Entscheidungszwang des juristischen Handlungs- und Entscheidungssystems entlastet und können als "Vergangenheits- und Zukunftswissenschaften"52 über das Rechtssystem und seine Abstimmung mit der gesellschaftlichen Umwelt reflektieren. Luhmann, Legitimation, S. 8. Luhmann, Differentiation, S. 37. 50 Luhmann, MS, S. 475. 51 Maihofer, W., Rechtstheorie als Basisdisziplin der Jurisprudenz, in: Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie, Bd.2, Hrsg. H. Albert / N. Luhmann, u. a., Düsseldorf 1972, S. 51 - 78, S. 67 f. (im folgenden zitiert als Rechtstheorie). 52 Maihofer, Rechtstheorie, S. 53. 48
49
6.3 Funktionale Differenzierung und Temporalstruktur
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6.3.2 Zur Temporalstruktur des Wirtschaftssystems Als ein zweites Beispiel für den Einfluß funktionaler Differenzierung auf die Ausbildung teilsystemspezifischer Temporalstrukturen soll im folgenden die Wirtschaft herangezogen werden, da sie sich in ihrer Umweltorientierung und in ihrem zeitlichen Orientierungsprimat vom Rechtssystem wesentlich unterscheidet. Parallel zum vorigen Abschnitt soll auch hier die Gliederung der Darstellung der Unterscheidung von Systemreferenzen folgen. 6.3.2.1 Funktionsbezug und Temporalstruktur der Wirtschaft "Eine funktionale Verselbständigung des Wirtschaftens zu einem Sozialsystem problemspezifischer Prägung setzt zunächst voraus, daß das in diesem System zu lösende Problem spezifiziert wird 53 ." Bei Parsons finden wir auf gesamtgesellschaftlicher Ebene die Wirtschaft innerhalb des AGIL-Schemas der Funktion der Adaptation zugeordnet, d. h. die Wirtschaft hat das Problem der Anpassung von System und Umwelt zu lösen 54 • Mit Adaptation wird die Steuerung von Prozessen bezeichnet, mit denen sich ein System zu seiner Umwelt materiellenergetische und informationelle Beziehungen schafft55 • Die adaptive wirtschaftliche Funktion ist gemäß der Parsonsschen Achseneinteilung des AGIL-Schemas in dem extern-instrumentell ausgerichteten Feld zu lokalisieren. Wirtschaft ist damit spezialisiert auf die zukünftige Sicherstellung der externen Anpassung des Gesellschaftssystems gegenüber seiner physikalisch-organischen Umwelt56 • Parsons/Smelser kommen zur folgenden negativen und positiven Bestimmung der A-Funktion der Wirtschaft: "Negatively it implies the minimization of the subjection to control by the exigencies of the external situation (e. g. floods, famines, shortages, etc.). Positively it implies the possesion of a maximum of fluid disposable resources as means to attain any goal valued by the system or its sub-units57 ." Auch wenn ich der Parsonsschen Schematisierung der Systemfunktionen nicht folge, so enthält doch seine Kennzeichnung der A-Funktion die wesentlichen funktionalen Bestimmungen des Wirtschaftssystems: a) die Kontrolle der exter53 Luhmann, N., Wirtschaft als soziales System, in: ders., Soziologische Aufklärung, Bd. 1, Opladen 1971, S. 204 - 232, S. 206 (im folgenden zitiert als
Wirtschaft).
54 Vgl. Parsons, T. ! Smelser, N. J., Economy and Society, London 1957, S. 20 (im folgenden zitiert als Economy). 55 Ein Paradebeispiel für adaptive Handlungsmuster ist nach Jensen das "ökonomisch-technologische Handeln". In: Parsons, Zur Theorie soz. Systeme, S. 64, Anm. 41. 56 Zur A-Funktion: "Adaptive-instrumental Object Manipulation." Parsons ! Sm eIs er, Economy, S. 19. 57 Parsons! Smelser, Economy, S. 21.
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6. System differenzierung und Temporalstruktur
nen Umwelt und damit die Ermöglichung einer zeitlichen, sachlichen und sozialen Autonomiesteigerung der Gesellschaft, die durch die Subsistenzsicherung Zeit gewinnt zum Aufbau komplexer und unwahrscheinlicher Systemstrukturen (darunter auch: Temporalstrukturen); b) die Sicherstellung funktionaler Problemlösungen über die Gegenwart hinaus durch zukunftsgerichtete instrumentelle Orientierung. Natürlich ist auch wirtschaftliches Handeln wie jedes Handeln nur als gegenwärtiges wirksam, es zeichnet sich jedoch, z. B. im Gegensatz zum vergangenheitsorientierten Rechtshandeln, durch eine Zukunftsbezogenheit aus, die über das Maß des Vorausgreifens menschlicher Handlungen überhaupt hinausgeht. "Die ganze Wirtschaft ist entschieden in die Zukunft gewendet, hängt aber mit festen Ketten in der Vergangenheit (und: kennt keine Gegenwart) ... Demgemäß erhält die Wirtschaft ihr Kennzeichen nicht durch die sich in der Gegenwart vollziehende Konsumtion, sondern durch die vorsorgende ,Bereitstellung von Deckungsmitteln für die vorausgesehenen künftig auftretenden Bedürfnisse'. Der wirtschaftende Mensch hat also eine doppelte Aufgabe zu bewältigen: Mittel zur Bedarfsdeckung zu beschaffen, aber bereits im voraus stets darüber zu entscheiden, welche Bedürfnisse und Wünsche befriedigt werden sollen58 ." Das Wesen der Wirtschaft besteht deswegen auch nicht einfach in der Bereitstellung von Mitteln zur Bedürfnisbefriedigung, sondern in der ständigen Auswahl und Begrenzung von Bedürfnisbefriedigung, in einer fortgesetzten Wahl zwischen Alternativen, wobei die Wahl orientiert ist an der Knappheit der MitteJ59. So scheint es nach Luhmann bei allem Wirtschaften letztlich "nicht um bestimmte, abgrenzbare Bedürfnisse zu gehen, sondern um die Möglichkeit, eine Entscheidung über die Befriedigung von Bedürfnissen zu vertagen, die Befriedigung trotzdem gegenwärtig schon sicherzustellen und die damit gewonnene Dispositionszeit zu nutzen. So gefaßt, liegt das Grundproblem der Wirtschaft in der Zeitdimension 60 • " Die je gegenwärtige Bedürfnisbefriedigung ist nicht beliebig steigerbar, sondern bewegt sich im Rahmen anthropologisch eng fixierter Grenzen, so daß die wirtschaftliche Entwicklung andere Ursachen haben muß als eine "Art humaner Unersättlichkeit"61. Es ist vielmehr anzunehmen, daß der Antrieb in den Strukturen des einmal ausgebildeten und spezialisierten Sozialsystems Wirtschaft selbst liegt. Evolutionär gesehen war die noch nicht systemspezifisch ausdifferenzierte 58 Machinek, P., Behandlung und Erkenntniswert der Erwartungen in der Wirtschaftstheorie, Berlin 1968, S. 33. Vgl. zur Berücksichtigung der Zukunftsbezogenheit der Wirtschaft in der ökonomischen Theorie, insgesamt S. 33 ff. 59 Vgl. Röpke, W., Die Lehre von der Wirtschaft, Erlenbach-Zürich, Stuttgart 1968, 11. Auflage, S. 32 und Machinek, S. 36 - 37. GO Luhmann, Wirtschaft, S. 206. 61 Luhmann, Wirtschaft, S. 207.
6.3 Funktionale Differenzierung und Temporalstruktur
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A-Funktion zunächst rein auf die gegenwärtige Subsistenzsicherung der Gesellschaft gerichtet, solange nämlich in den Wildbeuter- und Sammlergesellschaften entweder kaum Vorräte gebildet werden konnten, oder aber, falls Überschüsse erwirtschaftet wurden, diese nicht zur Kapitalbildung und Steigerung des wirtschaftlichen Volumens, sondern in Form von Geschenken, Festen, Hilfeleistungen etc. für soziale Ziele eingesetzt wurden. Daseinsvorsorge besteht hier in der Anhäufung von naturalen Vorräten und in der Unterhaltung sozialer Beziehungen des gegenseitigen Aushelfens - "beides in bezug auf Dinge und Personen quantitativ begrenzte ,kleine' Problemlösungen"62. Auf diese Weise lebt man "von der Hand in den Mund" und es lassen sich keine weit über die unmittelbare Zukunft hinausreichenden gesellschaftlichen Zeit- und Handlungshorizonte gewinnen. Erst durch die Ausdifferenzierung von Märkten, die Etablierung des Geldmechanismus, die Ausdifferenzierung des Wirtschaftssystems etc. kann über den alltäglichen Bedarf hinaus und unabhängig von der Natur die wirtschaftliche Versorgung gesichert werden. "Die Wirtschaft vermag durch Eröffnung, Erschließung und Pazifizierung einer Zukunft dieser Gegenwart einen Spielraum für Dispositionen und damit auch für Rationalität zu erschließen: Man kann Bedürfnisse und Bedürfnisbefriedigungen nur in dem Maße spezifizieren, als man einen Teil von ihnen aufschiebt und in der Zukunft sicherstellen kann 63 ." Die gesellschaftliche Funktion eines ausdifferenzierten Wirtschaftssystems, die dieses je gegenwärtig erfüllen muß, liegt demnach in "der Ausdehnung des Zeithorizonts, in dem ökonomische Werte akkumulierbar und verteilbar sind"64. In dieser Möglichkeit des Entscheidungsaufschubs, die die zur Verfügung stehende Zeit für Entscheidungen und Systemprozesse in der Wirtschaft enorm erhöht, liegen auch Reduktionspotentiale für sachliche und soziale Komplexität; so der Vorteil eines Zeitausgleichs zwischen unterschiedlich anfallenden Bedürfnissen und ihren Befriedigungsmöglichkeiten, so die Möglichkeit der Erfüllung von divergierenden Wünschen durch die Verlängerung der zur Disposition stehenden Zeit. Nowotny schreibt über diesen Zusammenhang von Zeit und Wirtschaft unter der Überschrift: "The extension of the social present"65 und konstatiert für die moderne Gesellschaft - im Vergleich etwa zur traditionellen, vergangenheits orientierten Gesellschaft des Mittelalters 62 Luhmann, Wirtschaft, S. 208. 63 Luhmann, Wirtschaft, S. 206 - 207. 64 Luhmann, MS, S.474. Nowotny beschreibt diesen Ausgriff auf die Zukunft, den sie ebenfalls eng mit der Wirtschaft verknüpft, als ein "Borgen" von Zeit: "We appear somehow to ,borrow' time by extending our time horizons into the future." Nowotny, S. 331. 65 Nowotny, S. 330.
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6. Systemdifferenzierung und Temporalstruktur
- eine Betonung des Zukunftshorizonts und eine zunehmende Verknappung der Zeit. Der gesellschaftliche Wechsel der Zeitperspektive im 18. Jahrhundert wird tatsächlich wesentlich getragen vom Teilsystem Wirtschaft, das nach Luhmann in der Neuzeit den "funktionalen Primat" unter den Teilsystemen gewonnen hat 66 • Der Begriff des Primats drückt "den Stellenwert eines Teilsystems im Kontext gesamtgesellschaftlicher Entwicklung aus, nämlich die Position desjenigen Teilsystems, das aufgrund eigener Komplexität und eigener Dynamik die gesellschaftliche Entwicklung führt und anderen Teilsystemen den Bereich ihrer Möglichkeiten vorzeichnet67 ." Die Gesellschaft insgesamt übernimmt also im Verlauf der Neuzeit die Zeitorientierung der Wirtschaft, zu deren kultureller Generalisierung vor allem die Religion beigetragen hat, indem sie ihren Zeitbegriff der "Zeit des Kaufmanns" annähert 68 • Die wesentlichen Kennzeichen der ökonomisierten Zeit sind der Primat der Zukunft, die Einführung einer exakten Zeitrechnung, die Verknappung der Zeit und die Erhöhung des allgemeinen Zeittempos: die mechanische Uhr wird zum Symbol der neuen ~esellschaftlichen Einstellung gegenüber der Zeit69 • Die Zeit verliert ihren Charakter als eine göttliche und natürliche Vorgegebenheit, sie wird machbar, wird zu einer ökonomischen Ressource, die es bestmöglichst zu nutzen gilt, die man sparen oder investieren kann. Die Quantifizierung der Zeit in Form der "Arbeitszeit" erlaubt den Tausch des Mediums Zeit mit dem Medium Geld: "Work was paid according to the time spent at it, and timekeepers were the quantifiers which transformed an activity into its monetary value70 ." Obwohl Zeit, gemessen an einer objektiven Zeitskala, natürlich nicht vermehrbar ist - "wir können keine Zeit-Reserven bilden, wie wir Kapital-Reserven bilden"71 -, so erlaubt doch ihre wirtschaftliche Bewertung als Produktionsfaktor, sie als variabel zu behandeln. Die zur Verfügung stehende Zeit bemißt sich nach der Relation von Angebot und Nachfrage, in der Regel stellt sie im wirtschaftlichen Sinn ein "knappes Gut" dar, da sie nicht vermehrbar ist. Die Knappheit der Zeit darf also nicht als Man66 Während in der alteuropäischen Tradition Gesellschaft als politische Einheit begriffen wird, wird in der Neuzeit der Gesellschaftsbegriff ökonomisiert - ein Zeichen für den Wechsel des funktionalen Primats von der Politik zur Wirtschaft. Vgl. Luhmann, Wirtschaft, S. 225 - 227; auch: Tyrell kritisch zur Frage des "Primats" überhaupt, S. 191 - 192. 67 Luhmann, Wirtschaft, S. 227. 68 Vgl. dazu: LeGoff, Temps de l'Eglise et temps du marchand. 69 "There is much convincing evidence to support the hypothesis that time acquired its value, in the sense it is understood today, through that change in the history of economic development, when time was discovered as a factor in productivity. It was the moment when time came to be used as a medium in which more of something could be produced." Nowotny, S.330. 70 Nowotny, S.33l. 71 Linder, S. 12.
6.3 Funktionale Differenzierung und Temporalstruktur
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gel erscheinung oder Notlage mißverstanden werden, denn absolut gesehen ist Zeit weder knapp noch im Überfluß vorhanden, sondern sie muß als "abstrakter Vergleichsgesichtspunkt" für die Selektion aus einer Überzahl von Handlungs- und Erlebnismöglichkeiten pro objektiver Zeiteinheit verstanden werden. Deshalb nimmt Knappheit durch die Steigerung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit nicht ab, sondern zu. Gerade diejenigen, die am meisten produzieren und das höchste Einkommen haben, leiden unter Zeitmangel, denn je höher die Produktivität einer Zeiteinheit für jemanden ist, desto weniger kann er sich erlauben, Zeit zu vertun, da dann seine ökonomischen Verluste besonders hoch sind. Diese Regel gilt nicht nur für die Wirtschaft: "Zeit, die man auf andere Aktivitäten verwendet, muß ebenfalls mehr ,abwerfen'72." Zeit wird zum Produktions medium in allen gesellschaftlichen Lebensbereichen, es soll pro Zeiteinheit mehr konsumiert werden, mehr Sport getrieben werden, mehr gelesen werden; wir wollen mehr Menschen kennenlernen, uns besser ausbilden etc. Evolutionär gesehen steigt also mit der Überproduktion gesellschaftlicher Möglichkeiten auch die Knappheit der Zeit an, denn die notwendig immer schärfer werdende Selektivität in allen sozialen Systemen ruft den Eindruck immer stärkerer Verknappung hervor; die Einstellung zur Zeit wird in "Kulturen mit ,Zeit-Hunger'" ganz von der äußersten Knappheit des Gutes diktiert73. Hat sich die Ökonomisierung der Zeit gesellschaftsweit durchgesetzt und zu Zeitknappheit geführt, so hat auch die "Kehrseite" der Verknappung "das Borgen der Zeit" von der Zukunft inzwischen allgemeine Verbreitung gefunden. Diese Zukunftsorientierung der Gesellschaft wurde ermöglicht durch die Sicherung dieser Zukunft seitens der Wirtschaft. Verbunden mit der ökonomischen Sicherung der Zukunft tritt der Gedanke des "Fortschritts" auf74, ökonomisch gedacht als Wachstum und Vermehrung des Reichtums. "The notion of progress ... pointed to the possibility of unlimited wealth and betterment of human life in the future 75 ." Die Zeit wurde damit in ihrer Zukunftsdimension zu dem Medium, "in which human activities, especially economic activities, could be stepped up to a previously unimagined rate of growth"76. Dieser Fortschrittsgedanke, ermöglicht durch entsprechende generalisierte Vergegenwärtigungsformen von wirtschaft72 Linder, S. 14. 73 Vgl. Linder, S. 38 und insgesamt, bes. Kap. l. 74 Vgl. Das Stichwort "Fortschritt", 3. Abschnitt 17/18. Jhdt., in: Historisches Wörterbuch d. Phil. Bd.2, S. 1038; vgl. dazu auch: Koselleck, R., Vergangene Neuzeit, Frankfurt a. M. 1979; in allen Aufsätzen wird dort von der Umstellung der Zeitorientierung auf Zukunft gehandelt. 75 Nowotny, S. 33l. 7G Nowotny, S. 330.
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6. System differenzierung und Temporalstruktur
licher Zukunft wie Eigentum oder Geld, führt in der Gegenwart zu einer weiteren Zeitverknappung, denn offensichtlich werden wirtschaftliche und auch andere Steigerungsraten gemessen an der Produktivität pro Zeiteinheit. Zeitknappheit und eine spezifisch ökonomische Fassung des Zeitbegriffs kann man also als die Resultate der in der Neuzeit einsetzenden funktionalen Differenzierungsprozesse interpretieren, die einmal die Autonomie des Teilsystems erhöhen, indem Knappheit als "systeminterne Formel der Rekonstruktion von Kontingenz"77, d. h. als Selektionsverfahren z. B. mittels symbolischer Generalisierungen wie Geld die Selektivität des Systems erhöht, zum anderen die gesellschaftliche Komplexität insgesamt steigern. Die Abarbeitung dieser Komplexität kann nicht mehr allein in der Gegenwart geleistet werden, es ist also eine Verzeitlichung des Problems nötig: Vergangenheit oder Zukunft müssen als Verweisungshorizonte für überschüssige Möglichkeiten einbezogen werden. Wenn diese Annahme richtig ist, dann ist zu fragen: " ... why it is that some societies extend their present into the future, and why others extend it into the past78 ?" Die Wahl des primären Zeithorizonts wird m. E. davon abhängen, wieweit einmal die Wirtschaft in der Lage ist, Generalisierungen zu entwickeln, die Zukunft vergegenwärtigen und sicherstellen sowie Unsicherheit absorbieren können, zum anderen vom Ausmaß der gesellschaftlich zu verarbeitenden Komplexität. Die funktionale Differenzierung, die in der Neuzeit einsetzt, und die Sicherung der Zukunft durch den Geldmechanismus und die Eigentumsbildung zwingen aufgrund des bis dahin noch nie erreichten Komplexitätsgrades zur Wahl der Zukunft, im Sinne einer offenen, machbaren, da sie aufgrund ihres Unbestimmtheitscharakters als Horizont gegenwärtig noch nicht zu verwirklichender Möglichkeiten besser geeignet ist als die Vergangenheit mit ihrer bereits bestimmten und damit begrenzten Komplexität. "In societies where activities and economic goods can be produced more or less at will, there time is bound to become an extremely scarce ,commodity' that can be increased only by opening up towards the future. This is achieved by partly living in the future already, by planning it, and through attributing linearity to Wo." Nachdem ich bisher ganz global die gesellschaftliche Funktion des Wirtschaftssystems als "Ausdehnung des Zeithorizonts" analysiert habe, gilt es jetzt nach den spezifisch ökonomischen Strukturen zu fragen, die der Wirtschaft die Erfüllung dieser Funktion ermöglichen. Vorausgesetzt ist dabei schon die Ausdifferenzierung der Wirtschaft, 77 Luhmann, Knappheit, Geld, S. 188. 78 Nowotny, S. 332. 79 Nowotny, S. 332.
6.3 Funktionale Differenzierung und Temporalstruktur
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die im wesentlichen in Gang gesetzt wird über die Einrichtung von Märkten, die eine neue und erstmals ökonomische Form der überschußverwertung darstellen. Die durch die Marktform erreichbare Entpersönlichung des Tausches, die Differenzierung der Teilnehmerrollen etc. führen zur Ausbildung spezifischer, thematisch vereinseitigter Handlungs- und Erlebnisweisen, zur Entwicklung spezifisch wirtschaftlicher Zwecke, Normen, Rationalitätskriterien und Handlungslogiken, die der Rücksicht auf die Gesamtgesellschaft weitgehend enthoben sind. In bezug auf die gesellschaftliche Funktion der Wirtschaft gesehen "sind Handlungen wirtschaftlich orientiert, weil sie durch gesichertes Hinausschieben von Bedürfnisbefriedigungen einen gegenwärtigen Dispositionsspielraum gewinnen und darin operieren8o." Welches sind nun die spezifisch wirtschaftlichen Mechanismen und Strukturen der Zukunftseröffnung und -sicherung? a) Die Umstrukturierung der Zeithorizonte hin auf Zukunftsorientierung ist nach Luhmann eine wesentliche Konsequenz der durch den Geldmechanismus möglich gewordenen Anlegung "zeitfester Bestände" in Form von Kredit, d. h. länger oder kurzfristig zur Verfügung stehende fremde Geld- oder Sachmittel, und Kapitalbildung, d. h. für Investitionszwecke gespartes Geld 81 • Kredit- und Kapitalbildung besitzen einen doppelten Vorteil: 1. sie sichern die Zukunft, ohne zeitlich, sachlich und sozial auf etwas Bestimmtes festgelegt zu sein; damit sind sie der Vorratshaltung in Form von Sachgütern überlegen; 2. sie leisten eine Strukturbildung, die jedoch so von allen konkreten Bestimmungen abstrahiert ist, daß sie für die Zukunft Variationen und Innovationen ermöglicht, während Strukturbildung durch Geschichte und Erfahrungswissen für die Zukunft meist nur die Fortsetzung bestehender Verhältnisse ermöglicht. Kredit und Kapitalbildung leisten einmal die Mitnahme der Vergangenheit in der ganz abstrakten Form von finanziellen Ressourcen, zum anderen die Eröffnung einer weitgehend unbestimmten, aber doch schon gesicherten Zukunft. Hinzu kommt die Erweiterung der Zukunftsperspektive und ihre Sicherung durch die mit der Abstraktion von konkreten Verwendungsweisen des Geldes möglich gewordene wirtschaftliche Planung. Luhmann, Wirtschaft, S. 211. Bei Parsons / Smelser zählt die Schaffung von Kredit (Kreditschöpfung) analytisch zum politischen System. "The nature of the political input into economy is, ... , contained in the notion of creation of credit." (S. 56) Anders ist es für die Analyse realer Systeme oder Kollektivitäten. Vgl. Economy, S.62; auch Luhmann betont die Anlehnungsbedürftigkeit der Wirtschaft an die Politik auf den höheren Reflexivitätsstufen des Geldes. Vgl. Wirtschaft, S. 211; vgl. Duden, Fremdwörterbuch, Der große Duden, Bd. 5, bearb. v. K. M. Ahlheim, 2. verbess. Auflage, Bibliographisches Institut, Mannheim, Wien, Zürich 1971, S. 389. 80 81
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6. Systemdifferenzierung und Temporalstruktur
b) Da ich dem Verhältnis von Planung und Zeit einen eigenen Abschnitt (Kap.7.1.3) widmen werde, beschränke ich mich auf einige Aspekte der wirtschaftlichen Planung. Mit Habermas und Lau läßt sich eine historische Abfolge "verschiedener Phasen des Planungshandelns jeweils unterschiedlichen Rationalisierungsgrades konstatieren"82. Gegenüber dem traditional und affektuell bestimmten Handeln in vorhochkulturellen Gesellschaften und dem durch die Religion eingeschränkten zweckrationalen Handeln in den Hochkulturen, setzt sich in der Neuzeit im Wirtschaftssystem zweckrationales, gewinn- und verlustorientiertes Handeln als systemspezifische Verhaltensweise durch. Das rationale Handeln findet seinen Ursprung in der "Vorstellung eines künftigen Zustandes", aus der die überlegung folgt, ob und mit welchen Mitteln ein gegebenes Projekt realisiert werden kann. Für den Ablauf des traditionalen HandeIns ist dagegen typisch, "daß auf gewohnte Reize gemäß einer eingelebten Einstellung in immer wieder gleicher Weise reagiert wird"83. Wirtschaftliche Planung ist nun kein einfaches zweckrationales Handeln, sondern ein reflexiv auf sich selbst bezogenes zweckrationales Handeln, ein zweckrationales Handeln zweiter Stufe. Planung eröffnet und sichert Zukunft gleichermaßen, indem nicht heute schon Entscheidungen für die Zukunft getroffen werden, das wäre einfaches zweckrationales Handeln, sondern indem heute Entscheidungsprämissen für künftige Entscheidungen festgelegt werden. Damit wird es möglich, in einem zweistufigen, reflexiven Verfahren spätere Entscheidungssituationen schon vorzustrukturieren, d. h. schon für die Zukunft "Markierungen" zu setzen, ohne jedoch die konkreten Entscheidungen in der zukünftigen Gegenwart voll zu determinieren. "Der Planungsgedanke ist die vielleicht konsequenteste Ausformung der Verselbständigung der ökonomischen Funktion, nämlich der Möglichkeit, die Entscheidung über die Befriedigung von Bedürfnissen auf die Zukunft zu verschieben und doch gegenwärtig schon sicherzustellen84 ." Nur so ist die Umstellung des wirtschaftlichen und in seiner Folge des gesamtgesellschaftlichen Zeitbewußtseins auf eine offene Zukunft, mit ihren Risiken und Unbestimmtheiten, tragfähig, denn Planung ermöglicht es, die "unbestimmte Komplexität der Zukunft, ... in bestimmte oder doch bestimmbare Komplexität zu transformieren"85. Die Gegenwart schrumpft bei dieser Umstellung der Zeithorizonte auf einen Punkt, an dem für die geplante Zukunft entsprechende Entscheidungen getroffen werden. Die Gegenwart gerät gleichsam zu einem bloßen Mittel zur Ermög82 83 84 85
Lau, ehr., Theorien gesellschaftlicher Planung, Stuttgart 1975, S. 37. Machinek, S. 140 u. 143, vgl. insges. S. 139 - 144. Luhmann, Wirtschaft, S. 223. Luhmann, Wirtschaft, S. 212.
6.3 Funktionale Differenzierung und Temporalstruktur
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lichung einer geplanten Zukunft, sie wird damit aus der Perspektive der zukünftigen Gegenwart gesehen und erscheint dann als deren Vergangenheit. Hier begegnen wir wieder dem oben schon angesprochenen "Borgen von Zeit", mit dem wir der Gegenwart immer schon voraus sind86 • c) In Form von Kredit und Kapital ist schon vom Geldmechanismus gesprochen worden. Ganz allgemein gesprochen besteht die Funktion des Geldes in der Zeitdimension in der Symbolisierung "jederzeitiger Verfügbarkeit" von Gütern und Leistungen87 • Geld gewährt die Möglichkeit des Aufschiebens von Bedürfnisbefriedigung durch Sparen oder Investieren, ohne daß diese durch den Aufschub für immer verschwindet; es symbolisiert die chronisch knappen, aber doch dauerhaft sichergestellten wirtschaftlichen Möglichkeiten. Die Rede von Geld als einem generalisierten Medium des Tausches oder der Kommunikation besagt, daß mit Hilfe des Geldes Generalisierungen in allen drei Komplexitätsdimensionen möglich sein müssen: für die zeitliche Dimension bedeutet Generalisierung zeitpunktunabbängige Geltung des Geldes, wenn wir einmal von Perioden der Inflation und Deflation absehen; für die Sachdimension bedeutet Generalisierung die Indifferenz des Geldes gegenüber den spezifischen stofflichen Qualitäten der Güter und Leistungen; für die Sozialdimension schließlich bedeutet Generalisierung die Indifferenz gegenüber sozialen Unterschieden, d. h. das Geld muß universell als Tauschmittel gelten, nur dann ist eine "Konzentration der Zukunftsvorsorge im Geld" möglich 88 • Nur die Generalisiertheit der Tauschfunktion des Geldes ermöglicht eine unschädliche Indifferenz gegenüber Zeitunterschieden, nur unter dieser Bedingung sind Sparen und Investieren als zukunftsgerichtetes Handeln überhaupt sinnvoll, weil gesichert und erfolgversprechend. "Man braucht nur noch für Geld zu sorgen, um der Zukunft im Rahmen des technisch und gesellschaftlich Möglichen gewachsen zu sein. Geld löst in dieser Hinsicht religiöse Sicherungsmittel ab, wird zum god term im Bereich der Wirtschaft89 ." Ich komme auf das Medium Geld in seiner Tauschfunktion noch im Zusammenhang mit den Leistungsbeziehungen zwischen den gesellschaftlichen Teilsystemen zurück. 6.3.2.2 Leistungsbezug und Temporalstrukturen der Wirtschaft Die Leistung oder der Output der Wirtschaft für die anderen gesellschaftlichen Teilysteme besteht in der Erzeugung von Produkten zur 86 Diese "Flucht in die Zukunft" kann nach B. Willms zwei Formen annehmen: die der "Planungsideologie" und die der "revolutionären Utopie". Vgl. Willms, B., Planungs ideologie und revolutionäre Utopie, Stuttgart 1969. 87 Vgl. Luhmann, Wirtschaft, S.214. 88 Luhmann, Wirtschaft, S. 219. 89 Luhmann, Wirtschaft, S. 214.
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6. System differenzierung und Temporalstruktur
Bedarfsdeckung. Bei Parsons/Smelser findet sich folgende Näherbestimmung dieses Outputs: "Wealth or income is an output of the economy to other subsystems of society ... The output itself is distributed by shares among the different subsystems of society90." Ohne zunächst zwischen spezifischen Intersystemrelationen zu differenzieren, kann man den Output als "the transition from production to consumption"91 ansehen. Die Aufgabe des Wirtschafts systems ist mit der Produktion abgeschlossen, das Produkt wird den anderen Teilsystemen zu ihrem freien Gebrauch überlassen, wenn diese wirtschaftlich relevante Inputs als Gegenleistung bieten, d. h. die Outputs des einen Teilsystems fungieren als Ressourcen für andere Teilsysteme. Im Unterschied zum Rechtssystem (vgl. 6.3.1.2) ist das Wirtschaftssystem zwar auch auf Inputs bei seiner Outputproduktion angewiesen, doch bestimmen sie nicht die wirtschaftlichen Zwecksetzungen, sondern umgekehrt erfolgt die Allokation der Inputs aufgrund wirtschaftsimmanenter Outputund Zielplanungen. Durch die Zwischenschaltung von Markt und Handel ist die Produktion von Gütern nicht mehr unmittelbar an Bedarfsvorstellungen orientiert, es wird weitgehend aufgrund von nur bedingt prognostizierbaren Kaufwünschen und vor allem nach internen Wirtschaftlichkeitsvorstellungen produziert. Das Wirtschaftssystem setzt also seinen Orientierungsschwerpunkt an der Outputgrenze, das bedeutet zeitlich gesehen in der Systemzukunft. Im Vergleich zu den vergangenheitsorientierten Systemen, die nicht aufgrund eigener Zwecksetzung, sondern aufgrund zeitlich unvorhersehbarer eingehender Umweltinformation tätig werden, haben zweckprogrammierte Systeme einen größeren Spielraum zeitlicher Autonomie und können deshalb durch zeitgünstige Anordnung ihrer Ressourcen zusätzlich Zeit sparen, wie sie auch umgekehrt durch das Abpassen günstiger Zeitpunkte Geld und Ressourcen einsparen können. Die an Gewinn und Verlust orientierte Wirtschaftlichkeit des Handeins läßt sich auch zeitlich rationalisieren, sobald die Zeit als eine wirtschaftliche Größe, d. h. als ein quantifizierbares und knappes Gut behandelt werden kann. Zeit wird dann zu einem Produktionsfaktor unter anderen und damit in einen Geldwert umrechenbar. Die Input/Outputrelationen, also die Tauschprozesse zwischen der Wirtschaft und den anderen gesellschaftlichen Teilsystemen sind heute marktförmig organisiert und ausdifferenziert92 . Der Markt als Vertei90 Parsons! Smelser, Economy, S. 49. 91 Parsons! Smelser, Economy, S. 24 und weiter: "Consumption in the
broadest sense is thus any use to wh ich economically valuable goods and services are put, other than as means of production in the economic system." Parsons ! Sm eIs er, S. 25. 92 Der Markt ist eine späte Form von Tauschbeziehung, die bereits gewisse Abstraktionen voraussetzt. Burghardt führt als elementare Tausch-
6.3 Funktionale Differenzierung und Temporalstruktur
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lungssystem vermittelt zwischen den Produktionseinheiten (Betrieben) und den Haushalten, wobei Haushalt hier im weiteren Sinne von nachfragenden Teilsystemen überhaupt verstanden wird. Märkte stellen also Grenzbereiche oder Kontaktsysteme dar, die nur partiell in das System Wirtschaft gehören und die deshalb auch nicht rein in Begriffen der Ökonomie beschreibbar sind. In den Markt gehen also auch außerökonomische Interessen ein und die Konsumenten müssen auf dem Markt eine Transformation dieser Interessen in ökonomische Interessen leisten93 • Luhmann zählt deshalb die Rolle des Konsumenten zu den "boundary roles", die eine Vermittlung zwischen zwei Teilsystemen der Gesellschaft leisten 94 • Der Markt als Grenzsystem unterscheidet sich z. B. vom Verfahren durch das Merkmal der dezentralen sozialen Steuerung. Anstelle des programmgemäßen Ablaufs von Verfahren, deren Struktur durch ein Konditionalprogramm vorgegeben ist und die beteiligten Parteien auch zeitlich einander fest zuordnet, finden wir auf dem Markt eine "regulierte Anarchie"9s vor, d. h. die Marktbeziehungen werden zeitlich nur reguliert über die Zwecksetzungen und die entsprechenden internen Zeitpläne der Anbieter und Nachfrager. Wie kann nun der Markt, trotz dieser dezentralen Struktur, seine Synchronisierungsfunktion als Grenzsystem erfüllen, wie kann er die beteiligten Teilsysteme einander zeitlich zuordnenge ? Die Steuerung der Marktprozesse, d. h. die Sicherung der Reziprozität zwischen den Beteiligten, läuft über die integrierenden Mechanismen des Preises, des Lohns, des Zinses und schließlich über den Vertrag als die institutionelle Basis der Marktstruktur97 • über Feedback-Prozesse kann sich der Markt mittels der genannten Mechanismen selbst steuern und eine optimale Abstimmung der Zeitpläne erzielen. Das setzt seitens der beteiligten Systeme eine ständige Marktbeobachtung voraus, denn nur so kann zum richtigen Zeitpunkt die richtige Entscheidung getroffen werden. Trotzdem kommt es immer wieder zu Asynchronitäten zwischen Produktion und Konsumtion, die dann von speziellen Mittlern wie "Handelsbetrieben" ausgeglichen werden müsformen auf: Gelegenheitstausch, Geschenktausch, Prestigetausch und Handel (S. 144 f.). Vgl. auch: Smelser, S. 147 - 157 - Vergleichende Analyse von Tauschformen. Smelser, N. J., Soziologie der Wirtschaft, München 1968 (im folgenden zitiert als Wirtschaft). 93 Vgl. zu den sozialen, psychischen und sozialpsychischen Elementen: Löber, W., Marktkommunikation, Wiesbaden 1973, S. 36. 94 Luhmann, Differentiation, S. 75. 9S Vanberg, V., Kollektive Güter und kollektives Handeln, in: KZfSS, 30, 1978, S. 652 - 679, S. 657. 96 Besonders gut sichtbar wird die Synchronisationsleistung des Marktes in einer zeitlich und räumlich begrenzten Veranstaltung, bei der sich Verkäufer/Produzent und Käufer direkt gegenüberstehen. 91 Vgl. dazu ausführlich: Parsons / Smelser, Economy, S. 104 - 107; "The crucial fact in a contract is that it links two systems of action; it is the social relation by means of which boundary interchanges take place." (S. 107). 15 Bergmann
226
6. Systemdifferenzierung und Temporalstruktur
sen. In der Handelsbetriebslehre wird dieses Problem unter dem Titel "Marktspannungen" behandelt. Eine Form dieser Marktspannungen sind "Zeitspannungen", die darauf beruhen, daß "Termine der Herstellung und des Verbrauchs von Gütern regelmäßig auseinander fallen ... "08. So tritt ein solcher "time-lag" auf zwischen dem Einkommenseffekt von Investitionen und ihrem kapazitätserweiternden Effekt, so daß es zu einer überhöhten Nachfrage seitens der Haushalte kommt, die innerwirtschaftlich zu einem "Heißlaufen", einer Tempobeschleunigung der Konjunktur mit Preissteigerungen führt, was wiederum nachlassende Nachfrage und schließlich Überkapazitäten zur Folge hatOo • Auf anderen Märkten, z. B. dem Arbeitsmarkt, kann es zu zeitlichen Desynchronisierungen kommen, wenn dringend benötigte Arbeitskräfte erst für ihre Tätigkeit ausgebildet werden müssen, wie umgekehrt Arbeitslosigkeit die Folge verspäteter wirtschaftlicher Umstrukturierungen sein kann. Ähnliche Probleme lassen sich auch für den Kapitalmarkt, den Rohstoffmarkt ete. feststellen. Die jeweiligen Teilsysteme, die die Inputleistungen für das Wirtschaftssystem "produzieren" und bereitstellen, wie die Wissenschaft, das Erziehungswesen und die Familie, verfahren nach eigenen Zeitplänen, die sich nur teilweise durch eine Marktorientierung ersetzen lassen, ohne die Effektivität dieser Systeme zu beeinträchtigen, dies, obwohl die Wirtschaft in unserer Gesellschaft als ein sehr zeitdynamisches Umweltsystem auf die Zeitpläne dieser Systeme verzerrend einwirkt und die größten Anpassungsleistungen verlangt. Das Wirtschaftssystem muß sich also bei seiner Zukunftsplanung auf die abweichenden Zeitpläne der anderen Teilsysteme einstellen, wenn es nicht zu Desynchronisierungen oder zu Beeinträchtigungen der zeitlichen Teilsystemautonomie anderer Systeme kommen soll. Der Markt reicht offensichtlich zur Synchronisierung der Zeitdifferenzen zwischen Angebot und Nachfrage nicht aus, dazu bedarf es zusätzlicher steuernder und ausgleichender staatlicher Maßnahmen konjunktur-, arbeitsmarkt- und zinspolitischer Art. Zum Abschluß komme ich noch einmal auf das Geld zurück, dieses Mal auf seine Synchronisierungsleistung in den Intersystembeziehungen. Geld, oder wie Heinemann abstrakter formuliert, "Scheine" dienen als "Mittel der Überbrückung von Zeitdifferenzen in Leistungsbeziehungen"100, da die zukünftige Gegenleistung in TeilsystembeziehunLöber, S. 27. Gahlen, B., Volkswirtschaftslehre, München 1971, S. 191 - 202. In der Konjunkturtheorie unterscheidet man im wesentlichen drei Formen des time-Iags: 1. den Informationslag, 2. den Entscheidungslag, 3. den Wirkungs08
99
lag. 100 Heinemann, K., Grundzüge einer Soziologie des Geldes, Stuttgart 1969, S. 50 (im folgenden zitiert als Grundzüge).
6.3 Funktionale Differenzierung und Temporalstruktur
227
gen, die nicht mehr die Form dauerhafter und persönlicher Bekanntschaft haben, nur noch in ganz abstrakter, aber gesicherter Form garantiert werden kann. Durch die Verwendung von "Scheinen" lassen sich Kommunikationswege und -inhalte institutionalisieren und formalisieren101 . Die Generalisiertheit der Tauschfunktion des Geldes (s.o.) bedeutet in der Zeitdimension die Zeitpunktunabhängigkeit und Zeitbeständigkeit des Mediums. Geld hat deshalb den vorteilhaften Effekt des zeitlichen Ausgleichens zwischen den je zu unterschiedlichen Zeiten bereitstehenden Bedürfnisbefriedigungen und den auftretenden Bedürfnissen. Es ermöglicht Systemstabilisierung durch desynchronisiertes Handeln: nicht alle wollen und tun zu einer Zeit das Gleiche - nur aufgrund dieser durch die Zeitbeständigkeit des Geldes ermöglichten Voraussetzung können überhaupt Mechanismen wie Kredit und Verzinsung funktionieren. Zwar beruhen alle generalisierten Medien in ihrer Geltung letztlich auf der Möglichkeit der Rückführung oder Rückbeziehung auf Basisprozesse, die auf die Ebene des Verhaltensorganismus bezogen sind, so beruht die Geltung des Geldes auf der möglichen oder fiktiven Rücktauschbarkeit in bedürfnisbefriedigende Güter, doch sind sie heute, insbesondere gilt dies für das Medium Geld, weitgehend von ihrer realen "Deckung"102 unabhängig. Das Vertrauen in die jederzeit mögliche Rückführbarkeit ermöglicht Systemstabilität durch Zeitausgleich, insofern nämlich nicht zu einem Zeitpunkt ein "run" auf die Banken einsetzt, alle Wahrheiten auf einmal überprüft werden sollen etc. Ist das Vertrauen in den Geldmechanismus einmal etabliert, so eröffnet sich auf dieser Sicherheitsgrundlage die Möglichkeit, die wirtschaftlichen Tauschprozesse reflexiv zu machen. Im Fall des Geldes ist die Reflexivität sogar mehrstufig, denn man kann sich einmal mit dem Eintauschen von Geld gegen Güter auf ein späteres Tauschen vorbereiten, man kann darüber hinaus jedoch auch das Geld selbst reflexiv verwenden, d. h. Geld in Form von verzinslichen Krediten kaufen. Diese Kredite bekommen in Form einer Laufzeit einen zeitlichen Index, ein Indiz für die Verlagerung von Komplexität in die Zeitdimension. Reflexive Mechanismen bieten so den Vorteil, durch Sequenzbildung die Gesamtkomplexität schrittweise abarbeiten zu können. Außerdem ermöglicht diese Verzeitlichung eine Abstraktion von der Komplexität des Sachbezuges: man kauft mit Geld zunächst wiederum Geld und dann erst Güter. Dieser Belastung der Zeitdimension steht auf der anderen Seite aber auch eine Entlastung durch die generalisierten Medien gegenüber: denn sind sie erst einmal etabliert, erlauben sie aufgrund der höheren Komplexitätskapazität des Systems eine schnel101 Heinemann, Grundzüge, S. 51 ff. 102 Vgl. dazu: Luhmann, Wirtschaft, S. 218; vgl. im Zusammenhang mit der Gelddeckung und der Kreditschöpfung des Staates und der Banken, Röpke, S.127 ff. 15"
228
7. Zeitliche Komplexität und Formen ihrer Reduktion
lere Bearbeitung komplexer Sachverhalte. Mit Hilfe des Geldes ist eine schnellere Abwicklung wirtschaftlicher Transaktionen möglich. Zum Abschluß sei noch ganz kurz auf die Selbstreferenz des Wirtschaftssystems eingegangen. Die Wirtschaft thematisiert sich heute in zeitlicher Hinsicht vor dem Hintergrund ihrer Vergangenheit unter dem Aspekt des Wachstums; allerdings müssen inzwischen zunehmend die "Grenzen des Wachstums" mitthematisiert werden. Damit deutet sich an, daß die Wirtschaft als "zeitdynamisches" System an die Grenzen der "Plastizität" der Umwelt stößt, mit der Folge, daß in der Selbstthematisierung zunehmend Umweltaspekte mitberücksichtigt werden müssen. Die Wachstumsorientierung, d. h. die Idee eines sich ständigen Abstoßens, eines permanenten Überholens der eigenen Vergangenheit, steht im Einklang mit der neuzeitlichen Öffnung des Zukunftshorizonts sowie mit der Idee des permanenten Fortschritts in den führenden gesellschaftlichen Systemen wie Wirtschaft und Wissenschaft. Die Wirtschaft hat sich ihrer "Fortsetzungspflichten"103 gegenüber der eigenen Vergangenheit weitgehend entledigt und genügt den "Anschlußpflichten" auf eine Weise, die Einflüsse durch die Vergangenheit weitgehend neutralisiert: nämlich durch Kapitalbildung. Die Vergangenheit kann in Form von Gewinnen und Ersparnissen kapitalisiert "mitgenommen" werden und erlaubt gegenwärtige und zukünftige Entscheidungen, die hinsichtlich ihrer Fortsetzung bzw. Nicht-Fortsetzung der Vergangenheit offen sind. Insofern kann die Vergangenheit für die Identitätsbestimmung der Wirtschaft wenig leisten, es sei denn als Folie zur Bestimmung des Fortschritts, der Nicht-Identität. 7. Zeitliche Komplexität und Formen ihrer Reduktion
Es war in den vorangegangenen Kapiteln des öfteren von "zeitlicher Komplexität" die Rede, ohne daß dieser Begriff näher bestimmt worden wäre. Ein Blick auf die Philosophie und die Systemtheorie zeigt, daß er bisher auch noch keine ausreichende Bestimmung erfahren hat. Es besteht jedoch in der Soziologie ein allgemeiner Konsens, die auf der Ebene sozialer Systeme anzutreffende Form "organisierter Komplexität"l zu bestimmen durch die "Zahl der Elemente des Systems" und 103 Luhmann, MS, S. 476. 1 _ "organized complexity" im Unterschied zu: "simplicity" und "disorganized complexity"; vgl. Nurmi, H., On the Concept of Complexity and Its Relationship to the Methodology of Policy Oriented Research, in: Social Science Information, 13, 1974, S. 55 - 80; Brunner, R. D. / Brewer, G. D., Organized Complexity, New York 1971.
7. Zeitliche Komplexität und Formen ihrer Reduktion
229
durch die "Zahl und Verschieden artigkeit der zwischen ihnen möglichen Beziehungen"2, oder anders ausgedrückt als "Strukturreichtum eines Systems, die Anzahl und Artverschiedenheit der Relationen, bezogen auf die Zahl der Elemente"3. Diese Form der rein quantitativen Bestimmung von Komplexität relationiert alle Systemelemente miteinander, so daß bei Zunahme ihrer Zahl, die Zahl der möglichen Relationen überproportional ansteigt, was zur Folge hat, daß Relationen nur noch potentiell bestehen, vom System aber nicht mehr zu aktualisieren sind. Luhmann schlägt deshalb vor, Strukturreichtum oder Strukturzunahme nicht allein über die Systemgröße und die strukturelle Differenzierung zu bestimmen, sondern über die "Zunahme der Selektivität einer Struktur"4, d. h. als Relation von Größe und Differenzierung zur Selektions- und Integrationskraft eines Systems. Eine ähnliche Konzeption findet sich bei Driver/Streujert, die hinsichtlich der Komplexität unterscheiden zwischen 1. Amount of differentiation und 2. Amount of integration, sie sprechen zur Kennzeichnung des zweiten Punktes auch von "integrative complexity"5. Aus der Zunahme der Elemente und der zwischen ihnen möglichen Relationen ergibt sich für ein System die Chance und auch der Zwang, aus diesem strukturlosen Potential nach engeren Bedingungen des im System Möglichen bestimmte Relationen auszuwählen, die vollständige Interdependenz aller Elemente zu reduzieren auf ein beherrschbares Maß. "Der Grundvorgang, der Komplexität ermöglicht, ist der Zusammenhang von kombinatorischen Überschüssen und struktureller Selektion6 ." Die Komplexität eines Systems besteht also nicht einfach in der Menge möglicher oder faktischer Relationen, sondern in der Weise einer Relation zwischen der positiven Bestimmung der Größe (= Zahl der Elemente und der überhaupt möglichen Relationen zwischen ihnen) und der negativen, eliminierenden Wirkung selektiver Systemstrukturen. Komplexität kann also nur zunehmen, wenn zugleich die Systemgröße und der Ausscheidungseffekt der Struktur zunehmen. Ein System läßt sich zureichend nur in Relation zu seiner Umwelt bestimmen, das gilt auch für seine Komplexität. Die systeminterne Betrachtung der Komplexität reicht deswegen nicht aus, weil die Frage, wie es zur Begrenzung der kombinatorischen MöglichLuhmann, Komplexität, S. 206. Ebenso: Nurmi: "The notion of complexity is related to the number of variables and relations", S.60 und Driver, M. J. / Streufert, M., Integrative Complexity: An Approach to Individuals and Groups as Information-Processing Systems, in: Administrative Science Quarterly, 14, 1969, S. 272 - 283. Complexity: number of units per time period and amount of information per unit." (S. 273); vgl. auch: Brunner / Brewer, S. 92 f. Lexikon der Soziologie, hrsg. v. W. Fuchs / R. Klima u. a., Opladen 1973, S. 356. 4 Luhmann, Komplexität, S. 206. 5 Driver / Streufert, S. 274 ff. 6 Luhmann, Komplexität, S. 206. 2
3
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7. Zeitliche Komplexität und Formen ihrer Reduktion
keiten zwischen Größe und selektiver Struktur kommt, systemintern nicht beantwortet werden kann, denn die Relation zwischen beiden ist in sich selbst aufgrund der Variabilität ihrer Glieder nicht ausreichend bestimmt. Die notwendigen Bestimmungen erhalten diese Glieder und damit auch die Relationen durch ihre Ausrichtung an Umweltgegebenheiten. Die Umwelt und der irreversible Zeitverlauf beschränken den Spielraum der für das System erreichbaren Größe, Variabilität und Struktur. Die System/Umwelt-Beziehung darf jedoch nicht als ein einseitiges Wirkungsverhältnis gesehen werden, denn auch die noch unbestimmte Weltkomplexität gewinnt die Form bestimmter oder noch bestimmbarer Komplexität erst durch den Bezug auf ein System, d. h. als systemrelative UmweltkomplexitäF. Der Komplexitätsbegriff bezeichnet also einmal eine systeminterne Relation, zum anderen eine Relation in der betreffenden Systemumwelt; beide Relationen müssen drittens miteinander relationiert sein, um Bestimmbarkeit zu erreichen. Die Asymmetrie von System und Umwelt beruht nun auf einer Differenz ihrer Komplexität, in einem Komplexitätsgefälle von der Umwelt zum System. Mit dieser Differenz ist das Grundproblem der Systemtheorie bezeichnet: die Ausdifferenzierung und Erhaltung eines Systems in einer komplexeren Umwelt verlangt den Aufbau funktionaler Strukturen, die die Reduktion von Umweltkomplexität auf ein systemverträgliches Maß leisten. Soweit eine kurze Bestimmung des systemtheoretischen Komplexitätsbegriffs, den ich für das Konzept von zeitlicher Komplexität im folgenden zugrundelegen werde. Will man nicht auf der abstraktesten Stufe von Systemkomplexität überhaupt stehen bleiben, so kann man, auch wenn diese Mehrdimensionalität theoretisch noch nicht ganz gesichert ist, mit Luhmann drei Dimensionen von Komplexität unterscheiden: die Sachdimension, die Sozialdimension und die Zeitdimension, sowie deren Interdependenzen8 • Für jede dieser drei Dimensionen, die voneinander nicht unabhängig sind, sondern sich gegenseitig ersetzen und limitieren können, lassen sich wiederum multidimensionale Unterscheidungen treffen. 7.1 Zeitliche Komplexität
Während die Anwendung mehrdimensionaler Konzepte, wie sie z. B. von LaPorte, Ashby, BrunnerlBrewer vorgeschlagen worden sind, auf die Sach- und Sozialdimension problemlos möglich ist, scheint sie hin7 Ohne Relation auf ein bestimmtes System wäre die Welt absolutes Chaos oder absolute Ordnung, d. h. es herrschte in ihr totale Interdependenz, da es keine Selektionsinstanz gäbe. S. dazu: Luhmann, Komplexität, S.211. 8 Luhmann, N., Zur Komplexität von Entscheidungssituationen, MS, 1973, S. 7 (im folgenden zitiert als Entscheidungssituationen); vgl. auch oben Kap. 2.3.
7.1 Zeitliche Komplexität
231
sichtlich der Zeitdimension schwierig zu sein. Luhmann jedenfalls bestreitet, daß z. B. LaPortes Unterscheidungen von 1. Größe (Zahl), 2. Variabilität zwischen den Elementen und 3. Interdependenzgrad zwischen den Elementen (degree of wholeness) auf die Zeitdimension anwendbar seienD, ja er zieht sogar in Zweifel, daß es sinnvoll ist, die Zeitdimension als eine selbständige zu behandeln, vor allem, weil es an einer ausgearbeiteten Zeittheorie fehle 10 • Da Luhmann aber bisher weder auf die zeitliche Dimension in seinen Arbeiten verzichtet, noch sie als Subdimension der Sach- oder Sozial dimension untergeordnet hat, scheint sie doch für ein umfassendes Konzept von Komplexität unverzichtbar zu sein. Deshalb werde ich, trotz der zuzugestehenden Schwierigkeiten bei der rein zeitlichen Bestimmung von Komplexität, unter Benutzung der LaPorteschen Unterscheidungen einen Vorschlag zur Differenzierung der Zeitdimension machen. Lag der Schwerpunkt meiner system theoretischen Zeitanalysen bisher auf den Formen des sozialen Zeitbewußtseins und damit auf der Unterscheidung von Vergangenheit-Gegenwart-Zukunft (A-Reihe), so kommt es jetzt zu einer Rückwendung auf die reale zeitliche Ereignisordnung nach früher/gleichzeitig mit/später (B-Reihe), die der bewußtseinsmäßigen Darstellung von Zeit zugrunde liegt. Die zeitliche Komplexität eines Systems ist also zu unterscheiden von der Komplexität seines Zeitbewußtseins. Die Dimensionen zeitlicher Komplexität lassen sich wie folgt bestimmen: 1. Dimension: Größe/Zahl der Elemente
Zahl der gleichzeitig in einem bestimmten Zeitraum strukturell möglichen oder prozessual verwirklichten Zustandsänderungen, die Zahl der nach früher/später unterscheidbaren Ereignisse. Mit dieser Festlegung wird die Entsprechung von zeitlicher Komplexität und sozialem Wandel deutlich: je größer die Zahl der Zustandsänderungen oder Strukturdifferenzen in einem Zeitraum ist, desto komplexer oder dynamischer ist ein System. Steigerung zeitlicher Komplexität in dieser Dimension ist im wesentlichen, wenn wir die Interdependenz mit der Sach- und Sozialdimension noch außer acht lassen, in zwei Richtungen möglich: a) durch Temposteigerung, d. h. durch die Beschleunigung der Abfolge von Zuständen oder Prozessen in einem gegebenem Zeitraum; b) durch Steigerung der Systemdifferenzierung, D Luhmann, N., Systemtheoretische Beiträge zur Rechtstheorie, in: Jahrbuch f. Rechtssoziologie und Rechtstheorie, Bd. 2, Hrsg. H. Albert / N. Luhmann u. a., Düsseldorf 1972, S. 255 - 276, S. 261 (im folgenden zitiert als Systemtheoretische Beiträge). . 10 Luhmann, Entscheidungssituationen, S. 31.
232
7. Zeitliche Komplexität und Formen ihrer Reduktion
d. h. durch die Erhöhung der Zahl gleichzeitig in dem System möglicher Veränderungen. Bei Waldmann finden wir mit dem Querschnittvergleich auch die Angabe einer Methode zur Messung sozialen Wandels oder zeitlicher Komplexität. "Querschnittvergleich heißt die Messung der Differenz zwischen zwei Struktur aufnahmen eines Sozialsystems, von denen eine vor, die andere nach einem bestimmten Zeitintervall gemacht wird. An der Strukturdifferenz, dem Meßergebnis, läßt sich der soziale Wandel ablesen ... "11.
2. Dimension der Varietät: Nicht allein die Anzahl von Zustandsänderungen oder Strukturdifferenzen bestimmt den Komplexitätsgrad, sondern auch der Grad ihrer zeitlichen Differenz, also im wesentlichen der Grad der Kontinuität bzw. Diskontinuität zwischen den Ereignissen. Ich schließe mich damit der Definition von "complexity-in-time" an, die Pringle für biologische und physikalische Systeme gegeben hat: "The complexity increase resides in the new temporal relationship between two events which arises in the process of learning 12 ". Das Maß für Varietät ist die Neuheit oder Andersartigkeit des späteren Zustandes gegenüber dem früheren. Die Fortdauer eines Zustandes oder eine zyklische Wiederholung immer gleicher Ereignisfolgen steigern die zeitliche Komplexität nicht, sondern nur eine "ordered relationship between two events, one of which is new ... "13. Wir stoßen hier auf das Problem der Bestimmung des Neuen, zu dessen Klärung ich auf G. Günthers Aufsatz "Die historische Kategorie des Neuen"14 zurückgreife. Von einem Werden des Neuen oder einem gerichteten Lernprozeß, die das Komplexitätsniveau erhöhen, kann man nur sprechen, wenn im Nacheinander von Zuständen oder Ereignissen nicht nur Wiederholungen bzw. beliebige inhaltliche Veränderungen stattfinden, sondern wenn ein struktureller Wechsel, ein Wechsel der "Kontextur" wie Günther sagt15 , sich ereignet. Das wesentlich zeitliche Moment an der Komplexitätserhöhung ist der Richtungssinn der Veränderung: zwischen den Relationsgliedern (frühere oder spätere Ereignisse) muß eine "strukturelle Anisomorphie" bestehen, wenn man von einer Entstehung des Neuen sprechen will. Während einfache Veränderungen innerhalb einer Struktur oder Kontextur nach dem Prinzip der ersten klassischen Waldmann, S. 689. Pringle, J. W. S., On the Parallel Between Learning and Evolution, in: General Systems, I, 1956, S. 90 - 110, S. 95. 13 Ebd. 14 Günther, G., Die historische Kategorie des Neuen, MS University of Illinois, o. J. 15 Günther, S. 19. 11
12
7.1 Zeitliche Komplexität
233
Negation zustande kommen - heute stellt die eine Partei die Regierung, in der nächsten Periode ist es die Oppositionspartei - und die strukturelle Varietät in der Ereignisabfolge nicht erhöhen, wird durch die Negation der Negation, die "trans-kontextural" ist16, nicht ein Inhalt gegen einen zwar entgegengesetzten, aber strukturell gleichartigen und gleich komplexen ausgetauscht, sondern es erfolgt eine strukturelle N egation, die außerdem noch progressiv ist, indem sie die Umkehrbarkeit der Ereignisse oder Zustände nicht mehr zuläßt. D. h. das spätere Ereignis darf nicht bloß eine einfache Negation des früheren sein, denn dann wären sie in ihrer Reihenfolge vertauschbar, was wir benötigen, ist eine Nicht-Umkehrbarkeit der Relation. Erst indem ich die Kontextur der einfachen symmetrischen Entgegensetzung zweier Zustände verlasse und in einer zweiten, transkontexturellen Negation auf die erste, umkehrbare Relation reflektiere, ergibt sich ein Strukturwechsel, eine Asymmetrie, die "ontologisch auch ein vorher und nachher zu unterscheiden" 17 ermöglicht. Nur die Anwendung dieser zweiten Hegeischen Negation erhöht die Komplexität eines Systems, indem sie einen Strukturwandel hervorruft, durch den das System ein neues und höheres Strukturniveau erreicht. Verschieden artigkeit in der Zeitdimension meint also das Auftreten von Strukturwechsel im zeitlichen übergang von früheren zu späteren Ereignissen, einen Wechsel, auf den "der Hegeische Terminus ,Stufengang' vorzüglich paßt"18. Die Varietät in der Zeitdimension ist abhängig von der Anzahl der zeitlichen Veränderungsprozesse (1) insgesamt. Je größer die Zahl der Elementarstrukturen ist, desto mehr transkontexturelle Synthesen sind möglich, desto mehr wird sich das Tempo und das Ausmaß des sozialen Wandels erhöhen. Komplexere Systeme unterliegen also schnellerem sozialen Wandel - verstanden als Erzeugung von Strukturdifferenzen im Veränderungsprozeß.
3. Interdependenz/Grad der Selektivität: Die Zunahme der Zahl (1) sowie des Grades (2) möglicher und wirklicher Veränderungen erhöht die Zahl der kombinatorischen Verbindungsmöglichkeiten in einem System überproportional, so daß die positive Zunahme an Systemgröße und Varietät durch die Etablierung selektiver Strukturen ergänzt werden muß, soll das System nicht durch totale Interdependenz handlungsunfähig werden. Im Fall der zeitlichen Strukturen besteht der negative Ausscheidungseffekt in der unaufhebbaren zeitlichen Ordnung von Ereignissen oder Zuständen. Die zeitlichen Strukturen der Gleichzeitigkeit bzw. der Sukzessivität von Wandlungsprozessen bilden hier die selektiven Strukturen, d. h. die Beschränkung des zeitlich Möglichen und zu Verwirklichenden. 16 Günther, S. 8. 17 Günther, S. 15. 18 Günther, S. 16.
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7. Zeitliche Komplexität und Formen ihrer Reduktion
Totale zeitliche Interdependenz würde heißen die Aufhebung der Zeitordnung nach B-Relationen, also eine absolute, zeitlose Gleichzeitigkeit und Allgegenwart. Entgegen früheren Vorstellungen von absoluter Interdependenz in der Systemtheorie, was ja letztlich nicht vollkommene Ordnung, sondern absolutes Chaos bedeuten würde, muß Interdependenz als eine Systemvariable aufgefaßt werden, deren Wert sich nach den Werten anderer Systemvariablen richten mußl9. Die zeitliche Komplexität ist also unabhängig von der Synchronisierungskapazität der Systemstrukturen, durch die Abfolge- und Gleichzeitigkeitsverhältnisse festgelegt werden, die wiederum eine Auswahl von überhaupt möglichen Elementenrelationen bedeuten. Steigerung von Komplexität ist also Resultat der Erhöhung von Variation und Selektion. Wie wir oben bereits gesehen haben, ist die Relation von Größe und Selektivität aufgrund ihrer doppelten Variabilität in sich nicht ausreichend bestimmt, d. h. selbstreferentielle Systeme benötigen externe, unabhängige Interdependenzunterbrecher, die intern als "Strukturgeber" fungieren können. Luhmann nennt als Interdependenzunterbrecher neben der Umwelt auch die Zeit. "Auch die Zeit (... ) dient systemintern als Interdependenzunterbrecher, wenn und soweit ausgenutzt wird, daß die Zeit rückwärtslaufende Bestimmungen ausschließt: Das Frühere kann das Spätere, nicht aber das Spätere das Frühere beeinflussen, " .20." Die zeitlichen Relationen der B-Reihe: früher-gleichzeitig mit-später fungieren also als Strukturgeber, die das zeitlich, sachlich und sozial in einem System Mögliche selektiv beschränken, indem sie Bedingungs- und Anschlußverhältnisse vorschreiben. Komplexität in der Zeitdimension wird nur zum Problem in bezug auf die Sach- und Sozialdimension, denn nur das Vorhandensein einer Vielzahl von Themen und von verschiedenartigen Subjekten verlangt die Etablierung selektiver zeitlicher Ordnungen. Es bestehen also zwischen den drei Komplexitätsdimensionen Interdependenzen im Sinne gegenseitiger Steigerungs- und Beschränkungsmöglichkeiten (vgl. Kap. 2.3). Trotz der Interdependenzbeziehungen zwischen den drei Dimensionen, müssen die einzelnen Dimensionen andererseits in sich eine relative Invarianz gegenüber Veränderungen in einer anderen Dimension besitzen. Die Änderung in einer Dimension ruft nicht automatisch Änderungen in den anderen Dimensionen hervor, sondern ein System besitzt die Möglichkeit, aufgrund von Systemzielen, Grenzen der Interdependenz festzulegen und selektiv auf Änderungen zu reagieren. So kann z. B. die Erhöhung zeitlicher Komplexität durch die Steigerung des Prozeßtempos etwa in der Produktion bestimmter Waren entweder zu einer Erhöhung der Produktivität bei konstanter Beschäftigungszahl 19
20
Vgl. dazu: Luhmann, Systemtheoretische Beiträge, S.263. Luhmann, Religion, S. 28 - 29.
7.2 Formen der Reduktion zeitlicher Komplexität
235
führen oder aber das System kann "rationalisieren" und bei schlechten Absatzbedingungen die Produktivität konstant halten, indem es eine Verminderung der Beschäftigtenzahl (Entlassungen) vornimmt. Andererseits sind die Ersetzungsmöglichkeiten auch bestimmten strukturellen Begrenzungen - "constraints" - unterworfen, so daß Abstimmungen unter Kompatibilitätsgesichtspunkten immer notwendig sind. Eine Theorie, die es erlaubte, diese Interdependenzbeziehungen systematisch zu erfassen, fehlt jedoch bisher. In den folgenden drei Abschnitten soll nicht mehr von zeitlicher Komplexität im allgemeinen die Rede sein, sondern es sollen einige Mechanismen behandelt werden, die für die Variation und vor allem die Selektion von Zuständen und Ereignissen sorgen. Im Vordergrund stehen dabei die Reduktionsmechanismen, die sich besonders der zeitvergegenwärtigenden Struktur des Zeitbewußtseins bedienen. Selektion ist nur je gegenwärtig möglich, gegenwärtiges Handeln und Erleben sieht sich jedoch einer überfülle von zeitlichen, sachlichen und sozialen Möglichkeiten gegenüber, die durch interdependenzunterbrechende Mechanismen oder Strukturen eingeschränkt werden müssen, wenn überhaupt begründete Entscheidungen möglich sein sollen. Als eine spezifisch zeitliche Orientierungsgrundlage für Selektionen können die beiden Zeithorizonte Vergangenheit und Zukunft dienen: gegenwärtige Selektion kann sich in der Fortschreibung der Vergangenheit an der bereits abgelaufenen Selektionsgeschichte des Systems orientieren, dabei spielt die Schrift als ein spezieller Variations- und Selektions mechanismus eine wichtige Rolle, oder sie kann sich an der Ermöglichung und Erreichung zukünftiger Zustände orientieren, indem sie sich, gleichsam aus der Zukunft zurückblickend, als bereits vergangene, nur vorbereitende Selektion versteht; diesen Zukunftsbezug gegenwärtigen Entscheidens nennt man Planung. Unter dem Gesichtspunkt der Selektion aus einer überfülle von gegenwärtigen Möglichkeiten sind beide Orientierungen funktional äquivalent, d. h. jedoch nicht, daß sie für Systeme beliebig wählbar sind, und daß sie nicht zu unterschiedlichen Folgeproblemen führen. So setzt zukunftsorientierte Planung ein schon hochentwickeltes gesellschaftliches Zeitbewußtsein voraus, so stellt Traditionsorientierung Folgeprobleme z. B. bei der Durchsetzung von Innovationen. 7.2 Formen der Reduktion zeitlicher Komplexität
7.2.1 Geschichte System theorie fragt nicht wie die Geschichtswissenschaften nach den Ereignissen und Zusammenhängen "in" der Geschichte, sondern sie betrachtet Geschichte in ihrer Funktion für den Aufbau personaler und
236
7. Zeitliche Komplexität und Formen ihrer Reduktion
sozialer Systeme. " Wenn man die Theorie des sozialen Systems funktional auf das ihr vorausliegende Problem der Komplexität bezieht, läßt sich auch klären, weshalb und in welchem Sinne Systeme ihre Geschichte nicht der Vergangenheit überlassen können1 ." Den Soziologen interessiert also nicht so sehr die inhaltliche Seite der Vergangenheit, sondern ihre Strukturierungsleistung für gegenwärtiges und zukünftiges Entscheiden, die Funktion der Geschichte als "magistra vitae"2. Geschichtsbewußtsein und Vergangenheitsorientierung sind nach Schott, gegenüber einem weitverbreiteten Vorurteil von der "Geschichtslosigkeit" primitiver Völker, bei allen uns bekannten Stämmen und Völkern vorhanden. Die Vergangenheit wird nicht als etwas Gleichgültiges zurückgelassen, sondern die überlieferten Ereignisse werden als wesentlich für die Gegenwart und Zukunft der betreffenden Gruppe angesehen. Es variiert allerdings der Grad der Entfaltung des "historischen Sinnes" von Gesellschaft zu Gesellschaft3 • Geschichte wird erinnert, nicht weil das Vergangene per se wertvoll und erhaltenswert wäre, sondern weil aktuelles Handeln unter der Bedingung einer komplexen Umwelt nicht auf Sinnfestlegungen der Vergangenheit verzichten kann. Schott betont diesen funktionalen Gesichtspunkt auch für die Vergangenheitsorientierung primitiver Völker, bei denen Geschichte nicht als l'art pour l'art betrieben wird, sondern wo der "historische Zweck (... ) der mündlichen Tradition stets mehr oder weniger mit anderen Zwecken - politischen, religiösen, ethischen, ästhetischen usw. verschwistert oder ihnen untergeordnet sei"4. Geschichtsorientierung ist der Versuch, die schon reduzierte, vollständig bestimmte Vergangenheit zur Orientierung gegenwärtiger Selektionen zu nutzen: z. B. indem die Geschichte als ein Modell für Zukunft behandelt wird, man die Existenz von Heilsplänen annimmt, deren Ziel sich aus dem bisherigen Geschichtsverlauf ablesen lassen soll, indem "Historien als Exempla für das Leben"5 gelten, oder indem eine festgelegte "ordo temporum" im Sinne Augustins unterstellt wird 6 • Geschichtliche überlieferungen haben funktional gesehen den Zweck, die "Kontinuität der jeweiligen Gruppe zu sichern, indem sie das Bewußtsein ihrer Einheit und Eigenart auf Ereignisse der Vergangenheit stützen"7. So wird denn das Geschichtsbild 1 Luhmann, N., Soziologische Aufklärung, in: ders., Soziologische Aufklärung, 1, Opladen 1971, S. 66 - 95, S. 84. 2 Vgl. dazu: Koselleck, R., Historia magistra vitae, in: Natur und Geschichte - K. Löwith zum 70. Geburtstag, Hrsg. H. Braun / M. RiedeI, Stuttgart 1967, S 196 - 219 (im folgenden zitiert als Historia). 3 Schott, Geschichtsbewußtsein, S. 169 - 170. 4 Schott, Geschichtsbewußtsein, S. 187. 5 Koselleck, Historia, S. 197. 6 Vgl. Koselleck, R., Geschichte, Geschichten und formale Zeitstrukturen, in: Geschichte, Ereignis, Erzählung, Poetik und Hermeneutik V, München 1973, S. 211 - 222, S.211. 7 Schott, Geschichtsbewußtsein, S. 176.
7.2 Formen der Reduktion zeitlicher Komplexität
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immer vom eigenen System her entworfen, z. B. als Familiengeschichte in segmentären Gesellschaften (vgl. dazu Kap. 6.1), als Stammesgeschichte, sobald es einem Klan gelingt, die Führung zu übernehmen und die eigene Klangeschichte als Stammesgeschichte zu etablieren, als Reichsoder heute als Weltgeschichte der Weltgesellschaft. Diese Stabilisierungsleistung für die soziale Identität von Systemen läßt sich deutlich ablesen an der Geschichtsschreibung der vorderasiatischen Großreiche, die die Systemgeschichte der unterworfenen Völker "gewaltsam" mit der eigenen Geschichte synthetisiert haben, indem sie sie als Vorgeschichte der eigenen behandelt haben. Diese Einordnung war nötig, da die Existenz gleichzeitiger, paralleler Geschichte die Selektionswirkung und Systemstabilisierung der eigenen Geschichte beeinträchtigt hätte 8 • Solange keine Synchronisierung paralleler Systemzeiten durch chronologische Ordnung der Ereignisse möglich ist, müssen alternative gleichlaufende Geschichten entweder gegeneinander abgeschottet oder linear hintereinandergeschaltet werden, denn Geschichte kann nur Komplexität reduzieren und Verbindlichkeit gewinnen, wenn sie nicht zahlreiche Alternativen offenläßt. Die Geschichte besitzt Exemplarität und damit Selektivität nur unter der Bedingung einer "statischen Zeiterfahrung", nur wenn sich Vergangenheit und Gegenwart bzw. Zukunft letztlich gleichen, kann aus der Vergangenheit gelernt werdenD. Im Verlaufe der gesellschaftlichen Differenzierungsprozesse des 18. Jahrhunderts kommt es zu einer Steigerung der innergesellschaftlichen Interdependenzen und damit zu einer Beschleunigung des Handlungs- und Veränderungstempos. Das führt zu einer Auflösung der bis dahin geltenden Temporalstrukturen, die Zeit wird dynamisiert, die Geschichte verzeitlicht. Die Geschichte selbst gerät in Bewegung, sie wird als einmalig und unwiederholbar, als beständig fortschreitend, als Übergangszeit begriffen, damit verliert sie ihren exemplarischen Charakter. Die Beschleunigung der Veränderungen und die Erwartung einer andersartigen Zukunft machen die Orientierung an der Geschichte riskant, da historische Erfahrungen unter diesen Bedingungen schnell "verzehrt" werden und eher behindernd wirken können10 • Historische Strukturen taugen nur noch sehr bedingt als Leitfäden für gegenwärtiges Handeln, Koselleck spricht deshalb von der Zertrümmerung des Modellcharakters der Geschichte im 18. Jhdt. l1 Es kommt im 18. Jahrhundert also zu einer Umwertung der Zeithorizonte, die Vergangenheit verliert ihre selektive, orientierende Kraft, die Zukunft wird zum dominierenden Orientierungshorizont. Vgl. Voegelin, Anamnesis, S. 83 f. Koselleck, R., Neuzeit. Zur Semantik moderner Bewegungsbegriffe, in: ders., Vergangene Zukunft, Frankfurt a. M., S. 300 - 348, S. 312 f. (im folgenden zitiert als Neuzeit). 10 Vgl. Koselleck, Neuzeit, S. 321 ff. 11 Koselleck, Historia, S. 206. 8
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7. Zeitliche Komplexität und Formen ihrer Reduktion
Die Entlastung der Geschichte von ihrer Selektionsfunktion ermöglicht ihre funktionale Umpolung: die Verzeitlichung der Geschichte durch reflexive Modalisierung der Zeitmodi Vergangenheit-GegenwartZukunft (vgl. 2.2.2) eröffnet die Möglichkeitshorizonte vergangener Gegenwarten und damit einen bisher ungenutzten Vorrat an noch nicht realisierten, aber unter Umständen realisierbaren Möglichkeiten. Geschichte kann in diesem Blickwinkel zu einem Variationsmechanismus werden, indem unrealisierte Möglichkeiten in der Erinnerung verfügbar gehalten werden. Voraussetzung für diese funktionale Umstellung ist allerdings, daß funktionale Äquivalente wie Organisation oder Planung die ursprüngliche Funktion der Geschichte übernehmen. 7.2.2 Schrift
Die Entwicklung schriftlicher Fixierung und damit die Übertragbarkeit praktischen und theoretischen Wissens stellt einen wichtigen Schritt in der Entwicklung menschlicher Gesellschaften dar. Schrift wird deshalb von den meisten Autoren auch in evolutionärer Perspektive behandeW 2 , so schreibt z. B. Parsons der Schrift eine wichtige Rolle für den Übergang von sogenannten primitiven zu intermediären Gesellschaften zu. Die symbolischen Inhalte der Kultur werden durch schriftliche Fixierung unabhängig von den konkreten Interaktionen der Systemmitglieder, wodurch eine größere und intensivere Diffusion in räumlicher und zeitlicher Hinsicht möglich wird 13 . Es ist jedoch Gough zuzustimmen, daß die Schrift zwar zahlreiche evolutionäre Veränderungen ermöglicht, nicht aber kausal bewirkt hat 14 • Bevor ich auf den Zusammenhang von Schrift und Komplexität/Evolution genauer eingehe, will ich kurz die formale Struktur der Schrift beschreiben. Ob es gelingt, Ereignisse und Handlungen über den Augenblick ihres Auftretens hinaus verfügbar zu halten, hängt von der Entwicklung symbolischer Fixierungen ab, die sie objektivierbar und damit kommunizierbar machen können. Helle trifft im Hinblick auf die Zeitpunktabhängigkeit von Objektivationen eine Unterscheidung zwischen "Werk/Zeichen" und "Gebärde"15. Die ersteren besitzen als leblose Objektivationen eine materiale Basis und damit eine dauerhafte Existenz, die es ermöglicht, Handlungsvollzüge miteinander zu verknüpfen, die räumlich und zeitlich voneinander getrennt sind. So werden die frühesten Formen bildschrift ähnlich er Objektivation, z. B. die antiken Tonsymbole, vor allem 12 Goody, J. I Watt, I., The Consequences of Literacy, in: Comparative Studies in Society and History, 5, 1963, S. 305 - 345; Gough, K., Literacy in Traditional China and India: in: Literacy in Traditional Societies, ed. J. Goody, Cambridge 1968, S. 69 - 85, und Eder. 13 Parsons, Gesellschaften, S. 46 - 47. 14 Gough, S. 153. 15 Helle, H. J., Soziologie und Symbol, Köln und Opladen 1969, S. 70.
7.2 Formen der Reduktion zeitlicher Komplexität
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von Kaufleuten im Fernhandel als "Lieferscheine" eingesetzt1 6 • Die Gebärde dagegen ist die Objektivation einer Handlung, die direkten Wahrnehmungskontakt verlangt, d. h. nur von Anwesenden erlebt werden kann. Darauf bezugnehmende Kommunikation kann nur unmittelbar, ohne zeitliche Verzögerung abgeschlossen werden, um noch auf die Gebärde beziehbar zu sein. Wendet man diese Differenzierung auf die Symbolische Sprache und Schrift an, so muß man die Sprache zu den "Gebärden" (verbale Gebärde), die Schrift zu den "Zeichen" zählen17 • Goody/Watt unterscheiden bei der Schrift noch zwischen Pictogrammen/ Wortzeichen und alphabetischen Schriften, wobei sie die erstere Form wegen ihrer unerhörten Kompliziertheit und stets sehr geringen gesellschaftlichen Verbreitung als "protoliteratisch" oder "oligoliteratisch" bezeichnen, während die alphabetischen Schriften für sie die "demokratische" Schriftform darstellen18 • Die Schrift unterscheidet sich von anderen "Zeichen", z. B. Bildern dadurch, daß sie eine festgelegte formale Struktur besitzt, die es jedem, der diese formale Struktur kennt, erlaubt, die Zeichen zu lesen bzw. selbst zu verwenden. Auch wenn die Verwendung notationaler Zeichen zunächst in Form rein persönlicher Verwendung vorkommt, wo nur der "Schreiber" die Bedeutung der Notation kennt1 9 , so ist für die schriftliche Fixierung doch die formal festgelegte, intersubjektiv verbindliche Ausformung wesentlich, d. h. eine Abstraktion von der Verwendungssituation und von allen bildlichen, natürlichen Rückbezügen der Schriftzeichen. Bei der folgenden Erörterung des Zusammenhangs von Schrift und Komplexität beschränke ich mich nicht auf die Zeitdimension, sondern beziehe die Sach- und Sozialdimension mit ein, indem ich sozusagen eine Stufe tiefer bei der allen drei Dimensionen gemeinsamen inneren Differenzierung in die Dimensionen (1) Zahl der Elemente, (2) Varietät und (3) Selektivität/Stabilisierung ansetze. Auf diese Weise kann deutlicher die Multifunktionalität der Schrift und zugleich der Zusammenhang der Zeit-, Sach- und Sozialdimension gezeigt werden.
ad 1. Systemwachstum durch Schriftverwendung. Die Komplexität der Sozialdimension wird durch Schriftverwendung erhöht, da sich die kommunikative Erreichbarkeit von Systemmitgliedern in räumlicher und zeitlicher Hinsicht vergrößert. So können entfernt lebende Personen, ja sogar schon verstorbene in Form von Briefen, 16 Vgl. dazu: Fladt-Schnorrenberg, B., Zehntausend Jahre alte Wurzeln der Schrift, in: "FAZ", 3.8.1977, und N. N., The Roots of Writing, in: "Time", 1. 8. 1977, S.41. 17 Helle, S. 70. 18 Goody / Watt, S. 313 - 315. 19 Marshack, A., Upper Paleolithic Notation and Symbol, in: Science, 178, 1972, S. 817 - 828, S. 827.
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Büchern etc. zu Partnern in gegenwärtig ablaufender Kommunikation werden. Mit der Einführung von Vervielfältigungstechniken wächst dann die Zahl der gleichzeitig in einer Sache ansprechbaren Personen weit über die Zahl der je mündlich erreichbaren hinaus. Erst durch schriftliche Publikationsformen können Botschaften an ein undefiniertes Publikum gehen, kann so etwas wie Öffentlichkeit entstehen. Erst die schriftliche Kommunikation ermöglicht den Aufbau komplexerer Systeme mit einer größeren MitgliederzahL In sachlicher Hinsicht erhöht die Schriftlichkeit die Menge des gegenwärtig verfügbaren Wissens. So war in "mündlichen" Gesellschaften, wo der gesamte Inhalt der kulturellen und sozialen Tradition im Gedächtnis behalten werden mußte, die sachliche Komplexität entsprechend gering 20 • Es konnte kaum zu einer Akkumulation von Wissen kommen. Über die Akkumulationsfunktion hinaus kann schriftliche Fixierung auch zu einer Erhöhung der Verknüpfungsmöglichkeiten von Worten und Zahlen führen, zu einer Differenzierung der Sprache also, die ebenfalls zur Erhöhung sachlicher Komplexität führen kann. In zeitlicher Hinsicht kommt es zu einer Erhöhung der Komplexität dadurch, daß Vergangenes, das in schriftlicher Form fixiert ist, als mitgegenwärtig behandelt werden kann, so daß die Anzahl der strukturellen Wahlmöglichkeiten ansteigt. Es kommt jedoch auch zu einer Erweiterung der Komplexität des Zeitbewußtseins, dadurch daß der Vergangenheitshorizont an Weite und Differenzierung gewinnt. Man kann also zusammenfassend für die erste Dimension sagen, daß es die schriftliche Fixierung ermöglicht, zeitlich, sachlich und sozial eine größere Zahl von Elementen je gegenwärtig zu halten.
ad.2. Steigerung der Varietät durch Schriftverwendung. Beginnen wir wieder mit der Sozialdimension: Schriftlichkeit ermöglicht Flexibilität und Variation im Verhältnis zur kulturellen Überlieferung, dadurch daß Geschichte bewahrt werden kann, ohne noch bis ins einzelne aktiv gelebt werden zu müssen. Bei Campbell findet sich dieser Gedanke deutlich formuliert: "There is, perhaps, always a potential conflict between the freedom to vary, which makes advance possible, and the value of retaining the cultural accumulation. But the invention of writing emancipates modern man from this ... 21." In schriftlosen Gesellschaften wird die Tradition nicht nur mündlich vermittelt, sondern vor allem durch die Weitergabe der Lebensweise. "At such astage, each person varying the tradition is one less enacting it, thus reducing the likelyhood of its transmission. Hence, no doubt, the strongly ingraine fear of innovation in many indigenous cultures. With the cultural Goody / Watt, S. 307. Campbell, D. T., Variation and Selective Retention in Cultural Evolution, in: General Systems, Vol. XIV, 1969, S. 69 - 84, S. 77. 20
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7.2 Formen der Reduktion zeitlicher Komplexität
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wisdom in wri ting such fears are less realistic 22 ." Die schriftliche Vermittlung der Kultur ermöglicht eine gewisse Loslösung von traditionellen Verhaltens normen und erhöht damit die Variabilität des Sozialverhaltens. Schrift ermöglicht weiterhin eine Komplexitätssteigerung in der Sozialdimension durch soziale Differenzierung, hierher gehört auch die fortschreitende Arbeitsteilung, die die Verschiedenartigkeit sozialer Rollen und gesellschaftlicher Subsysteme steigert. Die Arbeitsteilung beruht auf einer Spezialisierung des Wissens, d. h. auf einer Verschiedenheit im sachlichen Bereich. Auch hier wirkt Schrift differenzierend, indem sie die Akkumulation spezialisierten Wissens in größerem Umfang ermöglicht - und damit eine fortschreitende, sich ausfächernde Arbeitsteilung. Eine weitere Möglichkeit der Erzeugung sachlicher Varietät mittels der Schrift besteht in der Differenzbildung gegenüber dem vorhandenen Material, d. h. in der Möglichkeit der Kritik am Bestand. Diese Differenzbildung ist nur ungefährlich auf der Basis einer fixierten, durch Kritik nicht sogleich modifizierbaren Tradition; Differenzbildung setzt Identischbleibendes voraus. Diese Identität ist im Fall der mündlichen Überlieferung nicht gesichert. Nach Goody/Watt bindet die orale Vermittlung die Bedeutung des übermittelten Inhalts sehr stark an den Übermittler und die soziale Situation, da eine Rückbeziehung auf "Dokumente" nicht möglich ist. Die Folge ist eine ständige Modifizierung historischer und kultureller Inhalte im Transmissionsprozeß, da sie der Umformung durch gegenwärtige Interessen ungleich stärker unterworfen sind. Diese Anpassung an gegenwärtige Interessen nennen die genannten Autoren die "homöostatische Organisation" der Tradition23 • Nicht nur sind Innovationen auf der Basis einer fixierten Tradition weniger riskant, sie sind auch mittels der Schrift räumlich und zeitlich schneller zu verbreiten, so daß die Varietät in der Sachdimension durch die Übernahme fremderzeugter, nur übernommener Neuerungen zusätzlich erhöht werden kann. Diese größere Offenheit von "Schriftgesellschaften" gegenüber Neuerungen erhöht auch die zeitliche Variabilität, die Geschwindigkeit des sozialen Wandels: es kommt zu einer Beschleunigung von Innovationen und ihrer Diffusion. Auch auf der Ebene des Zeitbewußtseins kommt es zu Differenzierungen: einmal ermöglicht die Schrift ein Festhalten der Differenz von Vergangenheit und Zukunft wie es in "mündlichen Gesellschaften" noch nicht möglich ist; dort ergibt sich aus der Tendenz zur "Homöostase", daß die Vergangenheit nur im Licht gegenwärtiger Interessen wahrgenommen wird, nicht aber als Vergangenheit sui generis24 ; zum anderen ist Schrift die Campbell, S. 77. Goody / Watt, S.307. 24 "One of the most important results of this homeostatic tendency is that the individual has little perception of the past except in terms of the present." Goody / Watt, S.310. 22 23
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Voraussetzung zur Historisierung, d. h. zur reflexiven Modalisierung der Zeit. Denn die Kenntnis der Zeithorizonte vergangener Gegenwarten ist aufgrund nur mündlicher Berichte kaum möglich, da sie schon eine hohe Differenziertheit der Bewußtseinshorizonte voraussetzt, sowohl was die Weite und Tiefenschärfe der Horizonte angeht, als auch was die Differenzierung von Vergangenheit-Gegenwart-Zukunft selbst angeht. Historisches Bewußtsein bedeutet nämlich nicht nur die Kenntnis vergangener Fakten, sondern auch das Wissen um die Selektivität der Ereignisse, d. h. ein Wissen, welche anderen, alternativen Handlungsmöglichkeiten es jeweils gegeben hat. Ein derart komplexes Zeitbewußtsein kann nur aufgrund schriftlicher Geschichtsüberlieferung entstehen, in der die Perspektiven der vergangenen Gegenwart deutlich von denen der gegenwärtigen Gegenwart unterscheidbar bleiben25 .
ad 3. Schrift als Selektionsmechanismus. Schrift fixiert, d. h. zeichnet bestimmte Relationen vor anderen aus, sie eignet sich also auch zur Interdependenzunterbrechung, indem Invarianzen etabliert werden und indem Regeln der Änderbarkeit formuliert werden müssen. Für die Sozial dimension von Komplexität findet sich bei Eder ein Beispiel für die wichtige Rolle der Schrift im Hinblick auf die rechtliche Kodifizierung von Regeln beim Übergang von neolithischen Verwandtschaftssystemen zu politischen Organisationsprinzipien. "Rechtliche Regelungen, die auch gegenüber sich verändernden Machtverhältnissen durchgehalten werden können, bedürfen der objektivierenden Fixierung. Die mosaischen Gesetzestafeln sind schriftliche Festlegungen von Geboten, die etwas evolutionär Neues gegenüber immer drohenden Regressionen festgehalten haben 26 ." Was für die rechtlich-soziale Dimension gilt, gilt auch für die sachliche und zeitliche: abstrakter gefaßt läßt sich schriftliche Fixierung als ein Mechanismus der "Invarianzsicherung gegenüber kontingenten Veränderungen"27 begreifen, mit seiner Hilfe läßt sich Invarianz gegenüber Änderungen in Nachbarsystemen, wie auch Stabilisierung gegen Rückfalltendenzen im eigenen System erreichen. Parsons weist deshalb mit Recht auf ein normatives Moment der Schrift hin, das besonders in älteren Kulturen sehr ausgeprägt war - vgl. Heilige Schriften, Gesetzestafeln etc. 28 . Schriftlichkeit ermöglicht also im sozialen Bereich eine gewisse, beständige Geltung bestimmter sozialer Beziehungen wie sie in Form von Verträgen, Urkunden, rechtliche Kodifizierungen etc. 25 "The pastness of the past, then, depends upon a historical sensibility which can hardly begin to opera te without permanent written records." Goody / Watt, S.311. 26 Eder, S. 89. 27 Ebd. 28 Parsons, Gesellschaften, S.47.
7.2 Formen der Reduktion zeitlicher Komplexität
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fixiert werden; wobei die Änderbarkeit dieser fixierten Beziehungen wiederum schriftlich geregelt ist. Diese integrierende Wirkung der Schrift wird auch in anderer Weise wirksam durch die Möglichkeit der Massenkommunikation, indem Botschaften unspezifisch an ein diffuses Publikum übermittelt werden können, um dort "meinungsbildend" zu wirken. Auch in sachlicher Hinsicht sichert die Schrift die Invarianz von überlieferungen, indem sie sie vor gegenwärtigen allzufreien Uminterpretationen schützt, sie wirkt außerdem selektierend, indem sie die Sprache logischen Anforderungen unterwirft (Satz vom Widerspruch): "This logical procedure seems essentially literate 29 ." Auch in der Zeitdimension ermöglicht schriftliche Fixierung die Etablierung fester, irreversibler Ordnungen in Form von Datierungen und in Form historischer Dokumente; sie gibt dem Vergangenheitshorizont eine gewisse Struktur; sie verstärkt hier die Strukturierungsleistung von Systemgeschichte (s. o. 7.1.1). Doch auch im Hinblick auf die Zukunft, etwa im Fall der Planung und Programmierung, ist die Schrift Voraussetzung für die Festlegung von Entscheidungsprämissen, jedenfalls sobald die Planung einen etwas größeren Zeitraum umfaßt.
7.2.3 Planung Im Gegensatz zur Vergangenheitsorientierung gegenwärtigen Handelns tritt Zukunjtsorientierung in der gesellschaftlichen Evolution recht spät auf. Erst mit dem Beginn der Neuzeit gewinnt die Zukunft den Orientierungsprimat. Es kommt zur Umstellung des Zeitbewußtseins mit "geschlossener Zukunft"so, in dem die Geschichte Modellcharakter für das Kommende besitzt und das Telos der Geschichte extern, heilsgeschichtlich vorgegeben ist, auf ein Zeitbewußtsein mit "offener Zukunft", in dem die Zukunft keine gesellschaftsunabhängige Größe mehr ist, sondern als offen und abhängig von gegenwärtigen Entscheidungen verstanden wird. Eine wesentliche Bedingung für diese Umstellung auf Zukunftsorientierung und damit auf zukunftsgerichtete Planung3 t, ist die Ablösung kirchlicher, apokalyptisch-eschatologischer Zukunftsdeutungen, d. h. ein Aufgeben "transzendenter Bezüge", der Verfall der christlichen Auffassung von Heilsgeschichte. Wird die Annahme eines göttlichen Planes für die Zukunft fallengelassen und ergibt sich aus der Vergangenheit kein Hinweis mehr auf eine bestimmte Zukunft, muß gesellschaftliche Planung die entstehende 29 Goody / Watt, S.330. so Erdmann, K. D., Die Zukunft als Kategorie der Geschichte, in: Historische Zeitschrift, 198, 1964, S. 44 - 67, S. 50. SI Plan im Sinne von "Zukunftsentwurf" wird noch Anfang des 19. Jhdts. als Fremdwort empfunden; der Begriff der Planung fehlt noch völlig. Vgl. Handwörterbuch der Dt. Sprache, Halle 1804, S. 551, zit. n. Rammstedt, Revolution, S. 11.
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7. Zeitliche Komplexität und Formen ihrer Reduktion
Leerstelle besetzen. Kaufmann hat im Zusammenhang mit dem Problem der "Sicherheit" von dieser Umstellung als der "Freisetzung der Zeitlichkeit der Zukunft"32 gesprochen, denn Zukunft wird erst seit dem 17. Jahrhundert überhaupt im Modus der Zeitlichkeit gedacht, während sie vorher im wesentlichen ahistorisch-räumlich als das auf den Menschen Zukommende begriffen wurde. Planung ist also eine Reaktion auf die Unsicherheit der Orientierung, die sich aus dem beständigen Wandel und der Andersartigkeit der Zukunft ergibt, sie macht Zukunft verfügbar und bestimmbar, d. h. sie vernichtet letztlich die Zeitlichkeit der Zukunft wieder 33 • Diese ideologischen Veränderungen, die man mit Plessner als "Profanisierung oder Säkularisierung des historischen Weltbildes" bezeichnen kann, mit der die "Rationalisierung des Zeitbegriffs gleichen Schritt hält", werden getragen von tiefgreifenden Differenzierungsprozessen in der neuzeitlichen Gesellschaft34 • Insbesondere die Umstellung von primär politischer auf primär ökonomische Orientierung der Gesamtgesellschaft, wobei letztere eine output- oder zukunftgerichtete Zeitorientierung impliziert, hat wesentlichen Einfluß auf den Wandel des Zeitbewußtseins hin zum Primat der Zukunft.
Planung kann zunächst ganz allgemein als eine Form der gegenwärtigen Strukturierung von Handlungs- oder Systemzukunft verstanden werden. Ein gewisser Vorgriff auf die Zukunft und der daraus resultierende Strukturierungsbedarf sind wohl anthropologisch fundiert, d. h. dem menschlichen Handeln eignet eine unaufhebbare Zukunftsgerichtetheit, insofern die Zukunft durch das Handlungsmotiv schon je gegenwärtig wirksam ist, im Jetzt sozusagen ihre "Vorposten" besitzt35 • Der Zwang, relativ konstant bleibende Bedürfnisse unter wechselnden Umweltbedingungen befriedigen zu müssen, verlangt ein gewisses Maß an Voraussicht und Zukunftsbezogenheit in jeder Gesellschaft. In diesem ganz allgemeinen Sinn von Zukunftsstrukturierung ist Planung funktional äquivalent mit magischen Praktiken, Orakeln, Offenbarungen, Astrologie oder Geschichtsphilosophie. So schreibt Haselojf in einem Aufsatz über "Schicksalsideologie, Risiko und rationale Entscheidung": "Die in BabyIon entstandene Astrologie stellt einen ersten institutionaliserten Versuch dar, die soziale und 32 Kaufmann, F. X., Sicherheit als soziologisches und sozialpolitisches Problem, Stuttgart 1970, S. 178. 33 Kaufmann, S. 174 ff. 34 Plessner, H., über die Beziehung der Zeit zum Tode, in: Eranos Jahrbuch XX, 1951, S. 349 - 386, S. 353. 35 Stoeckle, B., Verabredung mit der Zeit, in: Humanum Moraltheologie im Dienste des Menschen, hrsg. v. J. Gründel, Düsseldorf 1972, S. 249 - 263, S.255; vgl. dazu z. B. bei Husserl den Begriff des "Horizonts", Husserliana I, § 19, bei M. Heidegger den Begriff der "Sorge" (Sein und Zeit, Tübingen 1972, 12. unveränd. Aufl., §§ 41 - 42).
7.2 Formen der Reduktion zeitlicher Komplexität
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auch die individuell belastende Ungewißheit von Entscheidungsfolgen mittels universal anwendbarer Denkmodelle auf ein gruppenverträgliches Maß zu reduzieren 36 ." Planung in diesem weiten Sinne ist nicht gebunden an explizite Zukunfts orientierung und Rationalität, sondern kann sich durchaus an überkommenden Werten orientieren. Diesem allgemeinen Planungsbegriff kann man gegenüberstellen einen neuartigen Begriff von Planung, der erst infolge der schon oben beschriebenen Umstellung des neuzeitlichen Zeitbewußtseins und der Ausbildung eines Rationalitätsbegriffs in der Aufklärung entstehen konnte. Nur in diesem letzten Sinn, als Systemerfordernis zukunftsorientierter moderner Gesellschaften, soll Planung hier zum Thema werden; Planung als anthropologisches "Universal" bleibt außer Betracht. Nach Shackle kann man von Planung und Entscheidung nur sinnvoll reden, wenn folgende drei Annahmen gelten: 1. Geschichte ist nicht vorbestimmt; 2. es gibt keine perfekte Voraussicht, keine volle Rationalität, d. h. Entscheidung besitzt immer ein Moment von Unsicherheit und Risiko 37 ; 3. die Welt ist nicht völlig ungeordnet, Ungewißheit darf nicht unreduzierbar sein38 • Im Gegensatz zu anderen Methoden, gegenwärtiges und zukünftiges Handeln zu organisieren, handelt es sich bei der Planung um die bewußte Bezugnahme auf ein Ziel unter der Berücksichtigung vorhandener Mittel. "Planung impliziert also die Kenntnis eines Erstzustandes und Zielzustandes sowie einer Folge von Schritten zwischen beiden Zuständen. Es liegt nahe, diese beiden Zustände als Endpunkte eines Prozesses der Systemveränderung anzusehen. In diesem Sinn kann unter Planung die Steuerung der Transformationsprozesse von Systemzuständen verstanden werden 39 ." Planung ist jedoch nicht ein einfaches Entscheiden über zukünftige Ereignisse, sie legt vielmehr künftige Handlungen und Entscheidungen nicht inhaltlich fest, sondern formuliert nur die Prämissen, strukturiert die zukünftigen Entscheidungssituationen, in denen dann wiederum entschieden werden muß. Entscheidendes Strukturmerkmal der Planung ist ihre Zweistufigkeit oder anders gesagt ihre Reflexivität: Planung ist 36 Haseloff, O. W., Schicksalsideologie, Risiko und rationale Entscheidung, in: Planung und Entscheidung, hrsg. v. O. W. Haseloff, Berlin 1970, S.127 bis 142, S. 130. 37 Diese Annahme findet sich überall in der Planungstheorie unter dem Titel "bounded rationality". Der Mensch operiert unter der Bedingung unvollständigen Wissens. Vgl. Davidoff, P. / Reiner, Th. A., A Choice Theory of Planning, in: A Reader in Planning Theory, ed. A. Faludi, Oxford, New York u. a. 1973, S. 11 - 40, S. 13. 38 Shackle, G. L. S., Decision, Order and Time in Human Affairs, Cambridge 1969, 2. Aufl., S. 3 - 5. Vgl. ähnlich: C. W. Churchman, Ungewißheit, Wahrscheinlichkeit und Risiko, in: Planung und Entscheidung, Hrsg. O. W. Haseloff, Berlin 1970, S. 97 - 107, S. 97 ff. 39 Jensen, St., Bildungsplanung als Systemtheorie, Bielefeld 1970, S. 71 (im folgenden zitiert als Bildungsplanung).
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7. Zeitliche Komplexität und Formen ihrer Reduktion
nicht bloße Entscheidung, sondern Festlegung von Entscheidungsprämissen für künftige Entscheidungen, ist also die Anwendung der Regeln rationalen HandeIns und Entscheidens auf sich selbst: Entscheidung über Entscheidungen 4o • Planen besteht im Vorstrukturieren des Entscheidungs- und Handlungsrahmens und umfaßt dabei verschiedene Schritte, die man gliedern kann in Zielfindung, Zielbewertung, Programmierung, Mittelund Informationsbeschaffung 41 • Dieser Prozeß ist kein einfacher, linearer Ereignisablauf, sondern ein vielschichtig verzahntes, zeitlich gegliedertes System aufeinanderbezogener Handlungen und Entscheidungen. Durch die Zweistufigkeit des Entscheidungsprozesses ist in der Gegenwart eine Festlegung und Offenhaltung von Zukunft zugleich möglich. Planung ist damit gleichzeitig ein gesellschaftsverändernder und stabilisierender Prozeß42. Übersetzt in unsere Terminologie: Planung kann einmal in Form der "Planung von Innovationen" die zeitliche Komplexität eines Systems erhöhen, indem sie die Varietät der Elemente im Zeit ablauf erhöht. Diese Möglichkeit, sozialen Wandel zu planen, finden wir bei mehreren Autoren angesprochen. So betont Shackle das kreative Moment in jeder Entscheidung, wenn er schreibt: "Decision, ... , is a cut between past and future, an introduction of an essentially new strand into the emerging pattern of history43." Auch Davidojf/Reiner streichen das Moment des Neuen in der Planung heraus: "The planner, ... , must offer value alternatives not currently given great weight in society. The planner should be called upon to present tentative objectives - new, radical, or even absurd alternatives. This involves creative and utopian thought and design. The planner can engage in such thought; possibilities for significant societal change are great ... 44." Diese Innovationschancen gelten insbesondere für langfristige Planungen, bei denen es nötig ist, neue "images of the future" zu entwerfen, denen nach Bell/Mau eine Schlüsselstellung in einer Theorie des sozialen Wandels zukommt4 5 • Planung kann jedoch zum 40 Zur Zweistufigkeit des Planungs prozesses s. auch: Y. Dror: "Planning is the process of preparing a set of decision for action in the future, ... " und weiter "a process of preparing a set of decisions to be approved and executed by some other organs". Dror, Y., The Planning Process: A Facet Design, in: A Reader in Planning Theory, ed. E. Faludi, Oxford, New York u. a. 1973, S. 323 - 344, S. 330. 41 Vgl. Davidoff / Reiner, S. 29 ff. und Banfield, E. C., Ends and Means in Planning, in: A Reader in Planning Theory, ed. A. Faludi, Oxford, New York 1973, S. 139 - 150, S. 141. 42 Vgl. Lau, S.25. 43 Shackle, S. 3. 44 Davidoff / Reiner, S. 28 f. 45 Bell, W. / Mau, J. A., Images of the Future: Theory and Research Strategies, in: Theoretical Sociology, eds. J. McKinney / E. A. Tiryakian, New york 1970, S. 205 ff., S. 209.
7.2 Formen der Reduktion zeitlicher Komplexität
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anderen auch als doppelte selektive Struktur wirksam werden und das überangebot an künftigen Handlungsmöglichkeiten in einem zweistufigen Prozeß selegieren, indem sie die Entscheidung über die Wahl einer Handlung auf die Zukunft verschiebt und doch gegenwärtig schon vorstrukturiert. Der Prozeß der Entscheidung über Entscheidungen ermöglicht eine Strukturbildung durch sinnvolle Verkettung selektiver Prozesse. Planung macht sich damit die von Luhmann beschriebene doppelte Selektivität der Hintereinanderschaltung von Struktur und Planung zunutze 46 : in der Formulierung der Prämissen wird der Bereich des überhaupt Möglichen strukturell beschränkt, z. B. durch Begrenzung der zeitlichen, sachlichen oder sozialen Interdependenzen, durch "constraints" des Möglichen, jedoch wird die Varietät noch nicht völlig auf nur eine Möglichkeit reduziert, sondern nur als in einem zweiten Schritt weiter und endgültig bestimmbare behandelt. Die alternativen Möglichkeiten werden damit nicht vernichtet, sondern nur vorläufig negiert, sie bleiben als Möglichkeiten bestehen. "Von Planung spricht man nur, wenn es sich um die Definition eines Entscheidungsproblems und um die Festlegung der Bedingungen seiner Möglichkeit handelt47 ." Aufgrund dieser Vorstruktur wird dann im ablaufenden Entscheidungsprozeß gemäß der Prämissen erneut entschieden und eine Möglichkeit endgültig gewählt. "When the chosen act has its actual, emerging outcome there will be no more choice but only unique fact 48 ." Der Entscheider auf der zweiten Stufe fungiert in gewissem Sinne wie ein Feedback-Kontrollmechanismus, der beim Auftreten von ungeplanten Abweichungen vom Programm gegensteuernde Entscheidungen treffen und korrigierend eingreifen kann, um die Erreichung des Planziels sicherzustellen. Die Reflexivität der Planung sichert dem System eine gewisse zeitliche Autonomie, da sie durch die Vorstrukturierung der je gegenwärtig zu treffenden Entscheidungen Entscheidungszeit einsparen hilft. Schelling gibt ein Beispiel für die militärische Planung: Die Planung soll durch Vorwegnahme eines Teils der Denkarbeit und des Verhandelns dafür sorgen, daß im Notfall selbst, wenn es auf jede Stunde ankommt, nicht zuviel Zeit durch Nachdenken, Verhandeln und Austausch ... verloren geht49 ." Hier treffen wir wieder auf die Funktion der reflexiven Mechanismen als "zeitsparende Beschleuniger" (Kap. 2.3.2). Es lassen sich mit Rieger50 vier verschiedene Plantypen nach ihrer Zeitstruktur unterscheiden: a) ReihenLuhmann, Soziologie als Theorie, S. 119 ff. Luhmann, Politische Planung, in: ders., Politische Planung. Aufsätze, Opladen 1971, S. 66 - 89, S. 68. 48 Shackle, S. 9. 49 Schelling, T. C., Planungsrationalität und Entscheidungskalkül, in: Planung und Entscheidung, Hrsg. O. W. Haseloff, Berlin 1970, S. 108 - 116, S. 112 bis 113. 50 Rieger, H. C., Begriff und Logik der Planung, Wiesbaden 1967, S. 80 f. 46 47
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7. Zeitliche Komplexität und Formen ihrer Reduktion
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