Die Wirklichkeit der Wirkwesen: Grundlegung einer organismischen und strukturgenetischen Wirklichkeitskonzeption 9783495820971, 9783495491072


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Inhalt
Vorwort
Einführung
1. Die Theorie der Wirkwesen im Kontext gegenwärtiger Philosophie und Wissenschaft
2. Die Genealogie der Theorie der Wirkwesen
3. Die Strukturform der Theorie
4. Der Strukturkern der Theorie
5. Die organismische Sicht der unbelebten Natur
6. Organismus und Leben
7. Pflanze, Tier und Mensch
8. Der Mensch in Gesellschaft, Kultur und Geschichte
9. Naturalismus oder Metaphysik?
1. Leitideen der Theorie der Wirkwesen
1.1. Die Wirklichkeit der Wirkwesen
1.2. Whitehead als Vordenker; die Revision seines Systems
1.3. Vom aristotelischen Formbegriff zum Strukturbegriff
1.4. Strukturdenken im Sinne Cassirers und Piagets
1.5. Der genetische Strukturalismus
1.6. Die Bedeutung des strukturgenetischen Ansatzes für die Theorie der Wirkwesen
1.7. Die Einheit von Prozess-, Struktur- und Subjektdenken
1.8. Aktuelle Brennpunkte der Theorie
2. Die Struktur der Theorie der Wirkwesen
2.1. Die Kuhn’sche Paradigmentheorie und ihre Rationalitätslücken
2.2. Die Notwendigkeit einer Revision der herkömmlichen Wissenschaftstheorie
2.3. Vom Statement View zum Non Statement View empirischer Wissenschaften
2.4. Die logische Rekonstruktion von Kuhns Paradigmentheorie
2.5. Mathematischer und ontologischer Aspekt des Strukturkerns
2.6. Statement View und Non Statement View in der Philosophie
2.7. Das strukturalistische Konzept der Theorie der Wirkwesen und seine Umsetzung
3. Der Strukturkern der Theorie
3.1. Grundprinzipien der Wirklichkeitsinterpretation
3.1.1. Die Wirklichkeit besteht aus einer Vielheit von Wirkwesen
3.1.2. Als Wirkwesen gelten alle organismischen Einheiten der Wirklichkeit, nicht aber die »Dinge« oder »Gegenstände« der Alltagswelt
3.1.3. Alles, was »ist«, existiert demnach als Wirkwesen oder als ein Strukturmoment beziehungsweise Aspekt von Wirkwesen
3.1.4. Was immer von der Wirklichkeit ausgesagt wird, muss deshalb direkt oder indirekt mit Bezug auf Wirkwesen ausgesagt werden
3.1.5. Entsprechend ist auch die Suche nach einem Grund oder einer Ursache immer die Suche nach einem oder mehreren Wirkwesen oder nach deren Strukturmomenten
3.2. Charaktermerkmale von Wirkwesen
3.2.1. Wirkwesen sind prozessuale Subjekte mit Strukturen in Systemen
3.2.2. Wirkwesen sind organismische Prozesseinheiten
3.2.3. Wirkwesen entwickeln sich, und zwar sowohl als Einzelwesen als auch in ihrer Gesamtheit
3.2.4. Die Wirkwesen bilden in ihrer Gesamtentwicklung, aber auch in ihrer Entwicklung als Einzelwesen eine Stufenfolge
3.2.5. Die höheren Stufen sind nicht auf die niedrigeren zurückführbar, sondern sind durch echte Neuschöpfungen aus ihnen hervorgegangen
3.2.6. Bei der Höherentwicklung der Wirkwesen nimmt ihre Subjektivität bis zum vollen Selbstbesitz im Menschen graduell zu
3.3. Aneignungs- und Konstitutionsprozesse von Wirkwesen
3.3.1. Werdensprozesse sind konstitutiv für die Wirkwesen
3.3.2. Diese Werdensprozesse bestehen in der Aneignung von Außenelementen und deren Umgestaltung in das Selbstsein der Wirkwesen
3.3.3. Die Möglichkeit, von Wirkwesen angeeignet zu werden, macht eine Grundbestimmung des Wirklichen aus
3.3.4. Die Aneignung von Außenelementen und deren Umgestaltung im Selbstaufbau ist das ureigenste Wirken von Wirkwesen
3.3.5. Wirkwesen bleiben in ihrem Selbstsein konstitutiv auf die Außenwelt bezogen
3.3.6. Wirkwesen tragen ihre Wirklichkeit als Wirkung ihres Wirkens in sich
3.3.7. Wirkwesen bilden sich durch Selbstverwirklichung
3.4. Struktur und Genese eines Wirkwesens
3.4.1. Der Werdensprozess eines Wirkwesens wird formal von seiner Struktur bestimmt
3.4.2. Die Struktur ist das ganzheitliche Organisationsprinzip eines Wirkwesens
3.4.3. Der Werdensprozess eines Wirkwesens geht von seiner strukturierenden Anfangsstruktur aus und zielt auf seine strukturierte Endstruktur hin
3.4.4. In jenen Wirkwesen, deren Werdensprozess eine Höherentwicklung einschließt, gehören die Anfangs- und die Endstruktur unterschiedlichen Wirklichkeitsstufen an
3.4.5. Der Entwicklungsprozess der höheren und höchsten Wirkwesen erfolgt über die Ausbildung von Strukturen, die die Zwischenstufen bilden
3.4.6. Die Höherentwicklung wird vom Wirkwesen selbst in Interaktion mit seiner Umwelt über Selbstregelungsprozesse vorangetrieben
3.4.7. Bei der Höherentwicklung werden die vorangehenden Strukturen als Substrukturen in die nachfolgenden Strukturen integriert
3.4.8. Der Entwicklungsprozess sowohl der einzelnen Wirkwesen als auch der Wirkwesen insgesamt beruht auf einer Filiation von Strukturen
3.5. Genetischer Strukturalismus
3.5.1. Allgemein gilt, dass jede Struktur aus einer Genese hervorgegangen ist, die ihrerseits auf eine vorausliegende Struktur zurückweist
3.5.2. Zur Beschreibung und Erklärung eines Wirkwesens bedarf es einer strukturalen und einer genetischen Analyse
3.5.3. Ein Wirkwesen muss auf jeder seiner Entwicklungsstufen zuerst struktural und dann genetisch betrachtet werden
3.5.4. Strukturdenken und Subjektdenken sind solidarisch
3.6. Die Gesellschaftsbildung von Wirkwesen
3.6.1. Wirkwesen sind auf Gesellschaftsbildung hin angelegt
3.6.2. Die Gesellschaftsbildung kann »demokratische« oder »monarchische« Formen annehmen
3.6.3. Durch die Gesellschaftsbildung von Wirkwesen entsteht Komplexität
3.6.4. Es gibt eigenständige und untergeordnete Wirkwesen
3.7. Möglichkeit und Wirklichkeit, Realität und Idealität
3.7.1. Die Wirklichkeit als Prozess besteht in der zunehmenden Verwirklichung von Möglichkeiten
3.7.2. Es sind die Wirkwesen, die die Möglichkeiten ergreifen und verwirklichen
3.7.3. Es gibt reale, entfernte und reine Möglichkeiten
3.7.4. Reale und entfernte Möglichkeiten sind zeitlich bedingt, reine Möglichkeiten existieren überzeitlich
3.7.5. Die reinen, überzeitlichen Möglichkeiten bilden das Reich der idealen Formen
3.7.6. Die reale Wirklichkeit ist die Konkretion von idealen Formen
3.7.7. Ideale Formen werden von den Wirkwesen selbst über ihre Selbstregelungsprozesse angestrebt, insbesondere durch die Äquilibrationen
3.8. Bewusster und unbewusster Geist
3.8.1. Die idealen Formen bilden die geistige Dimension der Wirklichkeit
3.8.2. Die Entwicklung der Wirklichkeit insgesamt bedeutet die Überführung unbewusster Geistigkeit in den bewussten Geist
4. Die organismische Interpretation der Naturwirklichkeit
4.1. Die prinzipielle Bedeutung einer organismischen Auffassung der Natur
4.2. Von der Dingvorstellung unserer Alltagserfahrung zum mechanistischen Materiekonzept
4.3. Konturen des Organismusbegriffs und einer organismischen Sicht
4.4. Der organismische Charakter der elementaren Einheiten der modernen Physik
4.5. Der innere Zusammenhang von organismischer und strukturgenetischer Sicht
5. Der Organismusbegriff beim Lebendigen
5.1. »Leben«, »Lebendigsein« ist eine potenzierte prozessuale, auf die Selbsterhaltung ausgerichtete Form des Seins
5.2. Ein höheres Lebewesen ist ein Organismus im Vollsinn, der durch eine Gesamtstruktur gebildet wird, die unterschiedliche Substrukturen, die Organe, zu einer funktionellen Einheit und Ganzheit zusammenfasst
5.3. Höhere Lebewesen bilden in ihrer Genese vom Samen bis zu ihrer ausgewachsenen Form unterschiedliche Strukturen aus, die sich qualitativ vom Unbelebten abheben
5.4. Ein Lebewesen ist konstitutiv auf seine Umwelt bezogen, die es zugleich assimiliert und erschafft, womit es eine Geschichte hat
6. Die Differenzierung von Pflanze, Tier und Mensch
6.1. Komplexität, Zentrierung und Positionalität als Leitprinzipien der Differenzierung
6.2. Die Pflanzen als Primärproduzenten: Dominanz der Offenheit
6.3. Die Tiere als Sekundärproduzenten: Dominanz der Geschlossenheit
6.4. Der Mensch: Reflektiertes Selbstsein
6.5. Die menschliche Entwicklung
6.6. Organismische Biologie – Strukturgenetische Anthropologie
7. Gesellschaft, Kultur und Geschichte
7.1. Der Mensch als Gesellschafts-, Kultur- und Geschichtswesen
7.2. Abklärung der Methodenwege: Von Hegel über Cassirer zu Piaget
7.3. Strukturgenetische Anthropologie und Historische Anthropologie
8. Die Frage nach dem Letzten
8.1. Aristoteles: Naturalismus oder Metaphysik?
8.2. Whitehead: metaphysische Fundierung
8.3. Piaget: naturalistische Reduktion
8.4. Die Offenheit des Unbeweisbaren
Literaturverzeichnis
Personenregister
Sachregister
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Die Wirklichkeit der Wirkwesen: Grundlegung einer organismischen und strukturgenetischen Wirklichkeitskonzeption
 9783495820971, 9783495491072

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BIOPHILOSOPHIE Reto Luzius Fetz

Die Wirklichkeit der Wirkwesen Grundlegung einer organismischen und strukturgenetischen Wirklichkeitskonzeption

VERLAG KARL ALBER

https://doi.org/10.5771/9783495820971

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B

Reto Luzius Fetz

Die Wirklichkeit der Wirkwesen

VERLAG KARL ALBER

A

https://doi.org/10.5771/9783495820971 .

BIOPHILOSOPHIE Herausgegeben von Gernot G. Falkner, Reto Luzius Fetz und Spyridon A. Koutroufinis Band 1

https://doi.org/10.5771/9783495820971 .

Reto Luzius Fetz

Die Wirklichkeit der Wirkwesen Grundlegung einer organismischen und strukturgenetischen Wirklichkeitskonzeption

Verlag Karl Alber Freiburg / München

https://doi.org/10.5771/9783495820971 .

Reto Luzius Fetz The Actuality of What is Actual (»Wirkwesen«) Foundations of an organismic and structural-genetic conception of reality The present book conceptualises a radically new and organismic conception of reality based on the philosophies of Whitehead, Cassirer and Piaget. Fetz names that which is actual »Wirkwesen« in German, i. e., those essences that are active and actual. »Wirkwesen« is the name for that which is real in reality because it emerges from its own activity, maintains itself only through its activity and also communicates itself to others in this way. This conception of active, interrelated »Wirkwesen« is distinct from ordinary conceptions of the everyday which assumes reality to consist of passive things that simply happen to be alongside each other. »Wirkwesen« differ from things also insofar as the former are of an inner unity and of a holistic character. They are at once bearers and result of their internal regulatory processes. The theory of »Wirkwesen« is an organismic theory because it sees essences everywhere in reality, essences which more or less can be considered organisms. Examples would be elementary particles of physics, unicellular organisms, plants, animals and humans. »Wirkwesen« emerge from structures, which have their own unique genesis and as such emerge from one another. The more complex those structures, the more will »Wirkwesen« reveal their subject character, which comes to full fruition in the human being with his selfconsciousness and self-determination. In so far as this theory understands reality as a unitary, but still self-differentiating developmental interrelationality of ever higher and ever more complex »Wirkwesen« – which begin on the material level but result in the spiritual – is Fetz’s contribution far from dualism, but also far from any sort of levelling reductionism. The Author: Prof Dr Reto Luzius Fetz, born in 1942, lecturer of philosophy at the Catholic University of Eichstätt-Ingolstadt, from 1988–2008. With Karl Alber Verlag Fetz has published Whitehead: Prozessdenken und Substanzmetaphysik (1981), and Whitehead – Cassirer – Piaget. Unterwegs zu einem neuen Denken (2010; editor)

https://doi.org/10.5771/9783495820971 .

Reto Luzius Fetz Die Wirklichkeit der Wirkwesen Grundlegung einer organismischen und strukturgenetischen Wirklichkeitskonzeption Dieses Buch entwirft eine neue, organismische Wirklichkeitskonzeption im Ausgang von Whitehead, Cassirer und Piaget. »Wirkwesen« ist der Name für das, was in der Wirklichkeit wirklich ist, weil es aus seinem Wirken hervorgeht, sich nur durch sein Wirken erhält und anderen mitteilt. Diese Konzeption aktiver, aufeinander bezogener »Wirkwesen« hebt sich von der Alltagsauffassung ab, für die die Realität aus einem Nebeneinander passiver »Dinge« besteht. Anders als die Dinge weisen die Wirkwesen eine innere Einheit und einen ganzheitlichen Charakter auf. Sie sind ineins Träger und Resultat ihrer von innen gesteuerten Prozesse. Die Theorie der Wirkwesen ist eine organismische Theorie, weil sie in der Wirklichkeit überall Wesen sieht, die in einem mehr oder weniger ausgeprägten Sinn Organismen sind – von den physikalischen Elementarteilchen und Einzellern über Pflanzen und Tiere bis hin zum Menschen. Wirkwesen bilden sich durch Strukturen, die eine Genese haben und auseinander hervorgehen. Je komplexer diese Strukturen sind, desto mehr eignet den Wirkwesen ein Subjektcharakter, der im Menschen mit seinem Selbstbewusstsein und seiner Selbstbestimmung zum vollen Durchbruch kommt. Indem diese Theorie die Wirklichkeit als einen einheitlichen, aber in sich differenzierten Entwicklungszusammenhang immer höherer Wirkwesen begreift, die als materiell geprägte beginnen und als geistige enden, situiert sie sich jenseits von jedem Dualismus, aber auch von jedem nivellierenden Reduktionismus. Der Autor: Prof. Dr. Reto Luzius Fetz, geb. 1942, lehrte von 1988 bis 2008 Philosophie an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt. Im Verlag Karl Alber erschien Whitehead: Prozessdenken und Substanzmetaphysik (1981), als Herausgeber Whitehead – Cassirer – Piaget. Unterwegs zu einem neuen Denken (2010).

https://doi.org/10.5771/9783495820971 .

Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2019 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise, Bad Wünnenberg Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN (Buch) 978-3-495-49107-2 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-82097-1

https://doi.org/10.5771/9783495820971 .

Inhalt

Vorwort

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Theorie der Wirkwesen im Kontext gegenwärtiger Philosophie und Wissenschaft . . . . . . . . . . . . 2. Die Genealogie der Theorie der Wirkwesen . . . . . 3. Die Strukturform der Theorie . . . . . . . . . . . . 4. Der Strukturkern der Theorie . . . . . . . . . . . . 5. Die organismische Sicht der unbelebten Natur . . . . 6. Organismus und Leben . . . . . . . . . . . . . . . 7. Pflanze, Tier und Mensch . . . . . . . . . . . . . . 8. Der Mensch in Gesellschaft, Kultur und Geschichte . 9. Naturalismus oder Metaphysik? . . . . . . . . . . .

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Leitideen der Theorie der Wirkwesen . . . . . . . . . Die Wirklichkeit der Wirkwesen . . . . . . . . . . . . Whitehead als Vordenker; die Revision seines Systems Vom aristotelischen Formbegriff zum Strukturbegriff . Strukturdenken im Sinne Cassirers und Piagets . . . . Der genetische Strukturalismus . . . . . . . . . . . . Die Bedeutung des strukturgenetischen Ansatzes für die Theorie der Wirkwesen . . . . . . . . . . . . . . . . 1.7. Die Einheit von Prozess-, Struktur- und Subjektdenken 1.8. Aktuelle Brennpunkte der Theorie . . . . . . . . . . .

. . . . . .

50 50 51 54 55 59

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60 63 65

2. Die Struktur der Theorie der Wirkwesen . . . . . . . . 2.1. Die Kuhnsche Paradigmentheorie und ihre Rationalitätslücken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1. 1.1. 1.2. 1.3. 1.4. 1.5. 1.6.

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7 https://doi.org/10.5771/9783495820971 .

Inhalt

2.2. Die Notwendigkeit einer Revision der herkömmlichen Wissenschaftstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3. Vom Statement View zum Non Statement View empirischer Wissenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4. Die logische Rekonstruktion von Kuhns Paradigmentheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5. Mathematischer und ontologischer Aspekt des Strukturkerns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.6. Statement View und Non Statement View in der Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.7. Das strukturalistische Konzept der Theorie der Wirkwesen und seine Umsetzung . . . . . . . . . . . .

3. Der Strukturkern der Theorie . . . . . . . . . . . . . . 3.1. Grundprinzipien der Wirklichkeitsinterpretation . . . . 3.1.1. Die Wirklichkeit besteht aus einer Vielheit von Wirkwesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.2. Als Wirkwesen gelten alle organismischen Einheiten der Wirklichkeit, nicht aber die »Dinge« oder »Gegenstände« der Alltagswelt . . . . . . . . . . 3.1.3. Alles, was »ist«, existiert demnach als Wirkwesen oder als ein Strukturmoment beziehungsweise Aspekt von Wirkwesen . . . . . . . . . . . . . . 3.1.4. Was immer von der Wirklichkeit ausgesagt wird, muss deshalb direkt oder indirekt mit Bezug auf Wirkwesen ausgesagt werden . . . . . . . . . . . 3.1.5. Entsprechend ist auch die Suche nach einem Grund oder einer Ursache immer die Suche nach einem oder mehreren Wirkwesen oder nach deren Strukturmomenten . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2. Charaktermerkmale von Wirkwesen . . . . . . . . . . . 3.2.1. Wirkwesen sind prozessuale Subjekte mit Strukturen in Systemen . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2. Wirkwesen sind organismische Prozesseinheiten . 3.2.3. Wirkwesen entwickeln sich, und zwar sowohl als Einzelwesen als auch in ihrer Gesamtheit . . . . . 3.2.4. Die Wirkwesen bilden in ihrer Gesamtentwicklung, aber auch in ihrer Entwicklung als Einzelwesen eine Stufenfolge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 https://doi.org/10.5771/9783495820971 .

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Inhalt

3.2.5. Die höheren Stufen sind nicht auf die niedrigeren zurückführbar, sondern durch echte Neuschöpfungen aus ihnen hervorgegangen . . . . . . . . . . 3.2.6. Bei der Höherentwicklung der Wirkwesen nimmt ihre Subjektivität bis zum vollen Selbstbesitz im Menschen graduell zu . . . . . . . . . . . . . . . 3.3. Aneignungs- und Konstitutionsprozesse von Wirkwesen . 3.3.1. Werdensprozesse sind konstitutiv für die Wirkwesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.2. Diese Werdensprozesse bestehen in der Aneignung von Außenelementen und deren Umgestaltung in das Selbstsein der Wirkwesen . . . . . . . . . . . 3.3.3. Die Möglichkeit, von Wirkwesen angeeignet zu werden, macht eine Grundbestimmung des Wirklichen aus . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.4. Die Aneignung von Außenelementen und deren Umgestaltung im Selbstaufbau ist das ureigenste Wirken von Wirkwesen . . . . . . . . . . . . . . 3.3.5. Wirkwesen bleiben in ihrem Selbstsein konstitutiv auf die Außenwelt bezogen . . . . . . . . . . . . 3.3.6. Wirkwesen tragen ihre Wirklichkeit als Wirkung ihres Wirkens in sich . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.7. Wirkwesen bilden sich durch Selbstverwirklichung . 3.4. Struktur und Genese eines Wirkwesens . . . . . . . . . 3.4.1. Der Werdensprozess eines Wirkwesens wird formal von seiner Struktur bestimmt . . . . . . . . . . . 3.4.2. Die Struktur ist das ganzheitliche Organisationsprinzip eines Wirkwesens . . . . . . . . . . . . . 3.4.3. Der Werdensprozess eines Wirkwesens geht von seiner strukturierenden Anfangsstruktur aus und zielt auf seine strukturierte Endstruktur hin . . . . 3.4.4. In jenen Wirkwesen, deren Werdensprozess eine Höherentwicklung einschließt, gehören die Anfangs- und die Endstruktur unterschiedlichen Wirklichkeitsstufen an . . . . . . . . . . . . . . 3.4.5. Der Entwicklungsprozess der höheren und höchsten Wirkwesen erfolgt über die Ausbildung von Strukturen, die die Zwischenstufen bilden . . . . . . .

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9 https://doi.org/10.5771/9783495820971 .

Inhalt

3.4.6. Die Höherentwicklung wird vom Wirkwesen selbst in Interaktion mit seiner Umwelt über Selbstregelungsprozesse vorangetrieben . . . . . . . . . 3.4.7. Bei der Höherentwicklung werden die vorangehenden Strukturen als Substrukturen in die nachfolgenden Strukturen integriert . . . . . . . . . . 3.4.8. Der Entwicklungsprozess sowohl der einzelnen Wirkwesen als auch der Wirkwesen insgesamt beruht auf einer Filiation von Strukturen . . . . . 3.5. Genetischer Strukturalismus . . . . . . . . . . . . . . 3.5.1. Allgemein gilt, dass jede Struktur aus einer Genese hervorgegangen ist, die ihrerseits auf eine vorausliegende Struktur zurückweist . . . . . . . . . . . 3.5.2. Zur Beschreibung und Erklärung eines Wirkwesens bedarf es einer strukturalen und einer genetischen Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5.3. Ein Wirkwesen muss auf jeder seiner Entwicklungsstufen zuerst struktural und dann genetisch betrachtet werden . . . . . . . . . . . . 3.5.4. Strukturdenken und Subjektdenken sind solidarisch 3.6. Die Gesellschaftsbildung von Wirkwesen . . . . . . . . 3.6.1. Wirkwesen sind auf Gesellschaftsbildung hin angelegt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.6.2. Die Gesellschaftsbildung kann »demokratische« oder »monarchische« Formen annehmen . . . . . 3.6.3. Durch die Gesellschaftsbildung entsteht Komplexität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.6.4. Es gibt eigenständige und untergeordnete Wirkwesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.7. Möglichkeit und Wirklichkeit, Realität und Idealität . . . 3.7.1. Die Wirklichkeit als Prozess besteht in der zunehmenden Verwirklichung von Möglichkeiten . 3.7.2. Es sind die Wirkwesen, die die Möglichkeiten ergreifen und verwirklichen . . . . . . . . . . . . 3.7.3. Es gibt reale, entfernte und reine Möglichkeiten . . 3.7.4. Reale und entfernte Möglichkeiten sind zeitlich bedingt, reine Möglichkeiten existieren überzeitlich 3.7.5. Die reinen, überzeitlichen Möglichkeiten bilden das Reich der idealen Formen . . . . . . . . . . . . . 10 https://doi.org/10.5771/9783495820971 .

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Inhalt

3.7.6. Die reale Wirklichkeit ist die Konkretion von idealen Formen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.7.7. Ideale Formen werden von den Wirkwesen selbst über ihre Selbstregelungsprozesse angestrebt, insbesondere durch die Äquilibrationen . . . . . . 3.8. Bewusster und unbewusster Geist . . . . . . . . . . . . 3.8.1. Die idealen Formen bilden die geistige Dimension der Wirklichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.8.2. Die Entwicklung der Wirklichkeit insgesamt bedeutet die Überführung unbewusster Geistigkeit in bewussten Geist . . . . . . . . . . . . . . . .

4. Die organismische Interpretation der Naturwirklichkeit 4.1. Die prinzipielle Bedeutung einer organismischen Auffassung der Naturwirklichkeit . . . . . . . . . . . 4.2. Von der Dingvorstellung unserer Alltagserfahrung zum mechanistischen Materiekonzept . . . . . . . . . . . 4.3. Konturen des Organismusbegriffs und einer organismischen Sicht . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4. Der organismische Charakter der elementaren Einheiten der modernen Physik . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5. Der innere Zusammenhang von organismischer und strukturgenetischer Sicht . . . . . . . . . . . . . . .

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. 112 . 112 . 114 . 118 . 121 . 126

5. Der Organismusbegriff beim Lebendigen . . . . . . . . . 5.1. »Leben«, »Lebendig-sein« ist eine potenzierte prozessuale, auf die Selbsterhaltung ausgerichtete Form des Seins . . 5.2. Ein höheres Lebewesen ist ein Organismus im Vollsinn, der durch eine Gesamtstruktur gebildet wird, die unterschiedliche Substrukturen, die Organe, zu einer funktionellen Einheit und Ganzheit zusammenfasst . . . 5.3. Höhere Lebewesen bilden in ihrer Genese vom Samen bis zu ihrer ausgewachsenen Form unterschiedliche Strukturen aus, die sich qualitativ vom Unbelebten abheben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4. Ein Lebewesen ist konstitutiv auf seine Umwelt bezogen, die es zugleich assimiliert und erschafft, womit es eine Geschichte hat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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11 https://doi.org/10.5771/9783495820971 .

Inhalt

6. Die Differenzierung von Pflanze, Tier und Mensch . 6.1. Komplexität, Zentrierung und Positionalität als Leitprinzipien der Differenzierung . . . . . . . . . 6.2. Die Pflanzen als Primärproduzenten: Dominanz der Offenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3. Die Tiere als Sekundärproduzenten: Dominanz der Geschlossenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4. Der Mensch: Reflektiertes Selbstsein . . . . . . . 6.5. Die menschliche Entwicklung . . . . . . . . . . . 6.6. Organismische Biologie – Strukturgenetische Anthropologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . 140 . . . 140 . . . 142 . . . 143 . . . 145 . . . 146 . . . 148

7. Gesellschaft, Kultur und Geschichte . . . . . . . . . . 7.1. Der Mensch als Gesellschafts-, Kultur- und Geschichtswesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2. Abklärung der Methodenwege: Von Hegel über Cassirer zu Piaget . . . . . . . . . . . 7.3. Strukturgenetische Anthropologie und Historische Anthropologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. 152

8. 8.1 8.2. 8.3. 8.4.

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Die Frage nach dem Letzten . . . . . . . . Aristoteles: Naturalismus oder Metaphysik? Whitehead: metaphysische Fundierung . . Piaget: naturalistische Reduktion . . . . . Die Offenheit des Unbeweisbaren . . . . .

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. 152 . 155 . 160 166 167 170 175 179

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 Sachregister

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12 https://doi.org/10.5771/9783495820971 .

Vorwort

Seit ihren Höhepunkten bei den Griechen verfolgt die Philosophie das Ideal, die Wirklichkeit als ein harmonisches Ganzes, als einen »Kosmos« zu denken. Platon sah in der Natur ein beseeltes, von göttlicher Hand gefügtes Lebewesen, voller Vernunft und Schönheit. Aristoteles konzipierte die Wirklichkeit als einen Stufenbau, in dem von der Materie über das Lebendige bis hin zu Gott die verschiedenen Seinsformen aufeinander aufbauen und ihrer Vollendung zustreben. Im Mittelalter fügte Thomas von Aquin das griechische Kosmosverständnis und den christlichen Schöpfungsgedanken zu einer Synthese zusammen, in der die Wirklichkeit als eine von Gott geprägte und zugleich natürliche Seinsordnung erscheint. Zu Beginn der Neuzeit riss zwar Descartes mit dem Dualismus von Materie und Geist die Wirklichkeit entzwei. Aber Leibniz entwarf mit seiner Monadenlehre wieder ein einheitliches Ganzes. Und die Systeme des Deutschen Idealismus brachten mit Hegel und Schelling die verschiedenen Wirklichkeitsbereiche in einen durchgehenden Entwicklungszusammenhang, der von der unbewussten Materie bis hin zum voll seiner selbst bewussten Geist reicht. Wer sich im zwanzigsten Jahrhundert nach vergleichbaren Denkentwürfen umschaut, wird zunächst enttäuscht sein. Mit dem »Ende der Metaphysik« wird hier auch das Ende der großen Systeme verkündet. Phänomenologie und Analytische Philosophie als die beiden maßgeblichen Methodenrichtungen fordern minutiöse Kleinarbeit statt umfassender Systementwürfe. Die Wissenschaft erscheint als ein fragmentarisches Gebilde verschiedener Disziplinen und Ansätze. Wenn sie sich versuchsweise als einheitliche Theorie präsentiert, dann nur auf der Basis eines alles nivellierenden reduktionistischen Materialismus. Und doch gibt es zumindest eine große Ausnahme: die Philosophy of Organism von Alfred North Whitehead. Vor dem Hintergrund der wissenschaftlichen Umbrüche, welche die in der Neuzeit 13 https://doi.org/10.5771/9783495820971 .

Vorwort

vorherrschende Newtonsche Physik relativierten, postuliert er statt des bisherigen mechanistischen Denkens eine organismische Auffassung, die für die ganze Naturwirklichkeit bestimmend werden soll. Das Erbe der Griechen, die platonischen »Ideen« und die aristotelischen »Formen«, werden dabei so angeeignet, dass sie mit dem modernen Evolutionsdenken nicht nur kompatibel erscheinen, sondern dieses tiefer begründen. Die Wirklichkeit insgesamt neu organismisch als ein dynamisches Gefüge miteinander interagierender und aus einander hervorgehender Prozesseinheiten von zunehmender Subjektivität gedacht zu haben – das ist Whiteheads unbestreitbares Verdienst, das ihn zum Vorbild für jedes organismisch-ganzheitliche Denken macht. Ähnlich ausgerichtet, wenn auch nicht so umfassend angelegt ist Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen. Im Medium des Symbols versucht Cassirer alle geschichtlich hervorgetretenen Kulturformen zu erfassen, die der Mensch als das animal symbolicum geschaffen hat, nicht nur die Sprache, sondern auch den Mythos, Religion, Kunst und Wissenschaft bis hin zur Technik. Geist und Leben werden in einen organischen Entwicklungszusammenhang gebracht, der die Kultur aus der Natur hervorgehen lässt und so jede Entgegensetzung überwindet. Cassirer liefert so gleichsam den kulturellen Überbau dessen, was in der im Sinne Whiteheads verstandenen Natur grundgelegt ist. Die konkrete Verbindung von Natur und Kultur in der Entwicklung des Menschen hat eine dritte Pioniertat des letzten Jahrhunderts hergestellt: Jean Piagets genetische Epistemologie. Indem sie in der Entwicklung vom Kind zum Erwachsenen das Werden der Erkenntnis verfolgte, erforschte sie erstmals den individualgeschichtlichen Hervorgang des Geistes aus dem Leben. Piaget war jedoch mehr als der Kinderpsychologe, als der er vornehmlich in die Geschichte eingegangen ist. Natürlich ist es primär sein Verdienst, die Stufen aufgedeckt zu haben, auf denen das noch in das Verhalten und damit in die biologische Organisation eingebettete Erkennen des Kindes sich sukzessive zum logischen Denken des Erwachsenen empor entwickelt. Aber gleichzeitig schuf er als theoretische Grundlage ein Modell, das die Höherentwicklung organischer Strukturen insgesamt zu erklären vermag: den genetischen Strukturalismus. Das wechselseitige Bedingungsverhältnis von Struktur und Genese, demzufolge jede Genese auf eine vorausliegende Struktur zurückweist, aber umgekehrt auch 14 https://doi.org/10.5771/9783495820971 .

Vorwort

jede neu verwirklichte Struktur das Resultat einer Genese ist, lässt den gesamten Entwicklungszusammenhang von Materie, Leben und Geist als eine Filiation höherer Formen aus den vorangehenden niedrigeren verstehen. Erwägt man nun die Gemeinsamkeiten und Berührungspunkte, aber auch die je besondere Ausrichtung und Leistung der Werke von Whitehead, Cassirer und Piaget, dann liegt die Vermutung nahe, dass sie zusammen die Basis für ein umfassendes Projekt abgeben könnten, in dem sich Philosophie und Wissenschaft im Versuch einer umfassenden Wirklichkeitsinterpretation zusammenfinden. Eine solche Idee wurde schon in einem Symposium erprobt, mit positivem Erfolg. 1 Aber die Frage blieb unbeantwortet, wie den Ansätzen dieser drei Denker eine einheitliche Theoriegestalt gegeben werden kann. Zwischen Whitehead, Cassirer und Piaget gibt es bei allen Entsprechungen im Grundsätzlichen eine fundamentale Differenz. Sie liegt darin, dass Whiteheads ontologischer Grundbegriff, der Begriff der actual entity, einen anderen Status hat als die ontologischen Grundanschauungen von Cassirer und Piaget. Whiteheads actual entities sind die organismischen Einzelwesen, denen er eine wirkliche Existenz zuspricht. Er identifiziert sie wie Leibniz seine Monaden mit letzten Einheiten, wobei sie noch unterhalb der kleinsten elementaren Einheiten der modernen Physik liegen sollen. Ihre Existenz ist ein reines Postulat. Das gibt Whitehead die Freiheit, unter Zugrundelegung dieser imaginären Einheiten durch deren Zusammenfügung zu immer komplexeren Gebilden einen organismischen Wirklichkeitsaufbau zu konzipieren, der allen Anforderungen an eine umfassende und gleichzeitig in sich differenzierte Wirklichkeitsauffassung genügt und dabei von einer seltenen Harmonie und Schönheit ist. Nur mit dem Nachteil, dass die actual entities eben keine ausgewiesenen Wirklichkeitseinheiten sind. Cassirer und Piaget halten sich an unser spontanes Wirklichkeitsverständnis, für das die Organismen nicht mikrokosmische Einheiten, sondern in erster Linie die Lebewesen, d. h. die makrokosmisch erfahrbaren organischen Einheiten unserer Lebenswelt sind. Statt diese Lebewesen theoretisch aus immer komplexeren Gesellschaftsbildungen der mikrokosmischen actual entities hervorgehen zu lassen, wie Whitehead es tut, werden sie primär als Einheiten be1

Vgl. Fetz/Seidenfuß/Ullrich 2010.

15 https://doi.org/10.5771/9783495820971 .

Vorwort

trachtet – auch wenn sie aus Organen und elementaren Bestandteilen bestehen, wie Biologie und Physik sie aufdecken. Eine solche Auffassung hat den Vorteil, dass sie nicht nur unserem spontanen Wirklichkeitsverständnis entspricht, sondern auch an die Naturwissenschaften angeschlossen werden kann. Eine beide Gesichtspunkte verbindende einheitliche Theorie lässt sich nur dann entwickeln, wenn es gelingt, eine den Whitehead’schen actual entities entsprechende Konzeption der eigentlichen Wirklichkeitseinheiten von der mikrokosmischen auf die makrokosmische Ebene unserer Lebenswelt zu heben. Den uns lebensweltlich begegnenden Organismen muss somit der Status echter Einheiten zurückgegeben werden, statt sie wie Whitehead als komplexe Zusammenfügungen ursprünglicherer Einheiten zu betrachten. Gleichzeitig sollte aber der durchgehend organismische Zug von Whiteheads Philosophie gewahrt bleiben. Dem steht nichts so sehr entgegen wie die Alltagsauffassung, dass die Wirklichkeit neben den Lebewesen aus »Dingen« besteht, die nicht selbst aktiv, sondern das passive »Material« menschlicher Inbesitznahme und Bearbeitung sind. Somit stellt sich die Frage, ob es möglich ist, unter der Oberfläche der Dingwelt eine organismische Verfasstheit aufzudecken und so dem organismischen Denken allgemein zum Durchbruch zu verhelfen, wie Whitehead es will. Whitehead glaubte dies aufgrund der Erkenntnisse der modernen Naturwissenschaften, von Physik und Biologie tun zu können. Denn diese lehren uns, im Inneren der Natur elementare Einheiten zu sehen, die nicht einen dinghaften, sondern einen organismischen Charakter haben. Das ist auch der Weg, den die hier vorgelegte Theorie einschlägt. Ein allgemein organismisches Denken muss nun in einem zentralen ontologischen Grundbegriff verankert werden. Das war für Whitehead der Begriff der actual entity, und für unsere Theorie ist es der neue Begriff des Wirkwesens. Die »Wirkwesen« sind somit in Analogie zu den Whitehead’schen actual entities konzipiert, sind aber keine Monaden mehr. In erster Annäherung kann der Begriff des Wirkwesens als eine Verallgemeinerung des Begriffs des Lebewesens verstanden werden. In erster Linie zählen deshalb die Lebewesen dazu, in einem reduzierten Sinn die elementaren Einheiten der Physik, nicht jedoch die »Dinge«. Die Theorie der Wirkwesen ist somit eine organismische Theorie, die überall in der Wirklichkeit Wesen sieht, die in einem mehr oder weniger ausgeprägten Sinn Organismen sind – von den Elementarteilchen und Atomen über die Einzeller und hö16 https://doi.org/10.5771/9783495820971 .

Vorwort

heren Lebewesen bis hin zum Menschen. Kurz gesagt: Die eigentliche Wirklichkeit besteht aus Wirkwesen, und diese sind mehr oder weniger Organismen. Anders als die passiven »Dinge« sind die Wirkwesen in einem eminenten Sinn aktiv. Wie ihr Name sagt, ist ihr »Wirken« für sie geradezu konstitutiv – wie für die »Wirk-lichkeit« überhaupt. Sie sind Wesen, denen innerlich ein Wirken zukommt und die nur aufgrund ihres Wirkens existieren. Sie sind das, was sie sind, als Träger und Resultat ihres Wirkens. Als sich selbst konstituierende Prozesseinheiten weisen sie eine innere Einheit und einen ganzheitlichen Charakter auf. Wie lässt sich nun eine Theorie der Wirkwesen konstruieren? Wir haben sie nach dem Wissenschaftsmodell des sogenannten Non Statement View konzipiert, demzufolge eine empirische oder generell eine Wirklichkeitstheorie aus einem geordneten Paar besteht: aus einem Strukturkern, in dem die allgemeinen Grundbegriffe und Prinzipien zusammengefasst sind, und Kernerweiterungen, durch den diese in spezifischen Bereichen ihre Anwendung finden. Damit ist für den Aufbau der Theorie der Wirkwesen einerseits begriffliche Grundarbeit gefordert, andererseits aber auch wissenschaftliche Detailarbeit in den verschiedenen Wirklichkeitsbereichen, in Abstimmung mit den jeweils zuständigen Wissenschaften. Eine solche theoretische Leistung kann heute kein Einzelner adäquat erbringen. Die Zeit der Universalgelehrten ist vorbei, heißt es nicht ohne Grund; niemand kann heute die Fülle einzelwissenschaftlicher Erkenntnisse überschauen, geschweige denn in eine einheitliche Theorie integrieren. Das eben vorgestellte Theoriemodell ermöglicht jedoch eine Arbeitsteilung. Die begriffliche Arbeit am Strukturkern ist vorwiegend Sache des Philosophen, die Kernerweiterungen hingegen, durch die ein spezielles Wissenschaftsgebiet erschlossen werden soll, rufen nach dem Einzelwissenschaftler. Damit beide fruchtbar miteinander zusammen arbeiten können, muss allerdings eine Grundbedingung erfüllt sein: Sie müssen sich am gleichen Paradigma orientieren. An dieser Stelle muss nun Persönliches zur Sprache kommen. Nachdem ich mich jahrelang mit der Organismusphilosophie Whiteheads, dann mit der Philosophie der symbolischen Formen von Cassirer und hauptsächlich mit der genetischen Epistemologie Piagets beschäftigt hatte, glaubte ich für eine die drei zusammenführende begriffliche Theoriearbeit gut gerüstet zu sein. Auf dem Gebiet der 17 https://doi.org/10.5771/9783495820971 .

Vorwort

Anthropologie hatte ich den Ansatz Piagets auf weitere Felder vorgetragen und traute mir deshalb den Entwurf einer Strukturgenetischen Anthropologie zu. Aber im Bereich von Physik und Biologie, die für eine umfassende organismische Theorie von kapitaler Bedeutung sind, konnte ich keine Kompetenz vorweisen. Nie hätte ich es deshalb gewagt, mich allein an den Aufbau einer den aktuellen Wissenschaften entsprechenden Theorie zu machen. Aber was würde eine organismische Wirklichkeitstheorie erbringen ohne die Aussicht auf einen fundierten naturwissenschaftlichen Part? So war es ein Glücksfall, dass ich mit Gernot G. Falkner zusammentraf. Ausgewiesener Biologe, hatte er nicht wie ich von der Philosophie, sondern von der Biologie her an ein ähnliches Projekt gedacht. Die noch weitgehend in mechanistischen Anschauungen befangene Biologie hielt er einer grundlegenden Revision für bedürftig. Kenner und Bewunderer Whiteheads, wollte er von einer solchen organismischen Position ausgehen. Dazu schien ihm aber eine Transformation Whiteheads im oben angedeuteten Sinn nötig. So schwebte uns von zwei verschiedenen Seiten her das gleiche Projekt vor. Wir beschlossen, uns ans Werk zu machen. Ich begann den Strukturkern der anvisierten Theorie aufzubauen. Gernot G. Falkner verfasste erste Entwürfe einer organismisch revidierten Biologie. Anfänglich dachten wir an ein gemeinsames Buch mit einem grundlagentheoretischen und einem entsprechenden biologischen sowie einem anthropologischen Teil. Aber die Ausführungen sprengten bald die Maße eines Einzelbandes, und wir merkten auch, dass es besser war, bei aller Einheit des Projekts jedem Teil seine Autonomie zu belassen. So sind drei Bände einer Biophilosophie entstanden, die sich nacheinander mit der Grundlegung einer solchen Theorie, einer organismischen Biologie und einer Strukturgenetischen Anthropologie befassen. Wir hoffen, dass von anderen Autoren weitere Beiträge hinzukommen werden, die bisher vernachlässigte Bereiche erschließen. Die hier intendierte Biophilosophie ist ein offenes Projekt, an dem jeder auf seine bereichsspezifische Weise teilhaben kann, der mit uns die gleichen paradigmatischen Grundüberzeugungen teilt. In diesem ersten Band erfolgt die Grundlegung der Theorie der Wirkwesen als einer organismischen und strukturgenetischen Wirklichkeitskonzeption. Hier wird der Strukturkern einer solchen Theorie entwickelt und ansatzweise gezeigt, wie die Wirklichkeit in all ihren Bereichen damit interpretiert werden kann. Aufgabe der nachfolgenden Bände wird es sein, von einem solchen Paradigma aus spe18 https://doi.org/10.5771/9783495820971 .

Vorwort

zifische Interpretationen der verschiedenen Bereiche vorzulegen. Diese können zu einer Revision des hier vorgelegten Strukturkerns führen, so dass dieser in seiner jetzigen Gestalt keineswegs als etwas ein für allemal Festgelegtes gelten will. Im Sinne Whiteheads ist nicht nur die Wirklichkeit etwas Prozesshaftes, sondern auch jede Theorie, die sich mit ihr befasst.

19 https://doi.org/10.5771/9783495820971 .

https://doi.org/10.5771/9783495820971 .

Einführung

1.

Die Theorie der Wirkwesen im Kontext gegenwärtiger Philosophie und Wissenschaft

Die Philosophie der Gegenwart bietet ein disparates Bild. In sachlich-systematischer Hinsicht herrscht weitgehend die Analytische Philosophie vor. Sie widmet sich minutiös auf der Basis der Sprachanalyse der Bearbeitung von Einzelfragen, und sie gilt für viele im angloamerikanischen und deutschen Sprachraum als die einzige Methode, die der Philosophie angesichts der konkurrierenden wissenschaftlichen Verfahren geblieben ist. Besonders in Frankreich ist auch die Phänomenologie noch präsent, die sich vor allem mit den Fragen der menschlichen Existenz befasst. Systematische Entwürfe, die das Wirklichkeitsganze philosophisch erschließen wollen, hat aber weder die Analytische Philosophie noch die Phänomenologie vorgelegt. Dem steht in historisch-hermeneutischer Hinsicht die Beschäftigung mit der Geschichte der Philosophie gegenüber, die inzwischen auch das zwanzigste Jahrhundert eingeholt hat und in der weitgehend immer noch die Interpretation der großen Gestalten dominiert. Die beiden Tendenzen haben einen unterschiedliche Vorstellung davon, was Philosophie sein soll, und stehen sich zumeist verständnislos und ablehnend gegenüber. Von Seiten der Analytischen Philosophie wird der Aktualitätswert der großen geschichtlichen Philosophen in Frage gestellt. Die Zeit der Meisterdenker mit ihren umfassenden Systemen gilt als vergangen, gefordert sei ein Neuanfang, der auf präzise Kleinarbeit setze. Im Rückblick auf den Ganzheitscharakter früherer Systeme kann dann umgekehrt der Analytischen Philosophie ihre mangelnde Weite und Geschlossenheit zum Vorwurf gemacht werden. Der Vorrang der Analyse vor der systematischen Arbeit dürfe in der Philosophie nicht dazu führen, dass man sich in Detailfragen verliere. 21 https://doi.org/10.5771/9783495820971 .

Einführung

Es ist wohl kaum zu bestreiten, dass wir der dominanten Analytischen Philosophie zwar eine Fülle von aufschlussreichen Einzeluntersuchungen verdanken, dass sie aber nicht einen umfassenden Ansatz hervorgebracht hat, der, wie bei den großen Philosophen, eine aufs Ganze gehende Wirklichkeitsdeutung ermöglichen würde. Andererseits hat die Erschließung der Philosophiegeschichte zwar ein nie zuvor gekanntes ideengeschichtliches Wissen gefördert, wie es etwa im Monumentalwerk des Historischen Wörterbuchs der Philosophie zusammengetragen ist, dabei aber auch einer Historisierung der Philosophie Vorschub geleistet, bei der es weniger darauf ankommt, zu wissen, wie es sich bei einer Sachfrage in Wahrheit verhält, als was darüber schon gedacht worden ist. Weder die analytische noch die historisch orientierte Philosophie konnte sich in ein furchtbares Verhältnis zur Wissenschaft setzen. Philosophie und Wissenschaft stehen heute nicht in einer Kooperationsgemeinschaft, in der Ideen ausgetauscht und Grundfragen gemeinsam erörtert werden. Zwar erfüllt die Philosophie sporadisch immer noch ihre kritische Funktion gegenüber einer sich absolut gebenden Wissenschaft, wie im letzten Jahrzehnt die Zurückweisung der Hirnforschung mit ihrer Verneinung der menschlichen Freiheit gezeigt hat. Aber zu einer einheitlichen, Wissenschaft und Philosophie gleichermaßen befriedigenden Theorie, die Gehirn- und Denkprozesse aufeinander abzustimmen vermag, ist es nicht gekommen. Dazu müsste die Philosophie umfassende Deutungsentwürfe vorlegen können, in denen die Ergebnisse einzelwissenschaftlicher Forschung ebenso ihren Platz finden wie die in der Lebenswelt fundierten allgemein menschlichen Annahmen. Zwischen der Fragmentierung der Philosophie einerseits und ihrer Historisierung andererseits versucht nun die hier entworfene Theorie der Wirkwesen einen Mittelweg zu gehen, auf dem auch eine Kooperation mit der Wissenschaft möglich werden soll. Im Rückgriff auf paradigmatische Gestalten von Philosophie und Wissenschaft legt sie einen systematischen Gesamtentwurf einer Wirklichkeitsdeutung vor, die philosophische Grundintentionen aufnimmt, sie aber auch für die einzelwissenschaftliche Forschung fruchtbar macht. Es ist der Versuch, ein umfassendes Denkmodell zu entwickeln, das sich nicht die Absolutheit früherer Systeme anmaßt, sondern revisionsfähig ist, aber in der Weite und Tiefe seiner Fragestellungen ihnen ebenbürtig ist. Bevor wir nach der Herkunft dieses Denkmodells fragen, sei es zunächst im Umriss skizziert. 22 https://doi.org/10.5771/9783495820971 .

Die Theorie der Wirkwesen

Das zentrale Konzept der Theorie ist der Begriff eines Wirkwesens. Unter diesem allgemeinen ontologischen Begriff werden die Entitäten verstanden, aus denen sich die Wirklichkeit zusammensetzt. Darum trägt das Buch den Titel »Die Wirklichkeit der Wirkwesen«. Er ist in einem doppelten Sinn zu verstehen. Er benennt mit »Wirkwesen« die fundamentale Kategorie der vorgelegten Wirklichkeitsinterpretation. Zugleich enthält er aber auch eine Existenzbehauptung: »Wirkwesen« sind das, was wirklich existiert, was letztlich die Wirklichkeit ausmacht. Natürlich ist damit nicht der Anspruch verbunden, dass die hier entwickelte Konzeption der Wirkwesen deckungsgleich mit den Wirkwesen als Realität ist. Theoretische Konzepte haben generell Modellcharakter und treffen die gemeinte Realität – die sogenannten Referenzobjekte – nur annähernd. Das hier vorgestellte Konzept der Wirkwesen ist deshalb nicht ein für allemal festgelegt, sondern grundsätzlich revidierbar. Aber es gibt zumindest die Richtung vor, was für Wesen als real existierend anzunehmen sind. Wenn »Wirklichkeit« und »wirklich« von »wirken« kommt, dann ist es nicht abwegig, »Wirkwesen« als das tatsächlich und effektiv Existierende anzunehmen. Die Konzeption der Wirklichkeit als einer Vielheit von aktiven Wirkwesen hebt sich von der Alltagsauffassung ab, für die die Realität aus passiven »Dingen« besteht. Im Unterschied zu einem »Ding« kommt einem »Wirkwesen« innerlich ein Wirken zu, ohne das es gar nicht existieren könnte, weil es selbst aus diesem Wirken hervorgeht. Ein Wirkwesen ist somit ineins Träger seines Wirkens und Ergebnis seines Wirkens. Es ist im Verbund mit anderen Wirkwesen auf seine Selbstverwirklichung ausgerichtet. Damit weist es Eigenschaften auf, die im Besonderen den Lebewesen zukommen. Der Begriff eines Wirkwesens lässt sich darum in erster Annäherung als die Verallgemeinerung des Begriffs eines Lebewesens verstehen, der diesen nicht nur für die Interpretation des Lebendigen, sondern der Wirklichkeit insgesamt tauglich machen soll. Damit ist die Theorie der Wirkwesen eine organismische Theorie, die in der Wirklichkeit überall Wesen sieht, die in einem mehr oder weniger ausgeprägten Sinn Organismen sind – von den physikalischen Elementarteilchen über die Einzeller bis hin zum Menschen. Sie will eine umfassende Wirklichkeitstheorie sein, die auf der Basis eines abgestuften Begriffs der Wirkwesen eine Interpretation für alle Wirklichkeitsbereiche anbietet, die einheitlich konzipiert und doch in sich differenziert sein soll. Die Wirklichkeit wird als ein Ganzes ver23 https://doi.org/10.5771/9783495820971 .

Einführung

standen, in dem der Zusammenhang der verschiedenen Bereiche ebenso bedeutsam ist wie deren Unterschiede, insbesondere jene von Materie, Leben und Geist. Als eine zugleich philosophische und wissenschaftliche Theorie arbeitet sie mit einem begrifflichen Instrumentarium, das seine philosophische Herkunft nicht verleugnet, zugleich aber auch in der einzelwissenschaftlichen Forschung anwendbar ist. Der wichtigste Scharnierbegriff zwischen Philosophie und Wissenschaft ist der Begriff der Struktur, der den aristotelischen Formbegriff so aufnimmt, dass er zur Grundlage wissenschaftlicher Analyse werden kann. Zusammen mit dem Begriff der Genese gibt er den Rahmen für eine Entstehungstheorie der Wirkwesen ab, die deren Werdensprozesse aus ihrer inneren Organisation und nicht durch bloße Kausalabläufe erklärt. Die Strukturen gehen auseinander hervor und bilden in ihrer Abfolge den Aufbau der anorganischen und organischen Natur, einschließlich der vom Menschen geschaffenen Kultur. Je komplexer diese Strukturen sind, desto mehr eignet den Wirkwesen ein Subjektcharakter, der im Menschen mit seinem Selbstbewusstsein und seiner Selbstbestimmung zum vollen Durchbruch kommt. Der organismische Grundzug der Theorie gewinnt so durch den sogenannten strukturgenetischen Ansatz seine philosophische und wissenschaftliche Gestalt. Ein solches Denkmodell fällt nicht vom Himmel, und die organismische und strukturgenetische Konturierung der Theorie macht bereits ihren Ursprung kenntlich. Es sind vor allem drei Meisterdenker – Alfred North Whitehead, Ernst Cassirer und Jean Piaget –, die transformiert in die Theorie aufgenommen wurden. Darüberhinaus wird man unschwer im Grundsätzlichen ihren aristotelischen Charakter erkennen können. Whitehead, Cassirer und Piaget lassen sich am besten als transformatorische Denker verstehen, die ein klassisches philosophisches Erbe in einer neuen Situation durch seine Umwandlung aktualisiert haben. 1 Whitehead hat vor allem den Umbruch in der modernen Physik zum Anlass genommen, die metaphysischen Fragestellungen von Platon und Aristoteles grundlegend neuen Antworten zuzuführen. Cassirer verallgemeinerte den transzendentalphilosophischen Ansatz Kants und erweiterte ihn in seiner Philosophie der symbolischen Formen zu einer umfassenden Kulturtheorie. Piaget schließlich transfor1

Vgl. dazu Ullrich 2010.

24 https://doi.org/10.5771/9783495820971 .

Die Theorie der Wirkwesen

mierte in seiner genetischen Epistemologie die traditionell philosophische und weitgehend spekulative Erkenntnistheorie in eine empirische Erforschung des Erkenntnisaufbaus, wie er sich in der Entwicklung vom Kind zum Erwachsenen vollzieht. Was nun der Theorie der Wirkwesen den Boden bereitete, ist der Umstand, dass diese drei Denker bei ihren Transformationen zu einer analogen Wirklichkeitskonzeption gelangten. Whiteheads Philosophy of Organism findet sich im genetischen Strukturalismus Piagets in einer für die Forschung adaptierten Form wieder, und den gleichen strukturgenetischen Ansatz hatte Cassirer schon früher für die Kulturwissenschaften propagiert. Damit lässt sich die Behauptung rechtfertigen, dass bei ihnen ein einheitliches Paradigma für Philosophie und Wissenschaft zu finden ist. Weil diese drei Denker zusammen alle Wirklichkeitsbereiche abdecken – Whitehead die Natur, Cassirer die Kultur und Piaget speziell die Erkenntnisentwicklung – kann geradezu von einem Megaparadigma gesprochen werden. Da dieses Megaparadigma hinsichtlich der unterschiedlichsten philosophischen und wissenschaftlichen Richtungen auch eine kritische Funktion wahrnehmen kann, darf es mit gleichem Recht auch als ein Metaparadigma bezeichnet werden. Die Annahme, dass bei Whitehead, Cassirer und Piaget ein für Philosophie und Wissenschaft gleichermaßen fruchtbares Mega- und Metaparadigma vorliegt, ist inzwischen interdisziplinär bewährt worden. 2 Es hat sich gezeigt, dass Vertreter verschiedenster Disziplinen auf dieser Basis miteinander ins Gespräch und zu grundsätzlichen Übereinstimmungen kommen können. Die Idee einer grundlegenden Affinität zwischen diesen Denkern konnte bestätigt werden. Originale Weiterführungen demonstrierten, dass das Potenzial ihrer Ansätze noch längst nicht ausgeschöpft ist. Der Entwurf einer Theorie der Wirkwesen geht nun einen Schritt weiter. Mit ihr wird der Versuch unternommen, die paradigmatische Wesensverwandtschaft, Kompatibilität und Komplementarität der drei Ansätze zu einer Einheit zusammen zu führen. Aus ihnen soll eine einheitliche Theorie hervorgehen. Das ist gleichsam eine Transformation zweiten Grades, die die transformatorischen Leistungen der drei Denker nochmals transformiert, um sie theoretisch in eine Einheit zu bringen. Mittelstück dieses Unterfangens ist die Schaffung eines Strukturkerns, in dem die Grundbegriffe und 2

Vgl. Fetz/Seidenfuß/Ullrich 2010.

25 https://doi.org/10.5771/9783495820971 .

Einführung

Prinzipien der Theorie zusammengefasst sind, so dass kenntlich wird, dass diese Theorie tatsächlich eine einheitliche Gestalt hat. Das schließt nicht aus, dass bereichspezifische Kernerweiterungen durchaus ihre eigenen Differenzierungen ins Spiel bringen können. Bevor wir im Folgenden auf den systematischen Aufbau der Theorie eingehen, wollen wir genauer die Etappen ihrer Vorgeschichte aufrollen. Es gilt zu zeigen, in welche Verbindung die Ansätze der drei Denker gebracht wurden, damit aus ihnen eine einheitliche Theorie entstehen konnte.

2.

Die Genealogie der Theorie der Wirkwesen

Die Idee zu der hier vorgelegten Theorie der Wirkwesen ist aus einer langjährigen Beschäftigung mit der Philosophie von Alfred North Whitehead hervorgegangen. Whiteheads Denken kann auch heute noch – neunzig Jahre nach dem Erscheinen seines Hauptwerks Process and Reality – als der innovativste Ansatz auf dem Gebiet der Naturphilosophie und Metaphysik gelten. Whitehead reflektiert die fundamentalen Umwälzungen, die zu Beginn des letzten Jahrhunderts auf dem Gebiet der Naturwissenschaften und insbesondere der Physik stattgefunden haben. In der Neuzeit herrschte im Gefolge Newtons ein mechanistischer Materialismus vor, der die Welt nach dem Vorbild einer Maschine erklärt und alles auf kausalursächlich determinierte Abläufe zurückführt. Ihm stellt Whitehead eine organismische Naturauffassung entgegen, die sich am Lebendigen mit seiner ganzheitlichen Struktur orientiert und entsprechend auch finalursächlich bestimmte Prozesse kennt. Whiteheads nicht nur das Lebendige, sondern die ganze Naturwirklichkeit einbegreifende Philosophy of Organism ist so zum Vorbild organismischen Denkens geworden, und im Gefolge Whiteheads versteht sich auch unsere Theorie als ein organismischer Ansatz. Whiteheads Denken beschränkt sich aber nicht auf eine Naturphilosophie. Er hat eine Metaphysik entworfen, die die Wirklichkeit ganz allgemein zu interpretieren versucht. Seine eigens dafür geschaffenen Begriffe und Theoreme greifen den klassischen Bestand platonischer und aristotelischer Philosophie auf, unterziehen ihn aber einer fundamentalen Revision, um die Wirklichkeit als ein evolutionäres Prozessgeschehen deuten zu können. Wer von Platon und Aristoteles herkommt, wird keinen anderen Denker finden, bei dem ihm 26 https://doi.org/10.5771/9783495820971 .

Die Genealogie der Theorie der Wirkwesen

urphilosophisches Gedankengut in einer so radikal erneuerten Form begegnet wie bei Whitehead. Das Kernstück von Whiteheads Kategoriensystem ist sein Begriff einer actual entity. Was in der aristotelischen Tradition »Substanz« hieß, wird hier transformiert aufgenommen. Nicht starre, immer schon vorliegende, mit Qualitäten versehene »Wirklichkeitsklötzchen« machen den fundamentalen Bestand dessen aus, was wirklich ist, sondern dynamische Prozesseinheiten, die ihr Sein ihrem Wirken verdanken – einem Wirken, das auf sie selbst als das eigentlich Bewirkte bezogen ist. Dass Whitehead damit ohne es zu wissen den genuin aristotelischen Substanzbegriff – die ousia – wieder zur Geltung brachte, entgegen einer verflachten logischen Reduktion auf ein letztes Aussagesubjekt, ist ein Paradox der Philosophiegeschichte. 3 Der für unsere Theorie zentrale Begriff eines Wirkwesens ist in Analogie zu Whiteheads Konzept einer actual entity gebildet. Auch einem Wirkwesen ist innerlich ein Wirken zugehörig. Es wird durch sein Wirken konstituiert, ist ineins Träger und Resultat seines Wirkens. Damit hebt sich ein »Wirkwesen« von einem »Ding« ab, das an sich passiv ist, nicht von innen heraus wirkt, sondern ein Wirken nur von außen über sich ergehen lässt. Wenn Whitehead eine actual entity als ein Geschöpf sieht, das der Schöpfer seiner selbst ist – a selfcreating creature 4 – so gilt das auch für die Wirkwesen, die nicht nur ihre Prozesse tragen, sondern auch aus ihnen hervorgehen. Damit ist auch Whiteheads berühmte Doppelbestimmung einer actual entity als sub-ject und super-ject, als etwas ihrem Prozess »ZugrundeLiegendes« und als Resultat »Darüber-Liegendes«, auf die Wirkwesen übertragbar. Gleichzeitig ist auf beiden Seiten die einem Subjekt innewohnende Zielstrebigkeit mitgedacht, die ein solches Wesen zum Entwurf seiner selbst macht. Die vielfältigen Aspekte der in Anlehnung an die actual entities konzipierten Wirkwesen differenziert in den Blick zu nehmen, wird eine Hauptaufgabe dieser Grundlegung sein. Whitehead konzipierte seine Theorie der actual entities als eine monadologische Theorie im Sinne Leibnizens. Die actual entities sind für ihn kleinste letzte Einheiten, die er kosmologisch noch unterhalb der uns bekannten physikalischen Elementarteilchen ansetzt. Die 3 4

Vgl. Fetz 1981a, 209–230. Whitehead 1927, 89, dt. 78.

27 https://doi.org/10.5771/9783495820971 .

Einführung

Einheiten der Naturwirklichkeit und des Lebendigen, die unsere Lebenswelt ausmachen, lässt er aus immer komplexeren Gesellschaftsbildungen der actual entities hervorgehen. Das gibt ihm die Freiheit, seine Theorie ohne den einschränkenden Blick auf eine bestimmte Art von Entitäten zu konzipieren. In seine Theorie kann er vielmehr ganz allgemein alles einbringen, was wir aufgrund nicht nur unserer oberflächlichen Betrachtung, sondern im Rückgang auf unsere tiefsten Erfahrungen mit der Wirklichkeit verbinden. Dieser Vorgehensweise verdankt so seine Konzeption einer actual entity ihren Allgemeinheitscharakter und ihre gleichzeitige Differenziertheit, die sie, wie Whitehead es will, zum tauglichen Mittel für eine umfassende und gleichzeitig spezifizierende Interpretation aller Wirklichkeitsformen macht. Der Nachteil dieses Vorgehens ist jedoch, dass auch dort, wo wir in der Wirklichkeit natürliche Einheiten sehen, wie das insbesondere bei den höheren Formen des Lebendigen und beim Menschen der Fall ist, diese Einheit verloren geht und einer Vielheit miteinander verbundener Entitäten Platz machen muss. Whitehead versucht diese Einheit durch die Gesellschaftbildung von actual entities wieder herzustellen. Das mag bei den Dingen angehen, die man mit Leibniz als Aggregate ursprünglicher Einheiten ansehen kann. Aber es bleibt fraglich, ob sich durch den komplexen Verbund von actual entities lebendige Ganzheiten wirklich rekonstruieren lassen, ohne dass deren übergreifende Einheit verloren geht. Wer sich von Whiteheads Denken inspirieren lassen will und seinen Ansatz aufgreifen und weiterführen möchte, steht damit vor der Wahl, ob er das als »orthodoxer« Whiteheadianer zu tun gedenkt, der den monadologischen Rahmen von Whiteheads System beibehält, oder ob er eine Revision seines Denkens anstrebt, die dieses auf die Ebene unserer natürlichen Lebenswelt zurückholt. Für unsere Alltagserfahrung bekunden sich zumindest die höheren Lebewesen trotz ihrer inneren Differenziertheit als Organismen eindeutig als eine Einheit, die sie nur als ein individuelles Wesen auffassen lässt. Deshalb ist es für die wichtigsten philosophischen Richtungen wie Phänomenologie und Analytische Philosophie eine Selbstverständlichkeit, Tier und Mensch jeweils als ein Wesen zu analysieren. Auch die Wissenschaften, namentlich die Biologie und die Psychologie, erklären sie als für sich bestehende Einheiten. Da unsere Theorie die Nähe zur Lebenswelt nicht aufgeben möchte, aber auch den Anschluss an die Wissenschaften sucht, ent28 https://doi.org/10.5771/9783495820971 .

Die Genealogie der Theorie der Wirkwesen

scheidet sie sich dafür, alle ganzheitlichen Organismen jeweils als ein Wirkwesen aufzufassen. Allein die eigentlichen Dinge bilden hier eine Ausnahme. Äußerlich treten sie zwar als Einheiten in Erscheinung, verdanken aber ihre Einheit nicht einem inneren Gestaltprinzip, sondern äußeren Ursachen. Es ist eine der großen Aufgaben einer organismischen Theorie, auch hier auf die ursprünglichen, organismisch verfassten Einheiten zurückzugehen, um so letztlich die durchgängige Organizität der Wirklichkeit behaupten zu können. Im Rahmen unserer Grundlegung werden wir dieses Problem zumindest auf eine prinzipielle Weise angehen müssen. Eine Revision und Weiterführung von Whiteheads Philosophie, die die Nähe zur Lebenswelt und den Anschluss an die Wissenschaften sucht, kann nur gelingen, wenn sie innerhalb der Wissenschaften ein Paradigma ausfindig machen kann, das die gleichen Grundcharaktere aufweist wie die Philosophie Whiteheads. Es muss, anders gesagt, ein Paradigma sein, das mit ebensolcher Entschiedenheit die Wende vom mechanistischen zu einem organismischen Denken vollzogen hat. Die Wirklichkeit darf nicht als eine starre Welt einander äußerlicher Dinge, sondern muss als ein solidarischer Zusammenhang dynamischer Prozesseinheiten begriffen werden, denen eine kreative Form von Subjektivität zukommt, die eine Höherentwicklung sowohl der einzelnen Wesen als auch der Wirklichkeit insgesamt möglich macht. Unter den im 20. Jahrhundert hervorgetretenen wissenschaftlichen Paradigmen entspricht allein der genetische Strukturalismus Piagets einem solchen Profil. So kommt es nicht von ungefähr, dass die Theorie der Wirkwesen ihre philosophische und wissenschaftliche Gestalt dadurch gewinnt, dass sie das organismische Denken Whiteheads mit dem strukturgenetischen Ansatz Piagets verbindet. Piaget ist mehr als nur der geniale Kinderpsychologe, der unser Wissen vom Menschen revolutionierte, indem er nachwies, dass das Kind kein kleiner Erwachsener ist, sondern in seiner eigenen Erkenntniswelt lebt. Die kindliche Wirklichkeitsauffassung bildet sich im Laufe der Erkenntnisentwicklung ständig neu, bis sie schließlich zu den für den Erwachsenen selbstverständlichen Anschauungs- und Denkformen gelangt. Dieser Entwicklungsprozess vollzieht sich laut Piaget in einer sequenziellen Ordnung, das heißt als eine Abfolge von Stufen, die nach einer inneren Logik auseinander hervorgehen, sodass keine Stufe übersprungen werden kann. Piagets Stufentheorie der Erkenntnisentwicklung, die immer wieder überprüft wurde, gehört heute zum Kernbestand der Entwicklungspsychologie. 29 https://doi.org/10.5771/9783495820971 .

Einführung

Einen maßgeblichen Anteil an unserer Theorie gewinnt Piagets Konzeption der Erkenntnisentwicklung jedoch erst durch die Erklärung, die er ihr gab. Jede Erkenntnisstufe erhält für Piaget ihre Konsistenz dadurch, dass sie von einer einheitlichen Struktur geprägt wird, die als Formprinzip das Denken bestimmt. Die Erkenntnisentwicklung beruht demzufolge auf einer Sukzession von Strukturbildungen, bei der die nachfolgenden Strukturen dank inneren Regelungsvorgängen aus den vorangehenden hervorgehen. So wird der Begriff der Genese zum komplementären Begriff der Struktur. Struktur und Genese sind miteinander verschränkt: Jede Struktur geht aus einer Genese hervor, wie umgekehrt jede Genese eine Struktur voraussetzt. Damit ist das Grundprinzip des genetischen Strukturalismus ausgesprochen. Er nimmt eine mittlere Position zwischen einem Genetismus ohne Struktur ein, für den sich Entwicklungsverläufe auf bloße Kausalfolgen reduzieren, und einem Strukturalismus ohne Genese, für den alle Strukturen immer schon vorgebildet sind. Da Piaget die kognitive Entwicklung in der biologischen verankert und so an die Entwicklung des Lebendigen überhaupt zurückbindet, wird bei ihm das Modell der Erkenntnisentwicklung zum Entwicklungsmodell überhaupt. In dieser seiner allgemeinen Form nehmen wir den genetischen Strukturalismus als ein universales Erklärungsmodell in unsere Theorie auf. Damit wird postuliert, dass sich die Wirklichkeit insgesamt als eine Filiation von Strukturen begreifen lässt, als ein kontinuierlicher Zusammenhang von Strukturen also, die auseinander hervorgehen. Diese Kontinuität eines einheitlichen evolutiven Prozesses, der von den physikalischen Elementarteilchen bis hin zu den höchsten Formen des Organischen reicht, schließt eine qualitative Differenziertheit der verschiedenen Entwicklungsstufen nicht aus, weil die ganze Entwicklung als ein kreativer Prozess gedeutet wird. Materie und Leben, Leben und Geist bedingen einander, heben sich aber qualitativ voneinander ab. Damit situiert sich unsere Theorie jenseits von einem Reduktionismus, der die Unterschiede zwischen den verschiedenen Erscheinungsformen des Wirklichen nivelliert, indem er die höheren Formen auf die niedrigeren reduziert. Sie überwindet aber auch den Dualismus neuzeitlicher, cartesischer Prägung, der Materie und Geist auseinander riss und durch eine unübersteigbare Kluft voneinander trennt. Wie vormals der aristotelische Formbegriff, so ist auch der hier zur Anwendung kommende Strukturbegriff ein allgemeines Erklärungsprinzip, das für die jedem Wirklichen innewohnende Gestalt 30 https://doi.org/10.5771/9783495820971 .

Die Genealogie der Theorie der Wirkwesen

steht, diese durch entsprechende Differenzierungen aber auch stufenspezifisch zu fassen vermag. Als ein Begriff von philosophischer Tragweite, der auch wissenschaftliche Analysen tragen kann, bildet der Strukturbegriff zudem das zentrale Bindeglied zwischen Philosophie und Wissenschaft. Piagets Lebenswerk ist die genetische Epistemologie, eine Erkenntnistheorie, die das Werden wissenschaftlichen Denkens in der menschlichen Entwicklung vom Kind bis zum jungen, wissenschaftsfähigen Erwachsenen verfolgt, parallel zu seinem geschichtlichen Werdegang. Sie zeichnet damit die Genese der Rationalität im engeren Sinn nach, wie es sich in Logik und Mathematik und in den Naturwissenschaften bekundet. Die Entwicklung der Wissenschaft ist aber nicht gleichbedeutend mit der Entwicklung der Kultur überhaupt, die sich auch in der Kunst, dem Recht, der Religion und in weiteren Formen manifestiert. Für alle diese Entwicklungsformen hat Piaget jedoch mit dem genetischen Strukturalismus einen generellen Rahmen geschaffen. In dieser umfassenden Perspektive des strukturgenetischen Ansatzes kann die genetische Epistemologie somit nur als eine spezifische, auf die Wissenschaft bezogene Entwicklungstheorie gelten. Für die Theorie der Wirkwesen, die auf das Gesamt von Natur und Kultur abzielt, genügt die genetische Epistemologie als Parameter nicht. Folglich stellt sich die Frage, ob es einen verwandten Ansatz gibt, der über das Werden der Wissenschaft hinaus alle Kulturformen einzufangen, das heißt eine umfassende Kulturtheorie zu begründen vermag. Als eine solche Kulturtheorie kann die Philosophie der symbolischen Formen von Ernst Cassirer gelten. Sie stimmt insofern mit der Theorie Piagets überein, als Cassirer schon Jahrzehnte vor Piaget ein Strukturdenken verfochten hat, bei dem sich der Strukturbegriff nach den gleichen Prinzipien mit dem Begriff der Genese verbindet. Indem Cassirer die sich formierende Struktur als forma formans von der formierten Struktur als forma formata unterschied 5 und entsprechend alle organismischen Ganzheiten als von innen gestaltete Prozesseinheiten begriff, überwand er ein mechanistisches Kausaldenken, das alle Werdensprozesse durch äußere Ursachen determiniert sieht. Übersteigt Piagets genetischer Strukturalismus generell den cartesischen Dualismus von Materie und Geist, so hat Cassirer insbeson5

Cassirer 1995, 18.

31 https://doi.org/10.5771/9783495820971 .

Einführung

dere die von der Lebensphilosophie aufgerissene Kluft zwischen Geist und Leben überbrückt. Was das Leben auf allen Stufen schafft, sind neue Formen, und was den Geist auszeichnet, aber gleichzeitig in die Kontinuität des Lebendigen einordnet, ist die Schaffung symbolischer Formen. Im Symbol bindet sich ein geistiger Bedeutungsgehalt an einen sinnlich wahrnehmbaren Träger. Das ist bei der Sprache so, aber auch bei einem Kunstwerk, einem wissenschaftlichen Modell und ebenso bei einem religiösen Ritual. So ist das Symbol das durchgängige Medium für alle Kulturformen, das in ihnen jeweils eine spezifische Gestalt annimmt und so variiert, aber sich funktionell gleich bleibt, da es immer Geistiges in sinnlicher Form vergegenwärtigt. Traditionell wird der Mensch als animal rationale definiert. Aber diese Definition kann Cassirer nicht genügen, da sie den Menschen einseitig als ein rationales Wesen fasst und so die Vielfalt der von ihm geschaffenen Kulturformen nicht berücksichtig. Auf eine umfassende Weise kann der Mensch nur als das animal symbolicum definiert werden, das sich in der Kultur sein symbolisches Universum erschafft. 6 Für die Theorie der Wirkwesen bedeutet dies, dass nicht allein die von Piaget begründete genetische Epistemologie, sondern nur eine umfassende genetische Symboltheorie oder genetische Semiologie 7 dem Menschen als Kulturträger gerecht werden kann. Die Theorie der Wirkwesen versucht ein solches Projekt durch die Konzeption einer Strukturgenetischen Anthropologie zu realisieren, die den Menschen als Symbolwesen in seinen verschiedenen Entwicklungslinien einfängt, durch die er zum Schöpfer seiner Kultur wird. Wurde hier historisch der Entstehungsweg der Theorie der Wirkwesen nachgezeichnet, indem wir nacheinander die Bedeutung von Whitehead, Piaget und Cassirer für die Theorie herausstellten, so wird das erste Kapitel der Grundlegung systematisch die Leitideen entwickeln, die sich daraus für unsere Theorie ergeben.

3.

Die Strukturform der Theorie

Die Theorie der Wirkwesen will der umfassende Entwurf einer Wirklichkeitslehre sein, die die Wirklichkeit insgesamt mittels allgemeiner Grundbegriffe und Prinzipien interpretiert, aber zugleich spezifisch 6 7

Cassirer 1944, 26. Vgl. Fetz 1981b.

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Die Strukturform der Theorie

auf die Eigenheiten der jeweiligen Wirklichkeitsbereiche eingeht. Generelle philosophische Theoreme sollen damit in ihr ebenso Platz finden wie die Phänomenologie und Analytik spezieller Problemfelder, aber auch die Resultate einzelwissenschaftlicher Forschung. Sie will dem Philosophen und Wissenschaftler ein allgemeinbegriffliches Instrumentarium in die Hand geben, das er selbst als Interpretationsmittel einsetzen und dabei je nach der Spezifität der Probleme erweitern und umgestalten kann. Damit ist schon behauptet, dass die Theorie der Wirkwesen grundsätzlich revisionsfähig sein soll. Welche Gestalt muss sich eine Theorie geben, damit sie diese Postulate erfüllen kann? Mit dieser Frage beschäftigen wir uns im zweiten Kapitel. Von den Autoren, von denen sich die Theorie der Wirkwesen herleitet, hat insbesondere Whitehead eine Methodologie vorgelegt, die weitgehend den obigen Erfordernissen Rechnung trägt. Für Whitehead hat die Philosophie die Aufgabe, ein System allgemeiner Ideen, das »kategoriale Schema« zu entwerfen, mittels dessen sich alle Momente unserer Erfahrung, aber auch die Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung interpretieren lassen. Dieses Interpretationsschema soll gleichzeitig in sich kohärent und auf alle Erfahrungselemente anwendbar sein. Es muss ein in sich stimmiges allgemeines Aussagensystem bilden, hat aber auch die Funktion einer Matrix, aus der sich bereichsspezifische Aussagen herleiten lassen. Um für neue Erfahrungen und Forschungsergebnisse offen zu sein, wird es nicht ein für alle Mal dogmatisch festgelegt, sondern ist grundsätzlich revidierbar, behält also immer einen Versuchscharakter. 8 Wir werden sehen, dass diese Wesens- und Funktionsbestimmung des Whitehead’schen »kategorialen Schemas« weitgehend mit der Aufgabe übereinstimmt, die wir in unserer Theorie dem »Strukturkern« zuweisen. Aber Whitehead hat ja eine monadologische Theorie entworfen, in der alle actual entities prinzipiell gleich sind, was bedeutet, dass sie sich auch mit dem gleichen Kategorienschema interpretieren lassen. Whiteheads Monadologie hat jedoch zur Folge, dass er alle höheren Organismen als komplexe Gesellschaftsbildungen von actual entities interpretieren muss, sodass deren ursprüngliche Einheit verloren geht. Wir haben Whiteheads Monadologie in dem Sinn revidiert, dass wir die ursprünglichen organismischen Einheiten wieder als solche gelten lassen und sie nicht in Vielheiten auflösen. Entsprechend sind auch die unserer Theorie zugrunde gelegten 8

Vgl. Whitehead 1929, 3 f., dt. 33.

33 https://doi.org/10.5771/9783495820971 .

Einführung

Wirkwesen in sich stärker differenziert als Whiteheads actual entities, da sie die natürliche Stufenordnung wiederspiegeln, die wir gemeinhin und auch bei der Differenzierung der Wissenschaften in der Wirklichkeit annehmen. Für die Theoriebildung hat das zur Folge, dass sie viel stärker als bei Whitehead bereichsspezifisch ausdifferenziert sein muss. Demzufolge muss die Theorie der Wirkwesen sich eine komplexe Gestalt geben. Sie muss um einen generellen konzeptuellen Kern gebildet sein, der Whiteheads »kategorialem Schema« entspricht, aber auf der Grundlage dieses Theoriekerns auch bereichsspezifische Theorieteile konstruieren, die eigens auf die großen Wirklichkeitsbereiche – die unbelebte Natur, das Lebendige, den Menschen – abgestimmt sind. Lässt sich nun ein solchermaßen umrissenes Theoriekonzept präzisieren? Die Theorie der Wirkwesen versteht sich als ein Megaparadigma für Philosophie und Wissenschaft, und so liegt es nahe, nach einem präziseren Theoriekonzept im Umkreis der von Kuhn angeregten Paradigmentheorie Umschau zu halten. Eine Weiterführung Kuhns, die sich dafür besonders eignet, ist die von Wolfgang Stegmüller vorgelegte logische Rekonstruktion Kuhns, die Stegmüller im Anschluss an den Physiktheoretiker J. D. Sneed entwickelt hat. 9 Gehen wir kurz auf sie ein, um anschließend das Grundkonzept vorstellen zu können, das für den Aufbau unserer Theorie bestimmend ist. Einzelheiten kommen in dem der Methodologie gewidmeten zweiten Kapitel ausführlich zur Sprache. Stegmüller bezeichnet seine wissenschaftstheoretische Konzeption als den Non Statement View physikalischer Theorien und hebt sie vom Statement View ab, der für mathematische Theorien charakteristisch ist. Letztere werden als Systeme von Aussagen konstruiert, die sich streng voneinander ableiten lassen: von den Axiomen und Definitionen werden nach genauen Regeln die Theoreme deduziert. Anders verhält es sich bei physikalischen und generell bei empirischen Theorien. Sie sind nicht deduktive Aussagensysteme, sondern strukturale Gebilde einer anderen Art. Sie bestehen aus einem Beziehungsgefüge, das sich aus einem Strukturkern und seinen intendierten Anwendungen zusammensetzt; beides zusammen bildet ein Paradigma. Der Strukturkern, die logische Komponente der Theorie, wird vor allem durch die mathematische Grundstruktur und die Grundgesetze gebildet, die bei physikalischen Erklärungen zur Anwendung 9

Vgl. Stegmüller 1973, Sneed 1971.

34 https://doi.org/10.5771/9783495820971 .

Die Strukturform der Theorie

kommen. Die Anwendungsbereiche, die empirische Komponente der Theorie, sind offen. Eine physikalische Theorie kann sich neue Anwendungsbereiche erschließen, aber auch alte verlieren. Sie funktioniert aber nur dann, wenn sie Anwendungsbereiche vorweisen kann, in denen sie Erfolg hat. Diese bilden die paradigmatische Beispielsmenge der Theorie. »Normale« Wissenschaft im Sinne Kuhns besteht darin, dass Kernerweiterungen vorgenommen werden, mittels deren sich neue Anwendungsbereiche erschließen lassen. Zur »außerordentlichen« Wissenschaft kommt es dann, wenn alle Versuche der Erschließung neuer Bereiche scheitern und infolgedessen der Strukturkern selbst in Frage gestellt wird. Wenn nun ein stärkerer Rivale die Theorie verdrängt und der alte Strukturkern durch einen neuen ersetzt wird, findet ein Paradigmenwechsel statt, anders gesagt eine wissenschaftliche Revolution. Auch die Theorie der Wirkwesen basiert in ihrem Aufbau auf der Unterscheidung des Strukturkerns von den intendierten Anwendungsbereichen, und auch für sie werden neue Anwendungsbereiche durch Kernerweiterungen erschlossen. Anders als bei physikalischen Theorien besteht aber für sie der Strukturkern nicht aus einer mathematischen Grundstruktur und den entsprechenden Grundgesetzen, sondern aus ontologischen Begriffen und Prinzipien. Das ist dadurch bedingt, dass der Strukturkern das Instrument für eine allgemeine Wirklichkeitsinterpretation sein soll. Aber selbst physikalische und generell naturwissenschaftliche Theorien kommen nicht ohne ontologische Grundannahmen aus, auch wenn diese in den meisten Fällen nur implizit vorausgesetzt und nicht eigens expliziert werden. So unterschied auch Kuhn zwischen dem logisch-mathematischen und dem ontologischen Aspekt eines Paradigmas. 10 Es versteht sich von selbst, dass die Theorie der Wirkwesen als ein konsequent wissenschaftliches und philosophisches Megaparadigma größten Wert darauf legen muss, im Strukturkern ihre ontologischen und damit philosophischen Voraussetzungen möglichst umfassend und genau zur Sprache zu bringen. Durch die Kernerweiterungen wird der Strukturkern auf spezielle Wirklichkeitsbereiche abgestimmt. Nach der gängigen Unterteilung sind dies die unbelebte Natur, das Lebendige und der Mensch als Geistwesen. Die Spezifität dieser Bereiche ergibt sich aus den qualitativen Unterschieden, die sie voneinander abheben. Entsprechend 10

Kuhn 1970, 206 f.

35 https://doi.org/10.5771/9783495820971 .

Einführung

sind für sie jeweils eigene Spezifizierungen der allgemeinen Aussagen erfordert, die sich über die Wirklichkeit machen lassen. Diese Spezifizierungen zu eruieren ist die Aufgabe der jeweiligen Kernerweiterungen. Durch sie nimmt der Strukturkern eine bereichsspezifische Form an. Es wird das konstruiert, was die Phänomenologie eine »Regionalontologie« nennt. Diese muss ihre Adäquatheit dadurch erweisen, dass sie die in einem Bereich anerkannten Erkenntnisse aus Philosophie und Wissenschaft in sich aufnehmen kann oder zumindest mit ihnen kompatibel ist. Diese Übernahme kann allerdings nicht kritiklos erfolgen. Immer muss die im Strukturkern grundgelegte Gesamtsicht der Wirklichkeit zur Geltung gebracht werden. Nur so kann die Theorie der Wirkwesen sich als eine einheitliche und doch bereichsspezifisch differenzierte Theorie etablieren. Strukturkern und Kernerweiterungen stehen in einem Verhältnis wechselseitiger Anpassung und Korrektur. Zeigt sich, dass der Strukturkern in seiner bisherigen Form nicht die nötigen Grundlagen bereitstellt, um für ein bestimmtes Gebiet eine erfolgreiche Kernerweiterung vornehmen zu können, so muss er entsprechend weiter ausgebaut werden. Umgekehrt können Phänomene, die sich nicht in den Rahmen des Strukturkerns einfügen lassen, auch eine Korrektur oder zumindest eine Relativierung bestimmter Aussagen des Strukturkerns erzwingen. Die Arbeit mit und an der Theorie der Wirkwesen vollzieht sich so im Idealfall als kommunikativer Prozess einer Forschungsgemeinschaft, in der jedes Mitglied durch die Erweiterung der Theorie oder durch ihre Korrektur seinen Anteil am Ganzen einbringt.

4.

Der Strukturkern der Theorie

Der im dritten Kapitel vorgestellte Strukturkern ist das Herzstück der Theorie der Wirkwesen, ihre pulsierende Mitte, aus der die Kernerweiterungen ihre richtungweisende Inspiration gewinnen, in die umgekehrt aber auch die allgemein bedeutsamen Erkenntnisgewinne der Kernerweiterungen einmünden. Soll die Theorie Erfolg haben, so muss der Strukturkern von Anfang an in einer möglichst adäquaten Form konzipiert werden, dann aber auch durch stetige Begriffsarbeit immer weiter verfeinert werden. In seiner jetzigen Gestalt ist der Strukturkern aus der Zusammenarbeit eines Philosophen, der insbesondere auf dem Gebiet der Anthropologie gearbeitet hat, und 36 https://doi.org/10.5771/9783495820971 .

Der Strukturkern der Theorie

eines die Grundlagen seiner Wissenschaft neu erarbeitenden Biologen hervorgegangen. Kein Zweifel, dass der Strukturkern eine umfassendere Form gewonnen hätte, wenn auch ein Physiker an seiner Konstruktion beteiligt gewesen wäre. Aber eine entsprechende ReKonstruktion des Strukturkerns, auch unter Einbeziehung weiterer Wissenschaften, ist im Prinzip jederzeit möglich. Der Strukturkern lässt sich als der Versuch charakterisieren, die Ideen Whiteheads, Cassirers und Piagets auf einer allgemein aristotelischen Basis in eine umfassende und einheitliche Form zu bringen. Präsentieren wir summarisch den Aussagenkomplex, aus dem sich der Strukturkern zusammensetzt. Eine ausführliche Darlegung, Begründung und historische Einordnung muss einem eigenen, dem zentralen dritten Kapitel dieser Grundlegung vorbehalten bleiben. Indem die Theorie die Wirklichkeit als eine Vielheit von Wirkwesen konzipiert, etabliert sie sich als eine realistische und pluralistische Theorie. Entsprechend leiten sich auch die Grundprinzipien der Wirklichkeitsinterpretation, nämlich das Existenz-, das Auslegungsund das Erklärungsprinzip, von der Annahme von Wirkwesen her. Die Wirkwesen sind Subjekte, die durch Strukturen gebildet sind und in den Systemen ihrer Umwelt existieren, mit denen sie interagieren. Sie sind ganzheitliche, sich selbst regelnde Organismen mit ihren je eigenen Werdensprozessen, die für sie konstitutiv sind. Sie kennen eine stufenförmige Entwicklung, und zwar sowohl als Einzelwesen als auch in ihrer Gesamtheit. Subjektdenken, Struktur- und Prozessdenken kommen damit in einer zugleich organismischen und evolutionären Theorie zur Deckung. Die Wirkwesen – wie die Wirklichkeit überhaupt – tragen ihren Namen deshalb, weil ihnen das Wirken innerlich ist. Ihr Wirklichsein ist die Wirkung ihres Wirkens, wie auch ihre Gestalt das durch ihr Wirken Bewirkte ist. Ihr Wirken besteht in der Aneignung und Umwandlung von Außenelementen zum Zwecke ihres Selbstaufbaus; es ist damit letztlich Selbstverwirklichung. Die Theorie ist also in dem Sinn aktualistisch, dass sie das esse, das Sein von Wirkwesen konstitutiv von ihrem agere, ihrem Agieren abhängig sein lässt. Struktur und Genese sind das Begriffspaar, mit denen der Werdensprozess eines Wirkwesens analysiert wird. »Struktur« steht für das ganzheitliche Organisationsprinzip eines Wirkwesens, »Genese« für den Werdensprozess selbst, der im Ausgang von einer strukturierenden Anfangsstruktur auf die strukturierte Endstruktur abzielt. Gehören Anfangs- und Endstruktur unterschiedlichen Wirklichkeits37 https://doi.org/10.5771/9783495820971 .

Einführung

stufen an, so bedeutet der Werdensprozess eine Höherentwicklung. Es sind die Wirkwesen selbst, die in Interaktion mit ihrer Umwelt über Selbstregelungsprozesse eine solche Höherentwicklung vorantreiben. Damit stellt sich der Entwicklungsprozess sowohl eines einzelnen Wirkwesens als auch der Wirklichkeit insgesamt als eine Filiation von Strukturen dar. In diesem genetischen Strukturalismus nimmt die Strukturierung im Sinne einer Neubildung von Strukturen die zentrale Stelle ein. Solche Neubildungen gehen aus einem kreativen Prozess hervor und sind nicht auf ihre Vorformen zurückführbar. Damit versteht sich die Theorie der Wirkwesen generell als eine zugleich konstruktivistische und nichtreduktionistische Theorie. Wirkwesen erlangen eine komplexe Form durch Gesellschaftsbildungen. Bei den niedrigeren Wirkwesen entstehen daraus Aggregate, die, wie die Dinge, oberflächlich betrachtet sich als passiv darstellen. Höhere Wirkwesen setzen sich aus einer Vielheit von Strukturen und Substrukturen zusammen, die jedoch einer Gesamtstruktur unterstellt sind, dank der sie eine ursprüngliche Einheit und Ganzheit bilden. Wirkwesen werden wirklich, indem sie Mögliches in Wirkliches überführen. Neben den realen, zeitlich bedingten Möglichkeiten nimmt die Theorie der Wirkwesen auch überzeitliche reine Möglichkeiten an, die den Charakter von idealen Formen haben. Die reale Wirklichkeit ist die Konkretion solcher idealer Formen. Die idealen Formen machen die geistige Dimension der Wirklichkeit aus. Ideales und damit Geistiges ist in der Natur auf eine unbewusste Weise präsent. Der Mensch jedoch kann erkennend und wollend Ideales eigens als solches ergreifen und zu verwirklichen versuchen. Die Theorie der Wirkwesen will damit den Dualismus von Materie und Geist ebenso überwinden wie die einseitigen Formen von Idealismus und Materialismus.

5.

Die organismische Sicht der unbelebten Natur

In den drei folgenden Kapiteln dieser Grundlegung wollen wir Vorüberlegungen zur organismischen und strukturgenetischen Interpretation der Natur und des Lebendigen anstellen, die für den umfassenden Geltungsanspruch der Theorie der Wirkwesen unerlässlich sind. Sie zielen auf ein genuin ökologisches Naturverständnis ab, das die Naturwesen einschließlich des Menschen als miteinander solidarisch 38 https://doi.org/10.5771/9783495820971 .

Die organismische Sicht der unbelebten Natur

begreift und damit eine ökologische Ethik begründen kann, die in dieser Grundlegung jedoch nicht entwickelt wird. 11 Die unbelebte Natur scheint sich grundsätzlich einer organismischen Deutung zu entziehen, insofern die materiellen Gegenstände und die aus dem Materiellen hergestellten Artefakte für unser alltägliches Bewusstsein als der Prototyp der »Dinge« gelten. Anders als die Organismen sind die »Dinge« ohne ihr Dazutun einfach »da« und lassen die Umwelteinflüsse passiv über sich ergehen. Lässt man diese verdinglichende Auffassung des Unbelebten unbefragt stehen, so wird eine durchgängig organismische Wirklichkeitsauffassung im Sinne der Theorie der Wirkwesen unmöglich. Somit ist es für unsere Theorie von grundlegender Bedeutung, mit dieser Verdinglichung des Unbelebten zu brechen und einen organismischen Ansatz an ihre Stelle zu setzen. Dieser Aufgabe stellt sich das vierte Kapitel. Um begriffliche Klarheit zu gewinnen, muss zunächst die Dingvorstellung schärfer herausgearbeitet werden, die unser Alltagsbewusstsein prägt und die auch dem mechanistischen Materiekonzept zugrunde liegt. Dinge sind, um die spätere ausführliche Beschreibung stichwortartig vorwegzunehmen, etwas Festes und Beständiges, sie überdauern die Zeit und verändern sich dabei nur qualitativ. Sie sind gleichgültig gegenüber dem, was mit ihnen geschieht, und lassen sich beliebig zerlegen. Die Dingvorstellung ist die Wirklichkeitsauffassung des werktätigen Menschen, des Homo faber. Sie hat auch die Sprache mit ihrer Subjekt-Prädikat-Struktur und darüber hinaus die Kategorientafel geprägt, die Aristoteles in einer Frühschrift aufgestellt hat, wo der Substanz die Akzidentien gegenüberstehen, allen voran die Qualität. Als die Substanz der Dinge galt dann im mechanistischen Materiekonzept die Masse, als ihre Qualitäten galten die physikalisch messbaren Eigenschaften. Die Masse und ihre Eigenschaften bestimmen in ihrer räumlichen Anordnung die physikalischen Gesetze, allen voran das Gravitationsgesetz, die die Bewegungen determinieren, die einen in sich geschlossenen kausalursächlichen Kreis bilden. Kontrastiert man diese Dingvorstellung mit dem, was wir mit einem Organismus verbinden, so springen die Unterschiede sofort ins Auge. Aktivität statt Passivität, innere Einheit statt beliebiger Zerlegbarkeit, Differenzierung von Teilen in einem Ganzen statt einer Eine prozessphilosophische, an Whitehead orientierte ökologische Ethik hat Muraca 2010 vorgelegt.

11

39 https://doi.org/10.5771/9783495820971 .

Einführung

äußerlichen Zusammenfügung, Interaktion mit der Umwelt statt eines bloßen Nebeneinanders im Raum, das sind in summarischer Verkürzung die Gegensätze, die einen Organismus von einem Ding abheben. Stellt man die Interpretation der unbelebten Natur explizit oder auch nur implizit auf eine solche Gegenüberstellung ab, dann gibt es keinen Weg, einen organismischen Ansatz auch für das Unbelebte geltend zu machen. Eine organismische Interpretation muss dann dem Lebendigen vorbehalten bleiben, womit sie ein regionales Unterfangen bleibt. Eine Theorie der Wirkwesen im Sinne einer durchgehend organismischen Theorie wäre demnach ein Ding der Unmöglichkeit Gerade in diesem Punkt verdanken wir nun Whitehead den entscheidenden Durchbruch. Er besteht in jener Revolution des Denkens, mit der er den Schritt von einer Organismustheorie im Sinne einer regionalen Ontologie zu einer umfassenden Philosophy of Organism vollzogen hat. Der Gedanke ist im Grunde einfach. Eine Dingauffassung des Materiellen, wie wir sie oben umrissen haben, fixiert dessen oberflächliches Erscheinungsbild, macht aus ihm eine absolute Ontologie. Das konnte solange angehen, als man nicht wusste, was sich unter diesem Erscheinungsbild verbarg. Es ist jedoch von dem Moment an obsolet geworden, als die neuere Physik mit den mechanistischen Vorstellungen brach und zeigen konnte, dass unter diesem Erscheinungsbild ganz anders geartete elementare Einheiten existieren. Unter den elementaren Einheiten der Physik fassen wir Moleküle, Atome, Protonen, Elektronen, Neutronen sowie die weiteren Elementarteilchen. Sie im Einzelnen zu beschreiben ist nicht unsere Aufgabe. Wie immer man sie modellhaft zu rekonstruieren versucht, eines ist sicher: Sie sind keine »Dinge« im gewöhnlichen Sinn. Sie lassen sich nicht beliebig zusammensetzen oder zerlegen, sondern bilden atomare Einheiten, die nur so existieren, wie ihr Selbstaufbau es verlangt. Sie haben Teile, die sie zu einer Ganzheit integrieren. Sie sind nicht passiv, sondern agieren, wobei ihre Aktivität für sie konstitutiv ist. Sie bestehen nicht einfach nebeneinander, sondern erzeugen Kraftfelder und stehen so in Wechselwirkung mit ihrer Umgebung. Alle diese Charaktermerkmale besagen, dass solche elementaren Einheiten mehr Ähnlichkeiten mit Organismen aufweisen als mit gewöhnlichen Dingen. Whitehead hat daraus den Schluss gezogen, dass sie Organismen in einem reduzierten Sinn sind. Damit 40 https://doi.org/10.5771/9783495820971 .

Organismus und Leben

haben wir es nun überall in der Naturwirklichkeit mit mehr oder weniger ausgeprägten Organismen zu tun, womit sich eine durchgängig organismische Sicht etablieren lässt. Die weitere Frage ist dann, ob sich nicht die Natur insgesamt aufgrund des Zusammenspiels all ihrer Teile als ein Organismus im Großen auffassen lässt, wie schon Platon es wollte.

6.

Organismus und Leben

Die elementaren Einheiten der Physik können wir trotz ihres organismischen Charakters nicht als Wirkwesen im Vollsinn ansprechen, da sie sich nicht als eigenständige Wesen präsentieren. Schon bei ihnen zeigt sich jedoch ein Trend zu immer komplexeren Organisationsformen. Die Moleküle fassen die Atome zu einer höheren Einheit zusammen, letztere die Elektronen, Protonen und Neuronen. Diese Zunahme der Komplexität setzt sich im Lebendigen potenziert fort. Nicht nur schließen die Lebewesen die elementaren Einheiten der Physik in ihrem Selbstaufbau ein; sie formieren sich auch selbst von den Einzellern bis zu den zentral organisierten Tieren in immer höheren Komplexitätsgraden. Insgesamt ergibt sich daraus eine Stufenordnung immer komplexerer Organismen, die von den kleinsten elementaren Einheiten über die Einzeller bis zum Menschen reicht. Seit dem 19. Jahrhundert wird die Erklärung für diesen Stufenbau generell in der Idee der Evolution gesucht, derzufolge die Organismen auseinander hervorgegangen sind, die komplexeren sich also aus den weniger komplexen entwickelt haben. Die Theorie der Wirkwesen interpretiert diese Entwicklung hin zu immer höheren Organismen durch die Verbindung der zwei fundamentalen Sichtweisen, die ihr eigen sind, nämlich des organismischen und des strukturgenetischen Ansatzes. In organismischer Sicht gilt es zu klären, was einen Organismus im Vollsinn ausmacht, wie er uns bei den höheren Formen des Lebendigen begegnet. Dazu muss vorgängig erfasst werden, was das Lebendige überhaupt als eine besondere Seinsform auszeichnet. Die Erklärung für die Charakterzüge und die Konstitution des Lebendigen ist dann im Organismusbegriff zu suchen. Dieser Aufgabe stellt sich das fünfte Kapitel. Lebendig zu sein ist nicht einfach eine zusätzliche Qualifikation des Wirklichen, sondern eine neue, potenzierte Seinsform. Ein Lebewesen zeichnet sich durch seine Aktivität aus, existiert nur in Inter41 https://doi.org/10.5771/9783495820971 .

Einführung

aktion mit seiner Umwelt, hat einen ganzheitlichen Charakter und damit ein Selbstsein. Es ist nicht einfach »vorhanden«, sondern hat sein Sein »zu sein«, d. h. durch seine Aktivitäten sicher zu stellen. Selbsterhaltung kennzeichnet damit die Dynamik des Lebendigen. Durch diesen Selbstbezug konstituiert sich ein organisches Selbst. Der Selbstbezug steigert sich bei den höheren Lebewesen und gewinnt mit der vollen Reflexivität des Menschen seine Höchstform. Ein höheres Lebewesen präsentiert sich nun als ein Organismus im Vollsinn. Es wird durch eine Gesamtstruktur gebildet, die unterschiedliche Substrukturen, die Organe, in sich fasst. Die Organe bilden einen Funktionskreis, der die spezifische Lebensform des betreffenden Organismus ermöglicht. Einem Organismus kommt eine aktive Selbstorganisation zu, dank der er seine Organe selbst produziert. Der Organismus und seine Organe stehen konstitutiv in einer Wechselbeziehung, die sich auch zwischen den Organen selbst wieder findet. Kant hat erstmals den Organismus als ein »organisiertes und sich selbst organisierendes Wesen« adäquat beschrieben. Sein Begriff eines Organismus findet sich auch in der »autopoietischen Organisation« wieder, die nach Maturana und Varela das Lebendige kennzeichnet. Eine solche Konzeption lässt sich mühelos in unsere Theorie integrieren, da sie generell das Wirken als konstitutiv für das Sein eines Wirkwesens auffasst. Die Lebewesen bilden in ihrer Entwicklung vom Samen bis zu ihrer ausgewachsenen Form verschiedenartige Strukturen aus, die sich umso stärker voneinander abheben, je höher ein Lebewesen steht. Bei den Tieren und besonders beim Menschen ermöglichen spezielle Strukturbildungen das Verhalten und Erkennen. Gemäß unserer Theorie folgt die Verwirklichung dieser Strukturen einer sequenziellen Ordnung, sodass daraus ein Stufenbau resultiert. Die allgemeine Erklärung dieser Entwicklung ist durch die im Strukturkern festgelegten Prinzipien des genetischen Strukturalismus vorgezeichnet. Lebewesen können sich nur durch einen fortwährenden Stoffwechsel erhalten und sind damit notwendig auf ihre Umwelt bezogen. Diese lassen sie nicht unverändert, sondern wirken ständig auf sie ein. Die Lebewesen bilden so mit ihrer Umwelt ein übergreifendes Gesamtsystem. Insofern dieses Gesamtsystem sich verändert, haben Lebewesen eine Geschichte. Zur Umwelt von Lebewesen gehört auch ihre soziale Mitwelt. Die Kommunikation der Lebewesen untereinander mittels von Signalen oder der die Men42 https://doi.org/10.5771/9783495820971 .

Pflanze, Tier und Mensch

schen auszeichnenden Symbole wird damit zu einem wesentlichen Element einer Theorie des Lebendigen.

7.

Pflanze, Tier und Mensch

Mit der Höherentwicklung des Lebens stellt sich die Aufgabe, innerhalb des Lebendigen Differenzierungen vorzunehmen. Inwieweit lässt sich die traditionelle und immer noch gängige Unterscheidung der drei Lebensstufen von Pflanze, Tier und Mensch übernehmen und mittels unsere Ansatzes neu begründen? Dieser Frage gehen wir im sechsten Kapitel nach. Im Ausgang von den phänomenal feststellbaren Unterschieden muss sich die Differenz zwischen diesen Stufen laut unserer Theorie vor allem in der Komplexität der Strukturen manifestieren, welche den Selbstaufbau von Pflanze, Tier und Mensch bestimmen. Diese Komplexität zeigt sich in der immer stärkeren Zentrierung, die am Ende die Abläufe in den peripheren Organen von einem Zentralorgan – dem Gehirn – geregelt sein lässt. Da die Lebewesen zwar in sich geschlossene Strukturen aufweisen, gleichzeitig aber aufgrund ihrer Energieabhängigkeit auf ihre Umwelt hin offen sind, muss infolge ihrer strukturellen Differenzen auch ihr Umweltbezug ein je anderer sein. Aufgrund der Selbstregelung der Strukturen, die gerade im Lebendigen dominant hervortritt, steht zu erwarten, dass sich im Aufstieg von der Pflanze über das Tier zum Menschen auch deren Subjektivität immer stärker bemerkbar macht. Das sechste Kapitel wird zeigen, wie sich mit diesen Leitideen der Differenzierung durchaus qualitative Unterschiede zwischen Pflanze, Tier und Mensch ausmachen lassen, auch wenn die Übergänge und Entsprechungen nicht außer Acht zu lassen sind. Diese Unterscheidungskriterien schließen in einer relativierten Form auch die Merkmale ein, die Plessner auf den Begriff der Positionalität brachte, als er der Pflanze eine dominant »offene«, dem Tier eine dominant »geschlossene« und dem Menschen schließlich eine »exzentrische« Positionsform zusprach. In der Hierarchie der Lebewesen nimmt der Mensch als das animal rationale, als das »vernunftbegabte Lebewesen« traditionell eine Sonderstellung ein. Das lässt sich auch mit den hier angewendeten Kriterien begründen, insofern der Mensch erstmals sein Selbstsein zu reflektieren vermag, womit die menschliche Subjektivität im Selbstbewusstsein die Ich-Form annimmt. Auch sein Umweltbezug 43 https://doi.org/10.5771/9783495820971 .

Einführung

wird ein radikal anderer, insofern er nicht an eine partikuläre Umwelt gebunden, sondern »weltoffen« ist, wie der zentrale Begriff aller neueren Anthropologie lautet. Freiheit und Selbstbestimmung, ein Handeln aus Gründen und die Befolgung des Gewissens machen den Menschen zur autonomen Person, die sich nach ihren eigenen Prinzipien richtet. Die Theorie der Wirkwesen nimmt in ihrer Anthropologie diese klassischen Wesensbestimmungen der Personalität auf, zumindest als Zielvorgaben menschlicher Entwicklung. Sie bilden die Vollformen menschlicher Existenz, die der Mensch erreichen kann, aber nicht in jedem Fall erreichen muss. Es ist das besondere Verdienst gerade der strukturgenetischen Entwicklungstheorien, dass sie im Anschluss an Piaget und Kohlberg zeigen können, wie der Mensch nicht von Anfang an Person ist, aber immer mehr Person wird. Sein moralisches Urteil entwickelt sich ebenso wie seine Identität, sein Gewissen und seine Freiheit. Den autonomen, selbstbestimmten Formen gehen heteronome, konventionelle voraus, die von der sozialen Umwelt geprägt sind. Aber da der Mensch tatsächlich die höchsten Stufen von Autonomie und Selbstbestimmung erreichen kann, muss eine solche Entwicklungstheorie dem Menschen zumindest in einer relativierten Form auch jenes geistige Prinzip zuerkennen, das diese Sonderleistungen des Menschen begründet und traditionell als »Vernunft« und »Wille« benannt wurde. Damit sind wesentliche Perspektiven eröffnet, in welchen sich die Theorie der Wirkwesen über diese Grundlegung hinaus entfalten muss. Anders als die dualistischen Denkweisen will unsere Theorie nicht Materie und Leben, Leben und Geist auseinander reißen, sondern eine Kontinuität zwischen diesen Erscheinungsformen und Ebenen des Wirklichen herstellen, ohne die Unterschiede zu nivellieren. Die Leitidee einer Filiation von Strukturen, die bei den materiellen anhebt, in den biologischen eine neue Form gewinnt und schließlich in den genuin humanen ihren Abschluss findet, soll ebenso den Zusammenhang zwischen diesen Stufen wahren, wie ihre qualitativen Unterschiede berücksichtigen. Den Kernerweiterungen der Theorie, nämlich einer organismischen Biologie und einer Strukturgenetischen Anthropologie, bleibt es vorbehalten, die sich damit stellenden Probleme auf eine spezifische Weise anzugehen.

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Der Mensch in Gesellschaft, Kultur und Geschichte

8.

Der Mensch in Gesellschaft, Kultur und Geschichte

Wer den Menschen vollumfänglich in den Blick nehmen will, kann sich nicht allein mit seiner Konstitution als Natur- und Geistwesen befassen, sondern muss auch auf die Bedingtheiten eingehen, in denen der Mensch steht. Der Mensch ist nicht bloß ein für sich seiendes Individuum, sondern auch Mitglied einer Gesellschaft. Er lebt nicht einfach in einer natürlichen Umwelt, sondern ist von einer Kultur geprägt, und seine Existenz vollzieht sich nicht in einem zeitenthobenen Raum, sondern an einem Ort der Geschichte. Er ist ineins Gesellschafts-, Kultur- und Geschichtswesen. Wir müssen uns in dieser Grundlegung zumindest die Frage stellen, wie die Theorie der Wirkwesen die damit angesprochenen Bereiche der Gesellschaft, der Kultur und der Geschichte angehen will, auch wenn wir dabei nicht über Methodenfragen hinauskommen. Diese Aufgabe ist dem siebten Kapitel vorbehalten. Zunächst werden wir uns genauer vor Augen führen, was das Eingebundensein in eine Gesellschaft, eine Kultur und eine Geschichte für den Menschen bedeutet. Klassische Bestimmungen weisen hier den Weg, die sich mühelos in die Theorie der Wirkwesen einordnen lassen und dabei ihre besondere Ausformung erhalten. Die aristotelische Definition des Menschen als zóon politikón, als Gemeinschaftsoder Gesellschaftswesen ist ein erster Ansatzpunkt, wobei Aristoteles selbst eine Brücke von der Gesellschaft zur Kultur schlägt, wenn er den Menschen gleichzeitig als das zóon lógon échon definiert, als das Lebewesen, das die Sprache besitzt. Sprache ist für Cassirer eine »symbolische Form« und damit Teil der Kultur als des »symbolischen Universums«, das dem Menschen als animal symbolicum eigen ist. Da Wirtschaft und Technik und weiter zurück das Handwerk, mittels deren der Mensch sein Leben sichert, für Cassirer ebenfalls symbolische Formen sind, fällt es nicht schwer, seine Kulturauffassung mit jener von Plessner und Gehlen zusammen zu bringen, für die der Mensch von »Natur ein Kulturwesen« und die Kultur seine »zweite Natur« ist. Alle gesellschaftlichen und kulturellen Phänomene sind jedoch von der Geschichte geprägt, und zwar nicht bloß in einem äußerlichen Sinn. Das rechtfertigt die Rede von der »Geschichtlichkeit« des Menschen und die Behauptung, dass die Geschichte das eigentliche Individuationsprinzip sowohl des Einzelnen als auch der Völker sei. Damit stellt sich als nächstes die Frage, wie, d. h. auf welchen 45 https://doi.org/10.5771/9783495820971 .

Einführung

Methodenwegen die Theorie der Wirkwesen sich diese Bereiche erschließen will. Insofern sie eine genetische Theorie ist, geht es ihr um das Werden des menschlichen Geistes, wie es sich in der Individualentwicklung und in der Geschichte vollzieht, und um den möglichen Zusammenhang beider. Hegel hat als erster in seiner Phänomenologie des Geistes diesen Problemkreis erfasst und zu klären versucht. Hegel vertritt jedoch den Standpunkt des absoluten Idealismus, demzufolge der gesamte Geschichtsprozess von dem einen und selben absoluten Geist getragen ist. Für die Theorie der Wirkwesen hat nun Cassirer vorbildlich gezeigt, wie Hegels »metaphysische Formel« in eine »methodische« umgewandelt werden kann. Bei Hegel gehen die Betrachtung des geschichtlichen und des individuellen Werdegangs des Geistes willkürlich ineinander über. Diese beiden Entwicklungslinien müssen sauber getrennt und deren Erforschung den zuständigen Wissenschaften zugewiesen werden. Der Entwicklungspsychologie kommt es zu, den Aufbau der Bewusstseins- und Erkenntniswelt im einzelnen Subjekt zu verfolgen. An die Geschichtswissenschaft richtet sich dann die Frage, ob sich in der Gesamtentwicklung des Menschen ähnliche Tendenzen zeigen, sodass man beide zueinander in Beziehung setzen kann. Cassirer hat damit ein Idealprogramm aufgestellt, das von Piaget in seiner genetischen Epistemologie realisiert wurde und generell als Paradigma für die Theorie der Wirkwesen gelten kann. Es beruht auf dem Zusammenspiel dreier Methoden: Die sogenannte historischkritische Methode rekonstruiert die Entwicklung im Geschichtsverlauf, die psychogenetische Methode erforscht die Individualentwicklung, die formalisierende Methode schließlich versucht nach Möglichkeit, die formalen Entwicklungsgesetzlichkeiten zu eruieren. In der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts wurde als Ergänzung zur Geschichtswissenschaft eine Historische Anthropologie gefordert, die die Strukturen und Prozesse aufdecken soll, die der geschichtlichen Entwicklung des Menschen zugrunde liegen. Ausgangspunkt war die Einsicht der Geschichtswissenschaft, dass auch früher als konstant angesehene anthropologische Schichten einem fundamentalen Wandel unterliegen, sodass das Menschsein selbst als geschichtlich bedingt angesehen werden muss. Aufgabe einer Historischen Anthropologie soll es nun sein, diese Historisierung anthropologischer Strukturen zu erhellen. Man erkennt unschwer, dass damit ein Problemfeld abgesteckt ist, das gerade eine Strukturgenetische Anthropologie zu erschließen 46 https://doi.org/10.5771/9783495820971 .

Naturalismus oder Metaphysik?

vermag. Sie stellt ja die gleichen Fragen, aber nicht bezüglich der historischen, sondern der individuellen Entwicklung. Damit lassen sich ihre Ergebnisse in Form von Hypothesen auch auf die Geschichte übertragen. Aber die allgemeinen Aussagen der Strukturgenetischen Anthropologie müssen dabei auf das Besondere geschichtlicher Epochen und Situationen abgestimmt werden. Nur so entgeht eine Historische Anthropologie der Gefahr, nicht in übermäßige Vereinfachungen zu verfallen. Die Stellung einer Historischen Anthropologie zwischen den allgemeinen Stufentheorien der Strukturgenetischen Anthropologie und den Besonderheiten von Geschichtsverläufen will also genau bedacht sein.

9.

Naturalismus oder Metaphysik?

Am Ende stellt sich für unsere Theorie unweigerlich die Frage, ob sich die Wirkwesen vollständig von sich selbst her erklären lassen, oder ob man dazu auf übergeordnete metaphysische Prinzipien und letztlich auf Gott rekurrieren muss. Kann die Theorie der Wirkwesen als eine durchgängig naturalistische Theorie aufgebaut werden, oder muss sie am Ende zu einer metaphysischen Theorie werden? Naturalismus oder Metaphysik lautet damit die Alternative. Sie ist für unsere Theorie besonders brisant, weil zwei ihrer maßgeblichen Vordenker in diesem Punkt divergieren: Whitehead hat sich für eine metaphysische, Piaget für eine naturalistische Problemlösung ausgesprochen. Eine so fundamentale Frage kann im Schlusskapitel nicht einer Entscheidung zugeführt werden, weil dazu die Voraussetzungen fehlen. Denn viele Probleme wurden in dieser Grundlegung zwar angeschnitten, aber nicht wirklich gelöst Angezeigt ist jedoch, dass wir zumindest die Problematik aufrollen. Wir werden das in vier Schritten tun. In einem ersten Schritt lassen wir uns von Aristoteles das Modell geben, wie diese letzte Frage angegangen werden soll. In einem zweiten Schritt führen wir uns die Gründe vor Augen, die nach Whitehead für eine metaphysische Lösung sprechen. In einem dritten Schritt folgen wir der Argumentation, mit der Piaget eine naturalistische Lösung begründet. In einem letzten Schritt schließlich kommen wir zum Schluss, dass aufgrund der Beweislage sowohl eine metaphysische als auch eine naturalistische Version denkbar ist. Bei Aristoteles wird exemplarisch die Frage angegangen, ob eine die Grundlagen unserer Wirklichkeitsinterpretation erörternde »erste 47 https://doi.org/10.5771/9783495820971 .

Einführung

Philosophie« rein naturtheoretisch vorgehen kann, oder ob sie sich ein metaphysisches Fundament geben muss. Entscheidend ist, ob die materiegebundenen Wesen die einzigen sind, oder ob noch übergeordnete, materielose Wesen angenommen werden müssen. Im ersten Fall reduziert sich die »erste Philosophie« auf eine umfassende Naturtheorie, im zweiten wird sie zur Metaphysik. Aristoteles entschied sich für die zweite Lösung, weil er die Existenz immaterieller Wesen glaubte beweisen zu können. Aber das ändert nichts daran, dass er mit seiner »ersten Philosophie« ein grundsätzlich offenes Modell für die Behandlung solcher Letztfragen geschaffen hat, und in diesem Sinn ist sein Vorgehen für uns paradigmatisch. Whitehead ist für unsere Theorie besonders bedeutsam, weil wir von ihm mehrere Theoreme übernommen haben, einmal das ontologische Prinzip, demzufolge alles letztlich in einem Wirkwesen verortet werden muss, sodann die Annahme reiner Möglichkeiten, die den Whitehead’schen eternal objects entsprechen. Folglich müsste die Theorie der Wirkwesen auch wie Whitehead auf Gott als den überzeitlichen Existenzort dieser reinen Möglichkeiten rekurrieren – es sei denn, dass sie diese wie Piaget nur als Konstrukte des Menschen gelten lässt. Aber Gott ist für Whitehead nicht nur der letzte metaphysische Erklärungsgrund, sondern auch der Gott der Religion, der die Vergänglichkeit der zeitlichen Wesen in ein zeitloses Sein hinüberrettet. Er verbürgt so den Sinn unserer tiefsten moralischen und religiösen Intuitionen, auch wenn sich ein solcher Gott für Whitehead nicht beweisen lässt. Auch Piaget verdankt unsere Theorie wesentliche Momente, insbesondere ein Strukturdenken im Sinne des genetischen Strukturalismus. Anders als für Whitehead ist jedoch das Reich der reinen Möglichkeiten und idealen Formen für Piaget nur eine Konstruktion des erkennenden Menschengeistes auf seiner höchsten Entwicklungsstufe. Piaget begründet seinen Naturalismus mit Ockhams sogenanntem »Rasiermesser«, d. h. mit der Regel, dass eine Theorie ihre Erklärungsgründe nicht unnötig vermehren sollte. Unter dieses Verdikt fallen nun für Piaget auch die platonischen Ideen. Dabei gesteht er dem Platonismus allerdings zu, dass er an sich unwiderlegbar sei, sodass es jedem freistehe, an ihn und an Gott zu glauben. Damit bleibt nach diesem Durchgang im Grunde alles offen. Somit sollte sich die Theorie der Wirkwesen davor hüten, in dieser Frage nach dem Letzten voreilig kategorische Urteile zu fällen. Je nach den Voraussetzungen und persönlichen Überzeugungen scheint sowohl 48 https://doi.org/10.5771/9783495820971 .

Naturalismus oder Metaphysik?

eine metaphysische als auch eine naturalistische Version der Theorie denkbar. Das kann für eine weiterführende Diskussion nur von Vorteil sein.

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1. Leitideen der Theorie der Wirkwesen

1.1. Die Wirklichkeit der Wirkwesen »Wirkwesen« ist der zentrale ontologische Begriff, der unserer Theorie den Namen gegeben hat. Dieser Begriff steht für Wesen, denen innerlich ein Wirken zukommt, die nur aufgrund ihres Wirkens Bestand haben und als Träger und Resultat ihres Wirkens eine innere Einheit aufweisen. Der Begriff des Wirkwesens kontrastiert mit der alltäglichen Dingauffassung der Wirklichkeit. Diese leitet sich vom oberflächlichen Erscheinungsbild der materiellen Gegenstände und der vom Menschen geschaffenen Artefakte her. Im Gegensatz zu den »Wirkwesen« existieren die »Dinge« scheinbar ohne ihr Dazutun. Sie lassen passiv die Umwelteinflüsse über sich ergehen und können nach Belieben geteilt werden, weil sie nicht Gebilde von einer ursprünglichen Einheit sind. Die Grundthese der hier vorgelegten Theorie lautet nun, dass sich die Wirklichkeit von ihrer Konstitution her nur als eine Vielheit miteinander verbundener »Wirkwesen« angemessen auffassen und verstehen lässt, nicht aber als eine Vielheit neben einander existierender »Dinge«, wie das in der Geschichte zu oft geschah. Damit hat die Theorie der Wirkwesen einen genuin ökologischen Grundzug. Mit der inneren Einheit von Wirkwesen ist ihr ganzheitlicher Charakter behauptet. Dieser schließt zugleich ein, dass Wirkwesen eine funktionale Differenzierung wechselseitig aufeinander bezogener Teile oder »Organe« aufweisen. Mit einem Wort: Wirkwesen sind mehr oder weniger ausgeprägte Organismen. Als Organismen im vollen Sinn treten sie im Bereich des Lebendigen auf. 1 Als Organismen in einem abgeschwächten Sinn können aber auch die elementaren Einheiten der Physik wie Atome, Moleküle und die Elementar-

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Vgl. 5.2.

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Whitehead als Vordenker; die Revision seines Systems

teilchen gelten. 2 Aufgrund dieser Annahme einer durchgängigen Organizität von Wirkwesen versteht sich die vorgelegte Wirklichkeitsdeutung als eine organismische Theorie. Wenn wir, wie in der Überschrift, von der Realität als der »Wirklichkeit der Wirkwesen« sprechen, so ist das in einem doppelten Sinn zu verstehen. Einmal als eine Existenzbehauptung: Wirkwesen machen die Wirklichkeit aus; sie sind das, was wirklich ist, was letztlich existiert. Zweitens als eine kategoriale Behauptung: »Wirkwesen« ist die fundamentale Kategorie, gemäß der die Wirklichkeit zu interpretieren ist. Natürlich ist damit nicht der Anspruch verbunden, dass die hier entwickelte Konzeption der Wirkwesen deckungsgleich mit den Wirkwesen als Realität ist. Theoretische Konzepte haben generell Modellcharakter und treffen die gemeinte Realität – die sogenannten Referenzobjekte – nur annähernd. Das hier entworfene Konzept der Wirkwesen ist deshalb nicht ein für alle Mal festgelegt, sondern grundsätzlich revidierbar, wenn auch nicht in seinem paradigmatischen Charakter, so doch in seinen Einzelheiten. Aber es gibt – gemäß Quines ontological commitments – zumindest die Richtung vor, was für Wesen als real existierend anzunehmen und wie sie zu deuten sind. Wenn »Wirklichkeit« und »wirklich« von »wirken« kommt, dann ist es nicht abwegig, »Wirkwesen« als das tatsächlich und effektiv Existierende anzusetzen und ihnen entsprechend eine aktive Bedeutung zu geben. 3

1.2. Whitehead als Vordenker; die Revision seines Systems Wer mit der Philosophiegeschichte des 20. Jahrhunderts vertraut ist, wird durch das eben umrissene Konzept einer aus organismischen Wirkwesen bestehenden Realität unweigerlich an Alfred North Whitehead erinnert. Denn Whitehead war es, der in seinem monumentalen, 1929 erschienenen Hauptwerk Process and Reality die Wirklichkeit erstmals konsequent als eine Vielheit dynamischer ProVgl. 4.4. Der Terminus »Wirkwesen« lässt sich nur im Deutschen bilden, das die Eigentümlichkeit hat, zwischen »Realität« und »Wirklichkeit« differenzieren zu können, was im Englischen und in den romanischen Sprachen keine Entsprechung hat. Die Wortbildung »Wirklichkeit« geht auf die Mystik zurück und wurde als Übersetzung von lateinisch actualitas eingeführt, das sich vom aristotelischen actus (enérgeia) herleitet Vgl. Art. »Wirklichkeit«, Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 12, 829 f.

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Leitideen der Theorie der Wirkwesen

zesseinheiten – die sogenannten actual entities – interpretierte. 4 Diese die Wirklichkeit bildenden Prozesseinheiten fasste er als in sich selbst organismisch strukturierte Wesen auf, die auch untereinander organisch verflochten sind, sodass er seine Theorie insgesamt als eine Philosophy of Organism kennzeichnen konnte. 5 Whitehead ist somit der systematische Vordenker einer jeden umfassenden pluralistischen und gleichzeitig organismischen Wirklichkeitstheorie – und somit auch der unsrigen. Die nachfolgenden Ausführungen werden deutlich machen, wie viel unsere Theorie in prinzipieller Hinsicht Whitehead verdankt und wie viele Einsichten von ihm stammen. Und doch ist unsere Theorie nicht einfach eine Übernahme und Weiterführung des Whitehead’schen Systems. Denn sie weicht von allem Anfang an in einem fundamentalen Punkt von Whitehead ab. Whitehead konzipierte seine actual entities als kleinste mikrokosmische Einheiten, die er noch unterhalb der kleinsten bekannten physikalischen Elementarteilchen situierte. Das hat zur Folge, dass Whitehead alle Natur- und Lebewesen bis hin zum Menschen als komplexe Gebilde oder, wie er diese nennt, als »Gesellschaften« von actual entities deuten muss. Um der Differenziertheit der elementaren Einheiten der Physik und insbesondere der mehrzelligen lebendigen Organismen Rechnung zu tragen, lässt Whitehead die »Gesellschaften« in immer potenzierterer Form auftreten, d. h. als »Gesellschaften von Gesellschaften«, und so fort. 6 Eine solche Vervielfältigung der konstitutiven Entitäten hat dort ihr Recht, wo materielle Gegenstände wie Steine und dergleichen zwar in ihrem äußeren Erscheinungsbild als von ihrer Umgebung abgehobene Einheiten wahrgenommen werden, aber bezüglich ihrer inneren Konstitution Aggregate bilden, die sich aus einer Vielzahl von ursprünglicheren Einheiten zusammensetzen. Wo es sich hingegen um echte natürliche, von innen gewachsene Einheiten handelt, tut die Annahme einer solchen Vielheit unserer Erfahrung Gewalt an, und sie widerspricht auch einer langen, bis auf Aristoteles zurückreichenden Tradition. Denn solche natürliche Einheiten geben sich uns als Individuen kund, und das heißt nach der klassischen scholasti4 »Wirkwesen« kann auch etymologisch mit actual entities in Verbindung gebracht werden. Vgl. Anm. 3. 5 Vgl. Whitehead 1929, 18 f., dt. 57 f. und öfter (s. Index 375, dt. 660). 6 Vgl. Fetz 1981a, 140–145.

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Whitehead als Vordenker; die Revision seines Systems

schen Auslegung dieses Begriffs: als etwas vom Anderen Abgehobenes, in sich aber Ungeteiltes – individuum est divisum ab aliis, sed indivisum in se. Das ist, wenn auch auf unterschiedliche Weise, bei allen Formen des Lebendigen der Fall. Schon die Pflanzen weisen eine natürliche Einheit auf, auch wenn ihre Struktur noch stark von einem additiven Schema geprägt ist. Eindrücklicher tritt diese Einheit bei den Tieren hervor, insbesondere bei den höheren Arten mit ihrem zentralen Nervensystem, und am stärksten beim Menschen mit seinem singulären, auch den Leib einschließenden Ich. 7 In Abkehr von Whiteheads mikrokosmischem monadischem Pluralismus entscheidet sich deshalb unsere Theorie dafür, in Übereinstimmung mit dem common sense und der aristotelischen Tradition alle echten natürlichen Einheiten jeweils grundsätzlich als ein Wirkwesen und nicht als eine gesellschaftlich vernetzte Vielheit konstitutiver Entitäten aufzufassen. Eine Pflanze, ein Tier, ein Mensch ist für sie ein Wirkwesen, nicht jedoch ein materieller Gegenstand, der ein Aggregat ursprünglicher Einheiten bildet. Dieser Entscheid, jede echte natürliche Einheit als ein Wirkwesen anzusehen, darf natürlich nicht dazu führen, dass dabei die unbestreitbare Vielheit von Elementen, Funktionsteilen und Organen übergangen wird, aus denen sich alle natürlichen Einheiten und insbesondere die Lebewesen zusammensetzen. Aber diese Vielheit nimmt dem Primat der Einheit gegenüber einen untergeordneten Rang ein. Um beides seinem Stellenwert entsprechend innerlich aufeinander beziehen zu können, greift unsere Theorie den Strukturbegriff auf. Ein Wirkwesen kann dem strukturalen Ansatz gemäß als eine Einheit gedacht werden, wenn ihm eine einheitsstiftende Gesamtstruktur zugrunde liegt. Die Vielheit seiner Elemente, Teile oder Organe ist dann das Resultat der in dieser Gesamtstruktur integrierten Substrukturen. Letztere nehmen, wie schon ihr Name sagt, trotz ihrer Differenziertheit und partiellen Eigenständigkeit eine dem Ganzen gegenüber untergeordnete Stellung ein, womit der Primat der Gesamtstruktur gewahrt bleibt. Ein solcher strukturaler Ansatz kann sich aber nur mit einer dynamischen organismischen Theorie verbinden, wenn ihm der Gedanke der Entwicklung ebenso zu eigen ist wie jener der Struktur. Das gilt es im Folgenden zu klären.

Vgl. 1.6. – Eine solche Whiteheadkritik wurde schon in Fetz 1981a, 250–264, vorgetragen und eine entsprechende Revision ins Auge gefasst.

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Leitideen der Theorie der Wirkwesen

1.3. Vom aristotelischen Formbegriff zum Strukturbegriff Aristoteles schuf erstmals eine Naturtheorie, in der die Naturwesen durch die ihnen innewohnende Form konstituiert sind. Er entwickelte diese Theorie, indem er die für ein Naturwesen konstitutiven natürlichen Prozesse vom menschlichen Herstellen von Artefakten abhob. Bei den künstlich geschaffenen Gegenständen – einem Möbel, einer Statue – prägt der Hersteller von außen einem Material eine Form auf; er fungiert somit als Wirkursache und legt auch die Zweckbestimmung fest. Bei den Naturwesen hingegen nimmt Aristoteles eine Form an, die diesen von Natur aus innewohnt und ihnen als Organisationsprinzip der natürlichen Prozesse die Richtung auf die zu verwirklichende Gestalt gibt. Anstelle des Herstellers fungiert hier also die Wesensform als Wirk- und zugleich als Zielursache, womit das entscheidende Konstitutionsprinzip einem Naturwesen immanent ist. Da ein Naturwesen sich von einer anfänglichen Form zu seiner Vollgestalt entwickelt, kann man von der am Anfang stehenden formierenden Form die am Ende erreichte formierte Form unterscheiden. 8 Ein Naturwesen ist so für Aristoteles die dynamische Vollzugseinheit von verwirklichender und verwirklichter Form. Die Entwicklung eines Lebewesens aus seinem Samen bis hin zu seiner Adultform ist hierfür das paradigmatische Beispiel. Nicht umsonst hat deshalb Aristoteles das, was im mythischen Denken die »Seele« eines Lebewesens hieß, als ein dem Unbelebten gegenüber höherstufiges Formprinzip gefasst, das die Ausformung eines Organismus bewirkt. 9 Die Theorie der Wirkwesen nimmt diese aristotelische Grundidee in verwandelter Form auf. Zum Nachfolger des aristotelischen Formbegriffs wird ihr der moderne Strukturbegriff, wie ihn Cassirer und vor allem Piaget geprägt haben. Die »Struktur«, wie sie hier gefasst wird, ist aufgrund ihrer Herkunft aus dem philosophischen Formdenken, ihrer Allgemeinheit, Tiefe und Tragweite ein philosophischer, genauer ein ontologischer Begriff. Aufgrund ihres analytischen Potenzials und ihrer operationellen Umsetzbarkeit wird die »Struktur« aber auch zum wissenschaftlichen Begriff, der Eingang in die verschiedensten Natur- und Geisteswissenschaften gefunden 8 Das Begriffspaar forma formans – forma formata hat Cassirer geprägt. Vgl. Cassirer 1995, 18; dazu Fetz 2008, 19. 9 Vgl. Aristoteles, Über die Seele, Buch II, Kap. 1–2.

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Strukturdenken im Sinne Cassirers und Piagets

hat. Der Strukturbegriff kann so die Rolle eines Scharniers spielen, um Philosophie und Wissenschaft in einer einheitlichen Theorie miteinander zu verbinden. Für Aristoteles ist die »Form« ein fundamentales Erklärungsprinzip, das er in innerer Korrelation zu der von ihr gestalteten »Materie« einführt und bei dem er logisch immer höhere Stufen unterscheidet, von den Formen des Unbelebten über jene der Lebewesen bis hin zum Menschen und darüber hinaus zu den rein geistigen Formen, woraus sich der aristotelische Stufenkosmos ergibt. Aber die Form wird bei Aristoteles als ein wesenhaft zur Natur gehörender Seinsgrund einfach als ein Substanzprinzip angenommen. Sie bietet keinen Raum für wissenschaftliche Analysen, lässt sich nicht operationell umsetzen. Das wird mit dem Strukturbegriff anders. Auch hier entsteht durch die Differenzierung physikalischer, biologischer und kognitiv-mentaler Strukturen ein Stufenmodell von Organisationsformen, das dem aristotelischen nicht unähnlich ist. Aber das Entscheidende ist nun, dass eine Struktur als ein ganzheitliches System von Elementen oder Substrukturen, das gleichzeitig ein Transformationssystem darstellt, das einer Selbstregelung untersteht, ganz andere Möglichkeiten der wissenschaftlichen Analyse und Erklärung bereithält als der kompakte aristotelische Formbegriff. Damit haben wir schon eine Definition der Struktur vorweggenommen. Ganzheitlichkeit trotz einer Vielzahl von Elementen oder Subsystemen – nach dem alten Prinzip, dass ein Ganzes mehr ist als die Summe seiner Teile –; Transformationsprozesse im Inneren dieses Ganzen, die in sich geschlossen sind (auch wenn Strukturen in den meisten Fällen Außenelemente in sich aufnehmen); eine Regelung dieser Prozesse, die von innen, aus der Struktur selbst erfolgt: das sind im Wesentlichen die allgemeinsten drei Momente, die einer Struktur zugeschrieben werden können. 10

1.4. Strukturdenken im Sinne Cassirers und Piagets Der Strukturalismus ist im 20. Jahrhundert in verschiedenen Varianten aufgetreten. Um zu bestimmen, in welcher Form der Strukturalismus in unsere Theorie aufgenommen wird, ziehen wir am besten als Kontrastfolie jene strukturalistische Denkweise heran, die hier 10

Vgl. Piaget 1968, 6–16, dt. 7–18.

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Leitideen der Theorie der Wirkwesen

abgelehnt wird. Es ist die radikale Zuspitzung, die der Strukturalismus im Frankreich der fünfziger Jahre erhalten hat und die insbesondere mit den Namen von Claude Lévi-Strauss und Michel Foucault – in seinen frühen Schriften – verbunden ist. Lévi-Strauss, auf dem Gebiet der Human- und Kulturwissenschaften neben seinem Gegenspieler Jean Piaget wohl der bedeutendste und einflussreichste Strukturalist, vertritt einen systematischen Universalismus, für den letztlich auf allen Kulturgebieten immer und überall die gleichen invarianten Strukturen vorherrschen. Sie sind auf eine unbewusste Tätigkeit des Geistes zurückzuführen, der den kulturellen Inhalten aller Art die gleichen Formen aufzwingt. Treibt man die wissenschaftliche Analyse so tief, dass man auf diese Strukturen stößt, so erhält man damit ein universelles Erklärungsprinzip, von dem eine Algebraisierung möglich sein soll. Aufgrund der behaupteten Invarianz des Geistes kann es keine tiefgreifende geschichtliche Entwicklung geben; von den primitiven Kulturen bis zur Moderne ändern sich nur die Ausdrucksformen des einen und selben Geistes. Lévi-Strauss fundiert die mentalen Strukturen in gehirnphysiologischen Prozessen und postuliert eine strikte Homologie geistiger und materieller Strukturen. Auf der Grundlage eines wissenschaftskompatiblen Materialismus sollen so Physik und Moral, Geist und Welt miteinander versöhnt werden können. Dem Menschen ist jede Sonderstellung genommen, und so soll das Endziel der Humanwissenschaften nicht eine neue Konstitution, sondern die Auflösung des Menschen sein. 11 Der frühe Michel Foucault hat dafür als radikalster Vertreter eines entsprechenden philosophischen Strukturalismus die berühmt gewordenen Formeln vom »Tod des Subjekts« geliefert. Was in uns denkt, ist kein Ich, sondern ein Es, ein anonymes System, dem kein Subjektcharakter mehr eignet. Nicht nur das traditionelle Bild vom Menschen, sondern die Idee des Menschen überhaupt wird damit überflüssig, womit auch der Humanismus verabschiedet werden kann. 12 Im Gegenzug zu dieser radikalen Variante des französischen Strukturalismus lässt sich nun die hier vertretene Form konturieren. Unsere Theorie nimmt in allen Punkten eine konträre Position ein. Belege in Fetz 2010, 363–365. Vgl. M. Foucault, Absage an Sartre, deutsch in Schiwy 1969, 203–206. Wichtigste Zitate auch in Fetz 2010, 365.

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Strukturdenken im Sinne Cassirers und Piagets

Zwar nimmt auch sie an, dass auf allen Gebieten der Natur und des Geistes die Strukturen es sind, die die bestimmenden Seinsgründe bilden, womit auch hier ein universaler Strukturalismus vertreten wird. Aber diese Strukturen sind nicht invariant. Sie wandeln sich mit dem Entwicklungsgrad der Wirkwesen. Die Strukturen der unbelebten Natur, der Lebewesen und schließlich des menschlichen Geistes weisen qualitative Unterschiede auf, obwohl sie in einem durchgängigen, kontinuierlichen Entwicklungszusammenhang stehen. So nimmt auch der Mensch unter allen bekannten Naturwesen eine Sonderstellung ein, auch wenn er auf dem Weg der Evolution aus ihnen hervorgegangen ist. Eine Höherentwicklung der Naturwesen aber kann es deshalb geben, weil Strukturbildungen kreative Prozesse sind, die genuin neue Strukturen hervorbringen können, die sich nicht reduktionistisch auf die vorangehenden Strukturen zurückführen lassen. So wird nicht nur die Erfassung der Differenziertheit der Strukturen, sondern der Konstruktion neuer Strukturen zum erklärten Ziel der Theorie. Neben dem Begriff der Struktur erhält damit der Begriff der Genese die gleiche grundlegende Bedeutung. Strukturen sind als Resultate von Strukturationen zu denken. Strukturationen aber setzen über die Selbstregelungen ein strukturierendes Subjekt voraus, und so ist die generelle Aufwertung des Subjekts, nicht sein Tod die Konsequenz eines solchen Strukturdenkens. 13 Was hier als Gegenentwurf zum radikalen französischen Strukturalismus skizziert wurde, ist nicht ein Ideengebäude ohne Fundament, sondern der Kern einer Theorie, die aus weit verzweigten Forschungen auf dem Gebiet der geschichtlichen und der individuellen menschlichen Entwicklung hervorgegangen ist. Dafür stehen vor allem die Namen und das Lebenswerk von Ernst Cassirer und Jean Piaget. Letzterer hat dieses Paradigma auf den Begriff des Genetischen Strukturalismus gebracht. Dieser, wie wir ihn nennen wollen, strukturgenetische Ansatz ist auch für unsere Theorie von konstitutiver Bedeutung. Ernst Cassirer ist als Begründer der Philosophie der symbolischen Formen in die Geschichte eingegangen. 14 Als »symbolische Formen« werden alle Kulturbereiche verstanden, vom Mythos über Religion, Kunst und Wissenschaft bis hin zu Technik und Wirtschaft, weil hier überall spezifische Bedeutungsgehalte sich mit symboli13 14

So schon Piaget 1968, 119 f., dt. 133 f. Vgl. Cassirer 1923, 1925, 1929.

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Leitideen der Theorie der Wirkwesen

schen Ausdrucksformen verbinden. Alle diese Kulturbereiche unterstehen deshalb einem je besonderen Strukturprinzip. 15 Aufgabe von Wissenschaft und Philosophie ist es, diese Strukturprinzipien aufzudecken und von ihnen her die Eigenart der verschiedenen Kulturformen zu erklären. 16 Als Pendant zum Strukturbegriff spielt für Cassirer aber auch der Begriff der Genese eine tragende Rolle. Denn die verschiedenen symbolischen Formen stehen nicht beziehungslos nebeneinander. Sie sind geschichtlich gewachsen, haben sich auseinander entwickelt, wobei für Cassirer der Mythos die ursprüngliche Matrix aller sich später ausdifferenzierenden Kulturformen ist. Am stärksten hebt sich die Wissenschaft vom Mythos ab. So wird die Genese aller Kulturformen aus der Urform des Mythos bei Cassirer zum Erklärungsziel. 17 Was Cassirer auf dem Gebiet der Kulturformen und ihres geschichtlichen Werdens begonnen hatte, führte Piaget für die Individualentwicklung des Menschen weiter. Nicht von Cassirer, aber von einem verwandten französischen Neukantianer, Léon Brunschvicg, übernahm Piaget die Auffassung, dass sich die Wissenschaft in aufeinander folgenden Wandlungsprozessen und Stufen aus dem Mythos entwickelt hat. Diese geschichtliche These formulierte er in eine Leithypothese für die Entwicklungspsychologie um: Auch von der menschlichen Entwicklung vom Kind zum Erwachsenen kann vermutet werden, dass sie in Schritten erfolgt und eine Stufenfolge aufweist, die jener der Geschichte nicht unähnlich ist. Erste Untersuchungen Piagets zum Weltbild des Kindes bestätigten diese Vermutung. 18 Das Kind ist kein kleiner Erwachsener, sondern unterscheidet sich in seinem Denken qualitativ vom Erwachsenen. So wurde die Untersuchung der menschlichen Erkenntnisentwicklung, insbesondere im logisch-mathematischen und physikalischen Bereich, zur Lebensaufgabe Piagets. Aus seinen Forschungen ging die genetische Epistemologie hervor, eine Theorie der Erkenntnisentwicklung von dem noch mythisch denkenden Kind bis hin zum wissenschaftsfähigen Erwachsenen. Diese Entwicklung erfolgt laut Piaget in einer sequenziellen Ordnung, d. h. in aufeinander folgenden Stufen, von denen keine übersprungen werden kann. Diesen Stufen liegen Struk15 16 17 18

Vgl. Cassirer 1923, ECW Bd. 11, 9. Vgl. Cassirer 1925, ECW Bd. 12, 13. Ebd. XI. Vgl. Piaget 1926.

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Der genetische Strukturalismus

turen zugrunde, die von dem sich entwickelnden Subjekt sukzessive konstruiert werden. Piagets Stufenmodell der Erkenntnisentwicklung werden wir in der Strukturgenetischen Anthropologie einbeziehen, wenn es um den Aufbau menschlicher Kognition geht. Hier interessieren uns vorerst die allgemeinen Annahmen über Strukturentwicklungen, die Piaget unter dem Namen des genetischen Strukturalismus formuliert hat und die auch als Leitideen unserer Theorie fungieren. 19

1.5. Der genetische Strukturalismus Der genetische Strukturalismus nimmt eine mittlere Position zwischen den beiden Extremen eines Genetismus ohne Struktur und eines Strukturalismus ohne Genese ein. Als einen Genetismus ohne Struktur kann man alle jene Theorien bezeichnen, die Entwicklungsprozesse auf Kausalfolgen reduzieren, ohne dabei die jeweiligen Strukturen zu berücksichtigen, in die diese Abläufe eingebettet sind. Darunter fallen in der Biologie der Lamarckismus, der die Evolution einfach durch die Umweltzwänge zu erklären versuchte, aber auch der Neodarwinismus, insofern bei der Erklärung der Evolution von zufälligen Mutationen ausgegangen wird, die in keinem inneren Zusammenhang mit der Struktur des Genoms stehen. In der Verhaltenstheorie zählt der klassische Behaviorismus dazu, der unter Einklammerung der Struktur von Organismen allein die Kausalbeziehung zwischen Reiz und Reaktion in Betracht zieht. In der Erkenntnistheorie liegt beim Empirismus von Hume ein Genetismus ohne Struktur vor, da sich die Umwelteinflüsse dem Geist wie einem unbeschriebenen Blatt einprägen und die daraus hervorgehenden Vorstellungen sich unter dem Zwang der Gewohnheit allein nach Assoziationsgesetzen miteinander verbinden. Im Gegensatz dazu führt das andere Extrem eines Strukturalismus ohne Genese alles auf Strukturen zurück, die keine wirkliche Entwicklung kennen und nur in einer unveränderlichen, überzeitSchon Habermas 1983, 16, sah im genetischen Strukturalismus Piagets »ein, auch für Philosophen und solche, die es bleiben möchten, lehrreiches Modell«, wobei er insbesondere an eine Verbindung transzendentaler und dialektischer Begründungsweisen dachte. In der Theorie der Wirkwesen wird mittels des strukturgenetischen Ansatzes vor allem ein innerer Zusammenhang von Natur, Leben und Geist angestrebt. Vgl. 1.6.

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Leitideen der Theorie der Wirkwesen

lichen Form existieren. Dazu zählen die vormodernen Theorien, die noch nicht von der Evolutionstheorie geprägt sind, so in stammesgeschichtlicher Hinsicht auch die aristotelische Formenlehre und der Fixismus von Linné. Bei den modernen Theorien fallen alle Formen eines Präformismus darunter, wie ihn etwa Chomsky für die Linguistik vertreten hat. Innerhalb des Strukturalismus hat, wie wir schon sahen, vor allem Lévi-Strauss dezidiert eine Stellung bezogen, die in Natur und Kultur den gleichen universellen Strukturen auf materialistischer Basis eine zeitenthobene Existenz zuschreibt. Für den genetischen Strukturalismus, der mit gleichem Recht auch ein strukturaler Genetismus genannt werden könnte, sind Struktur und Genese gleichwertig, weil sie in einer zyklischen Interdependenz stehen: Keine Struktur, die nicht aus einer Genese hervorgegangen ist, aber auch keine Genese, die nicht auf eine vorausliegende Struktur zurückweist. Gestalt und Gestaltung, Form und Formschaffung hängen damit in einem doppelten Sinn innerlich zusammen. Sowohl am Ausgangspunkt als auch am Endpunkt einer Genese steht jeweils eine Struktur, einmal als gestaltende Form, dann als gestaltete Form. Was sie miteinander verbindet, ist die Strukturation. Denn eine Strukturation im Vollsinn ist ein Prozess, der von einer bereits vorliegenden Struktur ausgeht und zu einer um- oder neugeschaffenen Struktur hinführt. 20

1.6. Die Bedeutung des strukturgenetischen Ansatzes für die Theorie der Wirkwesen Überträgt man nun den strukturgenetischen Ansatz auf die Theorie der Wirkwesen, so springt dabei als erstes ein genaueres Verständnis des Wirkens heraus, das einem Wirkwesen per definitionem zuzuschreiben ist. Sein Wirken ist primär der Schaffensprozess, der aus seinem Gestaltgrund seine Vollgestalt hervorgehen lässt. Anders gesagt: Das durch das Wirken eines Wirkwesens Bewirkte und Erwirkte ist in erster Linie es selbst als verwirklichtes Wesen. Diese Konzeption des Wirkens eines Wirkwesens reiht sich philosophiegeschichtlich in eine lange, aber immer wieder unterbrochene Traditionslinie ein. Sie beginnt mit Aristoteles, der an entscheiZum Ganzen vgl. Piaget 1967, 189–195, dt. 134–139; Piaget (ed) 1967, 130 f.; 1968, 10, 121, dt. 12, 135.

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Die Bedeutung des strukturgenetischen Ansatzes

denden, nicht adäquat rezipierten Stellen seiner Metaphysik ein wirkliches Wesen im Vollsinn (ousia) als das fasst, was seine volle Wirklichkeit (entelécheia) als Werk (érgon) seines Wirkens (enérgeia) in sich trägt. 21 Sie findet im 20. Jahrhundert einem dekadenten statischen Substanzdenken gegenüber, für das die Substanz das immer schon Vorliegende ist, bei Whitehead ihre provokative Zuspitzung. Whitehead lässt eine actual entity nicht bloß subject, d. h. zugrunde liegender Träger ihres Werdensprozesses sein, sondern bestimmt sie zusätzlich als superject, als immanentes Resultat eben dieses Prozesses, wobei eine actual entity im konkreten Vollzug ihrer selbst immer beides zugleich ist, subject-superject. 22 Wenn das so verstandene Wirken eines Wirkwesens bereits von anderen Denkern vorgedacht wurde, wo liegt dann das entscheidende Plus des strukturgenetischen Ansatzes, das ihn zum unverzichtbaren Bestandteil unserer Theorie macht? Es ist die paradigmatisch durchdachte Idee eines umfassenden, durchgängigen Abstammungsverhältnisses, einer Filiation von Strukturen, sowohl in der Individualentwicklung als auch im geschichtlichen Prozess der Evolution und der Kulturentwicklung, bei gleichzeitiger qualitativer Differenzierung dieser Strukturen. Piaget hat im Ausgang von der menschlichen Erkenntnisentwicklung eine Filiation von Strukturen postuliert, die von den materiellen Strukturen über die Organisationsformen des Lebendigen, die Verhaltensstrukturen und die sensomotorischen Strukturen bis hin zu den Denkstrukturen reicht. Diese Strukturen werden aber nicht nivelliert; die Filiation ist eine Kontinuität in der Differenz. Die Strukturen, die die höheren Entwicklungsstufen bilden, heben sich qualitativ von den vorangehenden ab, obwohl sie aus ihnen hervorgegangen sind. So kann man in den Denkstrukturen mit ihrem abstrakten, universellen und überzeitlichen Charakter mühelos die typischen Wesensmerkmale erkennen, die die klassische philosophische Tradition von Aristoteles bis Kant dem geistigen Erkennen zuschrieb. Piaget spricht sich denn auch dezidiert dagegen aus, die geistigen Strukturen auf materielle zu reduzieren; sein Konstruktivismus, der die Strukturen durch einen kreativen Prozess geschaffen sein lässt, ist ein erklärter Antireduktionismus. 23 Der Geist steht hier aber nicht 21 22 23

Vgl. Aristoteles, Metaphysik, Buch IX, Kap. 8, 1050a 21–23; Kap. 3, 1047a 30 f. Vgl. Whitehead 1929, 45, 155, dt. 101, 290, dazu Fetz 1981a, 209–219. Vgl. Piaget 1970, 121–123, dt. 143–145.

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Leitideen der Theorie der Wirkwesen

beziehungslos der Materie gegenüber; zwischen beiden vermitteln die Strukturen des Lebendigen den Übergang. Was das alles für eine Theorie der Wirkwesen bedeutet, macht man sich am besten klar, wenn man diese Filiation von Strukturen mit den Denkschemata vergleicht, die seit Descartes die europäische Tradition bestimmt haben. Descartes riss den ganzheitlichen, von Aristoteles geprägten mittelalterlichen Kosmos auseinander und reduzierte ihn auf die beiden Substanzarten Materie und Geist, die als grundverschiedene Wesen durch eine Kluft voneinander getrennt und im Menschen als Körper- und Geistwesen nur äußerlich miteinander verbunden sind. Alle körperlichen Wesen einschließlich der Lebewesen und des menschlichen Leibes werden als Maschinen gedacht. Dieser Dualismus von Materie und Geist und die mechanistische Auffassung der Körperwesen ist die Folge davon, dass Descartes den aristotelischen Formbegriff als wissenschaftlich unbrauchbar beiseiteschob, womit auch eine differenzierte Theorie des Lebendigen als Übergang zwischen Materie und Geist wegfiel und nur der Gegensatz beider übrig blieb. Dieser cartesische Dualismus konnte keinen Bestand haben, und so schwankt die europäische Geistesgeschichte in der Folge zwischen den beiden Monismen von Materialismus und Idealismus, die je eine Seite des cartesischen Dualismus absolut setzen und zur alleinigen Wirklichkeit erklären. Im Gefolge der Newton’schen Physik etablierte sich im 18. Jahrhundert der mechanistische Materialismus, dem sich im Ausgang von Kant der Deutsche Idealismus als alles umfassende Geistphilosophie entgegensetzte. Die Dominanz der Naturwissenschaften führte am Ende des 19. Jahrhunderts zu einem Wiederaufleben des Materialismus, der sich als die einzige wissenschaftskompatible Weltanschauung präsentierte und als solche von vielen Wissenschaftlern bis hin zum Strukturalisten Lévi- Strauß akzeptiert wird. Der vor gut einem Jahrzehnt erhobene Anspruch der Hirnforschung, Denken und Freiheit des Menschen auf physiologischer Basis zu erfassen und damit als angeblich genuin geistige Phänomene wegerklären zu können, ist das letzte Glied in einer langen Kette von Versuchen, dem Geist jeden Realitätsanspruch zu nehmen und die Materie zur alleinigen Wirklichkeit zu erheben. Die jahrhundertelange Auseinandersetzung zwischen Materialismus und Idealismus ist als ein Kampf der Weltanschauungen geführt worden, und sie war tatsächlich ein Streit der Ideologien. Als ein solcher gehört er der Geschichte an, auch wenn er in den Ver62 https://doi.org/10.5771/9783495820971 .

Die Einheit von Prozess-, Struktur- und Subjektdenken

suchen zur definitiven Etablierung eines umfassenden wissenschaftskonformen Materialismus immer noch weiterlebt. Vor diesem Hintergrund versteht sich die Theorie der Wirkwesen als ein umfassender einheitlicher Ansatz, der aber weder materialistisch noch idealistisch geprägt ist noch einer derartigen Tendenz folgt. Um aus einem solchen Dilemma herauszukommen, ist nun gerade der Strukturbegriff, wie er im genetischen Strukturalismus zur Geltung kommt, ein adäquates Mittel. Denn der Strukturbegriff ist hier weder materialistisch noch idealistisch vorbelastet, weil er per se weder einseitig der materiellen noch der geistigen Welt zugehört. Er ist vielmehr ein neutraler Begriff, ein Mittleres zwischen Geist und Materie, und erst durch zusätzliche Qualifikationen kann von geistigen beziehungsweise materiellen Strukturen gesprochen werden. Damit lässt sich das traditionelle Materie-Geist-Problem unbefangen neu angehen. Durch die Zwischenstufen des Lebendigen stehen überdies Materie und Geist nicht in einem abrupten Gegensatz zueinander. Die materiellen, biologischen und kognitiv-geistigen Strukturen gehen vielmehr aufgrund ihrer Filiationsbeziehungen trotz ihrer Differenzen kontinuierlich auseinander hervor. So kann mittels des strukturgenetischen Ansatzes eine Theorie angestrebt werden, die den cartesischen Dualismus und jede Form von Monismus ebenso hinter sich lässt wie die zu Beginn des 20. Jahrhunderts überspitzte Entgegensetzung von Leben und Geist, die schon Cassirer durch die vermittelnde Funktion des Symbolischen überwunden hat. Als Ideal gilt somit eine Theorie, in der die Wirkwesen durch eine Stufenfolge immer höherer Strukturen bestimmt werden, die Materie, Leben und Geist bruchlos aneinander bindet, ohne ihre Differenzen aufzuheben.

1.7. Die Einheit von Prozess-, Struktur- und Subjektdenken Versuchen wir nun die Theorie der Wirkwesen als ganze zu konturieren. Als charakteristisch für die Theorie können drei sich wechselseitig bedingende Denkweisen gelten: das Prozessdenken, das Strukturdenken und das Subjektdenken. Diese sind nicht der Sache nach zu trennen, sondern bilden nur drei begrifflich unterscheidbare Sichtweisen auf die Theorie. Für die Theorie der Wirkwesen besteht die Wirklichkeit aus 63 https://doi.org/10.5771/9783495820971 .

Leitideen der Theorie der Wirkwesen

einer Vielheit organismischer Prozesseinheiten. Damit ist das Prozessdenken für sie konstitutiv. Diese Prozesseinheiten existieren für sich, sind jedoch innerlich untereinander verbunden. Wirkwesen haben nur aufgrund ihrer Prozesse Bestand, in denen sie sich verwirklichen. Sie sind ebenso Träger und Ausgangspunkt wie Zielpunkt und Resultat der für sie konstitutiven Prozesse. So gesehen sind sie sowohl Schöpfer als auch Geschöpf ihrer selbst. Kreativität ist damit ein Grundzug der Wirkwesen und der Wirklichkeit insgesamt. Die Prozesse, durch die sich die Wirkwesen konstituieren, integrieren in der Regel Außenelemente, sind aber letztlich von innen, von dem sich verwirklichenden Wirkwesen selbst bestimmt. Ihre Selbstverwirklichung folgt einer Selbstregelung, die sich vor allem in Gleichgewichtsprozessen manifestiert. Was die Einheit eines Wirkwesens bewirkt, ist seine Grundstruktur. Diese kann Substrukturen in sich schließen, die für die Teileinheiten eines Wirkwesens bestimmend sind; in diesem Fall ist die Gesamtstruktur die einheitsbildende Form. So tritt zum Prozessdenken das Strukturdenken hinzu. Der Strukturbegriff wird organismisch und holistisch gefasst. Strukturen sind keine beliebigen Systeme oder Aggregate, in denen die Elemente nur eine äußerliche Verbindung eingehen, sondern ursprüngliche Ganzheiten, die die Elemente sowie das Binnengeschehen prägen und es der Selbstregelung der Struktur unterstellen. Aufgrund des Prozesscharakters eines Wirkwesens ist seine Struktur keine statische Größe. Jede Struktur hat ihren Werdeprozess, ihre Genese. Struktur und Genese stehen in einem wechselseitigen Bedingungsverhältnis. Jede Struktur weist auf eine Genese zurück, und jede Genese geht aus einer vorausliegenden Struktur hervor. Ein Wirkwesen ist in seiner Einheit als Prozesswesen sowohl strukturierende als auch strukturierte Struktur. Der Werdeprozess der höheren Wirkwesen ist als eine Abfolge von Strukturbildungen zu verstehen, die nach einer sequenziellen Ordnung kontinuierlich auseinander hervorgehen und durch qualitative Neuschöpfungen eine Höherentwicklung ermöglichen. Die Filiation von Strukturen in der Individualentwicklung, aber auch in der Evolution wird so zum zentralen Thema der Theorie der Wirkwesen. Ein Strukturdenken, in dem Strukturen ihre Genese haben und damit Strukturbildungen die entscheidenden konstitutiven Prozesse sind, ist mit einem Subjektdenken solidarisch. Denn Strukturbildungen, Strukturationen lassen sich nur denken, wenn eine entsprechende regulative Instanz, das heißt ein Organisationszentrum voraus64 https://doi.org/10.5771/9783495820971 .

Aktuelle Brennpunkte der Theorie

gesetzt wird, das über die Selbstregelung den Prozess in Richtung auf die zu bildende Struktur vorantreibt. Ein Wirkwesen mit seiner Selbstregelung und Selbststrukturierung hat damit grundsätzlich Subjektcharakter. Das ist der fundamentale Unterschied zu einem statischen Strukturalismus im Sinne von Lévi-Strauss, bei dem sich die Strukturen in Natur und Kultur ewig gleich bleiben, womit das Subjekt funktionslos geworden ist und Foucault pathetisch dessen Tod verkünden konnte. In einem Strukturalismus hingegen, wo Strukturationen die konstitutive Aktivität des Wirklichen ausmachen, so dass hier passender von einem »Strukurationismus« zu reden wäre, kehrt das Subjekt generell wieder. Das zeigt sich in einer anfänglichen Form schon bei den Elementarteilchen, die als physikalische Einheiten eine selbstzentrierte Dynamik aufweisen. Hier geht jedoch der Subjektcharakter bei der Bildung von Aggregaten zumindest äußerlich betrachtet verloren, was zum Erscheinungsbild passiver, nicht von einem Selbst bewegter »Dinge« führt. In den Lebewesen hingegen tritt mit ihren reflexiven, auf sich selbst bezogenen vitalen Prozessen der Subjektcharakter deutlich hervor. Und fortan wird in der Evolution die Intensivierung des Selbstbezuges zum eigentlichen Gradmesser der Höherentwicklung. Seinen Höhepunkt erreicht der Selbstbezug im Menschen, wo mit dem Selbstbewusstsein und der Selbstbestimmung der Person das Leben seine volle Reflexion gewinnt. So versichert sich die Theorie der Wirkwesen durch das Prozessdenken ihres dynamischen Charakters, gewinnt durch das Strukturdenken ihre innere Differenziertheit und vollendet sich als Subjektdenken im Humanum.

1.8. Aktuelle Brennpunkte der Theorie Die Gründergestalten der vorgestellten Theorie haben ihre Ideen in offener Auseinandersetzung mit den zu ihrer Zeit vorherrschenden Positionen und Ideologien entwickelt. Whiteheads Philosophie des Organismus setzte sich im Anschluss an die zu Beginn des 20. Jahrhunderts erfolgten Umwälzungen in der Physik vornehmlich vom mechanistischen Materialismus ab. Auch für das Strukturdenken im Sinne Cassirers und Piagets bildet der Mechanizismus die Kontrastfolie zu einem organismischen und holistischen Strukturverständnis. Wie schon Whitehead die Kreativität der Natur betonte, so versteht 65 https://doi.org/10.5771/9783495820971 .

Leitideen der Theorie der Wirkwesen

sich auch Piagets Konstruktivismus als eine Theorie, die die individuelle und geschichtliche Entwicklung als eine Folge echter Neuschöpfungen begreift und sich damit jeder Form von Reduktionismus entgegensetzt. Damit sind die wichtigsten gegnerischen Positionen benannt, gegen die die Vorläufer der Theorie der Wirkwesen angingen. Diese Auseinandersetzungen gehören zum Teil der Vergangenheit an, insofern die Gegenpositionen mehr oder weniger allgemein als überholt gelten. Sie haben aber auch auf wissenschaftlich neu erschlossenen Gebieten wie dem der Hirnforschung eine virulente Fortsetzung gefunden. Im Folgenden möchten wir kurz auf Bereiche hinweisen, die im Brennpunkt aktueller philosophischer und wissenschaftlicher Debatten stehen und auf denen sich die Theorie der Wirkwesen als Neuansatz zu bewähren hat. Im Gebiet von Physik, Chemie und Astronomie gilt trotz vieler Neuentdeckungen letztlich als ungeklärt, was Materie wirklich ist. Die Materie ist jedenfalls nicht Materie, lautet hier eine paradoxe Aussage, mit der man sich vom herkömmlichen Materiebegriff distanziert, ohne mehr als nur Vermutungen über eine adäquatere Fassung der Materie anstellen zu können. Für die Theorie der Wirkwesen ist diese Erkenntnislücke, die vielleicht nie befriedigend geschlossen werden kann, nicht unerheblich, geht es ihr doch darum, das Erscheinungsbild der Dingwelt so auf die ihr zugrunde liegenden letzten Einheiten durchsichtig zu machen, dass sich auch hier das Konzept der Wirkwesen in einer anfänglichen Form als stimmig erweist. Die größten Auseinandersetzungen, bei denen die Theorie der Wirkwesen ihre Relevanz zu demonstrieren hat, finden zurzeit auf dem Gebiet der Biologie statt. Im Zentrum steht das Ringen um eine angemessene Theorie der Evolution. Die beiden Extreme von Neodarwinismus und Kreationismus, die besonders in Amerika einander abrupt entgegengesetzt werden, können aus der Sicht der Theorie der Wirkwesen nicht genügen. Denn sie rekurrieren entweder auf eine Zufallsmutation mit anschließender Selektion oder auf eine göttliche Intervention, die beide nicht dem Rechnung tragen, was für unsere Theorie zentral ist, nämlich der Selbstregelung von Organismen. Es bleibt einer organismischen Biologie vorbehalten, aufgrund eines solchen Neuansatzes eine echte Alternative zu den bisherigen Theorien vorzulegen. Im Bereich der Anthropologie kann die Theorie der Wirkwesen 66 https://doi.org/10.5771/9783495820971 .

Aktuelle Brennpunkte der Theorie

auf hochentwickelte, bewährte und anerkannte Forschungstraditionen zurückgreifen, durch die sich der strukturgenetische Ansatz seine Geltung verschafft hat. Zu nennen ist hier natürlich in erster Linie die genetische Epistemologie Piagets, aber auch die Entwicklungstheorie der Moral von Kohlberg. In einem eigenen Band der Theorie der Wirkwesen werden wir versuchen, den strukturgenetischen Ansatz auf bisher unerschlossene Gebiete vorzutragen, so insbesondere auf die Entwicklung des Wirklichkeitsverständnisses und der philosophischen Reflexion, aber auch des Gewissens und der Freiheit. Ziel ist es, zu einer umfassenden Strukturgenetischen Anthropologie vorzustoßen, die die klassischen Definitionen des Menschen aufgreift und entwicklungstheoretisch fundiert, dabei aber auch zu einem neuen Verständnis des Menschen kommt. Von den Humanwissenschaften kam in den letzten Jahren der massivste Angriff auf das traditionelle Menschenbild aus der Hirnforschung. Durch die Reduzierung menschlicher Entscheidungsfindungen auf determinierte gehirnphysiologische Abläufe glaubte man die menschliche Freiheit wegerklären zu können. Nun ist die menschliche Freiheit für unsere Theorie ein Phänomen, das nicht quer zur Natur steht, sondern sich bruchlos in die Höherentwicklung der Lebewesen einfügt. Strukturen, so sahen wir, zeichnen sich generell durch eine Selbstregelung, und die Organismen durch einen Selbstbezug aus. Die damit grundgelegte Subjektivität gewinnt bei den höheren Tierarten immer mehr an Reflexivität und Intensität. Die Freiheit präsentiert sich vor diesem Hintergrund als die höchstmögliche Form, die die Selbstregelung und der Selbstbezug durch die menschliche Selbsterkenntnis und Selbstbestimmung erlangen können. Natürlich ist damit das Zusammenspiel von gehirnphysiologischen Prozessen und freier Entscheidung noch nicht geklärt. Aber durch die generelle Behauptung einer Filiation von Strukturen, die die kognitiven aus den organischen hervorgehen lässt, ist zumindest der Weg für ein komplementäres Verständnis von physiologischen und mental-bewussten Vorgängen abgesteckt. Mit grundsätzlichen Fragen sieht sich die Theorie der Wirkwesen auch durch die Kybernetik und Neurotechnologie konfrontiert. Kann einem Computer ein Kombinationsvermögen zugesprochen werden, das mit menschlichen Denkleistungen vergleichbar ist? Wie weit reichen die Gemeinsamkeiten von menschlicher und künstlicher Intelligenz, und wo beginnen die Unterschiede? Kann – um einen für unsere Theorie besonders bedeutsamen Punkt hervor67 https://doi.org/10.5771/9783495820971 .

Leitideen der Theorie der Wirkwesen

zuheben – ein Artefakt wie der Computer über eine Selbstregelung verfügen, die ähnlich vorgeht wie jene von natürlichen Strukturen und speziell von Organismen? Was sind die Konsequenzen für Selbstbewusstsein, Emotionalität und überhaupt für die conditio humana? Angesichts der aktuellen Tendenzen zu einem Transhumanismus, der die Menschen der Zukunft durch einen vernetzten robotergesteuerten Maschinenpark optimieren will und sich davon den nächsten Emergenzsprung in der Evolution verspricht, wird die bisherige Auseinandersetzung zwischen mechanistischen und organismischen Anschauungsweisen wieder in einem Ausmaß virulent, wie es sich die Verfechter des Homme machine im achtzehnten Jahrhundert nicht hätten träumen lassen. Schließlich darf das gravierendste aller aktuellen politischen Probleme, der Umweltschutz, nicht unerwähnt bleiben. Ökologie, der angemessene Umgang mit der Natur, ist zuerst eine Frage des rechten Naturverständnisses. Die Theorie der Wirkwesen darf von sich behaupten, dass sie eine genuin ökologische Theorie ist. Indem sie die unterschwellig vorherrschende Auffassung der Welt als einem Nebeneinander beziehungsloser Dinge durch das Konzept einer Solidargemeinschaft konstitutiv miteinander verbundener Wesen ersetzt, schafft sie die Grundlage, auf der das Naturganze als eine echte Hausgemeinschaft – oikós – verstanden werden kann. Damit gibt sie das Ideal für eine ökologische Ethik vor, die die verschiedenen Ökosysteme im menschlichen Handeln angemessen zu berücksichtigen vermag. Fragen wie die in allen diesen Bereichen angeschnittenen lassen sich nicht im Alleingang des Philosophen beantworten. Sie rufen nach einer interdisziplinären Zusammenarbeit mit den jeweiligen Fachdisziplinen. Die Theorie der Wirkwesen trägt diesem Umstand dadurch Rechnung, dass sie strukturell zwischen dem allgemeinen Kern der Theorie und den gebietsspezifischen Kernerweiterungen unterscheidet. Hat der Strukturkern, in dem die Prinzipien und Grundbegriffe der Theorie zusammengefasst sind, einen wesentlich philosophischen Charakter, so sind die Kernerweiterungen nicht ohne den Beizug der jeweiligen Einzelwissenschaften denkbar. Strukturkern und Kernerweiterungen stehen in einem wechselseitigen Bedingungsverhältnis. Beide aber gelten als revidierbar, womit die Theorie als ganze sich ihre grundsätzliche Offenheit bewahrt. Mit diesem strukturalen Aufbau der Theorie wollen wir uns im nächsten Kapitel befassen. 68 https://doi.org/10.5771/9783495820971 .

2. Die Struktur der Theorie der Wirkwesen

Wenn die Theorie der Wirkwesen ein umfassendes Megaparadigma für Philosophie und Wissenschaft bilden will, so muss sie sich eine eigene theoretische Gestalt geben. Die konzeptuelle Ausrichtung einer Theorie und ihre Methodologie sind nicht voneinander unabhängig, sondern bedingen einander. Die allgemeinen Konturen der Theorie der Wirkwesen werden durch das Prozess- und Strukturdenken sowie das Subjektdenken bestimmt. Ist nun eine Wissenschaftstheorie denkbar, die dynamisch angelegt und struktural aufgebaut ist und sowohl einen global philosophischen als auch einen empirischeinzelwissenschaftlichen Charakter hat? Als eine Wissenschaftstheorie, die diese Kriterien erfüllt, möchten wir hier eine generalisierte, auf die Philosophie hin geöffnete Form des sogenannten Non Statement Views empirischer Theorien vorlegen, der in den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts von Wolfgang Stegmüller im Ausgang von J. D. Sneed entwickelt wurde. 1 Als Non Statement View wird diese Theorie in Abhebung von einem Statement View bezeichnet – wir werden das unten ausführlich erläutern. In positiver Wendung hat ihr Autor sie im Anschluss an Bar-Hillel das »strukturalistische Theorienkonzept« 2 genannt und damit ausdrücklich eine Verbindung zum Strukturalismus hergestellt. Wir werden im Folgenden abwechselnd vom Non Statement View oder dem »strukturalistischen Theorienkonzept« sprechen, je nachdem, ob die Abgrenzung vom Statement View oder das strukturale Gefüge der Theorie im Vordergrund steht. Stegmüller hat dieses Konzept im Anschluss an Thomas S. Kuhns Theorie der Paradigmenwechsel und in Abkehr vom Logischen Empirismus einerseits, vom Kritischen Rationalismus andererseits entwickelt. Um seine Rekonstruktion von Kuhn zu verstehen, 1 2

Vgl. Stegmüller 1973; Sneed 1971. Stegmüller 1987a, 468; vgl. 1987b, 306.

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Die Struktur der Theorie der Wirkwesen

müssen wir zuerst an dessen Paradigmentheorie und ihre scheinbar unlösbaren Rationalitätsprobleme erinnern.

2.1. Die Kuhn’sche Paradigmentheorie und ihre Rationalitätslücken Bekanntlich hat sich Kuhn in seinem erstmals 1962 erschienenen, umwälzenden Werk Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen vor allem gegen die bis dahin vorherrschende Auffassung gerichtet, die Entwicklung der Wissenschaft, insbesondere der Physik, erfolge in einem linearen, kumulativen Wachstumsprozess. Einem solchen quantitativen und additiven Schema setzte Kuhn die Idee qualitativer Sprünge entgegen, der zufolge in der Geschichte einer Wissenschaft verschiedene Typen einander ablösen. Jeder von ihnen ist durch ein »Paradigma« geprägt, wobei dieser Schlüsselbegriff bei Kuhn zugleich für ein wissenschaftliches Ideal, eine Verstehens- und Herangehensweise an die Phänomene samt dem dazugehörigen wissenschaftlichen Instrumentarium, aber auch für exemplarische Beispiele einer damit betriebenen Wissenschaft steht. 3 Mit dieser einem Paradigma zugesprochenen wissenschaftskonstitutiven Rolle wird die These des Logischen Empirismus ausgeschlossen, dass reine, theoriefreie Sinnesdaten die Basis der Wissenschaft bilden. Gegenüber diesem »Mythos des Gegebenen« (W. Sellars) insistiert Kuhn mit anderen Wissenschaftstheoretikern auf der »Theoriebeladenheit« aller wissenschaftlichen Daten, die aus ihrer Prägung durch das Paradigma resultiert. Die Wissenschaft tritt in zwei Formen auf. Die »normale« Wissenschaft erfolgt im Inneren und gemäß den Vorgaben eines Paradigmas, das damit eine wissenschaftliche Tradition begründet. Eine »außerordentliche« Form von Wissenschaft hingegen setzt dann ein, wenn ein Paradigma bei der Lösung anstehender Probleme in unüberwindliche Schwierigkeiten gerät und diese sich zu eigentlichen »Anomalien« auswachsen. Nun wird das Paradigma selbst in Frage gestellt, was einer wissenschaftlichen »Krise« gleichkommt. Diese findet ihr Ende erst dann, wenn ein neues, stärkeres Paradigma gefunden wird, das die Schwierigkeiten des alten Paradigmas zu beheben vermag.

3

Zum Begriff des Paradigmas vgl. Hoyningen-Huene 2010.

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Die Notwendigkeit einer Revision der herkömmlichen Wissenschaftstheorie

Dessen Ablösung und Ersetzung durch das neue Paradigma macht eine »wissenschaftliche Revolution« aus. An deren Ende etabliert sich ein neuer Typus von Wissenschaft, der eine neue Epoche »normaler« Wissenschaft einleitet. Was nun bei Kuhns Beschreibung eines Paradigmenwechsels wie ein Schock wirkte, war der Umstand, dass sie jede rationale Erklärung in Frage zu stellen schien, namentlich jene von Poppers Kritischem Rationalismus. Laut Popper muss eine empirische Theorie infolge ihrer Falsifikation aufgegeben werden, die das höchste Rationalitätskriterium ausmacht. 4 Kuhn zufolge findet jedoch diese Falsifikationsthese überhaupt keine Bestätigung durch die Wissenschaftsgeschichte. Vielmehr soll ein Paradigma gegen seine Falsifikation geradezu immun sein. Nicht eine Falsifikation, sondern das Auftreten eines stärkeren Rivalen bereitet seiner Herrschaft ein Ende. Dazu kommt eine weitere, ebenso gravierende Rationalitätslücke. Die in der Geschichte aufeinander folgenden Paradigmen sind laut Kuhn inkommensurabel, da sie auf unterschiedlichen theoretischen Voraussetzungen beruhen. Damit wird die Idee eines wissenschaftlichen Fortschritts haltlos, was auf einen radikalen historischen Relativismus hinauszulaufen scheint. Diese Probleme hielten für mehr als ein Jahrzehnt die wissenschaftstheoretische Diskussion in Atem.

2.2. Die Notwendigkeit einer Revision der herkömmlichen Wissenschaftstheorie Wie bezieht nun Stegmüller Kuhn gegenüber Stellung? Er geht davon aus, dass strikt zwischen dem unterschieden werden muss, was Kuhn als Wissenschaftshistoriker behauptet, und der Wissenschaftstheorie, die er damit verbindet. Anders als jene Kritiker Kuhns, die den Konsequenzen seiner Theorie dadurch zu entkommen meinten, dass sie die historische Richtigkeit seiner Thesen bezweifelten, stellt Stegmüller deren Zutreffen nicht in Frage, sondern akzeptiert sie vielmehr voll und ganz. Unannehmbar ist für Stegmüller hingegen die herkömmliche Wissenschaftstheorie, die Kuhn übernimmt; sie soll auch nicht zu seinem intuitiven Wissenschaftsverständnis passen. Daraus ergibt sich für Stegmüller die Aufgabe einer »logischen

4

Vgl. Popper 1935.

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Die Struktur der Theorie der Wirkwesen

Rekonstruktion« der historischen Thesen Kuhns, die diese voll in ihr Recht setzt und auf neue Weise rational nachvollziehbar macht. 5 Eine geläufige Reaktion auf Kuhn bestand darin, dass man die Wissenschaftsgeschichte und die Wissenschaftstheorie als zwei grundverschiedene, strikt zu trennende Disziplinen hinstellte. Die erste sei deskriptiver, die zweite normativer Natur. Damit würden auch die Resultate der Wissenschaftsgeschichte die Wissenschaftstheorie nicht tangieren. So hat insbesondere Popper den »normalen« Wissenschaftler im Sinne Kuhns, der gegen die Falsifikation seines Paradigmas immun ist, als eine bemitleidenswerte Figur charakterisiert, weil es sich um einen bornierten Dogmatiker handle. Abhilfe könne nur eine normative Methodologie bringen, die das Ideal des wahren, kritischen Wissenschaftlers vorführe. 6 Zudem sei die Wissenschaftslogik statisch, weil auf die idealen Beziehungen im Erkenntnisgefüge gerichtet, und sehe von den reellen, mehr oder weniger zufälligen Entstehungsbedingungen wissenschaftlicher Erkenntnisse ab, für die der Historiker und darüber hinaus der Psychologe und der Soziologe zuständig seien. Reichenbach hatte zu diesem Zweck zwischen dem »Entdeckungszusammenhang« und dem »Begründungszusammenhang« einer wissenschaftlichen Theorie unterschieden – eine Differenzierung, die Popper sich zu eigen macht. Stegmüller verwirft diese Annahmen. Wird die Wissenschaftstheorie auf den statischen Aspekt der Wissenschaft beschränkt und der dynamische von ihr ausgeschlossen, so entgeht ihr ein ganz wesentlicher Aspekt der Wissenschaft. 7 Nicht umsonst hat Stegmüller deshalb seinem Hauptwerk den Titel Theorienstrukturen und Theoriendynamik gegeben. Die Affinität zu dem für die Theorie der Wirkwesen in Anspruch genommenen Genetischen Strukturalismus springt ins Auge, und diese Verwandtschaft wird sich noch deutlicher erweisen. Soll die Wissenschaftstheorie auch den dynamischen Aspekt der Wissenschaft einschließen, so müssen Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftslogik eine innere Verbindung eingehen, auch wenn sie als eigenständige Disziplinen getrennt bleiben. Aber sie bedingen sich wechselseitig. Eine totale Unverträglichkeit der Thesen beider ist damit nicht mehr denkbar. Da nun zwischen der herkömmlichen 5 6 7

Vgl. Stegmüller 1987b, 279 f.; 1973, 310. Vgl. Popper 1970, 52. Vgl. Stegmüller 1973, 184.

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Vom Statement View zum Non Statement View empirischer Wissenschaften

Wissenschaftstheorie und der Wissenschaftsgeschichte, wie Kuhn sie sieht, eine Inkompatibilität besteht, die historische Richtigkeit von Kuhns Thesen jedoch nicht bestritten werden kann, ergibt sich für Stegmüller zwingend die Notwendigkeit einer fundamentalen Revision der bisher üblichen wissenschaftstheoretischen Grundannahmen. 8 Die historischen Thesen Kuhns müssen, anders gesagt, logisch rekonstruiert werden.

2.3. Vom Statement View zum Non Statement View empirischer Wissenschaften Worauf beruht bei Kuhn der Eindruck der Irrationalität seiner Thesen? Von dieser Frage geht Stegmüller bei seiner Rekonstruktion aus. Die Antwort ist schnell gefunden: In den empirischen Wissenschaften, wie Kuhn sie beschreibt, gibt es nichts, was einem logischen Beweisverfahren entspricht. Weder beruhen die empirischen Wissenschaften auf einer Verifikation mittels Induktion, wie der Logische Empirismus sie fordert, noch schließen sie eine Deduktion mit der Möglichkeit einer Falsifikation ein, wie der Kritische Rationalismus Poppers sie verlangt. Die empirischen Wissenschaften scheinen nach Kuhn überhaupt keine formale Validierung zu kennen. Hier ortet nun Stegmüller ein fundamentales Missverständnis. In den empirischen Wissenschaften nach einem formalen Beweisverfahren zu suchen, bedeutet implizit, dass man ihnen eine ähnliche Struktur zuschreibt wie den mathematischen Wissenschaften. Es ist die Orientierung an der Metamathematik, die die Theorie der empirischen Wissenschaften auf einen Irrweg geführt hat. Unter allen Wissenschaften ist die Mathematik die am besten analysierte Wissensform, die in der Metamathematik ihre Struktur präzis geklärt hat. Mathematische Theorien präsentieren sich als Systeme oder Klassen von Sätzen oder Propositionen, zwischen denen strenge Ableitungsbeziehungen herrschen: von den Axiomen und Definitionen lassen sich nach genauen Regeln die Theoreme deduzieren. Entsprechend benennt Stegmüller diese Auffassung, wonach Theorien Satzklassen sind, als Statement View oder als Aussagenkonzeption von Theorien. 9 8 9

A. a. O., 180. A. a. O., 2.

73 https://doi.org/10.5771/9783495820971 .

Die Struktur der Theorie der Wirkwesen

Es ist verständlich, dass die Wissenschaftstheorie der Verlockung erlag, die so klare Metamathematik zum Vorbild auch für die empirischen Wissenschaften zu nehmen und sie entsprechend gemäß dem Statement View zu konzipieren. Nacheinander wurde das in den beiden Varianten: Verifikation mittels Induktion (Logischer Empirismus), oder Falsifikation mittels Deduktion (Kritischer Rationalismus) versucht. Doch wenn Kuhns historische Beschreibung zutrifft – und daran ist nach Stegmüller nicht zu zweifeln –, entspricht weder das eine noch das andere Validierungsverfahren dem tatsächlichen Vorgehen in den empirischen Wissenschaften. Das aber heißt, dass der Statement View nicht auf empirische Theorien übertragen werden kann. Sie sind nicht wie mathematische Theorien Satzsysteme, sondern Gebilde anderer Art. In Abhebung vom Statement View der Mathematik muss somit eine empirische Theorie nach einem anderen Modell konzipiert werden, drängt sich für sie ein Non Statement View auf. 10 Aber diese negative Kennzeichnung erklärt noch nicht, wie eine empirische Theorie positiv zu konzipieren ist.

2.4. Die logische Rekonstruktion von Kuhns Paradigmentheorie Stegmüllers logische Rekonstruktion der Paradigmentheorie Kuhns ist eine höchst ideenreiche und formal ausgefeilte Weiterführung von J. D. Sneeds Metatheorie der Physik, die dieser in The Logical Structure of Mathematical Physics 11 vorgelegt hatte und die selbst schon äußerst kompliziert ist. Wir können und müssen hier weder auf die logisch-mathematischen noch auf die physikalischen Einzelheiten der Rekonstruktion eingehen, sondern können uns mit einer Darstellung der allgemeinen Rahmenvorstellungen begnügen, die wir in einer philosophisch erweiterten und auf unsere Bedürfnisse abgestimmten Form als Wissenschaftskonzept der Theorie der Wirkwesen zugrunde legen wollen. 12 Führen wir uns zuerst vor Augen, wie Stegmüller die »normale« Wissenschaft im Sinne Kuhns neu konzipiert. Forscher, die »normale« Wissenschaft betreiben, müssen über eine Theorie verfügen. Ebd. Vgl. 1987b, 305 f. Sneed 1971. 12 Vgl. zum Folgenden Stegmüller 1973, 184–287, und die Zusammenfassung in 1987b, 306–315. 10 11

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Die logische Rekonstruktion von Kuhns Paradigmentheorie

Dieser scheinbar banale Begriff des »Verfügens über eine Theorie« erhält nun bei Stegmüller eine zentrale Bedeutung. Er zeigt an, dass eine empirische Theorie funktional als ein Instrument zur Erkenntnisgewinnung zu sehen ist. Da eine empirische Theorie gemäß dem Non Statement View per definitionem nicht ein System von Sätzen oder Propositionen sein kann, die in einem direkten Ableitungsverhältnis zueinander stehen, kann hier eine Theorie nicht ein in sich geschlossenes sprachliches Gebilde sein. Über eine Theorie verfügen heißt vielmehr, dass der Forscher über ein relationales begriffliches Gerüst disponiert, womit hier der strukturale Aspekt dieses Theoriekonzepts in den Blick kommt. Dieses Beziehungsgefüge besteht aus einem Strukturkern K und seinen intendierten Anwendungen I, die zusammen ein geordnetes Paar bilden. Der Strukturkern ist die logische, seine intendierten Anwendungen sind die empirische Komponente der Theorie. Der Strukturkern als die logische Komponente besteht vor allem aus der in Anwendung gebrachten mathematischen Grundstruktur sowie den mit ihr verbundenen Grundregeln. Die empirische Komponente wird durch die Anwendungsbereiche der mathematischen Grundstruktur gebildet. Diese Anwendungen sind nicht von Anfang an festgelegt, sondern können sich ändern. Eine empirische Theorie kann sich neue Anwendungsbereiche erschließen, aber auch alte verlieren. Entsprechend wird der Begriff der »Menge M der intendierten Anwendungen« des Strukturkerns eingeführt, wobei unterstrichen werden muss, dass es sich um eine »offene« Menge handelt. Gerade in diesem Punkt unterscheidet sich eine empirische Theorie grundlegend von einer mathematischen, wo die betroffenen Einheiten extensional festgelegt sind. Eine empirische Theorie funktioniert aber nur dann, wenn sie einige tatsächliche Anwendungen vorweisen kann, d. h. Beispiele, wo sie Erfolg hat. Dafür benützt Stegmüller nun den Begriff des Paradigmas, der im Sinne Wittgensteins für Beispiele herangezogen wird, die für die Theorie wirklich exemplarisch sind. Sie werden »paradigmatische Beispiele« genannt. In der Menge M der intendierten Anwendungen bilden sie die Untermenge Mo, die in keinem Fall eine leere Klasse sein darf. Um die logische Komponente auf die paradigmatischen Beispiele abzustimmen, muss innerhalb der ersten eine Differenzierung eingeführt und zwischen dem Strukturkern und peripheren Elementen unterschieden werden. Der Strukturkern enthält das, was Stegmüller 75 https://doi.org/10.5771/9783495820971 .

Die Struktur der Theorie der Wirkwesen

das »Fundamentalgesetz« der betreffenden mathematischen Struktur nennt, sowie allgemeine Bedingungen, die für alle Anwendungen gelten. Eine sogenannte »Kernerweiterung« umfasst hingegen die speziellen Gesetze und Bedingungen, die auf einen Einzelbereich zutreffen. So muss es eine Kernerweiterung Eo für die paradigmatische Beispielsmenge Mo geben. Die Erweiterungen des Strukturkerns, die im Hinblick auf seine verschiedenen Anwendungsbereiche vorgenommen werden, bilden die »Hypothesen«, die im Namen der Theorie formuliert werden. Sie entsprechen dem, was Kuhn das puzzle solving nennt. Die Hypothesen sind Versuche, mit Hilfe des Strukturkerns Lösungen für besondere Problembereiche zu finden. Im Unterschied zum Strukturkern können die Hypothesen entsprechend den gemachten Erfahrungen verändert werden. Der Begriff der Hypothese wird hier also präziser und enger als gewöhnlich gefasst; er darf insbesondere nicht mit einer empirischen Theorie als ganzer gleichgesetzt werden. Die bisher unterschiedenen Elemente, nämlich die Untermenge Mo der paradigmatischen Beispiele und der Strukturkern K, bereichert um die Erweiterung Eo im Hinblick auf die Anwendung in Mo, bilden die Basis einer empirischen Theorie und sind zugleich die Garanten ihrer Identität. Sie ermöglichen die »normale« Wissenschaft im Kuhn’schen Sinn. Wenn nämlich diese Basis etabliert ist, können die Forscher versuchen, sie zu erweitern, indem sie die Theorie auf neue Bereiche M1, M2, M3 etc. anwenden, was mit Hilfe neuer Kernerweiterungen (»Hypothesen«) E1, E2, E3 etc. geschieht. Gelingt ein solcher Versuch, so kann von einem »Fortschritt« gesprochen werden, sowohl in theoretischer als auch in empirischer Hinsicht. Die Vorteile dieser rekonstruierten Paradigmentheorie gegenüber ihrer Kuhn’schen Fassung liegen auf der Hand. Sie ermöglicht erstens, der »normalen« Wissenschaft ein klares Profil zu geben. Forscher teilen die gleiche wissenschaftliche Tradition, wenn sie über die gleiche empirische Theorie verfügen, d. h. über den gleichen erweiterten Strukturkern. Sie anerkennen seinen Erfolg hinsichtlich der paradigmatischen Beispiele und hoffen, mit Hilfe des gleichen Strukturkerns und seiner spezifischen Erweiterungen der Theorie neue Anwendungsbereiche erschließen zu können. In dem Maße, in dem das gelingt, kann auf der Ebene der normalen Wissenschaft ein Erfolg konstatiert werden. Noch wichtiger aber ist, dass diese Rekonstruktion Kuhns umstrittene These von der Immunität eines Paradigmas 76 https://doi.org/10.5771/9783495820971 .

Die logische Rekonstruktion von Kuhns Paradigmentheorie

sowohl aufrecht zu halten als auch zu entschärfen vermag. Im Gegensatz zu Kuhn kann Stegmüller behaupten, dass die »Hypothesen« einer empirischen Theorie überprüfbar sind, d. h. verifiziert oder falsifiziert werden können. Die erste fundamentale Rationalitätslücke in Kuhns Paradigmentheorie, nämlich das Fehlen jeglichen Validierungsverfahrens, kann damit geschlossen werden. Andererseits kann aber ein Paradigma immer noch, wie Kuhn es will, als immun gelten – nun aber nicht hinsichtlich der Erweiterungen und Hypothesen, sondern ausschließlich bezüglich des Strukturkerns. Denn dieser wird durch die Widerlegung einer bestimmten Kernerweiterung oder Hypothese nicht in Frage gestellt, und es bleibt logisch betrachtet immer denkbar, dass eine neue Kernerweiterung gelingt, die die Erschließung eines bis dahin widerspenstigen Bereiches ermöglicht. Bleibt die Frage, wie die »außerordentliche« Wissenschaft zu rekonstruieren ist. Wie kommt ein Paradigmenwechsel zustande, d. h. eine wissenschaftliche Revolution? Auf dem Weg einer Falsifizierung ist das nach dem bisher Gesagten nicht möglich, da das Prädikat »falsifizierbar« grundsätzlich nicht vom Strukturkern ausgesagt werden kann. Falsifizierende Experimente betreffen nur bestimmte »Hypothesen« oder Kernerweiterungen einer empirischen Theorie, nicht aber diese als ganze. Durch Falsifizierung kann also nicht die Preisgabe eines Paradigmas erzwungen werden, wie Kuhn richtig sah. Wohl aber kann dieses durch eine stärkere Ersatztheorie verdrängt werden. Die dazu führenden »Anomalien« im Kuhn’schen Sinn lassen sich nun neu interpretieren: Sie treten dann auf, wenn über lange Zeit keine Kernerweiterungen glücken, die die Erschließung sich widersetzender Bereiche ermöglichen. Diese Situation bereitet den Boden für die Verdrängung der Theorie durch einen stärkeren Rivalen, d. h. durch eine Theorie, die die ungelösten Probleme zu bewältigen vermag. In dieser Perspektive kann schließlich auch die zweite große Rationalitätslücke Kuhns, die den revolutionären Wandel betrifft, zumindest pragmatisch geschlossen werden. Kuhn hatte behauptet, dass die geschichtlich aufeinander folgenden Paradigmen inkommensurabel sind, da sie auf ganz verschiedenen Grundvoraussetzungen beruhen, was jeden historischen Fortschritt in Frage zu stellen und einem völligen Relativismus gleich zu kommen schien. Diese Behauptung lässt sich insofern nicht entkräften, als auch nach der Rekonstruktion die Strukturkerne verschiedener Paradigmen begrifflich nicht vergleichbar und damit inkommensurabel sind. Wohl aber können die 77 https://doi.org/10.5771/9783495820971 .

Die Struktur der Theorie der Wirkwesen

effektiven Erklärungsleistungen verschiedener Paradigmen miteinander verglichen werden, indem die jeweils von ihnen erschlossenen Bereiche gegeneinander abgewogen werden. Wenn nun ein Paradigma sowohl die Leistungen eines früheren Paradigmas mit einschließt als auch neue Bereiche zu integrieren vermag, dann kann aufgrund dieses ausgeweiteten Erklärungsvermögens wenigstens extensional von einem historischen Fortschritt gesprochen werden.

2.5. Mathematischer und ontologischer Aspekt des Strukturkerns Wie schon sein Vorläufer Sneed hat Stegmüller bei seiner Rekonstruktion von Kuhns Paradigmentheorie ausschließlich die mathematische Physik im Auge. Darüber hinausreichende philosophische Aspekte werden von ihm nicht in Betracht gezogen. Für die Theorie der Wirkwesen reicht damit seine Rekonstruktion nicht aus. Was fehlt, ist die Berücksichtigung des Wirklichkeitsaspekts, anders gesagt der ontologischen Komponente einer umfassend angelegten empirischen Theorie. Im Unterschied zu Stegmüller hat Kuhn diesen ontologischen Aspekt im Postscript zur zweiten amerikanischen Ausgabe seines Hauptwerks ausdrücklich thematisiert. 13 Ein erneuter Rekurs auf Kuhn kann deshalb zeigen, worum es hier zusätzlich zu dem von Stegmüller fokussierten mathematischen Aspekt geht. Bei seiner historischen Analyse der Entwicklung der Physik hat Kuhn nicht nur die Perioden seit Galilei und Newton und bis hin zu Einstein einbezogen, sondern auch die früheren Perioden, beginnend bei den Griechen und besonders bei Aristoteles. Diese Zeit galt in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts und bis zu Kuhn als eine »vorwissenschaftliche« Epoche der Physik. Als Begründung dafür wurde angeführt, dass die Physik hier noch mit keinem mathematischen Instrumentarium, also mit keiner Formalisierung arbeitete und auch das Experiment nicht anwendete. Entsprechend wurde auch den theoretischen Konzepten nur ein vorläufiger wissenschaftlicher Status zugebilligt. Kuhn hat nun unvoreingenommen die theoretischen Konzepte der verschiedenen Epochen und namentlich jene von Aristoteles, 13

Vgl. Kuhn 1970.

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Mathematischer und ontologischer Aspekt des Strukturkerns

Newton und Einstein miteinander verglichen, und er kommt zu dem verblüffenden Ergebnis, dass »unter verschiedenen Aspekten, wenn auch keineswegs unter allen, Einsteins Allgemeine Relativitätstheorie näher bei Aristoteles steht als jede von ihnen bei Newton«. 14 Damit ist aber die generelle Einstufung der Aristotelischen Physik als einer vorwissenschaftlichen Theorie nicht mehr haltbar. In ihr findet sich eine echte Grundlagenforschung, die nicht an ihrem wissenschaftlichen Charakter zweifeln lässt, auch wenn sie noch keine mathematische Operationalisierung kennt und insofern als vorwissenschaftlich bezeichnet werden kann. Aber die mathematische Formalisierung ist nur ein Aspekt wissenschaftlicher physikalischer Theorien, nicht ihr einziger. Um das zu klären, unterscheidet nun Kuhn bei einer wissenschaftlichen Theorie zwischen ihrem ontologischen und ihrem instrumentalen Aspekt. Der ontologische Aspekt betrifft die involvierte Wirklichkeitsauffassung und beantwortet explizit oder implizit die Frage, welche Wesen als wirklich angenommen werden und wie diese beschaffen sind. Zum Ausdruck kommt dies in den Grundbegriffen und Rahmenvorstellungen einer Theorie. Der instrumentale Aspekt hingegen umfasst die eingesetzten Denkmittel, von der einfachen Logik bis hin zu einem komplizierten mathematischen Kalkül. Die beiden Aspekte sind relativ unabhängig voneinander, und entsprechend kann der eine oder der andere favorisiert werden. Damit können wir verstehen, warum Kuhn behaupten kann, Aristoteles habe eine größere Affinität zu Einstein als beide zu Newton. Diese Behauptung bezieht sich auf den ontologischen, nicht aber auf den instrumentalen Aspekt. Die Physikgeschichte von Aristoteles über Newton zu Einstein kann damit unterschiedlich geschrieben werden, je nachdem, ob man sich vorwiegend auf den ontologischen oder auf den instrumentalen Aspekt bezieht. Unter dem ontologischen Aspekt kann die Ablösung der aristotelischen Physik durch Newton, d. h. die Ersetzung eines organismischen Naturverständnisses durch ein mechanistisches, als ein Rückschritt gelten. Einstein und die aktuelle Physik haben jedoch das mechanistische Denken weitgehend hinter sich gelassen und sich wieder einem organismischen Verständnis angenähert. Für den instrumentalen Aspekt hingegen gilt, dass er in seiner mathematischen Form bei Aristoteles fehlt, erst mit Galilei und Newton in die Physik Einzug hielt und 14

A. a. O. 206 f.

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Die Struktur der Theorie der Wirkwesen

dann bei Einstein eine komplexere Gestalt (nichteuklidische Geometrie) gewann, was den früher generell behaupteten Übergang von einer »vorwissenschaftlichen« zu einer »wissenschaftlichen« Epoche rechtfertigte. Im Hinblick auf die Theorie der Wirkwesen ist es nun wichtig, den Zusammenhang zwischen dem ontologischen und dem instrumentalen Aspekt genauer zu erfassen. Dieser folgt einer einfachen Regel: Je einfacher die Ontologie gehalten wird, desto leichter lässt sie sich in mathematische Formeln umsetzen. Und je komplexer die Ontologie ausfällt, desto schwieriger gestaltet sich die Formalisierung. Entsprechend sind verschiedene Präferenzen möglich. Wird eine Ontologie angestrebt, die der Komplexität der Wirklichkeit möglichst nahe kommt, so erweist sich eine Formalisierung als kaum durchführbar. Aristoteles hat eine Formalisierung seiner Physik gar nicht versucht, obwohl er der Erfinder der formalen Logik ist. Wird hingegen dem instrumentalen Aspekt der Vorzug gegeben, mit dem Ziel, alles in mathematische Formeln zu bringen und damit kalkulierbar zu machen, so muss die Ontologie auf eine möglichst einfache Form zurückgeschraubt werden. Diesen Weg ist die moderne Wissenschaft gegangen, vor allem in der Anfangsphase der Physik mit ihrem mechanistischen Reduktionismus. Die Weisheitstraditionen in Ost und West geben eindeutig die Priorität dem ontologischen Aspekt. Um jenseits der Relativität der Erscheinungen zum einen Absoluten vorzustoßen, das dem menschlichen Leben einen letzten Sinn zu geben vermag, scheuen sie nicht vor Paradoxien und widersprüchlichen Formulierungen zurück, die rein formal betrachtet als unsinnig erscheinen. Die historischen Gestalten der Philosophie zeigen sich in gegensätzlichen Formen. Dem Bestreben, um der Klarheit der Begriffe und Ideen willen eine möglichst einfache Theorie aufzubauen, wie man das bei Descartes sehen kann, stehen von Heraklit bis Hegel Versuche gegenüber, die Tiefe der Wirklichkeit mit den antithetischen Bewegungen der Dialektik auszuloten, oder, wie bei Bergson, auf eine Intuition jenseits der Ratio zu vertrauen. Diesen Extremen gegenüber versteht sich die Theorie der Wirkwesen als ein Mittelweg. Sie ist weder bereit, zugunsten der Formalisierung die Wirklichkeit in das Prokrustesbett der Reduktionismen zu zwängen, noch ist sie willens, Wirklichkeitsnähe mit dem Verlust von Klarheit und logischer Stringenz zu erkaufen. Das bedeutet, dass der ontologische und der instrumentale Aspekt des Strukturkerns in 80 https://doi.org/10.5771/9783495820971 .

Statement View und Non Statement View in der Philosophie

einem Gleichgewicht zu halten sind. Es geht um eine Ontologie, die begrifflich in möglichster Fühlung mit dem Konkreten bleibt und sich dennoch die Kohärenz und Stimmigkeit ihrer Aussagen zu bewahren weiß. Mit der Forderung nach einem solchen Strukturkern ist implizit die Annahme verbunden, dass auch für eine umfassende, zugleich philosophische und empirisch-einzelwissenschaftliche Theorie wie jene der Wirkwesen eine erweiterte Form des Non Statement View der richtige Methodenweg ist. Aber das gilt es noch zu zeigen, indem wir vorerst die Angemessenheit des Non Statement View auch für die Philosophie nachweisen.

2.6. Statement View und Non Statement View in der Philosophie Die Frage, ob in der Philosophie ein Statement View oder ein Non Statement View vorherrscht, ist wohl noch nie gestellt worden. Sie ist jedoch nicht nur eine berechtigte, sondern auch eine für das Selbstverständnis der Philosophie aufschlussreiche Frage. Schon ein erster Blick auf die Philosophiegeschichte zeigt, dass sowohl der Statement View als auch der Non Statement View ihre Vertreter gefunden haben. Für ein Vorgehen, das der Sache nach eindeutig dem Statement View entspricht, haben sich die Rationalisten entschieden. Spinoza wählte für seine Ethica more geometrico demonstrata ein Ableitungsverfahren, das sich, wie der Titel ankündigt, explizit die Geometrie und damit die Mathematik zum Vorbild nimmt. Descartes wollte sein Gedankengebäude auf dem fundamentum inconcussum klarer und distinkter, in sich selbst einsichtiger Ideen errichten, aus denen wie aus den Axiomen der Mathematik alles mit Notwendigkeit folgen sollte. Die gleiche Tendenz bestimmt die gesamte Schulphilosophie vor Kant, die aus allgemeinen Grundbegriffen alles herzuleiten versucht. Ein Non Statement View bekundet sich in der Philosophiegeschichte nicht in einer so offen deklarierten Form. Um ihn ausfindig zu machen, muss man auf das tatsächliche Vorgehen realistischer, wirklichkeitsbezogener Denker achten. Es ist kein Zufall, dass sich ein herausragendes Beispiel einer bis in die Einzelheiten der Methodolo-

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Die Struktur der Theorie der Wirkwesen

gie des Non Statement View folgenden Theoriebildung bei Aristoteles findet, und zwar in seiner Ursachenlehre. Die allgemeine Lehre von den vier Ursachen – Materie und Form, Wirk- und Zielursache – gehört unzweifelhaft zu dem, was man, zusammen mit der Lehre von Akt und Potenz, als den ontologischen »Strukturkern« der aristotelischen Theorie betrachten darf. Für diese Ursachenlehre gibt es eindeutig eine »paradigmatische Beispielsmenge«. Es sind dies die Artefakte, die Produkte des künstlerischen oder handwerklichen Herstellens, die Aristoteles selbst immer wieder als Beispiele für seine Ursachenlehre anführt. Diese Präferenz für die Artefakte bei der Veranschaulichung der vier Ursachen hat einen guten Grund. Denn nur bei den Artefakten lassen sich diese Ursachen realiter unterscheiden. Das Material eines Artefakts ist offensichtlich nicht dasselbe wie seine Form, denn mit dem gleichen Erz können verschiedene Gestalten geschaffen werden, wie umgekehrt auch die gleiche Gestalt mit verschiedenen Materialien hergestellt werden kann. Und ebenso sind der Hersteller eines Artefakts und sein Betrachter oder Benützer in der Regel verschiedene Personen. Bilden die Artefakte die paradigmatische Beispielsmenge für die Vierursachenlehre, so sind die Naturwesen und damit die Physik ihr zweiter großer Anwendungsbereich. Aber nun muss die Ursachenlehre spezifiziert werden, ist eine »Kernerweiterung« vorzunehmen. Die »Form« steht hier nicht mehr für ein von außen auferlegtes, »akzidentelles«, sondern für ein dem Naturwesen innewohnendes, »substanzielles« Gestalt- und Organisationsprinzip, und ebenso werden die Wirk- und die Zielursache verinnerlicht. Aus sich selbst, aus seiner »Natur« heraus gestaltet sich ein Naturwesen, und auch seine natürlichen Prozesse zielen auf es selbst hin, auf seine voll verwirklichte Form. Einen dritten großen Anwendungsbereich bilden die Lebewesen. Im grundlegenden Kapitel seiner Seelenlehre 15 zieht Aristoteles die in der Physik fortentwickelte Ursachenlehre heran und erweitert sie in dem Sinne, dass nun die »Form« speziell auch als Gestalt- und Organisationsprinzip des Lebendigen gedacht werden kann, d. h. jene Funktionen übernimmt, die in mythischer Sprache der »Seele« zugedacht sind. Das ist der Sinn des aristotelischen Grundprinzips anima forma corporis.

15

Aristoteles, Über die Seele, Buch II, Kap. 1.

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Statement View und Non Statement View in der Philosophie

In einem vierten und letzten Anwendungsbereich schließlich kommt die Vierursachenlehre an ihre Grenze. Denn sie wird auch verwendet, um die sogenannten »getrennten Substanzen« begrifflich zu fassen, d. h. jene metaphysischen Wesen, die für Aristoteles ohne die Materie existieren. »Form« meint bei diesen Substanzen zwar immer noch das, was einem Wesen sein Gepräge gibt, wobei aber die Form ihre Ausrichtung auf eine zu gestaltende Materie verliert. Die Erschließung dieses letzten Anwendungsbereiches bedeutet somit für den Formbegriff extensional einen Gewinn, funktional aber geht sie mit seiner Verarmung einher. Wir haben die Verankerung der aristotelischen Ursachenlehre in einem paradigmatischen Beispielsbereich, den Artefakten, und ihre sukzessive Anwendung in der Natur, im Lebendigen und schließlich im metaphysischen Bereich ausführlich geschildert, um zu zeigen, dass Aristoteles de facto sehr wohl ein dem Non Statement View entsprechendes Vorgehen kennt. Eine wissenschaftstheoretische Reflexion einer solchen Theoriebildung wird man bei ihm aber wohl vergeblich suchen. Es ist im Gegenteil so, dass das Glanzstück seiner Logik, nämlich seine formale Herausarbeitung syllogistischer Ableitungen in den Analytica posteriora, in der Folge einer Philosophie gemäß dem Statement View Vorschub geleistet hat, was noch durch seine Unterstreichung der Rolle erster logischer Prinzipien verstärkt wurde. Bei den Gründergestalten der Theorie der Wirkwesen kann man bei Whitehead eine echte Affinität zum Non Statement View nachweisen. Das lässt schon seine bekannte Metapher für das Vorgehen in der Philosophie erkennen, bei der ihre Methode mit dem Flug eines Flugzeugs verglichen wird: Der Start erfolgt vom Boden partikulärer Beobachtung aus, dann wird ein Flug in die dünne Luft imaginativer Verallgemeinerung unternommen, um schließlich erneut auf dem Boden anderweitiger Beobachtungen zu landen. 16 Das erste Moment entspricht der paradigmatischen Beispielsmenge, das zweite dem Strukturkern und das dritte den intendierten Anwendungsbereichen. Dass die Herstellung eines solchen Entsprechungsverhältnisses nicht aus der Luft gegriffen ist, wird deutlich, wenn wir Whiteheads Definition der spekulativen Philosophie heranziehen. Sie wird als der Versuch definiert, ein kohärentes, logisches, notwendiges System allgemeiner Ideen aufzustellen, mittels dessen sich jedes Element in un16

Vgl. Whitehead 1929, 5, dt.34.

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Die Struktur der Theorie der Wirkwesen

serer Erfahrung interpretieren lässt. 17 Dieses allgemeine, auf die Wirklichkeitsinterpretation ausgerichtete Ideensystem, das Whitehead in seiner eigenen Philosophie vollumfänglich formuliert und als das »kategoriale Schema« 18 benannt hat, kommt offensichtlich in seiner Funktion dem Strukturkern gleich. Das wird dadurch bestätigt, dass Whitehead ausdrücklich zwischen der »rationalen« und der »empirischen« Seite einer solchen Philosophie unterscheidet, so wie der Non Statement View zwischen der »logischen« und der »empirischen« Komponente. Die »rationale« Seite kommt darin zum Ausdruck, dass das Ideensystem »kohärent« und »logisch« sein soll – die grundsätzliche Übereinstimmung mit der Charakterisierung des Strukturkerns bedarf keiner Erläuterung. Die »empirische« Seite aber spricht sich in der Forderung aus, dass das »kategoriale Schema« »anwendbar« und »adäquat« sein soll. 19 Wenn Whitehead nun »anwendbar« so definiert, dass es zumindest einige Elemente geben muss, die sich mit dem »kategorialen Schema« interpretieren lassen, 20 so haben wir hier offenkundig das genaue Pendant zur »paradigmatischen Beispielsmenge«. Die Forderung nach Adäquatheit hingegen geht über das hinaus, was der Non Statement View mit den »intendierten Anwendungsbereichen« einer empirischen Theorie meint. Denn diese Forderung bedeutet nicht nur, dass sich zusätzliche Anwendungsbereiche erschließen lassen, sondern dass es überhaupt keine Elemente geben darf, die sich einer Interpretation entziehen. 21 Hier zeigt sich im Unterschied zu einer begrenzten wissenschaftlichen Theorie der umfassende Anspruch einer genuin philosophischen Wirklichkeitsinterpretation. Diese Hinweise auf Aristoteles und Whitehead zeigen, dass sich die Theorie der Wirkwesen durchaus im Kreis der für sie maßgeblichen Philosophen bewegt, wenn sie sich den Non Statement View in erweiterter Form zu eigen macht. Damit verbleibt noch die Aufgabe, genauer zu bestimmen, wie das strukturalistische Konzept in der Theorie der Wirkwesen umgesetzt werden soll.

17 18 19 20 21

A. a. O., 3, dt. 31. A. a. O., 18, dt. 57. A. a. O., 3, dt. 31. Ebd. Ebd.

84 https://doi.org/10.5771/9783495820971 .

Das strukturalistische Konzept der Theorie der Wirkwesen

2.7. Das strukturalistische Konzept der Theorie der Wirkwesen und seine Umsetzung Entsprechend dem Non Statement View präsentiert sich auch die Theorie der Wirkwesen im Anschluss an die Formulierung der Leitideen (1.) und dem hier entwickelten Theoriekonzept (2.) als ein geordnetes Paar, bestehend aus dem Strukturkern (3.) als der allgemein ontologischen Komponente und den intendierten Anwendungsbereichen als der empirischen Komponente. In dieser Grundlegung klären wir die grundsätzlichen Fragen, warum eine organismische Interpretation auch bei der unbelebten Natur möglich ist (4.) und wie der Organismusbegriff im Lebendigen seine volle Bedeutung gewinnt (5.). In den weiteren Bänden der hier vorgelegten Biophilosophie soll dann in einer organismischen Biologie das Lebendige und in einer Strukturgenetischen Anthropologie der Mensch erschlossen werden. Die Erschließung des Unbelebten in einer entsprechenden Physik bleibt einem weiteren Beitrag vorbehalten. Im Strukturkern werden zunächst die Grundprinzipien der Wirklichkeitsinterpretation formuliert (3.1.). Hier wird festgehalten, welche Entitäten als »Wirkwesen« gelten und damit als wirklich existierend angenommen werden. Es sind dies die organismisch konstituierten Einheiten der Natur einschließlich des Menschen, nicht aber die »Dinge« der Alltagswelt. Damit wird für die »wirkliche« Wirklichkeit ein Dingkonzept abgewiesen; an seiner Stelle werden die Organismen als Paradigma genommen. Mit Bezug zu den Wirkwesen lassen sich das Existenzprinzip, das Auslegungsprinzip und das Erklärungsprinzip der Theorie formulieren. 22 Die Wirkwesen werden als in Systemen existierende Subjekte mit Strukturen charakterisiert. Sie sind Prozesseinheiten, die sowohl als Einzelwesen als auch in ihrer Gesamtheit eine Entwicklung kennen. Diese vollzieht sich in Stufen, bei denen der Subjektcharakter graduell zunimmt, bis er im Menschen den vollen Selbstbesitz erreicht. (3.2.) Konstitutiv für die Wirkwesen sind Werdensprozesse, bei denen Außenelemente angeeignet und in das eigene Selbstsein umgewandelt werden. Wirkwesen wirken aus sich selbst und auf sich selbst hin, womit ihr Wirken Selbstverwirklichung bedeutet. (3.3.)

22

Vgl. 3.1.3.–5.

85 https://doi.org/10.5771/9783495820971 .

Die Struktur der Theorie der Wirkwesen

Organisationsprinzip eines Wirkwesens ist seine ganzheitliche Struktur. Terminus a quo seines Werdensprozesses ist eine strukturierende Struktur, terminus ad quem seine voll strukturierte Endstruktur. Bei den höheren Wirkwesen erfolgt ihre Ausbildung über eine Sequenz von Strukturen, die die Zwischenstufen bilden. (3.4.) Jede Struktur geht aus einer Genese hervor, die ihrerseits auf eine Struktur zurückweist. Das methodisch durchdachte Wechselverhältnis von Struktur und Genese ist in den Prinzipien des Genetischen Strukturalismus festgehalten. (3.5.) Wirkwesen können untereinander Verbindungen eingehen und Gesellschaften bilden. Aufgrund von Integrationsverhältnissen der Wirkwesen entsteht Komplexität, die eine Bedingung für die Höherentwicklung von Wirkwesen ist. Alle höheren Wirkwesen existieren als hierarchisch gestufte Gesellschaften von Wirkwesen, die funktionell in sie eingegliedert sind. (3.6.) Ein Wirkwesen sein heißt Möglichkeiten ergreifen und verwirklichen. Über real gegebene Möglichkeiten kann ein Wirkwesen entfernte Möglichkeiten anstreben. Es gibt reine, überzeitliche Möglichkeiten, die das Reich des Idealen bilden. Gleichgewichtsprozesse ermöglichen die Verwirklichung idealer Formen. (3.7.) Aufgrund der idealen Formen hat die Wirklichkeit insgesamt eine geistige Dimension. Das Geistige wirkt in der vormenschlichen Natur auf eine unbewusste Weise als ein ideelles Regulativ. Im Menschen wird der unbewusste Geist in einen bewussten übergeführt. (3.8.) Diese allgemeinen ontologischen Aussagen sind im Strukturkern nicht in einer dogmatischen Form festgeschrieben, sondern revidierbar und ergänzungsfähig. Die Revisionen dürfen allerdings nicht so weit gehen, dass sie den allgemeinen Rahmen des Strukturkerns in Frage stellen. Er wird durch die drei sich wechselseitig bedingenden Perspektiven des Prozessdenkens, des Strukturdenkens und des Subjektdenkens abgesteckt. 23 Diese garantieren die Einheit und die Identität des Strukturkerns und damit der Theorie der Wirkwesen. Die drei großen intendierten Anwendungsbereiche sind die unbelebte Natur, das Lebendige und der Mensch. Damit wird die ganze vorgegebene Wirklichkeit abgedeckt. Die Frage, wo dabei die paradigmatische Beispielsmenge liegt, ist differenziert zu beantworten. Das 23

Vgl. 1.7.

86 https://doi.org/10.5771/9783495820971 .

Das strukturalistische Konzept der Theorie der Wirkwesen

paradigmatische Beispiel, auf das die Bestimmungen des Strukturkerns vollumfänglich und im Vollsinn zutreffen, ist der Mensch. Er kann in einem spezifischen Sinn als die Exemplifizierung des Strukturkerns gelten. Die Erschließung des Menschen mittels des strukturgenetischen Ansatzes ist durch die Forschungen Piagets, Kohlbergs und anderer Autoren, zu denen sich auch der Verfasser zählt, schon relativ weit fortgeschritten. Deswegen ist die Hoffnung berechtigt, dass sich hier nicht nur einzelne Entwicklungslinien verfolgen lassen, sondern diese sich auch zu einem Gesamtbild zusammenfügen. Das ist der Grund, warum wir in einem weiteren Band den Menschen im Rahmen einer umfassenden Strukturgenetischen Anthropologie zu deuten versuchen. In einem generischen Sinn machen über den Menschen hinaus die Lebewesen die paradigmatische Beispielsmenge aus, und hier insbesondere die höheren Tiere. Insofern der Mensch aus ihnen hervorgegangen ist, bilden sie auch die notwendige Basis für das evolutionäre Verständnis des Menschen. Wir haben das in dieser Grundlegung durch eine allgemeine Erörterung des Lebendigen und des Organismusbegriffs (5.) sowie durch eine Differenzierung von Pflanze, Tier und Mensch (6.) wenigstens ansatzweise zu erörtern versucht. Eine organismische Biologie in Abhebung vom heute immer noch vorherrschenden Neodarwinismus kann jedoch nur von einem Biologen konzipiert werden. In der unbelebten Natur gelten für unsere Theorie nicht die »Dinge« der Alltagsebene, sondern die ihnen zugrunde liegenden elementaren Einheiten, die die Physik aufgedeckt hat, in einem approximativen Sinn als Wirkwesen oder »Proto-Wirkwesen«. Die »Dinge« sind nur deren oberflächliches Erscheinungsbild. Da aber diese elementaren Einheiten wie die Atome oder die Elementarteilchen nicht direkt zugänglich sind, wie die Organismen, sondern nur in Entsprechung zu den physikalischen Modellen vorgestellt werden können, ist eine Beschreibung, die sie den Organismen angleicht, weitgehend fiktiv. Nach allem, was die Physik über sie lehrt, steht aber wohl unzweifelhaft fest, dass sie mehr Ähnlichkeiten mit den Organismen als mit den phänomenalen »Dingen« aufweisen, wie wir auf einer grundsätzlichen Ebene dazulegen versuchen. (4.4.) Aber auch hier kann nur der professionelle Vertreter der entsprechenden Fachdisziplin, d. h. ein Physiker genauere Aussagen machen. Die Erschließung von Anwendungsbereichen mittels des Strukturkerns geschieht gemäß dem Non Statement View über Kern87 https://doi.org/10.5771/9783495820971 .

Die Struktur der Theorie der Wirkwesen

erweiterungen. Die entsprechenden Spezifizierungen haben wir bezüglich des Menschen zu umreißen versucht (6.4.–5.). Auch bezüglich des Lebendigen wurden sie im Ansatz vorgenommen (5.). Für die unbelebte Natur hingegen gehen sie nicht über grundsätzliche Erwägungen hinaus (4.). Generell ist es nicht immer leicht zu entscheiden, was zum allgemeinen Strukturkern gehört und was eine spezifische Erweiterung desselben darstellt. Die Revisionen und Ergänzungen des Strukturkerns, die sich im Lauf weiterer Arbeiten aufdrängen werden, betreffen zur Hauptsache gerade diese Frage. Grundsätzlich gilt die Regel, dass generelle ontologische Aussagen im Strukturkern zu verorten sind, bereichsspezifische Präzisierungen hingegen zur Behandlung der jeweiligen Wirklichkeitsregion gehören. Immer sollte jedoch deutlich werden, dass die bereichsspezifischen Weiterentwicklungen der Theorie virtuell im Strukturkern vorgebildet sind, und es sollten keine Thesen aufgestellt werden, für die der Strukturkern nicht Raum lässt. Das Faszinierende an einem weit gefassten strukturalistischen Theoriekonzept liegt gerade darin, dass sich in ihm eine offene Philosophie mit einer offenen Wissenschaft verbinden lässt und Philosophen und Wissenschaftler durch eine wechselseitige Rückkoppelung voneinander lernen können. Generelle Begriffsarbeit kann die einzelwissenschaftliche Forschung ebenso befruchten, wie diese umgekehrt zur Korrektur und Weiterentwicklung der allgemeinen Begriffe und Ideen beizutragen vermag.

88 https://doi.org/10.5771/9783495820971 .

3. Der Strukturkern der Theorie

3.1. Grundprinzipien der Wirklichkeitsinterpretation 3.1.1. Die Wirklichkeit besteht aus einer Vielheit von Wirkwesen »Wirkwesen« werden Entitäten genannt, denen wesensmäßig ein Wirken zukommt und die ihr Sein nur durch und aufgrund ihres Wirkens besitzen. Sie sind das, was »wirklich« existiert, im Doppelsinn von tatsächlich und effektiv. Mit ihrer Bezeichnung als »Wirkwesen« wird bewusst die Verbindung mit »Wirklichkeit« hergestellt, dem genuin deutschen Wort, das Meister Eckhart als Übersetzung von lateinisch actualitas gebildet hat und das die anderen europäischen Sprachen nicht kennen, insofern sie die Wirklichkeit im Ausgang vom lateinischen realitas als »Realität« benennen (vgl. französisch réalité, englisch reality u. ä.). Historische Vorbilder für die Wirkwesen sind die Ousiai der aristotelischen Metaphysik, die aber gerade nicht als »Substanzen«, als etwas immer schon Vorliegendes und Zugrundeliegendes missverstanden werden dürfen, sondern genuin aristotelisch als aus sich heraus und auf sich hin agierende Prozesswesen zu verstehen sind. So sind auch die actual entities von Whitehead konzipiert. Im Unterschied zu Whitehead dürfen aber die Wirkwesen nicht mit kleinsten mikrokosmischen Einheiten identifiziert werden. Mit Descartes kann man sie als res verae, als das »wahrhaft Seiende« auffassen.

3.1.2. Als Wirkwesen gelten alle organismischen Einheiten der Wirklichkeit, nicht aber die »Dinge« oder »Gegenstände« der Alltagswelt Zu den organismischen Einheiten zählen in einem reduzierten Sinn bereits die elementaren Einheiten der Physik, wie die Atome und 89 https://doi.org/10.5771/9783495820971 .

Der Strukturkern der Theorie

Moleküle sowie die Elementarteilchen, deren Systemeigenschaften von ihren Randbedingungen abhängen. Im Vollsinn gehören dazu alle biologischen Organismen, von den Einzellern über Pflanzen und Tiere bis hin zum Menschen. Die »Dinge« oder »Gegenstände« der Alltagswelt hingegen können zumindest in ihrem oberflächlichen Erscheinungsbild nicht als Wirkwesen betrachtet werden, da sie sich als passive Entitäten darbieten, die ein Wirken über sich ergehen lassen, ohne selbst tätig zu sein. Sie sind jedoch ihrem tieferen Wesen nach als Aggregate von ursprünglichen Wirkwesen zu verstehen. Damit wird ausgeschlossen, dass die hier vorgelegte Wirklichkeitstheorie sich an einem Dingkonzept orientiert. Sie hat vielmehr die Organismen zum Paradigma, ähnlich wie Whiteheads Philosophy of Organism.

3.1.3. Alles, was »ist«, existiert demnach als Wirkwesen oder als ein Strukturmoment beziehungsweise Aspekt von Wirkwesen Das ist das fundamentale Existenzprinzip. »Sein« im Sinne von »Existieren« kommt in erster Linie den Wirkwesen zu. Mit »Strukturmoment« ist etwas an Wirkwesen gemeint, mit »Aspekt« wird ein Erscheinungsbild von Wirkwesen bezeichnet, wie die oberflächlich betrachteten Dinge.

3.1.4. Was immer von der Wirklichkeit ausgesagt wird, muss deshalb direkt oder indirekt mit Bezug auf Wirkwesen ausgesagt werden Das ist das fundamentale Auslegungsprinzip. Es besagt, dass es keine freischwebenden Entitäten oder Wesenheiten geben kann; alles muss letztlich in Wirkwesen verankert werden. Alles, was ist, existiert »irgendwo«, und »irgendwo« heißt: in einem oder in mehreren Wirkwesen.

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Charaktermerkmale von Wirkwesen

3.1.5. Entsprechend ist auch die Suche nach einem Grund oder einer Ursache immer die Suche nach einem oder mehreren Wirkwesen oder nach deren Strukturmomenten Das ist das fundamentale Erklärungsprinzip. Es bedeutet, dass die Wirkwesen die eigentlichen Erklärungsgründe oder Verursacher sind. Dieses Prinzip ist auch für die Heuristik bestimmend. Die Punkte 3.1.1. und 3.1.2. sprechen die Grundoption für eine Wirklichkeitstheorie aus, die zugleich pluralistisch und organismisch ist. Mit den Prinzipien 3.1.3.–5. werden die fundamentalen Entscheidungen für eine Ontologie getroffen, die ihrem grundsätzlichen Zuschnitt nach aristotelisch ist, insofern diese Prinzipien alles letztlich auf Ousiai, d. h. auf konkrete Einzelwesen zurückführen und keine trägerlosen Ideen oder dergleichen gelten lassen. Das heißt allerdings nicht, dass es keine »Ideen« geben kann; postuliert wird nur ihre Verankerung in Wirkwesen. Unmittelbares historisches Vorbild dafür ist Whiteheads ontologisches Prinzip: no actual entity, then no reason. 1

3.2. Charaktermerkmale von Wirkwesen 3.2.1. Wirkwesen sind prozessuale Subjekte mit Strukturen in Systemen Wenn die Wirkwesen als »Subjekte« bezeichnet werden, so sind damit generell Wesen gemeint, die im physikalischen Bereich zumindest eine Zentrizität und im Lebendigen einen Selbstbezug aufweisen und somit eigenständig den »Objekten« ihrer Umwelt gegenübertreten. Ihre Prozessualität bedeutet, dass sie sich für die Dauer ihres Bestehens nicht gleich bleiben, sondern sich ständig verändern. Der Prozesscharakter ist den Wirkwesen innerlich, die ihnen innewohnenden Prozesse sind für sie konstitutiv. »Strukturen« im engeren Sinn sind Systeme, die durch Ganzheitlichkeit gekennzeichnet sind, gemäß dem alten Grundsatz, dass das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile. Sie sind des Weiteren Transformationssysteme mit ihren eigenen Binnenvorgängen, die einer Selbstregelung unterstehen, die selbst Ausdruck der Subjektivi1

Whitehead 1929, 19, dt. 58.

91 https://doi.org/10.5771/9783495820971 .

Der Strukturkern der Theorie

tät der Wirkwesen ist. Die Strukturen sind die Binnensysteme der organismischen Einheiten und können selbst wieder eine Vielzahl hierarchisch aufgebauten Substrukturen einschließen. »Systeme« im weiteren Sinn sind Gefüge, in denen funktionale Abhängigkeitsverhältnisse und wirkursächliche Zusammenhänge herrschen und die sich deshalb weitgehend mechanistisch verstehen lassen. Die Systeme, in denen die Subjekte existieren, bilden deren Umwelt. Von ihnen leiten sich die Umwelteinflüsse her, auf die die Subjekte auf ihre je eigene Weise reagieren und damit ihre Umwelt mitgestalten. Aufgrund der Einbettung der Wirkwesen in die Systeme ihrer Umwelt ist die Theorie der Wirkwesen generell eine ökologische Theorie, die alle Wesen in einer »Hausgemeinschaft« – oikós – verortet. 2

3.2.2. Wirkwesen sind organismische Prozesseinheiten Die Wirklichkeit hat insgesamt einen prozessualen Charakter, der primär von den Wirkwesen herrührt. Jedes Wirkwesen hebt sich als organismisch und damit ganzheitlich geprägte Prozesseinheit von den anderen ab, ist aber prozessual mit ihnen verbunden. Prozesse sind einerseits transitorisch, insofern sie von Wirkwesen zu Wirkwesen übergehen, und andererseits den einzelnen Wirkwesen immanent, insofern sie deren Selbstaufbau ausmachen. Die transitorischen Prozesse bilden die Wirk- oder Kausalzusammenhänge der Wirklichkeit, die immanenten Prozesse die eigentlichen Konstitutionsprozesse der Wirkwesen.

3.2.3. Wirkwesen entwickeln sich, und zwar sowohl als Einzelwesen als auch in ihrer Gesamtheit Die Wirklichkeit kennt eine Entwicklung, und speziell die Lebewesen sind durch die Evolution auseinander hervorgegangen. Dabei ist im Durch den Primat der Wirkwesen als strukturale Subjekte vor den Systemen unterscheidet sich die Theorie der Wirkwesen grundlegend von der Systemtheorie Luhmanns, die das Subjekt auf eine psychische beziehungsweise soziale Systemstelle reduziert.

2

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Charaktermerkmale von Wirkwesen

Lebendigen zwischen der Stammesgeschichte – der Phylogenese – und der Entwicklung der Einzelwesen – der Ontogenese – zu unterscheiden. Beide stehen jedoch in einem Entsprechungsverhältnis zueinander, insofern zumindest teilweise angenommen werden kann, dass sich die Prinzipien, die die Stammesgeschichte bestimmen, in der Entwicklung der Einzelwesen wiederholen, gemäß der auf Haeckel zurückgehenden Hypothese der ontophylogenetischen Rekapitulation.

3.2.4. Die Wirkwesen bilden in ihrer Gesamtentwicklung, aber auch in ihrer Entwicklung als Einzelwesen eine Stufenfolge Die Wirklichkeit ist hierarchisch gegliedert und präsentiert sich als ein Stufenbau. Da dieser aus evolutiven Prozessen hervorgegangen ist, bilden die Wirklichkeitsstufen eine sequenzielle Ordnung. Die höheren Stufen haben sich aus den niedrigeren entwickelt, wobei die Entwicklung schrittweise über Zwischenstufen erfolgte. Auch die Entwicklung der höheren Einzelwesen gehorcht einer solchen sequenziellen Ordnung. Die Wirklichkeit insgesamt baut sich aus den elementaren Einheiten der Physik und den Stufen des Organischen auf, mit den Entwicklungsreihen von Pflanze, Tier und Mensch. Unter den Einzelwesen nimmt der Mensch insofern den höchsten Rang ein, als er sich von der vegetativen Stufe über die sensitive, sinnliche bis zur intellektiven, geisthaften Stufe entwickelt hat.

3.2.5. Die höheren Stufen sind nicht auf die niedrigeren zurückführbar, sondern sind durch echte Neuschöpfungen aus ihnen hervorgegangen Die wesentlichen Stufen, welche in ihrer sequenziellen Ordnung den Aufbau der Wirklichkeit ausmachen, heben sich qualitativ voneinander ab. Damit wird eine qualitative Höherentwicklung behauptet, im Gegensatz zu einem Reduktionismus, für den das Höhere ohne Bedeutungsverlust auf das Niedrigere zurückführbar ist. Was die Wirkwesen auszeichnet, ist eine echte Kreativität. Für den speziellen Bereich der Erkenntnisentwicklung wird entsprechend kein Präformismus angenommen, demzufolge alle Erkenntnis strukturell schon 93 https://doi.org/10.5771/9783495820971 .

Der Strukturkern der Theorie

vorgebildet ist, sondern ein Konstruktivismus vertreten, für den die Erkenntnisvoraussetzungen sukzessive neu geschaffen werden.

3.2.6. Bei der Höherentwicklung der Wirkwesen nimmt ihre Subjektivität bis zum vollen Selbstbesitz im Menschen graduell zu Die Zunahme der Subjektivität ist der deutlichste Gradmesser der Höherentwicklung. Zunehmende Subjektivität besagt zunehmende Selbstzentrierung. Schon die elementaren Einheiten der Physik sind als Zentren in einem Kraftfeld zu verstehen. Im Lebendigen ist die Selbstzentrierung vor allem im Übergang vom pflanzlichen zum tierischen Leben mit der Schaffung des Gehirns als Zentralorgan zu beobachten. Der dem Lebendigen eigene Selbstbezug wird im Menschen zum vollen Selbstbesitz in den Formen des Selbstbewusstseins und der Selbstbestimmung. Zunehmende Subjektivität besagt auch zunehmende Intensität des Existierens, Lebens und Erlebens.

3.3. Aneignungs- und Konstitutionsprozesse von Wirkwesen 3.3.1. Werdensprozesse sind konstitutiv für die Wirkwesen Bei den Wirkwesen lässt sich ihr »Sein« nicht von ihrem »Werden« ablösen. Sie »sind« das, was sie in jedem Moment ihrer Existenz »geworden« sind. »Sein« und »Werden« durchdringen einander: ein Wirkwesen ist, indem es wird. Ihre Werdensprozesse sind somit für ihr Sein konstitutiv. Anders als bei den Dingen, die, einmal geschaffen, einfach bis zu ihrem Ende fort bestehen, ist bei den Wirkwesen das Werden kein bloßer Initialakt. Vielmehr ist ihr »Sein« durchgängig an ihr »Werden« gebunden, so dass es ohne das Werden ins Nichts zurückfällt. Wirkwesen haben somit ihre Existenz nur in und dank den Prozessen, in denen sie sich selber konstituieren: Sie sind von diesen Prozessen getragen und Resultat dieser Prozesse. Historisches Vorbild ist Whiteheads Prozessprinzip: The ›being‹ of an actual entity is constituted by its ›becoming‹. 3 3

Vgl. Whitehead 1929, 23, dt. 66.

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Werdensprozesse sind konstitutiv für die Wirkwesen

3.3.2. Diese Werdensprozesse bestehen in der Aneignung von Außenelementen und deren Umgestaltung in das Selbstsein der Wirkwesen Wirkwesen greifen für ihren Selbstaufbau auf Elemente der vorgegebenen Welt zurück und integrieren diese in ihr Selbstsein. Die Umwelt muss die für den Selbstaufbau benötigten Materialien bereithalten. Der entscheidende Anteil kommt dabei aber nicht der Umwelt, sondern den konstitutiven Binnenvorgängen in den Wirkwesen selbst zu. Historische Vorbilder sind Whiteheads Begriff der Prehension und der wie bei Piaget verallgemeinerte biologische Begriff der Assimilation. 4

3.3.3. Die Möglichkeit, von Wirkwesen angeeignet zu werden, macht eine Grundbestimmung des Wirklichen aus Alles, was wirklich ist, trägt die Möglichkeit in sich, in Wirkwesen einzugehen. Es steht als mögliches Aneignungsobjekt für ein Subjekt bereit. »Sein« heißt unter diesem Aspekt »Gegebensein« im Sinne von »Einbezogenwerdenkönnen«. Aus dieser Hinordnung auf mögliche Weisen der Einbeziehung gehen der relationale Charakter der Welt hervor und ihre Verwirklichung als eine Solidargemeinschaft. Historisches Vorbild ist Whiteheads Relativitätsprinzip: It belongs to the nature of a ›being‹ that it is a potential for every ›becoming‹. 5

3.3.4. Die Aneignung von Außenelementen und deren Umgestaltung im Selbstaufbau ist das ureigenste Wirken von Wirkwesen Das Wirken von Wirkwesen ist primär ein Wirken nach innen, bevor es sekundär zu einem Wirken nach außen werden kann. Dieses WirFür die fundamentalen Übereinstimmungen zwischen Whitehead und Piaget vgl. Riffert 1994. 5 Vgl. Whitehead 1929, 22, dt. 65. Für eine umfassende und tiefgreifende Interpretation des »Seins« als »Gegebensein« vgl. Marion 1997. 4

95 https://doi.org/10.5771/9783495820971 .

Der Strukturkern der Theorie

ken nach innen besteht in der Transformation und Inkorporation der angeeigneten Außenelemente. Auf diesen Binnenvorgängen – den immanenten Prozessen – beruht der Selbstaufbau von Wirkwesen. Für den common sense gilt, dass ein Wesen zuerst existieren muss, um dann wirken zu können. Aber bezüglich der Tiefenvorgänge in einem Wirkwesen ist es gerade umgekehrt: Es muss zuerst wirken, um überhaupt existieren zu können. Das zeigen vor allem die physiologischen Grundvorgänge in einem Organismus, ohne deren Ablauf es nicht leben kann. Durch das ihnen innerlich zugehörige und für sie konstitutive Wirken unterscheiden sich die Wirkwesen wiederum von Dingen, die ihrem oberflächlichen Erscheinungsbild nach ohne ihr Dazutun weiter existieren.

3.3.5. Wirkwesen bleiben in ihrem Selbstsein konstitutiv auf die Außenwelt bezogen Die Aneignung und Umwandlung von Außenelementen ist ein Vorgang, der solange stattfindet, wie ein Wirkwesen besteht. Entsprechend ist es in seiner Existenz andauernd auf die Außenwelt bezogen. Diese für ein Wirkwesen konstitutive Umweltverbundenheit macht seinen ökologischen Charakter aus. Die Wirklichkeit insgesamt wird damit zu einer Solidargemeinschaft von Wirkwesen. Was sich bei den höchsten Wirkwesen im Erkennen zur bewussten Präsenz des Objekts im Subjekt, des Anderen im Eigenen steigert, ist in der konstitutiven Beziehung aller organismischen Einheiten zu ihrer Umwelt grundgelegt. »Erfahrung« ist der generelle Begriff für jeden Akt, mit dem ein Wirkwesen in eine besondere Verbindung mit seiner Umwelt tritt und verändert aus ihr hervorgeht, wie es auch umgekehrt dabei seine Umwelt mitgestaltet. Historisches Vorbild hierfür ist Whiteheads reformiertes subjektivistisches Prinzip, demzufolge auf der Objektseite von Subjekten reale Gegenstände anzusetzen sind, die für das Subjekt konstitutive Bedeutung haben. 6 Anders als bei Kant geht so nicht einseitig die Objektwelt aus dem Subjekt hervor, sondern primär das Subjekt aus der Objektwelt. Die hier angestrebte Theorie situiert sich damit jenseits von Subjektivismus und Objektivismus. Sie gibt der Erkenntnis 6

Vgl. Whitehead 1929, 160, 166 f., dt. 294, 310 f.

96 https://doi.org/10.5771/9783495820971 .

Werdensprozesse sind konstitutiv für die Wirkwesen

ihren intrinsischen Realitätsbezug durch ihre Herleitung aus der allgemeineren Organismus-Umwelt-Beziehung.

3.3.6. Wirkwesen tragen ihre Wirklichkeit als Wirkung ihres Wirkens in sich Diese Bestimmung zieht die Konsequenz aus der konstitutiven Rolle der einem Wirkwesen eigenen Prozesse, seinem Wirken nach innen. Wirkwesen sind damit von ihrer Konstitution her gesehen nicht bloß Prozessträger, sondern wesentlich Prozessresultat. Diese Bestimmung kann geradezu als eine Definition der Wirkwesen in ihrer Abhebung von den Dingen und den Artefakten gelten, die das, was sie sind, nicht einem eigenen Wirken verdanken, sondern einer fremden Wirkmacht. Historisches Vorbild ist Whiteheads Vermittlung von Subject als Prozessträger und Superject als Prozessresultat. 7 Vor allem aber spiegelt sich in dieser Bestimmung fast wörtlich, was Aristoteles von einer Ousia im Vollsinn aussagt, dass sie nämlich ihre »Vollgestalt« (entelécheia) als »Werk« (érgon) ihres »Wirkens« (enérgeia) in sich erzeugt. 8

3.3.7. Wirkwesen bilden sich durch Selbstverwirklichung Diese Aussage verdichtet die vorangehende. Wenn die Wirklichkeit eines Wirkwesens die Wirkung seines eigenen Wirkens ist, dann bedeutet sein Wirken ontologisch gesehen Selbstverwirklichung. Die im umgangssprachlichen, existenziellen Sinn verstandene »Selbstverwirklichung« ist dann als die Fortführung dieser schon im Werden von Wirkwesen liegenden Selbstverwirklichung auf der Ebene des Bewusstseins und der freien Selbstbestimmung zu betrachten.

7 8

Vgl. Whitehead 1929, 45, 155, dt. 101, 290. Vgl. Aristoteles, Metaphysik, Buch IX, Kap. 3, 1047 a 30 f.; Kap. 8, 1050 a 21–23.

97 https://doi.org/10.5771/9783495820971 .

Der Strukturkern der Theorie

3.4. Struktur und Genese eines Wirkwesens 3.4.1. Der Werdensprozess eines Wirkwesens wird formal von seiner Struktur bestimmt Der Werdensprozess eines Wirkwesens kann nicht ziellos vor sich gehen. Er muss auf die aufzubauende Gestalt ausgerichtet sein. Es ist die einem Wirkwesen von Anfang an innewohnende Struktur, die seinem Werdensprozess die Richtung weist. Historisches Vorbild ist der aristotelische Begriff der Form, der morphé, die als eidos – ähnlich der platonischen Idee – die zu verwirklichende Zielgestalt vorgibt.

3.4.2. Die Struktur ist das ganzheitliche Organisationsprinzip eines Wirkwesens Wie schon unter 3.2.1. angedeutet, zeichnen sich die Strukturen primär durch ihre Ganzheitlichkeit aus. Sie können sich zwar aus einer Vielzahl von Elementen oder Substrukturen zusammensetzen, die aber ihre Existenz- und Funktionsweise nicht unabhängig voneinander und vom Ganzen besitzen. Zwischen den Teilen und dem Ganzen bestehen innere Beziehungen: die Teile sind nur innerhalb des Ganzen das, was sie sind. Im Unterschied dazu lassen sich Aggregate wie eine mechanische Uhr in ihre Einzelteile zerlegen, ohne dass diese ihre Form und ihre Eigenschaften verlieren. Des Weiteren sind die Strukturen Transformationssysteme, die einen nach außen offenen, in sich jedoch geschlossenen Kreis bilden. Die Transformationen innerhalb einer Struktur unterstehen einer Regelung, die vom betreffenden Wirkwesen selbst ausgeht und in denen sich sein Selbstsein bekundet. Der hier verwendete Strukturbegriff steht wie schon gesagt in der Nachfolge des aristotelischen Formbegriffs. Dieser verweist aber nur auf die Materie als Korrelat und ist darum nicht weiter analysierbar und wissenschaftlich fruchtbar zu machen, wie der Strukturbegriff mit seinen Elementen und möglichen Substrukturen. Die Strukturontologie bedeutet jedoch nach der mechanistischen Systemontologie insofern eine Rückkehr zur Substanzontologie, als mit dem Strukturbegriff wie mit der Form wieder ein ganzheitliches Organisationsprinzip zum Tragen kommt. 98 https://doi.org/10.5771/9783495820971 .

Struktur und Genese eines Wirkwesens

3.4.3. Der Werdensprozess eines Wirkwesens geht von seiner strukturierenden Anfangsstruktur aus und zielt auf seine strukturierte Endstruktur hin Sowohl terminus a quo als auch terminus ad quem des Werdensprozesses eines Wirkwesens ist jeweils eine Struktur. Von der Struktur, die den Werdensprozess initiiert, muss die Struktur unterschieden werden, die aus ihm resultiert. Die strukturierende Anfangsstruktur macht das Formprinzip des sich verwirklichenden Wirkwesens aus, die strukturierte Endstruktur die Form des verwirklichten Wirkwesens. Als Vorbild hierfür kann Cassirer gelten, der im Lebendigen zwischen der forma formans und der forma formata unterschied. 9 Weiter zurück kann auf Aristoteles verwiesen werden, insofern er zwischen der Form als Zielgestalt – eidos – und als verwirklichte Gestalt – entelécheia – differenziert.

3.4.4. In jenen Wirkwesen, deren Werdensprozess eine Höherentwicklung einschließt, gehören die Anfangs- und die Endstruktur unterschiedlichen Wirklichkeitsstufen an Diese Behauptung ergibt sich aus der Annahme einer qualitativen Höherentwicklung, die mit echten Neuschaffungen einhergeht. 10 Die Anfangsstruktur muss jedoch zumindest als Richtungssinn der von ihr ausgehenden Entwicklung die Endstruktur als Möglichkeit mit einschließen.

3.4.5. Der Entwicklungsprozess der höheren und höchsten Wirkwesen erfolgt über die Ausbildung von Strukturen, die die Zwischenstufen bilden Die in 3.2.4. angenommene sequenzielle Ordnung der Höherentwicklung muss in einer entsprechenden Abfolge der diese Entwicklung prägenden Strukturen fundiert werden. Diese Strukturen gehen im Ausgang von der Anfangsstruktur sukzessiv auseinander hervor, bis 9 10

Vgl. Cassirer 1995, 18. Vgl. 3.2.5.

99 https://doi.org/10.5771/9783495820971 .

Der Strukturkern der Theorie

die Endstruktur ausgebildet ist. Je höher ein Wirkwesen steht, desto mehr Zwischenformen muss es in seiner Entwicklung ausbilden. Eine solche Behauptung findet sich im Ausgang von Aristoteles schon nahezu wörtlich bei Thomas von Aquin. 11

3.4.6. Die Höherentwicklung wird vom Wirkwesen selbst in Interaktion mit seiner Umwelt über Selbstregelungsprozesse vorangetrieben Ein Wirkwesen entwickelt sich in Interaktion mit seiner Umwelt. Außeneinwirkungen, ob positiver oder negativer Art, sind für seine Höherentwicklung unabdingbar. Diese kann aber letztlich nur von ihm selbst über die Selbstregelung seiner Strukturen bewirkt werden. Eine tragende Rolle spielt hier die Äquilibration, die Behebung von Ungleichgewichten durch neue Gleichgewichtsformen. Die Äquilibration ist von Piaget als ein zentrales Movens insbesondere der kognitiven Entwicklung herausgestellt worden. 12

3.4.7. Bei der Höherentwicklung werden die vorangehenden Strukturen als Substrukturen in die nachfolgenden Strukturen integriert Ein Wirkwesen ist durch eine Gesamtstruktur geprägt, weil nur so seine Einheit gewährleistet wird. Die eine Stufenfolge bildenden Strukturen stehen deshalb bei einem höheren Wirkwesen nicht additiv nebeneinander, sondern werden in eine Gesamtstruktur integriert. So wird der Mensch als das höchste uns bekannte Wirkwesen am Ende seiner Entwicklung durch eine Gesamtstruktur konstituiert, in der seine physiologische Struktur mit ihren Substrukturen in einer Einheit mit seinen Verhaltensstrukturen und den sensitiven und intellektiven Strukturen steht. Historisches Vorbild hierfür ist Thomas von Aquin, der dezidiert die menschliche Geistseele als die einzige Form – forma unica – des 11 Vgl. Thomas von Aquin, Summa contra gentiles II, 89: Quanto aliqua forma est nobilior et magis distans a forma elementi, tanto oportet esse plures formas intermedias, quibus gradatim ad formam ultimam veniatur. 12 Vgl. Piaget 1975.

100 https://doi.org/10.5771/9783495820971 .

Genetischer Strukturalismus

menschlichen Kompositums fasste, die jedoch funktionell die vegetative, sensitive und intellektive Form in sich integriert. 13

3.4.8. Der Entwicklungsprozess sowohl der einzelnen Wirkwesen als auch der Wirkwesen insgesamt beruht auf einer Filiation von Strukturen »Filiation« meint ein Abstammungsverhältnis von Strukturen, insofern diese auseinander hervorgehen. Damit ist ausgesprochen, dass die Strukturen von den niedrigsten bis zu den höchsten in einem durchgehenden Entwicklungszusammenhang stehen. Den Anfang bilden die physikalischen Strukturen, darauf folgen die biologischen und schließlich die kognitiven Strukturen. Mit der Behauptung dieses umfassenden Entwicklungszusammenhangs von Strukturen ist der cartesische Dualismus von Materie und Geist ebenso überwunden wie die Entgegensetzung von Leben und Geist im frühen 20. Jahrhundert. Materie, Leben und Geist finden sich in einer Stufenfolge vereinigt, die ihre Unterschiede nicht aufhebt, aus ihnen aber auch keine unüberbrückbaren Gegensätze macht. Descartes schied den aristotelischen Formbegriff aus, womit jede Vermittlung zwischen Materie und Geist wegfiel. Der Strukturbegriff, so wie er hier verstanden wird, fungiert wieder als Scharnier zwischen Materie, Leben und Geist und ermöglicht es, jenseits von Materialismus, Idealismus oder Vitalismus unbefangen von einer neutralen Warte aus nach den spezifischen Qualitäten materieller, lebendiger oder geistiger Strukturen zu fragen.

3.5. Genetischer Strukturalismus 3.5.1. Allgemein gilt, dass jede Struktur aus einer Genese hervorgegangen ist, die ihrerseits auf eine vorausliegende Struktur zurückweist Ein Strukturalismus, der sich selbst als einen genetischen versteht, beruht auf dem allgemeinen Prinzip: Keine Struktur ohne Genese, 13

Vgl. Thomas von Aquin, Summa theologiae I, q. 76, a. 4.

101 https://doi.org/10.5771/9783495820971 .

Der Strukturkern der Theorie

aber auch keine Genese ohne Struktur. Struktur und Genese stehen zueinander in einem Wechselverhältnis. Was als strukturierte Struktur am Ende einer Genese steht, kann als strukturierende Struktur eine neue Genese bestimmen, ist somit sowohl terminus ad quem der für sie konstitutiven Genese als auch terminus a quo einer weiterführenden Genese. Der genetische Strukturalismus ist von Piaget konzipiert worden. 14 Er versteht sich als ein Mittleres zwischen einem Genetismus ohne Struktur (Empirismus, Lamarckismus u. ä.) und einem Strukturalismus ohne Genese (Präformismus, Darwinismus u. ä.).

3.5.2. Zur Beschreibung und Erklärung eines Wirkwesens bedarf es einer strukturalen und einer genetischen Analyse Wenn ein Wirkwesen das geworden ist, was es ist, 15 dann wird es nur vollumfänglich erfasst, wenn es struktural und genetisch betrachtet wird. Die strukturale Betrachtungsweise bewegt sich innerhalb der Synchronie, die genetische fügt dem die Diachronie hinzu. Die innere Einheit der struktural-synchronen und der genetisch-diachronen Dimension eines Wirkwesens zeigt sich in seiner »Zeitgestalt« 16, d. h. im Zeitquantum, das es für das Durchlaufen seiner Entwicklungsstufen braucht und das ihm weiter bis zu seinem Verfall gegeben ist. Schon für Whitehead sind in Entsprechung zu seinem Prozessprinzip zwei Beschreibungen einer actual entity nötig: eine, die sein ›Sein‹, und eine andere, die sein ›Werden‹ erfasst, wobei diese beiden aber nicht voneinander unabhängig sind. 17

3.5.3. Ein Wirkwesen muss auf jeder seiner Entwicklungsstufen zuerst struktural und dann genetisch betrachtet werden Das ist das methodische Grundprinzip des genetischen Strukturalismus. Die strukturale und die genetische Betrachtungsweise sind säuberlich voneinander zu trennen, jedoch nicht unabhängig voneinan14 15 16 17

Vgl. Piaget 1967, 189–195, dt. 134–139. Vgl. 3.3.1. Der Ausdruck stammt von Edith Stein. Vgl. Stein 1986, 232. Vgl. Whitehead 1929, 23, dt. 65 f.

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Die Gesellschaftsbildung von Wirkwesen

der durchzuführen. Vorrang hat die strukturale Analyse, weil nur durch sie eine Struktur in ihrer Ganzheit und mit ihren Elementen erfasst werden kann. Aber sie bleibt unvollständig, solange sie sich nicht mit der genetischen verbindet (Strukturalismus ohne Genese). Die Struktur ist als ganze auf ihre Vorformen zurückzubeziehen und von ihnen her genetisch zu rekonstruieren. Elemente einer Struktur dürfen nicht aus ihrem Zusammenhang gerissen und für sich kausal erklärt werden (Genetismus ohne Struktur). Den Unterschied und die Komplementarität von strukturaler und kausaler Analyse hat vor allem Cassirer herausgearbeitet 18 und sich in seinen eigenen Arbeiten von einer »bloß genetischen«, den strukturalen Gesamtzusammenhang nicht berücksichtigenden Zugangsweise abgesetzt. 19

3.5.4. Strukturdenken und Subjektdenken sind solidarisch Strukturen bestehen nur aufgrund von Strukturationen. Strukturationen aber setzen eine regulative Instanz, ein Funktionszentrum voraus. Dieses besteht in der Selbstregelung von Strukturen, die wiederum Ausdruck der Subjektivität von Wirkwesen ist. Nach dem Vorbild von Piaget 20 setzt damit die Theorie der Wirkwesen einem Strukturalismus ohne Subjekt, wie er von Lévi-Strauss, Foucault und in der Systemtheorie vorgetragen wurde, einen »Strukturationismus« mit Subjekt entgegen.

3.6. Die Gesellschaftsbildung von Wirkwesen 3.6.1. Wirkwesen sind auf Gesellschaftsbildung hin angelegt Wirkwesen können sich miteinander verbinden und Gesellschaften bilden. Die Gesellschaftsbildung liegt insofern in der Natur von Wirkwesen, als sie generell Elemente ihrer Umgebung oder ihrer

18 19 20

Vgl. Cassirer 1942. Cassirer 1925 (ECW 12), XI. Vgl. Piaget 1968, 119 f., dt. 133 f.

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Der Strukturkern der Theorie

Umwelt aktiv in ihren Konstitutionsprozess einbeziehen. Sie können dabei Kooperationsverhältnisse mit verwandten oder komplementären anderen Wirkwesen eingehen. Solche Kooperationsverhältnisse dienen dazu, im Verbund mit anderen Wirkwesen mehr und Höheres zu verwirklichen, als was ein einzelnes Wirkwesen allein erreichen könnte.

3.6.2. Die Gesellschaftsbildung kann »demokratische« oder »monarchische« Formen annehmen Bei der Gesellschaftsbildung lassen sich sowohl theoretisch als auch empirisch verschiedene Formen unterscheiden. Eine gleichsam demokratische Form liegt vor, wenn Wirkwesen eine Verbindung eingehen, bei der sie mehr oder weniger gleichberechtigt nebeneinander existieren. Das ist im Anorganischen bei den unbelebten Körpern der Fall. Im Bereich des Lebendigen weisen die Pflanzen im Unterschied zu den Tieren eine vorwiegend additive Struktur auf, ohne dass es zu einer Zentralisierung kommt. Eine gleichsam monarchische Struktur hingegen entsteht dann, wenn Wirkwesen sich anderen Wirkwesen unterordnen und sich funktionell in ein größeres Ganzes einbinden lassen, bei dem ein zentrales Wirkwesen eine dominante Stellung erlangt. Im organischen Bereich tritt das vor allem bei jenen Tierarten in Erscheinung, die ein Zentralorgan ausbilden, in dem alle Informationen zusammenlaufen und von dem umgekehrt auch die Steuerungsprozesse ausgehen. Denkbar – und in praxi wohl mehrheitlich der Fall – ist aber auch eine Verbindung beider Formen, bei der demokratisch organisierte Verbände von Wirkwesen – etwa Organe – einem selbst wiederum vorwiegend demokratisch aufgebauten Verbund von Wirkwesen – dem Gehirn – unterstellt sind, das den anderen Verbänden gegenüber eine monarchische Stellung einnimmt.

3.6.3. Durch die Gesellschaftsbildung von Wirkwesen entsteht Komplexität Die Entwicklung hin zu höheren Wirkwesen geht auf dem Weg der Gesellschaftsbildung von Wirkwesen vor sich. Die höheren Formen integrieren dabei die niedrigeren und bauen funktionell auf ihnen 104 https://doi.org/10.5771/9783495820971 .

Die Gesellschaftsbildung von Wirkwesen

auf. Solche Integrationsverhältnisse machen die Komplexität von Wirkwesen aus. Höherentwicklung bedeutet somit Zunahme von Komplexität. Das zeigt sich am stärksten bei den höheren Lebewesen, wo mittels der Integration differenzierter Verbände von Wirkwesen – der Organe – in ein zentrales Nervensystem – das Gehirn – nicht nur ein immer stärker bewusstes und damit intensiveres Verhältnis zur Umwelt, sondern auch zu sich selbst aufkommt.

3.6.4. Es gibt eigenständige und untergeordnete Wirkwesen Monadische Wirklichkeitstheorien wie jene von Leibniz und Whitehead lassen bei der Gesellschaftsbildung der Monaden diese als die eigentlich wirklichen Wesen weiter bestehen. So bleiben für Whitehead die actual entities auch in ihrer vergesellschafteten Form die res verae, die wie die Substanzen Descartes die eigentliche Wirklichkeit ausmachen. 21 Alle komplexen Gebilde, von den physikalischen Einheiten über die lebendigen Organismen bis hin zum Menschen, bilden darum als »Gesellschaften von Gesellschaften« von actual entities letztlich Vielheiten. Um die Einheit des Selbstbewusstseins zu erklären, lässt Whitehead das Zusammenwirken dieser actual entities in einem einheitsstiftenden zentralen Strang zusammenlaufen und kulminieren. Die Theorie der Wirkwesen trifft hier eine fundamental andere Entscheidung. 22 Für sie ist jedes als eine wirkliche Einheit auftretende Wesen, wie insbesondere ein Organismus, grundsätzlich ein Wirkwesen. Das hat zur Folge, dass die in einer solchen Einheit integrierten Wirkwesen nicht mehr als volle eigenständige Wirkwesen gelten können. Wie die ganzheitliche Struktur eines Lebewesens Substrukturen in sich fasst, so ist entsprechend auch anzunehmen, dass ein höheres komplexes Wirkwesen untergeordnete Wirkwesen mit subsidiären Funktionen einschließt. So lassen sich in einem mehrzelligen Lebewesen die einzelnen Zellen als solche untergeordnete, subsidiäre Wirkwesen betrachten. Dabei können untergeordnete Wirkwesen selbst wiederum eine Hierarchie von unter- und übergeordneten Wirkwesen aufweisen. In einem höheren Lebewesen lassen sich in diesem Sinn die Organe in ihrem Verhältnis zu den Zellen als über21 22

Vgl. Whitehead 1929, 22, dt. 63. Vgl. 1.2.

105 https://doi.org/10.5771/9783495820971 .

Der Strukturkern der Theorie

geordnete Wirkwesen auffassen, obwohl beide innerhalb dieses Lebewesens als untergeordnete Wirkwesen zu gelten haben. Es ist Sache der Realwissenschaften Physik, Chemie und Biologie, im Einzelnen die hierarchische Stufung und die Integrationsverhältnisse der untergeordneten Wirkwesen im anorganischen und im organischen Bereich zu klären.

3.7. Möglichkeit und Wirklichkeit, Realität und Idealität 3.7.1. Die Wirklichkeit als Prozess besteht in der zunehmenden Verwirklichung von Möglichkeiten Verwirklichung ist die Überführung einer Möglichkeit in die Wirklichkeit. Der Prozesscharakter der Wirklichkeit besteht unter seinem originären Aspekt in solchen Überführungen. Verfallsprozesse hingegen fallen nicht unter diese Kategorie. Prozess als Verwirklichung von Möglichkeit erinnert unweigerlich an Aristoteles. 23 Die Unterschiede werden sich aber als ebenso bedeutsam erweisen wie die Gemeinsamkeiten.

3.7.2. Es sind die Wirkwesen, die die Möglichkeiten ergreifen und verwirklichen Eine Verwirklichung muss auf einen aktiven Träger als Wirkursache zurückgeführt werden. Als ein solcher kommt gemäß 3.1.5. nur ein Wirkwesen in Frage. Diese Zuschreibung macht geradezu die Definition eines Wirkwesens unter dem Aspekt von Möglichkeit und Wirklichkeit aus: Wirkwesen ist, was eine Möglichkeit ergreifen und verwirklichen kann. Die von den Wirkwesen unterschiedenen Gegenstände und Dinge und insbesondere die Artefakte können das offensichtlich nicht. 24

Vgl. die aristotelische Definition der Bewegung als »Verwirklichung des der Möglichkeit nach Seienden als solchen«, Physik, III. Buch, Kap. 1, 201 a 10s., mit der lateinischen Formel: actus entis in potentia quatenus in potentia. 24 Vgl. 3.1.2. 23

106 https://doi.org/10.5771/9783495820971 .

Möglichkeit und Wirklichkeit, Realität und Idealität

3.7.3. Es gibt reale, entfernte und reine Möglichkeiten Eine »reale« Möglichkeit kann von einem Wirkwesen unmittelbar verwirklicht werden; sie liegt sozusagen in Griffnähe, weil die Vorbedingungen für ihre Verwirklichung erfüllt sind. Eine »entfernte« Möglichkeit ist nur mittelbar zu verwirklichen, weil sie vorgängig die Herbeiführung ihrer Vorbedingungen verlangt; dies kann über Zwischenstufen erfolgen. »Reine« Möglichkeiten hingegen sind solche, die rein in sich, unabhängig von einer vorgegebenen Welt, aufgrund innerer Konsistenzen als möglich erscheinen. Sie bilden die »möglichen Welten«. Eine solche Unterscheidung von »realen«, »entfernten« und »reinen« Möglichkeiten findet sich schon bei Whitehead. 25

3.7.4. Reale und entfernte Möglichkeiten sind zeitlich bedingt, reine Möglichkeiten existieren überzeitlich Die realen und entfernten Möglichkeiten sind in die zeitlich ablaufenden Verwirklichungsprozesse eingebunden. Die reinen Möglichkeiten hingegen stehen außerhalb der Zeit, da sie nur den inneren Konsistenzbedingungen unterstehen.

3.7.5. Die reinen, überzeitlichen Möglichkeiten bilden das Reich der idealen Formen »Ideal« steht hier im Gegensatz zu »real«. »Real« ist gemäß der klassischen Definition, was in Raum und Zeit existiert, ein Entstehen und Vergehen kennt, veränderlich ist, vereinzelt (individuell oder singulär) existiert, bloß faktisch (kontingent) ist. »Ideal« ist im Gegensatz dazu, was über Raum und Zeit steht, kein Entstehen und Vergehen kennt, in diesem Sinne »ewig« ist, sich nicht verändert, allgemein (universell) und notwendig ist. »Ideale Formen« sind Strukturgebilde, die diese Eigenschaften aufweisen. Paradigmatisches Beispiel hierfür sind die geometrischen Formen. Diese idealen Formen bilden ein »Reich«, weil sie hierarchisch untereinander geordnet sind.

25

Vgl. Whitehead 1929, 22 f., dt. 63 f.

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Der Strukturkern der Theorie

Klassisches historisches Vorbild für die idealen Formen sind die platonischen Ideen; das moderne Vorbild bieten Whiteheads eternal objects. Anders als bei Platon, wo die idealen Formen die eigentliche Wirklichkeit ausmachen, werden sie hier wie bei Whitehead als reine Möglichkeiten gefasst. Über ihre Existenzweise wird hier nicht entschieden. Werden sie außerhalb der natürlichen Wirkwesen als existierend angenommen, so muss gemäß 3.1.3. wie bei Whitehead ein überzeitliches Wirkwesen (Gott) als ihr Existenzort angenommen werden. Doch das zu klären ist Aufgabe einer Metaphysik im engeren Sinn, als Theorie des Überzeitlichen.

3.7.6. Die reale Wirklichkeit ist die Konkretion von idealen Formen »Konkretion« bedeutet hier die annähernde Verwirklichung von idealen Formen in einem materiellen Medium. Die idealen Formen können sich unter den Bedingungen der Materialität nie rein ausprägen: Ein Rad erreicht auch bei größter Präzisionsarbeit nie die Vollkommenheit des mathematischen Kreises. Durch Abstraktion, im Denken hingegen lassen sich die idealen Formen aus den Bedingungen der Materialität herauslösen und rein für sich konstruieren. Die Theorie der Wirkwesen orientiert sich hierfür an Aristoteles, insofern dieser die »über« der Welt stehenden platonischen Formen in die Weltwesen hineinverlegte und konkret mit der Materie verband, gleichzeitig aber dem Intellekt die Kraft zuschrieb, sie durch Abstraktion rein für sich zu erfassen. Mit den scholastischen Differenzierungen, wie sie im mittelalterlichen Universalienstreit entwickelt wurden, lässt sich damit unsere Theorie wie folgt präzisieren: Fraglich bleibt für sie vorläufig, ob es ein universale ante rem, also ein »vor« der Weltwirklichkeit existierendes ideales Allgemeines gibt, wie es die Platoniker wollen. Entschieden nimmt sie hingegen mit Aristoteles ein universale in re an, d. h. ein »in« der materiellen Welt unter konkreten Bedingungen existierendes Allgemeines. Ebenso hält sie dafür, dass dieses Allgemeine vom menschlichen Geist aus dem Materiellen abstrahiert und begrifflich rekonstruiert werden kann, womit es die Form des universale post rem, des »nach« der Welt gebildeten Allgemeinen annimmt.

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Bewusster und unbewusster Geist

3.7.7. Ideale Formen werden von den Wirkwesen selbst über ihre Selbstregelungsprozesse angestrebt, insbesondere durch die Äquilibrationen Die Tendenz zu idealen Formen liegt in den Wirkwesen selbst. Ihr formbildendes Wirken ist durch Selbstregelungsprozesse bestimmt, die insbesondere durch die Äquilibrationen Ungleichgewichte durch neue Gleichgewichtsformen zu beheben versuchen. 26 Äquilibrationen aber sind Annäherungen an ideale Formen. (Ein besonders einfaches, anschauliches Beispiel hierfür sind die »guten Formen« der Wahrnehmungslehre der Gestaltpsychologie.) Idealität ist darum ein den Wirkwesen immanentes Moment. Sie erreicht beim Menschen ihren reinen Ausdruck durch seine Konstruktion eigens für sich geschaffener Idealformen kognitiver, ästhetischer und moralischer Art, die er kontrastierend zur Realität in Beziehung setzen kann. Schon Platon wurde von Aristoteles vorgeworfen, dass er die – wenn auch unvollkommene – Präsenz des Idealen im Realen durch seinen Begriff der »Teilhabe« nicht wirklich erklären könne. Bei Whitehead eignen sich die actual entities die eternal objects durch conceptual prehensions an, aber auch diese Lösung erscheint rein spekulativ. Durch die Einbindung der Tendenz zu Idealem in die Selbstregelung soll der Bezug der Wirkwesen zum Idealen in ihren natürlichen Strukturprozessen verankert und so auch wissenschaftlich erfasst werden können.

3.8. Bewusster und unbewusster Geist 3.8.1. Die idealen Formen bilden die geistige Dimension der Wirklichkeit Insofern die idealen Formen zeitlose allgemeine Gestaltprinzipien bilden und in ihren Beziehungen eine innere Notwendigkeit aufweisen, die in Reinform in den Gesetzen von Logik und Mathematik zum Ausdruck kommt, bilden sie seit Platon der konkreten Realität gegenüber das universelle Reich des Geistigen. Die Theorie der Wirkwesen nimmt zwar kein vom Realen abgehobenes, für sich bestehendes Reich des Idealen und damit des Geistigen an, aber auch für sie 26

Vgl. 3.4.6.

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Der Strukturkern der Theorie

machen die idealen Formen die geistige Dimension der Wirklichkeit aus. Diese geistige Dimension manifestiert sich in der Natur und im Lebendigen in jenen Strukturformen, in denen überzeitliche Gestalten zum Ausdruck gelangen. Das Zustandekommen solcher Strukturformen ist nach der Theorie der Wirkwesen darauf zurückzuführen, dass in ihnen Ideales und damit Geistiges als ein ideelles Regulativ wirkt, das auch hinter den Selbstregelungsprozessen steht.

3.8.2. Die Entwicklung der Wirklichkeit insgesamt bedeutet die Überführung unbewusster Geistigkeit in den bewussten Geist In der Natur laufen die von einem ideellen Regulativ und damit vom Geistigen geprägten Prozesse unbewusst ab. Auch die Empfindungen des Lebendigen bedeuten noch nicht ein Bewusstwerden des Geistigen. Erst der Mensch kann das Geistige als solches erfassen und in Wissenschaft und Kunst, Ethik und Religion für sich zum Ausdruck bringen. Damit ist es das Privileg des Menschen, unbewusste Geistigkeit in bewusste Geistformen überzuführen und sich selbst in einen reflexiven Bezug zu ihnen zu setzen. Durch diese Bewusstwerdung gewinnt das Geistige im Menschen seine von den materiellen Bedingungen losgelöste, für sich seiende Form, in der es in seiner Absolutheit wahrgenommen und entsprechend auch im Handeln angestrebt werden kann. Historischer Hintergrund: Die Geschichte des Geistbegriffs weist einen fundamentalen Bruch auf. In der Antike wird mit Platon der Bezug zu den Ideen und damit zum idealen Sein für den Geistbegriff bestimmend. In der Moderne hingegen tritt seit Descartes die Bewusstseinsproblematik in den Vordergrund. Insbesondere beim englischen mind werden damit die Konturen des Geistbegriffs unscharf. Whitehead vereinigt die beiden Traditionslinien, indem er einerseits die conceptual prehensions auf unbewusste Weise die eternal objects und damit das Ideale erfassen lässt, andererseits aus dem zu den propositions führenden Zusammenspiel von conceptual und physical prehensions das Bewusstsein hervorgehen lässt. Die Theorie der Wirkwesen führt Whiteheads Synthese von Geist als Bezug zum Idealen und als Bewusstsein weiter. In der Natur ist für sie der Geist als ideelles Regulativ und damit in seinem Bezug zum Idealen präsent. Bei den Tieren tritt mit den Empfindungen das Bewusstsein auf, das beim Menschen mit seiner Reflexivität nicht nur 110 https://doi.org/10.5771/9783495820971 .

Bewusster und unbewusster Geist

die Vollform des Selbstbewusstseins erlangt, sondern auch den Bezug zum Idealen ins Bewusstsein hebt. Insofern der ganze Naturprozess hin zum Menschen damit als das Zusichkommen des Geistes gesehen werden kann, nimmt die Theorie der Wirkwesen auch die Tradition des Deutschen Idealismus, von Schelling und Hegel in verwandelter Form auf. Ein verwandter Ansatz findet sich partiell auch bei Viktor Frankl, insofern dieser im Gegenzug zu Freud den bewussten menschlichen Geist nicht von einem sinnlich-triebhaften, sondern von einem geistigen Unbewussten geprägt sein lässt. 27

27

Vgl. Frankl 1992.

111 https://doi.org/10.5771/9783495820971 .

4. Die organismische Interpretation der Naturwirklichkeit

4.1. Die prinzipielle Bedeutung einer organismischen Auffassung der Natur Den Grundprinzipien unserer Theorie zufolge besteht die Wirklichkeit insgesamt aus einer Vielheit von Wirkwesen. Darunter verstehen wir Wesen, denen innerlich ein Wirken zukommt, aufgrund dessen sie überhaupt Bestand haben und dessen Träger und Resultat sie sind. Durch ihre Aktivität heben sich die »Wirkwesen« von den »Dingen« ab, d. h. von materiellen Gegenständen und den menschlichen Artefakten unserer Alltagswelt, die als einmal entstandene oder geschaffene scheinbar ohne ihr Dazutun einfach da sind und passiv die Umwelteinflüsse über sich ergehen lassen. Anders als die Dinge, die nach Belieben geteilt oder auseinander genommen werden können, weisen die Wirkwesen eine innere Einheit auf, die auch ihre Teile oder »Organe« prägt. Aufgrund ihres ganzheitlichen Charakters können die Wirkwesen als »Organismen« bezeichnet werden. 1 Der Ausdruck »Organismus« ist umgangssprachlich für die Lebewesen reserviert. Organismen im vollen Sinn treten auch nach unserer Theorie erst im Bereich des Lebendigen auf. Auf Organismen in einem abgeschwächten Sinn stoßen wir nach der hier vertretenen Auffassung jedoch in der Natur insgesamt, wenn wir das oberflächliche Erscheinungsbild der Naturwesen hinter uns lassen und tiefer in die Natur eindringen, d. h. zu den ursprünglichen Einheiten durchstoßen, die die Physik uns in der Natur zu sehen gelehrt hat. Die Materie setzt sich aus Molekülen zusammen, deren Bestandteile die Atome sind. Die Bausteine der Atome sind die sogenannten Elementarteilchen, die Protonen, Neutronen und Elektronen, die als Urheber und Träger aller atomaren und subatomaren Erscheinungen wirken. Zu diesen langlebigen, stabilen Elementarteilchen kommt eine große 1

Vgl. 1.1.; 3.1.2.

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Die prinzipielle Bedeutung einer organismischen Auffassung der Natur

Zahl von kurzlebigen, nur vorübergehend existierenden Elementarteilchen hinzu. Alle diese ursprünglichen Komponenten wollen wir im Folgenden als die »elementaren Einheiten« der Natur bezeichnen. 2 Gestützt auf Whitehead werden wir nun in diesem Kapitel die These vertreten, dass diese elementaren Einheiten aufgrund ihrer fundamentalen Eigenschaften mehr Ähnlichkeit mit Organismen als mit »Dingen« im üblichen Sinn aufweisen. Diese bewusste, natürlich eigens zu begründende Entscheidung, auch den ursprünglichen Einheiten der Natur in einem reduzierten, aber doch echten Sinn den Charakter von Organismen zuzusprechen, ist für die Theorie der Wirkwesen von kapitaler Bedeutung. Sie schafft die Grundlage dafür, von einer durchgängigen Organizität des Wirklichen auszugehen, womit die Theorie der Wirkwesen sich insgesamt das Recht erwirbt, eine organismische Theorie zu heißen. Die Einheit von Prozess-, Struktur- und Systemdenken, die als charakteristisch für sie gelten kann, 3 lässt sich nur auf dieser Grundlage konzipieren. Führen wir uns das beispielhaft am Subjektdenken vor Augen. Für gewöhnlich gelten als Subjekte im eigentlichen Sinn nur die menschlichen Personen. Den Lebewesen oder Organismen und insbesondere den Tieren ist man zwar noch bereit, anfängliche Formen der Subjektivität zuzugestehen. Den materiellen Dingen hingegen fehlt nach der gängigen Einschätzung jede Subjektivität. So entsteht am Ende das bekannte dualistische Weltbild, bei dem den menschlichen »Subjekten« die materiellen »Objekte« gegenüberstehen. Für die Theorie der Wirkwesen ändert sich mit der Zuschreibung einer reduzierten Form von Organizität an die für die Natur insgesamt konstitutiven elementaren Einheiten das Bild von Grund auf. Denn mit der Organizität müssen wir diesen Einheiten auch eine beginnende Subjektivität zugestehen. Sie bilden jedenfalls nicht eine Nullstufe der Subjektivität. Zwischen der beginnenden Subjektivität der elementaren Einheiten der Physik und der Vollstufe der Subjektivität des Menschen werden wir dann als Vermittlung und somit als Mittelstufen die Subjektivität der Lebewesen und speziell der Tiere 2 Whitehead spricht von physical entities (1926, 134), die für ihn organic unities (1926, 92) sind. Somit läge es nahe, von »physikalischen Einheiten« zu sprechen. Doch das wäre irreführend, weil dieser Ausdruck im Deutschen ausschließlich für die Messgrößen der Physik verwendet wird. (Diese Klarstellung verdanke ich Gernot G. und Renate A. Falkner.) 3 Vgl. 1.7.

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Die organismische Interpretation der Naturwirklichkeit

einordnen. Statt der Dualität von menschlichen Subjekten und materiellen Objekten ergibt sich damit eine Skala graduell zunehmender Subjektivität, die schon im Materiellen anhebt und im Menschen ihren Höhepunkt erreicht. Wenn die eigentliche Wirklichkeit aus Wirkwesen besteht, so besteht sie eben damit aus Wesen, die graduell immer höhere Formen der Subjektivität verwirklichen, und genau das macht das Subjektdenken aus, zu dem dann komplementär das Prozess- und das Strukturdenken hinzukommen muss. Die Theorie der Wirkwesen versteht sich nicht nur als eine organismische, sondern auch als eine strukturgenetische Theorie, die die Abfolge immer höherer Wesen auf die Genese ständig komplexerer Strukturen des Materiellen, des Lebendigen und schließlich des Geistes zurückführt. Aber ohne den organismischen Grundzug, den die Theorie der Wirkwesen schon im Materiellen beginnen lässt, wäre auch die Genese höherrangiger Strukturen nicht denkbar. »Dinge« können nicht die Grundlage von »Organismen« im vollen Sinn bilden, sondern nur ursprüngliche Einheiten, die selbst auf eine anfänglich Weise organismisch verfasst sind. Der organismische und der strukturgenetische Aspekt der Theorie der Wirkwesen hängen somit innerlich zusammen; der zweite ist ohne den ersten nicht denkbar. Eine organismische Interpretation der Naturwirklichkeit insgesamt wird damit zur unabdingbaren Grundlage der Theorie der Wirkwesen. In diesem Kapitel werden wir zunächst nacheinander das Dingkonzept der Wirklichkeit und im Gegenzug den Begriff des Organismus herausarbeiten. Daran anschließend werden wir zu zeigen haben, warum sich die elementaren Einheiten der Physik adäquater als »Organismen« denn als »Dinge« verstehen lassen.

4.2. Von der Dingvorstellung unserer Alltagserfahrung zum mechanistischen Materiekonzept Die »Dinge« sind vornehmlich die Gegenstände unserer Alltagserfahrung. Ein »Ding« präsentiert sich uns in unserer Alltagswelt als eine von anderen abgehobene Einheit, die wir mit unseren Sinnen sehen und betasten und wonach wir mit unseren Händen greifen können. Aus »Dingen« besteht unsere pragmatisch zurechtgelegte Alltagswelt; sie sind das, womit wir in unserem Existenzvollzug als Lebewesen handelnd umgehen. Damit ist schon gesagt, dass primär 114 https://doi.org/10.5771/9783495820971 .

Von der Dingvorstellung … zum mechanistischen Materiekonzept

jener Gegenstandsbereich zu den »Dingen« gehört, der seiner Größenordnung nach auf die Proportionen des menschlichen Leibes abgestimmt ist. Dazu zählen in erster Linie die Formen der Behausung, die Einrichtungsgegenstände einer Wohnung und dazu alle Gebrauchsgüter des täglichen Bedarfs sowie der beruflichen Arbeit. Um sie zu benützen, müssen wir sie als etwas für sich Bestehendes ausmachen können. Sie müssen als das, was sie sind, Bestand haben, womit sich mit der Vorstellung der Dinge die Annahme ihrer Festigkeit verbindet. Die Alltagswelt erscheint so als das Gesamt der festen Gegenstände, die in einem Raum vorkommen, der ohne sie leer wäre. In diesem Raum als dem Worin der Dinge existieren diese nebeneinander, ohne dass sie innerlich in einer Beziehung zu einander stünden, wenn wir einmal von der praktischen Verbindung absehen, die wir durch unseren Gebrauch zwischen ihnen herstellen. Zu den »Dingen« zählen aber nicht nur alle künstlich geschaffenen Gegenstände, sondern auch die Naturdinge, die wir zu unserem Gebrauch heranziehen, wie ein Stein oder ein Stück Holz. Und schließlich gehören dazu in einem weiteren Sinn alle materiellen Gegenstände überhaupt, die wir in der Natur aufgrund ihrer besonderen Farbe oder Gestalt als für sich bestehende Einheiten ausmachen. Zur Vorstellung der Festigkeit und Beständigkeit der Dinge gehört auch die Idee ihrer Dauer in der Zeit. Natürlich weisen die Dinge als von Menschen geschaffene oder durch Naturereignisse hervorgebrachte ein Entstehen auf, und ebenso können sie auch aufgrund von Verbrauch, Zerstörung oder Zersetzung wieder vergehen. Sie existieren jedoch nicht punktuell wie die Ereignisse, die in einem bestimmten Moment »passieren«, sondern überdauern die Zeit, zumindest einen Zeitabschnitt, der nach menschlichem Ermessen mehr oder weniger lang ist. In diesem Zeitabschnitt rechnen wir mit der Selbigkeit der Dinge, mit ihrer Identität. Dass die Dinge gestern, heute und morgen sie selbst bleiben, ist eine Voraussetzung, ohne die rechtliche Abmachungen wie ein Kaufvertrag ebenso undenkbar wären wie menschliche Planung und das Spiel mit Erinnerungen und Zukunftsvorstellungen in der Literatur. Die »Dinge« haben fundamentale Eigenschaften wie ein Gewicht, eine Größe, ein Volumen oder eine Farbe, die wesentlich zu ihnen gehören, sich jedoch auch verändern können. Die Veränderung dieser Qualitäten hebt aber für unsere Vorstellung die Identität eines Dinges nicht auf, solange wir es als dasselbe Ding wieder erkennen können. Diese Veränderungen können durch verschiedene Einflüsse 115 https://doi.org/10.5771/9783495820971 .

Die organismische Interpretation der Naturwirklichkeit

hervorgerufen werden, die die Umwelt an das Ding heranträgt. Insofern ein Ding nicht nur diese Einflüsse, sondern insbesondere auch die menschlichen Einwirkungen über sich ergehen lässt, verbindet sich mit einem Ding die Vorstellung der Passivität. Die Dinge oder zumindest der Stoff, aus dem sie bestehen, sind so das Material des Homo Faber, das sich weitgehend seinem Eingriff fügt. Die Dinge scheinen jedoch auch ihrem Wesen nach mehr oder weniger gleichgültig gegenüber dem zu sein, was mit ihnen geschieht. Wie Artefakte wie ein Möbel oder eine Maschine durch Menschenhand zusammengesetzt wurden, so lassen sie sich auch wieder in ihre Einzelteile zerlegen. Ihre Einheit ist damit nur die eines Aggregats. Das gilt in einem veränderten Sinn auch für die materiellen Gegenstände, bei denen die Einheit nicht als eine ursprünglich gewachsene, sondern als eine willkürliche erscheint, die nicht innerlich zu ihrem Wesen gehört, sondern ihm äußerlich ist. Wird ein Stein gespalten, so sind die Spaltprodukte wieder Steine, und das Gleiche gilt auch für ein Stück Holz. Die »Dinge« sind so ihrer Form nach nicht aus sich heraus das, was sie sind, sondern wesentlich das Resultat dessen, was mit ihnen geschehen ist. 4 Zu einem Wirklichkeitskonzept wurde diese pragmatisch vom Homo Faber geprägte Dingvorstellung nun vor allem über die propositionale menschliche Sprache, die dem grammatikalischen Subjekt ein Prädikat zuordnet, vornehmlich eine Qualität. Das ist verständlich, ist doch der Mensch bei seinem handwerklichen Tun primär an den Eigenschaften der Dinge interessiert. Whitehead hat nachdrücklich darauf hingewiesen, wie aus der Subjekt-Prädikat-Struktur der Sprache das Substanz-Qualität-Schema der Wirklichkeitsauffassung hervorgegangen ist. 5 Entscheidend dafür war historisch die von Aristoteles in einer logischen Frühschrift entworfene Kategorientafel, wo von der »Substanz« als dem gleich bleibenden Substrat die veränderlichen »Akzidentien« unterschieden werden, 6 von denen die »Qualität« dann im Mittelalter eine dominierende Stellung erlangte. Descartes konstruierte zu Beginn der Neuzeit das Musterbeispiel einer Philosophie, die letztlich nur Substanzen mit Qualitäten kennt, nämlich die geistigen Substanzen mit der Denkfähigkeit einerseits und die Diese Dingbeschreibung lehnt sich an Whitehead 1929, 77–79, dt. 156–160, und 1938, 128–132, dt. 160–165 an. 5 Vgl. Whitehead 1929, 30, 137 f., 158 f., dt. 77 f., 260 f., 295 f. 6 Vgl. Aristoteles, Kategorien, Kap. 4 u. 8. 4

116 https://doi.org/10.5771/9783495820971 .

Von der Dingvorstellung … zum mechanistischen Materiekonzept

materiellen Substanzen mit der Ausdehnung andererseits – res cogitans und res extensa. Erstere sollte die traditionelle Auszeichnung des Menschen, letztere das Fundament der aufkommenden Naturwissenschaft sicherstellen. Dieses Substanz-Qualität-Schema hielt sich unter veränderten Bedingungen auch in dem mechanistischen Materiekonzept, das aus der neuzeitlichen Newton’schen Physik hervorging. Alle Vorstellungen, die wir mit einem »Ding« verknüpfen, wurden nun auf einen materiellen »Stoff« mit seinen wissenschaftlich messbaren Qualitäten reduziert. Als die »Substanz« des Materiellen galt jetzt das Substrat ihrer physikalischen Eigenschaften, als das in der Newton’schen Physik die Masse angesehen wurde. Wie für den Alltagsverstand ein »Ding« im Raum nur gerade an seinem Ort existiert, so ging man hier von der Annahme aus, dass sich die Körpermassen in einem homogenen, aber an sich leeren Raum an dem von ihnen eingenommen Ort eindeutig lokalisieren lassen, wobei man sich die Masse eines Körpers in einem Massenpunkt vereinigt denken konnte. Die räumliche Anordnung dieser Materiemassen bestimmte dann die fundamentalen physikalischen Gesetze wie das Gravitationsgesetz, welche die Bewegungen der Körper determinierten. Aus den Bewegungen der Körper gingen neue Anordnungen hervor, die ihrerseits neue Bewegungen in Gang setzen, sodass sich ein geschlossener Kreis ergab, für den die Bezeichnung Laplace’scher Determinismus geprägt wurde. Was bei dieser Reduktion auf einen Stoff mit seinen messbaren Eigenschaften ausfiel, waren die Sinnesqualitäten wie Farben, Töne und Gerüche, die der Alltagsverstand den Dingen selbst zuschreibt. Sie wurden nun von Locke als »sekundäre Qualitäten« von der Dingwirklichkeit abgetrennt und als psychische Reaktionen auf physikalische Vorgänge aufgefasst. Den Dingen verblieben nur die »primären«, rein physikalischen Eigenschaften der Materie. Es versteht sich von selbst, dass eine solche auf die Materiemassen und ihre wechselnden räumlichen Anordnungen reduzierte Natur, die nur deterministische Abläufe kennt, keine Antwort auf die Frage nach ihrem Sinn hergeben kann. Denn die rein kausal determinierten Bewegungen sind in sich ziellos, ohne jedes Wertstreben. The stars, she whispers, blindly run, heißt es in einem berühmten, von Whitehead zitierten Gedicht von Tennyson. 7 Und wie die »Dinge« sich passiv auseinander 7

Vgl. Whitehead 1926, 96, dt. 96.

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Die organismische Interpretation der Naturwirklichkeit

nehmen oder zerteilen lassen, so lassen auch die Materiemassen gleichgültig alle Größen- oder Formveränderungen über sich ergehen, die aus ihren äußerlichen Beziehungen zu anderen Materiemassen herrühren. Pascal hat angesichts eines solchen sinnleeren Universums symptomatisch das »Erschrecken« zum Ausdruck gebracht, mit dem ihn das »Schweigen der unendlichen Räume« erfüllt. 8

4.3. Konturen des Organismusbegriffs und einer organismischen Sicht Um im Gegenzug zur Dingvorstellung nun den Begriff des Organismus zu fassen, gehen wir am besten von seiner Nominaldefinition aus. Der Term »Organismus« wurde seit Beginn des 18. Jahrhunderts gebräuchlich. 9 Er ist offensichtlich auf der Basis des griechischen Ausdrucks »Organon«, »Werkzeug« gebildet. Schon Aristoteles hatte die tierischen und pflanzlichen Körper als »Organe« und damit als »Werkzeuge« der Seele gedacht. 10 »Organe« heißen dann in der Folge die Teile oder Glieder eines Lebewesens, die sich funktional unterscheiden und so in einen Wirkzusammenhang bringen lassen. Das Entscheidende ist dabei, dass ein Organismus diese Organe nicht als ihm äußerliche Werkzeuge herstellt und hat, sondern sie selbst an sich ist. Der »Organismus« ist somit seinem Wortsinn nach das »In sich Bewerkzeugte«, ein Wesen, das seine Werkzeuge an sich selbst ausbildet. Die Organe weisen als Glieder eines Organismus immer eine eigentümliche Tätigkeit auf, die sie aber in Abhängigkeit vom Organismus und zum Wohl des Ganzen ausüben. Organismen sind damit in sich gegliederte natürliche Ganzheiten. Die Struktur und Ordnung ihrer Teile verdanken sich einer inneren, vom Organismus selbst ausgehenden Organisation. Die Organe ermöglichen durch ihr Zusammenspiel die Gesamtfunktionen eines Organismus, von denen die bedeutsamsten seine Entwicklung und sein Wachstum, seine Für das mechanistische Materiekonzept vgl. Whitehead 1926, 21 f., 57–64, dt. 29 f., 60–67. 9 Die erste systematische Verwendung von »Organismus« wird dem Iatrochemiker Georg E. Stahl zugeschrieben. Vgl. seine Theoria medica vera von 1708, wo der Terminus »Organismus« ausdrücklich als Gegensatz zu »Mechanismus« eingeführt wird. 10 Aristoteles, Über die Seele, Buch II, Kap. 4 415 b 18 f. 8

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Konturen des Organismusbegriffs und einer organismischen Sicht

Selbstbehauptung in der Umwelt und schließlich seine Fortpflanzung sind. Im Begriff des Organismus als einer ganzheitlichen Vielheit von funktional differenzierten Organen, die aus einer inneren Organisation hervorgegangen sind und durch ihr Zusammenspiel die Gesamtfunktionen des Lebens sicherstellen, sind seine wichtigsten Aspekte zusammengefasst. Damit können wir die Unterschiede angeben, die einen Organismus sowohl von einem Ding im gewöhnlichen Sinn als auch von der mechanistisch aufgefassten Materie und einer Maschine abheben. Der fundamentale Unterschied, auf den sich alle anderen zurückführen lassen, ist der von Aktivität und Passivität. Dinge sind als einmal entstandene oder geschaffene ohne ihr Dazutun einfach da. Das gilt auch für die mechanistisch verstandene träge Materie, und ebenso für eine Maschine und ihre Teile. Ein Organismus hingegen bleibt nur durch seine Tätigkeiten am Leben. Fallen seine Hauptfunktionen aus, so stirbt er, ebenso wie seine Organe absterben, wenn sie nicht mit dem Nötigen versorgt werden. Aktivität bedeutet dabei für einen Organismus wesentlich Interaktion mit der Umwelt. Seine wichtigsten Organe bilden zwar ein geschlossenes System, das aber auf die Umwelt hin offen ist, aus der der Organismus die Mittel für seinen Unterhalt bezieht. Dinge hingegen haben keine aktive Beziehung zum Raum, in dem sie stehen; sie existieren gleichgültig nebeneinander, und das gleiche gilt auch für die Teile einer Maschine. Anders als die Organismen, die auf ihre Umwelt einwirken, lassen sie die Umwelteinflüsse passiv über sich ergehen. Der Unterschied zwischen Aktivität und Passivität findet seine Entsprechung darin, dass zu einem Ding in erster Linie Eigenschaften gehören, zu einem Organismus hingegen Funktionen. Die Eigenschaften machen ein Ding für das geeignet, wofür es gebraucht wird, verweisen also auf einen dem Ding äußerlichen Benützer. Die Funktionen eines Organismus hingegen stehen in seinem Dienst, sind auf es bezogen, dienen seiner Entwicklung und seinem Unterhalt. Wenn die einem Ding oder einer Maschine zugrunde liegende Materie wesentlich Material für den Homo Faber ist, der daraus ein taugliches Objekt herstellt, so ist ein Organismus aus sich heraus Subjekt, Träger von Tätigkeiten, die es um seiner selbst willen vollzieht. Damit kann einem Organismus ein Selbst zugesprochen werden, das ein Ding so nicht kennt. Selbigkeit, Identität weist zwar auch ein Ding auf, insofern es für die Dauer seines Bestehens trotz seiner sich verändernden Eigenschaften als dasselbe Ding in Erscheinung tritt. Aber 119 https://doi.org/10.5771/9783495820971 .

Die organismische Interpretation der Naturwirklichkeit

diese Selbigkeit ist ihm nicht innerlich. Ein Ding lässt sich teilen, eine Maschine in ihre Teile zerlegen, ohne dass die Restprodukte aufhören, weiter für sich zu existieren. Im Falle eines Steines oder eines Holzstücks bleiben die Stücke sogar getrennt weiter das, was sie früher waren. Nicht so ein Organismus, dessen Organe abgetrennt von ihm keinen Weiterbestand haben. So ist ein Organismus ein Selbst, weil es nicht wie ein Ding eine Schädigung seiner selbst gleichgültig hinnimmt, sondern – wie bei der Heilung einer Wunde – aktiv auf die Wahrung seiner Integrität hinwirkt. Mit der von Anfang und immer wieder angestrebten Integrität zeigt sich die Ganzheit als entscheidendes Unterscheidungsmerkmal des Organismus von einem Ding. Dinge sind nicht ursprüngliche, von innen heraus gestaltete Ganzheiten, sondern summative Gebilde, Aggregate, die auf eine additive Weise aus ihren Bestandteilen hervorgehen, die wie bei einem Stein homogen oder wie bei einem Artefakt und besonders bei einer Maschine heterogen sind. Wenn wir nun auf dem Weg der Verallgemeinerung einen Schritt weiter gehen, so können wir aus dem eben entwickelten Organismusbegriff in seiner Differenzierung von der Dingvorstellung das herausschälen, was wir die »organismische Sicht« der Wirklichkeit nennen. Diese ist der Versuch, die Differenz von Organismus und Ding auf eine prinzipielle Form zu bringen. Whitehead hat das in immer wieder unternommenen Anläufen getan, und ebenso Piaget bei der Bestimmung seines genetischen Strukturalismus. Die kürzeste Formel, die wir vorbehaltlos übernehmen können, findet sich jedoch bei Ludwig von Bertalanffy: »Ganzheitliche Systemauffassung gegenüber der analytisch-summativen; dynamische Auffassung gegenüber der statischen und maschinellen, Betrachtung des Organismus als einer primären Aktivität gegenüber der Auffassung von seiner primären Reaktivität«, das sind nach ihm die »Leitsätze einer organismischen Auffassung«. 11 Verstehen wir die »ganzheitliche Systemauffassung« im Sinne des genetischen Strukturalismus, dann erhalten wir genau die organismische und strukturgenetische Sicht, aus der wir hier die Wirklichkeit zu interpretieren versuchen.

11

Bertalanffy 1949, 30.

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Der organismische Charakter der elementaren Einheiten der modernen Physik

4.4. Der organismische Charakter der elementaren Einheiten der modernen Physik Das von der Dingvorstellung geprägte mechanistische Materiekonzept ist aus der neuzeitlichen Newton’schen Physik hervorgegangen, welche die Naturwissenschaft vom 17. bis zum Ende des 19. Jahrhunderts bestimmte. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts fanden in der Physik fundamentale Umwälzungen statt, welche das mechanistische Weltbild von Grund auf in Frage stellten. Sie sind vor allem mit den Namen von Einstein und Planck, von Relativitäts- und Quantentheorie verbunden. Große Entdeckungen konnte aber auch die Chemie mit der Atomtheorie vorweisen. Statt der trägen Masse stieg nun die Energie in den Rang eines Grundbegriffs auf, und unter dem oberflächlichen Erscheinungsbild einer amorphen Materie traten als Tiefenstrukturen mit den elementaren Einheiten ganz anders geartete Gestalten hervor. Die in unserem Zusammenhang entscheidende Frage lautet nun, ob diese neu entdeckten elementaren Einheiten der Physik wie die Atome und deren Elementarteilchen immer noch als »Dinge« aufzufassen sind oder nicht vielmehr als »Organismen«, wenn auch in einem reduzierten Sinn, womit eine organismische Sicht der Naturwirklichkeit statt der früheren mechanistischen sich als die adäquatere erweisen würde. Whitehead hat in seinem ersten revolutionären Werk Science and the Modern World und auch später die Umwälzungen in Physik und Chemie zum Anlass genommen, mit dem mechanistischen Weltbild zu brechen und ein organismisches Verständnis der Natur zu entwickeln. Wir wollen ihm auf diesem Weg folgen, weil sich im Anschluss an Whitehead paradigmatisch die organismischen Wesenszüge der ursprünglichen Natureinheiten herausarbeiten lassen. Zeichnen wir zunächst in groben Strichen den Wandel im Weltbild der Physik nach, der zur Auflösung des mechanistischen Materiekonzepts führte. Schon eine Anziehungskraft wie die Gravitation fügt sich nicht problemlos in das Bild einer Materie, die als Masse in einem sonst leeren Raum lokalisiert wird. Die Übertragung von Licht und Schall machte dann bald deutlich, dass der anscheinend leere Raum der Schauplatz von Aktivitäten ist, die sich nicht mehr direkt wahrnehmen lassen. Um diese auf eine materielle Grundlage zu stellen, nahm man im 19. Jahrhundert eine feine raumfüllende Materie an, den Äther, der als eine gallertartige, flexible Masse kontinuierlich ausgedehnt sein sollte. Die »gewöhnlichen« Körper ließen sich als Knoten 121 https://doi.org/10.5771/9783495820971 .

Die organismische Interpretation der Naturwirklichkeit

in diesem Äther auffassen, die in ihm Spannungen erzeugen. Auf dieser Basis versuchte man die Licht-, Wärme-, Elektrizitäts- und Energielehre schrittweise in einer einheitlichen Theorie zu vereinigen. Immer mehr zeigte sich jedoch, dass die dem Äther abverlangten Aktivitäten nicht mit dem herkömmlichen mechanistischen Materiebegriff zu erklären waren. So musste schließlich die nachfolgende Generation die Vorstellung aufgegeben, dass die Natur letztlich aus einem Substrat von passiven Materiemassen bestehe. Die Masse selbst ließ sich von Einstein auf etwas Fundamentaleres zurückführen, nämlich auf Energie. Wenn aber die scheinbar träge Masse Energie verkörpert, Energie jedoch reine Aktivität ist, dann haben wir es letztlich überall mit einer agierenden Materie zu tun. Prozesse und Prozesseinheiten stehen somit hinter dem, was wir als die festen, dauerhaften Dinge ansehen. Diese bilden nur die stabilere Form von Gruppierungen solcher dynamischer Prozesseinheiten. Die einschneidenste Veränderung am früheren Materiekonzept brachte die Erkenntnis, dass sich die Prozesseinheiten nicht an einem festumgrenzten Ort lokalisieren lassen, sondern über sich hinaus mehr oder weniger große Auswirkungen auf das ganze Universum haben. Jede Gruppierung von Aktivitäten, die wir »Materie« nennen, wirkt auf ihre Umgebung und weiter, wie umgekehrt diese Umgebung auf sie zurückwirkt. Anstelle des leeren Raumes muss damit das Raum-Zeit-Kontinuum von einem neuen Grundbegriff her gedacht werden, dem des Kraftfeldes. Die Natur wird folglich insgesamt zu einem einheitlichen Schauplatz sich durchdringender Aktivitäten. Die Revolution der Physik hat somit im Endeffekt dazu geführt, dass an die Stelle passiver, isolierter Materiemassen in einem leeren Raum ein dynamisches Geflecht ineinander verwobener Prozesse und Prozesseinheiten getreten ist, aus denen sich das ganze Universum aufbaut. 12 Befassen wir uns nun mit den von der neueren Physik entdeckten elementaren Einheiten. Wir haben es hier mit hierarchisch geordneten Gebilden zu tun, die sich aus immer kleineren Einheiten zusammensetzen. In absteigender Linie sind es die Moleküle, die sich aus Atomen zusammenfügen, deren stabile Bauelemente die Protonen, Neutronen und Elektronen sind, zu denen weitere nur vorübergehend existierende Elementarteilchen hinzukommen. Sind nun 12

Zum Ganzen vgl. Whitehead 1938, 136–145, dt. 168–176.

122 https://doi.org/10.5771/9783495820971 .

Der organismische Charakter der elementaren Einheiten der modernen Physik

diese elementaren Einheiten noch »Dinge«, treffen auf sie weitgehend die mit einem »Ding« verbundenen Vorstellungen zu, oder weichen sie fundamental davon ab, und zwar so, dass wir in ihnen die Eigentümlichkeiten von Organismen wieder erkennen können? Nicht zufällig haben wir von elementaren »Einheiten« gesprochen, denn dieser Schlüsselbegriff steht für eine Seinsweise, die den »Dingen« so nicht zukommt. Zwar präsentieren sich auch die »Dinge« als »Einheiten«, insofern sie sich durch ihre Farbe und Gestalt von ihrem Hintergrund und von anderen Dingen abheben. Aber ihre Einheit ist eine äußerliche, zufällige, die nicht aus ihrem Wesen folgt. Bei den Artefakten ist sie eine künstlich hergestellte, bei den Naturdingen eine durch die äußeren Umstände geschaffene. Sie könnte darum auch anders ausfallen. Von einem Artefakt kann man ein Teil wegnehmen, Naturdinge wie ein Stein oder ein Stück Eisen lassen sich spalten oder umformen, wobei das so Entstandene immer noch Stein oder Eisen ist. Ebenso kann in der Mechanik Newtons die Körpermasse beliebig groß ausfallen oder eine andere Form annehmen, ohne dass dies eine wesentliche Veränderung des Körpers als Körper zur Folge hätte. Bei den elementaren Einheiten der Physik hingegen steht eine andere Idee im Hintergrund, nämlich die der Atomizität. Vom späten 19. Jahrhundert an setzte sich die Annahme von – mehr oder weniger – »unteilbaren« Bestandteilen der Natur in allen wichtigen Disziplinen durch: mit Dalton als Atomtheorie in der Chemie, mit der Entdeckung des Elektrons in der Physik, mit der Zelltheorie und den von Pasteur entdeckten Bakterien in der Biologie. Ist nun die Einheit, Größe und Gestalt der »Dinge« weitgehend eine beliebige, so existieren die »atomaren« Einheiten der Physik nur eben so, wie ihr Selbstaufbau es verlangt. Ihre Einheit kann nicht beliebig wechseln, weil sie ihnen innerlich ist. Sie bilden jeweils eine durchstrukturierte Ganzheit, mit Teilen, die in das Ganze integriert und von ihm bestimmt sind, sich also nicht wie bei den Dingen einfach zu einem Ganzen summieren. Deshalb können Teile auch nicht wegfallen, ohne dass sich der Rest verändern würde. Das paradigmatische Beispiel einer solchen Ganzheit ist nun eindeutig der Organismus eines Lebewesens, der nicht ohne seine Organe bestehen kann. Mit der Atomizität der elementaren Einheiten der Physik ist also eine Wesensbestimmung erfasst, die nicht zum üblichen Dingkonzept gehört, aber im Ansatz dem Begriff eines Organismus entspricht. Lassen sich bei den elementaren Einheiten noch wei123 https://doi.org/10.5771/9783495820971 .

Die organismische Interpretation der Naturwirklichkeit

tere Bestimmungen ausmachen, die auf der Linie dessen liegen, was wir einem Organismus zuschreiben? Im Unterschied zu den trägen Dingen verbindet sich mit einem Organismus die Vorstellung lebendiger Bewegtheit. »Leben« meint dabei Prozesse, die alle um ein Selbst kreisen, das sich aus ihnen aufbaut und sich durch sie erhält. Ein solches lebendiges Selbst werden wir den elementaren Einheiten der Physik nicht zusprechen dürfen. Bei ihnen verschwindet aber in jedem Fall die Vorstellung der Passivität, die den Dingen anhaftet. Alle diese Einheiten agieren, sind in Bewegung, wobei diese nicht von außen auf sie übertragen wird, sondern aus ihnen selbst kommt. Ihre Aktivität ist dabei für sie konstitutiv, in dem Sinn, dass ihre ganzheitlichen Strukturen nur innerhalb der für sie typischen Prozesse erstehen und bestehen können. Eine solche Form von Prozessualität entspricht aber wiederum vielmehr der Konzeption eines Organismus mit seinen vitalen Funktionen als der üblichen Vorstellung von einem Ding, das aus einem dauerhaften Stoff besteht. Auch das mechanistische Materiekonzept führte die Körper auf ein die Zeit überdauerndes Substrat zurück, die Masse. Weil aber statt ihrer die Energie das Fundament der Naturwirklichkeit ausmacht und die Masse als die Verkörperung eines Energiequantums zu verstehen ist, wird bei den elementaren Einheiten der Physik die Struktur zum Prinzip der Dauer, wobei die Struktur jedoch nur aufgrund der zu ihr gehörenden Aktivität existent ist. Diese Einheiten besitzen so ihr Selbstsein und ihre Struktur nur innerhalb und dank ihrer Aktivitäten. Das aber kann nicht von den Dingen gesagt werden, sondern verweist unweigerlich auf den Organismus und seine Selbstorganisation der Lebensprozesse. Schließlich kommt als dritter Punkt hinzu, dass die Aktivität der elementaren Einheiten sich innerhalb der von ihnen erzeugten Kraftfelder und damit in Wechselwirkung mit ihrer Umgebung vollzieht. Das entspricht wiederum der Interaktion eines Organismus mit seiner Umwelt. Im Ausgang von der Dingvorstellung lässt sich ein solches Beziehungsgefüge nicht denken. Denn die »Dinge« existieren bloß nebeneinander im Raum, wobei sie sich höchstens berühren, ohne ineinander überzugehen, weil ein Ding nur an seinem Ort angesiedelt ist, von dem es jedes andere ausschließt. Die elementaren Einheiten hingegen greifen mit dem von ihnen erzeugten Feld auf die anderen über, wie umgekehrt diese auf sie zurückwirken. An die Stelle des für die Dinge typischen Nebeneinanders tritt hier ein Ineinander, ein wechselseitiges Sich-Durchdringen. Und wie ein Orga124 https://doi.org/10.5771/9783495820971 .

Der organismische Charakter der elementaren Einheiten der modernen Physik

nismus nur dank der aktiven Assimilation seiner Umwelt lebt und überlebt, so vollzieht sich auch der Selbstaufbau der einzelnen elementaren Einheiten nur unter aktiver Einbeziehung der anderen Einheiten. 13 Aufgrund der Interaktion der elementaren Einheiten stellt sich die Naturwirklichkeit als eine Vielheit kleiner und kleinster Organismen dar, die konstitutiv miteinander zusammenhängen. Jeder Einheit kann dabei ein innerliches und ein äußerliches Wirklichsein zugesprochen werden. Innerlich wirklich sind die Einheiten aufgrund ihres Selbstaufbaus, wobei ihr Selbstsein aus der Einbeziehung anderer Einheiten erwächst, wie sie selbst auch wiederum konstitutiv in andere Einheiten eingehen. Dieses Eingehen in andere macht ihr äußerliches Wirklichsein aus. 14 Aus neuerer Sicht sprechen vor allem die sogenannten Quantenphänomene dafür, dass den elementaren Einheiten der Physik eine dinghafte Existenz abgesprochen werden muss. In den Quantenphänomenen manifestiert sich das Verhalten von Photonen, Elektronen, Protonen, Neutronen, aber auch ganzer Atome und komplexerer Moleküle. Bei ihnen ist der subjektive Beobachter immer Teil des Phänomens. Diese Phänomene können somit nicht mehr mit den Eigenschaften makroskopischer, vom Subjekt abgehobener Dinge erklärt werden. Es hat sich gezeigt, dass die elementaren Einheiten sich sowohl wie Teilchen als auch wie Wellen verhalten. Die Teilchen- oder Welleneigenschaft tritt jedoch nie gleichzeitig auf, sondern hängt von der Art der Beobachtung ab. Das ist der Grund, warum der Beobachter Teil des Quantenphänomens ist. Nils Bohr hat dies als das »Prinzip der Komplementarität« bezeichnet. Der »Welle-Teilchen Dualismus« sowie der Umstand, dass der Beobachter nicht ausgeklammert werden kann, demonstrieren, dass die elementaren Einheiten sich nicht wie Dinge verstehen lassen. Selbst ihrer Manifestation als Teilchen entspricht keine dinghafte Natur, da die energetischen Eigenschaften des beobachteten Teilchens nach Heisenbergs Unbestimmtheitsrelation unscharf bleiben. Eine Vorstellung der Elementarteilchen als Dinge, etwa als kleine Klötzchen mit einer bestimmten Form und Ausdehnung, ist also grundsätzlich unmöglich. 15 Zum Ganzen vgl. Whitehead 1926, Kap. 6, besonders 122–124, 129, 133, 138 f., dt. 119–121, 125, 129, 133 f.; 1929, 77–79, dt. 156–160. 14 Vgl. Whitehead 1926, 130, dt. 125 f. 15 Informationen zu den Quantenphänomenen verdanke ich Gernot G. Falkner. – Der 13

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Die organismische Interpretation der Naturwirklichkeit

Aufs Ganze gesehen deutet somit Vieles daraufhin, dass sich eine organische Verfasstheit zum einen von den einzelnen elementaren Einheiten, zum anderen aber auch von diesen in ihrer Gesamtheit behaupten lässt. Sie können insgesamt als ein Organismus gesehen werden, insofern sie einen durchgehenden Realzusammenhang einander bedingender und aufbauender Einheiten bilden. 16 Schon Platon sah in diesem Sinn den Kosmos als einen Organismus an. 17 Schelling ist ihm hierin gefolgt und hat die Konsequenz gezogen, dass bei einer ganzheitlichen Naturbetrachtung »der Gegensatz zwischen Organismus und Mechanismus verschwindet« und sich dahingehend auflöst, dass der Organismus »früher« ist als der Mechanismus. 18 Für unsere Theorie wie auch für Whitehead bedeutet das allerdings nicht, dass die im übertragenen Sinn als ein Organismus betrachtete Natur auch als ein Wirkwesen gelten kann. Diese Vorstellung bringt nur die Wechselbedingtheit und damit die organische Verflochtenheit aller elementaren Einheiten und darüber hinaus auch der Lebewesen metaphorisch zum Ausdruck.

4.5. Der innere Zusammenhang von organismischer und strukturgenetischer Sicht Der vorangehende Abschnitt hat gezeigt, dass eine organismische Konzeption auf die elementaren Einheiten der Physik mehr und besser zutrifft als die Dingvorstellung. Whitehead zieht nun daraus einen folgenreichen Schluss: »Die Wissenschaft ist dabei, eine neue Sichtweise anzunehmen, die weder rein physikalisch noch rein biologisch ist: Sie wird zur Untersuchung von Organismen. Die Biologie erforscht die größeren Organismen, während die Physik es mit den kleineren zu tun hat.« Dabei »enthalten die Organismen der Biologie

Welle-Teilchen-Dualismus, d. h. der Umstand, dass die Quantenphänomene wissenschaftstheoretisch betrachtet mit zwei an sich inkompatiblen Paradigmen beschrieben werden müssen, ist aus unserer Sicht ein Indiz dafür, dass hier eine einheitliche organismische Theorie fehlt. 16 Vgl. Whitehead 1929, 214 f., dt. 396 f. 17 Platon, Timaios 6, 30 b-d. 18 F. W. J. Schelling, Von der Weltseele, eine Hypothese der höheren Physik zur Erklärung des allgemeinen Organismus (1798). Schriften von 1794–1798, Nachdruck 1975, 403 f.

126 https://doi.org/10.5771/9783495820971 .

Der innere Zusammenhang von organismischer und strukturgenetischer Sicht

die kleineren Organismen der Physik als Bestandteile.« 19 Damit ist eine Physik und Biologie übergreifende, durchgehend organismische Sicht der Naturwirklichkeit postuliert. Die Natur insgesamt wird zum »Ort von Organismen im Prozess der Entwicklung«. 20 Sie unter diesem umfassend gewordenen organismischen Aspekt neu zu interpretieren, wird zur vordringlichen Aufgabe. Damit können wir verstehen, warum Whitehead eine Philosophy of Organism entwarf. Die Naturordnung ist in einer solchen organismischen Sicht primär von Integrationsverhältnissen geprägt. Bereits bei den elementaren Einheiten der Physik können wir einen Trend zu einer immer komplexeren Organisation feststellen. Verglichen mit den Protonen, Neutronen und Elektronen stellen sich die Atome und darüber hinaus die Moleküle als Organismen einer höheren Organisationsstufe dar, welche die ersteren in sich einschließen. Das gilt erst recht, wenn wir von der Physik zur Biologie hinüberwechseln und die pflanzlichen und tierischen Organismen einschließlich des Menschen mit einbeziehen. Auch hier haben wir es von den Einzellern bis zu den zentral organisierten Lebewesen mit zunehmenden Komplexitätsgraden zu tun. Dabei gilt auch für die Lebewesen, dass die größeren Organismen aus kleineren organischen Einheiten bestehen. Diese wiederum schließen die Einheiten der Physik ein. Damit ergibt sich eine Hierarchie immer komplexerer Organismen, die von den elementaren Einheiten der Physik über die Einzeller bis zum Menschen reicht. Dieser Stufenbau zunehmend komplexer werdender Organismen gewinnt seine volle Bedeutung erst dann, wenn wir ihn vor dem Hintergrund einer Idee interpretieren, die seit dem 19. Jahrhundert nicht wegzudenken ist, nämlich die Idee der Evolution. Die sich steigernde Komplexität der Organismen findet mit der Evolutionstheorie generell ihre Erklärung darin, dass die Organismen auseinander hervorgegangen sind. Die komplexeren Organismen haben sich aus den vorangehenden, weniger komplexen entwickelt. Damit ruft die organismische Betrachtung der Naturwirklichkeit nach einer entsprechenden genetischen Sicht. Was heißt das für unsere Theorie? Wie wir bisher angedeutet, aber noch nicht explizit ausgeführt haben, bestehen Organismen aus Strukturen, die als ganzheitliche, von innen geregelte Transformationssysteme als das Prinzip ihrer Organisation fungieren. Damit ist die Erklärung der zunehmenden 19 20

Whitehead 1926, 129, dt. 125. A. a. O., 92, dt. 92.

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Die organismische Interpretation der Naturwirklichkeit

Komplexität der Organismen gleichbedeutend mit der Frage, wie diese Strukturen sich in immer komplexeren Formen organisieren können. Die Einheit eines Organismus verlangt, dass er durch eine Gesamtstruktur gebildet wird. Diese kann jedoch Unterstrukturen verschiedener Art in sich fassen, die einander bedingen und aufeinander aufbauen und so einen immer höheren Organisationsgrad ermöglichen. Die Genese solcher Strukturen, ihre Entwicklung von den einfachsten bis zu den komplexesten, gibt dann generell das Erklärungsmodell her, nach dem sowohl die Phylogenese, d. h. die stammesgeschichtliche Abstammung der Organismen voneinander, als auch die Ontogenese, d. h. die individuelle Entwicklung der einzelnen Organismen, zu denken ist. Piaget gab diesem Modell den Namen genetischer Strukturalismus, und entsprechend reden wir vom »strukturgenetischen Ansatz« oder der »strukturgenetischen Sicht«. Es lässt sich nun leicht zeigen, dass die organismische Sicht der Naturwirklichkeit und das strukturgenetische Erklärungsmodell ihrer Entwicklung einander bedingen. Nur eine von Grund auf organismisch verstandene Natur kann erklären, warum es sowohl im Lauf der Geschichte als auch bei der Entwicklung der Einzelwesen zu immer komplexeren und damit höheren Organismen kommen kann. Aus »Dingen« können keine Organismen hervorgehen, und schon gar nicht die höheren Lebewesen. Umgekehrt verlangt der strukturgenetische Ansatz, dass es von Anfang an – wo immer wir diesen ansetzen – organismische Wesen in einem rudimentären Sinn geben muss, die eine Struktur aufweisen, die sich selbst transformieren kann, sodass sie in ihrer Verdopplung als »strukturierende Struktur« und »strukturierte Struktur« 21 eine Bandbreite möglicher Entwicklung in sich trägt. Die Doppelbezeichnung »organismisch« und »strukturgenetisch« für die Sichtweise unserer Theorie fasst dann genau diese beiden fundamentalen Aspekte zusammen. Zum Schluss dieses Kapitels müssen wir nun noch den »Dingen« den ihnen zustehenden Platz einräumen. Dass auch die elementaren Natureinheiten organismisch zu denken und nicht als Dinge vorzustellen sind, heißt nicht, dass es keine Dinge gibt. Deren »Vorhandenheit«, um mit Heidegger zu sprechen, ist eine Frage unserer Betrachtungsweise. Wenn wir uns die elementaren Einheiten als solche vorstellen und dann zu den Stufen der pflanzlichen und tierischen Organismen aufsteigen, haben wir es überall mit organischen Wesen 21

Vgl. 1.7.; 3.5.1.

128 https://doi.org/10.5771/9783495820971 .

Der innere Zusammenhang von organismischer und strukturgenetischer Sicht

und nirgendwo mit »Dingen« zu tun. Anders wird es, wenn wir uns an die größeren Aggregate der elementaren Einheiten halten, die allein auf der Ebene unserer Alltagserfahrung für uns sichtbar sind. Sie bieten uns ein Erscheinungsbild, bei dem die organische Verfasstheit der elementaren Einheiten verschwunden oder höchstens noch in Eigentümlichkeiten wie einer körnigen Struktur zu erkennen ist. Solche Aggregate können dann auch von äußeren Wirkursachen und dem Menschen in ihrer Form und Zusammensetzung verändert werden. Sie sind es, die unsere Dingwelt bilden. Diese ist eine feste, verlässliche Welt, in der wir uns einrichten und die nötigen Gebrauchsgegenstände herstellen und benützen können. Pragmatisch gesehen scheinen so die Dinge für uns etwas Letztes zu sein. Ontologisch hingegen müssen wir sie gemäß den Erkenntnissen der Physik auf die unter ihrer Oberfläche liegenden fundamentalen Einheiten zurückführen. So sah es als erster schon Leibniz, der die Dinge als Anhäufungen der Monaden als der ursprünglichen Einheiten auffasste und sie damit als Estres par Aggrégation, als Aggregate bezeichnete, denen nur eine unité und entité de phénomène, also bloß eine phänomenale Einheit und Seinsweise zuzuschreiben sei. 22 Eine Wirklichkeitsauffassung, die von der Dingwelt ausgeht, kann also in pragmatischer Hinsicht Priorität beanspruchen, um die Stellung des Menschen als Homo Faber zu verstehen. In ontologischer Hinsicht hingegen müssen wir uns an die organischen Einheiten halten, die von den elementaren Einheiten der Physik bis hin zu den höchsten Lebewesen die eigentliche Wirklichkeit ausmachen. Die »Dinge« führen somit dann in die Irre, wenn sie nicht nur pragmatisch, sondern auch ontologisch für etwas Letztes genommen werden. Die hier vorgelegte Theorie vermeidet diesen Fehler bewusst dadurch, dass sie nicht »Dinge«, sondern »Wirkwesen« ihrer Wirklichkeitsdeutung zugrunde legt, die für die organischen Einheiten von der Physik bis zu den höchsten Lebewesen stehen. Die elementaren Einheiten der Physik werden wir allerdings nicht als Wirkwesen im Vollsinn betrachten dürfen, da ihnen eine echte Eigenständigkeit fehlt. Hypothetisch können wir sie als »Proto-Organismen« und damit als »Proto-Wirkwesen« in unsere Theorie einbauen. Was ein Organismus ist, können wir entsprechend auch nicht im vollen Sinn an den elementaren Einheiten eruieren, die uns G. W. Leibniz, Nouveaux essais sur l’entendement humain (1704), V, ed. Gerhardt, 133.

22

129 https://doi.org/10.5771/9783495820971 .

Die organismische Interpretation der Naturwirklichkeit

nicht direkt zugänglich sind und sich auch physikalisch kaum als einzelne individuelle Einheiten erfassen lassen. Organismen sind für uns in erster Linie die Lebewesen, und in der Weise der Selbsterfahrung nur wir selbst. Die Subjektivität von Organismen hat somit die menschliche Selbsterfahrung zum Paradigma. Indem sie sich auf diese beruft, führt die Theorie der Wirkwesen ähnlich wie Whitehead den subjektiven Ansatz der modernen Philosophie fort. Aber sie objektiviert ihn dadurch, dass sie den menschlichen Organismus aus einer Kette von organischen Einheiten hervorgehen lässt, die bis in die unbelebte Natur zurückreicht. Und da diese Abfolge immer höherer Organismen als eine Filiation immer komplexerer Strukturen zu denken ist, verbindet sich für sie die organismische Sicht der Naturwirklichkeit innerlich mit dem strukturgenetischen Erklärungsmodell.

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5. Der Organismusbegriff beim Lebendigen

Im vorangehenden Kapitel haben wir herausgestellt, wie die elementaren Einheiten der Physik als Entitäten zu betrachten sind, die sich nicht als »Dinge« im üblichen Sinn verstehen lassen, denen wir vielmehr einen organismischen Charakter zusprechen müssen – wenn auch in einem reduzierten Sinn. Wegen ihrer mangelnden Eigenständigkeit konnten wir ihnen aber nicht den Rang eigentlicher Wirkwesen zusprechen, sondern haben sie hypothetisch als »ProtoWirkwesen« bezeichnet. Sie sind jedoch das, was den eigentlichen Wirkwesen in der unbelebten Natur am nächsten kommt. Wollen wir Organismen im Vollsinn und damit die eigentlichen Wirkwesen erfassen, so müssen wir von den präbiotischen Einheiten der Physik zu den Lebewesen aufsteigen. Bei ihnen können wir eruieren, was einen Organismus und damit ein Wirkwesen im Vollsinn ausmacht. In diesem Kapitel wollen wir deshalb zu beschreiben versuchen, wie »Leben« überhaupt zu verstehen ist, welche seine fundamentalen Charaktermerkmale sind und wie diese sich im Begriff eines lebendigen Organismus vereinigen. Der strukturelle Aufbau der Theorie der Wirkwesen orientiert sich am Non Statement View der Wissenschaften. 1 Diesem zufolge werden neue Bereiche dadurch erschlossen, dass eine »Kernerweiterung« vorgenommen wird, durch die der »Strukturkern« der Theorie auf die Besonderheiten des neuen Problemfeldes abgestimmt wird. Im Folgenden versuchen wir deshalb zumindest ansatzweise eine solche Kernerweiterung für den Bereich des Lebendigen vorzunehmen, indem wir Grundannahmen zusammenstellen, die für unser Verständnis des Lebendigen wegleitend sind – eine genauere, auf die aktuelle Situation der Wissenschaften vom Leben abgestimmte Erörterung bleibt einer organismischen Biologie vorbehalten.

1

Vgl. 2.7.

131 https://doi.org/10.5771/9783495820971 .

Der Organismusbegriff beim Lebendigen

5.1. »Leben«, »Lebendigsein« ist eine potenzierte prozessuale, auf die Selbsterhaltung ausgerichtete Form des Seins »Leben« ist die Weise, in der die Lebewesen existieren. Ihr »Sein« ist gleichbedeutend mit »Lebendigsein«, wie der aristotelische Grundsatz vivere est esse viventibus 2 festhält. Das bezeugt auch die Umgangssprache. Wenn wir von jemandem sagen: »Er ist nicht mehr«, so bedeutet das: Er lebt nicht mehr, womit sich »Sein« und »Leben« als austauschbar erweisen. Das »Leben« als besondere Existenzform hat auch ein besonderes Ende: nur Lebewesen kennen ein Sterben, einen Tod. »Lebendigsein« ist dem gewöhnlichen »Vorhandensein« der Dinge gegenüber ein potenziertes Sein. Es zeichnet sich durch all das aus, was einen »Organismus« von den »Dingen« abhebt: Aktivität statt Passivität, Interaktion mit der Umwelt statt eines passiven Nebeneinanders, Ganzheitlichkeit und Selbstsein. »Leben« ist im Deutschen sowohl ein Substantiv als auch ein Verb; im Englischen (life – live) und den sich vom Lateinischen herleitenden Sprachen wird beides getrennt (vita – vivere; vie – vivre). Dabei ist, wie die etymologische Herleitung bezeugt, Leben als Aktivität der primäre Aspekt. Aktivität, Bewegung ist für den Gemeinsinn auch das Hauptkriterium, um das Lebendige vom Unbelebten und Lebendigsein vom Totsein zu unterscheiden. Schon Aristoteles hat die Ernährung und damit den Stoffwechsel, das Wachstum und die Fortpflanzung als die fundamentalen konstitutiven Prozesse des Lebendigen hervorgehoben, 3 ohne die sich ein Lebewesen nicht am Leben erhalten oder dieses weitergeben kann. »Selbsterhaltung« kann deshalb mit der bei Aristoteles beginnenden 4, von der Stoa weiter entwickelten und immer wieder aufgenommenen Tradition als durchgängiges Wesensmerkmal aller dem Lebendigen eigenen Grundprozesse bestimmt werden. Die Rede von einem »Selbsterhaltungstrieb« ist jedoch irreführend, weil die Selbsterhaltung nicht ein Trieb unter anderen ist, sondern die Dynamik des Lebendigen überhaupt kennzeichnet.

2 3 4

Aristoteles, Über die Seele, Buch II, Kap. 4, 415 b 13. Vgl. Aristoteles, a. a. O., Buch II, Kap. 1, 412 a 13. Vgl. Aristoteles, a. a. O., Buch II, Kap. 4, 415 b 1.

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»Leben«, »Lebendigsein«

Was Heidegger allein dem Menschen zuschreibt: dass sein Sein ein »Zu-Sein« ist, weil er sein Sein »zu sein hat« 5, d. h. sich immer um sein Sein bekümmern muss, gilt damit generell von allem Lebendigen. Die Funktion der Lebensprozesse ist die Erhaltung des Lebens, und insofern ist jedem Lebewesen sein Sein nicht einfach gegeben, sondern er hat es »zu sein«, d. h. in seinen Lebensvollzügen sicher zu stellen und zu bewahren. 6 Ein Lebewesen ist sowohl Urheber als auch Ziel seiner konstitutiven Lebensprozesse und damit Wirkwesen in einem reflexiven Sinn, mit Selbstbezug. Die konstitutiven Lebensprozesse wie Ernährung, Wachstum und Fortpflanzung gehen aus dem Lebendigen hervor und zielen auf es hin; es ist terminus a quo und terminus ad quem der Lebensprozesse. Sprachlich zeigt sich das in der reflexiven Form der Lebenstätigkeiten: Ein Lebewesen ernährt sich, wächst sich aus, pflanzt sich fort. Traditionell konnte deshalb das Leben im Anschluss an Aristoteles als motus sui, als »Selbstbewegung« gefasst werden, 7 wobei das »Selbst« sowohl als Nominativ als auch als Akkusativ verstanden werden muss. Durch diesen immanenten Charakter heben sich die Lebensprozesse schon rein äußerlich betrachtet von der von Ding zu Ding übergehenden, transitorischen Wirkweise des Unbelebten ab. Damit sind die Lebewesen Wirkwesen in einem eminenten Sinn. Dass das Woher und das Woraufhin der Lebensprozesse dem einen und selben Lebewesen zugehörig sind, zeigt an, dass Lebewesen generell einen Selbstbezug haben, durch den sie sich als ein organisches Selbst konstituieren. Dieser Selbstbezug steigert sich im Lauf der Entwicklung und gewinnt im Menschen mit der vollen Reflexivität von Selbsterkenntnis und Selbstbestimmung seine vollendete Form. 8

Heidegger 1929, 42, 12. Ähnlich Tugendhat 1979, 178. 7 Vgl. Aristoteles, Physik, Buch VIII, Kap. 4, 255 a 6 f.; Thomas von Aquin, Summa theologiae, I, q. 18, a. 1. 8 Seit dem Neuplatonismus wurde dieser bis zur vollen Reflexivität wachsende Selbstbezug im Bild der »vollendeten Rückkehr« – reditio completa – gefasst, so insbesondere von Thomas von Aquin. Vgl. Fetz 1975. 5 6

133 https://doi.org/10.5771/9783495820971 .

Der Organismusbegriff beim Lebendigen

5.2. Ein höheres Lebewesen ist ein Organismus im Vollsinn, der durch eine Gesamtstruktur gebildet wird, die unterschiedliche Substrukturen, die Organe, zu einer funktionellen Einheit und Ganzheit zusammenfasst Das griechische organon bedeutet »Werkzeug«, und entsprechend kann ein Organismus als ein »in sich bewerkzeugtes« Wesen verstanden werden; die ihm innerlich zugehörigen »Werkzeuge« sind dann die Organe. Der Organismus bildet so eine Gesamtstruktur, in der die Organe als Substrukturen fungieren. Die Einheiten des Unbelebten – Moleküle, Atome, und so fort –, die an sich auch bereits organismische Züge aufweisen, 9 schließen sich zu homogenen Aggregaten zusammen, zum Beispiel einem Stein, bei denen der organismische Charakter sich zumindest äußerlich nicht mehr zeigt. Im Unterschied dazu sind die Organe eines Lebewesens in sich differenziert; ein Organismus besteht aus heterogenen Organen. Die Organe bilden in ihrer Einheit und Gesamtheit einen Funktionskreis, der die spezifische Lebensform des betreffenden Lebewesens ermöglicht. Da dieser Funktionskreis mit seinen Binnenvorgängen in sich geschlossen ist, aber zugleich auf die Assimilation von Außenelementen (Licht, Sauerstoff, Nahrung) angewiesen ist, kann die Struktur eines Organismus mit Bertalanffy als »offenes geschlossenes System« bezeichnet werden. Dem Organismus kommt im Unterschied zu einer Maschine eine aktive Selbstorganisation zu, dank deren er seine Organe selbst hervorbringt, wie umgekehrt diese das Leben des Organismus ermöglichen. Die Selbsterhaltung des Organismus vollzieht sich so über die Produktion und Reproduktion seiner Teile. Aber auch die Organe können außerhalb des Organismus nicht weiter bestehen. Diese Wechselbeziehungen zwischen dem Organismus und seinen Organen finden sich als funktionale Interdependenzen auch zwischen den Organen selbst wieder. Anders als bei einer Maschine, wo die Funktionsteile zwar zusammenwirken, aber einander äußerlich bleiben, besteht ein Organismus aus einem Gesamt nicht nur funktionell, sondern auch existenziell aufeinander bezogener Organe, die die Autonomie des Organismus in seiner Umwelt sichern.

9

Vgl. 4.4.

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Ein höheres Lebewesen ist ein Organismus im Vollsinn

Den Organismus als ein solchermaßen »organisiertes und sich selbst organisierendes Wesen« 10 hat erstmals Kant genau beschrieben. Vor allem hat er die Besonderheiten der Beziehung der Organe zum ganzen Organismus klar herausgearbeitet. Die Teile sind hier sowohl ihrer Existenz als auch ihrer Struktur nach »nur durch ihre Beziehung auf das Ganze möglich«, und sie können sich nur dadurch »zur Einheit eines Ganzen verbinden, dass sie voneinander wechselseitig Ursache und Wirkung ihrer Form sind«. 11 Kennzeichnend für den Organismus und seine Organe ist damit, dass hier »ein jeder Teil so, wie er nur durch alle übrigen da ist, auch als um der andern und des Ganzen willen existierend, d. i. als Werkzeug (Organ) gedacht« werden muss. 12 Das Beziehungsgefüge von Organen und Organismus besteht somit aus inneren Beziehungen, die für beide Seiten konstitutiv sind. Anders als ein Kunstwerk, wo der Künstler dem Werk äußerlich bleibt, ist der Organismus ein von innen organisiertes und sich organisierendes Wesen. Diese Selbstorganisation unterscheidet den Organismus auch von einer Maschine. »In einer Uhr ist ein Teil das Werkzeug der Bewegung der anderen, aber nicht ein Rad die wirkende Ursache der Hervorbringung des andern; ein Teil ist zwar um des andern willen, aber nicht durch denselben da«, weshalb auch die »hervorbringende Ursache« »außer ihr in einem Wesen« ist, nämlich in dem nach einer Idee produzierenden Hersteller. »Ein organisiertes Wesen ist also nicht bloß Maschine: denn die hat lediglich bewegende Kraft; sondern es besitzt in sich bildende Kraft, und zwar eine solche, die es den Materien mitteilt, welche sie nicht haben (sie organisiert).« 13 Kants Begriff eines Organismus findet sich weitgehend in dem von Maturana und Varela eingeführten Begriff der »autopoietischen Organisation« wieder, die das Lebendige kennzeichnet. Diese Autoren wollten damit ein allgemeines Kriterium für das Lebendige aufstellen, das über die bisher übliche Aufzählung von Eigenschaften hinausgeht. Wie der Name andeutet, besteht die das Lebendige definierende autopoietische Organisation darin, dass ein Lebewesen anI. Kant, Kritik der Urteilskraft, § 65, Akad. Ausg. V, 374. A. a. O., 373. 12 Ebd. 13 Ebd. – Auch wenn Kant hier mit seinem Organismusbegriff eine eindeutig organismische Sicht vertritt, so ist doch festzuhalten, dass diese bei ihm nur ein Leitbild, ein »regulativer Begriff« bleibt und »kein konstitutiver Begriff des Verstandes oder der Vernunft« ist, der wissenschaftlich umgesetzt werden könnte. Vgl. a. a. O., 375. 10 11

135 https://doi.org/10.5771/9783495820971 .

Der Organismusbegriff beim Lebendigen

dauernd sich selbst erzeugt. Lebewesen ist es eigen, dass das Produkt ihrer Organisation sie selbst sind, dass es also keine Trennung zwischen Erzeuger und Erzeugnis gibt, genauso wie ihr Sein und Wirken untrennbar sind. Als ein kontinuierliches Netzwerk von Wechselwirkungen innerhalb ihrer eigenen Grenzen heben sie sich dynamisch vom umliegenden Milieu ab. Die Autopoiese macht so Lebewesen zu autonomen Systemen, die fähig sind, nach ihrer eigenen Gesetzlichkeit zu existieren. Charakterisiert die autopoietische Organisation ganz allgemein ein Lebewesen, so unterscheiden sich die vielen Lebewesen durch die Verschiedenheit ihrer Strukturen, die ihnen jeweils eigen sind, obwohl sie die gleiche Organisation aufweisen. 14 Es ist leicht zu sehen, dass der Begriff der autopoietischen Organisation oder des autopoietischen Systems für das Lebendige die Grundzüge spezifiziert, die unsere Theorie allgemein einem Wirkwesen zuschreibt, indem sie sein Wirken als konstitutiv für sein Sein auffasst und seine formierte Form aus seiner formierenden Form hervorgehen lässt. 15

5.3. Höhere Lebewesen bilden in ihrer Genese vom Samen bis zu ihrer ausgewachsenen Form unterschiedliche Strukturen aus, die sich qualitativ vom Unbelebten abheben Vergleicht man die Samenzellen eines Lebewesens mit seiner ausgewachsenen Form, so wird deutlich, dass die höheren Lebewesen jene Wirkwesen sind, bei denen die Anfangsstruktur und die Endstruktur am weitesten auseinanderliegen und die größten Unterschiede aufweisen. Die Entwicklung von Lebewesen kann deshalb nicht als ein linearer Wachstumsprozess betrachtet werden (wie es bei der Homunkulustheorie der Fall wäre), sondern stellt sich als eine Stufenfolge immer differenzierterer und komplexerer Strukturen dar. Bei den tierischen Formen und speziell beim Menschen ermöglichen weiterführende zusätzliche Strukturbildungen das Verhalten und Erkennen. Wie schon im Strukturkern festgelegt, folgt die Verwirklichung dieser Stufen einer sequenziellen Ordnung, was heißt, dass keine Stufe übersprungen werden kann. 16 Je höher ein Wirk14 15 16

Vgl. Maturana/Varela 1987, 49–56. Vgl. 3.1.; 4.3. Vgl. 3.2.4.

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Höhere Lebewesen

wesen steht, desto mehr Zwischenstufen muss es folglich durchlaufen, bis es seine Endstufe erreicht – ein Grundsatz, der sich schon bei Thomas von Aquin findet. 17 Eine allgemeine Erklärung der Entwicklung von Lebewesen ist durch die Prinzipien des genetischen Strukturalismus grundgelegt. 18 Die entscheidenden Faktoren für die Höherentwicklung sind in jedem Fall im Inneren des Organismus zu suchen, in seiner Selbstregelung. Äußere Einflüsse können nur insofern eine Rolle spielen, als sie vom Organismus assimiliert und in Adaptationsvorgänge umgesetzt werden. Die oben herausgestellten Charaktere des Lebendigen, insbesondere sein Selbstbezug und seine Gesamtorganisation als Organismen, finden sich in dieser ausgeprägten Form nicht im Unbelebten. Lebendigsein ist damit der unbelebten Materie gegenüber etwas unreduzierbar Neues. Das schließt nicht aus, dass die elementaren Einheiten der Physik mit ihren tendenziell organismischen Zügen als Vorformen des Lebendigen gelten können, zumal das Lebendige diese integriert und auf ihnen weiterbaut. Entscheidend ist jedoch, dass diese in eine neue Organisationsform übergeführt werden, die qualitativ über den Strukturen der elementaren Einheiten der Physik und der chemischen Verbindungen steht. Diesen Grundgedanken eines vom Unbelebten bis zu den höchsten Lebensformen führenden Organisationszusammenhangs von Strukturen hat erstmals Aristoteles ausgesprochen, als er das herkömmlich als »Seele« benannte Prinzip des Lebendigen als forma corporis und damit als eine höherstufige Form der Gestaltung des Materiellen begriff, die aber die niedrigeren integriert. 19 Aufgabe einer strukturgenetischen Theorie des Hervorgangs des Lebendigen aus dem Unbelebten und der Entwicklung der Lebewesen in Phylogenese und Ontogenese ist es, die sukzessive Verwirklichung immer höherer Materie- und Lebensformen als eine Aufeinanderfolge von Strukturen verständlich zu machen, in der Kontinuität mit echter Kreativität zusammengeht.

17 18 19

Vgl. 3.4.5. Vgl. 3.4.–5. Vgl. Aristoteles, Über die Seele, Buch II, Kap. 1–2.

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Der Organismusbegriff beim Lebendigen

5.4. Ein Lebewesen ist konstitutiv auf seine Umwelt bezogen, die es zugleich assimiliert und erschafft, womit es eine Geschichte hat Die Autonomie eines Lebewesens verdankt sich seiner Selbstorganisation, durch die es sich als eine für sich bestehende Ganzheit von seiner Umgebung abgrenzt und seine Binnenvorgänge seiner Selbstregelung unterstellt. Diese Autonomie bedeutet jedoch nicht Autarkie. Lebewesen können sich in ihrer Form und Struktur nur durch einen fortwährenden Stoffwechsel erhalten. Damit ist ein Lebewesen notwendig auf seine Umwelt bezogen und auf den Austausch mit ihr ausgerichtet. Seine Außenfläche ist nicht nur Grenze, sondern auch Verbindungszone. Die Beziehung, in die der Organismus zu seiner Umgebung tritt, lässt diese nicht unverändert. Die Umgebung wird nur wahrgenommen, insofern ihre Objekte für den Organismus eine bestimmte Bedeutung erlangen. Seine Assimilation der Umgebung ist eine Selektion nach seinen eigenen Bedürfnissen. Indem das Lebewesen förderliche Elemente auswählt, schädigende beseitigt und andere unberücksichtigt lässt, erschafft es aus der Umgebung seine eigene Umwelt. Lebewesen und Umwelt bilden so ein übergreifendes Gesamtsystem, das stabil bleiben, sich aber aufgrund wechselnder Umweltbedingungen oder infolge eines übermäßigen Eingriffs von Seiten eines Lebewesens auch verändern kann. Die Veränderungen im Gesamtsystem von Lebewesen und Umwelt machen deren Geschichte aus. Insofern ein Lebewesen das, was es in seiner Interaktion mit der Umwelt erlebt und erfährt, in einem wie immer gearteten Gedächtnis in sich trägt, ist es ein geschichtliches Wesen. Als solches ist es in dem Sinn in die Zeit eingebunden, dass seine Gegenwart und Zukunft von seiner Vergangenheit mitbestimmt wird. Das darf aber nicht deterministisch missverstanden werden, weil ein Organismus in dem Maße, als es sich aktiv selbst organisiert, auch die Freiheit der Selbstbestimmung hat. Der Begriff der Geschichtlichkeit wurde als ein für den Menschen reservierter Begriff eingeführt. Das ist verständlich, weil er bezüglich der kulturellen Überlieferung seine größte Bedeutung gewinnt. Vorformen der Geschichtlichkeit lassen sich aber überall dort ausmachen, wo einem Lebewesen seine Widerfahrnisse in irgendeiner Weise eingeschrieben werden. Ein fundamentaler Teil der Umwelt von Lebewesen ist ihre so138 https://doi.org/10.5771/9783495820971 .

Ein Lebewesen ist konstitutiv auf seine Umwelt bezogen

ziale Mitwelt, das Zusammenleben mit Artgenossen. Ohne diese soziale Mitwelt ist sowohl ihre Existenz als auch ihre Entwicklung nicht denkbar, auch wenn die Mitwelt allein diese nicht hinreichend erklärt. Ein Lebewesen kann sich nur dadurch entwickeln, dass es aktiv an seiner Mitwelt teilnimmt. Diese Teilnahme geschieht über die soziale Kommunikation. Lebewesen zeichnen sich dadurch aus, dass sie Kommunikationssysteme ausbilden. Signale und Symbole sind die bedeutsamsten Kommunikationsmittel, wobei die ersteren überall beim Lebendigen auftreten, die Symbole hingegen als geistige Bedeutungsträger den Menschen auszeichnen – gemäß Cassirers Definition des Menschen als animal symbolicum.

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6. Die Differenzierung von Pflanze, Tier und Mensch

6.1. Komplexität, Zentrierung und Positionalität als Leitprinzipien der Differenzierung Gemäß dem Strukturkern sind Wirkwesen in Systemen existierende prozessuale Subjekte. Sie weisen Strukturen auf, die von ihnen in Selbstkonstitutionsakten hervorgebracht werden. 1 Diese Charakterisierung gibt nun die Leitprinzipien für die Differenzierung von Pflanze, Tier und Mensch her. Diese Differenz manifestiert sich primär in den Strukturen, aus denen ein Lebewesen aufgebaut ist. Entsprechend ist auch die Subjektivität eine je andere. Die Unterschiede lassen sich zudem am Bezug zu den Systemen festmachen, in denen ein Lebewesen lebt, d. h. an seinem Umweltbezug. Für die jeweilige Stellung der Lebewesen in ihrer Umwelt hat sich seit Plessner der Begriff der Positionalität eingebürgert. Die strukturellen Differenzen zeigen sich in den Komplexitätsgraden der Lebewesen. Komplexität meint dabei im Unterschied zur Additivität, dass ein Lebewesen nicht Gleichförmiges zu einem immer größeren Gebilde zusammenfügt, sondern differenzierte Substrukturen hervorbringt und in eine Gesamtstruktur integriert, wie das immer bei einem Organismus der Fall ist. Je höher ein Lebewesen steht, desto größer ist seine Komplexität. Höherentwicklung bedeutet so Steigerung des Komplexitätsgrades. Insofern diese Höherentwicklung in einer Gesamtstruktur erfolgt, die die Substrukturen einer zentralen Regelung unterstellt, geht sie mit einer Zentrierung einher. Im Laufe der tierischen Entwicklung zeigt sich diese Zentrierung an der Zerebralisierung, d. h. an der Ausbildung eines Nervensystems, das im Gehirn sein Zentrum hat. Das Gehirn ist gleichsam ein Organ in zweiter Potenz. Aufgabe einer organismischen Biologie ist es, an-

1

Vgl. 3.2.1.

140 https://doi.org/10.5771/9783495820971 .

Komplexität, Zentrierung und Positionalität als Leitprinzipien der Differenzier-

hand der Zunahme der Komplexität die Stufen der Selbstorganisation des Lebendigen auszumachen und so seine Evolution zu deuten. Lebewesen stehen in einer anderen Beziehung zu ihrer Umgebung als unbelebte Naturgebilde. Körper haben, grob gesprochen, beobachtbare Grenzen, in denen sie lokalisiert werden können. Unbelebte Körper haben eine Umgebung, aber keine Umwelt Für Lebewesen hingegen ist der Grenzübergang charakteristisch, der aus Selbstorganisationsprozessen resultiert, bei denen für die Organismen aus ihrer Umgebung die erfahrene Umwelt wird. Lebewesen greifen über sich selbst hinaus und nehmen gleichzeitig ihre Umgebung in sich auf, existieren also sozusagen außerhalb und innerhalb ihrer selbst. Dieser Umweltbezug nimmt bei Pflanze, Tier und Mensch unterschiedliche Formen an. Plessner hat die für das Lebendige typische Raumstellung als »Positionalität« bezeichnet und sie als Variable genommen, mittels deren sich die Existenzform des Tieres von jener der Pflanze und schließlich die menschliche Existenzform von der tierischen abheben lässt. Aus der allgemeinen Beziehung Organismus– Umwelt, die sich vom Tier an zur Erkenntnisbeziehung SubjektObjekt entwickelt, werden dabei die Grundschemata der Differenzierung entwickelt. 2 Die Art der Positionalität lässt sich aus den unterschiedlichen Strategien herleiten, mit denen Organismen sich in ihren Selbstkonstitutions- und Erfahrungsakten von ihrer Umgebung abgrenzen. Die eine Strategie, die von den sogenannten Primärproduzenten praktiziert wird, besteht darin, überall verfügbare anorganische (und niedermolekulare) Ressourcen mit Hilfe einer externen Energiequelle, hauptsächlich von Licht, für die Aufrechterhaltung der eigenen Lebensfunktionen auszunützen. Zu den Primärproduzenten zählen die meisten Pflanzen. Bei dieser Strategie ist eine den Standort wechselnde, vagierende Mobilität wenig sinnvoll. Die andere Strategie, verfolgt von Sekundärproduzenten, zu denen die meisten Tiere gehören, beruht auf einer Verwertung der von Primärproduzenten sowie anderen Sekundärproduzenten erzeugten Verbindungen. Dies bedingt die Fähigkeit, die Lebensaktivitäten von anderen Organismen zu beobachten und auszunützen, was eine ausgeprägte Mobilität im Sinne der Ortsveränderung erfordert. Beim Menschen schließlich wird mit der Reflexion eine ganz neue Form der Subjektivität erreicht, die zur 2

Vgl. Plessner 1928, 4. Kap., bes. Abschnitt 2.

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Die Differenzierung von Pflanze, Tier und Mensch

traditionellen Bestimmung des Menschen als Vernunft- und Geistwesen geführt hat.

6.2. Die Pflanzen als Primärproduzenten: Dominanz der Offenheit In Anlehnung an Plessner kann der Pflanze eine »offene Organisationsform« zugesprochen werden 3 – zwar nicht in dem Sinne, als würde die Struktur einer Pflanze überhaupt keine Geschlossenheit aufweisen, was ihre Konsistenz als Lebewesen verunmöglichen würde, wohl aber im Sinne einer Dominanz der Offenheit gegenüber der Geschlossenheit. 4 Die offene Organisationsform ergibt sich aus dem Umweltbezug der Primärproduzenten, der darin besteht, möglichst effizient die lokal vorhandenen Nährstoffe zu verwerten. Diese Notwendigkeit hat Differenzierungen zur Folge, bei denen es zu einer Maximierung des Umweltkontaktes kommt. Sie äußert sich morphologisch in der Tendenz zur äußeren Flächenentwicklung, die im Wachstum auf additive Weise erfolgt und entsprechend die Struktur prägt, kenntlich etwa an den Jahresringen der Bäume, aber auch an der Verzweigung der Wurzeln und Äste, der Vervielfältigung der Blätter oder Nadeln. Die dabei hervorgebrachten Strukturen ermöglichen der Pflanze, sich optimal auf Nährstoff- und Lichtfluktuationen in der Umgebung einzustellen. Die Notwendigkeit einer Energieverwertung der unmittelbaren Umgebung und die vorwiegend additive Struktur sind verantwortlich dafür, dass es im Verlauf eines Umweltkontakts nur zu einer lokalen Integration der Teile einer Pflanze kommt, und zwar abgestimmt auf die jeweilige Umgebung. Änderungen der Umgebung werden daher bei Pflanzen nur lokal erfahren. Äste, Zweige, Blätter lassen sich bis zu einem gewissen Maß entfernen, ohne den Fortbestand der Pflanze zu gefährden. Diese Teile können als Stecklinge oder bei der Pfropfung auch ihre Selbständigkeit gegenüber dem Ganzen behaupten. Die Individualität einer Pflanze tritt deshalb nur äußerlich als ihre Vereinzelung als physisches Gebilde in Erscheinung, wohnt ihr Vgl. a. a. O., 5. Kap., Abschnitt 5. Viele biologische Differenzierungen in diesem und dem nächsten Abschnitt sind Gernot G. Falkner geschuldet.

3 4

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Die Tiere als Sekundärproduzenten: Dominanz der Geschlossenheit

jedoch nicht durchgängig konstitutiv inne, sodass die Pflanze als das »Dividuum« charakterisiert werden konnte. Diese im Vergleich zu den höheren tierischen Formen mangelnde ganzheitliche Organisation der Pflanze kann auf das Fehlen von Zentralorganen und damit einer geringen Zentrierung zurückgeführt werden. Damit ist schon gesagt, dass die Pflanze als Ganzes trotz ihrer Reaktionsfähigkeit kein wirkliches Empfinden kennt, sodass ihr auch eine der tierischen vergleichbare Subjektivität abgesprochen werden muss.

6.3. Die Tiere als Sekundärproduzenten: Dominanz der Geschlossenheit Öffnen sich Pflanzen weitestgehend ihrer Umwelt, so haben sich die Tiere in Richtung auf eine größtmögliche Selbständigkeit und Unabhängigkeit vom Milieu entwickelt. Der Grund dafür ist ihre energetische Abhängigkeit von Produkten der Primärproduktion, die nur durch Ortsveränderungen mit Hilfe kompakter Strukturen verwertet werden können. Das Tier setzt die Pflanze als lebensnotwendige Grundlage voraus, weil es nicht wie die Pflanze Eiweiß, Kohlehydrate und Fette aus anorganischen Verbindungen, sondern nur aus den organischen Bestandteilen der Pflanze aufzubauen vermag. Damit gehört das Tier einer höheren Ordnung an als die Pflanze. Schon rein äußerlich tritt das Tier viel stärker als die Pflanze als ein von der Umwelt abgehobenes und in sich geschlossenes Einzelwesen in Erscheinung. Plessner hat deshalb von der »geschlossenen Organisationsform« des Tieres gesprochen, 5 wobei auch hier die Geschlossenheit nur den dominanten Wesenszug der tierischen Existenzform markiert, nicht aber das Offensein gegenüber der Umwelt ausschließt. Aber in gewisser Weise kann der tierische Körper mit Whitehead 6 auch als der höher organisierte und unmittelbare Teil der allgemeinen Umwelt einer inneren Organisation betrachtet werden, die mit der Erfahrung der Umgebung des Tieres befasst ist. Bezüglich der Umwelt zeigt sich die neu gewonnene Selbständigkeit und Unabhängigkeit des Tieres darin, dass es nicht mehr an einen festen Standort gebunden ist, sondern sich frei in seiner Umgebung bewegen kann. Die Ortsveränderung dient der Nahrungssuche, 5 6

Vgl. a. a. O., 6. Kap., Abschnitt 1. Vgl. Whitehead 1929, 103; dt. 200 f.; dazu Fetz 1981, 155.

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Die Differenzierung von Pflanze, Tier und Mensch

dem Aufsuchen günstiger klimatischer Bedingungen, der Partnersuche usw. Ermöglicht wird diese Mobilität des Tieres durch den von seinen kompakten äußeren Strukturen aufgebauten Bewegungsapparat und durch die speziell der Orientierung dienenden Sinnesorgane. Durch diese spezifische Organisationsform des tierischen Körpers, der getrennte Organe für die Wahrnehmung und die Bewegung ausgebildet hat, sind in seinem Verhältnis zur Umwelt zwei Prozesse kreisförmig miteinander verknüpft, die Jakob von Uexküll als die des »Merkens« und »Wirkens« beschrieben hat. 7 Zwischen ihnen tut sich eine Zeitspanne auf, in der das Tier sein Agieren gegenüber der emotional, d. h. positiv oder negativ wahrgenommenen Umwelt regelt. Dieses so geregelte Agieren wird zum eigentlichen Verhalten. Triebe und Instinkte steuern jedoch dieses Verhalten, das in einen vorbestimmten Kreis von Reiz und Reaktion eingebettet ist. Diese affektiv aufgeladene Zeitspanne öffnet den Raum für die Entstehung tierischen Bewusstseins, für die Gefühle des Begehrens oder Zurückschreckens, von Lust oder Frustration. Im Lauf der tierischen Entwicklung werden Wahrnehmungs- und Bewegungsradius durch den zunehmenden Abstand des Rumpfes vom Boden und die Dominanz der Fernsinne gegenüber den Nahsinnen immer größer. Bei der Struktur höherentwickelter Tiere fällt auf, dass die äußere Körperfläche, die die Bewegungs- und die Sinnesorgane trägt, gering gehalten ist, die inneren Körperflächen hingegen, die die Organe umfassen und gliedern, viel stärker ausgebildet sind. Im Unterschied zur Pflanze, die sich vorwiegend nach einem additiven Schema auswächst, ist das Tier als Organismus den Weg innerer Differenzierung gegangen, die eine differenziertere Umwelterfahrung ermöglicht. Die in die verschiedenen Funktionskreise der Atmung, des Stoffwechsels und der Blutzirkulation eingebundenen Organe sind dabei über das Nervensystem im Gehirn als dem Zentralorgan zusammengefasst. Das Gehirn bildet so den anderen Organen gegenüber ein Organ zweiter Ordnung, das von den Organen erster Ordnung Informationen erhält und regelnd in sie eingreift. Dank dieser potenzierten Organisationsform hat das Tier eine Mitte, die die Pflanze nicht kennt. Diese in einer Mitte zentrierte und damit ein rückbezügliches Selbst ermöglichende Organisationsform des Tieres sowie die Entstehung des Bewusstseins machen deutlich, dass dem Tier eine echte Subjektivität mit Empfindungen aller Art zugeschrieben werden 7

Vgl. Uexküll 1973 und das Schema in Fuchs 2013, 114.

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Der Mensch: Reflektiertes Selbstsein

kann. Als von seiner Umgebung abgehobenes Sinnenwesen kann es auch eine Frontstellung gegen sie einnehmen. Im Tier tritt so erstmals ein Lebewesen als Subjekt den Objekten gegenüber, auch wenn das Tier sein Selbstsein in der Beziehung zu Anderem nicht eigens zu erfassen vermag.

6.4. Der Mensch: Reflektiertes Selbstsein Was beim Tier noch nicht möglich ist: als ein Selbst zu existieren und dieses zugleich zu reflektieren, das verwirklicht sich beim Menschen. Das Tier hat Zentralität, lebt aus seinem Zentrum heraus und in es hinein, aber dieses Zentrum ist ihm nicht bewusst gegeben. Der Mensch hingegen bildet nicht nur als Organismus ein rückbezügliches System, sondern erlebt darin sich selbst – als Ich. Möglich wird dieses Selbstbewusstsein dadurch, dass der Mensch aus seiner Mitte als Organismus heraustritt und zu sich selbst Distanz gewinnt. So kann Plessner sagen: Das Tier lebt zentrisch, der Mensch exzentrisch, in einer »exzentrischen Positionsform«. 8 Damit wird auch der Umweltbezug beim Menschen ein anderer. Auch der Mensch lebt wie das Tier in seinem Jetzt und Hier und damit immer in einer bestimmten Umwelt. Aber er ist nicht mehr an eine partikuläre Umwelt gebunden, sondern kann seine Umwelt wechseln und neue Räume aufsuchen. Sein Außenbezug ist nicht durch die Sinne auf die jeweiligen Umweltgrenzen festgelegt. Vorstellung und Denken weisen über diese hinaus auf etwas Umfassendes, auf die Welt: der Mensch ist weltoffen, wie der zentrale Begriff aller neueren philosophischen Anthropologien von Scheler bis Gehlen lautet. Diese Weltoffenheit des Menschen wird strukturell durch die klassischen, seit der Antike immer wieder herausgestellten Anthropina ermöglicht: Aufrechter Gang, durch den die Augen zum dominierenden Sinnesorgan werden, bei gleichzeitiger Freisetzung der vorderen Gliedmaße, die nun als Hände fungieren. Mit dem opponierbaren Daumen wird der Werkzeuggebrauch und die Werkzeugherstellung möglich, womit der Mensch Waffen, eine der jeweiligen Umwelt angepasste Kleidung, Behausung und so fort herstellen kann.

8

Vgl. Plessner 1928, 7. Kap., Abschnitt 1.

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Die Differenzierung von Pflanze, Tier und Mensch

Damit wird der Mensch zum Schöpfer von Kultur, wandelt sich vom Naturwesen zum Kulturwesen. Die propositionale Sprache, damit das Denken und generell eine dem sinnlichen Erkennen der Tiere gegenüber höhere Intelligenzform, die sich morphologisch durch die Vergrößerung des Gehirns manifestiert, bilden den Ermöglichungsgrund dieser Entwicklung. Die menschliche Subjektivität nimmt durch die volle Reflexion die Ich-Form an. Der in der Entwicklung des Lebendigen stetig zunehmende Selbstbezug erreicht im Selbstbewusstsein und in der freien Selbstbestimmung des Menschen seine höchste Stufe. Damit wird der Mensch zur verantwortlichen Person, die sich moralischen Normen unterstellt und ihrem Gewissen folgt. Ein durch Gründe bestimmtes Handeln und nicht mehr ein in den Kreis von Reiz und Reaktion eingespanntes Verhalten wird damit zur eigentlichen Aktionsform des Menschen.

6.5. Die menschliche Entwicklung Die Sonderstellung des denkenden, wollenden und frei handelnden Menschen wird traditionell damit begründet, dass ihm ein geistiges Vermögen zugeschrieben wird, nämlich die Vernunft, mit der der freie Wille zusammengeht. Animal rationale lautet darum die klassische Wesensbestimmung des Menschen. Die Theorie der Wirkwesen versteht sich als eine organismische und strukturgenetische Theorie. Nun gehört es zu den ureigensten Entdeckungen des von Piaget begründeten strukturgenetischen Ansatzes, dass der Mensch auch als Geistwesen eine Entwicklung durchläuft. Sein Denken als Erwachsener hebt sich fundamental von dem des Kindes ab. Animistische Züge prägen das Weltbild des Kindes, und seine Begriffe verbinden sich noch nicht nach den Gesetzen der Logik. Erst nach und nach nimmt das Denken eine stringente Form an, bis es schließlich im Jugendalter sich sein eigenes Reich erbaut, das unabhängig vom Gegebenen ist. Hypothesen können aufgestellt und aus ihnen Schlussfolgerungen gezogen werden, die sich dann – wie im wissenschaftlichen Experiment – mit der Realität vergleichen lassen. Ein Denken, wie es in Reinform in der Mathematik gepflegt wird, wo ganz abstrakt aus Axiomen Ableitungen gezogen werden, erweist sich so als eine Spätform des Erkennens, die erst nach verschiedenen Vorstufen erlangt wird. 146 https://doi.org/10.5771/9783495820971 .

Die menschliche Entwicklung

Was Piaget für das Erkennen nachwies, führte Kohlberg für die moralische Entwicklung weiter. Wir sehen seit Kant den Menschen prinzipiell als eine mündige Person, die sich autonom moralischen Prinzipien unterstellt, die sie selbst gewählt hat und deren Einhaltung ihr Gewissen verbürgt. Die Empirie zeigt nun, dass es den im Sinne Kants moralisch urteilenden Menschen tatsächlich gibt, aber dass er nur auf den höchsten Stufen moralischer Entwicklung vorkommt, die nur von einer Minderzahl erreicht wird. Dem autonomen moralischen Urteil, wie es, wenn überhaupt, erst im frühen Erwachsenenalter erlangt wird, gehen Entwicklungsstufen voraus, wo das Kind nur in Zweierbeziehungen denkt oder der Jugendliche sich den von seiner sozialen Umwelt vermittelten Normen unterstellt, also den Konventionen folgt und nicht autonom urteilt. Das Gleiche gilt für die Entwicklung der Identität. Eine autonome Identität, bei der die Person selbstverantwortlich darüber entscheidet, wer sie sein will, bildet sich erst durch die Überwindung einer konventionellen Identität aus, die durch ein Rollenverhalten geprägt ist. Schließlich ist auch das Gewissen keineswegs von Anfang an eine autonome Instanz, sondern wird am Anfang im Sinne Freuds durch das elterliche Über-Ich bestimmt, dann durch die Verinnerlichung der gesellschaftlich vorgegebenen Normen geformt, bis es schließlich – wenn auch nicht immer – sich zu einer Form durchringt, wo es nur dem folgt, was es aus innerer Überzeugung für richtig hält. 9 Aufs Ganze gesehen ist also Menschsein im vollen Sinn keineswegs etwas, das dem Menschen von Anfang an mitgegeben ist, sondern das er erst nach und nach erlangt. Unterscheiden wir vom Menschen als Lebewesen das, was ihn im klassischen Sinn zur Person macht, so müssen wir sagen, dass der Mensch nicht von Anfang Person ist, sondern erst im Lauf seiner Entwicklung Person wird. Will die Theorie der Wirkwesen auf ihre Weise vom Menschen handeln, so muss sie in diesem Werden der Person ihr Unterscheidungsmerkmal von anderen Anthropologien erblicken.

Diese Entwicklungslinien werden in R. L. Fetz, Biophilosophie Band 3, Strukturgenetische Anthropologie. Menschsein und Personwerden, ausführlich erörtert.

9

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Die Differenzierung von Pflanze, Tier und Mensch

6.6. Organismische Biologie – Strukturgenetische Anthropologie Die Theorie der Wirkwesen steht damit vor einer doppelten Aufgabe. Einerseits muss sie die Frage angehen, wie das Lebendige sich in Organismen im Vollsinn organisieren kann und wie diese im Lauf der Evolution immer höhere Formen bis hin zum Menschen annehmen. Andererseits hat sie den Menschen selbst als das Lebewesen zu erklären, das in seiner Entwicklung sich stufenweise von seiner animalischen Ausgangsform bis zum vollen Geist- und Personsein emporschwingt. Beide Aufgaben hängen offensichtlich zusammen. Nur auf der Grundlage einer Biologie, die die Lebewesen als selbstorganisatorische Prozesseinheiten begreift, die sich kreativ höher entwickeln, kann auch eine Anthropologie aufgebaut werden, in der verständlich wird, wie der Mensch sich von einem Natur- zu einem Geistwesen entwickeln kann. Rufen wir uns die Leitideen in Erinnerung, gemäß denen im Rahmen unserer Theorie diese Doppelaufgabe anzugehen ist. Ein dualistisches Auseinanderreißen von Materie und Leben, Leben und Geist soll ebenso vermieden werden wie die Einebnung ihrer Unterschiede in einem flachen materialistischen Monismus. Nicht von einem einseitigen Begriff der Materie oder des Geistes ist auszugehen, sondern vom allgemeinen Begriff der Struktur, der sich sowohl in Richtung auf die Materie als auch auf das Leben und schließlich auf den Geist hin spezifizieren lässt. Eine Filiation auseinander hervorgehender Strukturen, in denen in einem materiellen Substrat nacheinander Eigenschaften hervortreten, die das Lebendige und schließlich den Geist charakterisieren, ist damit das Leitbild der angestrebten umfassenden Wirklichkeitstheorie. In ihr sollen sich auf unterschiedlichen Ebenen die Phänomene des Materiellen, Lebendigen und Geistigen einordnen lassen. Die Kontinuität der gesamten Entwicklung des Lebendigen einschließlich des Menschen, der Zusammenhang von Natur und Kultur soll dabei ebenso bewahrt werden wie die nicht wegzudenkenden Eigentümlichkeiten von Leben und Geist. Der Begriff des genetischen Strukturalismus drückt abstrakt aus, was so in konkreter Form anzuvisieren ist. Die methodische Umsetzung eines solchen organismischen und zugleich strukturgenetischen Paradigmas verlangt anspruchsvolle Forschungsprogramme. Beim Menschen zielt der strukturgenetische Ansatz darauf ab, Stufen der menschlichen Entwicklung aufzu148 https://doi.org/10.5771/9783495820971 .

Die menschliche Entwicklung

decken, die eine sequenzielle Ordnung bilden. Das bedeutet, dass die Reihenfolge der Stufen unveränderlich ist, keine Stufe übersprungen werden kann und ein Rückfall normalerweise ausgeschlossen ist. Eine solche Stufenfolge gewinnt ihre Plausibilität durch die ihr innewohnende Entwicklungslogik 10, die sich vor allem in den Aufbaugesetzlichkeiten der ihr zugrunde liegenden Strukturen äußert. Solche Entwicklungslinien zu eruieren und zueinander in ein integratives Verhältnis zu bringen, ist die eigentliche Aufgabe einer Strukturgenetischen Anthropologie. Ein ähnliches, wenn auch komplexeres Programm lässt sich auch für die Erfassung der Natur insgesamt formulieren. Die Natur ist von Aristoteles als eine Stufenordnung konzipiert worden, die in der Folge bis zum späten achtzehnten Jahrhundert als Scala naturae, als Great Chain of Being, d. h. als Stufenleiter der Naturwesen thematisiert wurde. 11 Ein solches gradualistisches Naturmodell weist nun insofern eine innere Logik auf, als die Natur durch eine Hierarchie von Formen gebildet wird, die vom Unbelebten über die Pflanzen und Tiere bis hin zum Menschen reichen und zueinander in einem Verhältnis der Kontinuität und Integration stehen. Für Aristoteles stützen sich die höheren Formen auf die niedrigeren, setzen diese voraus, gehen aber nicht durch Transformationsprozesse aus ihnen hervor. Dieses Naturmodell ist somit statisch und nicht evolutionär, weist aber einen inneren logischen Zusammenhang auf, da die verschiedenen Formen sich nach Komplexitätsgraden einander über- und unterordnen lassen. Aristoteles hat eine solche Differenzierung der Formen hinsichtlich ihrer anatomischen Strukturen, ihrer Sinnesphysiologie und ihrer Fortpflanzungsweisen durchgeführt. 12 Ein solches Stufenmodell hielt sich bis Carl von Linné, der die ganze Vielfalt und Verschiedenheit des Lebendigen in ein umfassendes System von Arten, Gattungen, Familien und Ordnungen brachte. Dabei ging er von der Konstanz der Arten aus. Mit Lamarck und Darwin löste die Evolutionstheorie ein solches statisches Denken ab. Ihre unterschiedlichen Ansätze – Vererbung erworbener Eigenschaften einerseits, Zufallsmutationen mit anschließender Selektion andererseits – bestimmen in den verschiedensten Varianten bis heute die Der Ausdruck wurde von J. Habermas übernommen. Vgl. Habermas 1983, 169 u. ö. Umfassend dazu Lovejoy 1936. 12 Vgl. Aristoteles, Historia animalium, Bücher I–IV, V–VII; dazu Feuerstein–Herz 2009, 183–185. 10 11

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Die Differenzierung von Pflanze, Tier und Mensch

Debatte. Dabei ist vor allem der ontologische Status der Arten unklar. Haben sie eine reale Existenz als konkrete Organisationsweisen des Lebendigen, oder sind sie bloße Abstraktionen gemeinsamer, beliebig zusammenstellbarer Merkmale ohne Realitätswert? Die Theorie der Wirkwesen muss sich in diesen Streitfragen eine eigene Lösung erarbeiten, ausgehend von ihren fundamentalen Prinzipien, die dem Lebendigen eine Selbstorganisation und Selbsttransformation zuschreiben. Der klassische Problemkreis der Scala naturae tritt in ihr auf neue Weise hervor, insofern sie in der geschichtlichen Entwicklung der Organisationsformen des Lebendigen eine logische Abfolge zu erblicken vermag. Zunehmende Komplexität der Strukturen, Selbstzentrierung bei gleichzeitiger Öffnung auf die Umwelt, Selbstbezug bis hin zum seiner selbst bewussten Ich waren die Parameter, mittels deren wir in der Evolution eine Höherentwicklung ausmachen konnten. Sieht man in der Natur und insbesondere beim Lebendigen eine solche Hierarchie aufeinander aufbauender Organisations- und Erscheinungsformen, so liegt die Frage nahe, ob damit nicht auch natürliche Entwicklungslinien der Evolution vorgezeichnet sind. Auch hier hätten wir es dann wie beim Menschen mit einer inneren Entwicklungslogik zu tun. Natürlich heißt das nicht, dass die Evolution geradlinig auf einer Schiene verlaufen muss und nicht die verschiedensten Verzweigungen und auch Sackgassen aufweisen kann. Aber eine kühne Hypothese ist nicht unbedingt die schlechteste. Hegel hat aufgrund seines Absoluten Idealismus das Wirken der Vernunft auch für die Geschichte postuliert und zu zeigen versucht, »dass es auch in der Weltgeschichte vernünftig zugegangen ist«. 13 In Abwandlung dieses Diktums kann man sich fragen, ob und inwiefern es nicht auch in der »Naturgeschichte« »vernünftig zugegangen« sei. Die Frage ist zumindest dann berechtigt, wenn man wie in unserer Theorie eine geistige Dimension der Natur annimmt. Selbstredend ist das keine Frage, die spekulativ entschieden werden kann. Allein die Biologie mit ihrem empirischen Datenmaterial vermag zu sagen, ob und in welchem Maße einer solchen Annahme ein Realitätswert zukommt. Für die Legitimität einer solchen Problemstellung kann man sich auf Kant berufen. Kant sah aufgrund seiner kritischen transzendentalphilosophischen Restriktionen im »Gesetz der kontinuierlichen G. W. F. Hegel, Philosophie der Weltgeschichte, Einleitung, Akad. Ausg. 18 (1995), 140.

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Die menschliche Entwicklung

Stufenleiter der Geschöpfe« zwar keine »objektive Behauptung«. Wohl aber hielt er »die Methode, nach einem solchen Prinzip Ordnung in der Natur aufzusuchen«, für ein »rechtmäßiges und treffliches regulatives Prinzip der Vernunft«. 14 Das gilt auch in einer evolutionstheoretischen Perspektive. Die Theorie der Wirkwesen ist so konzipiert, dass sie im Strukturkern mit seinen allgemeinen Begriffen und Prinzipien ihren Mittelpunkt hat. Kernerweiterungen sind vorgesehen, die spezifische Problemfelder mit seiner Hilfe erschließen. Einer Organismischen Biologie und einer Strukturgenetischen Anthropologie bleibt es deshalb vorbehalten, die hier umrissene Doppelaufgabe einer entsprechenden Theorie des Lebendigen und des Menschen wahrzunehmen. Das wird in den beiden nächsten Bänden dieser Reihe geschehen.

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I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, 2. Aufl., Akad. Ausg. III, 441 f. (696).

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7. Gesellschaft, Kultur und Geschichte

Mit der Strukturgenetischen Anthropologie erschließt sich die Theorie der Wirkwesen die geistige Konstitution des Menschen. So erfasst sie die eigentliche Menschwerdung, durch die der Mensch zur Person wird. Damit ist jedoch nicht alles über den Menschen gesagt. Der Mensch lebt konkret in einer Gesellschaft, hat teil an einer Kultur, hat seinen Platz in der Geschichte. Das gesellschaftliche und kulturelle Leben und seine geschichtliche Bedingtheit darf eine umfassende Theorie des Menschen nicht ausklammern. Somit müssen wir uns fragen, ob und wie die Theorie der Wirkwesen auch diese Aspekte mit den ihr eigenen Mitteln erhellen kann. Das soll in diesem Kapitel in Form eines Ausblicks geschehen. In einem ersten Abschnitt führen wir uns die Eigenheiten des Menschen als Gesellschafts-, Kultur- und Geschichtswesen vor Augen. In einem zweiten Abschnitt eruieren wir die Methodenwege, die hier der Theorie der Wirkwesen offen stehen. In einem dritten Abschnitt schließlich bringen wir den entscheidenden Transformationsprozess auf den Punkt, durch den sich die Theorie der Wirkwesen den Schlüssel zu einem tieferen Kultur- und Geschichtsverständnis verschafft, nämlich die Umwandlung der Strukturgenetischen Anthropologie in eine Historische Anthropologie.

7.1. Der Mensch als Gesellschafts-, Kultur- und Geschichtswesen Dass der Mensch ein Gemeinschafts- oder Gesellschaftswesen ist, gehört zu den klassischen Bestimmungen des Menschen. Aristoteles hat sie als erster auf den Begriff gebracht, als er den Menschen als das zóon politikón definierte, womit er dem Menschen von Natur aus das Streben zuschrieb, in einer staatlichen Gemeinschaft zu leben. 1 Soziale Beziehungen prägen durchgehend das Leben des Menschen. 152 https://doi.org/10.5771/9783495820971 .

Der Mensch als Gesellschafts-, Kultur- und Geschichtswesen

Er wird in eine Familie hineingeboren, integriert sich im Laufe seiner Entwicklung in größere Gemeinschaften, geht Freundschaften und Partnerschaften ein und versteht sich als Bürger eines Staates. Ohne diese sozialen Beziehungen sind sein Werdegang und die Ausbildung seiner geistigen Fähigkeiten ebenso wenig denkbar wie die Erlangung seiner Identität. Für die Theorie der Wirkwesen ist das soziale Eingebundensein des Menschen kein Sonderfall, sondern nur die speziell menschliche Ausprägung der Außen- und Mitweltbeziehungen, die konstitutiv zu jedem Wirkwesen gehören. Im Unterschied zu anderen Theorien erklärt sie aber die Entwicklung des Menschen, zumal die geistige, nicht primär als eine Wirkung der sozialen Umwelt, so unabdingbar deren Mitwirken auch ist, sondern führt diese auf innere Ursachen zurück, auf das kreative Potenzial der Selbstregelungsprozesse, die zur Struktur des menschlichen Organismus gehören. Die unerlässliche Rolle der sozialen Umwelt als einer conditio sine qua non zeigt sich jedoch darin, dass eine Entwicklung bis hin zu den eigentlichen formalen Denkoperationen in der Regel nur innerhalb der fortgeschrittenen modernen Gesellschaften, nicht jedoch unter den Bedingungen archaischer Gesellschaftsformen möglich ist. Als Gesellschaftswesen ist der Mensch auch Kulturwesen. In einer Gemeinschaft oder Gesellschaft zu leben ist nur möglich, wenn deren Mitglieder sich untereinander verständigen können, anders gesagt, wenn sie über soziale Kommunikationsmittel verfügen. So stellt schon Aristoteles heraus, dass der Mensch eben deswegen, weil er das »politische« Lebewesen ist, auch das sprachfähige Lebewesen ist, das zóon lógon échon. 2 In dem Maße, in dem der Mensch am gesellschaftlichen Leben teilnimmt, hat er auch teil an den Umgangsformen, am Wissen, an der Moral, an der Kunst und Religion einer Gesellschaft. Kultur ist, vor ihren eben genannten Erscheinungen, die man mit Cassirer als ihre »symbolischen Formen« zusammenfassen kann, primär die vom Menschen zum Zwecke seines Lebens und Überlebens vollzogene Umwandlung seiner vorgegebenen, »natürlichen« Umwelt in eine »künstliche«, nämlich in die künstlich geschaffene Kultur. Kultur ist so laut Gehlen der »Inbegriff der vom Menschen ins Lebensdienliche umgearbeiteten Natur«. 3 Es gehört zu den fun1 2 3

Vgl. Aristoteles, Politik, Buch I, Kap. 2, 1253 a 1–4. Aristoteles, a. a. O., 1235 a 10. Gehlen 1962, 38.

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Gesellschaft, Kultur und Geschichte

damentalen Erkenntnissen der klassischen Philosophischen Anthropologie, dass diese Umwandlung der »Natur« in »Kultur« konstitutiv zum Menschen gehört, also gleichsam seinem Wesen eingeschrieben ist. Insbesondere Gehlen hat im Anschluss an Plessner herausgearbeitet, dass der Mensch als das »Mängelwesen«, das nicht mit spezialisierten Organen ausgerüstet und instinktarm ist, nicht einfach wie das Tier in einer zu ihm passenden Umwelt leben kann. Vielmehr muss er sich eine Welt, in der er existenzfähig ist, erst künstlich erschaffen. Aufgrund dieser Nötigung ist er somit »von Natur ein Kulturwesen« 4, und entsprechend kann die von ihm hergerichtete Kultur gleichsam als seine »zweite Natur« 5 betrachtet werden. Die von Plessner und Gehlen postulierte Kultur als die »zweite Natur« des Menschen und die von Cassirer thematisierte Kultur als das »symbolische Universum« wird man jedoch nicht auseinander reißen dürfen. Für Cassirer sind auch die die moderne Kultur bestimmende Technik und Wirtschaft »symbolische Formen«, weil sie nur aufgrund einer spezifischen Symbolisierung der Wirklichkeit – in Modellform für die Technik, als Geldwert für die Wirtschaft – denkbar sind. Das Gleiche gilt in anderer Form auch für die vormodernen Kulturen und generell für die Kommunikationsformen, ohne die keine Kultur möglich ist. Der dritte Aspekt, der Mensch als Geschichtswesen, bringt eigentlich keine neue Bestimmung hinzu, sondern hebt nur den dem Menschen als Gesellschafts- und Kulturwesen eigenen geschichtlichen Charakter hervor. Alle gesellschaftlichen und kulturellen Erscheinungen sind auch geschichtliche Phänomene, die im Lauf der Geschichte auftreten und von ihr geprägt sind. Nur deshalb gibt es die Vielfalt von historischen Betrachtungen und Disziplinen, die sich generell der Welt- oder Kulturgeschichte oder ihren speziellen Formen wie der Kunst- oder Religionsgeschichte widmen. Insofern nun der Mensch seinen historischen Ort an einem bestimmten Punkt der Geschichte hat, ist er auch geschichtlich geprägt Diese Prägung ist nicht ein äußerer Stempel, den ihm die Geschichte aufdrückt, sondern bestimmt sein Wesen innerlich, auch dort, wo er es nicht weiß. Diese innere Formung des Menschen durch seine geschichtliche Situation ist gemeint, wenn im engeren Sinn von der »Geschichtlichkeit« des Menschen gesprochen wird. 4 5

Gehlen 1956, 116. Gehlen 1962, 38.

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Abklärung der Methodenwege: Von Hegel über Cassirer zu Piaget

In der Geschichte und durch die Geschichte bilden Kulturen, Völker und Individuen ihre Eigenart aus. Sie werden das, was sie sind, aufgrund ihrer Geschichte. Jeder Mensch hat als Geschichtswesen seine eigene Biographie. In ihr bildet sich seine Identität aus. Das gibt all jenen Theorien ihr Recht, die in der Geschichte das eigentliche Individuationsprinzip erblicken, durch das sowohl der Einzelne als auch Völker und Nationen ihre unverwechselbare Einzigartigkeit erlangen. 6 Aufs Ganze gesehen zeigt sich also, wie eng die drei genannten Aspekte des Menschseins zusammenhängen. Der Mensch ist als Gesellschaftswesen unweigerlich Kulturwesen, und beides macht ihn auch zum Geschichtswesen. Gesellschaft, Kultur und Geschichte sind somit drei Facetten menschlichen Daseins, die sich zwar unterschiedlich präsentieren, aber in ihrer Verwiesenheit aufeinander letztlich nur gemeinsam erörtert werden können.

7.2. Abklärung der Methodenwege: Von Hegel über Cassirer zu Piaget Den menschlichen Geist in seinen gesellschaftlichen Bedingtheiten und kulturellen Ausprägungen als etwas geschichtlich Gewordenes und damit genetisch zu verstehen, ist ein Unterfangen, das erstmals die romantische und idealistische Philosophie zum Thema erhob und der Philosophie zuwies. »Eine eigentliche genetische Entwicklung des menschlichen Geistes wäre wirklich die höchste Aufgabe für die Philosophie«, schrieb Friedrich Schlegel. 7 Auf umfassende Weise wurde eine solche Themenstellung von Hegel in seiner Phänomenologie des Geistes angegangen. Sie ist der erste voll ausgeführte Versuch, individuelle Entwicklung und Menschheitsgeschichte zueinander in Beziehung zu setzen und als einen in Stufen ablaufenden Prozess zu verstehen, der bei den einfachsten unmittelbaren Bewusstseinsformen beginnt und bei den höchsten Gestalten des Geistes, der Kunst, der Religion und schließlich der Philosophie endet. Hegels Phänomenologie kann man auf zwei Arten lesen. Die Vgl. Lübbe 1977 und R. L. Fetz, Biophilosophie Band 3, Strukturgenetische Anthropologie 10.4. 7 F. Schlegel, zit. nach G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, ed. J. Hoffmeister 1952, Einleitung des Herausgebers XVII. 6

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Gesellschaft, Kultur und Geschichte

erste Leseart ist die genuin Hegel’sche, die die Phänomenologie historisch in ihrer Stellung im Gesamtwerk Hegels zu verstehen versucht, insofern sie zum »absoluten Wissen« hinführt und damit der »Wissenschaft der Logik« den Boden bereitet, die die absolute Selbstbewegung der Vernunft nachvollziehen will. Die zweite Leseart ist die programmatische. In Hegels Versuch, im Einzelnen und gesamthaft den Bewusstseinswandel zu erfassen, der sich in den individuellen und geschichtlichen Entwicklungsverläufen vollzieht, sieht sie ein Programm, das über Hegel hinaus der Philosophie als Daueraufgabe gestellt bleibt. Es ist diese programmatische Leseart, die wir hier unter Bezugnahme auf Cassirer und Piaget verfolgen wollen. Ziel ist es, herauszufinden, wie sich das Hegelsche Programm methodologisch für die Theorie der Wirkwesen fruchtbar machen und in ihr umsetzen lässt. Hegel vertritt schon in der Phänomenologie die These des Absoluten Idealismus, wonach alle Erscheinungsformen der Natur und Kultur und der gesamte Entwicklungs- und Geschichtsprozess letztlich von der einen und selben absoluten Vernunft getragen werden. Das ist die »metaphysische Formel«, die laut Cassirer Hegels Denken prägt. Davon nimmt nun Cassirer mit der Forderung Abstand, die »metaphysische Formel« müsse sich »in eine methodische wandeln«. 8 Das bedeutet den Verzicht »auf jeden derartigen sachlichen Träger, der hinter der geschichtlichen Bewegung stände«. 9 Beizubehalten ist jedoch Hegels Idee eines einheitlichen Zusammenhangs der Geschichte. Aber dieser wird jetzt in den Geschichtsprozess selbst verlegt: »Statt eines gemeinsamen Substrats suchen und fordern wir nur die gedankliche Kontinuität in den Einzelphasen des Geschehens; sie allein ist es, die wir brauchen, um von der Einheit des Prozesses zu sprechen.« 10 Statt einer metaphysischen These wird diese Einheit damit zu einem »Postulat«, zu einem methodologischen »Leitfaden« im Sinne einer generellen »Hypothese«, die sich bei der Erschließung der kulturellen und geschichtlichen Phänomene zu bewähren hat. 11 Hier zeigt sich bereits, dass Cassirer seine Umwandlung der »metaphysischen Formel« in eine »methodische« durchaus in einem modernen wissenschaftlichen Sinn versteht. Cassirer 1906, 13. Ebd. 10 Ebd. 11 A. a. O., 13 f. 8 9

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Abklärung der Methodenwege: Von Hegel über Cassirer zu Piaget

Hegels Phänomenologie weist eine Eigenheit auf, die man nur von seiner idealistischen Grundthese her verstehen kann, dass in allen Entwicklungsformen der eine und gleiche Geist waltet. Es ist die Annahme, dass die geschichtliche und die individuelle Entwicklung parallel verlaufen und die gleiche Stufenfolge aufweisen. An einer berühmten, geistesgeschichtlich überaus bedeutsamen Stelle der »Vorrede« schreibt Hegel: »Jeder Einzelne muss auch dem Inhalte nach die Bildungsstufen des allgemeinen Geistes durchlaufen, aber als vom Geiste schon abgelegte Gestalten, als Stufen eines Wegs, der ausgearbeitet und geebnet ist.« 12 Aufgrund dieses metaphysisch angenommenen Parallelismus geht Hegel in der Phänomenologie scheinbar willkürlich von der individuellen zur geschichtlichen Entwicklung über und umgekehrt, ohne beide Entwicklungsreihen säuberlich zu trennen. Aus moderner wissenschaftlicher Sicht ist das eine gravierende methodologische Schwäche, die Cassirer schonungslos aufdeckt: »Die tiefste Schwierigkeit für das Verständnis der Phänomenologie des Geistes liegt darin, dass sie das psychologische und das historische Material völlig auf dieselbe Stufe stellt und beide als Glieder ein und derselben Entwicklung begreift. Bald ist es eine psychologische, bald eine geschichtliche Gestalt, die herausgehoben wird, bald eine Phase im Aufbau des individuellen Selbstbewusstseins, bald eine Phase des empirisch-geschichtlichen Werdens der Menschheit.« 13 Es versteht sich von selbst, dass damit alles und nichts bewiesen werden kann, weil man in der Vielfalt individual- und menschheitsgeschichtlicher Phänomene immer solche finden wird, die scheinbar mit logischer Stringenz aufeinander folgen. Methodologisch sauber wird ein solches Verfahren nur dann, wenn man vor dem Vergleich den Stellenwert der aufeinander bezogenen Phänomene in ihrer jeweiligen Entwicklungsreihe ermittelt. Welche Folgerungen sind daraus aus moderner Sicht zu ziehen? Gefordert ist zunächst eine klare Trennung der jeweiligen einzelwissenschaftlichen Verfahren, mit denen die individualgeschichtliche beziehungsweise die menschheitsgeschichtliche Entwicklung untersucht wird, um dann in einem zweiten Schritt die jeweiligen Ergebnisse aufeinander zu beziehen. Gefordert ist aber auch eine Analyse des jeweiligen Gehalts der einzelnen Erscheinungsformen, um ihre 12 13

G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, Ges. Werke 9, Hamburg 1980, 25. Cassirer 1920, 296.

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Gesellschaft, Kultur und Geschichte

Stimmigkeit und Kohärenz zu überprüfen. Cassirer hat schon 1906 diese verschiedenen Momente paradigmatisch voneinander abgehoben, aber auch in ihrer Komplementarität zueinander in Beziehung gesetzt: »Wir können das eine Mal nach den psychologischen Bedingungen fragen, die in der Entwicklung des individuellen Bewusstseins den Aufbau der Wahrnehmungswelt beherrschen und leiten; wir können versuchen, die gedanklichen Kategorien und Gesichtspunkte, die hier zu dem Stoff der Empfindungen hinzutreten müssen, aufzudecken und in ihrer Leistung zu beschreiben. Aber so wertvoll diese Betrachtung ist, solange sie in den Grenzen, die ihr gesteckt sind, verweilt und nicht versucht, sich selbst an die Stelle der kritischen Zergliederung des Gehalts der wissenschaftlichen Prinzipien zu setzen: Sie bliebe für sich allein unzureichend. Die Psychologie des einzelnen ›Subjekts‹ empfängt volles Licht erst durch die Beziehung, in die wir sie zur Gesamtentwicklung der Gattung setzen; sie spiegelt uns nur die Tendenzen wieder, die den Aufbau der geistigen Kultur der Menschheit beherrschen.« 14 Was Cassirer hier umreißt, ist das Idealprogramm einer interdisziplinär angelegten Untersuchung der Entwicklungsformen des menschlichen Geistes, die für die Individualentwicklung auf die Entwicklungspsychologie zurückgreift und für die Kulturgeschichte auf die historischen Geisteswissenschaften, beides vergleichend zu einander in Beziehung setzt und formal auf seine Stimmigkeit überprüft. Im zwanzigsten Jahrhundert wurde ein solches Programm etappenweise realisiert. Im französischen Neukantianismus leitete eine ganze Gruppe von Forschern mit Léon Brunschvicg an der Spitze eine Untersuchung der Wissensgeschichte mittels der sogenannten »historisch-kritischen Methode« in die Wege, die die historisch aufeinander folgenden Wissensformen entsprechend ihrer geschichtlichen Stellung, gleichzeitig aber auch bezüglich ihres Geltungsanspruchs untersuchte. Vom Denken der Primitiven über Aristoteles bis hin zu Galilei und Newton und der modernen Physik wurden so die Entstehungsgeschichte, die Fundierung und damit auch die Gültigkeit dieser einander ablösenden Wissensformen einer kritischen Prüfung unterzogen. Jean Piaget, der maßgeblich von Brunschvicg beeinflusst wurde, setzte in einer zweiten Etappe diese historisch-kritische Methode in ein Forschungsprogramm für die Psychologie um. Er stellte 14

Cassirer 1906, 5 f.

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Abklärung der Methodenwege: Von Hegel über Cassirer zu Piaget

sich die Frage, inwiefern der Ablauf der Erkenntnisentwicklung in der Geschichte sich auch in der Individualentwicklung nachweisen lässt. Aus den bewährten »Thesen« über die Menschheitsgeschichte von den Primitiven bis in die Moderne wurden so »Hypothesen« über den Entwicklungsverlauf vom Kind zum Erwachsenen. Später, als Piaget die genetische Epistemologie gründete, die sich generell die Erforschung der Wissensentwicklung zum Ziel setzte, wurde genau das oben von Cassirer umrissene Idealprogramm in eine Methodologie umgesetzt, die mit drei Methoden arbeitet. Die von den Neukantianern übernommene historisch-kritische Methode soll den Prozess der Erkenntnisgewinnung in der Geschichte verfolgen. Der von Piaget selbst entwickelten psychogenetischen Methode wird die Aufgabe zugewiesen, dem Erkenntnisaufbau in der Individualentwicklung vom Kind zum Erwachsenen nachzugehen. Eine dritte, die sogenannte formalisierende Methode schließlich soll die von den Historikern und den Entwicklungspsychologen in den Blick genommenen Erkenntnisstufen auf ihren Geltungsanspruch hin befragen, d. h. die von Cassirer geforderte »kritische Zergliederung« vornehmen, was nur mit der Hilfe von Logikern und Mathematikern möglich ist. 15 Diese Drei-Methodenlehre hat Piaget im Rahmen der genetischen Epistemologie für die Entwicklung des logisch-mathematischen und physikalischen Denkens konzipiert. Für die Theorie der Wirkwesen kann sie jedoch als Modell für alle geistigen Entwicklungsprozesse gelten, die sowohl eine individual- als auch eine menschheitsgeschichtliche Komponente aufweisen. Die Entwicklung des Individuums und die Geschichte der Menschheit lassen sich mit diesem Modell in ein ergiebiges Komplementaritätsverhältnis bringen. Das geschieht einmal in der Weise, dass, wie oben gezeigt, aus dem Geschichtsverlauf Hypothesen für die Individualentwicklung generiert werden können. Inwieweit finden wir die Anschauungsweisen der Urkulturen mit ihren animistischen und magischen Zügen beim Kind wieder? Inwieweit findet später bei ihm ein Übergang von einem mythischen zu einem kausalursächlichen Denken statt, wie er für die Wissenschaftsgeschichte typisch ist? Zum andern lassen sich aus der Individualentwicklung aber auch Erkenntnisse über die Mechanismen und Gesetzlichkeiten von Entwicklungsprozessen gewinnen, die für die Erhellung von Geschichtsverläufen fruchtbar ge15

Vgl. Piaget (ed) 1967, 105–132; dazu Fetz 1988, 24–41.

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Gesellschaft, Kultur und Geschichte

macht werden können. Der Wissensaufbau beim Kind und Jugendlichen und die Geschichte der Wissenschaften können als jene Entwicklungslinien gelten, wo dank dem Lebenswerk Piagets die wechselseitigen Entsprechungen am besten erforscht sind, sodass sich ein einheitliches Gesamtbild ergibt. 16 Was Piaget Individualentwicklung und Geschichte übergreifend für die Wissensentwicklung geleistet hat, hat Lawrence Kohlberg für die Moralentwicklung in Angriff genommen. Auch hier lassen sich fundamentale Entsprechungen zwischen den in der Geschichte und in der Individualentwicklung auftretenden Moralformen ausmachen. 17 Das Gleiche gilt auch für die Kunst, insbesondere für die Malerei, wo die Entdeckung der Perspektive und der Schritt zur abstrakten Malerei nicht ohne eine entsprechende kognitive Entwicklung denkbar ist 18 An der Religion schließlich scheiden sich die Geister. Für die einen ist Religion ein typischer Ausdruck kindlichen Vorstellens und Denkens, das in der individuellen Entwicklung mit dem Erwachsenwerden und geschichtlich gesehen mit dem Eintritt in die Moderne seine kognitiven Voraussetzungen verloren hat und damit hinfällig geworden ist. 19 Für andere ist Religion ein Phänomen, das zwar ursprünglich unbestreitbar von kindlichen Vorstellungsmustern geprägt ist, sich aber im Lauf der individuellen und geschichtlichen Entwicklung so wandeln kann, dass es durchaus mit modernen Wissensformen kompatibel ist. 20 In beiden Fällen vermag nur das Zusammenspiel historischer und psychogenetischer Untersuchungen über das Werden, das Vergehen oder die mögliche Transformation von Religion fundiert Aufschluss zu geben.

7.3. Strukturgenetische Anthropologie und Historische Anthropologie Den Menschen dezidiert als Geschichtswesen ernst zu nehmen, das hat in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts in Abhebung von Noch in seinen letzten Lebensjahren hat Piaget zusammen mit Rolando Garcia eine Gesamtdarstellung der Beziehungen zwischen Psychogenese und Geschichte des Wissens verfasst. Vgl. Piaget/Garcia 1983. 17 Vgl. Kohlberg 1981. 18 Vgl. Gablik 1976. 19 Vgl. Dux 1982, Oesterdiekhoff 2013. 20 Vgl. Fetz/Reich/Valentin 2001. 16

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Strukturgenetische Anthropologie und Historische Anthropologie

der klassischen Philosophischen Anthropologie der ersten Jahrhunderthälfte vor allem die sogenannte Historische Anthropologie versucht. Scheler, Plessner und Gehlen wird vorgeworfen, dass sie die geschichtliche Dimension des Menschen vernachlässigt hätten. Das stimmt insofern, als diese klassischen Vertreter die in der biologischen Ausstattung grundgelegten elementaren Konstanten der menschlichen Natur herauszuarbeiten und den Menschen als Geistwesen vom Tier abzuheben versuchten. Demgegenüber will die Historische Anthropologie die durchgängige geschichtliche Bedingtheit des Menschen in den Vordergrund rücken. Sie bezweifelt, dass es überhaupt unveränderliche, feststehende Wesenskonstanten des Menschen gibt. Alles an ihm ist dem geschichtlichen Wandel unterworfen, der so tief greift, dass für die radikalen Vertreter der Historischen Anthropologie überhaupt fraglich wird, ob noch von »dem Menschen« gesprochen werden kann oder ob das nicht eine ahistorische Abstraktion ist. 21 Eine Historische Anthropologie wurde in den sechziger Jahren postuliert und hat sich in zwei Phasen entwickelt. In einer ersten Phase wurde von Historikern die Forderung erhoben, ergänzend zur Geschichtswissenschaft eine Historische Anthropologie zu konzipieren, weil die geschichtliche Betrachtung ergeben habe, dass der geschichtliche Wandel viel tiefer als bisher angenommen reiche und auch früher für unabänderlich gehaltene Schichten des Menschen berühre. Aufgabe einer Historischen Anthropologie sei es somit, als Hilfswissenschaft oder Teildisziplin der Geschichte den historischen Wandel der anthropologischen Grundstrukturen aufzudecken und zu deuten. In einer zweiten Phase löste sich eine als eigener Ansatz auftretende neue »Historische Anthropologie« von der Geschichtswissenschaft, mit dem Ziel, die Historizität des Menschen radikal zu denken. Nicht nur der Mensch selbst wandelt sich, sondern auch die Deutungen des Menschen durch sich selbst. Die Historizitätsthese muss somit nicht bloß auf die Geschichte, sondern auch auf deren Erfassung angewendet werden. Diese »doppelte Geschichtlichkeit« hat zur Folge, dass eine methodologische Einheitlichkeit zu Gunsten einer völligen Heterogenität des Vorgehens aufgegeben wird. Die Möglichkeit, zwischen Fiktionen und Tatsachen zu unterscheiden, fällt damit dahin. Damit ergibt sich ein Relativismus, für den alles 21

Vgl. Wulf (Hg.) 1997, Einl.

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Gesellschaft, Kultur und Geschichte

nur ein Konstrukt des jeweiligen Konstrukteurs ist, sodass die Wahrheitsfrage im realistischen oder empirischen Sinn obsolet wird. 22 Im Folgenden konzentrieren wir uns auf das Desiderat einer Historischen Anthropologie, wie sie von Historikern als Ergänzung zur Geschichtswissenschaft thematisiert wurde. Hier finden wir in neuer Form die Probleme des vorangehenden Abschnitts wieder, als es um das Verhältnis von Geschichte und Individualentwicklung ging. Wir versuchen zu zeigen, dass allein im Ausgang von einer Strukturgenetischen Anthropologie eine Historische Anthropologie sinnvoll ins Auge gefasst werden kann und welche Chancen und Risiken ein solches Unternehmen in sich birgt. Die Anknüpfungspunkte für eine Historische Anthropologie, welche dem strukturgenetischen Ansatz am meisten entsprechen, finden sich in einem Aufsatz des Historikers Thomas Nipperdey von 1967, in dem wohl erstmals die Forderung nach einer Historischen Anthropologie ausgesprochen wurde. 23 Nipperdey geht von der Feststellung aus, dass sich »die geschichtliche Betrachtungsweise in offensichtlich fundamentale und früher für konstant gehaltene anthropologische Schichten vorgeschoben hat«. 24 Das bedeutet, dass die Geschichtswissenschaft nicht mehr wie früher auf einem als selbstverständlich angenommenen unveränderlichen Menschenbild beruhen kann. Die Parallele zur Individualentwicklung liegt auf der Hand, bestand doch die grundlegende Entdeckung Piagets darin, dass das Kind kein kleiner Erwachsener ist, der über die gleichen Erkenntnisstrukturen wie der Erwachsene verfügen würde. Die generelle Einsicht ist somit, dass es ein konstantes Menschentum ebenso wenig in der Geschichte wie in der Individualentwicklung gibt. Statt von der Konstanz der anthropologischen Grundstrukturen auszugehen, tritt damit ihre Variabilität und Plastizität in den Vordergrund, die sich in ihrem geschichtlichen Wandel ausdrückt. Diesen zu erfassen ist nun genau die Aufgabe, die Nipperdey einer Historischen Anthropologie zuweist. Sie hat »nach den vergangenen, den geschichtlichen Weisen zu fragen, in denen der Mensch sich als Mensch konstituierte, nach den Kategorien eines geschichtlichen Menschentums, nach geschichtlichen Antriebs-, Bewusstseins und Vgl. Gebauer u. a. 1989 und hier besonders den Einleitungsaufsatz von Lenzen; ferner Gebauer (Hg.) 1998. Zum Ganzen vgl. den Überblick bei Lenk 2010, 305–340. 23 Vgl. Lenk 2010, 308. 24 Nipperdey 1967, 352. 22

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Strukturgenetische Anthropologie und Historische Anthropologie

Verhaltensstrukturen und nach den Prozessen, in denen der einzelne in solche Strukturen hineingebildet wird«. 25 Es geht, kurz gesagt, um die »Historisierung anthropologischer Strukturen«, um die Erkenntnis, dass und wie sie »geschichtlich bedingt und geschichtlich wandelbar« sind. Eine solchermaßen konzipierte Historische Anthropologie würde »nicht die historischen Fragen in die Anthropologie, sondern die anthropologischen Fragen in die Geschichtswissenschaft integrieren«. 26 Vergleicht man nun eine solche Historische Anthropologie mit der Strukturgenetischen Anthropologie, so erkennt man unschwer, dass sie sich zwar auf einem neuen Problemfeld bewegt, sich aber methodisch eindeutig an die Strukturgenetische Anthropologie anlehnt. Das neue Arbeitsgebiet ist mit dem »geschichtlichen Menschentum« benannt, anders gesagt mit dem Menschen als Geschichtswesen. Die Anlehnung an die Strukturgenetische Anthropologie zeigt sich darin, dass nach den »Kategorien«, »Strukturen« und »Prozessen« gefragt werden soll, die den geschichtlichen Wandel des Menschen bestimmen. Denn die gleiche Fragestellung kennzeichnet auch die Strukturgenetische Anthropologie, jedoch nicht hinsichtlich der geschichtlichen, sondern der individuellen Entwicklung des Menschen. Damit kommen wir zum methodischen Vorgehen. Hier stellt sich die Frage, welche Entwicklungsform als die besser erschlossene und gründlicher erforschte gelten kann. Die Antwort lautet unzweifelhaft, dass nur die Strukturgenetische Anthropologie mit anerkannten Ergebnissen hinsichtlich der »Kategorien«, »Strukturen« und »Prozesse« aufwarten kann, die der menschlichen Entwicklung in der Form der Individualentwicklung zugrunde liegen. Damit vermag die Strukturgenetische Anthropologie für die Historische Anthropologie eine Vorreiterrolle zu spielen. Ihre Ergebnisse können heuristisch als Fragen aufgegriffen und in Hypothesen für die Historische Anthropologie umgesetzt werden. Wenn nun gefragt wird, inwieweit sich der Strukturwandel innerhalb der Individualentwicklung auch im Wandel des »geschichtlichen Menschentums« wieder findet, gewinnt die Strukturgenetische Anthropologie ein neues Arbeitsfeld, wird sie zur Historischen Anthropologie.

25 26

A. a. O., 350. A. a. O., 351.

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Gesellschaft, Kultur und Geschichte

Aufschlussreich für die Verhältnisbestimmung von Strukturgenetischer und Historischer Anthropologie ist der Vergleich mit den Methodenwegen, die Piaget für die genetische Epistemologie eingeschlagen hat, insbesondere seine Aufeinanderbeziehung von historisch-kritischer und psychogenetischer Methode. In der Gründungsphase setzte Piaget die Ergebnisse der historisch-kritischen Methode in Hypothesen für die Psychogenese der Erkenntnis um. Als er die Psychogenese erforscht und seiner Theorie eine feste Gestalt gegeben hatte, versuchte er umgekehrt in einem seiner letzten Werke mittels der Psychogenese der Erkenntnis den geschichtlichen Werdegang der Wissenschaften zu erhellen. 27 Da die Strukturgenetische Anthropologie bezüglich der bedeutsamsten Entwicklungslinien weitgehend als etabliert und ihre Ergebnisse als abgesichert gelten können, 28 kann sie für die Historische Anthropologie eine ähnliche Aufgabe erfüllen. Dabei gilt es allerdings zu beachten, dass die Historische Anthropologie im Sinne Nipperdeys ihre Ziele weiter steckt als vormals die historisch-kritische Methode. Getragen von der Überzeugung, dass die Geschichte der Naturwissenschaften und insbesondere der Physik einen echten Fortschritt aufweist, untersuchten die Vertreter der historisch-kritischen Methode vor allem die Höhepunkte im naturwissenschaftlichen Geschichtsverlauf, von Aristoteles über Galilei und Newton bis hin zu Einstein. Für Nipperdey steht eine solche in der Kulturgeschichte allgemein festzustellende Orientierung an den Spitzenleistungen des menschlichen Geistes und damit an den Oberschichtprodukten der Literatur, der Kunst, der Philosophie und Wissenschaft einer breiten Umsetzung des anthropologischen Ansatzes im Wege. Denn durch die Fokussierung auf die herausragenden Kulturdenkmäler werden offensichtlich nur spezielle Segmente des Geschichtsverlaufs erfasst, nicht aber die Lebensbedingungen und das Menschentum der breiten Massen und die ihnen zugrunde liegenden allgemeinen Strukturen. 29 Solche Differenzierungen gilt es zu beachten, damit eine Historische Anthropologie nicht Gefahr läuft, in übermäßige Vereinfachungen zu verfallen. Insbesondere jene Ansätze, die die Piaget’schen Entwicklungsstufen eins zu eins auf die Menschheitsgeschichte über27 28 29

Vgl. Piaget/Garcia 1983. Vgl. Biophilosophie Band 3, Strukturgenetische Anthropologie. Vgl. Nipperdey 1967, 357, 364 f. und Lenk 2010, 309.

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Strukturgenetische Anthropologie und Historische Anthropologie

tragen wollen und entsprechend strikt die »Entwicklung der Menschheit« als einen stufenförmigen Übergang »von der Kindheitsphase zur Erwachsenenreife« zu erklären versuchen, 30 erliegen solchen Simplifizierungen. Eine Historische Anthropologie, wie sie Nipperdey befürwortet, kann die in sie gesetzten Erwartungen nur erfüllen, wenn sie die allgemeinen Aussagen der Strukturgenetischen Anthropologie auf das Besondere der jeweiligen geschichtlichen Phänomene abzustimmen vermag. Will sie den Geschichtsverlauf wirklich erhellen, darf sie nicht unter das Niveau der Geschichtswissenschaft herabsinken und die Geschichte in das Prokrustesbett einförmiger Schematisierungen hineinzwängen. Nur wenn sie das strukturell Allgemeine im historisch Besonderen aufzudecken vermag, wird eine Historische Anthropologie ihrer Stellung zwischen Strukturgenetischer Anthropologie und Geschichtswissenschaft gerecht.

Vgl. den Titel von Oesterdiekhoff 2013. – Die »große Scheide« in der Menschheitsgeschichte liegt für Oesterdiekhoff »zwischen vormodernen und modernen Gesellschaften« (22), mit einer Schwelle um 1600. »Der Entwicklungsendstand vormoderner Menschen befindet sich auf der Stufe von Kindern«, jener von modernen Menschen »auf der Stufe von Adoleszenten« (61). Das gilt gleichförmig für die breite Bevölkerung wie für die kulturellen Spitzenleistungen. So kann der Autor schreiben: »Die antike und mittelalterliche Philosophie ist durch Animismus, Magie und Artifizialismus, also durch die Wesenszüge des kindlichen Denkens und Weltbildes, geradezu definiert« (24) – eine Behauptung, über die jeder Philosophiehistoriker nur den Kopf schütteln kann. – Eine eingehende kritische Auseinandersetzung mit dieser Art von »Historischer Anthropologie« (49) kann hier nicht geführt werden, weil sie präzise und umfassende Kenntnisse der Strukturgenetischen Anthropologie voraussetzt, die wir uns erst in Biophilosophie Band 3 erarbeiten werden.

30

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8. Die Frage nach dem Letzten

Nach diesem vorläufigen Durchgang durch die Teilgebiete der Theorie der Wirkwesen stellt sich die Frage, ob damit alle Themen angeschnitten sind oder ob es grundsätzliche Probleme gibt, die nicht berührt wurden. Einmal angenommen, dass Kernerweiterungen für alle nur erdenklichen Gebiete vorgenommen werden können, wie die Theorie der Wirkwesen es grundsätzlich will, hat sie dann alle in sie gesetzten Erwartungen erfüllt? Oder bleiben Grundprobleme, die die Theorie als ganze betreffen und sich am Ende unweigerlich aufdrängen? Eine Frage wird nicht zu umgehen sein: Lassen sich die Wirkwesen vollständig von sich selbst her erklären, oder benötigen sie zu ihrer Fundierung übergeordnete metaphysische Prinzipien, sprich Gott? Können alle ihre Erklärungsgründe als der Natur im weitesten Sinn immanent angesehen werden, oder muss sie am Ende auf eine transzendente Erstursache rekurrieren? Auf das entscheidende Gegensatzpaar gebracht lautet die Frage, ob die Theorie der Wirkwesen sich als eine durchgängig naturalistische Theorie etablieren kann, oder ob sie am Ende zu einer metaphysischen Theorie werden muss. Blicken wir auf die Vorgänger der Theorie der Wirkwesen zurück, so erhalten wir in dieser Frage divergierende Antworten. Whitehead konzipierte seine Philosophy of Organism als eine metaphysische Theorie, für die ein überzeitlicher Gott als der reale Ermöglichungsgrund der zeitlichen actual entities fungiert. Für Piaget ist die genetische Epistemologie eine erklärtermaßen naturalistische Theorie, die auf alle transzendenten Erklärungsgründe verzichtet. Die Theorie der Wirkwesen hat von beiden Denkern grundlegende Theoreme übernommen. Damit trägt sie Theoriemomente in sich, die sowohl eine naturalistische als auch eine finale metaphysische Ausrichtung nahe legen. Kohärenz ist jedoch eine grundsätzliche Forderung an jede Theorie. Somit ist am Ende eine Entscheidung gefordert, ob sich die Theorie der Wirkwesen in einem strikt naturalisti166 https://doi.org/10.5771/9783495820971 .

Aristoteles: Naturalismus oder Metaphysik?

schen Rahmen bewegen oder auf ein metaphysisches Fundament rekurrieren will. In diesem Schlusskapitel können und wollen wir nicht eine solche Entscheidung treffen. Sie würde voraussetzen, dass viele Grundfragen geklärt sind, die wir im Vorangehenden nur angeschnitten haben. Angezeigt ist aber, dass wir zumindest die Problematik aufrollen, mit der sich die Theorie der Wirkwesen hier konfrontiert sieht. Wir gehen in drei Schritten vor. In einem ersten Schritt gehen wir auf Aristoteles zurück, der exemplarisch die Frage erörtert hat, ob eine die Grundlagen einer Wirklichkeitstheorie reflektierende »erste Philosophie« rein naturtheoretisch vorgehen kann oder ob sie sich metaphysisch fundieren muss. In einem zweiten Schritt beziehen wir uns auf Whitehead und auf die von ihm herrührenden Momente unserer Theorie, die nach einer metaphysischen Fundierung rufen. In einem dritten Schritt schließlich führen wir uns die Piaget’schen Argumente vor Augen, die auch eine naturalistische Variante als möglich erscheinen lassen. Aber die Frage bleibt am Ende offen, sodass je nach Präferenz und persönlicher Überzeugung der Weg in die eine oder in die andere Richtung weiter verfolgt werden kann.

8.1. Aristoteles: Naturalismus oder Metaphysik? Die Theorie der Wirkwesen steht zur aristotelischen Philosophie in einem Verhältnis besonderer Affinität. Das gilt speziell für die aristotelische Physik. Anders als die Physik im modernen Wortsinn, die die Wissenschaft vom Unbelebten ist, versteht sich die aristotelische Physik gemäß der Bedeutung des griechischen phýsis als die umfassende Wissenschaft von allem, was von »Natur« aus besteht, d. h. nicht Menschenwerk ist. Sie schließt darum auch das Lebendige bis hin zum Menschen mit ein, hat also den gleichen Umfang wie die Theorie der Wirkwesen. Aber nicht nur dem Umfang, sondern auch der Konzeption nach steht die Theorie der Wirkwesen in der Tradition der aristotelischen Physik. Der für sie zentrale Strukturbegriff ist der Nachfolger des aristotelischen Formbegriffs und meint wie dieser das innere Organisationsprinzip eines Naturwesens. Wie die Formen bilden auch die Strukturen einen Stufenbau und gehen sukzessive auseinander hervor, sodass die Natur von ihren einfachsten bis zu ihren höchsten Erscheinungen als ein durchgehender Organisationszusammenhang verstanden werden kann. 167 https://doi.org/10.5771/9783495820971 .

Die Frage nach dem Letzten

Angesichts dieses umfassenden, alles Vorgegebene einschließenden Charakters seiner Physik hat schon Aristoteles die Frage aufgeworfen, die sich auch für uns bezüglich der Theorie der Wirkwesen stellt: Genügt eine solche Naturlehre sich selbst, gibt sie alle nötigen Erklärungsgründe her, oder muss sie am Ende auf Ursachen einer höheren Art zurückgreifen? Aristoteles hat für die Erörterung solcher Fragen eine eigene Reflexionsform des Denkens konzipiert, die der Physik übergeordnet ist und die er »erste Philosophie« nennt. Drei Aufgaben weist er ihr zu: Erstens soll sie der Frage nachgehen, welche Ursachen und Prinzipien die höchsten und letzten sind. 1 Da aber gemeinhin Gott – wenn es ihn denn gibt – als das Wesen angenommen wird, das als Letzterklärung für alles fungiert, muss die »erste Philosophie« sich zweitens auch mit der Gottesfrage befassen. 2 Die allgemeinste Untersuchung aber, die über die Wirklichkeit angestellt werden kann, muss drittens die Frage thematisieren, was, alle Gattungen und Arten des Wirklichen übergreifend, das Wirkliche als solches charakterisiert. Aristoteles hat sie in die Formel gekleidet, was »das Seiende als Seiendes« ausmacht. 3 Was Aristoteles »erste Philosophie« nannte, ist unter der Bezeichnung »Metaphysik« auf uns gekommen. Ein Gelehrter des ersten vorchristlichen Jahrhunderts, Andronikos von Rhodos, der die fortan gültige Ausgabe der aristotelischen Schriften zusammenstellte, ordnete die Bücher zur »ersten Philosophie« »nach« den Büchern zur Physik ein – ta metá ta physicá – und schuf so den Namen »Metaphysik«. Das Metá erhielt bald eine Doppelbedeutung: nicht nur als »nach« der Physik, sondern auch als »über« der Physik und damit der Sinnenwelt stehend wurde die Metaphysik verortet, womit das »Übersinnliche« zu ihrem Gegenstandsbereich erklärt wurde. Die Übersetzung und Gleichsetzung der aristotelischen »ersten Philosophie« mit »Metaphysik« bedeutet eine Einseitigkeit und Verfestigung, die, im Unterschied zu ihrer genuin aristotelischen Fassung als »erste Philosophie«, gerade eine offene Diskussion der uns hier angehenden Frage verunmöglicht. Für Aristoteles ist es nämlich prinzipiell betrachtet nicht von vorneherein geklärt, ob die »erste Philosophie« sich automatisch die Gestalt einer Metaphysik im Sinne einer Theorie von übersinnlichen Wesen geben muss, oder ob sie sich 1 2 3

Vgl. Aristoteles, Metaphysik, Buch I, Kap. 1–2. A. a. O., Kap. 2, 983 a 5–11. Vgl. Metaphysik, Buch IV, Kap. 1; Buch VI, Kap. 1.

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Aristoteles: Naturalismus oder Metaphysik?

am Ende nicht auf die Physik reduzieren lässt. Das muss eigens geprüft werden: »Da es eine Wissenschaft gibt vom Seienden, insofern dies seiend (…) ist, muss untersucht werden, ob man diese für identisch mit der Physik zu halten hat oder vielmehr für eine andere.« 4 Die »erste Philosophie« ist, anders gesagt, für Aristoteles der Physik gegenüber eine offene, metastufige Reflexion, die je nach Resultat sowohl zu immateriellen Wesen empor- als auch zur materiellen Welt als einem nicht hintergehbaren Letzten zurückführen kann. Sehen wir uns das bei Aristoteles genauer an. Die entscheidende Frage für Aristoteles ist, ob die physischen, der Materie verbundenen und ihr verhafteten Wesen die einzigen sind, oder ob es neben und über ihnen noch andere Wesen gibt, die getrennt von der Materie existieren und damit auch nicht den materiellen Prozessen unterworfen sind. »Angenommen nun, die physischen Wesen seien die ersten unter allem Seienden, so würde auch die Physik die erste unter den Wissenschaften sein. Gibt es dagegen noch eine andere Natur und ein Wesen, das abtrennbar und unbewegt ist, so muss auch die Wissenschaft derselben von der Physik verschieden sein und früher als diese.« 5 Die gleiche Argumentation findet sich noch an einer weiteren Stelle: »Gibt es neben den natürlich bestehenden Wesen kein anderes, so würde die Physik die erste Wissenschaft sein; gibt es aber ein unbewegliches Wesen, so ist dieses das frühere und die (es behandelnde) Philosophie die erste.« 6 Ohne die Annahme immaterieller Wesen reduziert sich also die »erste Philosophie« auf die Physik, unter der Annahme solcher Wesen wird sie zu einer eigenen, der Physik übergeordneten Wissenschaft. Damit ist nun genau die Alternative »Naturalismus oder Metaphysik?« offen gelegt. Dass Aristoteles an der ersten Stelle noch erklärt, dass ein solches abtrennbares und ewiges Wesen tatsächlich angenommen werden müsse, »wie wir zu beweisen versuchen werden« 7, ändert nichts an der prinzipiell offenen Fragestellung, auch wenn dann am Ende der Entscheid eindeutig zugunsten der metaphysischen Lösung fällt. Die gleiche Argumentationsfigur finden wir bezüglich der Geistnatur der menschlichen Seele wieder. Den Menschen als materieverhafteten Organismus zu betrachten, als der er das letzte Glied in der 4 5 6 7

Metaphysik, Buch XI, Kap. 7, 1064 a 28–30. A. a. O., Buch XI, Kap. 7, 1064 b 10–14. A. a. O., Buch VI, Kap. 1, 1026 a 27–29. A. a. O., Buch XI, Kap. 7, 1064 a 36.

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Die Frage nach dem Letzten

Kette der Naturwesen ist, kommt dem »Physiker«, dem Naturtheoretiker zu. 8 Da es aber Sache der »ersten Philosophie« ist, die Seinsweise dessen zu bestimmen, was unabhängig und getrennt von der Materie existiert, 9 fällt die Erörterung jenes Seelenteils, den wir als geistig und damit der Materie enthoben betrachten dürfen, in den Bereich der ersten Philosophie. 10 Aristoteles entscheidet sich hier direkter für die metaphysische Lösung, weil für ihn die Existenz eines geistigen Seelenteils, des Intellekts, außer Frage steht, von dem er behauptet, dass er erst in seiner Trennung vom Körper wirklich zu seinem Eigensein gelangt. 11 Was lehrt uns das für die Theorie der Wirkwesen? Der entscheidende Punkt ist der, dass die Theorie der Wirkwesen wie die aristotelische Physik am Ende unweigerlich die Frage aufwirft, ob sie sich selbst genügt, ob alle Probleme immanent gelöst werden können oder ob eine transzendente Fundierung gefordert ist. Diese Frage muss auf einer metastufigen Reflexionsebene, analog der aristotelischen ersten Philosophie, systematisch erörtert werden, ohne der Lösung durch eine vorgefasste Meinung vorzugreifen. Von der Kraft der Argumente hängt es dann ab, ob der Entscheid zugunsten der naturalistischen oder der metaphysischen Variante fällt. In diesem Sinn wollen wir uns nun nacheinander die Beweggründe vor Augen führen, die Whitehead zu einer metaphysischen und Piaget zu einer naturalistischen Problemlösung geführt haben.

8.2. Whitehead: metaphysische Fundierung Von den drei Vorgängern der Theorie der Wirkwesen, Whitehead, Cassirer und Piaget, ist Whitehead der einzige, der eine Metaphysik im klassischen Wortsinn entworfen hat. So erstaunt nicht, dass Whitehead eine Vorbildfunktion für eine metaphysische Fundierung der Theorie der Wirkwesen zukommt. Das heißt allerdings nicht, dass die Theorie der Wirkwesen die metaphysischen Theoreme Whiteheads einfach übernehmen kann, ohne sie vorher einer kritischen

Vgl. Metaphysik Buch VI, Kap. 1, 1026 a 5–6; Über die Seele, Buch I, Kap. 1, 403 a 27–28. 9 Vgl. Physik, Buch II, Kap. 2, 194 b 14. 10 Über die Seele, Buch I, Kap. 1, 403 b 15–16. 11 Vgl. A. a. O., Buch III, Kap. 5, 430 a 17–23. 8

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Whitehead: metaphysische Fundierung

Prüfung zu unterziehen, zumal der Kontext und die Voraussetzungen bei der Theorie der Wirkwesen nicht immer die gleichen sind wie bei Whitehead. Es gibt jedoch zumindest ein fundamentales Prinzip, das wir direkt von Whitehead übernommen haben und das in seiner Anwendung auf eine Grundannahme unserer Theorie nach einer metaphysischen Fundierung ruft. Es ist dies das ontologische Prinzip, das bezüglich der von unserer Theorie angenommenen reinen Möglichkeiten verlangt, dass diese in einem überzeitlichen Wesen fundiert werden, genauso wie Whitehead sich aufgrund des gleichen Prinzips gezwungen sah, seine eternal objects in Gott zu verankern. Die eternal objects oder »ewigen Gegenstände« werden von Whitehead als reine Möglichkeiten konzipiert, die den Bestimmungen, d. h. den Formen des Wirklichen zugrunde liegen, ohne selbst schon wirklich zu sein. 12 Sie entsprechen den »Ideen« oder idealen Formen Platons und haben wie diese eine überzeitliche Existenz, nur mit dem grundsätzlichen Unterschied, dass sie nicht als in sich existierende Wirklichkeiten, sondern als reine Möglichkeiten gedacht werden. Aber wie und wo existieren sie dann? Whitehead kehrt sich wie schon Aristoteles insofern von Platon ab, als er nicht Bestimmungen an sich, sondern nur deren Träger letztlich als wirklich gelten lässt. Das ist der Sinn des von ihm so genannten »ontologischen Prinzips«: Alles, was existiert, existiert letztlich in einem substanziellen Wesen, d. h. in einer actual entity. 13 Auf die eternal objects bezogen bedeutet dies, dass sie als überzeitliche, aber nicht in sich existierende Wesensmöglichkeiten ihr Existenzfundament in einem überzeitlichen aktualen Wesen haben müssen, und dieses kann nur das sein, was wir Gott nennen. 14 Die Theorie der Wirkwesen übernimmt in expliziter Form Whiteheads ontologisches Prinzip. 15 Sie unterscheidet auch ähnlich wie Whitehead zwischen realen, entfernten und reinen Möglichkeiten 16, wobei die reinen Möglichkeiten als überzeitlich existierend angenommen werden 17 und das Reich der idealen Formen bilden 18. Folg12 13 14 15 16 17 18

Vgl. Whitehead 1929, 22, dt. 63. Vgl. a. a. O., 18 f., dt. 57 f. Vgl. a. a. O., 39 f.; 46. Vgl. Strukturkern 3.1.3. Vgl. Strukturkern 3.7.3. Vgl. Strukturkern 3.7.4. Vgl. Strukturkern 3.7.5.

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Die Frage nach dem Letzten

lich müsste die Theorie der Wirkwesen wie Whitehead auf ein überzeitliches Wirkwesen – Gott – als Existenzort dieser reinen Möglichkeiten rekurrieren, und ein solcher Schluss wurde in einer vorläufigen Form bereits gezogen. 19 Er lässt sich nur umgehen, wenn die reinen Möglichkeiten auf ein natürliches Wirkwesen zurückgeführt werden können – auf den Menschen, der sie konstruiert, wie es der naturalistische Reduktionismus Piagets will. 20 Für Whitehead haben die in Gott existierenden eternal objects als ideale Formen eine unabdingbare Funktion in der zeitlichen Welt. In ihnen ist die Ordnung der actual entities grundgelegt, die ihre Sinnhaftigkeit verbürgt und dem Prozess ihrer Selbstwerdung sein Ziel gibt. Actual entities entstehen durch das, was Whitehead ihre concrescence nennt, ihr »Zusammenwachsen« aus den vorgegebenen realen Möglichkeiten. Diese sind aber bezüglich ihrer Verbindungsmöglichkeiten unbestimmt, sie geben nicht vor, wie das aus ihnen entstehende neue Wesen aussehen soll. Diese Zielbestimmung kann nur aus diesem Wesen selbst kommen. Wie aber kann eine actual entity das, was Whitehead als ihr »subjektives Ziel« bezeichnet, während ihres Werdensprozesses als ihr noch unverwirklichtes ideales Selbstsein in sich tragen und richtungweisend in diesen Prozess eingehen lassen? Für Whitehead ist das nur möglich durch ihre – platonisch gedachte – Teilhabe an Gott. Eine im Entstehen begriffene actual entity kann ihr zukünftiges ideales Selbst, das ja vorläufig nur eine Möglichkeit ist, allein von Gott beziehen, in dem es als ein komplexer ewiger Gegenstand vorgebildet ist. 21 Gott ist damit nicht der »Schöpfer« der Welt im traditionellen Sinn, wohl aber ist er der unabdingbare überzeitliche Ermöglichungsgrund des zeitlichen Selbsterschaffungsprozesses der Kreaturen. 22 Da eine actual entity einerseits durch physische Aneignungsprozesse die vorgegebene physische Welt in sich integriert, andererseits aber durch sogenannte »begriffliche Prehensionen« – die von geistiger Art, jedoch nicht bewusst sind – das Ideal ihres Selbstseins von Gott bezieht, weist sie eine polare Struktur auf. Ihre materielle Seite wird durch ihren »physischen Pol« konstituiert, ihre geistige durch ihren »mentalen Pol«. Diese Polarität von Geistigem und 19 20 21 22

Ebd. Vgl. 8.3. Vgl. Whitehead 1929, 40, 153 f., 244 f., dt. 92 f., 287 f., 446 f. Vgl. a. a. O., 244, 343 f., dt. 446, 613 f.

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Whitehead: metaphysische Fundierung

Materiellem kennzeichnet jede actual entity, geht jedoch auf den einfacheren Stufen nicht mit einem Bewusstsein zusammen. Dieses entsteht erst durch komplexe Verbindungen von physischen und begrifflichen Prehensionen, die die höheren Formen des Lebendigen auszeichnen. Damit überwindet Whitehead den cartesischen Dualismus von Materie und Geist, nimmt aber gleichzeitig mit dem »physischen« und dem »mentalen Pol« in jedem Wesen eine materielle und eine geistige Dimension an. 23 Die Theorie der Wirkwesen stimmt in fundamentalen Punkten mit Whitehead überein. Auch für sie ist die reale Wirklichkeit die Konkretion von idealen Formen, 24 die die geistige Dimension der Wirklichkeit bilden. 25 Wie bei Whitehead wirkt diese Geistigkeit in den niedrigeren Stufen zunächst unbewusst, bis sie sich im Menschen zum seiner selbst bewussten Geist entwickelt. 26 Der cartesische Dualismus wird damit auf die gleiche Weise überwunden. Auch die Funktion des Idealen und damit Geistigen bleibt sich gleich, da es in beiden Fällen als ein ideelles Regulativ wirkt. In einem zentralen Punkt allerdings kehrt sich die Theorie der Wirkwesen zumindest vordergründig betrachtet von Whitehead ab. Für Whitehead lässt sich eine actual entity ihr »subjektives Ziel« und damit die Ausrichtung ihres Strebens von Gott geben, auch wenn es in ihrem »mentalen Pol« aufgenommen und damit Teil ihres Selbstseins wird. Das ist eine ausgesprochen metaphysische Begründung des Selbsterschaffungsprozesses einer actual entity. Die Theorie der Wirkwesen geht hier naturalistisch vor. In Übereinstimmung mit den modernen Bio- und Humanwissenschaften führt sie das Streben nach der Verwirklichung ausgewogener Formen primär auf die Selbstregelungsprozesse der Wirkwesen zurück, insbesondere auf das, was Piaget Äquilibration nennt. Damit wird anstelle einer transzendenten Begründung eine immanente Erklärung angestrebt – zumindest in einer ersten Erklärungsphase. 27 Die Frage ist, ob sich damit eine metaphysische Erklärung erübrigt. Whitehead würde hier vermutlich argumentieren, dass zwar mittels dieser Selbstregelungprozesse Gleichgewichtszustände tat-

23 24 25 26 27

Vgl. a. a. O., 239, 244 f., dt. 437, 446 f. Vgl. Strukturkern 3.7.6. Vgl. Strukturkern 3.8.1. Vgl. Strukturkern 3.8.2. Vgl. Strukturkern 3.7.7.

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Die Frage nach dem Letzten

sächlich von den jeweiligen Wesen selbst angestrebt und verwirklicht werden können, dass sie sich aber nach idealen Vorgaben richten, die nicht von diesen Selbstregelungsprozessen geschaffen, sondern in ihnen vorausgesetzt sind. Sie sind damit auf eine Weise »gegeben«, die sich nicht von diesen Prozessen selbst her erklären lässt, womit der Rekurs auf ein überzeitliches Reich des Idealen und damit auf Gott gefordert wäre … Die Frage bleibt gestellt, sie kann hier aber nicht einer wirklich begründeten Antwort zugeführt werden Denn dazu müssten wir mehr über den Charakter der evozierten Selbstregelungsprozesse wissen – eine Klärung, die insbesondere einer strukturgenetischen Biologie und Anthropologie vorbehalten ist. Anzufügen bleibt, dass Gott, wie Whitehead ihn denkt, biblisch gesprochen nicht bloß der Anfang, sondern auch das Ende der Welt ist. Das ist der Sinn von Whiteheads Unterscheidung der primordial und der consequent nature in Gott. Als primordial ist Gott das Reich der ewigen Ideen, in dem die Weltordnung sowohl im Ganzen wie für den Einzelnen in ihrer Harmonie idealiter vorgebildet ist. Insofern geht er der Schöpfung voraus. Aber Gott geht auch aus seiner Schöpfung hervor, indem er sie nach seinen idealen Vorgaben realiter in seiner consequent nature in sich aufnimmt. 28 So löst Whitehead das zentrale religiöse Problem, wie die Vergänglichkeit der zeitlichen Wesen in ein zeitloses Sein hinübergerettet werden kann. Gott empfängt die Kreatur so, wie sie im besten Sinn sein kann und aus ihren Bemühungen um Authentizität hervorgegangen ist. Was sie aus egoistischen Motiven Schlechtes getan hat, wird ausgeschieden, das Gute aber in einer neuen Form bewahrt. 29 So ist Gott für Whitehead der »ideale Gefährte«, the ideal companion der Geschöpfe. 30 In Gott ist uns nicht nur das immer wieder neu zu entdeckende Ideal unseres Selbstseins mitgegeben. Er ist auch der Gefährte, der in Freud und Leid mitfühlend zur Seite steht – the fellow-sufferer who understands. 31 Damit ist Gott für Whitehead nicht nur der letzte metaphysische Erklärungsgrund, sondern auch der Gott der Religion, von dem sich der Mensch sein Heil erhofft. Natürlich kann man auch nach Whitehead einen solchen Gott nicht beweisen, sondern nur an ihn glauben, 28 29 30 31

Vgl. Whitehead 1929, 345, 348–351, dt. 616, 621–627. Vgl. a. a. O., 346, dt. 618. Whitehead 1927, 139, dt. 115 Whitehead 1929, 351, dt. 626.

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Piaget: naturalistische Reduktion

sofern man der Überzeugung ist, dass er unseren tiefsten moralischen und religiösen Intuitionen entspricht und seine Annahme nicht widersinnig ist. 32 Für die Theorie der Wirkwesen bedeutet dies, dass wir damit an eine Grenze kommen, die nicht aus immanenten Gründen der Theorie, sondern allein aus persönlicher Überzeugung überschritten werden kann.

8.3. Piaget: naturalistische Reduktion Piaget hat maßgeblich das Strukturdenken beeinflusst, das mit dem Prozess- und dem Subjektdenken zu den Wesensmomenten unserer Theorie zählt. 33 Von ihm haben wir den genetischen Strukturalismus übernommen, demzufolge der Werdensprozess insbesondere der höheren Wirkwesen über die Ausbildung von Strukturen erfolgt, die gemäß einer Stufenordnung auseinander hervorgehen. 34 Wenn wir nun bezüglich Piaget von einer »naturalistischen Reduktion« sprechen, so könnte das zu einem Missverständnis Anlass geben. Denn Piaget ist keineswegs ein Reduktionist im üblichen Sinn, der die höheren Entwicklungsstufen nivellierend auf die niedrigeren zurückführen würde. Sein Konstruktivismus ist vielmehr ein erklärter Antireduktionismus, der die qualitative Neuheit der höheren Stufen gegenüber ihren Vorstufen betont. 35 »Naturalistische Reduktion« bedeutet somit in unserem Kontext etwas ganz anderes als »Reduktionismus« im eben genannten Sinn, nämlich den bewussten Verzicht auf eine letzte transzendente metaphysische Erklärung des Naturgeschehens. Dieses soll ganz aus der Natur selbst, also immanent erklärt werden. 36 Um diesen Naturalismus geht es in diesem Abschnitt. Piaget ist der Begründer der genetischen Epistemologie, einer Erkenntnistheorie, die im Verbund mit der Wissenschaftsgeschichte die Erkenntnisentwicklung vom Kind zum Erwachsenen untersuchen will. Von ihr sagt er nun ausdrücklich, sie sei »naturalistisch, ohne positivistisch zu sein« 37, womit genau ein Naturalismus im eben ge-

32 33 34 35 36 37

Vgl. a. a. O., 343, dt. 613. Vgl. 1.7. Vgl. Strukturkern 3.5. Vgl. Piaget 1970, 121–123, dt. 143–145. Vgl. Piaget 1967, 500, dt. 371 f. Piaget 1970, 10, dt. 28.

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Die Frage nach dem Letzten

nannten Sinn angesprochen ist. Wo und wie manifestiert sich dieser Naturalismus bei Piaget? Die Individualentwicklung der Erkenntnis findet beim Jugendlichen ihren Abschluss mit der Stufe der sogenannten formalen Operationen, auf der Denkprozesse wie in der Logik und Mathematik in Reinform durchgeführt werden können. Hier erobert sich der Jugendliche das Reich des Möglichen, das er kontrastierend zur Wirklichkeit in Beziehung setzen kann, wovon die Hypothesenbildung und die Orientierung an Idealen Zeugnis ablegen. Mit den formal operatorischen Denkprozessen bewegen wir uns also im Raum der reinen Möglichkeiten, und damit stellt sich die Frage, welche Existenzform diesen reinen Möglichkeiten zuzusprechen ist. Es ist die gleiche Frage, die Whitehead metaphysisch mit der Annahme der eternal objects und ihrer ontologischen Fundierung in Gott beantwortet hat Piaget ist Konstruktivist, und so sind für ihn die Erkenntnisstrukturen als Konstrukte des erkennenden Subjekts aufzufassen, die dieses sich sukzessive in seiner Entwicklung geschaffen hat. Entscheidend ist nun in unserem Zusammenhang die Frage, ob die Konstruktion der Erkenntnisstrukturen nur die Zugangsbedingungen zu den entsprechenden Erkenntnissen schafft, oder ob sie für das Erkennen überhaupt konstitutiv sind. Im ersten Fall ist die Annahme eines in sich existierenden platonischen Reiches der reinen Möglichkeiten, zu dem wir mittels der Erkenntnis vordringen, durchaus plausibel, im zweiten wird sie hinfällig, da sich dann die Erkenntnis rein von ihrer Konstruktion her erklärt. 38 Piaget macht nun geltend, dass die reinen Möglichkeiten und insbesondere die logisch-mathematischen Formalstrukturen in jedem Fall vom erkennenden Subjekt konstruiert werden müssen. Das gilt für ihn aufgrund seiner Forschungen zur Erkenntnisentwicklung bei Jugendlichen als erwiesen. Auch ein platonisch denkender Logiker oder Mathematiker kommt nicht darum herum, seine Theorien zu konstruieren. Die Frage ist dann nur, ob es sinnvoll ist, die Resultate dieser Konstruktion zu hypostasieren, d. h. ihnen eine selbstständige Existenzform in einem immer schon existierenden Reich der idealen Formen zu verleihen, wie der Platoniker es will. Natürlich steht nichts der Behauptung im Wege, diese idealen Formen hätten als reine Möglichkeiten schon vor ihrer Konstruktion existiert, und inso38

Vgl. Piaget 1970, 115 f., dt. 138 (Übersetzung ungenau).

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Piaget: naturalistische Reduktion

fern ist der Platonismus unwiderleglich. Aber ist diese Annahme nötig? Ockham hat mit seinem berühmten Rasiermesser die Forderung aufgestellt, dass die Erklärungsgründe einer Theorie nicht unnötig vermehrt werden sollten. An diese Regel hält sich nun auch Piaget. Die an sich unwiderlegbare Annahme eines überzeitlichen Reiches der Ideen vor ihrer effektiven Konstruktion erübrigt sich, weil sie nichts zur Erkenntnis dieser Ideen beiträgt. »Da diese Konstruktion das einzige Zugangsmittel zu einem solchen Ideenuniversum bildet, genügt sie sich selbst, ohne dass man ihr Resultat hypostasieren müsste.« 39 Somit teilt Piagets Konstruktivismus mit dem Platonismus den Glauben, dass wir auf der letzten Stufe der Erkenntnisentwicklung zu einem Reich reiner, idealer Möglichkeiten aufsteigen können. Aber erkennbar werden diese Ideen für uns nur durch ihre gedankliche Konstruktion, die beim Jugendlichen beginnt und bezüglich der formalisierten Denkstrukturen beim Logiker und Mathematiker ihre Fortsetzung findet. Der Weg zum Platonismus ist damit nicht weit. »Es genügte, diesen Möglichkeiten die Existenz zu verleihen, um Platoniker zu sein, oder auch die Annahme einer unendlichen, uns überlegenen Intelligenz, welche alle Möglichkeiten in einer simultanen Intuition erfasst.« 40 Piaget stellt es jedem frei, an eine solche göttliche Intelligenz zu glauben. Aufgrund seines erklärten Naturalismus weigert er sich aber, einen solchen Schritt ins Auge zu fassen, und aus seiner Sicht ist dieser Schritt auch nicht nötig, da er nichts zu dem beiträgt, was wir nicht schon ohnehin über den Aufbau der Erkenntnis wissen. Ist eine solche naturalistische Reduktion für die Theorie der Wirkwesen akzeptabel? Da wir uns in der Strukturgenetischen Anthropologie weitgehend die Entwicklungstheorie Piagets und seinen genetischen Strukturalismus zu eigen machen, wäre eine prinzipielle Ablehnung seiner Theorie inkonsequent. So bleibt nur die Frage, ob Piagets Weigerung, ein in Gott fundiertes Reich überzeitlicher idealer Formen anzunehmen, wie es Whitehead mit seinen in Gott gegründeten »ewigen Gegenständen« tut, den Grundvoraussetzungen unserer Theorie widerspricht. Für Whitehead ist die Annahme Gottes als Existenzort der eternal objects eine Konsequenz des ontologischen Prinzips, das auch in unserer Theorie gilt. Wird dieses Prinzip durch 39 40

A. a. O. 118, dt. 141. Piaget 1961, 321.

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Die Frage nach dem Letzten

die naturalistische Reduktion Piagets verletzt? Piaget hält wie Whitehead dafür, dass wir im Erkennen den Zugang zu reinen idealen Möglichkeiten haben. Aber diese Möglichkeiten sind nicht frei schwebende Entitäten, so dass sie das ontologische Prinzip verletzen würden. Sie haben als gedankliche Konstrukte ihr Fundament im jeweiligen Konstrukteur, sei es im sich zum formalen Denken entwickelnden Jugendlichen, sei es auf der wissenschaftlichen Ebene im Logiker und Mathematiker. Damit ist dem ontologischen Prinzip genüge getan, auch wenn nun nicht auf Gott, sondern auf das erkenntnisbegründende menschliche Subjekt rekurriert wird. Die gleiche Reduktion würde nun der Naturalist auch für alle Bereiche vornehmen, wo wir es mit Idealen zu tun haben, die sich als Möglichkeiten über das Wirkliche erheben. Das gilt für die höchsten Prinzipien der Ethik ebenso wie für die Leitbilder der Kunst. Sie sind für den Naturalisten nicht platonische Vorbilder des Schönen, Wahren und Guten, sondern Idealformen, die sich der Mensch im Kontrast mit dem Realen selbst entwirft. Angemerkt sei noch, dass ein solcher Naturalismus zwar häufig mit einem impliziten oder expliziten Atheismus zusammengeht, diesen aber nicht notwendigerweise einschließt. Was sich nicht mit dem Naturalismus verträgt, ist die Annahme eines Gottes, der im Naturgeschehen mitwirkt, weil dieses ausschließlich aus sich selbst erklärt werden soll. Ein entsprechendes Gottesverständnis wurde parallel zur Naturalisierung der Welt im sogenannten Deismus der Aufklärung entwickelt: Gott bleibt zwar weiterhin der Schöpfer der Welt, überlässt die Natur aber sich selbst und hat keinen Einfluss mehr auf sie. Schließlich kann das Schöpfertum Gottes überhaupt negiert werden, womit die Natur ganz zu etwas eigenständig Gewordenem wird. Gott bleibt nur noch als moralisches Prinzip übrig, dem wir durch unser Handeln gerecht zu werden versuchen. Eine solche Auffassung findet sich auch bei heutigen Jugendlichen, wenn infolge des Schulunterrichts die Naturwissenschaften mit Urknall und Evolutionstheorie zur dominierenden Erklärung für die gesamte Natur werden, und sie dürfte auch bei Erwachsenen weit verbreitet sein. 41 Halten wir also fest, dass der Naturalismus in einer atheistischen und einer deistischen Variante auftreten kann.

Vgl. Fetz/Reich/Valentin 2001, 256–258, sowie die ausdrücklich als »Deismus« charakterisierte Stufe 3 der religiösen Entwicklung in Oser/Gmünder 1984, 94 f.

41

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Die Offenheit des Unbeweisbaren

8.4. Die Offenheit des Unbeweisbaren Blicken wir auf die metaphysische Fundierung bei Whitehead und auf die naturalistische Reduktion bei Piaget zurück, so fällt auf, dass bei beiden fundamentale Fragen letztlich offen bleiben, d. h. die Antworten als nicht beweisbar eingestuft werden. Für Whitehead gilt generell, dass alles, was wir über Gott sagen können, nicht den Charakter eines Beweises hat. 42 Für Piaget ist der Platonismus grundsätzlich nicht widerlegbar, und er stellt es jedem frei, nicht nur eine platonische Ideenwelt anzunehmen, sondern auch eine entsprechende göttliche Intelligenz – eine Freiheit allerdings, von der er selbst keinen Gebrauch macht, weil er die Erkenntnis als eine Konstruktion versteht, die sich aus sich selbst erklärt. Was hat das für die Theorie der Wirkwesen zu bedeuten? Die Lehre, die sie daraus ziehen sollte, ist wohl in erster Linie die, dass sie sich davor hüten sollte, päpstlicher als der Papst zu sein, das heißt kategorische Urteile zu fällen, wo ihre Vorgänger eine Offenheit bewahrt haben. Das gilt speziell für Gott, nicht den Gott der Philosophie, den man mit Whitehead als den Existenzort des Idealen postulieren kann, sondern für den Gott der Religion, an den man nur glauben und auf den man nur hoffen kann – sofern man dafür empfänglich ist. Es ist mittlerweile schon Usus geworden, die Religion mit der Musik zu vergleichen. Wie man die Schönheit eines Musikstücks jenem, der dafür nicht empfänglich ist, nicht »beweisen« kann, so kann man niemandem ein Verständnis für den Sinn von Religion aufzwingen. Und so scheiden sich die Menschen in jene, die sich als religiös, und andere, die sich als »religiös unmusikalisch« erklären. Die Frage nach dem Letzten steht damit für die Theorie der Wirkwesen in einem Horizont, der weit oder eng sein kann. Nach allem, was wir gesehen haben, ist die Behauptung nicht unzulässig, dass unter den entsprechenden Vorkehrungen sowohl eine metaphysische als auch eine naturalistische Version der Theorie der Wirkwesen denkbar ist, und letztere wiederum in einer atheistischen oder einer deistischen Variante. Für eine Theorie, die auf der Basis eines gemeinsamen Strukturkerns Wissenschaftler und Philosophen unterschiedlicher Provenienz zusammen führen will, muss das kein Nachteil sein. 42

Whitehead 1929, 343, dt. 613.

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Die Frage nach dem Letzten

Fichte hat den bekannten Satz geprägt, was für eine Philosophie man wähle, hänge davon ab, was für ein Mensch man sei. Beliebigkeit, Anything goes ist keine Devise unserer Theorie. Im Strukturkern gibt sie sich ein festes Gerüst, das ihre Interpretationen trägt, auch wenn dieses revidierbar bleibt. Doch in der Frage nach dem Letzten spielen unweigerlich persönliche Werte und Überzeugungen hinein, die niemand aufgeben will. So wird jeder die eine oder die andere der eben unterschiedenen Lösungen bevorzugen. Aufgabe ist es dann, diese frei von jedem Dogmatismus auf die Theorie der Wirkwesen abzustimmen und in die Diskussion einzubringen. Was kann diese Theorie Besseres erwarten, als dass ihre Vertreter in einer Gemeinschaft des Dialogs und im Ausgang vom gleichen Paradigma versuchen, auch letzte Fragen und Divergenzen vorurteilslos anzugehen?

180 https://doi.org/10.5771/9783495820971 .

Literaturverzeichnis

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Personenregister

Aristoteles 7–8, 17, 19, 30, 35, 37–38, 41–43, 47–48, 64–66, 68, 78, 80, 85, 87–88, 93–95, 106, 107–108, 111, 121, 124–125, 129, 134, 136–139 Aquin, T. von 8, 80–81, 108, 111, 148 Bertalanffy, L. von 97, 108 Bohr, N. 101 Brunschvicg, L. 45 Cassirer, E. 2,6,9, 12, 16, 23–24, 28, 35–36, 42–43, 45, 50, 52, 80, 83, 113, 125–130, 139, 149 Chomsky, N 47 Dalton, J. 99 Darwin, C. 121 Descartes, R. 8, 48–49, 64–65, 72, 81, 84, 89, 94 Dux, G. 131, 148 Einstein, A. 63–64, 97–98, 134

Garcia, R. 130, 134, 150 Gebauer, G. 149 Gehlen, A. 35, 118, 125, 131, 149 Gmünder, P. 146, 150 Habermas, J. 46, 121, 149 Hegel, G. W. F. 6, 8, 36, 64, 89, 122, 126–128 Heidegger, M. 104, 107, 149 Hoyningen-Huene, P. 56, 149 Hume, D. 47 Kant, I. 17, 32, 48–49, 65, 78, 109– 110, 119, 122, 123 Kohlberg, L. 34, 53, 70, 119, 130, 149 Kuhn, T. S. 2, 25–27, 55–63, 149 Lamarck, J. B. de 46, 82, 121 Leibniz, G. W. 8, 10, 20, 84, 104 Lenk, H. 132, 134, 149 Lévi-Strauss, C. 43–44, 47, 51, 83 Linné, C. von 47, 121 Lovejoy, A. O. 121, 149 Lübbe, H. 125, 149 Luhmann, N. 74

Falkner, G. G. 12, 90, 101, 115 Falkner, R. A. 90 Fetz, R. L. 9, 17, 19, 24, 41–42, 44, 48, 108, 116, 120, 126, 130–131, 146, 148–151 Feuerstein-Herz, P. 121, 149 Foucault, M. 43–44, 51, 83 Frankl, V. 89, 149 Freud. S. 89, 120, 143 Fuchs, T. 149

Newton, I. 8, 18, 49, 63–64, 94, 97, 99, 129, 134 Nipperdey, T. 132–135, 150

Gablik, S. 131, 149 Galilei, G. 63–64, 129, 134

Oesterdiekhoff, G. W. 150 Oser, F. 146, 150

Marion, J.-L. 77, 150 Maturana, H. R. 33, 110, 150 Muraca, B. 30, 150

185 https://doi.org/10.5771/9783495820971 .

Personenregister Pascal, B. 95 Pasteur, L. 99 Piaget, J. 2, 6–7, 9, 10, 12, 17, 21, 23– 24, 28, 34, 36–38, 42–43, 45–48, 52–53, 70, 76, 80, 82–83, 97, 103, 119, 126–127, 129–130, 132, 134, 136–137, 139, 142–151 Planck, M. 97 Plessner, H. 34–35, 114–116, 118, 125, 131, 150 Popper, K. R. 56–58, 150, 151

Sellars, W. 56 Sneed, J. D. 26, 55, 59, 62, 151 Spinoza, B. de 65 Stegmüller, W. 25, 26, 55, 57–62, 151 Stein, E. 82, 92–93, 96, 99, 108, 151

Quine, W. V. O. 40

Valentin, P. 148 Varela, F. J. 33, 110, 150

Reich, H. 131, 146, 48 Riffert, F. 151 Sartre, J. P. 44 Schelling, F. W. J. 8, 89, 102 Schiwy, G. 44, 151 Seidenfuß, B. 9, 17, 149, 151

Tennyson, A. 94 Tugendhat, E. 107, 151 Uexküll, J. von 117, 151 Ullrich, S. 9, 17, 148–149, 151

Whitehead, A. N. 2, 7, 8–11, 17–20, 24–25, 30–31, 37–38, 40–41, 48, 52, 67–68, 72–73, 76–78, 82, 84, 86–90, 93–95, 97–98, 101–102, 105, 116, 136, 139–149, 151 Wulf, C. 131, 149, 151

186 https://doi.org/10.5771/9783495820971 .

Sachregister

Actual entity 15–16, 27–28, 52 Äquilibration 100, 109, 173 Anthropologie, Historische 46, 161– 165 Anthropologie, Philosophische 43– 44, 145, 154, 161 Anthropologie, Strukturgenetische 46, 59, 67, 87, 149, 151–152, 163– 165 Aneignung, Aneignungsprozess 94– 97 Atom, Atomizität 112, 123 Bewusst 110 Bewusstsein 110–111 Biologie 18, 66, 151 Ding, Dingvorstellung 39, 90, 112, 114–116 Dualismus 13, 30, 38, 44, 62, 101 Elementarteilchen 40, 112, 125 Entwicklung, Höherentwicklung 13, 99–101 Epistemologie, genetische 14, 31, 46, 58, 159, 164, 175 Erfahrung 96 Eternal objects 171, 177 Evolution 41, 92, 127, 149–150 Filiation von Strukturen 44, 61–62, 101, 148 Form, Formbegriff, aristotelischer 30, 54 Geist 61–63, 109–111

Genese 14, 30, 101 Geschichte, Geschichtlichkeit 45, 138, 154–155 Geschlossenheit 142–143 Gesellschaft 45, 152–153 Gesellschaftsbildung 103–106 Gott, Gottesfrage 47–48, 166, 172– 174 Idealität, ideale Formen 107–109 Kernerweiterung 17, 68, 76–77, 87– 88, 131 Komplexität 104–105, 140–141 Konstitution von Wirkwesen 94–96 Konstruktivismus 38, 61, 66, 94, 175– 177 Kultur 45, 146, 153–154 Leben 41–44, 132–139 Materie 62, 112, 117, 121–122 Mechanismus, mechanistisch 14, 26, 62, 117–118 Metaphysik 47, 108, 166–173 Mensch 43–44, 145–147 Möglichkeit 38, 106–107 Natur, unbelebte 39–40, 121–126 Naturalismus 47, 166, 169, 175–178 Non Statement View 17, 34, 69, 73– 78, 81–84, 131 Offenheit 68, 142, 179–180 Ontologie, ontologisch 78–81, 85–86, 91

187 https://doi.org/10.5771/9783495820971 .

Sachregister Ontologisches Prinzip 48, 91, 171 Organismisch 14, 23, 26, 89–90, 120 Organismus, Organismusbegriff 41– 42, 50, 112–113, 118–120, 126, 134–136 Organisation 24, 98, 119, 134 Paradigma 17, 29, 34, 70–71, 75 Paradigmentheorie, Kuhnsche 34, 70–71 Pflanze 43, 142–143 Physik 66 Positionalität 141 Primärproduzenten 141–142 Prozess, Prozessdenken 63–64, 92 Real 107 Realität 23, 89 Reduktionismus 30, 66 Reflexion 141–142, 146

Statement View 34, 69, 73–74 Stufe, Stufentheorie 13–14, 30, 93– 94, 127, 149–151 Strukturalismus, strukturalistisch 55–57 Strukturalismus, genetischer 14, 29– 30, 48, 57, 59–60, 101–102, 128, 148 Strukturbegriff 14, 24, 54–55, 63–64, 91, 98 Strukturdenken 31, 48, 55–57, 64, 103 Strukturkern der Theorie 17, 33, 35– 37, 68, 78–81, 85–86, 89–111 Subjekt, Subjektivität, Subjektdenken 14, 43, 64, 91, 94, 113 Symbol, Symboltheorie 14, 32, 43, 139 System, Systembegriff 92 Tier 43, 143–145

Schöpfung, Neuschöpfung 27, 64, 66, 93, 174 Sekundärproduzenten 141, 143 Selbst, Selbstsein 42–43, 94, 119– 120, 124, 133, 144–145 Selbstaufbau 40, 43, 95–96, 135–136 Selbstbesitz 94, 145–146 Selbstbezug 42, 65, 133, 146, 150 Selbsterhaltung 42, 132 Selbstregelung 65, 67–68 Selbstverwirklichung 97

Unbewusst 110 Werden, Werdensprozess 94–95 Wirklichkeit 89–90, 108–109 Wirkwesen 16–17, 23, 29, 37–38, 50– 51, 53, 89–97, 112 Wissenschaftstheorie 34, 69, 71–73 Zentrierung 104, 140

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