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German Pages 226 [227] Year 2019
Copyright © 2019. Vittorio Klostermann. All rights reserved.
Bernd Ludwig · Aufklärung über die Sittlichkeit
Vittorio Klostermann, 2019.
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Bernd Ludwig Aufklärung über die Sittlichkeit
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Zu Kants Grundlegung einer Metaphysik der Sitten
KlostermannRoteReihe Vittorio Klostermann, 2019.
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Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © Vittorio Klostermann GmbH · Frankfurt am Main · 2020 Alle Rechte vorbehalten, insbesondere die des Nachdrucks und der Übersetzung. Ohne Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, dieses Werk oder Teile in einem photomechanischen oder sonstigen Reproduktionsverfahren oder unter Verwendung elektronischer Systeme zu verarbeiten, zu vervielfältigen und zu verbreiten. Gedruckt auf Eos Werkdruck von Salzer. Alterungsbeständig und PEFC-zertifiziert Druck und Bindung: docupoint GmbH, Barleben Printed in Germany ISSN 1865-7095 ISBN 978-3-465-04411-6
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Inhalt Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Prolog. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 I. Die Aufgabe einer Kantischen Moralphilosophie. . . . . . . 15 (1) Die Unleugbarkeit der sittlichen Verpflichtung. . . . . 16 (a) Kritik der praktischen Vernunft (1787/88) und später. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 (b) Kritik der reinen Vernunft (1781) und früher. . . . . 19 (c) Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785) . . . 22 (2) Moralgesetz und metaphysica specialis seit 1781. . . . . 23
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II. Die ‚Idee des Ganzen‘. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 (1) Eine Übersicht über das Projekt der Grundlegung . . 27 (2) Methodische Zwischenbemerkung. . . . . . . . . . . . . . . . 32 III. Kommentare zum Text der Grundlegung. . . . . . . . . . . . 35 (0) Zur Vorrede. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 (1) Zum ersten Abschnitt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 (2) Zum zweiten Abschnitt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 (3) Zum dritten Abschnitt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 IV. Architektonische Spannungen – 1781 . . . . . . . . . . . . . . 125 V. Nachbeben – 1787/88. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 Epilog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 Anmerkungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 Namenregister. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225
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Vorbemerkung Der folgende Text richtet sich sowohl an Leserinnen und Leser, die sich möglicherweise zum ersten Mal mit Kants Grundlegung beschäftigen, als auch an bereits mit Kants praktischer Philosophie Vertraute. Dieser Spagat wurde formal zu bewerkstelligen versucht, indem im Haupttext nach Möglichkeit nur das thematisiert wird, was für ein erstes Verständnis der Grundlegung nötig ist. Fragen, die sich möglicherweise erst dann stellen, wenn man die Grundlegung (auch) im weiteren Kontext der Kantischen Philosophie sowie vor dem Hintergrund der neueren Kant-Literatur studiert, werden konsequent in die Anmerkungen verlagert. Diese werden aufgrund ihres teilweise großen Umfangs als Endnoten geführt, um den Haupttext lesbar zu halten. Vielfach geht es in den Anmerkungen darum, zusätzliche Stützungen für die vorgelegte Rekonstruktion zu bieten, um damit solche Interpretationshypothesen zurückweisen zu können, die in der Forschung zwar einige Bedeutsamkeit erlangt haben, den Blick aber doch eher in fruchtlose und vom Kantischen Text wegführende Sackgassen lenken. In diese muss man oftmals gar nicht erst hineingeraten, wenn man einen Schritt zurücktritt und zunächst noch einmal erneut dasjenige in den Fokus nimmt, was bei Kant selbst steht. Ein Beispiel dafür wären die notorischen Irritationen bezüglich Kants Bemerkungen zum ‚analytischen und synthetischen Weg‘ am Ende der Vorrede: Dazu gibt es zwei sehr umfangreiche Endnoten (s. u. Anm. 28f.), derer es ohne die langanhaltenden einschlägigen Debatten nicht bedurft hätte: Die im Haupttext gegebene Rekonstruktion von Kants architektonischem Aufriss seiner Sittenlehre wird man daher auch direkt am Kant-Text und ohne diese zusätzlichen Klarstellungen nachvollziehen können. Wenn es vornehmlich um den Einstieg in den Text der Grundlegung selbst geht, wird man also die (oft auch etwas voraussetzungsreicheren) Endnoten zunächst ignorieren, kann zudem – nach dem Prolog – auch gleich mit Kapitel II beginnen und nach Kapitel III auch schon wieder aussteigen. Damit hätte man dann einen TextKommentar etwa vom Umfang der Grundlegung selbst. Die drei anderen Kapitel (I, IV und V) dienen im Wesentlichen der Einbettung der Grundlegung in den Kontext der Kritischen Philosophie über-
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Vorbemerkung
haupt und damit zugleich der Vergewisserung, dass die hier gebotene Rekonstruktion der Schrift diese als einen bahnbrechenden Schritt in der Entwicklung des Kantischen Denkens erkennbar werden lässt. Es geht im vorliegenden Buch somit nicht nur um Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten von 1785, sondern um Kants Grundlegung einer Metaphysik der Sitten in den Jahren 1781–1788. Dieses Buch verdankt vieles dem intensiven Gedankenaustausch am Göttinger Seminar, das seit langem ein Ort ist, an dem das philosophische Gespräch stets auch über Grenzen der jeweils eigenen Interessengebiete (und der universitären Alltagsbewältigung) hinaus gesucht, ermöglicht und oft genug sogar institutionell eingefordert wird. Ich möchte hier allerdings besonders Andreas Brandt, Stefan Klingner, Jörg Schroth und Holmer Steinfath danken, die frühere Versionen des Manuskripts gelesen und deren kritische Kommentare bedeutende Spuren hinterlassen haben. Darüber hinaus trieben immer wieder Gespräche und Korrespondenzen mit Kolleginnen und Kollegen die Gedanken voran, schafften Klarheit und bewahrten mich vor (immerhin einigen) Irrtümern. Zumindest Pauline Kleingeld, Dietmar Heidemann, Christoph Horn, Heiko Puls, Werner Stark, Jens Timmermann und Marcus Willaschek seien hier genannt, sowie Tobias Rosefeldt, der auch die Aufnahme in die Rote Reihe angeregt hat – und Reinhard Brandt, der mein Kant-Studium auf die Bahn gebracht und seitdem begleitet hat. Marco-Lorenz Seikel danke ich für das Korrekturlesen und dem Verlag für die umsichtige und geduldige Betreuung. Göttingen, im September 2019
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Prolog Es gehört zu den wohletablierten Ritualen vor allem in der deutschsprachigen Kant-Forschung, dass man im Zuge einer Beschäftigung mit Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten darauf hinweist, dass man es hier zwar mit einem herausragend wichtigen, aber zugleich auch mit einem herausragend schwierigen Text zu tun hat, der sogar schon einmal im Verdacht stand, einer der dunkelsten der abendländischen Philosophiegeschichte überhaupt zu sein.1 Ohne die Lektüre eines irgendwann einmal zu erwartenden Kommentars von mehreren hundert Seiten Länge bestehe überhaupt keine Hoffnung, auch nur den dritten Abschnitt zu verstehen (solche Kommentare erscheinen dann auch – und zu viele könnten es für manche gar nicht sein2): Das Kantische Projekt einer ‚Begründung der Moral‘ überbiete alles bis dahin dagewesene an Subtilität und/oder Verstiegenheit und nur eine gewaltige kollektive Anstrengung einer international vernetzten Forschergemeinschaft wird das Buch je entschlüsseln – wenn überhaupt. Hätte man es hier nicht mit dem Text eines bedeutenden Autors der europäischen Spätaufklärung zu tun, dann würde man inzwischen die Charakterisierung als „esoterisch“ kaum mehr abweisen können, denn die Grundlegung scheint angesichts ihrer partiellen „Dunkelheit“ am Ende ein Text nur für Eingeweihte zu sein – so, wie es bei den Texten über die Grundlegung mitunter fraglos der Fall ist, denn die mit den Winkelzügen der Forschung Unvertrauten werden bisweilen nicht einmal mehr die erörterten Probleme nachvollziehen können. Der folgende Versuch eines Neu-Einstiegs in die Lektüre der Grundlegung stellt sich entschieden in Opposition zu dieser Haltung. Er möchte vielmehr den Leserinnen und Lesern einige Mittel an die Hand geben, mit denen sie durch eigene Lektüre zu der Einsicht vordringen können, dass Kants Grundlegung ein Buch ist, das uns wie kein anderes von der philosophischen Größe und zugleich von der schriftstellerischen Meisterschaft ihres Autors überzeugen kann: Es ist zwar kein einfaches, aber gleichwohl ein klares Buch, genial komponiert, methodisch reflektiert, gradlinig geschrieben, rigoros in der Problemanalyse, philosophisch auf der Höhe seiner Zeit, revolutionär in seinem Anspruch und von einer gedanklichen Rigidität, die uns bisweilen atem- und oftmals auch einfach nur ratlos machen kann. Vittorio Klostermann, 2019.
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Prolog
Die im vorigen Absatz zum Ausdruck kommende Anmaßung bedarf fraglos einer Erklärung bzw. einer Rechtfertigung: Warum gilt ein angeblich so klares, luzides Buch in der neueren Forschung fast einhellig als ein undurchsichtiges, dunkles? Im Falle der Grundlegung ist die Antwort erstaunlich einfach: Weil man ein Buch, dessen praktisch-moderate, aber philosophisch-anspruchsvolle Aufgabe es ist, endlich das oberste Prinzip der allseits anerkannten Moralität ‚aufzusuchen und festzusetzen‘, seit (mindestens) einem halben Jahrhundert stattdessen als ein solches zu lesen versucht, welches den Anspruch erhebt, nicht (bloß) eine Metaphysik der Moral, sondern (auch gleich noch) die Moral selbst zu begründen. Statt nur die angemessene Formel aller sittlichen Verpflichtung anzugeben und diese Formel gegenüber den vorliegenden Alternativen zu rechtfertigen, soll das Buch vielmehr eine „Begründung der Moral“ („Justification of Morality“) liefern, eine Rechtfertigung der Moralprinzipien („Justification of Moral Principles“) leisten, das „Sittengesetz deduzieren“ bzw. beweisen, die Geltung eines kategorischen Imperativs demonstrieren, den Menschen Gründe dafür liefern, moralisch zu sein, aufzeigen, dass sie einer moralischen Verpflichtung unterliegen, dass sie moralisch sein sollen (bzw. müssen)3 – oder was auch immer. In Kants eigenen Worten: Das Buch sollte angeblich das Sittengesetz nicht allein „durch Vernunft herausklügeln“, sondern zu allem Überfluss auch noch „der Willkür anschwatzen“ (06:26 Fn.4). Im Folgenden wird sich zeigen, dass Kant derartige Ambitionen gänzlich fremd waren, und dass es ihm in seiner Grundlegung zur Metaphysik der Sitten ausschließlich darum ging, die adäquate Philosophie der Moral auszuzeichnen. Und das hieß: zu den verschiedenen eudaimonistischen Deutungen der „allgemein im Schwange gehenden“ Sittlichkeit eine Alternative auszuarbeiten und deren absolute Vorzugsstellung zu rechtfertigen. Dass die Menschen überhaupt irgendwelchen moralischen Verpflichtungen unterstehen, das kann der Philosoph nämlich ohnehin nicht beweisen – und er muss es auch nicht: denn das, so Kant, „begreift ein jeder von selbst“ (s. u.). Woher der – historisch wie systematisch – weit überzogene Anspruch an die Grundlegung seinen Ausgang genommen hat, mögen Historiker der Interpretationsgeschichte klären, es ist für die historische und systematische Würdigung der Grundlegung selbst ganz unerheblich. Wichtig ist nur eines: Die vielbeklagte Dunkelheit der Grundlegung ist am Ende wesentlich der Schatten, den eine langjährig
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Prolog
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gepflegte, unangemessene Erwartung an die Schrift auf dieselbe wirft. Erwartet man von ihr, dass sie eine Rechtfertigung der moralischen Forderungen leistet und kann man eine solche Rechtfertigung in derselben nicht angemessen rekonstruieren, dann gilt konsequenterweise entweder ihr Projekt als gescheitert oder – weil dem Autor ein hohes Maß an Ehrfurcht entgegengebracht wird – der Text eben als besonders schwierig. ‚Kants Moralbegründung‘ ist dann noch nicht entschlüsselt und bleibt eine nicht endende Herausforderung für die Interpreten. Ändert man hingegen die Erwartung (bzw. präzisiert5 sie im genannten Sinne), dann erweist sich das Buch schlagartig als eines, das eine durchaus komplexe Argumentation auf sehr gradlinige Weise höchst transparent präsentiert. Das führt unter anderem dazu, dass einige der hartnäckigen, prominenten Interpretationsprobleme 6 nicht mehr einer Lösung harren – sondern gar nicht erst auftreten. Wenn der hier gegebene Neueinstiegs-Vorschlag das ‚durch die Tat‘ zu zeigen vermag, dann kann die Grundlegung vielleicht wieder zu einem Buch werden, das auch ohne eine akribische Interpretationsscholastik mit Gewinn studiert werden kann und das eine markante und höchst eigenwillige – aber gleichwohl alles andere als undurchschaubare – Position in der Geschichte der Moralphilosophie vorstellt. Der Versuch einer solchen ‚radikal-deflationären‘ Re-Lektüre wird sich genau dann gelohnt haben, wenn das Buch am Ende als eines erkennbar wird, in dem sein Autor ein Gedankengefüge vorstellt, mit dem er im Kontext seiner Kritischen Philosophie eine klar umrissene Aufgabe lösen will. Eine Aufgabe, die seine Leser als eine solche verstehen und sodann auch die angebotene Lösung auf deren Relevanz und auf deren Geltungsansprüche hin beurteilen können, auch und gerade wenn sie einige seiner Grundannahmen nicht teilen – und die Gedanken daher auch niemals selbst hätten entwickeln können. Damit gewinnt das Buch seine genuin philosophische Dimension zurück: als Dokument einer möglichen, wohldurchdachten Alternative zu dem, was seine Leserinnen und Leser aktuell gerade einmal für richtig halten. Trauerarbeit wird allerdings von jenen zu leisten sein, die sich von ihrer Hoffnung verabschieden müssen, es könnte sich in Kants Grundlegung so etwas auffinden lassen wie der Versuch einer ‚rein rationalen Moralbegründung‘7, d. h.: einer philosophischen Antwort auf
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Prolog
die – ohnehin merkwürdig frivole – Frage: ‚Warum soll ich/man eigentlich moralisch sein?‘8, und zwar eine Antwort, die über die Auflistung unerwünschter Folgen (irgendwo im Spektrum zwischen sporadischer Störung der individuellen Seelenruhe und endlosen kollektiven Höllenqualen) ‚unmoralischen‘ Handelns hinausginge, kurz: die mehr sein könnte als nur eine – selbstverständlich jederzeit auch hochwillkommene! – ‚Moralpropaganda‘9. Um der Grundlegung gerecht zu werden, müssen wir uns demnach erst einmal ganz verlässlich von dem Gedanken befreit haben, Kant könnte mit ihrer Abfassung auch nur das geringste Interesse verbunden haben, irgendeinen moralischen Skeptizismus zurückzuweisen oder gar irgendwelche Amoralisten zu bekehren (d. h.: dass er irgendjemandem ‚die Sittlichkeit anschwatzen will‘). Dann aber verbleiben als Kants direkte Adressaten ausschließlich jene „Moralisten“ übrig, die zwar einen grundsätzlichen Anspruch auf moralische Verbindlichkeit und Sittlichkeit (z. B.: ‚Versprechen soll man einhalten!‘) als eine unhintergehbare Gegebenheit (als ein datum) des menschlichen Selbstverständnisses bzw. eines genuin menschlichen (Zusammen-)Lebens anerkennen, die aber durchweg falsche Prinzipien derselben propagieren (und damit in Einzelfällen auch zu falschen Folgerungen 10 gelangen), weil sie den wahren Ursprung der Moral nicht finden konnten (so, wie man ja auch vor dem Erscheinen von Newtons Principia nicht bestritten hat, dass die Äpfel von den Bäumen fallen und die Planeten ihre immergleichen Bahnen ziehen – und für beides auch irgendwelche fragwürdigen Erklärungs-Prinzipien parat hatte). Erst so erschließt sich uns die Bedeutsamkeit von Kants Einsicht (oder zumindest: von seiner Überzeugung), dass die – über „Jahrtausende“ hinweg vergeblich gesuchte – Formel des Moralprinzips der „gemeinen praktischen Vernunft“ ein Kategorischer Imperativ ist und dessen Quelle unsere Freiheit – nicht aber unser Streben nach dies- oder jenseitiger Glückseligkeit oder nach Vollkommenheit (um im Bilde zu bleiben: dass das Fallen der Äpfel und der Lauf der Planeten beide derselben universellen Wechselwirkung zwischen Körpern geschuldet sind und nicht etwa deren Streben zu einem natürlichen Ort bzw. der Vollkommenheit einer in sich zurückkehrenden Kreisbewegung). Ob wir Kant auf seinem Weg einer ‚Grundlegung zu einer neuen Metaphysik der altehrwürdigen Sitten‘ dann wirklich folgen wollen, ob seine Darlegungen uns überzeugen können, oder ob wir nicht überlegene
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Gründe haben, ihre Ergebnisse zurückzuweisen und uns daher entweder gleich am Anfang oder an irgendeiner späteren philosophischen Wegegabelung von ihm trennen sollten, ist dabei eine andere Frage, die im Folgenden erst einmal weder gestellt noch beantwortet werden soll – zumal Kant-Kritik ja ohnehin seit gut 200 Jahren an jeder Ecke wohlfeil zu haben ist. Von Interesse für ein adäquates Verständnis des Textes ist für uns allerdings jene Kritik, welche Kant kurz darauf dann selbst ‚durch die Tat‘ formuliert hat, weil er einsehen musste, dass die Grundlegung (wie auch bereits die Kritik der reinen Vernunft) in einem zentralen Punkte seinen eigenen Kriterien zufolge noch nicht ‚consequent‘-kritisch war und daher 1787/88 einer partiellen Korrektur durch seine Kritik der praktischen Vernunft bedurfte (s. u. Kap. V). Die Berücksichtigung dieser kantischen Selbstkorrektur kann uns helfen, solche Lehrstücke, bei denen die möglichen Schwierigkeiten in erster Linie darin bestehen, die Intention des Autors zu verstehen, von denjenigen zu scheiden, die sich dem Leser erst einmal deshalb nicht erschließen können, weil Kant 1785 mit sich selbst noch nicht im Reinen war – und so das kurz darauf dann als unvereinbar Erkannte noch nebeneinandersetzte. Andererseits verpflichtet uns bereits die bloße Möglichkeit einer solchen Kantischen Selbstkorrektur11 darauf, zunächst auch weitestmöglich ohne eine positive Inanspruchnahme derjenigen Schriften auszukommen, die der Autor der Grundlegung noch gar nicht kennen konnte – weil er sie erst noch schreiben musste (und sogar das mitunter noch nicht einmal ahnte). Allerdings ist es für ein angemessenes Verständnis des Textes unerlässlich, auch einiges von dem zur Kenntnis zu nehmen, was Kant zuvor geschrieben oder in seinen Vorlesungen vorgetragen hat: Einerseits, weil wir erst damit einzelne Voraussetzungen kennenlernen, ohne welche der Gedankengang der Grundlegung von uns Nachgeborenen an einzelnen Stellen möglicherweise gar nicht (mehr) nachvollzogen werden kann. Andererseits, weil wir so mitunter auch erst auf einige der Fragen aufmerksam werden, auf die der Autor der Grundlegung eine Antwort liefern wollte oder musste (s. u. Kap. IV). Dagegen ist es für den Zweck einer Rekonstruktion des Gedankenganges nicht dienlich, in größerem Maße ‚Einflussforschung‘ zu betreiben, d. h. irgendwelche Vorläufer bezüglich einzelner Lehrstücke auszumachen und zu benennen (was steht schon so – oder ähnlich – bei Cicero, bei Locke, bei Leibniz, bei Müller, bei Wolff, bei
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Prolog
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Crusius, bei Hume, bei Baumgarten oder bei wem auch immer?), denn (auch) bei Kant sind nur wenige einzelne Gedanken zu finden, für die man (wenn man nur lange genug suchte) am Ende gar keine Vorläufer anführen könnte: Kants Originalität (und sein Anspruch) besteht zumeist darin, einzelne in den ‚Ruinen‘ der dogmatischen Metaphysik herumliegende Bruchstücke gezielt aufzulesen (manche davon nach – mitunter jahrelanger – Erprobung wieder zurückzulegen, andere hingegen – bisweilen auch nur vorübergehend – weitgehend unbeachtet liegenzulassen) und sie auf neue Weise mit Neuem zusammenzufügen, wenn es ihm darum geht, seine eigenen Fragen (von denen er annimmt, dass sie auch seine Leser bewegen müssen) zu beantworten – und diese Fragen werden im Vordergrund stehen.
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I. Die Aufgabe einer Kantischen Moralphilosophie
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Aber verlangt ihr denn, daß ein Erkenntniß, welches alle Menschen angeht, den gemeinen Verstand übersteigen und euch nur von Philosophen entdeckt werden solle? (Kritik der reinen Vernunft, A 831)
Kants philosophische Gegner sind, wie schon erwähnt, keine ungenannten Moral-Skeptiker, es sind vielmehr die eudaimonistischen Moralisten seiner Zeit – und mit diesen dann auch gleich sämtliche Moralphilosophen von der Antike bis in seine Gegenwart: Denn Eudaimonisten, Glückseligkeitstheoretiker, waren sie nach Kants Überzeugung bisher allesamt (siehe 432.25ff. und 443.28ff.). Mit diesen seinen philosophischen Widersachern teilt Kant dabei unbefragt die Voraussetzung, dass die Menschen irgendeiner eigentümlichen sittlichen Verbindlichkeit unterstehen: Allein die Frage „woher [!] das moralische Gesetz verbinde“ (450.16) wurde und wird von ihnen falsch (bzw. gar nicht) beantwortet. Sind die Leserinnen bzw. Leser der folgenden Seiten bereit, diese grundsätzlichen Annahmen auch ohne vorherige Erörterung zu akzeptieren, dann können sie dieses erste Kapitel zunächst einmal getrost überspringen. Sie werden der Grundlegung nämlich bereits mit der angemessenen Erwartung begegnen, dass es dort ausschließlich um ein neues, unanfechtbareres Verständnis der – am Ende des 18. Jahrhunderts im Abendland gelebten, aber gleichwohl überzeitliche Geltung beanspruchenden – Sittlichkeit geht, indem man „eine bestimmte Formel derselben angibt und rechtfertigt“ (05:08). So können sie die Grundlegung von vornherein mit den Augen der von Kant anvisierten Rezipienten lesen: der kritischen Moralisten oder der reflektierenden Menschen (A 807), die (wie selbst „ärgste Bösewicht[er]“ und „Kinder von mittlerem Alter“, „von acht oder neun Jahren“; 410, 454; 08:286) zwar nicht infrage stellen wollen, dass es für uns Menschen so etwas wie eine sittliche Verpflichtung bzw. Verbindlichkeit gibt, die aber (immer noch) auf der Suche nach einem allgemeinen Prinzip dieser ‚unleugbaren‘ Verbindlichkeit und insbesondere nach deren Quellen (bzw. Ursprung) sind. Diese Suche hat allerdings nicht den Zweck, die sittlichen Forderungen als solche zu Vittorio Klostermann, 2019.
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I. Aufgabe einer Kritischen Moralphilosophie
begründen (weil man das nicht braucht) oder infrage zu stellen (weil man das nicht will), sie zielt vielmehr in erster Linie darauf, die Sittlichkeit gegen (metaphysische) Einwände zu immunisieren, um ihr damit „Dauerhaftigkeit“ (405) zu verleihen. Das aufgefundene allgemeine Prinzip wird es dabei allerdings ermöglichen, die einzelnen sittlichen Forderungen ihrerseits nun genauer zu benennen 12 – und die Einsicht in die Quellen lässt uns verstehen, warum eigentlich die Menschen sittlichem Handeln immer schon einen so hohen, unbedingten Wert zuschreiben. In diesem ersten Kapitel wird es demnach nur darum gehen, dass der kritische Kant einen moralischen Skeptizismus (im Sinne einer grundsätzlichen Infragestellung sittlicher Forderungen) niemals als eine selbständige philosophische Herausforderung angesehen hat (Kap. I.1), und dass es zudem (Kap. II.2) vor, während und nach der Zeit der Abfassung der Grundlegung für die Kritische Philosophie geradezu ein Desaster gewesen wäre, hätte sich herausgestellt, dass es einen spekulativen Beweis der Verbindlichkeit bzw. Geltung (oder gar eine transzendentale Deduktion) des Sittengesetzes13 gibt – denn damit wäre das Projekt einer kritischen Metaphysik obsolet.14
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(1) Die Unleugbarkeit der sittlichen Verpflichtung (a) Kritik der praktischen Vernunft (1787/88) und später Wer von Kant auch sonst nicht vieles kennt: Neben „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit“ (08:35) gehört zumeist auch ein Zitat aus dem Beschluss der Kritik der praktischen Vernunft zum rudimentären Zitatenschatz: Zwei Dinge erfüllen das Gemüth mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir.
Ein so ‚hoher Ton‘ (‚Gemütserfüllung‘) würde heutzutage selbst in verzopften Festreden die Grenze des Angemessenen überschreiten, doch der Text geht dankenswerterweise etwas anders weiter – und da wird er sogleich philosophisch bedeutsam: Beide [!] darf ich nicht als in Dunkelheiten verhüllt, oder im Überschwenglichen, außer meinem Gesichtskreise suchen und blos vermuthen; ich sehe
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(1) Die Unleugbarkeit der Verpflichtung
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sie vor mir und verknüpfe sie unmittelbar [!] mit dem Bewußtsein meiner Existenz. (05:161f.)
Fassen wir es etwas weniger pathetisch: Wenn ich am Morgen erwache, mir meiner Existenz bewusst werde, dann werde ich mir nicht weniger „unmittelbar“ dessen bewusst, dass ich das friedlich neben mir schlummernde menschliche Wesen nicht erschlagen soll, als ich mir meiner körperlichen Anwesenheit in dessen Nähe bewusst werde. Stellen sich Bewunderung und Ehrfurcht nicht unmittelbar ein, dann werde ich mich vermittels eines philosophischen Arguments – so Kants Annahme – genauso wenig davon überzeugen können, dass ich ein sittliches Wesen bin, wie davon, dass ich einen Platz im unermesslichen Raum einnehme. Das (erhebende) Bewusstsein der moralischen Verpflichtung ist, nicht weniger als das (demütigende) der marginalen räumlichen Existenz, eine „unmittelbar[e]“ Gegebenheit, ein Faktum im menschlichen Leben, das weder einer diskursiven Begründung fähig ist, noch den geringsten Zweifel zulässt – wenn es denn einmal geweckt wurde und sich somit eingestellt hat: Für Kant ist es das, was den Menschen als Menschen ausmacht: Der sittliche Grundsatz
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bedarf keines Suchens und keiner Erfindung; er ist längst in aller Menschen Vernunft und ihrem Wesen einverleibt [!]. (05:105)
Daher rührt unter anderem Kants unverhohlene Geringschätzung der alttestamentarischen Figur des Abraham: Diesem fehlte nicht allein jene Festigkeit im Bewusstsein des moralischen Gesetzes, welche es einem ‚gemeinen Mann‘, davon war Kant zutiefst überzeugt, von vorneherein unmöglich gemacht hätte, auch nur für einen Augenblick in Erwägung zu ziehen, sein „arme[s] Kind“ (07:64 Fn.) erst „wie ein Schaf zu schlachten“ (06:187) und anschließend dann zu verbrennen. Abraham war zudem hochmütig genug, sich einzubilden, er selbst könne sich hinreichend dessen gewiss sein, dass ausgerechnet ihm von einem Gott dergleichen Ungeheuerlichkeit abverlangt werde – anstatt den unglaublichen ‚Anruf‘ einfach als irgendeinen wirren Traum (oder als einen noch undurchschauten, bösen Streich) abzutun: Abraham hätte auf diese vermeinte [!] göttliche Stimme antworten müssen: »Daß ich meinen guten Sohn nicht tödten solle, ist [!] ganz gewiß; daß aber du, der du mir erscheinst, Gott sei, davon bin ich nicht gewiß und kann [!]
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es auch nicht werden«,15 wenn sie auch vom (sichtbaren) Himmel herabschallte. (07:63)
Sittliche Verpflichtung ist für Kant eine unhintergehbare (weil „unmittelbare“, s. o.) Gegebenheit im Leben der Menschen, sie ist, wenn wir denn unser eigenes Handeln reflektieren, am Ende so „unleugbar“ (05:32) wie unsere Anwesenheit im Raum (s. o.), ein „unwidersprechlicher, und zwar objectiver Grundsatz“ (05:105), der uns entgegentritt und alle anderen Überzeugungen überrennt – auch wenn wir ihn aufgrund von eigennützigen Neigungen und anlässlich trügerischer Mutmaßungen übertreten können: Verpflichtung ist im moralischen Gesetze a priori gleichsam durch ein Factum gegeben [!]; denn so kann man eine Willensbestimmung nennen, die unvermeidlich ist, ob sie gleich nicht auf empirischen Principien beruht. (05:55)
Dieses „Factum“ geht damit vor allem Vernünfteln über seine Möglichkeit und allen Folgerungen, die daraus zu ziehen sein möchten, vorher […] (05:91),
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und folglich kann die objective Realität des moralischen Gesetzes durch keine Deduction, durch alle Anstrengung der theoretischen, speculativen oder empirisch unterstützten Vernunft […] bewiesen werden, und steht dennoch für sich selbst fest. (05:47; Herv. B. L.)
Kurz: Diese Rechtfertigung [!] der moralischen Principien als Grundsätze einer reinen Vernunft konnte […] gar wohl und mit gnugsamer Sicherheit durch bloße Berufung [!] auf das Urtheil des gemeinen Menschenverstandes geführt werden (05:91),
denn das ‚gemeine‘ Bewusstsein erfährt die Nötigung durch die „moralischen Prinzipien“ unmittelbar in einem Gefühl der „Achtung“. Dieses Gefühl kann von ‚jedermann‘ leicht von dem der Nötigung durch Neigungen unterschieden werden (05:92f. – ein Thema, mit welchem bereits die Grundlegung ihre Analyse des Pflichtbegriffs eröffnet hatte; s. u.): Das vorher genannte Factum ist unleugbar. Man darf [lies: braucht] nur das Urtheil zergliedern, welches die Menschen über die Gesetzmäßigkeit ihrer Handlungen fällen […]. (05:32)
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(1) Die Unleugbarkeit der Verpflichtung
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Hätte Abraham dergleichen nur etwas „öfter und anhaltender“ (s. o.) getan, dann hätte am Ende auch Isaak einen Vater gehabt. (b) Kritik der reinen Vernunft (1781) und früher Mit Ausnahme der Rede von einer Nötigung durch die „Achtung“ sind alle bisher erwähnten Annahmen (vor allem die, dass das Bewusstsein sittlicher Nötigung so unleugbar wie unbegründbar ist) auch schon vor der Grundlegung bei Kant in den einschlägigen Kontexten geläufig, insbesondere in der Kritik der reinen Vernunft. Im dortigen Kanon der reinen Vernunft lesen wir (in der zweiten Hälfte des zweiten Satzes als eine Art Vor-Echo der zuletzt zitierten Passage aus der zweiten Kritik): Ich nehme an, daß es wirklich reine moralische Gesetze gebe, die […] in aller Absicht nothwendig seien. Diesen Satz kann ich mit Recht voraussetzen, nicht allein indem ich mich auf die Beweise der aufgeklärtesten Moralisten, sondern auf das sittliche Urtheil eines jeden Menschen berufe, wenn er sich ein dergleichen Gesetz deutlich denken will. (KrV A 807)
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Später heißt es, ich könne die Existenz Gottes allein deshalb nicht leugnen, weil dadurch meine sittliche[n] Grundsätze selbst umgestürzt werden würden, denen ich nicht entsagen kann, ohne in meinen eigenen Augen verabscheuungswürdig zu sein (A 828),
In demselben Kontext heißt es weiter: Das menschliche Gemüth nimmt (so wie ich glaube, daß es bei jedem vernünftigen Wesen nothwendig geschieht) ein natürliches Interesse an der Moralität, ob es gleich nicht ungetheilt und praktisch überwiegend ist. (A 830)
Wenn der Mensch auch mitunter moralwidrig handelt: Ein Bewusstsein moralischer Verbindlichkeit ist gleichsam Teil seiner Natur (selbst wenn es nicht immer offen zutage liegt und – darin z. B. dem Bewusstsein mathematischer Geltung in Platons Menon [82ff.] ähnlich – mitunter erst geweckt werden muss). An keiner Stelle verrät die Kritik der reinen Vernunft, dass es 1781 (noch) Bedarf für eine philosophische Begründung der Sittlichkeit, eine Rechtfertigung moralischer Forderungen, geben könnte (dass es gleichwohl weiterhin
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I. Aufgabe einer Kritischen Moralphilosophie
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‚pädagogisch‘ der moralistischen Ermunterung und Disziplinierung bedarf, steht auch für Kant selbstredend nie in Frage). Das ist auch nicht anders zu erwarten: Jeder moralische Skeptizismus, dem man (auch) philosophisch entgegentreten könnte, entspringt für Kant nämlich allein daraus, dass man Freiheit (d. h. die Zurechnungsfähigkeit) des Menschen und mit ihr die Sittlichkeit aufgrund irgendeiner metaphysischen Irrlehre in Frage stellt. Ein derartig motivierter Skeptizismus aber folgt naturgemäß der jeweiligen Lehre nach deren Widerlegung irgendwann von selbst ins Grab. Ihm ist also, wie es 1787 in der zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft dann heißt, durch die Kritik bereits „die Wurzel abgeschnitten“ (B XXIV), er wird nun gleichsam verdorren und ist einer weiteren philosophischen Zurückweisung daher weder bedürftig noch fähig: Nach einer kritischen Abweisung der „arroganten Ansprüche der Schulen“ auf spekulativdogmatische Einsichten über das Unbedingte sollte sich demnach, so Kants Überzeugung, die Sittlichkeit endgültig (wieder) als die praktische default-position (gleichsam als eine natürliche Vor-Einstellung) der Menschen, d. h. der „große[n] (für uns achtungswürdigste[n]) Menge“, zeigen (B XXIII). Und was für die Religion gilt, gilt demnach für die Sittlichkeit nicht weniger: Auch wenn Metaphysik nicht die Grundfeste der Religion sein kann, so müsse sie doch jederzeit als die Schutzwehr derselben stehen bleiben, [damit sie] die Verwüstungen abhält, welche eine gesetzlose speculative Vernunft sonst ganz unfehlbar in Moral sowohl als Religion anrichten würde. (A 849)
Dass „die oberste Regel aller Verbindlichkeit schlechterdings unerweislich sein müsse“ (02:299), steht für Kant ohnehin bereits Anfang der 1760er Jahre fest, d. h.: seit er der Sache nach über die Unterscheidung zwischen kategorisch- und hypothetisch-gebietenden Imperativen verfügte.16 Allerdings bedarf es noch einiger Umwege (u. a. über die Auseinandersetzung mit der moral-sense–Lehre der Schotten), bis er schließlich zu einer eigenen Lehre von der sittlichen Verpflichtung (d. h. zu einem angemessenen Begriff der Verbindlichkeit) kommt. In den 1770er Jahren lesen wir etwa: Die wichtigen Grundwahrheiten der moral und religion sind auf den natürlichen Gebrauch der Vernunft gegründet, welcher ein Gebrauch nach der analogie des empirischen Gebrauchs ist und bis an die Grenze der Welt a priori und posteriori reicht […].17
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(1) Die Unleugbarkeit der Verpflichtung
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Die Aufgabe der Philosophie in Hinblick auf die Moral ist und bleibt dabei durchweg wesentlich negativ, die einer „Abtreibung der Einwürfe derer, die tiefer in das Wesen der Dinge geschaut zu haben vorgeben“ (459), einer Zurückweisung sittlich ruinöser metaphysischer Doktrinen, denn
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wenn die Welt ohne Anfang und also auch ohne Urheber, unser Wille nicht frei und die Seele von gleicher Theilbarkeit und Verweslichkeit mit der Materie ist: so verlieren auch die moralischen Ideen und Grundsätze alle Gültigkeit und fallen mit den transscendentalen Ideen, welche ihre theoretische Stütze ausmachten. (A 469)18
Von einer nach der Destruktion aller dogmatischen Metaphysik durch die Kritik der reinen Vernunft noch verbleibenden, eigenständigen positiven Aufgabe der Metaphysik in Blick auf die Moral, d. h.: von dem Bedürfnis einer philosophischen Begründung von Moral oder Sittlichkeit (im Unterschied zu einer Grundlegung der MoralPhilosophie, d. h. der Metaphysik der Sitten) ist dagegen (auch) beim kritischen Kant an keiner Stelle die Rede. Wer könnte für Kant denn auch der Adressat einer solchen Art von ‚Moralbegründung‘ sein? Wer könnten jene Moralskeptiker oder philosophischen Amoralisten sein, denen er mit einer philosophischen ‚Rechtfertigung‘ der Forderungen der Sittlichkeit als solchen entgegentreten könnte, wollte oder gar müsste? Einer zumindest gehört definitiv nicht zu ihnen (und von anderen ist bei Kant allenfalls am Rande die Rede): David Hume, „vielleicht der geistreichste unter allen Sceptikern und ohne Widerrede der vorzüglichste in Ansehung des Einflusses“ (A 764), eröffnet seine Enquiry concerning the Principles of Morals von 1751 mit der Klarstellung, dass diejenigen, die die „reality of moral distinctions“ grundsätzlich leugnen, keine Adressaten seiner Erörterungen sind, weil man ihnen mit Argumenten ohnehin niemals beikommen kann. Er wird daher auf diese „men pertinaciously obstinate in their principles“ gar nicht eingehen, sondern sie einfach sich selbst überlassen (Sect. I.2; schon Aristoteles sah das im Grundsatz ähnlich: Nikomachische Ethik, Buch X, 1180a9f. oder Topik I.11, 105a3–7). Eine radikale Moral-Skepsis ginge daher selbst (oder: gerade!) dem Metaphysik-Skeptiker Hume entschieden zu weit. Lohnend sei, so stellt er sogleich fest, ausschließlich eine Beschäftigung mit der Frage, was denn die „general foundation“ dieser für das ei-
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gentlich menschliche Leben letztlich unverzichtbaren Unterscheidungen sei: „reason“ oder „sentiment“?19 Vermutlich ist es also kein Zufall, dass Hume und Kant (der mit der jüngeren schottischen Moral-Diskussion ja wohlvertraut war) beide ihre Untersuchung der Moral mit einer ganz ähnlichen Frage eröffnen: Was ist die Grundlage jener „Schätzung des ganzen Werts“ (397) bzw. jener „approbation“ des „merit“, die die Menschen den menschlichen Handlungen und Charakteren entgegenbringen können: einer solchen Wertschätzung, die nicht in einem vordergründigen Nutzen gründet, den man sich von den anderen verspricht, und die damit den „rank of human nature“ in Richtung „to the devine“ überschreitet (Sect. II.1 – Kant wird dabei allerdings lieber vom „Übersinnlichen“ als vom ‚Göttlichen‘ sprechen, s. u.)? – Auch wenn sie zur Beantwortung derselben Frage dann energisch in ganz unterschiedliche Richtungen aufbrechen: Moralisten sind sie beide.
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(c) Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785) Da die Grundlegung zwischen den beiden genannten Kritiken geradezu eingeklemmt ist, bedürfte es für die Annahme, dass Kant mit dieser Schrift zwischenzeitlich aber doch eine ‚Begründung der Moral‘, eine ‚Rechtfertigung der Forderungen der Sittlichkeit‘ o. Ä. liefern wollte, irgendeines belastbaren (textlichen oder biographischen) Hinweises: Denn Kant hätte dafür im fraglichen Zeitraum von 1781–1787 ja gleich zweimal seine grundsätzliche Haltung zur ‚Begründungsfrage‘ geändert haben müssen – und zudem noch in die jeweils genau entgegengesetzte Richtung. Auch wenn sich in den übrigen der auf uns gekommenen Zeugnisse keine Spur derartiger Richtungswechsel findet: Damit allein wären diese selbstverständlich noch nicht zwingend ausgeschlossen. Doch bereits ein gezielter Blick in die Grundlegung selbst klärt die Sachlage: Kants Behauptung, die „Richtigkeit“ seiner zentralen „Deduction“ in einer Sektion mit dem Titel: „Wie ist ein kategorischer Imperativ möglich?“ (dazu unten) werde dadurch bestätigt, dass selbst der „ärgste Bösewicht“ nicht etwa an seinen Pflichten zweifele, sondern vielmehr bedaure, ihnen nicht nachgekommen zu sein (454), lässt sich beim besten Willen nicht mit der Annahme vereinbaren, es sei Kant mit „dieser Deduction“ (zugleich erst- und letztmalig!) ausgerechnet um eine philosophische
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(1) Die Unleugbarkeit der Verpflichtung
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Zurückweisung irgendeines moralischen Skeptizismus gegangen: Der „ärgste Bösewicht“ ‚beweist‘ mit seiner Haltung ja nicht etwa die Richtigkeit, sondern vielmehr die gänzliche Gegenstandslosigkeit einer solchen Zurückweisung. Wenn die gemeinte „Deduction“ also überhaupt irgendetwas Bedeutsames zutage gefördert haben soll (was wir von Kants Deduktionen mit Recht erwarten), dann muss sie also allein um der für sie angeführten „Bestätigung“ willen etwas Anderes gerechtfertigt haben, als ausgerechnet den allseits unstrittigen Verbindlichkeitsanspruch sittlicher Forderungen gegenüber deren Adressaten (sc. ‚dass die moralischen Gesetze tatsächlich für die Menschen gelten‘ o. Ä). Was das ist und im Rahmen der Gesamtkonzeption auch sein muss, wird uns später im Detail beschäftigen. Doch wenn in der Grundlegung eine ‚Rechtfertigung des Sittengesetzes‘ vermutet wird, dann wird sie nächstliegenderweise (und so dann auch tatsächlich) in der vierten Sektion des Dritten Abschnitts unter dem Titel: „Wie ist ein kategorischer Imperativ möglich?“ gesucht. Und wenn sie dort nicht zu finden ist, dann wird man sie voraussichtlich nirgendwo im Text finden. Es wird in den folgenden Kapiteln zu zeigen sein, dass die Grundlegung selbst sich ganz vorzüglich erschließt – und auch mit den zwei sie umgebenden Kritiken auf einer Linie liegt – wenn man genau das annimmt. (2) Moralgesetz und metaphysica specialis seit 1781 Allein die bisherigen Befunde sollten bereits ausreichen, um uns die Überzeugung nahezubringen, dass der kritische Kant zu keiner Zeit über eine philosophische ‚Begründung der Moral‘ (die über eine Zurückweisung spekulativer Einwände hinausginge) nachgedacht hat. Es gibt aber sogar einen systematischen Grund dafür, dass er zumindest in dem hier interessierenden Zeitabschnitt, also nach der Veröffentlichung der Kritik der reinen Vernunft, eine solche definitiv auch gar nicht gewollt haben kann. Um das zu sehen, müssen wir uns kurz der philosophischen Religionslehre zuwenden, die Kant gegen Ende der Schrift, im Kanon der reinen Vernunft‘ (A 795ff.), vorgetragen hat. In einer Notiz, die die er dazu um 1783 in Reaktion auf die Göttinger Rezension der Kritik niedergeschrieben hat, heißt es: [D]ie Critik macht die Religion frey von der speculation[.] (23:59)
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Ein bedeutendes Resultat der Kritik war für Kant demnach, dass Seelenunsterblichkeit und Gottesexistenz, d. h. „die zwei Kardinalsätze unserer reinen Vernunft“ (A 742) und somit der Kernbestand einer philosophischen Religionslehre, sich nicht mittels theoretischer Spekulation beweisen lassen, sondern auf andere Weise gerechtfertigt werden müssen20 und können. Diese Aufgabe wird 1781 daher ausdrücklich in die praktische Philosophie verlagert, und dort – das wird für uns jetzt bedeutsam – mit Rückgriff auf das Bewusstsein des Sittengesetzes gelöst. Die negative Vorarbeit dafür hat Kant bereits zuvor, in der Dialektik der Kritik, geleistet. Das Hauptstück über den ‚Paralogismus‘ (in der rationalen Seelenlehre, A 341–405) lieferte dafür zum einen den Nachweis, dass man durch eine spekulative Psychologie
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über das, was die Seele bei Weltveränderungen [also insbesondere beim Tod des Menschen; B. L.] treffen könne, nicht im mindesten unterrichtet werde. (A 401)
Und im Kapitel „Kritik aller Theologie aus speculativen Prinzipien der Vernunft“ (A 631–642) hat Kant zum anderen gezeigt, dass sämtliche spekulativen Gottesbeweise „null und nichtig“ sind: Onto-, Kosmo- wie Physikotheologie sollten demnach endlich auf dem Müllhaufen der Metaphysikgeschichte entsorgt werden, weil die Gottesexistenz „auf diesem Wege […] nicht bewiesen, aber auch nicht widerlegt werden kann“ (A 642). Wenn die Kritik der reinen Vernunft darüber aber nicht zum philosophischen Manifest eines ‚skeptischen Atheismus‘ (der in der Gottesfrage unentschieden bleibt, vgl. 18:520: Refl. 6236) werden soll, bedarf es somit irgendeines anderen Gottesbeweises – und dafür bleibt bei Kant nun allein der moraltheologische übrig (welcher dann auch gleich die Seelenunsterblichkeit mitliefert): „Da es praktische Gesetze giebt, die schlechthin nothwendig sind (die moralische), so muß, wenn diese irgendein Dasein als die Bedingung der Möglichkeit ihrer verbindenden Kraft nothwendig voraussetzen, dieses Dasein postulirt werden, darum weil das Bedingte, von welchem der Schluß auf diese bestimmte Bedingung geht, selbst a priori als schlechterdings nothwendig erkannt wird. Wir werden künftig von den moralischen Gesetzen zeigen, daß sie das Dasein eines höchsten Wesens […] voraussetzen…“ (A 633f.)
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(2) Moralgesetz und metaphysica specialis
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Das ist ein Vorverweis (sc. “künftig“) aus der (Kritik der) Rationalen Theologie der Transzendentalen Dialektik in den Kanon der reinen Vernunft (welcher zwar noch in der Methodenlehre der Kritik der reinen Vernunft steht, aber ganz ausdrücklich nicht mehr zur spekulativen Transzendentalphilosophie gehört; A 801). Dort wird die letzte der drei berühmten Fragen beantwortet: Was kann ich wissen? [Kritik der reinen Vernunft], Was soll ich tun? [Metaphysik der Sitten], Was darf ich hoffen? [Religionsphilosophie; vgl. dazu 11:429].
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Die Antwort ist: Wenn es einen Gott gibt und die Seele unsterblich ist, dann dürfen diejenigen, die sich so verhalten, dass sie der Glückseligkeit würdig sind, „hoffen, ihrer teilhaftig zu werden“ (A 809). Warum aber darf der Mensch um der Hoffnung willen, d. h.: zumindest „in praktischer Absicht“ (A 828), voraussetzen, dass Gott existiert und die Seele unsterblich ist? Der Kanon liefert eine moraltheologische – und damit die geforderte nicht-spekulative – Antwort: „[D]ie Vernunft sieht sich genöthigt [beides] anzunehmen, oder die moralischen Gesetze als leere Hirngespinste anzusehen, weil der nothwendige Erfolg derselben, den dieselbe Vernunft mit ihnen verknüpft, ohne jene Voraussetzung wegfallen müßte. Daher auch jedermann die moralischen Gesetze als Gebote ansieht, welches sie aber nicht sein könnten, wenn sie nicht a priori angemessene Folgen mit ihrer Regel verknüpften und also Verheißungen und Drohungen bei sich führten.“ (A 811)
Hier wird es nun deutlich, dass Kant (spätestens!) mit der Kritik der reinen Vernunft (d. h.: mit seiner Zurückweisung aller spekulativen Gottesbeweise) den unabweisbaren Geltungsanspruch moralischer Gesetze, die Verbindlichkeit des Sittengesetzes (dessen Gebots-Charakter), als etwas Gegebenes (als ein datum oder factum) voraussetzen will und – vor allen Dingen – muss: Ohne eine solche Voraussetzung kann es 178121 keinen moraltheologischen Gottesbeweis geben – und die Kritik der reinen Vernunft würde mit ihrer Widerlegung aller spekulativen Gottesbeweise unweigerlich (tertium non datur) zur ‚Bibel der Agnostiker‘. Wäre nun aber das Bewusstsein der Verbindlichkeit der sittlichen Forderungen seinerseits nicht eine (allseits unbestrittene) Gegebenheit, ein datum, und bedürften somit die sittlichen Gesetze ihrerseits noch irgendeiner genuin philosophischen Rechtfertigung ihres Gebotscharakters (eines ‚Beweises‘ oder einer ‚Deduktion‘), dann müsste diese am Ende eine speculative22 sein – und damit wären dann auch die von ihr abhängigen moraltheologischen Vittorio Klostermann, 2019.
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Beweise für Gottesexistenz und Seelenunsterblichkeit 23 nicht mehr „frei von der speculation“: Die vermeintlich kritische metaphysica specialis wäre am Ende doch wieder dogmatisch – und damit nur eine weitere Stimme im ewigen Streit der Schulen um eine spekulative Erkenntnis des Unbedingten. Kurz: Eine ‚Deduktion des Sittengesetzes‘, mit der ein Nachweis von dessen Geltung (oder Verbindlichkeit) für die Menschen gelingt, wird von Kant aus gutem Grunde nirgendwo ins Auge gefasst – deren Gelingen wäre schließlich der Pyrrhussieg der kritischen Philosophie: Nicht eine Begründung der Sittlichkeit, sondern vielmehr eine bloße Aufklärung über dieselbe, über deren Prinzipien und über deren Quellen, kann seit 1781 auf der kantischen Agenda stehen.
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II. Die ‚Idee des Ganzen‘ Eine solche Idee des Ganzen - das Erste, worauf man bei einer Wissenschaft zu sehen und was man zu suchen hat, ist architektonisch… (09:93; vgl. 05:10, 09:72)
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(1) Eine Übersicht über das Projekt der Grundlegung Will man sich vorläufig darüber orientieren, was Kant mit der Grundlegung 1785 zu leisten verspricht, dann nimmt man zweckmäßigerweise zunächst einmal die nur schwer zu übersehende Botschaft ihrer VORREDE zur Kenntnis, dass in dieser Schrift (erstmals!) eine reine, d. h.: auf nicht-empirische Prinzipien gegründete, Philosophie der Moral entworfen werden soll. Ferner wird man von Kant am Ende dieser Vorrede (391f.) darauf hingewiesen, dass die Grundlegung zur Metaphysik der Sitten nur der erste Teil seines zunächst einmal24 zweiteiligen Publikationsprojekts ist, denn es soll „dereinst“ noch ein weiteres Werk folgen, die Metaphysik der Sitten, ein Buch, von dem wir wissen, dass Kant es eigentlich schon um 1769 vorlegen wollte und von dessen baldigem Erscheinen 1782 erneut die Rede war – das er aber aufgrund immer neu dazwischenkommender Publikationsprojekte dann doch erst 1797 zum Abschluss bringen wird.25 Allerdings führt Kant hier (391.16ff.) einen sachlichen Grund dafür an, dass diese beiden Werke durchaus auch separat erscheinen sollten: Die eigentliche Metaphysik der Sitten, welche dem „Gebrauch“ des jetzt in der Grundlegung zunächst zu entwickelnden allgemeinen Prinzips der Sittlichkeit gewidmet sein wird, könnte nämlich aufgrund ihres zu erwartenden größeren Grades der „Popularität“ und der „Leichtigkeit“ den Blick allzu rasch von der weniger zugänglichen „Aufsuchung und Festsetzung“ dieses Prinzips ablenken. Gleichermaßen wird durch eine solche Aufteilung in zwei Werke abgewendet, dass die Metaphysik der Sitten neben den grundsätzlich „faßlichern Lehren“ der „Anwendung“ dann „künftig“ auch „das Subtile“ der „Vorarbeitung der Grundlage“ enthalten muss26 – was manche der intendierten Leser einer philosophischen Sittenlehre unnötigerweise abschrecken könnte.
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II. Der Gedankengang der Grundlegung
Mit terminologischer Bezugnahme auf die u. a. durch Pappus von Alexandria (~300 n. Chr.) wirkungsvoll exponierte und in der Neuzeit gemeinhin als allgemeines Methodenideal angesehene geometrische Methodik verteilt Kant deshalb den „analytischen Weg“ vom praktischen Vernunft-Gebrauch hin zum Moral-Prinzip und den „synthetischen Weg“ von diesem Prinzip dann zurück zu dessen Gebrauch in der „Anwendung“ auf zwei Werke. Allerdings endet der analytische Weg der „Aufsuchung“ bzw. „Bestimmung“ eines neu aufgefundenen Prinzips der Moral naturgemäß nicht bei einem bereits als wahr anerkannten Satz (wie es bei einer mathematischen Analysis zumeist der Fall wäre). Deshalb bedarf es hier zunächst noch einer („subtilen“) „Festsetzung“ des Prinzips, bevor dann in der zweiten Schrift der („fasslichere“) synthetische Weg zurück von demselben zum konkreten Gebrauch angetreten werden kann. 27 Diese (zwischen der analytischen und der synthetischen Wegstrecke also eingeschobene) „Festsetzung“ gehört allemal noch mit zur „Vorarbeitung der Grundlage“ und besteht nun ihrerseits aus zwei Teilen: einer „Prüfung“ des Prinzips und einem Aufweis seiner „Quellen“. Über das gesamte Publikationsprojekt der kantischen Moralphilosophie erfahren wir also am Ende der Vorrede der Grundlegung, dass es (in der Planung von 1785) aus insgesamt vier Teilen bestehen wird, von denen nun die ersten drei bereits in den drei Abschnitten der Grundlegung selbst (welche „Vorarbeitung“ so ein „abzusonderndes [!] Geschäfte ausmacht“) vorgestellt werden sollen: Eine (1) analytische „Aufsuchung“ (392.03) des „obersten Prinzips“ der Moral „im gemeinen Erkenntnisse“, die anschließende (2) „Prüfung“ (392.19) der Tauglichkeit dieses (neu aufgedeckten) Prinzips für eine reine Sittenlehre und den (3) Aufweis der (programmgemäß: reinen) „Quellen“ (ebd.) desselben. Die (4) Anwendung des so gerechtfertigten Prinzips des „allgemein im Schwange gehenden Begriffs der Sittlichkeit“ (445) wird „zukünftig“ in einer separat erscheinenden und der Popularität dann fähig(er)en Metaphysik der Sitten auf synthetischem Wege erfolgen.28 Weil Kant weiter unten im Text, wo es dann um einen „synthetischen Gebrauch“ der reinen Vernunft geht, noch eine andere ‚synthetisch-analytisch‘-Unterscheidung ins Spiel bringt (die sich dann nicht auf Methoden bzw. Wege, sondern vielmehr auf einzelne Urteile bzw. Sätze bezieht29), sei an dieser Stelle noch einmal nachdrücklich darauf
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(1) Eine Übersicht und die ‚Idee des Ganzen‘
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hingewiesen, dass die hier in der Vorrede thematisierte Unterscheidung der zwei Wege für die Rechtfertigung einer Aufteilung des Stoffes der philosophischen Sittenlehre in zwei separat erscheinende Druckwerke herangezogen wird: Der als „synthetisch“ ausgewiesene (zweite) Weg, der Weg vom ‚festgesetzten‘ Prinzip „zurück“ zu dessen Anwendung, d. h. zum (mit „Leichtigkeit“ auszuübenden) ‚Gebrauch des Prinzips‘ im „gemeinen Erkenntnisse“, soll erst in der noch ausstehenden Metaphysik der Sitten beschritten werden: Er kann allein von daher unmöglich mit jenem („schwere Bemühung“ erfordernden, s. u.) ‚synthetischen Gebrauch der Vernunft‘ in Eins fallen, der uns bereits 1785 innerhalb der Grundlegung begegnet. Die genannte Aufsuchung des „obersten Prinzips der Moralität“ auf analytischem Wege im ERSTEN ABSCHNITT der Grundlegung nimmt ihren Ausgang bei dem unbedingten Wert, der im ‚gemeinen praktischen Vernunftgebrauch‘ einem guten Willen zugeschrieben wird. Nun spricht dieser Vernunftgebrauch allerdings auch einzelnen Handlungen, Maximen,30 Charakteren und Verhaltensweisen mitunter einen solchen unbedingten Wert zu: Dann nämlich, wenn die Handelnden etwas „nicht aus Neigung, sondern aus Pflicht“ tun (397f.). Kants Analyse ebendieses Pflichtbegriffs führt zu der Einsicht, dass einer Handlung ein sittlicher Wert genau dann zugesprochen wird, wenn aus Achtung für ein Gesetz gehandelt wird (400). Nach wenigen weiteren Schritten ist daraus bereits eine Formel des obersten Prinzips der ‚allgemein im Schwange gehenden‘ Moral entwickelt: ‚Handle so, dass du auch wollen kannst, dass die Maxime (deines Willens) ein allgemeines Gesetz werden solle!‘ Mit diesem Prinzip ist ein „Übergang von der gemeinen sittlichen Vernunfterkenntnis zur philosophischen“ (so der Titel des ersten Abschnitts) vollzogen. Da eine solche Gewinnung der Formel des Moralprinzips aus dem „gemeinen Gebrauche unserer [!] praktischen Vernunft“ allein jedoch (noch) nicht den in der Vorrede vorgetragenen „Reinheits“Anspruch der kantischen Moralphilosophie einlösen kann (und diese damit noch nicht vom Verdacht befreit ist, es am Ende doch bloß dem Moralempirismus der beispielgetriebenen Popularphilosophie gleichzutun, siehe 406ff.), wird im ZWEITEN ABSCHNITT eine zweite Herleitung derselben Formel, eine Herleitung nun aber nicht aus dem menschlichen Vernunftgebrauch, sondern aus dem praktischen
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II. Der Gedankengang der Grundlegung
Vernunftvermögen selbst, geboten (412ff.): Alle praktischen Sätze (d. h.: alle Sätze, die für vernünftige Wesen eine Nötigung ausdrücken können) lassen sich grundsätzlich einteilen in solche, die nur unter Voraussetzung eines Zwecks, kurz: hypothetisch, nötigen (etwa: ‚Man muss/soll üben, wenn man Pianist werden will.‘) und solche, die prima facie auch unabhängig von allen besonderen Zwecken, kurz: kategorisch, nötigen (etwa: ‚Man muss/soll seine Versprechen halten.‘). Die erste Art ‚praktischer Notwendigkeit‘ erfahren wir als Handelnde unmittelbar (wenn man etwa der ‚Nötigung zum Üben‘ nicht nachgibt, dann wird, wie man am Beispiel anderer lernen kann, aus der Pianisten-Karriere eben nichts!). Es ist jedoch nicht ohne weiteres einzusehen, ob auch die zweite Art von Nötigung, die kategorische, überhaupt möglich ist (oder ob nicht „alle [Imperative], die kategorisch scheinen, doch versteckter Weise hypothetisch sein mögen“). Von der kategorischen Nötigung wissen wir zunächst einmal nur, dass man sie ohne Widerspruch31 denken kann. Wenn man dies nun (gleichsam probeweise) tut, dann zeigt sich allerdings bereits, dass allein der Begriff eines solchen „kategorischen Imperativs“ eine „Formel desselben an die Hand“ gibt: Und diese, hier nun aus dem Vernunftvermögen selbst abgeleitete, Formel erweist sich als ebenjene, die zuvor im ersten Abschnitt schon auf analytischem Wege aus dem gemeinen menschlichen Vernunftgebrauch entwickelt wurde. – Beides zusammen garantiert allerdings noch nicht, dass kategorische Imperative überhaupt möglich (und nicht bloß: widerspruchsfrei denkbar) sind. Ohne einen diesbezüglichen Möglichkeits-Nachweis bliebe eine Morallehre kategorischer Gebote oder Verbote zunächst einmal nur ein „Gedankending“ oder „Hirngespinst“ (KrV A 292, 770ff.; 445 – heute würde man sie dann etwa als eine bloße ‚ad-hoc-Hypothese‘ zwecks Erklärung des gemeinen praktischen Vernunftgebrauchs bezeichnen – und zurückweisen). Es muss also zumindest gezeigt werden, wie eine kategorische Nötigung des Willens „gedacht werden kann“.32 Bevor der dritte Abschnitt diese „besondere und schwere Bemühung“ erfordernde Aufgabe dann in Angriff nimmt, wird die ‚neue Formel‘ zunächst noch (421ff.) dahingehend untersucht, ob aus ihr (voraussichtlich) auch „alle Imperativen der Pflicht“ gewonnen werden können, ob sie also überhaupt zu einem obersten Prinzip taugt, von dem man dann in der „künftig“ zu liefernden Sittenlehre „Gebrauch“ machen kann. Mit der positiven Antwort auf diese Frage ist die „Prüfung“ des neu ‚entwickelten‘ Prinzips (sowohl auf
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(1) Eine Übersicht und die ‚Idee des Ganzen‘
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Reinheit als auch auf hinreichende Allgemeinheit für die philosophische Sittenlehre) abgeschlossen und mit ihr auch ein „Übergang von der populären Moralphilosophie zur Metaphysik der Sitten“ eingeleitet – welche letztere andernorts „dereinst“ auf synthetischem Wege im Detail (und dabei auf ‚fasslichere‘ Weise) ausgearbeitet werden kann und soll. – Eine abschließende metaethische Reflexion (440ff.) weist die ‚Moralphilosophie der kategorischen Imperative‘ als eine Lehre von der „Autonomie“ (im Gegensatz zur „Heteronomie“) aus und leitet damit zum Thema des letzten Abschnitts über. In diesem DRITTEN ABSCHNITT muss nun noch die bislang ausdrücklich zurückgestellte Frage beantwortet werden, ob eine kategorische Nötigung überhaupt möglich ist, d. h.: wie eine solche gedacht werden kann, und wie33 damit ein kategorischer Imperativ möglich ist – und mit diesem dann auch eine reine Moral (im Sinne der Vorrede). Der dafür erforderte letzte „Übergang“ ist der „von der Metaphysik der Sitten zur Kritik der reinen praktischen Vernunft“.34 Dieser vollzieht sich mit einem – nur im Rahmen der kritischen Philosophie zu leistenden – Nachweis, dass sich der Mensch, als ein vernünftiges Sinnenwesen, als frei und so zugleich als Glied einer Verstandeswelt begreifen kann und muss: „Der Begriff der Freiheit ist der Schlüssel zur Erklärung der Autonomie des Willens“, denn einem freien Wesen kommt notwendig ein reiner (intelligibler) Wille zu, und (nur) mit einem solchen ist es dem vernünftigen Wesen möglich, sich, sofern es ein Wesen auch in der Sinnenwelt ist, als durch sich selbst genötigt zu denken. Und das Gesetz des Wirkens (der „Causalität“) eines solchen intelligibelen Willens (GMS III) kann seinen Ausdruck nur in genau derjenigen Formel finden – das ist nun deren dritte Herleitung –, die sich bereits zuvor als die eines „kategorischen Imperativs“ (in GMS II) und wiederum zuvor als die des „Princips“ der „moralischen Erkenntniß der gemeinen Menschenvernunft“ (in GMS I) gezeigt hatte. – Damit ist dieser gemeine Vernunftgebrauch nun endgültig vom Philosophen (403.27) über sich selbst „aufgeklärt“ (397 – und nicht etwa belehrt) worden. Andersherum: Jede absolute (bzw. unbedingte) Wertzuschreibung (die ihrerseits ja Anlass und Ausgangspunkt der gesamten Untersuchung bildete) gründet sich also darauf, dass der Mensch im werthaften Handeln aus Pflicht (GMS I) einem kategorischen Imperativ folgt (so GMS II) und damit seine Teilhabe am Übersinnlichen zum Ausdruck bringt (so GMS III): Die seit Platon
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II. Der Gedankengang der Grundlegung
stets im abendländischen Raume stehende (und zu Kants Zeiten kaum strittige) axiologische Unterordnung der Sinnenwelt unter eine Verstandeswelt (als dem Sitz der Ideen) wäre damit philosophisch als Ausdruck der menschlichen Freiheit eingeholt (vgl. dazu: A 314f., 327f.). Mit dieser Freilegung der Quellen ist Kants „Deduction des obersten Princips der Moralität“ abgeschlossen, und die Grundlegung hat damit die ihr in der Vorrede zugewiesene Aufgabe erfüllt – auch wenn sie mit dieser Deduktion ein „unbedingtes praktisches Gesetz […] seiner absoluten Nothwendigkeit nach nicht begreiflich [!] machen“ (463) konnte, sondern nur dessen „Unbegreiflichkeit“: Sie hat genanntes Prinzip programmgemäß bloß ‚aufgesucht und festgesetzt‘ (s. o.), d. h. – wie Kant selbst dann in der Kritik der praktischen Vernunft den philosophischen Ertrag seiner Grundlegung noch einmal auf den Begriff bringt – „nur eine neue Formel“ der Pflicht ‚angegeben‘ und dieselbe gegenüber den konkurrierenden Prinzipien des Eudaimonismus ‚gerechtfertigt‘: Man sollte dieses Verdienst „nicht für etwas Unbedeutendes und Entbehrliches halten“ (05:08).
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(2) Methodische Zwischenbemerkung Die im Bisherigen skizzierte „Idee des Ganzen“, die im Folgenden nun dazu dienen kann und soll, die einzelnen Lehrstücke zueinander ins Verhältnis zu setzen und damit auch den Stellenwert einzelner Argumente zu bestimmen, hat sich in mehreren Anläufen im Rahmen einer längeren Beschäftigung mit der Entwicklung (insbesondere der zwischen 1781 und 1787) von Kants Philosophie herausgebildet. Sie ist das Resultat einer immer wieder notwendig gewordenen35 Justierung der Perspektive und einer Abstreifung von gängig gewordenen Vor-Urteilen über vermeintliche Intentionen Kants, bis endlich eine solche Perspektive gewonnen wurde, die sich unter wiederholter Lektüre der Grundlegung (wie auch der anderen Schriften und Vorlesungen Kants aus genanntem Zeitraum) erst einmal als stabil erwiesen hat: Wenn man sich von ihr die Richtung weisen lässt, dann ist es möglich, durch den Text ‚durchzukommen‘, d. h.: ihn als eine kompetente Rede eines kompetenten Autors an kompetente Zeitgenossen zu begreifen, was uns dann auch in den Stand
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(2) Methodische Zwischenbemerkung
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setzt, ihn inhaltlich zu beurteilen. Das schließt selbstredend nicht ein, dass wir am Ende die Überzeugungen des Autors teilen. 36 Eine solche Idee, die einen jeden Zugang zum Text unausweichlich leitet, kann naturgemäß nicht vorab aus dem Text entwickelt oder gerechtfertigt werden, denn sie ist ja erst das Resultat von dessen umfassender Aneignung. Sie kann nur im Vorhinein anhand von einzelnen Hinweisen offengelegt werden (wie soeben geschehen) und ist genau dann gerechtfertigt, wenn bei einer Lektüre unter ihrer Leitung am Ende ‚alles an seinen natürlichen Platz fällt‘, die Grundlegung sich also als ein Buch zeigt, bei dem wir – im besten Falle – von der ersten bis zur letzten Seite nachvollziehen können, warum der Autor an welcher Stelle und in welcher Ausführlichkeit bestimmte Fragen thematisiert und warum er dabei dann jeweils zu bestimmten Antworten gelangt, kurz: Warum er den Text seinerzeit so verfasst hat, wie er nun vor uns liegt.37 Erst dann dürfen wir annehmen, dass wir über eine ‚Idee des Ganzen‘ verfügen, die der des Autors nahekommt – und dass wir demnach auch die einzelnen Sätze durchaus in seinem Sinn verstehen. Dass man viele dieser Sätze jeweils für sich genommen auch ‚ganz anders‘ lesen bzw. verstehen kann als im Folgenden vorgeschlagen, wird von den Leserinnen und Lesern ggf. durch die Tat bewiesen – ist aber ohnehin bloß eine hermeneutische Binsenwahrheit: Jeder Satz verliert seine (pragmatisch-hinreichende) Eindeutigkeit, wenn man ‚zu viel‘ Kontext abblendet. Mögliche Alternativen zu den im Folgenden jeweils ausgewählten lokalen ‚Deutungsmöglichkeiten‘ werden somit erst dann philosophisch bedeutsam, wenn sich auch mit ihnen eine konsistente und zugleich hinreichend kohärente Rekonstruktion nicht allein des unmittelbaren Kontextes, sondern auch des Textes insgesamt38 zumindest abzeichnet, in die sich diese andere Deutung dann fügen kann, d. h.: eine andere ‚Idee des Ganzen‘. Ohne eine solche Einbettung bleiben ‚lokale‘ Interpretationen zunächst einmal nur provisorische Resultate einer ‚freischwebenden Auslegungskunst‘, von denen jeweils noch nicht ausgemacht ist, ob sie uns am Ende den Gedanken des Autors39 tatsächlich näherbringen.40 Fraglos kann man z. B. unter der soeben erwähnten „Deduktion des obersten Princips der Moralität“ (aus Kants Resümee der Schrift) zunächst einmal auch eine solche ‚Deduktion‘ verstehen wollen, die nicht etwa (nur) gegenüber den kritischen Moralisten eine
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II. Der Gedankengang der Grundlegung
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neue Formel des Moralprinzips, sondern (darüber hinaus sogar) gegenüber philosophischen Moralkritikern die moralischen Forderungen als solche rechtfertigen soll. Die bisherige Literatur zur Grundlegung gibt uns allerdings wenig Anlass zu der Hoffnung, dass man auf Grundlage der zweitgenannten Interpretationshypothese (die H. J. Paton vor gut siebzig Jahren wirkungsmächtig eingeführt hat) jemals Licht in den Text als Ganzen bringen wird. Dass die erstgenannte (deflationäre) Interpretation und mit ihr die oben dargelegte ‚Idee des Ganzen‘ sich nicht nur im nächsten Kapitel bei der Erschließung des Textes der Grundlegung bewähren kann, sondern auch und gerade dann, wenn man die Stellung und die Bedeutung dieser Schrift im dynamischen Kontext von Kants Publikationen zur Kritischen Philosophie erfassen will, soll in den Kapiteln IV und V dann angedeutet werden (Ausführlicheres dazu in Ludwig 2017 und Ludwig 2019).
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III. Kommentare zum Text der Grundlegung Es wird im Folgenden nicht darum gehen können, die vielen in der Literatur bereits herausgearbeiteten Details, sofern sie für ein gründliches Textverständnis hilfreich sind, hier noch einmal zu diskutieren und in diesem Sinne einen Stellenkommentar erster und zweiter Stufe zu liefern.41 Auch wird keine umfassende Exposition der gesamten Kantischen Moralphilosophie mit ihren zahllosen Einzelproblemen versucht. Beides würde den Blick von der hier anstehenden Aufgabe ablenken: Die Zielrichtung und den Gang der Argumentation der Grundlegung in den grundsätzlichen Zügen nach- bzw. vorzuzeichnen (‚Welche philosophische Entscheidung wird von Kant 1785 an welcher Stelle und mit welchen Gründen getroffen?‘). Dabei wird es den Leserinnen und Lesern zugemutet, an manchen Stellen mit knappen Hinweisen auf die Grundgedanken auszukommen und die einzelnen Schritte dann anhand des Kantischen Textes selbst auszufüllen. Die dahinterstehende Überzeugung ist, dass die Grundlegung am Ende eine solche schriftstellerische Qualität zeigt, dass im Wesentlichen eine beschränkte Zahl flankierender und orientierender Hinweise genügt, um sie (auch) für uns Nachgeborene aufzuschließen. Die Kommentierungsdichte wird dementsprechend auch recht unterschiedlich ausfallen, denn Kants Text ist nicht durchweg schwer verständlich (und an manchen Stellen wird er es erst dann, wenn man bereits zuvor etwas für uns zunächst schwer Verständliches falsch verstanden hat). Die eigentliche Argumentation findet sich ja ohnehin bereits im Kantischen Text selbst und soll hier nur freigelegt und ggf. ergänzt, nicht aber noch einmal ‚verdoppelt‘ – oder gar ‚verbessert‘ – werden: Ein ‚Wir haben gesehen, dass…‘ o. ä. verweist also nicht etwa auf die vorausgehenden Erörterungen selbst zurück, sondern soll nur den dort herausgearbeiteten Anspruch der gerade thematischen Grundlegungs-Passage zum Ausdruck bringen. Es kann also in der Regel auch nicht ohne Blick in Kants Text nachvollzogen (und erst dann hinsichtlich Angemessenheit der relevanten Voraussetzungen, Gültigkeit der Folgerungen &c. im Detail beurteilt) werden. Insbesondere im dritten Abschnitt kann an einzelnen Stellen ohnehin nur die Struktur der Argumentation aufgewiesen werden, denn einerseits werden dort Lehrstücke der Kritik der reinen Vernunft vorausgesetzt, und andererseits bedürfte es sogar darüber Vittorio Klostermann, 2019.
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III. Kommentare zum Text
hinaus (wie Kant ja selbst in der Vorrede betont) noch einer Kritik der reinen praktischen Vernunft, um letzte Fragen der Einheit von theoretischer und praktischer Vernunft beantworten zu können: Ein Kommentar zur Grundlegung kann aber nicht zugleich einer zu Kants ersten beiden Kritiken sein (wenn nicht einmal klar ist, ob die zweite Kritik von 1787/88 tatsächlich noch die 1785 antizipierte ist; s. o. Anm. 24). In eckigen Klammern werden die Absätze (von der Vorrede und von den drei Abschnitten jeweils separat) durchnummeriert.42 Die (um der besseren Lesbarkeit des Textes willen) nicht eigens mit Band, Seite (und ggf. Zeile) der Akademie-Ausgabe nachgewiesenen Zitationen (in „ “) stammen stets aus dem jeweils behandelten Absatz; Seitenzahlen zwischen 385 und 463 ohne Band-Angabe beziehen sich auf die Grundlegung.
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(0) Zur Vorrede [1-3] Kant greift zum Zwecke einer Lokalisierung der Grundlegung im Gebiet der Philosophie zunächst jene Dreiteilung in Logik, Physik und Ethik auf, die die „Alten“, d. h. für Kant, der seinerzeit durch die Cicerosche Brille auf die Antike blickt: die hellenistischen Schulen,43 eingeführt haben. Die Vollständigkeit dieser Einteilung sowie einige weiterführende Differenzierungen will er durch eine systematische Rekonstruktion ableiten: Zunächst wird die Dichotomie von formal und material herangezogen, um die Logik (als formale) von den beiden übrigen (den materialen) Disziplinen der „Vernunfterkenntnis“ abzugrenzen. Sodann werden Physik und Ethik ihrerseits voneinander anhand der Gesetze, denen die jeweiligen Materien (d. h. die Gegenstände der Wissenschaften) unterworfen sind, unterschieden. Während der Begriff eines ‚Gesetzes der Natur‘ hier als eher unproblematischer Grundbegriff der neuzeitlichen Naturlehre 44 gelten kann, ist Kants Begriff eines ‚Gesetzes der Freiheit‘ eine Innovation: In den Kompendien der Schulphilosophie kommt er m. W. nicht vor (zumindest nicht an prominenten Stellen) – und selbst der Kritik der reinen Vernunft ist er 1781 noch fremd (was später für uns bedeutsam werden wird). Wie sich (erst) unten im dritten Abschnitt (wo die Freiheit dann zum Thema wird) zeigt, ist Freiheit (seit 1785)45 für
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Zur Vorrede
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Kant nämlich eine eigene, besondere „Causalität nach unwandelbaren Gesetzen“. Die „Gesetze der Freiheit“ sind seitdem demnach Gesetze, nach denen sich ein Reich der Freiheit (speziell des menschlichen Willens, 387.24) in analoger Weise charakterisieren lässt wie das Reich der Natur nach den „Gesetzen der Natur“.46 [4-5] Natur- und Freiheitslehre, d. h. Physik und Ethik, können nun jeweils einen empirischen und einen reinen (d. h.: in seinen Geltungsansprüchen von besonderen Erfahrungstatsachen unabhängigen) Teil beinhalten. Kant bezeichnet die beiden reinen Teile hier als eine Metaphysik der Natur resp. eine Metaphysik der Sitten.47 Die letztere ist die Morallehre im engeren Sinne, und dieser steht eine Praktische Anthropologie (als empirischer Teil der Ethik48) gegenüber, die nicht Gegenstand der Grundlegung ist und die die Voraussetzungen des Handelns von Menschen im Besonderen beleuchtet (im Unterschied zu jenen Voraussetzungen, die von ihnen bereits als vernünftigen Wesen – genauer: vernünftigen Sinnenwesen, s. u. – im Allgemeinen gelten).49 [6-9] Anders als in den ‚Gewerben, Handwerken und Künsten‘, ist die separate Behandlung der beiden unterschiedlichen ‚Teile‘ im Falle der Ethik nicht vornehmlich den pragmatischen Gesichtspunkten intellektueller Arbeitsteilung geschuldet. Vielmehr verdankt sie sich der Notwendigkeit, die moralischen Gesetze in ihrem (rationalen) Geltungsanspruch unabhängig von anthropologischen Gegebenheiten darzustellen, weil die letzteren möglicherweise auch zu „allerlei Verderbnis“ der Sitten beitragen können.50 Es gilt demnach, die „Quellen der a priori in unserer Vernunft liegenden praktischen Grundsätze zu erforschen“ und dabei alle anthropologischen Fragen abzusondern. [10] Der „berühmte [Christian] Wolff“ machte sich bereits in der „Propädeutik“ seiner einflussreichen Moralphilosophie 51 des Vergehens einer diesbezüglichen Vermengung schuldig. Statt einer strikten Scheidung der empirischen von den reinen Bewegungsgründen menschlichen Handelns, wobei die letzteren nur in einer separaten Untersuchung der Prinzipien eines „besonderen“, eines „reinen Willens“52 zutage gefördert werden können, vermischte er die zwei wohlunterschiedenen „Quellen“ möglicher Handlungsgrundsätze.53 Damit kennt er nur noch gleichartige Bewegungsgründe des „Wollen[s] überhaupt“, die dann allesamt „nach der größeren oder kleineren Summe derselben“ untereinander abgewogen werden können
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III. Kommentare zum Text
und müssen. In C. C. Mrongovius’ Nachschrift von Kants Moralphilosophie-Vorlesung aus dem Winterhalbjahr 1784/85 heißt es dazu: Es ist Wolff (und seinem Schüler Baumgarten) „einerlei, ob die Bewegungs Gründe aus Neigungen oder aus Vernunft sind“ (29:598). Im Vorgriff kann man auch sagen: In der (seinerzeit dominierenden) Wolffschen Schule bestehen Kant zufolge Klugheit und Sittlichkeit des Handelns beide gleichermaßen in einer angemessenen Verrechnung sämtlicher möglichen Bestimmungsgründe des Handelnden (womit „die Bewegursachen zur Tugend mit denen zum Laster in eine Classe“ gestellt werden, ebd.). Kant hingegen besteht bereits an dieser Stelle darauf, dass es eine besondere Art von Bestimmungsgründen geben muss, die unabhängig vom Vorhandensein der kontingenten, d. h. nur empirisch zu erkennenden (sinnlichen) Neigungen sind und demnach einer besonderen „Quelle“, einer reinen Vernunft, entspringen: die eigentlich moralischen Bestimmungsgründe. Mit ihnen geht auch das einher, was gemeinhin „Verbindlichkeit“ genannt wird – von der insbesondere Wolff folglich gar keinen angemessenen Begriff haben kann. Diese Beweggründe stehen nicht in einem Kontinuum mit den anderen, sondern oftmals sogar in direkter Konkurrenz zu diesen; und weil nur sie allein (wie sich zeigen soll) den Handlungen der Menschen einen unbedingten Wert verleihen können, verdienen sie es dann auch, alle anderen zu übertrumpfen. Zum Abschluss der Vorrede erklärt Kant, warum nach der „schon gelieferte[n] Kritik der reinen speculativen Vernunft“ nun statt einer (möglicherweise erwarteten) Kritik der reinen praktischen Vernunft erst einmal nur die Grundlegung erscheint [11], skizziert dann [12-13] sein Gesamtprojekt der „sittlichen Untersuchung“ in zwei separaten Werken und stellt schließlich [14] den sich daraus ergebenden dreigliedrigen Aufbau des folgenden Haupttextes vor. Diese letzten vier Absätze wurden bereits oben bei der Vorstellung einer „Idee des Ganzen“ erörtert, worauf hier nun zurückverwiesen werden kann.
(1) Zum ersten Abschnitt [1-3] Wenn man von jemandem sagt, es handle sich um einen guten Menschen, dann sagt man dies in der Regel nicht, um sie oder ihn
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Zum ersten Abschnitt
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damit in einer ganz bestimmten Hinsicht zu loben: als eine gute Fußballspielerin etwa oder einen guten Bäcker. Noch weniger wird man jemanden mit diesen Worten als einen guten Falschspieler oder gar als eine gute Auftragskillerin anpreisen wollen. Als ein ‚guter Mensch‘ gilt man nicht bereits (und nicht nur), weil man ‚zu irgendetwas gut‘ ist, zum Brötchenbacken etwa oder dazu, unliebsame Mitmenschen unauffällig aus dem Weg zu räumen. Die „gemeine sittliche Vernunfterkenntnis“, von der Kant im ersten Abschnitt ausgehen will (wir würden heute von den moralischen Intuitionen jener Menschen sprechen, die ihr Handeln im Austausch mit anderen reflektieren), kennt offensichtlich einen nicht-attributiven Gebrauch des Wortes ‚gut‘, der sich nicht in erwähnter Weise auf ein ‚tauglich für‘ o. ä. zurückführen lässt. Nimmt man diesen Sprachgebrauch ernst, dann wird man sich fragen müssen, was man denn meint, wenn man jemanden geradeheraus für gut hält, also nicht nur gut unter einem eingeschränkten Blickwinkel: gut als Torschützin, als Falschspieler oder als was sonst noch. 54 Kant beginnt seine Analyse dieses ‚gemeinen Sprachgebrauchs‘ mit einer klaren These:
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Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch außer 55 derselben zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als allein ein guter Wille.
Kant behauptet hier zweierlei (das erste freilich nur implicite): Für die „gemeine sittliche Vernunfterkenntnis“ ist die Rede von etwas, ‚was ohne Einschränkung gut ist‘ (1) nicht bedeutungslos (andernfalls wäre es schließlich witzlos, damit in die Untersuchung ebendieser „Vernunfterkenntnis“ einzusteigen56), doch ist (2) der einzige Gegenstand, auf den sie in vollem Umfange zutreffen könnte, „ein guter Wille“. Gerechtfertigt wird im anschließenden Text allein die zweite, Kants Untersuchung fokussierende, limitierende Teilbehauptung,57 und zwar damit, dass sämtliche von anderen Philosophen zuvor angebotenen Kandidaten für etwas, was man möglicherweise „ohne Einschränkung für gut“58 halten könnte, in Wahrheit nur „in mancher Absicht“ gut und wünschenswert sind: Die „Talente des Geistes“ und die „Eigenschaften des Temperaments“ (die dianoetischen und die ethischen Tugenden), die Mittel zum Glück und das Glück selbst, kurz: sämtliche Kandidaten der antiken Ethiker (Aristoteles, Stoa und Epikureer insbesondere)59 fallen damit aus: [2] Ihr Wert ist nicht
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III. Kommentare zum Text
„unbedingt[ ]“, sie haben60 einen Wert nur, wenn sie von Grundsätzen eines guten Willens getragen werden, setzen diesen also voraus und können ohne ihn sogar „böse“ werden: Klugheit, Mut und Erfolg von Bösewichtern – und Soldaten finsterer, feindlicher Mächte – sind dafür die traditionellen Standardbeispiele. [3] Und ein solcher guter Wille ist in seiner Güte oder seinem „Wert“ seinerseits nicht wiederum davon abhängig, dass er tatsächlich auch Gutes (im bedingten Sinne) bewirkt: Man denke heutzutage etwa an den Chirurgen, der sich nach reiflicher Überlegung, gründlicher Vorbereitung und Aufklärung des Patienten an eine riskante Operation wagt, die für diesen im Erfolgsfalle heilsam wäre, tatsächlich aber dessen Leben dann doch schneller beendet, als es die Krankheit erwartungsgemäß getan hätte: Bisweilen sind wir Menschen, wenn es um Lob und Wertschätzung geht, durchaus bereit, den ‚guten Willen für die Tat zu nehmen‘.61 [4-7] Unter dem „Gesichtspunkte“ einer (möglichen) natürlichen Zweckmäßigkeit der Vernunftausstattung des menschlichen Willens erscheint die soeben herausgearbeitete Hochschätzung des bloßen Willens (ohne dabei auf den jeweiligen Nutzen von dessen Wirkungen zu achten) allerdings merkwürdig. Sie könnte daher bei einigen Zeitgenossen im „Verdacht“ stehen, bloß eine „hochfliegende Phantasterei“ zu sein. Prima facie liegt nämlich die Annahme näher, diese Vernunftausstattung müsse (wenn überhaupt) im Dienste zweckrationaler Glücksbeförderung stehen: Mittels Vernunftgebrauchs kann ich erfahrungsgemäß angenehme und unangenehme Folgen möglicher Handlungen voraussehen und sie dann gegeneinander sowie gegenüber aktuellen Neigungen und Abneigungen abwägen, bevor ich tätig werde. Kant wendet zweierlei ein, um ein solches Argument auf dessen eigenem Boden62 zurückzuweisen: Zum einen ist, wenn man die Zweckmäßigkeit der Natur unterstellt, eine geeignete Instinktaustattung (wie bei den Tieren) mutmaßlich die bessere Wahl zur Sicherung dauerhafter Glückseligkeit. Zum anderen zeigt sich (hier schimmert u. a. Rousseaus Kulturkritik durch: vgl. 15:635), dass die „cultivierte Vernunft“, weit entfernt davon, die Menschen am Ende glücklicher zu machen, vielmehr deren Unzufriedenheit mitunter bis hin zur „Misologie“ befördert. Angesichts dessen lässt „es sich mit der Absicht der Natur gar wohl vereinigen“, dass es
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die wahre Bestimmung [der Vernunft sei], einen nicht in anderer Absicht [d. h.: für die Glückseligkeit] als Mittel, sondern an sich selbst guten Willen hervorzubringen.
[8] Nach dieser Zurückweisung eines möglichen ‚naturteleologischen Einwands‘ (weitere Einwände thematisiert Kant hier nicht) steht nunmehr fest, dass der
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Begriff eines an sich selbst hochzuschätzenden und ohne weitere Absicht guten Willens […] in der Schätzung des ganzen Werths unserer Handlungen immer obenan steht und die Bedingung alles übrigen ausmacht […].
Dieser Begriff wohnt somit „schon dem natürlichen gesunden Verstande bei“ (insofern dieser eben vom „absoluten“ bzw. „unbedingten Wert“ spricht; 394) und muss demnach nicht etwa „gelehrt als vielmehr nur aufgeklärt“ werden. Und dies soll nun auf dem (Um-) Weg63 einer Analyse des Pflichtbegriffs geschehen, „der den eines guten Willens, obzwar unter gewissen subjectiven Einschränkungen und Hindernissen enthält“. Pflicht ist jene Forderung oder Nötigung, der sich ein vernünftiges Wesen ausgesetzt sieht, falls sich bei ihm die ‚Wirkung‘ seines guten Willens (so vorhanden) nicht gleichsam ‚von selbst‘ einstellt: Auch wenn ich z. B. weiß (oder zumindest annehme), dass es Ausdruck meines guten Willens sein wird, wenn ich pünktlich zum 8:15-Uhr-Seminar aufbrechen werde, so hindert mich z. B. meine Müdigkeit zunächst noch daran, das Bett rechtzeitig zu verlassen – und ich sehe mich in diesem Moment mit der Pflicht konfrontiert, es zu tun. Wenn ich dieser nachkomme, dann lässt die erforderte Anstrengung meinen guten Willen (und dessen Wert) möglicherweise noch „heller hervorscheinen“, als es ohne das Hindernis der Fall gewesen wäre. – Genaugenommen ist erst an dieser Stelle, d. h.: mit der systematischen Indienstnahme des Begriffs der Pflicht (officium), endgültig entschieden, dass der „unbedingte“ bzw. „absolute Wert“ von dem bislang die Rede war, für Kant nur der sittliche bzw. moralische Wert sein kann (und nicht z. B. der ästhetische). [9-13] Bevor man sich den fünf nun folgenden Absätzen im Detail zuwendet, ist es gut zu wissen, dass sie eine ausgezeichnete Aussage enthalten: nämlich Kants ‚ersten Satz‘ über die Pflicht. Absatz 14 beginnt mit den Worten: „Der zweite Satz ist…“ und Absatz 15 mit: „Den dritten Satz als Folgerung aus beiden vorigen…“. Allerdings bezeichnet Kant im vorausgehenden Text keinen Satz ausdrücklich als seinen ‚ersten‘64. Wenn es aber irgendeine herausgehobene und für
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das Nachfolgende bedeutende Aussage in den fünf Absätzen geben soll, dann kann es schwerlich eine andere sein als die, dass (im Rahmen der gemeinen Vernunfterkenntnis) einer Handlung unbedingter Wert bzw. moralischer Gehalt (vgl. 397.36) nur dann zukommt, wenn sie „nicht aus Neigung, sondern aus Pflicht“ getan wird. Das nämlich behauptet Kant insgesamt vier Mal gleichlautend (mit jeweils ausführlicher Erläuterung anhand von Fallbeispielen): In Bezug auf Maximen (398.06), Handlungen (398.19 und 25), Charaktere (398.37) und Verhaltensweisen (399.26) – womit für ihn alle relevanten Arten der Gegenstände moralischer Wertschätzung abgedeckt sein dürften. Der argumentative Zusammenhang der ‚drei Sätze‘ wird zeigen, dass dies in der Tat Kants ‚erster Satz‘ ist – und dass ebendieser Satz sogar seine entscheidende moralphilosophische Weichenstellung markiert. Um zu dieser zu gelangen, wird [9] zunächst einmal klargestellt, dass (1) pflichtwidrigen Handlungen (etwa dem Bruch eines Versprechens) prinzipiell kein Wert zugeschrieben wird (hier und in der Folge ist nur vom unbedingten Wert in dem oben genannten Sinne die Rede) und diese daher nicht weiter betrachtet werden müssen. Alle übrigen, die pflichtgemäßen Handlungen, lassen sich ihrerseits einteilen in (2a) solche, zu denen man eine unmittelbare Neigung hat (z. B. einem geliebten Menschen irgendeine Freude machen), (2b) solche, die ohne unmittelbare Neigung, aber gleichwohl in „eigennütziger Absicht“ geschehen (z. B. einem Geschäftspartner gegenüber ehrlich handeln, um mit ihm auch langfristig im Geschäft zu bleiben) und (3) solche, die allein um der Pflicht willen – Kant nennt dies: „aus Pflicht“ – getan werden (z. B. ein gegebenes Versprechen einlösen, einfach weil man etwas versprochen hat – d. h.: ohne die Einlösung nun noch einmal davon abhängig zu machen, dass man von ihr etwa mehr eigenen Nutzen als Schaden erwartet). [10-12] An drei exemplarischen Pflichten: der zur Lebenserhaltung, der zur Wohltätigkeit und der zur Sicherung eigener Glückseligkeit wird gezeigt, dass den entsprechenden pflichtgemäßen Handlungen (bzw. den zugehörigen Maximen, Charakteren und Verhaltensweisen, s. o.) nur dann ein Wert zugesprochen wird, wenn sie unter die obige Rubrik (3) fallen, d. h.: wenn sie „nicht aus Neigung, sondern aus Pflicht“ getan werden: Der Lebenserhalt des Lebenslustigen und die Wohltätigkeit gegenüber jenen, für die man eine besondere Zuneigung empfindet, die also beide unter die Rubrik (2a)
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fallen, sowie die kluge Beförderung der eigenen Glückseligkeit, die unter (2b) fällt, sind keine Handlungsweisen, denen ein unbedingter Wert zugeschrieben wird. Ein solcher wird der Handlung erst zugeschrieben, wenn die die Pflichterfüllung befördernden Neigungen ausfallen – so Kants kontrafaktische Reflexion (398.02f. und 398.20ff.). Bei der Beförderung der eigenen Glückseligkeit (die ihrerseits allerdings nur in dem Maße eine eigenständige Pflicht ist, als man durch ihre Befolgung einer „Versuchung zu Übertretung der Pflichten“ vorbeugt) wird hingegen leicht übersehen, dass (399.10ff.) einzelne Neigungen oftmals gar nicht um genannter Pflicht willen hintangestellt werden, sondern nur, weil man „alle Neigungen zu einer Summe vereinigen“ will (es wird sich herausstellen, dass dieser Punkt für Kant als Klarstellung gegenüber den zeitgenössischen ‚eudaimonistischen‘ Konkurrenzpositionen dient). Alles in allem hat sich bis hier gezeigt, dass einer Handlung vom „natürlichen gesunden Verstande“ ein unbedingter Wert genau dann zugeschrieben wird, wenn sie „nicht aus Neigung, sondern aus Pflicht“ getan wird, d. h.: insofern ihr ausschlaggebender subjektiver Bestimmungsgrund keine Neigung ist. Das ist (wie sich gleich auch aus der Perspektive der beiden daraus ‚gefolgerten‘ Sätze bestätigen wird) der Inhalt des (nicht-nummerierten) ‚ersten Satzes‘. Welcher andere subjektive Bestimmungsgrund hernach bei einer Handlung aus Pflicht an die Stelle der Neigung treten muss, wird sich dann (erst) im ‚dritten Satz‘ zeigen. [14]65 Der ‚zweite Satz‘ soll – zumindest teilweise – „aus dem vorigen klar“ sein (400.06), und warum das dann so ist, können wir einer Bemerkung in 400.30 entnehmen: Nun soll eine Handlung aus Pflicht den Einfluß der Neigung und mit ihr jeden Gegenstand des Willens ganz absondern […]. (Herv. B. L.)
Der ‚zweite Satz‘ selbst behauptet, der Wert der Handlung hänge nicht von „der Wirklichkeit des Gegenstandes der Handlung ab, sondern bloß von dem Princip des Wollens“ (eine dritte Möglichkeit wird hier nicht erwogen). Der Gegenstand einer Handlung ist für Kant nämlich notwendig ein Gegenstand des Begehrens (warum sonst sollte man die Absicht haben, ihn handelnd zur „Wirklichkeit“ zu bringen?). Als ein solcher wird er daher stets nur „aus Neigung“ gewollt. Da die Neigung aber im ‚ersten Satz‘ bereits von der Pflicht ‚abgesondert‘ wurde (sc. „nicht aus Neigung, sondern aus Pflicht“), fällt
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„mit ihr“ (auch) jeder „Gegenstand des Willens“ aus und der Wert einer Handlung kann somit nur noch im „Prinzip des Wollens“ liegen66 – dieses Prinzip kann wiederum nur ein formales Gesetz sein, weil es ja von ‚jedem Gegenstand des Willens‘ abstrahieren muss: [15] Also bleibt nichts für den Willen übrig, was ihn bestimmen könne, als objectiv das Gesetz [so der ‚zweite Satz‘] und subjectiv reine Achtung [so der ‚erste Satz‘] für dieses praktische Gesetz.
Wenn das der Fall ist, dann ist bereits der „dritte[ ] Satz als Folgerung aus den ersten beiden“ gewonnen:
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Pflicht ist die Nothwendigkeit einer Handlung aus Achtung fürs Gesetz.
Warum Kant eine Pflicht als eine (praktische) „Nothwendigkeit einer Handlung“ bezeichnet, werden wir sogleich sehen. Zuvor ist zu klären, wie im Kontext des ‚dritten Satzes‘ die „Achtung“ (die im Text zuvor ja noch gar nicht erwähnt wurde) als ‚subjektiver‘ Bestimmungsgrund der Pflicht so unvermittelt ins Spiel gekommen ist. Offenkundig kann der ‚dritte Satz‘ ja nur dann eine „Folgerung aus den ersten beiden“ im erörterten Sinne sein, wenn dabei unausgesprochen vorausgesetzt wird, dass „aus Neigung“ und „aus Achtung“ für komplementäre Prädikatausdrücke (dazu 09:106f.) stehen: Wenn eine praktisch-notwendige Handlung nicht ‚aus Neigung‘ praktisch-notwendig ist, dann ist sie es ‚aus Achtung‘ (tertium non datur). Die obige Pflicht-Definition ließe sich demnach erläuternd ergänzen: ‚… und nicht etwa aus Neigung zu einem Gegenstand des Willens – wie alle übrigen praktischen Notwendigkeiten‘. Dass Kant hier wie selbstverständlich davon ausgeht, dass man aus „nicht aus Neigung“ unmittelbar „aus Achtung“ ‚folgern‘ kann, ist offensichtlich. Es wird aber auch sogleich nachvollziehbar, wenn man zur Kenntnis nimmt, dass er mit diesem Gegensatz bereits seit gut zwanzig Jahren in Schriften und Vorlesungen operiert,67 und zwar in einer Weise, die darauf schließen lässt, dass er sich mit seinen jeweiligen Adressaten einig glaubt: Lieben und Achten sind für die gemeine Vernunfterkenntnis demnach bekanntermaßen zwei wohlunterschiedene Arten der Wertschätzung, von denen die erste definitiv zur Sinnlichkeit gehört: Schätzen wir jemanden aus Neigung, so nennt man das „Liebe“, 68 schätzen wir sie oder ihn hingegen um der Persönlichkeit willen, so nennt man es „Achtung“ (die ihrerseits jede – sinnliche – Neigung
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überbieten kann und die folglich – tertium non datur – vernunftgeneriert sein muss). Und diese langerprobte Entgegensetzung wendet Kant (m. W. erstmals 1784/85) nicht mehr nur auf die Gründe der Wertschätzung an, sondern nun auch auf die subjektiven Bestimmungsgründe des Handelns.69 In einer umfangreichen Fußnote erörtert er die Unterschiede zwischen Achtung und Neigung und appelliert dabei an ein mit seinen Lesern geteiltes Vorverständnis (s. u.). Auch die (zweite) Frage, warum Kant Pflicht als (praktische) „Nothwendigkeit einer Handlung“ definiert, beantwortet sich fast von selbst, wenn man noch einmal kurz über den Text der Grundlegung hinausschaut: In der bereits erwähnten Mrongovius-Nachschrift von Kants Moralphilosophie-Vorlesung von 1784/85 heißt es:
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Baumgarten und Wolff sagen: Pflicht ist die Nothwendigkeit einer Handlung zufolge der größten und wichtigsten Bewegungs Gründe. – Nun ist ihnen einerlei [!], ob die Bewegungs Gründe aus Neigungen oder aus Vernunft sind. (29:598; vgl. 391.08ff.)
Derjenige Teil der Pflichtendefinition, welcher 1784ff. den philosophischen Sprengstoff liefern soll, ist also nicht etwa das genus proximum: Von Pflicht als „Nothwendigkeit einer Handlung“ reden, so Kant, auch Wolff und Baumgarten, denn eine solche (was auch sonst?) bezeichnet gleichsam den irreduziblen Bedeutungskern: Pflicht (officium) ist etwas Gesolltes, und „Sollen“ ist Ausdruck einer Nötigung, einer ‚praktischen Notwendigkeit‘ (vgl. dazu etwa 17:137 [=Baumgarten Metaphysica §§ 723f.]; zur Terminologie liefert Kant dann später noch Genaueres in 412f.). Innovativ an seiner Pflichtendefinition soll für Kant demnach ausschließlich die differentia specifica sein: „aus Achtung fürs Gesetz“. Und damit wird nun jene Kritik an der Wolffschen Schule explizit gemacht, die sich gegen Ende der Vorrede schon andeutete (s. o.): Die schulphilosophische ‚Gleichgültigkeit‘ (sc. „einerlei“) gegenüber der zwischenzeitlich etwa von David Hume aufgeworfenen (s. o. Kap. I.1.b) ‚Quellen‘-Frage, ob nämlich die moralischen Wert-Urteile der Sinnlichkeit (‚Neigung‘) oder der Vernunft (‚Achtung‘) entspringen (Hume: ‚sentiment‘ oder ‚reason‘), wird der Differenziertheit der ‚aufgeklärten‘ Wert-Zuschreibungen des „natürlichen gesunden Verstande[s]“ (397) ganz grundsätzlich nicht gerecht. Das war für Kant offensichtlich der entscheidende Grund dafür, dass „alle bisherige Bemühungen […] nie-
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III. Kommentare zum Text
mals Pflicht, sondern [immer nur; B. L.] Nothwendigkeit der Handlung aus einem gewissen Interesse70“ herausbekamen (432f.). Und demnach geschah es sicherlich auch nicht ganz unbedacht, dass er seinen Zeitgenossen die – für die meisten von ihnen sicherlich höchst erstaunliche, wenn nicht gar zunächst einmal Unverständnis auslösende – Grundeinsicht über das Verhältnis von Pflicht und Neigung gleich viermal exemplarisch vor Augen hielt – und darauf vertraute, dass er diese Botschaft dann nicht auch noch einmal expressis verbis als seinen ‚ersten Satz‘ über die Pflicht bezeichnen musste, um von ihnen verstanden zu werden. Neben einigen Wiederholungen fügt Absatz [16] ergänzend hinzu, dass der unbedingte Wert einer Handlung auch deshalb nicht aus deren glücksbefördernden Wirkungen hervorgehen kann, weil diese immer auch ohne Intervention eines Willens, d. h. durch bloße Naturursachen, hervorgebracht werden könnten. Ferner wird in der Anmerkung der Begriff der Achtung näher expliziert: Diese ist als ein vernunftgewirktes Gefühl eine „Wirkung“ des Gesetzes aufs Subjekt, nicht, wie eine sinnliche Neigung, die „Ursache“ eines Gesetzes (401.26f.). Mit dieser etwas seltsamen Formulierung ist gemeint (wie später noch deutlicher wird), dass Neigungen (Natur-)Gesetze gleichsam dazu ‚aufrufen‘ können, uns zu nötigen (vgl. ‚das Objekt gibt dem Willen das Gesetz‘, 441.08): Begehre ich etwas, so gibt meine Vernunft ggf. die praktische Regel dafür an, wie ich dem „Bedürfnis der Neigung“ abhelfen kann (siehe 413 Fn.). Begehre ich also z. B. den Apfel zu essen, der oben im Baum hängt, dann stellt sich damit für mich die Nötigung ein, eine Leiter zu holen, falls meine Vernunft aufzeigt, dass ich ohne eine solche nicht an den Apfel herankomme: Ohne mein Bedürfnis würde ich von der theoretischen Einsicht: ‚Ohne Leiter kein Apfel!‘ offenkundig zu gar nichts genötigt und sie wird daher nicht zu einem praktischen Gesetz (oder ‚Prinzip‘; dazu unten zu [II, 12]) für mich. Anders bei der Achtung: Ich erfahre z. B. die Nötigung, mein Versprechen zu halten, unmittelbar als die ‚Wirkung‘ der sittlichen Vorschrift ‚pacta sunt servanda‘, ohne dass noch irgendein (sinnliches) Begehren hinzukommen müsste (‚Ich hatte es Dir doch versprochen – war das nicht Grund genug es zu tun?‘ ist eine rhetorische Frage, deren Beantwortung etwa mit ‚Für Dich doch sicherlich nicht!‘ einer Kriegserklärung nahekommt). In diesem Sinne also ist die ‚Nötigung durch das sittliche
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Zum ersten Abschnitt
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Gesetz‘ nicht durch eine Neigung – und somit stattdessen durch die Vernunft allein – ‚verursacht‘. [17] Da bislang nur unspezifisch vom „Gesetz“ die Rede war, stellt sich jetzt (wenn man, wie Kant es offensichtlich tut, davon ausgeht, dass es nur eines gibt) die Frage nach einer besonderen Formel des Pflichtgesetzes, und diese ergibt sich für Kant unmittelbar aus dem Vorangegangenen, wenn man alle geforderten Abstraktionen vornimmt. Überträgt man die von Kant so hergeleitete Formel noch von der ersten (402.07f.) in die zweite Person (vgl. 403.21f.), dann lautet sie:
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Handle (nur) so, dass du auch wollen kannst, deine Maxime71 solle ein allgemeines Gesetz werden!
Um eine angemessene Vorstellung von der Gesamtarchitektur der Grundlegung zu gewinnen, ist es wichtig, sich an dieser Stelle zu vergegenwärtigen, dass diese Formel hier im ersten Abschnitt (noch) nicht als ‚kategorischer Imperativ‘ bezeichnet, gedeutet oder behandelt wird. Es soll nämlich erst im zweiten Abschnitt dann aufgezeigt werden, dass die hier im ersten zunächst einmal allein aus dem gemeinen praktischen Vernunftgebrauch der Menschen (wessen Gebrauch sonst?) entwickelte (neue) Gesetzesformel zugleich die einzig mögliche Formel aller reinen Pflichtgebote für ein jedes vernünftige (Sinnen-)Wesen ist (die sich dann als kategorischer Imperativ klassifizieren lässt). Und das geschieht dann im Sinne der Reinheitsforderung der Vorrede zwangsläufig auf gänzlich andere Weise: Mittels einer ‚Darstellung‘ (siehe 412.25) nämlich des Vernunftvermögens selbst. Denn allein damit kann die Bedeutung der ‚Formel der gemeinen Menschenvernunft‘ auch für alle vernünftigen (Sinnen-)Wesen aufgewiesen werden. Wenn Pflicht nicht „überall ein leerer Wahn und chimärischer Begriff sein soll“ und wenn Kants bisherige Analyse tatsächlich angemessen war, dann stimmt mit der gewonnenen Formel die gemeine Menschenvernunft in ihrer praktischen Beurtheilung auch vollkommen überein und hat das gedachte Princip jederzeit vor Augen.
Man muss dieses also nicht etwa „der Willkür anschwatzen“ (wie es später treffend heißt): Man muss die Menschen allenfalls darüber
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III. Kommentare zum Text
‚aufklären‘, wie sie eigentlich immer schon urteilen – und wäre das Moralgesetz „nicht in uns gegeben, wir würden es als ein solches durch keine Vernunft herausklügeln“ (06:26). [18] Bevor Kant endlich stolz verkünden kann, dass wir nun „in der moralischen Erkenntniß [!] der gemeinen Menschenvernunft bis zu ihrem [!] Princip gelangt“ sind (403.34f.), dass also der am Ende der Vorrede für den ersten Abschnitt angekündigte ‚analytische Weg‘ „von der gemeinen sittlichen Vernunfterkenntnis zur philosophischen [d. h. zur ‚Erkenntnis aus Prinzipien‘]“ vollständig abgeschritten ist, unterwirft er die neue Formel zunächst kurz noch einmal einer ersten praktischen Erprobung am Beispiel des Versprechens (dem Paradepferd der kantischen Pflichtenlehre): Darf ich ein solches mit dem Vorsatz geben, es selbst nicht einzuhalten? Zunächst wird erörtert (402.19–30), ob dies im Sinne der eigenen Glücksmaximierung klug sein kann – was wegen der Unwägbarkeiten des Weltlaufs letztendlich kaum abzuschätzen ist, zumindest liefert es kein objektives Entscheidungsverfahren für endliche Wesen. Dass der Bruch eines Versprechens nicht pflichtgemäß ist, lässt sich dagegen, wie Kant selbstbewusst feststellt, nach dem von ihm neu bestimmten Pflicht-„Princip“ „auf die allerkürzeste und doch untrügliche Art“ ermitteln (403.02–17): Unter der kontrafaktischen Annahme, dass meine Maxime (zugleich) ein allgemeines Gesetz ist, „würde es eigentlich gar kein Versprechen geben“, denn kein Gegenüber hätte je einen Grund sich auf dergleichen einzulassen. Auch mein Versprechen käme dann also gar nicht zustande, d. h.: meine Maxime würde sich unter solchen Umständen selbst zerstören – ich könnte dann gar nichts wollen. – Es ist hier nicht der Ort, die Anwendung der neuen Formel zu diskutieren (die Urteile über die praktische Brauchbarkeit der Formel sind notorisch kontrovers), wir werden aber später noch Anlass haben, zumindest einzelne Aspekte zu thematisieren. [19] Ein wichtiger Aspekt hat sich jedoch schon gezeigt: Anders als mit einer Prüfung der Klugheit einer Handlungsweise (die von deren unüberschaubaren Folgen abhängt), ist der Mensch mit der Prüfung ihrer Pflichtgemäßheit zumindest nicht bereits prinzipiell überfordert. – Allerdings ist bislang noch nicht klargeworden, warum eigentlich „meine Vernunft“ mir für die Übereinstimmung einer Handlung mit dem Moralprinzip eine „unmittelbare Achtung“ abzwingt: Worauf gründet sich jener unbedingte Wert, der für die ge-
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Zum ersten Abschnitt
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meine praktische Vernunft tatsächlich alle „durch Neigung angepriesenen [Werte] weit überwiegt“? Diese Frage nach dem inneren Zusammenhang von „Gesetz“ und „Wert“ bzw. „gutem Willen“ kann, wie Kant betont, nur ‚der Philosoph‘ beantworten – und er selbst wird als ein solcher im dritten Abschnitt dann aufzeigen, dass sich in dem (jetzt erstmals aufgedeckten) Prinzip der „gemeinen“ Moral die Teilhabe des Menschen an einer übersinnlichen Welt als dessen „eigentliches Selbst“ (461 u. ö.) und damit als der Ursprung allen unbedingten Wertes zeigt.72 [20] Wie bereits zuvor bei seiner Hinwendung zum Pflichtbegriff (in [8]) betont Kant erneut, dass das nunmehr gewonnene Moralprinzip sich durch eine Selbst-Aufklärung der „gemeine[n] Menschenvernunft“ in sokratischer Manier zeige, und dass man neben diesem „Compasse“73 keiner „Wissenschaft und Philosophie“ bedürfe, um „weise und tugendhaft zu sein“. Schon John Locke, den Kant als einen bedeutenden (allerdings auf Abwege geratenen) Vorläufer seiner eigenen Konzeption von Vernunftkritik begreift,74 hatte im Essay Concerning Human Understanding (1790) die Zuversicht geäußert, dass Gott den menschlichen Verstand für alle praktischen Zwecke hinreichend ausgestattet habe: „The Candle, that is set up in us, shines bright enough for all our Purposes […]“ (Introduction, § 5, gemeint sind die Erkenntnis des Schöpfers und aller Pflichten). Die Möglichkeit theoretischer Erkenntnis habe Gott jedoch in enge Grenzen eingeschlossen, denn: “[o]ur Businesse here is not to know all things, but those which concern our conduct“ (ebd. § 6). Wenn die theoretische Vernunft es dennoch wagt, über die Grenzen der sinnlichen Welt hinaus zum Unbedingten (etwa zum Anfang der Welt) vorzudringen, dann wird sie, Kant zufolge, „dialektisch“, d. h.: sie verwickelt sich notwendig in Widersprüche. Gerade wegen der diesbezüglichen Versuchungen läuft besonders der Philosoph, der bei der sittlichen Beurteilung des Handelns „doch kein anderes Princip als jener [sc. der gemeine Mann] haben […] kann“, stets Gefahr, es nicht „recht zu treffen“. [21-22] Gleichwohl wäre der generelle Verzicht auf philosophische Reflexion in der Sittenlehre auch keine Lösung. Es kann bei einer solchen Reflexion allerdings nicht darum gehen, von der „Wissenschaft“ die sittlichen Prinzipien „zu lernen“, sondern allein darum, der Vorschrift der „Weisheit“ (d. h. den sittlichen Geboten) „Eingang und Dauerhaftigkeit zu verschaffen“. Dies ist deshalb
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III. Kommentare zum Text
vonnöten, weil man demjenigen „Vernünfteln“ vorbeugen muss, das die „Gültigkeit […] Reinigkeit und Strenge“ der Pflichtgesetze im Interesse der Neigungen, d. h. praktisch, infrage zu stellen erlaubt. ‚Vernünfteln‘ ist der Standardausdruck, mit dem Kant in der Dialektik der Kritik der reinen Vernunft jene ‚Verfahrensweise‘ kennzeichnet, die zu den Fehlschlüssen der dogmatischen Metaphysik führt (siehe A 339f. u. ö.). Der Vorwurf in diesem Absatz geht also indirekt auch an die Adresse der Schulmetaphysik, die mit ihren überzogenen (und daher unweigerlich zum Scheitern verurteilten) Erkenntnisansprüchen bezüglich des ‚Unbedingten‘ womöglich denjenigen in die Hände spielt, die die Autorität moralischer Forderungen aus eigennützigen Motiven herabwürdigen wollen. Die dauerhafte Abwehr75 jener „natürlichen Dialektik“, welche „unvermerkt“ mit jeder ‚Kultivierung‘ der gemeinen Vernunft einhergeht,76 gelingt nur, indem man das Prinzip des „gesunden“ gemeinen Vernunftgebrauchs sowie die Quellen dieses Prinzips richtig bestimmt. Damit sind erneut (vgl. 392.20) die Aufgaben der beiden nachfolgenden Abschnitte benannt, welche nun der „Festsetzung“ der neu aufgefundenen Formel dienen sollen.
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(2) Zum zweiten Abschnitt Wie bereits oben in der Übersicht über die Schrift als Ganze (Kap. II.1) angedeutet, lässt sich dieser zweite Abschnitt in vier thematische Blöcke aufteilen: Eine Verteidigung des Rationalismus in der Moral mit einer Abgrenzung von der Popularphilosophie [1-10]. Die (reine) Lehre von den Imperativen und die Formel eines kategorischen Imperativs [11-29]. Die Prüfung dieser Formel (und drei zusätzlicher Lehr-Formeln) hinsichtlich ihrer Tauglichkeit für die Ableitung aller Pflichten im Rahmen einer „dereinst“ (391) zu liefernden Metaphysik der Sitten [30-67] – mit einer metaethischen Reflexion über Autonomie und Heteronomie [68ff.]. [1] Auch wenn Kant im ersten Abschnitt das Moralprinzip (genauer: eine neue Formel desselben) analytisch „aus dem gemeinen Gebrauche unserer praktischen Vernunft“ gezogen hat, so hat er sich damit nicht auf die „Erfahrung vom Thun und Lassen“ der Menschen eingelassen, sondern (s. o.) vielmehr ausschließlich auf die Natur der
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Zum zweiten Abschnitt
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Wert-Urteile, die Menschen über Handlungen und Charaktere (die eigenen und die anderer) fällen.77 Bei dieser Art der Untersuchung spielte es keine Rolle, ob es überhaupt sichere Beispiele für das Handeln „aus reiner Pflicht“ gibt. [2] Das ist insofern bedeutsam, als ja von keiner Handlung ausgeschlossen werden kann, dass sie in letzter Instanz nicht doch von Neigungen bestimmt ist, denn ein eigenständiges, positives Kriterium für eine „aus Pflicht“ vollzogene Handlung scheint es erst einmal nicht zu geben: Ein – jederzeit revidierbarer – negativer Ausgang der Suche nach ‚geheimen Antrieben der Selbstliebe‘ muss es notgedrungen ersetzen. Habe ich ein Versprechen eingelöst und bin davon überzeugt, dass ich dies um der Pflicht (das Versprochene zu tun) willen getan habe, weil es doch entgegen allen meinen unmittelbaren wie mittelbaren Neigungen geschah, so kann ich dabei aber stets nur jene Neigungen berücksichtigt haben, die ich mir bislang bewusst machen konnte: „Wer kann das Nichtsein einer Ursache durch Erfahrung beweisen, da diese nichts weiter lehrt, als daß wir jene nicht wahrnehmen?“ (419). Dass am Ende also dann vielleicht doch eine besondere Zuneigung zum Begünstigten oder die Furcht vor sozialer Ächtung (ebd.) den Ausschlag gegeben hat, bemerke ich möglicherweise erst, wenn ich später in vergleichbarer Situation anders handle.78 [3] Noch weniger als die eigenen könnten die Handlungen anderer verlässliche Beispiele „wahrer Tugend“, d. h. des Handelns aus Pflicht, in der Welt bieten: Wir müssen nur genau genug hinschauen, um auch bei den pflichtgemäßen Handlungen überall nur das „liebe Selbst“ am Werk zu sehen. Somit können grundsätzlich nicht die Handlungen als Ausgangspunkt für eine Bestimmung unserer „Idee der Pflicht“ dienen, sondern nur die „Vernunft für sich selbst“, und zwar „vor aller Erfahrung“, d. h.: bei unseren Urteilen über den unbedingten Wert (s. o. Abschnitt I). [4] Hinzukommt, dass, wenn der Anspruch der Moral sich auf „alle vernünftigen Wesen überhaupt“ (d. h.: auf Wesen, sofern sie vernünftig sind) beziehen und „schlechterdings nothwendig gelten“ soll (was für Kant ein Kennzeichen moralischer Forderungen ist), ein empirischer Ursprung des Pflichtbegriffs also ohnehin nicht infrage kommt. [5] Daher können auch vermeintliche Beispiele vorbildlicher Sittlichkeit (wie Jesus, „der Heilige des Evangelii“) nicht zur Gewinnung des Pflichtbegriffs herangezogen werden (sondern höchstens zur mora-
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lischen „Aufmunterung“ dienen), denn das Beispiel wird erst zu einem solchen, indem es den Vergleich mit „der Idee, die die Vernunft a priori von der sittlichen Vollkommenheit entwirft“, besteht. [6-8] Diese Kritik an der Popularphilosophie ist der Überrest (und auch die deutlichste Spur) einer Auseinandersetzung mit Christian Garve, dessen Cicero-Kommentar Kant 1783/84 studiert hat, und zu dem er ursprünglich eine „Antikritik“ veröffentlichen wollte (wozu es dann aber nicht kam).79 Auch wenn eine „populäre praktische Philosophie“ – wie die Garves – durchaus dem Bedarf des Publikums entspricht, so gilt es gleichwohl, die „Lehre der Sitten zuvor auf Metaphysik zu gründen“. Damit werden dann alle jene Versuche, Sittlichkeit auf die menschliche Natur, Vollkommenheit, Glückseligkeit, moralisches Gefühl oder Gottesfurcht 80 (bzw. deren mögliche Kombinationen) zurückzuführen, obsolet. [9] Die nähere Begründung dafür geht noch einmal über die am Ende des ersten Abschnitts thematisierte Überwindung der „Dialektik“ hinaus und ist höchst bemerkenswert (vor allem dann, wenn man zur Kontrastierung auch Kants einschlägige Äußerungen aus früheren Zeiten einbezieht): Die völlig isolierte Metaphysik der Sitten […] ist nicht allein ein unentbehrliches Substrat aller theoretischen, sicher bestimmten Erkenntnis der Pflichten, sondern zugleich ein Desiderat von der höchsten Wichtigkeit zur wirklichen Vollziehung ihrer Vorschriften. (Herv. B. L.)
Reine Vernunft liefert demnach nicht nur das (objektive) principium dijudicationis der Moral (und damit der „Erkenntnis“ dessen, was im gegebenen Falle Pflicht ist), sondern als eine „für sich selbst“ praktische, reine Vernunft liefert sie auch deren (subjektives) principium executionis – und kann damit „nach und nach“ Meisterin der Triebfedern „aus dem empirischen Felde“ werden. Die Unterscheidung zwischen Dijudikations- und Exekutionsprinzipien81 hatte Kant in seiner Auseinandersetzung u. a. mit der Moral-Sense-Philosophie herangezogen, um seinerzeit die Aufgabe der Vernunft (Pflichtenerkenntnis) von der der Sinnlichkeit (Willensbestimmung) unterscheiden zu können: Allein die Vernunft kann urteilen, und ein „moralisches Gefühl“ kann dazu hernach allenfalls eine Triebfeder liefern.82 Im zweiten Punkt hatten die Schotten für Kant im Grunde recht, den ersten hingegen hatten manche (insbesondere Francis Hutcheson,
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siehe 27:108, 340) definitiv nicht erfasst. Den Nachschriften der Moral-Vorlesung aus der Mitte der 1770er Jahre zufolge war Kant damals noch der Überzeugung, es bedürfte nichts Geringerem als eines „Steines der Weisen“, um das principium dijudicatonis in ein principium executionis zu verwandeln83 – kurz: Es galt ihm demnach als genauso unmöglich, die Vernunft selbst praktisch werden zu lassen, d. h. etwa ein Urteil unmittelbar zu einem Beweggrund zu machen, wie unedle Metalle in Gold zu verwandeln: ‚Bewegen‘ kann uns, so meinte Kant seinerzeit, grundsätzlich nur die Sinnlichkeit. In der Grundlegung erklärt er eine solche Transformation nun jedoch einfach für gegenstandslos: Das (objektive) principum dijudicationis der Moral ist gewissermaßen auch ein (subjektives) principium executionis der sittlichen Forderungen. Dieser neuen Auffassung liegt eine genauere Differenzierung zugrunde, deren Einschlägigkeit er zuvor (mit manchen der Schotten) außer Acht gelassen zu haben scheint: Dass die Vernunft84 grundsätzlich praktisch ist, also überhaupt eine Nötigung ausdrücken kann, wird letzten Endes von niemandem bestritten. Wir können unser Handeln nämlich offenkundig durch die Vorstellung zukünftiger Güter und Übel in Zusammenhang mit der Kenntnis einschlägiger Gesetzmäßigkeiten ihrer Erlangung bestimmen (z. B. schlucke ich jetzt die bittere Tablette, weil ich überzeugt bin, dass dadurch meine Kopfschmerzen später nachlassen werden) – und das ist definitiv nicht weniger eine Bestimmung durch Vernunft als durch die Sinnlichkeit:85 Diese Selbstverständlichkeit wurde und wird allerdings in der Debatte zeitweilig durch eine vermeintlich vollständige Alternative von ‚rein-vernünftiger‘ (sc. moralischer) Willensbestimmung – die es nicht geben soll – und bloß-sinnlicher Willensbestimmung – die es zugestandenermaßen geben soll – rhetorisch überspielt. Der Fokus muss (und wird) sich bis 1785 demnach von der Frage, ob uns die Vernunft überhaupt nötigen kann, zu der verschieben, ob die Vernunft uns ausschließlich dann nötigen kann, wenn sie im Dienste der Neigungen steht (bloß als „Sclave, der die Mittel herbei schaffen muss“, 29:901; vgl. „slave of the passions“, Hume, Treatise on Human Nature II;3,3), oder ob sie uns auch ‚unbedingt‘ („für sich selbst“) nötigen kann. Und Kants neue Einsicht ist nun: Auch reine Vernunft („Vernunft allein“) kann „für sich selbst“ praktisch sein, die Vernunft kann tatsächlich ohne Vorgaben der Neigungen eine Nötigung ausdrücken. Um das zu erfassen, muss
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man sie allerdings erst einmal – was bislang aber vernachlässigt worden ist – in ihrer Reinform vorstellig machen: Denn die gemeinste Beobachtung zeigt, daß, wenn man eine Handlung der Rechtschaffenheit vorstellt, […] die Seele erhebe und den Wunsch [!] errege, auch so handeln zu können. Selbst Kinder von mittlerem Alter fühlen diesen Eindruck,
und Kant wird später sogar behaupten, sogar der „ärgste Bösewicht“ verspüre in den einschlägigen Situationen solche Wünsche. Dergleichen tritt aber eben nur dann ein, wenn die moralischen Begriffe selbst auch „ins Reine gebracht“ wurden (ein Unternehmen, das eigentlich schon lange propagiert wurde, bisher in der Moralpädagogik aber noch nicht Fuß gefasst hat – wie Kant dem seligen Sulzer leider nicht mehr rechtzeitig mitteilen kann):
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Denn die […] Vorstellung der Pflicht […] hat auf das menschliche Herz durch den Weg der Vernunft allein [!] (die hiebei zuerst inne wird, daß86 sie für sich selbst [!] auch praktisch sein kann) einen so viel mächtigern Einfluß, als alle [!] andere Triebfedern.
In die Sprache des (neuen) „subjektiven Bestimmungsgrundes“ übersetzt: Die mit der „Vorstellung der Pflicht“ verbundene ‚reine Achtung fürs Gesetz‘ ist nicht bloß eine (an sich ‚wirkungslose‘) Wertschätzung, sondern auch eine (alle Neigungen aus dem Felde schlagende) „Triebfeder“ (440.06) – wenn nur dieses Gesetz (bzw. das Moralprinzip) rein vorgestellt wird87 (vgl. auch 426 Fn.): Eine wahre, „völlig isolierte Metaphysik der Sitten“ ist demnach die unerlässliche Voraussetzung nicht etwa nur der Erkenntnis, sondern auch „der wirklichen Vollziehung ihrer Vorschriften“.88 Etwa zehn Jahre zuvor hatte Kant – aus der Perspektive der Grundlegung betrachtet – dies auch selbst noch nicht erfasst (und konnte Sulzer somit auch noch gar nicht angemessen antworten – weshalb er es dann auch gelassen hat). In der Collins-Nachschrift hieß es zwar auch: Wenn ich durch den Verstand urtheile daß die Handlung sittlich gut ist, so fehlt noch sehr viel, daß ich diese Handlung thue, von der ich so geurtheilt habe. (27:1211)
Das ist 1775 wie 1785 (und vermutlich auch heute noch) richtig, aber es ist aus der Perspektive der Grundlegung eben nur die halbe Wahrheit, denn es fehlt um 1775 noch die Einsicht, dass die ‚bewegende
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Kraft‘ der reinen Vernunft nur deshalb mitunter nicht zutage tritt, weil das (Sitten-)Gesetz aktuell nicht in seiner Reinheit vorgestellt wurde. Das Heilmittel ist zu dieser Zeit daher (noch) nicht, diese Reinheit zu kultivieren und so dem Gesetz gleichsam einen bewegenden Durchgriff auf das „menschliche Herz“ vermittels des vernunftgewirkten Gefühls der Achtung zu verschaffen. Vielmehr gilt es (mangels eines ‚Steins der Weisen‘) für Kant noch, durch Erziehung und Religion auf Seiten der Sinnlichkeit „einen habitum hervor[zu]bringen“ dahingehend, dass durch eine „moralische Zucht“ (eher durch Belohnung als durch Strafe) die ‚Gewohnheiten‘ den Forderungen der Vernunft konform werden und damit dann geeignete Neigungen und Abneigungen jene exekutive Rolle übernehmen können, die zuvor (etwa von Francis Hutcheson) einem besonderen „moralischen Gefühl“ zugewiesen wurde.89 Noch in der Kritik der reinen Vernunft klingt diese Lehre 1781 durch, wenn Kant dort darauf besteht, dass für die Moralität „die Begriffe der Lust und Unlust, der Begierden und Neigungen, der Willkür &c., die insgesammt empirischen [!] Ursprunges sind, […] vorausgesetzt [!] werden“ müssen (A 15).90 – In der zweiten Auflage von 1787, d. h. nach der Grundlegung, ist diese Stelle dann korrigiert (B 29): Sinnliche Neigungen sind jetzt nicht mehr irgendwelche erforderten Bestimmungsgründe (siehe dafür 389.21ff.), sondern nur noch die zu überwindenden Gegenspieler des guten Willens, die diesen allerdings – wie wir es bereits erfahren haben – ggf. ‚heller hervorscheinen‘ lassen. [10] Die moralischen Begriffe selbst haben für Kant demnach – erstmals 1785 – allesamt ihren „Sitz und Ursprung“ allein in der reinen Vernunft und beziehen aus dieser Reinheit nun ihre „Würde“ (und auch ihre praktische Kraft!). Jede Darstellung, die diese Reinheit verdeckt, gefährdet daher den praktischen Anspruch der sittlichen Forderungen. Also muss auch aus diesem Grunde erst einmal von allen anthropologischen Besonderheiten (so bedeutend sie für die einzelnen Anwendungen auch sein mögen) abgesehen werden, weil es letztlich darum geht, „reine [!] moralische Gesinnung zu bewirken und zum Weltbesten den Gemütern einzupfropfen“. [11] Folglich kann die Grundlegung weder bei dem Resultat des ersten Abschnitts stehenbleiben, wo sie Pflichtbegriff und Moralprinzip zunächst (nur) auf analytischem Wege aus dem gemeinen Vernunftgebrauch der Menschen entwickelt hat (weil die gemeine Vernunfterkenntnis ja zunächst „nur vermengt begreift“; 390.15).91
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Noch kann sie an eine an den Krücken fragwürdiger Beispiele herumtappende „populäre Philosophie“ anknüpfen.92 Daher muss sie jetzt noch einmal völlig neu einsetzen und „das praktische Vernunftvermögen von seinen allgemeinen Bestimmungsregeln an […] deutlich darstellen“, denn nur so kann die Moral in ihrer Reinheit gleichsam vor Augen gelegt werden. Dem sind die Absätze [12]-[29] gewidmet.
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[12] Ein jedes Ding der Natur wirkt nach Gesetzen. Nur ein vernünftiges Wesen hat das Vermögen, nach der Vorstellung der Gesetze, d. i. nach Principien, zu handeln, oder einen Willen. (Herv. B. L.)
Hier lohnt es sich noch einmal ein wenig weiter auszuholen. Zunächst: „Prinzip“ ist in diesem Kontext zunächst als ein Synonym für „Handlungsregel“ zu lesen oder für eine „praktische Regel“, sofern diese von einem Handelnden ‚vorgestellt‘ wird.93 Eine solche Regel heißt mit Recht „Princip“, weil sie das Erste einer Handlung ist, dasjenige, was diese zu der macht, die sie (wesentlich) ist und womit sie ihren Anfang nimmt. Solche Prinzipien zeichnen sich erst einmal nicht durch einen besonders hohen Grad von Allgemeinheit oder gar durch Verbindlichkeit aus: Dergleichen kommt nur den in specie „objektiven“ oder „reinen Prinzipien“ zu – und um deren Abgrenzung gegenüber einzelnen „empirischen Prinzipien“ (die die Menschen um ihrer besonderen Neigungen 94 bzw. Interessen willen annehmen) wird es dann erst im Folgenden gehen (vgl. 441). Einen Willen zu haben beinhaltet demnach für jedes vernünftige Wesen (also gerade nicht bloß für die Menschen) zweierlei: Ein solches Wesen kann sich, erstens, überhaupt durch „Vorstellungen“ bestimmen (was die – mangels Sinneswahrnehmung – vorstellungslosen Mineralien und Pflanzen nicht können)95 und, zweitens, auch und insbesondere durch solche Vorstellungen, die ihrerseits „Gesetze“ oder Regeln beinhalten (sc. „nach Prinzipien“) – was das zwar wahrnehmungs- und vorstellungsbegabte (vgl. 05:464 Fn.), aber eben ‚verstandeslose Vieh‘ nicht kann (vgl. etwa 07:397). Mit dem ersten Vermögen allein hat ein Wesen ein arbitrium sensitivum, eine Willkür,96 und zwar ein arbitrium sensitivum brutum, eine ‚tierische Willkür‘ (vgl. A 534). Kommt das zweite Vermögen hinzu, dann hat dieses Wesen ein arbitrium sensitivum liberum, eine freie Willkür, d. h.: einen „Willen“. Während beim vernunftlosen Tier demnach die aktuellen Wahrnehmungen vollständig bestimmen, wie es sich (im Rahmen seiner instinktbedingten Möglichkeiten, versteht sich) verhält (der
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Hund muss jetzt das fressen, was er gerade vor sich sieht – so das zugrundeliegende Bild; s. etwa 27:267; Kaehler p. 54), ist das willensbegabte vernünftige Wesen in der Lage, sich vermittels „Prinzipien“ von seinen je aktuellen Wahrnehmungen, von dem also „was reizt, d. i. die Sinne unmittelbar [!] affiziert“ (A 802, vgl. A 534), zu distanzieren (sich davon ‚frei‘ zu machen, daher ‚liberum‘):
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Die Stimuli [Reize] haben also entweder vim [Kraft] necessitantem [s. u.] oder vim impellentem. Bei allen unvernünftigen Thieren haben die stimuli vim necessitantem; aber bei den Menschen [als vernünftigen Tieren; B. L.] haben die Stimuli nicht vim necessitantem, sondern nur impellentem. Demnach ist das arbitrium humanum nicht brutum, sondern liberum. Dieses ist das arbitrium liberum, so fern97 es psychologisch oder practisch definirt wird. (VL Metaphysik Pölitz ~1775, 28:255)
Weil ich mir z. B. die Wirkung eines Schmerzmittels gemäß der mir vertrauten Gesetzmäßigkeiten vorstelle, werde ich dieses ggf. auch trotz seines aktuell bitteren Geschmacks um der herbeizuführenden Schmerzfreiheit willen einnehmen, d. h.: Ich kann in diesem Falle meiner vernunftbedingten98 Erwartung eines zukünftigen Gutes wegen aktuelle Reize ihrer Handlungswirksamkeit berauben (was – für Kant – das vernunftlose Tier e suppositione gerade nicht kann): Ich will dann z. B. schmerzfrei werden. Mein Tun ist also nicht unmittelbar durch meine Neigungen und Abneigungen „necessitiert“ (hier i. S. v. ‚unausweichlich festgelegt‘), sondern allenfalls ‚impelliert‘ (i. S. v. „bewogen“; vgl. Kaehler p. 55). Wenn meine Vernunft meinen Willen allerdings vollständig bestimmte, dann wäre dieser „ein Vermögen, nur dasjenige zu wählen, was die Vernunft unabhängig von der Neigung als praktisch nothwendig, d. i. als gut, erkennt“ (412). Dann würde etwa die Einsicht in die gewünschte Wirkung der Schmerztablette unausweichlich deren Einnahme (einmal unterstellt, diese sei moralisch unproblematisch) bewirken. Ein bitterer Geschmack würde mich dann möglicherweise unangenehm berühren; er könnte mich aber unmöglich daran hindern, dasjenige, was ich als für mich richtig (als „praktisch gut“, s. u.) eingesehen habe, auch zu tun. Wir müssen hier um der Klarheit willen mit Kant zwei Rollen der „Neigungen“ auseinanderhalten (was sich oben bereits andeutete und unten im Rahmen der Theorie der Imperative wichtig werden wird): Die erste, wenn die Neigungen in Gestalt – unreflektierter – aktueller Reize (wie etwa die unmittelbar abschreckende Bitterkeit der
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Pille) oder Begierden mitunter hindernd interferieren, sobald es ansteht, etwas (bereits) als vernünftig Eingesehenes zu tun. Und zum anderen jene Rolle, die die Neigungen spielen, sofern die Vorstellung einschlägiger zukünftiger Reize und Begehrungen bereits in der vernünftigen Überlegung reflektiert ist (hier: die zukünftige Schmerzlosigkeit als ein „Bedürfnis[ ] der Neigung“, welches die aktuelle Einnahme eines Schmerzmittels für uns ja überhaupt erst ‚vernünftig‘ macht, s. o. Anm. 93). Infolge der erstgenannten „sinnlichen Affiziertheit“ gelingt das „Bestimmen“ des Willens durch die Vernunft beim Menschen mitunter „nicht hinlänglich“, sodass das Handeln nicht notwendig (wie es bei einem reinen Vernunftwesen der Fall wäre) mit den ‚Gesetzen der Vernunft‘ übereinstimmt. Es bietet sich daher an, hier eine abkürzende Terminologie einzuführen, die diesen Sachverhalt auf einen kompakten Begriff bringt: Das, was meine „Vernunft unabhängig von [den aktuellen Reizen, B. L.] der Neigung als praktisch nothwendig, d. i. als gut, erkennt“ soll in der Folge mit einem Wort als mein ‚Vorsatz‘ bezeichnet werden.99 Bei einem rein-vernünftigen Wesen würden damit Wille und Vorsatz grundsätzlich inhaltlich zusammenfallen. Dies ist auch bei einem sinnlichen Vernunftwesen de facto der Fall, solange kein einschlägiges Hindernis der Neigung aktuell im Wege steht. Andernfalls treten Vorsatz und Wille jedoch auseinander und der Vorsatz drückt nur eine „Nöthigung“ aus (so etwa 412f.; A 547; vgl. 05:19f.). Angesichts dessen ist die eine menschliche Vernunft nicht allein von theoretischem, sondern auch von „praktischem Gebrauche“, kurz: die menschliche Vernunft ist aufgrund ihrer „subjectiven Unvollkommenheit“ (!) auch100 eine solche ‚praktische Vernunft‘ (414), die mich mitunter bloß- nötigt (wenn es ihr nicht gelingt, meinen Willen tatsächlich zur Handlung zu bestimmen): Selbst wenn ich mich etwa davon überzeugt habe, dass es angesichts meiner Abneigung gegenüber Schmerzen unter den gegebenen Umständen vernünftig ist, um der zu erwartenden Linderung willen ein Schmerzmittel zu nehmen (wenn meine Absicht schmerzfrei zu sein also den Vorsatz zur Folge hat, die Tablette einzunehmen), so führt diese Einsicht nicht unmittelbar zur vorgestellten Handlung. Mein Vorsatz bestimmt mein Wollen nicht hinreichend, sondern er tritt mir etwa angesichts der aktuellen Ab-Neigung gegen die Einnahme der bitteren Pille zunächst nur als eine Nötigung entgegen – der ich nachgeben werde (oder auch nicht).101
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[13] „Die Vorstellung eines objectiven Princips, sofern es für einen Willen nöthigend ist, heißt ein Gebot (der Vernunft), und die Formel des Gebots heißt Imperativ.“ 102
„Objectives Princip“ ist ein anderes Wort für [14] „objectives Gesetz der Vernunft“, und dieses stellt für einen solchen Willen, der „nicht immer darum etwas thut, weil ihm vorgestellt wird, dass es zu thun gut sei“, eine „Nöthigung“ dar. Alles vermittels der Vernunft als „gut“ Erkannte heißt „praktisch gut“, alles übrige Gute ist bloß „angenehm“. Das ‚praktisch Gute‘ kann seinerseits [14 Fn.] in „Abhängigkeit des Willens von Principien der Vernunft an sich selbst“ oder aber „von den Principien derselben zum Behuf der Neigung“ gut sein. Es sind beim menschlichen Willen demnach prinzipiell drei Arten von Willens-Bestimmung denkbar – die ihrerseits miteinander konkurrieren können: (0) Die bloß-sinnliche durch das aktuell (Un-)Angenehme ‚was reizt‘, (1) die mittelbar-vernünftige anlässlich der Vorstellung zukünftiger (Un-)Annehmlichkeit103 und (2) eine durch die Vernunft allein (d. h. ohne jede Bezugnahme auf Angenehmes und Unangenehmes überhaupt).104 Nur die Bestimmungsgründe (1) und (2) beziehen sich (als Vorsatz) auf etwas, das man wollen kann (wie es sich schon aus den obigen Erörterungen zu [12] ergibt), und können damit, als objektive Prinzipien,105 eine „Nöthigung“ ausdrücken. [15] Generell gilt selbstredend, dass eine Nötigung nur dort stattfindet, wo das Wollen nicht „von selbst mit dem Gesetz“ übereinstimmt, d. h.: wo die Vernunft auf die Handlungen keinen „hinreichenden Einfluss hat“ (siehe 417.09). [16-18] Die unter (1) fallenden Imperative gebieten „hypothetisch“, die zu (2) gehörenden gebieten „kategorisch“ (wir werden anschließend mit Kant stenographisch auch von ‚hypothetischen Imperativen‘ und ‚kategorischen Imperativen‘ sprechen106). Beide Arten von Imperativen stellen eine Handlung als praktisch „nothwendig“ vor: Die ersteren als „Mittel“ zu etwas als gut Erachtetem, zu einem „Zweck“ oder zu einer „Absicht“, letztere als „an sich gut“ (tertium non datur) – womit kategorische Imperative die Formeln der Prinzipien eines (vollkommen) der Vernunft gemäßen Willens ausdrücken. [19-24] Kant führt für die hypothetisch-gebietenden Imperative noch eine weitere (an der Modalität von Urteilen orientierte; vgl. A 70) Unterscheidung zwischen „problematisch-“ und „asserto-
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III. Kommentare zum Text
risch-praktischen“ Prinzipien ein, und stellt diesen beiden die kategorisch-gebietenden als „apodiktisch-praktische“ gegenüber. Letztere gebieten ja ohne Bezugnahme auf eine (mögliche oder wirkliche) „Absicht“ oder einen „Zweck“, der jenseits der Handlung liegt. Die interne Differenzierung bei den hypothetischen Imperativen dient Kant hier in der Grundlegung nun, wie wir sogleich sehen werden, primär zur systematischen Einordnung sämtlicher vorausgegangenen Ethiken – und einer damit verbundenen Möglichkeit von deren pauschaler Zurückweisung: Die problematisch-praktischen Prinzipien formulieren nur „Regeln der Geschicklichkeit“, d. h.: sie formen theoretische Gesetzmäßigkeiten bzw. Konditionale107 in Handlungsprinzipien um und schreiben damit letztlich nur Mittel vor, sofern diese zur Realisierung beliebiger möglicher Zwecke taugen. Sie stehen damit grundsätzlich gar nicht erst im Verdacht, moralische Vorschriften zu sein (pharmakologische Einsichten etwa sagen dem Arzt wie dem Giftmischer, was er tun muss, wenn er seine jeweiligen Absichten verfolgt). Anders jedoch die assertorisch-praktischen: Sie sind auf diejenige Absicht bezogen, die man „a priori bei jedem Menschen voraussetzen kann, weil sie zu seinem Wesen gehört“: Der einschlägige wirkliche Zweck jedes Menschen ist die eigene „Glückseligkeit“ – worunter Kant die umfassende Befriedigung aller Neigungen versteht. Die entsprechenden Vorschriften sind damit zwar unabhängig von den partikularen Absichten Einzelner in speziellen Situationen, aber sie sind gleichwohl abhängig von der endlichen Natur des Menschen überhaupt. Damit können aber auch sie – gemäß der kantischen Reinheitsforderung – grundsätzlich keine „Gebote (Gesetze) der Sittlichkeit“ sein, selbst wenn ihnen ein gewisser Allgemeinheitsanspruch zukommt. Sie bilden vielmehr bloße „Rathschläge der Klugheit“.108 Mittels dieser Charakterisierung verweist Kant kurzerhand alle ‚eudaimonistischen Morallehren‘ (und, wenn man auch das jenseitige Glück einbezieht: die gesamte bisherige Moralphilosophie) in den Bereich der Lehren rationaler, egoistischer Lebensführung.109 Damit werden sie aus dem Felde der (reinen) Sittenlehre ausgeschlossen und tragen ihren Namen demnach eigentlich zu Unrecht (näheres dazu dann 441.29f.). Die kategorischen Imperative schließlich nehmen weder Bezug auf die besonderen Absichten des Einzelnen noch auf jene allgemeinen, die sich ihrerseits der besonderen Natur des Menschen verdanken.
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Zum zweiten Abschnitt
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Sie zielen damit nicht auf die Folgen, auf die „Materie“, einer Handlung, denn sie erklären Handlungen weder aufgrund irgendeiner möglichen noch aufgrund einer wirklichen Absicht für „praktisch nothwendig“110, sie sind vielmehr „apodiktisch praktisch“. Sie abstrahieren damit naturgemäß vom „Erfolg“ einer Handlung und können somit ausschließlich deren „Form und das Princip, woraus sie selbst folgt“ betreffen (wir kennen ein solches Argument bereits aus dem Kontext des ‚zweiten Satzes‘ im ersten Abschnitt). Da beide Arten hypothetisch-gebietender Imperative keine sittlichen sein können (s. o.) und die Einteilung von hypothetisch- und kategorisch-gebietend dichotomisch111 ist, kann ein Imperativ der Sittlichkeit – wenn es einen solchen denn gibt – nur ein kategorischer sein: Andersherum und mit Kant hier noch ein wenig tastend formuliert: „Dieser Imperativ mag der der Sittlichkeit heißen.“
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Hier nun noch einmal eine tabellarische Übersicht über Kants verschiedene Charakterisierungen der drei Arten von Imperativen in den Absätzen [16-24]:112 Prinzip des Wollens / Vorschrift
Gesetz
hypothetisch
kategorisch
problematisch
assertorisch
apodiktisch
Regel
Ratschlag
Gebot
Geschicklichkeit
Glückseligkeit/Klugheit
Sittlichkeit
Kunst
Wohlfahrt
freies Verhalten
technisch
pragmatisch
moralisch
gut als Mittel
gut für mich
gut an sich
Auf zwei Eigentümlichkeiten sei hier hingewiesen: Kant setzt 416.20 „Gebot“ ausdrücklich gegen „Regel“ und „Ratschlag“ ab und reserviert den Terminus fortan für die kategorischen Forderungen (wie in der Tabelle), während er kurz zuvor noch ausdrücklich alle Imperative als ‚Gebote‘ definiert hatte (413.09; vgl. auch noch: „gebieten“ in 414.12 und „geboten“ in 416.06). – Auch der Ausdruck „Gesetz“ wird erst im Laufe der Argumentation auf die moralischen Prinzipien,
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III. Kommentare zum Text
auf die kategorischen Imperative, eingeschränkt (416.20 und noch einmal: 420.03f.): Anfangs hingegen zeigen ausdrücklich „Alle Imperativen“ ein „objective[s] Gesetz[ ] der Vernunft“ an (412.12f.).113 In den Erörterungen war bisher durchweg davon die Rede, dass ‚praktische Sätze‘ eine ‚Nötigung des Willens‘ enthalten. Kant selbst hatte allerdings bereits in [14] jede solche Nötigung als ein „Sollen“ bezeichnet: Alle Imperativen werden durch ein Sollen ausgedrückt und zeigen dadurch das Verhältniß eines objectiven Gesetzes der Vernunft zu einem Willen an, der seiner subjectiven Beschaffenheit nach dadurch nicht nothwendig bestimmt wird (eine Nöthigung).
Die Rede vom „Sollen“ wurde hier im Text bislang aber gemieden, weil es der Transparenz der Unterscheidungen nicht dienlich ist, dass Kant für jede praktische Nötigung („Alle Imperativen…“) den Ausdruck „Sollen“ verwendet: Damit wird die (hypothetische) Nötigung durch „Vorschriften“, „Regeln“ und „Ratschläge“ (das naturbedingte ‚Müssen‘) der (kategorischen) Nötigung durch „Gesetze“ und „Gebote“ (dem moralischen „Sollen“114) allzu sehr assimiliert, bis hin zu der Formulierung: Copyright © 2019. Vittorio Klostermann. All rights reserved.
ich soll [!] etwas thun, darum weil ich etwas anderes will (444.11f.).
Dies ist nicht nur (insbesondere in der ersten Person!) sprachlich holprig (statt: ‚ich muss etwas tun, weil …‘), sondern es wird damit auch der gerade für Kant ja grundlegende Unterschied zwischen hypothetisch- und kategorisch-gebietenden Imperativen und damit zwischen ‚Müssen‘ und ‚Sollen‘ ohne jede Not terminologisch verwischt. Das latente kantische Motiv, zumindest bei den „Ratschlägen der Klugheit“ davon zu reden, dass sie ein „Sollen“ ausdrücken, dürfte freilich darin bestehen, dass dies jenen Schein moralischer Normativität nachvollziehbar macht, der den (für Kant ja bloß-pragmatischen) Glückseligkeitslehren bislang zu Teil wurde. – Nach diesen Bemerkungen werden wir in der Folge aber dem Wortgebrauch der Grundlegung folgen, um uns nicht zu sehr vom Text zu entfernen, und nur dort ausdrücklich vom ‚Müssen‘ statt vom ‚Sollen‘ reden, wo es die Deutlichkeit verlangt (siehe etwa Anm. 125).
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Zum zweiten Abschnitt
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[24] Während die Möglichkeit kategorisch-gebietender Imperative nicht auf der Hand liegt, wird die Möglichkeit hypothetisch-gebietender Imperative bereits durch deren Wirklichkeit verbürgt, denn diese ist durch Beispiele, „mithin empirisch, auszumachen“ (419.16f.).115 Obgleich demnach die Möglichkeit hypothetischer Imperative „wohl keiner besonderen Erörterung“ bedarf, bietet Kant eine solche dennoch an116 (wie sich zeigen wird: um damit eine Begrifflichkeit zur Kontrastierung mit den kategorischen einzuführen). Wer den Zweck will, will auch – „sofern die Vernunft auf seine Handlung entscheidenden [!] Einfluß hat“117 – das dazu notwendige Mittel. Das Wollen schließt nämlich – im Unterschied zum bloßen Wünschen – ein Bewusstsein der eigenen „Causalität“ ein (vgl. 394.23): Man kann sich zwar vieles vorstellen und auch wünschen, man kann aber dasjenige nicht wollen, was man nicht selbst hervorbringen (oder zumindest maßgeblich befördern) kann, bei dem man sich z. B. dessen
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bewußt ist, daß seine mechanischen Kräfte (wenn ich die nicht psychologischen so nennen soll), die durch jene Vorstellung bestimmt werden müßten, um das Object (mithin mittelbar) zu bewirken, entweder nicht zulänglich sind, oder gar auf etwas Unmögliches gehen … (KdU, 05:177 Fn.)
Wenn ich etwa weiß, dass etwas nicht in meiner Macht steht, kann ich es demnach gar nicht wollen, sondern kann es allenfalls wünschen (etwa: ‚… dass morgen die Sonne scheint‘ oder ‚… dass diesmal meine Lieblings-Lottozahlen gewinnen mögen‘ – wenn ich letzteres tatsächlich wollte, müsste ich versuchen, die Ziehung einschlägig zu manipulieren). Für Kant steht ein vorgestellter Zweck ohne den Einsatz des einschlägigen notwendigen Mittels gar nicht in meiner Macht, und das geht unmittelbar aus seiner Bestimmung des „Mittel“-Begriffs hervor: „Was […] den Grund der Möglichkeit der Handlung enthält, deren Wirkung Zweck ist, heißt das Mittel.“ (427) Wer also ein für den vorgesetzten Zweck notwendiges Mittel kennt, aber nicht (realisieren) will (wer seine eigene „Causalität“ gleichsam „nicht-zulänglich“ macht, indem er sich selbst das notwendige Mittel aus der Hand nimmt), kann den fraglichen Zweck unmöglich wollen (weil er ihn ja e suppositione gar nicht „bewirken“ kann – und das auch weiß), sondern allenfalls wünschen.118 Kurz: Im Wollen eines Zwecks ist das Wollen („die Aufbietung“, 394.23) aller als notwendig erachteten Mittel bereits „gedacht“. Dies ist (für Kant) also
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III. Kommentare zum Text
ein Erläuterungsurteil bzgl. des Begriffs vom ‚Wollen‘ (das die differentia specifica zum ‚bloßen Wünschen‘ herausstellt) – und damit ist das Urteil: ‚Wer den Zweck will, will das als unentbehrlich erkannte Mittel, das in seiner Gewalt ist‘ „analytisch“ (unter der o. g. Voraussetzung, dass die Vernunft den Willen tatsächlich hinreichend bestimmt – dass es also nicht beim bloßen Vorsatz bleibt). Der hypothetisch-gebietende Imperativ selbst ist damit allerdings kein sensu stricto119 „analytischer Satz“, sondern, so Kants eigens eingeführte, neue Bezeichnung, ein „analytisch-praktischer Satz“ (419.04); ein Satz also, der als ein praktischer ein „Sollen“ bzw. ‚Müssen‘ ausdrückt, d. h.: eine „Nöthigung“ des Willens enthält, und als analytischpraktischer eine solche, die im adressierten Willen selbst bereits (mit)gedacht (also ‚enthalten‘) ist. Wo aber kommt diese Nötigung, von der wir nun wissen, wie sie „gedacht werden könne“, für den Handlungswilligen (psychologisch) zum Ausdruck? Hier hilft ein kurzer Seitenblick z. B. in Gottfried Achenwalls Naturrecht120 weiter:
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Si determinatur alter ad unicum; coactio vocatur absoluta: si ad unum ex quibusdam determinatis eligendum; dictur hypothetica. // Wenn jemand zu etwas Bestimmtem genötigt wird, wird der Zwang absolut genannt; wenn man genötigt ist, eines aus Mehrerem zu wählen, heißt er hypothetisch. (Elementa Iuris Naturae, 1750, § 70)
Kants ‚hypothetischer Imperativ‘ stellt uns nämlich, genau wie Achenwalls ‚coactio hypothetica‘, als Handelnde vor eine Alternative. Er zwingt bzw. nötigt uns nicht etwa unter Voraussetzung eines Zwecks zur Ergreifung des Mittels. Vielmehr nötigt er uns zu der Entscheidung (oder Wahl, electio), entweder das (unverzichtbare) Mittel zu ergreifen, oder aber unseren Zweck aufzugeben – und letzteres ist oftmals sogar die (sittlich) gebotene Variante: Wer unbedingt Hexen lege artis inquisitionis verbrennen will, ist auch willens, einen geeigneten Scheiterhaufen anzuzünden (anders geht es bekanntlich nicht), aber wer keinen solchen Scheiterhaufen anzünden will, ist andererseits auch willens, auf kunstgerechte Hexenverbrennungen zu verzichten (aus demselben Grund, e contrapositione). Was in diesem Fall letztlich geboten ist, dürfte klar sein. Es ist somit offensichtlich, dass es ein schwerer Fehler wäre, der Versuchung zu erliegen, Kants hypothetische Imperative selbst121 einfach als hypothetische Urteile aufzufassen (oder gar zu formalisieren): Etwa als solche mit einer (deskripti-
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Zum zweiten Abschnitt
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ven) Zweckbehauptung im antecedens und einem kategorischen122 Imperativ zur Mittel-Ergreifung im consequens. Denn via modus ponens folgte dann aus dem bloßen Haben des Zwecks ja bereits unausweichlich das kategorische Gebot der Realisierung des Mittels (vgl. 09:105f.). Und wenn die kategorischen Imperative die sittlichen sind (wie es Kant ja vorschwebt), dann wäre es konsequenterweise sogar unsere Pflicht, zu jedem Zweck, den wir uns (warum auch immer) setzen, das jeweilige Mittel zu ergreifen: ‚Du hast tatsächlich die Absicht Hexen zu verbrennen? – Dann ist es allerdings Deine Pflicht, den Scheiterhaufen anzuzünden!‘ Das klingt nicht nur befremdlich – das ist schlicht absurd. Wir können allerdings bei einem jeden gegebenen123 Imperativ (der also stets nur die einfache Form haben kann: ‚Tue X!‘), d. h.: immer dann, wenn wir uns tatsächlich als zu etwas genötigt begreifen, zunächst fragen, ob diese Nötigung am Ende davon abhängt, dass wir uns etwas Bestimmtes zur Absicht bzw. zum Zweck gemacht haben. Wenn ja, dann gebietet dieser Imperativ hypothetisch (denn das fragliche Gebot gäbe es ohne die Absicht für uns nicht), andernfalls gebietet er kategorisch. Die bloße Einsicht hingegen: ‚Wenn ich Hexen kunstgerecht verbrennen will, dann muss ich einen Scheiterhaufen anzünden.‘ nötigt niemanden zu irgendetwas. Weder ist sie ein hypothetischer Imperativ noch enthält sie irgendeinen – sie drückt nur ein wahr(heitsfähig)es hypothetisches Urteil aus. Wenn man sich allerdings als genötigt begreift, einen Scheiterhaufen anzuzünden, dann liegt es (in der Regel) daran, dass man (1) die Absicht hat, Hexen zu verbrennen und (2) weiß, was dafür erfordert ist. Hinzukommen muss aber noch (3) irgendeine aktuelle Abneigung dagegen, den damit notwendig verknüpften Vorsatz (den Scheiterhaufen anzuzünden) umzusetzen, seinen Willen also danach zu bestimmen: Denn ohne irgendeinen Vorbehalt124 würde man das Erforderte ja einfach tun – und von einer praktischen „Nöthigung“ wäre in diesem Falle genauso wenig die Rede wie beim Willen eines ‚reinen Vernunftwesens‘ (siehe [12]). Also ausschließlich angesichts (a) eines vorhandenen aktuellen Vorbehalts gegen das Anzünden von Scheiterhaufen und (b) der Option, die Absicht der Hexenverbrennung aufzugeben, zeigt sich in der Tat eine (psychologische) Nötigung durch jenen Imperativ, der kurz und bündig lautet: ‚Scheiterhaufen anzünden!‘ – und dieser Imperativ gebietet offensichtlich hypothetisch, denn man könnte ergänzen: ‚… und wenn Du das jetzt
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III. Kommentare zum Text
nicht ernsthaft versuchst, dann willst Du die Hexen auch gar nicht verbrennen (allenfalls wünschst Du, dass sie verbrannt werden) – Du musst Dich jetzt also entscheiden: elige! subito!‘ Da es allerdings (wie wir vorgreifend annehmen) kategorisch verboten ist, Scheiterhaufen anzuzünden, und man den Willen zur Hexenverbrennung bekanntermaßen auch aufgeben kann, ist es somit kategorisch geboten, letzteres zu tun: Mit dieser Einsicht löst sich der Imperativ „Scheiterhaufen anzünden!“ in Rauch auf – noch bevor die erste Flamme züngelt.125 [25] Diese grundsätzlichen Überlegungen gelten ersichtlich für hypothetische Imperative im Allgemeinen, d. h. nicht nur für die Imperative der Geschicklichkeit, sondern gleichermaßen für die der Klugheit. Auch von diesen würde ein jeder, „wenn man annimmt, die Mittel zur Glückseligkeit ließen sich sicher angeben, ein analytischpraktischer Satz sein“. Da allerdings „Glückseligkeit nicht ein Ideal der Vernunft, sondern der Einbildungskraft ist, was bloß auf empirischen Gründen beruht“, bleiben die mit ihr verbundenen partikularen Zwecke – und demnach auch die zugehörigen Mittel – kontingent: Reichtum, Einsicht, langes Leben, Gesundheit &c. können alle gleichermaßen zur Glückseligkeit beitragen, aber in ungünstiger Konstellation dieselbe auch herabsetzen. – Wie dem auch sei: Das ändert nichts daran, dass die Möglichkeit sämtlicher hypothetischer Imperative (d. h.: ‚wie deren Nötigung gedacht werden kann‘) ‚ohne Schwierigkeit‘ einzusehen ist und für Kant ja ohnehin gar kein eigentlich philosophisches Problem darstellt – weil solche Imperative ja bereits erfahrungsgemäß wirklich sind. [26] Die Frage hingegen, die sich hier zwar schon stellt, aber ganz ausdrücklich erst im Dritten Abschnitt beantwortet werden kann und soll („dieses Geschäft […] gehört nicht in gegenwärtigen Abschnitt“, 440.27f., vgl. 425.08ff., 431.33f., 444.35), ist die, wie kategorische Imperative126 möglich sind, d. h.: wie eine kategorische Nötigung „gedacht werden könne“ (und diese Frage ist – wie sich mittlerweile abzeichnet – letztlich die Frage, ob überhaupt eine – im Sinne der Forderung der Vorrede – reine Moralphilosophie, möglich ist). Sie wird in der vierten Sektion des dritten Abschnitts erneut gestellt (wie der dortige Zwischentitel erklärt; 453f.) – und dort auch beantwortet (454.06ff.). Zwei Schwierigkeiten machen nämlich jene „besondere und schwere Bemühungen“ nötig, die „zum letzten Abschnitte“ aufge-
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schoben werden sollen: [26-27] Erstens ist die Möglichkeit kategorischer Nötigung nicht bereits empirisch verbürgt, denn es ist kein Beispiel vorstellbar, bei dem gewiss wäre, dass der Wille „ohne andere Triebfeder […] bestimmt werde“ (s. o. zu Absatz [2]). Daher ist es unumgänglich, „a priori zu untersuchen“, wie eine kategorische Nötigung möglich ist – und zwar nicht erst zum Zwecke einer Erklärung (wie bei der ‚hypothetischen Nötigung‘, deren Möglichkeit ja gar nicht infrage steht), sondern bereits für die Beantwortung der Frage, ob sie überhaupt möglich ist (420.02f.). [28] Und zweitens ist ein kategorisch-gebietender Imperativ auch kein analytisch-praktischer (wie ein hypothetisch-gebietender, s. o.), sondern ein „synthetisch-praktischer Satz a priori“. Die Schwierigkeit von Sätzen „dieser Art“127 ist Kant zufolge bereits aus der theoretischen Philosophie vertraut, wo (den Prolegomena von 1783 zufolge) die „transscendentale Hauptfrage“ (04:280) lautet: „Wie sind synthetische Sätze a priori möglich?“ (04:276) Die dabei zu lösende Aufgabe besteht darin, dass man in einem synthetischen Urteil
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[…] aus einem gegebenen Begriffe hinausgehen müsse, um ihn mit einem andern synthetisch zu vergleichen: so ist ein Drittes nöthig, worin allein die Synthesis zweier Begriffe entstehen kann. Was ist nun aber dieses Dritte, als das Medium aller synthetischen Urtheile? (A 155, vgl. 157, 259, 732)
In der theoretischen Philosophie ist das gesuchte „Dritte, als das Medium“, entweder die Erfahrung selbst (bei den synthetischen Urteilen a posteriori) oder die Möglichkeit der Erfahrung (bei den synthetischen Urteilen a priori).128 Die Erfahrung etwa, dass bislang alles, was nach dem „Gewichte, der Farbe, der Zähigkeit“ unter unseren Begriff von Gold fiel, „nicht rostet[e]“ gibt Anlass zum synthetischen Urteil a posteriori: ‚Gold rostet nicht‘ (vgl. A 728). Synthetische Urteile a priori sind philosophisch anspruchsvoller. Als Gegenstände des Grundsatzkapitels (A 158ff.) der Kritik der reinen Vernunft können wir sie hier nicht näher behandeln. Als Beispiel sei nur der Grundsatz der Kausalität (Etwa: ‚Jedes Geschehnis hat eine Ursache‘) erwähnt, der den Begriff vom ‚Geschehnis‘ („alles was geschieht“) mit dem der „Ursache“ a piriori verknüpft, indem er die zeitliche Ordnung der Erfahrung ins Spiel bringt: Wir hatten z.B. in der transscendentalen Analytik den Grundsatz: alles, was geschieht, hat eine Ursache, aus der einzigen Bedingung der objectiven Möglichkeit eines Begriffs von dem, was überhaupt geschieht, gezogen: daß
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die Bestimmung einer Begebenheit in der Zeit, mithin diese (Begebenheit) als zur Erfahrung gehörig, ohne unter einer solchen dynamischen Regel zu stehen, unmöglich wäre. (A 788)
In seiner Fußnote zum Ausdruck „synthetisch-praktischer [!] Satz a priori“ erörtert Kant, worin der synthetische Charakter eines solchen praktischen Satzes nun besteht: Das Wollen (resp. Sollen) einer (gebotenen) Handlung kann hier nicht aus einem anderen Wollen desselben Willens analytisch abgeleitet werden (wie es beim analytisch-praktischen Satz geschieht, s. o.), sondern wird mit diesem als etwas, „das in ihm [sc. in dem erstgenannten Willen] nicht enthalten ist, synthetisch verknüpft“ – und zwar „unter der Idee einer Vernunft, die über alle subjective Bewegursachen völlige Gewalt hätte“. Ein wenig später (noch im zweiten Abschnitt: 431.34ff.) wird von Kant dann doch schon einmal „angedeutet“, was im Falle dieses synthetisch-praktischen Satzes jenes „Dritte“ sein wird, das den infrage stehenden Willen mit einer gebotenen Handlung verknüpfen kann, ohne im Begriff ebendieses Willens bereits enthalten zu sein: Es wird das „Wollen“ eines zweiten, eines reinen „allgemein gesetzgebenden Willens“ des Menschen sein. Wir können und müssen nämlich (so wird sich zeigen) der Idee eines solchen „reinen Willens“ (der als die besondere „Quelle[ ]“ aller sittlichen Prinzipien ja bereits in Abs. [10] der Vorrede gegen Wolff ins Spiel gebracht wurde) praktische Realität zuschreiben, wenn bzw. insofern wir uns als freie Wesen begreifen: Das Gesollte und das eigene Wollen fallen bei freien Wesen („sofern die Vernunft [….] entscheidenden Einfluß hat“, s. o.) damit nämlich nicht nur im Falle hypothetischer, sondern auch im Falle kategorischer Imperative zusammen: Auch diese sind daher möglich. – Aber das alles wird man erst einsehen können, indem man im dritten Abschnitt dann zu einer (anspruchsvolleren) Kritik der reinen praktischen Vernunft übergeht. [29-30] Im Rahmen einer Metaphysik der Sitten kann man allerdings bereits aus dem bislang erörterten Begriff eines kategorischen Gebots zumindest dessen Formel entwickeln. Und das geht offenkundig auch, ohne dass man zuvor dessen Möglichkeit aufgewiesen hat, er also immer noch bloßes „Hirngespinst“ sein könnte (445), die Pflicht somit ein „leerer Begriff“ (421; „ohne Gegenstand“ A 292) – und die ganze Sittenlehre am Ende doch nur eine larvierte Klugheitslehre bliebe (wie bei Wolff), ein Ausdruck also „mehr oder weniger verfeinerte[r] Selbstliebe“ (406). Vittorio Klostermann, 2019.
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„Denke ich mir […] einen kategorischen Imperativ, so weiß ich sofort, was er enthalte.“ Zunächst ist unmittelbar klar, was ein solcher Imperativ nicht enthalten darf: Einen Bezug auf irgendeine Bedingung (in specie auf Naturgesetze) – denn damit wäre er hypothetisch-gebietend. Nimmt man dann hinzu, dass kategorische Imperative, wie sich bereits gezeigt hat (s. o. [24]), nur „die Form und das Prinzip“, nicht aber die „Materie“ des Handelns betreffen können, dann können sie naturgemäß zunächst auch nur das „subjektive Princip zu handeln“, d. h. die „Maxime“, einem Gesetz unterwerfen – [31] und da dieses Gesetz wiederum durch keine besondere Bedingung eingeschränkt sein darf, kann der kategorische Imperativ
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also nur ein einziger [sein] und zwar dieser: handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde.
Programmgemäß begegnet uns hier nun jene (neue) Formel wieder, die im ersten Abschnitt bereits auf analytischem Wege aus den Werturteilen des gemeinen praktischen Vernunftgebrauchs (und dabei ohne jede Erörterung von Imperativen!) als dessen „Princip“ gewonnen wurde. Da sie nun (auch) aus dem praktischen Vernunftvermögen eines Sinnenwesens allein (d. h. definitiv ohne irgendeine Bezugnahme auf den tatsächlichen Vernunftgebrauch des Menschen) entwickelt werden konnte, ist jetzt ihre grundsätzliche Eignung zum Prinzip einer reinen Sittenlehre gesichert. Und andersherum ergibt sich die wichtige Einsicht: Das Prinzip der ‚gemeinen praktischen Vernunfterkenntnis‘ ist ein kategorischer Imperativ. [32] Damit ist die in der Vorrede für den zweiten Abschnitt angekündigte „Prüfung dieses Princips“ allerdings noch nicht abgeschlossen, denn erstens hat sich bislang noch nicht gezeigt, dass aus dem praktischen Vernunftvermögen auch tatsächlich (wie 412.24 angekündigt) „der Begriff der Pflicht entspringt“, und zweitens ist nicht ausgemacht, ob das (neue) „Princip“ allein auch bereits die gesamte Sittenlehre aufzuspannen vermag. Beides soll in der Folge in einem Zuge geleistet werden: Es soll nämlich gezeigt werden, dass „aus diesem einigen Imperativ alle Imperativen der Pflicht als aus ihrem Prinzip abgeleitet werden können.“129 Es bietet sich an, Ziel und Struktur der nachfolgenden Erörterungen zunächst anhand eines kurzen Vorgriffs auf Kants eigenes Zwischenresümee [72-74] vor Augen zu stellen, um möglichen
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Missverständnissen bezüglich der Begründungsabsichten von vorneherein aus dem Wege zu gehen: Neben der gerade abgeleiteten „allgemeine[n] Formel“, nach der letztlich alle „sittliche[ ] Beurtheilung“ erfolgen sollte und die dort dann noch einmal als
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[H]andle nach der Maxime, die sich selbst zugleich zum allgemeinen Gesetze machen kann!
wiedergegeben wird, bietet Kant nämlich noch drei weitere Formeln130 an, die die Aufgabe erfüllen sollen, „dem sittlichen Gesetze zugleich Eingang [zu] verschaffen“, indem sie die „Idee der Vernunft der Anschauung (nach einer gewissen Analogie) und dadurch dem Gefühle näher“ bringen. Ich werde die drei Formeln anlässlich dieser Charakterisierung kurz die ‚ästhetischen‘ (vgl. dazu 08:405.23ff.) oder auch die ‚Lehr-Formeln‘ nennen: Eine ‚Naturgesetz‘-Formel, eine ‚Zweck‘-Formel und eine ‚(Selbst-)Gesetzgebungs‘- bzw. ‚Reich-der-Zwecke‘-Formel.131 Diese Trias (die Kant in späteren Schriften als eine solche nicht wieder aufgreift) ist dem Anspruch nach vollständig, insofern sie aus einer näheren Bestimmung der (sittlichen) Maximen anhand der drei Quantitätskategorien hervorgeht: Einheit (der Form), Vielheit (der Materien) und Allheit (eines Systems) der Maximen. Ferner können die drei Lehr-Formeln, wie sich dann zeigen wird, mit ihren „Analogien“ auch die Anschlussfähigkeit des kategorischen Imperativs an die überkommenen Grundsätze der antiken (stoischen), der frühneuzeitlichen (christlich-naturrechtlichen) und der zeitgenössischen (Leibniz-Wolffschen) Morallehren aufzeigen: Schließlich war die Welt in dem „was Pflicht sei“ ja nicht immer „unwissend, oder in durchgängigen Irrthume“ (05:08 Fn.). Die „allgemeine Formel“132, die als ‚oberstes Prinzip der Moralität‘ (392) ihrer Reinheit wegen den drei mittels „Analogie“ ‚versinnlichten‘ Lehr-Formeln systematisch vorgeordnet bleibt (und auch nicht mehr oder weniger Pflichten einschließen soll als diese; siehe 436.29f.), bringt ihrerseits zum Ausdruck, dass das subjektive Prinzip einer Handlung (deren Maxime) mit einem für diese Handlung möglichen objektiven Prinzip (einem Gesetz) zusammenfallen soll (vice versa). Damit ist der Handelnde aufgefordert, sich mit seiner Maxime gleichsam selbst ein Gesetz zu geben, und Kant bezeichnet sein neues „Princip der Sittlichkeit“ daher (und unter Bezugnahme auf die dritte Lehr-Formel, s. u.) auch als das „Princip der Autonomie[,]
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das alleinige133 Princip der Moral“ (440.28f., vgl. dazu 477.02ff.). Diese metaethische Charakterisierung (siehe auch 440.18–29) dient ihm einerseits dazu, die eigene Moral-Konzeption griffig gegen sämtliche anderen, aus dem „Quell“ der „Heteronomie des Willens“ entsprungenen „unächten Principien der Sittlichkeit“ abzusetzen [80ff.] und wird andererseits zum bereits erwähnten Thema des dritten Abschnitts, zu den wahren „Quellen“ des Moralprinzips, überleiten. Zurück zu den Absätzen [33ff.]: Hier stellt Kant seine drei LehrFormeln vor und wendet dabei die ersten beiden auf ein exemplarisches Geviert von Pflichten an (für die dritte Formel überlässt er dies dann seinen Lesern; 432 Fn.), um damit nun den Nachweis zu erbringen, dass sich „dereinst“ (391) in der auf die Anwendungen zielenden Metaphysik der Sitten „alle Imperativen der Pflicht“ aus dem „einigen“ kategorischen Imperativ ableiten lassen werden. Die vier Beispielfälle sind dabei ausdrücklich so gewählt, dass sie als repräsentativ für jede der „gewöhnlich“ voneinander abgegrenzten Pflichtarten134 gelten können: für vollkommene (v) und unvollkommene135 (u) Pflichten sowie für Pflichten gegen sich selbst (s) und gegen andere (a): Suizidverbot (vs), Versprechenstreue (va), Selbstvervollkommnung (us) und Beistandspflicht in der Not (ua). Die erste der drei Lehr-Formeln bringt den formalen Begriff einer Natur ins Spiel: Die Maxime, von der (bzw. ‚durch die‘) man wollen kann, dass sie ein allgemeines Gesetz werde, ist eine Maxime, die auch zum allgemeinen Naturgesetz, d. h. zu einem allgemeinen Gesetz, welches den Zusammenhang der infrage stehenden Dinge (hier: der willentlichen Handlungen) betrifft, taugen kann. Denn die Gültigkeit des Willens als eines allgemeinen Gesetzes für mögliche Handlungen [hat Analogie] mit der allgemeinen Verknüpfung des Daseins der Dinge nach allgemeinen Gesetzen, die das Formale [!] der Natur überhaupt ist. (437; vgl. auch 04:467)
Würde man für die Natur-„Analogie“ statt dieses formalen Begriffs einer Natur den materialen heranziehen, dann hätte man die stoische Formel des „vive convenienter naturae“ (wie wir sie u. a. in der Moral Kaehler finden: p. 51f.; 27:266, 518) erhalten: Man sollte dann seine Maximen den Gesetzen der Natur, insbesondere der eigenen „Beschaffenheit“, anpassen und sich so vervollkommnen. Diese Forde-
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III. Kommentare zum Text
rung wäre aber, da sie kein formales Prinzip vorstellt, wegen der damit gegebenen Abhängigkeit von der besonderen Natur (im materialen Sinne) des Menschen für eine reine Sittenlehre nicht brauchbar (sondern nur als eine „Klugheitsregel“ für die Menschen, ebd.). Die Naturgesetz-„Analogie“ „nähert“ so zwar das Moralgesetz der „Anschauung“ (so 437), muss sich dabei allerdings auf das Formale der Natur beschränken: Das Haltbare am alten stoischen Grundsatz ist damit herübergerettet – und so ein Anschluss hergestellt an die Lehre der (nach Kants Überzeugung) besten der griechischen Moralphilosophen.136 Da Kants normative Ethik (die „eigentliche[ ] Moral“, 429.28) und damit insbesondere die Angemessenheit des kategorischen Imperativs als moralischer Grundnorm hier nicht das Thema ist, werde ich die Struktur der (‚naturanalogen‘) Argumente in den vier Beispielfällen nur in ihrem Kern rekonstruieren, ohne sie ausführlich (etwa hinsichtlich ihrer Trag- bzw. Reichweite) zu diskutieren: (1) [35] Die Maxime des Lebensüberdrüssigen, sich um der Befreiung von seinem Leid willen, d. h. aus „Selbstliebe“, das Leben zu nehmen, kann nicht zugleich zu einem allgemeinen Naturgesetz werden: Denn eine Natur, deren Gesetz es wäre, mit ebenderselben Selbstliebe, „deren Bestimmung137 es ist, zur Beförderung des Lebens anzutreiben, das Leben selbst zu zerstören“, würde sich selbst widersprechen „und also nicht als Natur bestehen“. (2) [36] Die eigene Maxime, ein Versprechen mit der Absicht zu geben, es vorsätzlich nicht zu erfüllen, machte, wenn sie „zugleich“138 ein allgemeines Gesetz wäre, jedes Versprechen (das gerade infrage stehende einbegriffen!) unmöglich, denn das gedachte Gegenüber könnte dann unmöglich glauben, „daß ihm was versprochen“ werde und hätte daher keinen Grund, in irgendein ‚Versprechensangebot‘ einzuwilligen: ‚Ich will ein lügenhaftes Versprechen abgeben, aber unter solchen (kontrafaktischen) Bedingungen, unter denen – weil ja meine Maxime (zugleich) ein allgemeines (Natur-)Gesetz ist – kein vernünftiges Wesen es annehmen wird!‘ – Daraus würde definitiv nichts!139 [39] ([37/38] werden im Anschluss erörtert) Bei diesen ersten beiden Beispielen für vollkommene Pflichten ergibt sich die einschlägige Unmöglichkeit des Wollens (bereits) daraus, dass ich ein gegebenes Handlungsprinzip nicht zugleich als meine Maxime und als ein allge-
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meines (Natur-)Gesetz ohne Widerspruch denken kann. Bei den beiden nachfolgenden Beispielen für unvollkommene Pflichten ist nun „jene innere Unmöglichkeit nicht anzutreffen“, d. h.: man kann die zurückzuweisende Maxime durchaus (mit ihr) zugleich als allgemeines Naturgesetz denken. Aber, so Kant, ein vernünftiges Wesen kann (gleichwohl) nicht wollen, das Gesetz „sollte ein solches werden“, weil „ein solcher Wille [!] sich selbst widersprechen [!] würde“. Ein einschlägiger ‚Widerspruch im Willen‘ kann nun aber nur dann vorliegen, wenn das einschlägige Gesetz (das mit der zurückzuweisenden Maxime ja ausdrücklich zusammenbestehen kann!) gleichwohl irgendeinem anderen Satz, und zwar einem „Princip“ ebendesselben Willens [12], widerspricht. Dieses Prinzip140 muss nun allerdings ein solches sein, das (im Unterschied zu der zur Prüfung anstehenden Maxime) ein „vernünftiges [!] Wesen […] nothwendig [!]“ hat (423.13f.) – denn hätte irgendein vernünftiges Wesen dasselbe bloß kontingenterweise, dann wäre der Widerspruch, und mit ihm dann auch die infrage stehende Pflicht, davon abhängig, dass er sich ein solches Prinzip tatsächlich zu eigen macht, was für Kantische Pflichten (als kategorische Gebote) aber nicht infrage kommt. – Die inhaltliche Unabhängigkeit eines solchen für vernünftige Wesen notwendigen Prinzips von dem einschlägigen Gesetz wird nun aber andererseits zur Folge haben, dass das entsprechende Gebot („Handle so, dass… !“) hier einen grundsätzlichen Spielraum für die Befolgung belässt, d. h. unvollkommene Pflichten generiert (das zeigt Anm. 142 unten dann am Beispiel). – Von den ‚notwendigen Prinzipien‘ erörtert Kant im Rahmen seiner Beispiele nur zwei (ob es darüber hinaus noch weitere geben könnte, braucht uns an dieser Stelle nicht zu interessieren): (3) [37] Zum einen will ein jedes vernünftige Wesen qua vernünftiges Wesen – und somit „nothwendig“ (423.14) –, dass es, soweit es an ihm selbst liegt, seine möglichen eigenen Absichten auch handelnd (durch seine „eigene Causalität“) realisieren kann: Andernfalls hätte es (wie wir oben [24] gesehen haben) gar keinen prinzipiengeleiteten Willen, sondern bloß (leere) Wünsche. Dies ist folglich ein „Prinzip“ für jedes Wesen, das überhaupt (praktische) Vernunft und damit einen Willen hat (es kann gleichsam als ein willenskonstitutives Prinzip zweiter Stufe angesehen werden, in hegelscher Diktion: ‚Ein Wille will Wille sein!‘).141 Allerdings könnten irgendwelche durch Neigungen veranlassten Maximen eines Menschen (z. B. des „Süd-
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see-Einwohner[s]“, der „sein Leben bloß […] auf Genuß zu verwenden bedacht wäre“) jener (aus dem ‚notwendigen Prinzip‘ eines Willens folgenden) Maxime einer „Erweiterung und Verbesserung seiner glücklichen Naturanlagen“ im Einzelfall entgegenstehen. Aber was ein vernünftiges (Sinnen-)Wesen aufgrund seiner Neigungen will, das will es jedenfalls nicht „nothwendig“ (es hat ja ein arbitrium sensitivum liberum(!), s. o. zu [12]), sondern allenfalls „wirklich“ – nämlich jeweils bloß aufgrund irgendeines „Ideal[s] der Einbildungskraft“ (s. o. [21], [25]). Ein allgemeines Gesetz, das es zulässt, solchen Neigungen nachzugeben, stünde im Widerspruch zu der für jedes willensbegabte Wesen notwendigen Maxime einer Erweiterung seiner Fähigkeiten (um der Möglichkeit des Wollens selbst willen). Also ist die (bloß-neigungsabhängige) Maxime der Vernachlässigung pflichtwidrig.142 (4) [38] Zum anderen weiß der Mensch, als ein vernünftiges endliches Sinnen-Wesen, um seine unabwendbare Angewiesenheit „auf Beistand[ ] in der Noth“ (damit es ggf. die eigene Handlungsfähigkeit erhalten kann). Ein Naturgesetz, das jede „Hoffnung“143 auf dergleichen Beistand zerstört, kann ein vernünftiges Wesen „unmöglich“ wollen (aus analogen Gründen wie soeben unter [37] erörtert), sondern allenfalls aufgrund kontingenter Neigungen (resultierend etwa aus der Befürchtung, zukünftig anderen irgendwann einmal Beistand leisten zu müssen &c.).144 Die in ein allgemeines Gesetz transformierte (bloß-neigungsabhängige) Maxime einer Verweigerung der Nothilfe stünde daher im Widerspruch zu der für jedes vernünftige Sinnenwesen notwendigen Maxime einer Inanspruchnahme unverzichtbaren fremden Handlungsbeistands. Sie ist folglich pflichtwidrig. Wie auch immer wir diese vier Argumentationen (gegen Suizid und Vertragsuntreue, für Selbstvervollkommnung und Fremdbeistand in der Not) in der Sache beurteilen, eines zumindest wird bereits im Zuge dieser kurzen Charakterisierung deutlich: In keinem seiner Beispiele greift Kant (explizit oder auch nur implizit) auf Überlegungen der Art ‚Was wäre, wenn das alle täten (bzw. jede(r) täte)? zurück. Es geht ihm bei der Anwendung seiner neuen Formel definitiv nicht um irgendwelche (vermeintlich problematischen) ‚Verallgemeinerungen‘ bzw. ‚Universalisierungen‘ von Verhaltensweisen oder Handlungstypen, und a fortiori geht es nicht darum, was wohl passierte, wenn alle anderen meine Maxime zu der ihren machten: Von ‚Universalisierung‘ bzw. ‚Verallgemeinerung‘ ist bei Kant im Kontext
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der vier Beispiele ohnehin keine die Rede.145 Es geht ihm vielmehr um (1) eine (kontrafaktische!) Umwandlung (oder ‚Verwandlung‘, 422.26) einer zur Prüfung anstehenden subjektiven Maxime in ein objektives Gesetz, also eines kontingenten, subjektiven Handlungsprinzips in eine geltende, objektive Handlungsnorm146 mit (2) dem (hypothetischen!) Szenario der gleichzeitigen Geltung (a) dieses Gesetzes sowie (b) einer Maxime oder eines Prinzips, die oder das der Handelnde (entweder e suppositione oder147 notwendigerweise) hat, als Handlungsgrundsätzen seines Willens. Im Falle eines Widerspruchs in einem so vorgestellten Willen (wenn dieser also ‚zugleich‘ A und non-A wollen müsste) ist die geprüfte Maxime pflichtwidrig. Die Rede von ‚gesetzlicher Notwendigkeit‘148 ist für die Ableitung von Pflichten vermittels der Imperativ-Formeln somit genauso unverzichtbar wie der hypothetische Status („als ob“, siehe 421, 436 und 438) der Reflexion: Den einschlägigen ‚Widerspruch im Willen‘ (sowie die zugehörige Unmöglichkeit des einschlägigen Handelns) gibt es ja ausschließlich unter den kontrafaktischen Voraussetzungen im hypothetischen Szenario.149 Im tatsächlichen Willen des unter dem kategorischen Imperativ stehenden Subjekts spiegelt sich dieser gedachte Widerspruch dann allein in Gestalt der moralischen Nötigung, die geprüfte Maxime ggf. zu verwerfen (vgl. 424.25ff.): Denn gäbe es zwischen dieser Maxime und irgendwelchen anderen Prinzipien desselben Willens tatsächlich irgendeinen Widerspruch, dann wäre das fragliche Wollen (als ein nihil negativum) de facto unmöglich – und damit die Frage nach einem moralischen Sollen von vornherein gegenstandslos. Verallgemeinerungen von Handlungsweisen dagegen führen als solche in der Regel zu eher bizarren – und vor allem: zu moralphilosophisch gänzlich nutzlosen – Szenarien: Es ist definitiv unmöglich, dass sich alle Menschen zugleich im Schwimmbad befinden oder dass jede(r) besser Auto fährt als der Durchschnitt. Sollte es aber deswegen moralisch fragwürdig sein, frühmorgens im Stadtbad einsam seine Bahnen zu ziehen150 oder gar überdurchschnittlich gut Auto zu fahren? Orientiert man sich an Kants Vorgehen in seinen vier Beispielen, dann kommt man gar nicht erst in die Verlegenheit, über solche merkwürdigen Fragen nachdenken zu müssen: 151 Es ist dem kategorischen Imperativ gemäß selbstredend denkbar, dass es z. B. zugleich mir und allen erlaubt (resp. für jeden möglich) ist, ins Schwimmbad zu gehen: Die Maxime152 des ‚pflichtbewussten Bade-
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gastes‘ führt nicht zum Widerspruch, wenn sie (kontrafaktisch!) zugleich als allgemeines Gesetz gedacht wird, denn aus dessen Geltung folgte ja nicht, dass alle vernünftigen Wesen zugleich ins Schwimmbad aufbrechen (wobei selbst das dann nicht zu irgendeinem Widerspruch, sondern vielmehr zu einem großen Gedrängel führte).153 Der Fall des Versprechens ist dagegen grundsätzlich anders gelagert: Wenn es allgemein erlaubt/möglich wäre, Versprechen nach Belieben zu brechen, dann würde jedes vernünftige Wesen Versprechensangebote notwendig als bedeutungslos ansehen und ignorieren – und daher über solche als „eitle[ ] Vorgeben lachen“. Daher widerspräche es sich, bei einer (kontrafaktisch) gedachten Umsetzung der Forderung des kategorischen Imperativs, ein lügenhaftes Versprechen gültig abzugeben, weil Versprechen unter dieser Voraussetzung von keinem vernünftigen Wesen angenommen würden – und damit unmöglich wären (s. o.). Mit dieser Abweisung von ‚Verallgemeinerungs-Strategien‘ (mitsamt deren Problemen) ist freilich noch nicht die Frage beantwortet, ob die als Alternative angebotene Rekonstruktion der Anwendung von Kants neuer „Formel“ des Moralprinzips ihrerseits eine tragfähige Grundlage vielseitiger und hinreichend trennscharfer Verfahren für unsere moralischen Entscheidungen154 liefert und uns, wie ein ‚Compass‘ im Gelände, zur sittlichen Orientierung dienen kann. Doch das muss, als Problem von Kants normativer Ethik, hier offen bleiben.155 [40] Die Selbstbeobachtung bei einer Pflichtübertretung lehrt uns, dass wir bei derselben nicht etwa unsere moralwidrige Maxime als allgemeines Gesetz etablieren wollen (was voraussetzungsgemäß ja auch gar nicht ginge), sondern dass wir vielmehr durch den „Widerstand der Neigung“ dazu veranlasst werden, uns „nur einige, wie es uns scheint, unerhebliche und uns abgedrungene Ausnahmen“ zuzulassen (sc. ‚Nur ich darf ein lügenhaftes Versprechen abgeben, weil nur ich …!‘). Mit dieser ‚vernünftelnden‘ Zurückstufung der „Allgemeingültigkeit (universalitas) [des einschlägigen Gesetzes] in eine bloße Gemeingültigkeit (generalitas)“ beweisen wir implicite unsere faktische Anerkennung der Forderung des Kategorischen Imperativs. In [41] fasst Kant das bisherige Resultat zusammen: Wenn Pflicht unser Handeln bestimmen kann, dann (1) nur durch kategorische Imperative; und von deren Prinzip ist (2) bereits der Gehalt hinreichend
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deutlich dargestellt. Es steht weiterhin der ‚Beweis a priori‘ aus, dass „dergleichen Imperativ wirklich stattfinde“ und dass somit die Befolgung ebendieses „ohne alle Triebfedern für sich gebieten[den] […] Gesetzes Pflicht sei“.156 In [42-45] wiederholt Kant die schon mehrfach betonte Abgrenzung der anstehenden Aufgaben von solchen der Anthropologie: Das bisher entwickelte Moralprinzip (dessen Formel der Kategorische Imperativ ist) muss „(völlig a priori schon) mit dem Begriffe des Willens eines vernünftigen Wesens überhaupt verbunden sein“, seine Erörterung gehört deshalb in eine „Metaphysik der Sitten“157: Es geht um „Grundsätze […], die die Vernunft dictiert, und die durchaus völlig a priori ihren Quell und hiemit zugleich [!] ihr gebietendes Ansehen haben müssen“. [46] Nicht zuletzt um dem gesuchten „Quell“ näher zu kommen, steigt Kant noch ein zweites Mal (vgl. [12]) beim Willensbegriff ein und ergänzt die bisherigen Erörterungen nun um den Zweckbegriff (‚analogisiert‘ also nach der ‚einheitlichen‘ Form der Maximen nun deren ‚vielheitliche‘ Materie, 436). Das Ziel dabei ist die Gewinnung seiner zweiten ‚anschaulichen‘ Lehr-Formel, der sog. Zweck-Formel. Diese wird ihrerseits dann auf die dritte, die Selbstgesetzgebungs-Formel führen, welche ‚allheitlich‘ die vollständige Bestimmung aller Maximen in einem systematischen Ganzen (einem „Reich der Zwecke“) thematisiert, und in der schließlich (wie oben schon erwähnt) auch die gesuchte „Quelle“ des (Moral-)Prinzips erstmals direkt „angedeutet“ wird. Auch wenn kategorische Imperative dem Menschen keine bestimmten Absichten bzw. keine besonderen (subjektiven) Zwecke gebieten (sondern nur eine formale Bedingung für die moralische Zulässigkeit von Handlungsmaximen liefern, vgl. [24]), so haben gleichwohl alle Handlungen (als Handlungen) eine Absicht bzw. einen (objektiven) Zweck, „der dem Willen zum objektiven [!] Grunde seiner Selbstbestimmung dient“.158 Es geht Kant im Folgenden demnach definitiv nicht um irgendwelche subjektiven Zwecke, die „man sich von selbst wirklich zum Zwecke macht“159 (431) und die dem Handelnden möglicherweise auch vorgeschrieben werden könnten – denn es wird „von allem zu bewirkenden Zwecke abstrahiert“ (437.25). Hier geht es vielmehr (1) um einen „objectiven Zweck[ ]“ und nun (2) speziell um einen solchen, der zudem „als Gesetz die oberste einschränkende Bedingung aller [!] subjectiven Zwecke ausmachen soll“ (ebd.).
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Alle kontingenten Zwecke oder Absichten (insofern sie auf „Triebfedern“ beruhen – wie etwa ein Restaurantbesuch, ein Banküberfall oder die Gründung einer Familie) fallen hierfür aus, denn sie haben einen Wert nur in Bezug auf das jeweils „besonders geartete Begehrungsvermögen des Subjects“ und können somit keine reinen (d. h. allgemeingültigen und objektiv-notwendigen) Handlungsprinzipien begründen. Sie geben demnach den Anlass allein zu hypothetischen Imperativen. [47] Nur wenn es etwas gibt, dessen „Dasein an sich selbst einen absoluten [!] Werth hat, was als Zweck an sich selbst ein Grund bestimmter Gesetze [!] sein könnte“, dann kann es auch eine solche (zweite) Lehr-Formel des kategorischen Imperativs geben, die per „Analogie“ auf die Materie von Maximen (d. h.: auf Zwecke) Bezug nimmt. Zweck „an sich selbst“ zu sein, bedeutet hier (wo der Ausdruck von Kant eingeführt wird) daher zunächst einmal nichts Anderes als: ‚ein möglicher objektiver Bestimmungsgrund eines Willens ohne Bezugnahme auf irgendein besonderes Begehrungsvermögen sein‘, also ein ‚Dasein, das keinen bedingten, sondern wesentlich einen absoluten Wert hat‘, was wiederum dasselbe bedeuten soll, wie ‚nicht als bloßes Mittel zu irgendeinem Gebrauch‘ dienen zu müssen. Später betont Kant dann auch, dass ein Zweck an sich selbst „nur negativ“ gedacht werden kann,160 als einer, „dem niemals zuwider gehandelt, der also niemals bloß als Mittel, sondern jederzeit zugleich als Zweck in jedem Wollen geschätzt werden muss“ (437f.). Es muss allerdings – wie bereits betont – einen solchen geben, wenn es kategorische Imperative gibt. In [48] deklamiert Kant dann geradeheraus: „Nun sage ich: der Mensch und überhaupt jedes vernünftige Wesen existiert als Zweck an sich selbst, nicht bloß als Mittel zum beliebigen Gebrauche […]“. Diese (unter den von Kant seinerzeit adressierten Zeitgenossen in der Sache sicherlich weitgehend unstrittige – dazu später!) Behauptung stützt Kant, indem er einen Katalog möglicher Kandidaten für einen „Zweck an sich selbst“ abprüft: Die Gegenstände der Neigungen (1) haben nur einen bedingten Wert, wie auch die Neigungen selbst (2) – man wünscht sich mitunter ja sogar, von ihnen frei zu sein. Damit sind alle „durch unsere Handlungen zu erwerbenden Gegenstände“ ohne absoluten Wert. Auch die vorfindlichen, von unserem Willen unabhängigen Gegenstände der Natur, sofern sie vernunftlos sind, haben keinen absoluten Wert, sie sind „Sachen“ (3). Somit könnten überhaupt nur die vernünftigen Wesen, d. h.
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„Personen“ (4), durch ihre „Natur“ als etwas ausgezeichnet sein, das absoluten Wert hat und „nicht bloß als Mittel gebraucht werden darf“. Dafür, dass die Willensbegabtheit für ihn also zumindest eine notwendige Bedingung darstellt, argumentiert Kant später (in [77], wo er die Überlegungen aus [48] Revue passieren lässt) noch einmal ausdrücklich:
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Dieser [Zweck an sich selbst] kann nun nichts anders als das Subject aller möglichen Zwecke selbst sein, weil dieses zugleich das Subject eines möglichen schlechterdings guten Willens ist; denn dieser kann ohne Widerspruch keinem andern Gegenstande nachgesetzt werden (Herv. B.L.).
Der schlechterdings gute Wille ist der einzige Gegenstand, dem unbedingter Wert zugeschrieben werden kann, ein Wert, der somit alle anderen „überwiegt“ (vgl. dazu [I 19]). Wenn man dies zugesteht, dann kann selbstredend überhaupt nur ein Wesen, das einen Willen hat („Subjekt aller möglichen Zwecke“ ist), einen absoluten (d. h.: alles andere überbietenden) Wert haben und damit Zweck an sich selbst sein, kurz (mit [12]): Nur ein vernünftiges Wesen – wie es etwa der Mensch ist – kommt dafür also überhaupt in Frage. [49] Der spezifische Anspruch derjenigen Überlegungen, die über diese – 1785 dem Inhalt nach wenig spektakuläre – Einsicht hinaus dann erst zu Kants zweiter Lehr-Formel des kategorischen Imperativs führen, erschließt sich unmittelbar aus der Struktur – und einer ausdrücklich benannten Voraussetzung – der entscheidenden, sich hier anschließenden Schlussfolgerung: Der Mensch als willensbegabtes Wesen stellt sich selbst sein eigenes Dasein, wie bislang erörtert, „nothwendig“ als „Zweck an sich selbst“ vor: „[S]o fern ist es ein subjectives [!] Princip menschlicher Handlungen“.161 Und erst „im letzten Abschnitte“ (so die Fußnote zu [49]) wird sich dann zeigen, dass überhaupt jedes vernünftige Wesen sich sein Dasein wegen eines erst noch zu entfaltenden „Vernunftgrundes“ „nothwendig“ so vorstellt. Und nur unter Voraussetzung der dort dann aufgezeigten Möglichkeitsbedingung von kategorischen Imperativen kann auch die hier angezielte zweite Lehr-Formel nicht bloß als ein anthropologisches, sondern „zugleich“ auch als ein „objectives [!] Prinzip“, also als ein Gebot oder Verbot, betrachtet werden – dessen Formel sich durch einen Rückgriff auf den Zweckbegriff (d. h. auf die mögliche Materie von Maximen) ‚der Anschauung nähert‘, aus dem aber gleichwohl noch „alle Gesetze [!] des Willens müssen abgeleitet werden können“.
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Weil Kant den genannten „Vernunftgrund[ ]“ des Prinzips erst im dritten Abschnitt zum Gegenstand machen will (wo das Prinzip dann „aus reiner Vernunft entspringen“ wird; 431), kann er hier im zweiten Abschnitt also noch gar nicht abschließend begründen wollen, warum es für den Menschen nicht nur (wie bereits gezeigt) möglich und pragmatisch notwendig, sondern darüber hinaus sogar kategorisch geboten ist, das eigene Dasein wie auch das der anderen als „Zweck an sich selbst“ (d. h.: nie als bloßes Mittel) anzusehen und zu behandeln. Und Kant braucht es auch nicht zu tun, denn er greift das zwar „nothwendig[e]“, aber gleichwohl zunächst bloß „subjective[ ]“ menschliche Selbstverständnis hier ja nur auf („Nun sage ich…“), weil sich mit dessen Hilfe eine (zweite) Lehr-Formel des kategorischen Imperativs gewinnen lässt, die (als ästhetische) dem „sittlichen Gesetze Eingang verschaffen kann“ (437). Die moralisch-praktische Angemessenheit dieses Selbstverständnisses für jedes Vernunftwesen (und der für Kant erst damit einher gehende kategorische Gebots-Charakter: „Handle so, dass…!“) kann dann aber endgültig erst im dritten Abschnitt mit Verweis auf den einschlägigen „Vernunftgrund“ (wie sich dort dann zeigen wird: auf den „reinen gesetzgebenden Willen“ des Menschen) ausgewiesen werden; hier im zweiten Abschnitt stellt Kant daher ausdrücklich zunächst nur „ein Postulat auf“162 und vertagt seine „besondere und schwere Bemühung“ (420) bis zum letzten Abschnitt.163 Wenn also ein kategorischer Imperativ möglich ist, dann lautet die zweite, nun nicht auf die Form der Maximen, sondern auf deren mögliche Materie bezogene Lehr-Formel desselben: Handle so, daß du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst!
„Menschheit“ steht in der Grundlegung nicht nur für die Gesamtheit aller Menschen (so etwa 408.21, 425.20), sondern zumeist (und hier nun zum ersten Mal) für das, was in specie den Menschen zu einem des sittlichen Handelns fähigen Wesen, zur „Person“ macht – für seine „Persönlichkeit“.164 Im Rahmen einer Erörterung der „unterste[n] Stufe der Natur des Menschen vor aller Cultur, nämlich de[m] bloß thierische[n] Instinct“ heißt es 1796 in der Verkündigung des nahen Abschlusses eines Tractats zum ewigen Frieden in der Philosophie:
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Hier wird nun die Natur im Menschen noch vor [!] seiner Menschheit, also in ihrer Allgemeinheit, sowie sie im Thier thätig ist, um nur Kräfte zu entwickeln, die nachher der Mensch nach Freiheitsgesetzen anwenden kann, vorgestellt. (08:413)
Das vernünftige Wesen165 ist, wie Kant in der Grundlegung bereits zuvor [46] betont hatte, also nicht etwa schon deshalb ein absoluter Zweck, der niemals bloß als Mittel gebraucht werden darf, weil es sich selbst beliebig Zwecke setzen (und Mittel zu deren Realisierung auswählen) kann, kurz: weil es ein rationales Wesen ist (praktische Vernunft hat) – das ist bloß eine notwendige Bedingung (s. o. und auch das Zitat unten in Anm. 169); sondern nur, sofern es nach „Freiheitsgesetzen“ handeln kann, d. h. unter kategorischen Imperativen steht (reine praktische Vernunft hat).166 Das (empirisch verbürgte, s. o.) Vermögen ‚(zweck-)rationaler Selbstbestimmung‘ allein macht ein Wesen für Kant nicht bereits zum Gegenstand der „Achtung“, ganz im Gegenteil – wie er etwa in der Einleitung zur Naturrechtsvorlesung von 1783/84 drastisch deutlich macht: Es „könnte nichts schrecklicheres gedacht werden“ (27:1320) als ein solches! Ein bloßzweckrationales Wesen wäre nämlich nicht etwa achtungswürdiger, sondern erst einmal nur unendlich gefährlicher als alles vernunftlose Vieh, „[d]enn von einem Thier, das Vernünftelt, kan man alles besorgen“ (15:891): „Das [nicht-vernünftelnde] Thier richtet sich nach seinem Instinct, der Regel hat, aber bei einem solchen [sc. beim bloßzweckrationalen] Menschen weiß ich mich nicht im geringsten zu versehen“ (27:1320). Genau deshalb erschrickt Robinson Crusoe zutiefst beim Anblick der „Fußtapfen eines Menschen“ auf „seiner wüsten Insel“, denn diese weisen erfahrungsgemäß auf ein animal rationale hin. Bei einem solchen kann man dann allenfalls hoffen, dass es auch das Zeug zum animal morale mitbringt, also nicht „frey ohne Gesetz“, eben kein „Wilder“ (mehr) ist, 167 den „sogleich todt zu schießen“ nicht unklug wäre: Dies mussten der „Ritter Marion [Dufresne]“ und seine 22 Matrosen am 12. Juni 1772 in Neuseeland erkennen – allerdings erst, als es für einige von ihnen bereits zu spät war (ebd.): Nachdem man einen Monat lang zum wechselseitigen Nutzen Handel getrieben hatte, also durchaus zweckrational miteinander umgegangen war, und sogar „in bester Freundschaft“ gemeinsam lebte, entschlossen sich (so Kant) die ‚Wilden‘, den Fremden (mitsamt seinen Matrosen) noch rechtzeitig vor der anstehenden Abreise ‚aufzufressen‘, einfach „weil sie ihn gerne essen Vittorio Klostermann, 2019.
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wollten“ – und allem Anschein nach kannten sie kein Gesetz, das diesem (auf seine Art ja durchaus zweckrationalen) Handeln hätte Schranken setzen können.168 Demnach hängt das sittlich-normative „Dasein“ eines ‚Zwecks an sich selbst‘, d. h. die Möglichkeit von „absolutem Werthe“, für Kant ersichtlich genauso wenig an der menschlichen Fähigkeit zu Zwecksetzung und Mittelwahl allein, wie an der biologischen Gattungszugehörigkeit (denn deren beider Zusammentreffen ist ja zunächst einmal nur ‚schrecklich‘, s. o.), sondern vielmehr ausschließlich am Gesetz, an der Realität kategorischer Imperative. Schon zuvor hatte er betont: „Alle Achtung für eine Person ist eigentlich nur Achtung fürs Gesetz“ (401.35f.). Kants Zweck-Formel sitzt also begründungslogisch nicht bereits auf jener Art der ‚Vernunft‘ auf, die sich in hypothetischen Imperativen, d. h. empirisch in einem Wahlvermögen169, zeigt, sondern erst auf dem „oberste[n] praktische[n] Princip“, dem kategorischen Imperativ (dessen zweite Lehr-Formel sie ja sein soll): Nur wer Objekt reiner, sittlicher Nöthigung ist (oder sich zumindest so begreift, s. u.), kann überhaupt „Gegenstand der Achtung“, „Zweck an sich selbst“ im moralischen Sinne, d. h. eine „Person“ sein, denn alles andere ist nur von relativem Wert, mit einem Wort: „Sache“ – Tiere, die ‚vernünfteln‘, eingeschlossen. Wir könnten solche zwar durchaus auch wie einen ‚Zweck an sich selbst‘ behandeln. Moralisch geboten wäre das allerdings nicht170 – und klug schon gar nicht, wie der „Ritter Marion“ erfahren musste. [50-54] Bei der abschließenden Anwendung der Zweckformel auf die vier exemplarischen Beispielfälle aus Abs. [34ff.] greift Kant für die vollkommenen Pflichten primär auf den ‚nicht-als-bloßes-Mittel‘-Aspekt zurück und für die unvollkommenen primär auf den der ‚Selbstzweckhaftigkeit‘: Wer [51] sich selbst aus Überdruss am Leben tötet, „bedient sich einer Person [sc. der seiner selbst] bloß als eines Mittels zu Erhaltung eines erträglichen Zustandes [seiner sinnlichen Existenz] bis zu Ende des Lebens“. Und wer [52] ein lügenhaftes Versprechen abgibt, will „sich eines anderen Menschen bloß als Mittels bedienen [… und] ihn zu [s]einen [eigenen] Absichten brauchen.“ – Vernachlässige ich [53] die Entwicklung meiner Anlagen zur Vollkommenheit, dann befördere171 ich nicht den Zweck der Menschheit (in meiner eigenen Person). Trage ich [54] nichts zur Glückseligkeit anderer bei, dann mache ich mir deren (subjektive) Zwecke nicht zu eigen, wie es aber doch der Fall wäre, wenn die
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Vorstellung, der andere sei (objektiver) Zweck an sich selbst, „bei mir alle Wirkung thun soll“. Dass wir uns mit der zweiten Lehr-Formel (die auf die „Materie“ von Maximen Bezug nimmt) nun nicht mehr im antiken Bezugsrahmen des stoischen ‚naturae convenienter vive‘ bewegen, sondern (wie oben ja bereits angedeutet) im (früh-)neuzeitlichen des christlichen Naturrechts, geht unter anderem daraus hervor, dass Kant an dieser Stelle die Gelegenheit nutzt, in einer Fußnote zum Beispiel des lügenhaften Versprechens [in 52] das Verhältnis seiner Zweckformel zu einer Grundformel der christlichen Moral, der Goldenen Regel (sc. ‚Was Du nicht willst, das man Dir tu, das füg‘ auch keinem anderen zu!‘), zu thematisieren.172 Er weist dabei auf die allseits bekannten Mängel hin, die es seines Erachtens verbieten, diese „triviale“ Regel hier weiterhin als „Richtschnur oder Prinzip“ heranzuziehen, sowie auf die Tatsache, dass sie ohnehin nur eine „mit verschiedenen Einschränkungen“ abgeleitete ist: Sie erfasst (anders als der kategorische Imperativ) weder die Pflichten gegen sich selbst, noch die Liebespflichten gegen andere, noch bestimmt sie angemessen die schuldigen Pflichten der Menschen gegeneinander. Bereits Samuel von Pufendorf hatte etwa 100 Jahre zuvor ausführlich solche Einschränkungen der Anwendbarkeit diskutiert (darunter auch das Versagen im ‚Richter‘-Beispiel), Christian Thomasius etwa versuchte darauf mit Verbesserungs- und Differenzierungsvorschlägen zu antworten, und andere, wie Christian Wolff und Gottfried Achenwall, folgten ihm darin – ohne aber die Regel je grundsätzlich zu verwerfen. 173 Wir dürfen davon ausgehen, dass Kant hoffte, diese Debatte endlich dadurch zum Abschluss bringen zu können, dass er die betagte „Richtschnur“ des Evangeliums jetzt durch eine neue und insbesondere angemessenere ersetzt: Seine ‚eingängige‘ Zweckformel präsentiert sich somit als das kritische Substitut der ‚Goldenen Regel‘ – und in der Konfrontation dieser beiden materialen Lehr-Formeln zeigt sich dann auch Kants wesentliche moralphilosophische Innovation geradezu in Reinstform: In der Zweckformel ist von der ‚Menschheit als objektivem Zweck‘ die Rede und nicht mehr, wie in der Goldenen Regel, von den ‚subjektiven Zwecken der Menschen‘.174 Ich soll mein Handeln der Materie nach also nicht etwa an dem ausrichten, was ich an der Stelle des anderen möglicherweise wollte, sondern vielmehr an dem, was der andere tatsächlich will – sofern dieser es auch als Ausdruck seiner Menschheit wollen kann: Ich sollte demnach z. B. meinen Eltern (oder
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meinen Kindern) zum Geburtstag die Eintrittskarten für ein sie beglückendes Konzert schenken, selbst wenn dessen Besuch für mich die reinste Zumutung wäre; aber weder einem Drogenabhängigen noch einem Pädophilen dürfte ich die Objekte seines Begehrens beschaffen, selbst wenn ich auch die einschlägigen Neigungen hätte (womit zugleich die entsprechenden Pflichten gegen mich selbst abgesteckt sind); schließlich darf der Richter dem Schuldigen eine verdiente Strafe nicht nachlassen, weil dieser ihr zwar als Sinnenwesen zu entkommen wünschte, sie als Person jedoch angesichts der Strafwürdigkeit unmöglich abweisen wollen kann (vgl. dazu 05: 37; 06:333f.).175 Dass sich Kant mit seiner Zweckformel auf dem Terrain der christlichen Morallehren bewegt, zeigt sich aber nicht nur an der genannten Fußnote, sondern vorzüglich darin, dass er mit der ‚Selbstzweckhaftigkeit‘ des Menschen einen zentralen jüdisch-christlichen Glaubenssatz – der den heidnischen Ethiken gänzlich fremd war – reflektiert. In der Naturrechtsvorlesung von 1784 weist er darauf im Rahmen der Erörterung der Zweckformel auch eigens hin: „der Mensch ist […] Zweck der Schöpfung“ (27:1319). Daher dürfte die Behauptung, dass der Mensch ‚nicht bloßes Mittel‘ für die Zwecke anderer (und auch nicht für beliebige eigene Zwecke) sei, für die meisten seiner Zeitgenossen (wie oben ad [48] bereits angedeutet) kein besonderes Innovationsmerkmal der Kantischen Ethik dargestellt haben. Bei Christian August Crusius etwa konnte man 1744 an einschlägiger Stelle lesen, die Menschen seien „nicht als blosse Mittel für andere Creaturen, sondern zu einem vor [d. h. ‚für‘] sie selbst bestimmten Endzwecke geschaffen“ (Crusius, Anweisung § 218, vgl. §§ 210 und 365): Die Menschen sind demnach das exklusive Mittel des Schöpfers für die Realisierung des von ihm vorgesetzten „Endzweck[s]“, und infolgedessen ist es sämtlichen Geschöpfen verboten, einen Menschen als „bloßes Mittel“ für eigene Zwecke zu benutzen.176 Kants Rede vom Menschen als „Zweck an sich selbst“ ist demnach zunächst einmal nur eine anthropologische Umdeutung dieses seinerzeit weitgehend unkontroversen moraltheologischen Gemeinplatzes (so explizit dann 05:87.13ff.). Zudem übersetzt er dabei den darin nur „dunkel“177 enthaltenen (im zweiten christlichen Liebesgebot [Matth. 20.39] dann allerdings höchst nachdrücklich betonten; vgl. 399.13f.; 27:722) Bezug auf den ‚Nächsten‘ in philosophische Termini: Der ‚Zweck‘ ist die Menschheit in der Person – in der eigenen wie in der des
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Anderen. Kants genuin moralphilosophische Pioniertat bestand dann allerdings darin, diese Einsicht „zugleich“ als „objectives Prinzip“ in eine (materiale) ästhetische Formel seines kategorischen Imperativs hineinzuschreiben, um so nicht nur Elemente der stoischen, sondern nun auch solche der christlichen Moral seiner neuen Pflichtenlehre assimilieren zu können.178 Daran musste ihm schließlich gelegen sein, denn das
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Evangelium hat solche Puritaet in seinem moralischen Gesetz, wie keiner der alten Philosophen hatte (27:301; vgl. 05:127 Fn., 129.07ff., 472.32ff.).
[55f.] Nach einer erneuten Betonung des objektiven und nicht-empirischen Charakters der Zweckformel wird aus dieser als zweitem Prinzip und in Verein mit dem ersten (der Naturgesetzformel) schließlich noch das „dritte praktische Princip des Willens“ entwickelt: „die Idee179 des Willens jedes vernünftigen Wesens als eines allgemeinen gesetzgebenden Willens“. Damit ist der Wille eines vernünftigen Wesens – sofern dieses kategorischen Imperativen unterworfen ist – „selbstgesetzgebend“. [57] Wie bereits die ersten beiden Lehrformeln, so kann auch diese dritte den Begriff der Pflicht nur explizieren, ohne dass damit auch schon „bewiesen werden“ könnte, dass es kategorische Pflichtgebote tatsächlich gibt. Allerdings wird mit der ‚Selbstgesetzgebung‘ hier bereits „angedeutet“, dass die für solche kategorischen Gebote geforderte „Lossagung von allem Interesse“ die genannte „Idee“ voraussetzt – eine Idee, deren Realität aber auch „hier noch nicht“, sondern erst im folgenden Abschnitt zum Thema werden soll: Andernfalls wäre ja die Möglichkeit kategorischer Gebote – Kants wiederholt gegenteiligen Versicherungen zum Trotz – schon im zweiten Abschnitt ‚bewiesen‘ worden (vgl. oben ad [28]). [58] Jedenfalls kann nur ein „zuoberst“ gesetzgebender Wille (auch) ‚ohne alles Interesse‘ gebieten. [59] Daraus folgt die Reziprozität von Selbstgesetzgebung und der Möglichkeit kategorischer praktischer Prinzipien. Für das sich damit ergebende „dritte praktische Prinzip des Willens“ (431.14) formuliert Kant keinen zugehörigen Imperativ und dekliniert auch die vier Beispiele nicht noch einmal durch (dieses Prinzip soll, wie wir gleich sehen werden, eine andere Aufgabe erfüllen). Allerdings legt er mit dem letzten Satz eine Formel wie die folgende nahe: ‚Handle so, dass deine Maxime die
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eines solchen Willens ist, der zugleich sich selbst als allgemein gesetzgebend zum Gegenstande haben könnte‘. [60] Nach dieser Rückbindung kategorischer Imperative an die Idee der Selbstgesetzgebung ist ersichtlich, dass sämtliche bisherigen Bemühungen zur Auffindung des „Princip[s] der Sittlichkeit“ fehlgehen mussten – selbst wenn die Bedeutung des Gesetzesbegriffs für den Pflichtbegriff bereits erkannt war. Allen bisherigen Moralphilosophen ist nämlich nicht nur entgangen, dass diejenige moralische Nötigung, von der im „gemeinen Vernunftgebrauch“ die Rede ist, eine kategorische sein muss (wie zuvor bereits gezeigt wurde, vgl. oben S. 69). Ihnen ist infolgedessen auch entgangen, dass eine kategorische Nötigung (wie hier nun erstmals deutlich wird) ausschließlich als eine solche „gedacht werden“ (417.06) kann, die unmittelbar aus einem allgemeinen Gesetz des eigenen Willens entspringt: Denn jedes uns von anderen auferlegte Gesetz könnte uns ja nur dann nötigen, wenn es mit „irgendein[em] Interesse als Reiz oder Zwang“ verbunden wäre (das gilt selbstverständlich auch und insbesondere für Gesetze eines göttlichen Willens; dazu unten Kap. IV). Kant führt an dieser Stelle nun den Begriff der Autonomie in die Moralphilosophie des Abendlandes ein (der bis dato vor allem in der politischen Philosophie beheimatet war, s. u.). Damit grenzt er seinen neuen „Grundsatz“ von „jedem anderen“ (der letztlich auf irgendein „Interesse“ zurückgreifen müsste) ab. Auch wenn im umgebenden Text kein „Grundsatz“180 explizit genannt ist, so wird man die Rede vom „Princip der Autonomie“ hier doch weder in specie auf die Gesetzgebungsformel (als die letztgenannte der vier Kantischen Formeln) beziehen, noch sie als Ausdruck zur Bezeichnung irgendeiner eigenen (fünften) Formel verstehen. Vielmehr wird man sie (insbesondere wenn man 440.14–20 einbezieht) als eine metaethische Charakterisierung der (neuen) Kantischen Moralphilosophie überhaupt auffassen müssen: Diese ist mit ihren kategorischen Imperativen (die in jeder der vier „Formeln eben desselben Gesetzes“ ihren Ausdruck finden, 436.09) die erste ‚Moral der Autonomie‘. Denn mit der dritten der Lehrformeln hat sich nun, wie schon erwähnt, bereits „angedeutet“ (432.01), dass kategorisch-gebietende Imperative nur181 als Gesetze eines „allgemein gesetzgebenden Willens“ des vernünftigen Wesens selbst gedacht werden können. Alle anderen Imperative wären hingegen Ausdruck von „Heteronomie“ 182, denn ihnen müsste sich noch irgend ein „Interesse“ beigesellen, damit sie überhaupt die
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Zum zweiten Abschnitt
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„Nothwendigkeit einer Handlung“ vorstellig machen könnten, kurz: Heteronomie führt immer nur zu hypothetisch-gebietenden Imperativen – und kann nach den bisherigen Erörterungen schon allein von daher nicht das Prinzip des ‚gemeinen praktischen Vernunftgebrauchs‘ sein. [61] Mit der dritten Lehrformel kommt nun (so [75], s. o.) nach den Kategorien der Einheit (sc. der Form der Maximen) und der Vielheit (sc. der Materie bzw. Zwecke der Maximen) die Kategorie der Allheit (sc. der Totalität bzw. des Systems der Zwecke) ins Spiel – und damit der „sehr fruchtbare[ ] Begriff“ eines „Reichs der Zwecke“ [62f.], d. h. „einer systematischen Verbindung verschiedener vernünftiger Wesen durch gemeinschaftliche Gesetze“. 183 Abstrahiert man von den „persönlichen Unterschieden“ dieser Wesen, dann ist jedes einzelne (wie die zweite Formel zeigte) von ihnen wesentlich ein „Zweck an sich selbst“ und bildet mit allen anderen eine Verbindung, in denen keines „bloß als Mittel“ behandelt wird. Sofern man diese Verbindung als gesetzmäßige (hier: gemäß dem Sittengesetz) denkt, führt sie auf das Ideal184 eines „Reiches der Zwecke“. [64f.] In diesem Reich ist jedes vernünftige Wesen zugleich „Glied“ (als gesetzesunterworfen) und „Oberhaupt“ (als gesetzgebend). Letzteres allerdings nur dann, wenn es sich selbst „völlig unabhängig“ vom „Bedürfnis“ bestimmen kann, d. h.: so, „dass der Wille durch seine Maxime sich selbst zugleich als allgemein gesetzgebend betrachten könne“. In dieser Selbstbestimmung besteht die „Moralität“ (d. h. jene Bedingung, „unter der allein ein vernünftiges Wesen Zweck an sich selbst sein kann“, 435.05f). Ein vernünftiges Wesen aber, dessen Maximen „nicht durch ihre Natur schon nothwendig“ mit diesem „objectiven Princip“ übereinstimmen (vgl. o. [12]), erfährt eine „praktische Nöthigung“ – das ist die „Pflicht“. [67] Diese gründet sich demzufolge nicht auf Neigungen (oder Interessen), sondern allein auf die „Idee der Würde“, die dem vernünftigen Wesen zukommt, insofern es „keinem Gesetz gehorcht als dem, das es zugleich selbst gibt“. [69ff.] Diese Würde bezeichnet einen „inneren Werth“ („in den Maximen des Willens“), im Unterschied zu allem „relativen Werth“, der sich in einem Äquivalent, dem „Preis“, ausdrücken lässt (der „Marktpreis“ bezieht sich dabei auf das „Bedürfnis“, d. h. den „Vortheil und Nutzen“; der Affektionspreis auf ein bedürfnisloses „Wohlgefallen“, d. h. auf das ästhetische Erleben). Die Würde des Menschen, die sich allein auf
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III. Kommentare zum Text
seine Sittlichkeit (und damit auf ihn als „gesetzgebend Glied“ im Reich der Zwecke) bezieht, ist Gegenstand unmittelbarer „Achtung“ und kann mit keinem Preis gemessen werden. Letztlich erweist sich damit die „Autonomie“ als Grund jenes „innern unbedingten Werth[es]“ (394.01), von dem ja die Untersuchung im ersten Abschnitt ihren Ausgang nahm: „Der Wille ist schlechterdings gut […], dessen Maxime, wenn sie sie zu einem allgemeinen Gesetz gemacht wird, sich selbst niemals widerstreiten kann.“ (437.05ff) Dass Kant mit seiner dritten Lehrformel, indem sie auf den Begriff des „Reichs der Zwecke“ führt, unmittelbar Anschluss an die philosophische Ethik der jüngeren Vergangenheit gewinnt, ist keiner weiteren Erläuterung bedürftig:
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Der Mensch muß sich im Reich der Zwecke oder vernünftiger Wesen als ein gesetzgebendes Glied ansehen. – Leibnitz nennt auch das Reich der Zwecke moralische Principien des Reichs der Gnaden. [ …] Die Avtonomie unsres Willens erhebt unsre Würde sehr. Die Glieder eines Reichs der Zweke deren Haupt Gott ist, ist die eigentlich intellectuelle Welt. Augustin und Leibnitz nannten es das Reich der Gnaden. (29:610, 629 [Moral Mrongovius 1784]; vgl. A 812)
Dass Gott das „Haupt“ des Reichs der Zwecke sei, das lesen wir bei Kant an dieser Stelle nicht: Stattdessen muss sich der Mensch selbst zugleich als „Glied“ und „Oberhaupt“ dieses Reiches denken – sofern er „Würde“ hat (s. o. ad [64f.]). Und dass er sich damit tatsächlich als Teil der „eigentlich intellektuelle[n] Welt“ begreift, das wird dann erst der dritte Abschnitt zeigen. Nachdem Kant im Anschluss zunächst die systematische Einheit der vier vorgestellten Formeln am Leitfaden der Quantitätskategorien dargestellt hat [72-75] (dazu bereits oben, ad [32]), bringt er sie im Anschluss noch einmal in eine Art Ableitungszusammenhang: [76] Die allgemeine Formel führt mit dem Gesetzesbegriff auf die Naturgesetzformel; [77] die Allgemeingültigkeit eines Gesetzes „für jedes Subjekt“ sagt „eben so viel als: das Subject der Zwecke […] muß niemals bloß als Mittel […] zum Grunde gelegt werden“; [78] und aus beidem folgt schließlich „unstreitig: daß jedes vernünftige Wesen […] als allgemein gesetzgebend müsse angesehen werden“. Das führt dann noch auf eine kompakte „Reich der Zwecke“-Version der Gesetzgebungs-Formel: „(H)andle so, als ob deine Maxime zugleich zum allgemeinen Gesetze (aller [!] vernünftigen Wesen) dienen sollte.“ Vittorio Klostermann, 2019.
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Würde die Regel des kategorischen Imperativs von den vernünftigen Wesen „allgemein befolgt“, dann würde ein Reich der Zwecke „wirklich zustande kommen“ – ganz wie das Reich der Natur bereits Wirklichkeit ist. Darauf allerdings kann das vernünftige Wesen, auch wenn es selbst sämtlichen sittlichen Forderungen Folge leistete, (zunächst einmal) genauso wenig rechnen wie darauf, dass die Natur sein sittliches Handeln durch Glückseligkeit belohnt. Kant weist damit auf das „Paradoxon“ hin, dass zwar die „Würde“ seiner vernünftigen Natur dem Menschen zur „unnachlaßlichen Vorschrift“ dienen soll, dies aber ohne dass er davon irgendeinen anderen „Zweck oder Vorteil“ erwartet. Andernfalls hätte er sich ja nicht dem Sittengesetz, sondern dem „Naturgesetz seines Bedürfnisses“ unterworfen, und sein demzufolge zwar kluges – aber bloß-pflichtgemäßes – Handeln hätte gar keinen unbedingten Wert. An dieser Stelle nun (439.12ff.) wagt Kant einen (sehr) kurzen Seitenblick in die Moraltheologie mit ihrer Lehre vom (hier allerdings nicht explizit so genannten) ‚Höchsten Gut‘ als dem letzten Ziel menschlichen Handelns. Dieses Ziel besteht in der Einheit von Glückswürdigkeit und Glückseligkeit: Das folgt – ex negativo – unmittelbar daraus, dass ein Mensch, der nicht beide Zustände gleichermaßen erstrebte, entweder ein (pflichtvergessener) „Schelm“ wäre oder ein (leidenschaftsloser) „Narr“ (im schlimmsten Falle sogar beides)185 – was (nach Kants Überzeugung) kein vernünftiges Sinnenwesen sein will. Zum einen ist nun aber das sittliche Handeln, mit dem man seine Glückswürdigkeit vorantreibt, in dieser Welt erfahrungsgemäß nicht verlässlich mit einem Zuwachs an Glückseligkeit verbunden (selbst die Tugendhaftesten sind nicht selten unglücklich), und zum anderen können wir unsere Glückseligkeit ohnehin gar nicht aus eigener Kraft gezielt hervorbringen.186 Nur wenn das Naturreich (das der Glückseligkeit) und das Reich der Zwecke (das der Glückswürdigkeit, in dem der Mensch Glied und Oberhaupt ist) beide noch einmal „als unter einem Oberhaupte vereinigt gedacht würde[n]“ (d. h. wenn ein Gott deren Einheit – wie auch immer – herbeiführen kann), dürfen wir demnach davon ausgehen, dass das Reich der Zwecke eine (praktische, d. h. für unser Handeln bedeutsame) „Realität“ hat und nicht eine „bloße[!] Idee“ (ein Hirngespinst) bleibt: dass die Hoffnung, Glückswürdigkeit führe zur Glückseligkeit, Moral sei also auch für etwas gut, zumindest nicht ungereimt ist.187 Für Kant geht es an dieser Stelle allerdings nur darum,
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darauf hinzuweisen, dass die Erwartung, am Ende stelle sich die Glückseligkeit als eine Folge der Glückswürdigkeit ein, nicht zur entscheidenden „Triebfeder“ pflichtgemäßen Handelns werden darf: Ein Gott als das gedachte Oberhaupt beider Reiche würde „nämlich den Werth der vernünftigen Wesen nur nach ihrem uneigennützigen, bloß aus jener Idee [sc. des Reichs der Zwecke] ihnen selbst vorgeschriebenen Verhalten beurtheile[n]“. Wer Glückswürdigkeit um der Glückseligkeit willen erstrebt, verfehlt am Ende beide – daran werden (und sollen!) also auch Gott und Unsterblichkeit gerade nichts ändern: Der verbürgte Gewinn z. B. der Pascalschen Wette ist demnach das one-way-ticket für die Höllenfahrt. Im Anschluss (439.24ff.) werden noch die Begriffe ‚Moralität‘, ‚erlaubt‘, ‚unerlaubt‘, ‚Heiligkeit‘, ‚Verbindlichkeit‘ sowie ‚Pflicht‘ bestimmt. Der von der gemeinen Vernunft (am Anfang der Grundlegung) als „schlechterdings gut“ vorgestellte (und auch „heilig“ genannte) Wille hat sich nun als ein solcher herauskristallisiert, „dessen Maximen nothwendig [!] mit den Gesetzen der Autonomie zusammenstimmen“. Er kennt keine „Verbindlichkeit“, denn diese gibt es ausschließlich für einen Willen, der (wie der des Menschen) durch das „Princip der Autonomie“ nur eine Nötigung erfährt (vgl. oben [12ff.]). Diese Nötigung „heißt Pflicht“. Alle „Erhabenheit und Würde“, die der Pflichterfüllung zugeschrieben wird, gründet sich folglich nicht einfach darauf, dass der Mensch irgendeinem „moralischen Gesetz unterworfen ist“ (wie es auch die meisten zeitgenössischen Morallehrer annahmen), sondern allein darauf, dass er „zugleich gesetzgebend und nur [!] darum ihm untergeordnet ist.“ Insbesondere etwa eine theistische Moral, in der Gott der oberste Gesetzgeber ist, kann folglich die Hochschätzung der Pflichterfüllung nicht begreiflich machen (was ja schon Euthyphron gegenüber Sokrates eingestehen musste). Somit kann die Einsicht, die bereits der „dritte Satz“ im ersten Abschnitt [I 15] formuliert hatte, jetzt ergänzt werden: ‚Pflicht ist die Notwendigkeit einer Handlung aus Achtung fürs selbstgegebene Gesetz‘ (im dritten Abschnitt wird sich noch eine weitere Formulierung anbieten). Weshalb uns dieses selbstgegebene Gesetz „unmittelbare Achtung“ (403.26) abzwingt, können wir nach den letzten Erörterungen auch bereits ahnen: Weil es Ausdruck unserer Teilhabe an einer übersinnlichen, „intellectuellen Welt“ (s. o.) ist. Diese Ahnung wird aber erst „der Philosoph“ (403.27) im abschließenden dritten Abschnitt – im
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Zum zweiten Abschnitt
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Rahmen einer „Kritik der reinen praktischen Vernunft“ – genauer „untersuchen“ (ebd.): Dort wird sich dann in der Tat der „uns mögliche“ gesetzgebende „Wille in der Idee [als] der eigentliche Gegenstand der Achtung“ erweisen. [80, 89, 90]188 Hier, gegen Ende des Zweiten Abschnittes, steht jedenfalls schon einmal fest: „Die Autonomie des Willens [ist das] oberste[ ] Princip der Sittlichkeit“. Dass nun der Wille jedes vernünftigen Wesens entsprechend durch selbst-auferlegte kategorische Imperative tatsächlich „nothwendig gebunden“ ist, wurde bislang allerdings noch nicht erwiesen. Nur so viel wurde gezeigt: Wenn die Forderungen der Sittlichkeit, deren „Richtigkeit“ auch von den Philosophen ja zu keiner Zeit in Zweifel gezogen werden (406.14f.), tatsächlich etwas Anderes sein sollen als z. B. die (Wolffschen) Vorschriften einer „mehr oder weniger verfeinerten Selbstliebe“ (ebd.), dann muss „gedachtes Princip der Autonomie das alleinige Princip der Moral“ sein. Diese Einsicht zumindest „lässt sich nämlich durch bloße [!] Zergliederung der Begriffe der Sittlichkeit gar wohl darthun“ – und dies war, wie wir sahen, Gegenstand der ersten beiden Abschnitte: Die „Entwickelung des einmal allgemein im Schwange gehenden Begriffs der Sittlichkeit“ (445.02ff.) führte im ersten Abschnitt zunächst auf jenes „oberste[ ] Princip[ ] der Moralität“ (392.04), welches die gemeine Menschenvernunft „sich zwar freilich nicht so in einer allgemeinen Form abgesondert denkt, aber doch jederzeit wirklich vor Augen hat und zum Richtmaße ihrer Beurtheilung braucht“ (403.35f.). Und die Formel dieses Prinzips erwies sich sodann vermittels einer Darstellung des „praktischen Vernunftvermögens“ im zweiten Abschnitt zunächst als die (allgemeine) Formel kategorischer Imperative, d. h. solcher Gebote, die (wenn dergleichen möglich ist) ein vernünftiges Wesen auch „ohne irgendeine Triebfeder und Interesse“ (444.33f.), d. h. ohne „Reiz oder Zwang“ (433.01), nötigen. Eine kategorische Nötigung kann aber nur von Gesetzen des eigenen Willens des Vernunftwesens ausgehen – womit sich das Prinzip der Moral schließlich als das „Princip der Autonomie“ erweist: Dem Begriff der Sittlichkeit der gemeinen Vernunft hängt also „eine Autonomie des Willens [in] unvermeidlicher Weise“ an, d. h.: sie liegt ihm sogar „zum Grunde“. (445.04f.)
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Blickt man auf die wesentlichen Schritte dieser bisherigen Untersuchungen zurück, dann bestehen sie in der Tat wesentlich in „Zergliederungen“. Im ersten Abschnitt führt die Unterscheidung der Gegenstände sittlicher Wert-Urteile (d. h. pflichtwidrige und pflichtmäßige Handlungen, sowie bloß-pflichtgemäße Handlungen und solche aus Pflicht) hin zu einer neuen Pflichtdefinition (mittels Unterscheidung von Gründen der Wertschätzung), die ihrerseits auf die gesuchte Formel führt. Im zweiten Abschnitt werden die denkbaren Arten praktischer Nötigung vernünftiger Wesen zergliedert (in problematische, assertorische und apodiktische), und damit wird dann die vorgenannte Formel der ‚gemeinen sittlichen Vernunfterkenntnis‘ als die einzig mögliche Formel neigungsunabhängiger Gebote ausgewiesen: Diese können nämlich nur die eines apodiktischen, kategorischen Imperativs sein – wenn ein solcher denn möglich ist. Diese Möglichkeit allerdings kann nun nicht mehr durch eine bloße Einteilung bzw. „Zergliederung“ gesichert werden.189 Wenn Kant hier also darauf hinweist, dass die ersten beiden Abschnitte „bloß-analytisch“ waren, der dritte Abschnitt dagegen nun aber einen „synthetischen Gebrauch der reinen praktischen Vernunft“ erfordere, um zu zeigen, wie ein „synthetischer praktischer Satz a priori möglich sei“, dann wird deutlich, in welchem Sinne die Rede von „bloß-analytisch“ hier zu verstehen ist: Der erste Abschnitt ist folglich im zweifachen190 Wortsinne „analytisch“ – im methodologischen (d. h. im traditionellen, Pappusschen) Sinne sowie im urteilstheoretischen (d. h. im jüngsten, Kantischen): Er nimmt (ausweislich der Vorrede, s. o.) „analytisch“ (im ersten Sinne) den „Weg“ vom gemeinen Vernunftgebrauch zu dessen Prinzip; und er ist dabei zudem „bloß-analytisch“ (im zweiten Sinne), weil er es auf seinem Wege wesentlich mit Zergliederungen von Begriffen (der Sittlichkeit), ausdrücklich aber nicht mit dem (philosophisch anspruchsvollen) Aufweis der Möglichkeit synthetischer Sätze a priori, zu tun hat. Der zweite Abschnitt ist dagegen nur in diesem zweiten Sinne „bloß-analytisch“: Er vertagt ja den synthetischen Vernunftgebrauch ganz explizit (420.12ff.) auf den dritten Abschnitt; und analytisch im ersten, methodischen Sinne kann er allein deshalb gar nicht sein, weil er (aus gutem Grund, s. o. ad [11]) nicht noch ein zweites Mal den „Weg“ vom (durchaus „achtungswürdigen“) gemeinen Vernunft-Gebrauch zu dessen Prinzip nimmt, sondern stattdessen bei einer Darstellung des praktischen Vernunft-Vermögens (mit seinen „allgemeinen
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Bestimmungsregeln“) einsetzt (‚examen mentale‘, s. o. Anm. 27), denn nur so lässt die Reinheit des bereits aufgefundenen Prinzips prüfen. In welchem Sinne ist nun der dritte Abschnitt „synthetisch“, und was soll dort gezeigt werden? Kant behauptet an keiner Stelle, dass er dort auf „synthetischem Wege“ (d. h. nach ‚progressiver Methode‘) vorgehe, und gemäß Vorrede hatte er denjenigen zweiten Weg, den ‚synthetischen‘, der vom neu ‚aufgefundenen und festgesetzten‘ Prinzip wieder zu Anwendung und Gebrauch zurückführt, ja in die „fasslichere“ Metaphysik der Sitten ausgelagert, die er „dereinst“ „liefern“ wird.191 Dass es stattdessen im dritten Abschnitt um einen „synthetisch-praktischen Satz a priori“, kurz: um einen „synthetischen Satz“192, und zwar in specie um dessen „Möglichkeit“, gehen wird, hatte Kant hingegen bereits zuvor in [28] ein erstes Mal angekündigt. Und der dort gegebenen Auskunft zufolge ergibt sich das im dritten Absatz noch zu lösende Problem daraus, dass im Falle kategorischgebietender Imperative das einschlägige (zweite) „Wollen einer Handlung nicht aus einem anderen, schon vorausgesetzten [Wollen ebendesselben Willens] analytisch abgeleitet werden kann“. Ein solches zweites eigenes Wollen kann dem vernünftigen Wesen, sofern es sinnlich affiziert ist, nämlich als ein Sollen entgegentreten – womit dann die Möglichkeit eines Imperativs gedacht werden kann. Wie aber können wir uns ein solches ‚zweites‘ Wollen denken, wenn dieses nicht aus einem Wollen desselben Willens „analytisch abgeleitet werden kann“ (wie bei den hypothetisch-gebietenden Imperativen), sondern (nun beim kategorischen) mit letzterem a priori „synthetisch“ verknüpft werden muss? Im Sinne genau dieser Aufgabe wird der kategorische Imperativ von Kant bereits in [28] ein „synthetischer Satz a priori“ genannt. Und dessen „Möglichkeit“ muss (noch) gezeigt werden, wenn „Sittlichkeit kein Hirngespinst“ sein soll. Dieses setzt nämlich voraus, dass der „kategorische Imperativ und mit ihm die Autonomie des Willens wahr und als ein Princip a priori schlechterdings nothwendig ist“. Dass Kant an dieser Stelle von „wahr“ spricht, ist prima facie irritierend (ein Imperativ ist kein – wahrheitsfähiges – Urteil), wird aber verständlich, wenn man die von Kant ja stets betonte Parallele zur theoretischen Philosophie im Blick hat: Die Grundsätze des Verstandes (wie etwa das Kausalitätsprinzip oder der Substanzsatz) sind als „Erkenntnisse“ fraglos wahr, sogar „nothwendig“ wahr, was dadurch gezeigt werden kann, dass sie als „synthetische Sätze a priori“ möglich sind (s. etwa 04:294ff.).
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Und wie im Theoretischen, ist auch im Praktischen dieser Nachweis die Aufgabe einer Kritik – in diesem Falle einer Kritik der reinen praktischen Vernunft, von welcher im dritten Abschnitt nun zumindest die „Hauptzüge“193 „darzustellen“ sind. Bevor wir dazu übergehen, werfen wir noch einen kurzen Blick auf die Absätze [81-88], in denen Kant (neben einigen Wiederholungen und Reformulierungen) darauf hinweist, dass seine (neue) Unterscheidung von Prinzipien der Autonomie und der Heteronomie ihn fortan von jeder „weitläufigen Widerlegung aller [übrigen] Lehrbegriffe“ entlastet, weil diese allesamt „überall nichts als Heteronomie des Willens zum ersten Grunde der Sittlichkeit aufstellen und eben darum [!] ihres Zwecks verfehlen müssen“. Jene (untauglichen) Prinzipien der Sittlichkeit lassen sich – dichotomisch – in empirische und rationale einteilen. Die empirischen wiederum in (1) die der (physischen) Glückseligkeit und (2) die des moralischen Gefühls. Die rationalen gehen vom Begriff der Vollkommenheit aus und wenden diesen entweder auf (3) die Folgen des Handelns (‚perfice te‘ [vervollkommne Dich!]) an oder auf (4) den Ursprung der sittlichen Vorschriften (im ‚vollkommenen Wesen‘). Wie bereits oben (ad Abs. [8]) erlaubt auch hier die Tafel der „Praktische[n] materiale[n] Bestimmungsgründe im Princip der Sittlichkeit“ (05:40) aus der zweiten Kritik eine Zuordnung jener Autoren, die Kant bei seinen Unterscheidungen im Blick hatte. In der gegebenen Reihenfolge sind es: Epikur, Hutcheson, Wolff (bzw. die Stoa) sowie „Crusius und die anderen theologischen Moralisten“. Die bis hier entwickelte ‚Moral der Autonomie‘ ist dem Inhalt nach offenkundig die laut Vorrede gesuchte „reine Moralphilosophie“: Ihr oberstes Prinzip ist der kategorische Imperativ, ein Prinzip, das bereits in der gemeinen Menschenvernunft (sobald diese über sich selbst aufgeklärt ist) angetroffen wird (so GMS I), das gleichwohl ein reines und objektives Vernunftprinzip ist, aus dem „alle Imperativen der Pflicht“ abgeleitet werden können und für das es zudem drei historisch anschlussfähige Lehr-Formeln gibt, die seine Eingängigkeit bei den Menschen befördern können (so GMS II).194 – Wer kein philosophisches Unbehagen dabei verspürt, an dieser Stelle nun die Möglichkeit kategorischer Imperative einfach zuzugestehen, wer also insbesondere kein dogmatischer Naturalist ist (und damit, dem philo-
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sophischen mainstream folgend, also ausschließlich hypothetische Imperative für möglich hält)195, der könnte den nachfolgenden dritten Abschnitt also zunächst einmal getrost beiseitelegen und sich sogleich der Metaphysik der Sitten zuwenden.196 Er würde damit allerdings riskieren, jener Versuchung zu erliegen, vor der Kant seine philosophischen Leser bereits am Ende der Vorrede indirekt gewarnt hatte (und der er durch die vorgezogene Publikation der Grundlegung ja gewissermaßen zuvorkommen wollte): Dass sie sich nämlich durch die „Leichtigkeit im Gebrauche und die scheinbare Zulänglichkeit“ des neu aufgefundenen Prinzips allzu rasch von dem Bedürfnis befreien, es noch „nach aller Strenge zu untersuchen“, es also insbesondere bis hin zu seinen „Quellen“ zu verfolgen197 – um es erst dadurch dann gegen alles „Vernünfteln“ endgültig festzusetzen.
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(3) Zum dritten Abschnitt Interpretationsgeschichtliche Vorklärung:198 Spätestens seit Herbert James Patons einflussreichem GrundlegungsKommentar von 1947 ist es als ein Gemeinplatz der Interpretationsgeschichte etabliert, dass Kant sich im dritten Abschnitt der Schrift unter der Frage: „Wie ist ein kategorischer Imperativ möglich?“ an einer ‚Deduktion des kategorischen Imperativs‘ (bzw. ‚des Sittengesetzes‘199) versuche: Für Henry Allison z. B. ist es 2011 schlicht „… evident that Kant’s ultimate goal in GMS 3 is to provide a deduction of the categorical imperative…“ (274), und eine solche Imperativ-Deduktion hat es ja auch längst bis in die Titel von Aufsätzen und Monographien geschafft.200 Allerdings scheinen die Vertreter dieser Interpretationshypothese durchweg kein klares Bewusstsein dafür entwickelt zu haben, dass es sich bei ihr – unerachtet aller vorgeblichen ‚Evidenz‘ – eben doch bloß um eine Hypothese handelt: Andernfalls hätte man ja irgendwann einmal die Frage aufgeworfen, was denn eigentlich die Überzeugung rechtfertigen könnte, dass es in Grundlegung III ausgerechnet um irgendeine Imperativ-Deduktion geht – denn Kant selbst hat dergleichen an keiner Stelle behauptet.201 Da die Klagen über die Undurchschaubarkeit – und zumeist sogar über das Scheitern – einer ‚Deduktion des kategorischen Imperativs‘ diese vom ersten Tag an wie ein Schatten begleiten202, wird man sich
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III. Kommentare zum Text
sicherlich nicht darauf berufen wollen, die Rede von einer solchen Deduktion sei doch hinreichend gerechtfertigt, weil sie sich bei der Erschließung des Textes der Grundlegung seit nunmehr gut siebzig Jahren bewährt habe. – Sieht man sich mit dieser Situation konfrontiert, dann gebietet es hier allein die aequitas hermeneutica, vor jeder weiteren Bemühung um den Text (und zunächst einmal ganz unabhängig von jeder speziellen Rekonstruktion der ersten beiden Abschnitte – oder auch anderer kantischer Schriften) noch einmal zu prüfen, ob Kant selbst sich mit seiner Ankündigung einer Bestätigung „der Richtigkeit dieser Deduction“ (am Anfang des 3. Absatzes von GMS III.4) nicht doch auf eine ganz andere Deduktion zurückbezogen hat. Eine Alternative, welche sich geradezu aufdrängt, wenn man eine solche auch nur in Erwägung zieht, ist die Deduktion der (erstens) im direkt vorausgegangenen Satz genannten „Idee [eines] zur Verstandeswelt gehörigen reinen, für sich selbst praktischen Willens“. Mit der „Deduction“ dieser Idee (d. h.: mit dem Beweis ihrer objektiven Realität) wäre nämlich (zweitens) die oben im zweiten Abschnitt ausdrücklich noch offengelassene Titelfrage von III.4: „Wie ist ein kategorischer Imperativ möglich?“ an Ort und Stelle klipp und klar beantwortet: Diese Frage ist nämlich (so 417.04ff.) gleichbedeutend mit der Frage: Wie kann eine kategorische „Nöthigung des Willens, die der Imperativ […] ausdrückt, gedacht werden“? Und eine solche „Nöthigung“ kann nun ganz offensichtlich „gedacht werden“, wenn zum sinnlich-affizierten Willen des Menschen die Idee eines reinen, gesetzgebenden Willens „hinzukommt“ (!) – denn mit dieser Idee (wenn sie objektive Realität hat) kann jener zweite Wille gedacht werden, der die gesuchte „Nöthigung“ des ersten ausübt. Mit welcher „Deduction“ sonst wäre es darüber hinaus vereinbar, dass Kant mit Bezug auf sie betont, er habe (drittens) die Leitfrage nach der Möglichkeit synthetischer Sätze a priori in der praktischen Philosophie jetzt „ungefähr so“ beantwortet, wie er sie 1781 bereits in der theoretischen beantwortet hat: Dort ging es (nach Auskunft der kurz zuvor erschienenen Prolegomena) nämlich um „die Möglichkeit des synthetischen Erkenntnisses a priori vermittels der Deduction dieser Begriffe“ (04:365.23f.) – dort (im Theoretischen) der zwölf Kategorien (reine „Begriffe des Verstandes“) und hier (im Praktischen)203 nun einer Idee (einem reinen ‚Vernunftbegriff‘), die ihrerseits hier wie dort „synthetische Sätze a priori […] möglich machen“. Wir sollten (solange nichts ausdrücklich dagegen spricht) davon ausgehen, dass
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Zum dritten Abschnitt (Vorbemerkung)
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Kant uns auf eine solche – ja durchaus bemerkenswerte – Parallele zu seiner Lehre von den theoretischen „synthetischen Grundsätzen“ (A 158ff.) hier erneut (vgl. bereits 420.14f.) eigens hinweist,204 weil er sie für systematisch bedeutsam hält. Wenn sie das aber ist, dann kommt als Gegenstand auch „dieser Deduction“ prinzipiell gar kein Objekt mit propositionalem Gehalt (d. h.: weder ein Urteil, ein Gesetz noch ein Imperativ) in Frage, sondern ausschließlich ein reiner Begriff (also eine Kategorie oder eine Idee) – dessen Realität dann die Möglichkeit eines synthetischen Satzes erweist. Nimmt man schließlich (viertens) noch hinzu, dass Kant von „dieser Deduction“ behauptet, ihre Richtigkeit werde dadurch „bestätigt“, dass ja auch „die gemeine Menschenvernunft“ davon ausgehe, dass der „ärgste Bösewicht“ durch seine Reue neben seinem „Willen als Gliedes der Sinnenwelt“ noch einen (zweiten) Willen, der „von Antrieben der Sinnlichkeit frei“ ist, „beweise[ ]“, dann bleibt von den zahlreichen in der Grundlegung erwähnten reinen Begriffen auch der Sache nach gar kein anderes Objekt für „diese Deduction“ mehr übrig, als die (textlich ja ohnehin nächstliegende, s. o. unter ‚erstens‘) Idee eines reinen, für sich selbst praktischen Willens – und für irgendeine weitere Deduktion fehlt im Text von GMS III.4 schlicht der Platz. In den folgenden Erläuterungen wird daher von einer ‚Deduktion des kategorischen Imperativs‘ (oder ‚des Sittengesetzes‘) genauso wenig die Rede sein205 wie bei Kant selbst – und insbesondere nicht von deren ungelösten Problemen206 oder gar von deren Scheitern (s. o.): Der Verdacht, dass sie in den vergangenen siebzig Jahren schon mehr als genug zum ‚Ruf der Dunkelheit‘ des dritten Abschnitts (und damit der Grundlegung überhaupt) beigetragen hat, dürfte bereits nach dieser ersten Skizze der Alternative nicht mehr ganz unbegründet erscheinen: Im Schatten der vergeblichen Suche nach einer ‚Deduktion des Sittengesetzes‘ war Kants Deduktion der Idee des reinen Willens für fast siebzig Jahre einfach unsichtbar207 geworden – und mit ihr dann (wie wir in Kap. IV sehen werden) sogar das Problem, welches Kant 1785 mit dem dritten Abschnitt der Grundlegung lösen wollte und, vor allem, lösen musste. – Nach dieser bloß-kathartischen Vorklärung wenden wir uns dem dritten Abschnitt nun en détail zu. [Sektion 1] „Der Begriff der Freiheit ist der Schlüssel zur Erklärung der Autonomie des Willens“ lautet die Überschrift der ersten von
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III. Kommentare zum Text
insgesamt sechs Sektionen, in die der Dritte Abschnitt untergliedert ist. Dass es in diesem nun um die – bislang aufgeschobene – Frage gehen wird, wie Selbstgesetzgebung möglich ist, wurde im zweiten Abschnitt bereits mehrfach angekündigt. Über den Freiheitsbegriff hingegen war seit dessen erstem Auftreten (gleich im zweiten Absatz der Vorrede: ‚Gesetze der Freiheit‘) im weiteren Text der Grundlegung bislang nichts Wesentliches zu erfahren. Zwei Unterscheidungen (die Kant in der Grundlegung nicht eigens erörtert) sollte man präsent haben, wenn man sich auf die nun folgenden Überlegungen einlassen will: Zunächst einmal ist es wichtig, den Begriff einer ‚praktischen Freiheit‘ (des Willens) von dem einer „transzendentalen“ bzw. „intelligiblen“ Freiheit208 abzugrenzen (denn um den zweiten wird es im Folgenden wesentlich gehen): Während die praktische Freiheit „durch Erfahrung bewiesen werden“ kann (A 802) und damit Gegenstand der empirischen Psychologie bzw. der Anthropologie ist (vgl. A 448 und A 849), scheint die transzendentale sogar – so Kant – geradezu „dem Naturgesetze, mithin aller möglichen Erfahrung, zuwider zu sein“. Folglich kann sie nur Gegenstand des „speculative[n] Wissen[s]“ sein – und ihre Erörterung ist damit Sache der (reinen) Vernunft (A 804): „Ob wir frei sind, oder das wenigstens annehmen können, muss die Metaphysic ausmachen.“ (27:1331) Und diese Frage konnte, wie Kant uns 1781 in der Kritik der reinen Vernunft versichert, bereits durch eine „hinreichende Erörterung“ „in der Antinomie der reinen Vernunft“ „abgethan“209 werden. Bevor wir uns den beiden Freiheitsbegriffen und deren Unterschied widmen, ist es sinnvoll, noch eine zweite Unterscheidung hinzuzuziehen: die zwischen positiven und negativen Begriffen210 (von der Kant dann ja im zweiten Absatz des Dritten Abschnitts sogleich Gebrauch macht). Sie lässt sich ihrerseits allerdings gut im Zuge der Erörterung des Begriffs der praktischen Freiheit explizieren. Diese wird, wie gesagt, durch „Erfahrung bewiesen“: Denn nicht bloß das, was reizt, d. i. die Sinne unmittelbar [!] afficirt, bestimmt die menschliche Willkür, sondern wir haben ein Vermögen, durch Vorstellungen von dem, was selbst auf entfernete [!] Art nützlich oder schädlich ist, die Eindrücke auf unser sinnliches Begehrungsvermögen zu überwinden; diese Überlegungen aber von dem, was in Ansehung unseres ganzen Zustandes begehrungswerth, d. i. gut und nützlich, ist, beruhen auf der Vernunft. (A 802)
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Zum dritten Abschnitt
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Der negative Begriff der praktischen Freiheit (des Willens) ist der einer „Unabhängigkeit“ (vgl. dazu A 553f., 05:33, 06:213, 15:467) von der Bestimmung durch „das, was reizt, d. i. die Sinne unmittelbar affiziert“, einer Unabhängigkeit also von der Bestimmung durch gegenwärtige Neigungen und Abneigungen. Der positive Begriff ist dann der eines „Vermögens“ (vgl. jeweils ebd.), sich über die aktuellen „Reize“ hinwegzusetzen, sich z. B. durch die Vorstellung zukünftiger Güter zu bestimmen – und dieses Vermögen ist beim Menschen die Vernunft.211 Das oben in [II 12] erörterte arbitrium sensitivum liberum ist ein Wille, und ein solcher hat e definitione ‚praktische Freiheit‘ im gerade erörterten Sinne, denn als Wille ist er durch das, „was reizt“, ‚nicht necessitiert‘ (negativer Begriff), sondern er ist (auch) durch die Vorstellung „entferneter“ Güter bestimmbar (positiver Begriff). Dass Menschen ein solches ‚praktisch-freies‘ Begehrungsvermögen, d. h. ein arbitrium liberum, haben, ist nun eine offenkundige empirische Tatsache: Sie können sich nicht nur selbst durch die Aussicht auf zukünftige Güter zum Handeln bestimmen, sie können sogar ‚von außen‘ durch Ankündigung von (naturgemäß zukünftigen) Belohnungen und Strafen zu bestimmtem Handeln genötigt werden. Und wenn sie nicht die Erfahrung machten, dass alles dies in der Regel gelingt, dann würden sie es ja auch nicht weiterhin versuchen. Zu philosophischen Untersuchungen bietet die praktische Freiheit daher zunächst einmal genauso wenig (oder genauso viel) Anlass wie die Möglichkeit der Erwärmung des Steines durch das Sonnenlicht (dazu A 766f.): In beiden Fällen ist die Möglichkeitsfrage angesichts der empirischen Wirklichkeit obsolet (vgl. o. Anm. 33), und das Phänomen kann (weil es dabei ja um „Naturursache[n]“ geht, A 803) infolgedessen sogleich den empirischen Wissenschaften zur weiteren Untersuchung überantwortet werden: der Psychologie bzw. der Physik.212 Diese Stufe der praktischen Freiheit (von Kant andernorts auch „comparative“ oder „psychologische“ genannt)213 ist unter Moralphilosophen von je her unkontrovers, denn sie ist einerseits als empirisches Phänomen schwerlich zu bestreiten214 und andererseits ist sie grundsätzlich mit jeder denkbaren Form von Empirismus, Naturalismus, Rationalismus &c. vereinbar. Ein Autor wie z. B. Thomas Hobbes fasst sie (und die mit ihr gegebene Zukunftsorientiertheit) sogar als das einschlägige Gattungsmerkmal der Menschen auf (siehe Leviathan, Chap. 6.35 und 6.57) – und sie ist zudem die zureichende
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III. Kommentare zum Text
begriffliche Grundlage seiner (wie auch jeder anderen) präventiven Straftheorie (siehe dazu etwa Leibniz, Essays de Theodicée, §§ 67–75). Im engeren Sinne philosophisch brisant ist nun allerdings die Frage nach der Rolle der Vernunft, als jenem Vermögen, welches im positiven Begriff der (praktischen) Freiheit die Distanzierung von den unmittelbaren Sinnesreizen ermöglicht. Dies ist die Frage, die Kant (1781 wie 1785) fokussiert:
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Ob aber die Vernunft selbst in diesen Handlungen, dadurch sie Gesetze vorschreibt, nicht wiederum durch anderweitige Einflüsse bestimmt sei, und das, was in Absicht auf sinnliche Antriebe Freiheit heißt, in Ansehung höherer und entfernetern wirkenden Ursachen nicht wiederum Natur sein möge, […]215 ist eine bloß speculative Frage. (A 803, Herv. B. L.)
Kann also die Vernunft (auch) „an sich selbst“ (s. o. ad [II 9]) praktisch sein, oder ist sie ausschließlich bedingt praktisch? Ist jene Vernunft, die dem Willen praktische Freiheit verleiht, d. h.: ihn von den unmittelbaren Reizen unabhängig macht, eine solche, die „in Ansehung ihrer Kausalität eine Reihe von Erscheinungen“ auch selbst anfangen kann (und damit „also von allen [!] bestimmenden Ursachen der Sinnenwelt“, also insbesondere auch von der Erwartung „entferneter“ Güter, unabhängig ist)? Oder ist sie letztlich doch bloß „Sclave“, der die Mittel zu irgendwelchen Zwecken herbeischaffen muss, die uns die Sinnlichkeit (die „Natur“) vorgibt (s. o. S. 53)? Unter dem einen Begriff der praktischen Freiheit lassen sich – Kant zufolge – also gleichsam zwei unterschiedliche Stufen der Freiheit denken, die durch eine Differenz zwischen den zugehörigen Vernunftvermögen voneinander abgesetzt sind: (1) die Unabhängigkeit der vernünftigen Willensbestimmung (bloß) von den unmittelbaren sinnlichen Antrieben (den ‚Reizen‘) und (2) die Unabhängigkeit (sogar) von sämtlichen sinnlichen bzw. natürlichen Bestimmungsgründen. Eine solche zweite Stufe der praktischen Freiheit umfasste damit (auch) eine transzendentale oder intelligible Freiheit: Sie wäre nämlich eine spontaneitas nicht nur secundum quid (bzw. automatica), sondern absoluta – und das entsprechende arbitrium ein arbitrium sensitivum liberum transscendentale (bzw. purum).216 Ob es eine solche Stufe praktischer Freiheit tatsächlich gibt, und wenn ja: Unter welcher zusätzlichen Voraussetzung einem willensbegabten Wesen die praktische Freiheit nicht allein im ‚comparativen‘, sondern sogar ‚im transzendentalen Verstande‘ zugeschrieben werden muss, ist nun allerdings keine Frage der Erfahrung
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mehr (und nach den bisherigen Erörterungen für Kant ja auch keine der semantischen Festlegung), sondern ausdrücklich eine „bloß speculative Frage“ (wie oben schon gesehen). Diese spekulative (vgl. 456, 461) Frage war bereits Gegenstand der ‚Antinomie‘ der Kritik der reinen Vernunft (A 533–558), und sie wird nun noch einmal Gegenstand in den Erörterungen der ersten drei Sektionen (d. h. 446– 453) des dritten Abschnitts der Grundlegung sein: Dort gibt es nämlich eine „Deduction des Begriffs der Freiheit aus der reinen[!] praktischen Vernunft“ (447.22f.). Ginge es Kant dabei nur um den Begriff der praktischen Freiheit der ersten Stufe, einer (wie ich sie hier um der Deutlichkeit willen nenne) ‚bloß-comparativen‘ Freiheit, dann bedürfte es gar keiner „Deduction“, denn dessen Realität wird ja bereits „durch die Erfahrung erkannt“.217 Auch wenn die Verhältnisse in der Sache also recht übersichtlich sind, so ist Kants Terminologie ein wenig unglücklich (und hat auch zu nachhaltigen Verwirrungen geführt218): ‚Praktische Freiheit‘ nämlich kann bei Kant (wie das letzte Zitat aus A 803 zeigt) als Oberbegriff sowohl eine (‚empirische‘) bloß-„comparative“, als auch eine (‚spekulative‘) „transzendentale“ Freiheit bezeichnen – denn der ‚regierende‘ negative Begriff ist zunächst einmal nur der einer Unabhängigkeit von den unmittelbaren Reizen (und thematisiert damit nicht bereits die mögliche Unabhängigkeit auch von allen „entferneten“ Gütern): Wenn also der Begriff (!) der praktischen Freiheit demzufolge den Begriff (!) der transzendentalen Freiheit weder ausschließt noch unbedingt enthält (die infrage stehende Vernunftbestimmung könnte ja durchaus auch, wie Kant betont, „wiederum Natur sein“ – Humes: ‚reason is the slave of the passions‘), so ist damit trotzdem nicht ausgeschlossen, dass in einem gegebenen Fall die „Aufhebung der transscendentalen Freiheit zugleich alle praktische Freiheit vertilgen würde“ (so A 534).219 Wir werden in der Folge sehen, dass für Kant die praktische Freiheit des Menschen tatsächlich gar nicht ohne die (oder: ‚nur als eine‘) transzendentale gedacht werden kann. Das kann allerdings (wie wir gerade gesehen haben) nicht bereits im Begriff der ‚praktischen Freiheit‘ selbst liegen – es liegt vielmehr an einer besonderen Eigenschaft des (hier infrage stehenden) Vernunftvermögens eines seiner selbst bewussten Wesens: Ein solches Vermögen muss und kann (wie sich dann jeweils in den Sektionen 2 und 3 zeigen soll) nämlich ausschließlich im Sinne der zweiten Stufe praktischer Freiheit gedacht werden – und nur um diese (metaphysisch problematische)
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Stufe geht es, wenn im Folgenden einfach von „Freiheit“ die Rede ist. [1] Im ersten Absatz führt Kant nun zunächst einige Begriffe zusammen („Wille“, „Freiheit“, „Causalität“, „Ursache“ „Naturnothwendigkeit“), wobei es hilfreich ist, zusätzliche Begriffsbestimmungen mitzuliefern (auch wenn sie z. T. aus späteren Schriften stammen), mit deren Hilfe der Text dann aus sich selbst heraus (und durch eine Bezugnahme auf Vorausgehendes) verständlich wird. Wie schon oben anlässlich [II 12] thematisiert, ist es den vernunftlosen Tieren und den vernünftigen Wesen gemeinsam, dass sie auch vermittels Vorstellungen (welche Begehrungen und Abneigungen erzeugen) ‚wirken‘ können. Andersherum formuliert: Begehrungsvermögen ist das Vermögen durch seine Vorstellungen Ursache der Gegenstände dieser Vorstellungen zu sein. (06:211) 220
Ein einfaches Beispiel Kants kann diese zunächst vielleicht etwas kryptisch erscheinende Definition illustrieren:
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Es ist besonders, daß unsere Vorstellungen Ursache der Wirklichkeit der Objecte werden können, z. E. der Musicer ist Ursache von den Tönen, die er durch sein Instrument hervorbringt. (29:891)
Etwas genauer formuliert: Der Musiker ist vermittels seiner Vorstellung der zu erzeugenden Töne die Ursache ebendieser Töne, denn sie erklingen (nur), weil der Musiker seine Handlung (zuvor oder zugleich) gemäß seiner Vorstellung der zu erzeugenden Töne bestimmt, also etwa mit seinem Finger gezielt eine bestimmte Saite anreißt, um damit einen (den ‚begehrten‘) Ton zu erzeugen.221 Anders als das Tier jedoch, dessen Verhalten (nur) unmittelbar durch die Vorstellungen der Wahrnehmung bestimmt wird (arbitrium brutum, s. o.), kann sich der Mensch als vernünftiges Wesen auch vermittels Gesetzen bestimmen (arbitrium liberum): Die causalitaet der Vernunft ist freyheit. Die bestimende caussalitaet der Sinnlichkeit: thierheit. (18:258)
Der „Musicer“ weiß, was er tun muss, wenn er mit seinem Instrument einen bestimmten Ton ‚bewirken‘ will (er hat gleichsam einen ‚Begriff‘ von seinem Tun):
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Der Wille, als Begehrungsvermögen, ist nämlich eine von den mancherlei Naturursachen222 in der Welt, nämlich diejenige, welche nach Begriffen223 wirkt; und Alles, was als durch einen Willen möglich (oder nothwendig) vorgestellt wird, heißt praktisch-möglich (oder nothwendig). (05:172)
Kann diese „Causalität“ eines Willens nun auch „unabhängig [!] von fremden sie bestimmenden Ursachen wirkend sein“, wird sie also „nicht [!] durch den Einfluss fremder Ursachen zur Thätigkeit bestimmt“, dann ist sie eine freie (oder: unverursachte) Ursache – eine Ursache jenseits der „Naturnothwendigkeit“. [2] Allerdings gilt (vgl. dazu oben Anm. 210): Freiheit kann man nicht allein negativ als Unabhängigkeit von empirischen Bedingungen224 ansehen (denn dadurch würde das Vernunftvermögen aufhören, eine Ursache der Erscheinungen zu sein), sondern auch positiv durch ein Vermögen bezeichnen, eine Reihe von Begebenheiten von selbst anzufangen. (A 554; Herv. B. L.)
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Wäre die „Freiheit“ von Handlungen nur ‚negativ‘ bestimmt (s. o.), dann würde sie gar nicht als Vermögen begriffen – und a fortiori auch nicht als eine „Ursache“. Um aber als eine Ursache begriffen werden zu können, muss ein Vermögen für Kant ‚positiv‘ durch ein Gesetz225 charakterisiert werden: Es muß aber eine jede [!] wirkende Ursache einen Charakter haben, d. i. ein Gesetz ihrer Causalität, ohne welches sie gar nicht Ursache sein würde. (A 539)
Und in der Naturrechtsvorlesung von 1784 hat Kant dann erstmals jenen Begriff eines „Gesetzes der Freiheit“ eingeführt, der dann ja auch im zweiten Absatz der Vorrede der Grundlegung angekündigt wird: Ist Freiheit einem Gesetz der Natur unterworfen, so ist sie keine Freiheit. Sie muß sich daher selbst [!] Gesetz seyn. (27:1322; vgl. oben Anm. 46)
Oder wie es oben in [II 71] ähnlich lautete: Das vernünftige Wesen begreift sich […] in Ansehung aller Naturgesetze als frei, nur denjenigen allein gehorchend, die es sich selbst giebt […] (435.35f.),
und damit sind die „Gesetze der Freiheit“ die ‚Gesetze der Autonomie‘. Mit den Resultaten vom Ende des zweiten Abschnitts gilt dann:
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III. Kommentare zum Text
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[…] also ist ein freier Wille und ein Wille unter226 sittlichen Gesetzen einerlei.227
Mit anderen Worten: Das (Causal-)Gesetz eines freien Willens (GMS III), der kategorische Imperativ (GMS II) und das allgemeine Prinzip der gemeinen sittlichen Vernunfterkenntnis (GMS I) fallen zusammen. Da sich das letzte Resultat mittels „Zergliederung“ des Begriffs der Freiheit ergibt, ist (so [3]) das Urteil: ‚Ein freier Wille ist ein Wille unter sittlichen Gesetzen‘ analytisch. Es soll also bereits als ein bloßes Erläuterungsurteil228 aus Kants (semantischen) Voraussetzungen folgen (wie wir es soeben unter Heranziehung von zusätzlichen Zitaten zu rekonstruieren versucht haben) – und erst eine „Deduktion der Freiheit aus der reinen praktischen Vernunft“ (447.22f.) wird in den Sektionen 2 und 3 dann die Realität eines solchen Freiheitsbegriffs zeigen können (bislang sind wir also noch nicht wesentlich über bloße begriffliche Stipulationen hinausgekommen – Freiheit könnte somit noch ein bloßes Hirngespinst sein). Doch mit einer Deduktion des Freiheitsbegriffs allein wäre die Aufgabe der Grundlegung noch nicht abgeschlossen, denn es stünde dann immer noch der Aufweis einer synthetischen Verbindung von Sittengesetz und „schlechterdings gutem Willen“229 aus. Warum gilt dem ‚Willen unter sittlichen Gesetzen‘, „dessen Maxime jederzeit sich selbst als allgemeines Gesetz betrachtet in sich enthalten kann“, unsere höchste Wertschätzung, warum wird er für ‚ohne Einschränkung gut‘ (393.05ff.) gehalten? Da dieser Zusammenhang von Wert und Gesetz offenkundig kein analytischer ist, mussten wir im ersten Abschnitt ja zunächst einmal (heuristisch) den Begriff der Pflicht „vor uns nehmen“ (397.07f.), um mit ihm das ‚Richtmaß der moralischen Beurteilung‘ (403.36) und damit das „oberste Princip der Moralität“ der gemeinen sittlichen Vernunfterkenntnis durch deren ‚analytische‘ Selbstaufklärung zu bestimmen. Nun soll der synthetische Satz230 über die Verbindung von Wert auf der einen und pflichtmäßiger Maxime auf der anderen Seite durch „Verknüpfung [beider ‚Erkenntnisse‘] mit einem Dritten darin sie beiderseits anzutreffen sind“ (auch) a priori möglich gemacht werden. Und es ist „der positive Begriff der Freiheit“, der dieses Dritte „schafft“. Dieses „Dritte“, welches den Wert des Willens mit der Allgemeinheit seiner Maxime verknüpft, kann hier allerdings nicht dasselbe sein wie dasjenige, welches im Falle der syn-
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thetischen Sätze über die Natur eine Ursache mit einer Wirkung verknüpft. Dort war das Dritte die Möglichkeit der Erfahrung (s. o. S. 67), d. h.: die „Natur der Sinnenwelt“. Jenes verbindende Dritte, „worauf die Freiheit weiset“ und von dem wir eine „Idee [!] a priori“ haben, lässt sich aber „hier sofort noch nicht anzeigen“,231 denn es muss dafür erst noch der „positive Begriff der Freiheit“ selbst deduziert werden. Bloß-angekündigt hingegen hatte Kant die fragliche „Idee“ des „Dritten“ bereits in der Vorrede sowie im zweiten Abschnitt: Es ist die „Idee des Willens eines jeden vernünftigen Wesens als allgemein gesetzgebenden Willens“ (432.03f., vgl. 390.34f.). Und diese Idee sollte auch (so [II 28]) als ein ‚Drittes‘ (nämlich als etwas, was weder im Willen noch in der mit ihm zu verknüpfenden Handlung enthalten ist, 420 Fn.) die „Möglichkeit eines kategorischen Imperativs begreiflich machen“. Wie der Zwischentitel der Sektion 4 verrät, wird dies ebendort geschehen – aber erst, nachdem die Sektionen 2 und 3 zunächst die Notwendigkeit und die Möglichkeit der Voraussetzung der Freiheit aufgezeigt haben.232 [Sektion 2] „Freiheit muß [!] als Eigenschaft des Willens aller vernünftigen Wesen vorausgesetzt werden.“ Diese Sektion wird also die Notwendigkeit (vgl. 448.10) einer Voraussetzung der (Willens-)Freiheit zeigen. Das allein genügt allerdings noch nicht zur Deduktion von deren Idee, denn es bedarf dafür zusätzlich eines Nachweises der Möglichkeit einer solchen Voraussetzung (der dann in der Sektion 3 erfolgen wird). Dieses zweischrittige Programm erläutert rückblickend eine Passage aus der Sektion 5: Diese Freiheit des Willens vorauszusetzen, ist auch nicht allein [a] (ohne in Widerspruch mit dem Princip der Naturnothwendigkeit in der Verknüpfung der Erscheinungen der Sinnenwelt zu gerathen) ganz wohl möglich (wie die speculative Philosophie zeigen kann), sondern auch [b] sie praktisch, d. i. in der Idee, allen seinen willkürlichen Handlungen als Bedingung unterzulegen, ist einem vernünftigen Wesen, das sich seiner Causalität durch Vernunft, mithin eines Willens (der von Begierden unterschieden ist) bewußt ist, ohne weitere Bedingung nothwendig. (461.17ff.)
Warum aber bedarf es des (unter [a] genannten) spekulativen Beweises der Möglichkeit einer Voraussetzung der Freiheit? Warum reicht nicht bereits die Notwendigkeit (unter [b]). Die Antwort lautet: Weil wir es hier mit einem reinen, d. h. nicht-empirischen Begriff zu tun haben. Bei empirischen Begriffen (wie etwa ‚Gold‘, s. o. S. 67) wird die erforderte Vittorio Klostermann, 2019.
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III. Kommentare zum Text
Möglichkeit bereits durch die Wirklichkeit der Gegenstände verbürgt, die unter sie fallen, denn aus deren (empirischer) Wirklichkeit folgt ja bereits unmittelbar deren Möglichkeit (das ist die sogenannte „empirische Deduktion“ eines Begriffs, A 85). Für den Nachweis der „objektiven Realität“ des nicht-empirischen Begriffs der Freiheit, d. h. für den Nachweis, dass überhaupt Gegenstände unter ihn fallen können,233 dass er also kein leeres Hirngespinst ist (wir hier also nicht nur ‚mit Vorstellungen spielen‘; A 155), bedarf es (wie auch bei den Kategorien in der Kritik der reinen Vernunft) einer anderen Art von Deduktion, denn aus der praktischen Notwendigkeit der Freiheitsvoraussetzung für unser Selbstverständnis folgt ja nicht bereits die spekulative Möglichkeit. Die bloße Einsicht in die Widerspruchsfreiheit (die „logische Möglichkeit“, A 596 Fn.) des Begriffs selbst reicht Kant zufolge dafür allerdings nicht hin (gerade damit setzt er sich von der ‚dogmatischen‘, Leibniz-Wolffschen Metaphysikauffassung ab234). Bei der Freiheit kann und wird der geforderte ‚Möglichkeitsbeweis‘ (wie wir dann sehen werden) auf ein Resultat der „speculativen“ Antinomie aus der Dialektik der Kritik der reinen Vernunft zurückgreifen müssen:235 Es geht nämlich der Sache nach darum, bei der ‚Voraussetzung der Freiheit (des Willens)‘ nicht in „Widerspruch mit dem Princip der Naturnothwendigkeit in der Verknüpfung der Erscheinungen der Sinnenwelt zu gerathen“ (vgl. dazu auch A 558). Denn wenn es einen solchen Widerstreit gäbe (wie es ‚dogmatische Naturalisten‘ behaupten), dann wäre es definitiv nicht möglich, die Freiheit vorauszusetzten – auch wenn dergleichen für unser praktisches Selbstverständnis notwendig zu sein scheint (dazu auch unten [20-24]). [4] Selbst wenn es gelänge, die Freiheit des Menschen empirisch ‚darzutun‘ (was aber „schlechterdings unmöglich ist“; dazu oben S. 97f.), so verlangte doch bereits die ‚Reinheit‘ der Moral, dass die Freiheit auch „als Eigenschaft des Willens aller [!] vernünftigen Wesen bewiesen [!] werden“ kann. Das bedeutet dem Vorausgegangenen zufolge, dass hierfür nun zwei (andere) Urteile236 zu ‚beweisen‘ sind: Dass es (1) praktisch notwendig ist, bei einem vernünftigen Wesen Willensfreiheit vorauszusetzen (Sektion 2) – und dass es (2) auch spekulativ möglich ist (Sektion 3) – dann nämlich kann man nicht mehr begründet infrage stellen, dass sie wirklich ist. Den Beweis der Notwendigkeit der Freiheitsvoraussetzung formuliert Kant nun in zwei Schritten: Erstens ist ein Wesen, das nur unter
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Zum dritten Abschnitt
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der Idee der Freiheit handeln kann, „in praktischer Rücksicht wirklich frei“ und damit durchweg denselben Gesetzen unterworfen wie eines, „das wirklich frei wäre“; und zweitens müssen wir bei jedem vernünftigen Wesen (das einen Willen hat) annehmen, dass es „nothwendig“ unter der Idee der Freiheit handelt. Die erste These wird in diesem Absatz zwar mehrfach (um-)formuliert (und es wird in der Fußnote auch betont, dass sie die Befreiung von – uneinlösbaren – theoretischen Beweis-Lasten sichert); eine eigentliche Begründung liefert Kant allerdings nicht. Das ist aber insofern unproblematisch, als ja gleichermaßen z. B. auch für einen Schachspieler (d. h. für jemanden, der ‚unter der Schach-Idee‘ ein Spiel spielt) alle Regeln „gelten“, die mit dem Schachspiel „unzertrennlich verbunden sind“ – wobei es ganz gleichgültig ist, ob er in irgendeinem darüber hinausgehenden Sinne (in welchem nun auch immer 237) ‚auch wirklich‘ ein Schachspieler ist: Entscheidend ist hier wie dort offensichtlich nur das (praktische) Selbstverständnis. Denken wir (zweitens) unsere Vernunft (weil wir einen Willen haben) als praktisch, dann muss sie sich als „Urheberin ihrer Prinzipien ansehen“, denn würde sie „in Ansehung ihrer Urtheile [!] anderwärts her eine Lenkung“ erfahren, dann wäre der Wille nicht „unser Wille“. Eine Vernunft aber, die „nicht wiederum durch anderweitige Einflüsse bestimmt“ ist (A 803), muss frei im transzendentalen Sinne sein (s. o.). Also muss dem Willen eines jeden vernünftigen Wesens („nothwendig“) die „Idee der Freiheit […] beygelegt werden“ (was zu beweisen war). Wenn man sich fragt, was denn nun beim Übergang vom „Willen“ des vernünftigen Wesens (dem „arbitrium liberum“ in [II 12]) zum in specie „freien Willen“ (als einem arbitrium liberum transscendentale hier im dritten Abschnitt) hinzugekommen ist, dann ist dies an dem zugehörigen Vernunftbegriff festzumachen: Es ist eine Vernunft, die „mit ihrem eigenen Bewusstsein in Ansehung ihrer Urtheile“ verbunden ist und sich selbst ihre „Lenkung“ zuschreibt (vgl. auch 449.02: „Bewusstsein [!] seiner Causalität“, ähnlich: 461.23f.). Die theoretische – und mit ihr (s. o. Anm. 100) die praktische – Vernunft eines vernünftigen Wesens, sofern es sich seiner selbst bewusst ist (und demzufolge „ich“ sagen kann)238, muss daher eine freie (im transzendentalen Sinne) sein. – Dies ist eine der Stellen in der Grundlegung, an der die Einheit von spekulativer und reiner praktischer Vernunft Thema
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III. Kommentare zum Text
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ist. Möglicherweise wollte Kant mit jener „Kritik der reinen praktischen Vernunft“, die er in der Vorrede angekündigt hatte (s. o. Anm. 24), unter anderem an dieser Stelle noch einmal tiefer schürfen (wozu es dann aber nicht kommen sollte, s. u. Kap. V). [Sektion 3] „Von dem Interesse, welches den Ideen der Sittlichkeit anhängt.“ [5] Bislang ist (in [1-3]) Kants (neuer) Begriff von der Sittlichkeit mit der „Idee der Freiheit“ zusammengeführt und (in [4]) nun bereits die Notwendigkeit der Freiheitsvoraussetzung für unser Selbstverständnis als mit einem eigenen Willen begabtes vernünftiges Wesen aufgezeigt. Als „etwas Wirkliches“ ist die als praktisch-notwendig ausgewiesene Freiheit aber damit noch nicht „bewiesen“ (447.34) – dafür bedarf es noch (s. o.) eines „speculativen“ Nachweises ihrer „Möglichkeit“ (um auszuschließen, dass wir einem Hirngespinst erliegen) – und dieser gestaltet sich nun philosophisch anspruchsvoller. [6] Mit der Sittlichkeit wie mit der Freiheit ist das Bewusstsein verbunden, unter dem kategorischen Imperativ zu stehen. Auch wenn das von diesem Imperativ ausgehende Sollen für ein jedes vernünftige Wesen „eigentlich [!] ein Wollen ist“, so ist dabei nicht klar, warum ich mich dem Prinzip unterwerfen „soll“, d. h.: warum es für mich, als ein „durch Sinnlichkeit als Triebfedern anderer Art affiziert[es]“ vernünftiges Wesen, ein sittliches „Sollen“ gibt – warum ich also an der Befolgung des kategorischen Imperativs „nothwendig ein Interesse nehme[ ]“, ohne dass mich dazu ein (sinnliches) „Interesse treibt“.239 [7] Bisher sieht es also so aus, als hätten wir mit Einführung der Idee der Freiheit zwar „das ächte Princip [der Sittlichkeit] genauer, als wohl sonst geschehen, bestimmt“, könnten aber auf die (eigentlich philosophische) Frage, warum [!] denn die Allgemeingültigkeit unserer Maxime, als eines Gesetzes, die einschränkende Bedingung unserer Handlungen sein müsse, und worauf [!] wir den Werth gründen, den wir dieser Art zu handeln beilegen, […] keine genugthuende Antwort geben.
Ein „Schlüssel zur Erklärung [!] der Autonomie des Willens“ (446.06) kann der Begriff der Freiheit demnach erst dann sein, wenn er nicht nur240 um der Autonomie willen bemüht werden muss, sondern darüber hinaus auch eine Erklärung des Sollens und damit ver-
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bunden eine Erklärung der unbedingten Wertschätzung sittlichen Handelns liefern kann. In diesem Absatz finden sich einige Formulierungen (449.26ff.), die, wenn man sie aus dem argumentativen Kontext löste, durchaus dafür sprechen könnten, dass Kant in der Grundlegung (nun doch) so etwas wie einen Beweis der „Gültigkeit“ des Sittengesetzes für die Menschen liefern will. Abgesehen davon, dass im folgenden Text keine Argumentation aufzufinden sein wird, die (auch nur dem Anspruch nach) eine solche Beweislast tragen könnte, so ist es geboten, zwei Aufgaben zu unterscheiden: Die der Erklärung und die der Begründung der „Gültigkeit“ (im Sinne des Geltungsanspruchs). Dass Kant hier auf eine Erklärung241 zielt, steht nicht nur explizit im Titel der ersten Sektion, sondern ergibt sich auch aus den beiden Fragen, auf die in der Folge eine „genugthuende Antwort“ gegeben werden soll: „warum denn die Allgemeingültigkeit unserer Maxime […] die einschränkende Bedingung sein müsse“, „und worauf wir den Wert gründen, den wir dieser Art zu handeln beilegen“. Also [8] selbst wenn wir „finden“, dass wir durchaus ein Interesse an unserer Glückswürdigkeit nehmen können, auch ohne dass der durch sie verbürgte Erfolg unseres Glückstrebens den Grund für dieses Interesse abgäbe, und wenn wir dieses dann auf die „Wichtigkeit“ des Sittengesetzes für uns zurückführen: So beantwortet die verbreitete Anerkennung sittlicher Forderungen doch nicht die Frage, „woher das moralische Gesetz verbinde“ und weshalb die Glückswürdigkeit für uns einen Wert darstellt. [9] Dies lenkt nun unsere Aufmerksamkeit auf eine naheliegende Scheinlösung: Setzen wir nämlich die „Wichtigkeit moralischer Gesetze“ voraus (was wir – wie soeben in [8] erwähnt – gemeinhin tun), dann müssen wir uns nach den bisherigen Erörterungen „in der Ordnung der wirkenden Ursachen als frei“ annehmen. Würden wir uns nun aber wiederum „als diesen Gesetzen unterworfen denken, weil wir uns die Freiheit des Willens beigelegt haben“, dann würden wir offenkundig in „eine Art von [Erklärungs-]Cirkel“242 geraten, hätten eine „Erbittung“ (451.09), eine petitio principii, begangen. Mit einer solchen „Erbittung“ würden die anstehenden Fragen aber definitiv nicht beantwortet, denn „Freiheit und Selbstgesetzgebung […] sind beides Autonomie“ und somit „Wechselbegriffe“. Da nun aber das allgemeine Prinzip der Sittlichkeit und das der Selbstgesetzgebung (wie Kant am Ende des zweiten Abschnitts gezeigt hat) zusammenfallen, läuft die vermeintliche Erklärung der Sittlichkeit durch die Freiheit leer (denn sie wäre dann ja
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III. Kommentare zum Text
nichts anderes als eine Erklärung der Autonomie durch die Autonomie) – solange nicht die Freiheit selbst als ein (epistemisch eigenständiger) „Grund“ „bewiesen“ (siehe 443.37) ist. [10] „[W]enn wir uns durch unsere Freiheit als a priori wirkende Ursache [!] denken“ wollen, dann gibt es allerdings grundsätzlich – so wird sich zeigen – zwei Optionen: Die eine bestünde darin, dass die jeweils verursachten Wirkungen Handlungen in der Sinnenwelt sind, Handlungen, „die wir vor unseren Augen sehen“. Aber von solchen Handlungen können wir (s. o.) ja grundsätzlich nicht wissen, ob sie ‚aus Freiheit‘ geschehen. Die andere Option (die „Auskunft“, d. h. der Ausweg aus dem gedachten Zirkel) erschließt sich uns nur, indem wir „einen anderen Standpunkt einnehmen“. [11,12] Kant nimmt nun einen vierfachen Anlauf, um aufzuzeigen, dass wir einen solchen zweiten Standpunkt einnehmen ‚müssen‘ (452.23). Zunächst einmal weist er darauf hin, dass bereits der „gemeinste Verstand“ eine Unterscheidung trifft zwischen den unwillkürlichen „Vorstellungen“ von jenen „Dingen“, die uns in diesen Vorstellungen (von denen wir einige243 auch „aus uns selbst hervorbringen“ können) erscheinen, und ebenjenen (äußeren) „Dingen“ selbst. Dies gibt bereits eine, „obzwar rohe, Unterscheidung einer Sinnenwelt von der Verstandeswelt“. Zweitens (451.21ff.) sieht sich der (gemeinste) Mensch anlässlich seiner „inneren Empfindung“ veranlasst, etwas diesen Empfindungen „zum Grunde Liegendes“ anzunehmen: „sein Ich“ nämlich – wodurch er (auch) „sich zur intellectuellen Welt“, d. h. zu der „Verstandeswelt“, zählen muss.244 [12] Drittens muss der „nachdenkende Mensch“ sogar hinter „allen Dingen, die ihm vorkommen mögen“, etwas „Unsichtbares, für sich selbst Thätiges“ 245 erwarten – wobei er allerdings immer Gefahr läuft, dass er dieses wiederum „zum Gegenstand der Anschauung machen will“ (und damit bloße Hirngespinste erzeugt). [13] Auch wenn sich demnach also bereits dem „gemeinste[n] Verstand“ die Möglichkeit einer ‚intelligiblen Existenz‘ des Menschen zumindest eröffnet (ohne dass man ihm dafür die transzendentalphilosophische Lehre der Kritik der reinen Vernunft eigens darlegen müsste), so kann und muss schließlich der kritische Philosoph (viertens) noch einmal darüber hinausgehen: Es findet nämlich der Mensch in sich wirklich [!] ein Vermögen dadurch er sich von allen andern Dingen, ja von sich selbst, so fern er durch Gegenstände afficirt wird, unterscheidet, und das ist die Vernunft.
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Diese nun ist tatsächlich „reine Selbstthätigkeit“, weil sie
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unter dem Namen der Ideen246 eine so reine Spontaneität zeigt, daß sie dadurch weit über alles [!], was ihr Sinnlichkeit nur liefern kann [!], hinausgeht […]
und dadurch nicht allein die Unterscheidung von Sinnen- und Verstandeswelt, sondern auch einen (zweiten, nämlich den gesuchten) „Standpunkt“ des Menschen in der letzteren notwendig macht. Die Behauptung, dass unsere Vernunft durch das Hervorbringen von „Ideen“ (und nicht etwa bei der Bestimmung jener Handlungen, „die wir vor unseren Augen sehen“, s. o. [10]) „zeigt“, dass sie die Sinnenwelt transzendiert, hat Kant in der Grundlegung nicht zum ersten Mal aufgestellt, denn sie war schon 1781 unverzichtbarer Bestandteil seiner kritischen Freiheitslehre: Wir finden sie erstmals an der korrespondierenden Stelle der Kritik der reinen Vernunft und zwei Jahre später dann in den Prolegomena.247 Sie ist auch nicht etwa Kants eigene Erfindung, sie hat vielmehr ein recht prominentes Vorbild z. B. in Descartes’ ideentheoretischem Gottesbeweis der Dritten Meditation: Dort kann speziell die Idee Gottes nicht durch den ‚üblichen‘ Verstandesgebrauch aus anderen möglichen Ideen erzeugt werden und belegt für Descartes damit eine besondere Art der Bezugnahme unseres Geistes auf übersinnliche Gegenstände.248 [14,15] Somit nimmt das vernünftige Wesen „als Intelligenz“249 jenen „anderen Standpunkt“ ein, aus dem es die „Causalität seines Willens [angesichts des Fehlens jeglicher Naturbestimmung im Intelligiblen!] niemals anders als unter der Idee der Freiheit denken kann“ (Herv. B. L.). Damit sind nun aber (s. o. [2f.]) Autonomie und mit ihr auch die Sittlichkeit unzertrennlich mit dem „Handlung[s]“Vermögen jedes selbstbewussten, vernünftigen Wesens (sofern dessen Vernunft in Ideen ihre „reine Spontaneität zeigt“) verbunden. [16] Mit diesem Nachweis der spekulativen Möglichkeit der – gemäß [4] ja praktisch-„nothwendig[en]“ – Voraussetzung der Freiheit (d. h. mit ihrer „Deduktion aus reiner praktischer Vernunft“) ist der ‚oben rege gemachte‘ Verdacht eines „Zirkels“ bzw. einer „Erbittung eines Princips“ gehoben: Die Freiheit muss nicht etwa „nur [!] um des Sittengesetzes willen zum Grunde“ gelegt werden (auch wenn uns das „gutgesinnte Seelen wohl gern einräumen werden“), sondern sie darf „um des Sittengesetzes willen“ deshalb vorausgesetzt werden, weil unsere250 Vernunft auch unabhängig von demselben „unter dem Namen
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III. Kommentare zum Text
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der Ideen“ ihre „Selbstthätigkeit“, ihre „reine Spontaneität“, zeigt.251 Wenn wir uns selbst als frei denken, dann tun wir das (immer schon) als eine (der spontanen Ideenproduktion fähige) ‚intelligible‘ Intelligenz mit der (dann durch bloße Begriffs-„Zergliederung“ ausweisbaren, s. o. [3]) Folge der Autonomie unseres Willens. Als Sinnenwesen, die wir zugleich sind, können wir uns damit (wie sich in der nächsten Sektion zeigen wird) als unter einer kategorischen Nötigung stehend, d. h. als verpflichtet, denken (wir können dann auch die noch offene Möglichkeit kategorischer Imperative einsehen) – und an dieser Verpflichtung können (ja müssen) wir ein „Interesse nehmen“ (449.16), weil sie der Ausweis unserer Teilhabe am Übersinnlichen ist. – Das erklärt nun auch den zunächst möglicherweise irritierenden Titel der dritten Sektion. [Sektion 4] „Wie ist ein kategorischer Imperativ möglich?“ – Diese Titelfrage ist (siehe oben [II 24]) die vom zweiten in den dritten Abschnitt vertagte Frage, „wie bloß die Nöthigung des Willens, die der Imperativ in der Aufgabe [hier: der kategorische] ausdrückt, gedacht werden könne“252. Wie in [3] angekündigt, wird die Antwort mit Rückgriff auf ein „dritte[s]“, „worauf uns die Freiheit weiset und von dem wir a priori eine Idee haben“, gefunden werden, und in dieser Idee sind dann auch sowohl der Grund der Wertschätzung als auch die Maxime des guten Willens „beiderseits anzutreffen“. Um die (schon mehrfach genannte) Antwort noch einmal in den Blick zu nehmen (damit wir dann geraden Weges auf sie hinsteuern können): Das Dritte ist ein reiner Wille, der auf der einen Seite (durch die Teilhabe am Übersinnlichen) den Grund aller unbedingten Wertschätzung darstellt, und der auf der anderen Seite (mangels aller Naturbestimmung) nur ein für sich selbst praktischer, d. h. ein freier Wille sein kann, der sich folglich selbst das (Sitten-)Gesetz gibt: Der höchstgeschätzte, d. h. schlechterdings gute Wille ist demnach ebenjener, der dem Sittengesetz gemäß ist – und dies ist ein (wie in Abschnitt I gezeigt: von der gemeinen sittlichen Vernunft immer schon zum „Richtmaß gebrauchter“) „synthetischer Satz“ (447.10), der nun aber noch a priori zu ‚beweisen‘ ist. Und insofern ein reiner Wille als vom sinnlich-affizierten Willen unterschieden gedacht wird, kann zwischen diesen beiden253 Willen dann auch eine „Nöthigung“ gedacht werden – wobei die Richtung dieser Nötigung durch eine (im Abendland spätestens
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Zum dritten Abschnitt
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seit Platon weitgehend unkontroverse) axiologische Hierarchie zwischen Verstandes- und Sinnenwelt bestimmt ist: Das Übersinnliche galt immer schon als das Göttliche: „Wir können die ganze Moral als göttliche Gesetze ansehen“ (29:634). [17] Als „Intelligenz“ muss der Mensch sich, wie in [14] gezeigt, einen Willen in der Verstandeswelt, einen intelligiblen Willen, zuschreiben, der zugleich die Ursache seiner Handlungen in der Sinnenwelt ist. Auch weiß er, dass diese Handlungen, als Erscheinungen der „Causalität“ seines intelligiblen Willens, nicht aus „dieser, die wir nicht kennen“, zu erklären sind, und muss sie – als Naturphänomene – daher als durch andere Erscheinungen bestimmt ansehen, also durch seine Neigungen und Begierden. Wäre der Mensch bloß Glied der Verstandeswelt, dann wären seine Handlungen dem Prinzip der Autonomie (dem Sittengesetz) vollkommen gemäß; wäre er bloß Glied der Sinnenwelt, dann wären sie allein durch das Naturgesetz, also heteronom, bestimmt. – Soweit zunächst einmal Kants Text. Dass wir uns dieses Ineinandergreifen von Verstandes- und Sinnenwelt nicht vorstellen (oder ihrerseits wiederum erklären) können, dürfte offenkundig sein, aber das ist selbstverständlich noch kein Einwand dagegen, dass wir es denken können – was ja für die nachfolgenden Überlegungen hinreicht, denn es geht nur noch254 um die Frage, „wie bloß die [kategorische] Nöthigung gedacht [!] werden könne“. Allerdings ist es gleichwohl nicht unproblematisch, einerseits die Beziehung zwischen Verstandes- und Sinnenwelt (wie es die Kritik der reinen Vernunft fordert) als die von Ding (an sich selbst) und Erscheinung zu denken und dabei andererseits die Beziehung vom (intelligiblen) Willen zur (sinnlichen) Handlung als ein Kausalverhältnis zu denken.255 Einmal unterstellt, dies sei möglich (was Kant selbst hier offenkundig voraussetzt), dann kommt nun noch eine dritte Behauptung hinzu: Die „Verstandeswelt enthält den Grund der Sinnenwelt256, mithin auch den der Gesetze derselben“ (Herv. B. L.). Deshalb „erkenne“ ich mich als der Autonomie des Willens „unterworfen“, und die Gesetze der Verstandeswelt „muss“ ich für mich „als Imperativen“ ansehen. Auch hier können wir aufgrund des geradezu stenographischen Textes nur darauf vertrauen, dass diese Ableitung durch die Kritik der reinen Vernunft gedeckt ist. Wir können zwar nachvollziehen, worauf Kant hier abzielt – und einige Themen werden dann noch einmal in der Sektion 5 („Von der äußersten Grenze
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III. Kommentare zum Text
aller praktischen Philosophie“) adressiert; es würde aber den Umfang dieses Kommentars sprengen, die begrifflichen Ressourcen (was ist ein „Ding an sich“, was „Erscheinung“, „Causalität“, „Grund“ &c.?) hier in einer solchen Weise zu explizieren, dass am Ende eine belastbare Argumentation erkennbar wird. Kant bewegt sich im theoretischen Rahmen seines Transzendentalen Idealismus und gibt uns hier nur „die zu unserer Absicht hinlängliche[n] Hauptzüge“ (445) des in diesem Rahmen möglichen Gedankenganges (den er – so kann man vermuten – in einer vollständigen ‚Kritik der reinen praktischen Vernunft‘ noch weiter ausarbeiten wollte). Der nachfolgende Absatz gibt aber einige Hinweise, die die Grundstruktur von Kants Argument für die ‚Möglichkeit kategorischer Imperative‘ nachvollziehbar machen (und für die Adressaten der Grundlegung soll dies offensichtlich hinreichen). [18] Dieser Absatz257 besteht aus nur einem Satz, der seinerseits zwei Stufen der Erklärung dieser Möglichkeit nennt, die jeweils mit einem „dadurch“ beginnen. Mit einem Semikolon abgetrennt wird ferner drittens noch die – ja bereits mehrfach angedeutete – Analogie zur theoretischen Philosophie aufgerufen. Da gleich im ersten Satz des darauffolgenden Absatzes [19] von der Bestätigung der „Richtigkeit dieser Deduction“ die Rede ist, wird man davon ausgehen, dass in Absatz [18] irgendeine „Deduction“ ihren Abschluss gefunden hat – und dort folglich auch das einschlägige Deduktions-Objekt benannt wird. Die Frage nach demselben wird indirekt (aber gleichwohl eindeutig) durch die unmittelbar vorausgegangene Analogie beantwortet: Dieser zufolge müssen im Theoretischen „zu den Anschauungen der Sinnlichkeit Begriffe [!] des Verstandes“ „hinzu kommen“, um (dort) „synthetische Sätze [!] a priori möglich [zu] machen“. Es dürfte schwer zu bestreiten sein, dass Kant hiermit an seine Deduktion der Kategorien aus der Kritik der reinen Vernunft (A 84ff.) erinnert: Die Deduktion von Begriffen [!], die „für sich selbst nichts als die gesetzliche Form überhaupt bedeuten“, beantwortet dort die Frage „Wie sind synthetische Urtheile [!] a priori möglich?“ (so stellen es – kurz zuvor – die Prolegomena dar: 04:365.22f.). In derjenigen Erklärung der Möglichkeit kategorischer Nötigung, die von dem zweiten „dadurch“ in [18] eingeleitet wird und die 1785 nun also ausdrücklich „ungefähr so“258 verfahren soll wie schon 1781 die Erklärung der Möglichkeit synthetischer Urteile a priori vermittels der hinzukommenden Kategorien, heißt es, dass
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Zum dritten Abschnitt
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über meinen durch sinnliche Begierden afficirten Willen noch die Idee ebendesselben, aber zur Verstandeswelt gehörigen reinen, für sich selbst praktischen Willens hinzukommt, welcher259 die oberste Bedingung des erstern nach der Vernunft enthält.
Der hier nun ‚hinzukommende‘ (Vernunft-)Begriff, die „Idee“ also, deren Deduktion die Möglichkeit jenes „synthetischen Satz[es] a priori“, der das „kategorische Sollen“ ausdrückt, erweist, ist damit die Idee eines „reinen, für sich selbst praktischen Willens“,260 der dem Handeln (bzw. Wollen) des vernünftigen Sinnenwesens eine „gesetzliche Form“ gibt (wie die Kategorien sie der Natur geben). Ein solcher Wille lässt sich aber nur denken, weil – wie Kant mit dem ersten „dadurch“ das bis dahin Aufgezeigte zuvor resümiert hat – die Idee der Freiheit mich zum Gliede einer intelligiblen Welt macht (und weil eine „zur Verstandeswelt […] gehörige Causalität“ eben „Wille“ genannt wird). Damit ist die Deduktion261 der Idee des reinen Willens vollzogen, d. h. die Realität dieser Idee gezeigt – und mit ihr dann auch die Frage des Zwischentitels beantwortet: Kategorische Imperative sind möglich, weil (wir denken können, dass) der gesetzgebende reine Wille eines freien Wesens dessen sinnlich-affizierten Willen nötigt. Der in Absatz [10] der Vorrede sowie in der dritten Lehrformel [II 57] bereits angekündigte „Wille von irgendeiner besonderen Art“, der „reine Wille“, ist damit als das „specifische Unterscheidungszeichen“ (431.36) einer reinen Moralphilosophie festgesetzt, welche die Freiheit vernünftiger Wesen zum Gegenstand hat. Hier können wir nun auch gleich noch eine zweite Reformulierung (für die erste s. o. S. 90) des „dritten Satzes“ über die Pflicht aus dem ersten Abschnitt [I 15] wagen: ‚Pflicht ist die Notwendigkeit einer Handlung aus Achtung für das uns durch unseren reinen Willen selbstgegebene Gesetz.‘ Damit wird nun deutlich: Für Kant gilt hier nicht bereits jede ‚Gesetzgebung‘ durch einen eigenen Willen als Autonomie, sondern allein die durch den eigenen reinen Willen, durch reine Vernunft262 – irgendeine Wahl oder Entscheidungsmöglichkeit hat das freie vernünftige Wesen dabei definitiv nicht, denn der freie Wille kann sich als ein reiner ja nur ein Gesetz geben: das formale Sittengesetz eben. In Grundlegung III geht es um Metaphysik, nicht um Handlungstheorie (in Kap. IV werden wir dann sehen, warum das für Kant wichtig ist). [19] „Der praktische Gebrauch der gemeinen Menschenvernunft263 bestätigt die Richtigkeit dieser [!] Deduction“ – und das nun Vittorio Klostermann, 2019.
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III. Kommentare zum Text
auf geradezu umwerfend direkte Weise: Selbst der „ärgste Bösewicht, wenn er nur sonst Vernunft zu brauchen gewohnt ist“, vollzieht Kant zufolge nämlich diesen philosophischen Gedanken implicite mit. Indem er seine Missetaten bereut, „beweiset“ er mit „seinem Wunsche“ nach einer besseren Gesinnung, dass er „mit einem Willen, der von Antrieben der Sinnlichkeit frei ist, sich in Gedanken in eine ganz andere Ordnung der Dinge versetze“. Und es ist auch nichts Geringeres als „die Idee der Freiheit“, die ihn „unwillkührlich nöthigt“, diesen „Standpunkt eines Gliedes der Verstandeswelt“ einzunehmen, „in welchem er sich eines guten Willens bewußt ist, der für seinen bösen Willen […] nach seinem eigenen Geständnisse das Gesetz ausmacht“. Kurz: Selbst für den „ärgsten Bösewicht“ ist die moralische Verpflichtung demnach ein
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eigenes nothwendiges Wollen als Gliedes einer intelligibelen Welt und wird nur so fern von ihm als Sollen gedacht, als er sich zugleich wie ein Glied der Sinnenwelt betrachtet (Herv. B. L.).
Im aufgeklärten Königsberg gelten demnach sogar die reuigen Bösewichter als (geborene) Transzendentale Idealisten, die sich neben ihrem bösen, sinnlichen einen guten, intelligiblen Willen denken können – und ihn sich praktisch zuschreiben! Auch wenn es im bisherigen Gedankengang noch nicht hervorstach: Spätestens an diesem Beispiel wird nun allerdings deutlich, dass die Lehre von den ‚zwei Willen‘, d. h.: von dem (gedachten) reinen, der den sinnlich-affizierten nötigt, zwar (der Aufgabe des dritten Abschnitts gemäß) das Problem löst, wie ein kategorisches Sollen gedacht werden kann – das nicht minder bedeutende Problem der moralischen Zurechnung hingegen nicht: Wenn nämlich das Sittengesetz das „Gesetz der Causalität“ des (gedachten) reinen Willens ist, dann kann dieser reine Wille naturgemäß nur solchen Handlungen zugrunde liegen, die „aus Pflicht“ geschehen.264 Folglich können insbesondere die pflichtwidrigen Handlungen nicht als Wirkungen seiner „Causalität“ gedacht werden, sondern ausschließlich als Wirkungen (einer Intervention) des sinnlich affizierten, des „bösen Willens“. Dieser ist jedoch e suppositione nicht frei, er ist vielmehr durch „Neigungen und Antriebe“, also von der Natur (tertium non datur) bestimmt. Da nun aber auch das Nachgeben eines „guten Willens“ gegenüber den natürlichen Anfechtungen nicht als Ausdruck von dessen Freiheit gedacht werden kann (weil auch dies definitiv nicht
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Zum dritten Abschnitt
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die Wirkung einer „Causalität“ gemäß dem Sittengesetz wäre), können selbst dem ärgsten Bösewicht allenfalls die guten, nicht aber die bösen (ja nicht einmal die bloß-pflichtmäßigen) Handlungen als die seinen zugerechnet werden.265 Das ist sicherlich von Kant so nicht beabsichtigt und damit fraglos ein von ihm 1785 unbemerkter (aber nicht wegzudiskutierender) systematischer Mangel der Willenslehre der Grundlegung (auf den seinerzeit etwa Carl Leonard Reinhold hingewiesen hat). – Weil dieses Problem aber im Rahmen der Freiheitslehre der Kritik der praktischen Vernunft dann nicht mehr auftritt, haben wir es hier nur markiert und werden es erst einmal nicht weiterverfolgen (siehe dazu dann unten S. 137ff.). [Sektion 5] „Von der äußersten Grenze aller praktischen Philosophie.“ In dieser Sektion wird der zuvor vorausgesetzte Rahmen des Transzendentalen Idealismus noch einmal ausgeleuchtet. Es kommen keine neuen argumentativen Schritte mehr hinzu, vielmehr werden die zuvor vollzogenen noch einmal nachgezeichnet, auf ihr metaphysisches Fundament, d. h.: auf Grundgedanken von Kants ‚Kritischer Philosophie‘, zurückgeführt – und damit gegen mögliche „speculative“ Einwände abgesichert.266 – [20-22] Auch wenn alle Menschen sich dem Willen nach als frei denken, so ist der Vernunftbegriff der Freiheit genauso wenig ein empirischer wie jener Verstandesbegriff der Naturnotwendigkeit, mit dem die Freiheit notorisch im Widerspruch zu stehen scheint: Dieser scheinbare Widerspruch ist „der eigentliche Stein des Anstoßes für die Philosophie“ (so bereits A 448). Während nun allerdings „Natur“ als Verstandesbegriff seine Realität hernach an Erfahrungsbeispielen beweist, ist die „objective Realität“ der Freiheit267 „an sich zweifelhaft“ (d. h. hier: nicht theoretisch erkennbar). Da die Freiheit aber gleichwohl in „praktischer Absicht“ unentbehrlich – und daher nicht ‚wegzuvernünfteln‘ – ist, muss der genannte Widerspruch von der Philosophie als ein bloß vermeintlicher ausgewiesen werden:268 Bestünde zwischen Freiheit und Naturnotwendigkeit nämlich tatsächlich ein Widerspruch, dann müsste in dieser Konkurrenz nicht etwa die Naturnotwendigkeit, sondern vielmehr die Freiheit aufgegeben werden (so wie diese auch bereits dann aufgegeben werden müsste, wenn sich ihr eigener Begriff widerspräche – was aber offenkundig nicht der Fall ist, s. o. Anm. 31). [23-24] Der Widerspruch wird tatsächlich durch die „speculative[ ] Philosophie“ (des transzendentalen Idealismus) abgewiesen,
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III. Kommentare zum Text
die (erstens) zeigen kann, „dass wir den Menschen in einem anderen Sinne und Verhältnisse denken, wenn wir ihn frei nennen, als wenn wir ihn als Stück der Natur dieser ihren Gesetzen für unterworfen halten“. Angesichts der Tatsache, dass wir (alternativ) den Menschen ohne jeden Verdacht eines Widerspruchs auch einfach als ein unfreies, bloßes Natur- bzw. Sinnenwesen denken können (wie es etwa die „Empiristen“ tun müssen, 05:07.36; vgl. 363.25ff. – als ein Tier bzw. eine Art wesenhaft „Wilden“ also, s. o. Anm. 169f.), ist es (zweitens) gleichermaßen eine Aufgabe für die „spekulative Philosophie“, zu zeigen, dass beim Menschen Natur und Freiheit „als nothwendig vereinigt in demselben Subject gedacht werden müssen“. Erst wenn diese zwei Aufgaben gelöst worden sind, und zwar, wie Kant hier noch einmal ausdrücklich betont, „von der speculativen Vernunft“, dann kann auch der „Fatalist“ der praktischen Philosophie nicht mehr den „Boden, worauf sie anbauen will, streitig machen“.269 Wie bereits zuvor im Kanon der Kritik der reinen Vernunft (A 804) weist Kant also auch hier eigens darauf hin, dass es die Aufgabe der spekulativen Philosophie sei, das Problem der transzendentalen (Willens-)Freiheit zu lösen, d. h.: erstens, den Widerspruch von (Natur-)Notwendigkeit und Freiheit vermittels der Unterscheidung zwischen sinnlicher und intelligibler Welt ganz grundsätzlich als einen scheinbaren zu erweisen (durch die Auflösung der dritten „Antinomie der reinen Vernunft“, siehe A 532f.), und zweitens zu zeigen, dass wir speziell den Menschen als ein Wesen denken müssen, das nicht nur der Sinnenwelt, sondern auch der intelligiblen Welt zugehörig ist. Auch dieser zweite Nachweis geschieht, wie wir sahen, 1781 und 1785 tatsächlich „speculativ“: durch die Lehre von der absoluten Spontaneität einer ‚ideengenerierenden‘ Vernunft (s. o. Anm. 247). [25] Aber nicht nur die Spekulation, auch die „gemeine[ ] Menschenvernunft“ wird „inne“, dass der Mensch sich „als Intelligenz“, d. h.: als im Vernunftgebrauch „unabhängig von sinnlichen Eindrücken“ begreift. [26] Er schreibt sich damit einen Willen zu, der sich „mit Hintansetzung aller Begierden und sinnlichen Anreizungen“ selbst bestimmen kann, kurz: Er betrachtet sich „als Intelligenz“ zugleich als ein der Zurechnung fähiges Wesen – und findet in dieser Selbsttätigkeit „das eigentliche Selbst“. Er rechnet diesem „Selbst“ allerdings nicht diejenigen Reize der „Neigungen und Antriebe“ zu, welche ihn mitunter vom vernunftgebotenen Handeln abhalten – dafür aber die „Nachsicht“270, die er ihnen gegenüber auszuüben bereit ist.
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Zum dritten Abschnitt
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Nach diesen vorbereitenden Erörterungen widmet sich Kant nun – wie im Zwischentitel angekündigt – der „äußersten Grenze aller praktischen Philosophie“, also der Frage, inwieweit die Freiheitslehre der Grundlegung den Erkenntnisrestriktionen der kritischen Philosophie Rechnung trägt [27-34]. Die hierbei maßgebliche Unterscheidung ist die zwischen Erkenntnis der Möglichkeit („erkennen dass/ob möglich“) und Erkenntnis des Grundes der Möglichkeit („erkennen wie möglich“ – dazu 04:276 und A 448), wobei diese zweite Erkenntnis für das steht, was man auch die Erklärung eines Sachverhalts nennt (vgl. dazu oben ad [II 27]).271 „[W]ie Freiheit möglich ist“ werden wir niemals begreifen (456.08) und damit auch nicht, „wie reine Vernunft praktisch sein könne“. Diese ‚Wie-‘ bzw. ‚ErklärungsFragen‘ weist Kant in den Absätzen [27-33] mehrfach zurück (458.37, 459.02/15/32, 460.22/31, 461.13/25/32/33/36). Nur, dass die Voraussetzung der Freiheit des Willens spekulativ möglich ist, lässt sich zeigen – und auch, dass sie praktisch notwendig ist. [27-28] Zunächst betont Kant, man könne (und müsse) sich zwar in die Verstandeswelt hineindenken, nicht aber in sie hineinschauen, denn sie ist zunächst bloß als eine ‚nicht-sinnliche-Welt‘, d. h. nur negativ, bestimmt. Damit man in einer solchen Verstandeswelt etwas erkennen könnte, müsste es (der Kritik der reinen Vernunft zufolge, s. A 50f.) neben dem Denken (den Begriffen) auch noch eine (intellektuelle) Anschauung nicht- bzw. übersinnlicher Objekte geben – über die aber die Menschen nicht verfügen, denn deren Anschauung ist sinnlich (mit den Formen von Raum und Zeit, ebd.). Somit ist die Verstandeswelt allenfalls ein „Standpunkt“, den der Mensch einnehmen muss, wenn er sich selbst als „Intelligenz, mithin als vernünftige und durch Vernunft thätige, d. i. als frei wirkende, Ursache“ denken will (s. o. [14]). Mit diesem Gedanken führt der Mensch allerdings die „Idee einer anderen Ordnung und Gesetzgebung ein […] und macht den Begriff einer intelligiblen Welt (d. i. das Ganze vernünftiger Wesen, als Dinge an sich selbst) nothwendig“. Die einzige positive Bestimmung, die dem (zunächst bloß negativen, s. o.) „Gedanken“ einer Verstandeswelt dabei zukommt, ist damit die einer „Causalität der Vernunft“, deren Gesetz wiederum nur ein formales – und damit allein das Sittengesetz – sein kann. Ein Bewusstsein der eigenen Freiheit kompensiert hier gleichsam das Fehlen einer intellektuellen Anschauung, es liefert damit dann aber auch nicht mehr als eben jene
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III. Kommentare zum Text
„formale Bedingung“, unter der eine intelligible Freiheit steht. „Objekt[e] des Willens“ hingegen, die Beweggründe für den Willen abgeben könnten, erkennen wir in der intelligiblen Welt nicht – und daher sind wir auch nicht in der Lage zu erklären, „wie“ [!] reine Vernunft praktisch sein könne“. [29] Denn jede Erklärung besteht in einer Zurückführung auf (Natur-)Gesetze – was bei der „Idee der Freiheit“ e suppositione (s. o. ad [4]) nicht möglich ist. Also kann und muss es genügen, den Nachweis, ‚dass Freiheit möglich ist‘ „durch Vertheidigung, d. i. Abtreibung der Einwürfe derer, die […] die Freiheit dreust für unmöglich erklären“ zu erbringen. Und dies ist (nur) möglich im Rahmen der Lehre des Transzendentalen Idealismus: Der Mensch kann (und muss) sich als „Ding an sich selbst“ denken, womit er die „Causalität“ seines Willens von aller Naturbestimmung „absondert“. [30] Wie schon in [8] erörtert, gibt es ebendarum kein „Interesse“, welches eine Handlung ‚aus Pflicht‘ erklären könnte. Doch zeigt sich gleichwohl ein Interesse indirekt im „moralischen Gefühl“, welches nicht etwa (wie es manche Schotten annahmen) das ‚principium dijudicationis‘ der Moral ausmacht (vgl. oben ad [II 9]), sondern nur eine „subjective Wirkung“ des „Gesetz[es] auf den Willen“ darstellt272 (vgl. dazu ad [I 16]). [31] Das Vermögen der Vernunft, ein solches „Gefühl der Lust“ an der Erfüllung der Pflicht „einzuflößen“, ist, wie schon in [17] erörtert, zwar unerläßlich, muss aber zugleich unerklärlich bleiben: Denn von keiner „Causalität“ können wir etwas a priori erkennen (s. o. Anm. 225), und a posteriori lassen sich allein die kausalen Beziehungen „zwischen zwei Gegenständen der Erfahrung“ erkennen (um die es an dieser Stelle aber gerade nicht geht). Kant liefert mit diesen Überlegungen also nicht etwa die Skizze zu einer Theorie ‚moralischer Motivation‘, sondern er erklärt vielmehr, dass es eine solche Theorie ganz grundsätzlich gar nicht geben kann. Alles Handeln ist letztendlich zu erklären aus sinnlichen Antrieben (vgl. 453.23f) in Verbindung mit theoretischen Überzeugungen. Damit gibt Kant dem Humeschen Diktum: Reason is, and ought only to be the slave of the passions, and can never pretend to any other office than to serve and obey them. (Treatise, II;3.3)
als Grundsatz für die Erklärung von Handlungen uneingeschränkt recht.273 Denn nur deshalb (kann und) muss Kant ja behaupten, dass das sittliche Sollen „freilich“ (!) von einem ‚Gefühl der Lust an der
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Erfüllung der Pflicht‘ begleitet ist – auch ohne dass sich dabei angeben ließe, wie ein solches Gefühl möglich ist, und auch ohne dass es möglich wäre, näher zu beschreiben, wie sich ein solches Gefühl (das ja bereits Kindern vertraut sein muss, s. o. ad [II 9]) direkt äußern könnte, d. h.: wie es sich ‚anfühlt‘ (um damit etwa für einen eigenständigen empirischen Nachweis offenzustehen). Wer sagt, dass er oder sie sich durch ein Versprechen verpflichtet fühlt, kann damit also (auch für Kant) letztlich nicht mehr behaupten, als dass sie oder er (1) durch ein Versprechen verpflichtet wird und dass es ihm oder ihr (2) erfahrungs- und erwartungsgemäß ‚fast immer‘ gelingen wird, eine der Erfüllung entgegenstehende Neigung durch irgendwelche anderen Neigungen zu überwinden (auch wenn sie oder er diese nicht im Voraus bestimmen kann274). Ausschließlich darin kann sich die Achtung für’s Gesetz in der Erfahrung zeigen – andernfalls müsste sie jede zurechenbare Handlung zum unerklärlichen Wunder erklären (vgl. oben Anm. 78). Wie es später heißt:
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[Ü]ber das Causal-Verhältniß des Intelligibilen zum Sensibilen giebt es keine Theorie (06:439Fn).
Damit gibt es auch keine Erklärung, „wie [!] und warum uns […] die Sittlichkeit interessiere“. Dass [!] sie uns interessieren kann, ist (für Kant) unbestritten. Und als – unserem Selbstverständnis gemäß – freie Wesen können wir uns dies nun damit erklären, dass (1) ihre Forderungen „aus unserem Willen als Intelligenz mithin aus unserem eigentlichen Selbst“ (dazu oben [26]) entsprungen sind – und dass (2) die Vernunft alles, was zur Erscheinung gehört, „nothwendig der Beschaffenheit der Sache an sich selbst“ unterordnet (eine axiologische Überzeugung, für die Kant nicht weiter argumentiert – wie auch? – und die, wie schon bemerkt, im Grundsatz als ein abendländischer Gemeinplatz gilt). Im folgenden Absatz [32] fasst Kant noch ein letztes Mal den Grundgedanken des dritten Abschnitts zusammen: Die Frage, wie ein kategorischer Imperativ möglich ist, wurde beantwortet, indem die „einzige Voraussetzung“ benannt wurde, unter der er möglich ist: Es ist die für ein vernünftiges Wesen (praktisch) notwendige [Sektion 2] und (spekulativ) mögliche [Sektion 3] Selbstzuschreibung der Freiheit (den einschlägigen Satz, 461.17–25, hatten wir bereits oben ad [4] ausgewertet). Wie es wiederum möglich ist, dass reine Vernunft praktisch wird, bleibt genauso unerklärlich wie die
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III. Kommentare zum Text
Möglichkeit der Willensfreiheit selbst. [33] Als „Causalität“ seitens einer Intelligenz ist diese in einer intelligiblen ‚Welt‘ anzusiedeln, von der wir zwar eine Idee bilden, von der wir aber „nicht die mindeste Kenntnis“ haben können, und in welcher wir allenfalls „herumschwärmen“ könnten – eine Tätigkeit, die Kant allerdings den dogmatischen Philosophen überlässt:
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Schwärmerei in der allergemeinsten Bedeutung [ist] eine nach Grundsätzen unternommene Überschreitung der Grenzen der menschlichen Vernunft (05:85).
In dieser intelligiblen Welt bleibt von der „reinen Vernunft“ (nach Absonderung aller „Erkenntnis der Objecte“) nur die „Form“ (einer Verstandeswelt) übrig – und damit das (formale) Sittengesetz. Es ist allein diese „Idee einer intelligiblen Welt“, an der „die Vernunft ursprünglich ein Interesse nimmt“ [34] – womit zugleich zweierlei deutlich wird: „oberste Bewegursache“ eines freien Wesens ist, erstens, kein „begreifliches aber empirisches“ sinnliches Interesse (wie die Glückseligkeit). Und es ist, zweitens, auch kein „Objekt“ im Bereich des Intelligiblen (wie die Vollkommenheit), denn derartige ‚Objekte‘ sind ja für uns Menschen (mangels nicht-sinnlicher Anschauung, A 19) allenfalls „Hirngespinste[ ]“. Es bleibt somit nur die „Idee einer Verstandeswelt als eines Ganzen aller Intelligenzen“, zu dem auch wir Menschen als freie Wesen uns zugehörig denken können – sofern wir uns denn „sorgfältig nach Maximen der Freiheit, als ob sie Gesetze der Natur wären“ verhielten: Dies ist das „herrliche Ideal eines allgemeinen Reichs der Zwecke an sich selbst“ – allerdings nicht als Gegenstand des „Wissens“, bzw. der „Kenntnis“, sondern als Gegenstand eines „vernünftigen Glaubens“: Wie bereits in [II 78] wird hier noch einmal die Brücke zur Moraltheologie geschlagen. [„Schlußanmerkung“], [35] Spekulativer wie praktischer Gebrauch der Vernunft finden ihre Ruhe jeweils erst in einer „absolute[n] Nothwendigkeit“: der spekulative in irgendeiner „obersten Ursache der Welt“ (die von Kant hier nicht näher spezifiziert wird),275 der praktische Gebrauch in irgendwelchen „Gesetzen der Handlungen eines vernünftigen Wesen als eines solchen“. Da die (endliche) Vernunft des Menschen immer nur bedingte Notwendigkeiten erkennt, gerät sie darüber in einen Regress, den sie nur beenden kann, indem
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Zum dritten Abschnitt
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sie ein „Unbedingt-Nothwendige[s]“ annimmt – ohne es auch begreifen oder erkennen zu können. Im Falle der praktischen Vernunft lässt sich aber zumindest ein (Vernunft-)Begriff ausfindig machen, mit dem sich eine unbedingte Notwendigkeit denken lässt: die Idee der Freiheit (als absoluter Spontaneität). Die „praktische unbedingte Nothwendigkeit des moralischen Imperativs“ ist angesichts der einem vernünftigen Wesen (spekulativ-)möglichen (praktischen) Selbstzuschreibung von Freiheit also ihrerseits möglich (vgl. 461,07ff.) – wenn sie auch unbegreiflich bleiben muss.
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Es ist also kein Tadel für unsere Deduction des obersten Princips276 der Moralität, sondern ein Vorwurf, den man der menschlichen Vernunft überhaupt machen müßte, daß sie ein unbedingtes [!] praktisches Gesetz (dergleichen der kategorische Imperativ sein muß) seiner absoluten Nothwendigkeit nach nicht begreiflich machen kann.277
Und diese „absolute Notwendigkeit“ darf ja auch unbegreiflich bleiben, weil – wovon Kant ausgeht – alle Menschen sich als frei „denken“ (455.11) und so die sittlichen Forderungen bereits als unbedingte anerkennen (zumindest dann, wenn sie überhaupt über ihr Handeln und dessen Wert nachdenken, vgl. KrV A 807 und 05:32, s. o. Kap. I), deren „Nothwendigkeit“ also gar nicht bezweifeln, sondern allenfalls daran verzweifeln, dass es ihnen selbst (und anderen) beharrlich nicht gelingt, dem Gesetz zu folgen. Denn allein dadurch könn(t)en sie – wie die Grundlegung nun gezeigt hat – ihrem Handeln jenen (unbedingten) sittlichen Wert verleihen, über den ‚Gelehrte, Vernünftler, Leute von Geschäften und Frauenzimmer‘ allesamt mit größter Lebhaftigkeit räsonnieren (die Bösewichter unter ihnen eingeschlossen!), sobald sie nur in „gemischten Gesellschaften“ aufeinandertreffen (05:153f.) – und von dem die Untersuchung in der Grundlegung ihren Ausgang nahm. Die „äußerste Grenze aller praktischen Philosophie“ ist damit erreicht. Aber diese Grenze unserer Erkenntnis ist – wie sich nun auch gezeigt hat – gerade nicht die Grenze unserer Moral: Genau das ist die eigentlich kritische Botschaft von Kants ‚Kritischer Philosophie‘ (vgl. oben Kap. I). Und im Gegenzug wird nun zugleich dem moralabträglichen ‚Vernünfteln‘ jener ‚Dogmatiker‘, die „tiefer in das Wesen der Dinge geschaut zu haben vorgeben“ (459), erstmals und endgültig der philosophische Boden entzogen. – Es werden allerdings noch genau 200 Jahre
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III. Kommentare zum Text
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vergehen, bis ein (sich jedoch als dezidiert anti-kantisch positionierendes) moralphilosophisches Buch Kants kritische Programmatik dann im Titel führen wird: Ethics and the limits of philosophy.278
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IV. Architektonische Spannungen – 1781 Man muß nicht glauben daß diese unsere Critik die Rohigkeit immer haben werde die sie jetzt im Anfange hat. (23:58 [~1783])
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In Kapitel I, 2 hatten wir gesehen, dass Kant es als eine bedeutende Leistung seiner Kritik der reinen Vernunft angesehen hat, dass sie die Religion 1781 von (den Streitigkeiten) der Spekulation „frei gemacht“ hat, und dass die Lehren von Gott und Seelenunsterblichkeit damit zum Gegenstand einer Moraltheologie wurden. Denn solange Agnostizismus oder Atheismus keine Option darstellen, bleibt, wenn alle spekulative Theologie „null und nichtig“ ist, allein die Moraltheologie übrig.279 Im Kern lautet der (oben schon zitierte) moraltheologische Beweis des ‚Kanon‘ folgendermaßen: „[D]ie Vernunft sieht sich genöthigt [Gott und Unsterblichkeit] anzunehmen, oder die moralischen Gesetze als leere Hirngespinste anzusehen, weil der nothwendige Erfolg derselben, den dieselbe Vernunft mit ihnen verknüpft, ohne jene Voraussetzung wegfallen müßte. Daher auch jedermann die moralischen Gesetze als Gebote ansieht, welches sie aber nicht sein könnten, wenn sie nicht a priori angemessene Folgen mit ihrer Regel verknüpften und also Verheißungen und Drohungen bei sich führten.“ (A 811)
Gegen Gottesexistenz und Seelenunsterblichkeit gibt es keine grundsätzlichen spekulativen Einwände, und die Unabweisbarkeit der moralischen Forderungen (s. o. Kap. I.1.b) wiederum nötigt uns dazu, beide um der verbindlichkeitskonstitutiven (vgl. dazu auch A 589 und 634) Sanktionen willen in praktischer Absicht anzunehmen. Alles wäre gut, wenn von Kant in seinen Königsberger Vorlesungen zur Moralphilosophie nicht schon seit langem über das SittlichGebotene auch noch etwas ganz anderes, das Folgende z. B., zu hören gewesen wäre: Du sollst nicht lügen ist kein problematischer Imperativus, denn sonst müsste es heissen: Wenn es dir einen Schaden bringt, dann sollst du nicht lügen, sondern er imperiert categorisch und schlechthin, du sollst nicht lügen. (Moral Kaehler, MS p. 11)
Kurz: Schon lange Zeit vor der Kritik der reinen Vernunft war Kant davon ausgegangen, dass sittliche Gesetze „categorisch“, also ohne
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IV. Architektonische Spannungen
jede Rücksicht auf intendierte Folgen, gebieten – oder aber keine moralischen sind, denn: „die moralische Necessitation [ist] categorisch und nicht hypothetisch“ (ebd. 31). Wenn die Gesetze gemäß Kanon der Kritik der reinen Vernunft aber nur dann ‚imperierten‘, d. h. „Gebote“ oder „Verbote“ enthielten („Verbindlichkeit“ hätten, A 811), falls sie neben der Vernunftgemäßheit noch irgendwelche Sanktionen in Gestalt von „Verheißungen und Drohungen“ bei sich führten, welche die aktuellen Reize übertrumpfen, dann ‚gebrauchte der Verstand die eine Sinnlichkeit gegen die andere’, um größeren Schaden zu vermeiden, wie Kaehler es später (ebd. 254) von Kant notiert – und das Sollen wäre als ein jederzeit pragmatisches unmöglich ein sittliches. Nachdem der moraltheologische Gottesbeweis 1781 exklusiv ins Zentrum der philosophischen Religionslehre gerückt war, konnte es Kant nicht mehr lange verborgen bleiben, dass die verbindlichkeitstheoretische Dimension ebendieses Gottesbeweises mit der metaethischen Position seiner moralphilosophischen Vorlesungen prinzipiell unvereinbar war. Denn wenn es „wirklich reine moralische Gesetze“ gibt (Kritik der reinen Vernunft) und solche ihrerseits kategorische Imperative sind (Moralvorlesung), dann müssen diese Gesetze e suppositione auch und gerade unabhängig von den jeweils zu erwartenden „angemessene[n] Folgen“ (A 811) des Handelns gebieten – d. h.: ein Bewusstsein der Verbindlichkeit mit sich führen – können. Damit bricht aber der verbindlichkeitstheoretischen Version des moraltheologischen Gottesbeweises die zentrale Prämisse (‚Keine Obligation ohne Strafe und Lohn!‘) weg. Unter den systematischen Voraussetzungen von Kants kritischer metaphysica specialis, so wie sie von ihm 1781 erstmals vorgestellt wurde, sind kategorische Imperative also definitiv nicht möglich – was nur deshalb nicht sogleich ins Auge springen muss, weil in der Kritik der reinen Vernunft von ihnen nirgendwo die Rede ist.280 Dass Kant dieses Problem nicht entgangen ist und er seine temporäre ‚philosophische Schizophrenie‘ dann überwinden konnte, zeigt sich nicht zuletzt darin, dass er das Problem recht bald durch zwei präzise darauf zugeschnittene Revisionen gelöst hat – und zwar beide auf Seiten seiner Metaphysik. Er hat, erstens, in allen späteren Erläuterungen seines moraltheologischen Beweises jede verbindlichkeitstheoretische Dimension ganz ausdrücklich zurückgewiesen (etwa: 29:616; 08:139; 05:125.34 und 129.16ff.) und in der Kritik der
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praktischen Vernunft dann ausschließlich rationalitätstheoretisch argumentiert (siehe 05:108ff.): Bereits in den 1770ern war dieser „indirecte“ Beweis (über das sogenannte „absurdum practicum“) der „in Ansehung des Praktischen […] vollkommenste und vortrefflichste“ (28:319f.) – aber er war vor der Kritik der reinen Vernunft für Kant noch nicht derjenige, auf den es ankam. In der Naturrechts-Vorlesung von 1784 distanziert Kant sich dann (erstmals) mit auffälligem Nachdruck von der einschlägigen verbindlichkeitstheoretischen Voraussetzung, die er bis 1781 mit Baumgarten, Achenwall und zahllosen anderen Naturrechtslehrern281 noch geteilt hatte (auch wenn er sie zuvor schon kritisiert [27:277, 1209] und bis 1781 dann ausschließlich ‚rückwärts‘, d. h. zum Zwecke des Gottesbeweises, herangezogen hatte, nicht aber für eine ‚theistische‘ Begründung der Verbindlichkeit; dazu: A 819): Unser Autor und andre reden von der obligatio per poenas, so auch Baumgarten. Aber durch Poenas [Strafen] und Praemia [Belohnungen] einen verbinden ist contradictio in adjecto. (27:1326)
Und in der Moralvorlesung im darauffolgenden Semester heißt es dann kurz:
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Alle Praemia divina sind nur gratuita. (29:636)
Die zweite Revision hat wesentlich dramatischere Konsequenzen – denen wir oben bereits begegnet sind, ohne deren Anlass eigens herausgestellt zu haben: Weil ein göttlicher Wille kraft des diesem zugedachten, allumfassenden Sanktionspotentials zwar die Möglichkeit von Imperativen überhaupt erklären kann, aber, wie wir sahen, gerade nicht die von kategorisch-gebietenden Imperativen, musste Kant diesen gesetzgebenden Willen notgedrungen irgendwann durch irgendeinen anderen282 Willen ersetzen: Durch einen Willen, der dem menschlichen Willen gleichermaßen übergeordnet ist, der seinerseits nun aber auch ohne alle äußeren „Triebfedern des Vorsatzes“ (A 813), d. h. ohne „Interesse als Reiz oder Zwang“ (433), moralisch gebieten kann. Was bleibt dann aber anderes übrig, als dass (1) ein gesetzgebender zweiter Wille des Menschen selbst „gedacht werden“ muss, der dann dessen „Willen als Gliedes der Sinnenwelt“ (455.05) übergeordnet ist? Das kann nun aber nur (2) ein reiner, d. h. „von den Antrieben der Sinnlichkeit freie[r]“ Wille im Über-Sinn-
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lichen – bei Kant also in der intelligiblen- oder „Verstandes-Welt“ (454.14) – sein. Folglich trat unversehens – und noch 1781 definitiv unantizipiert – die epochale Ablösung der im Abendland für weit über tausend Jahre weitgehend unangefochtenen Theo-Nomie durch die AutoNomie auf die Agenda der Moralphilosophie: Ein Nachweis der praktischen Realität der Idee eines reinen gesetzgebenden Willens des Menschen selbst wurde damit zu einer gänzlich neuen und zugleich unabweisbaren (metaphysischen) Herausforderung für Kant. Ohne diesen Nachweis sind die Kritische Metaphysik und das, was wir heute als ‚Kants Moralphilosophie‘ kennen, nicht zu vereinbaren, denn nur unter der Voraussetzung eines solchen reinen Willens lässt sich für Kant die „Möglichkeit“ kategorischer Imperative (und damit einer reinen Moral) überhaupt „begreiflich“ machen, d. h.: eine kategorische Nötigung denken. Diese Aufgabe ist es also, die Kant bei Gelegenheit der WolffKritik in der Vorrede der Grundlegung bereits andeutet und von der er dann (in Vorausblick auf den dritten Abschnitt) sagen wird, dass sie eine „besondere und schwere Bemühung erforder[e]“ (420.22). Warum eine „schwere“? Nun, in der theoretischen Philosophie wurde zuvor (in der Kritik der reinen Vernunft) die objektive Realität von nicht-empirischen Begriffen, den Kategorien, durch deren transzendentale Deduktion gesichert, die Kant ihrerseits als eine schwere Bemühung galt (A XVI, 04:261). Was aber lag für ihn in der Folge zunächst einmal näher als (3) die Annahme, in der praktischen Philosophie müsse die Realität des reinen (Vernunft-)Begriffes eines gesetzgebenden Willens des Menschen selbst nun gleichermaßen durch dessen Deduktion erwiesen werden. Und was bietet sich als die entscheidende Voraussetzung „dieser Deduktion“ – und damit als „Schlüssel zur Erklärung der Autonomie“ – an, wenn nicht (4) die Freiheit? Das zumindest hätte Kant ja schon lange zuvor aus Rousseaus Emile (Buch 5) oder von irgendeinem anderen Republikaner gelernt haben können: Auch eine Bürgerschaft ist frei, wenn sie sich selbst die Gesetze gibt.283 Erst jener Augenblick, in dem bei Kant, nachdem er die neue Herausforderung erkannt hatte, die genannte (vierteilige) Lösung aufblitzte, ist die Sekunde einer „Invention of Autonomy“ (J. Schneewind) – und der des „reinen Willens“ als einer ‚metaphysischen Entität‘. Ein terminus post quem dürfte (neben der Religionsvorlesung
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vom Wintersemester 1783/84 – sofern die überlieferte Mitschrift den aktuellen Stand der kantischen Reflexion wiedergibt; siehe dort 28:1283f.) die Abfassung der Schulz-Rezension von 1783 (08:10ff.) sein, wo Kant den reinen Willen – und/oder die Autonomie – hätte thematisieren müssen, wenn er deren bahnbrechende Rolle bereits im Blick gehabt hätte. Auf den ersten Seiten des Naturrecht Feyerabend vom Sommersemester 1784 wird der Grundgedanke für uns dann erstmals sichtbar (27:1326). Dies wird kein bloßer Zufall der Überlieferung sein: Wir wissen schon lange, dass Kant um diese Zeit an einer Replik auf Christian Garves Kommentar zu Ciceros de officiis gearbeitet hatte.284 Warum aber diese Auseinandersetzung so wenig inhaltliche Spuren in der Grundlegung hinterlassen hat (von der Auffrischung stoischer Einfärbungen und von einer kurzen Polemik gegen die Popularphilosophie zu Beginn des zweiten Abschnitts einmal abgesehen), können wir jetzt auch verstehen: Am 2. Mai 1784 (also gegen Beginn des Sommersemesters) schreibt Hamann an Herder: Kant „arbeitet scharf an der Vollendung seines Systems. Die Antikritik über Garves Cicero hat sich in ein Prodromum zur Moral verwandelt.“ (Herv. B. L.) Es sieht also ganz danach aus, als sei Kant während der Arbeit an seiner „Antikritik“, d. h. Ende 1783/Anfang 1784, durch sein Garve-Cicero-Studium mit Macht auf jenes Problem seiner eigenen Moralphilosophie gestoßen worden, das er dann mit seiner neuen Autonomie-Lehre gelöst hat.285 Im ersten Teil des Gemeinspruchs wird er es 1793 dann noch einmal ganz ausdrücklich ‚gegen Garve‘ (08:278ff.) zum Thema machen: das Problem einer nicht-sinnlichen Nötigung. Auch wenn Kant in Grundlegung III.4 also gar nicht von der „Richtigkeit dieser Deduction“ gesprochen hätte: Wir könnten es auch bereits anhand der metaphysica specialis der Kritik der reinen Vernunft nachvollziehen, warum (1) die Autonomie eines (2) reinen Willens für die kritische Philosophie nach 1781 irgendwann zum Thema werden musste, und wir verstehen auch, warum es für Kant dabei zunächst einmal nahelag, ihr mittels (3)einer neuen „Deduction“ Bahn zu brechen: Mit einer (4) auf seiner Freiheitslehre von 1781 aufbauenden Deduktion der Idee eines reinen gesetzgebenden Willens des Menschen selbst.286 Denn solange es des sanktionsbewehrten Willens eines anderen – eines belohnenden und strafenden Gottes, oder wessen auch immer – bedarf, um uns zu verbinden, können die moralischen Gebote keine kategorischen sein: Kants kritische Metaphysik und
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IV. Architektonische Spannungen
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Kants reine Moralphilosophie passten vor 1785 definitiv noch nicht zusammen. Für dieses287 Problem also sollte die Grundlegung mit ihrer Lehre von der Autonomie durch den reinen Willen eine Lösung bieten. Auch wenn Kant kurzzeitig glaubte, eine solche nun geliefert zu haben: Seine 1785 für das Lehrstück vom ‚reinen Willen‘ herangezogene Lehre von der Willensfreiheit aus der ersten Kritik von 1781 war, wie sich dann bald zeigte, gar nicht ‚consequent‘-kritisch gewesen: Sie musste daher noch einmal auf ein anderes Fundament gesetzt werden.
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V. Nachbeben – 1787/88 Die Moral ist das, was wenn sie richtig ist, durchaus Freyheit voraussetzt. Ist jene wahr, so ist die Freyheit bewiesen. (23:42; =Refl. CLXXVI)
Irgendwann zwischen 1785 und 1787 notiert Kant in seinem Handexemplar der Kritik der reinen Vernunft: Consequente Denkungsart. […] Es muß also etwas außer den Gegenständen der Erfahrung wirklich seyn. Dieses etwas zu bestimmen kann keine speculative Erkenntnisart zulangen, weil diese ohne Anschauungen, die bey uns sinnlich sind, bloße Gedankenform ist. (23:42; =Refl. CLXXVIII)
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Nehmen wir diese Notiz beim Wort, dann erkennen wir sie als eine fundamentale Kritik an drei Textpassagen, die Kant 1781, 1783 und 1785 veröffentlicht hat und die dabei (vgl. oben Anm. 247) jeweils im Zentrum seiner (Willens-)Freiheitslehre standen: Allein der Mensch, der die ganze Natur sonst lediglich nur durch Sinne kennt, ERKENNT SICH SELBST auch durch bloße Apperception und zwar in Handlungen und inneren Bestimmungen, die er GAR NICHT zum Eindrucke der SINNE zählen kann, und ist sich selbst […] EIN BLOSS INTELLIGIBELER GEGENSTAND […]. Wir nennen diese VERMÖGEN Verstand und VERNUNFT […, wobei die letztere; B. L.] ihre Gegenstände bloß nach IDEEN erwägt. (KrV A 546) WIR HABEN in uns ein VERMÖGEN, welches […] auch auf objective Gründe, die blos IDEEN sind, bezogen wird, so fern sie dieses Vermögen bestimmen können, welche Verknüpfung durch Sollen ausgedrückt wird. Dieses Vermögen heißt VERNUNFT; und [der Mensch kann somit nicht bloß] als ein SINNENWESEN betrachtet werden, [denn] die gedachte Eigenschaft ist die Eigenschaft eines DINGES AN SICH SELBST. (Prolegomena, 04:345) NUN FINDET DER MENSCH IN SICH WIRKLICH ein VERMÖGEN, dadurch er sich von allen andern Dingen, ja von sich selbst, so fern er durch Gegenstände afficirt wird, unterscheidet, und das ist die VERNUNFT. Diese, als reine Selbstthätigkeit, [zeigt] unter dem Namen der IDEEN eine so reine Spontaneität […], daß sie dadurch weit über alles, was ihr SINNLICHKEIT nur liefern kann, HINAUSGEHT. Um deswillen muss ein vernünftiges Wesen sich selbst als INTELLIGENZ […] [und] als zur VERSTANDESWELT gehörig, ansehen. (Grundlegung, 452) Vittorio Klostermann, 2019.
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V. Nachbeben
Die hier in KAPITÄLCHEN gesetzten Wörter weisen uns den Weg: In allen drei Passagen ‚hat‘ der Mensch, ‚erkennt‘ bzw. ‚findet wirklich‘ in sich etwas, was nicht zur ‚Sinnlichkeit‘ gezählt werden kann, weshalb es/er (auch) ‚ein bloß intelligibler Gegenstand‘, die Eigenschaft eines ‚Dinges an sich selbst‘, oder ‚als Intelligenz zur Verstandeswelt gehörig‘ ist. Und der Grund der damit gewonnenen Einsicht, dass wir Menschen nicht bloße Sinnenwesen sind, sondern uns auch als einen Teil der intelligiblen Welt ansehen müssen, liegt jedes Mal in der Annahme, dass unsere „Vernunft“ ein „Vermögen“288 ist, welches (auch) ‚Ideen‘ hervorbringen kann, die als solche weit ‚über die Sinnlichkeit hinausgehen‘. Dieser ‚ideentheoretische Nachweis‘ einer Teilhabe der menschlichen Vernunft an einer übersinnlichen, intelligiblen Welt ist für Kant von 1781289 bis 1785 ein entscheidender (und mangels Alternative seinerzeit auch unverzichtbarer!) Teilschritt beim Nachweis der Möglichkeit, eine intelligible Freiheit (d. h. die absolute Spontaneität) des menschlichen Willens – und somit einen reinen Willen – vorauszusetzen: Denn in der Sinnenwelt ist dergleichen angesichts des Kausalprinzips (und des damit verbürgten ‚durchgängigen Zusammenhangs‘ der Erscheinungen nach Naturgesetzen; vgl. A 258) ja definitiv nicht möglich. Und der Nachweis einer ‚intelligiblen Existenz‘ ist – wie Kant es in der Kritik und gleichermaßen in der Grundlegung ganz ausdrücklich behauptet (A 802 und 456.07ff., 461.20) – derzeit eine Aufgabe für die spekulative Philosophie. Kant greift hierfür (wie oben erwähnt) auf einen Grundgedanken zurück, der letztlich auf Platon zurückgeht und prominent etwa in Descartes’ ‚ideentheoretischem‘ Gottesbeweis der dritten Meditation bemüht wurde: Ideen (wie auch immer sie von den jeweiligen Autoren im Einzelnen konzipiert sind – für Kant sind selbst Platons Ideen „bloß [!] im […] Kopfe“, A 315) weisen den Menschen über seine sinnliche, bedingte Existenz hinaus und bezeugen so eine Bezugnahme seines Geistes auf Gegenstände einer nicht- bzw. über-sinnlichen Welt: Bis 1785 hat Kant die These vertreten, dass sich in diesem unserem Vermögen, Ideen (in seinem, transzendentalen Sinne) hervorzubringen, unsere Zugehörigkeit zu einer intelligiblen Welt zeigt, ein Zugang, der also nicht auf das Bewusstsein sittlicher Verpflichtung angewiesen ist (und der deshalb im Rahmen von dessen Erklärung ohne eine petitio principii herangezogen werden kann). Das ändert sich allerdings schlagartig mit der zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft von 1787 (und kündigte sich zuvor – für
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uns – ausschließlich in einigen kritischen Randnotizen zur ersten Auflage an, von denen zwei diesem Kapitel vorangestellt sind):290 In keinem der (auf uns gekommenen) Texte, die Kant seitdem verfasst 291 oder vorgetragen hat, zeigt sich eine Teilhabe des Menschen am Intelligiblen noch einmal in „speculative[r] Erkenntnisart“ am ‚Vermögen der Ideen‘ – und dort, wo sich eine solche Teilhabe dann zeigt, da zeigt sie sich ausschließlich in der Unabweisbarkeit der sittlichen Forderungen (die 1781 ja zunächst nur für Gottes- und Unsterblichkeitspostulat herangezogen wurde): im datum oder Faktum einer reinen praktischen Vernunft: Es gibt eine
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herrliche Eröffnung, die uns durch reine praktische Vernunft vermittelst [!] des moralischen Gesetzes widerfährt, nämlich die Eröffnung einer intelligibelen Welt durch Realisirung des sonst transscendenten292 Begriffs der Freiheit […] (05:94; vgl. bereits: B XXVIII, B 431f.).
Das unbedingt und zugleich unabweisbar gebietende Sittengesetz ist seitdem die exklusive „ratio cognoscendi der Freiheit“ (05:04 Fn.; vgl. bereits „praktische data“, B XXI und B 430f.), und die auf diese Weise nun praktisch postulierte „absolute Spontaneität“ (A 448, 05:99 u. ö.) unseres Willens liefert den Beweis unserer (praktischen) Teilhabe am Intelligiblen293 – was braucht Kant mehr für die Moral und insbesondere für die Zurechnungslehre (wenn er, wie auch schon 1785, die spekulative Lehre von der grundsätzlichen Möglichkeit einer transzendentalen Freiheit, einer absoluten Spontaneität, aus der Antinomie der Kritik der reinen Vernunft voraussetzen kann)? Auf dem umgekehrten Weg, der 1781–1785 von den ‚übersinnlichen‘ Ideen zur intelligiblen Freiheit und von dort aus dann 1785 auch noch über den reinen Willen zum Sittengesetz führen sollte, schleppte Kant demnach eine dogmatische Altlast weiter, die er erst um 1786/87 abwerfen konnte. Und wir können jetzt (dank seiner Hinweise) auch leicht einsehen, warum es am Ende dazu kommen musste: Um mich in einer intelligiblen Welt nicht nur ohne Widerspruch, sondern sogar als Gegenstand (als Objekt) zu denken (dazu B XXVI Fn. und 08:194.04ff.), konnte das Verfügen über Ideen, über reine Begriffe meiner Vernunft, allein gar nicht hinreichen. Dafür bedürfte es im Rahmen der kritischen Philosophie nämlich in jedem Falle einer Anschauung, in welcher uns intelligible Gegenstände gegeben werden: „Begriffe ohne Anschauung sind leer“ (A 51)
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V. Nachbeben
– und das gilt selbstredend auch für Vernunftbegriffe: Ohne Anschauungen bleiben also auch unsere ‚Ideen‘ (insbesondere die der Freiheit) nur leere „Gedankenformen“.294 Kants Kritik an der dogmatischen Metaphysik beruht nun aber wesentlich auf der Einsicht, dass unsere Anschauung ausschließlich sinnlich ist, dass wir (insbesondere durch die Kategorien) also nur das erkennen können, was uns in Raum und Zeit gegeben ist. Der Zugriff auf Gegenstände einer ‚intelligiblen Welt‘, auf Gott, auf die Seele und auf die Freiheit, kann mangels einer intellektuellen Anschauung daher unmöglich ein erkennender, d. h. spekulativer sein. Im Rahmen der kritischen Philosophie darf295 er somit allenfalls ein praktischer sein: Wenn wir die Freiheit (wie auch zuvor bereits Gott und Seelenunsterblichkeit) postulieren können, dann können wir auch dies folglich ausschließlich296 zum praktischen Gebrauch tun (05:94, 132) – und vor allem auch ohne Rückgriff auf das (bloßscheinbare) „Bewußtsein einer abgesondert möglichen Existenz[!] meines denkenden Selbst“ (B 427) als „Intelligenz“.297 Dass es spekulativ möglich ist, überhaupt ein Dasein intelligibler Gegenstände anzunehmen (aber eben nicht: ‚zu erkennen‘!), das hatte die Kritik der reinen Vernunft (auch nach 1787 unwiderrufen) bereits 1781 in der Dialektik gezeigt (dazu etwa A 673). Und dass wir die Existenz Gottes und unserer unsterblichen Seele um des Sittengesetzes willen annehmen müssen, also praktisch postulieren können, ebenfalls (im Kanon, A 810ff.; s. A 634). Korrigieren musste Kant 1787 im Wesentlichen nur seine Annahme von 1781/83/85, dass wir Sinnenwesen wenigstens unsere eigene intelligible Existenz, und damit die Möglichkeit einer Voraussetzung unserer intelligiblen (Willens-)Freiheit und Imputabilität, bereits spekulativ (d. h. ohne Rückgriff auf die sittliche Nötigung) an unserer Fähigkeit zur Hervorbringung von (handlungsbestimmenden) Ideen festmachen, d. h. erkennen, können. Und diese Korrektur gelingt Kant, weil er sich 1787 offenkundig die Einsicht zunutze machte, dass er eine intelligible Freiheit unseres Willens bereits um der Sittlichkeit willen298 voraussetzen darf, weil er 1781 die Möglichkeit der Voraussetzung einer intelligiblen Freiheit überhaupt bereits unabhängig vom Sittengesetz (und sei es auch nur „einmal“, im „Ursprung[ ] der Welt“) in seiner Kritik der reinen Vernunft „bewiesen“ hat (A 476; vgl. 05:15.18ff.: „gerechtfertigt“). Eine analoge Argumentationsfigur bemühen wir ja
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z. B. auch, wenn wir eine wechselseitige Anziehungskraft der Planeten postulieren, um mit dieser dann die beobachteten Planetenbahnen (physikalisch) zu erklären. Diese Voraussetzung ist hier nur deshalb mehr als eine bloße ad-hoc-Hypothese zur ‚Rettung der Phänomene‘, weil wir bereits im irdischen Kontext (beim notorischen Fallen des Apfels etwa) gewahr werden, dass sich im Gewicht (‚pondus‘) eine derartige bewegende Anziehungskraft (‚gravitas‘) zwischen Körpern zeigt und diese daher kein bloßes Hirngespinst ist, sondern als (physikalisch-)möglich gilt.299 Weil Kant diese Struktur von Erklärungen 1785 noch nicht ins Spiel gebracht hatte, konnte in der Grundlegung jeder Schluss vom Gesetz auf die Freiheit und von dieser wiederum aufs Gesetz noch als „Zirkel“ oder petitio erscheinen, was dann bedeutete, dass man auf diesem Wege „von ihm [sc. vom Gesetz] gar keinen Grund angeben könne“ – was aber der dritte Abschnitt ja gerade leisten sollte (sc. „Quellen“). Anders formuliert: Kant hatte die Unterscheidung von ratio cognoscendi (Erkenntnisgrund) und ratio essendi (Seinsgrund) nicht einschlägig in Anschlag gebracht.300 Noch einmal am Beispiel der (Gesetze der) Planetenbahnen: Diese sind die ratio cognoscendi der Gravitation(skraft) der Planeten, und die Gravitation ist die ratio essendi der (Gesetze der) Planetenbahnen. Weder ein „Cirkel“ noch eine petitio principii ist hier in Sicht, weil wir unabhängige Gründe für die Annahme haben, dass Gravitationskräfte überhaupt physikalisch möglich sind. Und Analoges gilt nun auch für Sittengesetz und Freiheit: Dass wir überhaupt eine intelligible (transzendentale) Freiheit voraussetzen können (ohne damit in einen Widerspruch mit der Naturordnung zu geraten), hat bereits die kritische Auflösung der dritten kosmologischen Antinomie gezeigt (siehe: 05:15.19f.), und zwar ausdrücklich spekulativ (A 804), d. h. ohne jeden Rekurs auf das Sittengesetz. Dass wir eine solche absolute Spontaneität nun speziell bei unserem (menschlichen) Willen voraussetzen dürfen (05:15.21f. und 05:47.29f.), ja sogar müssen, folgt für Kant seit 1787 aber nicht mehr daraus, dass unsere Vernunft mit vermeintlich „völliger Spontaneität“ (A 548) Ideen hervorbringen kann (und wir bereits deshalb301 vermeintlich am Intelligiblen teilhaben), sondern allein daraus, dass sie uns unabweisbar durch das Sittengesetz („welches sich als selbst und zwar höchste Triebfeder ankündigt“, 06:26 Fn.) kategorisch nötigt: Der Mensch „urteilet also, dass er etwas kann, darum
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V. Nachbeben
weil er sich bewusst ist, dass er es soll, und er erkennt 302 in [!] sich [!] die Freiheit“ (05:30; vgl. 05:158f.), denn: „ultra posse nemo obligatur“ (27:564; 28:683, 28:774):
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Dass der Mensch sich bewusst ist, er könne dieses, weil 303 er es soll [!]: das eröffnet ihm eine Tiefe göttlicher Anlagen, die ihm gleichsam einen heiligen Schauer über die Größe und Erhabenheit seiner wahren Bestimmung fühlen lässt. (08:288f.)
In der Grundlegung war die Voraussetzung der Freiheit notwendig, weil „[…] ein Wille […] nur unter der Idee der Freiheit ein eigener Wille sein“ kann: Der Mensch ist sich demnach 1785 ‚bewusst […], er könne dieses, weil er es‘ – so will, d. h.: weil er die (ungedeckte) Überzeugung hat, „dieses“ hinge allein von ihm selbst ab (denn erkennen kann er das ja definitiv nicht, 448 Fn.). Wäre es dabei geblieben, dann hätte Kant es seinen Kritikern am Ende sicherlich zu einfach gemacht.304 In der eigentlichen Moral ändert sich durch die „consequente“ Wendung in der Freiheitslehre allerdings überhaupt nichts: Der moralische Gehalt des Sittengesetzes bleibt 1787 genauso unangetastet wie die Unleugbarkeit der sittlichen Nötigung. Diese macht nun aber nicht nur – wie schon 1781 – alle spekulativen Beweise von Gottesexistenz und Seelenunsterblichkeit entbehrlich, sondern – seit 1787 – nun auch den ideentheoretischen, d. h. spekulativen Bestandteil der Willensfreiheitslehre in erster Kritik, Prolegomena und Grundlegung. Der Spekulation bedarf es fortan nur noch (und weiterhin) zur „Abtreibung der Einwände derer […], die Freiheit dreist für unmöglich erklären“ (459; dazu dann B XXXIIff.). Die Kritik der praktischen Vernunft ist also durch ihren Rekurs auf das „Faktum“ in der Freiheitslehre definitiv nicht voraussetzungsreicher geworden, als es Grundlegung und erste Kritik waren: Vielmehr kann sie mit diesem Schritt (gegenüber 1781 und 1785) auf die unkritische, spekulative Willensfreiheitslehre verzichten. Dafür beansprucht sie (gegenüber 1785) nun allerdings die Möglichkeit, ‚in praktischer Absicht‘ auch vom Gesetz (d. h.: von der ‚Wahrheit der Moral‘, s. o.) auf die Freiheit zu schließen (und nicht mehr nur von der Freiheit aufs Gesetz; siehe dazu die §§ 5 und 6 der KpV, 05:28f.). Zwar finden wir die ‚Factum-Lehre‘ im Text der Grundlegung tatsächlich nicht – vor allem gerade nicht an derjenigen Stelle, wo man sie aus der Perspektive der Kritik der praktischen Vernunft am ehesten
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erwarten müsste: Der „ärgste Bösewicht“ (454) wird sich seines ‚guten Willens‘ nämlich nicht etwa anlässlich eines unabweisbaren ‚Sollens‘ von Seiten des Sittengesetzes bewusst, sondern vielmehr anlässlich seines ‚Wunsches‘, ein besserer Mensch zu sein.305 Das zeigt uns in der Tat aufs Deutlichste, dass Kant das „Factum“ 1785 in der Willensfreiheitslehre definitiv noch nicht im Blick hatte; es zeigt uns hingegen nicht, dass er zu dieser Zeit noch ohne dieses datum/factum ausgekommen wäre: Das kann man nur annehmen, wenn man die Gottes- und Unsterblichkeitslehre, d. h. die „zwei [!] Kardinalsätze [!] unserer reinen Vernunft“ (A 741) nicht im Blick hat – Kant also den moraltheologischen Gottesbeweis nimmt und dann konsequenterweise bereit wäre, ihn 1785 geradeheraus (wenn auch nur für eine kurze Episode; s. o. Kap. I.2) zum skeptischen Atheisten zu erklären. Die ‚konsequente Wende‘ in der Willensfreiheitslehre ist 1787 gleichsam der letzte, entscheidende Fausthieb306 im Prozess einer kritischen ‚Alleszertrümmerung‘ – und damit alles andere als ein Rückzugsgefecht: Vielmehr radikalisiert Kant seine Kritik der dogmatischen Metaphysik noch einmal, indem er nun, nach Gott und Seelenunsterblichkeit, endlich auch noch die dritte (und letzte) der drei (moralisch einschlägigen) „transscendentalen Ideen“ (A 468, 533), die der (Willens-)Freiheit, der Spekulation entreißt – und auch sie (genauer: deren Realität) vermittels des „Factum[s]“ zum praktischen Postulat erklärt.307 Dass Kant im Jahre 1786/87 mit dieser Verabschiedung seines letzten spekulativen Ausgriffs ins Intelligible nicht nur zu einer „consequenten Denkungsart der speculativen Critik“ 308 gelangt ist, sondern auch noch ganz nebenbei 309 ein gravierendes Problem der Freiheitslehre der Grundlegung hinter sich gelassen hat, liegt nun offen zutage. Carl Leonard Reinhold hatte, wie oben schon erwähnt, mit Recht (allerdings erst 1792 öffentlich) moniert, dass in deren Rahmen nur die Handlungen aus Pflicht zugerechnet werden könnten. Denn wenn der intelligible Wille frei und das Gesetz von dessen „Causalität“ das Sittengesetz ist, dann sind freie Handlungen gegen das Sittengesetz naturgemäß unmöglich. Insbesondere die pflichtwidrigen Handlungen können dann nur als die Wirkung eines (allerdings nicht-freien) „bösen Willen[s] als Gliedes der Sinnenwelt“ (455.05) gedacht werden – und sind damit nicht mehr zurechen-
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bar.310 Ab 1787 zeigt sich meine Freiheit nun aber nicht in irgendeiner intelligiblen Handlungs-Kausalität (wie bei der ‚Hervorbringung‘ von Ideen, s. 452.14f.), sondern (allein) in einer unleugbaren Nötigung: Was ich ggf. dann tue (das Pflichtmäßige wie das Pflichtwidrige), das, was man mir also zurechnen kann, hängt somit nicht unmittelbar von einer reinen (!) praktischen Vernunft als einer reinen Handlungs-Kausalität ab (die, wie Reinhold zu Recht bemängelt, ja e suppositione nur ‚Handlungen aus Pflicht‘ hervorbringen könnte), sondern von mir selbst, der ich gleichermaßen ein Vernunft- und ein Sinnenwesen bin: eine „Person“ (06:223) eben, die weiß, dass sie kann, was sie soll. Das einzige vernünftige Wesen, das wir kennen, ist „unser[ ] denkende[s] Selbst im Leben“ (05:461; vgl. B 415); es ist ‚von Vernunft, Fleisch und Blut‘, kurz: ein Mensch. Dass wir dabei nicht verstehen können, wie es möglich ist, dass in unserer ‚freien Willkür‘ (als der eines vernünftigen Sinnenwesens) die intelligible und die natürliche ‚Causalität‘ gleichsam ‚ineinandergreifen‘ (und wir folglich die Möglichkeit der Zurechnung „genausowenig“ erklären können, wie die des „Ursprung[s] der Welt“, A 448f.), das wiederum versteht sich im Rahmen der Kritischen Philosophie, der es ja vornehmlich um die Grenzen der menschlichen Erkenntnis geht, von selbst:311 Denn „über das Causal-Verhältnis des Intelligiblen zum Sensiblen gibt es keine Theorie“ (06:439; vgl. schon 453.21f.). Diese von Kant mit seiner Vernunftkritik gezielt etablierte epistemische Schranke („Ich mußte also das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen […]“, d. h: „noumenorum non datur sciencia“; B XXX, 20:293) schließt aber gerade nicht aus, dass dergleichen Ineinandergreifen wirklich stattfindet: Es ist ja metaphysisch möglich und wird zudem aus praktischer Perspektive notwendig vorausgesetzt. Ein Philosoph sollte auch nicht weiter nach einer Antwort suchen, wenn bereits die Frage an Unverständlichkeit eigentlich gar nicht mehr zu überbieten ist: Daher wir, was Freiheit sei, in praktischer Beziehung (wenn von Pflicht die Rede ist) gar wohl verstehen, in theoretischer Absicht aber, was die Causalität derselben (gleichsam ihre Natur) betrifft, ohne Widerspruch nicht einmal daran denken können, sie verstehen zu wollen. (06:144 Fn.; Herv. B.L.)
Das Sittengesetz ist seit 1787 also nicht (mehr) das Kausalgesetz freier Handlungen (wie 1785; siehe: 446.17ff.), sondern (nur noch) eine unabweisbare kategorische Norm für dieselben. Uns Menschen ist es
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möglich, ihr zu folgen, „weil [!] unsere Vernunft sie als ihr Gebot anerkennt“ (05:159) – und als eine deshalb befolgbare Norm ist sie die ratio cognoscendi unserer Freiheit (und damit der Zurechnung, der Imputabilität). Es wird allerdings noch bis 1797 dauern, dass Kant die freie Willkür (das arbitrium liberum als Handlungs-Vermögen) von dem reinen Willen (als Selbst-Gesetzgebung – und damit nicht mehr als ein [zweites] arbitrium!) dann endlich auch terminologisch strikt unterscheidet (und dafür hat – aber dann mit einiger Verspätung – erst Reinholds treffende, doch ihrerseits zu spät gekommene, Kritik von 1792 gesorgt312):
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Von dem Willen gehen die Gesetze aus; von der Willkür die Maximen. Die letztere ist im Menschen eine freie Willkür; der Wille, der auf nichts Anderes, als bloß auf Gesetz[e] geht, kann weder frei noch unfrei genannt werden, weil er nicht auf Handlungen, sondern unmittelbar auf die Gesetzgebung für die Maxime der Handlungen (also [‚als‘? B. L.] die praktische Vernunft selbst) geht, daher auch schlechterdings nothwendig und selbst keiner Nöthigung fähig ist. Nur die Willkür also kann frei genannt werden. (06:226)
Der philosophische Zentralbegriff einer mit der Vernunftkritik vereinbaren Moralphilosophie ist und bleibt die ‚Idee eines reinen gesetzgebenden Willens des Menschen‘ – weil ohne deren ‚Realität‘ eine kategorische Nötigung der Willkür eines Sinnenwesens nicht „gedacht werden“ kann (417). Eine (freiheitsbasierte) „Deduction“ dieser Idee sollte 1785 das Problem der Möglichkeit kategorischer Imperative lösen, ein Problem, das Kant in der ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft noch nicht einmal gesehen zu haben scheint (s. o. Kap. IV). Und 1787/88 löst dann der Rückgriff auf das (1781 in der metaphysica specialis zwar bereits der Sache nach für Gottes- und Unsterblichkeitsbeweis herangezogene, aber erst 1787 dann so313 genannte) Lehrstück von einem „Factum der reinen Vernunft“ wiederum das Problem einer Unvereinbarkeit „dieser Deduktion“ von 1785 mit der kritischen Lehre von den zwei Stämmen der Erkenntnis – indem sie zeigt, dass es einer solchen Deduktion überhaupt nicht bedarf: Die objective Realität eines reinen Willens oder, welches einerlei ist, einer reinen praktischen Vernunft ist im moralischen Gesetze314 a priori gleichsam durch ein Factum gegeben; denn so kann man eine Willensbestimmung nennen, die unvermeidlich ist, ob sie gleich nicht auf empirischen Principien beruht. (05:55; Herv. B. L.) Vittorio Klostermann, 2019.
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Und erst nach Sittengesetz und reinem Willen (bzw. reiner praktischer Vernunft), also gleichsam epistemisch in der dritten Reihe, ist seit 1787/88 dann auch die Freiheit des Menschen (und damit seine Imputabilität) ‚durch das Factum gegeben‘ (was in praktischer Absicht allerdings genauso gut ist wie: ‚erkannt‘ oder ‚bewiesen‘):
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Im Begriffe eines Willens aber ist der Begriff der Causalität schon enthalten, mithin in dem eines reinen Willens der Begriff einer Causalität mit Freiheit. (ebd.)
Um die Vereinbarkeit seiner ‚Moral der Autonomie‘ mit seiner Kritischen Philosophie endgültig herzustellen, musste Kant die „Ordnung der Begriffe in uns“ (05:301) aus Grundlegung III (d. h.: von der intelligiblen Freiheit über den reinen Willen zum Sittengesetz) gut zwei Jahre später also noch einmal geradewegs auf den Kopf stellen: Vom unleugbaren Sittengesetz über den reinen Willen zur intelligiblen Freiheit!315 Am Anfang dieser Trias steht fortan nicht mehr die (spekulative Deduktion der) Idee der Freiheit, sondern das Faktum der reinen praktischen Vernunft. 1785 glaubte Kant also noch, er müsse die Möglichkeit kategorischer Imperative mit Hilfe seiner Freiheitslehre zeigen (d. h., in der Formulierung der Kritik der praktischen Vernunft: das Bewusstsein des Sittengesetzes aus einem vermeintlichen Bewusstsein der Freiheit „herausvernünfteln“; 05:31). Erst um 1786/87 ist es ihm dann klar geworden, dass er im Rahmen seiner Kritischen Philosophie, gerade umgekehrt, die Möglichkeit der Freiheit des Willens nur mit Hilfe seiner Lehre vom kategorischen Imperativ aufzeigen kann – und über dessen Gegebenheit kann man so wenig ernsthaft ‚vernünfteln‘ wie über die von Raum und Zeit (s. o. Kap. I.1.a), denn sie ist (das hatte er ja schon 1781 – und früher – so gesehen) ein unhintergehbares, aber zugleich nichtempirisches datum „im Leben“ (s. o.) der Menschen. Auch dem kritischen Kant unterliefen also noch gravierende dogmatisch-philosophische Fehler, aber damit hatte er selbst durchaus gerechnet – allerdings immer in dem unerschütterlichen Vertrauen, dass er sie dann ggf. auch noch selbst korrigieren können wird: Philosophische Sachen muß man immer verbessern. Wolf schrieb zuviel. Crusius ist so eigensinnig dasjenige was er in der Jugend geschrieben nicht verbessern zu wollen. O wir irren ja alle. und ist es nicht lobenswürdiger wenn man nach erlangten bessern Einsichten seine Meinung ändert und
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verbessert. Die Resignation auf seine eigene Ehre ist ein grosser Probierstein eines Wahrheitliebenden. (24:397; Logik Philippi 1772)
Dass die von ihm jeweils schon erkannten Irrtümer die einzigen bleiben werden, war eigentlich auch für Kant nicht sehr wahrscheinlich: Unser Zeitalter ist das Zeitalter der Kritik, und man muß sehen, was aus diesen kritischen Versuchen werden wird. Neuere Philosophie kann man eigentlich nicht nennen, weil alles gleichsam im Flusse geht; was der eine baut, reißt der andere nieder. (28:540, Logik Pölitz, ~1780; vgl. 09:32)
Immanuel Kant allerdings verstand sich auf beides: auf das Bauen wie auf das Niederreißen. Und insbesondere bei seinem eigenen Werk war er zeitlebens philosophischer Bau- und Abrissunternehmer in einer Person – sehr laut316 hat er uns das aber nie gesagt.
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* Um nun noch einmal abschließend Kants einschlägige zentrale Neuerungen und Selbstkorrekturen zwischen 1781 und 1785 resp. 1787/88 zusammenzustellen: 1785 ist bei Kant erstmals von den ‚Causal-Gesetzen der Freiheit‘ die Rede, und der kategorische Imperativ ist fortan deren Prinzip; der sanktionsbewehrte gesetzgebende Wille Gottes wird in der Moral vom gesetzgebenden reinen Willen des freien, vernünftigen Wesens abgelöst („Autonomie“), womit kategorische Imperative möglich werden. Die Idee eines solchen reinen Willens wird mit Rückgriff auf die Ideen-basierte, spekulative Willensfreiheitslehre von 1781 deduziert. – 1787/88 wird diese Lehre und mit ihr dann auch die Deduktion von 1785 als nicht ‚consequent‘-kritisch verworfen. Die Idee des reinen Willens ist für Kant fortan bereits mit jenem Faktum einer reinen praktischen Vernunft gegeben, welches ihm schon 1781 zur Grundlage der moraltheologischen Postulate von Gottesexistenz und Seelenunsterblichkeit diente. Die Teilhabe der menschlichen Vernunft an der intelligiblen Welt zeigt sich von nun an nicht mehr an den Ideen (wie 1781 und 1785), sondern an der intelligiblen Freiheit, die nun ihrerseits in der Idee des reinen Willens enthalten ist.
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In tabellarischer Übersicht317 ergibt sich damit das folgende Bild: 1781 KrV
1785 GMS
1788 KpV
Grund der Verbindlichkeit:
Der sanktionsbewehrte göttliche Wille
Der reine Wille freier Wesen
Transzendentale Freiheit:
Bestimmung durch ‚Ideen der Vernunft‘318
Selbstbestimmung durch das ‚Gesetz der Freiheit‘
Moralischpraktische Postulate: Teilhabe am Intelligiblen zeigt sich
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Möglichkeit kategorischer Imperative ist verbürgt durch
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Gott, Unsterblichkeit
Freiheit, Gott, Unsterblichkeit
im Vermögen der Hervorbringung von Ideen
in der vom Sittengesetz verbürgten Freiheit
[vacat]
spekulativmögliche Willensfreiheit
Faktum der Vernunft
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Vier jener Problemkomplexe, die jeweils maßgeblich zum Ruf der Grundlegung als eines herausragend schwierigen, mitunter dunklen Textes beigetragen haben dürften, sind im Vorangehenden solchen Lösungen zugeführt worden, die letztendlich den Rahmen der ‚normalen‘ Schwierigkeiten Kantischer Texte (bzw. anspruchsvoller philosophischer Texte überhaupt) nicht mehr überschreiten dürften: Die Unklarheit über die Orte des ‚analytischen und des synthetischen Weges‘ (Vorrede), das Rätsel um den ‚ersten Satz‘ (Abschnitt 1), die grundsätzlichen Probleme von Anwendung und Bedeutung der Formeln des Sittengesetzes (Abschnitt 2) und die Frage nach dem Gegenstand der Deduktion(en) bei der Bestimmung der „Quellen“ des Moralprinzips (Abschnitt 3).319 Diese einzelnen Lösungen waren unverzichtbare Bausteine bei der Rekonstruktion einer kohärenten ‚Idee des Ganzen‘ (s. o. Kap. II, bes. S. 31), die sowohl den Text der Grundlegung aufschließt, als auch Kants philosophische Entwicklung von der Kritik der reinen Vernunft zur Kritik der praktischen Vernunft als einen Weg der Selbstkorrekturen durchsichtig machen. Wenn diese ‚Idee des Ganzen‘ den Kerngehalt des Textes tatsächlich angemessen repräsentiert, dann kann man jetzt, in Kenntnis auch der Kritik der praktischen Vernunft und der Metaphysik der Sitten, noch einmal einen Schritt zurücktreten, um Kants Grundvoraussetzungen und philosophische Hauptgedanken seiner kritischen Philosophie der Moral in eine (sehr) kurze, thesenartige Skizze zu fassen, und sie damit möglicherweise auch in systematischer Absicht handhabbarer zu machen. A) Sittlichkeit ist ein irreduzibler Bestandteil des „gemeinen“ menschlichen Selbstverständnisses und zugleich die Grundlage einer damit verbundenen allgemeinen Wertschätzung von Handlungen und Charakteren, die über bloße Güterabwägungen hinausgeht. Das zeigt sich u. a. in der Art und Weise, wie Menschen in Gesprächen über Handlungen und Charaktere urteilen und wird in Kants Schriften zur Moralphilosophie durchweg vorausgesetzt: als eine grundlegende Annahme über das Leben der Menschen, eine Annahme, die selbst die
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„sceptics ancient and modern“ (so David Hume) teilen: Der ‚Amoralist‘ war und ist kein philosophischer Gesprächspartner.320 B) Ein solches Selbstverständnis ist Ausdruck menschlicher Freiheit, der Grundlage unserer Zurechnungsfähigkeit. Die hierfür vorauszusetzende Selbstbestimmung ist nur zu denken als die Möglichkeit einer Bestimmung nach Prinzipien, die ihrerseits nicht abhängig sind von solchen subjektiven Bestimmungsgründen, welche die einzelnen Menschen als Sinnenwesen kontingenterweise haben. Prinzipien der Sittlichkeit können demnach nur solche sein, die für die Selbstbestimmung vernünftiger Wesen gleichsam konstitutiv sind: Die Freiheit ist damit die ratio essendi des Sittengesetzes. C) Freiheit als (absolute) Selbstbestimmung kann ohne die kritische Unterscheidung von Erscheinung und Ding an sich nicht gedacht werden. Nur im Rahmen des transzendentalen Idealismus kann sich das Sinnenwesen „Mensch“ (zugleich) als Teil einer intelligiblen Welt begreifen und seine Freiheit damit als eine nicht-natürliche, intelligible Kausalität denken. Deren Gesetz kann nur ein formales sein und die Formel des obersten Prinzips der Sittlichkeit ist folglich der Kategorische Imperativ: ‚Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die Du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde!‘ D) Auch wenn Kant 1785 noch der Auffassung war, dass wir die Möglichkeit solcher kategorischen Imperative nur denken können, wenn wir einen vom Bewusstsein der Verpflichtung unabhängigen Zugang zu unserer intelligiblen Freiheit auftun, und er erst 1787 dann (umgekehrt) das unleugbare Bewusstsein des Sittengesetzes ‚konsequent‘ zur ratio cognoscendi (nicht nur der Gottesexistenz und der Seelenunsterblichkeit sondern auch) der Willensfreiheit erklärt hat – in einem wichtigen Punkt ändert sich dadurch nichts: Wer sich auf seine Freiheit beruft, um sich damit etwa anderen wie sich selbst gegenüber als Person (und damit z. B. auch als Inhaber von Rechten) zu behaupten, der muss Kant zufolge, wenn er sich dabei überhaupt aufs Begründen einlassen will, immer zugleich anerkennen, dass er der Verbindlichkeit des Sittengesetzes untersteht: Der Grundlegung gemäß wäre dies nun allerdings ‚nur‘ die notwendige Folge321 einer (ihrerseits notwendigen) Selbstzuschreibung von Freiheit gewesen. Seit der Kritik der praktischen Vernunft ist es sogar die einzig mögliche Basis jeder Begründung des Freiheitsanspruchs – gegenüber anderen wie für sich selbst.
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Handlungsfähigkeit und Zweckrationalität als solche (mitsamt der zugehörigen Glückseligkeitserwartung) waren für Kant hingegen niemals hinreichende Bedingungen der sittlichen Verpflichtungen und Privilegien. Diese letzteren sind auch nicht per se schon ‚für irgendetwas gut‘ (dergleichen können wir – so Kants Lehre vom höchsten Gut – allenfalls hoffen), sondern sie sind, das soll die kritische Philosophie zeigen, unmittelbar damit verknüpft, dass wir unter der Idee unserer eigenen Freiheit handeln – und wer sich darauf bewusst nicht einließe (womit Kant aber selbst beim ärgsten Bösewicht nicht rechnete), der könnte dann durchaus, so die klare Auskunft seit 1787, auch als ein seiner selbst bewusstes automaton spirituale erfolgreich sein Glück verfolgen. Das ist eine für „gutgesinnte Seelen“ möglicherweise harte Einsicht, die ja schon dem geplagten Hiob das Leben nicht leichter machte: Auch „die Gottlosen werden alt und nehmen zu mit Gütern, […] auch ihr Haus hat Friede vor der Furcht, […] ihre Kinder springen umher. Sie jauchzen mit Pauken und Harfen, und sind fröhlich mit Pfeifen“.322 Allerdings wäre es für die Anderen dann aber auch nicht von vorneherein pflichtwidrig, solche ‚Amoralisten‘ bei Bedarf erst einmal an die Leine zu legen oder im Zwinger zu halten.323 Denn ‚ohne das Gesetz‘ ist der Mensch für Kant keine Person, sondern zunächst einmal bloß eine Sache – und zudem noch eine äußerst gefährliche: ein menschenfüßiges „Thier, das Vernünftelt“.
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Anmerkungen Anmerkungen zum Prolog Den prominenten Anfang machte Henrich 1975 (dazu ebd. Anm. 6), dem viele folgten: Milz 1998; Schönecker 1999; Bojanowski 2006; Allison 2011; Ware 2014; Porcheddu 2016; Puls 2016 – um hier nur einige der Autoren aus dem Literaturverzeichnis zu nennen (vgl. auch die Beiträge etwa in Puls 2014 oder Schönecker 2015). 2 Es gibt „tatsächlich sogar zu wenige Kommentare zu diesem Meisterwerk“ (so Schönecker/Wood 2002, 7). 3 Diese Formulierungen finden sich etwa bei Schönecker 2015; Timmermann 2007, 13; Bojanowski 2017; Puls 2014; Horn/Mieth/Scarano 2007, 296; Milz 1988, 194; Henrich 1975; Richter 2013, 8; Korsgaard in Timmermann/Gregor GMS 2012, xiii. 4 Zur Zitationsweise s. u. das Literaturverzeichnis. – Ausdrücke in doppelten Anführungszeichen sind im Folgenden stets von Kant; in den Überblickskapiteln stehe sie um der besseren Lesbarkeit willen zunächst z. T. auch ohne Nachweis, sie werden später noch eine Rolle spielen. 5 Manche Autoren wiederum (etwa Klemme 2017, 12ff.) lassen den Leser eher darüber im Unklaren, was eigentlich genau Aufgabe und Ziel der Grundlegung sein könnte. 6 Z. B. die Fragen nach der ‚synthetischen Methode‘ in der Grundlegung (Vorrede), nach dem fehlenden „ersten Satz“ über die Pflicht (1. Abschnitt), nach der Funktion der verschiedenen Imperativ-Formeln (2. Abschnitt) oder nach einer ‚Deduktion des kategorischen Imperativs‘ (3. Abschnitt). 7 Auch wenn es letztlich belanglos sein dürfte, so ist es doch immerhin merkwürdig, dass der für die neuere Interpretationsgeschichte der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten initiale Aufsatz: ‚Die Deduktion des Sittengesetzes. Über die Gründe der Dunkelheit des letzten Abschnitts &c.‘, ausgerechnet in einem Sammelband mit dem Titel ‚Denken im Schatten des Nihilismus‘ erschien: Eine vermeintliche Kantische Grundlegung der Moral als (dunkler) Einspruch avant la lettre gegen Nietzsches Genealogie der Moral? 8 Frivol – oder unverständlich – ist diese Frage allerdings dann nicht, wenn sie bloß die verunglückte Version der (immer schon debattierten) neugierigen, d. h. philosophischen, Frage darstellt: ‚Was ist eigentlich die Grundlage unserer – unbestrittenen – moralischen Verpflichtung?‘ bzw. mit Cicero: „cur iustitia laudatur?“ (de finibus, II,52; vgl.: „Die Frage war: Warum soll ich mein Versprechen halten? Denn dass ich es soll, begreift ein jeder [!] von selbst [!]. Es ist aber schlechterdings unmöglich, von diesem kategorischen
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Anmerkungen
Imperativ noch einen Beweis zu führen […]“, 06:273; ähnlich auch Kants Frage in 449.11 – dazu unten). Damit verliert die Frage aber sogleich jeden skeptisch-renitenten Anstrich (man kann ja auch neugierig fragen: ‚Warum soll/muss ich eigentlich atmen?‘, ohne bis zur Antwort die Luft anzuhalten). – Zudem ist auch das irritierende „soll“ verschwunden, das hier entweder, wenn es für ein moralisches Gebot stünde, in eine Art Zirkel führte (‚Warum ist es moralisch geboten, den moralischen Geboten zu folgen?), oder andernfalls dazu verleitet, auf eine ganz andere Frage auszuweichen: „Wozu ist es eigentlich gut moralisch zu sein?“. Auf diese Frage aber kann, wenn überhaupt, nur eine konsequentialistische Moralphilosophie eine Antwort zu geben versuchen (dazu etwa Bayertz 2002) – bei Kant jedenfalls gehört die Frage, als eine nachgeordnete, in die Moraltheologie (s. u. S. 89 und 145). 9 Eine solche finden wir geradezu paradigmatisch bei Thomas Hobbes, wenn er dem „foole [who] hath said in his heart there is no such thing as justice” die ungemütliche Konsequenz vor Augen stellt, dass er als Feind („enemy“) aus jeder Gesellschaft ausgeschlossen werden muss, wenn seine Haltung öffentlich wird (Leviathan, Chap. 15). Ihre eigentümliche ‚Überzeugungskraft‘ gewinnt diese Argumentation indes erst, wenn sie im Namen eines Mächtigeren (eines Souveraign by Acquisition etwa; vgl. ebd. Chap. 20) vorgetragen wird: als ein ‚Angebot, das man nicht ausschlagen kann‘. – Siehe dazu auch die prägnante Formulierung in Wittgensteins Tractatus logico philosophicus 6.422: „Der erste Gedanke bei der Aufstellung eines ethischen Gesetzes von der Form ‚du sollst ...‘ ist: Und was dann, wenn ich es nicht tue? Es ist aber klar [!], daß die Ethik nichts mit Strafe und Lohn im gewöhnlichen Sinne zu tun hat. Also muß diese Frage nach den ‚Folgen‘ einer Handlung belanglos sein.“ – Auf der Grundlage theistischer Voraussetzungen konnten sog. ‚Moralbegründungen‘ durchaus als erfolgversprechende Stützungen der gelebten Sittlichkeit erscheinen: wenn von einer transzendenten Instanz ein unableitbarer und zugleich unbezweifelter Gehorsamsanspruch ausgeht, auf den sich dann alle Verbindlichkeit gründen lässt. Dergleichen Begründungslastverschiebung hat allerdings bereits Platon im Euthyphron als Strategie einer Begründungsverweigerung abgewiesen. 10 Insofern beansprucht Kant unweigerlich, mit seiner Moralphilosophie zugleich die Moral in Einzelfällen inhaltlich zu korrigieren: etwa durch eine rigide Version des Suizid- und des Lügenverbots, oder später, in der Rechtslehre, durch eine Kritik der seinerzeit ‚modernen‘ utilitaristischen Straftheorien (siehe dazu 08:425ff. und 06:334f.). 11 Solche Selbstkorrekturen beim kritischen Kant von Vornherein auszuschließen, wäre nicht nur als Interpretationsmaxime extravagant, sondern auch in hagiographischer Absicht fragwürdig, denn warum sollten Kants eindrucksvolle intellektuelle Sensibilität und Beweglichkeit (dazu 10:74) ausgerechnet 1781 mit Veröffentlichung der Kritik der reinen Vernunft abrupt enden? Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass Kant selbst 1787 etwa betont, dass er für deren Neuauflage nur noch Verbesserungen der Vittorio Klostermann, 2019.
Anmerkungen
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Darstellungsart vorgenommen habe (siehe etwa B XXXVIIff.). – Für alles Weitere ist daher zu berücksichtigen, dass die zweite Hälfte der Kritik der reinen Vernunft (ab A 405 bzw. B 432) aus äußerem Anlass für die zweite Auflage nicht mehr von Kant überarbeitet wurde, daher gibt dieser Teil des Textes de facto zunächst einmal durchweg den Stand von 1781 wieder – und an einzelnen Stellen definitiv nicht den von 1787 (vgl. A 589, 634 oder 811 mit etwa 08:139.24ff. und 05:109.17ff.). – Da Kant viele seiner Schriften z. T. mehrfach unverändert nachdrucken lässt, kann man sich folglich bei diachronen Untersuchungen grundsätzlich nicht an Erscheinungsdaten orientieren: Auch wenn etwa der Kanon (anders als Paralogismus und Deduktion) der Erstauflage der KrV von 1781 auch nach 1787 noch mehrfach unverändert abgedruckt wurde, so ist er bereits mit der Position der Grundlegung definitiv nicht mehr vereinbar (s. u. Kap. V) und erst recht nicht mit der (ebendieselben Inhalte erneut und ausdrücklich anders behandelnden) Dialektik der zweiten Kritik (dazu 05:109).
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Anmerkungen zu I.1 12 Dafür liefert es jene „Formel“, die das moralisch Geforderte (endlich!) „ganz genau bestimmt und nicht verfehlen lässt“ (05:08). Das ist insofern wichtig, als Kant etwa die Frage ‚Warum soll ich mein Versprechen halten?‘ ja nicht im Sinne einer speziell auf die Versprechenstreue zugeschnittenen Version der schillernden Frage ‚Warum soll ich moralisch sein?‘ verstehen will (s. o. Anm. 8), sondern vielmehr als die Frage: ‚Warum gehört die Versprechenstreue zu den moralischen Forderungen?‘ 13 In der Grundlegung ist vom ‚Sittengesetz‘ im Singular ohnehin nicht die Rede. Dieser Ausdruck steht bei Kant in der Regel für die Gesamtheit aller sittlichen Gesetze (so wie „das Naturgesetz“ oder „der kategorische Imperativ“ für die Gesamtheit aller Naturgesetze bzw. aller kategorischen Gebote; siehe etwa: A 805, 840; 05:07 Fn., 30, 69; 08:256), nicht aber für irgendein besonderes Grundgesetz der Moral (eine Ausnahme bildet möglicherweise 05:31.36f.). – So wird er auch im Folgenden verwendet. 14 Angesichts der Tatsache, dass (zumindest soweit ich die Literatur überblicke) keine belastbare Textstelle angeführt werden kann, die belegt, dass Kant sich irgendwann (für die aktuelle Fragestellung: irgendwann nach 1781) daran gemacht hätte, eine Moralbegründung im erörterten Sinne zu liefern, ist die Beweislast für die Gegenthese gering und die Belege könnten daher auch auf ein Minimum beschränkt werden. 15 Der Begriff eines ‚kindesmordgebietenden Gottes‘ ist selbstredend nicht bereits logisch-unmöglich (d. h.: in sich widersprüchlich). Aber ein solcher ‚Gott‘ wäre, als von aller Sittlichkeit entkleidet (s. u.), für Kant geradezu das Paradebeispiel für ein bloßes Gedankending (siehe dazu 06:99 Fn. und schon 28:1223), vulgo: ein Hirngespinst oder „albernes Hirngespenst“
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Anmerkungen
(02:263) – jedenfalls etwas ganz anderes als irgendein ‚Ganz Anderes‘, dem gegenüber ein Mensch möglicherweise verantwortlich sein (oder wodurch er gar verpflichtet werden) könnte. 16 „Denn es ist aus keiner Betrachtung eines Dinges oder Begriffes, welche es auch sei, möglich zu erkennen und zu schließen, was man thun solle, wenn dasjenige, was vorausgesetzt ist, nicht ein Zweck und die Handlung ein Mittel ist. Dieses aber muß es nicht sein, weil es alsdann keine Formel der Verbindlichkeit, sondern der problematischen Geschicklichkeit sein würde“ (02:299; geschrieben 1762). – Siehe zur Entwicklung der Kantischen Ethik vor 1785 jetzt: Gutiérrez 2018. 17 Der vorausgehende Text lautet: „Die Metaphysik ist kein organon, sondern Canon der Vernunft, ein Grund nicht der doctrin, sondern disciplin, nicht dogmatischer, sondern critischer Erkenntnis, nicht Erkenntnisse zu vermehren, sondern irrthümer abzuhalten, nicht vom obiect, sondern den regeln des subiects, nicht die Mutter der religion, sondern ihre Schutzwehr, nicht obiectiven, sondern subiectiven Gebrauchs.“ (Refl. 4865, 18:14, vgl. Refl. 5675, 18:325). 18 In der Vorrede zur zweiten Auflage der KrV heißt es dann entsprechend, dass „es einen schlechterdings nothwendigen praktischen Gebrauch der reinen Vernunft (den moralischen) gebe, in welchem sie sich unvermeidlich über die Grenzen der Sinnlichkeit erweitert, dazu sie zwar von der speculativen keiner Beihülfe bedarf, dennoch aber wider ihre Gegenwirkung gesichert sein muß, um nicht in Widerspruch mit sich selbst zu gerathen.“ (B XXV). 19 Auch die anderen „sceptics, both ancient and modern“ stellen Hume zufolge die Bedeutung von „moral distinctions“ nicht grundsätzlich in Frage: Diesen Autoren zufolge spräche allerdings der offenkundige soziale Nutzen derartiger „distinctions“ dafür, dass sie nicht natürlichen Ursprungs (also weder in human reason noch im sentiment gegründet) sind: Sie wurden vielmehr von Politikern erfunden und durch Erziehung implementiert (Enquiry Concerning the Principles of Morals, Sect. 5.1).
Anmerkungen zu I.2 20 Damit wird unmittelbar einsichtig, warum Kant im Kanon der Kritik so nachdrücklich betont hat (A 802ff.), dass die in der spekulativen Philosophie zuvor bereits „hinreichend[ ]“ erörterte transzendentale Freiheit (die Voraussetzung der Imputabilität, A 448) für die Gottes- und Unsterblichkeitslehre des Kanon definitiv keine Rolle spielt. Hier wird nun allein die praktische Freiheit als solche (d. h. die Unabhängigkeit von den unmittelbaren sinnlichen „Reizen“) herangezogen, insoweit sie bereits „durch Erfahrung [also ‚spekulationsfrei‘!] bewiesen werden“ kann, also philosophisch unproblematisch ist – und sich sogar alltäglich zeigt: Immer dann z. B., wenn jemand durch die Aussicht auf eine geeignete Entschädigung dazu veranlasst wird,
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Anmerkungen
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etwas zu tun, wozu (im Normalfall) niemand eine unmittelbare Neigung verspürt: vom Aufräumen des Kinderzimmers über die tägliche Fahrt zum Arbeitsplatz bis hin zum religiös motivierten Selbstmordattentat (s. u. Kap. III.3). 21 Später wird Kant in seinem moraltheologischen Beweis auf diesen speziell verbindlichkeitstheoretischen Gedanken dann nicht mehr zurückgreifen, sondern nur noch hoffnungstheoretisch argumentieren (s. u. Anm. 307). 22 Für das oberste Prinzip (bzw. den obersten Grundsatz) der Moralität kann es keine nicht-zirkuläre, praktische Begründung seiner Geltung geben (denn alle moralisch-praktische Begründung geht ja von diesem praktischen Prinzip/Grundsatz aus); folglich könnte sein ‚Beweis‘ bzw. seine Deduktion nur theoretisch und zugleich nicht-empirisch, also spekulativ sein – was 1781 dann etwa der Fall wäre, wenn es etwa auf die spekulative Lehre von der transzendentalen Freiheit des Willens zurückgriffe (s. o. Anm. 20). 23 Für die obigen Überlegungen spielt es definitiv keine Rolle, dass 1787/88 in der Kritik der praktischen Vernunft dann nicht nur die kritische Gottes- und Unsterblichkeitslehre, sondern darüber hinaus auch noch die Freiheitslehre auf das datum eines unhintergehbaren Bewusstseins der Verbindlichkeit des Sittengesetzes als alternativlose „ratio cognoscendi“ (05:04 Fn.) zurückgreifen wird (dazu unten Kap. V). Für den hiesigen Kontext reicht die Feststellung, dass zumindest zwei Drittel von Kants kritischer metaphysica specialis schon seit 1781 nicht mehr ohne ein solches datum auskommen.
Anmerkungen zu II.1 24 Es bleibt offen, ob Kant 1785 tatsächlich beabsichtigt, noch ein drittes moralphilosophisches Werk mit dem Titel „Kritik der reinen praktischen Vernunft“ zu liefern (wovon sich in der Grundlegung derzeit allenfalls ein unvollständiger Aufriss findet), oder ob er stattdessen nur eine irgendwann anstehende Neuauflage der ersten Kritik ergänzen will (wie er es zwischenzeitlich tatsächlich geplant hat, siehe dazu 03:556, 10:471). – In jedem Fall erlaubt sie Aufschub, denn eine solche Kritik ist nicht von der gleichen Bedeutsamkeit, wie es die Kritik der reinen Vernunft für die Auflösung theoretischer Verwirrung (‚Dialektik‘) war, weil die praktische Vernunft auch ohne eine vorausgeschickte Kritik weitgehend zuverlässig voranschreiten kann (391.20ff.). – Ferner müsste diese Kritik eine Aufgabe lösen, die Kant zufolge die aktuellen Erfordernisse übersteigt und „Betrachtungen“ einschließt, die die mit der Grundlegung adressierten Leser unnötigerweise verwirren könnten: Sie sollte nämlich die Einheit des theoretischen und praktischen Vernunftvermögens „in einem gemeinschaftlichen Princip“ zeigen. Zum einen bleibt es offen, wie Kant eine solche Einheit 1785 denn hätte zeigen wollen (m. W. haben wir keinen direkten Hinweis darauf, was er dabei vor Augen hatte), zum anderen wird die 1787/88 dann erscheinende
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Anmerkungen
Kritik der praktischen Vernunft genau das nicht tun, sondern ausdrücklich betonen, dass die reine „praktische Vernunft jetzt für sich selbst, und ohne [!] mit der speculativen Verabredung getroffen zu haben, einem übersinnlichen Gegenstande der Kategorie der Causalität, nämlich der Freiheit, Realität verschafft.“ (05:06, Herv. B.L.). Die Einheitsfrage wird dann erneut in eine spätere Schrift vertagt (05:91) – und tatsächlich erst in der Kritik der Urteilskraft von 1790 wieder aufgegriffen (05:176). 25 Bis Mitte 1783 war „Metaphysik der Sitten“ bzw. „Moral“ noch Kants Arbeitstitel für ein („mehrerer Popularität fähiges“) Werk zur Sittenlehre (10:325). Die separate Vorabpublikation einer speziellen Grundlegungsschrift hat er erst Anfang 1784 im Zuge seiner Auseinandersetzung mit Christian Garves (im September 1783 erschienenen) Philosophische[n] Anmerkungen und Abhandlungen zu Ciceroʹs Büchern von den Pflichten ins Auge gefasst (dazu unten S. 129). – Zu den Dokumenten zur Publikationsvorgeschichte von GMS und MdS siehe Ludwig 2018c, XVIf. und auch 04:626ff.; zur Frühgeschichte der Kantischen Ethik jetzt: Gutiérrez-Xivillé, 2018. 26 Im Text steht hier „dürfen“ (392.2) – das ist, wie des Öfteren bei Kant (vgl. etwa 396.24, 410.03 oder auch 04:276.01), als unser ‚brauchen‘ oder ‚müssen‘ zu lesen. 27 Zur analytischen und synthetischen Methode in der Neuzeit (und ihrer Orientierung an der Mathematik) siehe exemplarisch: Die ‚Logik von Port Royal‘ (Anon. [=Antoine Arnauld, Pierre Nicole]: La logique ou l'Art de penser. Paris 1662), Teil IV, Kap. 2ff. – Um über eine bloße Zirkularität hinauszukommen, bedarf es bei den nicht-mathematischen Wissenschaften allerdings zwischen der Analysis, wenn diese etwa von einer Wirkung auf deren Ursache führt, und der anschließenden Synthesis einer Untersuchung der aufgefundenen Ursache auf ihre ‚allgemeinen‘ Eigenschaften, eines „examen mentale“ (bzw. einer „consideratio mentalis“), bevor man dann auf dem synthetischen Weg auch zu anderen Wirkungen gelangen kann. Die (formale) Nähe dieses (Galilei – und vermutlich auch Newton – vertrauten) „regressus“ der Schule von Padua (siehe: Zabarella, De regressu [1578], Kap. 5, ed. Schicker 1995, S. 327; dazu ebd. 76f. und Risse 1983) zur ‚dreiphasigen‘ kantischen Konzeption (analytische Aufsuchung, Festsetzung, synthetische Anwendung) ist auffällig und lässt vermittelnde Instanzen vermuten. Deren Auffindung scheint aber noch ein Forschungsdesiderat zu sein. Wenn man sich nicht etwa mit dem (terminologisch eigenwilligen) Diktum gegen Ende des (auch Kant vertrauten; s. etwa 01:271) Scholion generale von Newtons Principia zufriedengibt (sc. „In hac philosophia propositiones [1] deducuntur ex phaenomenis, & [2] redduntur generales per inductionem.“), könnte der Hinweis bei Sgarbi 2016, 222 auf Kants Tätigkeit in der Königsberger Schlossbibliothek der Suche die Richtung weisen. 28 Die hier nachgezeichneten inhaltlichen Ausführungen Kants zur Separation von Prinzipien-Aufsuchung und Prinzipien-Anwendung (391.36–392.16)
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Anmerkungen
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lassen, wenn man sich auf die Grammatik des sich unmittelbar anschließenden und für die Einteilung einschlägigen Satzes („Ich habe meine Methode […] den Weg nehmen wird“, 392.17–22) einlässt, schwerlich eine andere Deutung zu als die, dass (1) ausschließlich die „Bestimmung“ des Prinzips im ersten Abschnitt auf analytischem Wege geschehen wird; und dass (2) der 392.21f. erwähnte synthetische Weg vom Prinzip zur gemeinen Erkenntnis erst im Anschluss an genannte Prüfung und Quellenbestimmung – und damit definitiv erst außerhalb der Grundlegung (darauf hat u. a. schon Bittner 1989, 29 hingewiesen) – ‚genommen‘ werden soll. Um dies letztere anzuzeigen, hat Kant Methode (und Einteilung) „in dieser [!] Schrift“ so gewählt, wie sie schicklich ist, „wenn [!] man“ X realisieren will – und das vorgestellte ‚X‘ steht nun ersichtlich für einen viergliedrigen Aufriss der gesamten „sittlichen Untersuchung“ (die Metaphysik der Sitten inklusive), wie sie zuvor in 391.36ff. dargestellt wurde (denn was sollte andernfalls von jener Untersuchung in diesem Aufriss unerwähnt geblieben sein?). „Daher“ (also: weil das unmittelbar zuvor vorgestellte Gesamtprojekt dies alles umfassen muss) ist die Einteilung der Grundlegung, der ausgelagerten „Vorarbeitung der Grundlage“, „so ausgefallen …“ – und es folgt der dreigliedrige Plan derselben. Die ausdrücklich noch mit zur „Vorarbeitung“ gehörende (392.03f.) „Festsetzung“ des Prinzips in den Abschnitten II und III wird im viergliedrigen Aufriss definitiv keinem der beiden genannten ‚Wege‘ zugeordnet. – Um das alles deutlich zu sehen, kann man auch probeweise die grammatische Struktur des einschlägigen Satzes mit irgendeinem anderen Inhalt ausfüllen: ‚Wenn ich vom Städtchen Göttingen zur Landeshauptstadt auf der Autobahn und wiederum zurück von der Erkundung dieser Stadt und dem Besuch ihres Landesmuseums zur Stadt Göttingen, darin mein Wohnsitz angetroffen wird, auf der Schiene den Weg nehmen will‘, dann wird meine Reise insgesamt vier Etappen haben – und voraussichtlich werde ich weder beim Stadtrundgang noch beim Museumsbesuch im Auto oder im Zug sitzen. Der für die Architektonik entscheidende Satz spricht also allein schon aufgrund seiner grammatischen/logischen Struktur weder dafür, dass eine „Prüfung des Sittenprinzips aus seinen Quellen in den Wegabschnitt der synthetischen Methode“ fällt (so etwa Milz 1998, 195), noch dafür, dass irgendein Teil der „Festsetzung“ zum analytischen Wegabschnitt gehört (so etwa zuvor Schönecker 1996, 352, und ähnlich Schönecker/Wood 2002, 13). Nimmt man hinzu, dass es unter keiner dieser beiden (seit langem wie eine vollständige Alternative diskutierten) Annahmen bislang gelungen ist, eine transparente Kantische Konzeption der Grundlegungs-Architektonik zutage zu fördern, dann spricht auch nichts für die Versuche, den Vorreden-Text (aus einem seinerseits fragwürdigen Grund, s. u. Anm. 29) in eine dieser beiden Richtungen zu pressen – a fortiori nicht, weil die hier vorgeschlagene (und m. W. bislang noch unerprobte) Rekonstruktion den Text tatsächlich aufschließt (was im Folgenden zu zeigen ist). 29 Auf die Polysemie der analytisch/synthetisch-Unterscheidung bei
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Anmerkungen
Kant wird in der Kommentarliteratur zwar routinemäßig hingewiesen, dennoch wurde sie – soweit ich es überblicke – bislang nicht angemessen berücksichtigt (siehe noch jüngst z. B. Klemme 2017, 54, 173; McCarty 2017; Callanan, 2013, 19; Richter 2013, 28, 103f.; Allison 2011, 33ff.; Sedgwick 2008, 41f.; Guyer 2007, 32f.; Horn/Mieth/Scarano 2007, 163ff.; Timmermann 2004, 89). Damit blieb der Zugang zur Architektonik der Grundlegung von vornherein versperrt und die Interpretationsversuche führten unvermeidlich in Konfusionen – die dann aber Kant angelastet werden. Um einen solchen Verdacht (der das Vertrauen in den Text schon gleich in der Vorrede zu untergraben droht) zu zerstreuen, bevor er hier (erneut) aufkommt, dürften bereits an dieser Stelle zwei etwas ausführlichere Erörterungen angebracht sein: A) Die traditionelle Unterscheidung von synthetischem und analytischem Weg, die bereits aus dem „Kindheitsalter der Wissenschaft“ (04:276) stammt, hat für Kant mit der Unterscheidung von analytischem und synthetischem Gebrauch der Vernunft (die am Ende von Abschnitt II dann zum Thema wird) in etwa so viel zu tun, wie z. B. die Unterscheidung von Hoch- und Tiefdruck im Wetterbericht mit der in der Repro-Technik: In der Sache überhaupt nichts, denn ein synthetischer Weg schließt einen analytischen Gebrauch der Vernunft (u. a. für ‚divisiones metaphysicae‘, s. u. unter ‚B)‘) genauso wenig aus, wie eine Hochdruckwetterlage die Verwendung der Tiefdruckpresse (vice versa): Die zweite Unterscheidung ist, wie Kant an genannter Stelle betont, schlicht „ganz was anderes“. Er betont dies nicht zuletzt deshalb, weil er diese zweite ‚analytisch/synthetisch‘-Unterscheidung, welche den Vernunftgebrauch im Urteil betrifft (dazu A 06ff.), ja gerade als seine eigene, entscheidende Innovation zum Zwecke einer Überwindung der dogmatischen Metaphysik reklamiert (siehe etwa: 08:244ff.; 20:278). Und angesichts „einige[r] Gefahr der Verwechselung“ mit diesem ‚neueren und angemesseneren Sprachgebrauch‘, sollte man eigentlich – so Kants nicht ganz unbescheidener (und auch von ihm selbst dann nicht konsequent befolgter) Terminologie-Vorschlag – bei der ‚alten‘ Unterscheidung der ‚Bewegungsrichtungen‘ in Urteilszusammenhängen fortan besser nur noch von ‚regressiver und progressiver Methode‘ reden (04:267.27; vgl. 09:149, 24:598). – Beachtet man diese 1785 noch geradezu ofenwarme Absonderung der Urteils-Unterscheidung von der Wege-Unterscheidung, dann sind die ersten beiden Abschnitte nun tatsächlich im Sinne der Urteils-Unterscheidung „bloßanalytisch“ (445.08), denn erst der dritte Abschnitt wird (wie Kant zur Erläuterung dieser Kennzeichnung dann am Ort betont) dagegen einen „synthetischen Gebrauch der reinen Vernunft“ enthalten, nämlich die Möglichkeit eines „synthetischen Satzes (!) a priori“ zeigen (s. u.). ‚Analytisch‘ verweist hier am Ende von Abschnitt II also geradeheraus und unzweideutig auf die ‚bloße‘ (!) „Zergliederung“ oder „Entwickelung“ von „Begriffen der Sittlichkeit“ (vgl. 440.29f. mit 445.05ff.). Zu der Annahme hingegen, Kant habe sich in diesem zweiten Kontext, mit dem „bloß-analytisch“ nun noch einmal ganz
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Anmerkungen
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gezielt systematisch auf den ‚Weg vom Gebrauch zum Prinzip‘, aus der Vorrede (auf die regressive Methode also) zurückbezogen und damit seine zwei Unterscheidungen (ohne jede Not!) wieder gründlich durcheinandergewürfelt, gibt der Text 444f. keinen Anlass (es wird sich unten zeigen, dass er nicht weniger verständlich wäre, hätte Kant in der Vorrede statt vom ‚analytischen Weg‘ von der ‚regressiven Methode‘ gesprochen). – Wäre Kant an dieser Stelle nicht bloß eine terminologische Unachtsamkeit unterlaufen, sondern hätte er tatsächlich bewusst darauf Bezug nehmen wollen, dass er in der Vorrede den ersten Abschnitt als ‚analytisch‘ im Sinne der Methodenlehre gekennzeichnet hat (das habe ich in Ludwig 2018a, Fn. 11 noch leichtfertig erwogen), dann wäre ihm allerdings eine rhetorische Volte erster Güte gelungen: Er hätte die von ihm kurz zuvor noch ausdrücklich beklagte Polysemie von ‚analytisch‘ nun kalten Blutes ausgenutzt, um den zweiten Abschnitt mittels einer einzigen (!) Nennung dieses Wortes (445.08) zugleich methodisch mit dem ersten zu assimilieren und urteilstheoretisch vom dritten abzugrenzen (chapeau!). Für eine solche Sottise hätte er dann allerdings ganz bewusst in Kauf genommen, dass seine Leserschaft in die Irre geführt wird: Denn zwar ist der erste Abschnitt auch im Sinne eines ‚Weges vom Gebrauch zum Prinzip‘ ‚analytisch‘ (wie es die Vorrede ja behauptet – wobei allerdings das von Kant bei analytischen Urteilen vielfach herabstufend gebrauchte „bloß“ [445.08] in Bezug auf die analytische Methode keinen rechten Sinn ergäbe); der zweite hingegen ist es definitiv nicht (wie sich unten noch im Detail zeigen wird): Statt nämlich noch ein zweites Mal vom „Vernunftgebrauch“ (der Menschen) zu dessen Prinzip aufzusteigen (wozu sollte das denn auch gut sein, nachdem man bei diesem doch bereits angekommen ist: 403.34f.?), leitet Kant dasselbe Prinzip (vgl. 402.08f. mit 421.07f.) im zweiten Abschnitt nun ausdrücklich aus gänzlich anderen Voraussetzungen, nämlich aus dem „praktischen Vernunftvermögen“ selbst, ab (412.23), denn erst damit ist seine „Reinheit“ (d. h. die Unabhängigkeit von der besonderen menschlichen Natur) gesichert. – B) Für ein besseres Verständnis der methodischen Zusammenhänge bietet es sich an, hier auch noch kurz die dritte der von Kant in der bereits herangezogenen Prolegomena-Fußnote (04:276) unterschiedenen ‚Analysen‘ einzubeziehen (auf die wir noch zurückgreifen werden), eine Einteilung nämlich der „Sphäre des Begriffs“ (eine „Eintheilung“ [!] dessen, was „unter“ [!] dem Begriff enthalten ist, 09:146, die sog. divisio logica, s. 06:284, 17:294), die ihrerseits mit keiner der beiden vorgenannten in eins fällt: die Zergliederung des „gesamten Vernunftvermögens“ in der „Analytik [!] der Begriffe“ (A 64f.). Mit dieser eröffnet Kant seine Vernunftkritik, indem er die „Quellen“ der Erkenntnis in Gestalt der drei „Vermögen“: Sinn, Einbildungskraft und Apperzeption (A 94; vgl. A 115, 155, 271; 09:36) bestimmt (A 50, vgl. A 424). Diese „Quellen“-Bestimmung am Anfang der Kritik hat (unangesehen des Etiketts „Analytik“) ersichtlich weder etwas mit Kants analytischer Zerlegung eines Begriffs (im Erläuterungsurteil, der „Theilung“ [!] dessen, was „in [!] ihm“
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Anmerkungen
enthalten ist, analysis s. divisio metaphysica, 09:146, 17:294), noch mit der analytischen Methode der alten Geometer zu tun (was Kant in den Prolegomena betont: 04:276.35f.): Sie orientiert sich terminologisch vielmehr am Titel einer Abteilung von Aristoteles’ Organon (sc. „analytica“, dazu: 24:506; siehe auch Sgarbi 2016, 217ff.) – und methodisch an dessen modernem Nachfolger: Lockes Essay (09:32; vgl. auch unten Anm. 74). Das Gegenstück zu einer „Analytik“ (als „Logik der Wahrheit“, 09:06) ist hier ja auch nicht etwa irgendeine ‚Synthetik‘, sondern vielmehr eine „Dialektik“ (als „Logik des Scheins“, ebd.; vgl. Topik, Buch IX). Mit der (höchst anspruchsvollen!) „Zergliederung [i. S. v. „Eintheilung“ der Sphäre, nicht von „Theilung“ des Begriffs; s. o.] des gesamten Vernunftvermögens“, d. h. einer Darlegung der „Quellen“ aller Erkenntnis, gewinnt die „Analytik der Begriffe“ der Kritik der reinen Vernunft den Anfangspunkt für den synthetischen Weg zu den reinen Grundsätzen der Wissenschaften (so die Prolegomena: 04:263). Dieser „Weg“ i. e. S. kann naturgemäß erst beginnen, nachdem (in der Kategorien-Deduktion) das letzte der drei „Elemente“ (die Apperzeption, s. o.) in den „Quellen“ aufgedeckt wurde (vgl. 04:274.29f.). Folglich bildet die sich daran anschließende „Analytik der Grundsätze“ den ersten synthetischen ‚Wegabschnitt‘, wenn dort im Schematismus die Prinzipien von Sinnlichkeit und Verstand nun erstmals gemeinsam heranzogen werden, um zu einzelnen Grundsätzen des Verstandesgebrauchs voranzuschreiten (d. h. A 130 bzw. 137; Kant gibt am Ort selbst allerdings keinen expliziten Hinweis auf den ‚Weg‘). Den entgegengesetzten analytischen Weg vom (allgemein anerkannten, s. 04:275) Vernunftgebrauch in den Wissenschaften zu deren ersten Prinzipien finden wir dagegen ganz ausdrücklich nicht in der Analytik der Kritik, denn diesen „Weg“ sollen 1783 ja erstmals die Prolegomena präsentieren (die ihre Leser damit zu den möglichen „Quellen“ aller Erkenntnis und damit auch der metaphysischen hinführen). – In der bereits mehrfach herangezogenen Fußnote (04:276) zeigt Kant selbst ein völlig klares Bewusstsein der Unterschiede der drei/zwei Bedeutungen von ‚analysis‘/‘synthesis‘; und nur sofern man dies in Rechnung stellt, sind die (andernfalls verwirrenden; dazu etwa: Gava 2013) Äußerungen zum Vorgehen in Kritik der reinen Vernunft, Prolegomena und Grundlegung (dazu später unten Anm. 286) als konsistent und kohärent nachzuvollziehen. Allerdings hätte man sich fraglos in der Analytik der Kritik der reinen Vernunft einen Hinweis gewünscht über die textliche Zuordnung der ‚Bestimmung der Elemente des Vernunftgebrauchs‘ (der „Quellen“ und ersten Prinzipien) einerseits und dem anschließenden Vorgehen nach ‚synthetischer Lehrart im Gebrauch dieser Prinzipien‘ (04:263/274) andererseits. Möglicherweise ist aber die 1787, d. h. nach den Prolegomena, dann hinzugekommene Rede von „Beweisen“ für die Grundsätze (B 202 u. ö.) ein zumindest für die Zeitgenossen hinreichend deutlicher Hinweis darauf, dass hier nun synthetisch vorangeschritten wird. – Die Überlegungen unter ‚B)‘ fassen z. T. die hier einschlägigen Resultate einer Diskussion über ein 2017
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Anmerkungen
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von A. Brandt im Göttinger Kant-Oberseminar vorgestelltes Papier zur Methode der Kritik zusammen. 30 Als ‚Maximen‘ bezeichnet Kant subjektive Handlungs-Grundsätze (vgl. 05:19), d. h.: solche (1) persönlichen Handlungsregeln, die (2) einen – zumindest vorläufigen – Schlusspunkt (vgl. ‚propositio maxima‘, 27:937.25f.) bei Handlungserklärungen oder -rechtfertigungen darstellen können. Sie bestimmen gleichsam „unser[en] ganze[n] Lebenswandel“ (A 812) und machen in ihrer Gesamtheit daher so etwas wie unseren ‚Charakter‘ aus (etwa: 15:756ff., 05:152); Näheres s. u. Kap. III.2. 31 Widerspruchsfreiheit eines Begriffs (seine ‚Denkbarkeit‘ oder ‚logische Möglichkeit‘) ist zwar eine notwendige, aber (mit Kant gegen Leibniz/Wolff) noch keine hinreichende Bedingung dafür, dass überhaupt Gegenstände unter diesen Begriff fallen können: Auch wenn der Begriff etwa eines ebenen Dreiecks mit der Winkelsumme von 120 Grad ohne Widerspruch gedacht werden kann, also ‚logisch-möglich‘ ist (anders als etwa der eines Dreiecks mit nur zwei Seiten – dessen vermeintlicher Gegenstand „unmöglich“ ist, „nihil negativum“; dazu A 290f.), so ist doch kein solches Dreieck (mathematisch) real-möglich (es ist, terminologisch gesprochen, zwar nicht „unmöglich“, aber doch „nicht möglich“: der Gedanke ist „leer, obzwar ohne Widerspruch“ [A 252], ein bloßes „ens rationis“, d. h.: kein Objekt „im Inbegriffe aller Möglichkeiten“ – so eine Formulierung in B XXVI Fn.): Denn jedes Dreieck, das wir in der Ebene konstruieren können, hat unausweichlich die Winkelsumme von zwei Rechten (dazu A 220f., A716ff. und 28:1031f.). – Eine ‚unverursachte Ursache‘ (eine ‚absolute Spontaneität‘, kurz: Freiheit; s. u.) ist ebenfalls problemlos denkbar (wie auch eine ‚wirkungslose Wirkung‘, anders als jedoch eine ‚unverursachte Wirkung‘ oder eine ‚wirkungslose Ursache‘, die beide logisch-semantisch „unmöglich“ sind). Aber ist sie angesichts des allgemeinen Kausalprinzips (‚jedes Geschehnis hat eine Ursache‘ o. ä.) auch (metaphysisch) möglich (unterstellt, jede Ursache sei selbst ein Geschehnis)? Das ist (wenn man sie ein wenig präziser formuliert) für Kant eine (wenn nicht sogar die zentrale) Frage der Metaphysik (dazu Ludwig 2017). – Analog wäre z. B. ein perpetuum mobile zwar denkbar (ist also nicht unmöglich), gilt aber angesichts des grundlegenden Energieerhaltungssatzes als (physikalisch) nicht möglich; und auch eine Photographie von Immanuel Kant schließlich ist zwar denkbar, aber (kontingenterweise) nicht möglich, weil er dafür gut 30 Jahre zu früh verstorben ist. – Daher misstrauen wir einer Nachricht von der Entdeckung einer KantPhotographie in Königsberg nicht weniger als einer von der Entdeckung eines ebenen Dreiecks mit pathologischer Winkelsumme in Gauss’ Göttinger Papieren – und Wunderberichten im Allgemeinen: Denken können wir dergleichen allerdings, wie sonst würden wir über die jeweilige Möglichkeit nachdenken? 32 Es geht Kant – wie eingangs bereits betont – also definitiv nicht um irgendeine ‚Rechtfertigung‘ der moralischen Gebote selbst, sondern allein um Vittorio Klostermann, 2019.
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Anmerkungen
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die Möglichkeit (und die Angemessenheit) einer bestimmten Auffassung derselben: als reine, kategorische Gebote nämlich. 33 Bei empirischen Tatsachen, bei denen die Möglichkeit bereits mit der Wirklichkeit gegeben ist, dient eine Erörterung der Möglichkeit nur (noch) der „Erklärung“ (‚Wie war es möglich, dass Kant die Kritik der praktischen Vernunft in so kurzer Zeit niedergeschrieben hat?‘). Bei kategorischen Imperativen, deren ‚Wirklichkeit‘ nicht empirisch verbürgt ist (ja sogar der Naturordnung zunächst zu widersprechen scheint, vgl. dazu A 803), muss die Frage: „Wie sind kategorische Imperativen möglich?“ bereits zum Zwecke der „Festsetzung“ (‚dass sie möglich sind‘) – und zwar a priori – beantwortet werden (420.01ff.; dazu auch B XXVI Fn.). – Grundsätzlich gilt für nicht-empirische Gegenstände, dass man für deren Dasein (Existenz) bzw. Wirklichkeit (Realität) nur argumentieren kann, indem man (Leibniz’ Vorschlag folgend) einen ‚modalen Umweg‘ wählt und zeigt, dass (verkürzt gesprochen) deren Existenz sowohl notwendig als auch möglich ist: „Nothwendigkeit [ist] nichts anders als die Existenz, die durch die Möglichkeit selbst gegeben ist.“ (B 111, vgl. A 607f.; dazu unten ad [III 4ff.] und ausführlich Ludwig 2015a). 34 Da ausweislich der Vorrede (vgl. oben Anm. 24) gerade eine Kritik der praktischen Vernunft zu den besonders schwierigen Aufgaben der Moralphilosophie zählt, haben wir hier einen weiteren Hinweis (vgl. oben Anm. 28f.) darauf, dass mit dem ‚fasslicheren‘ ‚synthetischen Weg zum gemeinen Gebrauch‘ nicht der ‚subtile‘ ‚synthetische Gebrauch‘ der reinen Vernunft in GMS III gemeint sein kann. – Die für den 3. Abschnitt angekündigte ‚Quellen-Bestimmung‘ war auch schon in der theoretischen Philosophie der Kritik der reinen Vernunft eine schwierige Aufgabe (A XXI, A 87 u. ö).
Anmerkungen zu II.2 35 Das spiegelt sich (leider!) z. T. noch in den Akzentverschiebungen der Publikationen Ludwig 1997 bis 2019; auf einige wichtige Korrekturen wird im Folgenden hingewiesen. – Für die weitere Auseinandersetzung mit der Literatur sei auf diese Publikationen verwiesen. 36 Es geht, mit Klaus Reich gesprochen, zunächst einmal nur darum, „den Leser instand zu setzen, die Einheit des Gedankenganges Kants, nach Vorgabe einer einfachen Idee, sich selbsttätig dadurch zur Einsicht zu bringen, dass man ihn frei durchspielt – gleichgültig, ob diese Lehre wahr oder falsch ist. Erlag Kant mit ihr [Reich diskutiert die Deduktion der Kategorien] einer Illusion, so muss der Leser instand gesetzt werden, ihr auch zu erliegen.“ Das hat – darum geht es Reich an dieser Stelle – durchaus auch Konsequenzen für die inhaltliche Seite von Interpretationsvorschlägen: „Niemand erliegt der Illusion, sagen wir vier selbständige Deduktions-‚Schichten‘ für eine Einheit zu halten.“ (Reich 1935a, 372). 37 Selbstredend gilt das nicht für jede einzelne Formulierungsnuance
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Anmerkungen
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(wir haben es nicht mit einem ‚heiligen Text‘ zu tun) und schon gar nicht für mögliche Abschreib- oder Setzfehler. – Dass man mitunter auch äußere Umstände einbeziehen muss, um zu verstehen, warum ein Buch in der uns vorliegenden Gestalt erschienen ist, kommt hinzu: Warum z. B. hat Kant ausschließlich die erste Hälfte der KrV für die zweite Auflage überarbeitet? War in der zweiten Hälfte wirklich nichts der Korrektur bedürftig? Oder hat Kant seine Publikationspläne ganz plötzlich geändert und infolgedessen die Überarbeitung einfach abgebrochen (von einer zweiten Kritik ist ja selbst in den überarbeiteten Passagen der zweiten Auflage noch nicht die Rede)? 38 Hinzu kommt die Frage, wieviel diachrone Inkonsistenz oder Inkohärenz man ggf. für die jeweils synchrone Konsistenz und Kohärenz zu opfern bereit sein sollte (vice versa) – sofern man nicht alles zugleich haben kann: In welchem Maße muss man dem Autor eine intellektuelle Entwicklung zwischen einzelnen Texten zugestehen? Und wenn man eine solche annimmt: Kann man sie (punktuell auf Augenhöhe mit dem Autor) als den Versuch einer Korrektur von selbsterkannten Irrtümern würdigen (s. u. Kap. IV und V)? Oder ist sie (von vorgeblich ‚höherer Warte‘ herab) als ein Rückfall hinter bedeutsame frühere Einsichten zu beklagen (wie man es mitunter – prominent etwa Schopenhauer oder Heidegger – von der zweiten Auflage der KrV behauptet)? 39 Da die Verständnisbemühung bei einem philosophischen Text (nicht weniger als bei einer Anleitung zur Bombenentschärfung) naturgemäß zunächst einmal auf eine unzweideutige Rekonstruktion der Überzeugungen des – als verständig angenommenen – Autors abzielt, ist eine Pluralität von Lesarten nur eine – zwar mitunter unumgängliche, aber gleichwohl zu überwindende – kreative Vorstufe angemessenen Verstehens. Solange man über sie nicht hinauskommt, ist damit (wie mit einer nicht-disambiguierten Entschärfungsanleitung) noch niemandem wirklich geholfen – und man weiß nicht einmal, ob es am Autor oder an seinen Lesern liegt. 40 Gleich einem Bergführer kann und muss auch ein philosophischer Kommentar mit den sich ihm Anvertrauenden nicht jeden Abzweig erkunden (und schon gar nicht in jeden Abgrund schauen), wenn es seine Aufgabe ist, sie erst einmal ans Ziel zu bringen. Auch wenn eine Kalenderweisheit besagt, dass Um- und Abwege (solche eingeschlossen, die sich als Sackgassen erweisen) die Ortskenntnis erweitern: Darum geht es im Folgenden nicht.
Anmerkungen zu III.0 41 Ansatzweise und für einen Einstieg in die Diskussionen sehr hilfreich leistet dieses der Kommentar von Horn/Mieth/Scarano 2007; speziell für GMS III der von Puls 2016; auch bei Allison 2011 werden zahlreiche Debatten dokumentiert, worauf hier verwiesen werden kann. 42 Wenn auf Absätze aus anderen Abschnitten verwiesen wird, dann mit
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Anmerkungen
vorausgehender römischer Abschnittsnummer (etwa: [II 13]). Die Zählung folgt den Absätzen der Akademie-Ausgabe (und damit der Erstausgabe). Da J. Timmermann (Valentiner 1961 folgend) in seiner Edition von 2004 den Absatz [II 55] in zwei Absätze aufteilt (431.09), weicht seine Zählung von dort an bis zum Ende dieses Abschnitts um +1 ab. 43 Siehe Cicero de legibus I,17; I,22; I,33; de finibus I, 17, 22, 23; für die Stoa auch Diogenes Laertius 7,39f.; als früheste Quelle gilt gemeinhin der Platoniker Xenokrates (s. Sextus Empiricus Adversus mathematicos vii,16f.). 44 Verwechslungen etwa mit den „leges naturae“ des christlichen Naturrechts, welche die menschliche Teilhabe an der „lex aeterna“ (dem göttlichen Schöpfungsplan) bezeichnen und die damit wesentlich auch die Grundlage der sittlichen Ordnung darstellen, sind nicht zu befürchten: Kant orientiert sich bei den „Gesetzen der Natur“ eher (wie der allgemeine Sprachgebrauch auch heute noch) an den ‚leges motus‘ der Newtonschen Philosophiae naturalis principia mathematica (1687). Deren Zusammenhang mit Kants „Grundsätzen des reinen Verstandes“ (KrV A 158ff.) kann und muss hier nicht erörtert werden (vgl. aber unten Anm. 50). 45 Auch wenn das Grundlegungs-Manuskript bereits im September 1784 abgeschlossen ist und wir aus diesem Jahr auch zwei Vorlesungsnachschriften haben, die wesentliche Neuerungen der Grundlegung bereits zeigen, wird hier und im Folgenden zumeist das Erscheinungsdatum der Grundlegung (Ostermesse 1785) als Eckpunkt angegeben, um keine unnötigen Irritationen zu erzeugen. 46 Der Ausdruck „Gesetz(e) der Freiheit“ allerdings ist bei Kant nicht neu, er steht zuvor für solche Gesetze, die die Freiheit beschränken („die sagen, was geschehen soll…“, A 802; vgl. schon 27:255; Kaehler p. 29, 286). Neu ist 1785 (s. u.), dass die Freiheit, „wenn sie unter Gesetzen seyn soll, sich selbst [!] die Gesetze geben“ muss (27:1322). – Die Einheit der Natur ist für Kant (seit 1781) wesentlich eine Einheit nach Gesetzen: Alles das, was gemäß Naturgesetzen untereinander und mit demjenigen, was wir unmittelbar erfahren (d. h. aktuell sinnlich wahrnehmen bzw. erinnern) verbunden ist, der Inbegriff des (in Raum und Zeit) Erfahrbaren also, ist die Natur: Die „allgemeine[ ] Verknüpfung des Daseins der Dinge nach allgemeinen Gesetzen [ist] das Formale der Natur überhaupt“ (437.14f.; vgl. 318 und KrV § 26). Der Genitiv in ‚Gesetz der Natur“ ist hier demnach (immer auch) ein genitivus subjectivus – und das gilt fortan gleichermaßen für die „Gesetze der Freiheit‘: Erst durch ihre eigenen Gesetze ist die Natur Natur – und die Freiheit Freiheit (vgl. ‚laws of …‘ und nicht etwa ‚laws for…‘). 47 Diese besondere epistemologische Rede (sc. ‚reiner Teil‘) von ‚Metaphysik der …‘ ist von jener traditionellen (schulphilosophischen) Verwendung des Terminus zu unterscheiden, die wir bei Kant gleichermaßen finden: Metaphysik als ein besonderes philosophisches Lehrgebäude von a) jenen Grundbegriffen, mit denen alles Seiende erfasst werden kann (metaphysica generalis oder Ontologie) und vom b) Übersinnlichen mit den drei Themen: Welt Vittorio Klostermann, 2019.
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(resp. Freiheit), Seelenunsterblichkeit und Gott (metaphysica specialis in drei Teilen: Rationale Kosmologie, rationale Psychologie und rationale Theologie). – Die Kritik der reinen Vernunft deckt 1781 vom Anspruch her mit ihrer Analytik (incl. Ästhetik) die zentralen Themen der metaphysica generalis ab und mit Dialektik und Methodenlehre den Themenbereich der metaphysica specialis (s. u.). – Die zwei in der Grundlegung genannten Metaphysiken, die der Sitten (rationale Ethik) und die der Natur (rationale Physik) sind selbst kein Teil der Kritik der reinen Vernunft, setzen diese jedoch voraus und sollen auf sie folgen (für die zweite siehe explizit: A XXI); entsprechende Schriften zum ‚Einstieg‘ erscheinen 1786 und 1797/98: Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaften sowie der Rechtslehre und der Tugendlehre. 48 In späteren Schriften wird Kant mit ‚Ethik‘ dann speziell die ‚Tugendlehre‘ bezeichnen, die zusammen mit dem ‚Jus‘, der ‚Rechtslehre‘, die gesamte ‚Moral‘ ausmacht (so etwa 06:379). 49 Eine derartig strikte Reinheitsforderung gibt es 1781 in der Kritik der reinen Vernunft noch nicht; vgl. A 15 mit den Änderungen von 1787 in B 29: Begierden und Neigungen haben bis 1781 noch eine positive Exekutionsfunktion für die Sittlichkeit, sie sind nicht bloß die Antagonisten oder redundante Bestimmungsgründe des pflichtgemäßen Handelns (vgl. auch A 569 und 801 Fn. sowie unten, Text zu Anm. 90) – wie sie es dann seit der Grundlegung sind. 50 Solche Probleme sind in der Physik nicht zu erwarten: Kant weist an anderer Stelle darauf hin, dass Newton das eigentlich zum reinen Teil einer Naturwissenschaft gehörende „Princip der Gleichheit der Wirkung und Gegenwirkung im Einflusse der Körper auf einander als auf Erfahrung gegründet annahm und es gleichwohl über die ganze materielle Natur ausdehnte“ (06:215). Schaden ist der Naturwissenschaft daraus nicht entstanden. 51 Kant nennt sie die: „[A]llgemeine practische Weltweisheit“; das ist u. a. der Titel von G. F. Meiers Adaptation (1764) von Wolffs Philosophia Practica Universalis (1738/39). – Für Kant ist Wolff, trotz seiner ‚Berühmtheit‘ und seines anhaltenden Einflusses, insbesondere in der Moral kein besonders ernstzunehmender Autor mehr (s. u. Anm. 282). 52 Kant betont in diesem Absatz gleich zweimal, dass für ihn die Moral als nicht-empirische Sittenlehre einen „reinen Willen“ als Normenquelle zur Voraussetzung hat. Um den Nachweis der Realität von dessen Idee wird es dann im dritten Abschnitt gehen – wo ebendiese Idee dann (erst- und auch letztmalig) in der zentralen vierten Sektion („Wie ist ein kategorischer Imperativ möglich?“) zum Thema gemacht wird. 53 So wie (gemäß der Kritik der reinen Vernunft, A 52) die allgemeine Logik ein Regelwerk für alles Denken überhaupt darlegt und dabei (noch) nicht zwischen empirischen und reinem (transzendentalphilosophischem) Verstandesgebrauch unterscheidet (vgl. dazu: 08:194.04-09), so müsste auch der Moral eine solche allgemeine Handlungslehre vorangehen, in der (anders als in
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der philosophia practica universalis von Wolff) zunächst noch von allen besonderen Bestimmungsgründen abgesehen wird. Erst in einer Metaphysik der Sitten dürfte darauf dann von den Prinzipien eines „möglichen reinen Willens“ (und z. B. auch von „Verbindlichkeit“ &c.) die Rede sein; und daneben gibt es dann noch eine psychologische Lehre von den besonderen empirischen Bedingungen des „menschlichen Wollens überhaupt“ (etwa: besondere Zu- und Abneigungen, Gedächtnis, Aufmerksamkeit usw.).
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Anmerkungen zu III.1 54 Wie oben in Kap. I angedeutet, ist sich Kant u. a. mit Hume einig darin, dass man diesen Sprachgebrauch ernst nehmen sollte; eine andere Option etwa wäre es, zu versuchen, diesen Sprachgebrauch revisionistisch zu eliminieren und/oder auf den anderen zurückzuführen. – Es geht in der Folge gleichwohl nicht darum, irgendwelche inhaltlichen Intuitionen abzufragen (etwa: ‚Haben Sie sich schon mal Gedanken über die Todesstrafe gemacht? Und wenn ja: Sind Sie dafür oder dagegen?‘), sondern um die Voraussetzungen dafür, genuin moralische Intuitionen überhaupt anzuerkennen. 55 Hiermit weist Kant darauf hin, dass wir z. B. auch einen Gott nur als ‚schlechthin gut‘ denken können, insofern wir ihm einen guten Willen (‚Allgüte‘) zuschreiben. Bloße Allmacht z. B. richtete dafür nichts aus (27:130; so ähnlich z. B. Leibniz gegen Hobbes; Theodicée, Appendice II). 56 „…wenn aber aller Werth bedingt, mithin zufällig wäre, so könnte für die Vernunft überall kein oberstes praktisches Princip angetroffen werden.“ (418) 57 Ließe man den Ausdruck: „als allein ein guter Wille“ weg, dann hätte man das Statement einer grundsätzlichen Kontingenz aller Werte. Gegen eine solche argumentiert Kant in der Folge allerdings nicht, sondern (siehe auch schon das: „allein“) nur gegen falsche Kandidaten für etwas uneingeschränkt Gutes, sowie gegen mögliche Vorbehalte gegenüber seinem eigenen Kandidaten. – Auch die Frage, ob es ‚innerhalb oder außer der Welt‘ tatsächlich irgendeinen ohne Einschränkung guten Willen gibt, steht hier nicht zur Debatte (es geht ausdrücklich nur um die Denkmöglichkeit und deren Präsuppositionen; vgl. Anm. 31). 58 Kant spricht hier (anders z. B. Timmermann 2007, 15f.) aus gutem Grund nicht vom guten Willen als dem ‚höchsten Gut‘, denn dieses „ist unbedingt gut und macht auch das ganze [!] Gut aus“; der gute Wille hingegen ist „nicht vollständig gut“, denn er kann (s. u.) in dieser Welt unter widrigen Umständen auch „zum Verderben gereichen“ (so 29:599; in der KdU wird Kant Spinoza als potentielles Beispiel eines unglücklichen Menschen mit gutem Willen diskutieren, 05:452). – Der Ausdruck ‚höchstes Gut‘ kommt in der Grundlegung zweimal vor: Einmal wenn der gute Wille im Rahmen einer
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naturteleologischen Überlegung als ein Zielpunkt menschlicher Vernunftbetätigung ausgewiesen wird (397, als ein ‚glückswürdiger‘ Wille), und ein weiteres Mal als eine Kennzeichnung Gottes (408). – Das ‚höchste Gut‘ gehört bei Kant exklusiv in den Kontext einer Moraltheologie (s. o. Kap. I), wo es als die (gottgewirkte) Einheit von Glückswürdigkeit und Glückseligkeit das eigentliche Ziel des Handelns endlicher Vernunftwesen vorstellt (etwa: A 810f., 05:108). In der Grundlegung wird es im Zuge der Erörterung des „Reichs der Zwecke“ einmal zum Thema (gegen Ende von GMS II, dort wird es aber nicht so genannt; s. u.). GMS I handelt dagegen zunächst ausschließlich vom ‚guten Willen‘ als möglichen Gegenstand der Wertschätzung. 59 Der Katalog (wie auch vieles andere im ersten Abschnitt) dürfte direkt auf Kants unmittelbar vorausgegangene Lektüre des Garveschen Cicero (s. o. Anm. 25) zurückgehen (dazu Reich 1935, 30ff.). Insofern wird Kant bei den erwähnten ‚Talenten und Eigenschaften‘ nicht unbedingt an Aristoteles gedacht haben. – Auch wenn die Auseinandersetzung mit Garve fraglos den ersten Anstoß zur Grundlegung gegeben haben dürfte (dazu 04:625f.), so hat sich die Schrift dann doch in eine ganz eigene Richtung entwickelt (dazu unten Kap. IV). 60 Genaugenommen ist hier und im Folgenden, solange es um die Untersuchung der gemeinen sittlichen Vernunfterkenntnis geht, mit Ausdrücken wie: ‚sie haben einen Wert‘ &c. immer nur gemeint: ‚ihnen wird von der gemeinen sittlichen Vernunft ein Wert zugebilligt oder zugeschrieben‘. Für Kant ist diese Wertzuschreibung der Einstiegspunkt in seine Untersuchung derjenigen Prinzipen, die einer solchen Wertschätzung zugrunde liegen. 61 Zumindest dann, wenn der fragliche Wille ‚erwartungsgemäß‘, ‚in der Regel‘ oder unter ‚normalen Umständen‘ zu guten Wirkungen führte. 62 Von daher spielt es hier keine Rolle, ob Kant selbst teleologische Argumente dieser Art als philosophisch respektabel ansieht (was er ja ganz offensichtlich tut: z. B. A 743; 05:397; vgl. auch unten ad [II 35]). Kritische Einwendungen wie etwa bei Schönecker/Wood 2002, 52ff. gehen daher am Text vorbei: Kant argumentiert an dieser Stelle (nur) ad personam – und wer von Naturteleologie sowieso nichts hält, kann daher [4-7] verlustfrei ignorieren (zum Natur-Argument ausführlich z. B.: Horn 2006). 63 Besondere Gründe für dieses indirekte Vorgehen liefert Kant hier noch nicht. Erst später wird er deutlich machen, warum man mit einer Erläuterung des Begriffs vom guten Willen nicht weiterkäme (s. u. Anm. 72). 64 Die – erfolglose – Suche nach dem ‚ersten Satz‘ ist seit über sechzig Jahren (Duncan 1957, 59) ein Thema in der Literatur; die im Folgenden vorgeschlagene Deutung der ‚vier ersten Sätze‘ findet sich – wenn ich nichts übersehen habe – erstmals in: Ludwig 2018b (siehe dort in Fn. 1 auch die Auseinandersetzung mit der Literatur). 65 Zu Absatz [13] s. u. Fn. 68. 66 Mit dem zweiten Satz hat Kant prima facie also sämtliche konsequenzialis-
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tischen Moraltheorien als Rekonstruktionen der gemeinen praktischen Vernunfterkenntnis hinter sich gelassen (so wie zuvor mit dem ersten Satz bereits die eudaimonstischen) und damit für eine reine (!) Prinzipienethik argumentiert. – Allerdings setzt sein Argument für diesen Satz voraus, dass die Bewertungen von Handlungsfolgen notwendig neigungsabhängig sind. Dies ist aber nicht unbedingt der Fall, wie Kant selbst mit seinen weiten Pflichten zur Selbstvervollkommnung und zur Nothilfe (s. u.) zeigt: Deren Maximen sind zwar ohne Rekurs auf Neigungen, aber (anders als etwa die Maxime der Vertragseinhaltung) grundsätzlich nicht ohne Thematisierung solcher Handlungsfolgen zu formulieren, die ein vernünftiges Wesen als solches nicht wollen kann. Kants eigentlicher Gegner ist also nicht irgendein ‚Konsequenzialismus sans phrase‘, sondern in erster Linie der eudaimonistische Konsequenzialismus der zeitgenössischen Schulphilosophie. – Für einige hilfreiche Klarstellungen bzgl. des Verhältnisses von Konsequenzialismus und sog. ‚Deontologie‘ bei Kant siehe: Schroth 2003. 67 Siehe etwa Moral Collins: 27:407, 411f.; Naturrecht Feyerabend: 27:1326 u. ö.; vgl. auch die mehrfache Gegenüberstellung von „lieben“ und „achten“, etwa: 27:358, 398, 1493f., 1532f. – Schon 1764, in den Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen, ist dieser Gegensatz (gelegentlich auch mit ästhetischer Konnotation) gängige Münze, etwa: 02:223, 239; 20:03, 120. 68 In Absatz [13] wird das christliche Liebesgebot der Kantischen Pflichtenlehre assimiliert und entsprechend terminologisch präzisiert: ‚Liebe Deinen Nächsten!‘ meint nicht die „Liebe als Neigung“ (die man gar nicht gebieten kann), sondern die „praktische und nicht pathologische Liebe, die im Willen liegt und nicht im Hange der Empfindung, in Grundsätzen der Handlung und nicht schmelzender Theilnehmung“. Eigentlich müsste es also hier schon heißen: ‚Achte Deinen Nächsten!‘ 69 Das ist zwar naheliegend, aber gleichwohl nicht ganz unproblematisch: Man kann Menschen und deren Handlungen durchaus zugleich aus Neigung und aus Achtung wertschätzen. Die Übertragung dieser Unterscheidung auf die Bestimmungsgründe des Handelns (dazu unten Anm. 285) bringt (im Rahmen der Kantischen Konzeption) dann das Problem mit sich, dass es für die Bestimmung des Werts einzelner Handlungen wichtig sein kann, ob der ausschlaggebende (oder: entscheidende, letzte, höchste, oberste, stärkste usw.) Bestimmungsgrund die Achtung war (dann geschah die Handlung ‚aus Pflicht‘) oder bloß eine gleichgerichtete Neigung (dann war sie bloß pflichtgemäß – siehe oben z. B. die ‚Wohltätigkeit gegenüber Freunden‘). Siehe auch unten Anm. 78. 70 Unter anderem an dieser Stelle sieht man, dass der Ausdruck: „nicht aus Neigung, sondern aus Pflicht“ (ähnlich wie auch „aus Neigung oder aus Vernunft“ im obigen Mrongovius-Zitat) genaugenommen schief ist, weil der adäquate Gegensatz zum subjektiven Bestimmungsgrund ‚Neigung‘ der subjektive Bestimmungsgrund ‚Achtung‘ ist. Daher wäre prima facie der Ausdruck: ‚nicht Vittorio Klostermann, 2019.
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aus Interesse, sondern aus Pflicht‘ angemessener (vgl. aber den Sprachgebrauch 431–433 und 449). Kant selbst wäre solche Bemühung um durchgängige terminologische Stringenz eher fremd (vgl. dazu oben S. 61). 71 Zu „Maxime“ s. o. Anm. 30. – Kants Beispiele sind fast durchweg moralisch-sensible Handlungsregeln von der Art: ‚Ich halte mich an Versprechen‘ oder ‚Ich lasse keine Beleidigung ungerächt‘. Man könnte aber gleichermaßen an grundsätzliche subjektive Handlungsregeln wie: ‚Ich ernähre mich gesund‘ oder: ‚Ich orientiere meine Lebensführung am Vorbild des english gentleman‘ (mit Berufs- und Zeitungswahl, Dresscode, five o’clock tea &c.) denken, die man sich auch ohne jede (positive oder negative) moralische Nebenabsicht zur Maxime machen könnte. – Dagegen wäre aber eine sehr spezielle Handlungs-Regel wie etwa: ‚Ich fahre nur rote Ferraris aus dem Baujahr 1957‘ als Maxime, d. h. als Handlungs-Grundsatz, geradezu bizarr, denn wäre sie nicht ihrerseits Ausdruck grundsätzlicherer Regeln bzw. Charaktermerkmale (die z. B. allgemeine Qualitätsmaßstäbe, ästhetische Überzeugungen, Technikaffinität, Statusfragen &c. betreffen und die dann ggf. auch für eine Ersetzung der ‚Ferrari-Regel‘ durch eine entsprechende ‚Rolls-Royce‘ oder ‚Opel-Regel‘ bedeutsam sein könnten), dann würde man an der psychischen Integrität des (vorgeblichen) Autoliebhabers zweifeln. Wenn man mit dieser besonderen (als solche fraglos moralisch völlig unproblematischen) Handlungsregel gleichwohl eher Anstoß erregte als etwa mit: ‚Ich spiele mit meinen Freunden ausschließlich Werke der Zweiten Wiener Schule‘, dann läge das allenfalls daran, dass hinter der Ferrari-Regel unerfreulichere Maximen vermutet werden als hinter der eher liebenswerten Schrulligkeit des Freundes zwölftöniger Hausmusik (solche Maximen nämlich, die dann z. B. Tugendpflichtverletzungen darstellen, vgl. TL §§ 37ff., 06:462ff.). 72 Offenkundig ist genannter Zusammengang von Wert und Gesetz für Kant keiner, der in einem analytischen Erläuterungsurteil (dazu KrV A 6f.) ausgedrückt wird, denn dann hätte er ja bereits hier einfach „durch Zergliederung des Begriffs von einem schlechthin guten [!] Willen […] gefunden werden“ (447.12f.) können. Stattdessen musste er aber erst einmal unter Hinzunahme des Pflichtbegriffs durch eine „Ent-wickelung“ (vgl. 445.02) der praktischen Wertzuschreibungen einer über sich selbst aufgeklärten „gemeinen Menschenvernunft“ ans Licht gebracht werden. – Im dritten Abschnitt wird sich der Satz über den genannten Zusammenhang dann aber als ein „synthetischer Satz a priori“ beweisen lassen (vgl. 425.08) – allerdings nur mittels der („speculativ“ anspruchsvollen und daher erst im Rahmen einer ‚Kritik der reinen praktischen Vernunft‘ zu thematisierenden) zusätzlichen Voraussetzung eines „Dritten“: Der Mensch ist als eine „Intelligenz“ frei und kann sich damit einen „reinen“, d. h.: einen „intelligiblen“ und zugleich „gesetzgebenden“ eigenen Willen denken (s. u.). 73 Diese (von Kant nur hier bemühte) Metapher drückt eine hohe Zuversicht dahingehend aus, dass die sittliche Anweisung ‚automatisch‘ stets nur eine Richtung kennt: Unauflösbare moralische Dilemmata scheint Kant Vittorio Klostermann, 2019.
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so wenig zu erwarten wie ein Geometer mehrere Nordpole (siehe 09:171). – Wie sich bisher schon angedeutet hat, ist Kants Interesse vornehmlich auf die Abgrenzung der moralischen Forderungen gegenüber denen der „Neigungen“ gerichtet (um damit u. a. den Eudaimonismus der schulphilosophischen Morallehre zurückzuweisen). Dass man mit einem vor diesem Hintergrund entwickelten Prinzip etwa in der Analyse des ‚Trolley-Problems‘ (‚Soll ich meinen Zug auf eine Gruppe von fünf Personen zurasen lassen, oder soll ich ihn auf das Gleis umlenken, auf dem nur eine Person zu Schaden kommen wird?‘) unmittelbar etwas ausrichten könnte, ist daher nicht zu erwarten (zumal die „Neigungen“ des Akteurs im Gedankenexperiment systematisch ausgeblendet werden): Letztlich erlaubt Kants Prinzip bei zahllosen der sogenannten moralischen Dilemmata zwangsläufig (zunächst) beide Handlungsoptionen, weil es zu keiner(!) von beiden irgendeine moralkonforme Maxime gibt und es gilt: ultra posse nemo obligatur. Das heißt aber nicht, dass irgendeine der beiden Optionen damit auch in einer nicht-dilemmatischen Situation erlaubt wäre (also als grundsätzlich ‚pflichtgemäß‘ gelten kann). Weil Dilemmata uns somit abverlangen, in jedem Falle irgendetwas prima facie ‚an sich Pflichtwidriges‘ zu tun, stellen sie mitunter durchaus unerträgliche Zumutungen dar, weil wir anhand des vorgegebenen Szenarios allein noch gar kein moralisches Urteil über die zu treffende Entscheidung fällen können. Ein solches Urteil kann daher (auch und gerade) aus kantischer Perspektive erst Ergebnis einer zusätzlichen Abwägung sein: Dass man in Dilemma-Situationen Entscheidungen treffen muss, die sich erst im Lichte möglicher Folgen moralisch beurteilen lassen, ist ja nicht bereits dadurch ausgeschlossen, dass Kant jeden eudaimonistischen Konsequenzialismus ablehnt (s.o. Anm. 66). 74 Siehe dazu A IX und A 86f. – In Kants Absicht, mit seiner Kritik der reinen Vernunft „Quellen, Umfang und Grenzen“ aller erfahrungsunabhängigen Erkenntnisse zu bestimmen (A XII), klingt Lockes Vorhaben, „to enquire into the Original, Certainty and Extent of Human Knowledge“ nach (wobei „Knowledge“ bei Locke das demonstrierbare Wissen bezeichnet; Essay Concerning Human Understanding, I.1.2). 75 Vgl. auch die oben in Kap. I zusammengestellten Belege für Kants Auffassung, dass die Aufgabe der Philosophie für die Moral darauf eingeschränkt ist, (metaphysische) Einwände gegen dieselbe ‚abzutreiben‘. 76 Die hier thematisierte Dialektik spielt auf die der ersten Kritik an. Sie antizipiert in keiner Weise die „Dialektik der reinen praktischen Vernunft“ der Kritik der praktischen Vernunft (05:107ff.). Diese betrifft 1787 nämlich erstens speziell den Begriff des „höchsten Gutes“ und wird zweitens vermittels der Moraltheologie aufgelöst, die in der Grundlegung nur in einer Nebenüberlegung (438.32ff., dazu dann am Ort) vorkommt und die 1781 noch im – praktischen – Kanon der KrV behandelt wurde (s. o. Kap. I).
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Anmerkungen zu III.2 77 Dieser Unterschied wird für Kant auch in Blick auf die Moralpädagogik bedeutsam (05:152ff.). 78 Auf ein grundsätzliches, von Kant hier aber gar nicht angesprochenes Problem sei nur hingewiesen: Um irgendeiner Person ein Verhalten als deren Handlung zuzuschreiben, muss es sich ‚irgendwie‘ aus deren Wünschen und Überzeugungen ergeben, kurz: Alle Handlungen müssen als Handlungen letztlich immer auch psychologisch erklärbar sein (so wie Sonnen- und Mondfinsternis physikalisch erklärbar sind, 05:99; vgl. A 546), sonst glichen sie Reflexbewegungen bzw. einem epileptischen Anfall (u. a. Hume hatte darauf hingewiesen, dass wir dann niemanden für sie loben oder tadeln könnten) oder sie wären einfach Wunder. – Ohne Rekurs auf kontrafaktische Konditionale wird man hier also prinzipiell nicht weiterkommen: ‚Immanuel handelte aus Pflicht, denn er hätte sein Versprechen auch dann gehalten, wenn er keine soziale Ächtung hätte fürchten müssen‘: Jede einzelne Handlung kann letztlich nur im Lichte eines jeweils einschlägigen allgemeinen Grundsatzes des Handelnden (d. h. einer Maxime) Gegenstand moralischer (Selbst- oder Fremd-)Beurteilung sein (dem trägt Kants neue Formel des Sittengesetzes ja bereits ‚ganz von allein‘ Rechnung). Andernfalls wäre der moralische Wert einer Handlung vollständig von solchen Umständen abhängig, auf die der Handelnde selbst überhaupt keinen Einfluss hat (ob etwa Belohnungen und Strafen angekündigt werden, ob sozialer Druck zu erwarten ist &c.). Damit wäre dann aber der zumeist in Anlehnung an Schillers Distichon („Gewissensskrupel: Gerne dien ich den Freunden, doch tu ich es leider mit Neigung, so wurmt mir oft, dass ich nicht tugendhaft bin.“) formulierte Einwand schlagend, der pflichtgemäßen Handlung könne letztendlich kein sittlicher Wert zukommen, wenn das Gebotene im gegebenen Fall auch schon allein aus Neigung getan worden wäre (dazu 06:23 Fn.). – Schiller ist es allerdings zugutezuhalten, dass er nicht vom Wert, sondern von der Tugend spricht, und damit letztendlich doch nicht mehr als eine semantische Wahrheit herangezogen hat – denn es ist e definitione kein Beweis speziell von Tugendhaftigkeit, wenn man im Einzelfall ein moralisches Gebot dank außermoralischer Beweggründe leichtfüßig befolgt (dazu 06:405) – über jeglichen sittlichen Wert der Handlung ist damit aber noch nicht unbedingt geurteilt (allenfalls über dessen epistemische Zugänglichkeit). 79 Zu den Gründen siehe unten S. 129. 80 Die „Natur des Menschen“ wird als Grundlage der Moral der „Alten“ genannt (etwa: 27:251, Moral Kaehler p. 21f.), und dies bezieht sich bei Kant zumeist auf die Stoa (wie sie bei Cicero repräsentiert wird); die anderen vier Lehren werden in der Kritik der praktischen Vernunft dann explizit den Autoren Wolff, Epikur, Hutcheson und Crusius zugeordnet (05:40). 81 Dazu: „1. qvaestio diiudicationis: qvid est bonum? 2. executionis: cur hoc bonum a me faciendum?“ (19:217).
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Diese beiden Funktionen fallen natürlicherweise dort auseinander, wo es etwa um die Erkenntnis von Pflichten anderer geht, womit ja keine Nötigung (kein ‚Sollen‘) des Erkennenden einhergeht (vgl. 06:218). 83 Siehe die ‚Collins-Varianten‘ (27:1211 und 1225 – im Abdruck der Collins-Mitschrift selbst fehlt das einschlägige Textstück an der Stelle 27:278.13: vgl. dazu: „[…] hat, um durch […]“ mit z. B. 27:1425.32– 1429.34 – die Lücke ist bei ‚Collins‘ geschickt kaschiert, indem der gesamte ausgefallene Text durch das eine Wort „um“ ‚ersetzt‘ wurde); Mrongovius (27:1428); Kaehler (p. 85 [= ed. Stark S. 69]); alle diese Vorlesungsschriften gehen auf Kants Vorträge aus der zweiten Hälfte der 1770er Jahre zurück, auch wenn sie erst später angefertigt wurden. – W. Stark (der Kaehler-Herausgeber) rückt in seiner Anmerkung (ebd.) grobe Missverständnissen der älteren Literatur zurecht, hält dann allerdings nicht konsequent an seiner eigenen Einsicht fest, dass der Stein der Weisen ein Transformationsmedium ist. Insofern kann dieser nicht „für das gesuchte Principum executionis“ selbst stehen (wie Stark schreibt), sondern wäre – wenn es ihn denn gäbe – das Zaubermittel einer ‚alchimistischen‘ Wandlung des (bloß) dijudikativen Prinzips in ein (zugleich) exekutives. 84 Dort, wo es primär um die Abgrenzung gegenüber der Sinnlichkeit geht, steht bei Kant ‚Vernunft‘ zumeist stellvertretend auch für ‚Verstand‘ – und nicht etwa für das ‚Vermögen der Schlüsse bzw. der Ideen‘ in specie. 85 Ein Fall von Willensbestimmung durch die Sinnlichkeit allein (d. h. ohne jede Vernunft) liegt allenfalls dann vor, wenn wir von unseren aktuellen Neigungen überwältigt werden (was aber nicht der Standardgegenstand sittlicher Beurteilung ist – und als den vernunftlosen Tieren eigentümlich gilt, s. u.). In der Folge [12ff.] wird sich zeigen, dass Kant diesen Aspekt einfängt, indem er die aktuellen Neigungen (‚das was reizt‘) als Hindernisse der Vernunftbestimmung begreift, wobei es gerade keine Rolle spielt, ob die Vernunft uns bloß ‚im Interesse zukünftiger Gegenstände der Neigungen‘ (hypothetisch) nötigt, oder, als reine Vernunft, allein um der Sittlichkeit willen ( kategorisch). 86 „dass […]“ – aber nicht: „wie […]“! (siehe 461.32). – Es sei hier nur nebenbei darauf hingewiesen, dass Kant auch bereits 1785 davon ausgeht, dass sich im Bewusstsein der Pflicht zeigt, dass ‚reine Vernunft praktisch‘ ist – allerdings nutzt er dieses ‚Faktum‘ (noch) nicht im Rahmen der Freiheitstheorie, wie seit 1787/88 (vgl. 05:03, 15, 19 u. ö, und unten Kap. V). 87 Schon lange vor der Grundlegung hieß es von der Wertschätzung aufgrund der ‚Neigung aus Achtung‘, dass sie alle entgegenstehende ‚Neigung aus Liebe‘ überwiege (27:407, 1532). Neu ist 1785 also vor allem die Übertragung dieser ‚Überlegenheit‘ von der Wertschätzung auch auf die Bestimmungsgründe des Handelns (ebenfalls neu ist auch die Reservierung des Terminus ‚Neigung‘ ausschließlich für sinnliche Bestimmungsgründe). 88 In der 1784er Moralvorlesung heißt es dazu: „Wenn die Vernunft durch das Moral Gesetz den Willen bestimmt, so hat sie [!] die Kraft einer 82
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Triebfeder, sie [!] hat alsdenn nicht bloß Avtonomie sondern auch Avtocratie. Sie hat denn gesetzgebende und auch executive Gewalt [vgl. oben: principium executionis]. Die avtocratie der Vernunft den Moral Gesetzen gemäß den Willen zu bestimmen, wäre dann das moralische Gefühl [das als ein vernunftgewirktes nun allerdings nicht mehr das der Schotten sein kann, B. L.]. Der Mensch hat wirklich die Kraft dazu, wenn man ihn nur die Stärke und Nothwendigkeit der Tugend einsehen [!] lernt. Er hat in sich den Quell alles [sc. Sinnliche; B. L.] zu überwinden. Einer der Alten [!] sagt: Wenn man die Tugend in ganz reiner Gestalt vorstellte, so würde sie von allen Menschen müssen geliebt werden. Man hat das aber nie gethan“ (29:626) – was sich aber jetzt, nach etwa zwei Jahrtausenden, gerade ändert (vgl. 05:153.07ff.)! Der ‚Alte‘ war hier möglicherweise Platon: zum generellen Zusammenhang von Reinheit und Liebe – wenn auch hier: Liebe der Götter – siehe z. B. Symposion 211e–212a (ich danke Olrik Santozki für den Hinweis). Für die spätere Verfestigung dieser Position siehe dann die Methodenlehre der Kritik der praktischen Vernunft (05:151ff.), den Gemeinspruch (‚gegen Garve‘; 08:287f.), sowie Kants ‚Moralischen Katechismus‘ in der Tugendlehre (06:480–82 und den daran anschließenden Kommentar). 89 Siehe Kaehler p. 88f., 107 (und auch 255); vgl. Collins, Mrongovius 27:278, 1430. – Zur Religion dann näher: Kaehler p. 152f., Collins, Mrongovius 27:308, 1453. Die Wert-Lehre ist noch nicht in jener Konsequenz entwickelt wie dann in der Grundlegung: Denn auch Handeln „aus Pflicht“ kommt um 1775 nicht ohne vernunftexterne Triebfedern aus. Auch wenn Kant dabei durchaus bereits zögerlich formuliert: Es ist aber immer noch Handeln auch ‚aus Neigung‘: mit „Abscheu“ nämlich oder mit „Lust“ (siehe dazu unten Kap. III.2). Die erwähnte ‚Amalgamierung‘ von Religion und Moralunterweisung verurteilt Kant später dann auch ganz ausdrücklich (etwa 06:484). 90 Das wird speziell für die Moraltheologie im Kanon bedeutsam (dazu unten Kap. IV). – „Reinigkeit“ kommt auch später im Text von 1781 noch einmal ganz ausdrücklich nicht etwa den „moralische[n] Begriffe[n]“ qua moralischen im Allgemeinen zu, denn diesen liegt „etwas Empirisches (Lust oder Unlust) zugrunde“, sondern nur den moralischen „Ideen“ qua Ideen im Besonderen (wie etwa denen der Tugend oder der Weisheit; so A 569; vgl. dazu auch A 548 und oben Anm. 49). 91 Daher wird man das „sonst“ (412.17) als ‚andernorts‘ (gemäß Adelung 1793; oder auch als Versehen statt ‚schon‘) lesen und auf GMS I beziehen müssen – denn welcher andere Text der abendländischen Philosophiegeschichte käme als ‚Ort des Geschehens‘ noch infrage? 92 Die Rede vom „Übergang“ ruft in den ersten zwei Abschnitts-Überschriften somit unterschiedliche Bedeutungsdimensionen auf: Während die gemeine sittliche Vernunfterkenntnis mit der Gewinnung des (richtigen) Prinzips inhaltlich in die philosophische einmündet, ist der Übergang von der Popularphilosophie zur Metaphysik der Sitten dagegen der eines methodischen Vittorio Klostermann, 2019.
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Anmerkungen
Bruchs, eine Abwendung von der Erfahrungs- hin zu einer reinen Vernunfterkenntnis. – Der im dritten Abschnitt zu vollziehende Übergang von der Metaphysik der Sitten zur Kritik der reinen praktischen Vernunft wird dann schließlich der von der (reinen) Moral zur Darlegung ihrer metaphysischen Voraussetzungen sein. 93 Siehe etwa: „[…] aus Interesse zu handeln […] zeigt nur Abhängigkeit […] von den Principien [!] derselben [sc. Vernunft] zum Behuf der Neigung an, da nämlich die Vernunft nur die praktische Regel [!] angiebt, wie dem Bedürfnisse der Neigung abgeholfen werde.“ (413 Fn.) Vgl. auch 460 Fn., wo die Vernunft den Willen „vermittelst eines anderen Objects des Begehrens, oder unter Voraussetzung eines besonderen Gefühls des Subjects bestimmen kann“; und z. B. 05:21. 94 „Die dem Subject zur Regel (Gewohnheit) dienende sinnliche Begierde heißt Neigung (inclinatio).“ (07:265) Die implizite Metaphorik (sc. ‚Disposition, in eine bestimmte Richtung umzufallen‘) ist durchaus intendiert. 95 Diesen Wesenheiten fehlt naturgemäß das Begehrungsvermögen, „durch seine Vorstellungen Ursache von der Wirklichkeit der Gegenstände dieser Vorstellungen zu sein. Das Vermögen eines Wesens seinen Vorstellungen gemäß zu handeln, heißt das Leben.“ (05:09 Fn.) Daher spricht Kant den vorstellungslosen Pflanzen mitunter das „Leben“ ab, deutlich etwa: 05:526.31ff. (siehe auch 06:443; 21:521; aber andererseits auch: 21:510; 22:510; 28:205; vgl. unten Anm. 220). 96 Diese grundsätzliche Bestimmung des Willkürbegriffs (arbitrium) hat Kant vermutlich früh und direkt vom (Anti-Wolffianer) C. A. Crusius übernommen, wobei dieser allerdings bereits diese Bestimmbarkeit durch Vorstellungen als ‚Wille‘ bezeichnet (Anweisung vernünftig zu leben, 1744 § 2). – Eine konsequente terminologische Unterscheidung zwischen ‚Willkür‘ und ‚Wille‘ (die dann aber grundsätzlich anders als hier verläuft) führt auch Kant erst 1797 ein; bis dahin allerdings werden in Bezug auf den Menschen ‚Wille‘ und ‚Willkür‘ weitgehend austauschbar (wenn auch mit wechselnden Nuancierungen) benutzt (s. u. Text zu Anm. 312 und Ludwig 2014, Abschnitt VII). 1797 ist dann nur noch die Willkür frei; ‚Wille‘ hingegen bezeichnet definitiv kein arbitrium mehr, sondern vielmehr eine Gesetzgebung für ein solches. 97 Dieses „so fern…“ ist gewichtig: In der Folge wird es dann noch um ein arbitrium liberum purum mit einer Freiheit nicht bloß im ‚psychologischen oder praktischen‘, sondern auch „im transscendentalen Verstande“ (A 445, vgl. 05:29) gehen, d. h. um eine ‚spontaneitas‘ nicht allein ‚secundum quid‘ (die empirisch ist), sondern (auch) ‚absoluta‘ (und die der Erfahrung sogar zu widersprechen scheint, A 803): Ließe sich die freie Willkür des Menschen nicht (auch) als eine solche spontaneitas absoluta begreifen, dann könnte man, so Kant, weder die moralische Zurechenbarkeit noch ein Handeln aus Pflicht denken – für die bloße Zweckrationalität (und somit für die Praxis präventiver Strafen und Belohnungen) braucht man dergleichen aber (noch) nicht (s. u., zum dritten Abschnitt). Vittorio Klostermann, 2019.
Anmerkungen
Das bedeutet hier selbstredend nicht, dass es unbedingt vernünftige Erwartungen (im üblichen Sinne) sind: Sie können ja u. a. auf falschen Überzeugungen beruhen. 99 Kant selbst legt diese Terminologie mitunter zumindest nahe: vgl. etwa 391.16, 393.09, 422.33; 05:24; 06:68. – Dass man den Willen hat, etwas zu tun (etwas will), bedeutet/impliziert (wenn man die in [12] exponierte Semantik ernst nimmt) ja bereits, dass man es tut (zumindest: ernsthaft zu tun versucht – und dann allenfalls an äußeren Hindernissen scheitert: Ich will die Tür öffnen, doch der Schlüssel passt nicht, ich suche dann nach dem richtigen usw. bis ich die Tür endlich geöffnet habe – oder meine Absicht ändere). Aber nur „sofern die Vernunft entscheidenden [!] Einfluss hat“ (so eine Formulierung 417), fällt beim Menschen das (subjektiv) Vernünftige mit dem tatsächlich Gewollten (also: der Vorsatz mit dem Wollen) zusammen (zu dem davon unabhängigen Unterschied zwischen ‚wollen‘ und ‚wünschen‘ s. u.). – Akrasia wäre bei Kant demnach die Unfähigkeit, sich vom Vorsatz zum Wollen ‚durchzuringen‘, also keine ‚Willensschwäche‘ (im Sinne von ‚Schwäche des Willens‘ mit einem genitivus subjectivus), sondern das Unvermögen, aktuell überhaupt einen zielführenden Willen auszubilden. – Auch alltagssprachlich trifft diese Terminologie die intendierte Unterscheidung recht genau: Ich habe die Absicht, meine Gesundheit zu fördern und nehme mir vor, dafür zweimal pro Woche durch den Stadtpark zu laufen. Ob dieser Vorsatz dann zum jeweils anstehenden Zeitpunkt tatsächlich meinen Willen bestimmt (bzw. ‚zu meinem Willen wird‘), hängt (bei den meisten Menschen zumindest) dann von der Tagesform-abhängigen Neigung zur Trägheit ab. Hat diese Neigung ‚gesiegt‘, drücken sich Absicht und zugehöriger Vorsatz z. B. in der Formel aus: ‚Um etwas für meine Gesundheit zu tun, wollte ich ja eigentlich laufen, aber …‘. 100 An dieser Stelle bietet es sich an, das mögliche Missverständnis explizit abzuweisen, bei Kant gebe es neben der theoretischen auch noch eine praktische Vernunft: Es gibt, wie er es hier ja erneut (vgl. bereits 391.27) ganz ausdrücklich behauptet, nur eine Vernunft, von der allerdings theoretisch und praktisch Gebrauch gemacht wird (das ist die dominante Redeweise bei Kant, etwa: A 633; 463; 05:50 u. ö.) – praktisch auch dann, wenn der theoretische Gebrauch in Hinblick auf das Handeln gleichsam erfolglos bleibt: Wenn die Einsicht der Vernunft mein Wollen nicht unmittelbar zu bestimmen vermag, dann drückt ebendieselbe Vernunft mitunter nur (aber immerhin: noch!) eine Nötigung aus – was dann möglicherweise vermittelt (doch noch) zum vernunftgemäßen Handeln führt (s. u. Anm. 101). Dass unsere Vernunft uns als praktische nötigt, ist also gewissermaßen Ausdruck eines grundsätzlichen Mangels sinnlicher Vernunftwesen: Wir sind eben nicht ‚göttlich‘, ratio und voluntas fallen nicht notwendig in Eins. Allerdings tritt der Mangel nicht überall in demselben Maße in Erscheinung: Ein überzeugender mathematischer Beweis etwa führt üblicherweise ‚von selbst‘ dazu, dass man fortan den bewie98
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Anmerkungen
senen Lehrsatz anerkennt und zwanglos benutzt – denn dem stehen üblicherweise keine Neigungen entgegen. – Die Kritik der praktischen Vernunft wird 1787 dann konsequenterweise durch eine ‚Kritik des gesamten praktischen Vermögens‘ (05:03) zeigen, dass auch reine (!) Vernunft für sich allein praktisch ist, d. h.: dass die reine Vernunft uns selbst dann nötigen kann, wenn wir theoretisch (also unabhängig von der sittlichen Nötigung) gar nicht erkennen können, was denn das für uns unbedingt-Vernünftige (d. h. das sittlich Gute) ist (dazu 05:06.07f. und 05:62f.: „Paradoxon der Methode“). 101 Wie man von der Nötigung (vom Müssen oder Sollen) dann ggf. doch zum Wollen kommt, lässt sich im Rahmen der empirischen Psychologie (die auch Zeitbestimmungen mit einbezieht) mitunter als das Resultat eines ‚epikureischen Nachverhandelns‘ mit sich selbst verstehen: Die abschreckende Bitterkeit wird dafür (ähnlich wie vielleicht zuvor bereits etwa eine pharmakologische Nebenwirkung) mit dem erwarteten Schmerzverlauf bewusst ins Verhältnis gesetzt (hinsichtlich Dauer, Intensität, zeitlicher Nähe &c. reflektiert), und dies führt dann zu einer Neubewertung des „Bedürfniss[es] der Neigung“ (s. o. Anm. 93), sodass man hernach die bittere Pille dann tatsächlich schlucken – oder aber die Kopfschmerzen bewusst in Kauf nehmen – will. Selbstredend bleibt stets die dritte Möglichkeit, dass man gar keinen Willen ausbildet, indem man sich ‚von dem was reizt‘ einfach treiben lässt, und so die Gelegenheit eines vernunftbestimmten Handelns verstreichen lässt (was bei nebensächlichen Angelegenheiten oft angemessen ist). – Mitunter misslingt die Überwindung einer ‚hindernden Neigung‘ durch ‚inneres Nachverhandeln‘ aber auch: Selbst bei noch so festem Vorsatz ist mir (sc. B. L.) jeder Versuch misslungen, vom 10m-Turm ins Schwimmbecken hinunter zu springen (sei es um mir selbst meinen Mut oder mein Talent zu beweisen, oder einfach um irgendjemand anderen zu beeindrucken), nicht anders, als mir auch jeder Versuch misslungen wäre, hinauf zu springen: Mein psychisches Unvermögen, den Fuß über die Kante zu bewegen, war aber genauso wenig ‚mein Grund‘ dafür, nicht hinunterzuspringen, wie mein physisches Unvermögen, die entsprechende Sprungkraft freizusetzen, „mein Grund“ dafür gewesen wäre, nicht hinaufzuspringen – die Rationalisierung: ‚Am Ende war mir der Sprung doch nicht die Überwindung wert!‘ o. ä. wäre daher reines Ressentiment gewesen, um mir und anderen (im ersten Fall) mein persönliches Unvermögen (was im zweiten Fall bekanntermaßen gar keiner Beschönigung bedürftig ist) nicht eingestehen zu müssen. 102 Strenggenommen haben Imperative demnach keine Formeln, sondern sie sind Formeln (die Formeln von Geboten nämlich). Kant weicht diese Terminologie auf, indem er etwa von verschiedenen Formeln des kategorischen/sittlichen Imperativs redet; so etwa 436.29, wo von „der allgemeinen Formel“ des Kategorischen Imperativs, also genaugenommen von einer ‚allgemeinen Formel der Formel‘ die Rede ist. 103 Die Vernunft muss hierbei (mindestens) zweierlei leisten: Damit ich mich z. B. als genötigt erkenne, meinen Regenschirm mitzunehmen, muss Vittorio Klostermann, 2019.
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Anmerkungen
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ich sowohl die ‚vernunftgenerierte‘ Überzeugung haben, dass es voraussichtlich regnen wird (allenfalls den gegenwärtigen Regen könnte ich wahrnehmen), als auch die, dass ich mich dann ggf. situationsgerecht durch einen Schirm vor der Nässe schützen kann. Hätte ich allerdings gar kein Bedürfnis trocken zu bleiben, also nicht die (mir jetzt bereits unbehagliche) Vorstellung, dass es mir später un-angenehm sein dürfte, nass zu werden, stellte sich (mangels einschlägiger Absicht) gar keine Nötigung ein. – Wie eine solche ‚Nötigung durch die Vorstellung von Zukünftigem‘ ihrerseits möglich ist, ist für Kant dann allerdings keine philosophische Frage mehr, denn wir erfahren ja, dass sie möglich ist (vgl. dazu oben Anm. 33): Wir wissen schließlich auch nicht, wie die Sonne das Wachs erweicht – in beiden Fällen kann und muss sich eine empirische Wissenschaft (Psychologie resp. Physik) damit begnügen, nach den einschlägigen allgemeinen Regeln (und deren systematischem Zusammenhang) zu suchen (A 766f.; vgl. bereits 02:203.36ff.) – dass es in einer Natur (qua Natur) allgemeine Regeln geben muss, wenn sie Gegenstand der Erfahrung ist, statuiert die zweite Analogie der Erfahrung (A 189). 104 Im obigen Text wurde bislang eine solche Möglichkeit der Bestimmung durch die Vernunft „an sich selbst“ noch nicht eigens thematisiert (außer einmal indirekt in Anm. 97), sondern nur diejenige Willensbestimmung, welche sich einstellt, wenn man etwas ‚als Mittel zu etwas anderem‘ will. Diese ist philosophisch unproblematisch, weil empirisch zugänglich (s. o. Anm. 103), und wird den Menschen von sämtlichen einschlägigen Autoren zugestanden. An ihr lässt sich bereits das für Kants allgemeine Theorie der Imperative herangezogene Verhältnis von Vernunft- und Neigungsbestimmung erörtern. Damit kann der Eindruck verhindert werden, es ginge Kant bereits ab Absatz [12] nur um die Strukturen sittlicher Gebote in specie. 105 Wenig später (420.36ff.) wird Kant dann „objective“ und „subjektive Principien zu handeln“ unterscheiden, und die letzteren als „Maximen“ bezeichnen, nur die ersteren als „Gesetze“ und „Imperative“. Diese Unterscheidung bezieht sich demnach dann wesentlich auf die Funktion, die ein gedachtes „objectives Prinzip der Vernunft“ (im Sinne von [14]) jeweils hat: Ob ein solches aktuell das Prinzip einer Handlung ist (Maxime) – oder ob es vielmehr das Handlungsprinzip (auch) sein soll (Gesetz). 106 Diese Kurzform erzeugt eine (möglicherweise irritierende) terminologische Ähnlichkeit mit der Unterscheidung von ‚kategorischen Urteilen‘ und ‚hypothetischen Urteilen‘ (vgl. Logik §§ 23ff.; 09:104ff.); das bedeutet allerdings weder, dass hypothetische Imperative die logische Form hypothetischer Urteile hätten (dazu später), noch, dass zusätzlich mit ‚disjunktiven Imperativen‘ zu rechnen wäre. – Da die kategorisch-gebietenden Imperative für Kant zuvor auch „absolut“ „necessitiert“ haben (siehe: 19:126, 285; 27:247, 257, 400, 408), wird man allerdings davon ausgehen, dass er sich bei der Einteilung der Imperative ursprünglich (vgl. 02:298) gar nicht unmittelbar an den (logischen) Urteilsfunktionen (siehe A 70) der Relation orientiert hat, sondern
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Anmerkungen
vielmehr direkt an sachlich näherliegenden (metaphysischen) Unterscheidungen, wie etwa an der von necessitas absoluta/hypothetica (17:48 [=Baumgarten, Metaphysica § 101f.]); siehe z. B. auch jus naturae absolutum vs. ius naturae hypotheticum in der praktischen Philosophie (19:326; vgl. auch 17:202) oder “…si voto voluntas declaratur […] hypothetica, hypotheticum, si absoluta, categoricum [dicitur.]” (19:341 [=Achenwall, Ius naturalis, pars posterior, § 26]). 107 Kant denkt hier auch an mathematische (417.18), soziale (419.23) und institutionelle (05:11.15f.) Einsichten bzw. Urteile. Sogar bloß-logische oder semantische (‚Erläuterungsurteile‘) könn(t)en ins Spiel kommen (‚Wenn Du Junggeselle bleiben willst, darfst Du nicht heiraten!‘) – doch Kant scheint hier primär synthetische Erweiterungsurteile im Blick zu haben (417.15f.). 108 Deutlich die Formel in der Kritik der reinen Vernunft: „Glückseligkeit ist die Befriedigung aller unserer Neigungen (sowohl extensive der Mannigfaltigkeit derselben, als intensive dem Grade und auch protensive der Dauer nach). Das praktische Gesetz aus dem Bewegungsgrunde der Glückseligkeit nenne ich pragmatisch (Klugheitsregel)“ (A 806). – Ob ein solcher Glückseligkeitsbegriff etwa die antiken Varianten der Eudaimonia abbildet, sei dahingestellt. 109 In der Anthropologie heißt es: „Endlich ist der moralische Egoist der, welcher alle Zwecke auf sich selbst einschränkt, der keinen Nutzen worin sieht, als in dem, was ihm nützt, auch wohl als Eudämonist blos im Nutzen und der eigenen Glückseligkeit, nicht in der Pflichtvorstellung den obersten Bestimmungsgrund seines Willens setzt […]. Alle Eudämonisten sind daher praktische Egoisten.“ (07:30) – Diese letzte Behauptung gilt unabhängig von der spezifischen Fassung des Eudaimonia-Begriffs und findet ihren prominentesten Ausdruck in der (platonisch-)augustinischen Ausrichtung der Moral auf die Sorge um das Heil der eigenen unsterblichen Seele (s. etwa Augustinus, de vera religione III.3). 110 Auch jede neigungsabhängige „praktische Nothwendigkeit“ macht die infrage stehende Handlung „nothwendig“: Der Zweckbedingtheit wegen allerdings eben nicht „objectiv-nothwendig“ (416.27), wie es eine Pflicht täte, die ja eine „praktisch-unbedingte Nothwendigkeit der Handlung“ sein soll (425.16; vgl. 420.03ff.). 111 Dazu Logik, § 113 (09:147). 112 In einer Fußnote zu Abschnitt I der sog. ‚Ersten Einleitung in die Kritik der Urteilskraft‘ (20:200) übt Kant 1790 Kritik an seiner Einteilung der Imperative in der Grundlegung: Er beklagt zunächst, dass die Rede von „problematischen Imperativen“ widersprüchlich sei. Das kann man durchaus nachvollziehen, denn bloß-möglich sind nur die infrage stehenden Zwecke/Absichten, nicht aber die Imperative selbst: Sofern sie überhaupt Imperative sind, gebieten sie selbstverständlich wirklich (sie sind ja die Formeln von Geboten, [13]). – Ferner merkt Kant an, dass er sie besser „technisch, d. i. Imperativen der Kunst“ hätte nennen sollen. Das kann man weniger nachvollziehen, weil Kant sie seinerzeit ja bereits genau so genannt hat: Vittorio Klostermann, 2019.
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Anmerkungen
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416.29. – Bemerkenswert ist diese Fußnote zudem, weil sie für uns die einzige zur Veröffentlichung vorgesehene Passage mit einer expliziten Selbstkorrektur Kants ist; veröffentlicht hat er auch sie dann allerdings nicht. 113 Terminologische Konstanz hat bei Kant offenkundig keine hohe Priorität: Bei Zitaten kann es deswegen mitunter sogar wichtig sein, wo die zitierte Passage innerhalb der gedanklichen Entwicklung einer Schrift steht (und nicht bloß, aus welcher Schrift bzw. Zeit sie stammt, s. u. Anm. 164). 114 Anders als ‚Gebot‘ und ‚Gesetz‘ (s. o.) wird ‚sollen‘ von Kant also durchweg auch weiterhin gleichermaßen für die moralische und für die nichtmoralische Nötigung verwandt. – Letztlich geht es hier gewiss nur um die terminologische Frage, ob man (s. o.) die Ausdrücke „Praktische Nötigung“ und „Sollen“ per definitionem gleichsetzt (und anschließend dann zwischen zwei Arten des ‚Sollens‘ differenziert), oder ob man die „Praktische Nötigung“ von Vorneherein in die beiden Unterarten „Sollen“ und „Müssen“ einteilt (wobei die Rede von einem ‚naturbedingten Müssen‘ – auch wenn man mit ihr erfahrungsgemäß vorübergehend alberne Assoziationen wecken kann – inhaltlich angemessen wäre). Der Sache nach ändert sich dabei nichts. – In der Einleitung in die Kritik der Urteilskraft wird Kant dann in die zweite Richtung tendieren und sogleich strikt zwischen „technisch-praktischen“ und „moralisch-praktischen“ Vorschriften unterscheiden – und diese dann der Natur- resp. der Freiheitslehre zuweisen, zwei „Gebieten“, die durch eine „unübersehbare Kluft“ getrennt sind (05:171ff.). 115 Von dieser Annahme macht Kant etwas später (im Zuge der Kontrastierung mit den kategorisch-gebietenden Imperativen) explizit Gebrauch (in [26-27]). Siehe auch oben Anm. 103. 116 Zum Folgenden ausführlicher (aber auch seinerzeit noch ein wenig umständlich): Ludwig 1999. 117 Diese Klausel ist erforderlich, weil das Wollen des Menschen „seiner Natur nach nicht notwendig“ „an sich völlig der Vernunft gemäß“ ist (siehe [12]): Der Wille zum Zweck schließt zwar (analytisch) den Vorsatz ein, das Mittel einzusetzen (vgl. o. Anm. 99 zu: ‚Vorsatz‘ vs. ‚Wille‘). Aber nur dann, wenn (beim Menschen) die Vernunft nicht durch eine unmittelbare Neigung an der Handlungsbestimmung gehindert wird, fällt dieser Vorsatz dann auch mit dem Willen zusammen (demnach kann der Mensch den Zweck nur dann vollumfänglich wollen, wenn er auch das Mittel will). 118 Bei der Erörterung der unvollkommenen Pflichten kommt diese Überlegung erneut zum Zuge (s. u. zu [37/38]). 119 ‚Analytisch‘ und ‚synthetisch‘ sind e definitione (A 6) Prädikatsausdrücke für Urteile der Subjekt-Prädikat-Form, also für kategorische Urteile in specie. Eine direkte Anwendung auf Imperative wäre daher zunächst einmal so wenig verständlich wie z. B. auf Fragen oder Ausrufe: Insbesondere ist ein „analytisch-praktischer Satz“ definitiv kein „Erläuterungsurteil“ o. ä. 120 Ob Kant diese Stelle tatsächlich vor Augen hatte, spielt keine Rolle. Es geht hier nur um den Hinweis, dass die Lesart seinerzeit gängig war. Vittorio Klostermann, 2019.
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Nur die den Imperativen zugrundeliegenden Annahmen über den ZweckMittel-Zusammenhang sind hypothetische Urteile (Konditionale), und diese würden aussagenlogisch dabei dann zweckmäßigerweise etwa in der ‚symmetrischen‘ Gestalt: vorgestellt, um so die Gleichwertigkeit der beiden Glieder der Alternative: ‚Mittelergreifung‘ und ‚Zweckverzicht‘ gleichsam direkt vor Augen zu stellen. 122 Da alle Imperative entweder kategorisch oder hypothetisch gebieten (s. o.), letztere an dieser Stelle aber in einen Iterationsprogress führten (‚Wenn … dann [wenn … dann [wenn …] ]‘), bleibt keine andere Option. 123 Kants hypothetische Imperative sind (qua Zweckabhängigkeit) grundsätzlich adressatenabhängig: Für diejenigen, die z. B. gar nicht Klavierspielen lernen wollen (oder gar sollen) ‚gibt‘ es auch den Imperativ: ‚Übe Klavier!‘ nicht (siehe: „Das ist nicht ein Imperativ für jeden, sondern unter der Bedingung, dass man einen besonderen Zweck […] erwerben will.“, 27:1323). 124 Es spielt im Grunde keine Rolle, woher dieser Vorbehalt kommt, entscheidend ist nur, dass er nicht bereits im Vorsatz Niederschlag gefunden hat (dann gäbe es gar keine Nötigung, sondern von vornherein eine andere Absicht). Er kann also durchaus auch ein Unbehagen ausdrücken, das letztlich auf moralische Skrupel zurückgeht (wobei Kant darüber nichts sagt, weil er m. W. auf Fälle pflichtwidriger Vorsätze nirgendwo näher eingeht). 125 Gegen hypothetische Imperative kann man sensu stricto demnach genauso wenig ‚verstoßen‘ wie gegen Naturgesetze. Man kann nur (unwissentlich oder trotzig) versuchen, einen Zweck unter Verzicht auf das dafür notwendige Mittel zu realisieren – aber man wird dann eben unvermeidlich scheitern (und dieses Scheitern hernach mit Verweis auf das einschlägige Zweck-Mittel-Konditional erklären; s. o. Anm. 121). Dass man hingegen gegen kategorische Imperative erfolgreich verstoßen kann (wie etwa auch gegen Spielregeln oder ‚Gesetze‘ der Logik: man kann z. B. Fehler tatsächlich machen – sogar unbemerkt) ist problemkonstitutiv für die Normativität der Moral (andernfalls wären ja Gebote wie Verbote gegenstandslos). Hypothetischen Imperativen können wir allerdings ‚ausweichen‘, indem wir (bevor wir gänzlich scheitern) unsere Absichten unter deren ‚Druck‘ revidieren bzw. unser ‚Wollen‘ ggf. zum ‚Wünschen‘ herabstufen: Sie drücken (für Kant) eben kein (normatives) ‚Sollen‘, sondern ein (natürliches) ‚Müssen‘ (s. o. Anm. 114) aus, d. h.: die (vor-moralische) praktische Notwendigkeit, nicht allein konsistent, sondern auch sachgerecht zu wollen. Für Kant geht es beim Wollen (anders als beim bloßen Wünschen) um die eigene „Causalität“ (siehe dazu auch unten Anm. 141), und diese steht nicht (nur) unter logisch-semantischen Restriktionen (wie das Denken), sondern (zusätzlich) unter solchen naturgesetzlichen, die sich für Kant – gegen Leibniz/Wolff – gerade nicht auf erstere zurückführen lassen. 126 In Bezug auf die Möglichkeitsfrage ist es unerheblich, ob von einem oder von mehreren kategorischen Imperativen die Rede ist. Mit Kant werden 121
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wir im Folgenden – je nach Zitatenlage – mal den Singular, mal den Plural verwenden. Wenn Kant von „dem“ kategorischen Imperativ spricht, dann tut er dies in der Regel, um das allgemeine Moralprinzip im Unterschied zu einzelnen kategorischen Geboten (wie etwa: ‚pacta sunt servanda‘) hervorzuheben. 127 Kant bezeichnet den synthetisch-praktischen Satz in der Folge auch als ‚synthetischen praktischen Satz‘ (444) oder als ‚synthetischen Satz‘ tout court (440, 454). Fraglos ist diese Um-Etikettierung (der keine inhaltliche Ausdifferenzierung zugrunde liegt) dem Willen zur (sprachlichen) Assimilierung der Rechtfertigungsprobleme bei synthetisch-praktischen Imperativen und bei synthetischen Urteilen geschuldet. – Allerdings ist das nicht ganz unproblematisch, denn im Falle des ‚synthetisch-praktischen Satzes‘ ist ‚synthetisch‘ kein (zweites) Adjektiv zu ‚Satz‘ (sc. ‚synthetisch und praktisch‘), sondern eine (modal-)adverbiale Bestimmung zu ‚praktisch‘ (bzw. der Bestandteil eines Determinativkompositums ‚synthetisch-praktisch‘): Nicht der Imperativ selbst ist nämlich synthetisch, sondern allenfalls das Urteil über seinen (möglichen) ImperativCharakter: Imperative sind definitiv keine Urteile. Das weiß freilich auch Kant (selbst wenn er es nicht immer deutlich macht), denn bei den hypothetisch-gebietenden Imperativen heißt es ja ganz ausdrücklich: Das Urteil: ‚Wer den Zweck will, will […] das Mittel‘ ist analytisch – der Imperativ selbst dagegen ist ein „analytisch-praktischer Satz“ (s. o. Anm. 119). – Diese Begrifflichkeit ist ganz speziell auf Kants Problemexposition von GMS III zugeschnitten und taucht (vermutlich deshalb) in seinen späteren Schriften auch nicht wieder auf (s. u. Kap. V). 128 Ausführlich heißt es in einer „Vorschrift für jeden andern Versuch, intellectuelle und zugleich synthetische Sätze a priori zu beweisen“: Das Dritte ist die „Möglichkeit der Erfahrung als einer Erkenntniß, darin uns alle Gegenstände zuletzt müssen gegeben werden können, wenn ihre Vorstellung für uns objective Realität haben soll. In diesem Dritten nun, dessen wesentliche Form in der synthetischen Einheit der Apperception aller Erscheinungen besteht, fanden wir Bedingungen a priori der durchgängigen und nothwendigen Zeitbestimmung alles Daseins in der Erscheinung, ohne welche selbst die empirische Zeitbestimmung unmöglich sein würde …“ (A 217) – 1781 gibt Kant noch keine Hinweise darauf, dass seine praktische Philosophie eigene synthetische Sätze a priori kennen wird, bei denen dann ein anderes „Drittes“ die Synthesis stiften könnte. Daher beziehen sich Formulierungen wie die genannte ausschließlich auf die theoretische Erkenntnis. 129 Damit ist auch die seit langem diskutierte Frage, ob es sich bei den nachfolgenden Erörterungen (421 – 437) bloß um ein – systematisch letztlich entbehrliches – „ethical interlude“ (Duncan 1957, 167f.) handelt (dazu Porcheddu 2016, 16), abschlägig beantwortet. – Allerdings ist gleichermaßen ausgeschlossen, dass Kant hier (etwa mit Hilfe der drei zusätzlichen Imperativ-Formeln, s. u.) bereits irgendwelche metaphysischen Begründungsoder Erklärungsansprüche einlösen will: Dergleichen wird hier zwar bereits Vittorio Klostermann, 2019.
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Anmerkungen
vorbereitet, aber in [29], [57], [59 Fn.], [81] und [90] ganz ausdrücklich bis zum dritten Abschnitt vertagt. 130 Es gibt in der Grundlegung über zehn Formulierungen des sittlichen Imperativs, die sich z. T. bloß in grammatischen Details unterscheiden; inwieweit sich dahinter subtile Kantische Distinktionen verbergen könnten, war kontrovers (dazu Geismann 2002, mit Rekurs auf Reich 1935) und kann hier unerörtert bleiben. Im Folgenden ist mit Kant von vier „Formeln“ (436.09&30: 3+1=4) bzw. „Principien“ (431.12ff., 421.10) die Rede. 131 Kant formuliert das „dritte praktische Prinzip“ zunächst [55] nur über den ‚allgemein-gesetzgebenden Willen‘, dann [56] mittels ‚Selbstgesetzgebung‘ und bezieht es/sie erst später [61/75] explizit auf das ‚Reich der Zwecke‘ (s. u.). 132 In der Literatur hat sich statt dieses Kantischen Ausdrucks seit langem auch der Terminus „Universalisierungsformel (UF)“ eingebürgert (siehe jüngst noch Porcheddu 2016, 44). Es wird unten deutlich werden, warum das irreführend ist. 133 Allein aufgrund dieser Formulierung ergibt es keinen rechten Sinn, neben die vier Formeln noch eine ‚Autonomie-Formel‘ (als fünfte) zu stellen, zumal bei Kant auch sonst nirgendwo davon die Rede ist (so aber u. a. Schönecker/Wood 2002, 123f.; dagegen Porcheddu 2016, 50ff.). – Systematisch drückt das „Princip der Autonomie“ vielmehr (‚metaethisch‘) das Gemeinsame der vier Formeln aus, ohne dabei von Kant als eine besondere „Formel“ behandelt zu werden (s. u. zu [56ff.]). 134 Später heißt es daher, es seien „so alle [!] Pflichten, was die Art der Verbindlichkeit (nicht das Object ihrer Handlung) betrifft, durch diese Beispiele in ihrer Abhängigkeit von dem einigen Princip vollständig [!] aufgestellt worden“. (424) 135 In der Metaphysik der Sitten von 1797 (06:390.09ff.) wird Kant unvollkommene Pflichten u. a. dadurch charakterisieren, dass sie keine bestimmten Handlungen (bzw. Handlungsergebnisse) vorschreiben (weil sie sich wechselseitig untereinander einschränken können) und damit bei der Erfüllung einen „Spielraum“ eröffnen: Während mich ein Versprechen z. B. dazu verpflichtet, einer bestimmten Person ein bestimmtes Gut zu einem bestimmten Zeitpunkt zukommen zu lassen, kann ich meiner allgemeinen Hilfspflicht auf unterschiedliche Weisen, in unterschiedlichem Maße, gegenüber unterschiedlichen Personen und zu unterschiedlichen Zeiten nachkommen (dabei z. B. die Forderungen der allgemeinen Nächstenliebe durch die der Elternliebe einschränken). Kants Bemerkung, dass eine vollkommene Pflicht „keine Ausnahme zum Vortheil der Neigung verstattet“ (421 Fn. 2), wird sich, wenn sie den Begriff der unvollkommenen Pflicht nicht geradewegs ad absurdum führen soll, also wesentlich darauf beziehen, dass man bei deren Erfüllung grundsätzlich einen Spielraum hat, gemäß eigener Neigungen zwischen verschiedenen Weisen der Befolgung zu wählen und sich damit von
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Anmerkungen
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bestimmten Weisen eher ‚auszunehmen‘: Ich darf das zwar bereits einem Dritten versprochene Auto nicht einfach meinen bedürftig(er)en Eltern überlassen, ich darf gleichwohl meinen geliebten Eltern, wenn sie bedürftig sind, bevorzugt helfen. Die noch u. a. in Ludwig 2013b, 78 geäußerte Vermutung einer inhaltlichen Revision nach 1785 war daher überzogen: In der genannten Fußnote wollte Kant sicherlich keine extravagante Definition der unvollkommenen Pflichten liefern, sondern nur darauf hinweisen, dass er auch vollkommene Pflichten gegen sich selbst (d. h. innere) behandeln will – eine Neuerung, an der er dann später festhalten wird (siehe 06:240, 06:421). 136 Ich schließe mich mit dieser Behauptung etwa Reich 1935, 37ff. an – allerdings ist das argumentative Eis recht dünn, denn eine einschlägige positive Bezugnahme auf die Stoa gibt es hier zunächst nicht. 1798 wird dann allerdings „(naturae convenienter vive), d. i. erhalte dich in der Vollkommenheit deiner Natur“ als „der erste Grundsatz der Pflicht gegen sich selbst“ explizit in die kantische Tugendlehre integriert (06:419). – Die intendierten Bezüge der zweiten und dritten Lehr-Formel auf überlieferte Moralkonzeptionen sind dann wesentlich deutlicher (s. u.) und stützen so ex post noch einmal die These vom ‚stoischen Hintergrund‘ der ersten Formel. 137 Hiermit ist allerdings eine teleologische Deutung der „Selbstliebe“ genannten Neigung vorausgesetzt, die (wie auch immer sie zu rechtfertigen wäre) definitiv über einen bloß-formalen Naturbegriff hinausgeht. 138 Das „zugleich“ steht an dieser Stelle genaugenommen für eine (gleichsam zeitenthobene) logische (Regel-)Konjunktion (für ein „mit ihr bestehen“-Können, 434.11) – ähnlich wie es ja auch beim Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch gemeinhin der Fall ist (dazu A 152; ich danke Toma Radu, Göttingen, für den Hinweis). 139 Vgl. auch oben zu Absatz [18] des ersten Abschnitts, wo dasselbe Argument bereits ohne Rekurs auf die Natur-Analogie präsentiert wird. – In der Naturrechtsvorlesung von 1783/84 (27:1326f.), in der Kritik der praktischen Vernunft (05:27f.) und im Gemeinspruch (08:287) erörtert Kant, ob ich ein „in meinen Händen“ befindliches, zeugnisloses „Depositum ableugnen dürfe“ (auch ein Fall bzw. eine Variante von ‚Versprechens-Untreue‘), ob es mir also erlaubt wäre, in diesem Fall meiner Maxime zu folgen, die da lautet, mich schadlos zu bereichern, wo (bzw. immer wenn) das möglich ist. Es steht damit folgende Prüfung an: Angenommen, ich machte meine Maxime (zugleich) zum allgemeinen Gesetz, es wäre damit also (jedem jederzeit) erlaubt, u. a. Deposita um der Bereicherung willen (oder anlässlich irgendwelcher „Neigungen“) ‚abzuleugnen‘, käme dann überhaupt irgendein Depositum zustande? Offenkundig nicht, denn unter dieser Bedingung fände kein (potentieller) Depositums-Nehmer je einen Depositums-Geber (ob man gleichwohl irgendwelche ‚gesetzesunkundigen Trottel‘ mit einer dann unverbindlichen Rede von ‚Deposita‘ um Hab und Gut bringen kann, spielt hier, als eine abseitige empirische Frage, keine Rolle – und würde mit der Naturgesetzformel
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Anmerkungen
letztlich sogar dezidiert ausgeschlossen): Die vermeintliche Institution ‚Depositum‘ wäre dann sensu stricto gegenstandslos, „denn alsdenn würde keiner [!] was deponiren“ (27:1327), und meine Maxime würde „sich selbst vernichten“: Das infrage stehende Depositum, welches ja „der Fall meiner Maxime“ sein soll, hielte ich also erst gar nicht „in meinen Händen“. – Ob es darüber hinaus auch sittlich-notwendig (oder auch nur eudämonistisch-segensreich) sein könnte, dass es die Institution des Depositums (oder gar das Eigentum – so Hegels bekannter Einwurf im Naturrechtsaufsatz; II,462) überhaupt gibt, steht im Rahmen dieses Arguments (bei dem es ja nur darauf ankommt, dass ich ein Depositum hier und jetzt ‚in Händen halte‘) definitiv nicht zur Debatte (und weil „der gemeinste Verstand ohne Unterweisung“ eine solche Frage sicherlich nicht kompetent entscheiden kann, hat Kant diese mit gutem Grund in seine Metaphysische[n] Anfangsgründe der Rechtslehre vertagt; s. 06:245ff.): Auch das berechtigte Schwarzfahrverbot in der Geisterbahn auf dem Oktoberfest macht ja nicht bereits ein derartiges Fahrgeschäft für jeden deutschen Rummelplatz obligatorisch. – Subtiler und voraussetzungsreicher als die soeben angebotene, knappe Rekonstruktion (die, was die Lokalisierung des ‚Widerspruchs‘ betrifft, den beiden Versprechens-Argumentationen in der Grundlegung gleicht) kann diejenige Depositum-Argumentation, welche Kant selbst vorschwebte, nicht gewesen sein (unabhängig davon, ob seine Leser sie nun für tragfähig halten oder nicht), denn er behauptet schließlich, man würde ihrer Konsequenz im Rahmen seiner Ausführungen „sofort [!] gewahr“ (diese Kantische ‚Illusion‘ [vgl. o. Anm. 36] macht die neuere Diskussion, so wie sie etwa bei Gutschmidt 2016 dokumentiert ist, nicht mehr nachvollziehbar). 140 Der Sache nach spricht m. E. nichts dagegen, dieses ‚Prinzip‘ in hiesigem Kontext als eine (zweite) ‚Maxime‘ zu bezeichnen. Die Argumentation würde dadurch etwas übersichtlicher, denn in beiden Fällen ließe sich der Widerspruch als der zwischen einer Maxime und einem Gesetz beschreiben. Die Maxime ist im Fall der vollkommenen Pflichten bereits ebenjene, die zur Prüfung ansteht, und die ein vernünftiges Wesen kontingenterweise annehmen kann oder nicht. Im Fall der unvollkommenen Pflichten wäre es dagegen eine solche Maxime zweiter Stufe, die jedes vernünftige Wesen als ein solches notwendigerweise hat. – Dieses ‚notwendigerweise‘ kann allerdings angesichts der Rede von Maximen als ‚subjektiven Principien des Wollens‘ (etwa 400 Fn.) zu Irritationen führen (zumindest dann, wenn man etwa die jeweils einschlägigen Kontrastbegriffe zu ‚subjektiv‘ und ‚notwendigerweise‘ ungenau bestimmt). Diese Redeweise ist oben im Text gemieden, um zu zeigen, dass von ihr nichts abhängt. 141 Eine solche (nicht-moralische!) ‚Selbstbindung‘ jedes prinzipiengeleiteten Begehrungsvermögens, d. h. jedes Willens im kantischen Sinne von [12], findet ihren grundsätzlichen Ausdruck in jenen hypothetischen Imperativen, mit denen sich ein Wollender jeweils konfrontiert sieht (sc. ‚analytisch-praktischer Satz‘). Dabei spielt es auch keine Rolle, ob z. B. ein infrage stehender Vittorio Klostermann, 2019.
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Anmerkungen
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Zweck aus Pflicht oder (nur) aus Neigung gewollt ist: Wenn ich (jetzt oder später) überhaupt irgendetwas will, dann will ich (mit der oben in Anm. 117 erörterten Qualifikation) für Kant stets auch das jeweilig notwendige Mittel. – Soweit ich sehe, gibt es im hiesigen Kontext keine andere Rekonstruktion, die Kants Rede von „nothwendig-“ bzw. „unmöglich-“ wollen [423.14 und 30] (sowie die zugehörigen ‚Widersprüche‘) unter Rückgriff auf allein solche Voraussetzungen nachvollziehbar machen könnte, die in der Grundlegung selbst entfaltet werden. Jedenfalls wird man nicht ohne Not mit irgendwelchen neigungsabhängigen Gründen operieren – was Kant ja am gegebenen Ort auch noch einmal ausdrücklich abweist, indem er 423.13 „als ein vernünftiges [!] Wesen“ (nicht etwa: ‚als ein mit Naturnotwendigkeit nach Glückseligkeit strebendes Wesen‘) und in 423.33 „bedarf“ (und erst als Folge dann „wünscht“) schreibt – und dann bleibt aber nur irgendeine Art notwendiger ‚rationaler Selbstbindung‘ eines Willens. Eine solche ist im Grunde ohnehin ein Gemeinplatz und wird zuvor etwa in Bezug auf den göttlichen Willen im Naturrecht intensiv diskutiert (dazu etwa Oakley 2002): Wenn Gott z. B. etwas offenbaren will, dann will er (als vernünftiges Wesen) notwendig auch die Wahrheit sagen (sonst wäre es ja keine Offenbarung): Seine Macht ist zwar absolut, aber ebendarum nicht regellos – aber diese Regeln sind keine moralischen. 142 Die „Unvollkommenheit“ der Pflicht rührt also letztlich daher, dass hier in der Sache (nicht in der Darstellung: dort steht dieser Punkt als eine mit „Denn …“ angeschlossene Prämisse am Ende) nicht von einer zu prüfenden Maxime ausgegangen wird, sondern von einem notwendigen Prinzip (in diesem Fall kurz: ‚Handlungsmöglichkeiten offenhalten‘) und einer zu diesem im Widerspruch stehenden Norm (‚Talente darf man verkümmern lassen‘), welche man dann als die allgemeine Gesetzesform zahlreicher (ihrerseits nun allesamt pflichtwidriger) Maximen auffassen kann (als da wären: ‚ich lerne keine Sprachen‘, ‚ich treibe keinen Sport‘, ‚ich erlerne kein Musikinstrument‘ &c.). Weil man nun unmöglich alle diese Maximen zugleich ablegen kann (um so fortan jedes einzelne der Talente zu kultivieren) – ultra posse nemo obligatur –, darf man einzelne der Maximen um des Verzichts auf andere willen beibehalten (und z. B. sein bescheidenes musikalisches Talent unentwickelt lassen, um sich auf das Lernen von Sprachen fokussieren zu können) – und gerade diese Möglichkeit wechselseitiger Einschränkung ist ein Kennzeichen unvollkommener Pflichten (vgl. oben Anm. 135). 143 Diese Hoffnung ist für Kant demnach nicht der Ausdruck einer besonderen (sinnlichen) Neigung (vgl. dazu oben Anm. 66). 144 Vgl. 430.33ff.: John L. Mackie z. B. wendet (entsprechend sinngemäß) ein, man könnte auch aufgrund eines ‚heroischen‘ Charakters jede fremde Nothilfe für seine Person grundsätzlich ablehnen und folglich durchaus wollen, dass eine entsprechende Gleichgültigkeit zum Naturgesetz würde (Mackie 1977, Kap. 4.4). Auch Kant geht ja davon aus, dass man diese Haltung als solche zunächst widerspruchsfrei denken kann (424.03ff.), würde aber darauf bestehen, dass die (idiosynkratische) Maxime genereller Vittorio Klostermann, 2019.
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Anmerkungen
Hilfsverweigerung bei einem vernünftigen Sinnenwesen dem für ein solches Wesen notwendigen (also weder beliebigen noch neigungsgegründeten!) Prinzip des Annehmens unverzichtbarer Hilfe widerspräche. Im vierten Beispiel geht es der Sache nach um den konsequenten Egoisten (der sich den Beistand anderer „wünscht“, ohne selbst je Hilfe anzubieten), nicht aber um das Konstrukt eines heroischen Hasardeurs, der im Sinne der Begriffsbestimmung [12f.] ja nicht einmal einen Willen hätte: Er würde z. B. jeden (!) seiner Zwecke aufgeben, sobald sich herausstellte, dass er ihn nicht ohne die Hilfe anderer realisieren kann. Er wäre im alltäglichen Wortsinne ‚unvernünftig‘ bzw. ‚willenlos‘ (und/oder ‚konsequent asozial‘), sodass für ihn die Frage moralischer Maßstäbe erst gar nicht aufkäme: Für Kant stellte er vermutlich, wie z. B. auch für Aristoteles und David Hume (s. o. Kap. I.1.b) oder Bernard Williams (Williams 1985, Kap. 2), eher eine sozialpädagogische als eine moralphilosophische Herausforderung dar. 145 Von ‚universalitas‘ gibt es überhaupt keine verbalisierten Formen (und auch nur wenige Eindeutschungen; etwa: 17:711, 19:172) und von „verallgemeinern“ ist nur einmal (und zwar in einem mathematischen Kontext; 05:177 Fn.) die Rede. – Da es im hiesigen Kontext um die Form der Allgemeinheit, genauer: um die ‚Allgemeingültigkeit als eines Gesetzes‘ (438 u. ö.) geht, wäre daher zumindest neologistisch von ‚Verallgemeingültigung‘ (o. ä.) zu reden, um den Normcharakter nicht zu unterschlagen. Zudem ist eine solche ‚Universalisierung‘ allenfalls der erste Teilschritt bei einer Anwendung der Formel. – Vgl. dagegen aber die Übersicht über verschiedene Interpretationen bei Horn/Mieth/Scarano 2007, 231f., wo durchweg von ‚Verallgemeinerung‘ bzw. ‚Universalisierung‘ die Rede ist – oder exemplarisch die technische Arbeit von Hoche/Knoop 2010, die mit dem Rekonstruktionsvorschlag „If and only if I can want [intend] everybody to do] F I morally may do F“ für den kategorischen Imperativ einsetzt – ohne anzuzeigen, an welche kantische Formulierung etwa das „everybody to do [!]“ anknüpfen soll. 146 Das ist der Fall bei Anwendung der allgemeinen Formel; bei der ‚versinnlichenden Analogie‘ der Naturgesetzformel wäre es sogar eine unverfügbare Handlungsrestriktion (und erst damit könnte dann überhaupt die Frage ins Spiel kommen, was der Fall wäre, wenn alle tatsächlich unter Ausnutzung des gesetzlichen Spielraums handelten, so etwa: 423.23ff.). 147 Bei den vollkommenen Pflichten wird ja zum Zwecke der Prüfung angenommen, dass er diese Maxime aktuell zu der seinen machen will; bei den unvollkommenen kommt (s. o.) neben dieser (zugleich als Gesetz gedachten) Ausgangsmaxime noch jeweils ein zweites, nun aber für jedes vernünftige Wesen seinerseits „nothwendiges“ Prinzip ins Spiel. In keinem der beiden Fälle geht es also darum, dass sich der Widerspruch bereits aus irgendeiner ‚Universalisierung einer Maxime‘ o. ä. ergibt (als eine Art ‚Widerspruch im Begriff‘). Vielmehr muss das aus irgendeiner Maxime gebildete allgemeine Gesetz irgendeinem Prinzip widersprechen, das der Reflektierende selbst „zugleich“ zu haben Vittorio Klostermann, 2019.
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Anmerkungen
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annehmen muss (‚Widerspruch im Wollen‘: „Man muß wollen [!] können […] ist der Kanon der moralischen Beurtheilung …“ (424.01f). Nicht-denken-können impliziert zwar bereits Nicht-wollen-können, aber Denken-können allein reicht umgekehrt für die Pflichtgemäßheit noch nicht hin. 148 Die Ambiguität im Gesetzesbegriff wird dabei von Kant gezielt eingesetzt – wie die Naturgesetzformel zeigt. 149 Dieses selbst wird in der ‚Sinnenwelt‘ möglicher Erfahrungen vorgestellt und kann daher mit der von Kant später (im dritten Abschnitt) dann bemühten ‚intelligiblen Welt‘ noch nichts zu tun haben (auch wenn man etwa 424.20f. so lesen könnte). 150 Auch wenn es z. B. um des grünen Rasens im Park willen verboten werden soll, den Rasen zu betreten, dann kann man das nicht damit begründen, dass der Rasen zugrunde ginge, ‚wenn das alle täten‘ (was ja – ganz gleich ob damit sämtliche Menschen dieser Erde oder nur die ortsansässigen Parkbesucher an heiteren Sommertagen gemeint sind – überhaupt nicht möglich, geschweige denn zu erwarten ist), sondern nur damit, dass, wenn es nicht allgemein (eigens befugte Gärtner &c. ausgenommen) verboten wäre, erfahrungsgemäß (!) so viele ihn betreten würden, dass er darüber zugrunde ginge. – Gebote und Verbote dieser Art (insbesondere solche, die öffentliche Güter betreffen) kann man mit den bisherigen Mitteln allerdings noch gar nicht angemessen diskutieren, denn gemäß Kant beziehen sie ihre Geltung mitunter gar nicht daraus, dass sie aus dem Kategorischen Imperativ direkt abzuleiten wären. Sie werden ggf. positiv statuiert von einer äußeren Gesetzgebung (hier etwa repräsentiert von der Parkverwaltung, dem privaten Eigentümer &c.), deren einschlägige Normsetzungs-Autorität in letzter Instanz dann durch den kategorischen Imperativ (das moralische, bzw. das natürliche Gesetz) legitimiert ist. Das ist dann erst Gegenstand der Rechtslehre (dazu: 06:224.27f. und 06:227.10ff.): Beim Handeln im Rahmen von legitimen Institutionen kann (und darf) man daher in der Regel nicht einfach direkt ‚nach der allgemeinen Formel‘ über Pflichtmäßigkeit und -widrigkeit entscheiden (dazu: 06:370f.), und man muss es andererseits auch nicht – insofern dienen Institutionen auch der intellektuellen Entlastung. 151 Dass es in der Grundlegung mitunter stenographische Formulierungen gibt, die auch mit einer ‚Universalisierungs‘-Deutung durchaus kompatibel wären, kann und soll hier nicht bestritten werden (so etwa: 424.04 oder 437.06ff.) – aber Kant beschreibt damit keine erkennbar alternativen Verfahrensweisen. 152 Die einschlägige Maxime lautet nicht etwa: ‚Ich gehe (jetzt) ins Schwimmbad‘ o. ä. (das wäre eine Handlungsbeschreibung), sondern (als ein subjektiver Handlungsgrundsatz) allenfalls: ‚Zum Schwimmen [bzw.: Wenn ich schwimmen will, dann] gehe ich ins öffentliche Schwimmbad‘ (vgl. die Kantischen Maximen in Beispielen, etwa 422.22). 153 Es gibt hier folglich zahllose ‚konsistente Szenarien‘ für eine kollektive
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Anmerkungen
Gesetzeskonformität. – Ähnliches gilt für andere praktische Regeln, die bisweilen unter Verdacht gestellt wurden, wie etwa: ‚Ich esse montags mit meinen Freunden gemeinsam zu Abend.‘ Ohne den unausgesprochenen Zusatz: ‚wenn mir danach ist‘ stünde eine solche Regel überhaupt nicht als Maxime zur Debatte (es sei denn, man wollte sich damit ausdrücklich montägliche Kino-, Theater- und Konzertbesuche, Familienabende &c., sowie längere Reisen oder Krankenhausaufenthalte usw. ein für alle Mal verunmöglichen) – und zu einem einschlägigen Widerspruch führte ein solcher Grundsatz dann auch erst mit dem zweiten Zusatz: ‚ob sie das wollen oder nicht‘: Man darf seine Freunde eben nicht zum gemeinsamen Essen (oder zu sonst was) zwingen. Man darf sie aber jederzeit dazu einladen – was, ganz nebenbei, auch der Freundschaft zuträglicher ist. 154 Kann z. B. das – unkontroverse (vgl. u. a 06:333) – ‚Du sollst nicht töten!‘ aus dem Kategorischen Imperativ abgeleitet werden? Zumindest prima facie gelingt das mit einer ‚reinen‘ Variante des Hobbesschen Naturzustands-Arguments (vgl. Leviathan, Chap. 11 und 13): Wäre meine Maxime, andere ggf. um irgendwelcher Neigung willen zu töten, zugleich ein allgemeines Gesetz, dann käme jedes endliche vernünftige Wesen um seiner bloßen Selbstbestimmung als vernünftiges Wesen willen (vgl. oben Anm. 143) einem jedem anderen (und damit auch mir) notwendig mit einer Tötungshandlung zuvor (vgl. dazu 06:312). – Hierbei wird ausdrücklich nicht bereits vorausgesetzt, dass das Leben anderer in moralischer Hinsicht ein Gut ist: Das soll ja vielmehr erst aus dem ‚Du sollst nicht töten!‘ folgen (siehe bei Kant später dazu: „Paradoxon der Methode“, 05:62f.), andernfalls wäre eine ‚präventive Tötung‘ ja bereits per se prekär – und das Gesetzes-Argument käme gar nicht mehr auf die Bahn. – Für Kant selbst scheint allerdings die (noch zu erörternde) Zweckformel in vergleichbaren Fragen ‚schneller‘ zum Ziel zu führen (siehe etwa 06:345.30ff.). 155 Zur neueren Diskussion siehe jetzt den m. E. bahnbrechenden Aufsatz Kleingeld 2017, in dem die obige Rekonstruktion jüngst bereits ausführlich ausgearbeitet wurde (worauf an dieser Stelle nachdrücklich für weitere Details verwiesen sei). Den kritischen Einwänden in Timmermann 2018 ist in der obigen Darstellung (durch eine genauere Rekonstruktion des Arguments für die unvollkommenen Pflichten) Rechnung getragen (s. o.). – Anders als Timmermann (2018, 595) plädiere ich daher nicht dafür, die etablierte (aber definitiv unkantische, s. o. Anm. 145) Rede von der „universability“ weiterhin beizubehalten, sondern vielmehr dafür, sie als eine unzulängliche (s. o. Anm. 147) gar nicht erst einzuführen, wenn man über Kants kategorische Imperative nachdenken will. 156 Diese Formulierung ist prima facie ambig: Muss jetzt noch gezeigt werden, ‚dass man unter Pflicht tatsächlich eine Nötigung durch dieses Gesetz verstehen kann‘ oder: ‚dass wir die Pflicht haben, dieses Gesetz zu befolgen?‘ (Ähnliche Fragen könnte man angesichts 425.08ff., 431.39ff. oder 453.10ff. stellen.) Da die Bestimmung des Pflichtbegriffs bereits zuvor (etwa in [11] Vittorio Klostermann, 2019.
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Anmerkungen
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und [32]) zur Aufgabe des nachfolgenden Textes erklärt wurde und der Pflichtbegriff bei Kant somit seinerseits durch den Gesetzesbegriff überhaupt erst bestimmt ist, kann man die zweite Lesart hier definitiv ausschließen. Wenn ein kategorischer Imperativ „stattfinde[t]“, also möglich ist (s. o.), dann ist das, was dieser fordert, Pflicht – genau das wurde ja schon gezeigt. Es ist also, wie auch zuvor, nicht die Frage, ob es sittliche Forderungen gibt, sondern nur, ob sie sich (tatsächlich) im Rahmen einer ‚reinen‘ Moralphilosophie darstellen lassen – und das heißt auf der gegenwärtigen Stufe der Gedankenentwicklung: als kategorische Imperative. 157 Hiermit ist, wie der Kontext zeigt, die doppelte Abgrenzung gegenüber sowohl (sc. ‚Metaphysik‘) der „empirische[n] Seelenlehre“ als auch (sc. ‚der Sitten‘) der „Speculation“ gemeint – nicht aber eine gegenüber jener „Kritik der praktischen Vernunft“ von der im Titel des dritten Abschnitts dann die Rede ist. 158 In diesem kantischen Sinne wäre der „objective Zweck“ etwa einer Betätigung des ‚nuclear button‘ der Einstieg in die nukleare Kriegführung o. ä. – er liefert eine Antwort auf die Frage: ‚Was ist der Zweck einer Betätigung des nuclear button?‘ (oder anders gefragt: ‚Welche Handlung vollzieht man im gegebenen Kontext nolens volens, mit der infrage stehenden Betätigung?‘), nicht aber auf Fragen der Art: ‚Welchen subjektiven Zweck verbindet Präsident X mit seiner Betätigung des nuclear button?‘: Einen objektiven Zweck im Kantischen Sinne muss sich niemand aktuell setzen, damit es ihn gibt (es steckt ein solcher vielmehr ‚hinter‘ jeder der einschlägigen subjektiven Zwecksetzungen handelnder Menschen). – Erst in der Tugendlehre von 1798 treten dann auch gebotene subjektive Zwecke auf: „Eigene Vollkommenheit“ und „Fremde Glückseligkeit“ (06:391ff.) sind Zwecke, die wir uns aber setzen sollen (zum „Obersten Prinzip der Tugendlehre“ s. u. Anm. 276). 159 Es geht hier also auch nicht um einen vermeintlich letzten oder höchsten Zweck, ohne den alles Handeln (möglicherweise) ins Leere liefe: Ein solcher ist bei Kant erst Gegenstand der Lehre vom höchsten Gut im Rahmen der Moraltheologie (etwa 05:115). 160 Es ist daher bei Kant auch nicht die Rede davon, dass der Mensch einen „Zweck an sich selbst“ haben oder sich etwas zu einem solchen machen kann: Vielmehr ‚schätzt‘ man etwas als einen ‚Zweck an sich selbst‘. Daher heißt es oben auch nicht, dass er ‚ein Grund bestimmter Handlungen‘ ist, sondern vielmehr, dass er „ein Grund bestimmter Gesetze“ sein könne (s. o.). 161 Die hier herangezogene „Nothwendigkeit“ kann zunächst also nur als eine handlungstheoretische gedacht werden (etwa: der Mensch kann sich nicht zugleich als ein Handelnder und als ein bloßes Mittel für andere verstehen). Sie liegt damit systematisch auf einer Ebene z. B. mit jener „Naturnothwendigkeit“, mit welcher sich der Mensch seine eigene Glückseligkeit „a priori“ zum Zweck macht (s. o. [21]). In beiden Fällen werden von Kant – gegen die Tradition – Anthropologie (nicht-Können) und Moral (nicht-Sollen) allerdings strikt separiert. Vittorio Klostermann, 2019.
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An dieser Stelle ist vom ‚Postulieren‘ also im Wortsinne eines vorläufigen, die Suche nach den ‚Quellen a priori‘ bis zum „letzten Abschnitte“ erst einmal suspendierenden, Schrittes die Rede (wie wir es etwa auch in 04:472.32ff. finden); mögliche Analoga sind hier somit definitiv nicht die uneinholbaren Postulate etwa der Mathematik oder die der reinen praktischen Vernunft (wie etwa Gott oder Unsterblichkeit; siehe A 634; bzw. 05:132). 163 Insofern ist es schwer nachzuvollziehen, wenn etwa R. Porcheddu jüngst seine Untersuchung mit der Annahme einleitet: „In der Grundlegung entwickelt Kant den Begriff eines Zwecks, des Zwecks an sich selbst, dessen absoluter Wert den Geltungsgrund des kategorischen Imperativs abgeben soll.“ (Porcheddu 2016, 1). Mit welcher Äußerung Kants ließe sich eine derartige Annahme stützen (und welche argumentativen Ressourcen hätte Kant ggf. in den ersten beiden Abschnitten für eine entsprechende Behauptung überhaupt mobilisieren können)? Um so etwas wie einen ‚Geltungsgrund‘ (Kants „Vernunftgrund“) geht es ausdrücklich erst im dritten Abschnitt (dazu auch oben, Anm. 129) – wo der „Zweck an sich selbst“ dann allerdings gar keine Rolle mehr spielt (sondern nur noch einmal in einer resümierenden Nebenbemerkung erwähnt wird, 462). Im zweiten Abschnitt wird der „Zweckvorzug[ ] vernünftiger Wesen […] nur als kategorisch angenommen, weil [!] man dergleichen annehmen musste, wenn man den Begriff von Pflicht erklären [!] wollte“ (431). – Die Annahme einer systematischen Vorrangstellung der Zweckformel bei Kant ist demnach nur eine eher problematische Interpretationshypothese (vgl. dazu unten Text zu Anm. 174): Das eigentliche argumentative Ziel der Grundlegung, „die Aufsuchung und Festsetzung des obersten Prinzips der Moralität“, ließe sich letztlich auch ohne die Zweckformel erreichen – allerdings, wenn wir uns an Kants eigene Ausführungen halten, weniger ‚anschaulich‘ bzw. ‚eingängig‘ (s. o.). 164 „Menschheit“ bezeichnet gleichsam die Persönlichkeit, die ‚intelligible Dimension‘ des Menschen (dazu später dann: 05:87f.). – In der Religionsschrift bezeichnet Kant einmal mit dem Ausdruck „Menschheit“ allerdings (drittens) den Sitz gerade der nicht-moralischen Vernunftvermögen des Menschen (im ausdrücklichen Gegensatz zur „Persönlichkeit“ einerseits und zur bloßen „Thierheit“ andererseits; 06:26): Die diachrone terminlogische Konstanz ist auch in diesem Fall nicht Kants starke Seite (vgl. oben S. 61). 165 Erst 1798 wird Kant terminologisch zwischen (bloß) „vernünftigem Wesen“ und (sittlichem) „Vernunftwesen“ unterscheiden (06:434f., vgl. aber auch schon in der Sache ähnlich 06:26 Fn. und 08:366). 166 Dass kategorische Imperative die einschlägigen „Freiheitsgesetze[ ]“ sind, und dass diese einer reinen praktischen Vernunft entspringen, wird dann der dritte Abschnitt offenlegen. 167 Vgl.: „Wildheit ist die Unabhängigkeit von Gesetzen. Disciplin unterwirft den Menschen [!] den Gesetzen der Menschheit [!] und fängt an [!], ihn den Zwang der Gesetze fühlen [!] zu lassen. (09:442). Später ist in politischen Kontexten analog von ‚wilder gesetzloser Freiheit‘ die Rede (etwa 162
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Anmerkungen
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EF 08:354; RL §§ 47, 54; vgl. zu ‚vormoralischen Menschen‘ auch 28:290, 443, 685, 767). – In der Grundlegung selbst geht es (anders als etwa in der gerade zitierten Pädagogik) allerdings nicht um die moralische Sozialisation von Angehörigen des Menschengeschlechts (all derer, die – wie der Sohn Gottes – ‚von einer menschlichen Mutter geboren wurden‘), sondern zunächst nur um Struktur und Gehalt des Selbstverständnisses jener Menschen, die bereits ‚angefangen haben‘, ihr Handeln mittels u. a. des Begriffs eines unbedingten Werts zu reflektieren – deren ‚Disziplinierung‘ also in einem ‚gefühlten‘ Bewusstsein der Verbindlichkeit erste Wirkung gezeigt hat. Entsprechend kann z. B. auch die Frage, ob ein solcher Mensch umgekehrt seiner ‚Menschheit‘ auch wieder verlustig gehen und damit zum ‚gesetzlosen Wilden regredieren‘ kann, nicht ein Thema der Grundlegung sein: Die ‚Unverlierbarkeit‘ moralischer Eigenschaften (wie z. B. der Würde) wird hier zunächst einmal nur unter der Voraussetzung des Pflichtbewusstseins thematisiert (vgl. 440.07ff. und dagegen etwa 06:333f.). – Die brennende Frage, welche Pflichten wir jenen menschlichen Wesen gegenüber haben, die noch nicht, auf unbestimmte Zeit nicht oder nicht mehr „den Zwang der Gesetze fühlen“, überschreitet damit notwendig den Horizont der Grundlegung (denn es müssen dabei notorisch vertrackte philosophische Fragen, wie etwa die der personalen Identität menschlicher Wesen, ins Spiel kommen). Bei Kant selbst finden wir allerdings auch andernorts keine ausführlichen Überlegungen zu diesen Themen (vgl. zudem 07:202ff.). 168 S. dazu auch: Ludwig 2015c. 169 So aber z. B. prominent Korsgaard 1996, 122: “So when Kant says rational nature or humanity is an end in itself, it is the power of rational choice that he is referring to.“ – Das ist geradeheraus falsch und wird später dann u. a. zu einer ‚kantianisierenden Tierethik‘ ausgebaut (wobei zudem die Angewiesenheit auf bestimmte natürliche Lebensvoraussetzungen in das ‚Haben von Zwecken‘ umgedeutet wird; siehe Korsgaard 2012), die Kants eigener ‚Tierethik‘ dann diametral entgegengesetzt ist (dazu. etwa 06:443.22ff. oder 06:345.22ff.; vgl. auch unten Anm. 177; siehe auch Camenzind 2018). – Wie könnte das empirisch-verbürgte Wahl-Vermögen des Menschen als solches für Kant (der seinen Hume gelesen hatte) bereits eine hinreichende Bedingung normativer Selbstzweckhaftigkeit sein? Für ihn zumindest ist es nicht mehr als eine notwendige Bedingung dafür (s. o.): „Ohne Vernunft kann ein Wesen nicht Zweck an sich selbst seyn; denn es kann sich seines Daseyns nicht bewußt seyn, nicht darüber reflektiren. Aber Vernunft macht noch nicht Ursache aus: da der Mensch Zweck an sich selbst ist, hat er Würde, die durch kein Aequivalent ersetzt werden kann. Die Vernunft aber giebt uns nicht [!] die Würde. Denn wir sehen doch, daß die Natur bei den Thieren durch Instinkt das hervorbringt, was die Vernunft durch lange Umschweife erst aussucht [!]. Nun könnte die Natur unsre Vernunft ganz nach Naturgesetz eingerichtet haben, daß jeder Mensch von selbst le-
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Anmerkungen
sen lernte, allerhand Künste erfinden möchte, und das alles nach bestimmten Regeln. So wären wir aber nicht besser als die Thiere. Aber die Freiheit, nur die Freiheit allein, macht, daß wir Zweck an sich selbst sind.“ (27:1322; vgl. 06:434). Das, was zur ‚power of rational choice‘ hinzukommen muss, damit die Menschen die Pflicht haben, sich selbst und einander als ‚Zweck an sich selbst‘ zu behandeln, ist demnach erst Gegenstand des Dritten Abschnitts: Freiheit, d. h.: eine Vernunft, die nicht nur – als ‚slave of the passions‘ (Hume) – dem Bedürfnis der Neigung dient, sondern auch als reine „für sich selbst praktisch“ sein kann – also kategorische Imperative möglich macht. – Und deshalb ist, wie wir sehen werden, Kants Moral nicht ohne seine kritische Metaphysik (bzw. ein äquivalentes Substitut) zu haben. 170 Kant macht hier mit der begrifflichen Ablösung der moralischen Qualität der Person sowohl von der biologischen Gattungszugehörigkeit als auch von der Fähigkeit zu neigungsabhängiger Zwecksetzung und rationaler Mittelwahl radikal ernst. ‚Persönlichkeit‘ kann, wie er es später dann ausdrücklich betonen wird, nur einem solchen vernünftigen Wesen zugeschrieben werden, dem darüber hinaus das moralische Gesetz „sich als selbst und zwar höchste Triebfeder ankündigt“ (06:26 Fn., vgl. 06:223.24ff. und insbesondere: 06:434.25ff.). Auch wenn es nicht in gängige Kant-Bilder passen sollte: Anders als etwa die ‚reuigen Bösewichter‘ in Königsberg (die u. a. dank ‚christlicher Zucht‘ „den Zwang der Gesetze fühlen[!]“, s. o.), sind die menschenfüßigen, vernünftelnden aber gleichwohl (noch?) gesetzlosen ‚Wilden‘ der Südsee für Kant (zunächst einmal) keine Personen (dass Kant damit zwar einer Art Kulturalismus, aber definitiv keinem Eurozentrismus das Wort redet, zeigt sich in der scharfen Kolonialismuskritik seines „Weltbürgerrechts“; 06:535). – Mit einer solchen Konzeption wird die (rechtsphilosophisch brisante) Frage aufgeworfen, aufgrund welcher Eigenschaften einem (Welt-)Wesen moralische Prädikate (wie Personalität, Würde, Rechte, Pflichten etc.) auch aus der Perspektive der dritten Person zugeschrieben werden können bzw. müssen: Aufgrund welcher ‚öffentlichen‘ Merkmale muss ein bestimmtes Natur-Wesen (sei es ein Mensch, ein Tier oder ein ‚intelligentes Artefakt‘) von denjenigen, die sich selbst aufgrund ihres (naturgemäß) privaten „Bewusstsein[s] der Verbindlichkeit nach dem Gesetze“ (06:232.17) selbst als Personen begreifen, seinerseits (schon oder noch, siehe: 06:329f.) als eine Person behandelt werden (vgl. 06:230.09f. – nicht als bloße „Sache“, 06:223.32f.; vgl. 06:358.20f.)? Bei Kant findet man dazu m. W. keine bedeutenden systematischen Überlegungen. 171 Hiermit wird nicht etwa gefordert, dass ich einen „objectiven Zweck“ zu meinem „subjectiven Zweck“ mache (o. ä. – wir sind hier nicht speziell in der Tugendlehre). Kant geht vielmehr davon aus, man befördere, wenn man so handelt, dass man etwas „als Zweck [ge]braucht“, notwendig die Realisierung von dessen wesentlichen Eigenschaften: Wer etwa eine musikalische Komposition primär ‚als Zweck gebraucht‘, wird folglich versuchen, deren spezifisch-musikalische Qualitäten zum Ausdruck zu bringen, ohne es dabei auf kontingente Wirkungen (etwa das eigene Wohlgefühl oder den Beifall Vittorio Klostermann, 2019.
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Anmerkungen
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der Zuhörenden) abzusehen. Allerdings gibt es keinen kategorischen Imperativ, musikalische Kompositionen (im Unterschied zur Menschheit in der Person) „jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel“ zu brauchen – auch wenn dies (sofern man Aristoteles NE 1098a folgt) ein Ratschlag der Klugheit für einen Musiker ist, der durch seine Tätigkeit glücklich werden will. 172 Noch deutlicher zeigt sich der speziell naturrechtliche Bezugsrahmen der Zweckformel in der etwa zeitgleichen Naturrechtsvorlesung; siehe dort 27:1319–29. Zur weiteren Vorgeschichte der Kantischen Zweckformel siehe etwa Hruschka 1990. 173 Siehe dazu etwa Kawamura 2005 und die dort genannte Literatur. – Achenwall behandelt die Regel im § 83 des ersten Teils des Ius naturalis. 174 Eine Gegenüberstellung von Goldener Regel und allgemeiner Formel (oder Naturgesetzformel) des kategorischen Imperativs (wie u. a. bei Hoche/Knoop 2010) ist demnach systematisch wenig zielführend: Viele der dabei zutage tretenden Differenzen würden sich nämlich ebenso beim Vergleich von Kants eigener Zweckformel mit der allgemeinen Formel zeigen: Dass z. B. in jener weder vom Gesetz noch von Maximen die Rede ist, dass stattdessen auf die Materie des Wollens Bezug genommen wird, dass die Anderen explizit vorkommen &c. (s. dazu bereits Kawamura 2005). 175 Vgl. auch oben Anm. 171. – In der Tugendlehre heißt es dann später, dass ich etwa die Zwecke anderer zu den meinen machen soll. „so fern diese nur nicht unsittlich sind“ (06:450): Man handelt in Konformität mit der „Menschheit“ in der eigenen Person und in der der anderen, solange man pflichtgemäßes Handeln befördert – womit der Rückbezug auf die allgemeine Formel angezeigt ist. – Dasjenige, was ich (in einer gegebenen Situation) an der Stelle eines anderen wollen würde, hat in der Anwendung von Kants Zweckformel also keine eigenständige Bedeutung mehr, sondern allenfalls eine – allerdings notorisch unzuverlässige – heuristische Funktion bezüglich möglicher Wünsche anderer. 176 Eine auch heute noch prominente Ableitung der Unverfügbarkeit der Person aus dem exklusiven Verfügungsprivileg eines Schöpfers findet sich z. B. in John Lockes Second Treatise of Government, § 6. 177 Dazu: „Das erstemal, daß er zum Schafe sagte: den Pelz, den du trägst, hat dir die Natur nicht für dich, sondern für mich gegeben, ihm ihn abzog und sich selbst anlegte (V. 21 [Gen. III.21]): ward er eines Vorrechtes inne, welches er vermöge seiner Natur über alle Thiere hatte […]. Diese Vorstellung schließt (wiewohl dunkel [!]) den Gedanken des Gegensatzes ein: daß er so etwas zu keinem Menschen sagen dürfe, sondern diesen als gleichen Theilnehmer an den Geschenken der Natur anzusehen habe.“ (08:114). – Nebenbei: Der erste Satz ist (sicherlich nicht ohne einen freiheitstheoretischen Hintergedanken Kants; vgl. auch 08:112.14ff.) heterodox, denn den kanonischen Versionen des Berichts zufolge hat nicht der Mensch selbst dem Schaf das Fell abgezogen: Der Schöpfer war der Schlachter. 178 Ähnlich wie die Naturgesetzformel (etwa 05:69) wird auch die Vittorio Klostermann, 2019.
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Anmerkungen
Zweckformel von Kant später noch vereinzelt bemüht: Z. B. in der zweiten Kritik wie auch in Rechts- und Tugendlehre (etwa: 05:131; 06:236, 06:345, 06:423). – Auch wenn in ihr von einem („objectiven“) Zweck die Rede ist, so ist sie doch nicht mit einer Formel speziell der Tugendpflichten (die „subjective Zwecke“ betreffen, 06:389) zu verwechseln. Die Zweckformel gilt für Kant – wie u. a. die Vorlesungsnachschrift Feyerabend zeigt – von Anfang an auch als ein Rechtsprinzip (s. o. Anm. 172). 179 Dass „Ideen“ als „Prinzipien“ dienen (bzw. als solche bezeichnet werden), ist bei Kant nicht außergewöhnlich (siehe etwa A 669ff.). 180 Die drei Wörter: „diesen Grundsatz das“ (433.10) ersetzen in der zweiten Auflage von 1786 ein „dieses“ der Erstauflage. Vermutlich sollte das den grammatisch-korrupten Satz von 1785 heilen. Allerdings gelingt das nicht wirklich zufriedenstellend, denn man wird in der Folgezeile nun ein „den ich deshalb…“ erwarten. Sachlich näherliegend wäre es daher gewesen, 1786 hinter „dieses Princip“ einfach ein „das“ (welches vermutlich zuvor ausgefallen war) einzufügen: „Ich will dieses Prinzip das der Autonomie des Willens [….] nennen.“ Damit bezieht sich „dieses Princip“ dann auf „das [bislang vergeblich gesuchte] Princip der Sittlichkeit“ in 432.26 zurück (wodurch u. a. die Aussage von 440.14f. antizipiert wird). – Man hat somit Anlass, daran zu zweifeln, dass die Rede vom „Grundsatz“ in 433.10 von Kant selbst stammt (zumal auch weitere Änderungen in der 2. Auflage eher auf einen Redaktor zurückzugehen scheinen, dazu 04:632). 181 In 437.34–438.18 betont Kant noch einmal die für dieses ‚nur‘ einschlägige Abhängigkeit der drei Lehrformeln untereinander. 182 ‚Autonom‘ und ‚heteronom‘ werden von Kant bereits hier (und auch später) der Etymologie folgend ausschließlich als Prädikatsausdrücke für Modi der Gesetzgebung verwandt. Sie dienen damit indirekt der Klassifizierung sowohl von Konzeptionen der Morallehren (wie oben: kantisch vs. vorkantisch) als auch von willkürbegabten Wesen (etwa: Personen vs. „Wilde“), niemals aber von Handlungen. Autonome Wesen können – in kantischer Bedeutung – aus Pflicht, pflichtgemäß oder -widrig handeln, heteronome allenfalls klug oder unklug in Hinblick auf ihre Interessen (siehe dazu etwa McCarty 2018, Sect. ‚Autonomy and Heteronomy‘). – Das Bewusstsein eines autonomen Wesens, dem selbstgegebenen Gesetz gemäß handeln (und widerstrebenden Neigungen ggf. widerstehen) zu können, ist Autokratie (06:383). 183 Die nachfolgenden Ausführungen (bis [79]) sind durchaus bedeutsam, treiben aber mit ihren vielen Reformulierungen die Argumentation nur langsam voran. Sie integrieren die tradierten Begriffe (Reich der Zwecke, Moralität, Pflicht) und führen Unterscheidungen ein, die für die Behandlung von Fragen der materialen Ethik bedeutsam sind (Würde, Wert, Preis, Heiligkeit). Hierauf trifft die Kennzeichnung „ethical interlude“ (s. o. Anm. 129) partiell zu: Nach der (bereits oben erörterten) Systematik der drei Lehrformeln [72-75] schließt sich noch eine Art Synopse an [76-79], die dann in
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Anmerkungen
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Fragen der Moraltheologie einmündet. – Da nach den bisherigen Erläuterungen vieles nur Wiederholungscharakter hat, wird die Kommentierung den Gedankenzusammenhang fokussieren und nur die neu hinzukommenden Lehrstücke erörtern. 184 Ein Ideal ist der adäquate Gegenstand einer Idee: „So wie die Idee die Regel gibt, so dient das Ideal […] zum Urbilde der durchgängigen Bestimmung des Nachbildes.“ (A 569) Am ‚Ideal der Republik‘ (an einem Staat, in dem u. a. die Gewaltenteilung vollständig realisiert ist) z. B. orientieren sich jene Staatsoberhäupter, die gemäß der Idee der Republik regieren wollen. 185 Siehe dazu z. B. die durchaus bildhafte Darstellung in der Metaphysik-Vorlesung aus den 1770er Jahren (28:319ff.). – ‚Schelm‘ bezeichnet bis zu Kants Zeiten (vgl. Grimm) ein moralisch höchst fragwürdiges Wesen (einen Schuft, Betrüger o. ä.; vormals auch den Teufel). Erst später wird der ‚Schelm‘ dann zum harmlosen Spaßmacher. 186 Das liegt daran, dass wir noch nicht einmal wissen, worin genau unsere Glückseligkeit besteht (sie ist nur ein „Ideal der Einbildungskraft“) und daran, dass wir angesichts des für uns unvorhersehbaren Weltlaufs ohnehin nicht wüssten, wie wir sie zuverlässig befördern (dazu oben ad [25]). 187 Dieser Gedanke liefert die Grundlage von Kants moraltheologischen Gottes- und Unsterblichkeitsbeweisen in KrV und KpV (s. o. Kap. I.2). 188 In den Absätzen [81-88] bietet Kant eine Klassifikation aller ‚heteronomen‘ Morallehren zum Zwecke von deren pauschaler Zurückweisung an. Da der vorangehende und die beiden nachfolgenden Absätze das bislang Erreichte und das noch zu Leistende diskutieren, werden diese drei Absätze hier vorweg gemeinsam behandelt. 189 Man kann schon hier auf den analogen Fall der „synthetischen Urteile a priori“ verweisen: Sie besetzen ein Feld in einem Geviert, das durch die Einteilung der (kategorischen) Urteile mittels zweier, voneinander unabhängiger Unterscheidungen aufgespannt wird; doch das allein entscheidet über ihre Möglichkeit genauso wenig wie über die von ‚analytischen Urteilen a posteriori‘ – die es für Kant ja nicht gibt (siehe 04:275.24ff.). 190 Zu den verschiedenen „analytisch/synthetisch“-Unterscheidungen siehe ausführlich oben Anm. 29. 191 Eine Probe dieses Gebrauchs hatte Kant ja bereits in Zuge seines exemplarischen Nachweises geliefert, dass zukünftig „alle Imperativen der Pflicht“ aus dem neuen Prinzip „abgeleitet werden können“ (421.09ff.) – und dass dies dann besonders ‚fasslich‘ vonstatten gehen wird, steht für ihn außer Frage (etwa: 403.18ff.). 192 Vgl. zu diesen Ausdrücken oben Anm. 127. 193 Wir werden dort einige Lücken ausmachen, deren Ausfüllung dann von einer vollständigen zweiten Kritik zu erwarten gewesen wäre. 194 Die (m. W. erstmals) bei Reich (1935, 37f.) allenfalls angedeutete und später dann etwa bei Baum (2014, 217f.) und jüngst noch einmal bei Geismann (2018, 489) wie eine ausgemachte Sache vorgetragene Auffassung, Vittorio Klostermann, 2019.
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Anmerkungen
dass die im zweiten Abschnitt präsentierte ‚Moral der vier Formeln‘ (noch) gar nicht Kants kritische sei (sondern nur eine Art „Kinderphilosophie“, so Baum, ebd.), ist einigermaßen befremdlich: Angesichts der Tatsache, dass Kant selbst dergleichen nirgendwo auch nur andeutet (geschweige denn explizit behauptet) und weder im Dritten Abschnitt noch in seinen späteren Schriften (etwa der Metaphysik der Sitten) dann irgendeine Alternative präsentiert (sondern sogar die drei Lehrformeln weiterhin verwendet), dürfte die Hypothese allenfalls als ein Notbehelf erwägenswert scheinen, solange es ohne sie nicht gelingt, die systematische Funktion der dreigliedrigen Architektonik der Grundlegung (und damit auch die Funktion der ‚Lehrformeln‘ im zweiten Abschnitt) einsichtig zu machen. 195 Wie – auch nach der Grundlegung noch – z. B. Christian Garve, siehe dazu die Auseinandersetzung in Gemeinspruch I (insbesondere 08:281 ff.). 196 Wir werden später sehen (Kap. V), dass die Kritik der praktischen Vernunft den Bestand der ersten beiden Abschnitte weitgehend unangetastet lässt (siehe 05:08.14ff.) und nur die Lehre der Verknüpfung von Freiheit und Moralgesetzen des dritten Abschnitts neu ausarbeitet. 197 Dass man mit den Grundelementen von Kants ‚Moral der Autonomie‘ auch in der gegenwärtigen moralphilosophischen Diskussion operiert, ohne sich dabei genötigt zu sehen, entweder den Transzendentalen Idealismus ins Boot zu holen oder an dessen Stelle zumindest eine vergleichbare Lehre, etwa über den „Erscheinungscharakter“ des menschlichen Handelns, über den nomologischen Charakter einer „intelligiblen Causalität“ &c. zu setzen, zeigt, dass Kants Überzeugung von der phänomenologischen Angemessenheit seiner Morallehre nicht abwegig war. Siehe zu dieser Qualität Römer 2018, die die Kantische Moral aus der Perspektive der Phänomenologie überzeugend analysiert.
Anmerkungen zu III.3 198 Eine frühere Version dieses kurzen Abschnitts wurde in der Information Philosophie 47.3 (2019), 40ff. veröffentlicht und von J. Bojanowski und H. Klemme kritisch kommentiert. Die dort geäußerten Vorbehalte (die allerdings die vier untenstehenden ‚exegetischen‘ Argumente nicht direkt anfechten, sondern stattdessen eigene Deutungen der ‚Deduktion‘ ins Spiel bringen) sind hier berücksichtigt. Das gilt vor allem für die wichtige kritische Bemerkung Bojanowskis zur ‚verdinglichenden‘ Rede vom ‚zweiten Willen‘ (bei dem es in der Tat nur um die Denkbarkeit geht, s. u. Anm. 259). 199 Zum Ausdruck ‚Sittengesetz‘ s. o. Anm. 13. 200 Bei Paton heißt es: „[…] we naturally [!] expect to be given his transcendental deduction of the categorical imperative. We are confirmed in this [?] expectation by the heading given to the section we are about to study. It is entitled 'How is a categorical imperative possible?'” (Paton 1947, 242).
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Anmerkungen
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Eine provisorische Durchsicht der Kant-Literatur vor 1947 hat zunächst einmal keine einschlägige ‚Imperativ-Deduktion‘ zutage gefördert. Im deutschen Sprachraum hat sie D. Henrich 1975 (unter den Benennungen „Deduktion des Sittengesetzes“ und „Deduktion des Imperativs“) populär gemacht. Wollte man die aktuelle Verbreitung dieser Ausdrücke dokumentieren, wäre es effizienter, einfach jene der prominenteren Autoren zu nennen, die nicht explizit behaupten, dass die Grundlegung eine solche zum Gegenstand habe (etwa: Sedgwick 2008; jüngst Puls 2016). Hier seien aber exemplarisch auch einige einflussreiche Vertreter des mainstream genannt (für weitere ältere Titel siehe Ludwig 2009, Fn.1): Schönecker 1999; Schönecker/Wood 2002; Timmermann 2004; Bojanowski 2006; Steigleder 2006; Horn/Mieth/Scarano 2007; Guyer 2007; Allison 2011; Wyrwich 2011; Richter 2013; Ware 2014; Porcheddu 2016. Was man unter einer ImperativDeduktion im Einzelnen zu verstehen habe und was sie leisten soll, ist dabei durchaus kontrovers und auch nicht immer klar – aber für ein Verständnis der Grundlegung auch nicht weiter wichtig (s. u.). 201 Die Rede von einer Deduktion eines kategorischen Imperativs findet sich in den uns überlieferten Äußerungen Kants überhaupt nur einmal – und dabei ohne irgendeinen Bezug zur Grundlegung: in der Einleitung zur Tugendlehre von 1797 (siehe dazu dann unten Anm. 276). Von einer Deduktion des Sittengesetzes dagegen ist bei Kant m. W. nirgendwo die Rede. – In der Kritik der praktischen Vernunft behauptet Kant, dass es eine Deduktion „der objektive[n] Realität des moralischen Gesetzes“ nicht (!) gebe (05:47). Dass er sich damit von einer früheren, eigenen Bemühung distanziert, könnte man nur dann aus dem Text herauslesen, wenn man bereits unabhängig davon Gründe dafür hätte, dass es bei Kant selbst eine solche Deduktion auch tatsächlich gab (sonst dreht man sich nur im Kreise). Zudem behauptet Kant im fraglichen Kontext ohnehin nichts wesentlich Anderes als das, was er bereits in der Grundlegung (463.21) über die Grenze (!) seiner eigenen (und auch jeder anderen) „Deduction des obersten Princips [!] der Moralität“ behauptet hat (dass sie das Sittengesetz „seiner absoluten Nothwendigkeit nach nicht begreiflich machen kann“, dazu unten ad [35]). Daher wäre es zumindest gewagt, genannte Bemerkung als Selbstkritik an einer ‚Deduktion des Sittengesetzes‘ von 1785 zu lesen. – Eher dürfte sie Bezug nehmen auf die Bemerkungen Gottlieb Hufelands zur „Deduction“ von Grundsätzen in dessen (von Kant sogleich rezensierten, 08:127ff.) Versuch über den Grundsatz des Naturrechts (s. dort 58f.), welcher sich (bereits 1785, dazu 08:482) ausführlich mit der Grundlegung auseinandergesetzt hatte. Dort wurde Kant vermutlich auch zu seiner Anwendung der ‚ratio cognocendi/essendi‘-Unterscheidung auf das Sittengesetz in der KpV (05:04 Fn.; s. u.) angeregt: Hufeland diskutiert ‚principium cognoscendi/essendi‘ eines „obersten Grundsatzes“ (62f.). 202 Schon Paton betitelt 1947 einen Abschnitt apodiktisch: „The failure [!] of the deduction” (244). – Sicherlich zutreffend ist hier das Urteil von McCarty: „Scholars have almost universally found fault with the argument Vittorio Klostermann, 2019.
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Anmerkungen
of Kant’s [!] deduction of the categorical imperative in Groundwork III. No one seems to endorse it without reservation; and only a few think that it is in any way successful.” (McCarty 2018, Anfang des letzten Kapitels) – leider wird keine(r) der ‚few‘ genannt. 203 Von den „transscendentalen Ideen ist eigentlich keine objective Deduction möglich, so [!] wie wir sie von den Kategorien liefern konnten“ (A 336) – also (zumindest) keine spekulative Deduktion. 204 Im Rahmen von ‚Imperativ-Deduktions-Deutungen‘ gilt dieser Hinweis (verständlicherweise) als unverständlich und wird daher in der Regel kurzerhand als irreführend beiseitegeschoben (siehe etwa, mit Verweis auf Vorbilder: Allison 2011, 349, vgl. jüngst noch ähnlich Porcheddu 2016, 177). – Auch wenn Kant andernorts durchaus Deduktionen von Prinzipien (u. a. bereits wenige Seiten später: in 463, dazu unten Anm. 276), Sätzen, Grundsätzen, Urteilen, Einteilungen &c., kennt: Hier (454.15f.) geht es ihm definitiv darum, dass auch schon in der KrV die Möglichkeit von synthetischen Sätzen a priori durch die Deduktion von reinen Begriffen (die auch dort eine Gesetzlichkeit für das Sinnliche stipulieren!) erwiesen wurde. – Dafür indes, dass Kant jemals die Möglichkeit von Grundsätzen durch deren (!) Deduktion hätte beweisen wollen, fehlen m. W. die belastbaren Belege (darauf sollte das ‚[?]‘ im Paton-Zitat oben in Anm. 200 hinweisen). Selbst zufolge A 734, einer Stelle, auf die Bojanowski (s. o. Anm. 198) als vermeintlich einschlägig hinweist, muss die Philosophie nicht etwa die ‚Möglichkeit ihrer Grundsätze‘, sondern vielmehr „ihre Befugnis wegen derselben durch gründliche Deduktion“ rechtfertigen – und das bezieht sich direkt auf die allem zugrundeliegende Deduktion der Kategorien (A 84ff.) zurück. 205 Die Ausnahme bildet Anm. 276. 206 Für einen beeindruckenden Katalog siehe etwa: Henrich 1975, 108f. – Auch die zahlreichen (z. T. höchst subtilen) Versuche, einzelne Schritte einer ‚Imperativ-Deduktion‘ in Kants Text(en) zu verorten, werden im Folgenden nicht weiter kommentiert und demzufolge auch nicht solche Unterscheidungen, Fragen, Thesen, Zusatzannahmen &c. erörtert, die allenfalls im Rahmen solcher Versuche bedeutsam werden können. – Selbstredend kann man auch weiterhin auf eigene Rechnung von einer ‚Deduktion des kategorischen Imperativs/des Sittengesetzes‘ (oder, wie jüngst Klemme 2017, auch von einer ‚Deduktion der Möglichkeit des Kategorischen Imperativs‘, 208) reden, nur: Kant redet von dergleichen nicht – und mit jener „Deduction“, von welcher er in 454.20 schreibt, ihre Richtigkeit werde nun ‚bestätigt‘, hat das dann allenfalls entfernt etwas zu tun: Die Rede von der ‚Deduktion des kategorischen Imperativs‘ &c. kann daher, so wird sich im Folgenden zeigen, schadlos auf Berichte über die Sekundär-Literatur der letzten 70 Jahre beschränkt werden (hier gilt Ähnliches wie etwa für die Rede von ‚negativer‘ und ‚positiver Freiheit‘, s. u. Anm. 210). 207 Bezeichnenderweise gibt es z. B. im Register eines Sammelbandes zur Grundlegung (Timmermann 2009) weder zu ‚idea‘ noch zu ‚pure will‘ einen Vittorio Klostermann, 2019.
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Anmerkungen
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Eintrag. Ähnlich der Index noch bei Bacin/Sensen 2019, bei Steigleder 2002 oder das Glossar in Horn/Mieth/Scarano 2007, 324. Selbst wenn die beiden Wörter im Index vorkommen (etwa bei Klemme 2017, 242), so doch nicht unbedingt in einem Eintrag. 208 ‚Transzendentale (Idee der) Freiheit‘, ‚intelligible Freiheit‘ – und im Folgenden dann auch ‚absolute Spontaneität‘, ‚unbedingte Ursache‘ &c. – stehen bei Kant für Begriffe, die durchweg auf dieselben Gegenstände zutreffen; sie sind koextensiv, unterscheiden sich aber in ihrem (Fregeschen) Sinn: ‚Absolute Spontaneität‘ oder auch ‚unbedingte Ursache‘ (o. ä.) sind inhaltliche Kennzeichnungen (einer actio bzw. eines agens), ‚transzendental‘ bezieht sich auf den metaphysischen Status (ein ‚notwendiger‘, nicht empirischer Begriff – die ‚Transzendentalien‘ waren in der Schulphilosophie die „entia necessaria“, vgl. 17:45), ‚intelligibel‘ ist die transzendentale Freiheit insofern, als sie nicht in der sinnlichen, sondern nur in einer ‚intelligiblen Welt‘ gedacht werden kann (dazu etwa. A 542ff.). – In der Grundlegung verzichtet Kant fast durchweg auf die technische Terminologie der KrV: ‚transzendental‘ kommt daher so wenig vor wie etwa ‚noumenon‘ oder ‚Apperzeption‘. 209 „Abgethan“ steht bei Kant für: ‚(endgültig) abgehandelt‘; s. etwa 02:82, 06:182. – Zur Frage nach dem Resultat der Freiheitslehre der KrV von 1781 siehe: Ludwig 2015b. 210 Zu dieser vielfach missverstandenen Unterscheidung ausführlich und mit Literaturhinweisen: Ludwig 2013a. – Wichtig ist an dieser Stelle nur, dass bei Kant nicht von einer ‚negativen‘ oder einer ‚positiven Freiheit‘ die Rede ist (diese beiden Ausdrücke bezeichnen in der neueren politischen Philosophie verschiedene Aspekte der bürgerlichen Freiheit, s. etwa: Berlin 1958; bei Kant kommen sie nicht vor). Es gibt bei Kant (anders als in der Kant-Literatur) folglich genauso wenig irgendeine ‚negative Freiheit‘ wie eine ‚negative Seele‘ oder einen ‚negativen Gott‘. Es gibt nur einschlägige negative Begriffe (sc. ‚der nicht-körperliche Teil des Menschen‘, bzw. ‚das nicht-endliche Wesen‘). Jedenfalls kann man nur dann im negativen Sinne frei sein, wenn man es zugleich in irgendeinem positiven ist: „Freiheit kann man nicht allein negativ als Unabhängigkeit von empirischen Bedingungen ansehen (denn dadurch würde das Vernunftvermögen aufhören, eine Ursache der Erscheinungen zu sein), sondern [man muss es] auch positiv durch ein Vermögen bezeichnen […]“ (A 553, Herv. B.L.). 211 Die Unterscheidung als solche ist letztlich recht unspektakulär (aber bei Kant äußerst wichtig) und soll noch einmal an einem technischen Alltagsbegriff erprobt werden, z. B. an dem des ‚Schnurlosen Telefons‘: In grauer Vorzeit waren Telefonapparate mit einem Kabel (der sogenannten ‚Telefonschnur‘) mit einer Telefon-Anschlussdose an der Wand verbunden. Einen Fortschritt stellte hierzulande 1984 das sog. ‚schnurlose Telefon‘ dar, mit welchem man, wie der Name schon sagt, unabhängig von der (d. h. ohne eine) ‚Schnur‘ telefonieren kann (dies ist ein negativer Begriff des schnurlosen Telefons). Hätte man seinerzeit von seinem alten Telefon einfach die Vittorio Klostermann, 2019.
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Anmerkungen
Schnur abgeschnitten, dann hätte man gleichwohl kein ‚schnurloses Telefon‘ in Händen gehabt, sondern nur irgendeinen ‚schnurlosen‘ Apparat (mit dem man jedenfalls nicht telefonieren kann). Offenkundig ist der negative Begriff (‚ohne‘ bzw. ‚unabhängig von…‘) bei der Suche nach einem schnurlosen Telefon, bzw.: um sein „Wesen einzusehen, unfruchtbar“ (vgl. 446.14), denn er verrät uns weder, wie ein solches funktioniert, noch ob ein solches überhaupt möglich ist. Dafür bedarf es entweder (1) eines ‚wirklichen‘ Gegenstandes, der unter den (negativen) Begriff fällt (kurz: eines Telefon-Exemplars, das tatsächlich ohne Schnur funktioniert), oder (2) zumindest eines positiven Begriffs. Hier wäre das z. B. der Begriff eines Funktelefons, welcher (auch bereits ohne ein Exemplar) auf eine Möglichkeit hindeutet und damit z. B. dem Ingenieur einen Weg der Realisierung weist. – Ähnlich verhält es sich bei der Telegraphie (Nachrichtenübermittlung ohne Transport eines materiellen Trägers), der Telepathie (Gedankenübermittlung ohne Beteiligung der Sinnesorgane) oder der Teleportation (Ortswechsel makroskopischer Körper ohne eine Durchquerung des dazwischenliegenden Raumes – „Scotty, beam me up!“). Derzeit haben wir nur im ersten Fall einen positiven Begriff (sogar mehrere: optische Telegrafie, Funkübertragung usw.) nebst Exemplaren; im zweiten gibt es (möglicherweise) empirische Exemplare, aber keinen positiven Begriff; im dritten nichts von beidem (für eine Fiktion reichen negativer Begriff und etwas Phantasie). – Bei den nicht-empirischen Begriffen der Metaphysik lässt sich die objektive Realität (d. h. die Möglichkeit, dass Gegenstände unter sie fallen) naturgemäß nicht anhand von Exemplaren erweisen – sondern ausschließlich vermittels eines positiven Begriffs. – Negative Begriffe taugen allenfalls für (leibnizsche) Nominaldefinitionen (die zur Unterscheidung eines Gegenstandes von anderen hinreichen); Realdefinitionen, aus denen (auch) die Möglichkeit ihres Gegenstandes erkannt werden kann (vgl. A 241 Fn.), benötigen positive Begriffe. 212 Kant geht es im (hier zitierten) „Kanon der reinen Vernunft“ (A 795– 831) um die moraltheologischen Beweise von Gottesexistenz und Seelenunsterblichkeit. Dabei kommt es ihm darauf an (s. o. Kap. I.2), dass die „Religion frey von der speculation“ bleibt, d. h.: dass sein Gottesbeweis insbesondere nicht auf die transzendentale Freiheit (die als Gegenstand des „speculative[n] Wissen[s]“ zuvor „in der Antinomie“ erörtert wurde, A 803) zurückgreifen muss, sondern ausschließlich auf die unkontroverse Erfahrungstatsache einer praktischen Freiheit als solcher (dazu auch noch unten Kap. IV). 213 „Comparativ“ insofern der Handelnde nicht von außen gezwungen, sondern nur von inneren Bestimmungen abhängig ist; „psychologisch“ weil er dabei „durch Vorstellungen betrieben“ wird; 05:97; vgl. 92, 96 und 28:267. 214 Letztlich ist sie für die Moral sogar problemkonstitutiv, denn könnten sich die Menschen vermittels ihrer Vernunft nicht zumindest von dem was aktuell „reizt“ distanzieren, dann liefe (s. o.) jeder Begriff vom „Sollen“ leer. In genau diesem Sinne ist der (bloß-)psychologische Begriff erst einmal „zur
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Moralität hinreichend genug“ (28:267; siehe zu dieser Kantischen Behauptung mit weiteren Belegstellen: Ludwig 2014, 228ff.). 215 Kant betont in dem hier ausgelassenen Teilsatz, dass er diese Frage hier im Kanon, wo es im Rahmen der Gottes- und Unsterblichkeitslehre allein um die Möglichkeit von „Vorschriften“ (vgl. A 811: „Gebote“) geht, aussparen kann: Sie stellt sich nämlich nur im Kontext einer Zurechnungslehre (vgl. A 440 und z. B. 27:154.24ff., 288, sowie unten Kap. IV) – die nicht bereits für die Möglichkeit einer Nötigung mittels Drohungen und Verheißungen, sondern erst für deren moralische Angemessenheit einschlägig ist, denn nur (im transzendentalen Sinne) freie Handlungen können Strafen oder Belohnungen auch verdienen (vgl. das „justae“ im Leibniz-Zitat in Anm. 281). 216 Dazu 17:131; 19:898; 28:96, 255, 267f., 677; vgl. oben Anm. 97. 217 Deutlich kommen diese Beziehungen in Kants Anmerkung zur Thesis der dritten Antinomie zum Ausdruck: „Die transscendentale Idee der Freiheit macht zwar bei weitem nicht den ganzen Inhalt des psychologischen Begriffs dieses Namens aus, welcher großen Theils empirisch ist, sondern nur den der absoluten Spontaneität der Handlung als den eigentlichen Grund der Imputabilität [Zurechenbarkeit] derselben, ist aber dennoch der eigentliche Stein des Anstoßes für die Philosophie, welche unüberwindliche Schwierigkeiten findet, dergleichen Art von unbedingter [!] Causalität einzuräumen. Dasjenige also in der Frage über die Freiheit des Willens, was die speculative Vernunft von jeher in so große Verlegenheit gesetzt hat, ist eigentlich nur transscendental und geht lediglich [!] darauf, ob ein Vermögen angenommen werden müsse, eine Reihe von successiven Dingen oder Zuständen von selbst [!] anzufangen.“ (A 448) 218 Jüngst noch etwa: Klemme 2017, 23ff.; Josifović 2015, 502; Schönecker/Wood 2002, 179ff. 219 Hier ist die Unterscheidung zwischen „im Begriff enthalten sein“ („Theilung“ des Begriffs, divisio metaphysica) und „unter den Begriff fallen“ („Eintheilung“ der Sphäre des Begriffs, divisio logica) einschlägig (siehe dazu: Logik, 09:146f., und oben Anm. 29 unter „B)“). Die Frage, ob die empirischerkannte praktische Freiheit des Menschen ihrerseits nur eine bloß-comparative oder gar eine transzendentale ist (die beide in die „Sphäre des Begriffs“ der praktischen Freiheit fallen), ist ihrerseits keine empirische Frage mehr, und sie wird in der ersten Kritik dann in A 542ff. beantwortet (s. besonders A 546f.: „Allein der Mensch…“). – Wenn man dies im Lichte der obigen Erörterungen beachtet, taucht das vieldiskutierte „Kanon-Problem“ (d. h. ein vorgeblicher Widerspruch zwischen dem obigen A 534-Zitat – das A 542 zufolge bloß zu einem ersten „Schattenriß“ der Erörterung gehört – und den Begriffsbestimmungen in A 802f.) nicht auf; siehe dazu Ludwig 2015b Fn. 16 und 2017, 98ff. 220 „Unter allen Wesen giebt es nur einige, welche Vorstellungskräfte haben. In so fern diese Vorstellungen die Ursache von den Gegenständen der Vorstellung oder von der Wirklichkeit derselben werden können, heißen sie Vittorio Klostermann, 2019.
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lebendige Wesen. Das Begehrungsvermögen ist also die Causalität der Vorstellungskräfte in Ansehung der Wirklichkeit ihrer Gegenstände.“ (28:1059, vgl. zur Differenz Tier/Pflanze bereits oben Anm. 95) 221 Dass ein echter „Musikus“ den ihm vertrauten gesetzmäßigen Zusammenhang zwischen Handbewegung und Ton benutzt, ohne sich dabei desselben unmittelbar bewusst zu sein (14:410), spielt hier keine Rolle. 222 Hier nicht (nur) im Sinne von ‚natürlicher Ursache eines Geschehnisses‘, sondern von ‚Ursache eines natürlichen Geschehnisses‘, d. h. als ‚Ursache der Natur‘ mit genitivus objectivus („eine Causalität […], die nicht Erscheinung ist, obgleich ihre Wirkung dennoch in der Erscheinung angetroffen wird“; A 539). 223 Vgl.: „Das Begehrungsvermögen, sofern es nur durch Begriffe, d. i. der Vorstellung eines Zwecks gemäß zu handeln, bestimmbar ist, würde der Wille sein.“ (05:220) 224 Anders formuliert: Würde man beim arbitrium sensitivum liberum einfach nur davon abstrahieren, dass es von Gütern und Übeln als Bestimmungsgrund abhängt, dann hätte man zunächst einmal gar kein arbitrium mehr. 225 Dieser ‚nomologische Charakter‘ der Kausalität wird von Kant an keiner Stelle explizit begründet (dazu Keil 2001). Er ist letztlich aber durch Kants Anerkennung der Humeschen Einsicht gefordert, dass (beobachtbare) Gesetz- bzw. Regelmäßigkeiten die exklusive Grundlage jeder besonderen Ursachenerkenntnis darstellen (dazu A 766), und zwar deshalb, „weil wir überhaupt von keinem Realgrunde und keiner Causalität aus bloßen Begriffen a priori die Möglichkeit [sc. der Verursachung, B. L.] erkennen können.“ (A 558; vgl. A 9) – Hume zufolge ist aus ebendiesem Grunde jede Definition der Ursache „drawn from circumstances foreign [!] to the cause“ (EcHU, Sect. VII,2): Diese ‚extraneous‘ oder ‚foreign circumstances‘ sind zum einen die ‚constant conjunction in similar instances‘ (‚philosophical definition‘), zum anderen unsere subjektiven ‚anticipations‘ (‚naturall definition‘). Hume folgend behandelt Kant (zumindest seit der KrV unübersehbar) die allgemeine Regelhaftigkeit/Gesetzmäßigkeit als ein wesentliches Merkmal im Ursachenbegriff; gegen Hume aber tritt an die Stelle der natürlichen (bloß-subjektiven) „Regel der Assoziation“ ein „Prinzip der Affinität“: Das „Herausgehen [!] aus dem Begriffe eines Dinges auf mögliche [!] Erfahrung, welche[s] a priori geschieht und die objective Realität desselben [sc. „des Gesetzes“] ausmacht“ (A 766; vgl. auch A 90 und 307). 226 Diese Formulierung ist schillernd: Kurz zuvor wurde das Sittengesetz noch als das „Gesetz der Causalität“ des freien Willens bestimmt; hier klingt es nun so, als stehe ein freier Wille „unter“ der Norm des Sittengesetzes: Diese Ambiguität (‚Gesetz der Freiheit‘ mit genitivus subjectivus bzw. objectivus) zieht sich durch den nachfolgenden Text und betrifft die Frage der (begrifflichen) Möglichkeit pflichtwidriger freier Handlungen (s. u. ad [19]). 227 D. h.: ‚Jeder freie Wille steht unter dem Sittengesetz‘. – Kant hätte Vittorio Klostermann, 2019.
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definitiv einen Fehler gemacht, hätte er hier auch die Umkehrung (‚Ein Wille unter dem Sittengesetz und ein freier Wille ist einerlei.‘) behaupteten wollen, denn er hat das Urteil erklärtermaßen vermittels „Zergliederung“ des Freiheitsbegriffs begründet, und die dabei heranzuziehende Teil-Ganzes-Relation ist naturgemäß nicht symmetrisch. Einen solchen Fehler unterstellen allerdings implicite die gängigen englischen Übersetzungen, indem sie das ‚ist‘ mit ‚are‘ übersetzen. – Kant selbst formuliert, begründet und benötigt eine (echte) ‚reciprocity-thesis‘ (Henry Allison) bezüglich ‚Freiheit‘ und ‚Sittengesetz‘ erst 1787 (in den §§ 5–8 der KpV; siehe dazu ausführlicher Ludwig 2017, Anm. 15). ‚Freiheit‘ und ‚eigene Gesetzgebung‘ des Willens dagegen gelten für Kant auch schon 1785 als „Wechselbegriffe“ (450.24; vgl. 09:98). 228 Es ist daher irreführend, hier von einer „Analytizitätsthese“ (u. a. Schönecker/Wood 2002, 174ff.) zu reden, denn eine These fordert eine inhaltliche Begründung oder Stützung. Ein Erläuterungsurteil muss man nur als solches ausweisen – die inhaltlich-philosophische Frage ist dann erst die nach der sachlichen Angemessenheit des jeweiligen semantischen Rahmens und wird ggf. mittels einer Deduktion beantwortet. 229 Wenn Zweifel aufkommen, ob mit „das letztere [!] ist doch immer ein synthetischer Satz“ (447.10) dieser Zusammenhang gemeint sein kann (und nicht vielmehr das zuvor erwähnte ‚Prinzip der Sittlichkeit‘ – das ja auch ein ‚synthetischer Satz‘ sein soll), dann hilft ein Blick in das Grimmsche Wörterbuch: „ERSTERE, prior; ein, wie in den sprachen oft geschieht, aus dem superlativ neu vorquellender comparativ […], gerade wie aus dem superl. der letzte wieder ein comp. letztere [!] entsprosz.“ (Grimm, Bd. 3) Bei einer solchen komparativen Verwendung bezieht sich ‚das letztere‘ im Falle einer Nennung von mehreren Ausdrücken naturgemäß auf den letzten derselben – und der Doppelpunkt im Text zeigt ebendiese Bezugnahme ja auch ganz ausdrücklich an. – Allenfalls der heute dominierende Sprachgebrauch könnte dazu verleiten, „das letztere“ grammatisch als einen Rückbezug auf das zuvor angesprochene ‚Prinzip der Sittlichkeit’ zu lesen; aber damit würde bereits der genannte Doppelpunkt rätselhaft, und a fortiori verlören die nachfolgenden Bezüge (sc. „denn“, „Solche“, „jene Eigenschaft der Maxime“) ihren geraden Sinn, so dass diese Lesart (so u. a. noch bei Wyrwich 2011, 61) nur dann ins Auge gefasst werden sollte, wenn sie denn alternativlos wäre. 230 Nur um an dieser Stelle auf die in diesem Kontext suggestiven falschen Nebengedanken indirekt aufmerksam zu machen und ihm dadurch vorzubeugen: „Synthetisch“ ist hier im Sinne der Urteilslehre gebraucht, das „analytisch“ im Satz zuvor hingegen im Sinne der Methodenlehre. 231 ‚Anzeigen‘ ist hier im stärkeren Sinne von ‚begründen‘ zu lesen, wie wir es bei Kant z. B. in A 295, 783; 04:354.13; 04:539.34; 421.12 oder 05:205 Fn. finden. 232 Der letzte Satz in III.1 ist grammatisch korrupt und ergibt daher ohne irgendeine (stillschweigende oder explizite) Konjektur keinen Sinn. Ergänzt Vittorio Klostermann, 2019.
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man – nächstliegend – vor „die Deduktion“ ein ‚damit‘ (oder vor dem „begreiflich machen“ sinngemäß noch ein zweites ‚lässt sich hier sofort noch nicht‘), dann besagt der Satz, dass sich sowohl die Möglichkeit des kategorischen Imperativs als auch die Deduktion der Freiheit beide (!) gleichermaßen nicht begreiflich machen lassen, solange man (noch) nicht weiß, was irgendein Drittes ist, „worauf“ die Freiheit (!) „weiset“. Das ist nun zwar hinsichtlich der ‚Möglichkeit des Imperativs‘ eine unmittelbar verständliche (s. o.), aber bezüglich der ‚Deduktion der Freiheit‘ eine geradeheraus absurde Behauptung: Denn wie könnte die Begreiflichkeit irgendeiner Deduktion von etwas noch Unbekanntem abhängen (u. a. von einer Idee), worauf uns das Deduzierte dann erst ‚weiset‘? Von Kant zumindest kennen wir solche merkwürdigen Arten epistemischer Rekursivität nicht. Die ‚Deduktion der Freiheit‘ und die ‚Möglichkeit des Imperativs‘ können unmöglich beide aus demselben Grunde hier noch unbegreiflich sein, wenn zugleich dieser Grund darin bestehen soll, dass wir etwas (sc. eine „Idee“), „worauf uns die Freiheit weiset“ (bzw. was der positive Begriff der Freiheit „schafft“), noch nicht kennen. – Es liegt daher eine andere, sehr einfache Konjektur näher, die diese Konsequenz eliminiert (indem sich das „mit ihr“ dann allein auf die „Idee“ – und nicht auch auf die „Deduction“ – bezieht) und dabei einen grammatisch korrekten und inhaltlich problemlos verständlichen Satz liefert, der sich zudem pragmatisch in den Kontext fügt: Man nimmt den gesamten Ausdruck „die Deduction des Begriffs der Freiheit aus der reinen praktischen Vernunft“ erst einmal heraus. Dann liest man sinngemäß (s. o.): ‚Die Idee, auf die uns die Freiheit weist und die dasjenige Dritte ist, welches die Möglichkeit des kategorischen Imperativs begreiflich macht, lässt sich hier noch nicht aufzeigen, sondern dies bedarf der Vorbereitung.‘ Da diese „Vorbereitung“ nicht mehr in III.1 stattfinden kann (der Absatz endet ja mit deren Ankündigung), jedoch vor III.4 abgeschlossen sein muss (denn dort wird die einschlägige Möglichkeit des Imperativs dann ja ‚begreiflich gemacht‘), kann sie nur in III.2–3 stattfinden: Und dort (wo, wenn nicht dort?) geht es fraglos um die noch ausstehende, ‚vorbereitende‘ „Deduction des Begriffs der Freiheit aus der reinen praktischen Vernunft“. Dieser gesamte Ausdruck sollte also – so ist zu vermuten – nachträglich an das Ende des (Ab-)Satzes als eine Kennzeichnung der nun unmittelbar anstehenden Vorbereitung (mit „einiger [!] Vorbereitung“ dürfte Kant auf deren größeren Umfang hindeuten) angefügt werden (etwa mit Komma bzw. Doppelpunkt abgetrennt oder in Klammern), ist aber unglücklicherweise an die falsche Stelle geraten (für ein solches Versehen gibt es Parallelen bei Kant; vgl. etwa 06:248.33f.: Das „und…hervorgeht“ ist dort hinter dem ersten „zureicht“ des Absatzes eingefügt, der Sache nach gehört es aber hinter das zweite: 06:249.05; vgl. mit 06:247.17). – Von dieser Korrektur hängt die Möglichkeit der hier vorgeschlagenen inhaltlichen Interpretation von GMS III nicht ab, weil der Satz ‚so wie er dasteht‘ zunächst unverständlich ist und somit ohne irgendeine (ex-
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oder implizite) Konjektur weder diese noch eine andere Interpretation belastbar stützen oder infrage stellen kann. Im Rahmen der hier vorgetragenen Rekonstruktion ist die angeführte Konjektur allerdings post festum äußerst hilfreich: Sie deutet darauf hin, dass Kant auch hier einen klaren Gedanken vortragen wollte. 233 Die objektive Realität eines Begriffs beinhaltet nicht bereits, dass es wirklich Gegenstände gibt, die unter ihn fallen (s. dazu etwa A 155, 220). – Etwas salopp könnte man also auch sagen: ‚Ein Begriff hat bereits dann objektive Realität, wenn er der Begriff eines möglichen Gegenstandes ist.‘ Allerdings darf man sich dadurch dann nicht dazu verleiten lassen, unter der Hand die ‚ontologische Kategorie‘ der ‚möglichen Gegenstände‘, einzuführen – insofern ist hier die ‚scholastische‘ Rede über Begriffseigenschaften ‚sicherer‘. 234 Sie dazu oben Anm. 31ff. Zum Folgenden auch: Ludwig 2015a. 235 Das geht ja auch bereits aus Kants (oben herangezogener) Äußerung im Kanon der KrV hervor, dass die Frage der transzendentalen Freiheit „das spekulative Wissen“ betreffe und bereits „in der Antinomie […] schon hinreichende [!] Erörterung“ gefunden habe (A 803f.). 236 Das entschärft ein wenig die Irritation, die Kant zunächst hervorruft, wenn er einerseits behauptet, die Freiheit ließe sich nicht „als etwas Wirkliches […] beweisen“ (449.26), andererseits aber (wie hier) darauf besteht: Sie „muss […] bewiesen werden“. 237 Auch für ‚wirkliche Schachprofis‘ gelten dieselben Regeln auf dieselbe Weise (eine Rochade ist eine Rochade) – nur Regelverstöße haben für sie möglicherweise empfindlichere Konsequenzen. 238 Dieser Aspekt des (menschlichen) Willens kommt hier nicht etwa neu hinzu, er ist bisher nur noch nicht thematisiert worden (ob es überhaupt einen seiner selbst nicht bewussten Willen geben könnte, muss uns daher an dieser Stelle nicht interessieren). Schon in der Metaphysik-Vorlesung der 1770er Jahre ist dieser Aspekt Thema: „[…] nur dann habe ich spontaneitatem absolutam [!]. Wenn ich sage: ich denke, ich handle etc., dann ist entweder das Wort Ich falsch angebracht, oder ich bin [!] frei“ (28:269). Und in einer Anthropologie-Vorlesung (um 1780) hat Kant diesen Zusammenhang von Selbstbewusstsein und Freiheit (bzw. Moralität) seinen Hörern eindrucksvoll illustriert: „Wenn ein Pferd den Gedanken Ich fassen könnte, so würde ich herunter steigen, und es als meine Gesellschaft betrachten müssen. Das Ich [!] macht den Menschen zur Person [!].“ (25:859) – 1788 wird Kant dies dann allerdings ganz ausdrücklich zurückweisen: Das Selbstbewusstsein (allein) machte uns zunächst einmal nur zu einem bloß-„comparativ“-freien, „denkenden Automaten“ (05:101); dazu unten Kap. V. 239 „Warum aber soll ich mich denn diesem Prinzip unterwerfen?“ ist – wie der Duktus des Absatzes zeigt – hier nicht etwa die Frage des moralischen Skeptikers (für den Kant sich ja ohnehin nicht interessiert, s. o. S. 21), sondern desjenigen, der nicht weiß, „wie es zugeht“, dass er (tatsächlich) ein Interesse an der Sittlichkeit nimmt, ohne dass sein Wollen (wie das eines Vittorio Klostermann, 2019.
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Anmerkungen
reinen Vernunftwesens) bereits „hinlänglich“ (412.25f.) durch die Vernunft bestimmt und dieser also jederzeit ‚völlig gemäß‘ ist (ebd.). Die Frage ist hier also, warum dieses Prinzip – und nicht z. B. das des Eudaimonismus oder der Wille Gottes – erklären können soll, dass vernünftige Sinnenwesen die Forderungen der Sittlichkeit anerkennen und sittliches Handeln wertschätzen. 240 Sind das „moralische Gesetz“ und das „Prinzip der Autonomie des Willens“ (wie zuvor gezeigt) dasselbe, dann „scheint“ es, als setzten wir die Freiheit voraus, indem wir eigentlich das Sittengesetz voraussetzen – und damit könnte dann die Freiheit weder dieses noch die Autonomie erklären. 241 In 449.30 wird man daher: „sich ihm zu unterwerfen“ und nicht etwa: „sich ihm zu unterwerfen“ lesen, denn es geht ja um die Frage: „Warum aber soll ich mich diesem [!] Prinzip [sc. dem der Autonomie] unterwerfen […]?“ (449.11) – und das kann man (wie sich zeigen wird) mit Rückgriff auf das Bewusstsein der Freiheit erklären. 242 Im Rahmen der hier vorgelegten Rekonstruktion des Argumentationsganges der Grundlegung (und speziell der damit verbundenen Funktion des dritten Abschnittes) hat dieser „Cirkel“ (bzw. die „Erbittung“) allenfalls eine illustrative Funktion, die ihrerseits keiner besonderen systematischen Aufmerksamkeit bedarf: Für Kant gibt es – wie sich sogleich zeigen wird – diesen Zirkel ja gar nicht. Nur ein „Verdacht“, es gebe einen solchen, wurde von ihm (gleichsam didaktisch) „rege gemacht“ (453.03), um die anstehende Aufgabe zu verdeutlichen: „Es zeigt sich […nämlich, B L.] eine Art von Cirkel“, wenn man die anerkannte „Wichtigkeit der moralischen Gesetze“ zum Ausgangspunkt von deren Erklärung machen will (eine Möglichkeit, die der mit „Zwar [!] finden wir wohl…“ beginnende vorige Absatz zunächst suggeriert). – Ein Zirkel droht (so zeigt dann Kants einzige „Auskunft“) allenfalls solchen Moralisten, die zugleich dogmatische Philosophen bleiben wollen und als solche die Freiheit dann nicht ‚beweisen‘ können. – Für die Irritationen, die der Zirkel im Rahmen der herkömmlichen Rekonstruktionsversuche von GMS III hervorruft, siehe etwa Allison 2011, 311ff.; Schönecker/Wood 2002, 191; Berger 2015 oder die zahlreichen Index-Einträge zu ‚Zirkel‘ und ‚Zirkelverdacht‘ in Puls 2017, 318. 243 Kant referiert hier die Unterscheidung zwischen (von uns passiv empfangenen – sc. ‚feel‘) „impressions“ und (von uns selbst aktiv hervorgebrachten – sc. ‚recall‘/‚anticipate‘) „ideas“, mit der Hume die zweite Sektion seiner ersten Enquiry eröffnet, und die der Sache nach auf Berkeley zurückgeht. Berkeley verortete „hinter“ den passiv empfangenen Ideen den Willen Gottes als deren Ursache; er glaubte, damit Lockes Lehre, solche Ideen würden in uns durch materielle Gegenstände hervorgerufen, zurückzuweisen. – Für Hume und Kant sind solche Fragen nach dem Wesen der Ursache von Vorstellungen (‚ideas‘) prinzipiell unerörterbar und damit gegenstandslos. 244 Hier spielt Kant auf einen ‚natürlichen Cartesianismus‘ des „gemeinsten Verstandes“ an. 245 Kant wird hier an ‚trivialisierte‘ Leibnizsche Monaden denken. Vittorio Klostermann, 2019.
Anmerkungen
Ideen sind Begriffe, die aus ‚Notionen‘ zusammengesetzt sind, d. h. aus ihrerseits nicht-empirischen Begriffen, die im Verstand bzw. in der Vernunft (aber nicht – wie etwa die mathematische Vorstellung eines „Triangels“ – im „reinen Bilde der Sinnlichkeit“) ihren Ursprung haben (A 320). Exemplarische Beispiele für solche Ideen wären zweifelsohne die transzendentalen Ideen; aber es kommt für Kant in diesem Zusammenhang auch schon „eine Ordnung nach Ideen“, die sich gleichermaßen auf „die bloße Sinnlichkeit“ wie auf die „reine[ ] Vernunft“ (auf „das Angenehme“ und auf „das Gute“ also) bezieht, in Frage (siehe A 548). 247 Siehe A 546–48 (im Zentrum also jener Erörterungen, in denen Kant die „Momente ihrer [sc. der Auflösung des Freiheitsproblems] Entscheidung, auf die es eigentlich ankommt [!], auseinander setzen, und jedes [!] besonders in Erwägung ziehen“ will, A 542) und 04:344.22ff. – Wir halten hier zunächst einmal einfach nur fest, dass Kant in diesen drei Schriften (d. h. 1781, 1783 und 1785) die ‚intelligible Existenz‘ des Menschen so unübersehbar (wie auch alternativlos) spekulativ an dessen ‚ideengenerierender Vernunft‘ festmacht (detaillierte Nachweise am Text dann unten in Kap. V) – auch wenn wir dies sonderbar finden mögen und Zweifel hegen, dass es mit anderen Annahmen der kritischen Philosophie vereinbar ist. – Wenn man deshalb allerdings insbesondere Abs. [13-14] zum Anlass nimmt, die Grundlegung pauschal als ein „Kinderbuch“ (M. Baum, mehrfach gerne mündlich, vgl. auch oben Anm. 194) zu bezeichnen, dann sollte man also konsequenterweise auch gleich noch die Kritik der reinen Vernunft und die Prolegomena in der KiTa-Bibliothek bereitstellen. – In Kap. V werden wir sehen, dass Kant selbst mit der zweiten Auflage der KrV dieses in der Tat merkwürdige Lehrstück unter Nennung guter Gründe zurückweist, die Einsichten der ersten beiden Abschnitte der Grundlegung in der Kritik der praktischen Vernunft dann aber affirmiert. 248 Descartes folgert daraus dann, anders als Kant, dass speziell die Idee Gottes gar nicht von uns selbst hervorgebracht werden kann (und folglich von Gott in uns gelegt sein muss – der ebendarum existieren muss). – Manche Autoren, wie z. B. Hobbes, meinen bereits bestreiten zu müssen, dass wir eine entsprechende Gottesidee überhaupt haben (Einwand gegen die 3. Meditation); andere, wie Hume, gehen davon aus, dass eine solche Idee (doch) auf vertraute Weise durch unsere „faculty of compounding, transposing, augmenting“ &c. aus sinnlich vorgegebenen „ideas“ erzeugt werden kann (Essay concerning Human Understanding Sect. II). – Kant drückt seine Aversion gegen solche „unerträgliche“ Verwechslung von Sinnlichem und Intelligiblem u. a. an der in Anm. 246 zuerst genannten Stelle aus. 249 Auch hier zeigt sich die Einheit von theoretischer und praktischer Vernunft – die ein möglicher Gegenstand der in der Vorrede angekündigten ‚Kritik der reinen praktischen Vernunft‘ sein könnte (vgl. o. S. 107). 250 Die Frage, ob es auch eine ‚Vernunft ohne reine Ideen‘ und damit ohne absolute Spontaneität geben könnte, wird nicht explizit erörtert. Dass 246
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sie Kant zufolge aber zumindest ohne inneren Widerspruch gedacht werden kann, ist offensichtlich (s. o. S. 97ff.). 251 In Kap. V werden wir sehen, dass Kant 1787/88 die ‚Auskunft‘ aus dem Zirkel auf der anderen Seite sucht und findet (und damit dieses Lehrstück von Grundlegung III hinter sich lassen kann). 252 Kant stellt sie (für uns) erstmals in einer Vorarbeit zu den Prolegomena (23:60 um 1783/84), dann im Naturrecht Feyerabend (27:1324) sowie in der Moral Mrongrovius II (29:607). Eine Antwort finden wir dann erstmals in der Grundlegung. 253 Die Rede von ‚zwei‘ Willen (die beide meine sind) ist hier nur prima facie merkwürdig – und von Kant selbst wird sie mehrfach vorgegeben: besonders (1) 453.21f.: „diese[ ]“ und „jene[ ] Causalität“, (2) 454.14f.: „welcher[!]“ und „erstern“, sowie (3) 455.04f.: „gute[r]“ und „böse[r] Wille“. – Die vermeintliche Merkwürdigkeit verliert sich, wenn man im Blick behält, dass im Folgenden nicht etwa gezeigt werden soll, dass wir einen zweiten, reinen Willen haben (u. ä.), sondern nur, dass ein solcher zumindest gedacht werden kann, um wiederum damit die kategorische Nötigung denken zu können. – Wären Menschen ‚bloße Sinnenwesen‘, dann könnten sie bei sich selbst einen reinen Willen eben nicht denken, weil ein solcher zwar nicht sich selbst, aber doch der ihrerseits notwendigen Naturordnung widerspräche (vgl. dazu unten [20-22]) und damit nicht zum ‚Inbegriff aller Möglichkeiten‘ gehört. 254 Um an dieser Stelle noch einmal die hier gestellte ‚Aufgabe‘ zu präzisieren: Es geht in der Grundlegung nicht darum, die ‚Sittlichkeit zu begründen‘ o. ä. (ganz gleich was man darunter verstehen wollte: dafür wären alle ‚Denkbarkeits‘-Argumente des dritten Abschnittes zu schwach). Es geht vielmehr darum zu zeigen, dass die „im Schwange gehende“ Sittlichkeit nicht etwa der Ausdruck eines rationalisierten (sublimierten) Strebens nach (diesund/oder jenseitiger) Glückseligkeit ist, sondern Ausdruck der Freiheit vernünftiger Wesen. Dass eine solche ‚Moral(philosophie) der Autonomie‘ dem Inhalt nach mit der gemeinen sittlichen Vernunfterkenntnis übereinstimmt, haben die ersten beiden Abschnitte bereits gezeigt. Dass sie kein bloßes Hirngespinst ist, sondern sich tatsächlich aus der Freiheit als einer Eigenschaft vernünftiger Wesen entwickeln lässt, zeigt nun der dritte. Der letzte Schritt dabei ist jetzt der Nachweis, dass sich eine Nötigung des Willens nicht nur aus dem Wollen irgendeines (neigungsbedingten) Zwecks „analytisch“ ‚herausziehen‘ lässt (417.10f – was der Sache nach ja niemand bestreitet), sondern auch als mit dem Willen eines vernünftigen Sinnenwesens „synthetisch“ verknüpft gedacht werden kann – sofern der Begriff der Freiheit für ein solches Wesen objektive Realität hat. 255 Die „logische Funktion“ (siehe A 70) im hypothetischen Urteil (sc. ‚Wenn A dann B‘, wobei A und B selbst Urteile sind) wird erst in der Bezugnahme auf sinnliche Anschauungen, die in einem Zeitverhältnis unter einander stehen (d. h. durch die Schematisierung, siehe A 144) zu einer ‚Kausalrelation‘ (dazu 145f.). Inwiefern also die Rede von der „Causalität“ eines ‚nichtVittorio Klostermann, 2019.
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sinnlichen Willens‘ mit dieser Lehre vereinbar sein könnte, liegt zumindest nicht auf der Hand. Die KpV diskutiert diese Frage erstmals ausführlich (05:50ff.) – dann aber unter anderen Voraussetzungen (s. u. Kap. V). 256 Insbesondere diese Rede von „Grund der Sinnenwelt“ ruft für Kants Zeitgenossen den Leibnizschen Gedankenhorizont von Gott als der „dernière raison [!] des choses“ ins Bild (vor dem insbesondere auch die dritte und vierte Antinomie der KrV artikuliert wurden) – auf den hier allerdings nur hingewiesen werden kann: Die Gesetze der Sinnenwelt haben ihren Ursprung und Grund im „Entendement de dieu“, der „Région des Verités éternelles“ (siehe etwa Monadologie §§ 37ff. oder Theodicée §§ 7ff.). 257 Vgl. zum Folgenden auch die „Interpretationsgeschichtliche Vorbemerkung“, oben S. 95ff. – Die dortigen Hinweise dienten zunächst allein der Zurückweisung der gängigen Deutung der Rede von „dieser Deduction“. Wenn diese Fehldeutung keinen Schatten (mehr) auf den Text wirft, dann dürften die hier gegebenen Hinweise allein bereits genügen, um Kants Argumentation durchsichtig zu machen. 258 Nur „ungefähr [!] so“, denn in der Kritik der reinen Vernunft gibt es ja (noch) gar keine „objective“ Ideen-Deduktion (s. A 336); von einer IdeenDeduktion im Praktischen ist erstmals in der Grundlegung die Rede (‚Deduktion der Idee der Freiheit‘; dazu unten Kap. IV). 259 Die Maskulina „welcher“ und „des erstern“ beziehen sich jeweils auf einen Willen – nicht auf die Idee desselben (dazu oben Anm. 254). – Die Deduktion eines Begriffs zeigt auf, dass dieser nicht notwendigerweise „leer“ ist, dass es also möglich ist, dass ein Gegenstand unter ihn fällt (dass er auf etwas referiert, dass er objektive Realität hat, dass er kein bloßes ‚Hirngespinst‘ ist &c.). Demnach ist man (erst) nach erfolgter Deduktion der ‚Idee des reinen Willens‘ berechtigt, einen ‚reinen Willen‘ als Gegenstand zu denken(!). – Anders als etwa Leibniz unterscheidet Kant (siehe dazu A 290f. und oben Anm. 31) scharf zwischen „Unmöglichem“ („nihil negativum“) als dem (vermeintlichen) „Gegenstand eines Begriffs, der sich selbst widerspricht“, und solchen (vermeintlichen) Gegenständen, die „nicht unter die Möglichkeiten gezählt werden müssen/können“ („ens rationis“). Daher bedarf es (so die Grundeinsicht der kritischen Transzendentalphilosophie) selbst bei einem ‚widerspruchsfreien Begriff‘ noch eines Nachweises der Möglichkeit seines Gegenstandsbezugs, seiner „objektiven Realität“ (dazu: A 244 und 08:194.04-09): Entweder durch eine „anzugebende Anschauung“ (A 290) oder – hier nun (seit 1785) im Praktischen – durch eine Deduction aus reiner praktischer Vernunft. Andernfalls bliebe er „Leerer Begriff ohne Gegenstand“, „Nichts“. 260 Dieser ‚reine Wille‘ tritt (wie dessen ‚Deduktion) erstmals in der Grundlegung auf. In Mrongovius’ Nachschrift der Moral-Vorlesung von 1784 kommt Kant ihm allerdings nahe (29:597). 261 Man wird diese Rekonstruktion der „Deduction“ – zumindest dann, wenn man sie etwa mit der Deduktion der Kategorien vergleicht – als ‚enttäuschend schlicht‘ ansehen, denn [18] enthält in der Tat kein besonders Vittorio Klostermann, 2019.
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Anmerkungen
raffiniertes Argument. Das spricht allerdings nicht in specie gegen diese Rekonstruktion, denn erstens hat das Argument einen bedeutenden, inhaltlichanspruchsvollen Vorlauf in den Sektionen III.1–3 (und das erste „dadurch“ spricht gegen die Annahme, Kant wolle ausschließlich den letzten Schritt in [18] als „diese[ ] Deduction“ verstanden wissen), zweitens zeigt es was es zeigen muss – und drittens ist (m. E.) auch nicht zu sehen, für welches andere denkbare Deduktionsobjekt in III.4 sich irgendein raffinierteres Argument rekonstruieren ließe – das zumindest Kant selbst überzeugt haben könnte. 262 Darauf hat nachdrücklich – aber aus einer anderen Richtung kommend – bereits Reich 1936, 11ff. hingewiesen: Wer sich selbst aus einem Interesse heraus irgendwelchen ‚eigenen Gesetzen‘ unterwirft (wie etwa auch im Falle hypothetisch-gebietender Imperative), ist im Kantischen Sinne immer noch heteronom. – Autonomie im negativen Verstande wäre (wie auch bei Rousseau) somit eine Unabhängigkeit vom Willen anderer, im positiven Verstande (bei Kant) das Vermögen der Gesetzgebung durch die (eigene) reine Vernunft (zu negativen und positiven Begriffen vgl. oben Anm. 211). 263 In Abschnitt III – wo es durchweg um metaphysica geht – wird der ‚gemeine Vernunftgebrauch‘ nur hier (und dann bei der Rekapitulation in [25]) angesprochen: Man wird nicht annehmen wollen, dass der (392.22 in der Vorrede bedeutungsvoll angekündigte) ‚synthetische Weg‘ vom obersten Prinzip „zur gemeinen Erkenntnis, darin sein Gebrauch angetroffen wird“, in diesem Beispiel beginnen und zugleich enden soll (vgl. Anm. 34). 264 Siehe dazu oben Anm. 226. 265 Wenn das Sonnenlicht das harte Wachs nicht zum Schmelzen bringt, weil ein Schirm die „Causalität“ der Sonne hindert, dann ist nicht diese die Ursache davon, dass das Wachs hart ist. 266 Klemme etwa glaubt, Kant wolle hier noch eine „negative Deduktion der Freiheit“ liefern (Klemme 2014, 84ff.). Das ist insofern inadäquat, als (erstens) Kant die Unterscheidung von ‚positiver‘ und ‚negativer Deduktion‘ nicht kennt, und (zweitens) die von Klemme so bezeichnete „negative Deduktion“ nichts anderes ist als der Nachweis der („speculativen“) „Möglichkeit“ einer intelligiblen Freiheit, der bereits in III.3 geleistet wurde und in III.5 dann nur durch einige Erläuterungen zur kritischen Unterscheidung von Sinnen- und Verstandeswelt ergänzt wird – den Charakter einer besonderen Deduktion haben diese Erläuterungen nicht. 267 In den folgenden Erörterungen verschleift Kant oftmals die Unterschiede zwischen Begriffen unterschiedlicher Stufen (etwa: „[…] ist diese Freiheit kein Erfahrungsbegriff“ – statt ‚ist dieser Begriff der Freiheit kein Erfahrungsbegriff‘ bzw. ‚ist diese Freiheit kein Gegenstand eines Erfahrungsbegriffs‘ – oder: ‚objective Realität‘ von Begriffen als der Gegensatz zu ‚empirische Realität‘ von Gegenständen). Solange das stillschweigend ‚geheilt‘ werden kann (und vermutlich die zeitgenössischen Leser auch nicht sehr irritiert hat), werde ich darauf nicht weiter eingehen. 268 Wie Kant schon in der Kritik der reinen Vernunft betont (A 448), kann Vittorio Klostermann, 2019.
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und muss zu diesem Zwecke nicht ‚begreiflich gemacht werden‘, „wie“ Freiheit möglich ist, es reicht zu zeigen, „dass“ sie möglich ist (s. u.). 269 Kant wird hier an Johann Heinrich Schulz, den Vertreter des „Fatalism“, denken, dessen für diese Fragen einschlägigen Versuch einer Anleitung zur Sittenlehre &c. er unmittelbar zuvor (aber augenscheinlich noch ohne im Besitz der Autonomie-Lehre zu sein) besprochen hatte (siehe: 08:09–14). 270 Hier zeigt sich erneut das am Ende von [19] angesprochene Problem der Zurechnung: Wie sollte diese Nachsicht ein ‚freier‘ Akt des intelligiblen Willens sein, wenn das Gesetz von dessen „Causalität“ das Sittengesetz ist? Ein gesetzgebender reiner Wille (als die reine praktische Vernunft) kann also unmöglich dasselbe sein, wie das arbitirum liberum purum (die freie Willkür) – das ist auch Kant am Ende nicht verborgen geblieben (s. u. Kap.V). 271 Diese Unterscheidung ist schon für die Freiheitslehre der KrV von zentraler Bedeutung: In A 558 behauptet Kant, er habe in der Antinomie „nicht einmal die Möglichkeit der Freiheit beweisen [!] wollen“. In A 448 hatte Kant zuvor betont, es gehe darum zu zeigen, dass Freiheit möglich sei, nicht aber, wie sie möglich sei. Demnach versteht er 1781 unter einem ‚Beweis der Möglichkeit‘ nicht den bloßen ‚Nachweis der Möglichkeit‘ (‚dass möglich‘), sondern die ‚Erkenntnis des Grundes dieser Möglichkeit‘ (‚wie möglich‘) – und diese letztere ist und bleibt uns bei der Freiheit verschlossen (zu den möglichen Fehldeutungen von A 558 siehe: Ludwig 2015b). 272 Zu der Frage, warum Kant im gesamten dritten Abschnitt und insbesondere hier in den Absätzen [30-31] die „Achtung“ nicht erwähnt hat, s. u. Anm. 285. 273 Diese Konsequenz ließ sich bereits oben antizipieren, s. o. Anm. 78. – Bei Hume steht eine von der sensation bzw. den passions abgetrennte Vernunft generell unter ‚enthusiasm‘ (Schwärmerei)-Verdacht (daher das ‚ought only to be‘); bei Kant gilt das nur für die theoretische Vernunft. 274 Empirisch-psychologisch löst sich das Problem dahingehend auf, dass man beim Handeln aus Pflicht die Aufmerksamkeit bewusst auf jene Neigungen gewandt hat, die in die ‚richtige Richtung‘ weisen. Diese Ausrichtung wäre dann Ausdruck der „Achtung für’s Gesetz“. 275 Siehe dazu die vierte Antinomie; zum Begriff der obersten Ursache dort: A 457. 276 Selbst wenn hier am Ende der Grundlegung nun von ‚unserer Deduktion des kategorischen Imperativs‘ die Rede gewesen wäre (was es aber nicht ist), dann hätte auch eine solche (sensu stricto) nur die ‚Deduktion der Formel eines kategorischen Gebots‘ sein können, denn „die Formel [!] des Gebots heißt Imperativ“ (413.10f. – keinesfalls hätte man es demnach als einen belastbaren Hinweis auf die Rechtfertigung des Gebots als Gebot lesen können). – Diese zunächst bloß-kontrafaktische Überlegung bestätigt sich dann sogar de facto in 06:395f., der einzigen uns überlieferten Passage, in der bei Kant tatsächlich von der Deduktion eines Imperativs die Rede ist: In Sektion IX der Einleitung in die Tugendlehre wird das „oberste Princip der Tugendlehre“: „Handle Vittorio Klostermann, 2019.
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Anmerkungen
nach einer Maxime der Zwecke, die zu haben für jedermann ein allgemeines Gesetz sein kann!“ gerechtfertigt. Von einer Rechtfertigung seines Gebotscharakters (seiner ‚Geltung‘ o. ä.) fehlt in Sektion IX allerdings jede Spur – aber dort muss (zufolge 06:396.15) gleichwohl die „Deduction“ dieses „kategorischen Imperativ[s]“ (06:395.22f.) zu finden sein. Und man findet eine solche dort auch: Würde die praktische Vernunft nämlich überhaupt keine Zwecke gebieten, dann könnte sie die Handlungsmaximen, „welche letztere jederzeit einen Zweck enthalten“, nicht vollständig bestimmen (was sie voraussetzungsgemäß aber können muss), sondern nur einer „einschränkenden Bedingung der Habilität“ unterwerfen (06:389.27; vgl. dazu auch 06:04.16 und 06:06.20f.). Diese handlungstheoretische Gegebenheit ist also der Grund dafür, dass in der Formel des „Grundsatz[es] der Tugendlehre“, also in deren „oberste[m] Princip“ (anders als etwa im „Allgemeine[n] Princip des Rechts“; 06:230), nun auch von subjektiven Zwecken die Rede sein wird (welche das sind, wird erst später erörtert): Mit der ‚Deduction des kategorischen Imperativs‘ wird hier also tatsächlich (nur) eine neue Formel für einen obersten Grundsatz ‚angegeben und gerechtfertigt‘. 277 Damit wiederholt Kant eine Behauptung, die er über 20 Jahre zuvor (sogar noch vor der Einführung seiner Terminologie von hypothetisch- und absolut/kategorisch-gebietenden Imperativen) bereits aufgestellt hatte, und in der auch schon das zugehörige Argument steht (s. o. Anm. 16). – Möglicherweise spielt das „absolut“ hier aber auch auf den einschlägigen Gegensatz von absoluter und hypothetischer Notwendigkeit (s. Leibniz, Théodicée, §§ 37ff.) an, d. h. darauf, dass das Sittengesetz nicht absolut, sondern nur unter der praktischen Voraussetzung [4f.] der Freiheit „nothwendig“ ist. 278 Williams, 1985.
Anmerkungen zu: Architektonische Spannungen 279 KrV A 636; für Kants Klassifikation der Gottesbeweise vgl. 28:305ff. (=Metaphysik L1; ~1775). – Zum Folgenden auch Ludwig 2018a, 67f. und (etwas ausführlicher) Ludwig 2019. Soweit ich es überblicke, betrachtet sonst erstmals Timmermann 2019 die Autonomie-Lehre in Zusammenhang mit dem Kanon der KrV; allerdings behandelt er dabei nicht das im Folgenden thematisierte Problem der (Un-)Möglichkeit kategorischer Imperative angesichts des moraltheologischen Gottesbeweises in der Version von 1781. 280 Sie scheinen allenfalls in der Formulierung durch, dass „die [reinen] practischen Gesetze […] unbedingt [!] gebieten“ – aber dies tun diese hier, weil deren „Zweck durch die Vernunft völlig a priori gegeben ist“ (A 800, mit den Zwecken sind hier u. a. „Ideen“ gemeint; siehe u. a. A 548) – und nicht etwa, weil sie unabhängig von allen Zwecken (und deshalb auch von der Sinnlichkeit) gebieten: Dergleichen ist 1781 definitiv noch gar nicht vorgesehen (siehe oben Anm. 49).
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Anmerkungen
Hier ließen sich grundsätzlich alle christlichen Autoren seit (spätestens) Augustinus anführen. Besonders konsequent wird die Sanktionstheorie z. B. bei John Locke ausgeführt (Essay concerning human Understanding Bk. II, Chap. XXVIII, §§4–16): Moralische Übel sind e definitione die durch göttliche, staatliche oder soziale Sanktionen konstituierten, d. h. die nicht-natürlichen, Übel. Auch bei Leibniz ist die Sanktion mitunter sogar Bestandteil des definiens der Verbindlichkeit: ‚obligatio est necessitas imposita iustae poenae metu‘ [Verbindlichkeit ist die durch Angst vor gerechter Strafe auferlegte Notwendigkeit] (Leibniz, Akademie Ausgabe, VI,4 (Berlin 1999), 2151; vgl. 2149, 2749f.). 282 Verbindlichkeit fortan einfach ganz ohne irgendeinen (zur Verpflichtung befugten) verbindenden Willen zu denken (und nicht bloß ohne äußere Sanktionen; vgl. dazu oben Anm. 281), wird von Kant 1785 offenkundig gar nicht erst als eine philosophische Option in den Blick genommen – was sich vor dem Hintergrund der (christlich-)naturrechtlichen Tradition (dazu Ludwig 1998, 430ff. und Ludwig 2000, 6–16) aber beinahe von selbst versteht. – Dass speziell Christian Wolff in diesem Kontext bei Kant keine bedeutenden Spuren hinterlassen hat, ist also insofern konsequent, als er für Kant (siehe oben, Vorrede Abs. [10] und ad [I 15]) ja überhaupt keinen brauchbaren Begriff von ‚Verbindlichkeit‘ hatte. Denn mit diesem Ausdruck wollte Wolff unterschiedslos die pragmatische Nötigung (für den Atheisten) wie die Gesetzesgeltung (für den Christen) abdecken. Indem er damit implicite einfach die Natur (statt eines – göttlichen – Willens) zum moralischen Gesetz-Geber erklärt (siehe z. B. den Vorbericht zur 3. Auflage der deutschen Ethik), gibt Wolff das in der naturrechtlichen Tradition (wie auch hier und später bei Kant, s. 06:331) für jede obligatio vorauszusetzende Subordinationsverhältnis zwischen dem (vernünftigen) Willen eines zu Normsetzung, Zwangsausübung und Bestrafung eigens befugten, bzw. autorisierten, Gesetzgebers und dem Willen des jeweils Gesetzesunterworfenen preis (dazu etwa Hüning 2018, 18f. – mit allerdings etwas anderer Stoßrichtung) und öffnet so u. a. einem uneingeschränkten staatlichen Paternalismus Tür und Tor. – Wolffs ‚eudaimonistisch-halbierter Rationalismus‘ (s. o. ad [I 15]), der also auch gleich noch das normative Kind mit dem theistischen Badewasser ausschütten wollte, scheint für Kant unerachtet von dessen anhaltender ‚Berühmtheit‘ schon längst keine anschlussfähige oder auch nur der Auseinandersetzung würdige Position mehr zu sein (worauf auch die – ohnehin nur wenigen – überlieferten Bemerkungen hindeuten; etwa: 19:116, 120; 27:227, 1424; 29:598). 283 Dass Kant durch eine Lektüre der (oder Berichte über die) 1782 bei Albrecht und Compagnie (Marburg, Leipzig, Neuchâtel) erschienene(n) Übersetzung des Contrat Social von Reval und Resenberg zur Einführung des Autonomiebegriffs in seine Freiheitslehre angeregt wurde (siehe dort Kap. I.8), könnte ggf. ein interessantes biographisches Detail sein. Zur Antwort auf die systematische Frage nach Kants Gründen, den (ja nicht nur im 281
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Anmerkungen
politischen Republikanismus längst vertrauten) Zusammenhang von Freiheit und Selbstgesetzgebung irgendwann zwischen erster Kritik und Grundlegung gänzlich unvermittelt für die allgemeine Moralphilosophie aufzugreifen und dafür dann rationalistisch umzudeuten, trüge es allerdings nichts bei – und falls man sich mit dem Verweis auf das biographische Detail (wenn es denn eines wäre) zufriedengäbe, lenkte es sogar den Blick von dieser Frage ab. 284 Vgl. dazu auch 23:60 und die Belegstellen oben in Anm. 25. 285 Dies könnte die zunächst einmal befremdliche Tatsache erklären, dass im dritten Abschnitt der Grundlegung von der „Achtung“ nirgendwo die Rede ist (und nicht einmal in [III 30] das dort erwähnte „Interesse“ mit ihr identifiziert wird): Möglicherweise hat Kant erst nachdem er mit dem Text des (jetzigen) dritten Abschnitts die Lösung seines eigenen ‚Nötigungs-Problems‘ ausgearbeitet hatte (und Garve so aus dem Fokus geraten war), einen umfassenden ‚prodromus‘ zur Moral ins Auge gefasst und dann die ersten beiden Abschnitte niedergeschrieben (wofür auch deren zahlreiche Vorverweise in den dritten sprechen; ich danke Werner Stark für den Hinweis). In diesen hat er dann nachdrücklich die „Achtung fürs Gesetz“ direkt mit einem vernunftgewirkten (moralischen) Gefühl sowie mit dem „Interesse“ identifiziert (siehe 401 Fn.). – Wenn das die gesuchte Erklärung ist, dann muss der (‚Achtungs-freie‘) dritte Abschnitt noch vor dem Beginn des Sommersemesters niedergeschrieben worden sein, und wir können 27:1326.18ff. geradezu ‚mitlesen‘, wie die Achtung sich bei Kant im Frühjahr 1784 von einem bloßen Ausdruck der Wertschätzung zu einem Beweggrund des Handelns mausert (vgl. oben Anm. 69) – und so Eingang in den ‚prodromus‘ findet. Auch wird dort (siehe: 431f.) dann die Beziehung von Autonomie und Selbstzweckhaftigkeit geklärt. 286 Wenn wir hier noch einmal die Erörterungen zu den drei Bedeutungen von ‚analysis‘ oben in Anm. 29 ‚B)‘ heranziehen, dann wird deutlich, dass Kant 1785 in der praktischen Philosophie nun ganz konsequent ebendieselbe Grund-Architektur zu realisieren versucht hat wie zuvor 1781/83 in der theoretischen: Prolegomena wie Grundlegung I führen auf analytischem Wege vom Vernunftgebrauch (dem theoretischen resp. dem praktischen) zu dessen Prinzip(ien). In Grundlegung II und III gibt es dann, genau wie in der ‚Analytik der Begriffe‘ (incl. Ästhetik; siehe dazu 05:90.12ff.!) der Kritik der reinen Vernunft, ein (vom ‚analytischen Weg‘ unabhängiges) ‚examen mentale‘ (s. o. Anm. 27), eine Bestimmung der Prinzipien und Quellen vermittels einer Zerlegung/Darstellung der jeweils einschlägigen Vermögen und einer – besonders anspruchsvollen – Deduktion reiner Begriffe (Kant weist uns in 454.15 auf gerade diese letzte Parallele ja ganz ausdrücklich hin, s. o. ad [III 18]). Im Anschluss daran folgt sodann ein synthetischer Weg von den Prinzipien/Quellen (zurück) zu den Anwendungen: In der Kritik der reinen Vernunft beginnt dieser „Weg“ anspruchsvoll (Schematismus!) und (deshalb?) bereits innerhalb der Kritik selbst (in der „Analytik der Grundsätze“, die zu einer Metaphysik
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der Natur überleitet). In der praktischen Philosophie soll und kann er (vermutlich, weil er hier besonders ‚fasslich‘ ist, möglicherweise aber auch, weil es dort nur einen Grundsatz gibt) vollständig in die Metaphysik der Sitten verlagert werden (ob es dabei zudem eine Rolle spielte, dass Kant 1785 nur eine vorläufige Grundlegung, nicht aber eine zweite Kritik vorlegt, sei dahingestellt). – Diese systemarchitektonische Parallelität ist durchaus bestechend, aber letztlich doch ein wenig zu schlicht gestrickt, denn sie scheint bei ihrem Aufweis der Möglichkeit des „synthetisch-praktischen Satzes a priori“ ohne irgendein praktisches Gegenstück zur transzendentalen Ästhetik – d. h. zum Anschauungsbezug als einer Art von Gegebenheit – auszukommen. Sie hält daher, wie wir im folgenden Kap. V sehen werden, auch nicht lange vor. 287 Damit verliert die – zumindest prima facie ja durchaus mögliche – adhoc-Hypothese, Kant habe die Grundlegung gegen irgendeine Gestalt der MoralSkepsis geschrieben, nun auch jede explanatorische Dienlichkeit. – Ferner scheint die Rede von einer „Emergence of Autonomy“ (Bacin/Sensen 2019) eher irreführend: Die Autonomielehre ist letztlich ein philosophischer Geniestreich (und zugleich ein Befreiungsschlag), den allenfalls kongeniale Denkerinnen oder Denker hätten nachliefern können, wenn die Kritik der reinen Vernunft (oder die Schulz-Rezension vom April 1783) Kants letztes Werk geblieben wäre.
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Anmerkungen zu: Nachbeben 288 „Vermögen“ deutet hier auf einen positiven Begriff der Vernunft hin, ‚nicht-sinnlich‘ auf den (bloß-)negativen Begriff (vgl. o. Anm. 210f.) – Siehe auch den Übergang vom negativen Begriff des Verstandes zum positiven Begriff desselben, vom ‚nicht-sinnliche Erkenntnisvermögen‘ zum ‚Vermögen zu urteilen‘ in A 67f. 289 Die Ideen finden wir bei Kant in dieser Funktion m. W. erstmals in der Kritik der reinen Vernunft (was etwas damit zu tun haben dürfte, dass erstmals in deren Dialektik den „transscendentalen Ideen“ als von der Vernunft selbst hervorgebrachten, transzendenten Vorstellungen eine systematische Funktion zuteil wird; siehe dazu etwa: A 311, A 321, A 327). Vorher ist in der Freiheitslehre nur unspezifisch etwa von „motiva intellectualia“ (17:509f.) o. ä. die Rede. Dieser konventionelle, ‚schulphilosophische Zugang‘ zum Intelligiblen wird von Kant z. B. 1793/94 thematisiert und dabei explizit zurückgewiesen (27:503) – denn seit 1787 bezeugen ja ausschließlich die ‚motiva moralia‘ unsere Teilhabe an einer intelligiblen Welt. 290 Für die Notizen siehe 23:41f. (=Refl. CLXXIII-CLXXVIII). – Kant reagiert mit dieser Revision punktgenau auf eine einschlägige Kritik, die Hermann Andreas Pistorius im Mai 1786 in zwei Rezensionen an der Seelenlehre von KrV und Grundlegung geübt hat; dazu ausführlich Ludwig 2010 und Ludwig 2012.
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An den Wiederveröffentlichungsdaten Kantischer Schriften kann man sich hierbei nicht orientieren; siehe dazu oben Anm. 11. 292 Nicht: ‚sonst transscendentalen‘; „transscendent“ ist der Gegenbegriff zu „immanent“ und kennzeichnet in der KrV einen Vernunftgebrauch, der die Grenzen der Erfahrung, d. h. der Sinnenwelt überschreitet (A 327). Wenn hier jetzt die intelligible, d. h. die Verstandeswelt hinzukommt, wird der „sonst transscendente[ ]“ Begriff der Freiheit naturgemäß „immanent“. 293 Dass er in der Grundlegung mit der „schwere[n] Bemühung“ einer freiheitsbasierten ‚Deduction der Idee des reinen Willens‘ im Grunde offene Türen eingerannt hatte, macht Kant 1788 mit der Formulierung deutlich, dass das „Factum […] vor [!] allem Vernünfteln über seine Möglichkeit [!] und allen Folgerungen [!], die daraus zu ziehen sein möchten, vorhergeht“ (05:91): Die Frage „Sind kategorische Imperative möglich?“ muss also gar nicht durch ein „Vernünfteln“ über die Frage: „Wie sind kategorische Imperative möglich?“ beantwortet werden (s. oben Anm. 33), denn die reine praktische Vernunft „beweiset […] ihre [!] und ihrer Begriffe [!] Realität durch die That“ (05:03) – durch ein unleugbares nicht-empirisches Faktum. 294 Vgl. oben das Eingangszitat aus den Randnotizen. – Diese Kennzeichnung der Kategorien benutzt Kant recht selten und (zumindest für uns) erstmals in den bereits genannten Randnotizen zum Phaenomena/Noumena-Hauptstück (A 235ff.) und sodann in der 2. Auflage der KrV (etwa B 148ff.). Auch die Zurückweisung einer „intellektuellen [Selbst-]Anschauung“ wird erstmals hier in 23:36 und dann in den §§ 23–25 der B-Deduktion explizit zu einem bedeutenden Thema für Kant. 295 Damit ist klar, dass die Argumentation in GMS III.3 (mit 448.09ff. und/oder 452.07ff.) im Rahmen der kritischen Philosophie allein anlässlich ihres Resultats eine unzulässige sein muss – was sie aber ohnehin ist: Dass Ideen dem Inhalte nach auf Übernatürliches zielen, schließt per se noch nicht aus, dass sie auf ‚natürliche‘ Weise hervorgebracht werden können (zumindest in dieser Hinsicht hatte Hume Recht, s. o. Anm. 248) – bei Descartes sollte allerdings die Gottesidee diesbezüglich einen Sonderstatus haben. 296 Diese Korrektur hat dann auch zur Folge, dass Gottes- und Unsterblichkeitslehre sich fortan an die – nun nicht mehr spekulative – Willensfreiheitslehre anschließen (sc. „Schlussstein“) können, ohne (wie es 1781 noch der Fall gewesen wäre, dazu A 803f.) dadurch gleichsam ‚spekulativ kontaminiert‘ zu werden (dazu 05:03f.). 297 In Kenntnis dieser späteren Position ist es (für uns heute) schwer nachzuvollziehen, wie Kant bis 1785 noch der Auffassung sein konnte, dass man es nicht nur widerspruchsfrei denken kann, dass unsere Vernunft „wirklich“ (452) zur „intelligiblen Welt“ gehörig ist (als reine „Intelligenz“ [457], als „intelligibler Gegenstand“ [A 456], als „Ding an sich selbst“ [04:345]), sondern dass man dies angesichts der von unserer Vernunft hervorgebrachten Ideen erkennen und damit sogar für „speculative“ Zwecke voraussetzen (!) darf (zu dieser Differenz: B XXVI Fn., B 426f. mit B 158 Fn.; und schon 291
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A 596 Fn.). Wie Kant letzteres behaupten konnte, ohne dass er dafür entweder seine Lehre von Anschauung und Begriff als den beiden notwendigen Stämmen jeder (Daseins-)Erkenntnis oder aber seine Lehre von der Sinnlichkeit unserer Anschauung hätte aufgeben müssen, wird wohl unbegreiflich bleiben (auch wenn wir Kants Motiv dafür nachvollziehen können; dazu Ludwig 2012, 170ff.). Angesichts der Tatsache, dass Kant ab 1787 dann aber jeden theoretisch-erkennenden Zugang zum Intelligiblen emphatisch zurückweist, ist ein solcher Nachvollzug zur cura posterior für eine Kant-Beschäftigung in systematischer Absicht geworden: Kant selbst hatte über die Frage bis 1785 offenkundig noch nicht hinreichend gründlich nachgedacht und die schulphilosophische Auffassung einfach partiell beibehalten (siehe dagegen später: 27:503). – Unser Textverständnis wird daher vermutlich nicht profitieren, wenn wir heute nach einer Antwort suchen, die Kant selbst gar nicht hatte: Je intensiver wir nämlich die Analytik (!) der Kritik der reinen Vernunft (siehe etwa: A 289) studieren, desto weniger werden wir am Ende nachvollziehen können, wie sich der kritische Kant sodann in der Dialektik (!), im Rahmen seiner (Willens-)Freiheitslehre (s. besonders etwa A 546: Selbst-Erkenntnis ‚nicht lediglich durch die Sinne, sondern auch durch bloße Apperzeption‘ – in direktem Widerspruch zu etwa A 278: Selbst-Kennen ‚nur durch den inneren Sinn‘) und noch bis 1785 über die kritische Grundeinsicht hinwegsetzen konnte, „dass sogar das denkende Subject ihm selbst in der inneren Anschauung nur [!] Erscheinung sei“ (so die Formulierung in der leicht verklausulierten, aber gleichwohl unmissverständlichen Selbstkritik an der „Inkonsequenz“ der Willensfreiheitslehre von 1781 in 05:05.24-06.11; vgl. auch Kants Rückzugsgefechte in den beiden darauffolgenden Absätzen – und: 05:106.26ff.). 298 Dieser Teil der Einsicht stand Kant 1781 nicht zu Gebote, weil er den Zusammenhang von Sittengesetz und Freiheit noch nicht entdeckt (bzw. erfunden) hatte; vgl. dazu A 450, wo er den Entschluss zum Aufstehen vom Stuhl (!) als Beispiel einer freien Handlung anführt. Auch 1785 hatte er (mittels bloßer Zergliederung des Begriff eines freien Willens) zunächst nur gezeigt, dass man von der Freiheit (progressiv) auf das Sittengesetz schließen kann – was für den Zweck der Grundlegung ja auch genügte (s. o. Anm. 227). – Für die Umkehrung (siehe KpV § 5, 05:28) interessiert Kant selbst sich erstmals 1786/87 (23:41 [Refl. CLXXXIVff.] und B 431). 299 Die deskriptive Angemessenheit der aus seiner Gravitationstheorie abgeleiteten Bahndaten der Planeten soll ja auch für Isaac Newton nicht etwa beweisen, dass es die gravitas ‚gibt‘, sondern sie zeigt (‚nur‘), dass im Planetensystem jene Bedingungen (hinreichend ungestört) vorliegen, unter denen eine der (auch den Alten bereits bekannten) bewegenden Kräfte (die gravitas eben) die erklärungsbedürftige Abweichung von einer gradliniggleichförmigen Bewegung wesentlich bestimmt. Demnach steht einer Universalisierung dieser (von den Alten allenfalls im Zusammenhang mit der Bewegung durch die Gewichtskraft – pondus – erörterten) gravitas zu einer „den
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Anmerkungen
Weltbau verbindenden Kraft“ (KrV B XXII Fn.) nichts entgegen: Die terrestrische und die extraterrestrische Physik ist also dieselbe (siehe hierzu: Principia Mathematica Philosophiae Naturalis [1686], Praefatio). – Selbst eine zufriedenstellende deskriptive Angemessenheit z. B. der planetarischen Epizyklentheorie zeigt dagegen nichts, was über eine bloße ‚Rettung der Phänomene‘ hinausginge. Es sei denn, es gäbe unabhängige Gründe für die Annahme, dass Kreisbewegungen ein eigenständiges Ordnungsprinzip der Natur bilden (wie es etwa Platon vorschwebte). 300 Siehe 05:04 Fn. – Obgleich er sie bereits in der Formulierung mitgeführt hat, siehe: „um … zu“ vs. „weil“ (450.20 und 22). 1785 sollte also die Freiheit sowohl ratio essendi des Sittengesetzes als auch ratio cognoscendi von dessen Möglichkeit sein; zu dieser Unterscheidung oben Anm. 201 Ende. 301 Um noch ein letztes Mal die Analogie zur newtonischen Planetenbahntheorie heranzuziehen: Würden wir dort das Vorgehen der Grundlegung zum methodischen Vorbild nehmen, dann wären wir erst dann berechtigt, die Planetenbahnen durch die gravitas zu erklären, nachdem wir unabhängig von den astronomischen Bahndaten nachgewiesen hätten, dass diese Kraft in der Umgebung jedes einzelnen Planeten auch tatsächlich vorhanden ist, dass Körper also auch dort ein Gewicht haben, dass dort ein Fallgesetz gilt usw. Niemand aber wird allen Ernstes behaupten, dass etwa die erste bemannte Mondlandung von 1969 (oder auch die erste ‚weiche‘ unbemannte von 1966) einen wesentlichen Bestandteil der empirischen Bestätigung der Newtonschen Planetentheorie darstellte – und für den Fall, dass diese Mondlandungen ‚fake‘ wären, eine Bestätigung auch heute noch ausstünde. 302 Wie oben (Anm. 236) bereits angemerkt, „erkennen“ wir hiermit nicht „die Freiheit“, sondern wir erkennen nur, ‚dass es praktisch notwendig ist‘ die Freiheit unseres Willens vorauszusetzen. Da es (im Rahmen einer kritischen Philosophie) aber auch ‚spekulativ möglich ist‘, Freiheit überhaupt vorauszusetzen, kann somit unsere Freiheit (sc. des Willens) bereits „unter die scibilia mit gerechnet werden“ (05:468). 303 Die Kontraposition zum etablierten Rechtssatz, dass niemand zu etwas verpflichtet ist, wenn er es nicht kann, wäre etwa: ‚Jeder kann etwas, wenn er dazu verpflichtet ist‘. Wie auch immer man den ursprünglichen Rechtssatz im Detail formuliert: Das ein Begründungsverhältnis anzeigende (vielleicht auch nur suggerierende) ‚weil‘ ist zumindest durch die bloße Kontraposition von ‚ultra posse nemo obligatur‘ nicht gedeckt. 304 Zu dieser Überzeugung könnten Menschen u. a. einfach deshalb kommen, weil eine ‚Disziplinierung‘ mittels Belohnungsversprechen und Strafandrohungen bei ihnen die eitle Illusion befördert, sie könnten tatsächlich anders handeln als sie es dann tun. Denn andernfalls wäre eine solche Praxis von Versprechen und Drohungen ja unverständlich. 305 Diesen signifikanten (siehe 454.26, 29, 33 und 36; vgl. auch schon: 411.34f.) Unterschied hatte ich in Ludwig 2017, Anm. 42 noch übersehen.
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Anmerkungen
Für P. Guyer z. B. ist die Faktum-Lehre dagegen bloß eine Art trotziges „foot-stomping“ (Guyer 2007, 462). 307 Die Analytik der Kritik der praktischen Vernunft rechtfertigt zunächst die Voraussetzung der (Willens-)Freiheit, indem sie (in den §§ 1–8) zeigt, dass wir „durchs moralische Gesetz, welches dieselbe postulirt[!], genöthigt, eben dadurch auch berechtigt werden, sie anzunehmen“ (05:94 – zwar stellt Kant die Freiheit erstmals in der Dialektik [05:132] ausdrücklich als eines von drei „Postulaten“ vor, allerdings kommt bis dahin zu den Einsichten der Analytik nichts Neues mehr hinzu, dessen es bedürfte, um diese Bezeichnung zu rechtfertigen). Wir können demnach ihre Möglichkeit a priori „wissen, ohne sie doch einzusehen“ (also wissen ‚dass‘, nicht aber erklären, ‚wie‘ sie möglich ist). – In der Dialektik (die 1787/88 den Kanon von 1781 ersetzt, s. o.; dazu auch Ludwig 2012, 179ff.) werden anschließend auch Gottesexistenz und Seelenunsterblichkeit postuliert – und nun zwar ausschließlich als hoffnungsermöglichende Bedingungen des Gebrauchs der Freiheit und damit (anders als noch 1781!) ohne jede verbindlichkeitstheoretische Konnotation (05:04 und 109, siehe auch schon 1786: 08:139.22ff.; dagegen etwa A 634). 308 So 05:06f. (vgl. 23:42). – Wenn man Kants wiederholte Äußerungen ernst nimmt, dass diese „konsequente Denkungsart“ überhaupt erst „jetzt“ bzw. „nun“, d. h.: dank der in vorgelegter Schrift erstmals geleisteten Kritik des ganzen praktischen Vernunftvermögens, möglich wird, dann muss die Vorrede in weiten Teilen als eine grundsätzliche Kritik (auch) des eigenen Vorgehens im Dritten Abschnitt der Grundlegung gemeint sein: Die 1785er Schrift soll aus der 1787er Perspektive ja nur noch dazu dienen, mit dem Pflichtprinzip bekannt zu machen, sofern sie eine bestimmte Formel (!) desselben angegeben und gerechtfertigt hat (05:08). Dies lässt sich ohne jede hermeneutische Gewaltsamkeit als eine direkte, positive Bezugnahme auf die Inhalte von „Bestimmung“ und „Prüfung“ des obersten Moralprinzips (!) aus 392.19f. lesen: Ausschließlich der Zugang zu dessen „Quellen“ musste noch einmal auf eine andere Weise gesucht werden (dazu oben Anm. 297), kurz: (nur) die ‚Kritik der reinen praktischen Vernunft‘ in Grundlegung III kann und muss vergessen werden. 309 Wir haben m. W. keinen Hinweis darauf, dass Kant selbst bereits vor dessen Lösung von 1787 auf das Problem aufmerksam geworden ist; zum Folgenden siehe: Ludwig 2014, 261ff. 310 Der Versuch, das Problem damit zu lösen, dass die Entscheidung zwischen (m)einem reinen und meinem sinnlichen Willen (bzw. ‚Trieb‘) Ausdruck meiner Freiheit ist (so in etwa Reinholds Vorschlag), führte, wenn diese Entscheidung mein Willensakt wäre, zu einem dritten Willen (und damit dann in einen Regress). Andernfalls bliebe das Zurechnungsproblem ungelöst, weil eine solche Entscheidung nicht die meine sein kann (vgl. o. Anm. 210), zumindest nicht, solange man an der – problemkonstitutiven – Vorstellung festhält, dass man mir nur das zurechnen kann, was ich will (Reinholds Kritik greift also in jedem Fall zu kurz). Bei Kant gibt es seit 1787 eine sinnliche 306
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Anmerkungen
Willkür, die sich dem Sitten-Gesetz gemäß bestimmen kann … weil sie es soll, kurz: ein Vermögen und eine unabweisbare Vernunft-Norm – alle weitere Spekulation (d. h.: jede Verdinglichung praktischer Begriffe zu Zwecken einer Erklärung der Freiheit) ist bloße Schwärmerei. 311 Wie die Passage A 547-557 der KrV zeigt, ist Kant 1781 allerdings noch der Auffassung, dass der ‚intelligible Charakter‘ selbst durch seine „Ideen“ die ‚Ursache‘ der zurechenbaren Handlungen ist. Damit muss dann aber diese ‚intelligible Causalität‘ eine je individuelle, d. h. eine besondere, sein („ein anderer intelligibler Charakter würde einen anderen empirischen gegeben haben“, A 556), und damit kann der ‚Charakter‘ (A 539; s. o. S. 103) dieser Kausalität jedenfalls 1781 (noch) nicht das allgemeine Gesetz selbst sein – wie Kant es dann 1785 behauptet. 312 Siehe dazu die Vorarbeiten 21:470f., 23:248f. – Der Religionsschrift (etwa 06:121 Fn.) und selbst der Vigilantius-Nachschrift ist diese strikte Unterscheidung noch fremd (siehe 27:501 u. ö.; dieser Text bietet keinerlei Anlass zu der Vermutung, dass es in Kants Vortrag vom WS 1793/94 anders gewesen sein könnte); siehe auch noch 23:383, eine direkte Vorarbeit zu 06:212f. (d. h. bereits zur Rechts- nicht, wie in der AA suggeriert, erst zur Tugendlehre). – Zweifelsohne ließe sich die Unterscheidung von gesetzgebendem Willen (Vernunft) und freier Willkür (arbitrium) gleichwohl der Sache nach ganz problemlos ‚rückwirkend‘ auf Kants Texte seit 1787 anwenden (dazu Ludwig 2014, 161ff.) – aber definitiv nicht auf die Grundlegung. 313 In der zweiten Auflage der KrV, die in B 430f. der Sache nach die ratio-cognoscendi-Lehre der KpV erstmals öffentlich formuliert, fehlt dieser Ausdruck noch. Kant dürfte ihn demnach erst im Frühjahr 1787 geprägt haben (vgl. B XLIV und 10:489). – Dass das für Kant selbst offenkundig eher unspektakuläre (und vermutlich deshalb begrifflich wenig ausgearbeitete) „factum“/„datum“ des Bewusstseins sittlicher Nötigung erst seit 1788 (und dann auch in der neueren Rezeptionsgeschichte) erhöhte Aufmerksamkeit erfährt, liegt fraglos an der herausragenden Bedeutung der Freiheitslehre. 314 Wie oben bereits angedeutet: Der ‚reine Wille‘ des Bösewichts zeigt sich 1785 diesem (noch) nicht im Sollen (d. h. im Gesetz), sondern (wie auch bei den Kindern, s. o.) im Wünschen einer Gesinnung (oder gar in einem „positiven Vermögen[!]“, 458.12f.). 315 Von einer „Deduction“ (des Begriffs) der (Willens-)Freiheit ist daher 1785 wie 1788 die Rede (04:447, 05:48). 316 Für die (mir aus den späten Marburger ‚Privatissima‘ von Klaus Reich vertraute) ‚Arbeitshypothese‘, dass Kant sich dann, wenn er Positionen besonders nachdrücklich zurückweist, zumeist an ‚dogmatischen‘ Überzeugungen abarbeitet, die er selbst zuvor noch geteilt hatte, lassen sich zahlreiche stützende Belege anführen. Ein besonders drastisches Beispiel bietet die oben in Kap. IV erwähnte ‚obligatio per poenas‘, die sich binnen 3 Jahren von einer unverzichtbaren Voraussetzung in der kritischen Moraltheologie in eine ‚contradictio in adjecto‘ verwandelt (vgl. dann 05:109.21ff.). Vittorio Klostermann, 2019.
Anmerkungen 317 318
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Diese geht auf Marie Ziegler zurück. Siehe dazu oben Anm. 311.
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Anmerkungen zum Epilog 319 Die Lösungsvorschläge für die ersten beiden Probleme wurden erstmals in Ludwig 2018a (dort S. 54ff.) bzw. Ludwig 2018b vorgestellt; der vierte Lösungsvorschlag bereits in Ludwig 2009. Die Überlegungen (den zweiten Abschnitt betreffend) zur Anwendung der „allgemeinen Formel“ des Kategorischen Imperativs einerseits sowie die grundlegende Neubestimmung der Rolle der drei ‚Lehr-Formeln‘ andererseits waren bislang noch nicht über die Grenzen des Göttinger Seminars hinausgekommen. Dass dabei die Überlegungen zur beispielhaften Anwendung des kategorischen Imperativs dann aber gleichwohl kein ‚Originalbeitrag‘ in diesem Buch geworden sind, liegt daran, dass die oben schon genannte Publikation von Pauline Kleingeld (2017) dem unabhängig zuvorkam, indem sie den wesentlichen Gedanken bereits ausführlich (und m. E. völlig überzeugend) entwickelt hatte. Davon konnte die obige Darstellung profitieren und bei diesem Punkt folglich kürzer ausfallen, als es andernfalls der Sache nach angemessen gewesen wäre: Für weitere Details sei hier daher noch einmal auf diesen Aufsatz verwiesen. 320 Wer insbesondere glaubt, dass er etwa einen unschuldigen Zeitgenossen ohne jeden vorausgehenden Skrupel und ohne jede nachfolgende Reue denunzieren könnte, sobald er sich nur deutlich genug vor Augen geführt hat, dass er andernfalls im glühenden Bronze-Leib des Ochsen des Phalaris enden wird, aus dessen Maul er dann seine letzten Schmerzensschreie über die Stadt schallen lässt (dazu 05:30.27ff., 158.33ff.; vgl. 06:49 und 28:683), wer also keinen Maßstab seines Handelns kennt, der den der individuellen Glückseligkeit und Leidensfreiheit anfechten kann, wer also genannte Skrupel und Reue nur als lästige – und gegebenenfalls (etwa auf politisch-interessierte Anweisung hin) psychotherapeutisch oder gar pharmazeutisch zu therapierende – Schwächen begreift, wird für Kants Bemühen um ein philosophisches Verständnis der „herrlichen Eröffnung der intelligiblen Welt“ und unseres „wahre[n] Selbst“ unempfänglich bleiben. – Dass Menschen durch Skrupel und Reue fraglos unablässig in Situationen geraten, die sie praktisch herausoder gar überfordern, bezüglich derer sie „vielleicht sich nicht getrauen zu versichern“, dass sie das nach eigener Überzeugung ‚unbedingt‘-Geforderte (und ihnen deshalb auch Mögliche) dann tatsächlich tun werden, das hat ja auch Kant gewusst (05:30.31f.). Davor kann uns keine Philosophie bewahren – sie kann uns bestenfalls Hoffnung geben, damit wir es besser ertragen. 321 Die entsprechende ‚Notwendigkeit‘ wäre im speziellen Kontext reziproker Ansprüche dann Ausdruck davon, dass andere etwas von mir fordern müssen, wenn ich von ihnen etwas fordern will – es geht somit nicht um eine
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Anmerkungen
individuelle Rationalitätsbedingung (wie bei den hypothetisch-gebietenden Imperativen), sondern um die Spielregeln der realen (oder einer imaginierten) Rechtfertigungspraxis (‚Der Mensch ist das Tier, das versprechen darf‘). – Die Frage, ob ich etwas auch ‚vor mir selbst rechtfertigen kann‘, ist daher bereits eine Frage moralischer Selbstverständigung über den Wert meiner Handlungen. Eine Frage, der man sich nicht stellen muss, wenn man sich selbst als einen klugen Glücksmaximierer versteht: Beim notorischen ‚Blick in den Spiegel‘ schaut man dann eben nur auf die Spuren eines gelebten Lebens. 322 Hiob 21.7f.; vgl. dazu etwa Hobbes’ Anspielung in Leviathan 31.6: „This question, why evil men often prosper, and good men suffer adversity, has much been disputed by the ancient and is the same with this of ours…“. – Theologisch läuft das am Ende bekanntlich auf die Frage hinaus: ‚Warum nur schuf Gott freie Menschen?‘. Und wenn man sie einmal so stellt, dann wird zumindest eines deutlich: Wozu es gut ist, moralisch zu sein, das könnte – wie Kant es uns mit seiner Schrift Über das Mißlingen aller philosophischen Versuche in der Theodicee (08:225ff.) nahelegt – nur ein Gott wissen. 323 In welchem Maße dies dann im Einzelfall tatsächlich pflichtgemäß ist, ist eine andere Frage, die u. a. identitätstheoretische, entwicklungspsychologische, epistemische, moralanthropologische und politische Dimensionen hat (um die es auf dieser Stufe ‚reiner‘ moralphilosophischer Erörterung aber noch nicht gehen kann): Wenn Kant solche Fragen überhaupt behandelt, dann andernorts, etwa unter der Rubrik der (noch) unmündigen (Menschen-)„Kinder“ (06:281ff.), der „Leibeigenen“ oder „Sklaven“ (06:241, 283, 330, 333, 358; vgl. auch 15:230; 19:496, 558; 20:460), der „Wilden“ (s. o.) oder auch der verstandesbegabten „Teufel“ ohne Gesetz, welche von einer Staatsregierung durch geeignete Sanktionsmechanismen zu rechtskonformem (d. h. äußerlich-pflichtmäßigem) Verhalten genötigt werden können (08:366; dazu Ludwig 1995): Wenn sie dadurch dann möglicherweise auch ‚diszipliniert‘ würden, und es folglich zu erwarten wäre, dass sie am Ende der Moralität zumindest fähig werden (dazu oben Anm. 167 und 06:188 Fn.), dann ist eine solche provisorisch-privilegierende Behandlung nicht bloß klug, sondern darüber hinaus – wie bei unseren Kindern – sogar Pflicht.
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Literatur
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Kants Schriften werden nach der Akademie-Ausgabe (Berlin 1900ff ) mit ‚Band:Seite‘ (oder bisweilen auch ‚Band:Seite Zeile‘) zitiert; mit zwei Ausnahmen: Bei der Grundlegung (04:387–463) wird die Bandangabe (‚04:‘) fortgelassen Auf die Kritik der reinen Vernunft wird, wie üblich, mit den Seitenzahlen der Erst- (A) bzw der Zweitauflage (B) verwiesen; für den Textbestand von 1781, auch wenn er 1787 unverändert abgedruckt wurde, wird durchweg die A-Paginierung benutzt (das gilt also insbesondere für die gesamte zweite Hälfte ab A 405ff ; sollte ein Text von 1781 nicht in die zweite Auflage übernommen worden sein, wird das aus dem Kontext hervorgehen) – Die Texte selbst werden zumeist aus der elektronischen Version Kant im Kontext III (© Karsten Worm – InfoSoftWare, Berlin 2017) übernommen, die mit ihren zahlreichen Retrieval-Optionen derzeit ein unverzichtbares Forschungsmedium ist Es kommt hinzu die (nicht in der Akademie-Ausgabe enthaltene) ‚Moral Kaehler‘: Immanuel Kant: Vorlesung zur Moralphilosophie, Hrsg v W Stark und M Kuehn, Berlin, 2004 Achenwall, Gottfried und Johann Stefan Pütter: Elementa Iuris Naturae, Göttingen 1750 (u ö ) Adelung, Johann Christoph: Grammatisch- kritisches Wörterbuch der hochdeutschen Mundart, 1811 [https://lexika digitale-sammlungen de/adelung/online/angebot] (zuletzt aufgerufen 07/2019), Allison, Henry: Kant’s Groundwork for the Metaphysics of Morals: A Commentary, Oxford 2011 Arnauld, Antoine und Pierre Nicole: La logique ou l’Art de penser, Paris 1662 Bacin, Stefano, Oliver Sensen (ed ): The emergence of autonomy in Kant’s moral philosophy, Cambridge 2019 Baum, Manfred: Sittengesetz und Freiheit Kant 1785 und 1788 In: Puls 2014, 209– 225 Baumgarten, Alexander: Metaphysica, Halle 1739 (u ö ) Bayertz, Kurt: Einleitung: Warum moralisch sein? In: Kurt Bayertz (Hrsg ): Warum moralisch sein?, Paderborn 2006, 9–33 Berger, Larissa: Der ‚Zirkel‘ im dritten Abschnitt der Grundlegung: eine neue Interpretation und ein Literaturbericht In: Schönecker 2015, 9–82 Berlin, Isaiah: Two Concepts of Liberty, Oxford 1958 Bittner, Rüdiger: Das Unternehmen einer Grundlegung zur Metaphysik der Sitten In: Otfried Höffe (Hrsg ): Kants ‚Grundlegung zur Metaphysik der Sitten‘: Ein kooperativer Kommentar Frankfurt 1989, 13–30 Bojanowski, Jochen: Kants Theorie der Freiheit: Rekonstruktion und Rehabilitierung, Berlin 2006 Bojanowski, Jochen: Kant on the Justification of Moral Principles In: Kant Studien 108 1 (2017), 55–88 Callanan, John J : Kant’s Groundwork of the metaphysics of morals: A Edinburgh philosophical guide, Edinburgh 2013 Camenzind, Samuel (2018): Tierversuche im Kontext der Pflicht gegen sich selbst als moralisches Wesen In: Violetta L Waibel, Margit Ruffing, David Wagner (ed ): Natur und Freiheit: Akten des XII. Internationalen Kant-Kongresses, Berlin, Boston 2018, 1769–1778 Vittorio Klostermann, 2019.
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Vittorio Klostermann, 2019.
Namenregister Abraham 17, 19 Achenwall, G. 127, 174, 219 Adelung, J. C. 169, 219 Allison, H. 95, 147, 154, 159, 193, 194, 199, 203, 219, 221 Aristoteles 21, 39, 156, 163, 182, 189 Arnauld, A. 152, 219
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Bacin, St. 195, 211, 219, 223 Baum, M. 46, 192, 203, 219, 223 Baumgarten, A. 14, 38, 45, 127, 174, 219 Bayertz, K. 148, 219 Berger, L. 203, 219 Berlin, I. 195, 219 Bittner, R. 153, 219 Bojanowski, J. 147, 192, 193, 194, 219 Callanan, J. 154, 219 Camenzind, S. 187, 219 Cicero 13, 51, 129, 147, 160, 163, 167 Crusius, C. A. 14, 84, 94, 140, 168, 170, 220 Descartes, R. 111, 132, 204, 212, 220 Duncan, A. R. C. 163, 178, 220 Epikur 39, 94, 168 Garve, Chr. 51, 129, 163, 169, 192, 210 Gauss, C. F. 157 Gava, G. 156, 220 Geismann, G. 178, 192, 220 Gregor, M. 147, 220 Grimm 191, 199, 220 Gutiérrez, A. 150, 152, 220
Vittorio Klostermann, 2019.
Gutschmidt, H. 180, 220 Guyer, P. 154, 193, 215, 220, 221 Hamann, A. 129 Hegel, G. F. W 220 Heidegger, M. 159 Henrich, D. 147, 193, 194, 220 Herder, J. G. 129 Hiob 145, 218 Hobbes, Th. 99, 148, 162, 204, 218, 220, 221 Hoche, H.-U. 182, 189, 220 Höffe, O. 220 Horn, Chr. 147, 154, 159, 163, 182, 193, 195, 220, 223, 224 Hruschka, J. 189, 220 Hufeland, G. 194, 220 Hume, D. 14, 21, 45, 53, 150, 162, 167, 182, 187, 198, 203, 204, 207, 212, 220 Hüning, D. 209, 221 Isaak 19 Josifović, S. 197, 221 Kawamura, K. 189, 221 Keil, G. 198, 221 Kleingeld, P. 184, 217, 221 Klemme, H. 147, 154, 193, 195, 197, 206, 221 Knoop, M. 182, 189, 220 Korsgaard, Chr. 147, 187, 221 Leibniz, G. W. 13, 70, 99, 157, 158, 162, 177, 197, 205, 206, 208, 209, 221 Locke, J. 13, 49, 166, 209, 221 Mackie, J. L. 182, 222 McCarty, R. 154, 190, 194, 222
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Namenregister
Meier, G. 161, 222 Mieth, C. 147, 154, 159, 182, 193, 195, 220 Müller, A. F. 13, 220 Newton, I. 160, 161, 214, 222 Nietzsche, F. 147 Oakley, F. 181, 222
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Paton, H. J. 34, 193, 194, 222 Phalaris 217 Pistorius, H. A. 212 Platon 31, 113, 132, 148, 169, 214 Porcheddu, R. 147, 178, 186, 193, 194, 222 Pufendorf, S. 83 Puls, H. 147, 159, 193, 203, 219, 221, 222, 223 Reich, K. 158, 163, 178, 179, 192, 206, 217, 223 Reinhold, C. L. 117, 137 Richter, Ph. 83, 147, 154, 193, 223 Risse, W. 152, 223 Römer, I. 192, 223 Santozki, U. 169, 223 Scarano, N. 147, 154, 159, 182, 193, 195, 220
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Schönecker, D. 147, 153, 163, 178, 193, 197, 199, 203, 219, 220, 223, 224 Schopenhauer, A. 159 Schroth, J. 164, 223 Schulz, J. H. 207 Sedgwick, S. 154, 193, 223 Sensen, O. 195, 211, 219, 222, 223 Sgarbi, M. 152, 156, 223 Stark, W. 8, 168, 210, 219 Steigleder, K. 193, 195, 223 Stoa 39, 94, 160, 167, 179 Thomasius, Chr. 83 Timmermann, J. 147, 154, 160, 162, 184, 193, 195, 209, 220, 222, 223 Ware, O. 147, 193, 223 Williams, B. 182, 223 Wittgenstein, L. 148, 223 Wolff, Chr. 13, 37, 38, 45, 68, 70, 83, 91, 94, 128, 157, 161, 162, 168, 177, 209, 223, 224 Wood, A. 147, 153, 163, 178, 193, 197, 199, 203, 223, 224 Wyrwich, Th. 193, 200, 224 Xenokrates 160 Zabarella, J. 152, 224