Die Wiedergeburt der griechischen Tragödie auf der Bühne des 19. Jahrhunderts: Bühnenfassungen mit Schauspielmusik [Reprint 2011 ed.] 9783110945058, 9783484660441

The Potsdam performance of Sophocles' »Antigone« in 1841 was an event of historic significance tantamount to a rena

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German Pages 375 [376] Year 2005

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Table of contents :
A. EINLEITUNG
I. Konventionen der Schauspielmusik in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts
II. Rezeption griechischer Tragödien in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts
1. Diskussion über die Aufführbarkeit antiker Dramen
2. Interpretationsansätze
3. Die Aufführung der Antigone am Weimarer Hoftheater (1809)
B. AUFFÜHRUNGEN GRIECHISCHER TRAGÖDIEN IN POTSDAM VON 1841 BIS 1845
III. Vorgeschichte und erste Reaktionen
1. Zustandekommen der Potsdamer Bühnenfassungen
2. Zeitgenössische Eindrücke von den Aufführungen
IV. Textfassung
1. Antigone
2. Das »Leipziger Libretto«
3. Medea
4. Ödipus in Kolonos
V. Musik
1. Musik in der antiken Aufführungspraxis griechischer Tragödien
2. Felix Mendelssohn Bartholdy und Wilhelm Taubert
3. Antigone und Ödipus in Kolonos
4. Medea
5. Aufführungspraktische Aspekte der Musik
VI. Ausstattung
1. Bühnenarchitektur
2. Kostüm und Maske
C. REZEPTION
VII. Berichte von Zeitgenossen über die Potsdamer Bühnenfassungen
1. Zur Musik
2. Zur Darstellung
3. Zur Inszenierung
VIII. Aufführungen in Nachfolge der Potsdamer Bühnenfassungen
1. Die Leipziger Privataufführung der Antigone vom 28. November 1841
2. Die Antigone-Inszenierung am Leipziger Stadttheater (1842)
3. Die Antigone-Inszenierung am Königlichen Hoftheater in Dresden (1844)
4. Die Aufführung des Hippolytos an den Königlichen Schauspielen Berlin mit Musik von Adolph Schulz (1851)
5. Antiken-Inszenierungen in München. Antigone (1851), König Ödipus (1852) und Ödipus in Kolonos (1854)
6. Antigone-Inszenierungen in Wien (1875 und 1881)
7. Konzertante Aufführungen
IX. Ausblick
D. ANHANG
X. Materialien zum »Leipziger Libretto« der Antigone
1. Bellermann an Mendelssohn (5. November 1841)
2. Entwürfe zum »Leipziger Libretto«
3. Bellermann: Entwürfe zu No. 2 und No. 5
4. Textvergleich der Chorlieder zu Antigone
XI. Besetzungen der Erstaufführungen (Theaterzettel)
1. Antigone
2. Ödipus in Kolonos
3. König Ödipus
4. Medea
5. Hippolytos
XII. Quellen- und Literaturverzeichnis
1. Abbildungsverzeichnis
2. Musikalien
3. Dramentexte
4. Sonstige Archivalien (Akten, Briefe, Bühnenbildentwürfe etc.)
5. Primärliteratur
6. Sekundärliteratur
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Die Wiedergeburt der griechischen Tragödie auf der Bühne des 19. Jahrhunderts: Bühnenfassungen mit Schauspielmusik [Reprint 2011 ed.]
 9783110945058, 9783484660441

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Studien zur Geschichte und Theorie der dramatischen Künste

Herausgegeben von Hans-Peter Bayerdörfer, Dieter Borchmeyer und Andreas Höfele

Band 44

Susanne Boetius

Die Wiedergeburt der griechischen Tragödie auf der Bühne des 19. Jahrhunderts Bühnenfassungen mit Schauspielmusik

Max Niemeyer Verlag Tübingen 2005

D19 Fakultät für Geschichts- und Kunstwissenschaften der Ludwig-Maximilians-Universität München Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN 3-484-66044-9

ISSN 0934-6252

© Max Niemeyer Verlag GmbH, Tübingen 2005 http://www.niemeyer.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Satz: Johanna Boy, Brennberg Druck: Hanf Buch- und Mediendruck GmbH, Pfungstadt Einband: Nadele Verlags- und Industriebuchbinderei, Nehren

Danken möchte ich allen, die Anregung zur Untersuchung des Themas gaben und durch kritische Diskussion die Arbeit begleiteten, die mich auf unveröffentlichte Manuskripte, Mendelssohn und sein Umfeld betreffend, hinwiesen und mir diese zugänglich machten, die mich in musikwissenschaftlichen Fragen berieten, allen voran Prof. Dr. Hans-Peter Bayerdörfer, Prof. Dr. Michael Berg, Dr. Rudolf Elvers, Prof. Dr. Hellmut Flashar, Rudolf Gretscher, Patrick Kast-Jauß, Prof. Dr. Albrecht von Massow, Dr. Jochen Strobel, Prof. Jürgen Tamchina und Dr. Ralf Wehner.

Inhalt

A. EINLEITUNG I. II.

Konventionen der Schauspielmusik in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts

5

Rezeption griechischer Tragödien in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts 1. Diskussion über die Auffiihrbarkeit antiker Dramen 2. Interpretationsansätze a) Sophokles' Antigone und ödipus in Kolonos b) Euripides' Medea

n 14 18 18 27

3. Die Aufführung der Antigone am Weimarer Hoftheater (1809) a) Bearbeitung von Friedrich Rochlitz b) Inszenierung c) Musikalische Gestaltung

35 36 41 43

B. AUFFÜHRUNGEN GRIECHISCHER TRAGÖDIEN IN POTSDAM VON 1841 BIS 1845 . . . . 49 III.

Vorgeschichte und erste Reaktionen 1. Zustandekommen der Potsdamer Bühnenfassungen 2. Zeitgenössische Eindrücke von den Aufführungen

51 51 62

IV.

Textfassung 1. Antigone 2. Das »Leipziger Libretto« 3. Medea 4. ödipus in Kolonos

69 74 83 92 94

V.

Musik 1. Musik in der antiken Aufführungspraxis griechischer Tragödien . . . 2. Felix Mendelssohn Bartholdy und Wilhelm Taubert 3. Antigone und ödipus in Kolonos a) Genealogie und Beschreibung der Quellen zu Antigone b) Auswertung der Quellen zur Antigone c) Beschreibung und Auswertung der Quellen zu ödipus in Kolonos d) Textstruktur und Funktion des Chores e) Komposition der Chöre f) Elemente des Melodrams

98 98 in 120 120 126 138 149 152 165 VII

4. Medea a) Beschreibung und Auswertung der Quellen b) Textstruktur und Funktion des Chores c) Aufbau der Komposition d) Elemente des Melodrams 5. Auffiihrungspraktische Aspekte der Musik a) Instrumente, Instrumentation, Klangprobleme b) Aufstellung des Orchesters in Potsdam VI.

179 179 183 187 189 196 196 198

Ausstattung 202 1. Bühnenarchitektur 202 Exkurs: Tiecks Bühnenraumkonzeptionen in seinen nachfolgenden Inszenierungen von Shakespeares Sommernachtstraum (1843) und Racines Athalia (1845) 221 2. Kostüm und Maske 228

C. REZEPTION

233

VII. Berichte von Zeitgenossen über die Potsdamer Bühnenfassungen 1. Zur Musik 2. Zur Darstellung 3. Zur Inszenierung

237 237 242 249

VIII. Aufführungen in Nachfolge der Potsdamer Bühnenfassungen 1. Die Leipziger Privatauffiihrung der Antigone vom 28. November 1841 2. Die Antigone-lnszenierung am Leipziger Stadttheater (1842) 3. Die Antigone-lnszeniemng am Königlichen Hoftheater in Dresden (1844) 4. Die Auffuhrung des Hippolytos an den Königlichen Schauspielen Berlin mit Musik von Adolph Schulz (1851) 5. Antiken-Inszenierungen in München. Antigone (1851), König Ödipus (1852) und Ödipus in Kolonos (1854) 6. ./4;zi/gö«i'-Inszenierungen in Wien (1875 und 1881) 7. Konzertante Auffuhrungen

262

286 295 299

IX.

303

Ausblick

D. ANHANG X.

VIII

Materialien zum »Leipziger Libretto« der Antigone 1. Bellermann an Mendelssohn (5. November 1841) 2. Entwürfe zum »Leipziger Libretto« 3. Bellermann: Entwürfe zu No. 2 und No. 5 4. Textvergleich der Chorlieder zu Antigone

263 264 276 280

307 311 311 315 322 324

a) b) c) d) e) f) XI.

No. No. No. No. No. No.

(Parodos) 2 3 (erstes Strophenpaar) 4 5 6

Besetzungen der Erstaufführungen (Theaterzettel) 1. Antigone a) (Potsdam)/Berlin b) Leipzig c) Dresden d) München 2. Ödipus in Kolonos a) Potsdam/(Berlin) b) München 3. König Ödipus 4. Medea 5. Hippolytos

XII. Quellen- und Literaturverzeichnis 1. Abbildungsverzeichnis 2. Musikalien a) Handschriften b) Drucke 3. Dramentexte a) Handschriften und Drucke mit handschriftlichen Eintragungen b) Drucke 4. Sonstige Archivalien (Akten, Briefe, Bühnenbildentwürfe etc.) 5. Primärliteratur 6. Sekundärliteratur

325 329 332 334 335 338 341 341 341 341 343 343 344 344 345 346 347 347 349 349 350 350 351 351 . 351 352 353 355 360

IX

A.

EINLEITUNG

In den Vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts ließ der preußische König Friedrich Wilhelm IV. (1795-1861) im Potsdamer Theater im Neuen Palais drei griechische Tragödien aufführen: Sophokles' Antigone im Jahr 1841, Euripides' Medea 1843 und schließlich 1845 Odipus in Kolonos von Sophokles.1 Ein wesentliches Element dieses Rekonstruktionsversuchs griechischen Theaters stellt die eigens dafür in Auftrag gegebene Schauspielmusik dar: Felix Mendelssohn Bartholdy (1809-1847) komponierte die Musik zu den beiden sophokleischen Stücken Antigone und Odipus in Kolonos, Wilhelm Taubert (1811-1891) die zur euripideischen Medea. Bemerkenswert ist, dass es sich bei diesen Aufführungen um die ersten Inszenierungen griechischer Tragödien in unbearbeiteter Form auf einem deutschsprachigen Theater handelt. Da von den Zeitgenossen dieses Ereignis als außergewöhnlich wahrgenommen wurde, kann man zu Recht von einer »Wiedergeburt« der griechischen Tragödie auf der deutschen Bühne sprechen. Seit den Potsdamer Bühnenfassungen sind antike Stücke bis auf den heutigen Tag fester Bestandteil im Repertoire deutschsprachiger Theater. Die deutsche »Wiedergeburt der griechischen Tragödie« auf der Bühne fällt jedoch in eine Zeit, in der die literarische Antikenrezeption ihren Höhepunkt schon längst überwunden hat.2 Abgesehen vom Aspekt der Antikenrezeption auf dem deutschen Theater lassen sich die drei Potsdamer Bühnenfassungen in einen weiteren Kontext einordnen: die schauspielmusikalische Praxis. Betrachtet man hier die Entwicklung im 19. Jahrhundert, so entstehen die Kompositionen von Mendelssohn und Taubert zu einer Zeit, in der die Gattung der Schauspielmusik als obligatorischer Bestandteil von Sprechtheaterauffuhrungen, vor allen Dingen im Bereich des instrumentalen Vorspiels und der Zwischenaktsgestaltung, einen spürbaren Bedeutungsverlust erleidet. Die Potsdamer Bühnenfassungen markieren einerseits einen Neuanfang in der deutschen Theatergeschichte, andererseits zeigt sich nicht zuletzt an der daran entfachten Diskussion um zeitgenössische Musik und antike Tragödie eine Problematik der Gattung Schauspielmusik.

In neueren deutschen Übersetzungen lautet der Titel des Dramas Odipus auf Kolonos, in älteren dagegen Ödipus in Kolonos. Hier ist jene ältere Fassung gewählt, zum einen, weil die Übersetzung von Johann Jacob Christian Donner, die Mendelssohn seiner Komposition zugrunde gelegt hatte, die Tragödie so bezeichnet, zum anderen, weil sie weniger mißverständlich formuliert ist. »Kolonos« kann entweder den Demos oder den Hügel bezeichnen. Ödipus in Kolonos bezieht sich also auf den Demos; in dem anderen Fall müßte es dagegen richtiger »Ödipus auf dem Kolonos« heißen. Vgl. Flashar: Sophokles, S. 165. Vgl. Riedel: Antikerezeption in der deutschen Literatur, S. no.

Hauptgegenstand der vorliegenden Studie sind die Potsdamer Bühnenfassungen von Antigone, Medea und ödipus in Kolonos mit ihren Aspekten Textfassung, Schauspielmusik und Ausstattung.

L

Konventionen der Schauspielmusik in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts

Unter dem Begriff »Schauspielmusik« versteht man heute »Musik im Sprechtheater«.1 Seit der Antike ist Musik wesentliches Element von Theaterauffiihrungen im europäischen Raum. Die griechische Tragödie des 5. Jahrhunderts v. Chr. mit ihren gesprochenen und gesungenen Teilen verbindet Sprache, Musik und Tanz zu einer untrennbaren Einheit. »Hier sind nahezu alle Arten und Funktionen der Musik im Schauspiel der abendländischen Theatergeschichte vorgeprägt.«1 Musik im Sprechtheater erfüllt grundsätzlich zwei Aufgaben: Man unterscheidet zwischen Rahmenmusik und Musik, die Bestandteil der Handlung, also »vom Dichter gefordert« ist.3 Als Rahmenmusik, d. h. als Einleitungs-, Zwischenakt- und Schlussmusik, muss sie nicht unbedingt eine Beziehung zur dramatischen Handlung aufweisen. Vielmehr steht die Aufgabe der Rahmenmusik vorrangig in Verbindung mit bühnentechnischen Erfordernissen. So dient Musik in den Zwischenakten (Entreactes) beispielsweise der Überbrückung von Pausen, die durch Umbauten oder Kostümwechsel entstehen. Nur in vereinzelten Fällen wird vom Dichter ausdrücklich Instrumentalmusik als verbindendes Element von Akt und Zwischenakt verlangt.4 Weiterhin gibt es Musik, die in die Handlung integriert ist. Dazu gehört zum einen Bühnenmusik im engeren Sinne, auch »Inzidenzmusik« genannt, wie etwa Trinklieder, Jagdsignale oder Tafelmusik. In der Regel »wird diese Musik entweder auf der Bühne oder hinter der Szene« gespielt.5 Als »sichtbares und >tönendes< Requisit« ergänzt sie nicht nur die Handlung, sondern erfüllt »zugleich die Funktion einer zweiten semantischen Schicht«.6 Zum anderen kann Musik so verwendet werden, dass ihr eine »verfremdende« Funktion zukommt,7 indem sie »ganze Szenenkomplexe aus dem dramatischen Kontext« heraushebt, wie etwa Traum- und Geisterszenen:8 Zu Definition, Theorie und Geschichte der Schauspielmusik vgl. Meier: Die Schaubühne als musikalische Anstalt, Altenburg/Jensen: Art. »Schauspielmusik«. In: MGG2, Sachteil, Band 8, Sp. 1035-1049, sowie Beck/Ziegler: Carl Maria von Weber und die Schauspielmusik seiner Zeit. Ältere Literatur zur Schauspielmusik: Aber: Die Musik im Schauspiel. Geschichtliches und Ästhetisches, Mirow: Zwischenaktsmusik und Bühnenmusik in der klassischen Zeit. Altenburg/Jensen: Art. »Schauspielmusik«. In: MGG2, Sachteil, Band 8, Sp. iO38f. Meier: Die Schaubühne als musikalische Anstalt, S. 16. Vgl. ebd., S. 17 sowie Langer: Nur eine »Gewohnheit«? Der Zwischenakt in der Schauspielmusik der iSzoer Jahre, S. 249. Eine solche Ausnahme stellen beispielsweise einige Dramen Goethes und Schillers sowie die Bearbeitung der sophokleischen Antigone von Friedrich Rochlitz dar, vgl. Kapitel II.3.C. Meier: Die Schaubühne als musikalische Anstalt, S. 17. Altenburg/Jensen: Art. »Schauspielmusik«. In: MGG2, Sachteil, Band 8, Sp. 1038. Meier: Die Schaubühne als musikalische Anstalt, S. 22. Altenburg/Jensen: Art. »Schauspielmusik«. In: MGG2, Sachteil, Band 8, Sp. 1038. 5

Ein weiterer Aspekt, den Schauspielmusik zu leisten vermag, ist die Herstellung von Atmosphären und dies vor allem im Bereich des Übernatürlichen. Die Unnahbarkeit magischer Fiktionen fordert im Theater dazu heraus, Konstrukte zu schaffen. [...] Aus der schauspielmusikalischen Komposition heraus entstehen so die im Text angelegten Träume, Visionen und Wahnvorstellungen, die ohne eine gegenständlich gebundene Erscheinung die ahnungsvolle Atmosphäre des Übersinnlichen auf der Biihne bewirken.9

Die Reformbestrebungen im Zeitalter der Aufklärung fuhren zu einer neuen Definition der Funktion von Theater, die vor allem in der Vermittlung bürgerlicher Werte besteht. Das Ideal des griechischen Theaters beeinflusst diese Reformansätze maßgeblich. Wenn Johann Christoph Gottsched im Versuch einer Critischen Dichtkunst (1730) fragt, ob es nicht möglich wäre, im Schauspiel, »anstatt der alten Oden des Chores, eine nach unsrer Art eingerichtete Cantate, von etlichen Sängern absingen zu lassen: Aber eine solche, die sich allezeit zu den kurz zuvor gespielten Begebenheiten schickte«,10 so schließt er sich hiermit Aristoteles und Horaz an, die diese »Forderung nach Homogenität [...] quasi vorformuliert hatten.«" In demselben Zusammenhang steht der Ruf Adolf Scheibes (1708-1776) nach einer werkspezifischen Schauspielmusik, »die über gewisse Primitivfunktionen hinaus auch dramaturgische Relevanz beansprucht«.12 Die Ouvertüre, die in der Regel aus drei Sätzen bestehen sollte, dient dazu, »das gesamte Bühnenstück vorzustellen und das Publikum auf die bevorstehende Aufführung einzustimmen.«13 Die Zwischenaktmusik erfüllt eine verbindende Funktion, indem sie auf den vorhergehenden Akt zurück- und den folgenden vorausweist: Sie müssen also beyde Aurzüge mit einander verbinden, und die Zuschauer gleichsam unvermerkt aus einer Gemütsbewegung in die andere führen. Es ist dahero sehr gut, wenn man allemal zween Sätze machet. Im ersten kann man mehr auf das Vorhergegangene, im zweyten aber mehr auf das Folgende sehen. Doch ist solches nur allein nöthig, wenn die Affecten einander allzu sehr entgegen sind; sonst kann man auch wohl nur einen Satz machen [...].'·*

Ebenso wie Scheibe betont auch Gotthold Ephraim Lessing (1729-1781) im 26. Stück seiner Hamburgischen Dramaturgie (1767) die Notwendigkeit nach einer affektbezogenen Übereinstimmung von Rahmenmusik und Handlung des Dramas.'5 Das Orchester übernehme im modernen Theater die Aufgabe des antiken Chores.'6 Wenn Lessing 9

Meier: Die Schaubühne als musikalische Anstalt, S. 22. Gottsched: Schriften zur Literatur, S. 172. 11 Ernst: Zur Theorie der Schauspielmusik in der Aufklärung, S. 37. 12 Altenburg/Jensen: Art. »Schauspielmusik«. In: MGG2, Sachteil, Band 8, Sp. 1041. »Alle Synphonien, die zu einem Schauspiele verfertiget werden, sollen sich überhaupt auf den Inhalt oder auf die Beschaffenheit desselben beziehen. Und so gehöret zu den Trauerspielen eine andere Art von Synphonien, als zu den Freuden- oder Lust- oder Scherzspielen. So verschieden also die Tragödien und Comödien unter sich selbst wieder sind, so verschieden muß auch die dazu gehörige Musik seyn.« Scheibe: Critischer Musikus, Teil III, 67. Stück (8. Dezember 1739), S. 614. 13 Meier: Die Schaubühne als musikalische Anstalt, S. 72. Vgl. auch Scheibe: Critischer Musikus, Teil III, 67. Stück (8. Dezember 1739), S. i6if. '« Ebd., S. 617. 15 Lessing: Hamburgische Dramaturgie, 26. Stück, S. 16 Ebd., S. 136. 10

auch im wesentlichen mit Scheibes theoretischen Ansichten über die Funktion von Schauspielmusik übereinstimmt, so spricht er sich im 27. Stück ausdrücklich gegen die postulierte »Doppelfunktion«, das Vorausweisen der Zwischenaktmusik auf den nächsten Akt aus.17 Etwas anderes sei es dagegen »mit der Anfangssymphonie«:18 sie kann nicht auf Vorhergehendes gehen; und doch muß auch sie nur den allgemeinen Ton des Stücks angeben, und nicht stärker, nicht bestimmter, als ihn ungefähr der Titel angibt. Man darf dem Zuhörer wohl das Ziel zeigen, wohin man ihn fuhren will, aber die verschiedenen Wege, aufweichen er dahin gelangen soll, müssen ihm gänzlich verborgen bleiben.'9

Scheibes und Lessings Forderungen nach einer affektspezifischen Schauspiel-Ouvertüre weisen auf eine grundlegende gattungsgeschichtliche Veränderung hin: Weder die französische Ouvertüre noch die neapolitanische Opern-Sinfonia ließen ursprünglich einen inhaltlichen Bezug zum dramatischen Geschehen erkennen. Diese Praxis wurde lange Zeit aufrechterhalten, obwohl vorrangig deutschsprachige Musiktheoretiker im 18. Jahrhundert immer wieder die Einbindung in den theatralischen Kontext verlangt hatten.10 So blieben zunächst auch die Forderungen nach werkspezifischer Rahmenmusik im Schauspiel in der praktischen Ausführung weitgehend unberücksichtigt. »Gerade die Akzentuierung, mit der hier die stellenweise normativ anmutenden Postulate an die Theaterpraxis gerichtet werden, läßt die Kluft zwischen dem theoretischen Anspruch und der Theaterrealität erahnen.«11 In der Zeit um 1800 entwickeln sich bestimmte Konventionen der Schauspielmusik, die bis Mitte des 19. Jahrhunderts fortbestehen. Beeinflusst sind diese nicht nur von den Reformbewegungen des 18. Jahrhunderts, sondern auch von der Rezeption des Shakespeare-Theaters und antiker Dramentheorien. Die Musik erhält im Drama einen eigenen Stellenwert. So beginnt jedes Schauspiel mit einer Ouvertüre; zudem wird zwischen den Akten Musik eingesetzt, die in Bezug zum Inhalt des Dramas stehen sollte. Die Musik für eine bestimmte Aufführung wurde entweder eigens in Auftrag gegeben oder - wie es weitaus häufiger geschah - von den Kapellmeistern aus vorhandenen Kompositionen unterschiedlicher Gattungen zusammengestellt bzw. bearbeitet. In einer Dienstanweisung für die Musikdirektoren des Weimarer Hoftheaters vom 23. Februar 1830 heißt es dazu: Der Regisseur des Schauspiels ist angewiesen, den Herrn Musikdirektoren einige Tage vor der Aufführung eines neuen Stücks das Buch auf kurze Zeit zu verabfolgen, um ihre Musik passend wählen zu können.12

Die Aufgabe, die Musik im Drama zu erfüllen hat, beschreibt Albert Schaefer folgendermaßen:

Meier: Die Schaubühne als musikalische Anstalt, S. 78. Lessing: Hamburgische Dramaturgie, 27. Stück, S. 142. Ebd. Vgl. Pelker: Art. »Ouverüre«. In: MGG2, Sachteil, Band 7, Sp. 1244-1248. Lucchesi: Bühnenmusik im historischen Wandel, S. 58. Thüringisches Hauptstaatsarchiv Weimar (Signatur: GI171, fols. 6^-64').

Die Musik, welche ein Drama umgibt, muß natürlich alle die Eigenschaften aufweisen, die anundfürsich das Theater stellt. Hauptforderungen von dieser Seite sind: Bewegung, Anschaulichkeit, Gedrängtheit der Ausführung und glänzendes Kolorit im allgemeinen, pikante Melodik und Rhythmik, treffende Charakteristik u.s.w. im besonderen. Analog der Dekorationsmalerei verzichtet die Bühnenmusik auf feine und feinste Ausarbeitung und subtile Vertiefungen, die im Theater verloren gehen; mit breiten, kräftigen Strichen nur darf sie arbeiten, - nicht allein die Anwendung der gegebenen Orchesterfarben, sondern ihrem ganzen geistigen Gehalte nach. Was sie zu sagen hat, muß sie scharf, entschieden, so zu sagen grell aussprechen. Grell zeichne sie den Schmerz, grell die Freude, grell Zärtlichkeit und Liebe. Mögen viele das raffiniert nennen, die dramatische Musik kann das Raffinement nicht entbehren, oder sie müsste auf Wirksamkeit verzichten.13 Gelegentlich wurde auch durchreisenden Musikern der Auftritt in den Zwischenakten oder, bei mehrteiligen Theaterabenden, in der Pause zwischen verschiedenen Stücken gestattet. So ist beispielsweise in einer Aktennotiz der Weimarer Hoftheater-Kommission aus dem Jahre 1809 zu lesen: Hr. Schmidt wird heute zwischen beyden Stücken ein Concert auf dem Fagott blasen. [...] Herr Schmidt hat seine Sache gestern recht gut gemacht. Wir wollen uns überhaupt wegen solcher Intermezzo besprechen, wodurch man eine kurze Vorstellung verlängern kann.24 Inwiefern die Theaterleitung in diesem Fall Einfluss auf die Auswahl der gespielten Stücke ausüben konnte, so dass Musik und Drama miteinander in Einklang standen, ist fraglich. Vermutlich ist gerade hierin der Grund dafür zu sehen, warum man die Auftritte reisender Künstler allmählich wieder einzuschränken versuchte.25 Nur wenige Schauspielkompositionen hatten einen so hohen künstlerischen Stellenwert, dass sie den Weg von der Bühne in den Konzertsaal fanden. Als Beispiele für Werke, die noch heute in Konzertprogrammen zu hören sind, können die 1809/10 entstandene Schauspielmusik zu Egmontvon Ludwig van Beethoven (1770—1827) sowie der Sommernachtstraum von Mendelssohn (1843) genannt werden. Auch im 19. Jahrhundert ist eine Differenz zwischen den theoretischen Vorstellungen von der Funktion der Schauspielmusik und der praktischen Ausübung auf dem Theater offensichtlich.

13

14 15

Schaefer: Historisches und systematisches Verzeichnis sämtlicher Tonwerke zu den Dramen Schillers, Goethes, Shakespeares, Kleists und Körners, S. 6. Thüringisches Hauptstaatsarchiv Weimar (Signatur: A 10352, fol. 4r). Vgl. dazu folgendes Promemoria des Weimarischen Kapellmeisters Müller: »Der Andrang fremder Virtuosen ist zeither so stark gewesen, daß die höchsten Herrschaften dadurch inkommodirt und die Beschäftigungen des Theaters unterbrochen worden sind. Diesem Uebelstande vorzubeugen, schlage ich folgendes unterthänigst vor: i) Alle fremden Sänger und Virtuosen sind vorerst als erste Instanz an mich zu verweisen. 2) Ich prüfe sie, und wenn sie ausgezeichnete Talente besitzen, so eröffne ich denselben, daß die höchsten Herrschaften nur so und so viel für ein öffentliches Concert, oder wenn die gnädigste Erlaubniß zum Spiel in den Zwischen =Akten des Schauspieles ertheilt würde, nur so und so viel bestimmt hätten. [...] Es sei jedoch fern, Ew. Herzogliche Durchlaucht oder die Commission durch diese unterthänigen Vorschläge auf irgend eine Art binden zu wollen, sie sollen nur dahin führen, daß der Andrang der Virtuosen nicht zu stark werde [...].« Thüringisches Hauptstaatsarchiv Weimar (Signatur: A10352, fol. 23r-i3v).

Die Musik kann ihren Zweck nur erfüllen, wenn ihr die gleiche Pflege wie dem Schauspiel selbst, zu Teil wird; dies bedingt aber eine aufrichtige Erkenntnis des Wertes und der Bedeutung der Tonkunst beim Drama, nicht bloß die Überzeugung der einfachen Notwendigkeit derselben. [...] Der Einführung einer guten Schauspielmusik überhaupt steht der Schlendrian der Theater entgegen.16

Gute Schauspielmusik, die dem »Schlendrian« dauerhaft entgegenwirken konnte, blieb jedoch Utopie.17 Während Theaterschriftsteller und Dramaturgen die Schauspielmusik als »poetisches Hilfsmittel«18 und unverzichtbares Element des Theater ansahen,29 wehrten sich Musiker und Komponisten gegen die Praxis der wahllosen Zusammenstellung unterschiedlicher Kompositionen in den Zwischenakten. Sie akzeptierten nur solche Musik, »die den Sinngehalt der Dichtung mit eigenen Mitteln vertiefen, kommentieren und ein neues Sinnganzes hervorbringen« konnte.'0 Die u. a. von den Komponisten Ferdinand Hiller (1811-1885) un(l Franz Liszt (1811-1886) geführte Diskussion um die musikalische Gestaltung der Entreactes ab der Mitte des 19. Jahrhunderts führte schließlich zur weitgehenden »Abschaffung der obligaten Zwischenaktmusik«.'1 Zahlreiche Kompositionen für das Schauspiel entstanden im 19. Jahrhundert, von denen die meisten für größere Bühnen geschrieben wurden. Namen bedeutender Komponisten sind jedoch in diesem Bereich eher selten vertreten; das Interesse an dieser Gattung scheint nicht besonders groß gewesen zu sein. Die Ursache hierfür mag wohl in der schauspielmusikalischen Praxis der Theater liegen, die aus Sicht der Komponisten die Musik zur Hilfskunst herabwürdigte.'1 Dennoch entstanden in der 26

Schaefer: Historisches und systematisches Verzeichnis sämtlicher Tonwerke zu den Dramen Schillers, Goethes, Shakespeares, Kleists und Körners, S. 7. 17 Noch 1845 'st m der Allgemeinen Musikalischen Zeitungzu lesen: »Für die königlichen Schauspiele zu Berlin ist ein > Reglement erschienen, aus dem wir folgende Bestimmungen mittheilen. §.16. verordnet, dass bei Schauspielen nur solche Zwischenmusiken (Entreactes) gewählt werden sollen, die dem Inhalte des Stückes angemessen sind.« Allgemeine Musikalische Zeitung 47, No. 50 (10. Dezember 1845), Sp. 902. 28 Laube: Das norddeutsche Theater. In: Ausgewählte Werke in zehn Bänden, Band 6, S. 119. 2 9 »Das Abschaffen der Zwischenaktsmusik ist eine Barbarei. Musik vor Beginn einer dramatischen Darstellung und während der Pausen erhöht die Stimmung, erhält die höhere Stimmung; sie ist ein überaus wertvolles poetisches Hilfsmittel. Die Benutzung eines poetischen Hilfsmittels müsste erfunden werden, wenn es unbekannt geblieben wäre in den Schauspielhäusern; das längst erfundene Hilfsmittel zerstören, heißt Poesie zerstören. Seht sie nur an die Schauspielsäle, in denen auch der Orchesterraum von Zuschauern besetzt ist! Diese Zuschauer blicken wie fragend drein: Was wollen, was sollen wir hier? Was steht zu erwarten? Eine Diskussion? Eine Vorlesung? Oder gar eine Hinrichtung? Da gibt's keine Spur von Sammlung für einen künstlerischen Vorgang, welcher unsere Phantasie, unser Herz, unseren erhobenen Geist in Anspruch nehmen soll. Nein, gründlich nüchtern bleiben wir, und der Gedanke liegt ganz nahe: 's ist doch kurios, daß man sich daher setzt, um drei Stunden lang ein überspanntes Treiben da oben anzusehen, eine künstliche Erregung, eine Farce!« Ebd. 30 Altenburg/Jensen: Art. »Schauspielmusik«. In: MGG2, Sachteil, Band 8, Sp. 1044. Vgl. Beck/Ziegler: Carl Maria von Weber und die Schauspielmusik seiner Zeit, S. iyf. 31 Meier: Die Schaubühne als musikalische Anstalt, S. 95. Siehe auch Kapitel IX. 32 Der seit Mitte des 19. Jahrhunderts geführte Streit um den Wert der Zwischenaktmusik ist nur vor dem Hintergrund einer Musikanschauung verständlich, die reine Instrumentalmusik

ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts einige Werke mit »künstlerischer Fernwirkung«,33 allen voran die Kompositionen Mendelssohns. Dass solchen Werken eine Vorbildfunktion zugesprochen wurde, zeigt die 1886 von Schaefer formulierte Definition von Schauspielmusik: Eine vollständige Schauspielmusik, wie sie unsere größeren Meister als Vorbild und Muster geliefert, besteht aus einem Vorspiel oder der Ouvertüre, der Zwischenaktsmusik und der zur Handlung gehörigen, direkt zur Darstellung des Dramas notwendigen Musik, als Lieder, Chöre und Gesänge und die gelegentlich vorkommende Instrumentalmusik (Marsch, Fanfare, Tafel-, Fest- oder Jagdmusik) welche zur Charakterisierung irgend einer Situation beitragen soll. Sie ist meistenteils vom Dichter vorgeschrieben, die Notwendigkeit ihres Daseins also bedingt. Häufig jedoch werden von guten Komponisten auch noch andere Scenen durch Musik verherrlicht, welche sich gerade für die Tonkunst eignen. Die Musik erscheint dann begleitend, die Gefühle und Stimmungen ausdrückend, indem sie teils während der Rede, teils zwischen derselben ertönt (Melodram).34

53 34

IO

als autonome Kunst akzeptiert. Während der Instrumentalmusik im 18. Jahrhundert aufgrund ihrer begrifflichen Unbestimmtheit grundsätzlich ein geringerer Wert als der Vokalmusik zugesprochen wurde (vgl. Art. »Instrumentalmusik«. In: Sulzer: Allgemeine Theorie der schönen Künste, Band II, S. oyyff., Ernst: Zur Theorie der Schauspielmusik in der deutschen Aufklärung, S. 4of.), setzt zu Beginn des 19. Jahrhunderts ein Umwertungsprozess ein, wie sich etwa an E. T. A. Hoffmanns Rezension von Beethovens 5. Symphonie ablesen lässt: »Wenn von der Musik als einer selbständigen Kunst die Rede ist, sollte immer nur die Instrumentalmusik gemeint sein, welche, jede Hülfe, jede Beimischung einer ändern Kunst verschmähend, das eigentümliche, nur in ihr zu erkennende Wesen der Kunst rein ausspricht. Sie ist die romantischste aller Künste — fast möchte man sagen: allein rein romantisch.« (Hoffmann: Schriften zur Musik, S. 23, vgl. auch Marggraff: Der Musikschriftsteller E. T. A. Hoffmann, ebd., S. 561-585). Werner Keil weist jedoch darauf hin, dass Hoffmann trotz dieser und ähnlichlautender Aussagen »am Primat der Vokalmusik [...] zeitlebens festgehalten« hat. Aus Rezensionen zu Werken anderer musikalischer Gattungen geht vielmehr hervor, dass er »jedesmal [...] als glühender Parteigänger auf[tritt] und [...] die jeweilige Gattung [verabsolutiert]: mit Beethoven rückt er die Instrumentalmusik ins Zentrum, mit Palestrina die alte Kirchenmusik und mit Spontini die Oper.« Keil: Zur Ästhetik der frühromantischen Schauspielmusik, S. 58. Lucchesi: Bühnenmusik im historischen Wandel, S. 59. Schaefer: Historisches und systematisches Verzeichnis sämtlicher Tonwerke zu den Dramen Schillers, Goethes, Shakespeares, Kleists und Körners, S. 9.

II.

Rezeption griechischer Tragödien in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts

Die intensive Auseinandersetzung mit griechischer Kunst im allgemeinen setzte in Deutschland im Zeitalter der Aufklärung mit dem von Johann Joachim Winckelmann (1717-1768) entwickelten idealisierenden Bild der griechischen Antike ein; sie erreichte in der Weimarer Klassik ihren Höhepunkt. Grundlegend für die Beschäftigung mit der Antike ist Winckelmanns Überzeugung: »Der einzige Weg für uns, groß, ja, wenn es möglich ist, unnachahmlich zu werden, ist die Nachahmung der Alten.«1 Die »Nachahmung der Alten« bezieht Winckelmann jedoch ausschließlich auf das griechische Vorbild. Die Befreiung des Griechentums aus der römischen Vermittlung führte zur Abgrenzung und Überwindung des bis zu diesem Zeitpunkt vorherrschenden französischen Antikebildes, das sich an Rom orientiert hatte.2 Ausgehend von der bildenden Kunst ließen sich Winckelmanns Gedanken über die Nachahmung und Vorbildlichkeit griechischer Kunstwerke auf die Dichtung übertragen. Winckelmann erhob die griechische Antike dabei »fast zu einem gesellschaftlichen Leitbild. In diesen beiden Punkten — Orientierung an Hellas und Sicht über die Kunst hinaus auf das antike Leben - ist Winckelmann der eigentliche Wegbereiter der klassischen deutschen Antikerezeption gewesen.«' Vor allem die Schriftsteller der Weimarer Klassik griffen die Vorstellung von einem Schönheits- und Humanitätsideal auf und entwickelten sie in ihren eigenen Werken weiter, ohne jedoch Winckelmanns normativen Ansatz zu übernehmen. Die >Alten< galten nicht mehr als Muster, sondern als Beispiele für die Art und Weise dichterischen Schaffens; ihren Werken wurde zwar Vollendung, aber auch Einzigartigkeit und Unwiederholbarkeit zugesprochen.4

Winckelmann: Sämtliche Werke. Einzige vollständige Ausgabe. Von Joseph Eiselein. Donaueschingen 1825-1829 (Neudruck Osnabrück 1965), Band i, S. 8, zitiert nach Riedel: Antikerezeption in der deutschen Literatur, S. 140. Winckelmann entwickelte sein Antikebild in den Schriften Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst (1755) und Geschichte der Kunst des Altertums (1764). Winckelmanns Postulat der »Vorbildlichkeit der Griechen« wendet sich zum einen gegen die »Nachahmung der Alten« — ein Kompromiss, zu dem die Querelle desAnciens et des Modernes im 18. Jahrhundert gelangt war -, zum anderen »gegen alles, was von Rom abgeleitet ist, gegen die romanische Kultur, gegen Frankreich, gegen Barock und Rokoko.« Vgl. Fuhrmann: Brechungen, S. 134^ Riedel: Antikerezeption in der deutschen Literatur, S. 140. Ebd., S. m. In diesem Sinn schreibt Friedrich Schiller am 9. März 1789 an Christian Gottfried Körner über seine Übersetzung der euripideischen Iphigenie in Aulis, wobei ihm neben dem griechischen Text vor allem die lateinische Übertragung von Josua Barnes als Vorlage diente: II

Die Diskussion um den Vorbildcharakter des antiken Dramas zeigt, dass die Unterschiede zwischen antiker und moderner Dichtung der griechischen Antike deutlich wahrgenommen und reflektiert werden. Dergleichen [i. e. die tragische Schicksalsidee der Griechen], sagte Goethe, ist unserer jetzigen Denkungsweise nicht mehr gemäß, es ist veraltet, und überhaupt mit unseren religiösen Vorstellungen in Widerspruch. Verarbeitet ein moderner Poet solche früheren Ideen zu einem Theaterstück, so sieht es immer aus wie eine Art von Affectation. Es ist ein Anzug, der längst aus der Mode gekommen ist, und der uns, gleich der römischen Toga, nicht mehr zu Gesichte steht.5

In zeitlicher und räumlicher Nähe zur Weimarer Klassik setzt ausgehend von Jena mit der Romantik um 1800 eine neue geistig-künstlerische Bewegung ein. Zu deren ersten Vertretern gehören, neben vielen, die Brüder Friedrich (1772-1829) und August Wilhelm Schlegel (1767-1845) sowie Ludwig Tieck (1773-1853). Klassische Grundüberzeugungen wurden anfangs von den Romantikern aufgegriffen: Dabei steht die Phase der Frühromantik noch in vielfaltiger Beziehung zur Klassik und zu deren kulturellem Zentrum in Weimar und Jena, erscheint gleichermaßen als letzte Steigerung der aufklärerisch-klassischen Antikerezeption wie als Umschlag in eine betont moderne Kunstauffassung [...].6

Auch »der nach Herder vor allem durch die Romantiker geförderte und vertiefte historische Sinn«7 kann als eine Weiterführung klassischer Grundgedanken betrachtet werden. Die gleichzeitig einsetzende Entwicklung gegenläufiger Tendenzen führt jedoch zu einer zunehmend kritischen Auseinandersetzung mit der Weimarer Klassik: Die Romantik, europäisch durchaus, keineswegs nur deutsch, ist der große Aufstand der Subjektivität des Geistes wie der Seele gegen die Aufklärung und ihre Maximen der Rationalität und Nützlichkeit, gegen die Klassik und ihre Harmonie und Ordnung, ja gegen die Herrschaft der planen Wirklichkeit, der biederen Moral, der Durchschnittlichkeit [...]. Der Mensch ist nicht primär und idealiter Vernunftwesen, sondern dagegen werden Gefühl,

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12

»[...] ich mußte mein Original errathen, oder vielmehr, ich mußte mir eins erschaffen.« NA, Band 25, S. 222,. Vgl. Koopmann: Schiller und die dramatische Tradition, S. 147-153. Siehe auch Petersen: Mimesis - Imitatio - Nachahmung, S. 187: »Angesichts der großen Wirkung, die Johann Joachim Winckelmanns Abhandlung >Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst< von 1755 auf die Zeitgenossen, erst recht aber auf die folgende Generation ausübte, könnte man glauben, das Nachahmungsprinzip sei in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zu neuer Blüte gelangt und habe die kunsttheoretischen Erörterungen maßgeblich geprägt. Das ist aber nicht der Fall, auch nicht im Bereich von Dichtung und Poetik [...]. Aber abgesehen davon, daß Winckelmann nicht eigentlich der detailgetreuen Imitation griechischer Kunstwerke das Wort redet, sondern eher ästhetische Geschmacksbildung betreibt, hatte sich das Prinzip der imitatio veterum von der Orientierung an antiken Autoren nach und nach gelöst.« Goethe: Gespräche (März 1832, mit Eckermann), Band VIII, S. 138. Riedel: Antikerezeption in der deutschen Literatur, S. 118. Schadewaldt: Antike Tragödie auf der modernen Bühne. In: Schadewaldt: Hellas und Hesperien, S. 547.

Stimmung, Leidenschaft zur Geltung gebracht und — die große Entdeckung der Romantik - das Unbewußte.8

Aufgrund der Ablehnung klassischer Grundideen muss ein widersprüchliches Verhältnis zum Griechentum entstehen; dadurch verändert sich auch der Stellenwert der Antike im Bereich der Literatur.9 Besonders Vertreter des »Jungen Deutschland« — einer ihrer Wortführer ist der Schriftsteller und Kunstkritiker Ludolf Wienbarg (iSoi-iSyi)10 - äußern seit den dreißiger Jahren ihre Abneigung gegen alte Sprachen und historische Wissenschaften, weil sie - und nicht zu Unrecht - zu bemerken glaubten, daß die Lebenswirklichkeit, besonders die politische Wirklichkeit, weder von der Geschichte noch von der Wissenschaft zukunftsweisende Impulse erhalte, sondern im Gegenteil in ihrer Entfaltung eher behindert werde."

Dennoch nimmt in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die allgemeine Beschäftigung mit der Antike ständig zu. August Wilhelm Schlegel behandelt in seiner Vorlesung Über dramatische Kunst und Literatur ausführlich das griechische Theater und seine Dichter.11 Die Bildungsreform Wilhelm von Humboldts (1767-1835) in den Jahren 1809/10 misst dem griechischen und lateinischen Sprachunterricht an den preußischen Gymnasien große Bedeutung bei.13 Die in der Aufklärung einsetzende Suche nach einem neuen und unmittelbaren Zugang zu den antiken Quellen hatte seit Ende des 18. Jahrhunderts zu einer Zunahme der Übersetzertätigkeit geführt.'4 Dadurch findet die griechische Literatur allmählich weite Verbreitung im deutschsprachigen Raum.'5

Nipperdey: Deutsche Geschichte 1800-1866, S. 571. Vgl. auch Miller: Europäischer Philhellenismus zwischen Winckelmann und Byron, S. 355: »Natürlich schrieben die deutschen Dichter weiterhin Oden, Elegien und Epigramme. Natürlich eignete sich - nach Schillers Vorbild - die Götterwelt der Alten weiterhin zu einem Metaphernsystem für die Benennung nachchristlicher, moderner Themen, in der bildenden Kunst wie in der Dichtung. Aber daraus läßt sich nicht auf ein neubegründetes Antikebild schließen. Die große Dichtung der deutschen Romantik jedenfalls hat nach 1800, von Ausnahmen abgesehen, kein anderes als ein abwehrendes Verhältnis zur Antike.« Vgl. May: Tradition im Umbruch, S. lyf. Sein Hauptwerk sind die Ästhetischen Feldzüge (1834). Landfester: Humanismus und Gesellschaft im 19. Jahrhundert, S. 56f. Diese wird erstmalig 1809/11 veröffentlicht. Vgl. Riedel: Antikerezeption in der deutsche Literatur, S. 114: »Die Antikerezeption in Deutschland im 18. und 19. Jahrhundert war eng verbunden mit dem Aufschwung der Altertumswissenschaften und mit der Herausbildung der neuhumanistischen Bildungskonzeption und Bildungsreform; ja, man kann geradezu von einer Wechselwirkung zwischen Ästhetik und Philologie, zwischen Literatur und Wissenschaft — einschließlich der Pädagogik — sprechen.« Vgl., ebd., S. in. Die erste metrische Übertragung sophokleischer Tragödien stammt von Christian Stolberg (1787). Es folgen im Jahr 1804 gleich drei neue Sophokles-Ausgaben: von Gottfried Fähse, Georg Anton Friedrich Ast und Friedrich Hölderlin. Karl Wilhelm Ferdinand Solger veröffentlichte 1808 eine weitere Sophokles-Übersetzung. Vgl. Gruppe: Deutsche Übersetzerkunst, S. zoof. Die Übersetzungen Hölderlins von Antigone und Ödipus Tyrannos, die Gruppe nicht 13

Antike Dramen wurden zunächst nur fiiir ein Lesepublikum übersetzt; Aufführungen dieser Werke - zumal in einer wissenschaftlichen Übersetzung - konnte man sich noch nicht vorstellen.

i. Diskussion über die Auffiihrbarkeit antiker Dramen In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bemerkt der Altphilologe Wolfgang Schadewaldt: Daß die Titel griechischer Tragödien auf den Spielplänen unserer heutigen Bühnen erscheinen und Werke vor allem des Sophokles und Aischylos, aber auch des Euripides in gar nicht weiten Zeitabständen auf diesen unseren Bühnen gespielt werden, ist in unserem Jahrhundert eine Erscheinung geworden, über die man sich kaum mehr wundert.'6

Anders sah die Situation zu Beginn des 19. Jahrhunderts aus. In der Auseinandersetzung mit Winckelmanns Forderung, die griechische Kunst zum Vorbild für die Kunst der Gegenwart zu erheben, wird die Frage der Nachahmung antiker Dramen diskutiert, an die sich die Frage der Aufführbarkeit antiker Dramen unmittelbar anschließt. Im Zusammenhang mit den Versuchen von Johann Wolfgang von Goethe (17491832), das antike Drama auf der Bühne des Weimarer Hoftheaters wiederzubeleben, spricht sich Johann Gottfried Herder (1744-1803) in seiner Adrastea vehement gegen die »Verpflanzung der Griechischen Tragödie auf unsre Bühne« aus.17 Vor allem scheinen ihm die Darstellungen der griechischen Frauengestalten für die Gegenwart unangemessen zu sein: Die griechischen Sitten sind nicht die unsern, zumal im Verhältniß der Geschlechter gegen einander. Sophokles brachte, nach seiner bekannten Antwort über Euripides, Weiber aufs Theater, wie sie seyn sollten, Euripides, wie sie waren. Seyn aber oder nicht seyn: Weiber in einem gewissen Grade von Versunkenheit, mit solchen und solchen Flecken bedeckt, solche und solche Gräuel verübend, wollen wir nicht auf dem tragischen Theater (und daß sie uns ekelhaft sind, macht uns Ehre); wir wollen das schwache Geschlecht in einer Häßlichkeit von Entschlüssen oder Erinnerungen nicht sehen, die alles Mitgefühl erstickt. Brächte man uns nun Giftmischerinnen, Rachsüchtig-Tolle, Entehrte u.s.f. vor Augen, diese dazu mit einer ekelhaften Nachschmeckerei gepflogener Wollüste und sagte mit freier Stirn: das sind Griechische Weiber! : ein solcher Ungeschmack, mit welchem Namen man ihn auch

erwähnt, stießen bei seinen Zeitgenossen wohl wegen ihrer unvergleichlich dichterischen Individualität auf Ablehnung: Schelling und Hegel sahen in ihr bereits Spuren des Wahnsinns. Schiller konnte sich an einigen Stellen das Lachen nicht verbeißen. Daher gerieten Hölderlins Übersetzungen wohl schnell in Vergessenheit. Vgl. Pöggeler: Preußische Kulturpolitik im Spiegel von Hegels Ästhetik, S. 2.5; Schadewaldt: Hölderlins Übersetzung des Sophokles. In: Schadewaldt: Hellas und Hesperien, S. z/jrf. Schadewaldt: Antike Tragödie auf der modernen Bühne. In: Schadewaldt: Hellas und Hesperien, S. 543. Der vollständige Titel eines Aufsatzes im Freimüthigen oder Ernst und Scherz lautet: »Herders Unheil über die Verpflanzung der Griechischen Tragödie auf unsre Bühne.« No. 92 (8. Mai 1804), S. 366-367.

falsch-ehrend belege, kann bei rein- und edelfiihlenden Menschen beiderlei Geschlechts nichts bewirken, als den alten Mönchsausspruch: >Ist das Griechisch? So wird's nicht gelesen!< (Graeca sunt, non leguntur.)18

Karl Leberecht Immermann (1796-1840) greift diese Problematik in seiner Schrift Über den rasenden Ajax des Sophokles19 (1826) erneut auf. Seine Ablehnung der Winckelmannschen Forderung, »alle neuere Kunst müsse überhaupt nur die antike wiederholen«,10 begründet er folgendermaßen: Jede Kunst, mithin auch die tragische, ist, der besonderen Erscheinung nach, eine historische Erscheinung, und bedingt in Form und Wesen durch den Charakter des Volks, sowie durch die individuellen Umstände ihrer Entstehung.11

Seiner Meinung nach verbinden sich in der dramatischen Form die beiden einzigen reinen Formen der Poesie miteinander: Epik und Lyrik. Während die epische Form das »Werdende« schildert, d. h. erzählend Handlung darstellt, betrachtet die lyrische Form das »Gewordene«, sie erscheint als Charakterdarstellung. Die Verbindung dieser beiden Formen vollzieht sich im Drama auf unterschiedliche Weise: Zwei Elemente [können] nicht in gleichen Rechten darin nebeneinanderstehen [...]. Vielmehr muß das eine durch das andere bestimmt, eins dem ändern untergeordnet sein. Es muß mithin, wenn sich das Drama bei den Völkern ausbildet, in demselben entweder das Lyrische oder das Epische vorherrschen.11

Nach Immermanns Auffassung unterscheidet sich die griechische Tragödie, die aus der lyrischen Chorpoesie hervorgegangen ist, grundlegend von »unserem Trauerspiel«, dessen Ursprung in der Epik des n. und 12. Jahrhunderts liegt. »Was sind die Tragödien des Äschylus anders als Kantaten, um in unserer Sprache zu reden?«2' Die lyrische Form gewährt der griechischen Tragödie »den Vorteil der Präzision, Faßlichkeit und Geschlossenheit«; so »konnte sich auch deshalb die Ironie nicht bedeutend in ihr ausbilden, denn diese ist der Lyrik fremd.«24 Die unterschiedliche Gewichtung des epischen und lyrischen Elements innerhalb des Dramas liegt also in der jeweiligen nationalen Entstehungsgeschichte begründet. Immermann kommt daher zu folgendem Schluß: Die Frage, ob Nachahmung der Alten im echten Sinne schon stattgefunden habe, ob sie überhaupt möglich sei? muß demnach verneint werden. Unser Trauerspiel ist ein anderes Gewächs, als ihre Tragödie.1'

Herder: Adrastea, 6. Band, n. Stück, S. 897^ Immermann: Werke in fünf Bänden, Band I, S. 554-604. Ebd., S. 556. Ebd., S. 556f. Ebd., S. 596. Ebd., S. 597. Ebd. Ebd., S. 604.

Dennoch scheint Immermann, der während seiner Zeit als Intendant in Düsseldorf dramatische Lesungen des König ödipus von Sophokles veranstaltet hatte, möglicherweise auch eine Aufführung dieses Stücks geplant zu haben, die dann allerdings nicht ausgeführt wurde.16 Auch Georg Friedrich Wilhelm Hegel (1770-1831) diskutiert die Frage der Aufruhrbarkeit antiker Tragödien in seiner Ästhetik-Vorlesung:17 Nun darf freilich nicht behauptet werden, daß ein dramatisches Produkt nicht schon durch seinen inneren Wert poetisch genügen könne [...]. Den besten Beleg hiefiir liefern die griechischen Tragödien, die wir zwar nicht mehr auf dem Theater vor uns sehen, welche uns aber, betrachten wir die Sache genauer, zum Teil gerade deshalb vollständige Befriedigung gewähren, weil sie zu ihrer Zeit schlechthin für die Bühne gearbeitet waren. Was sie von dem jetzigen Theater verbannt, liegt aber weniger in ihrer dramatischen Organisation, welche sich von der bei uns gewöhnlichen hauptsächlich durch den Gebrauch der Chöre abscheidet, als vielmehr in den nationalen Voraussetzungen und Verhältnissen, auf denen sie häufig ihrem Inhalte nach gebaut sind und in welchem wir uns ihrer Fremdheit wegen mit unserm heutigen Bewußtsein nicht mehr heimisch fühlen können.18

Nach Hegels Auffassung ist die antike Tragödie nicht mehr aufruhrbar, weil sie auf dem Theater nicht mehr das sein kann, was sie einmal war. Für sie gelten andere Voraussetzungen als für das Theater der Gegenwart. Allein die mythologischen Stoffe scheinen für die zeitgenössische Bühne unangemessen: Die Krankheit des Philoktet z. B., die stinkenden Geschwüre an seinem Fuße, sein Ächzen und Schreien würden wir ebensowenig sehen und hören mögen, als uns die Pfeile des Herkules, um welche es sich vornehmlich handelt, ein Interesse einflößen könnten. In der ähnlichen Weise lassen wir uns die Barbarei des Menschenopfers in der Iphigenia in Aulis und Tauris wohl in der Oper gefallen, in der Tragödie dagegen müßte für uns diese Seite, wie es Goethe getan hat, durchaus anders gewendet werden.19

Der Gegenstand der modernen Poesie ist »das Schicksal eines besonderen Individuums und Charakters in speziellen Verhältnissen«;'0 in der antiken Tragödie geht es dagegen um das Allgemeine und Wesentliche des Zwecks, den die Individuen vollbringen; [...] das sittliche Recht des Bewußtseins in Ansehung der bestimmten Handlung, die Berechtigung der Tat an und für sich [...]. Dadurch kann hier weder die mannigfache Schilderung des inneren Gemüts und eigentümlichen Charakters oder die spezielle Verwicklung und Intrige vollständig Platz gewinnen, noch dreht sich das Interesse um das Schicksal der Individuen [...].''

16

Vgl. Schadewaldt: Antike Tragödie auf der modernen Bühne. In: Schadewaldt: Hellas und Hesperien, S. 54/f. *7 Die zwischen 1820 und 1829 gehaltenen Vorlesungen wurden 1835 in der Bearbeitung von Heinrich Gustav Hotho erstmals veröffentlicht. 18 Hegel: Ästhetik III, S. 292. *» Ebd., S. 292f. 5° Ebd., S. 322. " Ebd., S. 321.

16

Darin bestehe der wesentliche Unterschied zwischen modernem und antikem Drama und aus diesem Grund könne die griechische Tragödie auf der Bühne auch nicht mehr den Bedürfnissen der Gegenwart genügen. Der Altphilologe August Böckh (1785-1867), der 1841 bei der Aufführung der Antigone in Potsdam als wissenschaftlicher Berater mitwirkte, schließt sich in diesem Punkt nicht der Meinung Hegels an. Gegen den Einwand, »die Motive der griechischen Tragödie seien uns fremd«, gibt er in seinem Aufsatz Über die Darstellung der Antigone zu bedenken, ob uns nicht die Motive vieler Theaterstücke und besonders Opern, die dennoch gefallen, um nichts weniger fremd sind, als die Sophokleische Antigone. Daß man die Fähigkeit habe, sich in diese Motive und in das übrige aus der Eigenthümlichkeit des Volkes und des Zeitalters, worin das Stück spielt, Hervorgehende einzufinden, ist freilich eine Voraussetzung für den Genuß jeden dramatischen Kunstwerks, welches nicht aus dem Kreise unserer nächsten Umgebung entnommen.31

Hegel äußert sich weiterhin zu der Frage, ob es sinnvoll sei, den Chor in die moderne Tragödie wieder einzuführen. Seine Funktion in der griechischen Tragödie beschreibt Hegel als die wirkliche Substanz des sittlichen heroischen Lebens und Handelns selbst [...]. So gehört der Chor wesentlich dem Standpunkte an, wo sich den sittlichen Verwickelungen noch nicht bestimmte rechtsgültige Staatsgesetze und feste religiöse Dogmen entgegenhalten lassen, sondern wo das Sittliche nur erst in seiner unmittelbaren Wirklichkeit erscheint und nur das Gleichmaß unbewegten Lebens gesichert gegen die furchtbaren Kollisionen bleibt, zu welchen die entgegengesetzte Energie des individuellen Handelns führen muß. [...] Er greift deshalb nicht in die Handlung ein, er übt kein Recht tätig gegen die kämpfenden Helden aus, sondern spricht nur theoretisch sein Urteil, warnt, bemitleidet oder ruft das göttliche Recht und die inneren Mächte an, welche die Phantasie sich äußerlich als den Kreis der waltenden Götter vorstellt. In diesem Ausdruck ist er, wie wir schon sahen, lyrisch [...]."

Da die Handlungen der modernen Tragödien »nicht auf diesem substantiellen Grunde, sondern auf dem subjektiven Willen und Charakter sowie auf dem scheinbar äußerlichen Zufall der Begebenheiten und Umstände beruhen,«34 lehnt Hegel die Verwendung des Chores in der modernen Tragödie ab: Für die romantische Tragödie dagegen zeigt sich der Chor weder passend, noch ist sie aus den Chorgesängen ursprünglich entstanden. [...] Überhaupt kann er da nicht seine rechte Stelle finden, wo es sich um partikulare Leidenschaften, Zwecke und Charaktere handelt oder die Intrige ihr Spiel zu treiben hat."

31

Böckh/Toelken/Förster: Über die Antigone des Sophokles und ihre Darstellung auf dem königlichen Schloßtheater im neuen Palais bei Sanssouci, S. 75f. » Hegel: Ästhetik III, S. 327. * Ebd., S. 328. » Ebd., S. 328f. 17

Sowohl die Stoffe als auch die Form der Tragödie gehören damit der Vergangenheit an. Vollständige Befriedigung könne zwar die Darstellung auf der Bühne nicht mehr gewähren, wohl aber die Lektüre der Dramen. Zehn Jahre nach Hegels Tod wird 1841 in Potsdam mit Sophokles' Antigone zum ersten Mal eine griechische Tragödie in unbearbeiteter Form auf einer deutschen Bühne inszeniert. Der unerwartete Erfolg ermutigte zu weiteren Aufruhrungen antiker Dramen, die seitdem einen festen Platz in den Spielplänen der Theater einnehmen. Die Frage der Auffiihrbarkeit wird heute nicht mehr diskutiert.

2. Interpretationsansätze a) Sophokles' Antigone und Ödipus in Kolonos Den Tragödien des Sophokles wird zu Beginn des 19. Jahrhunderts größte Wertschätzung entgegengebracht. Antigone gilt als Beispiel für eine mustergültige Tragödie,36 aber auch Ödipus in Kolonos ist als »Versöhnungsdrama« von besonderer Bedeutung für Philosophie und Literaturtheorie.37 Nicht selten - wenn auch nicht ohne Widerspruch - wird Sophokles in die Nähe des Christentums gerückt, wie einer Bemerkung Goethes zu entnehmen ist: Es schrieb jemand eine Abhandlung, worin er zeigte, daß Sophocles ein Christ gewesen. Das ist keineswegs zu verwundern, aber merkwürdig, daß das ganze Christentum nicht einen Sophocles hervorgebracht.'8

Einige Interpretationsansätze, die für die zu untersuchenden Inszenierungen von Bedeutung sind, sollen im folgenden skizziert werden. August Wilhelm Schlegel sieht in der Figur der Antigone den »Heroismus in der reinsten Weiblichkeit dargestellt.«39 Sie, die völlig schuldlos ist, wird zum Opfer der Unmenschlichkeit Kreons, der »nach Vollendung der That und überstandenen Leiden« für seinen »Uebermuth« büßen muß: »nur die Zerstörung der ganzen Familie des Kreon und seine eigene Verzweiflung ist eine würdige Todenfeyer für ein so kostbares hingeopfertes Leben.«40 Diese Rache für Antigones Tod ist notwendig, denn »dem griechischen Gefühl wäre es unmöglich gewesen, mit dem Untergange der Antigone ohne abbüßende Vergeltung das Gedicht für geschlossen zu halten.«41 Auch wenn Schlegel die Titelfigur nicht explizit als Märtyrerin in christlichem Sinne bezeichnet,

36 37 38 39 40 41

18

Vgl. Nottelmann-Feil: Ludwig Tiecks Rezeption der Antike, S. y Vgl. Flashar: Sophokles, S. 179. Goethe: Gespräche (29. Januar 1804, mit Riemer), Band I, S. 265. Schlegel: Über dramatische Kunst und Literatur, S. 177. Ebd., S. 188. Ebd.

so steht dennoch seine Interpretation, die Antigone von jeder Schuld freispricht, einer christlichen Deutung nahe. Einige seiner Formulierungen bestätigen dies: »Der frommen Heiligkeit ihres Gemüthes [wäre es] nicht gemäß,« den Namen ihres Verlobten Haimon zu erwähnen, wenn Kreon ihr Todesurteil verkündet.42 »Durch die besondere Neigung nach einem solchen Heldenentschlusse, noch an das Leben gefesselt zu werden, wäre Schwäche gewesen.«43 Und zur Vollendung muss Antigone schließlich »den Kelch der irdischen Leiden ganz austrinken«.44 »Im Oedipus zu Kolonos herrscht die mildeste Rührung, und es ist über das Ganze die größte Anmuth verbreitet.«45 Schlegel, der fiir dieses Drama »eine besondre Vorliebe«40 hegt, vergleicht Ödipus in Kolonos mit den Eumeniden des Aischylos. In beiden Dramen wird Athen »als der heilige Wohnsitz der Gesetzmäßigkeit und der milden Menschlichkeit verherrlicht, und abgebüßte Verbrechen [...] [werden] durch eine höhere Vermittlung letztlich gesühnt«.47 Anders als bei dem »patriotischen und Freyheit athmenden Aeschylus« vollzieht sich dies bei Sophokles, »dem das ganze Leben fortwährender Gottesdienst ist,« in einer religiösen Handlung, nämlich durch die »Todesweihe des Oedipus, dem, da er durch das Bewusstsein unwillkürlicher Verbrechen und langes Elend gebeugt ist, die Götter dadurch gleichsam eine Ehrenerklärung thun.«48 Für Schlegel liegt ein »tiefer und geheimnisvoller Sinn« darin, dass Ödipus an der Stelle, »von welcher jeder andre Mensch mit unheimlichen Grausen flieht,«49 endlich Ruhe finden kann. »Daß endlich der Hain der Furien mit der Lieblichkeit eines südlichen Frühlings überkleidet ist, vollendet die süße Anmuth der Dichtung.«50 Im Unterschied zu Schlegel vertritt der Philosophieprofessor Karl Wilhelm Ferdinand Solger (1780—1819), der mit Tieck befreundet war und dessen Übertragung der Antigone zunächst auch für die Aufführung in Erwägung gezogen worden war,51 die Auffassung,

41

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? 5° 51

Ebd., S. 187. Schlegel bezieht sich hier auf Vers 572: »Oh liebster Haimon, wie erniedrigt dich der Vater!« Es ist nicht eindeutig geklärt, ob dieser Satz von Antigone oder Ismene gesprochen wird. Schlegel ordnet diesen Satz Ismene zu, ebenso Förster. »Daß dieser Vers [...] von Tieck und Böckh der Antigone zugetheilt worden ist, dünkt uns dem Charakter der Antigone nicht angemessen, die so sehr von der frommen Liebe zu dem Bruder erfiillt ist, daß sie Haimon nie erwähnt.« (Böckh/Toelken/Förster: Über die Antigone des Sophokles und ihre Darstellung auf dem königlichen Schloßtheater im neuen Palais bei Sanssouci, S. 24 Fußnote). Auch in neueren Ausgaben zeigt sich keine einheitliche Auflassung. Wie Pearson in seiner griechischen Oxford-Ausgabe gibt auch Schadewaldt in seiner Übersetzung diesen Satz Antigone; in der neuesten griechischen Ausgabe (Griffith: Antigone. Cambridge 1999) spricht dagegen Ismene. Ebd. Ebd., S. 188. Ebd., S. I77f. Ebd., S. 178 Ebd., S. 183. Ebd. Ebd. Ebd., S. 184. Vgl. Tieck: Kritische Schriften, Band IV, S. 371. 19

dass nicht nur einseitig in Kreons Verhalten Schuld liege. Zwar siege »in dem schönen Gemüthe der Antigone [...], wiewohl sie mit allen Bürgern dem gesetzmäßigen Könige des Landes Gehorsam schuldig ist, [...] die ewige Macht heiliger Sitte über ein hartes Gebot von menschlicher Herkunft.« Während sie »in der höchsten Glorie« stirbt, müsse Kreon, »der sich von äußerer Macht und endlicher Klugheit zu weit verleiten ließ«, diesen Frevel mit der Vernichtung seines Hauses büßen. »Aber, daß wir auf keine Seite die ganze Schuld des Verderbens werfen, beide büßen gemeinschaftlich die nie zu vereinende Spaltung zwischen dem Ewigen und Zeitlichen.«51 Den Tod des ödipus nennt Solger »nicht bloß die Vernichtung des einzelnen Menschen, sondern auch die vollkommenste Versöhnung jenes ihn zerreißenden Widerstreits. [...] Oedipus, das Werkzeug so großer Greuel, mit welchen sich die höchsten sittlichen Gesetze nie vereinen lassen, ist durch das Schicksal bestimmt, das heiterste Ende in wunderbarer, für lebende Menschen nicht begreiflicher Verklärung zu finden.«53 Hegel entwickelt seine Theorie des Tragischen in der Phänomenologie des Geistes und in der Ästhetik vor allem am Beispiel der Antigone. Sein Ansatz bildet die Grundlage für zahlreiche nachfolgende Interpretationen dieser Tragödie. Die dramatische Poesie - von Hegel als höchste Gattung der Literatur anerkannt - macht »Kollisionen von Zwecken und Charakteren sowie die notwendige Auflösung solch eines Kampfes zum Mittelpunkte.«54 Im Unterschied zur Komödie, »in welcher die Subjektivität als solche in Wollen und Handeln sowie die äußere Zufälligkeit sich zum Meister aller Verhältnisse und Zwecke macht,«55 ist in der Tragödie der substantielle Charakter vorherrschend. Das »eigentliches Thema« der Tragödie ist für Hegel »das Göttliche, [...] wie es in die Welt, in das individuelle Handeln eintritt, in dieser Welt jedoch seinen substantiellen Charakter weder einbüßt, noch sich in das Gegenteil seiner umgewendet sieht. In dieser Form ist die geistige Substanz des Wollens und Vollbringens das Sittliche.« Die »sittlichen Mächte wie die handelnden Charaktere« sind aber verschieden »in Rücksicht auf ihren Inhalt und ihre individuelle Erscheinung;« die Verschiedenheit bildet die Voraussetzung für die Kollision. Sie tritt ein, wenn »das individuelle Handeln [...] unter bestimmten Umständen einen Zweck oder Charakter durchführen [will], der [...] notwendig das entgegengesetzte Pathos gegen sich aufreizt und dadurch unausweichliche Konflikte herbeileitet.« Wesentlich für das Tragische ist hierbei, »daß innerhalb solcher Kollision beide Seiten des Gegensatzes für sich genommen Berechtigung haben, während sie andererseits dennoch den wahren positiven Gehalt ihres Zwecks und Charakters nur als Negation und Verletzung der anderen, gleichberechtigten Macht durchzubringen imstande sind und deshalb in ihrer Sittlichkeit und durch dieselbe ebensosehr in Schuld geraten.«'6 Man müsse jedoch hinsichtlich aller tragischen Konflikte die »falsche Vor-

Solger: Des Sophokles Tragödien, S. XXXf. Ebd., S. XXXIV. Hegel: Ästhetik III, S. 306. Ebd., S. 306. Ebd., S. 3o8f.

Stellung von Schuld und Unschuld beiseite lassen. Die tragischen Heroen sind ebenso schuldig als unschuldig.«57 Die Kollision in Antigone besteht in dem »Hauptgegensatz, den besonders Sophokles [...] aufs schönste behandelt hat,« nämlich dem »des Staats, des sittlichen Lebens in seiner geistigen Allgemeinheit, und der Familie als ihrer natürlichen Sittlichkeit.«58 In dieser Tragödie zeigt sich »Streit und Versöhnung zwischen der Macht des Lichts, der staatlichen Sittlichkeit, des männlichen Denkens einerseits und der Macht der Nacht, der Verbundenheit mit den Toten, des Familiengeistes, des weiblichen Fiihlens andererseits.«59 Sowohl Antigone, die das Prinzip der Familie vertritt, als auch Kreon, der Vertreter des Staats, haben gleichermaßen Recht. Aufgrund der Einseitigkeit der jeweiligen Behauptung kann der Konflikt nur dadurch gelöst werden, dass »das Fatum [...] die Individualität in ihre Schranken zurück[weist] und [sie] zertrümmert, wenn sie sich überhoben hat.«60 Der Konflikt im ödipus in Kolonos wird auf eine ganz andere Art, nämlich durch eine »innerliche Aussöhnung« gelöst, »welche ihrer Subjektivität wegen bereits gegen das Moderne streift.«6' Hegel bezeichnet dieses Werk deshalb als subjektives »Versöhnungsdrama.«62 ödipus, der »allen Zwiespalt in sich auslöscht und sich in sich selber reinigt, ruft ein Gott zu sich [...]. Diese Verklärung im Tode ist seine und unsere erscheinende Versöhnung mit seiner Individualität und Persönlichkeit selber.«6' Hegel will diese Versöhnung des ödipus jedoch keinesfalls als eine christliche, religiöse verstanden wissen. Die Verklärung des Ödipus dagegen bleibt immer noch die antike Herstellung des Bewußtseins aus dem Streite sittlicher Mächte und Verletzungen zur Einheit und Harmonie dieses sittlichen Gehalts selber.*4

Wie bereits dargelegt wurde, sind nach der Auflassung Hegels die griechischen Dramen aufgrund ihrer historischen Gebundenheit in Bezug auf Form und Inhalt nicht auf 57

»Gilt die Vorstellung, der Mensch sei schuldig nur in dem Falle, daß ihm eine Wahl offenstand und er sich mit Willkür zu dem entschloß, was er ausführt, so sind die alten plastischen Figuren unschuldig; sie handeln aus diesem Charakter, diesem Pathos, weil sie gerade dieser Charakter, dieses Pathos sind; da ist keine Unentschlossenheit und keine Wahl. Das eben ist die Stärke der großen Charaktere, daß sie nicht wählen, sondern durch und durch von Hause aus das sind, was sie wollen und vollbringen. [...] Was sie zu ihrer Tat treibt, ist eben das sittlich berechtigte Pathos [...]. Zugleich aber fuhrt ihr kollisionsvolles Pathos sie zu verletzenden, schuldvollen Taten. An diesen nun wollen sie nicht etwa unschuldig sein. Im Gegenteil: was sie getan, wirklich getan haben, ist ihr Ruhm. [...] Es ist die Ehre der großen Charaktere, schuldig zu sein.« Ebd., S. 3311". 5" Ebd., S. 330. 59 Pöggeler: Hegels Idee einer Phänomenologie des Geistes, S. 91. 60 Hegel: Ästhetik III, S. 333. 61 Ebd., S. 336. 61 Hösle: Die Vollendung der Tragödie im Spätwerk des Sophokles, S. 144. 6 ' Hegel: Ästhetik III, S. 337 64 Ebd. In den Vorlesungen Über die Philosophie der Religion (1821) gibt Hegel jedoch eine eher christlich-gefärbte Interpretation des Ödipus auf Kolonos. Vgl. Sophokles: ödipus auf Kolonos, übertragen von Schadewaldt, hrsg. von Flashar, S. 132. 21

die Bühne der Gegenwart übertragbar. Der Hegelschüler Hermann Friedrich Wilhelm Hinrichs (1794-1861), dessen Interpretation der Antigone grundsätzlich auf den Vorstellungen Hegels beruht,65 weicht jedoch von dessen Haltung zur Auffuhrbarkeit ab, indem er »die Deutung der in der Antigone kollidierenden Sphären Familie und Staat aus den historischen Bedingungen der Entfaltung des Geistes bei den Griechen herauslöst und auf die eigene Zeit überträgt.«66 Der Historiker und Dichter Friedrich Christoph Förster (1791-1868) orientiert sich in seinem Aufsatz Über die Antigone des Sophokles?1 der sich auch auf die Aufführung in Potsdam bezieht, in erster Linie an der Interpretation Hegels bzw. Hinrichs'.68 So finden wir Antigone und Kreon in dem, was ihnen für das Heiligste gilt, in unauflöslichem Widerspruche, und beiden müssen wir zugestehen, daß sie mit gleicher Berechtigung ihre Ueberzeugung geltend machen. [...] Dies aber ist nun das Tragische, daß wir ein berechtigtes Pathos im Kampf mit einem gleich berechtigten finden [...].*'

Es lässt sich nicht belegen, dass Förster, wie man aus seinem Aufsatz schließen könnte, tatsächlich die der Inszenierung zugrunde gelegte Interpretation wiedergibt. Man muss beachten, dass die Veröffentlichung Über die Antigone des Sophokles und ihre Darstellung auf dem königlichen Schloßtheater im neuen Palais bei Sanssouci nicht die Funktion eines Programmheftes erfüllte, sondern eine Sammlung von Aufsätzen darstellt, die als Reaktion auf die erste Auffuhrung der Antigone entstanden waren. Hegels Interpretation der Antigone war nicht unumstritten. Heftigen Widerspruch löst sie beispielsweise bei dem Schriftsteller Otto Friedrich Gruppe (1804-1876) aus, der dem Philosophen - ohne ihn jedoch beim Namen zu nennen - die Kompetenz abspricht, literarische Kunstwerke angemessen beurteilen zu können: Man weiß, daß von Philosophen nicht immer Einsicht in das eigentliche Wesen und Schaffen der Künste zu fordern ist, da sie nun aber doch davon zu sprechen haben, so suchen sie darin nach Ideen und Gedanken und wenn diese ihnen nicht immer in der verlangten Art daraus entgegensprechen, so sind sie unverdrossen, dieselben hineinzutragen. Dies gelang nun unseren neuesten Philosophen namentlich mit der Antigone, es sei darin der Streit zwischen der Familie und dem Staat zum Gegenstand gemacht.70

Mit Hilfe einer ausführlichen »Zergliederung« der Tragödie versucht Gruppe, die Unhaltbarkeit dieser These aufzuzeigen. Eine Gleichberechtigung zwischen den »ungeschriebenen, heiligen Gesetzen« und Kreons Verbot sei in der Antigone nicht gegeben:

65

Hinrichs: Das Wesen der antiken Tragödie in ästhetischen Vorlesungen durchgeführt an den beiden Oedipus des Sophokles im Allgemeinen und an der Antigone insbesondere. Halle 1827. Vgl. Flashar: Inszenierung der Antike, S. 6·){. 66 Flashar: Inszenierung der Antike, S. 63. 67 In Böckh/Toelken/Förster: Über die Antigone des Sophokles und ihre Darstellung auf dem königlichen Schloßtheater im neuen Palais bei Sanssouci, S. 3-48. 68 Ebd., S. XVI. 6 » Ebd., S. . 70 Gruppe: Ariadne, S. 215. 22

Recht deutlich hat es Sophokles dem Zuschauer machen wollen, daß alles folgende, was Kreon so schön von der Unverletzlichkeit der Gesetze sagt, doch nur Vorwand, nicht aber Grund, und daß doch gleich wieder die in sich gekränkt glaubende Herrschsucht hervorblickt: wie falsch also, um dies beiläufig zu erwähnen, wenn gerade auf gegenwärtige Stelle diejenigen sich am meisten stützen müssen, welche den Widerstreit des Staats und der Religion in dem Stück suchen.7'

Bei der Antigone handele es sich dagegen - und hier widerspricht er nicht nur Hegel, sondern auch einer ganzen Reihe bekannter Altphilologen wie Solger, Böckh und Johann Wilhelm Süvern (1775-182,9) - um eine reine Schicksalstragödie, vergleichbar dem König Ödipus. »[...] gerade die Behandlung des Schicksals und seiner schrecklichen Zweideutigkeit gehört wesentlich zur Kunst des Sophokles und muß als deren Mittelpunkt betrachtet werden.«72 Antigones Tat stehe völlig auf dem Boden des Schicksals, sie vollbringe ihre Tat »mit demselben Gleichmuth, als sie gethan haben würde auch ohne Kreons Verbot.«73 Ihr Heroismus könne also in keiner Weise als »Widerspenstigkeit gegen Kreon« aufgefasst werden.74 Antigones Verhalten in irgendeiner Form als Fehltritt zu bezeichnen, hervorgerufen durch den Konflikt gleichberechtigter Prinzipien, liegt Gruppes Interpretation fern: Antigone, selbst die Frucht eines Verbrechens, das unfreiwillig und durch das Schicksal begangen worden, diese Antigone geht mit siegender Herrlichkeit, immer noch weiblich, dem Schicksal entgegen, mit einer Großheit und Reinheit der Gesinnung, welche nicht bloß an sich erhebend ist, sondern auch ganz besonders jenem grausen Geschick gegenüber die menschliche Natur wieder aufrichtet. Auf der düstern Gewitterwolke des Schicksals ist Antigone ein leuchtender Regenbogen, als Bild der Versöhnung.7'

Falsch sei ebenso die Ansicht, wie sie Süvern in der Nachfolge Solgers vertrete, nämlich dass letztlich Kreon für seine Verblendung gestraft werde. Kreon wird so wenig gestraft als Ajas und Oedipus, er ist der Leidende aber nicht der Handelnde und Gestrafte, seine Thaten kommen von seiner Verblendung und diese ist sein Schicksal: wer nicht so auffaßt, der sage nicht, daß er Sophokles verstanden.76

Gruppe vermeidet durch seine Deutung der Antigone als Schicksalstragödie, die er auf beide Hauptfiguren anwendet, dass die Titelfigur als Märtyrerin, Kreon dagegen als eigenverantwortlich schuldig erscheint.

71

Ebd., S. 226.

71

Ebd., S. 256. Dass es in Sophokles' Antigone gerade nicht um die Erfüllung eines Götterspruchs geht, sondern dass beide Hauptfiguren frei über ihr Schicksal antscheiden, hat in neuerer Zeit Peter Riemer überzeugend dargelegt. Vgl. Riemer: Sophokles, Antigone - Götterwille und menschliche Freiheit. 73 Gruppe: Ariadne, S. 242. 74 Ebd. r> Ebd. 7i

Ebd., S. 243f. 23

[...] an Kreon stellt [Sophokles] dar, wie in dem besten Willen sich Verblendung durch das Schicksal eindrängt, in der Antigone aber, wie mitten unter den grausen Schlägen des Schicksals doch die edlere menschliche Natur siegreich bleibt und sich verklärt.77

Auf diese Weise sieht Gruppe ebenfalls eine Form der Gleichberechtigung beider Protagonisten, wenn sich diese auch wesentlich von Hegels Deutung unterscheidet. ödipus in Kolonos bildet für Gruppe die Ausnahme unter den sophokleischen Tragödien, da der Dichter hier die Lösung »aller seiner Tragödien und überhaupt seiner Kunstart giebt«.78 Auch hier trete der Schicksalsgedanke deutlich hervor: »Denn nichts kann nach diesem Stück deutlicher sein, als daß die Verbrechen des Oedipus unfreiwillig [...], und daß sie mehr erlitten als begangen sind.«79 Im Unterschied zu den früheren Tragödien sei in diesem Werk, das Gruppe im übrigen vehement gegen den mehrfach geäußerten Vorwurf der Altersschwäche verteidigt, der Eindruck des Tragischen durch eine versöhnende Lösung ersetzt.80 Der Dichter und Dramaturg Tieck, der für die Einstudierung der Potsdamer Aufführungen verantwortlich war, stellt das Leidenschaftliche und das Leiden des Menschen ins Zentrum des tragischen Geschehens. Wenn wir von Leidenschaften sprechen, so denken wir zuerst immer an den Natureffect, dem der Mensch unterliegt. Aber verhält er sich dem Göttlichen gegenüber nicht auch leidend? Er erleidet das Göttliche, ist in Leidenschaft, und bis auf diesen Punkt soll die gemeine Leidenschaft gereinigt werden.81

Tiecks Interpretationen von Antigone und ödipus in Kolonos weisen eindeutig christliche Züge auf.81 Er vergleicht Antigone mit Maria Magdalena, die den Leichnam Jesu vom Kreuz nahm. »Allerdings ginge Antigones Tat über die Kreuzabnahme hinaus - denn sie erlitte ja den Tod, weil sie an ihrem gefallenen Bruder das Liebeswerk des Bestattung vollzieht.«83 Der Schauspieler Eduard Devrient (1801-1877) schreibt in seinen Erinnerungen an Felix Mendelssohn Bartholdy, Tieck habe Antigone zur Aufführung gewählt, »da dies Stück dem modern-christlichen Verständniß am nächsten liege.«84 Diese Sichtweise, die Antigone von jeder Schuld freispricht und sie zur christlichen Märtyrerin macht, steht grundsätzlich im Widerspruch zur Deutung Hegels. Nicht leicht zu beantworten ist die Frage, welche Haltung wohl der preußische König in der Deutungsfrage dieser kontrovers ausgelegten Tragödie einnahm. 77

Ebd., S. 245. Ebd., S. 155. ) Ebd. 80 Vgl. ebd., S. 253. 81 Köpke: Ludwig Tieck, S. 235. 81 »Man kann die Akzentuierung der christlichen Weltsicht [...] nicht kontinuierlich in Tiecks Sophokles-Bild entdecken. Tieck stand dem Christentum zeitweise sehr fern. Erst im Alter erscheinen religiöse Deutungen wiederholt und eindringlich.« Nottelmann-Feil: Ludwig Tiecks Rezeption der Antike, S. 72. 83 Jacob: Felix Mendelssohn und seine Zeit, S. 328. 84 Devrient: Erinnerungen an Felix Mendelssohn Bartholdy, S. 218. 78

24

How sensitive the king was to the text and what kind of political message he may have hoped it would give to the court audience are difficult questions to answer. The Mendelssohn-Tieck Antigone did originate with the king's own attraction to Sophocles' tragedy. What is the place of the person and moral intransigence of Antigone within the tastes and forms of a royal entertainment? Is the royal intention the tragedy of Creon [...]? Is it the Hegelian AntigoneCreon synthesis realized, a fitting aesthetic representation of a new liberal beginning?85

Möglicherweise wird Tiecks christliche Auslegung dem Verständnis von Friedrich Wilhelm IV. entsprochen haben, der, vom »romantischen Konservatismus geprägt«, an »das Gottesgnadentum des Königs, das Ethos des Patriarchalismus, die ständische Gliederung der Gesellschaft, den christlichen Staat« glaubte.86 Die Abgrenzung der Sphären Familie und Staat ließ sich dagegen nicht in Einklang bringen mit einer Politik, die geprägt war von christlich-patriarchalischem Selbstverständnis und der Vorstellung vom Staat als organischer Einheit und die sich außerdem deutlich gegen die »hegelianische Konzeption eines neuen Preußen« wandte.87 Kreon, verstanden als starrköpfiger Tyrann, stellt das Gegenbild eines christlichen, fürsorglichen Herrschers dar. Die Möglichkeit einer Identifikation wäre für Friedrich Wilhelm IV. so nicht gegeben.88 Wegen der christlichen Deutung der Tragödie scheint es zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen Tieck und Böckh gekommen zu sein.89 Böckh hatte bereits 1824 und 1826 zwei Abhandlungen Über die Antigone des Sophokles verfasst. Hier formuliert er den Grundgedanken der Tragödie folgendermaßen: Unangemessenes und leidenschaftliches Streben, welches sich überhebt, führt zum Untergang; also messe der Mensch seine Befugnis mit Besonnenheit, daß er nicht aus heftigem Eigenwillen menschliche oder göttliche Rechte überschreite, und zur Buße große Schläge erleide: die Vernunft ist das Beste der Glückseligkeit.90

Antigone und Kreon verkörpern den Widerstreit zweier Kräfte, die beide von »unangemessenem und leidenschaftlichem Streben« erfüllt sind, aber dennoch, im Unterschied zu Hegel, nicht als gleichberechtigt gelten können. Hochmuth und gewaltige Worte, wie gewaltige Schläge sind an beiden Theilen sichtbar geworden; beide waren nicht unedel, beiden schenken wir das tragische Mitleid: aber Antigone ist, weil der innere Grund ihrer That fromm, durch das Gottesurtheil an Kreon gerächt, und wie ihre Schuld geringer, da sie nur menschliches Gebot verletzt hat, ist ihre Buße minder hart, weil ihr der Tod erwünscht erscheint. Kreon, da er gegen das Göttliche recht gefehlt, und Urheber und Vollender des Unheils ist, wird empfindlich gestraft durch verzweiflungsvolle Erkenntnis seiner Thorheit.9'

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89 90 91

Steinberg: The Incidental Politics to Mendelssohn's Antigone, S. 146. Nipperdey: Deutsche Geschichte 1800-1866, S. 397. Ebd., S. 396. Vgl. Lohse: Antikes Drama und modernes Theater. Zu Hellmut Flashars Inszenierung der Antikes S. 80 sowie Bußmann: Zwischen Preußen und Deutschland, S. I2.6ff. Vgl. Lohse: Antikes Drama und modernes Theater. Zu Hellmut Flashars Jnszenierung der Antikes S. 78. Vgl. Jacob: Felix Mendelssohn und seine Zeit, S. 3i8f. Böckh: Über die Antigone des Sophokles, S. 72. Ebd., S. 82. 25

Da letztlich Tieck für die Inszenierung des Dramas verantwortlich war, wird er versucht haben, seine Auffassung von der Tragödie in der Inszenierung sichtbar zu machen. Zudem gibt es keinen direkten Hinweis, dass Hegels Konzeption der Potsdamer Aufführung zugrunde gelegt wurde.91 Etwas anderes ist es hingegen, wie das Stück von oppositionell eingestellten Zuschauern gelesen wurde. Der Schriftsteller Karl August Varnhagen von Ense (1785-1858) notiert am Tag der ersten Aufführung der Antigone in sein Tagebuch: [...] heute grade wird die >Antigone< in Potsdam aufgeführt, vor dem Könige und seinen Geladenen, die >Antigonenützlicher< Exemplarität des Theaters (als des sittlichen Bürgers AbendschuleBarbarin< verhaftet bleibt,« lässt sich im späteren Stück eine gewisse Nähe zur Weimarer Klassik erkennen: »Medea ist eine übernatürliche Zauberin, die in sich die Sehnsucht nach einer Einordnung in den Bereich des Menschlichen fühlt und in ihrem Streben nach Kultur und Gesittung ebenso wie Iphigenie Menschenopfer verhindert, im Unterschied zu der Goetheschen Heldin aber nicht erlöst, sondern scheitert und sich durch ein Selbstopfer entsühnt.« Riedel: Antikerezeption in der deutschen Literatur, S. 172. 29

fuhrt wird, so nennt er ihn dennoch, bezogen auf die Gestaltung des unglücklichen Tragödienschlusses, den »tragischsten unter den Dichtern«.115 Als besonderen Grund, »die Ausschweifungen dieses Dichters ohne Schonung zu rügen«, gibt Schlegel an, daß unser Zeitalter an ähnlichen Gebrechen krankt, als die waren, welche dem Euripides unter seinen Zeitgenossen so viel Gunst, wenn auch nicht gerade Achtung verschafften. Wir haben eine Menge Schauspiele erlebt, die an Gehalt und Form zwar unermeßlich tief unter denen des Euripides stehen, aber ihnen darin verwandt sind, daß sie durch weichliche, zuweilen sogar zarte Rührungen das Gefühl bestechen, während ihre Richtung im Ganzen auf eine wahre sittliche Freigeisterei hinausgeht."6

So nennt Schlegel Euripides zwar einen »sinnreichen Kopf, in den mannigfaltigsten Künsten des Geistes gewandt«, jedoch »strebt [er] immer nur zu gefallen, gleichviel durch welche Mittel.«"7 Im Gegensatz zu Sophokles sei für Euripides die Leidenschaft das wichtigste, dann erst folge der Charakter. Zuletzt suche er »dann und wann noch Größe und Würde, häufiger Liebenswürdigkeit anzubringen.«"8 Zwar sei dieser Dichter stark in der Darstellung von Unglück - besonders »in den Schilderungen einer kranken, verirrten, den Leidenschaften bis zum Wahnsinn hingegebenen Seele«"9 - dennoch nehme er zumeist »unser Mitleid nicht für den inneren Schmerz der Seele, [...] sondern für das körperliche Elend in Anspruch.«120 Den Menschen des Euripides fehle die erhabene Größe, er zeige sie vielmehr als unvollkommene Individuen. Dass Euripides auf diese Weise »Götter und Helden jenseits im Nachtkleide« belausche und »sich gleichsam Vertraulichkeiten mit ihnen« herausnehme,121 tadelt Schlegel, wobei er sich auf Aristoteles beruft. In der Tat kritisiert auch dieser in seiner Poetik an Euripides, dass er zuweilen die Menschen unnötig schlecht darstelle.122 Weiterhin führt Schlegel jenen bei Aristoteles überlieferten Satz des Sophokles an, »er selbst stelle Menschen dar, wie sie sein sollten, Euripides wie sie seien.«123 Diese Aussage kann im Kontext der aristotelischen Poetik nicht als Kritik an Euripides verstanden werden: Zu Beginn des Kapitels, in dem Aristoteles mögliche Fehler der Dichtkunst behandelt, nennt er drei Arten der Darstellung, von denen der Dichter stets eine befolgen müsse: »er stellt die Dinge entweder dar, wie sie waren oder sind, oder so, wie man sagt, daß die seien, und wie sie zu sein scheinen, oder so, wie sie sein sollten.«124 Euripides muss nach der oben zitierten Aussage also eher als Dichter der ersten Art verstanden werden, Sophokles als Dichter der dritten Art.

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30

Aristoteles: Poetik, 14533 [25], S. 4of. Schlegel: Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur, S. Ebd., S. loo. Ebd., S. 103. Ebd., S. no. Ebd., S. 105. Ebd., S. 103. Vgl. Aristoteles: Poetik, 1454 a [25], S. 40f. Ebd., I46ob [30], S. 88f. Ebd., I46oa [10], S. 84f.

.

Als weitere Kritikpunkte nennt Schlegel die Behandlung des Chores, der zum »außerwesentlichen Schmuck«115 werde, sowie die »Art des Euripides, die Frauen zu schildern«.116 Man sehe »zwar viel Empfänglichkeit, selbst für die edleren Reize weiblicher Sittsamkeit, aber keine wahre Achtung.«117 Schließlich arte bei Euripides die »selbständige Freiheit in der Behandlung der Fabeln, welche eines von den Vorrechten der tragischen Kunst war, [...] häufig in ungebundene Willkür aus.«118 Entsprechend fällt auch Schlegels Urteil über die Medea aus. Zwar lobt er den Beginn der Tragödie, jedoch sobald sie hervortritt, hat der Dichter Sorge getragen, durch viele allgemeine und gemeine Betrachtungen, die er ihr in den Mund legt, uns abzukühlen. Noch kleiner erscheint sie in der Szene mit dem Aigeus, wo sie, im Begriff am Jason eine furchtbare Rache zu nehmen, sich erst einen Zufluchtsort sichert, ja es fehlt nicht viel, eine neue Verbindung bevorwortet. [...] Sonst hat er die mächtige Zauberin und das in den Verhältnissen ihres Geschlechtes schwache Weib in derselben Person ergreifend geschildert. Auf das innigste rühren die Anwandlungen mütterlicher Zärtlichkeit mitten unter den Zurüstungen zu der grausamen Tat. Nur kündigt sie ihr Vorhaben zu frühzeitig und zu bestimmt an, statt es bloß wie eine verworrene schwarze Ahnung zu hegen. Als sie es vollbringt, scheint der Trieb der Rache am Jason durch den schmählichen Tod seiner jungen Gemahlin und ihres Vaters schon befriedigt sein zu müssen, und der neue Beweggrund, nämlich Jason würde ihre Kinder unfehlbar umbringen wollen, und sie müsse ihm vorbeugen, hält die Prüfung nicht aus. Denn wie sie die Leichen auf ihrem Drachenwagen entführt, hätte sie auch die lebenden Kinder zugleich mit sich retten können. Doch läßt sich dies vielleicht durch die Verwirrung des Gemüts, worein das vollbrachte Verbrechen sie stürzt, rechtfertigen.129 Schlegels Kritik an Euripides, so Gruppe, gehe »doch kaum über das hinaus, was Aristophanes, der Schalk, ihm spottend anheftete: freilich nicht der beste Anführer für Kunstkritik.«'30 Auch wenn Gruppe Schlegels Argumenten nicht unbedingt zustimmt, so hält er trotz allem Euripides fur den weitaus schlechteren Dichter im Vergleich zu Sophokles. Man müsse zwar zugestehen, dass »in den Zeiten, wo ein bisschen Rhetorik den Mangel an innerm Verhältniß künstlerischer Composition ersetzen musste, [...] Euripides ein sehr großer und der größte Dichter« gewesen sei.1'1 [...] was er sagt, ist leicht zu fassen, er spricht klar und deutlich, keine große Tiefe liegt hinter seinen Worten, keine schweigende Poesie: vielmehr alles fein ausgesprochen und in gute Sentenzen gefaßt, so daß man sich's gut merken und aufschreiben kann. Mehr nun fordern auch heute noch viele nicht von der Poesie.IJZ

125 116

Schlegel: Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur, S. 104. Ebd., S. 107.

^ Ebd. Ebd. 'v Ebd., S. 122.

lz8

'3° Gruppe: Ariadne, S. 366. '3' Ebd., S. 365. "* Ebd., S.

Es gebe aber »bei Euripides nichts zu analysieren«, weil es, so Gruppe, den euripideischen Werken unverkennbar an der Komposition, »im Sophokleischen Sinne gesprochen«, mangele.133 Schlegels Abwertung des dritten tragischen Dichters bleibt indessen nicht ohne Widerspruch. Gerade in Bezug auf die Behandlung des Chores scheinen die euripideischen Tragödien zum Teil der neuzeitlichen Dramatik näher zu stehen als die seiner Vorgänger.'34 So fragt der Historiker Friedrich von Raumer (1781-1873), warum man Euripides »schlechthin auf die Vergangenheit, nicht auf die Zukunft« beziehe. »Ist er nicht schon deshalb ein Dichter der Zukunft zu nennen, weil alle Neuern aus ihm, nicht aus dem Sophokles schöpften.«135 Auch Goethe kann Schlegels Verurteilung des Euripides nicht zustimmen: So ist er [i. e. Schlegel] auch gegen Aschylus und Sophokles gerecht, allein dies scheint nicht sowohl zu geschehen weil er von ihrem ganz außerordentlichen Werthe lebendig durchdrungen wäre, als weil es bei den Philologen herkömmlich ist, beide sehr hoch zu stellen. Denn im Grunde reicht doch Schlegels eigenes Persönchen nicht hin, so hohe Naturen zu begreifen und gehörig zu schätzen. Wäre dies, so müßte er auch gegen Euripides gerecht sein und auch gegen diesen ganz anders zu Werke gehen als er gethan. Von diesem weiß er aber, daß die Philologen ihn nicht eben sonderlich hoch halten, und er verspürt daher kein geringes Behagen, daß es ihm, auf so große Autorität hin, vergönnt ist, über diesen großen Alten ganz schändlich herzufallen und ihn zu schulmeistern wie er nur kann.1'6

Dass die Geringschätzung des Euripides wohl vorrangig eine Sache der Altphilologie war, bestätigt auch eine Tagebucheintragung Goethes vom 22.723. November 1831: Mich wundert's denn doch, daß die Aristokratie der Philologen seine [i. e. Euripides'] Vorzüge nicht begreift, indem sie ihn mit herkömmlicher Vornehmigkeit seinen Vorgängern subordinirt, berechtigt durch den Hanswurst Aristophanes.'37

Ebenso schreibt Tieck, dass er sich dem »verdammenden Urtheil«138 Schlegels nie habe anschließen können. »Wenn Schlegel den Euripides in seinen Vorlesungen und sonst so geringe stellt, ist ihm das Verständnis dieses mächtigen Dichters gänzlich verschwunden.«'39 Ganz im Gegenteil vertritt Tieck die Meinung, dass Euripides, den er zeitweilig seinen »Lieblingsdichter« nennt, für die Darstellung auf der Bühne geeigneter sei als seine beiden Vorgänger, Aischylos und Sophokles. Wenn auch Euripides' Götter im Unterschied zu Sophokles »unleugbar viel tiefer stehen, und menschlichen Leidenschaften unterworfen sind«,'40 so stünden doch gerade deshalb seine Werke, sowohl

'» Ebd., S. 366. •34 Vgl. Kapitel V.4.b. '« Raumer: Vorlesungen über die alte Geschichte, 2. Teil, S. 166, 136 Goethe: Gespräche (28. März 1817, mit Eckermann), Band VI, S. 8of. '37 Goethe: Tagebücher. WA III, Band 13, S. 176. 138 Köpke: Ludwig Tieck, S. 212. 139 Tieck: Dramaturgische Blätter, Drittes Bändchen, S. 294. 140 Köpke: Ludwig Tieck, S. 213.

»in den Charakteren« als auch »im Plan und in der Verwickelung seiner Tragödien« der »modernen Empfindungsweise«141 viel näher, ja sie zeigten sogar »eine wundersame Aehnlichkeit mit unserm großen Shakespeare«.142 Zwar stimmt Tieck mit Schlegel darin überein, dass der euripideische »Chor selbst [...] freilich gesunken« erscheine, dafür seien jedoch »die im Anfange immer wiederkehrenden Monologe [...] als Exposition im Sinn und Charakter des Chors zu betrachten.«'43 Die abnehmende Bedeutung des Chores kann sicher auch als Ursache dafür gewertet werden, dass nach Ansicht Tiecks die Tragödie des Euripides der Gegenwart weniger fremd ist. Euripides' größere Nähe »zur späteren Entwickelung und Romantik« stellt auch der Kritiker Anton Gubitz (1821-1857) im Vergleich zur »reinen Antike des Sophokles« fest.'44 Dennoch übt er heftige Kritik gerade an Euripides' Gestaltung des Medea-Stoffes und stellt auf diese Weise den jüngeren Dichter weit hinter Sophokles zurück: Steht Euripides mehr im Fleisch und Blut der neueren Zeit, indem er das Individuum mehr in seinen Einzelrechten zur Geltung kommen läßt, so vernachlässigt er doch darüber zu sehr die allgemeine Wahrheit, und wird dadurch unkünstlerischer als Sophokles. Nirgends tritt dies schreiender hervor, als in der >MedeaBerlinsche Zwitterwesens S. 37 f. Mendelssohn an Klingemann (23. November 1842), ebd., S. 38. Louis Schneider beschreibt in seiner Autobiographie die Haltung Friedrich Wilhelms IV. gegenüber dem Theater und Tieck folgendermaßen: »Eine bestimmte Vorliebe hatte der König Friedrich Wilhelm IV. für keine Gattung des Dramas. Er sah ebenso gerne die Goethesche Iphigenia, wie die tollste Posse, beides mit voller Aufmerksamkeit, scheinbar lebhaftester Empfänglichkeit, aber ohne irgend einen erkennbar nachhaltigen Eindruck. Nur für Kuriositäten, wie >Der gestiefelte KaterBlaubartAthalja< und für Phantastisches, wie >Der Sommernachtstraumgewünscht< habe, und sie wünschten nun wieder ihrerseits, daß ich die Musik für ein Ding der Unmöglichkeit erklären möchte, wie sie. Da las ich aber eines schönen Morgens die wundervollen drei Stücke und dachte den Henker an all das dumme Zeug und war außer mir über den Gedanken, es (gut oder schlecht) vor Augen zu sehen, und war vor allem entzückt über die Lebendigkeit, die noch heute drin wohnt, und daß die Chöre wirklich, was wir heute musikalisch nennen, noch heut sind; und da wurden sie alle zusammen geladen, und ich machte mich anheischig, es zu komponieren, wenn sie sich anheischig machten, es aufzuführen. Und da glaubten sie es noch nicht, und als ich nach vierzehn Tagen zum Grafen Redern schickte, um mir einen Notenschreiber kommen zu lassen, da war auf einmal der Teufel los, da wurden die Rollen verteilt, die Proben angesetzt, nun konnte keiner mehr zurück, und nun machte das wundervolle, natürliche Gedicht einen tieferen, gewaltigeren Eindruck, als sich je einer hätte träumen lassen.25

Mendelssohn konnte in seinem Arbeitseifer schließlich auch Tieck von dem Vorhaben überzeugen, wie dieser seinem Freund Raumer mitteilt: Ihren Sofokles von Donner habe ich Ihnen auf einige Zeit geraubt, weil ich mein Exempl. Mendelssohn gab, der sehr schnell mit der Composition zum Chor fertig geworden ist, und dessen Muth den meinigen für ein ziemliches Gelingen erhöht hat.26

In der ersten Oktoberwoche begannen die Proben mit Schauspielern und Sängern,17 und die erste Aufführung der Antigone fand am 28. Oktober 1841 vor einem geladenen Publikum statt. Nach dem unerwartet großen Erfolg erhielt Tieck in einer Kabinettsordre des Königs vom 22. Juni 1842 folgende Anweisung: Sie kennen längst meinen Wunsch, Ihre Talente zum Besten des Theaters wirksam zu machen, um die möglichst vollkommene Darstellung werthvoller Stücke zu erreichen, bei deren Darstellung noch so viel zu wünschen übrig bleibt, und ich veranlasse Sie, sogleich die Hand ans Werk zu legen, indem ich Ihnen hiermit meine Absicht näher bezeichne. Die Aufrührung

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Devrient: Erinnerungen an Felix Mendelssohn Bartholdy, S. 223. Mendelssohn an Droysen (2. Dezember 1841), zitiert nach Wehmer: Ein tief gegründet Herz, S. 7if. 26 Tieck an Raumer (9. Oktober 1841), Staatsbibliothek zu Berlin-Preußischer Kulturbesitz, Handschriftenabteilung (Signatur: Nachlass Raumer, fol. 294V). v Vgl. ebd. 15

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der aus dem Griechischen übersetzten Stücke und die Shakespearschen Schöpfungen sollen in artistischer Hinsicht der Gegenstand Ihrer Bemühungen [...] sein [...]. Das Resultat Ihrer Bemühungen bei letzterer ist so bedeutend gewesen, daß ich mich der Hoffnung hingebe, daß auch für die Folgezeit Ihre Wirksamkeit in der Verbesserung dieatralischer Aufführungen überall sichtbar sein wird.18 Die Tragödienaufführungen der folgenden Jahre wurden jedoch entgegen den Erwartungen mit wesentlich geringerer Begeisterung aufgenommen. Als Anfang Oktober 1842 mit der Vorbereitung einer Inszenierung von Euripides' Medea nach dem Vorbild der Antigone begonnen wurde, hoffte Tieck, Mendelssohn erneut für diese Aufgabe gewinnen zu können.29 Dieser lehnte jedoch die Komposition mit folgender Begründung ab: Zu meinem Bedauern bin ich aber von Neuem zu dem Resultat gekommen, Ihnen schon mündlich anzudeuten die Ehre hatte; die Schwierigkeiten einer dieses Stückes schienen mir so groß, namentlich in Hinsicht der Chöre, daß genügende Lösung dieser Aufgabe nicht zutraue, und die Composition daher nehmen kann.'0

welches ich Darstellung ich mir die nicht über-

Auf diese »Schwierigkeiten« wurde später von den Zeitgenossen immer wieder hingewiesen. Allerdings reduzierte man dabei die Schwierigkeit, die Mendelssohn angeblich zur Ablehnung bewog, auf den Umstand, dass für Medea Frauenchöre zu vertonen seien. Sollte der Komponist dieses Argument tatsächlich als einzigen Grund für seine Weigerung angeführt haben, so handelte es sich wohl um eine vorgeschobene Begründung. Vielmehr verspürte Mendelssohn eine grundlegende Abneigung gegen das euripideische Stück. Darüber hinaus ist seine Absage sicher auch auf die enttäuschende Situation in Berlin, die schlechte Atmosphäre und den Ärger mit den preußischen Ministerialbehörden zurückzuführen. Am 6. November 1842 schrieb Tieck an Raumer, dass mit Mendelssohn wenigstens der ödipus in Kolonos verabredet werden konnte; »deshalb aber braucht die Medea nicht liegen zu bleiben, sie kann wohl fast zur gleichen Zeit einstudirt werden, ein

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Zitiert nach Fischer: Aus Berlins Vergangenheit, S. n6f. Vgl. von Küstner: Vierunddreißig Jahre meiner Theaterleitung, S. 179: »Endlich war im Juni 1842 dem geheimen Hofrath Tieck die Leitung der Darstellung griechischer und Shakespeare'scher Stücke übertragen worden.« Die Inszenierung der Antigone fand nicht in Folge dieser Kabinettsordre des Königs statt, sondern der Erfolg der Aufführung war die Voraussetzung für diese Anweisung. Dieser Zusammenhang wird gelegentlich in der Literatur undeutlich bzw. falsch wiedergegeben. Am 2.6. Oktober 1842 schreibt Tieck an den Intendanten von Küstner: »Da ich gewiß erfahren habe, daß Mendelssohn in Berlin bleibt, so entschließt er sich noch vielleicht zu der Composition, sei es der Medea, oder des Oedipus.« Zitiert nach Schweikert: Korrespondenzen Ludwig Tiecks und seiner Geschwister, S. 364. Mendelssohn an Tieck [?] (15. Oktober 1842), zitiert nach Holtei: Briefe an Ludwig Tieck, Band II, S. 337. Ob Tieck tatsächlich als Empfänger dieses Schreibens in Betracht kommt, muss angezweifelt werden. Altmann zufolge ist dieser Brief, der sich in der General-Intendantur der Königlichen Schauspiele Berlin befand, an den Intendanten von Küstner adressiert. Gegen Tieck als Empfänger spricht neben dem Aufbewahrungsort vor allem die Anrede »Ew. Hochwohlgeboren«. Vgl. Altmann: Zwei Briefe Mendelssohns, S. I79f.

Anderer muß den Chor dazu componiren.«31 Auf Wunsch des Königs sollte nun die Aufgabe Giacomo Meyerbeer (1791-1864), der von 1842 bis 1848 die Position des Generalmusikdirektors in Berlin inne hatte, übertragen werden. Doch auch dieser lehnte ab, wie ein Brief Tiecks an den Intendanten Karl Theodor von Küstner (1784-1864) vom März 1843 bestätigt: Meyer Beer hat mir schon vor Wochen persönlich bestimmt erklärt, daß er keine Musik zu dem Chor der Medea setzen wolle, und auch nicht könne. In der Tat läßt sich bei diesem Chor gar kein Prunk der Musik anbringen; der Chor ist nicht so selbständig wie im Sofokles, daher wollen Mendelssohn wie M. Baer nichts damit zu tun haben.31 Nachdem es zunächst zwischen Friedrich Wilhelm IV. und Tieck zu Missverständnissen bezüglich der Absage Meyerbeers gekommen war, wurde schließlich auf den ausdrücklichen Wunsch Tiecks dem Königlichen Kompositionsdirektor Taubert der Auftrag übergeben. Am 3. März 1843 berichtete der Dramaturg von Willisen: Dem Direktor Taubert habe ich den Wunsch ausgesprochen, den Chor zur Medea von Euripides zu setzen. Er würde den Versuch machen, so wenig er sich mit den berühmteren Talenten messen möchte, in entgegen gesetzter Art zu komponiren, so daß jedes Wort in dieser einfachen Weise verstanden würde: er wünscht aber dazu noch eine Aufforderung von Sr. Majestät zu erhalten, damit es nicht den Anschein gewinne, als dränge er sich dazu. Sie könnten auch in dieser Hinsicht gütigst vermitteln, da es mein Wunsch ist, durch H. Taubert diesen Versuch zu machen.33 Auch dem Intendanten von Küstner versicherte Tieck, Taubert habe »Liebe zur Sache«, ferner wolle er alles so einrichten, »daß jedes Wort des viel unbedeutendem Chors verstanden werde.«34 Taubert, seit 1831 Leiter der Hofkonzerte, war 1842 zum Kapellmeister der Oper ernannt worden. Eine nur als Manuskript vorliegende Biographie des Komponisten schildert die Entstehung der Komposition: Ein böses Halsübel zwang Tauben das Bett zu hüten. In dieser häßlichen Zeit teilte ihm der Kabinettsrat Müller" den Wunsch des Königs mit, Taubert möge die Chöre zur Medea in Musik setzen. Wie machte der kunstsinnige Wunsch den Kranken durch diese Aufgabe glücklich! Da das Halsübel ihn längere Zeit an's Zimmer fesselte, komponierte er mit großer Arbeitsfreude eifrig an den Chören. [...] Nachdem er die Vorrede Schillers zur Braut von Messina gelesen, arbeitete er emsich an der Medea weiter. Wie hielt ihn die Tragödie in Bann. - [...] Die Medea Ouvertüre baute sich stattlich auf, die Instrumentierung wurde stürmisch in Angriff genommen, denn schon begannen die Proben der Tragödie und der Chöre.'6 Tieck an Raumer (6. November 1842), Staatsbibliothek zu Berlin-Preußischer Kulturbesitz, Handschriftenabteilung (Signatur: Nachlass Raumer, fol. 3O4V). Tieck an von Küstner (? März 1843), zitiert nach Zeydel: Letters of Ludwig Tieck, S. 483. Tieck an von Willisen (3. März 1843), Biblioteka Jagielloriska Krakow (Signatur: Aut. Ludwig Tieck). Tieck an von Küstner (? März 1843), zitiert nach Zeydel: Letters of Ludwig Tieck, S. 483. Vgl. Zeydel: Letters to and from Ludwig Tieck and his circle, S. 224ff. Karl Christian Müller (1773-1847), Geheimer Kabinettsrat. Wilhelm Taubert. Ein Lebensbild. Nach Auszügen von vernichteten Tagebuchauizeichnungen 57

Taubert stellte die Partitur zur Medea nach eigenen Angaben am 8. Juli 1843 fertig.'7 Wie Devrient berichtet, wurden zwei Leseproben unter Tiecks Leitung am 9. und 13. Juli abgehalten;38 die Generalprobe fand am 23. Juli statt. Jedoch musste die Erstaufführung vor geladenen Gästen im Theater im Neuen Palais,39 die ursprünglich auf den 24. Juli 1843 angesetzt war, wegen Prinz Augusts Tod verschoben werden/0 Nach zwei weiteren Proben im Theater im Neuen Palais am 5. und 6. August gelangte Medea endlich am 7. August 1843 zur Aufführung. Das Publikum bestand wie schon bei der ersten Aufführung der Antigone zu einem großen Teil aus Gelehrten und Künstlern; zudem wurden auf ausdrücklichen Wunsch des Königs einige bekannte Rezensenten, u. a. Ludwig Rellstab (1799-1860) und Otto Friedrich Gruppe, eingeladen. Es war ein eigenthümlich ergreifender Anblick, nachmittags in der 3. Stunde auf dem Bahnhofe in Berlin die ausgezeichnetsten Notabilitäten der Hauptstadt, darunter viele von europäischer Berühmtheit, die Zierden der Wissenschaft und Kunst, sämmtlich in Festkleidern sich versammeln zu sehen, um mit dem Dampfwagen sich nach Potsdam zu begeben. Welch ungewöhnlicher Reichthum an Menschenleben war der dahinbrausenden Maschine anvertraut! Auf welchem kleinen Raum war die Blüthe der Intelligenz des ganzen Volkes zusammengedrängt! - Im Fluge sauste das Dampfroß dahin, der Pegasus der Industrie, und ohne Unfall irgend einer Art langte der Zug gegen 4 Uhr bei heiterem Sonnenschein in Potsdam an.4'

Es wurden sogar Eintrittskarten an einige Studenten verteilt.41 Der Komponist war mit dem Erfolg der Aufführung äußerst zufrieden: Nachmittags mußte er zur Generalprobe der Medea nach Potsdam. Auf dem Bahnhof traf er mit Felix und einem Stettiner Musiker [...] zusammen, die der Probe beiwohnen wollten. Der König war zugegen und bezeugte lebhaft seinen Beifall, so auch die anderen Anwesenden; aber die warme Zuvorkommung Mendelssohns erfreute den Komponisten am meisten. [...] Die Aufführung gelang in jeder Beziehung und übte sichtlich einen tiefen Eindruck aus. Rellstab sagte dem Freunde, daß ihn der Gesammteindruck völlig befriedigt habe und er bestätigte

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der Jahre 1833 bis 1891 durch Briefe und eigenes Erleben ergänzt und ihren Schwestern und Neffen gewidmet von Marie Taubert. Staatsbibliothek zu Berlin-Preußischer Kulturbesitz, Musikabteilung mit Mendelssohn-Archiv (Signatur: Mus.ms.theor. 895, Band i, S. looff.). Dies ist das letzte eingetragene Datum des Partitur-Autographen. Vgl. Kapitel V.4.a. Devrient: Aus seinen Tagebüchern 1836-1852, S. I76f. Vgl. Kapitel V_4.a. Laut Kabinettsordre vom 22. Juni 1842 wurden die von Tieck geleiteten Aufführungen zuerst vor geschlossener Gesellschaft gegeben. Für die öffentliche Aufrührung bedurfte es der Erlaubnis des Königs. Ebenso behielt es sich Friedrich Wilhelm IV. vor, »Ort und Zeit zu bestimmen, wo und wann diese Stücke [...] gegeben werden sollen, wenn Mir angezeigt worden ist, daß der Aufführung nichts mehr im Wege steht.« Fischer: Aus Berlins Vergangenheit, S. 116. »In Folge des betrübenden Todes Sr. K. H. des Prinzen August ist die erste Vorstellung der Medea, welche am 24 d. M. in Potsdam stattfinden sollte, bis zum September hinausgeschoben worden.«, schreibt die Norddeutsche Zeitschrift für das Theater und für Kunst und Poesie überhaupt, Nr. 6 (31. Juli 1843), S. 118. Eine Woche später wird gemeldet, dass die Aufführung bereits am 7. August 1843 stattfinden werde. Norddeutsche Zeitschrift für das Theater und für Kunst und Poesie überhaupt Nr. 8 (16. August 1843), S. 145. Die Eintrittskarten zu derartigen Veranstaltungen wurden gewöhnlich »den Militär- und Civilbehörden und dem Hofmarschallamte« überwiesen. Vgl. Fischer: Aus Berlins Vergangenheit, S. 120.

diesen Ausspruch in seiner späteren Rezension. [...] Taubert konnte sich überzeugen, daß sein Werk in Wahrheit große Anerkennung gefunden hatte.43

Gegenüber seiner Schwester Rebecka sprach Mendelssohn jedoch offen aus, was er eigentlich von der Aufführung der Medea hielt: Montag habe ich die Aufführung der Medea von Euripides in Potsdam miterlebt; tags zuvor hatte ich schon die Generalprobe auf Einladung mit anhören müssen (>Ich war in die Probe befohlen< würde sich ein feiner Mann ausdrücken). O Gott! wenn man nur nicht täglich die Geschichte von der Kassandra aufrühren sähe und selbst mit aufführte! Wie recht hatte ich wieder prophezeit! Wie sehr haben sich sogar die Leute entsetzt und gelangweilt! Wie schlecht, ja wie erbärmlich sind die meisten Szenen dieses Stücks! Taubert hatte sich mit der Musik alle erdenkliche Mühe gegeben, aber was hilfts? Der Grund, auf dem alles ruht, ist faul und schlecht, da führt man sein Lebtag keinen hübschen Turm darauf auf. Mit dem Griechentum werden die Berliner nun wohl fürs erste fertig sein.44

Am 15. Oktober 1843, dem Geburtstag des Königs, wurde Medea zum ersten Mal öffentlich im Schauspielhaus in Berlin gegeben. Der festliche Abend begann mit der Ouvertüre zu Glucks Armide, dann folgte eine Festrede, gedichtet von Förster und vorgetragen von Devrient, schließlich die Aufführung der Tragödie.45 Entgegen Mendelssohns Voraussage war Friedrich Wilhelm IV. immer noch nicht »mit dem Griechentum fertig«. Im Frühjahr 1844 plante der König eine weitere Tragödien-Inszenierung: die Eumeniden des Aischylos. Tieck schlug vor, Mendelssohn mit der Komposition der Schauspielmusik zu beauftragen. »Gewiß könnte ein poetischer Musiker Wunder aus diesen Chorgesängen heraus zaubern, und Mendelssohn ist wohl dieser Poet.«46 Mendelssohn lehnte erneut ab und erinnerte bei dieser Gelegenheit daran, dass drei vom König bestellte Kompositionen schon bereit lägen, »nämlich Oedipus zu Kolonos des Sophokles, die Racine'sche Athalia und der König Oedipus des Sophokles. Beide ersteren liegen in vollständig fertiger Partitur vor, so dass es zu deren Darstellung nur der Vertheilung an die Sänger und Schauspieler bedarf. Auch die letztere ist im Entwurf fertig.«47 Die Musik zu Ödipus in Kolonos, die Mendelssohn im Frühjahr 1845 beendet hatte, wurde im Herbst 1845 uraufgeführt.48 Zur Aufführung einer dritten Sophokles-Tragödie kam es allerdings nicht mehr: »König Ödipus scheint aber doch

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Wilhelm Taubert. Ein Lebensbild. Nach Auszügen von vernichteten Tagebuchaufzeichnungen der Jahre 1833 bis 1891 durch Briefe und eigenes Erleben ergänzt und ihren Schwestern und Neffen gewidmet von Marie Taubert. Staatsbibliothek zu Berlin-Preußischer Kulturbesitz, Musikabteilung mit Mendelssohn-Archiv (Signatur: Mus.ms.theor. 895, Band i, S. 2o8f.). 44 Mendelssohn an Rebecka (10. August 1843), zitiert nach Hensel: Die Familie Mendelssohn, S. 684. 4 ' Vgl. Anhang . 46 Zeydel: Letters of Ludwig Tieck, S. 469. 47 Mendelssohn an Müller (12. März 1845), zitiert nach Mendelssohn Bartholdy: Briefe aus den Jahren 1830-47, S. 545. 48 Vgl. Mendelssohns Brief an Paul (10. April 1845), in: Elvers: Felix Mendelssohn Bartholdy. Briefe, S. 23off. 59

nur im Entwurf geblieben zu sein. Es fehlen darüber alle weiteren Nachrichten, ist auch nichts von der Composition jemals gedruckt worden.«^ Im Herbst 1844 hatte Mendelssohn sich endlich nach den für ihn wenig befriedigenden Jahren in Berlin von seinen Verpflichtungen gegenüber Friedrich Wilhelm IV. befreien können: Ich bleibe in einem persönlichen Componisten-Verhältniß zu dem Könige, werde auch ein mäßiges Gehalt dadurch beziehen, bin aber außerdem all meiner Verpflichtungen für das hiesige öffentliche Musikleben, meiner Anwesenheit in Berlin, kurz allem was mich seit so lange drückte und quälte, los und ledig. In kurzer Zeit denke ich zu den Meinigen in Frankfurt zurückzukehren, und zum Besuch so oft als möglich, bleibend aber niemals wieder nach Berlin zu kommen.50 Die Aufführung des ödipus in Kolonos war ursprünglich für den Sommer 1845 vorgesehen, wie aus einem Brief des Kabinettsrats Müller an den Komponisten hervorgeht.51 Mendelssohn, der bereits bei den Erstaufführungen seiner beiden vorhergehenden Schauspielkompositionen - Sommernachtstraum und Athalia - schlechte Erfahrungen mit der Terminplanung Friedrich Wilhelms IV. gemacht hatte51 und auch dieses Mal nur zu den musikalischen Proben anwesend sein wollte, drängte Tieck mehrfach auf die Einhaltung des - ohnehin nur vage auf Ende August/Anfang September angesetzten - Termins:53 Sehr dankbar würde ich nun aber Ihnen, verehrtester Herr Geheime Rath sein, wenn Sie mit den Vorbereitungen für die Tragödie selbst und die darin mitwirkenden Schauspieler denselben Termin festhalten, und auch Hrn. von Küstner wo möglich dahin bestimmen wollten die Aufführung nicht länger, als bis zur angegebenen Zeit zu verzögern. [...] Würde

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Lampadius: Felix Mendelssohn Bartholdy, S. 319. Mendelssohn an Devrient (25. Oktober 1844), zitiert nach Elvers: Über das >Berlinsche Zwitterwesen^ S. 4if. Müller an Mendelssohn (19. März 1845): »Seine Majestät [...] freuen sich aber der vollendeten Sophoklei'schen Trilogie [...] und sehen Allerhöchstdieselben Ihrer Anwesenheit im bevorstehenden Sommer entgegen, da sie die Bekanntschaft dieser neuen Composition machen wollen.«, zitiert nach Mendelssohn Bartholdy: Briefe aus den Jahren 1830—47, S. 546. Vgl. auch Friedrich Wilhelm IV. an Tieck (20. Mai 1845), in: Zeydel: Letters to and from Ludwig Tieck and his circle, S. 233ff. Seinem Bruder Paul berichtet Mendelssohn am 26. August 1843, er habe gerade die Nachricht erhalten, »daß der König im neuen Palais drei Vorstellungen in der zweiten Hälfte des Septembers haben will, nämlich: i) Antigone; 2) den Sommernachtstraum; 3) Athalia (Medea soll zwischen i und 2 gegeben werden, also alle in 14 Tagen), und daß ich dazu nach Berlin eingeladen bin.« Im Brief vom 16. September 1843 sieht die Situation wieder ganz anders aus: »Vor sechs Tagen schrieb mir Herr v. Küstner (nach zehntägigem Stillschweigen auf alle meine Briefe und Sendungen) der ganze Plan mit den Vorstellungen im neuen Palais sei verschoben bis in den October. Darauf erhalte ich heute natürlich wieder einen Brief von ihm: >Dienstag den I9ten sei Antigone.« « Zitiert nach Mendelssohn Bartholdy: Briefe aus den Jahren 1830-47, S. 514^ Vgl. Tieck an Mendelssohn (8. Juli 1845), Bodleian Library Oxford (Signatur: Ms.M.Deneke Mendelssohn d-48, G.B.XXII.io).

nun die Aufführung verschoben, so müßte sie auch gleich bis Ende September ausgesetzt bleiben, wodurch ich in eine sehr große Verlegenheit geriethe, da es mir schwer, wenn nicht unmöglich sein wird, zu Ende September in Berlin zu sein, während ich mich, wie gesagt, auf die jetzt bestimmte Zeit nun schon eingerichtet habe.54

Obwohl die Proben bereits liefen, wurde die Aufführung auf Befehl des Königs immer weiter hinausgezögert: aus Anfang September wurde Mitte oder Ende September, schließlich galt der 28. Oktober als sicheres Datum.55 Da sich Mendelssohn in dieser Zeit nicht dauerhaft in Berlin aufhalten konnte,56 übernahm Taubert vertretungsweise die musikalische Leitung bei den Proben, die zunächst wegen der Verschiebung des Aufführungstermins für vier Wochen ausgesetzt worden waren. Am 16. Oktober, so schreibt Taubert an den Komponisten, habe er die Arbeit endlich wieder aufgenommen. Da er jedoch den musikalischen Teil nur »bis zu einem gewissen Punct vorbereiten« könne, bittet er Mendelssohn, die letzten fünf bis sechs Proben möglichst selbst zu leiten: Am liebsten hätte ich Sie am Mittwoch eintreffend gewünscht, um von Donnerstag früh an, das Ruder ergreifen zu können; Vormittags dann noch Singrepetition, Nachmittags Orchesterprobe zu machen, dann hätte Stawinsky Freitag auf das Theater gehen können. Doch wie gesagt, wenn Sie erst später kommen können, so wird sich die Aufführung um so viel hinausschieben, was am Ende vielleicht auch geschähe, wenn Sie auch früher kommen. Ich bitte aber, gefälligst der Intendanz diesen meinen freundschaftlichen Rath zu verschweigen. und nur den höchsteigenen Willen zu erkennen zu geben. - [...] Lieb wäre es mir, wenn Sie mir recht bald auch die bestimmte Anzeige Ihres Kommens machen wollten; d. h. wann Sie die erste Probe übernehmen können, damit ich möglichst darauf meine Eintheilung treffen kann.57

Ödipus in Kolonos wurde schließlich zum ersten Mal am i. November 1845 im Theater im Neuen Palais in Potsdam gegeben. Die mehrfache Verschiebung des Aufruhrungstermins wird wohl bei den an der Inszenierung Beteiligten nicht gerade Begeisterung hervorgerufen haben. Außerdem kam erschwerend hinzu, dass Tieck aufgrund von Krankheit die Leitung der Endproben nicht mehr übernehmen konnte. »Der Oedipus muß nun ohne meine^ weitere Hülfe ausgeführt werden, doch hatte ich schon früher mit jedem Einzelnen die Rolle öfter einstudirt.«58 Möglicherweise hatten diese un54

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Mendelssohn an Ludwig Tieck (18. Juli 1845), zitiert nach Holtei: Briefe an Ludwig Tieck, Band II, S. 337. Vgl. von Küstner an Mendelssohn (14. Juli, 2. und 15. Oktober 1845), Tieck an Mendelssohn (25. Juli 1845), Bodleian Library Oxford (Signatur: Ms.M.Deneke Mendelssohn d.48, G.B.XXII.io, 130,149 und 28). »Da mußte ich zu den Proben des Ödipus nach Berlin. Nach 8 Tagen von da zurückgekehrt mußte ich wieder [...] nach Dresden, und bald nach meiner Heimkehr zum zweiten Male nach Berlin (wegen der Kaiserin von Russland, die noch dazu gar nicht da war). [...] nach dem Sonntag werde ich wohl wieder auf 14 Tage nach Berlin müssen, weil dann endlich der Ödipus zur Aufführung kommen wird [...].« Mendelssohn an Klingemann (29. September 1845), zitiert nach Klingemann: Felix Mendelssohn Bartholdys Briefwechsel mit Legationsrat Karl Klingemann, S. 3iif. Taubert an Mendelssohn (18. Oktober 1845), Bodleian Library Oxford (Signatur: Ms.M.Deneke Mendelssohn d^S, G.B.XXII.I56). Fischer: Aus Berlins Vergangenheit, S. 131.

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günstigen Voraussetzungen Einfluss auf die Qualität und damit den geringen Erfolg der Aufführung.

2. Zeitgenössische Eindrücke von den Aufführungen Die erste Aufführung einer griechischen Tragödie auf einer deutschen Bühne, frei von Bearbeitungen, wurde für die Zeitgenossen zum Anlass genommen, sich verstärkt mit Fragen des antiken Theaters, der Auffuhrungspraxis und der Auffuhrbarkeit griechischer Tragödien auseinander zu setzen. In Bezug auf die Darstellungen im Theater im Neuen Palais und im Königlichen Schauspielhaus Berlin ließen »sich die verschiedentlichsten Ansichten, Wünsche, Bedenken hören«.59 Im Zentrum der Diskussion über die Potsdamer Auffuhrungen stand die Frage, welche Wirkung von der griechischen Tragödie auf der Bühne der Gegenwart ausgehen könne. Die Darstellung der Antigone des Sophokles in dem Schloßtheater des neuen Palais bei Sanssouci [...] ist ein Gegenstand so allgemeiner Besprechung und Theilnahme geworden, daß es bei uns in die Reihe der Ereignisse eintritt.60

Tieck bezeichnete diesen Versuch angesichts des großen Erfolgs »als Fortschritt unserer Bühnenkunst, als eine neue Erfindung.«6' Vielfach wurde die Hoffnung geweckt, dass »die Zurückfuhrung dieser Kunstwerke des Alterthums auf die Scene eine allgemeine werden kann«, und man wünschte, dass sich die »belebende Kraft [dieses Ereignisses] auf möglichst weite Kreise erstrecke.«61 Devrient, der Mendelssohn bei der Komposition der Chöre mit Rat und Tat zur Seite gestanden hatte und der in der ersten Aufführung der Antigone den Haimon spielte, versprach sich von der »Verlebendigung der antiken Tragödie« eine »epochemachende« Wirkung.03 Wenn auch der »stille Genuß des griechischen Trauerspiels bei der Studierlampe« nicht zu verachten sei, so könne doch das griechische Drama »die ihm gebührende volle Geltung« nur auf der Bühne erhalten.04 Faszinierend erschien den Zeitgenossen der Gedanke, dass ein Kunstwerk, »das von uns um mehr als den Abstand von mehr als 2000 Jahren entfernt ist, uns aber durch sein inneres Leben und durch eine, wenn auch sehr abweichende, doch überaus

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Berlinische Nachrichten von Staats- und gelehrten Sachen, No. 94 (25. April 1841). Außerdem abgedruckt bei Droysen: Kleine Schriften zur alten Geschichte, S. 146. Böckh/Toelken/Förster: Über die Antigone des Sophokles und ihre Darstellung auf dem königlichen Schloßtheater im neuen Palais bei Sanssouci, S. III. Tieck: Kritische Schriften, Band IV, S. 371. Königlich Privilegirte Berlinische Zeitung, No. 254 (30. Oktober 1841). »Vielfach haben wir da die musikalische Behandlung der Chöre besprochen, und alle die Forderungen und Bedenken, aller Tadel und aller Beifall, welche die Composition später erfahren hat, sind damals von uns im Voraus aufgeworfen und erwogen worden.« Devrient: Erinnerungen an Felix Mendelssohn Bartholdy, S. 218. Böckh/Toelken/Förster: Über die Antigone des Sophokles und ihre Darstellung auf dem königlichen Schloßtheater im neuen Palais bei Sanssouci, S. IV.

tiefe Weltanschauung, nahe bleibt.«6' Schließlich, so Tieck, sei »die ächte Poesie [...] zu allen Zeiten verständlich und erschüttert und befriedigt das edlere Gemüth.«66 Jedoch, wie Böckh hinzufügt, sei die Voraussetzung für das richtige Verständnis, »daß man die Fähigkeit habe, sich in diese Motive und in das übrige aus der Eigenthümlichkeit des Volkes und des Zeitalters, worin das Stück spielt, Hervorgehende hineinzufinden.«67 Dennoch gab es Stimmen, die der griechischen Tragödie auf der Bühne der Gegenwart jede zukunftsweisende Wirkung absprachen. So ist, bezogen auf die erste Aufführung der Meäea'im Königlichen Schauspielhaus Berlin, zu lesen: »[...] ein anderes ist es, wenn eine antike griechische Tragödie vor einer ausgewählten Versammlung, als vor einem gemischten Publikum aufgeführt wird.«68 Die Antigone erwecke den Eindruck »eines reinen Genrebildes aus längst vergangener Zeit, das wohl anziehend, aber nicht auf Dauer fesselnd ist, weil es an Tracht und Sitten wie dem geistigen Ausdruck uns zu fern steht.«69 Die antike Tragödie sei an die Zeit ihrer Entstehung gebunden. Daher könne ein Werk wie die Antigone »von der Masse eines Publikums [...] nur sehr oberflächlich verstanden werden, und würd' es verstanden, käme doch nicht viel mehr dabei heraus, als daß eine ernste, auf ein durch Vaterlandsliebe gebilligtes Gesetz sich stützende Kraft, die sich mit den Göttern im Bunde glaubt und glauben darf, sich beugt in der Furcht vor dem Fatum, das Alles nach Willkür und unabwendlich lenkt [...].«7° Diese »fatalistischen Ideen« seien in den Stoffen der neueren Dramen bekämpft und überwunden worden. Die Neubelebung der antiken Tragödie könne daher nur einen »Rückschritt oder mindestens eine Hemmung für die freie Bahn des Geistes« bedeuten.71 Und schließlich: »Was dem Volke nicht Gemeingut werden kann, ist ihm überhaupt kein Gut, und wird ihm nur als Seltsamkeit geboten; so auch die antike Tragödie, die unser buntes Treiben nur noch etwas bunter macht [,..].«72 Auch wenn die Dichtung des Sophokles unbedingt zu schätzen sei, könne dennoch »eine wahrhafte Wiedererweckung seiner Werke zum Bühnenleben nicht gelingen [...], da sie im Allgemeinen und in ihrem Kern nur erkünstelte Beziehungen zu unserer Zeit

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Berlinische Nachrichten von Staats- und gelehrten Sachen, No. 254 (30. Oktober 1841). Vgl. Königlich Privilegirte Berlinische Zeitung, No. 261 (8. November 1841): »Nicht das antike Fatum, nicht die Sehersprüche des Tiresias, die dem ganzen Geschlecht der Labdakiden den Untergang verkündeten, erschütterten uns, es war die ewige, menschliche und göttliche Wahrheit, die in diesem großen Gedichte zu uns spricht.« Tieck: Kritische Schriften, Band IV, S. 371. Böckh/Toelken/Förster: Über die Antigone des Sophokles und ihre Darstellung auf dem königlichen Schloßtheater im neuen Palais bei Sanssouci, S. 76. Berlinische Nachrichten von Staats- und gelehrten Sachen, No. 243 (17. Oktober 1843). Athenäum, Nr. 45 (13. November 1841), S. 714-716. Königlich Privilegirte Berlinische Zeitung, No. 87 (15. April 1842). Ebd. Ebd., vgl. auch Athenäum, No. 45 (13. November 1841): »[...] dieser blinde Glaube an das Fatum kann uns nicht anders als wie Aberglaube und Unfreiheit erscheinen und wir vermissen daher immer den Nerv der Handlung, die Freiheit des subjektiven Geistes, die Energie des Charakters und wir geben freudig all diese antiken Tragödien für ein Drama von Shakespeare hin.« 63

darbieten, das ewig Gültige in den Einzelheiten aber schon längst in unsere Gedanken und Gefühle, und so auch in unser Drama übergegangen ist.«73 Mendelssohns Freund Droysen, der die Darstellung der Antigone, von Kleinigkeiten abgesehen, positiv bewertet, bemerkt anlässlich ihrer Aufführung im Schauspielhaus in Berlin, wobei er die Argumente der »Gegner« nicht außer Acht lässt: Es ist eine vollkommen neue Bahn, die unsere Kunst betritt; wer will sagen, wohin sie fuhrt? Oder irren wir uns? wäre diese Antigone nur eine Theaterneuigkeit, nur ein Curiosum, ein gelehrter Leckerbissen? Manchem wird es so erscheinen; andere werden finden, daß dieser Anfang nicht ein Vereinzeltes ist, daß sich hier ein größerer, ein allgemeiner Impuls, der unsere Gegenwart an allen toten Punkten zu bewegen beginnt, ausspricht, eben jener Impuls, der weder das tote Vergangene, noch das trag Herkömmliche, noch die rationelle tabula rasa will, sondern die Gegenwart mit allem Großen, Lebendigen, Unvergänglichen der Vergangenheit zu erfüllen, ihr damit die Triebe zu immer neuen, immer umfassenderen Entwicklungen einzupflanzen sucht.74

Die der Antigone nachfolgenden Tragödien-Inszenierungen waren jedoch weniger erfolgreich. »Der Reiz der griechischen Aufführungen in Potsdam ist schon großentheils erloschen«75 und sogar bei den Beteiligten lässt die Begeisterung allmählich nach. Man dürfe sich nicht darüber täuschen, »daß die Wirkung der großen dramatischen Werke unserer Welt, sobald man sie in einer wahrhaft würdigen Weise darstellt, auf die Massen noch eine viel intensivere ist, daß dieselben den Geist viel unmittelbarer erheben, als die Werke einer Welt, welche nur unter der Bedingung sehr idealer Bildung eine Gegenwart für uns gewinnen kann.«76 Tieck glaubt, der Stoff der Medea sei ausschlaggebend für den geringen Erfolg der Aufführung: »Der ungefällige Charakter der Medea ist für unsere prüde Zeit, wo man in der Regel eine falsche unmoralische Sittlichkeit erwartet, zu herbe und zu auffallend, worüber der große Eindruck des Werkes zum Theil verloren ging.«77 Und zur Aufführung des ödipus in Kolonos bemerkt Tieck: Der mehr ruhige Gang des Stückes schien sich nicht so allgemeinen Beifalls, wie die Antigone zu erfreuen [...]. Das Stück wurde auch nachher in Berlin gegeben, und wurde auch mit geringerem Enthusiasmus als Antigone aufgenommen. [...] Es ist seitdem nur selten aufgeführt worden, was auch zu beklagen ist, da sich das Publikum an dergleichen große Erscheinungen erst gewöhnen muß, um sie würdigen zu können.78

Rückblickend stellt Hiller fest: »[...] der Versuch, der mit der Antigone gemacht worden, bleibt trotzdem ein bedeutsamer und edler [...]«, dennoch konnte »die Tragödie der Griechen auf unserer modernen Bühne nicht mehr heimisch werden.«79 73

Königlich Privilegirte Berlinische Zeitung, No. 265 (12. November 1845). Droysen: Kleine Schriften zur Alten Geschichte, S. 152. 7 ' Varnhagen von Ense: Tagebücher (i. November 1845), Band 3, S. 243. 76 Berlinische Nachrichten von Staats- und gelehrten Sachen, No. 265 (12. November 1845). 77 Tieck: Dramaturgische Blätter, Drittes Bändchen, S. 293. 78 Tieck: Kritische Schriften, Band IV, S. 379. 79 Hiller: Aus dem Tonleben unserer Zeit, Band I, S. 227. An dieser Stelle der Rezension von 74

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Während viele Kritiker die Aufführungen des Ödipus in Kolonos als gelungen beurteilten,80 sahen sich aber auch diejenigen, die schon von der Antigone »keineswegs auf unser Drama den großen Einfluß« erwarteten und ihn auch nicht für »wünschenswerth« erachteten, in ihrem Grundsatz bestätigt: Vom heutigen Standpunkt aus ist uns aber Wahn, was vielleicht ihm Wahrheit sein konnte, ist uns Frevel, was ihm Sühne war, und der Ausgang beruhigt höchstens einseitig, denn er entzieht nur den Oedipus einem sich steigernden Unheil, das in seinem Geschlecht durch eine Rache, die alle unsere Begriffe von Göttlichkeit verhöhnt, fortwüthet. Sophokles steht, allerdings mit dichterischem Seherblicke auf das Werdende, inmitten griechischer Zustände; unantastbar ist die Unsterblichkeit seines Ruhms; eine Wiederaufnahme seines, im Hauptsächlichen an dem Ehemals verhafteten Ideenganges in unser Drama wäre indeß Verleugnung unserer Volkstümlichkeit, ein Unterdrücken des geistigen Aufschwungs von sich klargewordener Eigenthümlichkeic aus.8'

Der Schriftsteller Heinrich Laube (1806-1884) nennt die griechische Tragödie mit moderner Musik eine »Zwittergattung« aus Oper und Schauspiel, »welche Feinschmecker absonderlich unterhalten mag.« Diese habe dem Theater jedoch keinen langfristigen Erfolg bescheren können. Im Gegenteil, das deutsche Theater sei durch »die Rezitation dieser Donnerschen Übersetzung, welche meilenweit entfernt ist von schöner deutscher Verspräche«, in keiner Weise gefördert worden.81 Anders urteilt Devrient aus der Sicht des Schauspielers: Obwohl jüngere Schriftsteller derartige Experimente getadelt hätten, sei die Aufführung der Antigone »fruchtbringend [...] für die Schauspielkunst« gewesen. Die Aufführung der Antigone brachte den unermeßlichen Vorteil, daß sie, in Mitte der frivolen Theaterzustände, ein Werk von religiösem Eindruck aufstellte und durch die Erinnerung an dessen geschichtliches Leben, an Ursprung und eigenste Bedeutung dramatischer Kunst mahnte. Sie bot der Schauspielkunst eine neue rednerische Übung am Trimeter und lehrte Gleichmaß und Adel antiker Darstellung in Geist und Formen eindringlicher als alle bisherigen dichterischen Nachahmungen des Griechentums. [...] Und dieser praktische Versuch wurde gerade darum so fruchtbringend für die moderne Dramatik, weil er nicht

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Marx' Die Musik des if>. Jahrhundert nimmt Hiller Bezug auf folgende Aussage: »[...] die Restauration der Antigone [war] ein zeit- und lebensfremdes Unternehmen. Wir können (und wer möchte sich's versagen) die Alten für uns lesen und unsre Phantasie kann sich in ihr Dasein und seine leitenden Gedanken und Grundsätze mehr oder weniger lebhaft hineinträumen; soweit das nicht gelingt, kann dann noch Verstand mit Kenntnis über das unserm Wesen Fremde und Befremdende hinwegheben und den Genuß des zugänglich Gebliebenen gewähren. [...] Ein Andres ist es aber, wenn die Bühne dies längstentleerte Leben in greifbarderbe Wirklichkeit zurückzuführen unternimmt.« Marx: Die Musik des 19. Jahrhunderts und ihre Pflege, S. 120. Diese Kritik von Adolf Bernhard Marx ist vermutlich auch aufgrund eines Zerwürfnisses zwischen ihm und seinem ehemaligen Jugendfreund Felix Mendelssohn so negativ gefärbt. Vgl. Jacob: Felix Mendelssohn und seine Zeit, S. 3i6ff. Vgl. Berlinische Nachrichten von Staats- und gelehrten Sachen, No. 257 und 265 (3. November 1845 und 12. November 1845); Königlich Privilegirte Berlinische Zeitung, No. 257 (3. November 1845); Berliner Musikalische Zeitung 2, No. 45 (8. November 1845). Königlich Privilegirte Berlinische Zeitung, No. 265 (12. November 1845). Laube: Das Norddeutsche Theater. In: Laube: Schriften über Theater, S. 429. 65

darauf ausging, eine archäologische Nachahmung alles dessen zu sein, was die Gelehrten von den AufRihrungen in Athen zu wissen glaubten, sondern weil er ein Versuch der modernen Schauspielkunst war und sein mußte.83 Während Devrient noch unmittelbar nach der Erstaufführung der Antigone glaubte, dass »alle Jahr eine Vorstellung eines griechischen Stückes [...] uns überaus nützlich« sei,84 hat sich ihm dieser Eindruck auf Dauer wohl nicht bestätigt. Daß man nach der Antigone das ganze attische Repertoir, so die Medea des Euripides mit Frauenchören von Taubert i844,8' den Ödipus in Kolonos von Sophokles mit Mendelsohn's Chören 1845, den Hippolytos von Euripides mit Chören von Schulz 1851 aufzuführen Miene machte, verdiente freilich den Tadel, den der erste Versuch mit der Antigone nicht verdient hatte.86 Medea wurde in Potsdam und Berlin insgesamt sechs Mal,87 Ödipus in Kolonos nur drei Mal aufgeführt.88 Antigone ist dagegen mehrfach vor vollem Haus gespielt worden und erschien auch später immer wieder auf den Spielplänen verschiedener Bühnen im Inund Ausland.89 Der Andrang zu den ersten Aufrührungen der Antigone scheint immens gewesen zu sein. So beschwert sich ein Kritiker über die Potsdamer Eisenbahn: Weshalb bei solchem außerordentlichen Andränge nicht 2 Züge hin und zurück; weshalb nur ein Fenster zum Billetverkauf eröffnen, wo fast tausend Personen zugleich Billets verlangen? Die eingestoßene Scheibe war dabei gewiß das geringste Ungemach.90 Amüsant zu lesen sind auch die Beschwerden über den »Billetverkauf« und den Verkauf von Theaterzetteln im Königlichen Schauspielhaus.9' Doch bereits bei der Aufführung der Medea hatte sich der Ansturm gelegt.

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Devrient: Geschichte der deutschen Schauspielkunst, S. 425. Devrient: Aus seinen Tagebüchern 1836-1852, S. 130. Medea wurde bereits 1843 aufgeführt. Devrient: Geschichte der deutschen Schauspielkunst, S. 426. In Berlin wurde Medea erstmalig am 15. Oktober 1843 gegeben; Wiederholungen fanden am 16. Oktober 1843, 27. November 1843, 5. Oktober 1844 und 18. Oktober 1844 statt. Eine für den 8. November 1843 angesetzte Vorstellung musste »wegen Unpäßlichkeit der Mad. Crelinger« kurzfristig abgesagt werden. Statt dessen wurde das Erfolgsstück Doctor Wespe-von R. Benedix gegeben. Schäffer/Hartmann (Die königlichen Theater in Berlin) nennt insgesamt sieben Medea-Vorstellungen, davon eine auf italienisch. Hier kann es sich wohl nur um den letzten von Schäffer/Hartmann genannten Termin am 15. März 1862 handeln. Dieses Datum findet sich nicht in Tauberts Auflistung der Aufführungsdaten. Am i. November 1845 in Theater im Neuen Palais in Potsdam sowie am 10. und n. November 1845 im Berliner Schauspielhaus. Allein in Berlin und Potsdam stand Antigone bis Ende 1885 62 mal auf dem Spielplan. Vgl. Schäffer/Hartmann: Die königlichen Theater in Berlin, S. 5. Siehe auch Kapitel VIII. Königlich Privilegirte Berlinische Zeitung, No. 261 (8. November 1841). »Namentlich wäre es interessant zu wissen, ob in Athen und in welcher Form ein Billetverkauf stattgefunden, ob man sich z.B. wenn ein so berühmtes Stück wie die Antigone aufgeführt wurde, um Billets zu erhalten, melden mußte, bevor es bekannt gemacht war, daß es gegeben würde.« Königlich Privilegirte Berlinische Zeitung, No. 86 (14. April 1842).

Schon am Montag [16. Oktober 1843, dem Tag der zweiten Berliner Aufführung] war das Haus nicht ganz gefüllt, doch wissen wir nicht, ob der Grund davon hierin lag, daß das allgemeine Urtheil sich seit der Aufführung dieser Tragödie in Potsdam schon festgestellt hat, oder in anderen Ursachen.91

Norddeutsche Zeitschrift für das Theater und für Kunst und Poesie überhaupt, Nr. 17 (29. Oktober 1843), S. 321. 67

IV. Textfassung

Welcher Grad [...] und welche Art der Erhaltung und Erneuerung des Originals durch die Mittel der eigenen Sprache Treue ist, darüber denkt der einzelne Übersetzer und dachte das jeweils übersetzende Zeitalter verschieden.1

Anfang des 18. Jahrhunderts wurde im deutschsprachigen Raum von einer Übersetzung in erster Linie Deutlichkeit und Verständlichkeit verlangt. Man erreichte dies, indem der Übersetzer den ursprünglichen Text »korrigiert und ergänzt, jedenfalls Anmerkungen beifügt, Dunkelheiten aufhellt und gebundene Sprache lieber in Prosa umsetzt [...]. Darum tat man gut, diese Art des aufklärerischen Übersetzens als Dolmetschen zu bezeichnen.«1 Goethe nennt als erste Art der Übersetzung diejenige, die »uns in unserem eigenen Sinne mit dem Ausland bekannt [macht]; eine schlicht prosaische ist hiezu die beste.«' Über die erste Art hinaus geht die Zielsetzung, dass in dem übersetzten Text die Individualität des Autors bewahrt werden müsse. Diese Methode des Übersetzens, die Goethe »im reinsten Wortverstand die parodistische« nennt, sei durch das Bemühen gekennzeichnet, »sich in die Zustände des Auslandes zwar zu versetzen, aber eigentlich nur fremden Sinn sich anzueignen und mit eigenem Sinne wieder darzustellen«.4 Der Sprachforscher Karl Wilhelm Ludwig Heyse (1797-1855) bezeichnet diesen Weg im Vorwort zur >4Wräz-Übertragung (1826) seines Schülers Mendelssohn5 als Umkleidung des antiken Werkes in ein modernes Gewand, wobei die alte Form gänzlich aufgelös't, das Einzelne des Ausdrucks mit schöpferischer Freiheit behandelt und nur das Wesentliche des Inhalts gerettet wird. Man gedenkt, [...] nach Form und Ausdruck so zu schreiben, wie der alte Dichter etwa geschrieben hätte, wenn er gegenwärtig lebte; man beabsichtigt, denselben Eindruck auf den Leser hervorzubringen, den der Leser auf die seinigen machte.6

Dieses gegenüber der ersten Art erweiterte Verständnis von Übersetzungstreue verzichtet auf die Wahrung der nationalen Eigentümlichkeit des Textes, der fremde Autor wird transponiert, eingedeutscht.

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Schadewaldt: Das Problem des Überserzens. In: Schadewaldt: Hellas und Hesperien, S. 524. Ebd., S. 525. Goethe: Noten und Abhandlungen zum Divan. WA I, Band 7, S. 235. Ebd., S. 236. Vgl. Kapitel V.l. Terenz: Das Mädchen von Andros. Hrsg. von Heyse, S. Ulf. 69

Von der transponierenden Art des Übersetzens unterscheidet sich die wörtlich bewahrende.7 Sie besteht »in einem treuen Anschließen auch an die Form und an den einzelnsten Ausdruck der Urschrift.«8 Ihr liegt die Erkenntnis zugrunde, dass »Inhalt und Form in jedem echten Kunstwerke« nicht voneinander getrennt werden dürfen, »wenn man ein möglich treues Abbild von dem Ganzen eines Dichterwerks geben wolle«.9 Der Übersetzer ist verpflichtet, diese Einheit - die »individuelle sinnlich-geistige Totalität des Originals« - zu erhalten.10 Wissenschaftliche Kenntnis und künstlerische Begabung fließen hier zusammen. »Im Zeitalter der deutschen Humanität wird die Idee der Übersetzung als autarker Form geistigen Lebens eigentlich erst gefaßt.«11 Zu Beginn des 19. Jahrhunderts fordert der Philosoph und Theologe Friedrich Schleiermacher (1768-1834), der Übersetzer solle dem Leser »das nämliche Bild, den nämlichen Eindrukk, welchen er selbst durch die Kenntniß der Ursprache von dem Werke, wie es ist, gewonnen,«12 vermitteln. Um »das Heimische und Gewohnte zu vergessen und aufzugeben, um durch Hineindenken und Hineinfühlen in dem Fremden heimisch zu werden«,'3 wird ein »eigenes Übersetzerdeutsch« geschaffen, »das die in der Sprache ruhenden Möglichkeiten im Sinne des fremden Autors verwirklicht.«14 Historische, nationale und individuelle Eigenheiten des Urtextes müssen sprachlich zum Ausdruck kommen. Diese Maxime »macht an uns die Forderung, daß wir uns zu dem Fremden hinüber begeben und uns in seine Zustände, seine Sprachweise, seine Eigenheiten finden sollen.«15 Die Übersetzersprache müsse daher, so Wilhelm von Humboldt in der Einleitung seiner Übertragung des aischyleischen Agamemnon (1816), »eine gewisse Farbe der Fremdheit an sich« tragen.16 »Solange nicht die Fremdheit, sondern das Fremde gefühlt wird, hat die Uebersetzung ihren höchsten Zweck erreicht.«17 Für die deutsche Sprache sei vor allem das Übersetzen aus dem Griechischen äußerst gewinnbringend: Das Uebersetzen, und gerade der Dichter, ist vielmehr eine der nothwendigsten Arbeiten in einer Literatur, theils um den nicht Sprachkundigen ihnen sonst ganz unbekannt bleibende

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Vgl. Schadewaldt: Die Wiedergewinnung antiker Literatur auf dem Wege der nachdichtenden Übersetzung. In: SchadewaJdt: Hellas und Hesperien, S. 538. 8 Terenz: Das Mädchen von Andres. Hrsg. von Heyse, S. IV. 9 Ebd. 10 Schadewaldt: Das Problem des Übersetzens. In: Schadewaldt: Hellas und Hesperien, S. 528. » Ebd. IZ Schleiermacher: Über die verschiedenen Methoden des Übersetzens (Akademievortrag, gehalten am 24. Juni 1813), S. 218. Grundsätzlich unterscheidet er hier zwei Methoden des Übersetzens: »Entweder der Uebersetzer läßt den Schriftsteller möglichst in Ruhe, und bewegt den Leser ihm entgegen; oder er läßt den Leser möglichst in Ruhe und bewegt den Schriftsteller ihm entgegen.« Ebd. 13 Terenz: Das Mädchen von Andros. Hrsg. von Heyse, S. IV. 14 Schadewaldt: Das Problem des Übersetzens. In: Schadewaldt: Hellas und Hesperien, S. 529. 15 Goethe: Zu brüderlichem Andenken Wielands (1813). WA I, Band 36, S. 329^ 16 Aeschylos: Agamemnon, metrisch übersetzt von Wilhelm von Humboldt, S. XIX. 17 Ebd.

Formen der Kunst und der Menschheit, wodurch jede Nation immer bedeutend gewinnt, zuzuführen, theils aber, und vorzüglich, zur Erweiterung der Bedeutsamkeit und der Ausdrucksfähigkeit der eigenen Sprache. [...] Wie hat, um nur dies Beispiel anzuführen, nicht die Deutsche Sprache gewonnen, seitdem sie die Griechischen Sylbenmasse nachahmt [...]?'8 Übersetzungen griechischer Tragödien Ende des 18. Jahrhunderts und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts kennzeichnet das Bestreben, das originale Metrum zu wahren und den Urtext so wörtlich wie möglich wiederzugeben.'? Das Verfahren, die griechischen Versmaße in der Übersetzung nachzuahmen, wird zunächst noch zwiespältig betrachtet. 1802 heißt es in einer Rezension von Friedrich Heinrich Bothes (1771-1855) Euripides-Ausgabe: Indessen wünschen wir, er hätte eine dichterische Prosa statt des Metrums gewählt, welcher er gewiß mehr Wohlklang und Melodie zu geben im Stande gewesen wäre, als die metrische Uebersetzung, nach unserem Gefühle, erhalten hat.10 Kritisch gegenüber der metrischen Übersetzungsmethode äußert sich auch August Wilhelm Schlegel: Wahrhaft treue Uebersetzungen, und welche im Ausdruck und im Versbau zu gleicher Höhe mit dem Original hinanstreben, hat man bis jetzt wohl nur im Deutschen versucht. Allein, wiewohl unsere Sprache äußerst biegsam und in vielen Stücken der griechischen ähnlich ist, so bleibt es doch immer ein Kampf mit ungleichen Waffen; [...] ich weiß noch keine Uebersetzung eines griechischen Tragikers, die durchaus zu loben wäre. Gesetzt aber auch, die Uebersetzung wäre noch so vollkommen, der Abstand der Kopie zum Originale so gering als möglich, so wird doch der Leser, welcher nicht mit dem übrigen Werke der Griechen bekannt ist, gestört durch die Fremdartigkeit des Stoffes, durch die nationalen Eigenheiten, und die zahllosen Anspielungen, zu deren Verständniß Gelehrsamkeit nöthig ist, zerstreut durch das Einzelne, zu keinem reinen Eindruck des Ganzen zu gelangen.11 Heyse gibt zu bedenken, dass jede Übersetzungsmethode »vor dem Missbrauch« nicht sicher sei.

Ebd., S. XVIIf. Aus heutiger Sicht erscheint es unmöglich, so wörtlich wie möglich zu übersetzen und gleichzeitig die äußere Form einer Dichtung beizubehalten. Letzteres wird daher häufig zugunsten der Wörtlichkeit zurückgestellt. »Entscheidet er [i. e. der Übersetzer] sich aber für das Wort und zur Aufopferung der äußeren Form, so bleibt dies Opfer zwar groß genug, da alle Dichtung sich in der sinnlichen Form vollendet. Allein, er opfert mit der sinnlichen Form doch wieder nur etwas, was auf keine Weise >übersetzbar< ist. [...] Die sinnliche Form der Dichtung ist unlösbar in Klang und Art der ursprünglichen Zunge verhaftet. [...] Notwendig ist dafür aber wieder, jenem Verzicht auf die äußere sinnliche Form gegenüber, eine dreifache Bindung. Erstens: die Bindung, vollständigiu übersetzen [...]. Zweitens, die ursprünglichen Vorstellungen des Dichters in ihrer Reinheit und Eigentümlichkeit zu bewahren. Und drittens, die Abfolge dieser Vorstellungen, so wie die Dinge der Welt dem Dichter im Satz und im Gefüge der Sätze vor Augen kommen, soweit nur irgend möglich im Deutschen zu bewahren.« Schadewaldt: Das Problem des Übersetzens. In: Schadewaldt: Hellas und Hesperien, S. 54of. Neue allgemeine deutsche Bibliothek (1802), 69. Band, i. Stück, S. 240. Schlegel: Über dramatische Kunst und Literatur, i. Band, S. 66. 71

Auf der einen Seite ist grenzenlose Willkür, auf der anderen pedantische Aengstlickeit das fehlerhafte Extrem; dort ein entstellendes Modernisiren [...]; hier im Gegentheil ein gänzliches Aufopfern des eigenthümlichen Genius der neuern Sprache [...], um nur recht treu zu sein, wodurch denn eine Darstellung entstehet, die für den Laien ganz ungeniessbar, für den Kenner des Originals kaum durch dieses verständlich wird. [...] Die Forderung einer treuen Nachbildung der Form hat so sehr die Oberhand gewonnen, dass man nur zu oft durch ängstliches Nachkünsteln derselben der geistigen Treue ganz und gar verlustig geht, und die höchste Vers- und Wort- und Buchstaben-Treue zur höchsten Untreue hinsichtlich des eigentlichen Geistes und Tones der Urschrift fuhrt.21

Dennoch setzt sich die Nachahmung antiker Metren als entscheidendes Kriterium einer wissenschaftlichen Übersetzung durch. Von den Sophokles-Übersetzungen des frühen 19. Jahrhunderts fand die von Solger (1808) zunächst am meisten Beachtung.13 Er »wollte durchhin die Originalform wiedergeben, dabei auch wohl für den erhabenen Stil einen Ausdruck finden.«24 Aus der Sicht von Dichtern und Philologen trug die wissenschaftliche Genauigkeit einer Übersetzung wesentlich zur Vermittlung antiker Kunstwerke bei. Solgers SophoklesÜbertragung entsprach also ganz den Anforderungen, die zu seiner Zeit an eine dem Urtext treue Übersetzung gestellt wurden. Entsprechend sah er es als seine Aufgabe an, die »Eigenthümlichkeiten [des Altertums] zu erkennen und so nahe wie möglich wiederzugeben.«15 Wesentlich sei hierbei »auch die genaue Nachbildung der metrischen Form dieser Kunstwerke.«16 Aufgrund des komplizierten, oft spröden und hölzernen Sprachstils wurden seine Sophokles-Übertragungen für die Bühne abgelehnt. Goethe zog sie - wie bereits dargelegt - für eine Aufführung auf der Weimarer Bühne in Erwägung, allerdings nur unter der Voraussetzung, dass sie durch eine Bearbeitung dem deutschen Ohr zugänglicher gemacht würde.27 Tieck gab zwar der Übersetzung Solgers den Vorzug, legte aber der Potsdamer Aufführung der Antigone die Texte von Donner zugrunde. Ich hätte lieber die Uebertragung meines Freundes Solger dargestellt, wenn mir nicht meine Freunde von diesem Versuch abgerathen hätten, weil sie glaubten, die Schauspieler würden die Sprache Solger's nicht begreifen und nur mit Schwierigkeiten sprechen können.28

Donner, der in seiner Sophokles-Ausgabe von 1839 ebenfalls die Versmaße des Originals ins Deutsche überträgt, fügt jeder Tragödie ein »Verzeichnis der Sylbenmaße« für die

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Terenz: Das Mädchen von Andros. Hrsg. von Heyse, S. IVf. Hölderlins Übersetzungen des Sophokles stellen einen Sonderfall dar. Auf sie wird an dieser Stelle nicht ausführlich eingegangen, da sie von den Zeitgenossen abgelehnt bzw. nicht wahrgenommen wurden. Gruppe: Deutsche Übersetzerkunst, S. 201. Solger: Des Sophokles Tragödien, S. LVI. Ebd., S. LVH. Vgl. Goethe an Rochlitz (26. Dezember 1808), in: Biedermann: Goethes Briefwechsel mit Friedrich Rochlitz, S. 87. Tieck: Kritische Schriften, Band IV, S. 371.

lyrischen Teile bei, indem er die Symbole für Längen und Kürzen auf seine Übersetzung anwendet. Die Quantitäten der Silben bilden die Grundlage der griechischen Metrik; aus einer bestimmten Abfolge von langen und kurzen Silben entsteht die metrische Form. Der deutsche Vers basiert hingegen auf der Qualität der Silben, d. h. auf einer bestimmen Abfolge von betonten und unbetonten Silben. Der wissenschaftlichen Methode seiner Zeit entsprechend ordnet Donner nun den Silben des deutschen Textes die Quantitäten der griechischen Silben zu, obwohl eine Entsprechung häufig nicht gegeben ist. Das Symbol für eine lange, griechische Silbe bezeichnet bei Donner im deutschen Text in der Regel eine betonte Silbe, die sowohl lang als auch kurz sein kann. Dies soll an einem Beispiel verdeutlicht werden:29 - u u - u u - u u - u - u Niedergeschmettert zur dröhnenden Erde stürzt er; - u u - u u - u u u Welcher, bewehrt mit der Fackel, in trunknem Wahnsinn

Die Quantitäten des griechischen Verses finden in der deutschen Übersetzung nur teilweise Entsprechung. Die Silben, über die Donner eine Länge (-) setzt, obwohl sie tatsächlich kurz sind (z. B. niederge-schmet-tert, stürzt, «W-cher, trunk-nem), sind stattdessen betont. Im frühen 19. Jahrhundert war der Unterschied zwischen der griechischen, quantitativen und der deutschen, qualitativen Metrik zwar nicht unbekannt, dennoch glaubte man in der deutschen Sprache eine Entsprechung finden zu können. Es ist indessen zu bemerken, daß wir im Deutschen eigentlich nicht dasselbe haben, was die alten Versarten den Griechen und Römern waren, sondern etwas ganz Fremdartiges, was aber geschickt ist, bei uns die Stelle derselben zu vertreten.30 Solger betont im Vorwort seiner Sophokles-Ausgabe, dass sich in der deutschen Sprache die Silben durch den »Accent« voneinander unterscheiden, im Griechischen durch »ihre natürliche Länge«.3' Die Verschiedenheit beider Sprachen bestehe darin, »daß nun eben jener Accent, der alles Verhältniß der Sylben gegen einander bestimmt, auf der Bedeutung dieser Sylben beruht. Bei den Alten war es [...] die natürliche Beschaffenheit des Tons, worauf es beim Verse ankam, also die reinste musikalische Grundlage. Die Bedeutung der Sylben war dieser gänzlich untergeordnet [,..].«'2 Den deutschen, nach antikem Vorbild gebildeten Versen fehle die Musik, auf der die antike Verskunst beruhe. Wenn also ein alter Grieche wiederkäme und deutsch verstände, so würde er unsre besten Hexameter und Trimeter doch schwerlich für Verse halten, weil sie eben seinen eigentlichsten Begriffen vom Musikalischen in der Poesie widersprächen." 19

Antigone, Vers 134/135.

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Solger: Des Sophokles Tragödien, S. LXXXV.

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Vgl. auch Terenz: Das Mädchen von Andros. Hrsg. von Heyse, S. Xllff. Solger: Des Sophokles Tragödien, S. LXXXVIIIf. Ebd., S. XCI

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Heyse verlangt daher »zur befriedigenden Nachbildung Griechischer Versmasse«, dass »unsere Sprache hinsichtlich des Prosodischen nothwendig kunstmäßig geregelt werden, und die alte quantitative Silbenmessung durch ein ihrer Natur angemessenes Surrogat« ersetzt werden müsse.34 Weil die deutsche Sprache im Vergleich zu anderen neueren Sprachen den Vorzug habe, »daß ihre Sylben wirklich ein regelmäßiges fest stehendes und bedeutungsvolles Verhältniß gegeneinander haben«, ist es nach Solgers Ansicht trotz aller Unterschiede möglich, »etwas hervorzubringen, das den Schein der alten Verskunst habe«.35 Das Verfahren, mit dem einer griechischen, langen Silbe eine deutsche, betonte Silbe zugeordnet wurde, schien also aus wissenschaftlicher Sicht durchaus angemessen zu sein, um einen antiken Text möglichst treu im Deutschen wiederzugeben.

i. Antigone Die Übersetzung von Donner entsprach in metrischer Hinsicht durchaus dem aktuellen Kenntnisstand seiner Zeit, dagegen war ihre sprachliche Gestaltung sehr umstritten. Der Schriftsteller Gruppe gibt ihr gegenüber älteren Übersetzungen den Vorzug, weil Donner sich nicht der »traditionellen Uebersetzersprache« bediene, sondern nach »einem allgemein gültigen deutschen Ausdruck« hinstrebe. In der That hat Donner den Deutschen zuerst einen Sophokles gegeben, in welcher sich die dichterische Composition überblicken und genießen läßt, ohne in jeder Zeile gestört und an gelehrte Arbeit erinnert zu werden. Eben so wenig aber ist hier Modernisirung und die Treue geht so weit, als dem Urheber das Verständnis offen stand. Das Steife und Trockene ist verschwunden und die Sprache des Gefühls kann neben der oft so scharfgefugten, epigrammatisch schlagenden des Gedankens sich geltend machen.'6

Von wem letztlich die Entscheidung ausging, Donners Übersetzung für die Aufführung der Antigone in Potsdam zu wählen, ist nicht nachvollziehbar. Denn keiner der Beteiligten befürwortete diese Wahl. Mendelssohn schreibt an seine beiden Freunde, Ferdinand David (1810-1873) und Droysen, »mit den ziemlich holprigen Worten«37 der Donnerschen Übersetzung hätten er und »namentlich die Sänger freilich viel Noth.«38 Böckh meint, sie habe zwar den »Vorzug einer gewissen Verständlichkeit [...], aber nicht immer die Sophokleische Kraft; sie weicht öfter ohne alle Noth, und ohne etwas dadurch zu erreichen, von der Urschrift ab, [...] verwischt manchen geistreichen Zug

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Terenz: Das Mädchen von Andres. Hrsg. von Heyse, S. XVf. Solger: Des Sophokles Tragödien, S. XCI. Gruppe: Deutsche Übersetzerkunst, S. 2iof. Mendelssohn an Droysen (2. Dezember 1841), zitiert nach Wehmer: Ein tief gegründet Herz, S. 72Mendelssohn an David (21. Oktober 1841), zitiert nach Rothe/Szeskus: Briefe aus Leipziger Archiven, S. i68f.; vgl. Mendelssohn an Droysen (2. Dezember 1841), in: Wehmer: Ein tief gegründet Herz, S. 72.

der Sophokleischen Sprache, läßt den Gedanken, weil nicht die richtigen Worte oder Wortfügungen gebraucht sind, getrübt und wie nur durch einen Nebel durchscheinen, und öfter ist der Sinn [...] gänzlich verfehlt.«" Der Leipziger Altphilologe Johann Gottfried Jacob Hermann (1772-1848) stimmt mit Böckhs Urteil völlig überein, fügt jedoch hinzu: Jede Uebersetzung, die sich nicht bloß im Inhalt, sondern auch in der äußeren Form an die griechische Urschrift genau anschließt, wird mehr oder weniger an solchen Mängeln leiden. [...] Die meiste Schwierigkeit bietet die Uebersetzung der Chorgesänge; sie ist bei Donner in einzelnen Partien wohl gelungen [...]. Daß sie die Schönheit der griechischen Rhythmen wiedergeben solle, wird Niemand fordern wollen, da dieß im Deutschen geradezu unmöglich ist.40 Aller Kritik zum Trotz kann Donners Übertragung als wegweisend für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts bezeichnet werden. Nachfolgend entstanden - nicht zuletzt aufgrund des großen Erfolgs der Antigone-Aufführungen - zahlreiche Arbeiten anderer Übersetzer.41 So ist 1843 in der von dem Dichter und Journalisten Adolf Bäuerle (1786-1850) herausgegebenen Allgemeinen Theaterzeitung zu. lesen: »Die Zahl der Uibersetzungen von der >Antigone< wachsen jetzt wie die Pilze.«42 Der Leipziger Altphilologe Johannes Minckwitz (1812-1885) kritisiert in einem Brief an Tieck die Übersetzung von Donner aufs schärfste: Dem Sophokles von Donner fehlt die Hauptsache: die Poesie und der eigenthümliche Charakter des Urbildes, der in dieser scheinbaren Glätte verloren gegangen ist. Eine Unzahl seiner Tinten sind von ihm verwischt, eine Menge Sätze falsch oder schief wiedergegeben, die Chöre vollständig zur Prosa herabgedrückt. [...] Zu einem eigentlich deutschen Gepräge mangelt der Donner'schen Sprachweise sehr Vieles, zu einem wahrhaft dramatischen Style Alles. [...] Noch weniger wundert es mich, daß man fortfährt, gegen die Anwendung der sechsfüßigen Jambenform zu eifern, als sei sie für unsere Sprache eine unnatürliche, häßliche

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Böckh/Toelken/Förster: Über die Antigone des Sophokles und ihre Darstellung auf dem königlichen Schloßtheater im neuen Palais bei Sanssouci, S. 83f. Etwas gnädiger äußert sich Böckh in der Vorrede zu seiner eigenen Antigone-Übersenung: Donners Übersetzung sei, zumindest zum Zeitpunkt der Erstaufführung der Antigone, »unstreitig die geschmachvollste, lesbarste und metrisch vollkommenste Übersetzung [...], wenn sie auch die Eigentümlichkeit der Urschrift nicht völlig wiedergibt.« Böckh: Antigone, S. III. Hermann: Über Sophokles Antigone und ihre Darstellung auf dem deutschen Theater, S. 2jf. Mit der Erfindung der Schnelldruckpresse steigt das Angebot für das lesehungrige Bildungsbürgertum rapide an. Im Buchhandel etablieren sich Mitte des 19. Jahrhunderts »Übersetzerwerkstätten«, um den großen Bedarf decken zu können. Vgl. Gruppe: Deutsche Übersetzerkunst, S. 219. Dass Sophokles gegenüber den anderen griechischen Tragikern eine Vorrangstellung einnimmt, belegt die weitaus höhere Anzahl der Übersetzungen. »Allein von 1845 bis zum Jahrhundertende sind 58 neuere ^tfftgöWf-Übersetzungen erschienen [...], denen doch nur 15-20 Übersetzungen des Aischylos und des Euripides aus der gleichen Zeit zur Seite stehen. [...] Die wiederholten Neuauflagen [...] machen deutlich, daß das griechische Drama ein breites Lesepublikum auch erreicht hat.« Flashar: Inszenierung der Antike, S. 82f. Allgemeine Theaterzeitung (n. Dezember 1843), S. 1283. 75

und ungelenke. Freilich bedarf sie einen Meister, [...] nicht bloß einen Versifex oder einen jener goethisirenden oder schillerisirenden Nachäffer, die zugleich kein Organ für den Ton des Trimeters im Kopfe haben [...].4}

Auch Förster weist darauf hin, dass einige Passagen ungenau, wenn nicht gar sinnentstellend wiedergegeben worden seien: So modernisiere und ermatte Donner »den schönsten Vers der ganzen Tragödie,« indem er schreibt: »Nicht mit zu hassen pfleg ich, mit zu lieben nur.«44 Böckh übersetzt genauer: »Nicht mitzuhassen, mitzulieben bin ich da.« An anderer Stelle formuliert Donner: »Denn mit dem Schicksal kämpfe nicht fruchtlosen Kampf.« Hier werde dem Dichter ein fremder Gedanke unterlegt; wörtlich heißt es: »Doch mit der Not ist nicht zu streiten.« (Schadewaldt).45 Schwerer als die zahllosen »falsch oder schief« übertragenen Sätze, wie Minckwitz schreibt, wiegt der Vorwurf, Donner habe den »eigenthümlichen Charakter des Urbildes« nicht angemessen wiedergegeben. In der Tat Hingt häufig die Sprache Donners, besonders wenn er vom griechischen Wortlaut abweichend und transponierend übersetzt, auffällig altertümlich und wenig elegant. Nach dem Urteil Laubes ist die Donnersche Übersetzung »meilenweit entfernt [...] von schöner deutscher Verssprache.«46 Laube veröffentlichte unter den Eindruck der Leipziger ^wftffjöWi'-Aufriihrungen im März 1842 in der Zeitschrift Der Komet zwei Aufsätze - der erste davon trägt den Titel »Antigone, eine Krankheitsgeschichte« -, worin er schreibt, die Schauspieler hätten »Steine sprechen« müssen.47 Mit Recht kann man sagen, dass Donners Übertragung stilistisch kaum gelungen ist, aus damaliger Sicht ebenso wie aus heutiger. Dieser Umstand trägt mit Sicherheit nicht immer zum guten Verständnis des Textes bei; gerade im Hinblick auf eine

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Minckwitz an Tieck (12. Dezember 1844), zitiert nach Holtei: Briefe an Ludwig Tieck, Band II, S. 355f. Schärfer formuliert Friedrich Wilhelm Wickenhagen diesen Vergleich: »In Boeckh's Uebersetzung tritt uns Sophokles leibhaftig entgegen, in der Donnerschen ein Schwäbisches, nicht einmal Deutsch redendes Zerrbild.« In: Schneider: Both's Bühnen-Repertoir, Band XIII, No. 97 (Meäeä), S. 1766. Vgl. Böckh/Toelken/Förster: Über die Antigone des Sophokles und ihre Darstellung auf dem königlichen Schloßtheater im neuen Palais bei Sanssouci, S. 22. Schadewaldt übersetzt: »Aber nicht mithassen, mitlieben muß ich!« Vgl. Böckh/Toelken/Förster: Über die Antigone des Sophokles und ihre Darstellung auf dem königlichen Schloßtheater im neuen Palais bei Sanssouci, S. 39. Förster fuhrt in seinem Aufsatz noch weitere Beispiele für die unzutreffende Übersetzung Donners an, ebenso Wickenhagen im Anhang seiner Übertragungen von Antigone und Medea. In: Schneider: Both's BühnenRepertoir, Band XIII, No. 97 {Medea), S. i764ff. und No. 103 (Antigone), S. i9O2ff. Laube: Das Norddeutsche Theater. In: Laube: Ausgewählte Werke, 6. Band, S. 37. Zitiert nach Hermann: Über Sophokles Antigone und ihre Darstellung auf dem deutschen Theater, S. 25, vgl. Kapitel VIII.z. In einer anderen Leipziger Zeitung ist zu lesen: »[...] selbst die Donnersche Uebersetzung, obgleich die flüssigste und verständlichste von Allen, ist oft genug steif, dunkel und unbehülflich, so daß der Witz, der unter vielen hier in Umlauf ist, daß einer der Sänger und Schauspieler nämlich den Vers: >Die namenverleihende Nike kommt

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ώ Antigone< und >Oedipus in Kolonoss S. 95ff. *» Vgl. Anhang X.2. 70 Mendelssohns Entwürfe und Bellermanns Kommentare sind katalogisiert als »Notes on Antigone«. Bodleian Library Oxford (Signatur: Ms.M.Deneke Mendelssohn d-4i, G.B.XV.333c). 71 Bodleian Library Oxford (Signatur: Ms.M.Deneke Mendelssohn d-38, G.B.XII.uS), Anhang 72

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X.3. »Daher gefällt mir meine Änderung immer noch besser [...].« Bodleian Library Oxford (Signatur: Ms.M.Deneke Mendelssohn d.4i, G.B.XV.333c), siehe Anhang X.2. und X.4.a. Bellermann an Mendelssohn (5. November 1841), Bodleian Library Oxford (Signatur: Ms.M.Deneke Mendelssohn d.4O, G.B.XIV.iji), Anhang X.i.

hatte.74 Die Stelle im Kommentar, an der Bellermann erneut auf diese Problematik verweist, betrifft einen anapästischen Abschnitt in der Parodos. Hier hatte Mendelssohn in seinem Entwurf statt des Donnerschen Verses »den heranwogenden Strom, schimmernd in Gold« (Vers 129) den Vorschlag Böckhs aufgegriffen (»hinwogenden Strom, hellschimmernd von Gold«75), der sich im Unterschied zu Donners Version näher an das Metrum des griechischen Originals hält. Bellermann rät jedoch dem Komponisten, an dieser Stelle die ursprünglich gewählte Fassung von Donner beizubehalten; der bei Böckh auch in metrischer Hinsicht veränderte Vers würde nämlich eine Veränderung der musikalischen Rhythmisierung zur Folge haben, »wo es mir um den im bisherigen Tempo nicht mehr heranwogenden Strom leid thäte u. die schöne darauf folgende Hast. Ich würde bei Donner u. Ihrer einmal gewählten Behandlung seines stellvertretenden Dactylus bleiben, ebenso wie bei v. 1241 das lautredende Denkmal.«76 Auf die Silbe »laut — re — dende« (No. 7, Takt 15) setzt in Mendelssohns Komposition der von Devrient als äußerst effektvolles Zeichen größter Trauer beschriebene »schneidende Triller« zum ersten Mal ein.77 Es spricht für Bellermanns musikalisches Gespür, dass er auch an dieser Stelle - wie im Fall des »heranwogenden Stroms« - nicht auf metrische Genauigkeit in der Übersetzung besteht, sondern der musikalischen Umsetzung Mendelssohns den Vorzug gibt. Aus den gegebenen Beispielen wird deutlich, wie eng die hier beschriebenen und im Anhang abgedruckten Quellen, die der Erarbeitung einer verbesserten Textfassung dienten, miteinander in Verbindung stehen. Die Entwürfe zur Neufassung des Textes lassen sich auf die Zeit zwischen den Potsdamer Aufführungen im Herbst 1841 und Ende Januar 1842 datieren. Denn in einem Brief vom i. Februar 1842 bestätigt Mendelssohns Verleger Kistner den Erhalt des veränderten Textes. Zudem sehe er dem »Nachtrag zum Chor No. 3« erwartungsvoll entgegen; Mendelssohn wollte die Komposition des zweiten, erst nach den Potsdamer Aufführungen vollendeten Strophenpaars offensichtlich zu einem noch späteren Zeitpunkt nach Leipzig schicken.78 Vollständig ist die neue Textfassung erstmals in Mendelssohns Reinschrift des Klavierauszuges vom 4. Februar 1842 erhalten.7' Von

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Wörtlich übersetzt lautet der Vers: »ein deutliches Mal in der Hand haltend«. Staatsbibliothek zu Berlin-Preußischer Kulturbesirz, Handschrifcenabteilung (Signatur: Libr. c.not.mss.Oct. 137), S. 161. Vgl. Anhang X.2. Über Mendelssohns Trauerfeier, die 1847 in der Universitätskirche Leipzig stattfand, berichtet Devrient: »In der Kirche empfing die Orgel den Zug mit der Musik aus der >Antigone< welche die Leiche des Hämon begleitet. Der schneidende Triller erinnerte mich, daß Felix als Knabe mir erzählte: er sei einem Militärleichenzuge begegnet und die Musik habe an einer Stelle mit einem hohen Triller eingesetzt, der ihm ein schneidender Ausdruck des Schmerzes geschienen. So hatte er ihn, lange Jahre danach, in >Antigone< verwendet, so war er auf seinem letzten Gang der Ausdruck des schneidenden Schmerzes geworden.« Devrient: Erinnerungen an Felix Mendelssohn Bartholdy, S. 188. Vgl. Kistner an Mendelssohn (i. Februar 1842), Bodleian Library Oxford, Signatur: Ms.M.Deneke Mendelssohn d.4i, G.B.XV.Oz). Bodleian Library Oxford (Signatur: Ms.M.Deneke Mendelssohn c-4). 85

kleinen Änderungen abgesehen wurde die gemeinsam erarbeiteten Entwürfe hier zugrunde gelegt und weitergeführt. Das für die Inszenierung im Leipziger Stadttheater am 5. März 1842 gedruckte Textbuch belegt, dass hier Antigone zum ersten Mal in ihrer neuen Textgestalt aufgeführt wurde.80 In der erhaltenen Akte zur Inszenierung findet sich der Hinweis, dass der »Text der Chöre [...] nicht mehr für die Donnersche Uebersetzung angesehen werden [könne]. Obgleich letztere zur Grundlage gedient hat, sind sehr viele, größtentheils zweckmäßige Veränderungen und Verbesserungen in Berlin damit vorgenommen worden, die ihn hier und dort verständlicher und singbarer gemacht haben.«81 Wie Hermann berichtet, waren inzwischen auch am gesprochenen Text der Schauspieler Korrekturen vorgenommen worden, »durch die einiges Anstößige und schwer Verständliche beseitigt worden war; allein dessen ungeachtet blieben noch sehr viele Stellen übrig, an denen die Schauspieler sich abmühen mußten, um den mangelhaften, schielenden und schwerfälligen Ausdruck durch die Declamation nur einigermaßen verständlich und erträglich zu machen.«82 Da die Chöre zur Antigone in der neuen Textgestalt ausschließlich in Leipzig zur Aufführung gekommen waren, kann diese Fassung zu Recht als »Leipziger Libretto« bezeichnet werden. Offensichtlich war der Komponist, nachdem er die Neufassung in Leipzig ausprobiert hatte, immer noch nicht zufrieden: Im Juni 1842, als sich der Druck des Klavierauszuges in Vorbereitung befand, bat Mendelssohn seinen Verleger, wieder den ursprünglichen Text von Donner zu unterlegen, da er doch einmal nach diesem komponiert habe.83 Mit Ausnahme des zweiten Strophenpaares der No. 3 (»Ihr Seeligen«), für das Mendelssohn - wie oben beschrieben - von vornherein den Text von Böckh mit einigen Änderungen verwendet hatte, wurde die Schauspielmusik zur Antigone in ihrer ursprünglichen Textfassung veröffentlicht. Vergleicht man nun das »Leipziger Libretto« bzw. die dazugehörigen Entwürfe Mendelssohns mit den übrigen, in Frage kommenden Textfassungen, so wird deutlich, dass das »Leipziger Libretto« eine Textkompilation darstellt, in der Elemente aus Böckhs Donner-Bearbeitung,84 Bellermanns Vorschlägen sowie der ursprünglich zugrunde

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Vgl. Kapitel VIII.2. Universitätsbibliothek Leipzig, Handschriftenabteilung (Signatur: Rep. IX, 16, fol. 4O,iv). Vgl. auch Hermann: Über Sophokles Antigone und ihre Darstellung auf dem deutschen Theater, S. 26f. Hermann: Über Sophokles Antigone und ihre Darstellung auf dem deutschen Theater, S. 25. Hermann bezieht sich hier auf die Schauspieler des Leipziger Stadttheaters, die jedoch die geänderte Version aus Potsdam übernommen hatten. Vgl. Mendelssohn an Kistner (5. Juni 1842), zitiert nach Elvers: Briefe an deutsche Verleger, S. 3i8f. Vgl. Kapitel V.3.a. Mit Böckhs Donner-Bearbeitung ist im folgenden das in der Handschriftenabteilung der Staatsbibliothek zu Berlin-Preußischer Kulturbesitz befindliche Exemplar gemeint (Signatur: Libr.c.not.mss.Oct. 137).

gelegten Übersetzung von Donner zusammenfließen.8* Dies soll im folgenden genauer untersucht werden: Mendelssohns Entwürfe zu einigen Abschnitten der Parodos (No. i) sind mit Böckhs Donner-Bearbeitung weitgehend identisch; diese Übereinstimmung wird noch offenkundiger, wenn man die vom Komponisten später wieder gestrichenen Varianten mit berücksichtigt.86 So korrigierte Mendelssohn beispielsweise Vers 100 von Böckhs »Strahl der Sonne, das schönste Licht« in »Strahl der Sonne, du schönstes Licht« oder »Zu den Zinnen« (Böckh) in »Auf die Zinnen«. Die Abweichungen zwischen Mendelssohns Entwürfen und dem »Leipziger Libretto« sind weitgehend auf Bellermanns Kommentare zurückzufuhren: Im ersten Strophenpaar schlägt Bellermann in Vers statt »Thebäervolk« »Thebanervolk« vor. Für die Verse no bis uz (Anfang) hatte Mendelssohn die Worte von Böckhs Donner-Bearbeitung gewählt (»Der uns in das Land zur Befehdung rief [...]«), dann für die letzten Worte von Vers 112 eine Lücke gelassen und abschließend den von Donner übernommenen Vers 113 notiert (»wie ein Adler daher [...]«), wobei er lediglich Donners »flog« in ein Böckhsches »kam« änderte. Da Bellermann jedoch vorschlug, an dieser Stelle Donners Fassung grundsätzlich beizubehalten (wobei lediglich »mit scharfem Getön« durch »mit wildem Geschrei« zu ersetzten wäre), strich Mendelssohn die entsprechenden Verse wieder durch und notierte sich Bellermanns Vorschlag »mit wildem Geschrei« daneben. Im »Leipziger Libretto« behielt Mendelssohn dann in der Tat den ursprünglichen Text bei, veränderte jedoch Donners »mit scharfem Getön« in »Kriegesgeschrei« und »flog« in »zog«. Dasselbe gilt für die oben bereits beschriebene Stelle in Vers 129, wo Mendelssohn Böckhs »hinwogenden Strom, hellschimmernd von Gold« auf Bellermanns Empfehlung wieder verworfen hatte. Im zweiten Strophenpaar korrigiert Mendelssohn im Entwurf die ursprünglich von Böckh übernommenen Worte »wild anstürzt« in »uns gedroht« (Vers 138). Die folgenden Böckhschen Verse »doch es traf ihn sein Loos! Anderen theilt' anderes zu« (Vers 139/140) streicht er aus und kehrt im »Leipziger Libretto« wieder zur ursprünglichen Übersetzung zurück. Das gleiche gilt für Vers 150. Auch Vers 153, den Böckh in seiner Überarbeitung mit »voran hebe sich Thebe's Bacchios jauchzend« wiedergegeben hatte, korrigiert Mendelssohns zurück in »voran hebe sich Bacchus, Theben erschütternd«. Das Rezitativ, das die No. i beschließt, ist im »Leipziger Libretto« ebenfalls aus verschiedenen Fassungen zusammengesetzt. Die Grundlage des Entwurfs bildete wiederum Böckhs Donner-Bearbeitung. Bellermann missfiel unter anderem Böckhs Vers 157 (»Was sinnet er wohl im erregten Gemüth«) überaus und fügte einen eigenen Vorschlag für

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Da eine Einordnung von Mendelssohns Entwürfen bislang nicht vorgenommen wurde, sind diese bisher in der Sekundärliteratur irrtümlicherweise als »Übersetzungsversuche« gedeutet worden. Vgl. Flashar: Mendelssohns Schauspielmusik zu >Antigone< und >Oedipus in Kolonos Ebd., S. XVI. 116 Berliner Musikalische Zeitung ^, No. 45 (8. November 1845). 117 Berlinische Nachrichten von Staats- und gelehrten Sachen, No. 265 (12. November 1845). 118 Berlinische Nachrichten von Staats- und gelehrten Sachen, No. 100 (30. April 1851). 96

buche abgedruckt, und, verglichen mit dem Dialoge, werden sie dann gewiß als etwas ganz geschiedenes dastehn, von dem Mancher nicht begreifen wird, wie sie und der Dialog aus derselben Feder haben fließen können. Ich will damit keinesweges auch nur andeuten, daß meine Uebersetzung die bessere sei. Allein sie ist eine andere, aus anderem Gesichtspunkte gearbeitete, welche die Bühne als Hintergrund gedacht hat, während Donner, dem dies Bedürfhiß bei seiner Uebertragung fremd war, für Philologen übersetzte. Darum erscheint in Beiden die Redeweise so verschieden, daß eine Vermischung beider keinem zum Vortheile gereichen, jedenfalls aber nur etwas geistig zerstückeltes zu Tage fördern würde. Es ist daher bei der Regie, und bei dem Hr. G. Rathe Tieck die Frage entstanden, ob nicht vielleicht noch eine Möglichkeit da wäre, Euer Hochwohlgeboren Komposition auch Worte von mir unterzulegen, und so das ganze Werk in sprachlicher Hinsicht zu einem zu machen. Um dies zu befördern habe ich bereits angefangen, meine Chöre nach Donnerschem Rhythmus unter genauer Beobachtung aller Cäsuren umzuarbeiten. Ich fühle aber, daß ich zu keinem Ziele kommen kann, solang mir die Musik unzugänglich bleibt, da es gar zu sehr auf die Tonmalerei in den Worten ankommt. Wenn ich nun voraussetzen darf, daß, bei der einmal auf meine Arbeit gefallene Wahl, auch Ew. Hochwohlgeb. nicht abgeneigt sein würde, eine Umlegung des Textes gefälligst zu genehmigen, wenn nun der Musik in keinerlei Beziehung dadurch Eintrag geschieht, so erlaube ich mir um Hochdero Autorisation zur Einsicht in eine Chorstimme ganz ergebenst zu bitten. Ich würde, wenn solche mir zuginge, mir eine Stimme von Hr. Taubert geben lassen, und nach ihr die Chöre genau umarbeiten. Wenn alsdann Ew. Hochwohlgeb. hieher kommen, würde ich mich beehren, Ihnen meine Arbeit vorzulegen, damit Ihrem Ermessen die Entscheidung überlassen bliebe, welcher Text nunmehr gewählt werden solle; event, welche Abänderungen zu treffen seien. Ich weiß, daß diese Aufgabe keine geringe ist. Denn sowohl in Paulus als in der Antigone tritt uns eine so tiefdurchdachte Accentuirung, ein so scharfer Kriticismus in der Wahl der Nuancen entgegen, dass sich die Stellung keiner Note für zufällig und unbedeutsam erachten läßt, daß man vielmehr immer den Grad genau einsieht, warum der Ton grade so, und nicht anders ist. Allein ich bin selbst musikalisch, und habe namentlich bereits für die Breslauer Bühne in gleicher Art die Recitation zum D. Juan übersetzt, darum bin ich mit meiner Aufgabe vertraut, und weiß insbesondere, wie ich Accenrwort auf Accentwort, Vokal auf Vokal, Phrase auf Phrase legen muß. Gelingt es nicht, so ist ja in keiner Hinsicht etwas versäumt, da vor Eure Hochwohlgeb. Genehmigung ja doch der Arbeit keine Bedeutung beigelegt werden kann. Als Probe, wie weit ich eine solche Arbeit begreife, füge ich einen Chor bei, den ich unter Beobachtung des griechischen Rhythmus nach Donner gearbeitet habe. Namentlich habe ich mich bemüht, was Donner übersehen hat, die Endworte jedes Verses nicht wie - ...da componirte ich aus Herzenslust drauf los...< Felix Mendelssohn Bartholdys kompositorische Urschrift der Schauspielmusik zur >Antigone< des Sophokles, op. 55). Durch die Einbeziehung weiterer Quellen konnten einige Ergebnisse hier jedoch präzisiert oder korrigiert sowie neue Erkenntnisse ergänzt werden. Das Autograph ist katalogisiert als »Particell mit Singstimmen«; der Klaviersatz enthält keine Anweisungen zur Instrumentation. Fannys Kosename. Staatsbibliothek zu Berlin-Preußischer Kulturbesitz, Musikabteilung mit Mendelssohn-Archiv (Signatur: MA Depos. Berlin Ms. 4). Die Bezeichnung »vierhändiges Arrangement« bezieht sich lediglich auf die Ouvertüre. Vgl. Kapitel III.i. Am 29. September 1841 schrieb Tieck an den Komponisten: »Wie fleißig Sie gewesen sind! Sie bestürmen uns Alle.« Bodleian Library Oxford (Signatur: Ms.M.Deneke Mendelssohn d.4O, G.B.XIV.ioo).

Dieser Quelle ist eine eigene Fassung der Ouvertüre für Klavier zu vier Händen vorangestellt, wohl für ein gemeinsames häusliches Musizieren während der von Fanny nach dem Tod der Mutter weiterhin gepflegten Sonntagsmusiken in der Leipziger Straße. Dieses »vierhändige Arrangement« ist eindeutig, wie später aufgezeigt wird, nicht die Erstfassung. Die Berliner Staatsbibliothek verwahrt außerdem eine vollständige Partitur der Ouvertüre, durchgehend in Mendelssohns Handschrift, allerdings in einer Form, aus der sich für die Potsdamer Aufführungen ein neuer Aspekt ergeben wird.114 Eine weitere autographe Quelle befindet sich in der Bodleian Library Oxford: Mendelssohns Reinschrift des Klavierauszuges, die mit dem Datum »Berlin den 4101 Februar 1842« versehen ist.125 Auffallend an diesem Autograph ist, dass der Komponist in großen Teilen den Chorliedern einen anderen Text unterlegte, obwohl er auf die Titelseite geschrieben hatte: »Chöre zur Antigone des Sophokles. Übersetzung von J. J. C. Donner. Musik von Felix Mendelssohn Bartholdy«. Bei dem hier verwendeten Text handelt es sich um die in Leipzig aufgeführte Fassung, die in Kapitel IV.2. als »Leipziger Libretto« beschrieben worden ist.126 Weiterhin ist eine Abschrift dieses Klavierauszugs erhalten.127 Sie enthält viele Korrekturen, die vom Komponisten selbst stammen. Auch die Titelseite mit der Opuszahl trägt Mendelssohns Handschrift. Ein Brief des Komponisten an seinen Verleger Kistner vom 5. Juni 1842 bezieht sich auf diese Quelle. Dadurch wird ein weiterer Arbeitsprozess nach der Uraufführung durchsichtig: Anbei erhalten Sie [...] das Manuscript des Ciavier Auszugs meiner Musik zur Antigone. [...] und dann werden Sie mich hoffentlich loben, daß ich es ordentlich durchgesehen und mit so manchen Bleistiftkorrekturen geschmückt habe. Aber freilich wird noch in den Correcturen mehreres geändert werden müssen [...]. Aber eins bitte ich Sie noch vor dem Beginn des Stichs machen zu lassen. Ich möchte, daß durchgängig (nur mit Ausnahme des f-moll Allegros in no. 3) der Donnersche Text wieder unterlegt würde, da ich es doch einmal nach dem componirt habe. [...] Also lassen Sie gefälligst unter diesem Ciavier Auszug etwa mit rother Dinte, den alten Text legen [...]. Zur Eintheilung der Verse in den Melodramen müßte der Stecher wohl ein Donnersches gedrucktes Exempl. zur Hand haben, weil ich nicht weiß, in wie fern Henschkes Abschrift genau ist. Wenn sich Noten-Aenderungen ergeben

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Staatsbibliothek zu Berlin-Preußischer Kulturbesitz, Musikabteilung mit Mendelssohn-Archiv (Signatur: Ms.autogr. 56 [2]). Bodleian Library Oxford (Signatur: Ms.M.Deneke Mendelssohn c.4). Das Autograph ist katalogisiert als »autograph fair copy of the choruses in vocal score«. Entgegen meiner ursprünglich geäußerten Vermutung war Peter Andraschke zu Recht davon ausgegangen, dass Mendelssohn selbst den Text für seine Komposition neu bearbeitet und dieser unterlegt hatte. Vgl. Andraschke: Felix Mendelssohns Antigone, S. 165, sowie Boetius: >...da componirte ich aus Herzenslust drauf los...Antigone< des Sophokles, op. 55, S. 166. Staatsbibliothek zu Berlin-Preußischer Kulturbesitz, Musikabteilung mit Mendelssohn-Archiv (Signatur: N. Mus.ms. 7). 121

beim Unterlegen des alten Textes, so bitte ich im Falle die Noten offenbar geändert sind, damit der neue Text darauf paßt, auch die alten Noten zu lassen. Solcher Fälle werden aber nur wenige sein. Sind aber die Noten geändert und es paßt sowohl der alte als der neue Text dazu, so bleibt es bei den geänderten Noten, wie sie hier im Ciavier Auszug stehn. In zweifelhaften Fällen bitte ich mich noch besonders um Rath zu fragen. Gegen Anfang August denke ich wieder nach Leipzig zu kommen, und vielleicht schon eine Korrektur zur Durchsicht zu bekommen.118 Der Kopist Amadeus Eduard Anton Henschke (1805-1854) hat sichtbar den »alten Text« von Donner, nach dem Mendelssohn komponiert hatte, mit »rother Dirne« nachträglich über die Notensysteme gesetzt. Zuvor hatte Henschke die Textfassung des »Leipziger Librettos« - der Vorlage des autographen Klavierauszugs entsprechend - zwischen die beiden Chorstimmen geschrieben. Diese Abschrift des Klavierauszugs macht somit die von Mendelssohn in oben zitiertem Brief gewünschte Rückänderung des Textes in seine ursprüngliche Fassung (von Donner) sichtbar. Alles spricht dafür, dass diese Quelle als Druckvorlage des Klavierauszuges gedient hat.129 Wie aus einem Brief Kistners hervorgeht, ließ sich die Unterlegung des ursprünglichen Textes nicht ganz so einfach verwirklichen, wie der Komponist es erwartet hatte. Am 15. Juli 1842 schreibt der Verleger an Mendelssohn: Herzlichen Dank für das [...] Manuscript der Antigone, um so mehr da es noch früher als Sie es eigentlich versprochen in meine Hände kam. Nun sollte dasselbe allerdings der Zeit nach im Stich schon bedeutend vorgerückt sein, allein Ihr Wunsch den ursprünglichen Text von Donner unterzulegen war nicht sogleich zu realisiren, denn wie es scheint hatten Sie vergessen, daß das hiesige Theater gar keine Chorpartitur besitzt vielmehr wurde damals zum Einstudiren die Berliner Chor-Partitur geborgt und diese hat mir endlich zu verschaffen Ihr Herr Bruder die große Güte gehabt, so daß ich erst seit etwa 8 Tagen den Stich beginnen konnte. Ich hoffe daß er in 5 bis 6 Wochen vollendet sein soll.1'0 In der Druckvorlage für den Klavierauszug sind diverse Korrekturen und drucktechnische Hinweise1'1 in Mendelssohns Handschrift vorhanden. Diese stammen zum einen von der ersten Durchsicht des Manuskripts im Frühjahr 1842; wie Mendelssohn am 5. Juni 1842 an Kistner schrieb, hatte er das Manuskript »mit so manchen Bleistiftkorrekturen geschmückt«. Zum anderen wird Mendelssohn möglicherweise auch bei einer zweiten Durchsicht nach der Rückänderung des Textes weitere Korrekturen hinzugefügt haben. Die Abschrift von Henschke lässt sich schließlich auf den Zeitraum zwischen dem 4. Februar 1842 und dem am 5. Juni 1842 an Kistner gesendeten Brief datieren, wobei die Textkorrekturen erst in der Zeit zwischen dem 5. Juni und dem 15. Juli vorgenommen werden konnten. lz8 119 130

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Mendelssohn an Kistner (5. Juni 1842), zitiert nach Elvers: Briefe an deutsche Verleger, S. 3i8f. Zudem verweisen Ziffern, die mit Bleistift in diese Quelle eingetragen sind, auf die Einteilung der Seiten im gedruckten Klavierauszug. Kistner an Mendelssohn (15. Juli 1842), Bodleian Library Oxford (Signatur: Ms.M.Deneke. Mendelssohn d-42, G.B.XVI.I3). Beispielsweise ein Verweis auf zwei getrennte Systeme, die den Übergang von Chor I auf Chor II zu Beginn der ersten Gegenstrophe in No. i deutlich machen.

Der Erstdruck des Klavierauszuges enthält eine Titelzeichnung, die Antigone bei der Bestattung ihres Bruders Polyneikes darstellt.1'2 Angefertigt wurde diese Zeichnung von Julius Hübner (1806—1882), der an der Aufführung dieser griechischen Tragödie großes Interesse gezeigt hatte.'33 Mendelssohn bedankt sich überschwänglich für das Schmuckstück seiner Antigone. Und ich weiß nicht liebster Hübner, wo ich anfangen soll Ihnen zu danken, u. mich zu freuen daß Sie mir so viel Ehre anthuen, mehr als ich verdienen kann. Wie ich vorige Woche durch Leipzig kam, schwamm Kistner förmlich in Wonne, u. er kam Abends um 10 heraus in den Garten wo ich wohnte, u. trug die Titelzeichnung der Antigone zwischen zwei Brettern, u. sprach unzusammenhängend darüber. Aber soviel ich mir nach alle dem erwartet hatte, so war ich doch hoch überrascht u. erfreut; denn solch einen schönen, reichhaltigen Schmuck hatte ich mir nicht erwartet, und dadurch wird mir die Veröffentlichung, an die ich sonst immer mit etwas Abneigung gegangen war, von neuem lieb und werth. Den Leuten wird es wohl eben so gehen. Wie schön ist der Gedanke und wie schön ist die Ausführung! So sehr Julius Hübnerisch! Lassen Sie sich denn in Entfernung die Hand drücken und tausend herzlichen Dank sagen, liebster Don Giulio.'34

Das Verlagsexemplar für Ewer & Co. in London ist eine 1843 datierte Partitur mit deutschem und englischem Text, die - mit Ausnahme des englischen Textes - vom gleichen Kopisten geschrieben ist wie die Druckvorlage des Klavierauszugs.135 Die Titelseite stammt wiederum von Mendelssohn und trägt außer dem Titel folgende Aufschrift: »Dies Exemplar ist Eigenthum des Herrn E. Buxton in London. FMB«. Aus einem Brief an Kistner geht hervor, dass Mendelssohn die Partitur im März 1843 an den Verleger von Ewer & Co, Edward Buxton schicken ließ.'36 Der englische Text in dieser Quelle ist eine Übersetzung von William Bartholomew (1793—1867), dem »Leib-Übersetzer« von Buxton.137 In diese Partiturabschrift hat Mendelssohn mit Bleistift Metronomangaben eingefügt, die mit den Angaben in der gedruckten Partitur von 1851, herausgegeben von Julius Rietz (1812-1877), weitgehend übereinstimmen. Einige wenige Korrekturen zu Notentext, Dynamik und Tempo hat Mendelssohn mit rot-braunem Stift eingefügt. Bleistifteintragungen von anderer Hand und eingeklebte (gedruckte) Dialog-Partien weisen darauf hin, dass dieses Exemplar für Aufführungen verwendet wurde. Bis zum Druck der vollständigen Orchesterpartitur der Antigone wurden Abschriften verliehen oder verkauft.138 Eine dieser Abschriften (ebenfalls von Henschke), die außer Mendelssohns Unterschrift keine Eintragungen des Komponisten aufweist, ging an

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Erneut abgedruckt ist diese Zeichnung bei Elvers/Klein: Die Mendelssohns in Berlin, S. 179. Vgl. Mendelssohn an Hübner (4. November 1841), in: Feder/Hübner: Felix Mendelssohns Briefe an Pauline und Julius Hübner, S. 168. Mendelssohn an Hübner (9. Oktober 1842), ebd., S. 174. Staatsbibliothek zu Berlin-Preußischer Kulturbesitz, Musikabteilung mit Mendelssohn-Archiv (Signatur: N. Mus.ms. 20). Vgl. Elvers: Briefe an deutsche Verleger, S. 322. Ebd., S. 320. Ebd., S. 32if. (Anmerkung zu 393). 123

das Königlich Bayerische Hoftheater in München,''9 wo die Tragödie zum ersten Mal am 28. November 1851 unter der Intendanz von Dingelstedt aufgeführt wurde.140 Der Philologieprofessor Friedrich Thiersch (1784-1860) revidierte hierfür die Übersetzung von Donner. Die Münchner Abschrift belegt dies: Zahlreiche Textstellen, vor allem in den Melodramen, sind verändert und überklebt worden. Eine weitere Abschrift von Henschke befindet sich in der Sächsischen Landes- und Universitätsbibliothek Dresden.141 Von Mendelssohns Hand ist hier vermerkt: »Eigenthum des Herrn Musikdirektor Julius Rietz in Düsseldorf. FMB«. Den Eintragungen zufolge verwandte Rietz diese Partitur für konzertante Aufführungen. In der Staatsbibliothek zu Berlin sind einige kompositorische Skizzen zu den Nummern z bis 6 vorhanden.141 Von Mendelssohn notierte Seitenzahlen verweisen auf die entsprechenden Stellen in der Donnerschen Sophokles-Ausgabe. Weiterhin sind sechs Korrekturseiten zur Ouvertüre und den Chorliedern No. i, 3 und 6 erhalten.143 Diese datieren vermutlich auf Dezember i842.144

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Bayerische Staatsbibliothek, Musikabteilung (Signatur: St.th. 709-1). 140 Vgi Flashar: Inszenierung der Antike, S. und nie wieder< auf die Noten dddcis gesprochen werden.«17' Im zweiten melodramatischen Teil weist Devrient auf eine weitere, nicht korrekt wiedergegebene Stelle hin: Die vier Silben »Gleich des Epheus« seien »auf die Achtelnoten h e gis h« zu sprechen. Diese Notenfolge erscheint im Particell musikalisch zweimal, in den anderen Quellen nur einmal. Interessant ist, dass die genannte Stelle in keiner Quelle, auch nicht in der gedruckten Partitur so wiedergegeben ist, wie es nach Devrient korrekt wäre. Dagegen findet sich im englischen Verlagsexemplar hier erstens der frei unterlegte deutsche Text mit seiner englischen Übersetzung, zweitens - sieben Notenzeilen höher - der ganze englische Text, von anderer Hand mit Bleistift noch einmal aufgeschrieben. Die einzelnen Silben der Worte »i — vys win — ding« sind hier durch Unterstreichung hervorgehoben. Um jeden Zweifel für die Ausführung auszuschließen, sind diese Worte ein drittes Mal, wiederum in anderer Schrift, mit Bleistift direkt unter die Achtelnoten der Soloflöte geschrieben. Dies belegt, mit welcher ungewöhnlichen Genauigkeit im Detail Probenund Aufführungserfahrungen der Antigone weitergegeben wurden.

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Devrient: Erinnerungen an Felix Mendelssohn Bartholdy, S. 222. Vgl. Kapitel ¥.3.f. Ebd., Fußnote. 135

No. 5 (»Auch der Danae Reiz«) beginnt mit einem Melodram, das im Particell auf vier Systemen notiert ist. Auf den ersten Blick vermittelt es den Eindruck, als müsse der Weg zur endgültigen Fassung noch weit sein, da fast jeder Akkord durchgestrichen oder korrigiert ist. Vergleicht man aber die weiteren Quellen, so stellt man fest, dass hier bereits die endgültige Fassung erreicht wurde. Diese Art der Korrektur ist für die Schreibweise Mendelssohns, verglichen mit den übrigen Teilen der Komposition, äußerst ungewöhnlich. Man darf daher annehmen, dass diese Teile in der praktischen Erprobung zusammen mit Devrient entstanden sind. Zwei kurze Abschnitte des einleitenden Melodram (»Noch toset des Sturmes Gewalt«, »Weh Thebe's Burg«) sowie der Beginn des anschließenden Chorlieds finden sich in den erhaltenen Kompositionsskizzen. Auffällig ist, dass die hier musiklos notierten Verszeilen des Chores »und es vergingen im Leide die Elenden, weinend ihr Elend daß sie entsprossen dem Unglücksbund der Mutter« weder mit der Donnerschen Vorlage noch mit der vom Komponisten schließlich verwendeten Textfassung übereinstimmen.172 Wie in Kapitel IV.2. beschrieben wurde, bedingte der veränderte Text im »Leipziger Libretto« zu Beginn der Gegenstrophe eine andere musikalisch-rhythmische Ausgestaltung, die in dem in Oxford befindlichen Klavierauszug des Komponisten erhalten ist. Mendelssohn nutzt das ursprüngliche Material von Stimmführung und Instrumentation und formt es so geschickt auf die rhythmischen Belange der neuen Textstruktur um, dass er die Zahl von 16 Takten für diese Verse beibehalten kann. Die unumgänglichen Veränderungen in Vokal- und Orchestersatz hatte er bereits gemeinsam mit den Textentwürfen skizziert.'73 Im Particell sind die erste Strophe und Gegenstrophe der No. 5 mit der seltenen Bezeichnung Allegro sertoso musikalisch gemeinsam notiert, in den späteren Quellen dagegen auseinander geschrieben. Das Chorlied insgesamt weist kaum Korrekturen auf und besitzt bis auf wenige rhythmische Abweichungen seine endgültige Form. Anders verhält es sich mit dem Nachspiel des Orchesters. Im Particell nimmt Mendelssohn nach fünf diminuendo-Takien den Melodieanfang des ersten Strophenpaares wieder auf und rundet so die Komposition ab. In den darauffolgenden Quellen beendet er das Nachspiel ohne diesen melodischen Rückgriff. Der grandios-hymnische Bacchus-Chor (No. 6: »Vielnamiger! Wonn' und Stolz der Kadmosjungfrau«), der Höhepunkt der Doppelchörigkeit in der Schauspielmusik zur Antigone- die Sänger »verüben [...] einen Lärm, daß sich einem die Haare zu Berg sträuben«174 - ist, abgesehen von einer unbedeutenden Schlussvariante der letzten vier Takte der ersten Gegenstrophe, im Particell bereits fertig.

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Staatsbibliothek zu Berlin-Preußischer Kulturbesitz, Musikabteilung mit Mendelssohn-Archiv (Signatur: Mus.ms.autogr. Mendelssohn 19, pag. 57/58). '73 Vgl. Anhang X.2. 174 Mendelssohn an David (21. Oktober 1841), zitiert nach Rothe/Szeskus: Briefe aus Leipziger Archiven, S. 169. I36

Drei Takte vor dem Ende des Zwischenspiels zwischen erster Strophe und Gegenstrophe überklebt Mendelssohn zwei Drittel der bereits komponierten Seite und streicht die folgenden sechs Takte der ersten Seite von Bogen 9 durch. Die ursprüngliche Komposition (unter der Überklebung und in den durchgestrichenen Takten sichtbar) zeigt in der Klavierstimme eine durchgehend instrumentale Begleitung mit aufsteigenden akkordischen Brechungen. In der Fassung, die Mendelssohn darüber geklebt hat, wird der Gesamttext von »Auf dem Felsen« bis »Epheus voll«, abgesehen von zwei pianoStützakkorden, von den vier Chorsoli a capella vorgetragen. Die folgenden Quellen enthalten dann die endgültige Fassung, die sich von punktueller, durchsichtiger Begleitung zu immer dichterem Orchesterklang entwickelt. Am 25. September 1841, zwei Tage vor der Fertigstellung des Particells, schreibt Mendelssohn an Kistner: Wie steht es denn mit dem Notenpapier? Ich schmiere hier soviel voll, daß ich bald auf dem Trocknen bin, wenn Sie mich nicht wieder flott machen.'7i

Auch No. 7 (»Hier kommt er ja selbst«) vermittelt den Eindruck außerordentlich schnellen Arbeitstempos. Bis auf kleine Verfeinerungen hat die Komposition ohne nennenswerte Ausstreichungen und Korrekturen im Particell ihre endgültige Form erreicht. Vor allem sind die melodramatischen Teile so auf das Papier gebracht, als hätte Mendelssohn während des Komponierens Vertrautheit mit dieser Technik gewonnen. Mendelssohn, der sich trotz der »herzlichen Freude«, die ihm die Arbeit an der Schauspielmusik zur Antigone »mit ihrer übertriebnen Schönheit und Herrlichkeit«'76 bereitet hatte, zunächst nicht ganz sicher war, ob er das Werk überhaupt herausgeben solle, schreibt einen Tag nach der ersten Aufführung der Antigone an Kistner: Nun ist sie gestern glücklich und glänzend vom Stapel gelaufen [...]. Es ist hier gar zu schwer über ein eigenes Werk nur einigermaßen zur Besinnung zu kommen, man findet meist nur unverschämte Schmeichler, oder aber so unverschämte Kritiker, und mit beiden ist es nicht gethan, denn beide verleiden einem alles von vorne herein. Bis jetzt habe ich nur mit der Bewunderung zu thun gehabt, nun es vorbei ist, werden indeß wohl die Gelehrten kommen, und mir offenbaren wie ich hätte componieren müssen wenn ich ein Berliner gewesen wäre [...].177

Und die kritischen Gelehrten kamen. Ihre Beanstandungen konnten jedoch den überwältigenden Erfolg der ersten Aufführung einer unbearbeiteten Sophokles-Tragödie in keiner Weise beeinträchtigen.

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Mendelssohn an Kistner (25. September 1841), zitiert nach Elvers: Briefe an deutsche Verleger, S. 314. Mendelssohn an David (23. September 1841), zitiert nach Rothe/Szeskus: Briefe aus Leipziger Archiven, S. 166. Mendelssohn an Kistner (29. November 1841), zitiert nach Elvers: Briefe an deutsche Verleger, S. 315. 137

c) Beschreibung und Auswertung der Quellen zu Ödipus in Kolonos Weniger ergiebig ist die Quellenlage zu Mendelssohns letzter Schauspielmusik, die erst nach seinem Tod von Rietz veröffentlicht wurde. Die autographe Partitur des Ödipus in Kolonos ist, wie auch die der Antigone, bisher nicht auffindbar. Das handschriftliche Quellenmaterial beschränkt sich allein auf einige Partiturabschriften, von denen wenigstens drei vom Komponisten revidiert bzw. unterzeichnet wurden. Folgende Materialien konnten hier zur Untersuchung herangezogen werden: Eine vom Komponisten revidierte Partiturabschrift befindet sich in Krakau.178 Ralf Wehner hat Franz Xaver Gleichauf (1801—1856) als Kopisten identifiziert.'79 Im folgenden wird sie als »Krakauer Abschrift« bezeichnet. Am 2. August 1846 hat Mendelssohn seinem Freund Franz Hauser (1794-1870) eine Abschrift seiner Partitur gewidmet: »Seinem lieben Freunde Franz Hauser gehört diese Partitur. Felix Mendelssohn Bartholdy. Leipzig d. 2ten August 1846«. Der Kopist ist Friedrich Louis Weissenborn (1815-1862). Dieses Exemplar, im folgenden »HauserAbschrift« genannt, wird in der Bodleian Library Oxford aufbewahrt.'80 Eine weitere Partiturabschrift, die ebenfalls von Weissenborn angefertigt wurde, befindet sich in der Royal Music Library.'81 Mendelssohn schenkte sie dem englischen Prinzen Albert (1819-1861), wie die Widmung auf der ersten Seite belegt: »Diese Copie des Manuscripts ist das ausschließliche Eigenthum Sr. Königlichen Hoheit des Prinzen Albert in London. Felix Mendelssohn Bartholdy«. Die englische Übersetzung von Bartholomew ist unter bzw. über den deutschen Text notiert. Darüber hinaus sind zwischen die einzelnen musikalischen Nummern Seiten mit englischen Zwischentexten für eine konzertante Aufführung eingelegt worden. Die letzte Seite der Partitur (hier als »Londoner Abschrift« bezeichnet) wurde von Bartholomew mit zwei Daten versehen (June 1847, 1850) und trägt seine Unterschrift. Die beiden Abschriften des Kopisten Weissenborn weichen geringfügig voneinander ab. Die Unterschiede beziehen sich vorrangig auf die Art und Weise der Notation, etwa bei unisono geführten Stimmen, »Faulenzern« oder Oktawersetzungen. Die Seitennummerierung der Londoner Abschrift stimmt mit der Hauser-Abschrift überein, jedoch wurden die Zahlen im Londoner Exemplar später durchgestrichen und durch eine Nummerierung der Blätter ersetzt, die die hinzugefügten Seiten mit den Zwischentexten berücksichtigt. Hinsichtlich der Seitenaufteilung entsprechen sich beide Abschriften im Wesentlichen; die Londoner Abschrift weicht allerdings von der Hauser-Abschrift auf den letzten Seiten von No. i (»O schau! Er entfloh!«) und

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Biblioteka Jagielloriska Krakow (Signatur: Ms.autogr. M 40). Auch die Kopisten der übrigen, hier berücksichtigten Partiturabschriften wurden mir freundlicherweise von Ralf Wehner mitgeteilt. Bodleian Library Oxford (Signatur: Ms.M.Deneke Mendelssohn c.96). British Library London (Signatur: Rm zig 39).

No. 4 (»Weh mir! In kurzem sollst du mehr Weh rufen noch.«) geringfügig ab. Auch in der Krakauer Abschrift, deren Seitenaufteilung mit den beiden anderen ansonsten übereinstimmt, liegt genau bei diesen beiden Nummern eine andere Seitenaufteilung vor, die mit keiner der beiden anderen Abschriften korrespondiert. Die vorgenommenen Eintragungen in der Londoner Abschrift weisen darauf hin, dass sie für Aufführungen verwendet wurde. Zusätzlich zu dem englischen Text wurden Stichworte notiert (»Cue«), die sich wohl auf den vollständigen Dramentext beziehen. Die eingefügten Zwischentexte, die vermutlich ebenfalls von Bartholomew stammen, korrespondieren jedenfalls nicht mit diesen Stichworten. Möglicherweise wurden diese später als die Übersetzung der gesungenen und gesprochenen Texte (einschließlich Stichworte) hinzugefügt. Dafür spräche die doppelte Datierung durch Bartholomew. Aufführungstechnische Eintragungen sind vor allem in den melodramatischen Teilen zu finden. Die gesprochenen (englischen) Worte der Schauspieler sind häufig durch mehrfache Notierung in den verschiedenen Systemen und durch Markierungen bestimmter Stellen im Takt eindeutig zugeordnet, wodurch die Ausführung dieser Passagen erleichtert wird. Gelegentlich ist die geforderte Rhythmisierung einzelner Verse durch Unterstreichung von Silben im englischen Text hervorgehoben. Zu den Paukenwirbeln in No. 7, die das Grollen des Donners charakterisieren, wurde jedes Mal das Wort »thunder« ergänzt.'82 Möglicherweise sollte hier durch den Einsatz zusätzlicher theatertechnischer Mittel Gewitterstimmung verbreitet werden. Eine weitere handschriftliche Quelle befindet sich in der Musikbibliothek der Stadt Leipzig.183 Bei dieser Partiturabschrift handelt es sich um das Exemplar, das - wie einer Notiz auf der ersten Seite vom 2.7. März 1864 zu entnehmen ist - der Herausgeber Julius Rietz als Druckvorlage für die Partitur verwendet hatte (»Rietz-Abschrift«).184 Die Partitur, der eine gedruckte Titelseite des Verlags Breitkopf & Härtel vorangestellt ist, weist zahlreiche Korrekturen mit Bleistift und Rötel auf. Zudem wurden zwei Blätter nachträglich eingefügt, die Rietz' Handschrift tragen. Im übrigen stimmt diese Abschrift hinsichtlich der Seitenaufteilung mit der Krakauer Abschrift überein. Auffallend ist jedoch, dass die Rietz-Abschrift von zwei verschiedenen Kopisten angefertigt wurde, jedenfalls hat Weissenborn diese Partitur nur bis einschließlich No. 2 erstellt. Weiterhin erwähnt der Komponist eine Kopie der Partitur in einem Brief an seinen Bruder Paul vom 10. April 1845: Jetzt weiß ich wieder, warum ich mein Schreiben von einem Tage zum ändern aufhob, weil ich Dir Deinen ödipus mitschicken wollte, an dem der Schreiber seit vielen Wochen schreibt,

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Vgl. Kapitel V.3.f. Stadtbibliothek Leipzig, Musikbibliothek (Signatur: PM 5269). Die Notiz lautet: »Vorliegendes Exemplar ist die Original-Handschrift (nicht des Komponisten) sondern diejenige, welche zum Druck bestimmt gewesen und zu solchem auch verwendet, vorher aber von Herrn Hofkapellmeister Jul. Rietz vorbereitet worden ist. Zwischen pag. 44-45, so wie pag. 60-61 sind Blätter in Original-Handschrift von Jul. Rietz zu finden. Leipzig, d. 27. März 1864 Bernhard Klemm«. 139

und ihn mir von einem Tage zum ändern verspricht. Jetzt ist er endlich noch nicht fertig, aber er schwört >in den nächsten TagenAntigone< folgende Bitte zu thun. Da die Zahl der Chorsänger, die 4 Solosänger mit eingeschlossen, nicht 16 übersteigen soll, und diese 16 in 2 Chöre geteilt sind, welche abwechselnd singen, so ist es notwendig, dass die Solosänger nicht nur, wie sonst gewöhnlich geschieht, die Solostücke singen (deren zwei darin vorkommen), sondern dass sie ausserdem auch bei allen ändern Stücken den ersten Chor mitsingen, der ohne sie nur aus 4 Sängern bestehen würde, mit ihnen aus 8 besteht, wie der zweite auch. Hierzu sind nun nach meiner Ansicht die Solosänger allerdings nicht verpflichtet, und gefordert werden kann es von ihnen, wie ich glaube, nicht eigentlich; wenn Sie indess die Güte haben wollten, bei Überschickung der Parthieen auf die Eigentümlichkeit der ganzen Aufführung und die daraus hervorgehende Abweichung der gewöhnlichen Regeln jene Herren aufmerksam zu machen f...].144

Trotz der qualitativ besonderen Besetzung, Chorsänger zusammen mit Solisten, gibt die mangelnde Textverständlichkeit der Chöre Anlass zu Kritik. Die Bedeutung des Chores »als reflektierendes Element« gehe auf diese Weise verloren. Die Musik überflutete die Worte, und erschien uns, wie schön sie auch an und für sich sein mag, als zweckwidrig. [...] Nun floß Strophe und Gegenstrophe in einander, der Kampf der Konflikte, der in dem Chor fortvibriren soll, hörte auf, die Poesie kam um ihr Recht, denn auf die Worte kam es nun gar nicht mehr an. Man hatte den Eindruck moderner Opernmusik, die Zuschauer lasen in ihren Textbüchern nach.145

Auch Tiecks Kritik bezieht sich darauf, »daß [...] die zu reiche Instrumentierung den Gesang unverständlich macht.«246 Am meisten störte ihn aber »der Charakter der

w Siehe Kapitel VI.i. 143 »man hat die besten Stimmen aus dem Chor, und dazu die besten Solosänger genommen [...]; die thun mal gut in den Chören!« Mendelssohn an David (21. Oktober 1841), zitiert nach Rothe/Szeskus: Briefe aus Leipziger Archiven, S. 169. 244 Altmann: Zwei Briefe Mendelssohns, S. 179. 145 Athenäum, No. 45 (13. November 1841). 146 Tieck: Kritische Schriften, Band IV, S. 371. 157

neuern Musik, wie vortrefflich auch Mendelssohn sein mag; - denn sie stand, wie eine abgesonderte Hälfte, dem Texte völlig gegenüber, - man verstand kein Wort, und mußte das gedruckte Büchelchen zu Hülfe nehmen.« — wie Tieck in einem Brief an den Münchner Intendanten Dingelstedt vom 15. Dezember 1851 berichtet.247 Dass ein zeitgenössischer Komponist wie Mendelssohn Tieck nicht zufrieden stellen konnte, ist nicht weiter verwunderlich, hatte er doch am 14. April 1841 von Willisen seine Vorstellungen sehr klar erläutert: Darum — ein Musiker. Capellmeister. der mir helfen könnte, Strofe u Antistrof. so zu theilen daß Tenor, Barithon, Baß die einzelnen Worte sagen, hoch, niedrig, schnell, langsam, und dann Alles klar zusammentönt. - Nur nicht ein Takt wie barbarisches Unisono, wie in Braut v. Messina und wie in der Klippschule die Kinder aufsagen. Mir schwebt die Möglichkeit vor, manchmal kann es wie Canto fermo sein, manchmal wie Rezitativ: - lebte Reichardt148 für die Musik u Fleck149 für das Spiel, sollte es wohl gehn.1'0

Es ist jedoch offensichtlich, dass Tieck in seinem Musikverständnis äußerst konservativ geprägt war: Mir war das in meiner Jugend ein ganz anderes Wesen, wo dem aufmerksamen Hörer, selbst bei schwächeren Stimmen, keine Silbe entging, und dadurch ein zusammenhängendes Kunstwerk gebildet wurde. Die neuere und neuste Musik ist für mein Gehör immer zu laut; das zu starke Orchester und die vielen Blasinstrumente zwingen die Sänger zu schreien, wodurch der echte Gesang aufhört, und sie doch unverständlich bleiben.1'1

Um dem Problem der Textverständlichkeit, dessen sich Mendelssohn durchaus bewusst war, ein wenig vorzubeugen, wies der Komponist den Dirigenten der Londoner Antigone-Auffühmng an:

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Tieck an Dingelstedt (15. Dezember 1851), Goethe- und Schiller-Archiv Weimar (Signatur: 157/111). Johann Friedrich Reichardt (1752-1814). Tieck und Reichardt hatten verschiedene Pläne für gemeinsame Produktionen, die dann jedoch nicht zur Ausführung kamen. Vgl. den Briefwechsel zwischen Tieck und Reichardt in: Holtei: Briefe an Ludwig Tieck, Band 3, S. io7ff. Johann Friedrich Ferdinand Fleck (1757-1801). »Wenn von großen deutschen Schauspielern die Rede sein wird, die mit genialem Blick ihre Aufgabe erfaßten und in einer kühnen, überraschenden, das Rechte treffenden Weise wiedergaben, so wird ihnen allen voran immer F. genannt werden müssen, der nach den gewichtigsten Zeitgenossen nach jeder Richtung hin ein geborenes schauspielerisches Genie gewesen ist.« Allgemeine Deutsche Biographie, Band 7, S. 108. Tieck an von Willisen (14. April 1841), Biblioteka Jagiellonska Krakow (Signatur: Aut. Ludwig Tieck, fol. iv). Tieck an Dingelstedt (15. Dezember 1851), Goethe- und Schiller-Archiv Weimar (Signatur: 157/111). Vgl. auch Tieck: Kritische Schriften, Band IV, S. 84. Hier kritisiert Tieck an den deutschen Theatern »die Breite des Orchesters, die mit jedem Jahre zugenommen hat, weil wir in der großen Oper nicht Geräusch und Betäubung genug haben können, da vor vierzig Jahren, selbst in guten Theatern, eine einzige Reihe von Violinen ganz passend das erfüllte, wozu die Musiker in den Schauspielen, um sich in den Zwischenakten hören zu lassen, doch nur dienen können.«

Pray let them pronounce the words as distinctly as possible, so as to make the notes less prominent and the words more so, than they usually are in Opera-Choruses.25*

Wegen der »Eigentümlichkeit« der ganzen Unternehmung war für Mendelssohn zunächst der Versuch naheliegend, sich bei der Komposition der sophokleischen Chorlieder an die Klangvorstellung von griechischer Musik anzunähern. Für den melodisch-rhythmischen Bereich hätte das, nach dem damaligen Verständnis antiker griechischer Musik, die rein einstimmig rezitativische Gestaltung der Gesänge zur Folge gehabt. Die Bewegung der gesungenen lyrischen Partien wäre bei diesem Kompositionsverfahren allein dem in der Übersetzung vorgegebenen Sprachrhythmus gefolgt. Devrient berichtet, dass für Mendelssohn diese musikalische Umsetzung bald unbefriedigend war. Zum einen wäre rein rezitativischer Gesang monoton und langweilig geworden. Zum anderen hätte die Verwendung nur weniger Begleitinstrumente — »Flöten, Tuben und Harfe als Vertreterin der Leyer« - nur als »kindische Nachahmung der Musik erscheinen müssen«, da »die Begleitung mit so beschränkter Instrumentation [...] alle Mannigfaltigkeit des Ausdrucks hindere.« 253 Bei den im ersten Arbeitsgang erwogenen Instrumenten liegt der grundsätzliche Übersetzungsfehler der Zeit vor, Aulos sei mit Flöte gleichzusetzen.154 Das moderne Rohrblattinstrument Oboe wäre hier klanglich naheliegender (oder in tieferer Lage das Englischhorn). Mit »Tuben« sind Posaunen, nicht die heutigen Tuben gemeint.255 Die »Harfe« steht als zeitgenössisches Instrument für Kithara und Lyra. Da Mendelssohn überdies meinte, mit solch beschränkter Instrumentation die angestrebte gute Textverständlichkeit der Chöre auch nicht überall erreichen zu können, nahm er sich vor, »er müsse die Chöre singen lassen, wie wir die Rollen sprechen würden, d. h. nicht im Bestreben, die Vortragsweise der attischen Tragödie nachzuahmen - was uns ja zur Lächerlichkeit treiben könne —, sondern wie man sich heut zu Tage in Rede und Gesang auszudrücken pflege.«256 Aus diesem Grund entschied sich Mendelssohn dafür, »mit allen Kunstmitteln, die ihm in so reichem Maße zu Gebot stehen, das alte, gleichsam verstummte Werk wieder zu beleben und ertönen zu lassen.«157 So folgte der Komponist in gewisser Weise dem Vorschlag E. T. A. Hoffmanns (1776-1822),

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Mendelssohn an Macfarren (8. Dezember 1844), zitiert nach Glehn: Goethe and Mendelssohn, S. 129. Devrient: Erinnerungen an Felix Mendelssohn Bartholdy, S. 219?. Dieser Übersetzungsfehler war so verinnerlicht, dass in einer Kritik der ersten Aufführung zu lesen war, Mendelssohns »Phantasie hat ihm öfters noch speziellere Annäherung an die griechischen Charaktere eingegeben, so die Benutzung der Harfe, und ein ander Mal der Flöte.« Berlinische Nachrichten von Staats- und gelehrten Sachen, No. 254 (30. Oktober 1841). Mendelssohn verwendet z. B. noch im Elias, op. 70 die Ophikleide, ein von ihm in Basslage eingesetztes Naturhorn mit Klappen (um chromatische Töne erzeugen zu können), stärker im Ton als die Bassposaune. Die Ophikleide wird ab der Mitte des 19. Jahrhunderts aus Militär- und Opernorchestern verdrängt, da mit der Tuba (ein modernes Ventilinstrument) ein farbenreicheres, reiner zu intonierendes Bassinstrument aufgetaucht war. Vgl. Sachs: Real-Lexikon der Musikinstrumente, S. 279^ Devrient: Erinnerungen an Felix Mendelssohn Bartholdy, S. 220. Droysen: Kleine Schriften zur alten Geschichte, S. 148. 159

den dieser im Hinblick auf die deklamatorische Behandlung des Chors in der Braut von Messina gemacht hatte: »Wie wäre es, wenn man die Idee des Chors der Griechen beibehielte, unsere Musik aber, wie sie jetzt gestiegen ist, auf ihn anwendete?«158 Da sich die zunächst versuchte Annäherung an antike Klangvorstellungen als unbefriedigend erwies, schlug Mendelssohn für Antigone und ödipus in Kolonos einen anderen kompositorischen Weg ein: Er vermeidet archaisierende Melodie- und Harmoniebildungen, wie Pentatonik, modale Abläufe oder weitgespannte Teile, die auf die alten Kirchentonarten zurückgreifen, und verzichtet in der Instrumentation, von dem Einsatz der Harfe159 abgesehen, vollständig auf jede antikisierend-folkoristische Farbgebung.260 Hätte Mendelssohn allerdings mit der Harfe wirklich >antiken< Klang erzeugen wollen, hätte er ihr eine herausragende Funktion geben (z. B. durch Soli), sie als Begleitinstrument für Rezitative und Melodramen verwenden und auffällig anders als in den typischen gebrochenen Dreiklängen setzen können. Mendelssohn nutzt die Harfe nur zu eher unauffälliger Klangfärbung und war sogar bereit, für den Fall, dass keine Harfe zur Verfügung stand, »die beiden Stücke [No. i und 6] für Saiten-Instrumente pizzicato [zu] arrangiren.«16' Diese Äußerung steht im Zusammenhang mit der Vorbereitung der Leipziger Antigone-Auffühmng. Da das Leipziger Orchester keine Harfe besaß,161 wollte Mendelssohn für den Fall, dass »die Harfe zu viele Umstände« bereite,163 diese Veränderung in der Instrumentation vornehmen. Für die ersten beiden Vorstellungen im Leipziger Stadttheater wurde dann jedoch mitgeteilt, »daß der hier

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Hoffmann an Soden (23. April 1808), zitiert nach Hoffmann: Frühe Prosa, Briefe, Tagebücher, Libretti, Juristische Schrift, Werke 1794-1813, S. 189. E. T. A. Hoffmann geht es in diesem Zusammenhang allerdings nicht um Aufführungen griechischer Tragödien, sondern antikisierender Neudichtungen wie etwa der Braut von Messina. Er fährt daher fort: »Die Begleiter der Helden teilnehmend an der Handlung äußern ihre Bewunderung, ihr Erstaunen, ihren Schmerz, ihr Entsetzen in kräftigen Strophen in den wichtigen Momenten des Stücks und zwar singen sie diese Strophen ab; wobei denn aber der Dichter sowohl als Komponist kräftig und kurz sein müßte. Nach beliebter jetziger Form ausgeführte Chöre würden ein Missgriff sein und es würde klingen wie eine Oper, worin die Hauptpersonen wegen Heiserkeit oder sonst ihre Rollen absprechen. - Es versteht sich, daß von der innern poetischen Form und Einrichtung des griechischen Chors nicht die Rede sein könnte, sondern daß die Form der jetzigen Musik angepaßt werden müßte und nur allenfalls Strophe und Gegenstrophe beibehalten werden könnten.« Gegen die in der Braut von Messina praktizierte Chorbehandlung hatte sich Hoffmann bereits 1803 in seinem Schreiben eines Klostergeistlichen ausgesprochen. Vgl. ebd., S. 491-494Im Werk Mendelssohns taucht in der Musik zur Antigone die Harfe, die er in seinen Oratorien nicht benutzt, zum ersten Mal auf. In der Italienischen, der Schottischen Symphonie und der Hebriden-Ouvertüre beweist Mendelssohn, dass er, ohne auf oberflächlich, melodisch-thematische Volksweisen zurückgreifen zu müssen, zu differenzierter und spezifisch romantisch-poetischer Schilderung in der Lage ist. Es ist sogar eines der besonderen Merkmale des Komponisten. Allein die Instrumentation der Schottischen Symphonie ist ein erzählendes Meisterwerk. Vgl. Konoid: Felix Mendelssohn Bartholdy und seine Zeit, S. i64ff. Universitätsbibliothek Leipzig, Handschriftenabteilung (Signatur: Rep. IX, 16, fol. ijr)· Mahling: Art. »Orchester«. In: MGG 2 , Sachteil, Band 7, Sp. 842. Universitätsbibliothek Leipzig, Handschriftenabteilung (Signatur: Rep. IX, 16, fol. 15').

anwesende berühmte Harfen-Virtuose, Herr Parish-Alvars, die besondere Güte gehabt hat, [...] die Ausführung der darin vorkommenden Harfen-Partie« zu übernehmen.«i64 Wie nach der Abreise des Londoner Virtuosen dieses Problem gelöst wurde, ist nicht bekannt. Der zeitgenössische Kompositionsstil Mendelssohns war in seiner musikalischen Sprache von großer, für viele Mitarbeiter und Kritiker unerwarteter Wirkung. »Mendelssohn konnte nur die Absicht haben, [...] uns einen Totaleindruck dieses Kunstwerks verschaflfen zu helfen [...]. Er hat, um diesen Zweck zu erreichen, den Mittelweg zwischen dramatischer und oratorischer Gattung eingeschlagen.«26' So heißt es in einem Bericht der Allgemeinen musikalischen Zeitung anlässlich einer Aufführung der Antigone in Frankfurt, die in der bisherigen Forschungsliteratur noch keine Beachtung gefunden hat.166 Mendelssohns Kompositionen zur Antigone und zum Ödipus in Kolonos zeigen, dass für ihre Einordnung traditionelle Gattungsbezeichnungen nicht geeignet sind. Von der zeitgenössischen Kritik wird dies deutlich wahrgenommen, wobei in der Beurteilung dieses Sachverhaltes die Meinungen divergieren. Auf die Frage: In welchem Style, welchem Zeitgeschmacke die Musik komponiert ist? möchte die Antwort schwer zu geben sein; denn so wenig Mendelssohn den Gedanken fassen konnte, eine wirklich antike Musik zu schreiben, so wenig darf man sagen, daß sie modern ist, noch daß sie sich zur Kirchen- oder Opernmusik irgend einer Gattung rubriciren lasse.i&7

Die Schauspielmusiken zu sophokleischen Tragödien nehmen im Gesamtwerk Mendelssohns einen eigenen Platz ein, so dass sich auch den ersten Kritikern keine Parallelen zu seinen eigenen Kompositionen noch zu denen anderer Komponisten — mit Ausnahme von Gluck - aufdrängten. Mendelssohns Verdienste hinsichtlich der Wiederbelebung der Werke von Bach und Händel stellten einen der Schwerpunkte seiner Tätigkeit als Dirigent und Organisator vielbeachteter Konzertreihen dar und prägten auch seine sakralen Kompositionen. Doch nichts von seiner »außerordentlichen kontrapunktischen Kunst, in dieser Beziehung war keiner der Zeitgenossen ihm ebenbürtig,«268 findet in der Schauspielmusik Anwendung. Der in barocker Tradition meist vierstimmig gemischte Chor in Mendelssohns sakralen Kompositionen spiegelt sich in dem von ein- bis achtstimmig gesetzten Männerchor der Schauspielmusiken nicht wider und lässt auch andere Chorwerke Mendelssohns weder strukturell noch klanglich assoziieren.269 Selbst die Rezitative tragen eine eigene Sprache, vor allen Dingen dort, wo sie 264 265 266

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Leipziger Tageblatt, No. 61 (2. März 1842). Allgemeine musikalische Zeitung 45, No. 45 (8. November 1843), Sp. 821. Bereits im Herbst 1843 wurde die Tragödie mit Mendelssohns Musik hier drei Mal aufgeführt. Vgl. ebd. Neue Zeitschrift für Musik 9, Band 16, No. 24 (22. März 1842, zur Leipziger Aufführung der Antigone), Werner: Art. »Felix Mendelssohn Bartholdy«. In: MGG, Band 9, S. 91. Zur New Yorker Aufführung im April 1845 schreibt Edgar Allan Poe: Mendelssohn »hat das Wunder zustande gebracht - seine Musik ist griechisches Denken, transportiert ins Deutsche.

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von mehreren Männerstimmen unisono gesungen werden - eine musikalische Form, die in barocken Kompositionen nicht existiert.270 Wie oben erwähnt, fühlten sich Zeitgenossen bei Mendelssohns Kompositionen zur Antigone und zu Ödipus in Kolonos an den Komponisten erinnert, der damals (wie heute) besonders mit antiken Stoffen in Verbindung gebracht wurde, nämlich an Christoph Willibald Gluck (1714-1787). Gluck war einer der Komponisten des 18. Jahrhunderts, dessen Popularität auch im 19. Jahrhundert an nichts eingebüßt hatte. Seine sich von leerer, formelhafter Virtuosität zu menschlicher Schlichtheit zurückwendende Reformoper171 Orfeo edEuridice sowie die beiden Iphigenie-Opern — Iphiganie en Aulide und Iphigenie en Tauride - wurden in Verbindung mit Winckelmanns idealisierendem Antikebild der »stillen Einfalt, edlen Größe« sowie Goethes Iphigenie gesehen und erfreuten sich besonderer Beliebtheit. In diesem Zusammenhang ist es sinnvoll, die in den Berlinischen Nachrichten von Staats- und gelehrten Sachen am 30. Oktober 1841 geäußerte These, Mendelssohn habe »sich großentheils an den Stil dessen gehalten, der von antikem Geist so tief durchdrungen ist, nämlich Gluck's,« eingehender zu betrachten, zumal sich Beschreibungen dieser Art durch die Literatur bis heute ziehen.272 Betrachtet man den Orchestersatz Mendelssohns (bei fast identischer Besetzung mit den oben genannten Werken Glucks) in seiner ihm eigenen Farbigkeit, der spezifischen Verwendung der Bläser und dem bis ins Virtuose gesteigerten Streichersatz, oder will man die gesungenen Rezitative vergleichen - melodramatische Teile gibt es in den erwähnten Werken von Gluck überhaupt nicht —, so lassen sich keine sinnfälligen Parallelen zwischen beiden Komponisten konstruieren. Noch größer sind die Unterschiede in der Behandlung der Chöre. Aus der französischen Tradition kommend hatte Gluck in Orfeo ed Euridice zwar versucht, dem Chor für die italienische Oper (d. h. die frühere Wiener Fassung von 1762) Bedeutung zurückzugeben. Wie in allen Opern des 18. Jahrhunderts handelt es hier aber um den üblichen vierstimmig gemischten Chor. In den Iphigenie-Opern Glucks treten auch Frauenchöre (zweistimmig) und Männerchöre (dreistimmig) auf (in der taurischen Iphigenie als »Priesterinnen« und »Skythen«).273 Ein werkprägender Einsatz von Männerchören, wie in Mendelssohns Sopho-

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Die Chöre werden nur von Männern gesungen; sie sind überwiegend einstimmig gehalten, sobald sie jedoch ausharmonisiert werden, scheinen die Akkorde das natürliche Ergebnis menschlicher Stimmführung zu sein.« Zitiert nach Draheim, Vorwort zum Klavierauszug der Antigone, Breitkopf & Härtel 1987. Für das aw/wno-Gruppen-Rezitativ gibt es im frühen 19. Jahrhundert allerdings instrumentale Vorprägungen, siehe besonders Beethovens 9. Symphonie, letzter Satz. Vgl. Holland: Glucks Opernreform. In: Csampai/Holland: Claudio Monteverdi Orfeo, Christoph Willibald Gluck Orpheus und Eurydike. Texte, Materialien, Kommentare, S. 25off. Draheim schreibt in seinem Vorwort zum Klavierauszug der Antigone (Breitkopf &C Härtel 1987, S. 5): »An den Beginn stellte er [Mendelssohn] eine zweiteilige Introduktion, deren langsamer Anfang an Gluck, den Meister der Oper mit antiken Stoffen im 18. Jahrhundert, erinnert.« Belege für diese These werden nicht angerührt. Die Erinnerung ist eine allgemeine. Eine kurze Ausnahme bildet der Doppelchor No. 49, ein zweistimmig gesetzter Männerchor,

kies Vertonungen, findet sich bei Gluck jedoch nicht. Mendelssohns Behandlung der Männerchöre macht aber das Zentrum der Kompositionen zu Antigone und Ödipus in Kolonos aus. Ihre bis in die achtstimmige Doppelchörigkeit gesteigerte Klanglichkeit findet an keiner Stelle eine Nähe zu den Opernchören Glucks. Noch weiter von Vorgängern wie Gluck oder auch von Werken Mendelssohnscher Zeitgenossen entfernen sich die Schauspielkompositionen, wenn man sie unter ihrem zentralen Anliegen, der metrischen Umsetzung griechischer Tragödientexte, betrachtet. This careful reconstruction of the classical prosody creates a stile very different from that of other music of the time. The rhythm has a distinctive repetitiveness, but the phrase lengths become somewhat irregular. Consequently, the style differs from Romantic vocal lyricism in its lack of small-scale rhythmic flexibility, while at the same time this rythmic repetition stands quite apart from the rhythmic repetition associated with dance music, because the phrasing is notably asymmetrical. In the end, the text and the prosodic style thus really do generate a musical language quite unlike that of the rest of Mendelssohn's oeuvre or the music of his contemporaries.174

Mendelssohns Publikum, an Gluck und Goethe geschult, wollte vorrangig über das Sujet des antiken Stoffes das »romantische Element der Tonkunst mit der antiken Würde und Einfachheit [...] verschwistert« hören.*7' Da Mendelssohn aus Gründen der Textverständlichkeit auf seine exzeptionellen kontrapunktischen Fähigkeiten verzichtete, war die hörbare Oberfläche der Chöre scheinbar schlicht und einfach - dem Ohr des Fachmannes entging die komplizierte Umsetzung der lyrischen Metrik natürlich nicht - und schien so dem Geiste Glucks verwandt. Sicher spielte die ungewöhnlich häufige Verwendung unisono gesungener Teile in den Schauspielkompositionen dabei ihre eigene Rolle, sei es Schlichtheit oder historische Entfernung suggerierend. An der Composition bewundern wir vor allem, daß sie mit den uns bekannten Instrumenten und Stimmen doch klingt, wie aus ferner fremder Zeit her.276

So möchte auch der Musiktheoretiker Marx in der Eigenständigkeit der Schauspielkompositionen eine Nähe zu Gluck erkennen: »Dies darf behauptet werden, wenn man erwägt, wie weit Antigone von seiner sonstigen Schreibart ab- und wie nahe sie der von Gluck steht.«277 Seine anschließende Bewertung der Musik scheint eher das schlechte Verhältnis, das zwischen ihm und seinem ehemaligen Jugendfreund Mendelssohn bestand, widerzuspiegeln: Daß die Tiefe Glucks und seine Wahrhaftigkeit nicht erreicht werden konnte, lag aber keineswegs blos in der minderen Begabung des Nachfolgers gegen das Urbild, sondern vor

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der als Gegenpart zu einem vierstimmig gemischten Chor wenige Takte in der Iphigenie in Aulis zu singen hat. Seaton: Mendelssohn's Dramatic Music, S. 200. Berliner Musikalische Zeitung i, No. 14 (27. April 1844). Dieses Zitat bezieht sich auf Gluck, ließe sich aber aus dem Verständnis der Zeitgenossen ebenso auf Mendelssohns Kompositionen zu Antigone und Ödipus in Kolonos übertragen. Droysen: Kleine Schriften zur alten Geschichte, S. 150. Marx: Die Musik des 19. Jahrhunderts und ihre Pflege, S. 121. 163

Allem in der Aufgabe. Gluck wählte Gedichte, die fast durchaus auf musikalischem Boden stehn und für musikalische Behandlung bis in das Einzelne hinein geeignet, ja günstig sind; genau das Gegentheil ist von der alten Tragödie zu sagen. Sogar der Zusammenhang der Worte, dieses erste Gesetz für Declamation mußte gelegentlich geopfert werden, da der unumgehbare Rhythmus des Griechischen keineswegs überall die Abschlüsse des Wortsinns beachtet, die Musik aber sich nach den rhythmischen Abschlüssen bequemen und abrunden mußte. Was unter solchen Umständen zu erreichen war: Declamation und noch zutreffender: Skansion, möglichst zur Melodie ausgebildet, wo es angeht dem treffenden Ausdruck des Moments möglichst genugthut - das hat Mendelssohn mit Einsicht, Takt und großem Talent erreicht. Allein dem alten Dichter hat er so wenig gerecht werden können, als es unsre Musik überhaupt kann; und diese Kunst hat er herabgewürdigt, da er sie zu Leistungen verwandte, bei denen sie ihr Wesen nicht blos beschränken sondern in Unwahrhaftigkeit sich verstricken mußte.278 Auch wenn eine grundlegende Untersuchung noch aussteht, kann konstatiert werden, dass sich die von den Zeitgenossen erwähnte Nähe zu Gluck musikalisch nicht begründen lässt. Hierzu kann zusammenfassend Eric Werner zitiert werden: Übrigens erkennt man in Mendelssohns Interpretation der Antigone, wie weit er sich schon von Winckelmanns Formel für den Geist der Antike >Edle Einfalt und stille Größe< entfernt hatte; ebensofern ist sein Stil von Goethes Iphigenie oder Glucks gleichnamigem Werk.179 Die im besonderen Maße als eigenständig erkannte kompositorische Leistung Mendelssohns wurde zum Teil so hoch eingeschätzt, dass sie der Geburt einer neuen Gattung gleichgesetzt wurde. Daß das Verdienst Mendelssohns hierbei ein bei weitem höheres ist, als das eines Uebersetzers, bedarf keiner besonderen Erörterung. Ihm lag kein Original vor, es gab keine griechischen Noten zu übersetzen, hier mußte neu und zwar in eigenthümlicher Weise, ohne irgend ein Vorbild zu haben, geschaffen werden. Weder die Chöre der Oper, noch des Oratoriums, weder Kirchenstil noch weltliche Musik konnten hier einen Anhaltepunkt geben. Die Aufgabe war schwer, - allein sie ist - darin stimmen Aller Urtheile überein, auf das Glücklichste gelöst worden. Die deutsche Musik ist um eine neue Gattung bereichert worden.780 Der beachtliche Erfolg der Theatermusik zu Antigone schien eine solche Deutung zu rechtfertigen.

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Ebd., S. I2if. Hiller (Aus dem Tonleben unserer Zeit, Band I, S. 228) erwidert darauf: »Wenn er nun an einigen Stellen der Declamation nicht ganz gerecht werden konnte, wenn es auch wahr sein mag, daß diese Verse und unsere Musik nie eine dauerhafte Ehe zusammen werden eingehen können, ist das ein Grund, den edlen Componisten einer Herabwürdigung unserer Kunst< zu zeihen [...]?« Werner: Mendelssohn. Leben und Werk in neuer Sicht, S. 431. Böckh/Toelken/Förster: Über die Antigone des Sophokles und ihre Darstellung auf dem königlichen Schloßtheater im neuen Palais bei Sanssouci, S. XI.

f) Elemente des Melodrams Melodramatische Partien finden sich in vielen Schauspielmusiken des frühen 19. Jahrhunderts. Hatte das Melodrama, das in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts entstanden war und »um 1775 eine eminent moderne und aktuelle Gattung dar [stellte] «,281 seinen Höhepunkt als selbständige Form schnell überwunden, so fand die melodramatische Technik als besonderes, spartenübergreifendes Ausdrucksmittel in Schauspiel, Singspiel und Oper weiterhin Verwendung.182 Bereits in seinen beiden ersten Melodramen Ariadne aufNaxos (Gotha 1775) und Medea (Leipzig 1775) schuf Benda »Typen der neuen musikdramatischen Gattung, welche Vorbildfunktion erhielten.«283 Ihrem weitgehend monologischen Prinzip folgend entwickelte sich auch innerhalb des Schauspiels ein spezieller Szenentyp, die melodramatische Monologszene.284 Sie findet zunehmend Eingang in den konzeptionellen Entwurf von Dramen, wie es etwa schon früh an Werken Goethes und Schillers abzulesen ist.285 Im Bereich der Oper, die im 19. Jahrhundert eine Vielzahl melodramatischer Szenengestaltungen kennt, sind in der Tragedie lyrique und der Opera comique bereits seit Ende des 18. Jahrhunderts melodramatische Elemente »als Überlappung des gesprochenen Dialogs mit den letzten Takten des Nachspiels bzw. Ritornell von Arie oder Ensemble« vorhanden. Die melodramatische Technik erweist sich hier also als ein »Element der Überschneidung und Berührung von Sparten und Gattungen«:286 [...] das melodramatische Sprechen schafft Übergänge, indem es Grenzen verwischt: Wird es als ästhetisches Scharnier zwischen gesprochenen Dialog und musikalische Gesangsnummer plaziert, so vermittelt es durch die zur gesprochenen Sprache hinzutretende Musik. Geht es einher mit einer musikalisierten sprechsprachlichen Deklamation, und gibt es ihr womöglich weitere und exaktere musikalische Parameter vor (Rhythmisierung, Festlegung von Tonhöhen), so sorgt es für eine weitergehende klangästhetische Verfugung von gesprochener und gesungener Sprache.28·7

Weiterhin sei an dieser Stelle auch darauf verwiesen, dass die Gattung Melodrama seit ihrer Entstehung von den Zeitgenossen immer wieder als Nachahmungsversuch von griechischem Theater missverstanden wurde.288 Die bevorzugte Wahl von Sujets aus der 281

Krämer: Deutschsprachiges Musiktheater im späten 18. Jahrhundert, Teil i, S. 351. Die Formen des Konzertmelodram und des Boulevardmelodram im 19. Jahrhundert werden in diese Untersuchung nicht einbezogen. 283 Schwarz-Danuser: Art. »Melodram«. In: MGG2, Sachteil, Band 6, Sp. 69. 284 Während in der Ariadne zwei aufeinanderfolgende Monologe (Theseus/Ariadne) musikalisch gestaltet werden, findet sich in der Medea neben den umfangreichen Monologen bereits eine hochdramatische Szene mit vier sprechenden Figuren (Medea, ihre beiden Söhne und deren Hofmeisterin) und ein das Stück beendender Dialog (Medea/Jason). 285 Nur als Beispiele von vielen seien hier genannt: Schillers Jungfrau von Orleans, Goethes Egmont und Faust. Vgl. dazu Kühn: Sprech-Ton-Kunst, S. 152-162. 286 Vgl. ebd., S. I5of. Kühn weist darauf hin, dass eine Spezialuntersuchung zu den Anfängen melodramatischer Technik in der Oper noch fehlt. 28 ? Ebd., S. 151. 288 Noch 1835 lässt Tieck in seiner Novelle Der Wassermensch den Professor wie selbstverständlich erklären: »Jene damaligen Mono- und Melodramen gehörten gewiß nicht dem guten 282

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griechischen Mythologie, die Kostümierung189 und die Verbindung von gesprochener Sprache und Instrumentalmusik, die durchaus als »antik« empfunden wurde, trugen zu diesem Eindruck bei. Die Möglichkeiten der melodramatischen Kompositionstechnik sieht SeckendorfF allerdings in seiner Zeit noch nicht befriedigend erfüllt, wie seinen Vorlesungen über Deklamation und Mimik (1816) zu entnehmen ist: Unsere melodramatischen Musikstücke enthalten gemeiniglich zu viel musikalische Malerei, und zu wenig Rücksicht auf die Deklamation, daher sind sie minder kraftvoll. Wie viel höher aber müsste die Wirkung eines Melodrama's seyn, wenn Sprache und Musik, in engem Sinne dieses Wortes, im innigsten Zusammenhange stünden; wenn die Schauspieler in den Akkorden und Harmonien sprächen, in welchen das Orchester fortschreitet; wenn die Komponisten auf die allgemeinen, musikalischen Gesetze, und auf die Sprache insbesondere, mehr Rücksicht nähmen; wenn die Sprache allmählig und von Musik begleitet, bis zum höchsten lyrischen Erguss, dem Gesang, stiege; wenn nach gleichen Gesetzen, Sprach- und Gesang-Chor wechselten und in einander übergingen? Nur so können wir Melodramen und Operetten bekommen, in denen jeder Athemzug und Bogenstrich zum höchsten musikalischen Zusammenhang fuhrt. Wie wehe thut es nicht dem Ohre, wenn jetzt der Sänger in den Operetten geendet hat, und mit einem Male in einer ganz ändern Tonart, mit ganz ändern Wendungen zu sprechen beginnt?190

Vor diesem Hintergrund nun sollen Mendelssohns melodramatische Szenen in Antigone und Ödipus in Kolonos näher untersucht werden, von denen Devrient sagte: »Ohne Felix' seinen Tact fur dramatische Verlebendigung würden diese Melodramen nicht Meisterwerke ihrer Gattung geworden sein.«19' Dieser Satz trifft nicht nur den Kern aller melodramatischen Teile in den beiden Kompositionen, er lässt sich auch auf den musikalischen Reichtum ausweiten, zu dem Mendelssohn in dieser Kompositionsart fähig war. Anders nämlich als in den Melodramen Bendas, die Mendelssohn gekannt haben dürfte,192 in denen der ständige Wechsel zwischen gesprochener Sprache und musizierter Phrase den allergrößten Teil der Kompositionen bildet, verwendet Mendelssohn in seinen Melodramen reichere, variabler eingesetzte Techniken. Um die Besonderheiten dieser melodramatischen Kompositionsteile genauer beschreiben zu

Geschmack an, oder dem wahren Theater. Sie waren aus einer bewußrvollen experimentirenden Nachahmung der Alten hervorgegangen, ein Bestreben, das noch in keiner Literatur etwas Vortreffliches erzeugt hat. Man wollte nun die Pausen der Deklamation mit Musik ausfüllen, nach Art und Weise, um sich das griechische Theater zu vergegenwärtigen; so stritt nun Stimme und Musik, diese letztere malte oft, beide störten und unterbrachen sich, keine konnte sich genug thun, und es entstand so etwas wahrhaft Barbarisches, das sich fast mit dem Tutti und Unisono des Chors in der Braut von Messina messen kann.« Tieck: Der Wassermensch, S. 15. ^ Vgl. Kapitel VI.i. 190 Seckendorff: Vorlesungen über Deklamation und Mimik, S. yyu. 191 Devrient: Erinnerungen an Felix Mendelssohn Bartholdy, S. 222. 192 In Berlin wurde zu Mendelssohns Lebzeiten Ariadne aufNaxos zum letzten Mal am 24. Juni 1833, Medea am 19. Februar 1832 aufgeführt. Vgl. Schäffer/Hartmann: Die königlichen Theater in Berlin, S. 5 und 60.

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können, ist es sinnvoll, eine grundlegende Zusammenfassung von Dirk Richerdt in Teilaspekten auf Mendelssohn anzuwenden und zu befragen: Verfolgt man den historischen Entwicklungsgang des Melodramas, so lassen sich neben rein äußerlichen, an den jeweiligen Zeitstil geknüpften Merkmalen etwa des Sujets, der Instrumentation, der Präsentation auch strukturelle Konstanten der melodramatischen WortTon-Beziehung aufdecken, unter denen in erster Linie der grundsätzliche Vorrang der gesprochenen Rede (Deklamation) über die Musik zu nennen ist. Denn im Gegensatz zur Oper ist im Melodrama die Poesie nicht >der Musik gehorsame Tochten. Die sekundäre Rolle der Musik im Melodrama ist schon aus ihrer funktionalen Bestimmung ersichtlich: sich an den Sprechtext, also an das einzelne Wort, den einzelnen Satz oder Sinnabschnitt anzuschmiegen, die Aufgabe eines dem Text vorgreifenden bzw. ihn nachträglich erläuternden oder simultan untermalenden >Kommentators< zu versehen. Die gleichsam tautologische Ergänzung des Redetextes durch Instrumentalmusik ist im Melodrama als Wesenselement schlechthin zu betrachten. Die Abbildfunktion der begleitenden Musik geht auf die bis ins 19. Jahrhundert nachwirkende musikalische Nachahmungstechnik zurück. An dieser objektivistischen Manier zeichnen sich im Melodrama noch gewichtige Einflüsse der barocken Affektentheorie ab, die trotz der subjektiven Empfindungs- und Ausdrucksästhetik der Empfindsamkeit und des Sturms und Drangs auch im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts weiterhin Geltung besaß.193

In den Melodramen der Antigone und des Odipus in Kolonos setzt Mendelssohn folgende Varianten melodramatischer Technik ein: - unbegleitete Sprache (unter Fermaten oder in freigestellten Takten) - einzelne unbegleitete Worte, die Musik auslösen, weil ihr dramatischer Gestus das erzwingt - einzelne unbegleitete Sätze, auch Sinnabschnitte, die neue musikalische Einsätze auslösen — musikalische Einsätze, die beim Schauspieler neue Emotion/Deklamation auslösen - rezitativisch gesetzte Momente oder auch längere Teile, gestützt durch zwischen die Sprache gesetzte Akkorde oder durch unterlegte Halteklänge - unter die Sprache gelegte, die Stimmung der Worte untermalende Klänge, expressiv in Harmoniebildung oder Spieltechnik (Streichertremolo, Paukenwirbel etc.) — der Sprache beigefügte melodische Elemente, die nach »barocker Affektenlehre«294 den Text verstärken, indem sie ihn gleichsam tautologisch ergänzen - dialogische Teile, in denen sich Sprache und musikalische Phrasen abwechseln - musikalisch in sich geschlossen durchgeführte (kleine) Instrumentalstücke, denen Text frei unterlegt ist - musikalisch durchkomponierte größere Zusammenhänge, denen Sprache wie Gesang gleichermaßen metrisch unterlegt ist

293

Richerdt: Studien zum Wort-Ton-Verhältnis im deutschen Bühnenmelodram. Darstellung seiner Geschichte von 1770-1820, S. n. z4 ' In diesem Kontext erscheint es sinnvoll, barocke Terminologie auf Kompositionen des 19. Jahrhunderts zu übertragen, da Mendelssohn, mit der Musik Bachs und Handels wohl vertraut, in seinen Melodramen »barocke« Motive entsprechend einsetzt. 167

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motivisch rhythmische Verzahnungen zwischen Musik und Sprache, die sich zum Teil über längere Kompositionsabschnitte hinzieht Sprache mit den Noten oder nach den Noten, also über das metrische Deklamieren des Schauspielers hinausgehende genaue rhythmische Fixierung der Sprache295 Instrumentation, die vom Halteton eines einzelnen Instrumentes, über typische Klanggruppen, über Mischungen verschiedenster Instrumente bis zum tutti des ganzen Orchesters variiert markant blockweise wechselnde Instrumentation, die emotionale oder gedankliche Zusammenhänge über längere Zusammenhänge gliedert oder wiedererkennbar macht

Diese in ihrer Zusammenfassung vereinfachende Aufzählung macht bereits deutlich, wie kompositorisch reich Mendelssohn Melodramen zu setzen in der Lage war. Dabei gestattet er sich, um neue Stimmungen zu erzeugen, keine längeren instrumentalen Zwischenspiele innerhalb der melodramatischen Abschnitte, so wie es für die Kompositionen Bendas charakteristisch ist. Er nimmt, um mit Seckendorff zu reden, »Rücksicht auf die Deklamation« und verliert sich nicht in »zu viel musikalischer Malerei«. Beschreibungen des Arbeits- und Probenprozesses, Korrekturen und Anweisungen zur Ausführung machen deutlich, dass Mendelssohn um die bestmögliche Verbindung von Sprache und Musik bemüht war. Devrients Kritik an der gedruckten Fassung der Melodramen in Klavierauszug und Partitur der Antigone verstärkt allerdings den Verdacht, dass nicht immer alle im Probenprozess erarbeiteten Details im Notenmaterial später exakt wiedergegeben wurden, zumal Ödipus in Kolonos erst posthum veröffentlicht wurde. Wie bei der Untersuchung der Quellen zur Antigone bereits erwähnt wurde, sind durch Devrient einige Details zur Ausführung der melodramatischen Partien überliefert, die der gedruckten Partitur so nicht zu entnehmen sind. Mendelssohn, wohl selbst um die Weitergabe hilfreicher Probenerfahrungen bemüht, gibt in einem Brief an den Dirigenten Macfarren genaue Anweisungen dazu, wie die Passagen, die er als mit den Noten bezeichnet hatte, geprobt und vorgetragen werden sollen: In the Melodramas, where the words must go together with the notes (with Flutes, Clarinets, &c.), do not let the actress take the tempo of your music (as I heard them do lately at Dresden), but let the flutes accompany her tempo of speaking, which is also not difficult if the flutes will follow you and her.^6

Die Praxis hatte also ergeben, dass nicht die Sprechstimme mit den Noten, sondern die Holzbläser colla voce geführt werden müssten, um die Ausführung dieser Stelle zu erleichtern.297

195 196

197

168

Mendelssohn stand noch keine Notation für rhythmisierte Sprache zur Verfügung. Mendelssohn an Macfarren (8. Dezember 1844), zitiert nach Glehn: Goethe and Mendelssohn, S. 131. Dieser Hinweis scheint umso praktikabler zu sein, da die Schauspieler angehalten waren, in den Antikenaufführungen metrisch zu deklamieren; man denke nur an den öfters zitierten Einsatz Tiecks zu diesem Problem. Es ging also nicht darum, eine Instrumentalbegleitung

Jedoch nicht nur innerhalb der Melodramen war Mendelssohn auf eine enge Verzahnung von gesprochener Sprache und Musik bedacht. Auch die Übergänge zwischen musikalischen Nummern und Dialogszenen möchte der Komponist möglichst fließend gestaltet wissen. In seinem Brief an Macfarren heißt es dazu folgendermaßen: Then let the succession of Dialogue and Music be as rapid as possible, indeed quite without the least interruption or pause; for instance when the curtain rises and Antigone has appeared, has called her sister und brought her forward from the background, it must be the last bar but one of the Overture, so that immediately after the last chord of the wind instruments (G ) Antigone begins to speak while the chord is still kept. Again the first Chorus must begin as soon as Antigone has gone down the steps (not immediately aftet Ismene's last words of course), and Kreon must be seen immediately when the C major chord, fortissimo, comes down before the Recitative of the Choruses, and Kreon must again begin to speak while the cord E flat is hardly given, and it must be kept during the first words - and so throughout the whole.1'8

Wie Mendelssohn Seckendorffs Kritik an den Übergängen löst — »wenn jetzt der Sänger in den Operetten geendet hat, und mit einem Male in einer ganz ändern Tonart, mit ganz ändern Wendungen zu sprechen beginnt« —, ist bereits am ersten melodramatischen Übergang in der Antigone zu. sehen: An die bis zur Achtstimmigkeit beider Chöre geführte und vom ganzen Orchester (außer Blechbläsern und Pauken) begleitete No. 2. fugt Mendelssohn ein einstimmig gesetztes, nur von Streichern begleitetes Chor-Rezitativ an, das in absteigender Linie und im letzten Wort unbegleitet sich der natürlichen Höhe der Sprechstimme zuneigt. Jetzt spricht der Wächter (mit ausdrücklicher Anweisung »sehr laut«, also das fortissimo des Gesanges übernehmend). Seinen beiden Sätzen ist ein harter Akkord dazwischengestellt. Die musikalische Nummer beenden zwei kadenzierende Akkorde und leiten schmucklos in die klanglich vorbereitete Sprechszene über.2" Ahnlich verfährt Mendelssohn in der Verfugung der Gesangsstimmen und der Stimme des Kreon im abschließenden Rezitativ des Chores No. 3, nur dass hier der musikalische Übergang zur folgenden Sprechszene leise, immer schwächer werdend gesetzt ist (piano perdendosi diminuendo) und den beiden letzten Streichertakten, die die Stimme des Schauspielers überlagern, eine melodisch geführte Oboe hinzugegeben ist. Das Melodram No. 2a der Antigone ist ein kleines, dominantisch endendes, in sich geschlossenes Instrumentalstück (Flöten, Klarinetten, Fagotte), dessen musikalischer Verlauf mit Halb- und Ganztonvorhalten eine Kette »barocker« Seufzermotive abbildet. Der lyrische Text des Chorführers, der die Tränen der auftretenden Ismene

298

der beliebig freien, unmetrischen Sprechweise, wie sie bei heutigen Schauspielern üblich ist, anzupassen. Mendelssohn an Macfarren (8. Dezember 1844), zitiert nach Glehn: Goethe and Mendelssohn, S. 129{.

299

Werden diese kompositorischen Feinheiten der »klangästhetischen Verfügung von gesprochener und gesungener Sprache« (Kühn) nicht erkannt, und das kann man leider beispielhaft an den bisherigen Einspielungen der Antigone vorführen, greifen Gesang und Sprache nicht ineinander; der in der Partitur vorgezeichnete Weg eines fließenden Übergangs ist zerstört. 169

beschreibt, ist frei unterlegt und kann nicht mit dem Rhythmus der Instrumente gesprochen werden. Der Kommos der Antigone (No. 4) ist musikalisch außerordentlich reich gestaltet. Von Halteklängen in unterschiedlichen Instrumentierungen begleitet, in Fermatentakten völlig freigestellt, unter sich wiederholenden melodischen Bildungen unterschiedlicher Instrumentengruppen, im dialogischen Wechsel mit instrumentalen Phrasen oder »barocken« Seufzermotiven und immer wieder durch verschiedene Tempoangaben zu schnell wechselndem Emotionsausdruck angewiesen, steht die Stimme der Schauspielerin in sich ständig verändernden musikalischen Zusammenhängen. Hier greift die Beschreibung, die Monika Schwarz-Danuser zur Gattungskonstitution des Melodrams bei Benda gibt: Die Ebene der Musik wird [...] markiert durch eine klanglich und dramaturgisch spezifizierte Instrumentalmusik, die der dramatischen Kurve des Melodrams eine nur der Macht der Tonkunst verfügbare Vertiefung verschafft. Der Dramaturgie der plötzlichen Affektwechsel der Protagonistin entsprechend wird die Musik nicht zu einem Kontinuum der Form gestaltet;300 teils im Wechselspiel mit der Deklamation, teils sie simultan unterstützend bildet sie vielmehr einen intermittierenden Verlauf aus [...].301

Besondere Beachtung verdienen im Melodram der No. 4 Textstellen, die mit den Noten gesprochen werden.302 Zur Möglichkeit, wie das bewerkstelligt werden kann, hat sich Mendelssohn in dem oben zitierten Brief an Macfarren geäußert. Gelingt es den Holzbläsern, das Sprechtempo der Schauspielerin zu treffen, ist der vorgegebene Rhythmus zwingend, leicht zu halten und kann beweglich, mit natürlichen Schwankungen vorgetragen werden. Wird in diesen Teilen gegen die Noten gesprochen, entsteht der Eindruck, als wenn entweder die Musik oder der Sprecher falsch ist, etwa so, als wenn in einer Opernaufführung Chor und Orchester rhythmisch auseinandergeraten.303 Noch ein musikalisches Beispiel aus der No. 4 verdient wegen seiner besonderen Verbindung von Sprache und Musik Erwähnung. Der Text der Antigone — »die fluchbeladen, unvermählt, nunmehr zu diesem niedersteigt. O weh! Unselig war mir, o Bruder, dein Eh'bund auch! Du stirbst, und mich raffst du fort vom Leben!« - ist mit unisono geführten Streichern unterlegt. Die Worte »O weh!«, »Du stirbst«, »und 300

301 302 303

I/O

Bezogen auf Bendas Ariadne aufNaxos und Medea ist diese Beschreibung nicht ausreichend. Immer wieder sind hier größere Zusammenhänge musikalisch zu Bildern zusammengefasst. Wenn beispielsweise ein langes Zwischenspiel unvermutet wie der Satz eines Violinenkonzertes gesetzt ist und diese innerhalb des Melodrams einmalige Instrumentation eine lange Kette von Sprachteilen umfasst (Ariadne erinnert sich an das Unbeschwerte, das Glückliche ihrer Kindheit), dann entsteht ein in sich geschlossenes Bild, das großflächig durch musikalische Form und Klanglichkeit charakterisiert und gehalten ist. Schwarz-Danuser: Art. »Melodram«. In: MGG2, Sachteil, Band 6, Sp. 70. Beispielsweise Antigone, Partitur, S. 63/64, 66. Ein Versuch mit Gesangs- und Schauspielstudenten an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Frankfurt am Main, begleitet von einem Klavier, hat ergeben, dass es unmöglich ist, sich der Rhythmisierung der Begleitstimmen zu widersetzen ohne gleichzeitig gewollt unmetrisch zu deklamieren.

mich« antizipieren, wenn sie metrisch gesprochen werden, punktierte Akkorde (Sechzehntel - Halbe/Viertel) der Flöten und Klarinetten.

Diese plötzlichen instrumentalen Einwürfe sind, wenn die Sprache sie rhythmisch vorbereitet, von großer dramatischer Wirkung, denn sie schaffen den Zusammenhang, der auf Antigones eigenen Tod — bis »und mich« — in einer dynamisch absteigenden Linie hinweist. Plötzliche eintretende Emotion und gedankliche Zusammenfassung werden gleichermaßen geleistet. Den in Melodramen häufig verwendeten Effekt des Tremolos nutzt Mendelssohn nur in dem achttaktigen Rezitativ, das No. 5 (Antigone) eröffnet, sowie für einige Akkorde in No. 7. In No. 5 wird er für kurze Momente und nie von allen Streichern gleichermaßen ausgeführt. Hier verhilft er den Worten »Noch toset des Sturmes Gewalt rastlos« und »Weh! dass ich dem Tod ganz nah schon bin, mahnt dies Wort mich« zu tieferer Wirkung. Der große, das Stück beendende Kommos des Kreon (No. 7) ist ähnlich dem Kommos der Antigone in schnell wechselnden, abrupten emotionalen Wendungen und dramatischen Spannungsentwicklungen gestaltet. Hierfür verwendet Mendelssohn die breite Palette unterschiedlichster Kompositionstechniken, wie sie oben aufgelistet sind. Eine in diesem Kommos vorkommende Variante muss besonders hervorgehoben werden: Das dreimal vorkommende »Weh! Weh! Weh! Weh!« des Kreon,304 das nach den No-

304

Antigone, Partitur S. 114, 119 und 122. 171

ten gesprochen werden soll, ist unter vier in halben Noten gesetzten Bläserakkorden notiert. Das so entstehende synkopische Deklamieren des Schauspielers, schwankend der rhythmischen Festigung beraubt, drückt Angst und Unsicherheit gleichermaßen aus. Die besonders klare Instrumentation der klanglich freigestellten Bläserakkorde gibt diesen Stellen einen Wiedererkennungseffekt, der sich wie ein Kontinuum der Angst durch den Kommos zieht. In der dritten Stelle, nachdem Kreon den Leichnam seiner Gattin erblickt hat, treten zu den Flöten und Klarinetten Oboen und Fagotte hinzu. Die vier Holzbläserakkorde, crescendierend von piano zu fortissimo, kulminieren in einem lang gehaltenen fünften Akkord, einem gewaltigen instrumentalen Weh! des gesamten Orchesters. »Mich schreckt Angst empor!« sind die anschließenden, unbegleiteten Worte Kreons; »Angst empor« wird rhythmisch in drei yorff-Akkorden der Streicher wiederholt, ein Augenblick allerhöchster Dramatik. Am 5. November 1841 schreibt Bellermann, der in Potsdam der ersten Aufführung der Antigone beigewohnt hatte, an Mendelssohn: Vielleicht könnte [...], wenn die Uebersetzung gehörig demnach eingerichtet ist, durch die melodramatischen Zwischensätze der Musik auf [...] den Zuhörer eingewirkt werden, indem diese zuweilen ähnliche Rhythmen hören ließen. Besonders würde durch solche Veränderung der Uebersetzung der antistrophische Parallelismus erleichtert, auf den die Alten mit so größerer Strenge halten mochten, als ihnen andere Mittel, durch wiederkehrende Form an die bereits in derselben Form vorgetragenen Gedanken zu erinnern, wie sie bei uns der Reim und die contrapunctische Nachahmung ist, fehlten. Daher haben sie ihn nicht nur in den Chören, sondern mit noch größerer Strenge in den von den handelnden Personen abwechselnd mit dem Chor vorgetragenen lyrischen Stellen. Gewiß kann man diese Stellen nicht anders und nicht schöner behandeln, als Sie gethan haben, nämlich melodramatisch mit dazwischen singendem Chor. Aber ich halte auch hier die antistrophische Strenge für unerläßlich. [...] Also ich meine, die wundervolle Begleitung, die wir bei Kreons Worten: Mich schreckt Angst empor, hören, verlangen wir bei der Gegenstrophe: Erschein endlich mir, wiederzuhören; geschieht es, so vergegenwärtigt sich uns dadurch beim Anhören der Gegenstrophe alles, was bei der Strophe entzückt oder erschüttert hat.'°s

Sucht man nun im Kommos der Antigone (No. 4) nach den antistrophischen Entsprechungen, so weist das kompositorische Strukturprinzip im zweiten Strophenpaar (hier beginnt Antigone zu sprechen) eindeutig Gemeinsamkeiten auf.'06 Auf rezitativisch frei zu gestaltende Sätze folgen, von Holzbläsern begleitet, in beiden Teilen mit den Noten zu sprechende, also rhythmisch genau fixierte Sinnabschnitte. Doch findet dieser Wechsel des Vortrages nicht an den parallelen Stellen von Strophe und Gegenstrophe statt, vielmehr wechselt Mendelssohn den Kompositionsstil mit dem Sinngehalt des Textes. Das dritte Strophenpaar schöpft ausschließlich aus dem dramatischen Impetus des Textes, ist somit durchkomponiert und enthält in Strophe und Gegenstrophe keine Parallelen.

3 5

°

306

Bellermann an Mendelssohn (5. November 1841), Bodleian Library Oxford (Signatur: Ms.M.Deneke Mendelssohn d.4o, G.B.XIV.I5I, fol. ^r), Anhang X.i. Die Zählung der Strophen wird nach Donners Übersetzung wiedergegeben.

Im Kommos des Kreon (No. 7) sind antistrophische Entsprechungen kaum noch auszumachen. Im ersten Strophenpaar bringt lediglich das viermalige »Weh!« eine hörbare Rückerinnerung, die aber kaum hilfreich ist, Strophe und Gegenstrophe als Ganzes zu erkennen. Da im dritten Strophenpaar der nicht lyrisch geschriebene Text des Dieners für den Hörer ins Melodram eingebunden zu sein scheint und die Chorbehandlung ausschließlich nach dramatischen Gesichtspunkten, unter Nichtbeachtung von lyrischen und Trimeter-Versen gestaltet ist, ergeben Strophe und Gegenstrophe zwar eine dramatische Einheit, ihre metrische Struktur bleibt aber unkenntlich. Geht man nun beispielsweise einem Vorschlag Bellermanns für das dritte Strophenpaar nach, in dem er eine Entsprechung von »Mich schreckt Angst empor!«, zu der metrisch entsprechenden Stelle der Gegenstrophe »erschein' endlich mir« einfordert, so lässt sich folgendes konstatieren: Die strikte Befolgung identischer oder sehr ähnlicher Musik in Strophe und Gegenstrophe müsste zwangsweise einen Mittelweg zwischen beiden extrem unterschiedlichen Emotionen suchen; das hieße, einen der oben beschriebenen dramatischen Höhepunkte des ganzen Stückes zwangsweise zu nivellieren. Die ordnende Möglichkeit der Musik, lyrische Strukturen des Kommos in seinen melodramatischen Teilen hörbar zu machen, nutzt Mendelssohn in der Antigone nicht. Diese Entscheidung geschieht zugunsten eines dramatischen, an einzelnen Worten, Sätzen und Sinnzusammenhängen und ihren Emotionen orientierten kompositorischen Verfahrens. Inwieweit Mendelssohn Anregungen Bellermanns nachgegangen ist, wird die Beschreibung der Melodramen des Ödipus in Kolonos erweisen. Obwohl sich dem Hörer die Textstruktur der Parodos im Ödipus in Kolonos (No. i) wegen ihrer Länge, des komplizierten Dialoges von drei agierenden Figuren (Chor, Ödipus und Antigone) und anapästischen Partien zwischen Strophe und Gegenstrophe schwer erschließt, nutzt Mendelssohn den Tonsatz, um die antistrophischen Entsprechungen herauszuarbeiten. Das erste Strophenpaar korrespondiert weitgehend miteinander. Alles läuft in unüberhörbaren Entsprechungen ab. Die identische Wiederholung des musikalischen Materials zu Beginn von Strophe und Gegenstrophe bewirkt eine Wiedererkennung der metrischen Struktur, wenn auch die Instrumentation minimal geändert ist. Die Flöten setzen in der Gegenstrophe in nicht exponierter Lage, im Zusammenhang des Gesamtklanges kaum hörbar, einen Takt später ein. Auch das zweite Strophenpaar ist durch weitgehende musikalische Entsprechungen in seinem Zusammenhang erkennbar. Musik klärt hier strukturelle Parallelitäten, die in einer gesprochenen Aufführung nur schwer zu erkennen wären. Bei der Beschreibung des zweiten Strophepaares ist noch auf einen interessanten Beleg zu verweisen, nämlich Mendelssohns metrische Eintragungen in der Sophokles-Übersetzung von Donner.307 Denn die zweite Strophe der Parodos ist eine der wenigen Stellen der

Vgl. Kapitel V.3.c. 173

Tragödie, wo der Komponist nicht nur die Schemata des Chores, sondern auch die der Schauspieler notiert hat. Sie beginnt mit zwei gesungenen Versen des Chores. Das Metrum dieser beiden Verse ist in der Komposition folgendermaßen umgesetzt: Eine Länge entspricht einer Viertelnote, eine Kürze einer Achtelnote mit Ausnahme des letzten Taktes, in dem die Notenwerte verdoppelt, der Rhythmus also gedehnt ist.308 Überträgt man nun diese Notenwerte auf die in der Übersetzung eingetragenen Längen und Kürzen der nachfolgenden, gesprochenen Sätze von Ödipus und Antigone (von »Noch weiter hinauf?« bis »wohin dich die Tochter führt.«), so zeigt sich, dass sich diese Verse — rhythmisch gesprochen — exakt in den Takt einfügen lassen. Überdies sind im Unterschied zur gedruckten Partitur die Worte der Antigone (»Folge mir [...] wohin dich die Tochter führt.«) in den handschriftlichen Partituren so unterlegt, dass die Textverteilung bei der oben beschriebenen Übertragung von Metrum in Notenwerte genau der Takteinteilung entspricht. Im englischen Text der Londoner Partitur ist sogar die genaue Verteilung der Worte auf die Noten durch Unterstreichungen und Verbindungslinien besonders hervorgehoben. Schließlich ist bemerkenswert, dass ursprünglich in der Krakauer Abschrift für diese Passage fünf Takte vorgesehen waren, einer davon jedoch gestrichen wurde, da der Text der Antigone sonst vor der Streicherbegleitung, nicht gemeinsam mit ihr, geendet hätte. Auch wenn Mendelssohn in der Partitur zu Ödipus in Kolonos auf nähere Angaben zur Deklamation des Sprechtextes grundsätzlich verzichtet hat - Hinweise wie mit den Noten, Unterstreichungen von Silben u. ä. sind nur in den Melodramen der Antigone vorhanden —, so ist es für den szenischen und musikalischen Zusammenhalt durchaus zwingend, dass an dieser Stelle rhythmisiertes Sprechen gemeint und verlangt war. No. z des Ödipus in Kolonos (»Grausam ist es, o Freund«) stellt einen Dialog zwischen dem Chor und Ödipus dar, in dem nach und nach seine Identität sowie die »Thaten der Schmach« (Vers 521) enthüllt werden. Mit drei gesungenen Versen des Chores beginnt die erste Strophe {Allegro moderato), aus der sich das Gespräch in Rede und Gegenrede entwickelt. In der Gegenstrophe kehrt sich das Verhältnis von Rede und Gegenrede um, indem Ödipus mit drei gesprochenen Versen den Anfang macht. Obwohl Mendelssohn hier nicht mehr analog komponieren kann, da Sprache und Gesang nun in umgekehrter Reihenfolge erscheinen, findet er einen Weg, die strophischen Entsprechungen hörbar zu machen. Der Chor zu Beginn der Strophe ist nur von wenigen Halteakkorden (Hörn und Streicher) begleitet.309 Zu Beginn der Gegenstrophe, wenn Ödipus die respondierenden Verse spricht, wird die Melodieführung des Chores (in der Strophe) nun in den ersten sechs Takten von den Klarinetten und Fagotten exakt übernommen. Mit Ausnahme einer Verkürzung (zwei Viertelpausen entfallen jetzt) führen sie in den verbleibenden zwei Takten den Rhythmus der entsprechenden Stelle der Strophe zu Ende. Rhythmisch verstärkt wird die ganze Passage zudem durch den Einsatz der Pauke.3'0 Ödipus' Sätze

308

Ödipus in Kolonos, Partitur, S. i6f. '°9 Ebd., S. 32f. 3'° Ebd., S. 35f. 174

Ich trug Thaten der Schmach, trug sie, ein Unschuldiger; ja, zeuge die Gottheit Nichts übt' ich davon mit Willen!3"

die in metrischer Hinsicht den gesungenen Versen des Chores in der Strophe entsprechen,3IZ lassen sich also ohne Probleme dem Rhythmus der begleitenden Instrumente unterlegen. In der Krakauer und in der Rietz-Abschrift, nicht aber in der gedruckten Version, sind zudem Ödipus' Worte der instrumentalen Begleitung exakt so unterlegt, dass ein rhythmisiertes Sprechen naheliegend erscheint. Im zweiten Strophenpaar (Allegro molto) der No. 2 kehrt sich das Verhältnis von Rede und Gegenrede nicht um. Hier hat Mendelssohn, wie auch in der Parodos, das metrische Schema für die Worte des Ödipus in seine Donner-Übersetzung eingetragen. Die Strophe beginnt in aufsteigend punktierter Linie mit der Frage des Chores »Sie wären deine Töchter denn?«: x. >

J

J. J) l J. j ) l J> l J

>

_

Ödipus antwortet darauf- gemäß gedruckter Partitur: »Und sind des Vaters Schwestern auch!«. Statt »Schwestern« heißt es in Donners Übersetzung jedoch »Geschwister«. Die Antwort des Ödipus wird von Bläsern (Oboen und Fagotte) so begleitet, dass sich Ödipus' Text nach Donners Version auch hier problemlos der Rhythmisierung der Blasinstrumente anpassen lässt:

o

J J. J> J

3 J. J> J -

Die Krakauer Abschrift zeigt, dass Mendelssohn in der Tat »Geschwister« komponiert hatte. Zudem ist hier wiederum der gesprochene Text so auf die drei Takte verteilt, dass eine Rhythmisierung der Sprache parallel zum Rhythmus der Bläser zwingend erscheint. Die besondere Verschmelzung der gesungenen Frage des Chores und der Antwort des Ödipus wird, so ausgeführt, noch evidenter. Mit Beginn der zweiten Gegenstrophe (a tempo) nimmt Mendelssohn den fragenden Rhythmus des Chores aus der zweiten Strophe (aufsteigend punktierte Linie) wieder auf, jetzt aber eindringlicher gestellt (»Unsel'ger, und du gabst den Tod -«). Zu Beginn der zweiten Strophe ist die entsprechende musikalische Phrase nur einstimmig, in der zweiten Gegenstrophe aber vierstimmig und eine Quarte höher gesetzt, außerdem durch Blasinstrumente (Oboen, Klarinetten, Fagotte und Hörner) zusätzlich verstärkt, die in der Strophe noch (bis auf einen Halteakkord der Fagotte) schweigen. Die folgende Unterbrechung dieser Frage durch Ödipus (»Was ist es? Was noch willst du mehr?«) lässt sich wiederum problemlos, einsetzend auf das dritte Viertel, der Rhythmisierung der weiter erzählenden Oboen

311 31Z

Vers 521-523, Donner: Sophokles, S. 100. Ebd., S. 99: Grausam ist es, o Freund, wecken ein Leid, Welches bereits lange geschlummert: Und doch zu vernehmen wünsch' ich — (Vers 507—509). 175

und Klarinetten anpassen. Bis hin zu motivischen Einwürfen der Instrumente baut Mendelssohn zwischen Strophe und Gegenstrophe hörbare, die metrische Struktur verdeutlichende Analogien auf. Obwohl in No. 4 auch die Trimeter melodramatisch komponiert sind, verdeutlicht der musikalische Satz den Bau von Strophe und Gegenstrophe mittels weitgehender melodischer Wiederholungen und genauester Beachtung der metrischen Strukturen sowie durch den markanten Einsatz des Chores. Auf ähnliche Weise arbeitet Mendelssohn im Kommos No. 9 die Entsprechungen in den beiden ersten Strophenpaaren musikalisch klar erkennbar heraus. So gibt die gesamte Komposition keinen Ansatzpunkt mehr für eine Bellermannsche Kritik. In den Melodramen des Ödipus in Kolonos hat sich Mendelssohn intensiver mit metrischen Problemen auseinandergesetzt, als er es bei seiner ersten Komposition zu einer Tragödie des Sophokles getan hatte. Das wirkt sich aber nicht qualitätsmindernd auf die Musik aus. Denn die lyrischen Partien beider Stücke weisen in ihrem Charakter deutliche Unterschiede auf. Im Gegensatz zur größeren Dramatik der Antigone erscheint der in sich abgeklärtere Text des Ödipus in Kolonos durch seine Verteilung auf mehrere Sprecher aufgelöster und abwechslungsreicher. Seine emotional nicht so weit auseinanderliegenden Spannungsbögen werden also durch analoge musikalische Ausgestaltung nicht nivelliert. Ungeklärt bleibt aber, warum Mendelssohn in zwei der erhaltenen Partiturabschriften die No. 2 des Ödipus in Kolonos wegließ.3'3 Möglicherweise waren diese Partituren nur für konzertante Aufführungen bestimmt. Die Zwischentexte in der Londoner Abschrift sprechen dafür. Da man das unabdingbare Geschehen der Tragödienhandlung mit diesen Zwischen texten verkürzt erzählen konnte, war die Herausnahme der No. 2 überhaupt erst möglich. Die Tatsache, dass Mendelssohn diese Schauspielmusik - im Unterschied zur Antigone — nicht veröffentlichte, berechtigt aber auch zu der Annahme, dass er den Kompositionsprozess noch nicht für beendet hielt. Ob ihm die genaue Beachtung der strophischen Entsprechungen in der No. 2 musikalisch doch nicht genügte, lässt sich nicht belegen. Unabhängig von der Frage nach metrischen Strukturen und antistrophischen Entsprechungen verdient folgendes melodramatische Beispiel in No. 7 des Ödipus in Kolonos Erwähnung:3'4 Auf einem Halteakkord der Streicher spricht Ödipus: »Des Zeus beschwingter Donner wird mich bald zum Hades führen: zögert nicht, und sendet hin.« Jetzt setzt der übliche Theaterdonner ein, ein über drei Takte von pianissimo bis fortissimo crescendierender Paukenwirbel mit anschließendem fortissimo-Einsatz des ganzen Orchesters.3'5 Bezüglich dieser Szene hatte Mendelssohn an seinen Freund Klingemann geschrieben: 313 314 315

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Vgl. Kapitel V.3.c. Ödipus in Kolonos, Partitur S. 108. Bereits seit Bendas ersten Melodramen, in denen Gewitter die dramatischen Höhepunkte markieren — in der Ariadne treiben Donner und Blitz die Protagonistin in den Tod, in der Medeazeigt der Gewittersturm die Ermordung der Kinder an -, ist Gewittermusik ein »To-

[...] da ist noch ein entsetzliches Ungewitter hineingekommen, währenddessen der alte Mann sterben will, und wo ich das ernsthafte Brummen des Donners hätte nachahmen mögen, das mir lieber ist als das Krachen, das gewöhnlich in den musikalischen Gewittern vorgezogen wird.3'6

Und Klingemann, nicht mit der Komposition, wohl aber mit der griechischen Tragödie gut vertraut, antwortet: Dein Donnern wird auch in den tiefen Ton des mystischen Grauens einstimmen, der da im Hintergrund lauert, - es ist mir eben recht, wie Du ihn beschreibst, murmelnd, nicht krachend.'1?

Um also das gewöhnliche »musikalische Gewitter«, das sich schließlich an oben genannter Stelle mit dem Stichwort »Donner« entlädt, zu vermeiden, baut Mendelssohn sein Gewitter schon in den 26 vorausgehenden Takten allmählich auf. Das erste Grollen der Pauke, das zweimal leise beginnt, sich dann zum fortissimo steigert und schließlich pianissimo verklingt, setzt unerwartet mit dem Wort »erblüh'n« ein.3'8 Der Chor reagiert jedoch sofort auf das nahende Unwetter: »Hoch in der Luft scholl's! Hilf, Zeus!«. Donner (der Übersetzer!) hat an genau der Stelle, wo Mendelssohn sein erstes Donnern im piano beginnen lässt, als Regieanweisung »Laute Donnerschläge« angegeben, das zweite, jetzt nicht mehr überraschende Donnern setzt dort ein, wo in der Übersetzung »Wiederholte Donnerschläge« vermerkt ist.3'9 Das Paukenmotiv durchzieht als immer wiederkehrendes Element der Spannung, fließend vom pianissimo zum fortissimo sich entwickelnd und schließlich im piano endend - also »murmelnd, nicht krachend«, die gesamte Komposition von No. 7. Wie dieses Donnern verwendet Mendelssohn auch andere Effekte als Bausteine eines musikalischen Gesamtplanes, so das »barocke Seufzermotiv« in No. 9 des Ödipus in Kolonos. Dieses Motiv erklingt unabhängig von seinem textlichen Bezug in den vier Einleitungstakten (Klarinetten und Fagotte) als musikalisch-poetisches Vorspiel und wird im Verlaufe der Komposition ein Baustein unter anderen, der das gesamte Stück prägend durchzieht. Ein Beispiel aus No. i macht das Besondere dieses Kompositionsansatzes noch deutlicher - ein Umgang mit der Melodramentechnik, der auch in der Antigone keine Entsprechung hat: Wo in No. i Chor und Schauspieler in einem

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pos der Melodramengattung« überhaupt (vgl. auch Schwarz-Danuser: Art. »Melodram«. In: MGG2, Sachteil, Band 6, Sp. 71). Mendelssohn an Klingemann (15. Februar 1845), zitiert nach Klingemann: Felix Mendelssohn Bartholdys Briefwechsel mit Legationsrat Karl Klingemann in London, S. 304. Klingemann an Mendelssohn (7. März 1845), ebd., S. 305. Die vollständigen Verse des Chores an dieser Stelle lauten (Vers 1444/1445, Donner: Sophokles, S. 137): Es lehrt, es lehrt dies die Zeit, welche für den einen Tag Das Leid, morgen wieder Glück heißt erblüh'n. Die griechische Tragödie kennt keine Regieanweisungen. Auftritte und Abgänge sowie außergewöhnliche Situationen, wie hier das Gewitter, erklären sich durch den gesprochenen bzw. gesungenen Text. In Übersetzungen sind jedoch häufig zur Verdeutlichung des Geschehens Regieanweisungen ergänzt worden. 177

verbundenen Redefluss miteinander kommunizieren, schreibt Mendelssohn einen von Streichermotorik angetriebenen, musikalisch zusammenhängenden Teil, der über die Spracheinsätze des Ödipus (»Noch weiter hinauf?«, »Nun?«) und der Antigone (»Folge mir, folge mit schwachem Schritte, wohin dich die Tochter führt.«) hinwegfließt und so die gesungene und gesprochen Sprache in ein Ganzes formt.'10 Nach dem selben Prinzip ist auch die zweite Gegenstrophe zu einer Einheit verschmolzen. Die gegebenen Beispiele zeigen, dass die »sekundäre Rolle der Musik« für Mendelssohns weitgefasste, von wiederkehrenden oder ständig durchgeführten Motiven durchwebten Vertonungen, als Beschreibungsmuster nicht ausreicht. Die von ihm geschaffene Verbindung von Gesang und Sprache wird der Unterstützung schnell wechselnder Stimmungen wie der Zusammenfügung unterschiedlichster Einzelteile zu einem großen kompositorischen Zusammenhang gleichermaßen gerecht.32' Das Besondere der Dichtung des Ödipus in Kolonos-der »musikalischsten« des Sophokles - findet hier eine eigene musikalische Sprache. Dieses Neuartige in Mendelssohns Umgang mit der melodramatischen Technik wird auch von der zeitgenössischen Kritik hervorgehoben: »Das ausgezeichnete Talent dieses Componisten für die Behandlung des Melodramatischen hatte ganz neue Formen gefunden, die Wirksamkeit der Chöre zu erhöhen.«'22 Nicht zuletzt mögen es auch theaterpraktische Überlegungen gewesen sein, die Mendelssohn zur Kompositionstechnik des Melodrams greifen ließen. Alternativ wäre es durchaus denkbar gewesen, die lyrischen Teilen von den Schauspielern singen zu lassen. Allerdings war es wohl Mitte des 19. Jahrhunderts kaum möglich, sprachlich und szenisch so brillante Sängerinnen und Sänger zu finden, die zugleich in der Lage gewesen wären, die großen Anforderungen, die die tragischen Sprechrollen boten, bewältigen zu können.'2' Umgekehrt wird es im zur Verfügung stehenden Schauspielensemble keine Darsteller gegeben haben, die die Hauptrollen in den Tragödien-Aufführungen übernehmen konnten und gleichzeitig über hervorragende sängerische Qualitäten verfügten. Genügend Schwierigkeiten bereitete schon die Besetzung des Chorführers, der als Sänger lediglich eine kleine Sprechrolle übernehmen musste.'24 Diese Problematik erkennend hatte sich 1827 auch Goethe im Gespräch mit Eckermann hinsichtlich der Titelfigur seiner Helena geäußert:

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Ödipus in Kolonos, Partitur S. I5ff. Allein der Einsatz der ersten Flöte markiert im Gesamtfluss der Musik die gesprochenen Sätze. Im 3. Akt der Schauspielmusik zu Athalia gelingt es Mendelssohn sogar, den von erregter Melodramenbegleitung der Streicher unterlegten frei deklamierten Text des Hohenpriesters mit dem Kontinuum eines abschnittsweise instrumental vorgetragenen Chorais (»Vom Himmel hoch, da komm ich her«) zusammenzufügen und dadurch eine große visionäre Szene zu gestalten. Zeitung für die elegante Welt, No. 218 (6. November 1841), S. 872. Eine Maria Callas, die in Pasolinis Film die Medea zu spielen in der Lage war, muss auch im 20. Jahrhundert als Ausnahme angesehen werden. Vgl. Kapitel VIII.2. und 6.

Die Rolle der Helena kann nicht von einer, sondern sie muß von zwei großen Künstlerinnen gespielt werden; denn es ist ein seltener Fall, daß eine Sängerin zugleich als tragische Künstlerin von hinlänglicher Bedeutung ist.'zs

4. Medea a) Beschreibung und Auswertung der Quellen Zur Komposition der Medea sind zwei Quellen von Tauberts Hand erhalten: Bei der einen Quelle, die in der Staatsbibliothek zu Berlin aufbewahrt wird,326 handelt es sich um eine Partitur, die andere Quelle — ein Klavierauszug — befindet sich in der Sächsischen Landesbibliothek in Dresden.327 Darüber hinaus sind im Landesarchiv Berlin (Bestand der Staatsoper Berlin) eine Partiturabschrift, eine Chorpartitur sowie Stimmenmaterial vorhanden.328 Auch in diesen Materialien weisen einige Korrekturen die Handschrift des Komponisten auf. Das in der Staatsbibliothek zu Berlin befindliche Partiturautograph trägt die Aufschrift: »Chöre zur Medea des Euripides, componirt v. W. Taubert, op. 57. Partitur.«319 Die auf das Titelblatt der Partitur folgende Seite enthält neben der Aufschrift »Medea« verschiedene Eintragungen von Tauberts Hand. Hier sind die Daten mehrerer Proben und Vorstellungen aufgelistet. Nach zwei Probentagen am 5. und 6. August 1843 ist als erstes Aufführungsdatum im Theater in Neuen Palais in Potsdam der 7. August 1843 vermerkt, weitere Termine folgten im Königlichen Schauspielhaus Berlin am 15. und 16. Oktober 1843, am 27. November 1843 sowie am 5. und 18. Oktober 1844. Darüber hinaus hat Taubert auf dem Manuskript der Partitur die Termine von fünf konzertanten Aufführungen notiert.330 Weiterhin sind Besetzungen für zwei Frauenchöre angegeben. Unter den einzelnen Stimmen (Sopran I, II und III) sind jeweils die Namen der Sängerinnen aufgelistet.

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Goethe: Gespräche (mit Eckermann, 29. Januar 1827), Band 6, S. 38. Staatsbibliothek zu Berlin-Preußischer Kulturbesitz, Musikabteilung mit Mendelssohn-Archiv (Signatur: Mus.ms.autogr. W. Taubert 84 N). 317 Sächsische Landes- und Universitätsbibliothek, Dresden (Signatur: Mus. 5819^-3). 3:18 Landesarchiv Berlin (Signaturen: A Rep. 167 N-IO93, Partitur und Instrumentalstimmen, und A Rep. 167 N-IO94, Chorpartitur und Singstimmen). 319 Vgl. Kapitel IV.3. Das Titelblatt trägt die Seitenzahl 81; das in der heutigen Form vorangestellte Textbuch enthält, die eingeschossenen Seiten nicht mitgezählt, 59 Druckseiten. Wann die Nummerierung der Partitur ergänzt wurde, lässt sich nicht feststellen. Sie stammt, im Unterschied zur Nummerierung der Notenbögen, nicht von Taubert selbst. 330 Yg| Kapitel VIII.7. Als weitere Termine nennt Taubert folgende: 29. April 1849 im Saal des Opernhauses durch den Stern'schen Verein; 6. Januar 1852 in Kopenhagen durch Niels Wilhelm Gade (1817-1890); 1853 in Thorn durch Dr. Hirsch; 14. März 1859 in der Berliner Sing-Akademie (in einem Abonnementkonzert der Frau Burchardt, es dirigierte Taubert); 27. März 1867 durch Holder Egger; 27. April 1888 in der Berliner Philharmonie durch den Stern'schen Gesangsverein unter der Leitung von Ernst Rudorff. 316

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Jeder Chor ist mit vier Sängerinnen im ersten Sopran und jeweils drei Stimmen im zweiten und dritten Sopran besetzt, so dass mit insgesamt 20 Sängerinnen die Anzahl des antiken Chores, auf die Mendelssohn bei der Aufführung seiner Schauspielmusiken großen Wert legte, überschritten wird. Aus den Namen der Sängerinnen geht jedoch hervor, dass es sich hierbei um die Besetzung der ersten Konzertaufführung am 29. April 1849, nicht aber um die der ersten Aufführung in Potsdam handelt: Die Namen der drei Solistinnen Auguste Fassmann (1808-1872), Caroline Grünbaum (1814-1868) und Aurora Hoffkuntz (1816-?), die auf dem Theaterzettel von 1843 genannt werden, sind nicht unter den auf der Partitur verzeichneten Namen.331 Dagegen befinden sich auf Tauberts Liste die Sängerinnen Marie Gey (1825-1904), die erst 1847 nach Berlin engagiert wurde, sowie Pauline Marx (1819-1881), die in der Zeit von 1843 bis 1851 Mitglied der Königlichen Oper Berlin war.332 Anhand der im Landesarchiv erhaltenen Chor- und Solostimmen ist nicht auszuschließen, dass bereits bei der Erstaufführung mehr als 16 Sängerinnen (einschließlich Solistinnen) im Chor mitwirkten: Insgesamt sind neben den 16 Chorstimmen fünf Solostimmen erhalten, von denen zumindest drei auf das Jahr 1843 zu datieren sind. Die Schauspielmusik beginnt mit einer auf fünf Seiten notierten Introduzione mit der Tempoangabe Andante, mosso patetico. Aus der Datierung — zu Beginn der Introduktion hat Taubert in seiner Partitur den 23. Juni 1843, am Ende den 8. Juli 1843 notiert - sowie aus der Nummerierung der nachfolgenden Bögen ergibt sich, dass Taubert, wie schon Mendelssohn in seiner Antigone, die Ouvertüre erst zum Schluss komponierte. Die Partitur ist vom Komponisten immer wieder mit Daten versehen worden. Dadurch wird ihr Entstehungszeitraum angegeben, nämlich vom 12. März bis zum 8. Juli 1843. Es ist davon auszugehen, dass dieser Partitur Entwürfe der Komposition vorausgingen. No. i der Schauspielmusik, die auf die Introduktion folgt, beginnt auf Bogen i. Insgesamt umfasst die Komposition ohne die Ouvertüre in dieser Quelle 14 Bögen. An verschiedenen Stellen weist sie Durchstreichungen mehrerer Takte auf. Auf den letzten beiden Seiten hat Taubert Korrekturen bzw. Ergänzungen zu einigen Nummern notiert. Es handelt sich hierbei um No. ic und No. ja. sowie das Vorspiel zu No. 2 und No. 2a. Die zweite Quelle, der in Dresden befindliche Klavierauszug, trägt die Überschrift: »Chöre zur Medea des Euripides, 1843 componirt und Sr. Majestät Friedrich Wilhelm IV. König von Preußen zugeeignet von Wilhelm Taubert, (op. 57).« Diesen undatierten Klavierauszug hat Taubert auf der letzten Seite signiert. Ein gedruckter Klavierauszug der Medea sowie die Ouvertüre sind im November 1843 in der Trautweinschen Buchhandlung in Berlin erschienen.333

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Alle drei Sängerinnen waren 1849, zum Zeitpunkt der ersten Konzertauffiihrung, nicht mehr am Theater engagiert. Vgl. Ledebur: Tonkünstler-Lexicon Berlin's, S. I49f., 212 und 249. »2 Vgl. ebd., S. 187 und 354^ 333 Vgl. Musikalisch-kritisches Repertorium aller neuen Erscheinungen auf dem Gebiete der Tonkunst, Leipzig 1844. Ein Exemplar des gedruckten Klavierauszugs konnte bisher leider 180

Weiteres Aufführungsmaterial zur Medea befindet sich im Landesarchiv Berlin. Neben einer Partiturabschrift sowie einer Chorpartitur ist hier umfangreiches Stimmenmaterial erhalten (Instrumental- und Singstimmen). Die Abschriften tragen den Stempel der Königlichen Theater-Bibliothek. Die Partiturabschrift wurde offensichtlich sowohl für Aufführungen im Theater als auch für Konzertaufführungen verwendet. Sie weist diverse Korrekturen mit Bleistift und Tinte, sowie Hervorhebungen mit Rotstift auf. Diese stammen zum Teil von Taubert selbst, zum Teil von anderer Hand. An einigen Stellen hat der Komponist Stichworte »für die Aufrührung im Concertsaal« vermerkt; zudem sind einige Stellen gestrichen. Die im Autograph nachgetragenen Nummern (ic, 2, 2,a und ya) erscheinen in der Abschrift zwar an den entsprechenden Stellen, sind jedoch ebenfalls erst zu einem späteren Zeitpunkt ergänzt worden, wie sich aus Überklebungen bzw. nachträglich eingefügten Seiten ersehen lässt. Offensichtlich wurden diese Korrekturen zwar von demselben Schreiber, aber mit einer anderen Feder geschrieben. Da in Folge der Nachträge einige Stichworte nicht mehr richtig plaziert waren, mussten diese gestrichen und an die richtige Stelle gesetzt werden, also jeweils an das Ende der eingefügten Passage. Neben den oben genannten, nachgetragenen Nummern weist in der Abschrift auch das Nachspiel von No. 4 Korrekturen auf: der letzte Takt wurde überklebt, darüber hinaus eine zusätzliche Seite eingefügt, auf der nun drei weitere Takte notiert sind. An der entsprechenden Stelle im Partiturautograph lässt sich erkennen, dass Taubert hier den ursprünglichen Doppelstrich entfernte, um die beiden zusätzlichen Takte ergänzen zu können. Der anschließende Sprechtext war bereits geschrieben, so dass die Takte in den zur Verfügung stehenden engen Raum gepresst werden mussten. Dieselben Korrekturen sind sowohl in den Orchester- als auch in den Gesangsstimmen zu erkennen. Taubert hat seine Ergänzungen also erst dann vorgenommen, als das gesamte Stimmenmaterial bereits ausgeschrieben war. In No. ib (Autograph) sind die einzelnen Instrumentalstimmen beziffert; anhand der Abschrift ist zu ersehen, dass der Komponist auf diese Weise die Reihenfolge der einzelnen Stimmen bezeichnete, in der sie in der Abschrift notiert werden sollten. Im übrigen stimmen Autograph und Abschrift im wesentlichen miteinander überein. Eine kleine Abweichung liegt in No. 3 (»Wenn Liebe sich über das Ziel verirrte«) vor: Hier wurde in der Abschrift Solo z in Solo 3 korrigiert. Darüber hinaus sind die einzelnen Nummern in der Partiturabschrift mit Metronomangaben versehen. Die Abschrift ist noch auf die Zeit vor der ersten Aufführung der Medea zu datieren, da dem Kopisten die endgültige Textfassung offensichtlich nicht bekannt war. Alle Stichworte sind ursprünglich in der Übersetzung von Donner eingetragen; sie wurden von Taubert nachträglich korrigiert, indem er die betreffenden Stellen durch die Bothe/Donner-Fassung ersetzte.334

nicht gefunden werden. In der Staatsbibliothek zu Berlin-Preußischer Kulturbesitz, Musikabteilung mit Mendelssohn-Archiv befindet sich lediglich ein Einzeldruck der Ouvertüre. "4 Vgl. Kapitel IV.3. 181

Bleistifteintragungen in einigen der Instrumentalstimmen vervollständigen die auf dem Partitur-Manuskript angegebenen Proben- und Aufführungstermine: So sind auf der Stimme der Bassposaune folgende Probendaten vermerkt: i. Probe: 3. Juni 1843, 2. Probe: 10. Juni 1843, 3. Probe: 13. Juni 1843, 4. Probe: 18. Juni 1843, 5. Probe: 20. Juni 1843, 6. Probe: 4. August 1843, 7. Probe: 5. August 1843, 8. Probe: 6. August 1843. Eine neunte Probe für die Wiederaufnahme im Königlichen Schauspielhaus ist für den 13. Oktober 1843 notiert. Nach Tauberts eigenen Datierungen war die Komposition zum Zeitpunkt der ersten Probe, die die Stimme der Bassposaune nennt, noch nicht vollendet. Zumindest war ein Großteil der Komposition am 3. Juni 1843 bereits fertiggestellt, wie Tauberts Angaben zum Entstehungsprozess zu entnehmen ist. Die Differenz in der Anzahl der angegebenen Probendaten - der Bassposaunist nennt wesentlich mehr Termine als Taubert — ergibt sich daraus, dass Taubert lediglich die Proben auf seiner Partitur notierte, die im Theater selbst stattgefunden hatten. Dass sich die Termine der Orchesterproben von denen, die Devrient angibt unterscheiden müssen, ist offensichtlich. Schließlich entspricht es dem Produktionsprozess einer Schauspielauffuhrung mit Musik, dass Schauspieler und Musiker zunächst getrennte Proben abhalten. 335 Bis auf eine Ausnahme stimmen die auf einigen der Instrumentalstimmen angegebenen Aufführungsdaten mit den von Taubert notierten überein. Lediglich auf der Bassposaune ist eine zusätzlicher Termin, der 8. November 1843, vermerkt. Überdies existiert ein Theaterzettel, der dieses Datum trägt. Aus einem Zeitungsbericht der Königlich Privilegirten Zeitung von Staats- und gelehrten Sachen vom 10. November 1843 geht jedoch hervor, dass diese Vorstellung kurzfristig abgesagt werden musste. Gründe hierfür werden nicht genannt. Die Stimme der ersten Violine führt auf ihrer Titelseite insgesamt 28 Einzelstimmen auf: i Harfe, 6 Violinen, 3 Violen, 3 Bässe, 2 Flöten, i Piccoloflöte, 2 Oboen, 2 Klarinetten, 2 Fagotte, 2 Hörner, 2 Trompeten, i Pauke, i Bassposaune. Bei den Streichern sind jedoch insgesamt mehr Stimmen erhalten, als hier aufgelistet wurden. Es ist also davon auszugehen, dass für die Aufführungen im Konzertsaal der Streicherapparat vergrößert wurde. Tatsächlich befindet sich unter den vier ersten und vier zweiten Violinen jeweils eine Stimme, die auf neuerem Papier und von anderer Hand geschrieben wurde. Dasselbe trifft für die Bässe zu. Darüber hinaus wurden wohl zu einem noch späteren Zeitpunkt zwei Stimmen für Violoncello/Basso angefertigt. Lediglich die Anzahl der Viola-Stimmen stimmt mit drei erhaltenen Exemplaren mit der Auflistung überein. Für alle übrigen Instrumente wurde offenbar nachträglich kein Stimmenmaterial mehr angefertigt. Wie schon die Partiturabschrift, so weisen auch die Chorpartitur und einige der SoloSingstimmen Ergänzungen bzw. Korrekturen von Tauberts Hand auf.3'6 Dies betrifft in erster Linie zwei der fünf erhaltenen Solostimmen. Sie sind mit »Solo II [ursprüng»5 Vgl. Kapitel III.i. 33i Die Chorpartitur enthält zusätzlich Bleistifteintragungen von anderer Hand. Hierbei handelt es sich um Stichworte der Zwischentexte bei konzertanten Aufführungen. 182

lieh III]. Coro 2« und »Solo IV. Coro 2« bezeichnet. In der Solostimme II wurde das bereits erwähnte Vorspiel zu No. 2 sowie die gesungenen Partien No. 7 ergänzt.337 Die Ergänzungen in der Solostimme IV, die auf zwei eingelegten Seiten wohl von Tauberts Hand notiert wurden, deuten auf eine Umverteilung einiger solistischer Passagen in den Nummern 2a, 6 und 8 bei einer der konzertanten Aufführungen hin: Sowohl auf dem Titelblatt der Stimme als auch auf einer der eingelegten Seiten ist der Name der Sängerin Marie Gey eingetragen, die erst seit 1847 in Berlin engagiert war und daher bei keiner der szenischen Vorstellungen im Schauspielhaus mitgewirkt haben konnte. Die Anzahl der Solistinnen wurde möglicherweise bei Konzertauffiihrungen variabel gehandhabt. Aufgrund von Rezensionen und Konzertzetteln, die zum Teil nur zwei Solistinnen nennen, lässt sich jedoch keine zuverlässige Aussage darüber treffen. Schließlich sind auf dem Theaterzettel der ersten Berliner Aufführung ebenfalls nur drei der vier Soli genannt. Eine große Anzahl weiterer Gesangsstimmen im Staatsopernbestand des Landesarchivs Berlin ist irrtümlicherweise ebenfalls als Tauberts Medea katalogisiert.338 b) Textstruktur und Funktion des Chores Thomas Paulsen schreibt zur Funktion des Chores in der griechischen Tragödie: »[...] im Falle des Euripides gehört es zu den populärsten Forschungsirrtümern, daß der Chor für ihn ein von der Tradition vorgegebenes notwendiges Übel gewesen sei.«339 Schuld an dieser Fehldeutung ist die Forderung, die Aristoteles - die Funktion des Chores im dramatischen Kontext betreffend - aufstellt: Den Chor muß man ebenso einbeziehen wie einen der Schauspieler, und er muß ein Teil des Ganzen sein und sich an der Handlung beteiligen - nicht wie bei Euripides, sondern wie bei Sophokles.340 So beruft sich neben vielen anderen auch August Wilhelm Schlegel auf diesen Satz, um seine Kritik an Euripides' Behandlung des Chores zu untermauern:

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Die Bedeutung dieser Korrektur wird in Kapitel V.4.C. erläutert. Landesarchiv Berlin (Signatur: A Rep. 167 N-IO95). Die insgesamt 71 Gesangsstimmen einer völlig anderen Komposition mit dem Titel Medea stammen aus späterer Zeit. Es handelt sich hierbei um 19 Stimmen Sopran 1,13 Stimmen Sopran II (bzw. Alt), 10 Stimmen Tenor I, 7 Stimmen Tenor II, 7 Stimmen Bass I und 15 Stimmen Bass II. Diese Komposition besteht aus vierzehn Nummern, verteilt auf drei Akte. Wie aus den Datierungen einiger der Stimmen hervorgeht, waren sie für eine Aufführung am 3. Oktober 1872 verwendet worden. Der Aufführungsort ist nicht vermerkt, jedoch die Auffuhrungsdauer mit einer Stunde angegeben. In den Berliner Tageszeitungen Anfang Oktober 1872 findet sich kein Hinweis auf eine Aufführung der Medea. 339 Paulsen: Die Funktionen des Chores in der Attischen Tragödie, S. 70. '4° Aristoteles: Poetik, 14563 [25], S. j8f. 338

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Der Chor wird bei ihm meistens zu einem außerwesentlichen Schmuck: seine Gesänge sind oft episodisch, ohne Bezug auf die Handlung, mehr glänzend als schwungvoll und wahrhaft begeistert.34'

Über den griechischen Chor äußert sich Goethe Anfang des 19. Jahrhunderts in einem Brief an Zelter, wobei er späte euripideische Werke als Beispiele anführt: [...] der Chor erscheint oft als ein lästiges Herkommen, als ein aufgeerbtes Inventarienstück. Er wird unnöthig und also, in einem lebendigen poetischen Ganzen, gleich unnütz, lästig und zerstörend [...].342

Gerade Euripides scheint wegen seiner Behandlung des Chores der neuzeitlichen Dramatik näher zu stehen als seine Vorgänger Aischylos und Sophokles. »Die Alten hatten den Chor zur Seite, da sie öffentlich lebten, die Neuern ließen sich im Innern Vertraute gefallen.«343 Der griechische Chor als Freund, Vertrauter, Sympathieträger - diese Funktion, die dem dramatischen Verständnis des 18. und 19. Jahrhunderts entgegenkam, erfüllt der Chor in einem Großteil der Werke des Euripides.344 Auf diese Besonderheit der euripideischen Chöre weist auch Rellstab hin, der anlässlich der Potsdamer Erstaufführung der Medea schreibt: Der Chor in diesem Trauerspiel ist ungleich persönlicher als in der Antigone, er erhebt sich weniger zu freier allgemeiner Anschauung, als er durchaus ein Vertrauter der Medea ist, ihre geheimsten Pläne kennt, gewissermaßen ihre Beichte empfängt, und dieselbe ebenso verletzlich bewahrt, wie dies in der christlichen Beichte gefordert wird. Er entfernt sich dadurch in gleichem Maaße von dem reinen musikalischen Element, geht fast in die Bedeutung des Dialogs über, entwickelt sich häufig nur auf dem Weg des Gedankens, durch Verstandesschlüsse, wobei die unmittelbare Empfindung ganz zurücktritt.'4'

Nach Geppert gibt es in Medea nur ein Chorlied, auf das die Schlegelsche Kritik zuträfe, wenn nämlich »der Chor Betrachtungen darüber anstellt, ob der Kindersegen überhaupt ein Glück für die Eltern wäre [...]. Dieses Stück bildet dem Inhalt und der Form nach einen sehr entbehrlichen Bestandtheil unseres Stückes und erinnert zumal in seiner Singularität sehr an die durch Agathon aufgebrachte Unsitte.«340 Erst in neuerer Zeit ist das durch Aristoteles hervorgerufene Missverständnis endgültig aufgeklärt und die These, Euripides habe den Chor als notwendiges Übel betrachtet,

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Schlegel: Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur, S. 104. Goethe an Zelter (28. Juli 1803), zitiert nach Riemer: Briefwechsel zwischen Zelter und Goethe in den Jahren 1796 bis 1832, i. Teil, S. 69. Goethe: Indicazione di cio ehe nel 1819 si e fatto in Italia. WA I, 41/1, S. 236f. Die Ablösung des antiken Chore durch die Figur des Vertrauten kritisiert Friedrich Schiller in seiner Vorrede zur Braut von Messina: »Die Abschaffung des Chors und die Zusammenziehung dieses sinnlich mächtigen Organs in die charakterlose langweilig wiederkehrende Figur eines ärmlichen Vertrauten war also keine so große Verbesserung der Tragödie als die Franzosen und ihre Nachbeter sich eingebildet haben.« Schiller: Über den Gebrauch des Chors in der Tragödie. NA, Band 10, S. 11/14-18. Königlich Privilegirte Berlinische Zeitung, No. 184 (9. August 1843). Geppert: Über die Aufführung der Medea des Euripides zu Athen, S. 21.

widerlegt worden.347 Im Unterschied zu den beiden älteren Tragikern hat Euripides auf vielfältige Weise mit den Möglichkeiten des Chores experimentiert. Ohne an dieser Stelle im Detail darauf einzugehen, lässt sich grundsätzlich für die euripideischen Tragödie feststellen: Zum einen haben alle Chorlieder an ihrem jeweiligen Platz einen Sinn und sind durchwegs handlungsbezogen, ohne so fest mit den sie umgebenden Szenen verklammert zu sein wie bei Aischylos und Sophokles [...]; zum anderen stehen Euripides' Chöre fast immer auf der Seite der Bedrängten, in Not Befindlichen, [...] und sie sind damit — ganz anders als generell bei Sophokles und oft bei Aischylos - Instrumente der Sympathielenkung des Dichters.'48

Indem der Chor eindeutig Stellung bezieht, erfüllt er zwangsläufig eine Funktion innerhalb des dramatischen Geschehens und kann deshalb keineswegs als »außerwesentlicher Schmuck« bezeichnet werden. Der Chor in der Medea, bestehend aus korinthischen Frauen, bringt der leidenden Titelheldin größte Sympathie entgegen. Die Frauen versuchen in der Parodos, Medea freundschaftlichen Trost zu spenden, verkennen jedoch gänzlich ihren außerordentlichen Charakter und können daher nur unangemessene Ratschläge erteilen. Indem Euripides hier den Chor in seiner Mittelmäßigkeit und Unzulänglichkeit darstellt, behandelt er ihn durchaus im sophokleischen Sinne wie bereits am Beispiel der Antigone beschrieben. Durch die Unfähigkeit der Frauen, Medeas Situation angemessen zu beurteilen, wird die Distanz zwischen der Heldin und ihren Vertrauten vergrößert (dies trifft ebenso auf Medeas Verhältnis zur Amme zu); das Leid und die Einsamkeit Medeas gewinnt dadurch eine andere Dimension. Allein schon durch diese Charakterisierung zeigt sich, dass der Chor als notwendiges Element im dramatischen Zusammenhang zu betrachten ist. Ebenso wie Antigone enthält auch Medea, die etwa zehn Jahre später, 431 v. Chr., aufgeführt wurde, fünf Stasima (bei Taubert No. za, No. 3, No. 5, No. 6 und No. 8), die formal die Funktion erfüllen, den Handlungsablauf zu gliedern. Dazu kommen, von der Parodos und einem kurzen Schlussgesang abgesehen, drei zusätzliche Einwürfe des Chores in Form von anapästischen »Rezitativen« (No. 2, No. 4 und No. 7). Ungewöhnlich ist der Aufbau der Parodos, die auf den aus zwei Szenen bestehenden Prolog folgt. Wie in Ödipus in Kolonos liegt hier kein geschlossenes Chorlied vor.349 Nach der 347

Grundlegend ist hier die Arbeit von Hose: Studien zum Chor bei Euripides. Paulsen: Die Funktionen des Chores in der Attischen Tragödie, S. 82. 349 Vgl. dazu Hose: Studien zum Chor bei Euripides, Teil i, S. 172: »Euripides beschreitet damit einen Weg, der zu dem des Sophokles entgegengesetzt ist. Sein älterer Zeitgenosse verwendet in den drei erhaltenen Stücken des Spätwerks [...] konsequent die Form einer amoibaiischen Parodos, läßt also den Chor deutlich auf die konkrete Situation eingehen, wohingegen er in der Mitte seines Schaffens monodische Parodoi bevorzugte, die dem euripideischen Spätwerk vergleichbare Stimmungsbilder [...] zeichneten. Beim späten Sophokles wird (oder bleibt) der Chor aufgrund seiner Einführung in das Stück in die Handlung einbezogen, er ist ein Mitspieler. Bei Euripides beginnt sich die Verbindung von Chor und Handlung in den späten Stücken zu lösen, nicht etwa, weil der Dichter den Chor nicht mehr in die Handlung einbeziehen konnte, schließlich spielt der amoibaiische Chor im >Orestes< (408) durchaus 348

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zweiten Prologszene, dem Dialog zwischen der Amme und dem Pädagogen (in Donners Übersetzung »Hofmeister« genannt), gehören die ersten lyrischen Äußerungen Medea (im Inneren des Hauses) und der Amme, wobei - wie Martin Hose hervorgehoben hat - die Amme spricht (rezitativische Anapäste), Medea aber singt (melische Anapäste).350 Ihre Klage, deren Pathos durch den Gesang verstärkt wird, motiviert den Auftritt der Frauen. Der anschließende Gesang des Chores, der aus einer Proode, einem Strophenpaar und einer Epode besteht, wird jeweils unterbrochen von anapästischen Einwürfen der Amme und Medeas. Wie im Ödipus in Kolonos sind zwei Schauspieler an dieser epirrhematischen Szene beteiligt, allerdings mit dem Unterschied, dass in der Medea kein Gespräch zwischen allen drei Beteiligten stattfindet. Während der Chor und die Amme die eigentlichen Dialogpartner sind, ist Medea, die sich hinter der Bühne befindet, in doppelter Weise mit der Szene verbunden: zum einen singt sie, wie der Chor, zum anderen ist ihr mit der Amme das anapästischen Metrum gemeinsam. Die Bitte des Chores, Medea vors Haus zu bringen, motiviert schließlich ihren Auftritt und damit den eigentlichen Beginn der Handlung. Mit dieser komplexen Form der Parodos gelingt es Euripides, zum einen das Geschehen in Gang zu bringen, zum anderen die Situation Medeas, ihr Leiden, eindrucksvoll darzustellen.351 Wie für die Parodos lässt sich auch für die fünf Stasima der Medea, die jeweils aus zwei Strophenpaaren bestehen, eine enge Verbindung zum szenischen Geschehen nachweisen. Erstes und zweites Stasimon weisen hinsichtlich ihrer Funktion Ähnlichkeiten auf, indem der Chor jeweils auf das vorangegangene Geschehen reagiert und seinem Mitleid mit Medea Ausdruck verleiht. Außerdem tragen beide Lieder »in lyrischer Form dazu bei, dem Zuschauer die Figur Medea und die Motive, die sie zu ihrem grauenvollen Handeln treiben, plausibel zu machen.«351 Im dritten Stasimon versucht der Chor, Medea vom Kindermord abzuhalten; dieses Verhalten ist insofern konsequent, weil sich die korinthischen Frauen eingangs als Freunde Medeas dargestellt hatten. Für kurze Zeit entsteht der trügerische Eindruck, dass Medea vom Mord abgehalten werden könne. Wie auch schon die vorhergehenden Lieder, so stellt auch dieses Stasimon, das mit einer Preisung Athens - der Stadt, wo Medea Asyl erhalten soll - beginnt, eine Verbindung zwischen den Epeisodia her. Hinsichtlich ihrer dramatischen Funktion unterscheiden sich das vierte und fünfte Stasimon von den vorangegangenen: Beide Lieder nehmen direkten Bezug auf das

eine Rolle als Mitspieler. Vielmehr scheint ihn diese Funktion des Chores im Stück nicht mehr interessiert oder nicht mehr befriedigt zu haben, und deshalb gab er sie zugunsten einer neuen Konzeption auf.« 350 Vgl. ebd., S. 54. Siehe hierzu auch Blume: Einfuhrung in das antike Theaterwesen, S. 104: »Einen ambivalenten Charakter haben die anapästischen Dimeter. Dieses Versmaß verwendet Aischylos gern für den Einzug des Chors in die Orchestra, weil es sich wegen seines streng regelmäßigen Baus gut zum taktmäßigen Marschieren eignet (sog. Marschanapäste); diese Verse werden zur Aulosbegleitung allein vom Chorführer vorgetragen. Dieselben anapästischen Dimeter weisen anderswo, und zwar in Chor- wie in Solopartien, dorische Dialektfärbung auf (sog. Lyrische oder Klage-Anapäste); hier handelt es sich also um gesungene Lieder.« 351 Vgl. Hose: Studien zum Chor bei Euripides, Teil i, S. 53ff. »z Ebd., Teil 2, S. 83.

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gleichzeitig stattfindende, hinterszenische Geschehen. Im vierten Stasimon wird der Mord an Jasons Braut dargestellt und an die Folgen erinnert. Das fünfte Stasimon beinhaltet gleichsam als »akustische Inszenierung«353 den Mord an den Kindern. Damit sind diese beiden Chorlieder in besonderem Maße mit der Handlung der Tragödie verbunden. c) Aufbau der Komposition Aus der Beschreibung der Textstruktur ist zu ersehen, dass der Chor bei Euripides auf vielfältige Weise - auch außerhalb der »gewöhnlichen« Chorlieder - zu Wort kommt. Für den Komponisten hätte nun die Möglichkeit bestanden, diese anapästischen, nichtstrophischen Partien kompositorisch von den strophischen Chorliedern abzusetzen. Mendelssohn, der die strophische Responsion der Chorlieder in der Regel beachtete, hätte hier sicher nach adäquaten Formen gesucht. Taubert geht anders vor. Im Unterschied zu Mendelssohn orientiert er sich selten an der vom Originaltext vorgegebenen Einteilung in Strophe und Gegenstrophe. Bezeichnenderweise sind diese in seiner Partitur auch nicht eingetragen. Musikalische Wiederholungen, entsprechend der metrischen Responsion, sind in der Komposition eher die Ausnahme. In vielen Fällen lässt weder die Melodieführung noch die Verteilung des Textes auf die beiden Chöre bzw. auf die vier Solistinnen den strophischen Aufbau der Dichtung überhaupt erkennen. Während jedoch die daraus resultierende kompositorische Vielfältigkeit in den Augen der zeitgenössischen Kritik gerade den Reiz der Komposition ausmacht, urteilt 25 Jahre später der Rezensent der Allgemeinen Musikalischen Zeitung. [...] er löst den Chor absichtlich in den Gesang einzelner Solostimmen auf, so dass wir fast niemals (so schön und ausdrucksvoll er auch oft in seinen Melodien ist) zu dem Genüsse kommen, eine Strophe in dem vom Dichter beabsichtigten Zusammenhange zu hören und als ein Ganzes zu empfinden. [...] Und mit diesem ganz unmotivirten Wechsel der Stimmen hängt natürlich zusammen, dass der Komponist die antistrophische Responsion gar nicht beachten kann. Denn anstatt eine zusammenhängende, fliessende Melodie zu erfinden, bringt er lauter kleine Sätzchen zu Tage [...].354

Tauberts Vorgehensweise in der Behandlung des ursprünglich strophischen Aufbaus der Chorlieder sei an einigen Beispielen genauer untersucht. No. 3 (»Wenn Liebe sich über das Ziel verirrte«) besteht aus zwei Strophenpaaren; das erste Strophenpaar wird rein solistisch vorgetragen, Solo i singt die Strophe, Solo i die Gegenstrophe.'55 Soweit scheint dem Ganzen noch ein sttukturelles Prinzip, das sich an der strophischen Einteilung orientiert, zugrunde zu liegen, auch wenn sich Strophe und Gegenstrophe in Melodiebildung und Orchestersatz in keiner Weise entsprechen. Schon die unterschiedliche Tempobezeichnung macht dies deutlich: Andantino in '» Ebd., Teil 2, S. 88. 354 355

Allgemeine Musikalische Zeitung 3, Nr. 46 (n. November 1868), S. 362. In der Abschrift wurde Solo 2 in Solo 3 korrigiert. 187

der Strophe und un poco piu Animate in der Gegenstrophe. Mit Beginn der zweiten Strophe (Moderate espressivo) beschleunigt sich das Tempo abermals; hier werden nun die Chorstimmen additiv eingefädelt, d. h. zu klanglicher Steigerung genutzt. Die ersten fünf Verse, die der erste Sopran beider Chöre unisono vorträgt, werden von zart geführten Holzbläsern und der Harfe begleitet, vom pizzicato der Streicher unterstützt. Die Harfe, die hier zum ersten Mal in der gesamten Komposition erklingt, erzeugt ein warmes, man möchte sagen »familiäres« Klangbild: »Heimisches Land, väterlich Haus, nie mög' ich von euch verbannt sein [...]«. In genau diesem Teil wiederholt die Gegenstrophe exakt die Strophe, mit dem Unterschied, dass nur noch der erste Sopran des zweiten Chores singt. Auch der darauffolgende Einsatz des Chores entspricht anfangs dem zwölftaktigen Teil der Strophe, wird dann aber melodisch anders weitergeführt und durch die Wiederholung eines Wortes und des die Gegenstrophe abschließenden Satzes »Nie werd' ich des Mannes Freund sein.« um fünf Takte verlängert. Im Nachspiel wird das Motiv der Harfe ein drittes Mal wiederholt. Auch die beiden folgenden Stasima No. 5 (»Wie wird dich ein gastliches Land«) und No. 6 (»Nun hoff ich die Söhne nicht lebend mehr zu schaun«) bestehen aus jeweils zwei Strophenpaaren. Jedoch hat Taubert in beiden Liedern ein Strophenpaar gestrichen und sie so wohl auf den seiner Ansicht nach wesentlichen Inhalt reduziert.350 No. 5 beginnt mit der zweiten Strophe (Chor I und II unisono, dann dreistimmig); die Gegenstrophe stellt nur in den ersten drei Versen eine Wiederholung der Strophe dar, die instrumentale Begleitung ist in den Streichern verändert; im jeweils nächsten Vers ist der musikalische Akzent in ähnlicher Weise auf die beiden Worte »Mörderinn« (Vers 825 - Strophe) und »Morde« (Vers 835 - Gegenstrophe) gelegt, die sich innerhalb des Verses an unterschiedlichen Stellen befinden. Auf diese Weise stellt Taubert zwar keine exakte Responsion her, hebt aber so den inhaltlichen Zusammenhang hervor. Mit dem letzten Satz der Gegenstrophe »Du kannst nicht, wenn flehend die Söhn' hinsinken, du kannst nicht die blut'ge That gleichmüthig vollenden!« geht Taubert in immer neuen, an verschiedenen Worten des Textes ansetzenden Wiederholungen, bis hin zu textlichen Überlappungen, so frei um, dass jede strophische Struktur zugunsten einer opernhaften Beschwörungsszene geopfert wird. Der Text ist in dieser Passage zum Teil durch Bothe so ersetzt worden, dass der Sinnzusammenhang - zumal im Chorgesang - deutlicher hervortritt.357 "6 Der Rezensent der Allgemeinen Musikalischen Zeitunglässt hierüber seiner Empörung freien Lauf: »Dann müssen wir aber noch bemerken, dass der Komponist nach unsern Begriffen überhaupt nicht respektvoll genug mit dem Gedichte selbst umgegangen ist. Bei der Komposition eines solchen Werkes muss der Musiker ganz objektiv verfahren und sich als erste Aufgabe hinstellen, durch seine Komposition die Worte des Dichters dem Hörer verständlicher und eindringlicher zu machen. Dies schliesst natürlich jede eigenmächtige Aenderung und Kürzung des Textes aus. Taubert verfahrt aber gerade in diesem Punkte sehr frei, ja er geht hierin soweit, dass er an zwei Stellen ein ganzes Strophenpaar über Bord wirft, und namentlich das erste Mal hierdurch die Intentionen des Dichters entschieden beeinträchtigt.« Gemeint ist hier die Schilderung Athens, die einen Kontrast zu der von Medea geplanten Tat bildet. Allgemeine Musikalische Zeitung 3, Nr. 46 (u. November 1868), S. 362. 357 Bei Donner heißt es: »Du kannst nicht, wenn flehend vor dir die Knaben hinsinken, das Blutige gleichmüthig vollenden!« (Vers 839—841, Donner: Medeia, S. 33).

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In No. 6 lässt Taubert das zweite Strophenpaar weggefallen, in dem der Chor, nachdem er im ersten Strophenpaar das Los der Kinder sowie der Braut schildert, zuerst Jasons, dann Medeas Schicksal beklagt. Ähnlich wie in No. 5 ist eine Responsion im komponierten Strophenpaar nur bedingt zu erkennen. No. 8 (»Weh! Erd und alleuchtender Strahl des Helios«) eröffnet ein Strophenpaar, dann geht die Szene in den Kindermord über. Die Strophe lässt Taubert den Chor singen, die Gegenstrophe wechselt zunächst zwischen den vier Soli. Für die letzten drei Verse setzt wiederum der gesamte Chor ein, der Text wird, wie schon mehrfach angewandt, in Teilen wiederholt, dann aber inmitten eines großen crescendo äußerst effektvoll durch den ersten Kinderschrei von innen abgebrochen. Eine echte musikalische Wiederholung, die den strophischen Aufbau des Chorliedes wiedergibt, weist lediglich das erste Stasimon, No. ia (»Die Quellen der heiligen Ströme«) auf. Das Lied besteht aus zwei Strophenpaaren. Die erste Strophe beginnt Chor I, zunächst auf einer Tonhöhe deklamierend. Aus der Deklamation, die - von der wenig antikisierenden Instrumentalbegleitung (/)izzzcGottfried Hermanne In: Neue Jahrbücher für Philologie und Pädagogik 113 (1876), zitiert nach Weiss: Unbekannte Zeugnisse zu den Leipziger Aufführungen von Felix Mendelssohn Bartholdys Bühnenmusik zur Antigone in den Jahren 1841 und 1842, S. 56. Vgl. Kapitel VIII.i. »* Vgl. Kapitel III.i. 393 Mendelssohn an Henriette von Pereira-Arnstein (3. Juli 1831), zitiert nach Mendelssohn Bartholdy: Briefe aus den Jahren 1830-47, S. 150. ™ Vgl. Kapitel VI.i. 395 Mahling: Art. »Orchester«. In: MGG2, Sachteil, Band 7, S. 823. 396 Ebd., S. 824. 199

Dirigenten angeordnet. Eine Sitzordnung des Berliner Opernorchesters 1840 weist den Streichern die Plätze vor dem Dirigenten, den Bläsern die hinter den Streichern zu.397 Doch beides, ein Dirigat aus der Mitte und eine geschlossene Orchesterformation, war bei den Aufführungen im Theater im Neuen Palais nicht möglich. Mendelssohn wird die Kompositionen zu Antigone und Ödipus in Kolonos schwerlich für irgend einen normal großen Orchesterraum konzipiert haben, um sich dann in der Praxis der Proben und Aufführungen im Theater im Neuen Palais vor möglicherweise unlösbare Probleme gestellt zu sehen. An den Partituren zu Antigone und Ödipus in Kolonos lässt sich jedoch die Bewältigung der Raumprobleme eindeutig ablesen, mit verblüffenden Ergebnissen für den Klang der Aufführungen. Zum einen ist eine für den Komponisten Mendelssohn nicht typische, häufige Verdoppelung von melodisch wichtigen Phrasen der Streicher durch die Holzbläser zu beobachten. Allein in der Ouvertüre zur Antigone sind alle melodischen Einsätze der Streicher (im Andante maestoso ebenso wie im Allegro) mit Holzbläsern gekoppelt. Das verweist auf folgendes: Die ohnehin nicht große Streicherbesetzung der Zeit musste aufgrund von Platzmangel weiter ausgedünnt werden; so werden die Holzbläser immer wieder auch klangstützend eingesetzt. Eine Besetzung der Streicher von drei i. Violinen, jeweils zwei 2. Violinen, Bratschen, Violoncelli und einem Kontrabass kommt dem Klangbild und den räumlichen Möglichkeiten der Potsdamer Aufführungen sicher näher als jede größere Besetzung. Für Antigone und Ödipus in Kolonos lässt sich die genaue Zahl der Instrumentalisten bislang nicht ermitteln, dagegen sind für Tauberts Medea, die sich ja mit den gleichen Raumproblemen konfrontiert sah, Orchesterstimmen erhalten.398 Hieraus lässt sich eine Besetzung von 12 Streichern und 13 Bläsern ermitteln. Da Mendelssohn jedoch in seinen Sophokles Vertonungen 15 Bläser besetzt, wird er aus beweisbarem Platzmangel den Streicherapparat zur klanglichen Ausbalancierung kaum vergrößert haben können. Die oben beschriebene spezielle Instrumentation dieser Schauspielkompositionen ermöglicht aber eine kleine Streicherbesetzung. Dass Taubert für die Medea ebenfalls mit einer kleinen Streicherbesetzung auskommen und das Orchester teilen musste, findet in seiner herkömmlich instrumentierten Partitur allerdings keinen spezifischen Niederschlag. Viel klangbestimmender in den Kompositionen Mendelssohns ist jedoch noch etwas Anderes: Auffällig an den Partituren zu Antigone und Ödipus in Kolonos ist eine instrumentale Mehrchörigkeit, die eigentlich erst mit Anton Bruckner (1824-1896) Eingang in die Musik findet und dort als klangliche Nachahmung der Orgelwerke im großen Orchester beschrieben werden kann.399 One striking aspect of the scorings in the Sophocles plays is the use of orchestral combinations as rather static blocks, not unlike organ registrations, changing according to structural sections of the choruses. This becomes an important means for articulating strophe from

397 Ebd., S. 827 398 Vgl. Kapitel V.4.a. 399 Blume: Art. »Bruckner«. In: MGG, Band 2, S. 372. 200

antistrophe, on the one hand, as well as for providing contrasts between sections in which the vocal parts are more or less direct repetitions.400

Wie das Orchester im Theater im Neuen Palais aus Raumgründen geteilt wurde, beschreibt Mendelssohns Instrumentation eindeutig: So virtuos, wie die Streicher - auch die Bratschen - oft rhythmisch ineinander verzahnt sind,401 sind sie absolut unmöglich getrennt zu setzen. Die Harfe ist so in die Partitur einbezogen, dass sie auf der Seite der Streicher plaziert werden muss. Also saßen auf der einen Seite Streicher und Harfe, auf der anderen Seite der Orchestra, etwa um 8 m getrennt, die Bläser mit den Pauken. Die Aufstellung ergibt einen besonderen Klangreiz. Liest man daraufhin die Partituren beider Stücke, so erschließt sich ein stereophones Klangbild, mit ständig wechselnden, räumlich angeordneten, sich in immer neuen Kopplungen verändernden Klangfarben. Bedenkt man zusätzlich, dass der Chor ja stets in der zentral gelegenen Orchestra gesungen und agiert hat, so ergibt sich zusammen mit der räumlich-klanglichen Trennung der Orchesterfarben ein Klangbild, das zu rekonstruieren sich lohnen würde. Da bisher jedoch diese auffiihrungspraktischen Aspekte nicht wahrgenommen worden sind, haben die vorliegenden Einspielungen weder in der Besetzung der Streicher noch in der klanglichen Aufstellung der Instrumentengruppen den besonderen Reiz der Partituren auch nur annähernd beleben können.402

400

Seaton: Mendelssohn's Dramatic Music. In: Seaton: The Mendelssohn Companion, S. 197.

401

Nur eines von vielen Beispielen: No. 6 der Antigone, Partitur S. S/ff. Der gleiche Tatbestand gilt auch für die Holzbläser. Dass Mendelssohn, der den komplizierten Klangapparat (von einer Seite her und möglichst unsichtbar!) dirigentisch zusammenhalten musste, bei späteren Aufführungen in Leipzig und Berlin wieder zur normalen Orchesteraufstellung zurückkehrt, mit sich als Dirigenten in der Mitte, ist bei der außerordentlichen Kompliziertheit der Potsdamer Unternehmung mehr als verständlich. Vgl. Kapitel VI.i.

401

2OI

VI. Ausstattung

Die Aufgabe, die Tieck mit der Inszenierung griechischer Tragödien gestellt wurde, verlangte die Beschäftigung mit unterschiedlichen Aspekten des antiken Theaters: Drei große Fragen sind es vornehmlich, die sich bei Lösung der Aufgabe darbieten: Einrichtung des Theaters; die Masken; Behandlung der Chöre.1

Die Wiederherstellung der antiken Aufruhrungsbedingungen schien sich am leichtesten in Bezug auf Bühne und Kostüme verwirklichen zu lassen, denn im Unterschied zur Problematik der musikalischen Gestaltung stand für Fragen der Ausstattung ausreichend Quellenmaterial zur Verfugung. Nicht zuletzt garantierte die Mitarbeit Böckhs, dass in diesem Bereich der aktuelle Stand der Wissenschaft berücksichtigt wurde. Grundlage dieses Rekonstruktionsversuchs bildete das 1818 von dem Architekten und Archäologen Hans Christian Genelli (ij6^,-i%x^ veröffentlichte Werk Das Theater zu Athen, das zu diesem Zeitpunkt immer noch als »Maß unserer Kenntnis der Griechischen BühnenEinrichtung« galt.3 Neben der Beschreibung von Theaterbau, Szenerie und Kostümen enthält dieses Buch Abbildungen verschiedener Ansichten des griechischen Theaters.

i. Bühnenarchitektur Genellis Untersuchungen zum griechischen Theater basieren auf den Angaben, die Vitruv in seinem -bändigem Werk De architectura zum antiken Theaterbau macht:4 Der runde Tanzplatz, die Orchestra, wurde auf der einen Seite vom Zuschauerraum, dem Theatron, umschlossen, dessen konzentrische Sitzreihen »in Stufenfolge Berg an

Von Willisen an Tieck (20. Februar 1841), zitiert nach Holtei: Briefe an Ludwig Tieck, Band IV, S. 168. Tieck war mit Genelli aus seinen Ziebinger Zeiten bekannt gewesen. Dies bestätigt der Archäologe Toelken. Vgl. Böckh/Toelken/Förster: Über die Antigone des Sophokles und ihre Darstellung auf dem königlichen Schloßtheater im neuen Palais bei Sanssouci, S. 50 f. Auch Schlegel bezieht sich in seiner Vorlesung Über dramatische Kunst und Literatur auf Genellis, zum damaligen Zeitpunkt noch nicht veröffentlichte Werk. Da die Ausgrabungen des Dionysostheaters in Athen erst 1841 begannen - zunächst mit geringem Erfolg (1867 gelang es dem Architekten Johann Heinrich Strack, die ersten Sitzstufen freizulegen) -, konnten die Angaben Genellis bzw. Vitruvs zum Zeitpunkt der Potsdamer Aufführungen noch nicht überprüft werden. Vgl. Burmeister: Antike Theater in Attika und auf dem Peleponnes, S. 66. Vitruv: De architectura, 5. Buch, Kap. 3-9. 202

liefen und mithin eine halbe Trichterform bildeten.«5 Auf der gegenüberliegenden Seite wird die Orchestra durch die Skene, das Bühnengebäude, begrenzt. Die Front der Skene war auf der Tangente des Kreises errichtet, der die Orchestra bildete. Davor befanden sich das Proskenion und die schmale Bühne, das Logeion. Dadurch wurde vom Kreis der Orchestra ein Segment abgeschnitten; die Form der Orchestra stellte also keinen vollen, sondern einen angeschnittenen Kreis dar.6 Die Höhe der Bühne betrug 10 bis 12 Fuß. Die Vorderseite des Bühnengebäudes war in zwei oder drei Geschosse unterteilt und besaß drei Türen, wobei »die Mitteltür den Schmuck eines Königspalastes hat; rechts und links liegen die Gastwohnungen.«7 An beiden Seiten des Proskenions befanden sich dreiseitige, drehbare DekorationsMaschinen, die Periakten. Vitruv nennt für das Theater drei verschiedene Arten der Dekoration: die tragische, die komische und die satyrische. Die tragische Dekoration besteht aus »Säulen, Giebeln, Bildsäulen und den übrigen Gegenständen, die zu einem Königspalast gehören.«8 In der Mitte der Orchestra, die einen öffentlichen Platz darstellte, war auf Stufen ein Altar errichtet, die Thymele. Der Vorhang, die Aulaia, konnte »nicht wie bei uns aufgezogen werden [...]; sondern ganz im Gegentheil, wenn bei uns der Vorhang fällt, mußte er auf der Bühne der Alten aufgezogen werden, und er mußte fallen, wenn wir ihn aufziehen.« Die herabgefallene Aulaia wurde unter dem Logeion aufgerollt, »weshalb dasselbe längs dem Proskenion einen Riz haben mußte, durch welchen jene in die Höhe ging, und den ihr oberer Rand deckte, so lange sie herabgelassen war.«9 Man glaubte - die Ausgrabungen des Dionysostheaters in Athen hatten noch nicht begonnen -, dass Vitruv in seinem Werk das griechische Theater beschreibt, wie es zur Zeit der drei großen Tragödiendichter ausgesehen habe.10 Inzwischen weiß man jedoch, dass Vitruv nur das hellenistische Theater vor Augen hatte. Wie die neuere Forschung zeigt, besaß die Orchestra im 5. Jahrhundert eine rechteckige Form; entsprechend waren die Reihen des Theatron nicht gebogen, sondern geradlinig. Der Zuschauerraum bestand aus einfachen Holzbänken und einer steinernen Prohedrie, den Ehrensitzen. Über die Skene der Frühzeit ist nichts bekannt; wahrscheinlich handelte es sich um ein einfaches, hölzernes Gebäude." Die kreisrunde Orchestra ' *

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Genelli: Das Theater zu Athen, S. 36. Siehe Abbildung 2 (Genelli: Das Theater zu Athen, Tafel I). Im Unterschied dazu beschreibt Vitruv die römische Orchestra als Halbkreis. »So wird ein größerer Bühnenraum geschaffen als beim Theater der Griechen.« Vitruv: De architectura, S. 229. Ebd., S. 233. Ebd., S. 235. Genelli: Das Theater zu Athen, S. 54?. Genellis Beschreibung des Theatervorhangs entspricht durchaus dem Kenntnisstand seiner Zeit. Dass das griechische Theater überhaupt keinen Vorhang kannte, war Genelli nicht bewusst. Erst für das römische Theater (etwa im i. Jahrhundert v. Chr.) ist die Verwendung eines Theatervorhangs bezeugt. Vgl. Radke-Stegh: Der Theatervorhang, S. 55-87. De architectura entstand etwa zwischen 26 und 23 v. Chr. Vgl. Goette: Griechischer Theaterbau der Klassik— Forschungsstand und Fragestellungen, S. 22ff. und Lohmann: Zur baugeschichtlichen Entwicklung des antiken Theaters, S. 191—215. 203

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und der muschelförmige Zuschauerraum sind erst eine Erfindung der Spätklassik. Mitte des 4. Jahrhunderts, zwischen 340 und 330 v. Chr., wurde das Dionysostheater unter Lykurg umgebaut. Das lykurgische Theater besaß ein Bühnenhaus aus Stein und eine runde Orchestra; kreisförmig gebogene, steinerne Sitzstufen bildeten den Zuschauerraum. Die heute noch sichtbaren Reste des Dionysostheaters stammen weitgehend aus römischer Zeit. Laut Theaterzettel zur Antigone11 war für die Gestaltung des Bühnenraums der Dekorationsmaler der Königlichen Schauspiele, Johann Karl Jakob Gerst (1792-1854), verantwortlich. Von seiner Hand ist ein einziger Entwurf erhalten, der Aufschluss über die Verwandlung des vorhandenen Theaters in ein »antikes« gibt.'3 Bei der Analyse der Bühnenverhältnisse muss jedoch berücksichtigt werden, dass sich der von Gerst signierte Bühnenplan aus dem Jahr 1842 weder auf das Theater im Neuen Palais noch auf das Berliner Schauspielhaus bezieht. Auch wenn auf dem Blatt nähere Angaben zu Inszenierung und Spielort fehlen, so ist doch unschwer zu erkennen, dass dem Entwurf die räumlichen Gegebenheiten des Potsdamer Stadttheaters zugrunde liegen, wo Antigone ein einziges Mal gegeben wurde.14 Das Stadttheater, das Friedrich Wilhelm II. in der Zeit von 1793 bis 1796 vermutlich von Michael Philipp Boumann d. J. (gest. 1803) erbauen ließ,'5 wurde in der Tat gelegentlich »von dem Personale des Berliner Hoftheaters« bespielt.'6 Das Blatt enthält Grundriss, Längsschnitt und Querschnitt von Bühne und Zuschauerraum, darüber hinaus einen Entwurf für den Vorhang. Tieck hatte bereits in einem Brief an Willisen vom 14. April 1841 die zweigeteilte Bühnenarchitektur des griechischen Theaters - also die Nachbildung von Orchestra und Skene - als unerlässlich erachtet, wobei von der Orchestra »Stufen [...] zur Bühne von unten hinaufführen« müssten.17 Vgl. Anhang Xl.i.a. Vgl. Abbildung 3. Staatliche Museen zu Berlin, Kunstbibliothek, Inventar-Nr.: Lipp-HdZ 2448. Das Blatt ist inventarisiert als »Bühnenbildentwurf mit antiker Tempelfassade; Grundriß und Teil-Längsschnitt des Theaters«. Vgl. Schäffer/Hartmann: Die königlichen Theater in Berlin, S. 5. Der hier zugrunde gelegte Theaterraum ist mit dem des Bühnenbildentwurfs zu Athalia identisch. Dass es sich um einen Entwurf für das Potsdamer Stadttheater handelt, belegen auch die erhaltenen Architekturzeichnungen (s. u.). Vgl. auch den Exkurs am Ende dieses Kapitels. Die Frage der Zuschreibung ist noch ungeklärt. Acht der vorhandenen Pläne zum Stadttheater Potsdam befinden sich im Nachlass von Carl Gotthard Langhans (1732-1808), Plansammlung der TU Berlin (weitere Pläne liegen u. a. in der Kunstbibliothek der Staatlichen Museen zu Berlin, in der Plankammer der Stiftung Preußische Schlösser und Gärten Berlin-Brandenburg, vgl. Drescher/Kroll: Postdam. Ansichten aus drei Jahrhunderten, S. 53). Aus diesem Grund wird neben Boumann auch Langhans als Architekt genannt, obwohl die Pläne weder Datum noch Unterschrift tragen. Unbekannt ist bisher, aufweiche Weise diese (und andere) Zeichnungen in den Langhans-Nachlass gelangten. Um die Baugeschichte des Potsdamer Stadttheaters zu rekonstruieren, wäre eine intensive Recherche in den Aktenbeständen des Geheimen Staatsarchivs Berlin erforderlich. Cosmar: Neuester und vollständigster Wegweiser durch Potsdam und seine Umgebungen für Fremde und Einheimische, S. 35. Tieck an von Willisen (14. April 1841), Biblioteka Jagiellonska Krakow (Signatur: Aut. Ludwig Tieck, fol. 2r). 205

Abb. 3

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Um Raum für die antike Orchestra zu gewinnen, die den Angaben Genellis entsprechend einen angeschnittenen Kreis darstellt, wird die Fläche der Vorbühne durch den Einbau von Podien nach vorne hin erweitert. Sie kann über angestellte Treppen, die sich jeweils rechts und links vor dem Portal befinden, betreten werden. Der »Raum für die Musici«, die nicht mehr ihren gewöhnlichen Platz unmittelbar vor dem Portal einnehmen können, ist halbkreisförmig rings um die Orchestra markiert. Der Fußboden des eigentlichen Bühnenraums hinter dem Portal, also der antiken Skene, ist durch Podeste erhöht. Der mit Säulen verzierte Königspalast erstreckt sich hier in die Tiefe des Raums, ohne dass die vorhandene Bühnentiefe jedoch vollständig ausgenutzt würde. Die Seitenwände schließen unmittelbar an das Portal an. Die Palastarchitektur bezieht auch das Proszenium mit ein, indem die Logen mit einer Verkleidung im Stil des Palastes verdeckt werden. Die Skene ist entweder von der Orchestra aus über eine Doppeltreppe oder durch eine der insgesamt fünf Palasttüren zu betreten. Drei dieser Türen befinden sich in der Bühnenrückwand, jeweils eine in den Seitenwänden. Bei geöffnetem Mitteltor wird im Hintergrund ein Hausaltar sichtbar. Links, auf dem Platz vor dem Palast, steht ein weiterer Altar, der Apoll geweiht ist. Ein dritter Altar befindet sich schließlich im Mittelpunkt der Orchestra. Der Bühnenraum wird hinten durch einen blauen Prospekt begrenzt. Der Vorhang, der antiker Theaterkonvention entsprechend zu Beginn der Vorstellung fallen und nicht hochgezogen werden sollte, kann in eine Rille im Podestaufbau hinter dem Portal versenkt werden. Der eigens für diese Inszenierung angefertigte rote Vorhang ist durch gemalte Säulen in drei Felder unterteilt, in denen je ein Maskenschild abgebildet ist.'8 Über dem Portal ist von außen eine blaue Soffitte angebracht. Die Uhr, die sich oben in der Mitte befindet, ist durch einen goldenen Adler verdeckt. Der Entwurf für das Potsdamer Stadttheater kann indessen nicht einfach auf das Theater im Neuen Palais übertragen werden. Schließlich lagen hier, am Ort der Erstaufführung, völlig andere räumliche Gegebenheiten vor. Verschiedene zeitgenössische Beschreibungen müssen daher zur Rekonstruktion der Gestaltung von Bühne und Zuschauerraum ergänzend hinzugezogen werden. Sowohl die vorhandenen schriftlichen Zeugnisse als auch die Pläne des Theaters im Neuen Palais (vor dem Umbau von 1865) sind durch eigene Messungen an Ort und Stelle auf ihre Zuverlässigkeit hin überprüft worden.'9 Zunächst bot das Theater im Neuen Palais mit seinen amphitheatralisch angeordneten Sitzreihen für die Rekonstruktion der antiken Bühne gute Voraussetzungen.10 In der Mitte der Orchestra, die »im Halbrund in das Parterre hineingebaut [war,...] erhob sich die Thymele (der Altar) auf Stufen, dahinter die Doppeltreppe, die zur Bühne hinaufführte, die das Logeion vorstellte.«" Hinsichtlich der Lage der Orchestra weicht

Vgl. auch Kapitel VIII. 5. Mein Dank gilt an dieser Stelle der Stiftung Preußische Schlösser und Gärten Berlin-Brandenburg, die mir freundlicherweise ermöglicht hat, diese Überprüfung im Theater im Neuen Palais durchzufuhren. Siehe Abbildung 4 (Theater im Neuen Palais, Grundriss). Devrient: Geschichte der deutschen Schauspielkunst, S. 426. 207

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Abb. 4

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die Einrichtung im Neuen Palais von der im Potsdamer Stadttheater ab: Sie befand sich hier vollständig v o r dem Portal und wurde zudem n i c h t auf Bühnenniveau erhöht. Aus mehreren Gründen mussten für jeden der Theaterräume unterschiedliche Lösungen gefunden werden. Erstens war der Platz für die Orchestra durch die Anlage des Zuschauerraumes im Neuen Palais bereits vorhanden; lediglich die Orchesterschranken mussten entfernt werden. Zweitens ist die Einrichtung der Orchestra-Fläche auf Bühnenniveau im Neuen Palais schon allein auch optischen Gründen undenkbar: Der Höhenunterschied zwischen Orchestra und Skene betrug nämlich nach Böckhs Angabe fünf Fuß (= 1,57 m).21 Der Einbau von Fünf-Fuß-Podien auf der Bühne hätte sich jedoch äußerst ungünstig auf die Proportionen des Königspalastes innerhalb des 8 m hohen Portals auswirken müssen. Liegt jedoch die Orchestra vollständig vor dem Portal auf Fußbodenniveau, so ist für die Erhöhung der Skene der Einbau von 30 cm-Podesten bei einer Bühnenkantenhöhe von 1,30 m ausreichend.23 Auch wenn sich - nach einem Bericht von Gubitz - die Orchestermusiker im Neuen Palais nicht unmittelbar auf derselben Ebene wie die Chorsänger befanden, so ist hiermit vermutlich lediglich eine Stufe beschrieben, die in erster Linie der optischen Begrenzung der Orchestra diente.24 Bedenkt man schließlich, dass Friedrich Wilhelm IV. »im untern Halbkreise des im Ganzen amphitheatralisch eingerichteten Zuschauer-Kreises« saß,25 dann wird offensichtlich, dass der König im Neuen Palais bei einer zum Entwurf für das Potsdamer Stadttheater analogen Einrichtung, d. h. einer Erhöhung der Orchestra um 1,30 m, die schlechteste Sicht gehabt hätte. Die Angaben zur Form der Orchestra im Theater im Neuen Palais erscheinen zum Teil widersprüchlich: So bezeichnet ein Kritiker der Erstaufführung diese als kreisrund;20 in den übrigen Beschreibungen ist dagegen von einem Halbkreis die Rede. Julius Petersen behauptet, dass »für die Orchestra die Möglichkeit eines Halbkreises von etwa 6 m Radius oder die eines Kreises von gleichem Durchmesser« bestanden habe.27 Diese Angabe ist in Anbetracht der Lage der Orchestra vor dem Bühnenportal nicht korrekt. Misst man den von der vorderen Bühnenkante (sie ist damals wie heute durch das prachtvoll

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Vgl. Böckh/Toelken/Förster: Über die Antigone des Sophokles und ihre Darstellung auf dem königlichen Schloßtheater im neuen Palais bei Sanssouci, S. 78. Das in Preußen gültige Längenmaß war der rheinländische Fuß; l rheinländischer Fuß = 0,3138 m. Vgl. Behr/Hoffmann: Das Schauspielhaus in Berlin, S. 200. Dass im Neuen Palais überhaupt eine »Erhöhung der Bühne« vorgenommen wurde, bestätigt ein Brief Mendelssohns an Falkenstein. Mendelssohn an Falkenstein (15. Dezember 1841), Universitätsbibliothek Leipzig, Handschriftenabteilung (Signatur: Rep. IX, 16, fol. 3"). »Vom Parquet hatte ein Theil zur Orchestra (tiefer auch zu dem nöthigen Orchester) gedient [...].« Der Gesellschafter, 182. Blatt (10. November 1841), S. 900. Königlich Privilegirte Berlinische Zeitung, No. 254 (30. Oktober 1841). Königlich Privilegirte Berlinische Zeitung, No. 254 (30. Oktober 1841). Diese missverständliche, sich vor Ort als falsch erweisende Beschreibung wird ungeprüft von Fischer (Aus Berlins Vergangenheit, S. 113) übernommen. Petersen: Ludwig Tiecks Sommernachtstraum-Inszenierung, S. 169. Es ist jedoch Petersen als Verdienst anzurechnen, dass er bisher als einziger versucht, die Beschreibungen der Bühnenraumgestaltung zu interpretieren und zu bewerten. 209

verzierte Portal markiert) bis zur ersten Sitzreihe vorhandenen Raum aus, so ergibt sich folgendes: Der Radius eines Halbkreises kann tatsächlich nicht mehr als 4 m betragen, entsprechend der Radius eines Vollkreises nur 2 m. Ein voller Kreis hätte somit für die Orchestra eine Fläche von etwa 12,5 m2 ergeben. Ein Halbkreis ergibt dagegen eine Fläche von ungefähr 25 m2. Dieser Raum wurde zudem durch die Doppeltreppe und die Thymele verkleinert. Daraus muss geschlossen werden, dass die Orchestra, in der sich außer den 16 Choreuten gelegentlich die Schauspieler aufhielten, im Neuen Palais nur die Form eines Halbkreises besessen haben kann.18 »Die Kleinheit der Bühnenräume störte etwas.«, schrieb Varnhagen von Ense am Tag nach der Erstaufführung in sein Tagebuch.19 Es ist mehr als leicht nachzuvollziehen, dass auch Tieck die Enge des Theaters in Neuen Palais als störend empfand. »Wie größer würde die Wirkung gewesen sein, wenn die Scene um vieles breiter, die Orchestra größer an Umfang gewesen wäre.«30 Anderen erschien dagegen die Intimität des Zuschauerraums dem Charakter des Stückes angemessen: Wir können es aber nicht verhehlen, dass gerade der engbegrenzte, im Halbkreis sich erhebende, mit der Bühne fast verwachsene Zuschauerraum uns dem Genuss an der Aufrührung fördersamer erscheint, als die Räume unseres Theaters.3'

Die nach hinten abschließende Dekoration stimmte offensichtlich mit der Einrichtung im Potsdamer Stadttheater überein: Wie berichtet wird, stellte die Bühne »das Innere der Königsburg dar, mit einem dorischen Portale und einem Haupt- und zwei Nebeneingängen.«32 »Man erblickte durch den offenen Haupteingang den häuslichen Altar; ein Nebeneingang führte zu den Frauengemächern.«33 Bei späteren Aufführungen ließ Tieck angeblich diese Türen durch Vorhänge ersetzen.34 Da die Architektur des Königspalastes - wie auch Gersts Entwurf zeigt - die gesamte Breite der Bühne einnahm und unmittelbar an das Portal anschloss, musste auf zwei Elemente des antiken Theaters verzichtet werden: Es fehlten die beiden seitlichen, vor dem Skenengebäude befindlichen Auftrittsmöglichkeiten zum Proszenium, ebenso die von Vitruv beschriebenen Periakten. Alle Darsteller, die nicht aus dem Palast kamen, konnten also nur durch die Orchestra über die parallel zur Rampe verlaufende Doppeltreppe auf die Bühne gelangen und auf diesem Weg auch wieder abgehen. Der Archäologe Ernst Heinrich Toelken (1785-1869) kritisiert diese Nutzung der Treppen mit der Begründung, dass »eine solche Vermischung des Scenischen und Thymelischen nach Griechischen Begriffen« nicht denkbar gewesen wäre. Nur der Chor dürfe in der

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In den späteren Einrichtungen in Berlin und Leipzig war es jedoch aufgrund der größeren Theaterräume möglich, den Vorgaben Genellis entsprechend eine nahezu kreisrunde Orchestra einzurichten. 19 Varnhagen von Ense: Tagebücher (29. Oktober 1841), Band i, S. 363. 3° Tieck: Kritische Schriften, Band II, S. 423. 31 Berliner Musikalische Zeitung 2, No. 45 (8. November 1845). 3i Berlinische Nachrichten von Staats- und gelehrten Sachen, No. 254 (30. Oktober 1841). 33 Königlich Privilegirte Berlinische Zeitung, No. 254 (30. Oktober 1841). 34 Vgl. Drach: Ludwig Tiecks Bühnenreformen, S. 67. 2IO

Orchestra auftreten. »Die auf der Bühne thätigen Künstler fanden ihren Eingang auf dieser selbst, entweder durch eines der drei Hauptthore, wenn sie aus dem Palast oder dessen Nebengebäuden auftraten, oder durch die Thüren zu beiden Seiten in den vortretenden Seitenwänden des Prosceniums.«35 Dass dies in Potsdam nicht möglich war, entschuldigt Böckh mit der »Beschränktheit der kleinen Bühne.«30 Petersen weist zu Recht daraufhin, dass die Bühne in Potsdam seitliche Auftritte und Periakten zugelassen hätte, wenn sie in ihrer Tiefe anders genutzt worden wäre. Tieck habe jedoch nicht gewollt, dass die abschließende Architektur auf diese Weise zu sehr in den Hintergrund gedrängt würde. Denn er glaubte, »daß alle durch Dekorationsmalerei vorgetäuschte Tiefe von Uebel sei.«37 Ein Bericht der Zeitung für die elegante Welt bestätigt, dass die Darsteller Tiecks Inszenierungsstil entsprechend nur den vorderen Teil bespielten, obwohl sich die abschließende Bühnenarchitektur in die Tiefe des Raumes hinein erstreckte.38 Bei dem gestikulationsreichen Spiel von Moritz Rott (1796-1867) als Kreon habe man befürchten müssen, dass er »das Gleichgewicht verlor, hinabstürzte und in Wahrheit elendiglich umkam.«39 Der Weg über die Doppeltreppe, die mit sieben Stufen steil zur Bühne hinauf führte, bereitete den Schauspielern Unannehmlichkeiten. Die Stufen waren wohl nicht unbedingt höher als gewöhnlich, aber aufgrund der geringen Portalbreite von ca. 8,30 m sehr kurz und - wegen der ohnehin äußerst beengten Fläche der Orchestra - auch sehr schmal. Das Auf- und Absteigen war daher »für diejenigen Personen, welche in leidenschaftlicher Aufregung den Gang nehmen mussten, gefährlich [...]. Derselbe Umstand machte sich beim Hinauftragen des Leichnams Hämon bemerklich, indem die beiden Träger und der Todte selbst große Unbequemlichkeiten zu bestehen hatten.«40 Bei den Aufführungen im Berliner Schauspielhaus wurde die in der Orchestra errichtete Thymele zugleich als Souffleurkasten benutzt.41 Vermutlich wurde sie in Potsdam auf die gleiche Weise eingesetzt.41 Der Altar des Apoll vor dem Palast wird in keinem der Berichte zur Aufführung im Neuen Palais erwähnt. Zu beiden Seiten der Orchestra waren die Musiker so plaziert, dass »die begleitenden Instrumente, so wie der dirigierende Capellmeister [...] möglichst verborgen« waren.43

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Böckh/Toelken/Förster: Über die Antigone des Sophokles und ihre Darstellung auf dem königlichen Schloßtheater im neuen Palais bei Sanssouci, S. tfff. Ebd., S. 79. Petersen: Ludwig Tiecks Sommernachtstraum-Inszenierung, S. 172. Vgl. Kapitel Y1I.3. Zeitung für die elegante Welt 41, No. 218 (6. November 1841), S. 872. Böckh/Toelken/Förster: Über die Antigone des Sophokles und ihre Darstellung auf dem königlichen Schloßtheater im neuen Palais bei Sanssouci, S. IX. Schneider: Both's Bühnen-Repertoir, Band XIII, No. 103, S. 1905. Frenzel (Brandenburg-Preußische Schloßtheater, S. 167) und Kindermann (Theatergeschichte Europas, Band VI, S. 27) übernehmen diese Beschreibung der Berliner Thymele Petersens Aufsatz »Ludwig Tiecks Sommernachtstraum-Inszenierung« (S. 170) und übertragen sie auf die Potsdamer Inszenierung, fuhren hierfür jedoch keine Belege an. Böckh/Toelken/Förster: Über die Antigone des Sophokles und ihre Darstellung auf dem 211

Raum für die Orchestermusiker boten vor allem die beiden Nischen rechts und links vom Portal.44 Im heutigen Zustand des Theaters im Neuen Palais - der Zuschauerraum wurde 1865 umgebaut - sind diese beiden Räume seitlich des Orchestergrabens für das Publikum einzusehen. Die alten Pläne des Theaters zeigen jedoch, dass der Blick auf diese Nischen für einen Teil des Publikums durch die Geländer der beiden Treppen, die an den Enden der Sitzreihen nach oben führten, verdeckt wurde.45 Peter Andraschke geht davon aus, dass die Musiker »eigentlich nur in der Orchestra plaziert sein [konnten], in dem Raum z w i s c h e n Zuschauern und Bühne, und der war von allen Sitzplätzen einsehbar.«46 Dies trifft zumindest für die Einrichtung im Neuen Palais nicht zu. Es ist belegt, dass hier das Orchester »in den Räumen n e b e n der Orchestra [...] angebracht« war,47 nicht i n der Orchestra, die allein den Darstellern vorbehalten war. Selbstverständlich musste die Orchestra, in der sich schließlich ein beträchtlicher Teil des Geschehens abspielte, für das Publikum gut einzusehen sein. Überprüft man die räumlichen Gegebenheiten vor Ort, wird offensichtlich, dass die vorhandene Fläche schon für die darin stattfindenden Aktionen (Chorbewegungen, Schauspielerauftritte und -abgänge) - zusätzlich vermindert durch Thymele und Treppen - unvorstellbar beengt war. Kein Musiker hätte zusätzlich darin Platz gefunden. Der Raum, der dem Orchester insgesamt zur Verfügung stand, war so beschränkt, dass das Musizieren nur unter erschwerten Bedingungen vorstellbar ist.48 Zusätzlich widersprach die notwendigerweise vorgenommene Teilung des Orchesters dem üblichen Orchesteraufbau der Zeit, dem Dirigenten war der zentrale Punkt für seine Arbeit genommen.49 Wie in Kapitel V.5.b ausgeführt wurde, gibt jedoch Mendelssohns Partitur in ihrer besonderen Instrumentation sinnvolle Hilfen für eine geteilte Aufstellung der Instrumentalisten. Außerdem war es notwendig, dass die seitlichen Orchestertüren für die Auftritte von Schauspielern und Chor freigehalten wurden. In Übereinstimmung mit der antiken Theaterkonvention führte der Abgang zur rechten Seite in die Stadt, zur linken Seite dagegen in die Ferne. Die auftretenden Darsteller mussten sich zwischen den Instrumenten hindurch ihren Weg zur Orchestra bahnen.50

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königlichen Schloßtheater im neuen Palais bei Sanssouci, S. IX. Diese geteilte Aufstellung des Orchesters wird in verschiedenen Berichten bestätigt, z. B. Zeitung für die elegante Welt, No. 218 (6. November 1841), S. 872: »In den Räumen zu beiden Seiten des Chors war das Orchester verborgen, von dem man wenig sah.« Siehe Abbildung 4 (Theater im Neuen Palais, Grundriss). Siehe Abbildung 5 und 6 (Theater im Neuen Palais, Längs- und Querschnitt). Die Sichtverhältnisse sind von mir im Theater im Neuen Palais überprüft worden. Andraschke: Felix Mendelssohns Antigone, S. 143. Hervorhebung durch Verf. Königlich Privilegirte Berlinische Zeitung, No. 254 (30. Oktober 1841). Hervorhebung durch Verf. Die beiden Nischen rechts und links des Portals ergeben zusammengenommen eine Fläche von nicht mehr als ca. 20 m2. Mendelssohn hätte sonst unmittelbar vor dem König stehen müssen und ihm so die Sicht genommen. Im Potsdamer Stadttheater hingegen befand sich die Fürstenloge im ersten Rang, so dass der Dirigent seinen Platz in der Mitte einnehmen konnte. »Aus diesem Bericht ersteht der Eindruck einer schweren Ueberfüllung der kleinen Orchestra, die ohnehin nur eine ganz dürftige Andeutung des antiken Theaters geben konnte.« Petersen: Ludwig Tiecks Sommernachtstraum-Inszenierung, S. 171.

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In Zusammenhang mit der Orchesteraufstellung muss auch folgende Frage erörtert werden: Zu welchem Zeitpunkt erschien der Chor, der »in Halbchören Mann hinter Mann« auftrat,51 für das Einzugslied in der Orchestra? Aus den Bemerkungen, die in Leipzig aus Mendelssohns nicht erhaltener Chorpartitur herausgeschrieben worden waren, geht hervor, dass der Chor nach dem Prolog, also mit Beginn der Parodos in die Orchestra einzog: »Die beiden Chöre ziehen marschartig durch die Orchestra und stellen sich, nachdem sie dieselbe in verschiedenen Richtungen durchzogen haben, zu beiden Seiten des Altars auf.«51 Dennoch scheint es angesichts der räumlichen Enge fraglich, wie dieser Auftritt genau bewerkstelligt werden konnte, ohne dass es zu einer Störung der vorhergehenden Prologszene gekommen wäre. Die Parodos besitzt kein Vorspiel, sondern beginnt sofort mit dem Einsatz von Chor I. Aufgrund des beengten Raumes und der einzigen Auftrittsmöglichkeit für den Chor - durch die beiden winzigen Orchestertüren (jeweils rechts und links neben dem Portal) kann jeweils nur eine Person hindurch treten53 - konnte also der gesamte Chor unmöglich erst mit Beginn von No. i erscheinen. Aus diesem Grund mussten zumindest die acht Choreuten von Chor I - Chor II setzt erst mit Beginn der ersten Gegenstrophe ein - schon vorher aufgetreten sein. Möglich wäre dies, wie es die oben zitierte Bemerkung in der Chorpartitur angibt, entweder unmittelbar vor dem Choreinsatz, also nach dem Prolog von Antigone und Ismene; allerdings würde dies zu einer kurzen Unterbrechung des Stückes für diesen stummen Auftritt führen. Oder Chor I könnte bereits während der letzten Worte des Prologs erschienen sein, um dann nahtlos in die Parodos überleiten zu können. Diese zweite Variante, der unmittelbare Anschluss der Parodos an den Prolog, entsprach zumindest der Absicht des Komponisten, wie aus einem Brief an den Dirigenten der Londoner Aufführung Macfarren hervorgeht.54 Es ist wohl in jedem Fall davon auszugehen, dass dieser Auftritt zumindest im Theater im Neuen Palais nicht ganz geräuschlos vollzogen werden konnte und sich daher störend auf die Schauspielerszene auswirken musste. Weniger Probleme dürfte dagegen der Auftritt von Chor II bereitet haben: Da die erste Strophe, die Chor I alleine singt, nur von Bläsern begleitet wird, konnte Chor II ungehindert - ohne die Musiker zu stören - während der ersten Strophe auf der Seite der Streicher auftreten.55 Für die Aufführung im Leipziger Stadttheater ist belegt, dass Chor I mit der ersten Strophe singend von der einen Seite die Orchestra betrat, Chor II entsprechend mit Beginn der Gegenstrophe von der anderen Seite.50 Jedoch war dort die räumliche Situation eine andere als im Theater im Neuen Palais in Potsdam. Ebenso ist an den

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Böckh/Toelken/Förster: Über die Antigone des Sophokles und ihre Darstellung auf dem königlichen Schloßtheacer im neuen Palais bei Sanssouci, S. 9if. Universitätsbibliothek Leipzig, Handschriftenabteilung (Signatur: Rep. IX, 16, fol. 16'), vgl. Kapitel VII.3. Siehe Abbildung 4 (Theater im Neuen Palais, Grundriss). Mendelssohn an Macfarren (8. Dezember 1844), zitiert nach Glehn: Goethe and Mendelssohn, S. 165. Vgl. Kapitel V.5.b. Hermann: Über Sophokles Antigone und ihre Darstellung auf dem deutschen Theater, S. 20. 215

Inspektionsbüchern der Münchner Inszenierung von 1851 abzulesen, dass auch hier der Chor zeitlich und räumlich getrennt in Halbchören die Orchestra betrat.57 In Medea und ödipus in Kolonos stellte sich dieses Problem beim Auftritt des Chores so nicht. Anders als bei Antigone liegen keine geschlossenen Chorlieder vor, sondern die Parodos besteht jeweils aus einer großen epirrhematischen Szene, einem Dialog zwischen zwei Schauspielern und dem Chor. Der Auftritt des Chores ist auf diese Weise szenisch anders motiviert.'8 In der letzten Szene der Antigone wurde der Leichnam Eurydikes in der geöffneten Mitteltür des Palastes gezeigt. Verzichtet wurde auf den Bühnenwagen des griechischen Theaters, die Ekkyklema. Der Einsatz der Ekkyklema diente unter anderem dazu, den Innenraum des Hauses gleichsam nach draußen zu transportieren. Durch das öffnen der Mitteltür sei Kreon, wie Böckh berichtet, daran gehindert worden, in den Palast zurückzukehren, »was sicherlich gegen die Absicht des Dichters ist.«59 Auf welchem Weg Kreon schließlich die Bühne verließ, erwähnt Böckh nicht. Petersen vermutet, dass Kreon im Neuen Palais die Nebeneingänge nicht benutzen konnte, weil sie möglicherweise »nur als Verkleidung der etwa z m breiten, abgeschrägten Proszeniumswände angebracht [waren], deren Rokoko-Ornamentik ohnehin überdeckt werden musste.«60 Trifft Petersens Vermutung zu, dann hätte auch Ismene die zentrale Tür für Auf- und Abtritte benutzen müssen, anstatt durch die Tür, die zu den Frauengemächern fuhrt, zu treten. Für die Bühneneinrichtung im Berliner Schauspielhaus und Potsdamer Stadttheater ist hingegen belegt, dass auch die seitlichen Palasttore zu benutzen waren.61 Eine detaillierte Beschreibung der Bühneneinrichtung im Berliner Schauspielhaus gibt der Schauspieler und Dramendichter Louis Schneider (1805-1878) im Anhang an die yl«f^gö#e-Übertragung von Friedrich Wilhelm Wickenhagen: Der untere Zuschauerraum blieb ungefähr von seiner Mitte bis zu dem Eingange in das Parterre unverändert. Dagegen wurde das ganze Orchester, so wie ein Theil des vorderen Parquets, ungefähr in der Höhe der Parquet-Sitzplatz-Lehnen, mit einem soliden Fussboden überbaut, welcher mit gemalter Leinwand belegt war, die einen aus Quadersteinen gefugten Fussboden darstellte. Die Form dieses Fussbodens war kreisrund und in seinem Mittelpunkte die Tymile, der Altar des Bachus, um welchen alle Bewegungen des Chores stattfanden, aufgestellt. Die Tymile war hohl und ihre der Bühne zugewendete Seite offen, doch so, dass das Publikum diese Öffnung nicht bemerken konnte; der Souffleur für die Chöre hatte hier ungesehen seinen Platz. Zu dieser Vorbühne, welche die alte Orkestra darzustellen bestimmt war, führten zwei Treppenaufgänge aus den beiden vorhandenen modernen Orchester-Eingängen, deren Thüren indessen durch eine Draperie von weißem Mousselin dem Auge des Zuschauers entzogen waren. Sie sollten den Dromos des antiken Theaters andeuten. Von der '7 Vgl. Kapitel VHI.5. * Vgl. Kapitel V.3.d und 4.0. 59 Böckh/Toelken/Förster: Über die Antigone des Sophokles und ihre Darstellung auf dem königlichen Schloßtheater im neuen Palais bei Sanssouci, S. 83. 60 Petersen: Ludwig Tiecks Sommernachtstraum-Inszenierung, S. 172. 61 Vgl. Schneider: Both's Bühnen-Repertoir, Band XIII, No. 103, S. 1905 sowie Abbildung 3. 216

Orkestra führten Stufen auf die Buhne und zwar ein Vorbau in Treppenbreite, von welchem die Treppenstufen rechts und links ausgingen. Der Vorbau für diese Verbindungstreppen der Orkestra mit der Bühne war da angebracht, wo sich der gewöhnliche Souffleurkasten befindet, weshalb dieser begreiflich fortgenommen war. Auf der Bühne selbst war nun durch Erhöhung von einigen FUSS eine zweite Bühne an die Stelle der alten Skene aufgestellt, welche indessen nicht weiter auf das moderne Proscenium oder Avantscene vorging, als bis zur sogenannten Draperie (erste Coulisse, Manteau d'Arlequin).61 Diese Bühne wurde durch einen Vorhang verhüllt, der statt wie gewöhnlich aufgezogen zu werden, sich langsam herabsenkte und am Ende der Tragödie wieder langsam aufsteigend die Scene verhüllte. Auch von dieser zweiten Bühne führten Stufen auf das moderne Proscenium, so dass sie mit denjenigen, welche von dem Proscenium in die Orkestra führten, correspondirten. Die Dekoration war gewissermaßen massiv, das heisst, Säulen, Gesimse, Knäufe, Piedestale waren nicht flach gemalt, sondern in natürlicher Form zu dem Ganzen eines antiken Vorhofes zusammengestellt. Der Eingang in der Mitte des Hintergrundes trat auf diese Weise durch eine Säulenlaube in die Skene hinein, während die beiden ändern Eingänge rechts und links von demselben angebracht waren. Die ganze Erscheinung des so hergestellten Bühnen-Apparates hatte etwas ungemein Grossartiges in ihrer Einfachheit, wozu der gleichmässige architektonische Styl des Ganzen wesentlich beitrug. Von der Abrundung der Orkestra gegen des Parterre hin bis zu der Säulenlaube des Hintergrundes der Skene hatte alles die gleichmässige Färbung massiven Mauerwerkes. Zu bemerken ist noch, dass das eigentliche moderne Orchester vor und zu beiden Seiten der kreisrund ausspringenden erhöhten Orkestra angebracht war, so dass der Dirigent in gleicher Richtung vor der Tymile, die Musiker aber zu beiden Seiten des Halbkreises bis an die mit einer Draperie verhängte Eingangsthür zu der Orkestra sassen. Die Beleuchtung geschah hauptsächlich von oben durch besonders angebrachte Kronleuchter.6'

In einigen Punkten unterscheidet sich die Einrichtung in Berlin von der im Neuen Palais, aber auch von der im Potsdamer Stadttheater. Im Unterschied zum Theater im Neuen Palais war es beispielsweise in Berlin nicht notwendig, das Orchester zu teilen und in zwei seitliche Nischen zu pressen. Die Musiker konnten hier, wie es Gerst auch für das Potsdamer Stadttheater vorgesehen hatte, im Halbrund um die Orchestra gesetzt werden, der Dirigent nahm seinen angestammten Platz in der Mitte ein. Da das Schauspielhaus in Berlin keinen amphitheatralisch angeordneten Zuschauerraum

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»Avant-Scene (franz., Techn.), der Teil der Bühne, welcher sich zwischen den Prosceniumswänden und der ersten Coulisse befindet und durch die Rampen und den Souffleurkasten vom Orchester geschieden ist. Man bezeichnet diesen Raum auch fälschlich mit Proscenium, welcher Ausdruck aber die ganze Baulichkeit mit Logen, Rampen, Drapperien u.s.w. in sich begreift. [...] Fast alle europäischen Theater haben die erste Coulisse hinter dem Vorhange zusammen mit der Soffitte in Form einer Drapperie, welche den nun aufgezogenen oder zurückgeschlagenen Vorhang andeuten soll. Diese Drapperie heißt auf dem franz. Theater Manteau d'Arlequin und dient eigentlich dazu, die Decoration der Bühne dem Auge des Zuschauers zu entfernen. Auch dieser Raum vergrößert die A. noch um Vieles und da die Meubel nie über die Drapperie der ersten Coulisse hinaus placirt werden, so hat der Darsteller um so mehr darauf zu achten, daß er die sogenannte Spiellinie nicht überschreite, weil dann die Entfernung von dem eigentlichen Räume der Decoration noch größer wird.« Schneider: Art. »Avant-Scene«. In: Blum/Herloßsohn/Marggraf: Allgemeines Theater-Lexikon, S. igif. Schneider: Both's Bühnen-Repertoir, Band XIII, No. 103, S. 1905. Diese äußerst aufschlussreiche Beschreibung gibt Petersen nur in stark verkürzter Form wieder (Ludwig Tiecks Sommernachtstraum-Inszenierung, S. 170). Auch in der übrigen Sekundärliteratur wurde sie bisher nicht angeführt. 217

besaß, der im Zentrum Raum für die Orchestra geboten hätte, konnte auch hier eine runde Fläche nur durch die Überbauung von Orchestergraben und einigen Sitzplatzreihen geschaffen werden. Wie im Potsdamer Stadttheater mussten seitliche Treppen angestellt werden, um die Orchestra von unten betreten zu können. Ein Rezensent der Berliner Antigone-Aufführung störte sich an der räumlichen Nähe, die zwischen Darstellern und Publikum dadurch entstand, dass der Chor »im Orchesterräume« aufgestellt war.04 Auch in der spät nachfolgenden und bisher wenig beachteten Inszenierung des Hippolytosvon 1851 wird dieser Umstand kritisiert. Rellstab schildert hier die Situation für den Zuschauer folgendermaßen: Wir haben zwar die Räume für die Darstellung, den antiken Vorbildern und Weisungen gemäß umbilden können, nicht aber die für die Zuschauer. Dadurch erhalten unläugbar auch jene ein anderes Verhältniß. Wir sind der Bühne zu nah gerückt, drücken zu eng auf dieselbe, was in den colossalen Theatern der Alten vermieden blieb. Dadurch gewinnt namentlich die Orchestra eine unvortheilhafte Lage. Hier ist vor und zwischen den zur Bühne aufwärts fuhrenden Stufen, den Altar im Mittelpunkt, der Chor geordnet. Sähen wir diesen verhältnißmäßig so erhöht, wie die Hauptbühne, daß die Gestalten ganz vor uns hinträten, so müßte der Ueberblick ein durchaus würdiger sein. Allein wir sehn nur halbe Figuren; die untere Hälfte ist in die Tiefe versenkt, und nur von den Logen aus werden Einzelgestalten und Gruppen vollständig zu überblicken sein, während dem Zuschauer in den Parket- und Parterre-Räumen die Halbgestalten noch durch die aus dem modernen Orchester (nicht aus der antiken Orchestra) hervorragenden Formen, die obere Hälfte der Contrabässe, der Harfen, ja durch die Gestalt des Dirigenten gemischt und gedeckt sind. Es will uns scheinen, daß, wenn auch nicht Alles, doch viel damit gewonnen werden könnte, wenn die gesammten zur Darstellung bestimmten Räume, Orchestra und Bühne, um zwei bis drei Fuß erhöht würden, während unser modernes Orchester in seiner Tiefe bliebe.6'

Obwohl die Aufführung des Hippolytos »ganz in der Weise, wie die ersten Darstellungen der Antigone, des Oedipus, der Medea« stattgefunden hatte,66 widersprechen sich Schneiders und Rellstabs Beschreibungen der Orchestra grundlegend. Mit der Entscheidung, die Orchestra nicht zu erhöhen und den Chor somit auf der Ebene des Orchestergrabens spielen und singen zu lassen, war für diese spät nachfolgende Antiken-Inszenierung möglicherweise eine weniger aufwendige und kostengünstigere Lösung gefunden worden. Schneiders oben zitierter Beschreibung zufolge bestand das »antike« Proscenium bei der Berliner Aufführung der Antigone aus zwei Ebenen: Tiefer gelegen, d. h. auf unverändertem Bühnenniveau, war die Fläche der Avant-Scene, um einige Fuß erhöht wurde dagegen der Bereich hinter der ersten Coulisse (Manteau d'Arlequin), so dass zur Verbindung dieser beiden Ebenen weitere Treppen erforderlich waren. Ob diese Einrichtung auch im Neuen Palais getroffen worden war, geht aus den Beschreibungen nicht hervor.

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Allgemeine Musikalische Zeitung 44, No. 21 (25. Mai 1842), Sp. 437. Königlich Privilegirte Berlinische Zeitung, No. 99 (29. April 1851), erste Beilage, S. Ebd.

Wie Schneider weiterhin berichtet, traten alle Schauspieler, die von außerhalb des Palastes kamen, durch die Orchestra auf.07 Die Auftrittsbedingungen der Potsdamer Bühneneinrichtung wurden in Berlin also beibehalten, obwohl Böckh ursprünglich diese Abweichungen von der antiken Aufführungspraxis nur aufgrund des beschränkten Raumes im Theater im Neuen Palais akzeptiert hatte. Auf einer größeren Bühne dürften die Periakten nicht fehlen, auch müssten »alle Schauspieler, inwiefern sie nicht aus dem Palast kommen, ihren Ein- und Ausgang nicht durch die Orchestra, sondern durch die Seiten-Decorationen des Vordergrunds nehmen.«68 Von Küstner, der im Frühjahr 1842 als Intendant die Nachfolge von Graf von Redern antrat, erklärt, er habe das für die griechische Tragödie in Berlin eingerichtete Theater, das er dort bereits vorfand, nicht ganz entsprechend gefunden. »Die Bühne daselbst hat weniger Breite und mehr Tiefe als das antike, was ihr die [...] Eigenthümlichkeit des antiken Theaters benimmt und dem unsrigen näher bringt.«69 Küstner schließt sich darüber hinaus Toelkens Kritik an der Nutzung der Orchestra sowie der Treppen an. Bemerkenswert an Schneiders Beschreibung ist schließlich die Erwähnung der »besonders angebrachten Kronleuchter«. An keiner anderen Stelle findet sich sonst ein Hinweis zur Beleuchtung.70 Aufgrund der sich in den Bereich des Zuschauerraums erstreckenden Bühneneinrichtung sowie der seitlich zugebauten Bühne konnte ein Großteil der zur Beleuchtung üblichen Mittel nicht eingesetzt werden.71 Die Verstärkung des Lichtes von oben durch den Einsatz zusätzlicher Kronleuchter war vor allem zur Beleuchtung der Orchestra notwendig. Im Unterschied zu den normalerweise an der Rampe angebrachten Lichtquellen erweckte diese Art der Beleuchtung zugleich einen natürlicheren Eindruck; sie entspräche somit wohl am ehesten den Lichtverhältnissen der antiken Freilicht-Theater.71 In der Handschriftenabteilung der Universitätsbibliothek Leipzig befindet sich eine von dem Regierungs- und Stadtrat Friedrich Heinrich Wilhelm Demuth (1777-1852) 67 68

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Vgl. Schneider: Both's Bühnen-Repertoir, Band XIII, No. 103, S. 1905. Böckh/Toelken/Förster: Über die Antigone des Sophokles und ihre Darstellung auf dem königlichen Schloßtheater im neuen Palais bei Sanssouci, S. 80. Küstner: Vierunddreißig Jahre meiner Theaterleitung, S. 169. Eine ausführlichere Beschreibung der Beleuchtung ist für die Wiederaufnahme im Opernhaus etwa 25 Jahre später (26. Mai 1866) erhalten: »Als der Vorhang gesunken war, lag das Haus des Kreon mit der langen von drei Pforten durchbrochenen Facade und den beiden vorspringenden Flügeln noch im Schatten der Morgendämmerung. Allmählich erhellte die aufgehende Sonne das Dach, die oberen Fenster, die Säulen des Portals, den ganzen Raum.« Frenzel: Berliner Dramaturgie, Band II, S. 69. »Von der Rampe, den Seitenflügeln, dem Kronleuchter des Zuschauerraumes und den Lampen, die etwa hinter freistehenden Decorationsgegenständen angebracht werden, ist jetzt allein die B. möglich.« Schneider: Art. »Beleuchtung der Bühne u. des Zuschauerraumes«. In: Blum/Herloßsohn/Marggraf: Allgemeines Theater-Lexikon, S. 270. Vgl. ebd., S. 27of.: »Das größte Hinderniß für eine naturgemäße B. ist das Licht, welches von der Rampe, also von unten herauf den Schauspieler trifft und es gehört, namentlich bei weit hervortretenden Proscenien, eine große Lichtmasse vom Kronleuchter aus dazu, um das richtige Verhältniß nur einigermaßen herzustellen.« 219

zusammengestellte Akte, in der verschiedene Materialien - die Leipziger AntigoneAufführung von 1842 betreffend - aufbewahrt sind.73 Neben mehreren Briefen ist eine Bleistiftskizze enthalten, die im Wesentlichen mit Gersts Bühnenplan übereinstimmt. Das Blatt, auf dem sich die Zeichnung befindet, ist hinter einem Brief Mendelssohns vom 10. Januar 1842 abgeheftet.74 Auf der vorhergehenden Seite (also der Rückseite von Mendelssohns Brief, fol. 9V) ist mit Tinte folgendes dazu vermerkt: Notiz. Beigeschlossene Bleistiftzeichnung, welche die Ansicht der zu der Aufführung in Berlin arrangirten Bühne vorstellt, wurde mir heute von einem Bekannten mitgetheilt. L. d. m Jan. 42. W. Demuth

Der Name des »Bekannten« Demuths ist nicht bekannt.75 Der Notiz zufolge bezieht sich die Skizze auf die noch bevorstehende Aufführung in Berlin. Möglicherweise stellt sie die Kopie eines nicht mehr erhaltenen Entwurfs von Gerst dar, den er auch für das Schauspielhaus Berlin angefertigt haben muss. Die erste Berliner Vorstellung fand zwar erst drei Monate später statt. Da man jedoch erwartet hatte, dass der König Antigone zu einem früheren Zeitpunkt ansetzen werde - dies geht aus dem Briefwechsel zwischen Mendelssohn und Demuth hervor76 - müssen schon zu Beginn des Jahres Vorbereitungen zur Einrichtung im Berliner Schauspielhaus getroffen worden sein. In diesen Zusammenhang ließe sich dann die Bühnenskizze einordnen. Abgesehen von der zweifachen Doppeltreppe stimmt die Zeichnung mit Schneiders Beschreibung der Berliner Bühneneinrichtung überein. Die Oberkante des Blattes ist später beschnitten worden, so dass die Überschrift zur Zeichnung, die möglicherweise in diesem Zusammenhang aufschlussreich gewesen wäre, heute leider nicht mehr lesbar ist. In der Bühnenskizze sind vier Bereiche gekennzeichnet: »die Bühne worauf die Schauspieler spielen«, »ein runder Raum worauf der Chor steht der nicht auf die Bühne kommt«, »das Orchester für die Musici« und »die Sitze für den König und den Hof«. Wie im erhaltenen Bühnenplan ist die Orchestra gegenüber den Sitzplätzen im 73

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Das Konvolut trägt den Titel: »Mendelssohn-Briefe, Akten usw. betr. die Aufführung der >Amigone< von Sophokles«, Signatur: Rep. IX, 16. Universitätsbibliothek Leipzig, Handschriftenabteilung (Signatur: Rep. IX, 16, fol. ior). Veröffentlicht wurde diese Zeichnung von Hellmut Flashar (Felix Mendelssohn Bartholdy und die griechische Tragödie - Bühnenmusik im Kontext von Politik, Kultur und Bildung, S. 16). Flashar hatte vermutet, dass Mendelssohn selbst diese Skizze als Empfehlung für die dortige Aufführung nach Leipzig geschickt habe (vgl. ebd.). Aus Demuths später hinzugefügter Notiz geht jedoch eindeutig hervor, dass ihm diese Skizze nicht von Mendelssohn, sondern einem »Bekannten« zugesandt worden war. Auch stammen die Beischriften auf der Skizze nicht von der Hand des Komponisten. Die Zeichnung befindet sich darüber hinaus nicht, wie Flashar schreibt, auf der Rückseite von Mendelssohns Brief, sondern auf einem gesonderten Blatt. Dass Demuth die oben zitierte Bemerkung auf der Rückseite von Mendelssohns Brief notierte, ist indessen ein typischer Vorgang beim Anlegen einer Akte, aus dem sich jedoch nicht folgern lässt, dass Brief und Zeichnung in einem engeren Zusammenhang miteinander stehen. Die Formulierung »beigeschlossen« bezieht sich daher nicht auf Mendelssohns Brief, sondern auf die Akte. Wäre schließlich die Skizze in der Tat exklusiv für das Leipziger Stadttheater angefertigt worden, dann hätten keine Sitzplätze »für den König und den Hof« ausgewiesen werden müssen. Vgl. Mendelssohn an Demuth (13. Februar 1842), Universitätsbibliothek Leipzig, Handschriftenabteilung (Signatur: Rep. IX, 16, fol. 29').

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Parkett erhöht eingezeichnet, ebenso ist die skizzierte Architektur des Königspalastes mit Gersts Entwurf identisch. Wie den meisten Presseberichten zu entnehmen ist, wurde die Bühne für die Potsdamer Aufführungen von Medea und ödipus in Kolonos auf die gleiche Weise wie für die Aufrührung von Antigone eingerichtet.77 Die Mehrfachverwendung von Bühnenbildern war im 19. Jahrhundert durchaus üblich. Wenn auch die Bühneneinrichtung wenigstens im Grundsatz für alle drei Inszenierungen dieselbe war, scheinen dennoch einige Details erneuert worden zu sein. So berichtet von Küstner, dass Medea in Berlin »mit großentheils neuen Decorationen und Costümen« aufgeführt worden sei.78 Eine Konzession an die zeitgenössische Inszenierungspraxis bedeutete die Aufstellung je eines Sessels auf beiden Seiten der Bühne, »wirksame Requisiten, um in dem an Handlung armen Stück, in den langen Monologen und den actionslosen Dialogen den Darstellern - namentlich der Medea - Gelegenheit zu geben, durch Niedersetzung und Aufstehen die Eintönigkeit der Situation zu beseitigen und bei dem Mangel an dramatischem Leben wenigstens scenisches zu substituiren.«79 Erstaunlich an dieser Beschreibung ist die Tatsache, dass die beiden Sessel in keinem anderen Aufführungsbericht Erwähnung finden, während bei der Aufführung der Antigone jeder noch so geringe Verstoß gegen die antike Aufführungspraxis in der Presse Gegenstand heftiger Diskussionen gewesen war. Die Vorstellung zweier Sessel in einem antikisierenden Bühnenbild muss heute merkwürdig erscheinen und entbehrt nicht einer gewissen Komik. Das damalige Publikum störte sich offensichtlich nicht an diesem Stilbruch, sondern sah hierin wohl eher ein Mittel, den fremden Stoff der Tragödie ein wenig den Anforderungen der zeitgenössischen Bühne anzupassen. Aus einem Bericht in der Berliner Musikalischen Zeitung über die Potsdamer Aufführung von ödipus in Kolonos geht hervor, dass der Hintergrund, der in der Antigone den Palast Kreons darstellte, verändert wurde: »Die Bühne stellt den Hain der Eumeniden bei Kolonos vor, mit einer Aussicht auf Athen.«80 Für die Dekoration ist wiederum Gerst verantwortlich. Möglicherweise orientierte man sich hierbei an einer Beschreibung, die Genelli für die Gestaltung der Bühne des Ödipus in Kolonos gibt und die sich von der üblichen tragischen Dekoration unterscheidet:

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»Die Einrichtung des Bühnen- und Zuschauerraums war ganz dieselbe, wie bei den Aufführungen der Antigone und Medea, so wie überhaupt die ganze äußere Gestaltung des Kunstwerks durch die Verbindung mit der Musik, die gleiche mit der in jenen beiden, früher dargestellten, griechischen Tragödien war, eine Gestaltung, die so aus der Natur der Sache hervorgeht, daß sich überhaupt schwerlich etwas Wesentliches darin ändern kann.« Königlich Privilegierte Berlinische Zeitung, No. 257 (3. November 1845). Siehe auch Berlinische Nachrichten von Staats- und gelehrten Sachen, No. 184 (9. August 1843). Küstner: Vierunddreißig Jahre meiner Theaterleitung, S. 268. Norddeutsche Zeitschrift für das Theater und für Kunst und Poesie überhaupt, Nr. 17 (29. Oktober 1843), S. 328. Berliner Musikalische Zeitung 2, No. 45 (8. November 1845). 221

In den Winkeln des Proskenions erheben sich die Ecken von zwei Felswänden so hoch, wie es die Skene erlaubt, und angezeigtermaßen aus Holz aufgebauet. Zwischen diesen bildet die Mitte die Öffnung ins Thal der Eumeniden. Die Fortsetzung der Fels-Wände zeigt sich im Gemälde der Katablema, und darüber die weitere Ansicht ins Land: rechter Hand erblickte man wahrscheinlich einen Anfang der Stadt Athen, linker Hand aber schloß das Bild mit dem Meere. Reben rankten sich an die Felsen hinan, und die Thal-Öffnung zwischen den Felsen-Ecken füllten grünende Bäume aus, wie sie ihren Gattungen nach auch im Stück selbst angegeben werden, so daß in der Mitte ein dunkler Eingang blieb. [...] Weiter enthielt diese schöne Skene nichts: der vordere Rand des Logeion selbst vertrat die Stelle der sogenannten ehernen Schwelle, die kein Sterblicher betreten durfte f...].8'

Exkurs: Tiecks Bühnenraumkonzeptionen in seinen nachfolgenden Inszenierungen von Shakespeares Sommernachtstraum (1843) und Racines Atbalia (1845) Die Bühnenraumgestaltung der ylwiz^owf-Inszenierung im Neuen Palais ist vor allem deshalb so bemerkenswert, weil hier aus konzeptionellen Gründen erstmals der Versuch unternommen wurde, das architektonisch feststehende Verhältnis zwischen Bühne und Zuschauerraum zu verändern. Die heute vielfach praktizierte Einbeziehung von Proszenium und Zuschauerraum in die Bühnenarchitektur war damals alles andere als ein selbstverständlicher Vorgang. Im Unterschied zu den Antiken-Inszenierungen unter Goethe in Weimar, wo der unveränderte Bühnenraum lediglich durch die Dekoration einen antikisierenden Anstrich erhalten hatte, war für Tieck und seine Mitarbeiter die Nachbildung des antiken Theaterraumes unerlässlich. Die Teilung der Spielfläche in zwei Ebenen, die eigentliche Bühne sowie die Orchestra, machte daher erhebliche Eingriffe in die Theaterarchitektur notwendig. Die Anpassung der Bühnenverhältnisse an die dramaturgischen Erfordernisse des jeweiligen Stücks ist einer der grundlegenden Reformideen Tiecks. Schon in seiner Dresdner Zeit hatte der Dramaturg versucht, die Illusionsbühne, die ihm seit seiner ersten Beschäftigung mit Shakespeare in den frühen i/9oer Jahren Unbehagen bereitet hatte, durch die Rekonstruktion der Shakespearebühne zu ersetzen.82 Sein Ideal einer dekorationslosen Raumbühne konnte in den Dresdner Inszenierungen von Romeo und Julia (1823) und Macbeth (1836) nur im Ansatz umgesetzt werden.8' Genelli: Das Theater zu Athen, S. 6if. An Raumer schreibt Tieck: »Aus mündlichen Gesprächen wissen Sie schon, wie sehr ich jenem altern Gerüste, welches Shakspeare und seine Zeitgenossen besaßen, vor unserm Theater den Vorzug gebe, ja, daß ich jenes für unsere eigentliche Bühne halte, da es sich doch nun wol endlich entschieden hat, daß wir uns nicht auf die Weise der Franzosen beschränken können und wollen.« Tieck: Kritische Schriften, Band III, S. 172. Vgl. auch Tieck: Schriften 1834-1836, S. n65ff. Tieck hat sich in verschiedenen Schriften immer wieder zur Shakespearebühne geäußert: Briefe über Shakespeare (1800), Phantasus (1812), Vorwort zur Sammlung Deutsches Theater (1817) und schließlich im Jungen Tischlermeister (1836). Vgl. zudem Kapitel VII.3. Zu Romeo und Julia vgl. Tieck: Kritische Schriften, Band III, S. I7iff. Vgl. weiterhin Petersen: Ludwig Tiecks Sommernachtstraum-Inszenierung, S. 177 und Kemme: Ludwig Tiecks Bühnenreformpläne und -versuche und ihre Wirkung auf die Entwicklung des deutschen

22.2

Ausführlich hat Tieck seine Vorstellungen von der Shakespearebühne in der Novelle Der junge Tischlermeister (1836) beschrieben.84 Hier erläutert Emmerich anhand einer Zeichnung den Bühnenaufbau für eine Laienaufführung von Shakespeares Was ihr wollt^ Im Unterschied zu einer vorhergehenden Inszenierung von Goethes Götz von Berlichingen solle für Was ihr wollt die Bühne an der Längsseite des Saales eingerichtet werden, wodurch das Proszenium an Breite zunehme und die Zuschauer zugleich näher an die Bühne herangerückt würden. Dass zugleich die Bühnentiefe verloren ginge, sei indessen nur von Vorteil, denn »die Tiefe ist es auch, die mich bei jedem ändern Theater ärgert und die dem guten Schauspieler das Spiel unendlich erschwert. Goethe sagte einmal im Meister, es wäre zu wünschen, die Spielenden bewegten sich auf dem schmalen Streifen einer Leine.«86 Ziel sei es also, »die Spielenden ganz in den Vordergrund, in die Nähe der Zuschauer zu drängen.«87 Eine innere, kleine Bühne, die durch einen Vorhang verschlossen werden könne, sei über drei Stufen zu betreten; auf den darüber liegenden, von zwei Säulen getragenen Altan führten von rechts und links breite Stufen hinauf. Diese Treppen dienten unter anderem auch der geschickten Anordnung von Gruppen.88 An die freistehenden Säulen »lehnten sich die Melancholischen, oder Nachdenkenden«, auf den Stufen wiederum »fielen die Sterbenden hin und lagen natürlich viel malerischer, als auf unsern Theatern.«89 Diese feste Bühnenarchitektur mache zeitraubende Umbauten überflüssig. Entbehren könne man darüber hinaus den Hauptvorhang, wenn dafür gesorgt sei, »daß durch Verzierungen die Bühne sich geschmackvoll und nicht allzu störend mit dem übrigen Saal verbinde.«90 Auf diese Weise erhalte der Bühnenraum quasi die Funktion eines Mitspielers: Theaters im 19. und 20. Jahrhundert, S. 42-51. Kemme zieht in seiner Dissertation zu Tiecks Bühnenreformplänen allein die Inszenierungen von Shakespeare-Dramen heran. Die theaterund bühnengeschichtliche Bedeutung, die der Potsdamer Antigone-Inszen'iemng in diesem Kontext zukommt, wird daher übersehen. 84 Im gleichen Jahr erschien der erste Teil von Wolf Graf Baudissins Ben Johnson und seine Schule (Leipzig 1836) mit einer Rekonstruktion des Londoner Fortuna-Theaters, die auf den Angaben Tiecks und Gottfried Sempers basiert. Vgl. Tieck: Schriften 1834-1836, S. nyof., Abb. 4 und 5. Tiecks literarische Bühnenraumkonzeption wurde von Immermann in einer Was ihr aW/i-Aufführung am 29. Februar 1840 in Düsseldorf umgesetzt, vgl. ebd., S. 1174. 85 Mit der im Jungen Tischlermeister beschriebenen Bühne korrespondiert eine Sepia-Skizze Sempers aus den Jahren 1835/36, die sich im Deutschen Theatermuseum München befindet, vgl. ebd., Abb. 3. 86 Ebd., S. 240. Vgl. Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre, 4. Buch, 2. Kapitel, WA I, Band 22, S. 22: »Ich wünschte nur, daß das Theater so schmal wäre, als der Draht eines Seilttänzers, damit sich kein Ungeschickter hinauf wagte, anstatt daß jetzo ein jeder sich Fähigkeit genug fühlt, darauf zu paradiren.« 87 Tieck: Schriften 1834-1836, S. 241. Vgl. Tieck: Kritische Schriften, Band IV, S. 84: »In Deutschland sind wir nach und nach auf die entgegengesetzte Seite, wenigstens in manchen Städten, hingetrieben worden. Man rückt das Spiel gleichsam in eine fabelhafte Ferne, sodaß der wahre Bühnenfreund schon deswegen das Theater aufgeben möchte.« 88 »Keine Person deckte die andere, alle waren frei und gleichsam in Rahmen eingefaßt, wodurch das Bildliche und Malerische noch deutlicher hervortrat.« Tieck: Schriften 1834-1836, S. 242. "9 Ebd., S. 241. 9° Ebd., S. 244. 223

Dieses ältere Theater aber [...] spielt in jeder Szene selber mit, es darf sogar zu den Hauptpersonen gerechnet werden, es erleichtert auch jedem Auftretenden sein Spiel, es hilft ihm, es unterstützt ihn, er steht nicht verlassen in einem wüsten leeren Viereck, sondern kann sich geistig und körperlich allenthalben anlehnen und wie ein Gemälde in seinen Rahmen treten.91 Wesentliche Inszenierungsgrundsätze, die Tiecks Emmerich im Jungen Tischlermeister formuliert, konnten in der Potsdamer Aufführung der Antigone erstmals verwirklicht werden. Voraussetzung hierfür war, dass Tieck keine grundlegenden Unterschiede zwischen der antiken und der »alten englischen Bühne« sah. Diese Auffassung bestätigt Immermann in seinem Reisejournal(1833): Tieck glaubte nun, daß die altenglische Bühne manche Ähnlichkeit mit der griechischen gehabt habe. Er setzt ihre Eigentümlichkeit darein: 1) daß sie alles nur andeutete, 2) daß der Gegenstand der Szene vorn war, von welchem das, was man etwa unsre Kulissen nennen könnte, schräg ablief 3) daß die Zuschauer die Handlung unter sich vorgehn sahn. [...] Vergegenwärtigt man sich die Einrichtung lebendig, so werden einem die großen Vorteile nicht entgehn. Die Handlung wird gewissermaßen den Zuschauern entgegengenötigt. Die Dekoration spielt mit und die Gruppe macht sich immer wie von selbst pyramidalisch oder sonst malerisch. Das Falsch-Illusorische ist ganz aufgegeben, dagegen das, was allein illudieren soll, das Geistig-Poetische, desto mehr unterstützt.91 In der Tat weist die Bühnenraumkonzeption der Antigone-lnszeriierung — nimmt man vor allem die Version des Theaters im Neuen Palais in den Blick - eine Reihe von Gemeinsamkeiten mit Tiecks Entwürfen zur Shakespearebühne auf: Die Mittel der Illusionsbühne, Kulissen und Bühnenapparat, werden nicht eingesetzt. Es handelt sich um eine feststehende Bühnenarchitektur, in der verschiedene Spielebenen durch Treppen miteinander verbunden sind. Der zentrale Ort der Schauspieleraktion ist das Proszenium. Der Abstand zwischen Zuschauern und Darstellern konnte auf diese Weise möglichst gering gehalten werden. Im Unterschied zum Sommernachtstraum, in dem Tieck letztlich auf Umbauten nicht vollständig verzichten wollte, war für die griechische Tragödie, die durchgehend vor den Toren des Palastes spielt, kein Dekorationswechsel erforderlich. Abwechslung war hier allein durch die Nutzung unterschiedlicher Niveaus sowie der verbindenden Treppen gegeben. Das bei der Bühneneinrichtung zu Antigone erprobte Treppen-Konzept hat Tieck in den Inszenierungen von Sommernachtstraum (1843) und Athalia (1845) weiterentwikkelt. Zu beiden Aufführungen liegen mehrere Pläne von Gerst vor. Einer der Entwürfe zum Sommernachtstraum vom August 1843 zeigt einen dreistöckigen Bühnenauibau,

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Ebd., S. 243. Immermann: Werke, Band 4, S. 133-136, zitiert nach Tieck: Schriften 1834-1836, S. Auch im Jungen Tischlermeister erklärt Emmerich: »Auf diese Weise war die Bühne [Shakespeares] für die wesentlichen Forderungen ungefähr in ähnlicher Art wie die des Sophokles beschaffen«. Ebd., S. 242.

224

der mit den drei eingezeichneten Rängen im Zuschauerraum korrespondiert.93 Vor dem Proszenium befindet sich ein rechteckiges Podium mit Auftrittsmöglichkeiten zu beiden Seiten, die durch Vorhänge verschlossen werden. Das Podium ist durch zwei seitliche Treppen mit der eigentlichen Bühne verbunden und entspricht - abgesehen von seiner Form - der Orchestra in der Einrichtung zu Antigone. Zu Recht weist Petersen darauf hin, dass sich dieser Entwurf aufgrund der baulichen Gegebenheiten im Theater im Neuen Palais nicht verwirklichen ließ.94 Er vermutet daher, die Aufschrift »für das königliche Theater im neuen Palais bei Potsdamm« sei ein späterer Zusatz Gersts; dieser habe seinen ersten Entwurf nach Tiecks Angaben sowie der Rekonstruktion des Londoner Fortuna-Theaters in Wolf Graf Baudissins (1789-1878) Ben Johnson und seine Schule angefertigt, »ohne die Bühne des Neuen Palais in ihren Möglichkeiten vorher studiert zu haben.«95 Letzterer Vermutung ist zu widersprechen: Gerst, der seit 1818 als Dekorationsmaler in königlichen Diensten stand, war mit den Verhältnissen im Theater im Neuen Palais natürlich bestens vertraut. Aufschluss gibt in diesem Zusammenhang ein weiterer Bühnenplan Gersts, der sich in der Kunstbibliothek Berlin befindet und der mit der von Petersen veröffentlichten Zeichnung - abgesehen von der Aufschrift - identisch ist.96 Hier findet sich nun folgender Hinweis: Um H: G: Rath Tick einen Begrif von dem Aussehen der Decoration zu geben wie solche zu Scacespars Zeit, und zur gegenwärtigen Zeit aussehen könten. Entworfen v. Gerst.

Tatsächlich stellt dieser Entwurf lediglich eine Vorstudie zu der für das Theater im Neuen Palais entwickelten Einrichtung dar. Ein dritter Bühnenbildentwurf Gersts zum Sommernachtstraum ist schließlich den tatsächlichen architektonischen Gegebenheiten im Neuen Palais angepasst:97 Der Aufbau, der nur noch aus zwei Stockwerken besteht, befindet sich nun vollständig auf der eigentlichen Bühne. Die im ersten Entwurf vor dem Portal befindliche rechteckige Fläche fehlt; als Vorbühne dient hier die AvantScene. Das Orchester, für das im Vorentwurf kein Platz ausgewiesen ist, konnte seinen angestammten Platz einnehmen. »Diese Gerüst ist nun für die erste Decoration, Pallast des Herzogs, überall mit Versetzstücken bedeckt, welche Mauerwerk andeuten.«98 Die Handwerkerszene, die aufgrund der geringen Portalbreite nicht auf der inneren Bühne

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Veröffentlicht ist dieser Entwurf von Petersen: Ludwig Tiecks Sommernachtstraum-Inszenierung, S. 181. 94 »Auf die zwei Ränge im Neuen Palais, dessen zweiter bereits die Höhe der Bühnenöffnung überragte, ist also keine Rücksicht genommen. Es war aber undenkbar, diese feste Architektur, die das ganze Deckengewölbe trug, aus dem Schloßtheater herauszureißen und den Halbkreis des Parterres in ein Quadrat umzuwandeln. Ebensowenig war es möglich, das Proszenium, die die Bühnenöffnung als ein fester Gürtel einengte, zu erweitern.« Ebd., S. i8if. 95 Ebd., S. 182. 96 Staatliche Museen zu Berlin, Kunstbibliothek, Invemar-Nr.: Lipp-Hdz 2442. 97 Dieser Entwurf wurde veröffentlicht von Niessen: Goethe und die romantische ShakespeareBühne, S. 122 sowie Brauneck: Die Welt als Bühne, Band 3, S. 84. Eine detaillierte Beschreibung der beiden Entwürfe von Gerst findet sich bei Schneider: Both's Bühnen-Reperroir, Band XIII, No. 99, S. 1840-1847. 98 Ebd., S. 1846. 225

zwischen den seitlichen Treppen gespielt werden konnte, fand auf der Vorbühne statt, wobei der darunterliegende, mittlere Teil des Bühnenaufbaus durch einen schmalen Prospekt verdeckt wurde." Auch in der Waldszene kamen malerische Mittel der Illusionsbühne in Form von Versatzstücken zum Einsatz, die in die zwischen und hinter den Treppen befindlichen »Canäle« geschoben wurden. Eine Abbildung der Walddekoration einschließlich einer ausführlichen Beschreibung der Bühneneinrichtung im Berliner Schauspielhaus wurde in der Leipziger Illustrirten Zeitung veröffentlicht.100 Der Rezensent, dem eine »vollständige Nachahmung jener Zustände wohl befremdend, aber schwerlich erfreulich« erschienen wäre, bemerkt, dass Tieck entgegen seiner Absicht die Unmöglichkeit bewiesen habe, »das ganze Bühnenwerk auf jene Nacktheit der äußeren Form zurückzuführen, in welcher die Shakespeare'schen Dramen zur Zeit ihrer Entstehung dargestellt wurden.«101 Vielmehr sei das, »was in Berlin gegeben worden, eine Mischung von historischer Merkwürdigkeit, phantastischer Auffassung und prächtig balletartigem Beiwerke.«101 Die Einrichtung zum Sommernachtstraum zeigt aber, dass Tieck gerade nicht die vollständige Rekonstruktion der Shakespearebühne um ihrer selbst willen anstrebte, sondern immer dann, wenn es ihm ftir die Inszenierung zweckmäßig erschien, unterschiedlichste Stilmittel miteinander verschmolz.10' Diesen Grundsatz hatte er Raumer gegenüber folgendermaßen erläutert: Ich habe schon öfter mit Ihnen darüber gesprochen, daß ich es für möglich halte, ein Medium zu erfinden, eine Bühne zu errichten, die sich architektonisch der altern der Engländer näherte, ohne daß wir Malerei und Dekoration ganz verbannten, ja es könnte wol so eingerichtet werden, daß diese Täuschungen, an welche wir uns einmal gewöhnt haben, noch magischer und mannichfaltiger, aber auch zugleich zweckmäßiger und mehr bühnengerecht sich darstellten, sodaß sie die Wirkung des Schauspieles erhöhten, statt sie, wie es jetzt so oft geschieht, zu schwächen oder zu vernichten.104

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Gersts Entwurf zur Handwerkerstube ist abgebildet bei Petersen: Ludwig Tiecks Sommernachtstraum-Inszenierung, S. 185. Leipziger Illustrirte Zeitung 3, No. 77 (21. Dezember 1844), S. 396-398. Die Lithographie wurde mehrfach wiederabgedruckt, zuletzt bei Schmidt: Mendelssohns Schauspielmusik zum Sommernachtstraum, S. 268. Leipziger Illustrirte Zeitung 3, No. 77 (21. Dezember 1844), S. 396. Ebd., S. 398. Vgl. Schneider: Both's Bühnen-Repertoir, Band XIII, No. 99, S. i846f.: »[...] aus dem Vergleich der hier beschriebenen Bühnen-Einrichtung mit der vorhergehenden Schilderung der altenglischen Bühne zu Shakespeares Zeit [geht] hervor, dass alles Uebrige durchaus phantastisch und nur für den bestimmten Zweck der Aufführung gerade dieses Stückes zusammengestellt ist. Von der Nacktheit und Aermlichkeit der alt-englischen Bühne war keine Spur, im Gegentheil sowohl der Pallast als die Wald-Dekoration von grosser malerischer Schönheit, also keineswegs das Ausschmückungsmittel durch Dekoration verschmäht, und hätten die Teppiche an den Seiten nicht jeden Augenblick daran erinnert, dass der Bühnen-Apparat ein anderer, ungewöhnlicher erscheinen sollte, so würde man beide Dekorationen, mit Ausnahme der unverkleideten Treppen in den Waldscenen, in jeder ändern Bühnenvorstellung brauchen können und schön gefunden haben.« Vgl. auch Wolff: Das Bühnenbild um die Mitte des 19. Jahrhunderts, S. 152. Tieck: Kritische Schriften, Band III, S. 173. Vgl. ebd., Band IV, S. 72ff.

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Schon bei der Inszenierung griechischer Tragödien hatte sich Tieck mehrfach über die historisch korrekte Nutzung von Skene und Orchestra hinweggesetzt.105 Dem Inszenierungskonzept von Racines Athalia wurde ebenfalls eine feststehende Bühnenarchitektur zugrunde gelegt.106 Auch hier ist ein Plan erhalten, den Gerst fiir eine spätere Aufführung im Potsdamer Stadttheater angefertigt hatte.107 Dieser Entwurf vom 24. Dezember 1845 zeigt »Plan, Durchschnitt und Aufriss zur Stellung der Decoration zu der Tragödie Athalja für das Königliche Stadt=Theater zu Potsdamm«. Darüber hinaus enthält er verschiedene eigenhändige Anmerkungen des preußischen Königs, dem Gerst den Plan zur Begutachtung vorgelegt hatte.108 Die Fläche vor dem Portal ist auf das Niveau der Vorbühne erhöht. Wie im Plan zur Antigone befindet sich hier die Orchestra, die von unten über seitlich angestellte Treppen betreten werden kann. Das Orchester ist wiederum im Parterre rund um die Orchestra plaziert. Für die Lage der Orchestra sind im Grundriss allerdings zwei Varianten eingezeichnet: Ursprünglich wollte Gerst die Spielfläche des Proszeniums nach vorne durch einen »neuen Anbau« in rechteckiger Form erweitern, so dass sich die Orchestra zwar auf demselben Niveau, aber dennoch vollständig vor dem Proszenium befunden hätte. Friedrich Wilhelm IV. strich als »unmaßgeblichen Vorschlag« diese Fassung aus: Die als »neuer Anbau« bezeichnete Fläche fällt somit weg, der Vorschlag entspricht nun der für die antike Bühne gefundenen Lösung.109 Im Unterschied zur Einrichtung für die griechische Tragödie wird für Athalia die eigentliche Bühne in ihrer Tiefe ausgenutzt. Die Szene stellt den »Vorhof des Salomonischen Tempels« dar, wobei eine imposante Treppenkonstruktion, die über vier Ebenen zum Altar hinaufführt, den größten Raum einnimmt. Einschließlich der Orchestra weist der Bühnenraum somit fünf verschiedene Spielniveaus auf. Wie aus dem Bühnenlängsschnitt hervorgeht, hat Gerst in seinem Entwurf die Anzahl der einbauten Podeste gegenüber der Einrichtung im Charlottenburger Schlosstheater erhöht, wodurch er weitere Ebenen gewinnt.110 Doch auch hier möchte Friedrich Wilhelm IV. unnötigen Aufwand vermeiden: was hier d. Erhöhung etc. fiir Potsdam bezeichnet ist kann unterbleiben, u nur die Charlottenb. Einrichtung lediglich übertragen werden.

«" Vgl. Kapitel VII.3. Die Erstaufführung von Athalia hatte am i. Dezember 1845 im Charlottenburger Schlosstheater stattgefunden. 107 Staatliche Museen zu Berlin, Kunstbibliothek, Inventar-Nr.: Lipp-HdZ 1447. Veröffentlicht wurde die Zeichnung von Berckenhagen: Die Bühnenbildentwürfe der Kunstbibliothek Berlin, S. 47. Vgl. Schäffer/Hartmann: Die königlichen Theater in Berlin, S. 6. 108 Dies geht aus einer Notiz Gersts hervor: »NB. Sr. Majestät des Königs Friedrich Wilhelm IV. allerhöchst eigenhändige Bemerkungen«. 109 Im Längsschnitt wurde diese Korrektur nicht vorgenommen. Hier ist nur die ursprüngliche Fassung mit dem »neuen Anbau« abgebildet. 110 Gerst kennzeichnet in seinem Plan den »Fußboden des Theaters«, die »Erhöhung des Fußbodens für das K. Theater Potsdamm« sowie die »Erhöhung der Bühne wie sie im K. S. Theater zu Charlottenburg gewesen«. 106

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Im Hintergrund der Bühne kritisiert der König weiterhin die »Architektur mit zwey Hörnern«, die in der Charlottenburger Einrichtung offenbar nicht vorhanden gewesen war. Für die Verkleidung der Seitenwände mit den Proszeniumslogen bietet Gerst unterschiedliche Möglichkeiten an, die er in seinem Entwurf übereinander geklebt hat, so dass durch seitliches Wegklappen der jeweils darunter liegende Vorschlag sichtbar wird: Zu oberst befindet sich die klassizistische Verkleidung des Portals, die bereits in der Einrichtung zur Antigone verwendet worden war (sie trägt die Aufschrift »Antigone«), darunter als zweite Variante ein blauer Vorhang und schließlich zu unterst das unveränderte Portal.1" Friedrich Wilhelm IV. entschied sich für unverkleidete Proszeniumslogen.112 Tiecks Bühnenraumkonzeptionen zum Sommernachtstraum und zu Athalia müssen also als Fortfuhrung der Einrichtung zu Antigone betrachtet werden. An anderen Schauspielhäusern nahm man sich in den Folgejahren sowohl für die Inszenierung griechischer Tragödien als auch des Sommernachtstraums die Potsdamer Bühneneinrichtungen zum Vorbild."3 Gleichsam eine Renaissance erlebten Tiecks Gedanken zur Bühnenraumgestaltung Ende des 19. Jahrhunderts in München."4 Die »Münchner Shakespeare-Bühne«, die der Intendant Karl Freiherr von Perfall (1824-1907) gemeinsam mit dem Regisseur Jocza Savits (1847-1915) und dem Obermaschinenmeister Karl Lautenschläger (1843-1906) auf Anregung von Rudolf Genee (1824-1914) entwickelt hatte, wurde dort erstmalig mit der vielbeachteten Inszenierung des König Lear am i. Juni 1889 erprobt. Dass man sich hierbei eines Mittelweges bediente, »der beides bot: Reinheit der Scene von vordringlichem Culissenwesen und dasjenige Maß äußerlicher Glaublichmachung für das Auge, ohne daß der verbildete Zuschauer sich unheimisch gefühlt hätte«,"5 zeigt die geistige Verwandtschaft dieses Versuchs mit den Bemühungen Tiecks: »Denn keine Kunst ist von Natur so auf Compromisse angewiesen wie die Bühne f...].«"6 111

Im Bühnenquerschnitt hat Gerst rechts den blauen Vorhang und links das unverkleidete Portal eingezeichnet. 112 »NB. Die Proszeniumslogen ohne Bekleidung«. 113 Vgl. Kapitel VIII. sowie Kemme: Ludwig Tiecks Bühnenreformpläne und -versuche und ihre Wirkung auf die Entwicklung des deutschen Theaters im 19. und 20. Jahrhundert, S. 75ff. Nach dem Urteil Karl Frenzels führte die im Sommernachtstraum erprobte Bühne zunächst zu keiner unmittelbaren Nachahmung oder Weiterentwicklung: »Trotz des allgemeinen Beifalls, der dieser Einrichtung zu Teil ward, und des Vorteils, den sie der Darstellung brachte, sowohl für die Beweglichkeit, das Auftreten und Abgehen der Schauspieler, wie für die Geschlossenheit und Einheitlichkeit des Ortes, fand sich keine Regisseur, der sie auch für andere Dramen Shakespeares angewandt hätte. Es blieb alles beim Alten [...].« Frenzel: Die scenische Einrichtung der Shakespeare-Dramen, S. 258f. Vgl. auch Kilian: Shakespeare auf der modernen Bühne, S. 233. »4 Vgl. Perfall: Ein Beitrag zur Geschichte der königlichen Theater in München, S. 272—309 sowie Kemme: Ludwig Tiecks Bühnenreformpläne und -versuche und ihre Wirkung auf die Entwicklung des deutschen Theaters im 19. und 20. Jahrhunden, S. n6ff. 115 Perfall: Ein Beitrag zur Geschichte der königlichen Theater in München, S. 289. 116 Ebd., S. 288. 228

Die »Münchner Shakespeare-Bühne« wurde nicht nur für Stücke des englischen Dramatikers, sondern auch für andere Schauspielklassiker, wie z. B. Goethes Götz von Berlichingen, eingesetzt."7 Die Einrichtung wurde von weiteren Theatern, so in Prag und Wien, übernommen.118 Die Ablösung der Kulissenbühne durch eine feststehende Bühnenarchitektur, die Beschränkung auf Treppen und Vorhänge sowie die Einbeziehung des Bühnenraums in das Inszenierungskonzept oder, wie Carl Niessen schreibt, »die Überwindung des flachen, langweiligen Bühnenbodens«119 — diese Ideen Tiecks können als richtungsweisend bis ins 20. Jahrhundert gelten.120

2. Kostüm und Maske Mit der aufsehenerregenden Gothaer Aufführung der Ariadne aufNaxos von Johann Christian Brandes (1735-1799) mit Musik von Benda hatte 1775 das antike Theaterkostüm Einzug auf der deutsche Bühne gehalten. Die Kleidung der >Ariadne< war von weißem, der Mantel von rotem Atlas, vollkommen im altgriechischen Geschmack und nach Winkelmann und ändern alten Kunstwerken verfertigt, sowie der Kopfputz gleichfalls von einer alten Gemme der Ariadne genommen war. Madame Brandes war die erste Schauspielerin, welche die einfache altgriechische Kleidung wählte und auf der Bühne wieder einführte. Sie that nach der Kritik große Wirkung, und die Ungezwungenheit dieser Tracht wurde zugleich für die Leichtigkeit und Freiheit der Aktion vorteilhaft befunden.111

Die Bemühungen um »charakteristische, Zeit und Geist des Stückes wiedergebende Kostümierung« setzten auf deutschen Bühnen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ein.112 Bis dahin war das französische Kostüm — zeitgenössische, höfisch-aristokratische Kleidung - maßgeblich, das bestenfalls durch vermeintlich typische Attribute einen antiken oder orientalischen Anstrich erhielt.123 Bei den Inszenierungen von römischen Komödien und griechischen Tragödien am Weimarer Hoftheater zu Beginn des 19. Jahrhunderts nahm das antike Kostüm

"7 Vgl. ebd., S. 309-324. 118 Vgl. ebd., S. 324-331. 119

Niessen: Goethe und die romantische Shakespeare-Bühne, S. 127. »Tiecks plastische Belebung des Bühnenbodens wirkte nicht nur auf die Raumanschauung der jungen Dramatiker seiner Zeit; die Auflockerung und Staffelung der Gruppen in Dingelstedts Inszenierung der >Braut von MessinaMacbethFiesko< und >Jungfrau< und zumal Otto Devrients >Mysterien-Bühne< für den >Faust< zeigen das Fortwirken der Idee, wenn auch die modernen Treppen-Experimente nicht unmittelbar von Tieck abgeleitet werden dürfen. Wohl in keinem Falle hat eine Inszenierungsidee eine solch zähe Tradition geschaffen.« Ebd., vgl. auch Wolff: Das Bühnenbild um die Mitte des 19. Jahrhunderts, S. 150. 111 Hodermann: Geschichte des Gothaischen Hoftheaters 1775-1779, S. 8f. 122 Maurer-Schmoock: Deutsches Theater im 18. Jahrhundert, S. 59. "' Ebd., S. 53. 120

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eine zentrale Stellung ein. Die Kleidung der Schauspieler in Schlegels Bearbeitung des euripideischen Ion war außergewöhnlich genug, um die Figurinen im Journal des Luxus und der Moden abbilden zu lassen.124 Die Komödienkostüme zu Terenz' Brüdern wurden der Textausgabe von Einsiedeis Bearbeitung als Stich beigegeben.115 Als im Januar 1809 Antigone in der Bearbeitung von Rochlitz auf die Bühne gelangte, war das griechische Kostüm bereits zum festen Bestandteil des Kostümkanons geworden. Dies bestätigt die Notiz in einer Akte der Hoftheater-Kommission aus dem Jahr 1809: »Kleidungen zur Antigone werden besprochen. Da es griechisches Costüm ist braucht nichts neues angeschafft zu werden.«116 In Potsdam war man nicht nur bei der Einrichtung der Bühne, sondern auch bei der Gestaltung der Kostüme auf möglichst treue Rekonstruktion, gepaart mit größter Theaterwirksamkeit, bedacht. In Hinblick auf die wissenschaftliche Genauigkeit erwies sich wiederum Genellis Werk als hilfreich. Genelli trennt die Darsteller der griechischen Tragödie in zwei Gruppen: die Skeniker, »die eigentlichen Rollen der Handlung selbst«, und die Gemeinschaft des Chores, die auch Thymeliker genannt wurden, »weil ihr Ort, die Orchestra, wie auch die ganz eigene Bewegung ihres Tanzes zum Mittelpunkte die Thymele hatten.«I17 Entsprechend unterschieden sich diese beiden Gruppen in ihrem Kostüm. Die Skeniker trugen »zur Vermehrung des äußerlichen Ansehens« Stiefel mit dicken Sohlen, den Kothurn, »sodann auch andere Vervollständigungen des Körperbaues [...]. Dürftig belegte Brust und Schultern, dünne Glieder, kurze Hände und Füße, stumpfe Finger stritten zu sehr gegen die herrschende Kunst-Idee.«118 Zu ihrer Bekleidung gehörte ein »Leibrock«, Chiton, der von einem Gürtel zusammengehalten wurde; die Länge und die Art der Verzierungen waren je nach Rang, Alter und Geschlecht verschieden. Darüber wurde ein Mantel oder Umhang getragen: Die vornehmste Art war für die männlichen Rollen die Palla, ein vollständiger Mantel, der alle nöthige Weite hatte, um die ganze Gestalt einzuhüllen. Für die weiblichen Rollen war das Peplon dasselbige, nur dass dieses häufig aus viel feinerem Gewebe, oft köstlich durchwirkt war, und als Zeichen der ehelichen Würde schleierförmig auf dem Kopfe befestigt wurde, während Jungfrauen ihn nur an den Schultern geheftet trugen.I1?

Für Propheten - Figuren wie den Seher Teiresias - gab es einen Umhang, Agrenon genannt, der aus »einem weitläufig geknüpften Neze von dicken lockeren Fäden aus weißer Wolle bestanden haben« soll.'30 Nicht-griechische Personen unterschieden sich von griechischen weniger in ihrer Bekleidung, sondern vielmehr durch die Kopfbedeckung. 14

Journal des Luxus und der Moden, Band 17, März 1802, Tafel 7. Einsiedel: Die Brüder. Ein Lustspiel nach Terenz in 5 Akten, Leipzig 1802. 16 Thüringisches Hauptstaatsarchiv Weimar (Signatur: GI1/8, fol. 2V). 17 Genelli: Das Theater zu Athen, S. 83. 18 Ebd., S. 85. Ebd., S. 92. 3° Ebd., S. 94. 15

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XI

Abb. /a X V K]

Abb. yb

Die Kostüme der Thymeliker und der niedrigeren Rollen waren schlichter. Der Chor der Bürger und die gewöhnlichen Boten trugen einen engeren und kürzeren Chiton. Das Kostüm der Wächter bestand aus einem ärmellosen Chiton aus Schafsfell. Sklaven besaßen ein kurzes Hemd, das Himation. Alle Darsteller trugen Masken, »um in bestimmten und anerkannten Zügen den Charakter herzustellen.«1'1 Während jedoch die Frisuren der Skeniker aufwendig gestaltet waren, um »das Ansehn der Maske überhaupt zu erhöhen,« hielt »in einem bürgerlichen Chore die Gesichtsbildung und Anordnung des Haares sich näher an die gewöhnliche Natur und Sitte.«131 Neben Genelli stand Tieck möglicherweise eine weitere Quelle zur Verfügung, die Hinweise zur Gestaltung der Kostüme liefern konnte: das 1829 veröffentlichte Werk Description d'une mosaique antique du musee Pio-Clementin ä Rome von Aubin Louis Millin (1759-1818). Der Archäologe und Historiker Karl Otfried Müller (1797-1839)'» hatte Tieck in früheren Jahren auf dieses Buch hingewiesen. »Für das tragische Costüm würde man viel aus den Mosaiken des Pio-Clementinum lernen, die Millin [...] herausgegeben, wenn sie nicht gar so grob und ungeschlacht wären. Wenigstens sieht man daraus, dass die Alten so gut wie keine Variation des Costüms kannten und am weitesten von der historischen Pedanterei unsrer Zeit entfernt waren«, schreibt Müller 1821 an Tieck in einem Brief, dem er zusätzlich die Skizze eines griechischen Theaters beifügt.134 Millin vermutete, dass es sich bei dem beschriebenen Mosaik um Szenen aus verschiedenen Tragödien und einem Satyrspiel - wahrscheinlich aus Stücken des Euripides - handele.135 Friedrich Wieseler (1811-1892) hält diese Vermutung in seinem 1851 erschienenen Buch Theatergebäude und Denkmäler des Bühnenwesens bei den Griechen und Römern jedoch für unzutreffend: »[...] es ist geradezu unmöglich, auch nur eine Scene mit Sicherheit auf ein Drama des Euripides oder eines anderen Tragikers zurückzuführen.« Wahrscheinlicher sei es, »dass unsere Figurenpaare sich auf Stücke der römischen Tragiker beziehen könnten.«136 Die Abbildungen in Millins Beschreibung zeigen Masken und Schauspieler in verschiedenen charakteristischen Posen.137 Auffallend sind die leuchtenden, bunten Farben der Kostüme. Das typische Kostüm der Tragödienschauspieler ist einheitlich; anders als bei Genelli gibt es keine deutlichen Hinweise auf Rang oder Nationalität

'" Ebd., S. 82. w Ebd., S. 99ff. '" Seine bekanntesten Werke sind die Geschichte hellenischer Stämme und Staaten und das Handbuch der Archäologie der Kunst. Müller starb 1839 auf einer Forschungsreise in Griechenland, so dass Tieck ihn für die Potsdamer Aufrührungen nicht mehr zu Rate ziehen konnte. 134 Müller an Tieck (12. April 1821), zitiert nach Holtei: Briefe an Ludwig Tieck, Band III, s.35f. IJS Vgl. Millin: Description d'une mosaique antique, S. 33. 136 Wieseler: Theatergebäude und Denkmäler des Bühnenwesens bei den Griechen und Römern, S. 48. 137 Siehe Abbildung ya, b (Millin: Description d'une mosaique antique, Tafel XI und XVIII). 232

der Person.1'8 Die Figuren werden in erster Linie durch Attribute charakterisiert, beispielsweise durch die Frisur oder durch Waffen (Schwert oder Stab). Zudem tragen die dargestellten Schauspieler Kothurne und ausdrucksstarke Masken: dies spricht dafür, dass es sich - wie Wieseler vermutet - um Kostüme des römischen Theaters handelt. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass die Abbildungen Millins tatsächlich den Kostümentwürfen in Potsdam zugrunde gelegt wurden; jedoch kann dies nicht bestätigt werden. Die von Förster kritisierte Farbigkeit der Kostüme könnte auf das Vorbild dieser Abbildungen zurückgeführt werden. Im Ganzen scheinen die Kostüme der Aufführung nicht unbedingt der gängigen Vorstellung von klassischer Schlichtheit entsprochen zu haben. Wie Mendelssohn am 23. Januar 1842 in einem Brief an den Leipziger Stadtrat Demuth mitteilt, waren keine Lithographien der Kostüme angefertigt worden.'39 Den wenigen Beschreibungen ist zu entnehmen, dass sie eher aufwendig gestaltet waren, auch wenn »Stickerei, Gold und Silber vermieden« wurden. »Kreon trug das lange dunkelgelbe wollene Unterkleid und den Purpurmantel, die goldene Königsbinde im Haar, den Herrscherstab in der Hand.« Der Chor, die thebanischen Greise, erschienen »in dunkelfarbiger Tracht mit hohen Stäben.«140 Kritik wird wiederum vor allem von Seiten der Altertumsforscher geäußert. Droysen schreibt, das Oberkleid der Antigone sei zu dunkel gewesen, der Wächter habe eher einem Feuerwehrmann ähnlich gesehen.141 Vermutlich trug er eine von Genelli genannte Kopfbedeckung, den Krieger-Helm. Förster kann sich dagegen »mit den Tricot-Unterkleidern, mit der Frisur des Apolloknotens [...] nicht einverstanden erklären,« die Devrient als Haimon getragen habe, »wie überhaupt weder dem Schnitt, noch der Farbe, noch dem Stoffe nach die Anzüge angemessen erschienen; vielleicht hatte hier die Gelehrsamkeit zu viel, der Schneider zu wenig gethan.«'41 Geppert kritisiert zum einen das Kostüm des Teiresias, der »nicht anders erscheinen [durfte], als im Agrenon, ein wollenes, netzartiges Gewand, das den Sehern eigentümlich war«, zum anderen Frisur und Kostüm von Antigone, die »auf der griechischen Bühne nicht anders erschien, als in Trauerkleidern und mit verkürztem Haar, ganz ebenso Ismene. An der Costumirung dieser beiden Gestalten war nichts getroffen, als der Scheitel, den die Griechen bekanntlich als Zeichen der Trauer betrachteten.«'43 Zur Frage der Masken, die von Friedrich Wilhelm IV. ausdrücklich angesprochen worden war, schreibt Tieck am 14. April 1841 an Willisen: »Masken, Larven, sind, bei

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Vgl. Millin: Description d'une mosaique antique, S. 3if. Vgl. Universitätsbibliothek Leipzig, Handschriftenabteilung (Signatur: Rep. IX, 16, fol. 13"). Schneider: Both's Bühnen-Repertoir, Band XIII, No. 103, S. 1905. Droysen: Kleine Schriften zur alten Geschichte, S. 152. Böckh/Toelken/Förster: Über die Antigone des Sophokles und ihre Darstellung auf dem königlichen Schloßtheater im neuen Palais bei Sanssouci, S. XIV. Geppert: Über die Aufrührung der Medea des Euripides zu Athen, S. 19. 233

beschränktem Raum überflüssig und würden auch stören«.144 Schon Goethes Aufführungen römischer Komödien zu Beginn des 19. Jahrhunderts, bei denen Masken eingesetzt worden waren, hatte Tieck äußerst skeptisch gegenüber gestanden - freilich ohne dass er jemals eine Vorstellung besucht hätte. Ich gestehe Ihnen, daß ich diese Lustspiele nicht so passend finde, als die griechische Tragödie, denn sie liegen uns, obgleich neuer, viel ferner, durch Convention, Zufälligkeit und Sitte. Ich habe diese Exercitien, wie ich sie nennen möchte, in Weimar und Berlin nicht gesehen, kann mir aber diese Comödien, in Masken vorgestellt, nicht deutlich denken, weil unsere Theater bei Licht gespielt, und in dem engeren Raum Maskenspiel zu eng sind.145

Im Gegensatz zur antiken Bühne, die aufgrund ihrer Größe »den Wechsel zarter Mienenspiele [...] entbehren« musste,140 schien also der Gebrauch von Masken bei so geringer Distanz zwischen Zuschauern und Darstellern eher von Nachteil zu sein. Auch Böckh bemerkt nur nebenbei: »Von der Weglassung der Masken ist nicht nöthig zu sprechen.«147 Allerdings wurde auch allzu großer Realismus durch Schminkeffekte vermieden. So waren an dem Leichnam des Haimon, »ob schon er sich soeben das Schwerdt ins Herz gestoßen hat, Spuren äußerer Verletzung nicht vorhanden.«148 Auf die Verwendung des Kothurns wurde ebenfalls verzichtet. Man muss davon ausgehen, dass bei den oben beschriebenen räumlichen Verhältnissen das Tragen von Kothurnen allein schon bei der Benutzung der Treppen zwischen Orchestra und Bühne zu weiteren Ungeschicklichkeiten geführt hätte. Es ist anzunehmen, dass für die nachfolgenden Aufführungen antiker Tragödien, Medea und Ödipus in Kolonos, ähnliche Kostüme verwendet wurden. Mehrfachverwendungen von Kostümen, ebenso wie von Bühnenbildern, waren in der Theaterpraxis des 19. Jahrhunderts üblich.

144 Tieck an von Willisen (14. April 1841), Biblioteka Jagiellonska Krakow (Signatur: Aut. Ludwig Tieck, fol. 2r). 145 Tieck an Dingelstedt (15. Dezember 1851), Goethe- und Schiller-Archiv (Signatur: 157/111, fol. 2V). 146 Genelli: Das Theater zu Athen, S. 82. 147 Böckh/Toelken/Förster: Über die Antigone des Sophokles und ihre Darstellung auf dem königlichen Schloßtheater im neuen Palais bei Sanssouci, S. 83. '•»8 Ebd., S. IX. 234

C.

REZEPTION

VII. Berichte von Zeitgenossen über die Potsdamer Bühnenfassungen

i.

Zur Musik

Der große Erfolg der Antikenauffiihrungen wird im Wesentlichen auf die Kompositionen von Mendelssohn und Taubert zurückgeführt. Für die »scenische Belebung des antiken Trauerspiels« war die Verwendung von Musik »ein fast unumgängliches Erfordernis.«1 »Unstreitig [hat] Mendelsohn's Musik die sophokleische Tragödie beim großen Theaterpublicum eingänglich und populär gemacht.«1 Seine Kompositionen trugen erheblich dazu bei, das Publikum »für den etwas starren, spröden Stoff der Dichtung empfänglich zu stimmen.«3 Ebenso sei die »Medea des Euripides, mit den vom MusikDirektor Taubert componirten Chören und melodramatischen Scenen, [...] der Musik entschieden einen großen Theil ihrer Wirkung schuldig«,4 schreibt der Schriftsteller und Musikkritiker Rellstab anlässlich der Veröffentlichung des Klavierauszugs zur Medea. »Das Werk faßt mit rauher wilder, aber großartiger Kraft, welche jedoch durch die Verschmelzung mit der höchsten Musik eine mildernde Vermittlung erfährt, die dem Ganzen nur wohltuend ist.«5 Im Gegensatz zu diesen Aussagen steht die Kritik von Julius Becker (1811—1859) in der Neuen Zeitschrift für Musik, der für die griechische Tragödie »jedes Componieren im modernen Sinne« ablehnt, da keine Zeile aus einem antiken Trauerspiele dazu geeignet sei.6 Problematisch sei dies, weil sich »das griechische Theater und die griechische Dichtung als ein von uns himmelweit und um Jahrtausende Abliegendes« erweise: [...] wir haben [...] an die mit jenen Momenten unvereinbaren Gegensätze, an unsern Individualismus, unsere Romantik, unsere Innerlichkeit und an unsere Musik zu denken. Die letztere ganz besonders ist die Kunst, in deren Enthüllung wir ein praktisches Beispiel des

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Königlich Privilegirte Berlinische Zeitung, No. 254 (30. Oktober 1841). Devrient: Erinnerungen an Felix Mendelssohn Bartholdy, S. 224^ Neue Zeitschrift für Musik 9, Band 16, No. 24 (22. März 1842), S. 94. Besprechung der Erstaufführung in Leipzig vom 5. März 1842. Königlich Privilegirte Berlinische Zeitung, No. 264 ( . November 1843). Königlich Privilegirte Berlinische Zeitung, No. 244 (18. Oktober 1843). Becker fährt fort: »Die Musik wird zur klirrenden Kette, die hinter dem prächtigen Gedankengange daherschleppt, verdrossen, störend und unerquicklich. Eine kunstreich ausgeführte, vierstimmige Composition der Chöre, wie sie Mendelsohn Bartholdy namentlich in dem sonst herrlichen Bacchus-Chore der Antigone geliefert, dünkt uns nun vollends verfehlt.« Neue Zeitschrift für Musik n, Band 20, No. 4 (n. Januar 1844), S. 14. 237

Unterschiedes zwischen dem classischen Alterthum und dem Germanenthum erblicken. Die Alten waren beredet, wir sind musikalisch; eine Concert- und andere Musik in unserem Sinne, die eben jeder auf sich bezieht und in welche der Zuhörer ein neues Etwas, sein individuelles Empfinden, hineinlegt, war dem Wesen der Alten fremd, und mußte ihnen stets fremd bleiben.7

Becker verlangt daher für die Aufführungen antiker Dramen »eine dem Begriffe des alten Kunstwerks entsprechende Musik«.8 Der Rezensent der Zeitung für die elegante Welt rückt Mendelssohns Musik in die Nähe von Opernkompositionen: Im Ganzen aber hat der Componist zu viel Musik gegeben, der so einfache Dialog in der Dichtung wird erdrückt und fällt gegen die Wirkung, welche die Musik der Chöre bezweckt, zu sehr zurück, das antike Gleichgewicht zwischen rhetorischem Vortrag und musikalischer Begleitung ist ganz aufgehoben [...]. Gleich der erste Chorgesang versetzt uns in die Oper. Sollen wir einmal Oper haben, so gibt die Gluck'sche Oper lediglich die würdige und richtige Wiederbelebung der antiken Gestalten und Stoffe im Sinne und mit den Mitteln der modernen Zeit. Eine sophokleische Tragödie als Libretto zu nehmen, wird immer Missbrauch einer Dichtung zu Gunsten der Musik genannt werden müssen.9

Die Chorlieder, die der Rezensent als Reflexionen und Lehrgedichte bezeichnet, dürften nur rezitativisch, nicht aber als Operngesänge behandelt werden. Nach der Auffassung anderer Zuhörer hatte es Mendelssohn dagegen verstanden, seine kompositorischen Mittel so einzusetzen, dass die Musik »dem Charakter der Chorlieder und der darin enthaltenen Gedanken angemessen« erschien.10 »Hierdurch darf sich jedes antiquarische Gewissen beschwichtigt fühlen, da zumal kein Antiquar im Stande sein würde, an die Stelle dieser Musik eine antike zu setzen.«11 Mit seiner Musik, die »aus dem Innersten der Dichtung hervorgehend, doch auch zugleich die Ansprüche unserer Zeit erfüllt,«12 gelingt es Mendelssohn, »eine Vermittlung zwischen uns und der alten Tragödie« schaffen.'3 Die Klänge, die den Zeitgenossen fremdartig und doch verständlich erscheinen, erwecken den »Eindruck antiker Musik.«'4 Der Stil der Komposition könne weder antik noch modern genannt werden, noch ließe sich die Musik »zur Kirchen- und Opernmusik irgend einer Gattung rubriciren [...]. Ueberall die Situation unterstützend, den dramatischen Ausdruck hebend, drängt sich die Composition nirgends prahlerisch hervor, noch läßt sie uns empfinden, daß durch

Neue Zeitschrift für Musik n, Band 20, No. 3 (8. Januar 1844), S. 9. Neue Zeitschrift für Musik n, Band 20, No. 4 (n. Januar 1844), S. 14. Zeitung für die elegante Welt 42, No. 50 (n. März 1842), S. 200. Böckh/Toelken/Förster: Über die Antigone des Sophokles und ihre Darstellung auf dem königlichen Schloßtheater im neuen Palais bei Sanssouci, S. 90. Ebd. Derselben Meinung ist auch Varnhagen von Ense: »Die Chöre gingen sehr gut, man fand die Komposition von Felix Mendelssohn-Bartholdy würdig und sachgemäß.« Varnhagen von Ense: Tagebücher (29. Oktober 1841), Band i, S. 363. Neue Zeitschrift für Musik 9, Band 16, No. 24 (22. März 1842), S. 95. Hiller: Aus dem Tonleben unserer Zeit, Band I, S. 227. Droysen: Kleine Schriften zur Alten Geschichte, S. 148.

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sie ein Element in die Dichtung hineingekommen, das, mit hellfarbigen Lichtern, nicht zu dem Grundtone des Ganzen paßt. Die Musik, zwar auf das Innigste mit der Tragödie verschmolzen, will doch nichts Anderes sein, als was sie bei den Alten war: die Dienerin derselben.«'5 Für Mendelssohn war es eine überaus reizvolle Aufgabe, die griechischen Texte der Chöre mit ihren besonderen Rhythmen in Musik zu setzen. Weitaus mehr Schwierigkeiten als die Rhythmen schienen ihm die »holprigen Worte« der 1839 erschienenen Übersetzung von Donner zu bereiten.16 Es überwiegt die Zahl derjenigen, die der Meinung sind, der Komponist habe »mit seltener Gewandtheit [...] die Schwierigkeiten besiegt, welche die wenig lyrischen Worte und Versmaaße ihm entgegenstellten.«'7 Wenn auch dem einen oder anderen der Bacchuschor (No. 6) »zu feurig«, der Chor No. 2 »Vieles Gewaltige lebt« zu »sanft und schmelzend« erschien,'8 so sei diese Musik doch »ein Beweis mehr für die Meisterschaft Mendelssohn-Bartholdy's.«'9 Ebenso nehme der Komponist für die melodramatische Musik, »die er mit einer Zartheit, einer Discretion behandelt hat und in dramatischer wie psychologischer Beziehung so tief und wahr ist, [...] unsere höchste Bewunderung in Anspruch.«10 Nach Aussage des Leipziger Altphilologen Hermann verdienten die Klagen der Antigone und des Kreon noch »größeren Beifall« als die Komposition der Chorlieder: »Die von leiser reizender Instrumentalbegleitung getragene gehobene Declamation war von wirklich ergreifender Wirkung.«2' Tiecks Musikgeschmack werden allerdings diese Teile der Komposition nicht entsprochen haben, da es sich hierbei um eine Gattung handelt, »die ich schon immer, schon in meiner Jugend, bei Gelegenheit der Ariadne auf Naxos verabscheut habe.«21 Der Anteil der lyrischen Partien im ödipus in Kolonos ist ungleich höher als in der Antigone.^ Schon allein deshalb muss der Reiz zur Komposition einer Schauspielmusik groß gewesen sein. Da es sich Mendelssohn »zum unverbrüchlichen Gesetz gemacht hatte, niemals etwas Musik Betreffendes selbst in öffentlichen Blättern zu schreiben«,24

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Neue Zeitschrift für Musik 9, Band 16, No. 24 (22. März 1842), S. 94f. Vgl. Mendelssohn an Droysen (2. Dezember 1841), in: Wehmer: Ein tief gegründet Herz, S. 72. 17 Berlinische Nachrichten von Staats- und gelehrten Sachen, No. 87 (15. April 1842). 18 Berlinische Nachrichten von Staats- und gelehrten Sachen, No. 254 (30. Oktober 1841). Böckh hat dagegen »gerade die geistreiche Heiterkeit« des zweiten Chores »reizend angesprochen: diese Musik scheint ganz die Anmuth und Süßigkeit der Sophokleischen Muse zu athmen.« Böckh/Toelken/Förster: Über die Antigone des Sophokles und ihre Darstellung auf dem königlichen Schloßtheater im neuen Palais bei Sanssouci, S. 90. 19 Königlich Privilegirte Berlinische Zeitung, No. 87 (15. April 1842). 20 Neue Zeitschrift für Musik 9, Band 16, No. 24 (22. März 1842), S. 95. 11 Hermann: Über Sophokles Antigone und ihre Darstellung auf dem deutschen Theater, S. 23. " Tieck an Dingelstedt (15. Dezember 1851), Goethe- und Schiller-Archiv Weimar (Signatur: 157/111). Tieck meint hier Anadne auf Naxos von Brandes/Benda. *' Vgl. Kapitel V.3.d. 24 Mendelssohn an Prof. Dehn (28. Oktober 1841), zitiert nach Mendelssohn Bartholdy: Briefe aus den Jahren 1830-1847, S. 466. 16

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sind Äußerungen über seine eigenen Kompositionen vorrangig in Briefen an Familie und Freunde erhalten. In einem Brief an Devrient berichtet Mendelssohn, dass die Chöre zum Ödipus in Kolonos fertiggestellt seien, »und hoffentlich viel besser als die zu Antigone«.2* Diese Hoffnung scheint sich in den Augen seiner Zeitgenossen erfüllt zu haben. Für seine Komposition, bei der er wie schon in der Antigone »die reichen Mittel der Neuzeit im antiken Geist«26 verwendet, erhält Mendelssohn uneingeschränkte Anerkennung selbst von denjenigen, die den Aufführungen antiker Tragödien grundsätzlich ablehnend gegenüberstanden.17 Man beurteilte die Musik für »noch höher, als die Compositionen desselben Meisters zur Antigone, so viel Großartiges auch diese schon darbot.«28 Wiederum sei es Mendelssohn gelungen, »den Geist der griechischen Gesänge im Element des musikalischen Tons wiederzugebären. [...] Seine Composition zum Oedipus auf Kolonosbeweiset uns, dass er selbst auf diesem Gebiete noch eines Fortschritts fähig war.«29 Kurz gesagt: »Seine Musik zum Oedipus ist des Oedipus würdig.«30 Das allgemeine Interesse an dieser Aufführung war im Vergleich zur Antigone jedoch weit gesunken, was sich auch in der geringeren Anzahl der Rezensionen niederschlägt. Die Aufgabe, eine Schauspielmusik zu Medea zu komponieren, wurde als besonders schwierig eingeschätzt. »Nicht mit Unrecht hatten daher ausgezeichnete Musiker [gemeint sind Mendelssohn und Meyerbeer]31 die Aufgabe für allzuwiderstrebend, der Musik fast unlösbar erklärt.«32 Die Schwierigkeit lag zum einen in der »Eigenthümlichkeit der Euripideischen Chöre«, zum anderen in dem »Umstand, daß hier Frauen-Chöre zu componiren waren, denen ein klassisch-alterthümliches Gepräge schwerer zu verleihen seyn dürfte«:33 [...] jeder Frauenchor bekommt auf die Länge etwas Monotones. Es fehlt ihm an einem tüchtigen Fundament, das ihn tragen kann und die Stimmen der Frauen haben nicht die charakteristische Verschiedenheit voneinander, wie die der Männer. Ein Frauenchor ermüdet daher, wenn man ihn ein ganzes Stück hindurch hören soll.34 *'

Devrient: Erinnerungen an Felix Mendelssohn Bartholdy, S. 250. Berliner Musikalische Zeitung 2, No. 45 (8. November 1845). 27 »Die Musik, an sich betrachtet, ist ein weiteres Zeugnis für das Talent [...] unseres Mendelsohn Bartholdy; aber unsere Musik hat sich ausgebildet auf dem Boden unseres Glaubens, unserer Romantik, und der strebsamste Geist wird es nicht dahin bringen, unsre Tonwelt so nur mit Verständlichkeit allein zu durchdringen, daß sie dem bloß Schildernden und Gedanklichen rechten Ausdruck giebt. Der Componist hat sich von Neuem als Meister gezeigt, er hat Vorzügliches gegeben und das Unmögliche ist nicht zu verlangen.« Königlich Privilegirte Berlinische Zeitung, No. 265 (12. November 1845). 18 Berlinische Nachrichten von Staats- und gelehrten Sachen, No. 257 (3. November 1845). ^ Ebd. 30 Berliner Musikalische Zeitung 2, No. 45 (8. November 1845). 31 Vgl. Kapitel III.i. 3Z Königlich Privilegirte Berlinische Zeitung, No. 184 (9. August 1843). 33 Berlinische Nachrichten von Staats- und gelehrten Sachen, No. 184 (9. August 1843). Zur Schwierigkeit der Frauenstimmen vgl. auch No. 243 (17. Oktober 1843) und Königlich Privilegirte Berlinische Zeitung, No. 184 (9. August 1843). 34 Geppert: Über die Aufführung der Medea des Euripides zu Athen, S. 15. 16

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Dennoch hat Taubert, dem schließlich diese Aufgabe übergeben worden war, die Erwartungen Rellstabs, obwohl er sich »redlich gestanden, auf manches Verfehlte gefaßt« gemacht hatte, weit übertroffen. Wenn dem Komponisten auch Mendelssohns Antigone als Vorbild dienen konnte, »so hat er doch auch des Eigenen und Selbständigen genug geleistet, und überhaupt nur gezeigt, daß er von seinem Vorgänger gelernt, nicht ihn nachgeahmt hat.«35 Besonders gelungen erscheint bereits die Introduktion, »ein charakteristisches, die Schauer des Mythos mit treffender Gewalt andeutendes Instrumentalstück«,36 die »auf die grauenvolle Handlung vorbereitet], welche zuletzt bis zum Entsetzlichen durch den Kindermord der rachesüchtigen Medea gesteigert wird«,37 ebenso die beiden Chöre No. 5 (»Nie wird ein gastliches Land«) und No. 6 (»Nun hoff ich die Söhne nicht mehr lebend zu sehen«). Dagegen beurteilt Rellstab No. 2 (»Unglückliches Weib«), den Anfang von No. 2a (»Die Quellen der heiligen Ströme«) sowie den »Schluß der sonst außerordentlich schönen Antistrophe >Es schwand des Eid's heilige Scheu< « (No. 2a) als weniger angemessen. Im Ganzen wird der »hohe Grad der Mannigfaltigkeit« hervorgehoben.38 So »bewirkt der Wechsel von Chor- und Solo-Gesang mit stellenweise den Dialog sehr wirksam unterstützender Instrumental-Begleitung (z. B. der gedämpften Violinen und Harfe) möglichste Steigerung der dramatischen Wirkung.«39 Devrient, der im übrigen die Medea »außer einigen rhetorischen Schönheiten« als »schwach« bezeichnet,40 bemerkt in seinem Tagebuch anlässlich der ersten Aufführung im Berliner Schauspielhaus: Es war eine würdige Vorstellung, ein jeder war mit Ernst dabei, das Arrangement des weiblichen Chores voll Leben und Empfindung, ich hatte herzliche Freude daran. Tauberts Musik ist sehr schön, mehr bloß rezitierend als Mendelssohns, aber voll von empfindungsvollen Motiven. Diese Gattung ist dem Talente eigentlich ganz angemessen, in seiner reichen Empfindungskraft immer fortgehen zu können, ohne strenge auf allgemeine Formen und Verarbeitung die Aufmerksamkeit richten zu müssen. Wieviel kann unser verfallenes Theater auf der Stelle leisten, sobald der gleichgültige Schlendrian einmal gebrochen wird, die Regie Kraft gewinnt und alle Einzelheiten dem Ganzen sich fugen.4'

Der Berliner Berichterstatter der Zeitungfür die elegante Welt, Feodor Wehl (1821-1890), muss dagegen gestehen, dass er auf die Musik zu wenig geachtet habe, um etwas über sie aussagen zu können. »Mein Gehör war zuletzt so müde geworden, daß ich es ihm wirklich nicht übel nehmen konnte, daß es sich während der Chormusik ein wenig zum Ausruhen setzte und keine Gedanken hatte.«41 Dieser Aussage lässt sich entneh-

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Königlich Privilegirte Berlinische Zeitung, No. 184 (9. August 1843). Königlich Privilegirte Berlinische Zeitung, No. 264 ( . November 1843). Berlinische Nachrichten von Staats- und gelehrten Sachen, No. 243 (17. Oktober 1843). Königlich Privilegirte Berlinische Zeitung, No. 184 (9. August 1843). Berlinische Nachrichten von Staats- und gelehrten Sachen, No. 243 (17. Oktober 1843). Devrient: Aus seinen Tagebüchern 1836-1852, S. 176. Ebd., S. I9of. Zeitung für die elegante Welt, No. 33 (16. August 1843), S. 809. 241

men, class Tauberts Komposition den Ohren der Zuhörer wohl keine ungewohnten Klänge und Melodien bot.

2. Zur Darstellung In der Presse erhalten die Schauspieler der Antigone-Aufführung weitgehend großes Lob.43 Bewunderung erregte nicht nur »die einfach erhabene Größe der Dichtung«, sondern vor allem auch die »fast übermenschliche Meisterschaft der Darstellung.«44 Selbst die Kritiker, bei denen die Aufführungen antiker Tragödien grundsätzlich auf Ablehnung stießen, erkannten die darstellerischen Leistungen der Schauspieler an. Sie »thun in Wahrheit das Mögliche, um sich scheinbar hereinzufinden in ein nicht mehr mit Gewißheit zu entdeckendes Gebiet: es ist und bleibt im Nebel. [...] Sämtliche Mitwirkende [zeigen] ein verdienstliches Studium oder mindestens eine lobenswerthe Gefühligkeit,«45 Höchste Anerkennung erhält Auguste Crelinger in der Rolle der Antigone, weil sie »den großartigsten Eindruck machte und den erhabenen Charakter im Kampf gegen das Schicksal, aber immer im klassischen Stil und das edle Maaß, auch in der höchsten Gemüthsbewegung nicht verletzend, vollkommen gab.«46 Die Crelinger spiele die Antigone »schwungvoll, und ebenso heroisch, als elegisch,«47 voll Leidenschaft »und doch nicht unweiblich,«48 wobei sie durch den »Wohllaut ihres Organs« unterstützt wird.49 Dass die Schauspielerin, die 1795 geboren wurde, möglicherweise für die Darstellung dieser Rolle zu alt sei, spielte bei der Beurteilung ihrer darstellerischen Leistung keine Rolle. Wie es im Album des Königlichen Schauspiels und der Königlichen Oper heißt, ging der »Vorstand der Bühne [...] von dem Grundsatze aus, dass bei Rollen, die wie Antigone [...] eine höchste Kunstbildung erfordern, letztere mehr als der Kalender und der Geburtsschein zu berücksichtigen ist.«50 « Vgl. Anhang Xl.i.a. Berlinische Nachrichten von Staats- und gelehrten Sachen, No. 94 (25. April 1842). 45 Königlich Privilegirte Berlinische Zeitung, No. 87 (15. April 1842). 46 Berlinische Nachrichten von Staats- und gelehrten Sachen, No. 87 (15. April 1842). 47 Berlinische Nachrichten von Staats- und gelehrten Sachen, No. 254 (30. Oktober 1841). 48 Böckh/Toelken/Förster: Über die Antigone des Sophokles und ihre Darstellung auf dem königlichen Schloßtheater im neuen Palais bei Sanssouci, S. 86. 4 ? Ebd., S. XIII. 50 Album des Königlichen Schauspiels und der Königlichen Oper zu Berlin unter der Leitung von A. W. Iffland, Karl Grafen v. Brühl, Wilhelm Grafen von Redern und Karl Theodor von Küstner für die Zeit von 1796-1851, S. 25. Vgl. Tieck: Kritische Schriften, Band III, S. 178!?.: »Ich sprach oben von zu eigensinnigen Forderungen mancher Zuschauer. [...] z. B. die, welche jetzt fast durch ganz Deutschland ertönt, daß eine Schauspielerin, welche junge Rollen spielt, auch selbst jung, wenn irgend möglich nicht älter, als es das Stück besagt, sein müsse. [...] Der Zuschauer soll nicht eben so, wie Romeo, in Julien verliebt werden; er soll die Kunst sehen und fühlen, das Gedicht empfinden und verstehen, nicht aber verlangen [...], daß er selbst gereizt werde, und er, statt des Zaubers der Poesie, in einen Taumel gerathe, der eben nicht poetisch zu nennen ist. [...] Schauspiele und Tragödien darstellen ist eine Kunst, die dem Menschen nicht angeboren wird; durch Studium und Uebung nur ist sie zu erringen, 44

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Bertha Stich (1818-1876) stellte »sanft und empfindungsvoll«51 den »rührend weiblichen Charakter« der Ismene dar.52 Als Darsteller von »herkulischer Gestalt, mit einer gewaltigen Stimme und viel schauspielerischer Fertigkeit«53 beschreibt Devrient Rott, der in der Aufführung den Kreon spielte. Er erschien »würdevoll und kräftig und voll sehr effectvoller Leidenschaften.«54 Allerdings, so an anderer Stelle, verließ ihn die »Gespreiztheit seiner Manier [...] in diesen einfachen Formen nicht.«55 Devrient, der später als Theaterleiter das Stück mehrfach aufführen ließ, bedauerte, dass die Darsteller von Antigone und Kreon »selten musikalisch genug sind, um [bei den melodramatischen Stellen] ganz auf die Intention des Componisten einzugehen.«56 Devrient selbst, »voll eben so viel Haltung als jugendlichen Feuers«,57 konnte in der Rolle des Haimon »in der That als griechischer Jüngling gelten; [...] die freie Haltung seines Wesens [war] die eines Königsohnes von Theben.«58 In der Erstaufführung beging er, wie wiederholt berichtet wird, »den Verstoß, zu seinem Vater Kreon, anstatt: >Dein, Vater, bin ich!< zu sagen: >Dein Vater bin ich!< worüber viele lachten.«59 Aus diesem Grund wurde die Stelle später abgeändert in: »Dein bin ich, Vater!«60 Trotz der sprachlichen Schwierigkeiten, die zum einen durch die »oft hart unflüssige Übersetzung« Donners, zum anderen durch das Versmaß - den »unseren Schauspielern ungeläufigen Trimeter« - hervorgerufen wurden, wurde das Stück von allen Darstellern »würdig wiedergegeben.«61 Böckh meinte sogar, das ungewohnte Versmaß sei »für die Würde des Vertrages [...] nur förderlich« gewesen.62 Dennoch wäre den Schauspielern noch »in der feineren Steigerung und in den allmählichen Übergängen der Empfindung, eine feinere Ausbildung zu wünschen [...], damit einiges schroffe verschwinde.«6' Mendelssohn zeigt sich vor allem mit der musikalischen Leistung zufrieden: Zwar gerade gestern war auch unser Musikmachen hier ganz hübsch. Die Aufführung ging süperb, sowohl was Schauspieler und Sänger, als was Orchester betraf. Der Eindruck des und wenn junge Anfänger auch zu Zeiten einen glücklichen Wurf thun, oder die Menge blenden, so kann es ihnen unmöglich überlassen werden, die höchsten Aufgaben so nach Zufall und Glück völlig zu vernichten, oder sich kümmerlich hindurch zu winden.« 51 Berlinische Nachrichten von Staats- und gelehrten Sachen, No. 254 (30. Oktober 1841). 52 Königlich Privilegirte Berlinische Zeitung, No. 254 (30. Oktober 1841). 53 Devrient: Geschichte der deutschen Schauspielkunst, S. 429. i4 Berlinische Nachrichten von Staats- und gelehrten Sachen, No. 254 (30. Oktober 1841). " Athenäum, No. 45 (13. November 1841). Vgl. Devrient: Aus seinen Tagebüchern 1836-1852, S. 143: »Rott dehnte durch sein kalt prätentiöses Deklamieren das Stück und nahm ihm allen Zug und alle Wärme.« 56 Devrient: Erinnerungen an Felix Mendelssohn Bartholdy, S. 222. 57 Berlinische Nachrichten von Staats- und gelehrten Sachen, No. 254 (30. Oktober 1841). 58 Böckh/Toelken/Förster: Über die Antigone des Sophokles und ihre Darstellung auf dem königlichen Schloßtheater im neuen Palais bei Sanssouci, S. Xlllf. 59 Varnhagen von Ense: Tagebücher (29. Oktober 1841), Band i, S. 363. 60 Vgl. Bellermann an Mendelssohn (5. November 1841), Bodleian Library Oxford (Signatur: Ms.M.Deneke Mendelssohn d.4O, G.B.XIV.i5i), Anhang X.i. 61 Böckh/Toelken/Förster: Über die Antigone des Sophokles und ihre Darstellung auf dem königlichen Schloßtheater im neuen Palais bei Sanssouci, S. 86. 62 Ebd., S. 87. 63 Berlinische Nachrichten von Staats- und gelehrten Sachen, No. 254 (30. Oktober 1841). 243

Kunstwerks ist ein wahrhaft gewaltiger [...]. Die Sänger waren übrigens prächtig, und haben mit einer Aufopferung und Lust losgekehlt, wie ichs ihnen kaum zugetraut hätte/4

An der Fremdartigkeit des Stückes lag es wohl, dass »während der Darstellung wenig, auch nur schwach« applaudiert wurde.65 »Der Beifall ersah sich nicht die besten Momente, und am Schluß schwieg er ganz.«66 Devrient bemerkt, dass möglicherweise »die Leute die Vorstellung als eine Art von Oratorium angesehen haben, in dem nicht applaudiert wird.«67 Ein Kritiker der ersten Aufführung meint dagegen, »daß die Zuschauer bewegt, gerührt, zugleich tief erschüttert und hocherhoben« das Theater verlassen hätten.68 Die Darstellung der euripideischen Medea war ebenfalls »den ausgezeichnetsten Künstlern und Künstlerinnen unserer Bühne anvertraut.«69 Der Eindruck, den die Aufführung bei zeitgenössischen Kritikern hervorrief, »mußte jedenfalls großartig genannt werden; einzelne Scenen waren von der ergreifendsten Wirkung.«70 Vor allem trug die Crelinger in der Rolle der Medea erneut zum Erfolg dieser zweiten Antiken-Inszenierung bei. Man kann zwar von allen Mitspielenden sagen, daß sie ihre Aufgabe verstanden und mit dem gehörigen Accente und Gefühl erfüllt haben; aber für eine Höhe der tragischen Kunst, aufweicher Mme. Crelinger sich als Medea gezeigt hat, möchte kaum in der Geschichte der deutschen Schaubühne sich ein ähnliches Ebenbild auffinden; denn hier galt es nicht nur, den Affect in seiner ganzen furchtbaren Macht, sondern auch in Harmonie mit dem attischen Maaß und Wohllaut auszudrücken und darzustellen, den ganzen Charakter von dem Augenblick an, wo sie in der Scene erscheint und in allen Uebergängen der Leidenschaft und Wuth in einem und das zarteste Muttergefühl in dem ändern Moment auf das vollkommenste zur Anschauung zu bringen; sie regte auch, was bisher bei den Darstellungen des antiken Dramas nicht geschah, die Gemüther des anwesenden Publikums zum lautesten, lebhaftesten Ausbruch des Beifalls in allen Scenen auf.7'

64

Mendelssohn an David und Schleinitz (29. Oktober 1841), zitiert nach Rothe/Szeskus: Briefe aus Leipziger Archiven, S. iyif. 65 Königlich Privilegirte Berlinische Zeitung, No. 87 (15. April 1842). 66 Ebd. 67 Devrient: Aus seinen Tagebüchern 1836-1852, S. 143. 68 Berlinische Nachrichten von Staats- und gelehrten Sachen, No. 254 (30. Oktober 1841). Diesen Eindruck bestätigt Droysen: »findet doch ein Berichterstatter, daß der Beifall seitens des Publikums nur lau war, während feiner Beobachtende diese Fehlen des Klatschens und Rufens dem feierlichen, tiefernsten Eindruck der Aufrührung zuschreiben wollen.« (Droysen: Schriften zur Alten Geschichte, S. 146). Auch der Rezensent des Geselkchafiers macht sich Gedanken über die Ursache des geringen Applauses: »Der Beifall machte sich nur in wenigen Momenten laut, und dies waren solche, die einen Grad von Leidenschaft in sich tragen. Das Seelenvollste des Werks, die Scenen der Antigone, [...] hatten keinen lauten Beifall, obwohl Mad. Crelinger in Stil und Haltung sich auszeichnete. Indeß darf man wohl annehmen, daß der Eindruck dennoch nicht fehlte [...].« Der Gesellschafter, 69. Blatt (27. April 1842), S. 335. Ä ' Königlich Privilegirte Berlinische Zeitung, No. 184 (9. August 1843). Vgl. Anhang XI.4. 70 Berlinische Nachrichten von Staats- und gelehrten Sachen, No. 184 (9. August 1843). 71 Berlinische Nachrichten von Staats- und gelehrten Sachen, No. 243 (17. Oktober 1843).

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Neben der Crelinger werden vor allem Rott als Jason - besonders in seiner ersten Szene - und Franz Wilhelm Grua (1799-1867) als Bote »in dem trefflichen Vortrag der Erzählung der Schicksale Kreon's und seiner Gattin«71 hervorgehoben. Ebenso wird die musikalische Ausführung mit großem Lob bedacht: Recitation und Orchester waren so gut zusammen eingeübt und so sicher geleitet, daß man selbst bei diesen schwierigsten Puncten in der Ausführung nirgends die Veranstaltung empfand, sondern alles sich natürlich, wie von selbst zu gestalten schien.7'

Im Chor wirkten die Sängerinnen Faßmann, Grünbaum und Hoffkuntz mit. Die Rolle der Chorfuhrerin wurde von Madame Werner übernommen; sie »leistete darin durch Schönheit des Organs und edle Auffassung wahrhaft Ausgezeichnetes.«74 Die Problematik der metrischen Übersetzung wird von keinem der Kritiker angesprochen; möglicherweise ist bei dieser zweiten Antiken-Inszenierung der jambische Trimeter Schauspielern und Publikum inzwischen etwas vertrauter geworden. Erneut zeigt sich durch die Aufführung der Medea, wie außerordentlich die Darstellung einer unbearbeiteten griechischen Tragödie im Unterschied zu Bearbeitungen desselben Stoffes auf die Zeitgenossen wirkt: Der Total-Eindruck der Tragödie ist tief erschütternd, noch mehr als dies früher bei Georg Benda's Melodram, Cherubini's Oper und Grillparzer's Trauerspiel der Fall war, welche dramatischen Werke sämmtlich der griechischen Tragödie nachgebildet sind, ohne jedoch ihre Größe zu erreichen.7'

Hatte Tieck den Schauspielern in der »übereilten Darstellung der Antigone«76 noch Lob zukommen lassen — »es fielen keine auffallenden Fehler vor«77 —, so ist er, anders als die öffentliche Kritik, von den Leistungen der Schauspieler in der Medea weniger begeistert. Beispielsweise zeigte sich besonders Jason »ungefällig und schroff«.78 Der Gang der Handlung sei durch dessen »falsch angewendete Künstlichkeit« gestört worden.79 Der Ausgang der Werkes würde durch das »Zubodenstürzen, falsche Declamation« und die Weigerung des Darstellers, die letzte Rede um zehn Verse zu kürzen, »zu ermüdend und monoton«.80 Verfehlt sei ebenso die »Scene, in welcher Medea den Jason beredet, sie noch am fremden Hofe und bei seiner zweiten Vermählung zu dulden«.8' Diese müsse »mit aller jugendlichen Liebenswürdigkeit, mit allen beredten Verfuhrungskünsten vorgetragen werden.«82

72

Berlinische Nachrichten von Staats- und gelehrten Sachen, No. 237 (9. Oktober 1844). Königlich Privilegirte Berlinische Zeitung, No. 184 (9. August 1843). 74 Ebd. 75 Berlinische Nachrichten von Staats- und gelehrten Sachen, No. 243 (17. Oktober 1843). 76 Tieck an Müller (4. November 1841), zitiert nach Zeydel: Letters of Ludwig Tieck, S. 456. 77 Tieck: Kritische Schriften, Band IV, S. 371. 78 Tieck: Dramaturgische Blätter, Drittes Bändchen, S. 293 7 " Ebd. 80 Ebd. 81 Ebd. 82 Ebd. 73

Diese im Rückblick geäußerte Kritik ist möglicherweise geprägt von den Spannungen, die zwischen Tieck und seinen Darstellern entstanden waren. Zunehmend kam es zu Schwierigkeiten mit der Disziplin der Schauspieler, die sich, »dem Beispiele ihres Chefs [von Küstner] folgend, oft widerspenstig gegen Tieck« zeigten.8' In einem Brief an von Willisen vom n. Mai 1846 schildert Tieck die Probleme in der Zusammenarbeit mit dem Intendanten von Küstner. So würden unter anderem Generalproben nicht vollkommen, sondern mit »Andeutungen, Auslassungen u.s.w. dargestellt.«84 Die Schauspieler hielten sich nicht an die von Tieck vorgenommene Veränderungen oder Kürzungen des Textes; Tieck habe aufgrund des herrschenden Rollen-Monopols nicht die Möglichkeit, die Personen in freier Wahl zu besetzen; Termine von Wiederaufnahmen sowie Urlaube der Schauspieler würden ihm nicht rechtzeitig mitgeteilt. »Kein Zusammenspiel, keine Harmonie, kein Studium ist möglich durch diese Störungen.«85 Ebenso klagt Tieck in einem Brief an Friedrich Wilhelm IV. im Januar 1844 im Zusammenhang mit der geplanten und nicht ausgeführten Aufführung der Eumeniden: »Wo die Schauspieler zu diesen mächtigen Worten und großartigen Gebehrden hernehmen?«86 Wie schon nach der Aufführung der Medea beurteilt Tieck auch die Leistungen im Ödipus in Kolonos weniger günstig: »Es wurde auch minder gut wie jenes Gedicht [Antigone] vorgetragen.«87 Eine Ursache für die weniger guten darstellerischen Leistungen mag wohl - neben den genannten Konflikten zwischen Tieck und Schauspielern - die allgemein nachlassende Begeisterung für Aufführungen antiker Tragödien sowie die mehrfache Verschiebung des Premierentermins gewesen sein. Wiederum steht jedoch die öffentliche Kritik den Schauspielern wohlwollender gegenüber: »[...] sowohl der Eifer, ja die sichtliche Begeisterung, die das Werk in einzelnen mitwirkenden Künstlern weckt, wie auch die Anordnung und Führung des Ganzen, z. B. die oft außerordentlich schöne Stellung der Gruppen [trugen] wesentlich zu dem tiefen Eindruck des Kunstwerks bei.«88 Vorzügliches geleistet habe der offenbar nicht ganz richtig besetzte Franz Hoppe (1810-1849) in der Rolle des Ödipus: »Selten nur schimmerte die Jugend des Darstellers durch die Maske durch.«89 Seine »würdige, wahre und oft zur vollen Identität sich erhebende Darstellung« habe sehr befriedigt.90 »Die während ganzer Reden ausgespreizt verharrende Hand« wurde jedoch gelegentlich als störend empfunden.91 Die übrigen Darsteller bemühten sich »mit mehr oder minderem

83

Drach: Ludwig Tiecks Bühnenreformen, S. 64. Tieck an von Willisen (n. Mai 1846), zitiert nach Fischer: Aus Berlins Vergangenheit, S. 135. "5 Ebd., S. 136. 86 Tieck an Friedrich Wilhelm IV. (19. Januar 1844), zitiert nach Zeydel: Letters of Ludwig Tieck, S. 469. ^ Tieck: Kritische Schriften, Band IV, S. 379. Vgl. Abbildung 8. 88 Königlich Privilegirte Berlinische Zeitung, No. 257 (3. November 1845). 8 ' Berliner Musikalische Zeitung 2, No. 45 (8. November 1845). Die Schauspieler trugen keine Masken. Gemeint ist hier wohl die Darstellung. Vgl. Kapitel VI.2. 90 Berlinische Nachrichten von Staats- und gelehrten Sachen, No. 265 (12. November 1845). s»1 Ebd. 84

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Clatter im listen | Sonnabend, den 1. November 1845. Zum Erxtenmale:

Tragödie lies Sophokles. Metrisch übertragen von Franz Fritze, Der Test «

den Choren nach Donner.

Musik von Felix Mendelssohn Bartholdy. Decoration von Gorst. In Scene gesetzt vom Regisseur Stawinsky. Oedipus, verbannter König· von Theben Theseus, König von Athen Kreon, Schwager des Oedipus Polyncikcs, ältester Sohn des Oedipus *. Oedipus

Ein Bewohner von Kolono» Ein Diener des Thescns Chorführer

Chor von Greisen und Bewohnern von Kolono»

Hr. Hoppe. Hr. Hcndrtchs. Hr. Stawinsky. Hr. Grua. Mllc. Stich. Müe, Löhmenn. Hr. Bcthgc. Hr. Franz. Hr. Mantins. Hr. Pfisler Hr. Heinrich. Hr. Böllicher. Hr, Fischer. Hr. Wickler ! Hr. Behr etc.

Gefolge. Scene: Der Hain der Eumcniden bei Kolonos.

Anfang

Uhr; Ende gegen halb 9 Uhr.

Abb. 8

247

0,

Glück [...], das Pathos des Werks mit dem Ton in Einklang zu bringen.«92 Weniger glücklich war man mit der Besetzung von Theseus und Kreon: Hermann Hendrichs (1809-1871) als Theseus entspräche nicht der Vorstellung eines »Repräsentanten des Rechts und der Humanität«; seine Erscheinung »ist zu jugendlich, zu sinnlich und gefällig und die Tonschwingungen verrathen vielmehr das Pathos eines Jünglings, als die Würde eines seiner hohen Aufgabe bewußten Herrschers.«93 Karl Stawinsky (1790/4-1866) als Kreon habe »den Verhältnissen offenbar ein Opfer gebracht: denn gewiß weiß dieser einsichtsvolle Regisseur, dem wir die Anordnung des ödipus verdanken, selbst am besten, daß sich seinem Ton keine ideale Färbung abgewinnen läßt und daß er uns ein viel zu hausväterliches Bild des Kreon gibt.«94 Die Wahl der Übersetzung in den Dialogen wird als eine wesentliche Verbesserung gegenüber der Antigone gesehen. Während Mendelssohn seiner Musik bereits die Donnerschen Texte zugrunde gelegt hatte, entschied sich Tieck, für die gesprochenen Passagen die Übersetzung von Fritze zu verwenden, »die den fünffüßigen Jambus statt des Trimeters anwendet, und dadurch allerdings nicht nur der Gewohnheit unseres Ohrs, sondern auch der Natur unserer Sprache ungleich näher tritt.«95 Die weniger ungewohnte Sprache dieser Übersetzung trage deshalb dazu bei, »das antike Drama bis auf einen gewissen Grad heimisch [zu] machen und auch die durch ihre Bildung demselben ferner Stehenden für dasselbe [zu] interessiren.«?6 In diesem Zusammenhang muss die Frage gestellt werden, ob die Wahl des Metrums -jambischer Trimeter oder fünffüßiger Jambus - tatsächlich eine so entscheidende Rolle spielen kann im Hinblick auf die Schwierigkeit des Textes, auch wenn Zeitgenossen immer wieder auf diese Ungewöhnlichkeit hinweisen. Hermann meint, es sei verschiedentlich die Bemerkung gefallen, »daß man im Vortrag der meisten Darsteller gar nichts mehr vom Trimeter gehört« habe.97 Auch der Rezensent der Zeitungfiir die elegante Welt schreibt: »Die Forderung, aus der Declamation die Trimeter herauszuhören, lassen wir ganz fallen. Es wäre ja lächerlich, auch hier antikes Verlangen zu haben.«98 Hermann weist jedoch darauf hin, dass dieser Mangel »auf einer Verkennung, ja auf gänzlicher Unkenntniß der An, wie die Alten Verse recitirten«, beruhe. Sie skandirten keineswegs wie Schulknaben, die eben erst die Anfangsgründe der Metrik erlernt haben, sondern sie beobachteten bei ihrem Vortrag den Zusammenhang des Sinnes eben so wohl, als die Betonung der Worte und ließen den Rhythmus des Verses daneben durchhören.99 91 93 94

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Königlich Privilegine Berlinische Zeitung, No. 265 (12. November 1845). Berlinische Nachrichten von Staats- und gelehrten Sachen, No. 265 (12. November 1845). Ebd. Königlich Privilegirte Berlinische Zeitung, No. 257 (3. November 1845), vgl. Kapitel IV-4. Berlinische Nachrichten von Staats- und gelehrten Sachen, No. 265 (12. November 1845). Hermann: Über Sophokles Antigone und ihre Darstellung auf dem deutschen Theater, S. 59f. (Fußnote). Zeitung für die elegante Welt 42, No. 50 (n. März 1842), S. 200. Der Rezensent setzt hier voraus, dass ursprünglich »auch der Dialog seine mäßig gehaltene Instrumentalbegleitung hat«, wodurch der musikalische Bau des Verses klar heraustrete. Hermann: Über Sophokles Antigone und ihre Darstellung auf dem deutschen Theater, S. ^f. (Fußnote).

Wenn die Verse im von Hermann beschriebenen Sinne gesprochen werden, wenn also Sinnzusammenhang und Wortbetonung beachtet würden, dann dürfte das Metrum Schauspielern wie Zuhörern nicht so große Schwierigkeiten bereitet haben. Möglicherweise liegt die Schwierigkeit bei der Antigone weniger im Trimeter als in der nicht immer sprachlich gelungenen Übersetzung Donners begründet.

3. Zur Inszenierung Ausführliche Aufführungsberichte sind nur zur Inszenierung der Antigone erhalten. Abbildungen, die Rückschlüsse auf den Stil der Inszenierungen zuließen, sind nicht überliefert. Immerhin ist anzunehmen, dass sich die Darstellungen von Antigone, Medea und Ödipus in Kolonos in ihrer Art sehr ähnlich waren. Auch lässt sich die Frage, inwiefern bestimmte Drameninterpretationen in den Inszenierungen wirklich zum Tragen kommen konnten, nicht eindeutig beantworten. Tieck war laut königlichem Erlass für die Aufführungen der griechischen Tragödien verantwortlich, wobei er die Position des Dramaturgen (im Sinne des 19. Jahrhunderts) übernahm. Im Allgemeinen Theater-Lexikon von 1846 wird der Dramaturg als »Lehrer für Dichter und Darsteller« bezeichnet. [...] er hilft dem Schausp. zum Verständniß der Dichtung und prüft, wie er sie aufgefaßt und uns wiedergegeben. In gleicher Weise wirkt er auf den Zuschauer, und verhilft ihm zum Standpuncte, von welchem aus er die Dichtung zu betrachten hat. [...] Die Theorie der Dichtkunst unterscheidet Dramatisches vom Theatralischen und schreibt die Regeln vor, wie Beides miteinander zu verbinden; dies in Ausführung zu bringen, sei die Aufgabe des Dramaturgen [...]. Der angestellte Dramaturg mache durch Vorlesung der Dichtung, die zum Aufrühren bestimmt ist, sie dem gesammten darstellenden Personale in allen Theilen klar, oder theile seine geistige Kraft dem dazu Beauftragten mit, wenn ihm selber die Kunst des Vorlesens abgeht.100

Als Regisseur wird auf dem Theaterzettel Stawinsky genannt. Dieser war von 1827 bis 1866 als Regisseur und Schauspieler am Königlichen Hoftheater engagiert. Maßgeblichen Einfluss auf den Inszenierungsstil dieser Aufführungen übte er wohl nicht aus.101 Vielmehr lag in seiner Verantwortung vor allem der gesamte organisatorische Ablauf; nach heutigem Verständnis stellte seine Position eher eine Mischung aus Regieassistenz, Schneider: . »Dramaturgie«. In: Blum/Herloßsohn/Marggraff: Allgemeines Theater-Lexikon, Band 3, S. 596°. Der Artikel macht nicht zuletzt durch seine als Wunsch formulierten Aussagen zur dramaturgischen Tätigkeit deutlich, dass das Ideal selten erreicht wird. Die Wirklichkeit sieht wohl eher so aus: »Der Intendant müßte den bühnenkundigen, practischen Leiter mit dem geistigen vermittelnd einen und beide dürfen sich nicht feindlich gegenüber stehn, der eine nicht, wie es kleinlich oft geschieht, über einen fehlgeschlagenen Versuch des ändern triumphiren.« Stawinsky habe eine Vorliebe für Monumentalität und Pracht besessen; diesen Eindruck haben die Aufführungen griechischer Tragödien gewiss nicht vermittelt. Vgl. Schulze-Reimpell: Die königlichen Schauspiele zu Berlin unter dem Generalintendanten Karl Theodor von Küstner (1842-1851;, S. 164. 249

Inspizienz und Abendspielleitung dar. Die künstlerische Oberleitung war in der Regel Sache des Intendanten; im Falle der Antiken-Inszenierungen in Potsdam hatte Tieck als Dramaturg diese Funktion inne. Der Regisseur nahm hierbei eine vermittelnde Stellung zwischen künstlerischem und technischem Personal sowie der obersten Leitung ein.102 Nur wenn der Intendant bzw. die künstlerische Oberleitung bei Bühnenproben abwesend war, fungierte der Regisseur als dessen Stellvertreter.103 Devrient beschreibt zwei Tage vor der Premiere der Antigone dessen Aufgabenbereich in einem Satz: »Stawinsky richtete endlich alles ein, was wir ihm von allen Seiten einflüsterten.«104 Aber auch Tiecks Fähigkeit, »irgend etwas beim Einstudieren der Antigone zu leisten«, wird von Devrient nicht besonders hoch eingeschätzt.105 So ist es ihm lästig, dass Tieck mehrfach das Stück den beteiligten Schauspielern vorliest. Er nennt dessen Vortrag »nicht nur würdelos, sondern auch äußerst prosaisch. [...] die Monotonie der Rede ließ oft nicht einmal das lyrische Verständnis hervortreten.«106 Auch Mendelssohn, wie Devrient bemerkt, war mit dieser Art der Vorbereitung nicht einverstanden. Das Vorlesen »sei eine total falsche Maßregel. Er ermüde das Personal, verletze es und bessere gar nichts; es sei eine bloße Lust, sich zu hören.«107 Jedoch scheinen nicht alle Schauspieler dies so empfunden zu haben.108 Die Kritik Devrients liegt wohl zum einen IOZ

»Als Mittelglied zwischen dem Befehlen und Gehorchen, zwischen der Anordnung und Ausführung, zwischen den heterogensten Interessen, der Kunst, der Kasse, dem Publikum, dem Personal hat der R. die große Verantwortlichkeit, anstrengende Mühwaltung und selten einen ändern Lohn, als eben das Gelingen. Sie ist zunächst der Rath der Direction bei der Wahl der Stücke, beim Feststellen der Repertoire, bei Vertheilung der Rollen, bei Engagement und Entlassung der Schausp., bei Gastspielen, handelt selbständig bei dem In-Scene-Setzen, Anordnung der Decorationen, Costume, Requisiten, ist Aufseher und polizeilicher Vorstand während der Proben und Vorstellungen und sonst bei jeder Gelegenheit, der Leiter, der Vertraute, der Schlichtende, der Rath ertheilende. Die Obliegenheiten und Verpflichtungen der R. umfassen das ganze Theater-Geschäft von dem Beurtheilen und Bühnengerechtmachen einer dram. Dichtung, bis zur Beaufsichtigung des reinlichen Anzuges der Statisten.« Schneider: Art. »Regie«. In: Blum/Herloßsohn/Marggraff: Allgemeines Theater Lexikon, Band 6, S. i6Hear us, Bacchus« must always wave their sticks and even go up to the steps of the altar the last time, while the others who continue with the other words may stand in a row in front (in the background) until their turn comes to sing >Hear us, BacchusPunsch< vom 18. Januar verschaffen könnt; darin ist ein Bericht von Antigone im Covent-Garden mit Illustrationen, namentlich einer Darstellung

Wie in den nachfolgenden Aufführungen, Medea und Ödipus in Kolonos, mit dem Element des Tanzes bzw. der orchestischen Bewegung umgegangen wurde, ist nicht bekannt. Zum Ödipus in Kolonos findet sich beispielsweise nur die Bemerkung, dass »die oft außerordentlich schöne Stellung der Gruppen wesentlich zu dem tiefen Eindruck des Kunstwerkes« beitrug.158 Nach der Schilderung des Chorauftritts fährt Schneider in seinem Aufführungsbericht fort, indem er die szenischen Bewegungen der Schauspieler detailliert beschreibt: Kreon erscheint sodann aus der Mittelthür der Skene, tritt bis an die Stufen vor, während sein Gefolge halb in der geöffneten Thür, halb unter der Säulenlaube stehen bleibt. Seine Rede richtet er von oben herab an den Chor und dieser antwortet von der Orkestra hinauf. Das Auftreten des Wächters geschieht durch denselben Orchester-Eingang, durch welchen Antigone abgegangen ist. Er bleibt im Hinaufsteigen auf der Mitte der Stufen zur Skene stehen und spricht von hier aus zu Kreon hinauf. Später nach den Worten: >Sprichst Du nicht gleich etc.< ersteigt er die Skene ganz und steht neben Kreon, welcher später mit dem Gefolge in den Pallast zurückgeht, während der Wächter auf demselben Wege, den er gekommen, abgeht und Antigone später auf die Skene führt. [...] In derselben Weise schreitet das Arrangement fort.'59

Vielfach wurde der Umstand, dass die Schauspieler - der antiken Aufführungspraxis widersprechend - durch die Orchestra auf- und abgehen mussten, wenn sie nicht aus dem Palast kamen, von gelehrten Betrachtern gerügt. Antigone verweilt sogar längere Zeit während des vierten Stasimon (No. 5, »Auch der Danae Reiz«) am Altar, bevor sie in den Tod geht. Auch dass »die Leiche des Hämon [...] von Sklaven die hohe Treppe heraufgetragen« wurde, anstatt nur im Hintergrund gezeigt zu werden, hielt man für unangemessen.'60 Immerhin entsprach es dem Verständnis von antiker Konvention, dass der Leichnam der Eurydike durch das öffnen der Mitteltür des Palastes sichtbar wurde. »Es war ein unvergleichliches Bild.«'6' Dass Tieck sich nicht sklavisch an antike Vorgaben der Raumnutzung hielt, kann für die Inszenierung allerdings nur vorteilhaft gewesen sein. Die Darstellung hätte sonst wohl sehr an Bewegung eingebüßt. Er wollte ja eine moderne Vorstellung, dramatische Lebendigkeit; Orchestra und Bühne, die im Gefühle des Zuschauers von heutzutage allzuleicht aus der Einheit zerfallen wären, mußten zur Wirkung sinnfällig zusammengefaßt werden; dazu bedurfte es der äußeren Verbindung durch die rege Benutzung der Treppen.162

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des dortigen Chors — über die habe ich drei Tage lang gelacht. Der Chorführer, dem die schottischen Hosen unten rausgucken, ist ein Meisterstück, und so alle in ihrer Art, und dabei so lustig. Man schreibt mir Wunderdinge über diese Darstellung und namentlich den Chor, - denkt Euch, daß beim Bacchuschor das ganze weibliche Corps de Ballet erscheint, und hüpft, und springt. Das ist kein Spaß.«, zitiert nach Hensel: Die Familie Mendelssohn, S. 833. Königlich Privilegirte Berlinische Zeitung, No. 257 (3. November 1845). Schneider: Both's Bühnen-Repertoir, Band XIII, No. 103, S. 1905. Küstner: Vierunddreißig Jahre meiner Theaterleitung, S. 169. Böckh/Toelken/Förster: Über die Antigone des Sophokles und ihre Darstellung auf dem königlichen Schloßtheater im neuen Palais bei Sanssouci, S. 83. Drach: Ludwig Tiecks Bühnenreformen, S. 68. Vgl. Tieck: Kritische Schriften, Band II (Ein 259

Die Frage, inwieweit die Inszenierung der Antigone eine bestimmte Interpretation sichtbar machte, sei es eine christlich orientierte Deutung oder Hegels Interpretation von der Kollision zweier gleichberechtigter Prinzipien, kann nicht eindeutig beantwortet werden. Es ist bereits daraufhingewiesen worden, dass es in diesem Zusammenhang zu einer Auseinandersetzung zwischen Böckh und Tieck gekommen war. Tieck wollte Antigone als christliche Märtyrerin dargestellt sehen und lehnte die von Böckh favorisierte Hegeische Konzeption ab.'6' Nur wenige Hinweise zur Deutung des Stücks lassen sich in den Besprechungen der Aufführung finden. So heißt es an einer Stelle: Was Sophokles vor 2500 Jahren von der Verblendung der Herrscher erzählt, die nur ihren eignen Eingebungen vom Recht folgen, und nicht das ewig göttliche Recht erkennen, das über den Gesetzen ist; was er von der Berechtigung der großen Seelen dichtet, die dem göttlichen Gesetze, dem menschlichen Willen entgegen, folgen, und in Ergebung dafür zu dulden wissen, was Gesetz und Wille über sie verfugen, es gilt noch heute. [...] und noch heute gilt diese Antigone als ewiges Vorbild ächter Weiblichkeit mit ihrem Spruche, der den Sinn der Tragödie umfaßt: Nicht mit zu hassen, mit zu lieben bin ich da.1*4

Natürlich ist nicht zu klären, ob hier der Rezensent einfach seine persönliche Sichtweise oder seinen Eindruck der Vorstellung wiedergibt. Auf jeden Fall deutet seine Aufruhrungsbesprechung auf eine christlich gefärbte Deutung hin. Dafür, dass Tieck seine Interpretation in der Inszenierung durchsetzen konnte, spricht auch eine Kritik der Berlinischen Nachrichten von Staats- und gelehrten Sachen: Kreon hätte von vornherein wohl noch etwas würdiger und vorteilhafter genommen werden können: er ist durchaus kein Bösewicht, er ist nur starr und kann keinen Widerspruch ertragen, er darfauch nicht zu früh jähzornig erscheinen.l6'

Dem Rezensenten erscheint der Kreon der Aufführung zu negativ charakterisiert; die Deutung der Tragödie, die er selbst für richtig befunden hätte und die ohne Zweifel der Interpretation Hegels nahe steht, konnte er offenbar in der Aufführung von Potsdam nicht bestätigt finden. Denn die Abwertung der Figur Kreons lässt das Handeln der Antigone entsprechend positiver erscheinen. Daher kann angenommen werden, dass beide Hauptfiguren in dieser Inszenierung nicht als Vertreter gleichberechtigter Prinzipien gelten konnten. Schließlich berichtet Varnhagen von Ense: Der König von Hannover sagte von der Aufführung der >AntigoneIch gehe nicht hin, solches Zeug sehe ich nicht, ich bin kein Pietistl·'66

Brief an den Übersetzer der Elektra, 1843), S. 423: »Diese Absondierung der Orchestra von der Bühne, diese Stufen, auf denen sich manche Figuren bewegen, der Altar in der Orchestra, um den der Chor wandelt und auch dessen Stufen zur Stellung benutzt, alles dieses brachte Bewegung, Leben und Mannichfaltigkeit der Scene hervor.« Siehe hierzu auch Kapitel VI.i. (Exkurs). '63 Vgl. Kapitel II. 2.3. 164 Königlich Privilegirte Berlinische Zeitung, No. 261 (8. November 1841). 165 Berlinische Nachrichten von Staats- und gelehrten Sachen, No. 254 (30. Oktober 1841). 166 Varnhagen von Ense: Tagebücher (3. Mai 1842), Band 2, S. 68. 260

Ob bei den nachfolgenden Antiken-Inszenierungen ähnlich kontroverse Ansichten vertreten wurden, ist nicht überliefert. Vermutlich haben weder der Stoff der Medea noch des Ödipus in Kolonos in dem Maße Anlass dazu gegeben. Bei der Inszenierung des Ödipus in Kolonos waren jedenfalls weniger »Spezialisten« beteiligt - Tieck war krank und überhaupt war wohl der Reiz des Neuen bei dieser dritten Inszenierung einer griechischen Tragödie inzwischen erloschen.

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VIII. Aufführungen in Nachfolge der Potsdamer Bühnenfassungen

Der Erfolg der ersten Antigone-Auffühmng war so durchschlagend, dass zahlreiche Bühnen im In- und Ausland die Tragödie mit Mendelssohns Schauspielmusik auf ihren Spielplan setzten. Eine umfassende Darstellung der Rezeption kann und soll hier nicht erfolgen. Nur einige Inszenierungen deutschsprachiger Theater werden exemplarisch behandelt. Folgende Kriterien waren für die Auswahl entscheidend: An den ersten Leipziger Aufführungen (1841/42) war Mendelssohn selbst maßgeblich beteiligt. Auch wenn dies für die Dresdner Inszenierung (1844) in demselben Maße nicht zutrifft, so war der Komponist für das Zustandekommen der Antigone-Auffühmng zumindest indirekt mitverantwortlich, weil er eine ursprünglich geplante konzertante Aufführung untersagt hatte. Dagegen war Tieck direkt in die Vorbereitungen der Dresdner Inszenierung eingebunden. In München wurden die sophokleischen Tragödien mit Mendelssohns Musik erst 1851, also nach dem Tod des Komponisten aufgeführt. Die Person Mendelssohns spielt in diesem Zusammenhang daher keine Rolle. Aus zwei Gründen scheinen die Münchner Inszenierungen für die Rezeptionsgeschichte von Bedeutung zu sein: Erstens wurde hier nicht nur Antigone, sondern auch Ödipus in Kolonos in Szene gesetzt. Zweitens wurde mit der Auffuhrung des König Ödipus mit Musik von Franz Lachner (1803-1890) der Versuch unternommen, die sophokleische »Theben-Trilogie« zu vervollständigen - ein Versuch, der in Berlin nicht mehr zur Ausführung gekommen war und auch an keiner anderen Bühne in dieser Zeit unternommen wurde. Der »Entwurf« zum König Ödipus, den Mendelssohn in einem Brief an den Kabinettsrat Müller erwähnt, ist nicht erhalten.1 Die Münchner Inszenierungen eignen sich auch deshalb für eine nähere Untersuchung, weil hier im Unterschied zu Berlin umfangreiche Aufführungsmaterialien erhalten sind. Von den unter Friedrich Wilhelm IV. in Szene gesetzten griechischen Tragödien kann der euripideische Hippolytos nicht auf gleicher Ebene wie die vorhergehenden Stücke abgehandelt werden. 1851, also sechs Jahre nach Ödipus in Kolonos aufgeführt, muss die Inszenierung von Hippolytos mit Musik von Adolph Schulz (1817-1884) als eine Art Nachzügler betrachtet werden. Die Aufführung fand wenig Beachtung, von ihr ging keine weitere Wirkung aus. Im Unterschied zu den ersten drei Tragödien-Inszenierungen war Tieck, der schon längere Zeit schwer krank war, an den Vorbereitungen des Hippolytos kaum beteiligt. Darüber hinaus ist kein vergleichbares Quellenmaterial zur

Vgl. Mendelssohn an Müller (12. März 1845), in: Mendelssohn Bartholdy: Briefe aus den Jahren 1830-1847, S. 545. 262

Schauspielmusik erhalten. Daher kann die Musik zum Hippolytos neben Mendelssohns und Tauberts Kompositionen nicht angemessen untersucht werden. Die Wiener Aufführungen der Antigone schließlich sollen allein deshalb Erwähnung finden, weil sie zu einem Zeitpunkt stattfanden, als Mendelssohns Schauspielmusik weitgehend von den Bühnen verschwunden und höchstens noch im Konzertsaal präsent war.

i. Die Leipziger Privatauffiihrung der Antigone vom 28. November 1841 Die erste öffentliche Aufführung der Antigone fand am 5. März 1842 in Leipzig statt. In Potsdam war das Stück nur vor einem geladenen Publikum gespielt worden; in den regulären Spielplan des Berliner Schauspielhauses wurde es erst am 13. April 1842 aufgenommen. Bei der Inszenierung am Leipziger Stadttheater handelt es sich jedoch nicht um die erste Aufführung nach den Potsdamer Vorstellungen. Wie Devrient berichtet, war Mendelssohn nach der zweiten Aufführung am 6. November 1841 nach Leipzig gereist, »wo er [...] im Freundeskreise >Antigone< am Ciavier aufführte.«1 Tatsächlich wurde bereits einen Monat nach der Potsdamer Uraufführung, am 28. November 1841, im Hause des Leipziger Kreisdirektors Johann Paul von Falkenstein (1801-1881) eine Privatvorstellung vor einer kleinen, ausgewählten Gesellschaft gegeben.3 Als Regierungsbevollmächtigter der Universität stand Falkenstein mit Mendelssohn »in rücksicht auf das conservatorium der musik, für dessen constituierung wir gemeinsam arbeiteten, in vielfacher berührung.«4 Ausschnitte aus dem Briefwechsel zwischen dem Kreisdirektor und Mendelssohn sind von Hermann F. Weiss veröffentlicht worden.5 So schreibt Falkenstein am 19. November 1841, nachdem sich das Ereignis der Potsdamer AntigoneAufführung auch außerhalb Berlins herumgesprochen hatte: Ich habe den heutigen Tag dazu benutzt, nun einmal wieder die Antigone griechisch und wo ich nicht mehr fortkonnte, Deutsch zu lesen. Wahrhaft begeistert von der Herrlichkeit des Stückes wird der Wunsch doppelt lebhaft, Ihre Musik dazu zu hören. Wenn es daher irgend möglich ist [...] so bleiben Sie noch etwas länger hier und schaffen Sie Ihre Musik, damit wir in dem vorläufig besprochenen Maaße einen Versuch machen.6

Devrient: Erinnerungen an Felix Mendelssohn Bartholdy, S. 226. Auf die Privataufführung im Hause Falkenstein wird unter anderem in einem Brief Mendelssohns an Demuth vom 10. Februar 1842 verwiesen, der sich in der in Kapitel VI.i. und VII.3. erwähnten Akte über die Aufführung im Leipziger Stadttheater befindet. Vgl. hierzu vor allem Weiss: Unbekannte Zeugnisse zu den Leipziger Aufführungen von Felix Mendelssohn Bartholdys Bühnenmusik zur Antigone in den Jahren 1841 und 1842, S. 50-57. Falkenstein: Einige Randbemerkungen zu H. Köchlys >Gottfried Hermanns In: Neue Jahrbücher für Philologie und Pädagogik 113 (1876), zitiert nach Weiss: Unbekannte Zeugnisse zu den Leipziger Aufführungen von Felix Mendelssohn Bartholdys Bühnenmusik zur Antigone in den Jahren 1841 und 1842, S. 55. Weiss: Neue Zeugnisse zu Felix Mendelssohn Bartholdy und Johann Paul von Falkenstein, S. 53-88. Ebd., S. 67. 263

Mendelssohn, der am 12. November 1841 von Berlin nach Leipzig gereist war und dort bis zum 29. November blieb, wirkte an der von Falkenstein initiierten Aufführung persönlich mit, indem er vom Klavier aus die Chöre leitete. »[...] die rollen sollten von verschiedenen personen gelesen, die chore von tüchtigen dilettanten nach abhaltung einiger proben gesungen werden.«7 Die Mitwirkenden der Aufführung gehörten wohl alle dem Leipziger Bekannten- und Freundeskreis Mendelssohns an. Unter den Zuhörern befand sich, wie Falkenstein hervorhebt, auch der berühmte Altphilologe und Universitätsprofessor Hermann. Dieser hatte die Einladung zur Aufführung zunächst mit der Begründung ausgeschlagen: »wie kann man griechische musik machen wollen? es ist schade um die musik und um die chore!«,8 war dann aber doch gekommen, obwohl er »als konservativer Wortphilologe und Antipode des in das /4«i/g0«£-Unternehmen involvierten Sachphilologen August Böckh dem Vorhaben zunächst sehr reserviert« gegenüberstand.9 Nach der Aufführung, die er »höchst gespannt an einen thürpfeiler« gelehnt verfolgte, konnte man jedoch sehen, wie er von der Herrlichkeit des trefflich gelesenen Stücks und von der groszartigkeit und tiefen auffassung der musik wie von der genialen direction Mendelssohns ergriffen mit freude in den äugen dastand und nun nach verklingen des letzten tones raschen Schrittes, wie er ihm eigen war, eine thräne im äuge auf Mendelssohn zueilte, ihn umfaszte, tief ergriffen ihm dankte und sprach: >das ist musik, ich habe es nicht für möglich gehalten, dasz die musik so in den erhabenen geist des Sophokles eindringen könnte; Sie haben, so zu sagen, griechische musik erfunden; selbst das metrische im chor haben sie beachtet!Gottfried Hermanne. In: Neue Jahrbücher für Philologie und Pädagogik 113 (1876), zitiert nach Weiss: Unbekannte Zeugnisse zu den Leipziger Auffuhrungen von Felix Mendelssohn Bartholdys Bühnenmusik zur Antigone in den Jahren 1841 und 1842, S. 56. Ebd. Flashar: Felix Mendelssohn Bartholdy und die griechische Tragödie - Bühnenmusik im Kontext von Politik, Kultur und Bildung. S. 36f. Falkenstein: Einige Randbemerkungen zu H. Köchlys >Gottfried Hermanns In: Neue Jahrbücher für Philologie und Pädagogik 113 (1876), zitiert nach Weiss: Unbekannte Zeugnisse zu den Leipziger Aufführungen von Felix Mendelssohn Bartholdys Bühnenmusik zur Antigone in den Jahren 1841 und 1842, S. 56. 264

Durch Ihre Freundschaft, mit der Sie sich bereit finden ließen, in meinen kleinen Räumen Ihre großen Sophokleischen Ideen hören zu laßen, hat mir nicht nur, zu meiner Freude, viel Neider zugezogen, sondern auch, nicht zu meiner Freude, eine eigenthümliche Anfrage hervorgerufen. Im Februar, oder März, glaube ich, wird zum Besten des Theaterpensionsfonds hier ein Stück gegeben, bei dem man natürlich viel Publikum wünscht. Man hat — hört! hört! die Idee aufgestellt - in Erwägung, daß die Antigone bei uns so großen Effekt gemacht - die Antigone zu geben, um zu zeigen, daß auch auf dem gewöhnlichen Theater ein solch herrliches Stück großen Eindruck machen müste und um viel Publikum zu haben; und man schmeichelt sich mit der Möglichkeit, dazu, aber lediglich dazu und unter allen Garantieen gegen Missbrauch, Ihre herrliche Musik geliehen zu bekommen."

Die in dem von Demuth zusammengestellten Aktenkonvolut »Mendelssohn-Briefe, Akten usw. betr. die Aufführung der >Antigone< von Sophokles« erhaltenen Briefe geben Aufschluss darüber, wie intensiv der Komponist an den Vorbereitungen dieser Aufführung weit über den musikalischen Bereich hinaus beteiligt war.11 So knüpft er etwa seine Zusage an eine Reihe von Bedingungen: i) Es müßten [...] die besten Kräfte der Bühne zu der Darstellung verwendet werden, also die besten Schauspieler u. Schauspielerinnen zu den handelnden Personen, und sämtliche Solosänger zum Chor. Er darf im Ganzen nur aus 16 singenden Personen bestehen; was also an dieser Zahl noch fehlt, wenn die Solosänger dabei sind, müßte aus den besten Choristen genommen, u. mit diesen auf das Sorgsamste vorher einstudirt werden, (den Chorführer müßte derjenige der Solosänger spielen, der sich durch gutes Sprechen u. würdige Action im Trauerspiel am meisten dazu eignet; doch muß er auch zugleich mitsingen.) Also wäre diese sorgsame Besetzung und Einstudirung meine erste Haupt-Bedingung. 2) Wäre auf irgend eine Weise die Einrichtung der Doppelbühne ins Werk zu richten; denn ich zweifle daß ohne dieselbe die dem Auge sehr angenehme Wirkung des Chores zu erreichen sein würde.1'

Ein scheinbar unbedeutenderes Thema ist Gegenstand mehrerer Briefe, die in der Aktensammlung erhalten sind: die Textbücher, die dem Publikum vor der Vorstellung verkauft werden sollen. Demuth hatte zunächst mit der Winterschen Buchhandlung in Heidelberg über einen Sonderdruck von Donners Antigone-Übertragang verhandelt.'4 Dabei wurde die Vereinbarung getroffen, keine gesonderten Textbücher mit den Chorliedern drucken zu lassen. Mendelssohn kann sich hiermit jedoch nicht einverstanden erklären und begründet dies in seinem Brief an Demuth vom 14. Februar 1842 auf folgende Weise: Es ist nach meinem Dafürhalten unumgänglich, daß man diese Chorgesänge einzeln in der Hand habe - die Notwendigkeit davon hat sich hier durch die Erfahrung festgestellt - u. der Text der ganzen Tragödie würde dies so wenig ersetzen (weil an fortwährendes Nachlesen beim Publikum nicht gedacht werden kann) daß ich nochmals u. dringend bitte auf

Falkenstein an Mendelssohn (10. Dezember 1841), zitiert nach Weiss: Neue Zeugnisse zu Felix Mendelssohn Bartholdy und Johann Paul von Falkenstein, S. 6jf. Universitätsbibliothek Leipzig, Handschriftenabteilung (Signatur: Rep. IX, 16). Mendelssohn an Demuth (10. Januar 1842), Universitätsbibliothek Leipzig, Handschriftenabteilung (Signatur: Rep. DC, 16, fol. 8 r f). Die Tragödien des Sophokles waren in der Übersetzung von Donner erstmals 1839 in zwei Bänden bei Winter in Heidelberg erschienen. 265

irgend eine Art von der mit der Winterschen Buchhandlung getroffenen Vereinbarung zu abstrahiren [...].'*

Sowohl in Potsdam als auch bei der Privatauffiihrung im Hause Falkenstein habe das Publikum ein »Textbuch das blos die Chöre enthält« zur Verfügung gehabt. Und wie sich hier herausgestellt habe, sei »ein solches Buch für den Text der Chöre unentbehrlich [..,].«'6 Zwei Groschen solle das Büchlein kosten; den Preis für das vollständige Textbuch hatte Demuth mit sechs Groschen angegeben. Darüber hinaus dürften »die bedeutenden Aenderungen in der Uebersetzung dieser Chöre nicht ohne das Vorwissen des Verfasser (Hrn. Donner) u. nicht unter seinem Namen erscheinen [...]. Wenigstens stimmen darin die Herren, von welchen jene Aenderungen herrühren mit mir überein.«17 Wie in Kapitel IV.2. bereits ausgeführt wurde, hatte Mendelssohn Anfang 1842 die Texte der Chöre grundlegend überarbeitet; das »Leipziger Libretto« vereint Böckhs und Bellermanns Bearbeitungen von Donners Textfassung. Schon am 16. Februar 1842 schreibt Falkenstein nach Berlin: »Ich höre, dass die Chöre besonders gedruckt sind«.18 Das Textbuch der Chöre, gedruckt bei Fischer in Leipzig, belegt, dass sich Mendelssohn letztlich durchsetzen konnte. Wie dem Theaterzettel der Aufführung zu entnehmen ist, kostete ein solches Textbuch dann in der Tat zwei Neugroschen.1? Ein weiteres, immer wiederkehrendes Thema in den überlieferten Briefen ist die Frage des Aufführungstermins.20 Der ursprünglich für Ende Februar bestimmte Termin der Erstaufführung konnte vom Leipziger Stadttheater nicht eingehalten werden, woraufhin die ganze Sache zu scheitern drohte. Eine Ursache für die Verzögerung lag in den von Mendelssohn vorgenommenen Textänderungen in den Chören. Am 26. Januar 1842 war endlich die in Potsdam verwendete Chorpartitur einschließlich Stimmenmaterial in Leipzig eingetroffen, wo man die Musik sehnlichst erwartet hatte.21 Mit den Chorproben wurde kurze Zeit später begonnen, wie Regisseur Düringer Demuth wissen lässt.22 Zu diesem Zeitpunkt waren in den verwendeten Materialien weder die neue Textfassung noch das/^Moll Allegro der No. 3 enthalten. Den veränderten Text erhielt

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Mendelssohn an Demuth (14. Februar 1842), Universitätsbibliothek Leipzig, Handschriftenabteilung (Signatur: Rep. IX, 16, fol. 29v). 16 Mendelssohn an Demuth (10. Februar 1842), Universitätsbibliothek Leipzig, Handschriftenabteilung (Signatur: Rep. IX, 16, fol. 27"). 17 Mendelssohn an Demuth (14. Februar 1842), Universitätsbibliothek Leipzig, Handschriftenabteilung (Signatur: Rep. IX, 16, fol. 29"). 18 Weiss: Neue Zeugnisse zu Felix Mendelssohn Bartholdy und Johann Paul von Falkenstein, 5.69. 'i> Vgl. Anhang Xl.i.b. 10 Vgl. hierzu auch den bei Weiss abgedruckten Brief Falkensteins an Mendelssohn vom 16. Februar 1842, ebd., S. 69f. 21 Vgl. Auch eine Theater-Erinnerung, S. 14. 11 Vgl. Düringer an Demuth (8. Februar 1842), Universitätsbibliothek Leipzig, Handschriftenabteilung (Signatur: Rep. IX, 16, fol. 24"). 266

der Leipziger Verleger Kistner erst am 30. Januar 1842, wie aus einem an Mendelssohn gerichteten Brief vom i. Februar 1842 hervorgeht: [...] verlassen Sie sich darauf, daß Letztere fi. e. die Partiturl nicht aus meinen Händen kommt. umsomehr da es jetzt, nachdem Sie selbst die Veränderungen in der Partitur unterlegt, es nur eines correcten Abschreibens bedarf und die Stimmen unter meinen Augen darnach zu ändern. - Die Sprech-Rollen sind allerdings bereits ausgeschrieben, wenn Sie jedoch den verbesserten Text umgehend einsenden wollten, würden dieselben leicht und mit Vergnügen geändert werden. Was den Nachtrag zum Chor No. 3 betrifft, so sehe ich demselben von Ihnen entgegen um sogleich Henschke in Bewegung zu setzen.13

Am 9. Februar 1842 berichtet Demuth zuversichtlich nach Berlin, dass die Vorbereitungen in jeder Hinsicht »nach Kräften vor sich« gingen, auch wenn Mendelssohns »gefällige Nachsendungen« die Wiedereinforderung des Stimmenmaterials notwendig gemacht hätten.24 Am 13. Februar teilt der Leipziger Theaterdirektor Friedrich Sebald Ringelhardt (1785-1855) mit, dass die Aufführung doch nicht am ursprünglich festgesetzten Datum, dem 26. Februar, stattfinden könne, denkbar hingegen sei der 5. März. Er begründet dies mit den vorgenommenen Änderungen der Texte, durch die sich die Einstudierung des Chores verzögert habe.15 Mendelssohn drängt jedoch auf einen früheren Termin: Ist es daher möglich, die Aufführung für den iSten Febr., spätestens für den iten März zu bestimmen, so wären die Paar Tage die das Unterlegen des Textes in den Stimmen höchstens weggenommen haben kann, wieder eingebracht [...].16

Außerdem habe er seinen Urlaub für dieses Datum eingereicht, den König müsse er sonst um eine Verlängerung bitten. Darüber hinaus werde möglicherweise das geliehene Stimmenmaterial in Berlin selbst benötigt. Schließlich konnte man sich auf den 5. März einigen. Da das Auswendiglernen des Textes dem Chor Schwierigkeiten bereitete, ließ der inzwischen in Leipzig eingetroffene Komponist täglich zwei Proben ansetzen, darüber hinaus hielt er die Sänger dazu an, »Tag und Nacht zu memoriren«.27 Dennoch ist Mendelssohn zuversichtlich, dass auch diese Hürde überwunden werden könne: 13

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Kistner an Mendelssohn (i. Februar 1842), Bodleian Library Oxford (Signatur: Ms.M.Deneke Mendelssohn d.4i, G.B.XV.6i). Demuth an Mendelssohn (9. Februar 1842), Universitätsbibliothek Leipzig, Handschriftenabteilung (Signatur: Rep. IX, 16, fol. 25'). »Auf die von Ew. Hochwohlgeboren an mich gerichtete Anfrage: ob die Aufführung der Antigone am löten d. M. zu ermöglichen sey, - muß ich nach meine Ueberzeugung nein antworten, da durch die Abänderung des Textes in den Chorstimmen das Einstudiren des Chores verspätet wurde und es doch sich darum handelt daß alles mit Sorgfalt einstudirt und ausgeführt werde. Dagegen zweifle ich nicht daß wir acht Tage später als bis zum 5ten März damit vollkommen fertig seyn werden, und sollte dieser Tag sich nicht mit dem Wunsche des Herrn Kapellmeisters Mendelssohn vereinbaren, so können wir auch den jten Maerz oder einen ändern Tag der zweiten Woche des Monat Maerz dazu auswählen.« Ringelhardt an Mendelssohn (13. Februar 1842), Bodleian Library Oxford (Signatur: Ms.M.Deneke Mendelssohn d.4i, G.B.XV.89). Mendelssohn an Demuth (14. Februar 1842), Universitätsbibliothek Leipzig, Handschriftenabteilung (Signatur: Rep. IX, 16, fol. 29')· Auch eine Theater-Erinnerung, S. 31, 267

In Potsdam sei gerade derselbe Fall eingetreten und man habe sogar zu dem Mittel greifen wollen, die Noten bei der Vorstellung in die Hand zu nehmen oder einen Miniatur-Abdruck des Textes zu veranstalten. Am Ende sei es doch ohne diese Hilfsmittel gegangen. Die Solo-Sänger wären des Textes so ziemlich mächtig und schleppten die Chorsänger schon durch.18 Acht Proben sind von Demuth in dem Zeitraum vom 26. Februar bis 4. März 1842 vermerkt.29 Am Nachmittag des 3. März, nach der ersten Generalprobe, musste eine zusätzliche Probe für die Sänger des Chores angesetzt werden. Ein ausfuhrlicher Bericht über die Leipziger Inszenierung wurde kurz nach der dritten Vorstellung der Antigone von dem Altphilologen Hermann anonym veröffentlicht (Über Sophokles Antigone und ihre Darstellung auf dem deutschen Theater. Zur Würdigung der griechischen Tragödie und ihrer Bedeutung für unsere Zeit. Von einem Freund der dramatischen Dichtkunst). Hermann richtet sich hier ausdrücklich gegen die polemische Kritik Laubes, der in der Leipziger Zeitschrift Der Komet zwei Aufsätze zur Aufrührung der Antigone publiziert hatte.30 Hier spricht sich Laube wiederholt gegen eine Vermischung von (gesprochenem) Schauspiel und Musik aus: Sprechende Schauspieler können nicht so stark auftragen, daß sie auf eine gleichmäßige durch die Musik erhöhte Stufe kämen. Sie gehen zu Fuße während der vornehme Herr in der Karosse rasselt, und verdanken dieser stiefmütterlichen Zusammenstellung, daß eine unklare Kritik ihnen nachsagt, sie seien zu matt gewesen.'1

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Ebd. Über die erste Generalprobe am 3. März findet sich dann auch folgende Notiz: »Mangel an Fertigkeit im Memoriren der Noten und des Textes war nirgends zu bemerken.« Universitätsbibliothek Leipzig, Handschriftenabteilung (Signatur: Rep. IX, 16, fol. 4O,ir)· Vgl. Demuth an Mendelssohn (17. Februar 1842), Universitätsbibliothek Leipzig, Handschriftenabteilung (Signatur: Rep. IX, 16, fol. 37')· Der erste Aufsatz erschien Hermann zufolge am 6. März 1842., der zweite Aufsatz wurde im Literaturblatt zum Kometen Nr. 10 veröffentlicht. Die einzelnen Kritikpunkte Laubes lassen sich leider nur durch die Reaktion Hermanns rekonstruieren, da die entsprechenden Ausgaben des Kometen von 1842 nicht aufzufinden waren. Laube zitiert nach Hermann: Über Sophokles Antigone und ihre Darstellung auf dem deutschen Theater, S. 4f. (Vorbemerkung). Vgl. hierzu auch folgende Stelle: »Herr Laube behauptet, die Antigone sei durch Mendelsohns Compositionen zur Oper geworden, und habe als solche in unserer Zeit natürlich Anklang gefunden. Er sucht die Bestätigung seiner Behauptung sehr scharfsinnig darin, daß zuerst der Componist, dann erst Madame Dessoir und Herr Reger gerufen wurden. Verlangte er etwa, daß Sophokles zuerst gerufen werden sollte! Oder hätte er es schicklich gefunden, wenn der Componist nach den Darstellern gerufen worden wäre? [...] Hättet ihr sie, fährt er fort, mit ein Paar Rohrflöten aufgetischt bekommen! die Mode wäre euch sauer geworden. Ueber die Anwendung der Rohrflöten ist Herr Laube wahrscheinlich besser unterrichtet als Andere. Nur vergaß er, daß die menschliche Stimme beim Gesänge die Hauptsache ist; er vergaß, daß diese mächtiger wirkt, als alle Instrumente und auch ohne Posaunenbegleitung Eindruck hervorbringt. Und sie ist nicht erst eine Erfindung der neueren Zeit. Die Alten selbst sahen es als einen Mißbrauch an, der Instrumentalmusik den Vorrang zu geben, und den Gesang nur als Nebensache zu betrachten, da umgekehrt die Instrumente nur als Begleitung des Gesanges dienen sollten; wie wir unter Ändern aus einigen Versen des Satyrspieldichters Pratinas wissen.« Ebd., S. 18 (Fußnote).

Immer wieder weist Hermann daraufhin, dass Laube »keine Ahnung von der Idee des Stückes« habe,31 ja dass ihm wohl überhaupt auf dem Gebiet der Antike die notwendige Bildung fehle. Wenn Hermann beispielsweise die Ausführung der Treppen kritisiert, die von der Orchestra auf die Skene führen, bemerkt er zugleich: Herr Laube findet die Einrichtung malerisch, meint indessen, daß es vor dem antiken Gewissen verantwortet werden könne, wenn diese Treppen einen Fuß mehr Breite erhalten. Demnach glaubt er, daß solche schmalen Treppchen etwas Antikes sind.33

Auch Laubes vernichtendes Urteil hinsichtlich der Übersetzung Donners nimmt Hermann zum Anlass für einen Gegenschlag: Herr Laube nennt die Uebersetzung >klötzernIch möchte gern wissenwie die geistige Vermittelung Statt finde zwischen diesen klötzernen Worten und einer künstlerischen Begeisterung, welche nödiig sein soll (also vielleicht auch nicht nöthig ist?) auch zu musikalischen Compositionen!< Herr Laube hat wohl schwerlich das Original zur Hand gehabt, als er das schrieb. Ja man möchte aus seiner Art von Polemik fast vermuthen, daß er es gar nicht kenne.34

Trotz der vehementen Verteidigung gegen Laubes Angriffe stand Hermann der Inszenierung der Antigone auf der Bühne des Leipziger Stadttheaters wohl doch distanzierter gegenüber, als es noch in dem oben zitierten Bericht über die Privatauffiihrung vom 28. November 1841 erscheint. In besonderem Maße schlägt sich dies in seiner Beurteilung der Chöre Mendelssohns nieder, die er schließlich erst jetzt mit Orchesterbegleitung hörte. [...] ohne Zweifel würden mehrere Chöre mit ganz einfacher Instrumentalbegleitung weit größere Wirkung hervorgebracht haben als die rauschenden und prächtigen Klänge, die den Gesang übertönten und eben darum die Harmonie des Ganzen störten.35

Mendelssohns Biograph Wilhelm Adolf Lampadius schreibt: Die Bühne selbst war Dank dem erfahrenen Rathe des ehrwürdigen Nestors der Philologen, Prof. Gottfried Hermann, der tiefe Einsicht mit dem Geschmack verband, in möglichster Treue nach den Vorschriften der alten Scenic hergestellt.'6

Aus den Briefen, die Mendelssohn in Vorbereitung der Aufführung an Falkenstein und Demuth gerichtet hatte, geht hervor, dass der Komponist eine antikisierende Bühneneinrichtung für unentbehrlich hielt. Am 15. Dezember 1841 lässt er durch den Kreisdirektor anfragen, [...] ob man die Bühne durchaus so, wie sie gewöhnlich ist, lassen und den Chor mit den Haupt-Figuren auf einen Plan stellen wolle, oder ob man an eine Erhöhung der Bühne denkt,

Ebd., S. 28. Ebd., S. 13 (Fußnote). Ebd., S. 27 (Fußnote). Vgl. Kapitel IV.i.a. Ebd., S. 18. Lampadius: Felix Mendelssohn Bartholdy, S. 283. 269

um den Chor tiefer vor dem eigentlichen Orchester aufzustellen, wie es in Potsdam war. Namentlich der Punct wegen der Sänger ist mir, wie Sie sich denken können, wichtig [...].37

Die bereits in Kapitel IV.i. beschriebene Bleistiftzeichnung der Berliner Bühneneinrichtung ist ein weiterer Beleg dafür, dass man sich in Leipzig möglichst genau an die Vorgaben aus Berlin halten wollte. Hermanns Abhandlung Über Sophokles Antigone und ihre Darstellung auf dem deutschen Theater liefert eine ausführliche Beschreibung der Leipziger Ausstattung. Obwohl die Auftrittsmöglichkeiten für die Schauspieler in Potsdam heftig kritisiert worden waren, war in Leipzig keine andere Lösung angestrebt worden: Der Hintergrund stellte den Eingang zum Palast des Kreon, die nächsten Seitendecorationen einige zu demselben gehörenden Gebäude dar, daher nur die von dort kommenden Personen unmittelbar auf der Scene selbst auftraten.38

Ebenso wie im Neuen Palais mussten die Schauspieler, »welche aus der Stadt oder von dem außerhalb der Stadt gelegenen Orte kamen, wo sich Polyneikes Leichnam befindet, ihren Weg über die Orchestra nehmen.«39 Wie Mendelssohn zuvor mitgeteilt worden war, konnte »ein neuer Pallast [...] wohl nicht angefertigt [werden], doch besitzt unsre Bühne grade in diesem Genre sehr schöne Sachen, und die vom Publikum natürlich sehr selten gesehen werden, da wenig Stücke zur Aufrührung kommen, die uns in jene alte Zeit zurückfuhren.«40 Im Unterschied zum Theater im Neuen Palais wurde die Orchestra nicht vor, sondern auf dem vorderen Teil der eigentlichen Bühne aufgebaut, so dass »der Chor den Platz des Prosceniums bis zur ersten Coulisse« einnehme.41 Für die Darsteller werde »von da das Theater um etwa 4 Fuß erhöht. Ob die Coulissen an den Seiten geschlossen werden, steht noch in Frage, doch halte ich es auch ernstlich und nach bester Ueberzeugung nicht einmal für nöthig, da man auch ohne das sicher kein Wort verlieren wird.«42 Weil auf diese Weise »die Orchestra nicht, wie bei den Griechen, zwischen den Sitzen der Zuschauer sich befand, sondern zur Bühne gehörte und mit Seitendecorationen versehen war, welche Gebäude darstellten, so daß der Chor auf einem öffentlichen Platze vor dem Königspalast sich zu befinden schien«, hatte das vielfach kritisierte Auftreten der Schauspieler durch die Orchestra für Hermann jedoch »nichts Anstößiges.«43 37

Mendelssohn an Falkenstein (15. Dezember 1841), Universitätsbibliothek Leipzig, Handschriftenabteilung (Signatur: Rep. IX, 16, fol. 3V). Vgl. auch Mendelssohn an Demuth (10. Januar 1842), ebd., fol. 8V. 38 Hermann: Über Sophokles Antigone und ihre Darstellung auf dem deutschen Theater, S. 12. 39 Ebd. 40 Venning an Mendelssohn (i. Februar 1842), Bodleian Library Oxford (Signatur: Ms.M.Deneke Mendelssohn d-4i, G.B.XV.Öi). 41 Ebd. 42 Ebd. Hermann schreibt, dass die Orchestra »in einer Tiefe von zwei Coulissen oder ungefähr 8 Ellen« eingerichtet worden sei. Vgl. Hermann: Über Sophokles Antigone und ihre Darstellung auf dem deutschen Theater, S. yi.

« Ebd., S. 12. 270

Entsprechend der Vorgabe aus Berlin war in der Mitte der Orchestra die Thymele aufgestellt. Ausdrücklich weist Hermann auf die dadurch entstehenden Raumprobleme hin. Der Altar des Bakchos, durch den der ohnehin schon beschränkte Raum noch mehr verengert wurde, [...] hätte füglich wegbleiben können, da er sich im griechischen Theater ganz außerhalb des Raumes befand, auf dem der Chor seinen Standpunkt hatte.44

Ähnliche Schwierigkeiten wie in Potsdam bereiteten wohl die schmalen Stufen der Doppeltreppe. Zudem sah diese »getroffene Einrichtung unnatürlich« aus, »denn wer wird glauben können, daß der Vorplatz eines königlichen Palastes mit einem öffentlichen Platze durch zwei schmale Treppchen verbunden sein könne?«45 Durch die Weglassung des Altars hätte nach Ansicht Hermanns »leicht so viel Raum gewonnen werden können, entweder eine querüberlaufende oder wenigstens zwei breitere Treppen anzubringen.«46 Weiterhin sei der Höhenunterschied von sechs Fuß zwischen Orchestra und Proscenium unverhältnismäßig groß.47 Dennoch räumt Hermann ein, dass diese Erhöhung notwendig gewesen sei, um die Sicht der im Parterre und Parkett sitzenden Zuschauer nicht einzuschränken. Hermann gibt keinen Hinweis zur Aufstellung des Orchesters. Da jedoch auf eine in den Zuschauerraum hineinragende Orchestra, d. h. eine Überbauung des Orchestergrabens verzichtet worden war, konnten die Musiker problemlos in üblicher Art und Weise im Orchestergraben musizieren. Auch bezüglich der Kostümierung sollte in Leipzig alles Mögliche in die Wege geleitet werden: Hinsichtlich der Costume wird nach unseren Kräften ebenfalls das mögliche gethan werden und das nicht vorhandene neu angefertigt. Dafür sorgen schon die Mitwirkenden. Freilich werden Sie hier keine Königliche Garderobe finden, doch eine anständige, und dann haben ja auch ein in seinen Ansprüchen bescheideneres Publikum.48

Nach Hermanns Urteil wurde die Rolle der Antigone von Therese Dessoir (1810-1866) »erhaben und würdevoll« verkörpert.49 Vor allem die letzte Rede habe sie meisterhaft vorgetragen, wobei sie insbesondere die Schlussverse »mit Recht nicht als Drohung oder Fluch, sondern dem Charakter der Antigone gemäß, als Verkündigung des göttlichen

44

Ebd., S. . v Ebd., S. 13. 46 Ebd. 47

48

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Hermanns Aussage steht hier im Widerspruch zu der Vennings, der von einer Erhöhung um lediglich vier Fuß berichtet hatte. Zunächst waren wohl vier Fuß geplant (Vennings Brief stammt vom i. Februar 1842), in der Umsetzung wurde dann aber aus Sichtgründen, wie Hermann bestätigt, eine Erhöhung von sechs Fuß vorgenommen. Vgl. Hermann: Über Sophokles Antigone und ihre Darstellung auf dem deutschen Theater, S. n. Venning an Mendelssohn (i. Februar 1842), Bodleian Library Oxford (Signatur: Ms.M.Deneke Mendelssohn d.4i, G.B.XV.6i). Hermann: Über Sophokles Antigone und ihre Darstellung auf dem deutschen Theater, S. 38. Vgl. Anhang Xl.i.b. 271

Strafgerichts, das nach den Begriffen der Alten die Polis treffen muß,« interpretierte.50 Nur mit ihrem letzten Abgang war Hermann nicht zufrieden: Die Darstellung dieser Szene sei in der Potsdamer Inszenierung natürlicher und der griechischen Tragödie eher angemessen gewesen. Zwar hatte Hermann die Aufführung in Potsdam nicht gesehen, er kannte aber einige Details durch die Abhandlungen von Böckh, Toelken und Förster.51 Anstatt also »an den Stufen des Altars ermattet« niederzusinken »und von dort gegen das Ende des Chorgesangs [»Auch der Danae Reiz«] von den Dienern« weggeführt zu werden, wandte sich Madame Dessoir »flehend an die thebanischen Greise [...] und sank endlich erschöpft an dem Altare nieder.«51 Zu diesem Abgang bemerkt Hermann weiterhin: Es wäre jedoch dem Charakter der Antigone völlig zuwider, wenn sie noch einen Versuch zu ihrer Rettung machte, nachdem sie sich einmal in ihr Schicksal ergeben; ja es schwächt dieser Versuch die Bewunderung, die ihre würdevolle Ergebung hervorgebracht hat. Außerdem kann sie auch von dem Chor (der nirgends thätig in die Handlung eingreift) nach der Gesinnung, die er früher ausgesprochen und die er auch in dem letzten Gesänge andeutet, gar keine Hülfe erwarten. In der dritten Vorstellung konnte es scheinen, als ob sie von einigen Personen des Chores Abschied nehmen solle; das würde nach der Ansicht der Alten auch falsch, aber wenigstens dem Charakter der Antigone minder unangemessen sein.53

Auch die Rolle des Kreon wurde von Philipp Salomon Reger (1804-1857) zu Hermanns Zufriedenheit verkörpert. Er stellte den stolzen und strengen König, dem die Aufrechterhaltung der Gesetze und das Wohl des Staates das höchste ist, mit würdevollem Anstand dar; [...] Die letzte Scene würde unbedingtes Lob verdient haben, wenn ihn nicht zuweilen die Handhabung des ungewohnten Gewandes an freier ungezwungener Bewegung gehindert hätte.54

»In der That keine leichte Aufgabe« bot die Rolle des Haimon, der von Herrn Heese dargestellt wurde. Ein Grund hierfür lag nach Hermanns Auffassung jedoch auch in der Übersetzung Donners, die »eine Menge Beziehungen des Originals fast ganz« verwische und daher »für den, der jenes nicht vergleicht, theilweise ziemlich unverständlich« sei.55 Wollrabe, ein Schauspieler, der sonst größeren Rollen übertragen bekam, spielte den Wächter. Hermann glaubte hierin jedenfalls den Grund dafür zu finden, »daß er den Wächter über die Sphäre erhob, in der ihn der Dichter gehalten hat, die gemeinen Maximen desselben wie Sprüche der Weisheit, die Erzählung von dem Streit der Wächter und dem Sturm wie hochtragische Ereignisse vortrug.«56 Saalbach als Bote sprach, »als ob er selbst Kreon wäre, nicht die Worte des Kreon blos wiederhole.«57 50

Ebd., S. 40.

51

Böckh/Toelken/Förster: Über die Darstellung der Antigone des Sophokles und ihre Darstellung auf dem königlichen Schloßtheater im neuen Palais bei Sanssouci. Hermann: Über Sophokles Antigone und ihre Darstellung auf dem deutschen Theater, S. 45. Ebd., S. 44f. Ebd., S. 53f. Ebd., S. 55.

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» 54 55

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Ebd., S. 57. Ebd.

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Fräulein von Tennecker als Ismene genügte ihrer Rolle kaum. Ihr fehlte vor allem »Sicherheit und naturgemäßer Fortschritt im Ausdruck der Empfindungen durch Aktion und Deklamation.«58 Auch Düringer als Teiresias gab Anlass zur Kritik: »Die letzte längere Rede zerriß er in Weine Stücke, da ihm die zum zusammenhängenden Vortrag nöthige Kraft fehlte.«59 Dagegen wurde Eurydike von Madame Brüning »mit Würde und Anstand« gespielt.60 »Wenn sie aber während der Erzählung des Boten ohnmächtig niederfiel, war dies offenbar ein Verstoß gegen den griechischen Charakter, und konnte um so weniger gebilligt werden, da sich davon in den nächsten Worten des Chores eine Andeutung findet.«6' Ein zusammenfassender Bericht über die erste öffentliche Aufführung der Antigone in Leipzig befindet sich in Demuths Aktensammlung: Die gestrige Vorstellung war wohl die gelungenste, die seit 1817 hier stattgefunden hat. Alle Kräfte wirkten mit gleicher Anstrengung u. dem schönsten Erfolge zusammen und das Publikum bewies den ungewöhnlichen Tact, dass während der Aufführung die feierlichste Stille herrschte, die mir jemals in einem Schauspielhause vorgekommen ist. Niemand wagte zu applaudiren und als bey dem Bachuschore No. 6 ein Applaus hervorbrechen wollte, hielt der Student ihn im Zaume und die Unterbrechung, die dem Ganzen nur Schaden thun kann, wurde glücklich vermieden. In der Composition trug das Quartett No. 4 - an Eros und der Bachuschor No. 6 der Culminations Punkt der Musik - sichtbar den Preis davon. Der Eindruck den das Ganze macht, ist eigenthümlich und lässt sich mit dem Eindrucke anderer Vorstellungen nicht recht vergleichen. - Am Schluß drängte sich der Beifall gewaltsam hervor. [...] Sonderbar genug hatte das Stück — abgesehen von der Musik der Chöre — großen Beifall gefunden.62

Der Komponist dirigierte auch die erste Wiederholung am 6. März 1842, musste dann aber auf königlichen Befehl hin nach Berlin zurückreisen.63 In Leipzig stand die Antigone in der Spielzeit von Oktober 1841 bis Oktober 1842 insgesamt neun Mal auf dem Spielplan.64 Ein kleiner Skandal, wie Kistner in einem Brief an Mendelssohn vom 10. März 1842 berichtet, folgte den unerwartet erfolgreichen ersten Vorstellungen im Leipziger Stadttheater auf dem Fuß: Am vorhergehenden Tag war im Leipziger Tageblatt die Anzeige

'8 s» 60 61

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Ebd., S. 59 (Fußnote), Ebd. Ebd., S. 57. Ebd., S. 57f. Universitätsbibliothek Leipzig, Handschriftenabteilung (Signatur: Rep. IX, 16, fol. 5ir). In einem an Mendelssohn gerichteten Brief vom 3. März 1842 wird dieser zur schnellstmöglichen Rückkehr aufgefordert, da die Antigone bereits Mitte des Monats März angesetzt werden solle. Vgl. von Massow an Mendelssohn (3. März 1842), Bodleian Library Oxford (Signatur: Ms.M.Deneke Mendelssohn d-4i, G.B.XV.nS). Mendelssohn reiste also ab, die erste Aufführung im Berliner Schauspielhaus fand jedoch erst Mitte April, also einen Monat später als geplant, statt. Neben den bereits genannten Aufführungen am 5., 6. und 8. März 1842 fanden im Jahr 1842 Vorstellungen an folgenden Terminen statt: 16. März, 3., ., 19. und 27. April sowie 30. August. Vgl. Jahrbuch und Repertorium des Theaters der Stadt Leipzig, 1843.

eines Konzerts des Philharmonischen Vereins erschienen, für das als Schlussnummer Chöre aus der Antigone angekündigt wurden. Direktor dieses Vereins war der Tenor Schmidt, der selbst bei der Aufführung im Stadttheater im Chor mitgewirkt hatte.65 Kistner schreibt, »daß, als ich das las, es mich frappirte und wunderte mich, daß Sie dieses herrliche Werk schon sollten den Händen von 20-30 jungen Leuten anvertraut haben um es, denn das bleibt hernach nicht aus, in ihre Bücher abzuschreiben und abzuschreien, wo sie Lust hätten.«66 Er habe sich daraufhin vorgenommen, Erkundigungen darüber einzuziehen; dies erübrigte sich jedoch, weil kurz darauf der Direktor der Stadttheaters, Ringelhardt, völlig aufgebracht bei Kistner erschienen sei, erklärte, er habe Mendelssohn sein Ehrenwort gegeben, die Partitur sorgsam zu verwahren und nichts davon herauszugeben. Schmidt habe, von Ringelhardt zur Rede gestellt, vorgegeben, Mendelssohns Erlaubnis zur Aufführung der Chöre zu besitzen, und daher weiterhin, jedoch ohne Erfolg, auf die Auslieferung von Partitur und Orchesterstimmen gedrungen. Wenige Zeit nach Ringelhardts Besuch erschien Schmidt bei dem Verleger und beklagte sich über den Streich, den ihm der Direktor durch seine Weigerung spielen wolle. Kistner solle ihm nun Recht darin geben, dass er Mendelssohns Einverständnis besäße, was dieser natürlich nicht bestätigen konnte. Mit seinem Auftreten - »mit seinem strahlenden >wie ich mit Mendelssohn stehe< sein Lieblingswort worauf man glauben möchte er wäre wenigstens Ihr Pylades«67 - habe sich Schmidt den Anschein geben wollen, dass er es im Grunde gar nicht nötig habe, Mendelssohn um Erlaubnis zu ersuchen. Kistner berichtet weiter: Nachdem ich ihm nun offen meine Meinung gesagt und wir Beide etwas echaufirt wurden äußerte er, daß er auf jeden Fall die Chöre machen würde, sollte er sie auch, nur auf dem Piano begleiten lassen. Ich frug, ob er denn eine Abschrift der Chorpartitur habe, worauf er erst prahlend erwiderte >die habe ich früher gehabt als Ringelhardt!< später meinte er, er habe sie erst vorige Woche mit Ihrer Erlaubniß genommen. Die Eitelkeit und Arroganz dieses Herren ist groß, aber unerträglich und es wäre wahrhaftig gut wenn Sie ihm bei dieser Gelegenheit ein bißchen auf die Finger klopfen möchten! - Zu einer öffentlichen Aufführung und zu einer Abschrift haben Sie ihn auf keinen Fall ermächtigt, wenigstens glaube ich es heut noch nicht! Das Concert ist morgen und ich bin begierig was geschieht. Ringelhardt giebt Nichts heraus, da sind Sie sicher aber was Schmidt hat - das wird Ihr nächster Brief entscheiden.68

Aufgrund der großen Beliebtheit der Komposition zur Antigone musste sich Mendelssohn in den nachfolgenden Jahren immer wieder gegen Missbrauch wehren. Der Fall Schmidt erscheint in diesem Zusammenhang vergleichsweise harmlos, angesichts der Tatsache, dass sogar bedeutende Bühnen, wie etwa Dresden, Raubkopien anfertigen ließen.

«'

Vgl. Anhang Xl.i.b. Kistner an Mendelssohn (10. März 1842), Bodleian Library Oxford (Signatur: Ms.M.Deneke Mendelssohn d.4i, G.B.XV.i3o). «7 Ebd. 68 Ebd. 66

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Der große Erfolg der Antigone sowie die auch in Leipzig nachfolgend einsetzende, öffentliche Diskussion um antike Aufführungspraxis wurde von Gustav Albert Lortzing (1801-1851) in seiner am 31. Dezember 1842 in Leipzig uraufgefiihrten Oper Der Wildschütz in humorvoller Weise aufgegriffen.69 Lortzing, der von 1833 bis 1844 am Leipziger Stadttheater als Solosänger und Schauspieler engagiert war, wirkte in der Aufführung der Antigone im Chor mit und war daher mit der Inszenierung dieser sophokleischen Tragödie bestens vertraut. In seiner komischen Oper lässt er die der Graecomanie verfallene Gräfin eine Privatauffuhrung der Antigone veranstalten. Zahlreiche wörtliche Zitate durchziehen an passenden wie unpassenden Stellen die Dialoge des Wildschütz, wobei die zitierten Passagen der in Leipzig aufgeführten Textfassung entnommen sind. So lässt Lortzing den Dorfschulmeister Baculus den Beginn der Parodos mit den Worten des »Leipziger Librettos« vortragen.70 Darüber hinaus thematisiert die Oper die in der Öffentlichkeit zum Teil heftig diskutierten Fragen zur Einrichtung der antiken Bühne, indem die Gräfin den für dieses Gespräch in keiner Weise gebildeten Baculus um seine Ansicht hinsichtlich der Positionierung der Türen sowie des Altars befragt:71 Gräfin.

Herrlich, Also Ihre Meinung. Ich bin nämlich wegen des Arrangements der Bühne zur Vorstellung, welche zu Ehren des Grafen morgen Abend stattfindet, noch etwas in Zweifel. - Stand der Altar mehr nach hinten, oder in der Mitte der Orchestra? Baculus (confus). Wo drin? Gräfin. Ich frage Sie, ob der Altar des Bachus in der Mitte stand. Baculus. Wahrscheinlich; allerdings. Ich würde ihn jedenfalls in die Mitte setzen. Gräfin. Ganz meine Ansicht. Und - nicht wahr - drei Thüren im Hintergrunde? Baculus. Versteht sich, auch in die Mitte. Gräfin. Wie, die Seitenthüren auch? Baculus. Alles in die Mitte, das ist altgriechisch.

Wie bereits oben beschrieben wurde, hätte der Altar nach der Auffassung Hermanns aus verschiedenen Gründen wegbleiben sollen. Die Frage nach der Anordnung der Türen spielt darauf an, dass sich die Eingänge in den Palast in Leipzig (ebenso wie in Potsdam und in Berlin) nicht ausschließlich in der Rückwand befanden, wie es der antiken Skene entsprochen hätte. Stattdessen hatte man Nebeneingänge auch in die Seitendekorationen verlegt,7* also nicht »in die Mitte«. Mit beißendem Humor legt Lortzing gerade dem Ungebildeten, der kurz vor dieser Szene von der Existenz eines

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In Berlin wurde der Wildschütz zum ersten Mal am 24. Oktober 1843 gegeben. »Strahl der Sonne, du schönstes Licht, das je dieses Thebanervolks - siebenthoriger Stadt erschien.«, Der Wildschütz, Klavierauszug, S. 117. Ebd. »Der Hintergrund stellte den Eingang zum Palast des Kreon, die nächsten Seitendecorationen einige zu demselben gehörigen Gebäude dar [...].« Hermann: Über Sophokles Antigone und ihre Darstellung auf dem deutschen Theater, S. 12. 275

Sophokles noch keine Ahnung hat, aus purer Verwirrtheit die richtige Antwort im Streit der philologisch Gebildeten in den Mund. Diese korrekte Antwort erscheint im Kontext der Szene überdies noch lächerlich. Schließlich findet die Tatsache, dass die Gräfin eine melodramatische Behandlung der Chöre erwägt, ebenfalls in Hermanns Abhandlung eine Entsprechung. Seiner Meinung nach würde in den epirrhematischen Szenen »der Eindruck noch mehr gehoben sein, wenn die jambischen Verse des Chors zwischen den Klagen des Kreon nicht vom ganzen Chor gesungen [...], sondern wie bei der Darstellung auf dem alten Theater, vom Chorführer gesprochen worden wären.«73

3. Die Antigone-lnszemerung am Königlichen Hoftheater in Dresden (1844) Am 12. April 1844 wurde Antigone zum ersten Mal im 1841 erbauten Königlichen Hoftheater in Dresden aufgeführt.74 Es ist bemerkenswert, dass der Theaterzettel die für die Bühneneinrichtung Verantwortlichen, Gottfried Semper (1803—1879) und Otto Wagner (1803-1861), nennt, den Dirigenten der Aufführung aber nicht anführt.75 Bühnenbildner wurden noch Mitte des 19. Jahrhunderts nur in besonderen Fällen auf Theaterzetteln vermerkt. Bei der Leipziger Aufführung beispielsweise war hierauf verzichtet worden - schließlich hatte man keine neuen Dekorationen anfertigen lassen. Die Direktion Mendelssohns wurde dagegen besonders hervorgehoben. Nach dem Bühnenbildentwurf von Semper70 ist die Orchestra — dem Vorbild der Leipziger Einrichtung entsprechend — Bestandteil der eigentlichen Bühne. Zwei plastische Tore bilden die seitlichen Auftritte in die Orchestra.77 Ihre Fläche wird zu einem großen Teil von dem auf drei Stufen erhöhten Altar ausgefüllt. Eine Doppeltreppe mit zehn Stufen führt zum Proscenium hinauf. Der Palast erinnert an die Akropolis in Athen. Hinter den Propyläen sind drei Tore zu erkennen, die die Auftrittsmöglichkeiten aus dem Palast darstellen. Der Hintergrundprospekt vervollständigt den gewaltigen, sich auf einem Berg erhebenden Königspalast. Im Vergleich dazu erscheint der davor gelegene Halbkreis der Orchestra, dessen Durchmesser nur etwa ein Drittel der Breite des Portals in Anspruch nimmt, geradezu winzig. Vorausgesetzt, die Zeichnung gibt

73 Ebd., S. 23. 74

Am darauffolgenden Tag schreibt der Dichter und Dramaturg Julius Mosen (1803-1867): »Die Decoration war nach dem Entwurf des Prof. Semper's von Otto Wagner meisterhaft gemalt. Die Auffuhrung war bis auf die Chöre, in welche schon wegen der modernen, störenden Opernmusik kaum eine Ahnung von dem antiken Geiste zur Erfüllung kommen wollte, sehr gelungen.« Mosen: Aufsätze und Rezensionen über Literatur, Kunst und Geschichte, Goethe- und Schiller-Archiv (Signatur: 67/11, 8,10). 75 Vgl. Anhang XI.i.c. 76 Vgl. Abbildung 9. 77 Auf eine ähnliche Weise scheint die Bühne bei der Wiederaufnahme der Antigone am 26. Mai 1866 im Berliner Opernhaus eingerichtet gewesen zu sein. Vgl. Frenzel: Berliner Dramaturgie, Band II, S. 69.

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die tatsächlichen Größenverhältnisse der Bühneneinrichtung wieder - was bei dem Architekten Semper anzunehmen ist -, so hätte die von Semper entworfene Orchestra bei einer Portalbreite von etwa 25 m ungefähr die gleiche Größe wie im Theater im Neuen Palais in Potsdam.78 In seinem Brief an den Münchner Intendanten Franz Dingelstedt (1814-1881) vom 15. Dezember 1851 berichtet Tieck, dass die Dresdner Inszenierung viel Beifall gefunden habe,79 nicht zuletzt wohl deshalb, weil in Vorbereitung der Aufführung der Dresdner Intendant Wolf Adolf August von Lüttichau (1786-1863) seine wichtigsten Darsteller zu Tieck nach Berlin geschickt hatte. »[...] und ich half ihnen mit meinem Rath, so viel ich konnte, indem sie mir ihre Rollen vordeklamirten.«80 Der Dresdner Antigone-lnszememng war ein etwas unerfreulicher Briefwechsel zwischen von Lüttichau und Mendelssohn vorausgegangen. Wie Mendelssohn in einem Brief an Hübner vom 20. November 1843 schreibt, hatte man in Dresden die Partitur kopiert und eine konzertante Aufführung der Antigone geplant, ohne den Komponisten davon in Kenntnis zu setzen: Man hat nämlich meine Partitur zur Antigone hier abschreiben lassen, ohne mich direct darum zu fragen, will sie nun dort im Concert auffuhren (wozu sie sich nicht eignet) und das kann ich nicht erlauben, und da mir Hr. v. Lüttichau schrieb er habe die Darstellung auf dem Theater aufgegeben um es nicht den Berlinern so spät noch nachzumachen, so habe ich meine Partitur und die Stimmen zurückgefordert.8'

Im Frühjahr 1844 verließ Devrient das Berliner Theater und zog nach Dresden, wo er im März desselben Jahres die Position des Oberregisseurs erhalten hatte. Hierin ist ein Grund dafür zu sehen, warum es trotz der anfänglichen Querelen doch zu einer Annäherung zwischen Mendelssohn und dem Dresdner Hoftheater kam, so dass Antigone szenisch - nicht konzertant - im April aufgeführt werden konnte. Dennoch sieht sich Mendelssohn noch Monate später dazu gezwungen, von Lüttichau behutsam an das

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Zur Bühne des Dresdner Hoftheaters vgl. die Abbildungen in: Semper: Das Königliche Hoftheater zu Dresden. Der Dresdner Oberlehrer der Kreuzschule Hermann Köchly (1815-1876) veranstaltete am 4. Mai 1844 eine Vorlesung Über Sophokles Antigone, die noch im selben Jahr im Druck erschien. Damit reagierte er auf die »allgemeine Theilnahme, welche die Aufführung der Antigone auch in unserer Stadt hervorgerufen hat«. Köchly: Über Sophokles Antigone, S. i. Tieck an Dingelstedt (15. Dezember 1851), Goetbe- und Schiller-Archiv (Signatur: 157/111). Mendelssohn an Hübner (20. November 1843), zitiert nach Feder/Hübner: Felix Mendelssohns Briefe an Pauline und Julius Hübner, S. 182. Wohl aus dieser Erfahrung klüger geworden, schickt Mendelssohn im Frühjahr 1844 an seinen Freund Droysen in Kiel eine Partiturabschrift der Antigone mit der Bitte, »dafür zu sorgen, daß man die Partitur einem sicheren Abschreiber in die Hände gibt, der nicht seinerseits Kopie davon nimmt und weiter verbreitet; ich sollte das gegen Dich gar nicht erwähnen, aber der Fehler ist so allgemein bei den deutschen Notenschreibern, und ich möchte eine Verbreitung der An so gern verhüten, daß Du mir die Äußerung gewiß nicht übel nimmst.« Mendelssohn an Droysen (2. März 1844), zitiert nach Wehmer: Ein tief gegründet Herz, S. 89.

noch ausstehendes Honorar zu erinnern, wie ein Brief an Devrient vom 25. Oktober 1844 belegt: Man hat in Dresden, wie ich höre, jetzt die Antigone mehrere Mal aufgeführt, 82 von Honorar ist aber nicht die Rede gewesen; Hr. v. Lüttichau ließ die Partitur damals in Dresden abschreiben - eigentlich sogar ohne meine Vorwissen - es gab eine etwas piquirte Correspondenz darüber - indeß ist das alles längst wieder beigelegt, u. wir stehen wieder im schönsten Vernehmen. Nun möchte ich ihn aber nicht direct an die Sache erinnern u. mahnen, auch möchte ich nicht, daß Du es thätest - aber vielleicht könntest Du durch jemand anders in Erfahrung bringen, wie das zusammenhängt, ob es eine bloße Vergeßlichkeit ist oder sonst einen ändern Grund hat? Die Musik zum Sommernachtstraum ließen sie damals durch Hrn. v. Küstner besorgen, der in meinem Namen ein sehr anständiges Honorar (20 Fr. d'or) dafür ausbedingte;83 die Sache mit der Antigone aber wurde durch den jetzigen Minister v. Falkenstein betrieben, u. der hat jenen Punkt wahrscheinlich übersehen.84 König Friedrich August II. von Sachsen (1797-1854) ernannte Falkenstein 1844 in Dresden zum Minister des Innern.85 Bereits seit 1840 hatte sich der König immer wieder darum bemüht, Mendelssohn an Sachsen und den Hof zu binden.86 Im Zentrum der Verhandlungen steht die Gründung des Leipziger Konservatoriums, darüber hinaus die Leitung der Hofkonzerte. Am i. Juli 1841 wird Mendelssohn zum Königlichen Kapellmeister ernannt. Da jedoch Friedrich Wilhelm IV. dem sächsischen König zuvorgekommen war und den Komponisten bereits für seine Dienste verpflichtet hatte, wurden die Verhandlungen mit Friedrich August II. mehr oder weniger auf Eis gelegt. Sie wurden erst wieder aufgenommen, als sich Mendelssohns Bindung an den preußischen König allmählich gelockert hatte. Zu diesem Zweck »hatte Friedrich August II. nicht nur von Falkenstein mit Unterhandlungen beauftragt, sondern [...] auch von Lüttichau, und zwar unabhängig voneinander.«87 In diesem Zusammenhang steht eine Reise Mendelssohns nach Dresden im Dezember 1844, wo der Komponist bei einem Hofkonzert auftrat.88 Hübner berichtet, dass aus diesem Anlass Stücke mit Mendelssohns Musik erneut auf den Spielplan gesetzt wurden: Lüttichau hat mich außerdem noch gebeten, Ihnen zu sagen, daß er Antigone und Sommernachtstraum, beides für nächste Woche bestimmt habe, u. zwar so daß etwa Mittwoch 81

Bis zum Jahresende wurde Antigone noch weitere acht Mal gegeben. Vgl. Tage-Buch des Königl. Sachs. Hoftheaters auf das Jahr 1844. Nach mehrjähriger Pause wurde die Tragödie 1853 für weitere vier Vorstellungen wieder aufgenommen. Vgl. Tage-Buch des Königl. Sachs. Hoftheaters auf das Jahr 1853. 83 Der Sommernachtstraum war am 9. Februar 1844 zum ersten Mal in Dresden aufgeführt worden. Vgl. Tage-Buch des Königl. Sachs. Hoftheaters auf das Jahr 1844. 84 Mendelssohn an Devrient (25. Oktober 1844), zitiert nach Turner: Mendelssohn's letters to Eduard Devrient: filling in some gaps, S. 233f. 85 Vgl. Petzold: Dr. Johann Paul Freiherr von Falkenstein, S. 66. 86 Vgl. Hafner: Felix Mendelssohn Bartholdy in seinen Beziehungen zu König Friedrich August II. von Sachsen, S. 219-268. Eine erste Begegnung hatte am 16. Dezember 1840 in Leipzig stattgefunden, als der Sächsische König eine Abonnementkonzert im Gewandhaus besuchte. Vgl. ebd., S. 225. "7 Ebd., S. 255. 88 Vgl. Devrient: Erinnerungen an Felix Mendelssohn Bartholdy, S. 255. 279

Antigone gegeben würde, u. Sie nachher, etwa um 9 Uhr, mit ihm zum König fuhren, und hofft er sehr, daß der Sommernachtstraum vielleicht ein Mittel würde, Sie etwas länger hier zu behalten.89 Erst im Oktober des folgenden Jahres tritt Mendelssohn in den Dienst des Sächsischen Königs ein, »wenn auch zu sehr großzügig gefaßten Bedingungen, d. h. ohne offizielles Hofamt und ohne Titel, ferner mit dem Recht, die Beziehungen jederzeit wieder zu lösen, jedoch mit festen regulären Bezügen.«90 Die Stellung beinhaltete in erster Linie die Leitung des Leipziger Konservatoriums, darüber hinaus sollte Mendelssohn gelegentlich in Dresden als Dirigent und Pianist auftreten.

4. Die Aufführung des Hippolytos an den Königlichen Schauspielen Berlin mit Musik von Adolph Schulz (1851) Die Königlich Privilegirte Berlinische Zeitung berichtet am 29. April 1851: Ganz in der Weise, wie die erste Darstellung der Antigone, des Oedipus, der Medea, fand am Sonnabend im Königlichen Schauspielhause, vor einer Anzahl eingeladener Hörer, die Aufführung der Tragödie Hippolytos, des Euripides, metrisch übertragen von dem rühmlich gekannten Uebersetzer des Sophokles, Herrn Justizrath Fritze, statt. Herr Kammermusikus Schulz hatte die Chöre componirt und die Musik auch für die geeigneten Stellen des Dialogs in melodramatischer Weise hinzugefügt.9' Das Zustandekommen dieser Aufführung gründete sich wohl maßgeblich auf die Initiative von Fritze, der bereits im Sommer 1850 eine Vorlesung seiner Übertragung veranstaltet und den Königlichen Kammermusikus Schulz um eine Komposition gebeten hatte. Die Wiederbelebung des Hippolytos müsse nach Ansicht des Übersetzers auch bei dem mit dem Altertum weniger Vertrauten Interesse wecken, da der Stoff des Dramas durch Racines Bearbeitung (Phädra) bekannt sei.91 Im Vorwort der im

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Hübner an Mendelssohn (29. November 1844) Feder/Hübner: »Felix Mendelssohns Briefe an Pauline und Julius Hübner«, S. 188. Antigone wurde in Dresden am 4. Dezember 1844 gespielt, der Sommernachtstraum am 9. Dezember 1844. Vgl. Tage-Buch des Königl. Sachs. Hoftheaters auf das Jahr 1844. In einem Brief an George Alexander Macfarren vom 8. Dezember 1844 kritisiert Mendelssohn den Vortrag der melodramatischen Partien der Dresdner Antigone-Darstellerin. Statt die Instrumentalbegleitung dem Sprechrhythmus anzupassen habe die Darstellerin das Tempo der Musik übernommen. Vgl. Glehn: Goethe and Mendelssohn (1821-31), S. 131. Hafner: Felix Mendelssohn Bartholdy in seinen Beziehungen zu König Friedrich August II. von Sachen, S. 260. Königlich Privilegirte Berlinische Zeitung, No. 99 (29. April 1851), erste Beilage, S. 7. Dennoch räumt Fritze ein: »Es mag sein, daß für den gewöhnlichen Theaterbesucher, dem an einem Kunstgenüsse weniger liegt, als an einer amüsanten Tödtung einiger müßiger Stunden, das antike Werk in seinen Anordnungen und in seiner gedrängten Kürze als zu starr und zu wenig pikant sich darstellt. Dem wahrhaft Gebildeten wird die hohe Einfachheit und der sittliche Adel der Dichtung nicht ohne Genuß lassen, und die Vorzüge desselben werden um so tiefer in ihn eindringen, je lebhafter er beklagt, das Edle mehr und mehr von der Bühne

2.80

Frühjahr 1851 in Berlin erschienenen Druckausgabe legt Fritze dar (wobei seine durchaus nationalistische Einstellung deutlich hervortritt), weshalb die euripideische Tragödie dem Racineschen Drama überlegen sei.93 Die Phädra des Euripides bleibe trotz ihrer Frevel taten ein sittlicher Charakter: Die Liebe, von welcher sie ergriffen wird, ist nicht die Folge einer inneren Entartung, sondern eines, wider ihren eigenen Willen sie überwältigenden Naturdranges, dem oft auch der reinste Mensch nicht zu widerstehen vermag, und der deshalb dem Griechen als das Walten, als der Zorn eines Gottes galt.94

Racines Phädra sei dagegen von »der zügellosen Leidenschaft des entarteten Weibes« getrieben, weshalb ihrem Charakter von vorn herein die erforderliche Sittlichkeit abgesprochen werden müsse.95 Überhaupt habe der französische Dichter nicht nur das antike Werk, sondern auch den antiken Stoff völlig missverstanden. Die Hoheit der Charaktere, der Adel der Gedanken, der Hauch der ernstesten Sittlichkeit, und die scharfe Motivirung jeder Handlung und jeder Rede der Personen, welche das griechische Drama zu einem vollendeten Kunstwerke erheben, hat bei ihm fast überall dem Gegentheil Platz gemacht. Ja, er ist so sehr Franzose geblieben, daß mehrere seiner Personen sich nicht einmal über die Sphäre des leichtfertig französischen Lebens zu erheben vermögen, und daß es beinahe einer Grille ähnlich sieht, wenn er sie mit altgriechischen Namen benennt, und ihnen Griechenland als Schaubühne ihres Wirkens anweist.'6

Rötscher, Rezensent der Berlinischen Nachrichten von Staats- und gelehrten Sachen, schließt sich Fritzes Bewertung beider Dramen an, kann zugleich jedoch nicht verhehlen, dass die euripideische Tragödie im Vergleich zur sophokleischen unleugbare Schwächen im Hinblick auf die Entwicklung der Katastrophe aufweise: Um die That als einen Act der Geisteszerrüttung zu rechtfertigen, wenn anders diese überhaupt je das Motiv einer tragischen Schuld seyn könnte, müßten wir den ganzen Prozeß der Phädra bis zu solcher Geisteszerstörung vor uns sehen: wir müßten diese That als Ausdruck eines blinden Wüthens erkennen, während wir jetzt in ihr nur den Ausdruck tiefster Erbitterung erblicken können, die durch alle die Vermittelungen hindurch, deren der Entschluß bis zur Ausführung selbst bedurfte, nicht geschwächt worden ist. Genug, die Katastrophe ist und bleibt ein unrettbarer Mangel des Euripideischen Hippolytos, der hier das Gebiet der dämonischen Gewalten des Gemüths betreten hatte, ohne doch dieselben in ihrer furchtbaren Gewalt vor uns ausbreiten zu können.97

schwinden und fratzenhaften Erscheinungen Platz machen zu sehen, in denen der überreizte Gaumen nur noch durch Tantalusqualen zum Genüsse gelockt wird, mit deren widerwärtigen Apparaten man seit einiger Zeit unternimmt, das Interesse des Zuschauers zu fesseln zum Verderben der Kunst, der ausübenden, zur Unnatur gewaltsam getriebenen Künstler, ja, zum Sturze der unbemerkt dadurch vergifteten Sittlichkeit.« Fritze: Hippolytos, S. XII. 93 Als Vorlage für Racines Phädra diente im übrigen die gleichnamige Tragödie des Seneca, nicht der Hippolytos des Euripides. 94 Fritze: Hippolytos, S. III. 9 ' Ebd., S. Ilf. 96

Ebd., S. II.

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Berlinische Nachrichten von Staats- und gelehrten Sachen, No. 100 (30. April 1851), erste Beilage.

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Ein gedrucktes Exemplar von Fritzes Hippofytos-Übersetzung, eingerichtet als Regiebuch, befindet sich in der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel.98 Der Druck wurde vermutlich für die Berliner Aufführung angefertigt. Erstens datiert das Vorwort des Übersetzers vom 10. März 1851. Zweitens weist Fritze in seinen Anmerkungen zur Übersetzung als Entschuldigung für philologische Ungenauigkeiten ausdrücklich darauf hin, dass es sich bei seiner Übertragung um eine Bühnenfassung handelt." Drittens verweisen an mehreren Stellen Fußnoten auf Passagen im Text, die bei der Aufführung wegzulassen sind. Einige dieser gedruckten Anmerkungen beziehen sich auf Chorstrophen, die entsprechend in Schulz' Komposition nicht existieren. Ob es sich bei dem Wolfenbütteler Exemplar um das für die Berliner Inszenierung eingerichtete Regiebuch handelt, ist nicht geklärt. Auf den eingeschossenen Seiten wurden Bemerkungen zur Bühneneinrichtung, Beleuchtung und Musik sowie zahlreiche Regieanweisungen notiert. Immerhin stimmen diese handschriftlichen Eintragungen mit den wenigen Informationen, die zur Berliner Bühnenfassung des Hippolytos überliefert sind, überein. Wie beispielsweise Rötscher in seiner Rezension beschreibt, erschienen die beiden Göttinnen Kypris und Artemis »auf der Wolke thronend«.100 Sowohl die gedruckte Regieanweisung (»in einem Wolkenwagen«)101 als auch die handschriftliche Ergänzung bestätigen dies. Doch legt auch gerade die Eintragung für den Auftritt der Kypris die Vermutung nahe, dass das Buch zwar für die Aufführung eingerichtet, dann aber nicht verwendet wurde: Bei dem Takt der Introduktion beginnt der Vorhang zu sinken, wenn er die Erde erreicht hat, senkt sich die Wolkendekoration herab, in welcher Kypris befindlich ist.IOZ

Vor dem Wort »Takt« wurde eine Lücke freigehalten, offensichtlich um hier später die Taktnummer einfügen zu können, die sich erst aus der praktischen Erprobung mit Musik und Originaldekoration ergeben würde. Auch die folgende Anweisung kann als Beleg dafür angesehen werden, dass das Regiebuch lediglich einer ersten Konzeption diente: Dieselbe [i. e. Kypris] sitzt entweder auf einem prachtvollen Sessel, oder auf einem gekrümmten Delphin, in der Hand trägt sie einen goldenen Herrscherstab.103

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Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel (Signatur: Friedrich Eggersche Familienstiftung We 29). 99 »Da ich zugleich für die Bühne arbeitete, so hatte ich die Aufgabe, Ausdrücke, welche bei uns einen, ins Lächerliche streifenden Anstrich haben, sorgfältig zu vermeiden, damit nicht ein starres Festhalten an der äußersten Wörtlichkeit dem Eindrucke des Ganzen störend sei.« Fritze: Hippolytos, S. 71. 100 Berlinische Nachrichten von Staats- und gelehrten Sachen, No. 99 (29. April 1851), erste Beilage. 101 Fritze: Hippolytos, S. 5 und 52. 101 Fritze: Hippolytos, S. 5. Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel (Signatur: Friedrich Eggersche Familienstiftung We 29). '°' Ebd. 282

Eine Entscheidung, ob »Sessel« oder »Delphin«, ist hier noch nicht gefallen. Daraus kann man schließen, dass die Regiekonzeption zu einem sehr frühen Zeitpunkt in das Buch notiert wurde, als Details der Bühneneinrichtung noch nicht geklärt waren. Weiterhin besteht Übereinstimmung zwischen den wenigen Eintragungen zur Musik und der Komposition von Schulz. So lässt beispielsweise der Komponist das Melodram zu Beginn der No. 4 inmitten einer Trimeter-Partie beginnen. Entsprechend ist im Regiebuch vermerkt: »nach Hippolyt. v. 352,. Musik«.104 Die eigens von Schulz komponierte Schauspielmusik, bestehend aus zwölf Nummern, ist nur als Chorpartitur (d. h. als Klaviersatz) erhalten.105 Daher fehlen in dieser Partitur alle Teile, die den Chor nicht betreffen, also die Introduktion sowie größere melodramatische Abschnitte. Eine angemessene Bewertung der Komposition kann aus diesem Grund hier nicht erfolgen. Wie schon im Hinblick auf Tauberts Komposition zur Medea machen Rezensenten auf die Schwierigkeit der Frauenchöre aufmerksam, die zwangsläufig zu einer »nicht geringen Einförmigkeit« der Komposition fuhren müssten.106 Der Auftritt eines Nebenchors, der Jagdgefährten des Hippolytos, stellt eine Besonderheit in dieser euripideischen Tragödie dar. Als Ankündigung von Hippolytos' erstem Auftritt, begleitet vom »Chor der Jäger«, lässt Schulz- entsprechend Fritzes Regieanweisung - Jagdsignale erklingen, wobei dieses Motiv auch das nun folgende Chorlied für vierstimmigen Männerchor durchzieht (No. 2, »Herrliche, Herrliche, Heiligste Du«). Der Hauptchor, bestehend aus den Frauen von Troizen, setzt sich aus zwei Halbchören zu je zehn Stimmen zusammen.107 Schulz hält sich in seinen durchgehend homophon gesetzten Chorliedern weitgehend an die metrischen Vorgaben der Dichtung. Das Prinzip Strophe/Gegenstrophe setzt er in den meisten Fällen musikalisch als Wiederholungen um, wobei die Orchesterbegleitung nur selten rhythmisch variiert. Gelegentlich verweisen kleine, dazugesetzte Noten auf ein vergrößertes Instrumentarium in der Gegenstrophe. Diese Art der Umsetzung birgt jedoch die Gefahr einer gewissen Eintönigkeit — um nicht zu sagen: Langeweile — in sich, zumal, wie Rellstab zu Recht bemerkt, der Komponist sich dem Gesetz des Rhythmus zu ausschließlich unterworfen habe. Besonders der Chor No. 7 (»Könnt' ich in Klüften«), »dessen dichterischer Aufschwung, in der Uebersetzung vollwirkend wiedergegeben«, hätte sich zu freierer musikalischer Gestaltung geeignet.108 Im Melodram, so Rellstab, bringe der Komponist »durch die scharf mit den dichterischen zusammentreffenden musikalischen Momente nicht selten schmerzvoll ergreifende oder tief erschütternde Wirkungen hervor.«109 Diese Aussage gilt es zu überprüfen,

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Ebd., S. 19. Das gleiche gilt für den Beginn der No. na, vgl. ebd., S. 58. Die Chorpartitur befindet sich im Landesarchiv Berlin (Signatur: A Rep. 167 N-io65). Berlinische Nachrichten von Staats- und gelehrten Sachen, No. 100 (30. April 1851). Die Chorpartitur gibt an: In dreistimmigen Sätzen jeweils vier erste, drei zweite und drei dritte Soprane, in zweistimmigen Sätzen je sechs erste und vier zweite Soprane. Königlich Privilegirte Berlinische Zeitung, No. 99 (29. April 1851), erste Beilage, S. 8. Ebd. Auch Rötscher schließt sich dieser Auffassung an: »In dem eigentlich melodramatischen Theile begegnen wir Vielem, das ebenso charakteristisch aufgefaßt, als edel behandelt worden 183

soweit dies anhand der Chorpartitur möglich ist. Schulz hat in seiner Komposition nicht allein lyrische Verse, sondern gelegentlich auch Trimeter melodramatisch umgesetzt. Die in der Chorpartitur erhaltenen Melodramen weisen zumeist die herkömmlichste Form dieser Kornpositionstechnik auf: kurze Akkorde zwischen den gesprochenen Sätzen oder /mwoÄT-Begleitung. Eine Ausnahme bildet der an das erste Stasimon anschließende Dialog zwischen Phädra und dem Chor (No. 5, »O Lieb', o Liebe, die Sehnsuchtsweh«). Die übliche akkordische tremolo-Begleitung wird für wenige Takte unterbrochen, nachdem die Chorftihrerin den Satz »Ach, Vorspiel ist das nur von neuer Qual« gesprochen hat.110 Die folgenden, rhythmisiert notierten Seufzerlaute der Phädra (»O weh mir! Ach, ach, ach!«) sind im Orchester von barocken Seufzermotiven begleitet: Jedes »ach« fällt auf die zweite Note eines Orchesterseufzers (Halbtonschritt nach unten), wobei das dritte »ach« rhythmisch vergrößert ist. Von besonderer Originalität - gerade im Vergleich mit den Mendelssohnschen Melodramen - kann bei den vorliegenden Teilen der Komposition nicht gesprochen werden. Varnhagen von Ense, der noch kurz vor der ersten Aufführung des Hippolytos vermutet hatte, dass es - auch wenn man sich »blutwenig von dem Bemühen« verspräche - an Lobrednern nicht fehlen« werde,"1 berichtet: Die gestrige Aufführung des >Hippolytos< von Euripides, in Gegenwart und auf Kosten des Königs vor eingeladenen Zuschauern, war gänzlich verfehlt; gräuelhaft langweilig, dürftig; die Schauspieler ganz schlecht; der üble Eindruck so entschieden und allgemein, daß die Schmeichler selbst nicht loben können.1"

Die weibliche Hauptrolle war wie bei den vorhergehenden Aufführungen griechischer Tragödien wiederum Auguste Crelinger anvertraut."3 Laut Varnhagen musste sie »als Phädra das schwerste Seidenzeug tragen, in dem sie sich kaum bewegen, geschweige denn schöne Falten zeigen kann.«"4 Rellstab hebt wie gewohnt die Einheit, den Eifer und Fleiß sämtlicher Mitwirkenden hervor, bedauert aber zugleich, dass derartige Aufgaben fast nur noch von Künstlern der älteren Schule angemessen bewerkstelligt werden könnten; den jüngeren fehle Haltung, Aussprache, richtige Deklamation sowie allgemeine Vorbildung."5 Eine seltene Ausnahme stellte wohl Heinrich Jürgan ist. So gleich im Beginn das Erscheinen der Kypris, dann das erste Auftreten des Hippolytos, worin sich der kühne Jäger kräftig ankündigt. Auch sind die Wechselreden der Phädra und des Chors und später des Theseus und des Chors, in der Musik von schöner Wirkung und das versöhnende Erscheinen der Artemis, wie das Hinscheiden des Hippolytos, der Situation höchst angemessen behandelt.« Berlinische Nachrichten von Staats- und gelehrten Sachen, No. loo (30. April 1851). 110 Vers 568, Fritze: Hippolytos, S. 26. Wenn auch in Chorpartitur und Textbuch für die gesprochenen Verse des Chores lediglich »Chor« angegeben ist, muss davon ausgegangen werden, dass diese Sätze von der Chorfuhrerin allein gesprochen wurden. 111 Vanhagen von Ense: Tagebücher (24. April 1851), Band 8, S. 150. ni Ebd. (27. April 1851), S. 153. "3 Vgl. Anhang XI.5114 Vanhagen von Ense: Tagebücher (24. April 1851), Band 8, S. 150. "' Königlich Privilegirte Berlinische Zeitung, No. 99 (29. April 1851), erste Beilage, S. 8. 284

(1829-1887) dar, »welcher, durch Ton und Gestalt vortheilhaft unterstützt, und durch Lehre und Unterricht mannichfach dabei gefördert, in seiner Darstellung des Hippolytos einen wohlthuenden Eindruck hervorbrachte, indem er sich von hohlem Pathos, wie von gespreizter Declamation gleich fern hielt.«"6 Tieck, der zu dieser Zeit »schon krank im Bette lag«,"7 schreibt an den Münchner Intendanten Dingelstedt anlässlich der dortigen Inszenierung der Antigone: Daß dieser [i. e. Hippofytos] nicht gefiel, lag wohl an den Schauspielern; denn es ist sehr schwierig, daß diese Leute, die sich an den modernen Trivialitäten verwöhnt haben, die echte, wahre Declamation für so großartige Producte finden können. Denn auch hier, bei den alterthümlichen Poesien, muß nach meiner Ueberzeugung auch der höhere poetische Conversationston vorherrschen."8

In Tiecks negativem Urteil über die künstlerischen Leistungen der Darsteller spiegelt sich auch das schlechte Verhältnis wider, das zwischen dem Dramaturgen und den Schauspielern bestand."9 Wie aus einem späteren Brief an Dingelstedt hervorgeht, habe sich auch schon in früherer Zeit in Dresden das »Geklatsch der Kommödianten« nachteilig auf seine Stellung ausgewirkt. Besonders verständlich sind daher die Wünsche, mit denen Tieck seinen Brief schließt: Ich wünsche nur von Herzen, daß Ihr Horizont immer so heiter bleiben möge, daß Sie keine bösen Erfahrungen von Neid, Kabalerollen, Verstimmung erleiden mögen; denn alle Klagen, gerechte und ungerechte, Missverstand des Publikums, schlechtes Spiel der Schauspieler, alles wälzt sich voll Schadenfreude auf den Intendanten des Instituts, und in jeder Beleidigung desselben wähnt die Menge für die gute Sache gefochten zu haben. Davor schütze Sie Ihr guter Genius, erhalte Sie bei Gesundheit und frohem Sinn [...].I2°

Auf die erste Vorstellung am 26. April 1851 vor geladenen Gästen im Berliner Schauspielhaus folgten zwei öffentliche Aufführungen am 28. und 30. desselben Monats. Wie Rötscher bemerkt, konnte Hippolytos »in Rücksicht des ergreifenden Eindrucks« nicht mit Antigone wetteifern und sich daher nicht im Repertoire halten.121

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Berlinische Nachrichten von Staats- und gelehrten Sachen, No. 99 (29. April 1851), erste Beilage. Tieck an Dingelstedt (15. Dezember 1851), Goethe- und Schiller-Archiv (Signatur: 157/111). Ebd. In seinem Brief vom 15. Dezember 1851 bezeichnet Tieck in Zusammenhang mit der Aufführung von Macbeth die »Störrigkeit der Schauspieler« als Ursache dafür, dass ihm das Arbeiten fast unmöglich werde. Vgl. ebd. Tieck an Dingelstedt, ([1852]), Bayerische Staatsbibliothek, Handschriftenabteilung (Signatur: Ludwig Tieck autogr.). Berlinische Nachrichten von Staats- und gelehrten Sachen, No. 100 (30. April 1851). 285



Antiken-Inszenierungen in München. Antigone (1851), König Ödipus (1852) und Ödipus in Kolonos (1854)

In München konnte man sich erst gut zehn Jahre nach der Potsdamer Erstaufführung der Antigone für die griechische Tragödie auf der Bühne des Königlichen Hoftheaters begeistern. Unter Dingelstedts Intendanz wurde am 28. November 1851, dem Geburtstag von Maximilian II., zum ersten Mal Antigone mit Mendelssohns Musik aufgeführt. Auch Dingelstedt war es gelungen, die besten Vertreter aus dem Bereich der Wissenschaft und Kunst als Mitarbeiter zu mobilisieren: der Architekt Leo von Klenze (1784-1864) gestaltete die Bühne, der Historienmaler Wilhelm von Kaulbach (1805-1874) wirkte beratend in Kostümfragen. Die Übersetzung von Donner hatte der Münchner Philologe Thiersch überarbeitet und verbessert.IZZ Am Dirigentenpult stand Lachner. Dingelstedt war bekannt für den großen Aufwand, den er mit der Gestaltung des Bühnenbilds in seinen Inszenierungen betrieb.123 Auch bei dieser Aufführung soll die Wirkung, die allein der Bühnenraum auf das Publikum ausübte, nicht unerheblich zum großen Erfolg beigetragen haben. Bezeichnenderweise hebt der Theaterzettel die Ausstattung besonders hervor: Die neuen Decorationen sind vom K. Hoftheatermaler Herrn Simon Quaglio, die scenische Einrichtung vom K. Hoftheatermaschinisten Herrn Schüz, und die neuen Costume nach den Zeichnungen des K. Hoftheatercostümiers Herrn Fries.114 Eine Federzeichnung des Münchner Hoftheatermaler Simon Quaglio (1795-1878) gibt Aufschluss über die Konzeption der Szenerie.115 Eine Rezension im Bairischen Landboten vervollständigt die Beschreibung der Einrichtung: Das tiefe Orchester war durch Ueberbühnung zur alten Orchestra geworden, in gleicher Höhe des Podeums mit der Bühne. In der Mitte befand sich der laubgeschmückte Altar des Bacchos. Das Proscenium erstreckte sich in die Bühne hinein und zwei Thore zur Linken und Rechten thaten sich seitwärts auf. Hinter dem Bacchos stieg die gegiebelte zweiseitige Treppe mit etwa 8 Stufen zum Scenium empor, dieß war durch den Halb-Vorhang von der Orchestra getrennt; oben sah man darüber den tiefblauen, wolkenlosen Himmel Hellas.116

i" Vgl. Allgemeine Zeitung, No. 334 (30. November 1851), S. 5340. Vgl. Kapitel V.3.a. 113 Vgl. Glossy: Aus der Briefmappe eines Burgtheaterdirektors, S. m: »Dingelstedts Szenierungskunst zielte auf Gesamrwirkung, daher der Zweck der äußeren Mittel nur der sein sollte, die Illusion des Publikums zu unterstützen. Ging doch sein Bestreben, das Auditorium zu fesseln, so weit, daß er sich gegen die Herstellung einer Springuhr im Zuschauerraume des Operntheaters wehrte, weil dadurch die Aufmerksamkeit des Publikums vielleicht in den wichtigsten Augenblicken abgelenkt werden könnte. [...] Zielte Dingelstedts Kunst auf das vollendete Bühnenbild, so legte Laube dagegen das Hauptgewicht auf das Wort.« ^ Vgl. Anhang Xl.i.d. 115 Veröffentlicht ist diese Abbildung, die sich im Bestand des Deutschen Theatermuseums München befindet, bei Flashar: Inszenierung der Antike, Abb. 3. 116 Der Bairische Landbote, No. 335 (i. Dezember 1851), S. 1605. Vgl. Kapitel VI.i. 286

Wie aus Quaglios Entwurf zu ersehen ist, war passend zur gesamten Szenerie die »Oeffnung der Bühne [...] im dorischen Style architektonisch verkleidet, vier Marmorpfeiler trugen das Architrav und über diesem lief ein reliefes Fries hin.« lz/ Nach dem Vorbild der früheren Inszenierungen stellte die eigentliche Bühne den Palast von Theben dar, der nach Herablassen des Halb-Vorhangs mit »Maskenschildern im rothen Felde« sichtbar wurde: ein von zwei dorischen Säulen und zwei Eckpfeilern getragener Giebelbau mit drei Türen; durch die weit geöffnete Mitteltüre konnte man einen Hausaltar sehen.128 Die beiden seitlichen Tore konnten dem Rezensenten zufolge nur »rechtwinklig angebracht [werden], weil es unsere schmale Bühne nicht anders zuläßt. Hiedurch kamen die Chöre mehr vor als neben das Scenium zu stehen, was die Erhöhung desselben bedingte und die mittlere Giebeltreppe, während die Stufen der alten Bühne in ganzer Breite von Vorne her anstiegen.«119 Wie in den vorangegangenen Inszenierungen nahmen auch die von außerhalb auftretenden Schauspieler ihren Weg durch die Orchestra.130 Aus der Beschreibung der Bühne - die des Vorhanges eingeschlossen - ist ersichtlich, dass man in München offenbar bestens über die in Potsdam bzw. Berlin getroffene Einrichtung informiert war. Den überwältigenden Eindruck der Bühnenarchitektur verstärkte die auf dem Theaterzettel angekündigte festliche Beleuchtung des Hauses, »zur Feier des Allerhöchsten Geburtsfestes Seiner Majestät des Königs«:131 Die ungewöhnlich festliche Erleuchtung des Hauses ließ den Zuschauerraum, in welchem sich ohnehin wegen der scenischen Anordnung die Bühne weiter hineinzog, mit dieser selbst in näherer Verbindung als sonst erscheinen, was dem antiken Verhältnisse besonders zusagt.'31

Die Orchestra wurde durch vier zusätzlich aufgehängte Lüster von oben sowie eine am Podium befestigte Lampenreihe beleuchtet.'33 Mit seitlichem Lichteinfall versuchte man darüber hinaus den Eindruck von Sonnenlicht zu erwecken, denn das antike Freilichttheater kannte nur Tageslicht.134 Zwei Textbücher zur Münchner Inszenierung sind in der Bibliothek des Bayerischen Staatsschauspiels erhalten.'35 Das eine, ein handschriftliches Exemplar mit eingeschos-

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Ebd. Genellis Abbildungen folgend hatte man in Potsdam und Berlin die Doppeltreppe als authentisch angesehen. Die Regieanweisungen der erhaltenen Textbücher (siehe unten) belegen dies. Vgl. Anhang Xl.i.d. Allgemeine Zeitung, No. 336 (2. Dezember 1851), S. 5363. »Das Theater strahlte noch nie so hell, denn außer dem gewöhnlichen Kronleuchter und dem wegen des königlichen Geburtsfestes beleuchteten Hause schwebten noch besonders vier kleinere Kronleuchter über das um die Orchesterfläche vergrößerten Proszeniums.« Münchener Punsch, No. 50 (30. November 1851), S. 389. »Die Beleuchtung kam von der einen Seite sonnenlichtähnlich und schattete die architektonischen Formen und Profile kräftig an den Wänden ab.« Der Bairische Landbote, No. 335 (i. Dezember 1851), S. 1605. Otto Liebscher, der 1909 eine Dissertation zu Dingelstedt als Theaterleiter in München

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senen Seiten, ist als »Insp. Buch« betitelt.'30 Bei dem anderen handelt es sich um ein gedrucktes, durchschossenes Exemplar der dritten Auflage von Donners SophoklesÜbersetzung.'37 Auch dieses Buch ist als Inspektionsbuch bezeichnet. Aus den Datierungen beider Textbücher geht hervor, dass Antigone im Dezember 1869 von Heinrich Richter (1820-1896) neuinszeniert wurde.'38 Für die erste Inszenierung von 1851 wird Ludwig Hölken (1792-1857) als Regisseur genannt, der zugleich den Boten spielte. Die unterschiedlichen Besetzungen sind dem Personenverzeichnis im handschriftlichen Inspektionsbuch zu entnehmen. Eintragungen wurden von mindestens zwei verschiedenen Schreibern vorgenommen, wobei in beiden Büchern die gleichen Handschriften vorliegen. Durchstreichungen einiger Regieanweisungen sind vermutlich auch auf die wiederholte Verwendung der Textbücher zurückzuführen. Es ist dabei nicht eindeutig festzustellen, welcher von beiden Inszenierungen die jeweiligen Regieanweisungen zuzuordnen sind. In den Textbüchern liegen unterschiedliche Textfassungen vor. Donner hatte bei jeder Neuauflage seiner Sophokles-Tragödien zahlreiche Veränderungen vorgenommen. Daher sind im gedruckten Textbuch (der dritten Auflage) in einigen Chorliedern Korrekturen angebracht, durch die der Text wieder in die Fassung der ersten Auflage zurückkorrigiert wird. Die von Thiersch vorgenommenen Verbesserungen sind dem gedruckten Textbuch nicht zu entnehmen. Das handschriftliche Inspektionsbuch weist hingegen den überarbeiteten Text auf. Die Regieanweisungen stimmen in beiden Textbücher weitgehend überein. Möglicherweise wurde das gedruckte Textbuch zunächst für einen ersten Entwurf des Regiekonzeptes eingerichtet, erwies sich dann aber, als Thierschs umfassende Überarbeitung vorlag, als unbrauchbar, so dass ein handschriftliches Exemplar hergestellt werden musste. Die letzte Szene (Kommos des Kreon) weist im handschriftlichen Inspektionsbuch diverse Korrekturen in Form von Durchstreichungen und Überklebungen auf. Ursprünglich stand hier der Text aus der dritten Donner-Ausgabe; da es sich aber um eine melodramatische Szene handelt, wurde der Text entsprechend Mendelssohns Komposition rückkorrigiert, mit Ausnahme zweier Verse des Dieners, die ein zweites Mal verändert wurden, so dass sie schließlich die Fassung der dritten Ausgabe beibehielten.'39 Eine weitere kleine Korrektur, die für die Interpretation der Figur des Kreon jedoch nicht ganz unbedeutend ist, wurde in der dritten Strophe des Kommos (nach

angefertigt hatte (Franz Dingelstedt. Seine dramaturgische Entwicklung und Tätigkeit bis 1857 und seine Bühnenleitung in München), bedauert im Vorwon, »auf die meisten der unter Dingelstedt benutzten >Einrichtungen< klassischer Werke nicht näher« eingehen zu können, da ihm die Benutzung des Kgl. Hausarchivs, des Kgl. Hoftheaterarchivs und der Hoftheaterbibliothek nicht gestattet worden sei. Heute werden die erhaltenen Textbücher noch (!) in der Bibliothek des Bayerischen Staatsschauspiels aufbewahrt. Dank dem Leiter der Bibliothek, Herrn Rudolf Gretscher, waren sie mir zugänglich. 136 Bibliothek des Bayerischen Staatsschauspiels (Signatur: S 40/4/19). 137 Heidelberg 1850; Bibliothek des Bayerischen Staatsschauspiels (Signatur: S 40/4/15). 138 Für die Neuinszenierung sind im Inspektionsbuch drei weitere Vorstellungsdaten vermerkt: i. Januar 1870, 4. März 1873 und n. März 1873. 139 Vers 1257/1258, Donner: Sophokles (3. Auflage), S. 259. 288

Donners Stropheneinteilung) vorgenommen, wenn Kreon vom Selbstmord Eurydikes erfährt. Bei Mendelssohn (und in Donners Ausgabe) heißt es hier: »Als dieses Mordes Thäter, und des ändern hat diese Todte sterbend noch dich angeklagt.« In München wurde nun »Mord« durch »Unheil« ersetzt, da es offenbar nicht schicklich zu sein schien, eine königliche Figur als Mörder zu bezeichnen.'40 In der ersten Fassung des handschriftlichen Inspektionsbuches war diese Passage sogar vollständig ausgelassen worden. An einer anderen Stelle der Inszenierung zeigt sich ebenfalls die Tendenz, Kreons königliche Würde deutlich hervortreten zu lassen: Bei seinem ersten Auftritt ist für den Chor die Regieanweisung »Verbeugung« vermerkt.14' Die Tragödie wurde für die Münchner Aufführung in zwei Abteilungen gegliedert, wobei am Ende des ersten Aktes der Chor auszog und der Vorhang in die Höhe ging. Der zweite Akt beginnt hier mit dem erneuten Einzug des Chores zum Eroslied. Im Inspektionsbuch ist die Dauer der Vorstellung mit etwa 2L/i Stunden angegeben, auf den Zwischenakt entfallen fünf Minuten. Weiterhin sind hier zwei Leseproben notiert, die erste am 18. Oktober, die zweite am 8. November 1851. Die stummen Rollen (4 Begleiter des Königs, 4 Jungfrauen und, später ergänzt, 4 Diener) sollten wohl ursprünglich Mitglieder des Chores übernehmen. Sie wurden schließlich aber dem Ballett übergeben, wie der Aufstellung der beteiligten Komparserie zu entnehmen ist. Auch der Knabe, der den blinden Seher Teiresias führt, wurde durch ein »Frauenzimmer vom Ballet« dargestellt. Die Vermutung, dass möglicherweise erst bei der Neuinszenierung das Ballett eingesetzt wurde, muss ausgeschlossen werden, da dem Verzeichnis der ausgegebenen Auszüge vom Oktober 1851 zufolge auch dem Ballettmeister ein Exemplar zugeteilt worden war. Verschiedene grobe Skizzen geben Auskunft über die Bewegungen und Gruppierungen des Chores sowie über die Aufstellung der Schauspieler. Die Regieanweisungen für den Chor beschränken sich weitgehend auf Angaben wie »Marsch« oder »Bewegung«. Dem Vorbild der Potsdamer Inszenierung entsprechend sinkt Antigone - dargestellt von Maria Damböck (1827—1892), in der Neuinszenierung von Clara Ziegler (1844—1909) — in ihrer letzten Szene am Altar nieder, um schließlich von einem der Begleiter Kreons weggerissen und abgeführt zu werden.'41 Zum Bacchus-Lied (No. 6)

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Ob hier die Zensur eine Rolle spielte, ist nicht bekannt. Vermutlich galt ähnliches auch für frühere Inszenierungen. Der Leitartikel des satirischen Wochenblatts Münchener Punsch beginnt in der auf die Erstaufführung der Antigone folgende Ausgabe so: »Nur klassisch! Gestern wurde die, wie es scheint klassische Antigone, unter Begleitung unserer notorisch klassischen Hofmusik zum größten Beifall des aus den hohen wie aus den gebildeten Kreisen zahlreich versammelten Publikums mit gewohnter Klassizität ausgeführt. Das selbst klassische Lesekomitee hat dieses Stück begutachtet; Herr Dr. Großmann, wenn auch nicht selbst Klassiker, so doch Professor einer lateinischen Klasse, hat den Leseproben beigewohnt; Frln. Damböck hat ihr geliebte Bouquet dem dürren Klassizismus ihrer Rolle geopfert; selbst die Luft, die man einatmete, war durch die Menge des Publikums klassifizirt.« No. 50 (30. November 1851), S. 385. 289

marschiert der Chor mit Kränzen und Thyrsusstäben zum Altar, um sich anschließend auf den Stufen zu gruppieren. In der letzten Szene wurde die Leiche der Eurydike durch das Öffnen der Mitteltür sichtbar, wobei sich der Skizze zufolge mehrere Jungfrauen anmutig um den Leichnam gruppierten. In München wurde die Aufführung zu einem vollen Erfolg: Das äußerst zahlreich anwesende Publikum folgte aufmerksam und lautlos der Entwickelung dieser großartigen antiken Schöpfung, seinen Beifall wie gewöhnlich zu spenden verbot ihm nämlich der festliche Empfang der Sr. Majestät dem König beim Eintreten in den Saal geworden war.143 Zur ersten Wiederholung am 30. November 1851 »herrschte ein ganz ungewohntes Gedränge.«144 Am 28. November 1852, also genau ein Jahr nach der Erstaufführung der Antigone, wurde die Aufführungsreihe sophokleischer Tragödien mit König Ödipus fortgesetzt.'45 »Die Bühne [ist], wie bei der Darstellung der Tragödie Antigone, der antiken Bühne nachgebildet«.'46 Regie führte wiederum Hölken. Die dazugehörige Schauspielmusik hatte Lachner komponiert. Die Übersetzung von Donner bildete die Textgrundlage,147 wobei einige Streichungen und Veränderungen vorgenommen wurden.'48 Die Textfassung der gesungenen Passagen ist der Partiturabschrift zu entnehmen, die sich in der Bayerischen Staatsbibliothek befindet.'49 Im erhaltenen Inspektionsbuch, der Druckausgabe von Donners Sophokles-Ausgabe (3. Auflage), wurden die von der Partitur abweichenden Textstellen nur vereinzelt korrigiert.

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Allgemeine Zeitung, No. 334 (30. November 1851), S. 5340. Allgemeine Zeitung, No. 336 (2. Dezember 1851), S. 5363. Drei weitere Aufführungen fanden im Dezember 1851 statt. Auch in den folgenden Jahren hielt sich Antigone im Repertoire des Hoftheaters. Im Inspektionsbuch (Bibliothek des Bayerischen Staatsschauspiels, Signatur: S 40/6. Donner: Sophokles, 3. Auflage, Heidelberg 1850) befindet sich ein Eintrag des Inspizienten für den 6. November 1852: »Anfang: 6 M nach ¥27 Uhr/Ende: 7 M nach 9L/4 Uhr«. Bei diesem Termin muss es sich um eine Probe handeln, auch wenn derartige Zeitangaben in der Regel für die Dauer von Aufführungen gemacht werden. Theaterzettel zu König Ödipus (28. November 1852), vgl. Anhang XI.3. Seitenangaben in der Partitur verweisen mehrfach auf die entsprechenden Stellen in der Donner-Ausgabe, die als Inspektionsbuch verwendet wurde. Hierzu wurde die Übersetzung von Minckwitz herangezogen, jedoch nicht in der 1835 publizierten Fassung (Sophokles Werke. Erstes Bändchen. König Oedipus, im Versmaß der Urschrift übersetzt von Dr. Johannes Minckwitz zu Leipzig. Stuttgart 1835). Vielmehr handelt es, so Ulrich Konrad in seinem Vortrag König Oedipus. Franz Lachners Münchner Bühnenmusik zur Tragödie des Sophokles (1852) (gehalten im Rahmen der Münchner Tagung Franz Lachner und seine Brüder, 24.-2Ö. Oktober 2003), um den Text der erst 1853, also ein Jahr nach der Münchner Aufführung gedruckten Ausgabe. Bayerische Staatsbibliothek, Musikabteilung (Signatur: St.th. 718-1). Zu weiteren Quellen vgl. Konrad: König Oedipus. Franz Lachners Münchner Bühnenmusik zur Tragödie des Sophokles (1852) [Druck in Vorbereitung].

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Wiederum wurde die Tragödie in zwei Abteilungen gegliedert. Der Zwischenakt, für den eine Dauer von acht Minuten angegeben ist, wurde zwischen dem zweiten Stasimon und der Szene, in der der Bote aus Korinth auftritt, eingeschoben. Die Aufführungsdauer betrug drei Stunden. Aus dem Inspektionsbuch geht hervor, dass in der Inszenierung insgesamt 38 Komparsen eingesetzt wurden, wobei diese Rollen zum Teil von Tänzern übernommen wurden.IS° Es handelt sich hierbei um Priester, Greise, Jünglinge, Knaben, Dienerinnen, Begleiter des ödipus sowie zwei zehnjährige Mädchen als dessen Töchter. Gut organisierte Massenszenen, wie etwa der Prolog des König Ödipus, waren kennzeichnend für den Inszenierungsstil Dingelstedts. Will man Dingelstedts Verdienste um das Szenenbild in vollem Umfange würdigen, muß auch seine Regiekunst in den Massenszenen, sein Wirken mit der Komparserie hervorgehoben werden [...]. Diesen temperamentlosen Haufen beweglich zu machen, ihn Anteil nehmen zu lassen an der Handlung, jeden einzelnen daraus nach seiner Individualität schauspielerisch zu betätigen, war eine der schwierigsten Aufgaben, die Dingelstedt erfolgreich gelöst hat. Das Volk - bemerkt er - das auf dem Zettel zu unterst steht, müsse mit oberster Sorgfalt bedacht und behandelt werden.15'

Beachtung in der lokalen Presse fand die Inszenierung vor allem wegen der Schauspielmusik Lachners. Hervorgehoben wurde weniger die Genialität des Werkes als vielmehr das Gespür des Komponisten, das ihn nicht in den Fehler hatte verfallen lassen, Mendelssohn übertreffen zu wollen.'52 Ihrem Charakter nach sei die Komposition eher der Kirchenmusik zuzuordnen. Die überwiegend einstimmige Behandlung der Chöre erwecke allerdings neben der Vielstimmigkeit des Orchesters »das Gefühl der Armseligkeit [...]; wollte aber eine möglichst große Verständlichkeit der Worte bezweckt werden, so haben wir uns hinlänglich überzeugt daß man wohl mit dem Textbuch in der Hand jedes Wort hört und versteht, ohne dasselbe aber nur das eine oder andere vom Ohr deutlich aufgefangen wird.«'53 Als unpassend wurde die Ouvertüre (No. i) empfunden, »ein wunderschönes Musikstück, aber als vollständige Ouvertüre zu wenig umfassend, als Einleitung, um für den nächstfolgenden Moment zu stimmen, zu breit und vielsagend.«'54 Höchst originell sei dagegen der erste Marsch, »der allein von Blasinstrumenten ausgeführt wird.«'55 Ähnlich wie in Zusammenhang mit Tauberts

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So sind etwa die vier Begleiter des Ödipus als »Herren vom Ballet« angegeben. Glossy: Aus der Briefmappe eines Burgtheaterdirektors, S. 113. 151 »Die Composition des Hrn. Generalmusikdirektors Lachner steht der Mendelssohn's zur Antigone würdig zur Seite, obschon weniger Wechsel ist und dem Talente des Compositeurs ist es wohl nach Absicht gelungen, den Charakter der Mendelssohn'schen Auffassung zu treffen, was für die Einsicht und Begabung des Nachahmers Zeugniß gibt. Wir nehmen an, daß Hr. Lachner, um die Harmonie der drei Stücke nicht zu stören, von einer originelleren und für den Genius der Antike passenderen Behandlung der Chöre absah und abstand.« Der Bairische Landbote, No. 338 (i. Dezember 1852), S. 1459. 153 Allgemeine Zeitung, No. 336 (i. Dezember 1852), S. 5363. "t Ebd. 151

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Ebd.

291

Medea suchte man auch in München nach Erklärungen, warum Mendelssohn diese Tragödie nicht vertont hatte: Die Chöre des König ödipus seien weniger geeignet für die musikalische Behandlung, »indem sie sich meistens auf der Ebene der Reflexion halten, und brechen ja Gefühle durch, wie sie fast durchgehende die düstere Farbe der Trauer, des Entsetzens und Grauens tragen.«1'6 Lachners Chöre sind weitgehend einstimmig gesetzt, ohne die metrische Struktur der Chorlieder hörbar zu machen. Die Begleitung des Orchesters kann als herkömmlich bezeichnet werden. Der Komponist schöpft die Ausdrucksmöglichkeiten des Orchesters in ihrer verfugbaren Bandbreite nicht aus. Virtuose Spieltechniken oder exponierte Lagen finden beispielsweise keine Anwendung. Dies zeigt sich besonders im Vergleich mit Mendelssohns Kompositionen, in denen ein Kritiker den »jedesmaligen Charakter aufs schärfste musikalisch ausgesprochen« fand und »die Musik, zugleich mit allen Mitteln des Orchesters, den ganzen Reichthum ihrer Idee« entfaltete.157 Das in König ödipus verwendete Instrumentarium erscheint weicher und gedeckter im Klang, da Lachner statt der bei Mendelssohn vorkommenden Klarinetten zwei Bassetthörner einsetzt. Überaus befremdlich erscheint im dramatischen Kontext der Marsch No. 2: Während das von der Pest heimgesuchte Volk mit Ölzweigen in den Händen schutzflehend den Altar umringt und Priester Sühneopfer vorbereiten, erklingt ein an »türkische« Musik erinnernder Marsch in vergnügtem Gestus, der neben Blasinstrumenten (Flöten, Bassetthörner, Trompeten) mit dem für Jahrmarktsorgeln typischen Instrumentarium bestückt ist: Becken, Triangel und kleines Tambourin. Im Anschluss an die Musik158 tritt ödipus aus dem Mitteltor des Palastes und spricht von »Bittgesang' und Klagerufen«,'59 die Theben überall erfüllen - ein Eindruck, den der Marsch, der auch keine weitere Interpretationsebene öffnet, gewiss nicht erwecken konnte. Gestus und Instrumentation dieser Musik lassen vermuten, dass Lachner, der wie alle Zeitgenossen um die große Beliebtheit von Märschen wusste,'60 hier ein gezielt »originelles« Stück komponierte, dafür aber die dramatische Sinnfälligkeit opferte. Ein zweiter lediglich mit vier Flöten besetzter Marsch am Ende der No. 4 kündigt den Auftritt des Sehers Teiresias an. Diese Instrumentation, die an späterer Stelle in der Komposition - wenn Ödipus von seinen beiden Töchtern Abschied nimmt (No. 14) — erneut auftaucht, sollte möglicherweise als Verweis auf die antiken Auloi verstanden werden. Der Klangeffekt eines vierstimmigen Satzes hoher Holzbläser ist in Mendelssohns Antigone bereits vorfertigt, hier allerdings harmonisch komplizierter gesetzt.'61 Lachners Flötenmarsch in Z)-Dur (No. 4) erinnert dagegen eher an braves häusliches Musizieren.'62 "6 Ebd. '57 Ebd. 158

159 160 161

161

Vgl. Inspektionsbuch (Bibliothek des Bayerischen Staatsschauspiels, Signatur: S 40/6), S. 5. Der Partitur zufolge soll ödipus dagegen während der No. 2 (Marsch), mit Beginn des zweiten Teiles, auftreten. Vers 5, Donner: Sophokles (3. Auflage), S. 5. Vgl. Kapitel V.3.e. Antigone, Partitur, S. 44 (No. za: Flöten und Klarinetten, später auch Fagott) und S. 66 (No. 3: Flöten und Klarinetten). »Die Lachnersche Musik [...] verräth im Allgemeinen eine ganz richtige Absicht, dem Charakter

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In der aus 15 Nummern163 bestehenden Komposition hat Lachner nicht nur die lyrischen Passagen der sophokleischen Tragödie vertont. Auch mehrere nicht-lyrische Dialoge sind in Musik gesetzt, wobei die Texte der Schauspieler melodramatisch gestaltet sind, die Verse des Chores aber gesungen werden. Die Sprechrolle des Chorführers wird auf diese Weise stark reduziert. Da ihm insgesamt lediglich 16 Trimeter-Verse zu sprechen blieben, war der Chorführer in Lachners König Ödipus wesentlich leichter zu besetzen als in Mendelssohns Kompositionen. Hier musste der Darsteller gleichermaßen gute schauspielerische wie sängerische Qualitäten aufweisen. Der ganze letzte Teil der Tragödie, in dem sich die Katastrophe vollzieht, ist ab dem vierten Stasimon (No. 9, »Ihr Menschengeschlechter, ach!«) nahezu vollständig in Musik gesetzt. Auf das vierten Stasimon folgt der als Melodram gestaltete Auftritt des Dieners, der lokastes Selbstmord und die Blendung des Ödipus enthüllt. Lachner untermalt den Botenbericht der Gräueltaten mit konventionellen melodramatischen Effekten, wie Streicher- tremoli oder kurzen instrumentalen Einwürfen, die oft mit Motivwiederholungen verbunden sind. Diese von Benda entwickelte Technik ist auch in den Melodramen der Antigone zu finden, hier jedoch variabler und seltener eingesetzt. Rhythmische Bezüge und Verzahnungen zwischen Sprache und Orchestereinwurf, die Mendelssohns Melodramen auszeichnen, fehlen bei Lachner ganz. Wie Taubert in seiner Medea geht auch Lachner wesentlich freier mit den formalen Strukturen der griechischen Tragödie um. Bewusst grenzen sich beide vom Vorbild Mendelssohns ab, gelangen hierbei aber zu sehr verschiedenen Lösungen: Im Unterschied zu Lachners Komposition zu König Ödipus, die auffallend schlicht erscheint, weist Medea dramatischere, ja zum Teil opernhafte Züge auf. Nicht »aus der freien Lust eigenen Schöpferdranges«, sondern »allerhöchstem Auftrag zufolge« entstanden,104 verrät Lachners Musik insgesamt das Fehlen einer erkennbar eigenen kompositorischen Haltung. Dennoch gibt sie ein Beispiel für die hohe Qualität reiner Gebrauchsmusik. Bei der Aufführung wurde Beifall nur laut, wenn der König das Zeichen hierfür gab. Der Eindruck auf das bürgerliche Publikum sei mit folgendem Zitat wiedergegeben: Die Zuhörer folgten mit Andacht, und ein ehrsamer altbayerischer Spießbürger, den ich um den Eindruck befragte welchen ihm die Tragödie mit dieser merkwürdigen Musik gemacht, antwortete mir fast buchstäblich mit den Worten mit welchen sich ein altgriechischer Philosoph über die dunklen Werke eines Meisters der Wissenschaft ausgesprochen hat. Der altbayerische Spießbürger und der altgriechische Philosoph sagten beide: >Weil das wenige welches ich verstanden mir so wohl gefiel, so glaube ich daß auch das übrige welches ich nicht verstanden, vortrefflich sey.König Oedipus«, die Exposition, - das wehklagende Volk vor dem Palast zu Theben - alle Beschäftigten durch die furchtbaren Vergleiche mit der Wirklichkeit zu tieferschütterte.'76 Bei dem Vergleich der Münchner Antiken-Inszenierungen mit den Potsdamer Bühnenfassungen hat Hellmut Flashar auf Analogien und Unterschiede hingewiesen: In beiden Fällen holt das Theater in der Hinwendung zur Antike nach, was in der bildenden Kunst, in der Museumsgestaltung und in anderen Bereichen schon vorher geschehen ist, in München mit dem besonderen Akzent der spezifischen bayrisch-griechischen Bindungen. [...] Was in der Antigone für Preußen der politische Bezug auf sich selbst war, ist in München eine (im wesentlichen) nachträgliche Besiegelung des schon vorher in die Tat umgesetzten Philhellenismus mit dem anschließenden Primat Bayern in der Regentschaft Griechenlands.'77

6. Antigone-lnszemerungen in Wien (1875 und 1881) Antigone blieb dem Wiener Publikum in szenischer Präsentation lange Zeit vorenthalten. 1846 wurde Mendelssohns Musik lediglich in konzertanter Form vom Wiener Männergesangsverein aufgeführt.178 Die Leipziger Allgemeine Musikalische Zeitung berichtet von einer weiteren Konzertauffuhrung vom 3. November 1872, die wiederum der Wiener Männergesangsverein veranstaltet hatte. Von vorn herein steht der Rezensent einer szenischen Darstellung skeptisch gegenüber:

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Döll an Dingelstedt (13. Oktober 1866), Thüringisches Hauptstaatsarchiv Weimar (Signatur: GI , fol. 36V). Dingelstedts Weimarer Intendanz endete am i. Oktober 1867. Griechische Tragödie blieb auf der Weimarer Bühne im 19. Jahrhundert die Ausnahme. Eine Inszenierung des König Ödipus - Übersetzung von Gustav Wendt, Musik von Eduard Lassen (1830-1904) - vom 7. Februar 1874 erlebte bis 1885 nur vier Wiederholungen. Vgl. Bartels: Chronik des Weimarischen Hoftheaters 1817-1907, S. 179. Dingelstedt: Münchener Bilderbogen, S. 107. Flashar: Inszenierung der Antike, S. 94. Vgl. Flashar: Felix Mendelssohn Bartholdy und die griechische Tragödie — Bühnenmusik im Kontext von Politik, Kultur und Bildung, S. 39. 295

Dass die Gesamtwirkung dieses Werkes keine künstlerisch vollbefriedigende im Concertsaale (und wie ich bestimmt glaube: auch bei theatralischer Aufrührung) sein kann, scheint mir ausgemacht, so sehr ich die Größe der Dichtung, die Vorzüglichkeit vieler musikalischer Momente auch anzuerkennen geneigt bin.'79

Trotz allem kam es knapp drei Jahre später doch noch zu einer Inszenierung der Tragödie, und zwar ausgerechnet am Stadttheater unter der Leitung von Laube, der selbst noch in den Vierziger Jahren die Aufführung der Antigone mit Mendelssohns Musik scharf verurteilt hatte.'80 Und wider Erwarten gelang Laube ausgerechnet mit dieser Inszenierung ein ungeheurer Erfolg. Mit >Antigone< errang Laube am i. September 1875, dem Beginn seiner zweiten Direktionsperiode, einen vollen Sieg und einige zwanzigmale füllte das griechische Trauerspiel, in welchem der akademische Gesangsverein und Hofopernsänger Dr. Kraus als Chor und Chorführer mitwirkten, die Räume des Stadttheaters. Laube als >Kreon< und die neue Heroine Fräulein Wewerka in der Titelrolle ernteten verdienten Beifall.'8'

Die Donnersche Übersetzung, die Laube gut dreißig Jahre früher als »klötzern« bezeichnet hatte, wurde zum Teil durch die von Adolf Wilbrandt (1837-1911) ersetzt.182 Der Sänger der Wiener Hofoper, Emil Kraus (1840-1889), übernahm nur die gesungenen Partien des Chorführers, die gesprochenen Partien wurden von dem Schauspieler Leopold Greve (1837-1890) vorgetragen. Diese vorgenommene Teilung der Rolle entspricht nicht Mendelssohns Konzeption. Bei den Vorbereitungen zur Leipziger Aufführung hatte er ausdrücklich verlangt, der Darsteller des Chorführers müsse so begabt sein, dass er sowohl singen als auch sprechen könne.18' Auch bestand der Chor aus weit mehr als 16 Sängern. Von über dreißig Mitgliedern, »in liebenswürdigster Weise als >älterer und jüngerer Chor< mitwirkend«, berichtet der Schauspieler Rudolf Tyrolt (1848-1929), der den Wächter darstellte.184 Ein zweites Mal wurde Antigone knapp sechs Jahre später, am 17. Juni 1881, auf der Bühne der Hofoper in Szene gesetzt. Weil zu dieser Zeit das Burgtheater wegen Renovierungsarbeiten für den Spielbetrieb geschlossen war, konnten beide für die Aufführung benötigten Sparten - Schauspiel und Oper - ohne größere Komplikationen zusammengeführt werden. Die von der Hofoper zur Burg geschlagene Brücke sollte einen Triumphbogen der dramatischen Kunst bedeuten, [...] und wir sollten an die Versöhnung von Musik und Poesie glauben lernen.'85

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Leipziger Allgemeine Musikalische Zeitung 7, No. 47 (20. November 1872), Sp. 757. Vgl. Kapitel III.2. und VIII.2. 181 Tyrolt: Aus dem Tagebuch eines Wiener Schauspielers 1848-1902, S. no. 181 Vgl. Lorenz: Die antike Tragödie im Spielplan des Burgtheaters, S. nf. '"3 Vgl. Kapitel VIII.2. 184 Tyrolt: Chronik des Wiener Stadttheaters 1872-1884, S. 83. 185 Kalbeck: Antigone in der Hofoper. In: Wiener Allgemeine Zeitung (19. Juni 1881), zitiert nach Lorenz: Die antike Tragödie im Spielplan des Burgtheaters, S. 36. 180

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Da Dingelstedt, der das Projekt initiiert hatte, noch vor Probenbeginn starb, wurde die Regie von Ludwig Gabillon (1828—1896) übernommen. Es dirigierte Wilhelm Gericke (1845-1925). Nach dem Münchner Vorbild wurde die Tragödie in zwei Abteilungen gegliedert.186 Hinsichtlich der Bühnenraumgestaltung ist die Inszenierung des Wiener Burgtheaters insofern bemerkenswert, weil hier zum ersten Mal von dem antikisierenden Vorbild, das die Potsdamer Einrichtung gegeben hatte, abgewichen wurde.187 Erstens verzichtete man auf eine von der Bühne getrennte Orchestra, so dass nun Schauspieler und Chor auf einer Ebene agierten. Nicht auszudenken, welchen Aufschrei dies bei der philologischen Kritik 1841 hervorgebracht hätte! Zweitens stellte nicht mehr der obligatorische, monumentale Königspalast mit Säulen und Toren die Hintergrundkulisse dar, sondern die Szene zeigte eine waldige Landschaft, zu der von weitem Hintergrunde her, in solcher Ferne fast verschwimmend, eine Stadt herübergrüßt. Tief in's Laubwerk gedrückt und dadurch dem Auge des Zuschauers fast entrückt, wölbt sich zur Rechten der Eingang zum Palaste Kreon's mit einer kurzen, gleichfalls halbverdeckten Freitreppe. Laubumkleidete Bogenumwölbungen zur Linken scheinen sich auch mehr hinter den Bäumen zu verstecken, als aus denselben hervorbrechen zu wollen. Nicht den Palast, nicht einmal eine Sommerresidenz, sondern eine gemüthliche Villa Kreon's glaubt man vor sich zu haben, wozu auch das gastliche Tischchen, welches am Eingang steht, heiter stimmungsvoll paßt. Etwas von einer Landschaft aus den Zeiten der Troubadours und Minnesänger muthet aus dem Bilde an und läßt den in der Mitte aufgerichteten Altar rätselhaft erscheinen.'88

Bereichert wurde der optische Eindruck durch den Einsatz sämtlicher beleuchtungstechnischer Mittel, »es wetterte und wetterleuchtete zu viel, und grellste Finsternis und grellste Blitzeshelle trieben zu oft ihr zuckendes Wechselspiel.«'89 Diese wenig klassischfeierlich anmutende Art der Inszenierung stieß beim Publikum gewiss auf Zustimmung, war doch auf diese Weise wenigstens ein unterhaltsames Spektakel geboten. Wie öde und langweilig wäre die permanente Aussicht auf die dorische Säulenwand mit den drei Thüren gewesen, [...] nicht das kleinste Gewitter, nicht der geringste Sonnenaufgang hätte sich dabei anbringen lassen [...]!'9°

Von einigen Zeitgenossen wurde es als unverzeihlich angesehen, dass sich Gabillon nicht auch in musikalischer Hinsicht von dem Berliner Vorbild, also der Schauspielmusik

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Die in der österreichischen Nationalbibliothek befindliche Partiturabschrift der Antigone (Signatur: Mus. Hs. 25558) sowie ein gedrucktes Textbuch der Chöre (Signatur: 987682^) belegen das. 187 Vgl. Lorenz: Die antike Tragödie im Spielplan des Burgtheaters, S. 15. 188 Schlesinger: Der Vorhang des Sophokles. In: Neues Wiener Tagblatt (21. Juni 1881), zitiert nach Lorenz: Die antike Tragödie im Spielplan des Burgtheaters, S. 33f.

'8? Ebd., S. 33.

'9° Kalbeck: Antigone in der Hofoper. In: Wiener Allgemeine Zeitung (19. Juni 1881), zitiert nach Lorenz: Die antike Tragödie im Spielplan des Burgtheaters, S. 38. 297

Mendelssohns, befreit habe. Herbe Kritik äußert Sigmund Schlesinger (1832-1918) an der Komposition: Würde Sophokles [...] die Mendelssohn'sche >Vertonung< seiner Tragödie akzeptiren und sich mit derselben einverstanden erklären? Und darauf kann [...] die Behauptung gewagt sein, daß der alte griechische Meister sich die ihm aufoktroyirte musikalische Kompagnieschaft entschieden verbieten oder dieselbe nicht anders als mit wesentlichen Einschränkungen und Modifizirungen gefallen lassen würde. [...] die dramatische Kritik aber darf und muß es ungescheut sagen, daß, was hier gehört wird und sich an die gesprochene Dichtung heran und sich in dieselbe hinein drängt, keine Begleitung und Ausschmückung, sondern eine Unterbrechung und Desorganisirung des Dramas ist.'9'

Die Inszenierung Gabillons orientierte sich mit ihrer aufwendig theatralischen Art im Ganzen wohl eher am Zeitgeschmack der Oper. Auch die Übersetzung Donners hatte sich »allerlei neumodische Zuthat und Versänftigung gefallen lassen müssen.«192 Dem Chor, »der sich aus Solisten und Choristen der Hofoper, Mitgliedern des akademischen Gesangvereines sowie Statisten zusammensetzte«193 - offensichtlich befanden sich auch hier weit mehr als 16 Personen auf der Bühne —, stand aufgrund der nicht-antiken Bühneneinrichtung sein angestammter Platz in der Orchestra nicht zur Verfügung. Auf der beengten Bühne wusste er offenbar nichts mit sich anzufangen. Beim Bacchus-Chor scheint es zu größeren Unruhen gekommen zu sein, da hier die Regie von den Sängern »äußerste Beweglichkeit und Lebendigkeit verlangt hatte«.194 Zugleich traten auch noch »niedlich mit Pantherfellchen und Thyrsusstäben herausgeputzte Ballettmädchen« in Erscheinung, »die dem Gotte Dionysos im Sinne der Regie gewiß am besten vermittelst eines Strauß'schen Walzers ihre Huldigung dargebracht haben würden!«'95 Aus diesen Berichten geht hervor, dass Gabillon mit der Inszenierung opernhafter Massenszenen wohl hoffnungslos überfordert war. Hier fehlte letztlich der Regisseur Dingelstedt. Trotz aller zeitgenössischen Kritik werden die Leistungen der Schauspieler als bemerkenswert hervorgehoben, allen voran Charlotte Woher (1834—1897) in der Rolle der Antigone.196 »Im Munde der Künstlerin verlor der jambische Trimeter, der, wenn er nicht meisterhaft gesprochen wird, zu klappern anfängt, seine Eintönigkeit ganz und gar und klang wie Musik«.'97

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Schlesinger: Der Vorhang des Sophokles. In: Neues Wiener Tagblatt (21. Juni 1881), zitiert nach Lorenz: Die antike Tragödie im Spielplan des Burgtheaters, S. 3of. 192 Kalbeck: Antigone in der Hofoper. In: Wiener Allgemeine Zeitung (19. Juni 1881), zitiert nach Lorenz: Die antike Tragödie im Spielplan des Burgtheaters, S. 41. '9' Lorenz: Die antike Tragödie im Spielplan des Burgtheaters, S. 17. '9* Ebd. '95 Kalbeck: Antigone in der Hofoper. In: Wiener Allgemeine Zeitung (19. Juni 1881), zitiert nach Lorenz: Die antike Tragödie im Spielplan des Burgtheaters, S. 39. 196 Ausführlich hat Lorenz die »Darstellung der Hauptrollen« in seiner Dissertation behandelt. Vgl. Die antike Tragödie im Spielplan des Burgtheaters, S. 18-14. 197 Kalbeck: Antigone in der Hofoper. In: Wiener Allgemeine Zeitung (19. Juni 1881), zitiert nach Lorenz: Die antike Tragödie im Spielplan des Burgtheaters, S. 43. 298

Obwohl die Generalintendanz der k. k. Hoftheater größte Zufriedenheit mit der Inszenierung Gabillons äußerte, stellte sich der erwartete Erfolg beim Publikum nicht ein. Auf die Premiere folgten insgesamt noch vier weitere Vorstellungen, wobei im Juni nur zwei von ursprünglich vier geplanten Wiederholungen stattfanden.198

7. Konzertante Aufführungen Antigone-Auffüiimngen mit Mendelssohns Musik sind bis in die Siebziger und Achziger Jahre des 19. Jahrhunderts im Repertoire deutschsprachigen Theater vertreten.1" Gleichzeitig eroberte sich die Musik zunehmend einen festen Platz im Konzertsaal. Die dem Zeitgeschmack allmählich nicht mehr entsprechende Verbindung von Schauspiel und zeitgenössischer, häufig als »opernhaft« bezeichneter Musik, erschien im späten 19. Jahrhundert im Rahmen eines Konzertprogramms weniger problematisch und anstößig. So fügt beispielsweise Schlesinger seiner vehementen Ablehnung von Mendelssohns Musik als Bestandteil einer Theateraufführung folgende Bemerkung hinzu: »[...] ein Konzertpublikum mag sich immerhin die Unterbrechungen einer Musikaufführung durch das gesprochene, erklärende Wort gefallen lassen.«200 Anders beurteilt dagegen der Rezensent eine konzertante Aufführung von Tauberts Medea 1888: Nach der Art der Aufgaben, welche die Musik von diesem Drama empfing, konnten ihre einzelnen Partien nur in engerem Rahmen sich halten, wie sie zugleich auf die Hinzuziehung männlicher Stimmen verzichten mußte. Hierin liegt ein Hinderniß für ihre eindringlichere Wirkung im Konzert; durch das Uebergewicht der Rezitation wird sie bei Seite gedrängt, und an Farbe fehlt es ihr in Folge der ausschließlichen Verwendung der Frauenstimmen.101

Für Aufführungen im Rahmen eines Konzertprogramms war es notwendig, verbindende Zwischentexte zwischen die musikalischen Nummern einzufügen als Ersatz für die fehlende szenische Darstellung des Geschehens.102 Rietz, dem der Komponist eigenhändig eine Partiturabschrift seiner Antigone gewidmet hatte,203 benutzte seine Partitur - wie aus seinen Bleistifteintragungen abzulesen ist - für Konzertaufführungen.

198 Vgl. Lorenz: Die antike Tragödie im Spielplan des Burgtheaters, S. 28f. 199 Vgl. Flashar: Inszenierung der Antike, S. 401 zoo lsjeues Wiener Tagblatt (21. Juni 1881), zitiert nach Lorenz: Die antike Tragödie im Spielplan des Burgtheaters, S. 31. 201 Vossische Zeitung, No. 202 (28. April 1888). 101 So geht beispielsweise aus einer Rezension einer konzertanten Aufführung des Wiener Männergesangsvereins vom 3. November 1872 hervor, dass zusätzlich zum »verbindenden Gedichte von Christian Kuffner« die »entscheidenden Szenen zwischen Kreon [Herr Lewinski], Antigone [Frau Gabillon] und Ismene [Frl. Precheisen] nach der berühmten Donner'schen Uebersetzung« vorgetragen wurden. Bei den »entscheidenden Szenen« wird es sich wohl in erster Linie um die melodramatischen Teile der Komposition gehandelt haben. Leipziger allgemeine Musikalische Zeitung 7, Nr. 47 (20. November 1872), Sp. 757. Bis heute stellt die Einfügung von Zwischentexten eine praktikable Variante für die konzertante Aufführung von Schauspielmusik dar. 10 ' Vgl. Kapitel V.3.a 299

An verschiedenen Stellen sind hier erklärende Texte eingefügt mit dem Hinweis »Für die Concertauffuhrung«.204 Ebenso finden sich in der Partiturabschrift von Tauberts Medea entsprechende Hinweise.105 Was jedoch im ausgehenden 19. Jahrhundert zur Selbstverständlichkeit wurde, hatte Mendelssohn selbst 1843 noch scharf verurteilt, als er dem Dresdner Schauspielhaus eine konzertante Aufführung der Antigone untersagt hatte, weil sich die Musik seiner Meinung nach nicht dazu eigne.206 Dennoch war Antigone auch zu Mendelssohns Lebzeiten mehrfach konzertant gegeben worden: Als erste Konzertaufführung, wenn auch ohne Orchester, ist die Leipziger Privataufführung zu nennen, die Mendelssohn selbst am Klavier begleitet hatte.207 Eine weitere Aufführung in konzertanter Form (mit der Übersetzung von August Böckh) fand 1843 in Kassel statt unter der Leitung von Louis Spohr (1784-1859), den Mendelssohn sehr verehrte,208 anlässlich der »Versammlung der Philologen und Schulmänner«. Hier hatte man ursprünglich eine szenische Darstellung geplant, die jedoch vom Kurfürsten von Hessen-Nassau untersagt wurde.209 Der Stoff der Antigone schien ihm politisch wohl doch zu brisant zu sein. Auch in Kiel, wie Droysen berichtet, wünsche man »die Antigone nicht aufzuführen, aber doch Deine Musik zu exekutieren und dazu das Weitere lesen zu lassen.«210 Da die Partitur, um die Droysen Mendelssohn gebeten hatte, nicht rechtzeitig eingetroffen war, wurde die Musik zunächst im März 1844 mit Klavierbegleitung gespielt. Ob eine weitere, für den Herbst geplante Aufführung mit Orchester tatsächlich stattgefunden hat, geht aus dem Briefwechsel zwischen Droysen und Mendelssohn nicht hervor.2" Eine andere Einstellung als Mendelssohn scheint Taubert hinsichtlich konzertanter Aufführungen von Schauspielmusik vertreten zu haben. Nachdem Medea im Vergleich zu Antigone auf der Bühne nur einen sehr mäßigen Erfolg verbuchen konnte - von szenischen Aufführungen außerhalb Berlins ist bisher nichts bekannt —, bot sich für Taubert durch die Aufführung im Konzertsaal immerhin die Möglichkeit, seine Musik einer breiteren Öffentlichkeit zu präsentieren. Die Tatsache, dass auf der Titelseite des Partiturautographen eine Reihe konzertanter Aufführungstermine vermerkt sind, erlaubt zumindest, Tauberts Einverständnis mit diesen Konzerten vorauszusetzen.212

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Beispielsweise auf S. 173: »Und aus dem Hause tritt ein bleicher Diener und meldet, daß die Königin sich entleibt.« oder S. 178: »Und hören muß er, wie im Tod die Gattin wünscht Verderben aufsein Haupt, und jammernd bricht er aus in Klage:« Sächsische Landes- und Universitätsbibliothek (Signatur: Mus. 5543^-507). 2 °' Vgl. Kapitel V.4.a. 206 Vgl. Kapitel VHI.3. 2 °7 Vgl. Kapitel VIII.i. 208 Vgl. Elvers: Die Goethes und die Mendelssohns, S. 114 z°9 Vgl. Flashar: Inszenierung der Antike, S. 75. 210 Droysen an Mendelssohn (8. Januar 1844), zitiert nach Wehmer: Ein tief gegründet Herz, 8.83. 211 Vgl. Droysen an Mendelssohn (19. März 1844), ebd., S. 91. 212 Vgl. Kapitel V.4.a. 300

Einem 1868 in der Allgemeinen Musikalischen Zeitung erschienen Artikel, der den Titel »Über Aufführungen antiker griechischer Tragödien mit moderner Musik« trägt, ist zu entnehmen, dass Tauberts Musik vor allem bei Frauen-Gesangsvereinen viel Anklang gefunden hat. Nach Auffassung des Rezensenten erfülle sie aber nimmermehr ihren Zweck als Musik einer antiken Tragödie.11' Die erste Konzertaufruhrung der Medea fand am 29. April 1849 im Saal des Opernhaus durch den Stern'schen Verein »unter des Componisten eigener Leitung statt. Natürlich jedoch nur in der Weise, daß das Drama nur nach den verschiedenen Rollen gelesen wurde.«2'4 Die Crelinger übernahm erneut die Rolle der Titelfigur, die übrigen Partien waren jüngeren Schauspielern anvertraut. Rellstab berichtet, dass Chor und Orchester für die Größe des Saales im Opernhaus zu schwach erschienen. Darüber hinaus bemerkt der Rezensent der Spenerschen Zeitung, dass die Deklamation überhaupt nur in den ersten Reihen des Zuschauerraumes zu hören gewesen sei.2'5 Knapp zehn Jahre später wurde die euripideische Tragödie in der Sing-Akademie im Rahmen eines Abonnementkonzertes wiederum unter der Leitung Tauberts aufgeführt. Wenn Rellstab 1849 noch der Auffassung war, dass die Aufführung im Konzert sowohl Vor- als auch Nachteile mit sich bringe, so glaubt er jetzt, dass die szenische Auffuhrung leicht zu entbehren sei, »denn wenn dieselbe geschieht, müssen wir doch eine solche Menge des Fremdartigen in uns aufnehmen, dass die Wirkung, die wir im Schauspielhause erzeugen, nicht eintritt.«216 Aus seiner Begeisterung für die Komposition der Medea spricht jedoch ein äußerst konservativer Musikgeschmack: Wir schließen mit erneutem Ausdruck unsrer Freude, daß eine solche Arbeit jetzt, nachdem die Kunst, irr und verkehrt, viel auf ganz unverständigen Gebieten getaumelt hat, zu ihrer richtigen Anerkennung gelangt.2'7

Am 27. April 1888 fand die letzte konzertante Aufführung zu Tauberts Lebzeiten durch den Stern'schen Gesangsverein unter der Direktion von Ernst Friedrich Karl Rudorff (1840-1946) im Saal der Philharmonie statt; es begleitete die Philharmonische Kapelle. Der Konzertzettel führt neben zwei Gesangssolistinnen für die Rezitation des Dramentextes zwei Schauspielerinnen und einen Schauspieler des Königlichen Hofschauspiels auf. Zudem war zu dieser Veranstaltung offensichtlich ein separates Textbuch erschienen.2'8 Von konzertanten Aufführungen des Ödipus in Kolonos berichtet Lampadius.21^ In Leipzig sei die Musik zum ersten Mal nach dem Tod des Komponisten erklungen, und

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Allgemeine Musikalische Zeitung 3, Nr. 46 (u. November 1868), S. 362. Königlich Privilegirte Berlinische Zeitung, No. (i. Mai 1849). Berlinische Nachrichten von Staats- und gelehrten Sachen, No. 102 (2. Mai 1849). Königlich Privilegirte Berlinische Zeitung, No. 63, erste Beilage (16. März 1859), S. 4. Ebd.

Der Konzertzettel ist in eine der Instrumentalstimmen eingelegt, die sich im Landesarchiv Berlin befinden (Signatur: A Rep. 167 N-IO93). Lampadius: Felix Mendelssohn Bartholdy, S. 320. 301

zwar am 25. Februar 1850 im Gewandhaus unter der Leitung von Rietz. Wiederholungen fanden am 30. Januar 1855 und am 4. Februar 1873 statt. Zudem wurden die Chöre No. 3 und No. 5 in einem Abonnementkonzert am 10. Januar 1856 gesungen. In London wurde ödipus in Kolonos vermutlich ebenfalls in konzertanter Form gegeben. Die Partiturabschrift, die der Komponist dem britischen Prinzen Albert geschenkt hatte, enthält auf nachträglich eingelegten Seiten verbindende Zwischentexte des Übersetzers Bartholomew. Zahlreiche Eintragungen in der Partitur legen nahe, dass sie tatsächlich für Aufführungen Verwendung fand. In Berlin wurde Ödipus in Kolonos, dem Verfasser des oben erwähnten Aufsatzes in der Allgemeine Musikalische Zeitung zufolge, seit der Vorstellung im Schauspielhaus vom 10. November 1845 nicht wieder aufgeführt."0

120

Allgemeine Musikalische Zeitung 3, Nr. 46 (n. November 1868), S. 362.

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IX. Ausblick

Wenn die »fruchtbringende Wirkung« auf die moderne Dramatik und Schauspielkunst vielleicht nicht in dem Maße in Erscheinung trat, wie Devrient es in seiner Geschichte der deutschen Schauspielkunst beschreibt,1 so prägte die Potsdamer Bühnenfassung der Antigone mit Mendelssohns Musik nachfolgende Inszenierungen griechischer Tragödien in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entscheidend. Der immense Erfolg der Aufführung und die Aufmerksamkeit, die dieses außergewöhnliche Ereignis weit über den deutschsprachigen Raum hinaus auf sich zog, sind als Ursachen dafür zu betrachten, dass die antike Tragödie zum festen Bestandteil des Theaterrepertoires bis heute werden konnte. Wie die Reaktionen auf die Wiener Aufführung der Antigone von 1881 zeigen, schienen Bühnenfassungen griechischer Tragödien, die sich in Fragen der Bühneneinrichtung sowie in der Verwendung von Mendelssohns Musik am Potsdamer Modell orientierten, vierzig Jahre später nicht mehr den Bedürfnissen des zeitgenössischen Schauspieltheaters zu entsprechen. So fordert Schlesinger: Ein Theaterdirektor, ein Regisseur, welcher den Muth hätte, sich von dem Berliner Geschmackszwange zu emanzipiren, für die Chöre eine knappere rhythmische Behandlung zu gewinnen und den unverkürzten Sophokles ohne den unverkürzten Mendelssohn zu geben [...]. Dann erst würde der, jedenfalls kühne und originelle Gedanke, die >Antigone< nach heutiger Bühnenweise, auf heutiger Szene, mit dem natürlichen, freigegebenen Spielraum für die Personen des Stückes, mit der bewegt eingreifenden Volksmenge als Chor, mit Akteinschnitt und Vorhang zu spielen, den wahren Grad seiner Berechtigung erweisen.1

Auch eine Kritik der ^wßgüWf-Aufführung, die 1870 anlässlich eines Gastspiels der Münchner Schauspielerin Clara Ziegler in Hamburg stattgefunden hatte, bestätigt, dass nicht nur historisierende Aufführungen griechischer Tragödien an sich, sondern auch die Verbindung mit »jetziger« Musik den Erwartungen eines zeitgenössischen Publikums nicht mehr genügen konnte: Unsere Stadt gehört wohl zu denjenigen Orten, welche am wenigsten vorbereitet sind, einer solchen Restauration des Antiken Geschmack abzugewinnen; es gehört dazu mehr >Bildung< ( als hierorts vorhanden sein dürfte, [...] und das hiesige Theater ist zur Zeit gänzlich ungeeignet, derartige Werke genügend aufzuführen. [...] Man mag die Unempfänglichkeit des Publikums bedauern, muss aber doch auch zugeben, dass diesem ablehnenden Verhalten ein richtiges Gefühl zu Grunde liegt, denn die rechte Mitte in der Verwendung musikalischer Mittel, um uns dadurch dem griechischen Schauspiel neu zu beleben, ist von Mendelssohn

Vgl. Devrient: Geschichte der deutschen Schauspielkunst, S. 425^ Schlesinger: Der Vorhang des Sophokles. In: Neues Wiener Tagblatt (21. Juni 1881), zitiert nach Lorenz: Die antike Tragödie im Spielplan des Burgtheaters, S. 32. 303

nicht eingehalten. Da das blosse Lesen des Originals oder selbst einer guten Uebersetzung dem Gebildeten einen weit tieferen und reineren Genuss von diesem Werke verschafft, so halten wir die Aufführung derselben in unsern jetzigen Theatern mit unserer jetzigen Musik für überflüssig.3

Die in der Hamburger Rezension beschriebene Wandel des »Geschmacks« scheint in enger Verbindung mit grundlegenden Veränderungen und Erneuerungstendenzen der zeitgenössischen Dramatik und Theaterpraxis zu stehen: In diesem Kontext ist der einsetzende Rückgang von Ouvertüre und Zwischenaktmusik in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu nennen, durch die der Einsatz großer Orchester im Sprechtheater weitgehend entbehrlich gemacht werden konnte.4 Genie beschreibt diesen Verlust am Beispiel der Königlichen Schauspiele in Berlin unter von Hülsens Intendanz: [...] zwei gleichfalls unter Hülsen's Regiment getroffene neue Einrichtungen [sind] zu erwähnen, welche leider von viel größerem und nachtheiligerem Einfluß auf die künstlerischen Wirkungen sind, als man im allgemeinen annimmt. Es sind dies: die Abschaffung der Musik im Schauspiel, sowohl vor Beginn der Vorstellung wie in den Zwischenpausen, und zweitens: die Einfuhrung des die einzelnen Scenen eines Aktes trennenden Zwischenvorhangs. [...] Seit dem Bestehen des Berliner Theaters sind die engagirten Kapellmeister — von Joh. Fr. Reichardt an, - wie auch andere Komponisten stets thätig gewesen, die Eindrücke des Dramas durch speziell dafür komponirte Musik zu unterstützen, und wie sehr die Musik dies vermag, das ließe sich durch Aufführung einiger klassischer Beispiele leicht nachweisen. [...] Ist denn die dramatische Kunst der Neuzeit so hoch gestiegen, daß sie deshalb jene Unterstützung durch die Musik entbehren kann? Schwerlich! Man behängt jetzt die dramatische Poesie mit Zierrath, und gerade die Musik, die liebevollste Schwester der Poesie, ist aus dem Schauspielhause verbannt. Wenn jetzt das Publikum — da es sich daran gewöhnt hat — den Mangel nicht mehr empfindet, so bleibt darum doch der nachtheilige Einfluß bei den Vorstellungen fortbestehen.'

Schauspiele, »zu denen eine dramenbezogene oder inszenatorisch bezogene Komposition vorliegt«, sind jedoch von dem Verzicht ausgenommen.6 Als beispielhaft für den einsetzenden Rückgang schauspielmusikalischer Inszenierungskonzepte können die Textfassungen sophokleischer Tragödien von Wilbrandt genannt werden. In Meiningen Ende der i86oer Jahre zum ersten Mal gespielt, gelangten seine Bearbeitungen erst nach erfolgreichen Aufführungen am Wiener Burgtheater in den i88oer Jahren auf mehrere deutschsprachige Bühnen.7 Wilbrandt verteilte die Texte des Chores auf verschiedene Einzelpersonen; wie bei den Weimarer Versuchen unter Goethes Theaterleitung zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurde auf eine musikalische Gestaltung der Lieder verzichtet. Auch in der Ausstattung ging Wilbrandt neue Wege:

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Leipziger Allgemeine Musikalische Zeitung 5, Nr. 18 (4. Mai 1870), S. 143. Zur »Abschaffung der obligaten Zwischenaktmusik« vgl. Meier: Die Schaubühne als musikalische Anstalt, S. 89ff. Genie: Hundert Jahre des Königlichen Schauspiels in Berlin, S. i66f. Meier: Die Schaubühne als musikalische Anstalt, S. 95. In Meiningen wurden Antigone, König Ödipus und Ödipus in Kolonos (1867), in Wien Elektra (1882), König Ödipus (1886), Ödipus in Kolonos (1887) sowie der euripideische Kyklops (1882) aufgeführt. Vgl. Flashar: Inszenierung der Antike, S.

304

Das Bühnenbild war frei von allen archäologischen und klassizistischen Ingredienzien. Die Bühne war ein freier Platz; im Hintergrund sah man dunkelgraue Steinquader, davor sechs Stufen. [...] Auch die Kostüme waren nicht antikisierend.8 Überdies verbreitete sich in den beiden letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts, ausgehend von Frankreich, mit dem »Naturalismus« eine Programmatik, die zu völlig neuen Konzeptionen im Bereich des Sprechtheaters führte. Das Theater des Naturalismus, das sich in Deutschland durch Otto Brahms (1856—1912) Gründung der »Freien Bühne« in Berlin 1889 durchsetzte,9 ist gekennzeichnet durch die möglichst getreue Nachahmung der aktuellen Lebenswirklichkeit. Die Veränderung der Erscheinungsform ist Ausdruck eines Funktionswandels der Bühne. Ihre Aufgabe bestand nicht mehr allein im Amüsement und der Erbauung der Zuschauer. Das Theater des Naturalismus setzte sich vielmehr in scharfe Opposition gegen die seichte Unterhaltung und den erstarrten Historismus. Indem sie nach Darstellung der aktuellen Situation strebten, wollten die jungen Autoren und Theatermacher die illusionäre Flucht des saturierten Bürgertums in die Stabilität der Vergangenheit und zu den >ewigen Werten« verhindern.10 Nicht nur historisierende Aufführungen, zu denen Inszenierungen nach dem Modell der Potsdamer Bühnenfassungen trotz der nicht antikisierenden Musik Mendelssohns gezählt werden müssen, wurden abgelehnt. Auch phantastische, irrationale oder idealisierende Elemente waren mit der naturalistischen Programmatik nicht in Einklang zu bringen. Gerade in diesen Bereichen war bisher der Musik große Bedeutung zugekommen." Bereits mit der weitgehenden Abschaffung der Zwischenaktmusik hatte die Schauspielmusik ihre äußere Funktion eingebüßt. In naturalistischen Theaterkonzepten war Musik nun auch in ihrer inneren Funktion in der Regel wenig Raum mehr gegeben. Ein Neuansatz zur Überwindung naturalistischer Konzeptionen ist zu Beginn des 20. Jahrhunderts auszumachen. Beiden Elementen, antiken Stoffen sowie schauspielmusikalischen Konzepten,12 kam beispielsweise in Max Reinhardts (1873-1943) Theaterprojekten ein besonderer Stellenwert zu: »[...] die Begegnung mit dem Drama der griechischen Antike war einer der Anlaßfaktoren für Reinhardts Abwendung vom Naturalismus.«'3 Exemplarisch für Inszenierungen griechischer Tragödien sei an dieser Stelle lediglich auf König ödipus (1910) hingewiesen.'4 Überraschenderweise scheinen

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Ebd., S. . Otto Brahm folgte hier dem Pariser Vorbild von Andre Antoines (1858-1943) »Theatre libre«. Simhandl: Theatergeschichte in einem Band2, S. 190. Vgl. Kapitel I. Vgl. Kindermann: Theatergeschichte Europas, Band 8, S. 365-373, Flashar: Inszenierung der Antike, S. 110—142 sowie Beck/Ziegler: Carl Maria von Weber und die Schauspielmusik seiner Zeit, S. 15. Kindermann: Theatergeschichte Europas, Band 8, S. 447. König ödipus (in der Bearbeitung von Hugo von Hofmannsthal) wurde 1910 erstmalig in München (Neue Münchner Musikhalle) inszeniert; es folgten im selben Jahr Aufführungen 305

die von Reinhardt formulierten Grundgedanken zunächst nicht allzu weit von den Potsdamer Bestrebungen 1841, keine »archäologische Nachahmung« hervorzubringen,'5 entfernt zu sein: Wenn ich für meine Inszenierung des >König Ödipus< den Zirkus wählte, so konnte es sich hierbei naturgemäß nicht um eine äußerliche Kopie des antiken Theaters handeln. Für mich kam es darauf an, die Tragödie des Sophokles aus dem Geist unserer Zeit aufleben zu lassen, sie den Bedingungen und Verhältnissen der heutigen Zeit anzupassen. Es konnte mir nicht in den Sinn kommen, jene antike Szene wieder herstellen zu wollen, zu deren Voraussetzungen der freie Himmel und die Maske gehören.'6

Die zeitgemäße Umsetzung musste allerdings — und in dieser Haltung entspricht Reinhardt der oben zitierten Forderung Schlesingers - knapp siebzig Jahre nach der Potsdamer Antigone andere Wege finden: Das Wesentliche des Zusammenhanges zwischen der heutigen und der alten Bühne sah ich für meinen Teil darin, ob es gelingen könnte, die Dimensionen wieder zu schaffen, mit denen die großen Wirkungen des antiken Theaters so eng verknüpft waren.17

Während das Potsdamer Produktionsteam 1841 die Zweiteilung der Bühne in Orchestra und Skene, den Auftritt eines singenden Chores sowie eine möglichst treue, metrische Textfassung als grundlegend erachtete, um die spezifische Wirkung griechischen Theaters den Zeitgenossen nahe zu bringen, war für Reinhardt die Herstellung der Dimensionen des antiken Zuschauerraumes sowie der Auftritt von Menschenmassen auf der Bühne wesentlich. Daher verlegte er die Aufführung in die Zirkusarena. Aber auch Reinhardts Umgang mit musikalischen Elementen im König Ödipus kann nicht mit den Richtlinien, die sich etwa Mendelssohn für seine Schauspielkompositionen setzte, verglichen werden. [...] im >Ödipus< (1910), wagt Reinhardt eine Art von sinfonischen Chorexperimenten. In diesem Fall wurde eine Konkordanz von Sprechrhythmus und Gebärdenrhythmus der Schauspieler und der nach Hunderten zählenden Statisten erzielt.'8

Die »Orchestrierung und Rhythmisierung« Sprechstimmen und Bewegung kann als charakteristisch für Reinhardt Regiekonzeptionen angesehen werden.'9 Das Element der Musik erhält innerhalb des Gesamtkonzeptes der Inszenierung einen neuen Stellenwert: in Wien (Zirkus Renz), Budapest und Berlin (Zirkus Schumann). Vgl. ebd., S. 453. Der Inszenierung des König Ödipus waren andere Antiken-Projekte vorausgegangen, u. a. Hofmannsthals Umdichtung der Elektra (1903) und Medea in der Übersetzung von Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff (1904), in der Reinhardt erstmals mit dem griechischen Chor experimentierte. Vgl. ebd., S. 448ff. 15 Devrient: Geschichte der deutschen Schauspielkunst, S. 425. 16 Reinhardt in: Literarisches Echo 13, Sp. 1242, zitiert nach Kindermann: Theatergeschichte Europas, Band 8, S. 454. '7 Ebd. 18 Kindermann: Theatergeschichte Europas, Band 8, S. 366. '9 Ebd., S. 365. 306

[...] zu Beginn des 20. Jahrhunderts [wird] die Schauspielmusik generell als integrativer Bestandteil der Auffuhrung und inszenatorisches Element >neben Schauspielern, Bühnenbauten, Farben, Lichteffekten< bewertet. [...] Die kompositorische Gestaltung verfährt nicht primär nach dem dichterischen Original, vielmehr entwickelt der Regisseur eine konzeptionelle Vorstellung, die dem Komponisten das musikalische Programm liefert. Infolgedessen beansprucht die inszenatorisch gebundene Schauspielmusik ein vielfältiges wie heterogenes Repertoire an Techniken und Ausdrucksmitteln, die vom musikalischen Requisit und der rhythmisch differenzierten Geräuschkulisse über Collage und parodistische Verfremdung, chorisch rhythmisiertes Sprechen und melodramatischen Verfahrensweisen bis zur sinfonischen Durchdringung reichen.10 Seit der Zeit, in der Mendelssohns und Tauberts Kompositionen entstanden waren, hat sich - wie im Rahmen dieses Ausblicks nur angedeutet werden soll - die schauspielmusikalische Theaterpraxis grundlegend verändert. Zum einen - und das ist allein aus finanziellen Gründen nicht mehr zurückzugewinnen - verfügen die Schauspielhäuser heute über keine Orchester mehr.11 Zum anderen hat die technische Möglichkeit, jede Form von Musik - Klänge und Geräusche - einspielen zu können, zu einer Beschallung des Sprechtheaters geführt, die eigens angefertigte Kompositionen weitgehend ersetzt.21 Die Bühnenmusik zu Sophokles' Antigone ist heute - und dies gilt ebenso für den Ödipus auf Kolonos [...] in der ihr zugedachten Funktion kaum wiederzubeleben, wobei gleichermaßen ästhetische wie auffuhrungspraktische Wandlungen einer Renaissance im Wege stehen.23 Die aufführungspraktischen Wandlungen sind, was moderne Spielorte und die Verfügbarkeit von Orchestern betrifft, irreversibel. Und doch ist möglicherweise ein Ansatz für die Wiederbelebung von Mendelssohns Sophokles-Vertonungen auszumachen: In dem unerwarteten Maß, in dem Ensembles »Alter Musik«, die das gesamte Musikleben immer stärker prägen, sich auch Kompositionen des 19. Jahrhundert zuwenden, scheint es nicht ausgeschlossen, dass exemplarische Aufführungen zu Unrecht vergessener Werke das Sprechtheater zu einer neuen Diskussion über Sprache, Musik und Tanz - die Elemente antiken Theaters — anregen könnten. Und hierbei sollte den Kompositionen Mendelssohns erneut Bedeutung zukommen.

Meier: Die Schaubühne als musikalische Anstalt, S. 8/f. Vgl. Altenburg/Jensen: Art. »Schauspielmusik«. In: MGG2, Sachteil, Band 8, Sp. 1046. Natürlich gibt es prominente Ausnahmen. Aber auch hier finden in der Regel keine live spielenden Symphonie- bzw. Opernorchester im Schauspiel Verwendung. Konoid: Felix Mendelssohn Bartholdy und seine Zeit, S. 217. 307

D.

ANHANG

X. Materialien zum »Leipziger Libretto« der Antigone

. Bellermann an Mendelssohn (5. November 1841) Bodleian Library Oxford, Signatur: Ms.M.Deneke Mendelssohn d.4O, G.B.XIV.I5I Hochgeehrter Herr Kapellmeister. Meine Freude über Ihre Sophokleische Unternehmung ist so groß, daß ich nicht umhin kann, Ihnen, was Sie freilich schon vieler Seiten gehört haben werden, meinen innigsten Dank darüber, zugleich aber auch den lebhaften Wunsch auszusprechen, daß es bei dieser Einen Vorstellung nicht bleiben möge, sondern daß die Antigone auf die hiesige Bühne gebracht werde, und daß es Ihnen dann auch gefallen möge, noch andere Stücke auf ähnliche Weise hier heimisch zu machen. Da Sie das erstere gewiß auch wünschen, und vielleicht dem zweiten nicht abgeneigt sind, so mögen Sie es gütig erlauben, daß ich diesen beiden Wünschen ein Paar Bemerkungen anknüpfe, die Sie, wenn Sie Ihnen unbedeutend scheinen, mit meinem Eifer für einen so wichtigen Kunstgegenstand freundlich entschuldigen mögen. Ich zweifle nicht, daß den zahlreichen Freunden des Alterthums sich leicht manche andere Gebildete anschließen würden, besonders wenn einigermaßen für sie in Betreff des Verständnisses des Kunstwissens gesorgt würde. Dies könnte meiner Meinung dadurch geschehen, daß den Textbüchern der Chöre eine historisch-mythologische Einleitung und einige erklärende Anmerkungen beigefügt würden. Die würde das Interesse nicht wenig erhöhen, besonders wenn die Theaterdirection, um des guten Erfolges sicher zu seyn, das kleine Opfer bringen wollte, solche Texte gratis auszutheilen; denn viele kaufen sich auch bei den Opern keinen Text, und wissen nicht, wovon die Rede ist. Hier aber wäre es unerläßlich. Denn ich glaube, daß selbst von dem nemlichen, gewiß sehr gebildeten Publikum mancher einen noch höheren Genuß gehabt hätte, wenn er alle Beziehungen verstanden hätte. Denn wer, wenn er sich nicht mit diesen Dingen beschäftigt hat, weiß gleich alle mythologischen Beziehungen? Aber um z. B. Ihren herrlichen Emollchor zu würdigen, muß er doch wissen was es mit dem Sohn Dryas für eine Bewandniß hat, und mit den Söhnen des Phineus und ihrer Mutter u.s.w., und wieso der Chor auf diese Dinge kömmt. Ein Kommentar, der zusammen nicht 2 Octavseiten betrüge, würde jeden au fait setzen. Würden Sie bei einer solchen Auffuhrung nicht auch geneigt seyn, das bis jetzt ausgelassne zweite Strophenpaar des Chors Ihr Seeligen nachzuholen? Verzeihen Sie mir die Bemerkung, daß die an seiner Stelle eintretende Wiederholung der Anfangsworte mir die Lücke nicht zu ersetzen scheint, zumal sie nicht recht zum Schlüsse der ersten Gegenstrophe paßt, und überhaupt eine solche Wiederholung vielleicht unantik seyn dürfte. Das ausgelassne Strophenpaar 311

ist freilich dem Gedanken nach etwas schwierig, woran die Uebersetzung schuld ist. Erlauben Sie mir hiermit auf einige andere allgemeine Bemerkungen zu kommen, die sich mir bei dem Gedanken, daß Sie noch andere Sophocleische [fbl. iv] Stücke componiren möchten, aufdrängen. Was nämlich die Donnersche Uebersetzung betrifft, so ist sie zwar in vieler Hinsicht gut, bedarf aber noch Behufs der Darstellung und musikalischen Composition einiger Nachhülfe; sowohl in Dialog, wo, um nur eins auszuführen, dem Herrn Devrient für die Worte: Dein, Vater, bin ich, eine Erleichterung durch: Dein bin ich, Vater, wohl zu gönnen gewesen wäre, mehr aber noch in den lyrischen Stellen. Diese sollten Sie, meine ich, sich Behufs der Composition eines neuen Stückes hin und wieder ändern lassen; dies müßte natürlich jemand Ihnen, der der Sprache des Griech. Theaters vollkommen kundig ist, und gehörige musikalische Kenntniß hat, dabei aber bescheiden genug ist, seine Arbeit stets Ihrer Kritik zu unterwerfen, sich nach Ihren Wünschen zu richten, kurz die Sache mit Ihnen gemeinschaftlich zu machen. Dadurch würde viel gewonnen werden. Erstens würden Sie dann die nöthigen in Strophe und Gegenstrophe correspondirenden Abschnitte nach Ihrer Idee erhalten; zweitens aber giebt die Donnersche Uebersetzung zwar meistens die langen und kurzen Sylben so wieder, wie sie im Griechischen stehen; sie muthet aber der Deutschen Sprache oft Auflösungen, Rhythmen und stellvertretende Füße zu, die ihrer Natur zuwider sind. Z. B. die Anapäste kann man im Deutschen, glaube ich, nicht durch Dactylen vertreten lassen, wiewohl es die Alten oft thun. Unser Bedürfniß ist, den anapästischen Rhythmus klar und deutlich zu hören. Daher würde ich Stellen wie: In den Armen das lautredende Denkmal

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durchaus in rein anapästische ändern. Denn was soll der Dactylus ed nde? an seiner Stelle steht ja im Griech. ein reiner Anapäst , während Sophocles im ersten Fuß den Dacytlus ' - hat. Also von Treue ist ja ohnehin nicht die Rede. In solchen Fällen, werden Sie sagen, weiß ich mir dann durch die Metrik zu helfen. Gewiß. Aber in künstlichen Rhythmen ist dies oft schwieriger. Ich meine daher, man muß sich den Rhythmus einer jeden lyrischen Stelle aus dem Griech. Original so deutlich zu machen suchen als möglich (bekanntlich wissen wir Gelehrten vom Rhythmus und der Metrik nicht viel, daher nur diejenigen Philologen die Sache zu ergründet haben glauben, die keine Musik verstehen) und dann das so aufgefaßte Metrum mit Vermeidung aller verdunkelnden Freiheit, die die Griechische, nicht aber die Deutsche Sprache hat, scharf und faßlich wiedergegeben. Dies ist besonders nöthig bei den melodramatischen Stellen, die im Munde unserer Schauspieler sonst gar zu sehr leiden. Ich denke hierbei z. B. an die letzte Scene der Antigone, wo die Dochmien sind. Dieses herrliche Versmaß, muß dem Zuhörer deutlich gemacht werden, und es ist möglich, wenn es ganz rein gehalten wird: ~f ~ ~ T~ £)er sprechende Schauspieler braucht deswegen [fol. 2r] eben so wenig ängstlich zu scandiren, als es der Componist nöthig hat, wenn er auch die Ictus gehörig hält. Vielleicht könnte dann auch, wenn die Uebersetzung gehörig demnach eingerichtet ist, durch die melodramatischen Zwischensätze der Musik auf ihn und den Zuhörer eingewirkt werden, indem diese zuweilen ähnliche Rhythmen hören ließen. Besonders würde durch solche Veränderung der Uebersetzung der antistrophische Parallelismus erleichtert, auf den die Alten mit so größerer Strenge halten mochten, 312

als ihnen andere Mittel, durch wiederkehrende Form an die bereits in derselben Form vorgetragenen Gedanken zu erinnern, wie sie bei uns der Reim und die contrapunctische Nachahmung ist, fehlten. Daher haben sie ihn nicht nur in den Chören, sondern mit noch größerer Strenge in den von den handelnden Personen abwechselnd mit dem Chor vorgetragenen lyrischen Stellen. Gewiß kann man diese Stellen nicht anders und nicht schöner behandeln, als Sie gethan haben, nämlich melodramatisch mit dazwischen singendem Chor. Aber ich halte auch hier die antistrophische Strenge für unerläßlich. Ihre Composition des Chorverses: Weh ! mir, wie solltest du so spät das Rechte sehn, macht nach der melodramatischen Stelle des Kreon eine außerordentliche Wirkung; aber ich gestehe, daß die des correspondirenden Verses: Du kannst es sehen, nimmer birgts im Hause sich, viel bedeutender seyn würde, wenn hier dieselbe Melodie wiedergekehrt wäre. Und so in allen ähnlichen Stellen, nicht blos in den gesungenen, sondern auch in den melodramatischen. Also ich meine, die wundervolle Begleitung, die wir bei Kreons Worten: Mich schreckt Angst empor, hören, verlangen wir bei der Gegenstrophe: Erschein endlich mir, wiederzuhören; geschieht es, so vergegenwärtigt sich uns dadurch beim Anhören der Gegenstrophe alles, was bei der Strophe entzückt oder erschüttert hat. Ich berufe mich hierbei auf solche Stellen, denen Sie diese antistrophische Uebereinstimmung gegeben haben z. B.: der Stelle der Antigone: O seht mich, seht. Bürger der Vaterheimath, neben: Ich hörte, wie Tantalos Tochter, und auf die in allen Stücken des Sophokles gerade in solchen Scenen bei aufs kleinste gehende Uebereinstimmung, z. B. König Oedipus V. 642 seqq vrgl. mit V. 668 seqq (Donnersche Verszählung) wo im Griechischen Empfindung, Personenwechsel, Frage u. s. w. alles bis aufs kleinste in Sylben und Klängen wiederkehrt. Aber es ist dies in allen Stücken so, und man sieht die Alten haben gerade da, wo die Leidenschaft zu einem frei sich loslassen auffordern könnte, solche Strenge der Form für nöthig gehalten. - Verzeihen Sie, wenn ich manches sage, was Sie als Künstler vielleicht belächeln, und wenn ich nun gar schließlich noch etwas über die harmonische Behandlung hinzufuge. Von der Musik der Alten wissen wir spottwenig; aber das weiß ich gewiß, und man kann es nachweisen, daß die Alten gerade dieselben 5 Tonarten hatten, die auch in unserer [fol. 2V] Kirchenmusik fast allein gebräuchlich sind, nämlich, um die jetzt gebräuchlichen Namen zu nennen, Moll, Dur, Phrygisch, Mixolydisch und Dorisch und daß die Tragödie mit Vorliebe die Phrygische (Octave e - e', o Haupt voll Blut und Wunden; du sinkst ach armes Israel u. dgl.) angewendet haben. Da noch diese Tonart an sich etwas sehr feierliches und ernstes hat, und schon deswegen, weil sie sich faßlich von Dur und Moll unterscheidet, der Zuhörer in eine neue, feierliche Stimmung zu versetzen mag, so würde ihr Gebrauch hin und wieder von guter Wirkung seyn; aber ebenso ist es mit der Mixolydischen (g - g' Octave, Gelobt seyst du Jesus Christ); und dergleichen sollte, meine ich, eben so wenig zu verschmähen seyn, als ja auch die äußere Anordnung der Bühne, eben durch die Abweichung von unserer jetzigen Gewohnheit, mit zur eigenthümlichen Stimmung beiträgt, die zum Genuß eines antiken Kunstwerks erforderlich ist. Es sollte mich freuen, wenn Sie, hochgeehrter Herr Kapellmeister, einiges des hier gesagten nicht ganz unnütz finden; wo nicht, nun so liest man ja manches unnütze und legt es bei Seite. Entschuldigen Sie also, und genehmigen Sie zugleich die Versicherung 313

der ausgezeichneten Hochachtung, mit der ich die Ehre habe zu seyn Ihr ganz ergebenster Dr. Fr. Bellermann, Professor am grauen Kloster Berlin, d 5ten Nov. 1841.

Vorbemerkung zu X.2. und X.3Die nachfolgend unter X.2. und X.3. abgedruckten Textentwürfe und Kommentare zu den Chorliedern der Antigone geben, soweit dies möglich ist, das originale Erscheinungsbild der Handschriften wieder. Der Zeilenfall entspricht weitgehend dem Original. In < > gesetzte Worte und Buchstaben sind in der Quelle gestrichen, in l: :l gesetzte Worte sind nachträglich hinzugefügt. Die von Mendelssohn gelegentlich gesetzten * verweisen möglicherweise auf weitere Anmerkungen. Gelegentlich hat der Komponist zwischen einzelnen Textabschnitten Abgrenzungslinien gezogen, die hier ebenfalls wiedergegeben sind. Die in Anhang X.z. vorgenommene Gegenüberstellung von Mendelssohns Entwürfen und Bellermanns Kommentaren wurde vorgenommen, um die gegenseitige Abhängigkeit der Quellen deutlich zu machen und die Zusammengehörigkeit dieser Texte hervorzuheben. In demselben Maße ist der unter Anhang X.3. abgedruckte Text Bellermanns in den Kontext einzubeziehen. Die in der Bodleian Library befindlichen Seiten werden hier erstmals veröffentlicht. Das Manuskript aus Privatbesitz wurde erstmals von Flashar publiziert (Mendelssohns Schauspielmusik zu >Antigone< und >Oedipus in Kolonos-S g'-Z

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den Wimpern lustbettendei heftig entstrahlt, Liebreiz, er mitthronend im Rath mi Rechte; denn nimmer bezwungnes übt Herrscherin Aphrodite.

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