Die Welt der Stiere: Ausgewählte Artikel aus "Libération" 9783205790884, 9783205785446


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German Pages [252] Year 2010

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Die Welt der Stiere: Ausgewählte Artikel aus "Libération"
 9783205790884, 9783205785446

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Jacques Durand

Die Welt der Stiere Ausgewählte Artikel aus Libération

Aus dem Französischen übersetzt und begleitet von Mika Biermann

Böhlau Verlag Wien Köln Weimar

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Coverillustration: © Faltkunst. Rudolf Deeg, Bremen www.faltkunst.de Lektorat: textstern* / Ulrike Ritter Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-205-78544-6 Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, ­insbesondere die der Übersetzung, des Nachdruckes, der Entnahme von ­Abbildungen, der Funksendung, der Wiedergabe auf fotomechanischem oder ­ähnlichem Wege, der Wiedergabe im Internet und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. © 2010 by Böhlau Verlag Ges. m. b. H und Co. KG, Wien · Köln · Weimar http   ://www.boehlau.at http   ://www.boehlau.de

Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlorund säurefrei ­ge­bleich­tem Papier Druck : Széchenyi István Druckerei & Buchbinderei, HU-9027 Győr

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Inhalt

7 Einleitung 13 Anmerkung des Übersetzers 15 Den Stier im Mund 18 Stiere am Strand 21 Das brennende Blut des García Lorca 25 Der Osborne-Stier, nationales Totem 29 Die Wächter des temple 33 Pedro Romero und die Tafeln des Gesetzes 37 Unter rotem Tuch 41 Winterschlussverkauf 45 Bei einer halben veronica macht man keine halben Sachen 49 Das kleinteilige Puzzle der Tapferkeit 53 Der Mann mit der Lanze 57 Einem solchen Pferd gibt man keinen Gnadenschuss 60 Bilder vom Augenblick des Todes 62 Der natural verlangt sein Recht vergeblich 67 Auf der Spitze des Horns 72 Toreros: Stoiker in der Arena 76 Der Betrug am Ende der Hörner 81 Der Mann, der in den „tiefen“ Stieren liest 85 Der Kampfstier, ein zarter Leckerbissen 89 Im Namen des Stieres 93 Der Adelsbrief der volapie 97 Und die Nummer 52 kam in die Arena 102 Vom tremendismo und seinen Exzessen 106 Rhetorik der bronca 111 El Gallo, der erste panische Torero 116 Blut, Sand, Sonne und Aberglauben 120 Die Wunderheilung eines alten Toreros

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Inhalt

124 128 132 136 141 146 150 154 158 162 166 170 175 180 186 191 196 201 204 207 211 215 219 224 228 232 236 240 244

urro, die Essenz Sevillas C Die „kultivierten Arten des Schweigens“ der Maestranza Degenknappe, Herr der Realitäten Die Schöffen der Siebenerreihen Die Corridas der letzten Chance Juan Belmonte, die Schmiede der Nacht Joselito, Torero leichter als Luft Conrad Abad, der letzte maletilla Das „Schöne im Stierkampf “ im Spiegel von Leiris Das Schicksal des Jesús a porta gayola Francisco Cano, das Auge des Stierkampfes Manoletes rote Nacht der Agonie Die Camargue-Stiere werden vor Gericht losgelassen 825 Meter Wahnsinn in Pamplona Die Sonne geht nie unter Der San Fermín des Papa Hemingway Engländer und aficionado, keine Häresie Die sonderbare Leidenschaft der Eva Florencia Italien hat seine Liebe zum Stier vergessen Stiere und Toreros sprechen durchaus Katalanisch Die Toreras stellen sich den Stieren und den Männern Der Häresie-Prozess von El Cordobés Antoñete und der Traum vom weißen Stier Gott behüte die alten Toreros! Burleske Zwerge und echte Toreros Resiston, blaues Blut Bastoncito lässt Rincón Staub schlucken Als Revistero sich auf Dinero reimte Der unsagbare Tomás

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Versuch eines Nachwortes

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Einleitung

Der Stier schiebt die Hörner unter den gepanzerten Bauch des Pferdes, spannt seine Nackenmuskeln und hebt es aus dem Sand. Der dicke Reiter lässt die Lanze fallen und rudert um sein Gleichgewicht. Die Hälfte des Publikums klatscht, die andere pfeift. In dem Gang, der das innere Rund der Arena von den Zuschauerrängen trennt, steht ein Mann mit weißer Mähne und schwarzen Brauen hinter einer Barriere und schaut sich das Gerangel an. Seine Hände sind leer. Sein Gesicht ist ernst, beinahe ausdruckslos. Der Stierkampf. Er findet am helllichten Tag statt und ist trotzdem für die meisten ein schwarzes Loch. Ein weißer Fleck auf der Landkarte der abendländischen Kultur. Man weiß, dass es ihn gibt, dass irgendwo dort draußen Männer in einer Arena Stiere töten. Eines Tages trifft man auf jemanden, der ihn hasst, im Namen des Prinzips. Oder auf jemanden, der ihn liebt und ohne ihn nicht mehr leben kann. Da die Neugier eine der besseren menschlichen Qualitäten ist, bekommt man vielleicht Lust, mehr darüber zu erfahren und sich ein eigenes Bild zu machen. In der angesehenen französischen Tageszeitung Libération ist jede Woche eine ganze Seite dem Thema gewidmet. Chefredakteur und Autor dieser Rubrik ist der weißhaarige Mann mit den schwarzen Augenbrauen, der über die Bretterbarriere hinweg das Geschehen betrachtet. Er heißt Jacques Durand und hat ziemlich genau – achtzig Kämpfe pro Jahr, sechs Stiere pro Kampf – zehntausend Stiere sterben gesehen, in zwanzig Jahren Berichterstattung für das mythische linke Blatt.

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Mit neun Jahren saß er zum ersten Mal im römischen Amphitheater von Nîmes, während unten im Sand ein Ballett aus Rosa, Gold und Schwarz begann, das sechsmal hintereinander im Rot frischen Blutes endete. Sein Vater, im Alltag Gerichtsdiener, erklärte ihm geduldig die komplizierten Regeln. Dann fuhren sie zurück durch die Weinberge in ihr Dorf, wo Mutter mit dem Abendbrot wartete. Als Halbwüchsiger ging er mit seinen Freunden so selbstverständlich zum Stierkampf wie Gleichaltrige jenseits der Olivenölgrenze zum Fußball. Durand wollte nie etwas anderes als Journalist werden. Anfangs schrieb er für diverse Regionalblätter über Sportveranstaltungen, Feuerwehrbälle, Geschworenenprozesse. Seinen ersten Artikel über einen Stierkampf druckte Le Matin de Paris ab. Eines Tages klingelte das Telefon. Es war Serge July. July, der mit Sartre frühstückte. Der Gründer von Libération, dessen Anliegen es war, die linke Presse zu rehabilitieren. Der als Student in Bordeaux – ein sorgfältig gehütetes Geheimnis – eine kleine These über den Stierkampf verfasst hatte. Und dem nicht entgangen war, das die Feria von Nîmes – eine Woche Stierkampf, Musik, Theater – dabei war, sich zum größten Straßenfest Europas zu mausern. Er trug dem unbekannten Wald- und Wiesenschreiber Durand die Verantwortung für eine wöchentliche Seite mit dem Titel Tauromachie an, mit einer einzigen Bedingung: kein Insiderjargon! Es war der größtmögliche Glücksfall in einer Journalistenkarriere. Seit damals ist Durand der einzige Redakteur, Reporter, Laufbursche und Zuträger seiner Seite, die sich seit zwanzig Jahren nicht verändert hat: ein zentraler Text, ein Foto, eine Spalte Aktuelles. Das Thema ist schwierig, nicht nur weil es sich um ein kulturelles Randphänomen handelt, sondern auch weil es formell nichts Steiferes gibt als einen Stierkampf, dessen Verlauf seit hundert Jahren streng kodiert ist und über dessen Ausgang – das Wort „Kampf “ Lügen strafend – kein Zweifel besteht: Die Stiere werden sterben. Durand hat das Problem der Stereotypen gelöst, indem er von Anfang an einen enzyklopädischen Ansatz wählte: mal historisch, mal zoologisch, mal politisch, mal soziologisch, seltener kulinarisch, manchmal impressionistisch, oft der eines interessierten Zeitzeugen. Ein Fachwissen im Rücken, das Respekt abnötigt, erlaubt sich Durand, auszuholen, abzuschweifen, auszuufern, mit Worten zu spielen, Sinn zu verschieben, kurz: zu schreiben. Egal, ob es sich um die Biografie eines vor

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Einleitung

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zweihundert Jahren aufgespießten Matadors handelt oder um die genaue Analyse des Schädelinhalts des Kampfstieres, bos primigenius. Sein literarisches Vorbild ist Baudelaire, von dem er die sanfte Ironie hat, und die Surrealisten, denen es zu verdanken ist, wenn sich ab und an eine Nähmaschine und ein Regenschirm in seinen Zeilen treffen. Wo sich die Kollegen mit hysterischer Emphase in Fachblättern endlos wiederholen, als kommentierten sie das immer gleiche Länderspiel, beleuchtet Durand den Stierkampf gründlich, geduldig, von allen Seiten und – wie abgemacht – für jeden verständlich. Libération ist schließlich keine Schülerzeitung. Jedes Frühjahr nimmt Durand seinen Pilgerstab und zieht los, von einer Feria zur nächsten, von der Großstadt aufs Dorf, von Spanien nach Frankreich und wieder zurück: Barcelona, Sevilla, Pamplona, Madrid, Nîmes, Arles, Béziers. Es finden Tausende Stierkämpfe im Jahr statt, niemand kann sie alle sehen. Durand tut sein Bestes. Er wohnt in denselben Hotels, isst in denselben Restaurants, klopft auf vertraute Schultern, nimmt die Gespräche dort wieder auf, wo sie vor einem Jahr abgebrochen wurden, immer auf der Suche nach einer neuen Geschichte: ein junger Matador, der Dinge verspricht, die niemand halten kann; ein alter Held, der zurückkommt, weil die Kasse leer ist; ein Maurergehilfe, der einem riesigen Stier gegenübertritt. Er reist den ganzen Sommer von Ort zu Ort und manchmal, nach einem besonders faden Kampf, fragt er sich, was er dort tut, bis ihn am nächsten Tag, in einer anderen Arena, ein Stier aus schwarzem Licht oder ein Kämpfer im Zustand der Gnade alle Strapazen vergessen lässt. Zur Abwechslung frühstückt Durand am Tisch der Züchter, die mit goldenen Siegelringen protzen, trinkt in Kneipen neben vorzeitig gealterten Matadoren mit rauen Kehlen, besucht verstaubte Archive, die von Zeiten erzählen, als ungeschützte Pferdebäuche von den Hörnern ausgeweidet wurden. Sein Sommer ist eine endlose Variation schwarz-roter Menuette von Männern und Stieren; der blutige Krieg, den Libération auf den ersten vier Seiten abdruckt, ist ihm weniger real als die verblühende Geste eines Zigeuners mit dem roten Tuch, von der dann auf Seite 24 in seiner Rubrik zu lesen ist. Durands Haus in einem kleinen Dorf bei Montpellier ist dunkel und kühl und riecht nach Feldstein, Gips und schwarzen Balken. Auf dem Küchentisch liegt

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ein Tuch, das Spuren von Brotkrümeln und Weingläsern trägt. Der Garten ist voller Licht, die Blätter der wilden Sträucher sind wie Scherben aus Grünglas. Eine Katze schläft im Rosenbusch. Zwei alte Autos parken im Unkraut. Die vier Wände seiner Schreibstube sind bis unter die Decke mit Büchern bedeckt. Baudelaires Gesamtwerk, ein bisschen Lautréamont, ein bisschen Poesie: Der Rest sind Bücher zum Stierkampf. Dort stehen die zwölf gewichtigen Bände der Enzyklopädie El Cossío, in der alles von der zünftigen Unterwäsche des Matadors bis zur chirurgischen Behandlung eines Hornstoßes beschrieben wird. Man findet eine Essaysammlung von Philosophen wie Bergamín und Leiris neben einem französischen Schundroman mit dem Titel Der Löwe der Arena, und Bildbände über Picassos Illustrationen neben Reproduktionen von Goyas Drucken. Dazwischen stapeln sich vergilbte Zeitungsausschnitte legendärer Kritiker, die Staub angesetzt haben. Die Verantwortung für einen klugen Satz zum Thema Stierkampf ruht heutzutage weitgehend auf Durands breiten Schultern. Der Stierkampf hat alles um ihn herum überwuchert. Die Freunde am Esstisch sind Kenner, so wie die Reisegefährten, so wie die Künstler und Fotografen, die kommen, um seine Bücher zu illustrieren, die er neben seinen Artikeln verfasst. Durand hält nichts von kitschigen Bildern: In seinem Buch mit dem lapidaren Titel Toros Bravos stammen die Illustrationen vom Konzeptkünstler Claude Viallat. Seine Lebensgefährtin Hélène Arnal ist Bildhauerin. Ihr Atelier mit Blick auf den Garten ist voll mit ironischen Skulpturen aus Pappmaschee zum Thema ... Stierkampf. Hélène kocht, er macht den Abwasch. Im Garten steht ein Kirschbaum, die Zweige schwer von Früchten. Die Katze im Rosenbusch schlägt mit dem Schweif. Der Nachmittag trägt eine Wolke durch den Himmel wie ein Kellner ein Stück Torte. Durch die Schatten geistern die Erinnerungen an zehntausend tote Stiere. Jacques Durand weiß mehr über den Stierkampf als der Papst über das Paradies. Seine Artikel erzählen von der Blaskapelle und der Morphologie der Stiere, von Sternbildern und Kartenverkäufern, von feigen Helden und tapferen Kindern, von Hornwunden und Büchern, von langen Leben und schönen Toden. Durand sagt, dass der Stierkampf für ihn das Wichtigste auf der Welt

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Einleitung

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sei, dass er all das konzentriere, was man in einem Leben fühlen kann: das Gefühl des Schönen und des Hässlichen, die Erregung, die Trauer, die erlesene Langeweile, das Gefühl, unrecht zu haben, das Gefühl, am rechten Ort zur rechten Zeit zu sein, die Lust der Intelligenz. Er wundert sich, dass er so wenig Leserpost erhält. Er fragt sich manchmal, ob die Redaktion in Paris sie ihm vorenthält. Im Internet häufen sich die Proteste: Wie kann es sein, das sich Libération einen Journalisten hält, der nur über das Quälen und Töten von Stieren berichten darf? Komplize der Schlachter, Hofschreiber der Barbaren ... Irgendwo muss da ein Missverständnis herrschen. Durand hat ein hohes aufklärerisches Berufsideal: dem geneigten Leser geduldig etwas klarzulegen, das phänomenal, komplex, strittig ist. An dem Tag, an dem seine Seite dem Druck der Tierschützer weichen muss, wird Voltaire in seiner Gruft einen hörbaren Seufzer tun. Durand siedelt den uralten Mythos Stier und den seit 250 Jahren existierenden Stierkampf resolut in der modernen Welt an, symbolisiert durch eine große linke, progressive französische Tageszeitung. Für ihn „ist der Kampfstier die Modernität“ und die Beschäftigung mit der Tauromachie „eine Übung in kritischem Geist“. Er bedauert, dass viele Leute etwas verurteilen, was sie nicht kennen, und nicht sehen wollen, was sie zu kennen glauben. Er geht davon aus, dass man vor dem Lieben oder Hassen erst verstehen muss. Das ist es, wozu er beitragen möchte. Jacques Durand hat die Ellenbogen auf die hölzerne Brüstung gelegt, das Kinn auf die Hand gestützt, während er seinen zehntausendundersten Stier beobachtet. Er redet nicht, raucht nicht, klatscht nicht, macht keine Notizen. Er wird, komme was wolle, später darüber schreiben.

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Anmerkung des Übersetzers

Die Artikel von Jacques Durand sind auf Französisch geschrieben, das den Vorteil hat, die lateinischen Wurzeln der Stierkampfsprache, also des Spanischen zu teilen. Will man auf Deutsch vom Stierkampf reden, funktioniert vieles nicht mehr. In „Tauromachie“ (spanisch tauromaquia), dem Titel der Seite von Jacques Durand in Libération, klingt unser Minotaurus an, aber im Duden steht es nicht. Tauromachie, von den griechischen Wörtern tauros/Stier und makheia/Kampf. Einige wenige Fachbegriffe haben ihren Eingang in deutsche Lexika gefunden: „Matador“, „Torero“, „Banderilla“, „Banderillero“, „Corrida“ und „Muleta“. Ansonsten hat der Übersetzer mehr die Qual als die Wahl. Die spanischen Begriffe beibehalten? „In der plaza sind die tendidos vom ruedo durch den callejon getrennt, in dem die toreros, peónes, mozzos de espada, monosabios, picadores, apoderados und majorales hinter der barrera darauf warten, dass der toro in der Öffnung des toril auftaucht.“ Übersetzen? „In der Arena sind die Zuschauerränge vom Rund durch den Gang getrennt, in dem die Toreros, ihre Helfer, die Degenknappen, Lanzenreiter, Manager und die Verwalter der Zucht hinter der Holzbarriere darauf warten, dass der Stier in der Öffnung des Pferches auftaucht.“ Also übersetzen. So weit, so gut. Aber wie übersetzt man torear? Das Verb torear und das Hauptwort toreo bezeichnen alles, was die Männer in der Arena mit den Stieren machen, einer der gebräuchlichsten Ausdrücke, der im Französischen den Begriff toréer gebildet hat. Ein neues Wort im Deutschen kreieren? „Torerieren“? „Torieren“? Ein gewagtes Unterfangen. Also es

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Anmerkung des Übersetzers

bei „kämpfen“ belassen, wissend, dass es kein Kampf im eigentlichen Sinne ist? Die capa der Toreros, französisch cape, lässt uns im Regen stehen und will weder „Umhang“, „Mantel“ noch „Cape“ werden. Die montera, ist sie ein Matadorhut, eine Matadormütze oder eine Matadorkappe, wo sie doch keiner dieser Kopfbedeckungen auch nur entfernt ähnelt? Jeder aficionado (jeder Stierund Stierkampfliebhaber mit Leib und Seele) weiß, was er sich unter traje de luces oder habit de lumière vorzustellen hat, aber das deutsche „Lichtgewand“ lässt doch eher an einen Engel denken. Der novillero, der bis zu seiner alternativa den novillos entgegentritt, verlängert sich zu einem „Torerolehrling“, der bis zu seiner „Matadorenweihe“ „Jungstiere von drei Jahren“ bekämpft. Und die armen peónes, diese „Bauern“, wollen einfach keine guten Handlanger, Helfer oder Untergebene abgeben. Wir könnten endlos mit Beispielen fortfahren und würden doch nicht schlauer. Der Übersetzer hat versucht, das Problem nicht grundlegend und systematisch zu lösen, sondern von Fall zu Fall, und hat auf ein Glossar am Ende verzichtet. Die Artikel von Jacques Durand sind so beschaffen, dass sich alles – wenn nicht sofort, dann später – irgendwie erklärt. Und falls der Leser trotzdem über einen Ausdruck stolpert, darf er ruhig die Ungeschicklichkeit des Übersetzers verfluchen und sich danach ein Buch zum Stierkampf kaufen, in dem alles theoretisch aufgelistet wird und das es mittlerweile auch auf Deutsch gibt. An dem Punkt angekommen, ist er sowieso mit Haut und Haar verloren, weil er die Grenze zur Welt der Stiere überschritten hat und nicht nur eine neue Sprache, sondern ein ganzes Universum entdeckt. Denen, die vom Stierkampf nichts wissen wollen, ist es sowieso egal, ob espada ein Degen oder ein Schwert ist, ob manso einen feigen oder eher einen zu wilden Stier bezeichnet oder ob bravo sich allein durch „tapfer“ eingrenzen lässt. Die Artikel Durands sind in erster Linie Literatur, eine Literatur besonderer Art, Journalismus auf höchstem Niveau. Der interessierte Leser – ein Pleonasmus? – findet deshalb sein erstes Vergnügen ebendort: im Lesen, auch wenn ihm anfangs manches fremd vorkommen mag. Er kann sich mit dem Gedanken trösten, dass die wenigsten in der komplexen Welt der Stiere alles verstehen. Eines allerdings ist sicher: Jacques Durand ist einer davon.

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Auch im Deutschen kann man „den Stier bei den Hörnern packen“ und ist damit schon ein halber Torero, auch wenn dieser so etwas nach Möglichkeit vermeidet. Die jahrtausendealte Faszination der Menschen für den Stier hat sich in der modernen Welt im Stierkampf kristallisiert. Auch falls eine europäische Kommission ihn eines Tages verbietet, werden die Stiere, die es dann nicht mehr geben wird, noch lange durch die Sprache und die Köpfe geistern. Sie sind nicht pittoresk. Sie sind nicht friedlich. Sie sind keine Wasserträger für unser Unbehagen in der Zivilisation, sondern das Zentrum einer lebendigen Alltagskultur.

Den Stier im Mund Die spanische Gesellschaft hat den Stier im Mund. In einem Essay, der den Preis José Maria de Cossío bekommen hat, analysiert und rezensiert der aficionado und Literaturprofessor an der madrilenischen Universität Complutense Andrés Amorós die unzähligen Ausdrücke und Redensarten des Stierkampfjargons, die die Barriere der Arena übersprungen haben, um die Sprache zu beleben. Die Alltagssprache, die Sprache der Dichter, der Journalisten und sogar der Politiker. Die Parlamentarier benutzen gern einschlägige Worte des Stierkampfs, um ihre Gegner zu geißeln. 1988 warf der Präsident der andalusischen Gemeinden Rodríguez de la Borbolla während einer Debatte der Gegenseite vor, etwas verloren zu haben, was ein Torero niemals verlieren darf: die compustura. Compustura, der „Fortbestand“, ist ein Wort, das in der Arena die würdige Körperhaltung bezeichnet, die angesichts eines Stieres nichts anderes ist als der gestische Ausdruck einer moralischen Strenge ohne Kompromisse. Man mag einwenden, dass auch der Dialekt anderer Berufsstände bei Gelegenheit die Sprache bereichern kann. Möglicherweise, räumt Andrés Amorós ein, aber mit dem Unterschied, dass die fiesta de los toros eine volkstümliche und keine gelehrte Schöpfung ist, tief und seit Langem verwurzelt, und dass jedweder Teilnehmer an der spanischen Kultur, aficionado oder dem Stier-

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Die Welt der Stiere

kampf spinnefeind, dieselbe Meta-Sprache der Welt der Stiere benutzt, wegen ihrer erstaunlichen Fähigkeit, sich auf jeden Aspekt des Lebens zu beziehen. Zweifellos, weil diese Sprache oft zwei Seiten hat. Sie bezeichnet sehr genau ein technisches Element ihrer Welt und lädt es in ihren Redewendungen mit einer symbolischen Spannung auf, die in anderen Gebieten ausgenutzt werden kann. Eine erste Feststellung: Es ist der Reichtum an Nuancen der StierSprache, die dies ermöglicht. Beispiele: hacer un extrano, Abstand gewinnen, dorotar, Hornstöße austeilen, ir a menos, schwächer werden, ir a mas, sich entwickeln, tener querencia, einen bevorzugten Platz einnehmen, crecer en el castigo, unter der „Strafe“ der Lanze über sich hinauswachsen, embistir, angreifen, arancarse, ablassen, und so weiter, tausend Worte, die das variierende Verhalten des Stieres beschreiben und die wie selbstverständlich in den bildlichen Gebrauch und die poetische Sprache Spaniens eingegangen sind. Antonio Machado, Dichter der Jahrhundertwende, spricht von einem „niederen Spanien, das betet und ‚embiste‘ (angreift, drauflosgeht), statt sich des Nachdenkens zu bedienen“. Aber der Stier, sein physischer Aspekt, die Stellung seiner Hörner, die Farbe seines Fells, sein Betragen im Kampf sind nicht der einzige Spiegel, in dem die spanische Sprache ihre Bezüge und die spanische Gesellschaft einen Abglanz ihres Verhaltens findet. Das ganze Universum der Corrida, wie Andrés Amorós auf dreihundert Seiten ausführt, spielt diese Rolle einer sprachlichen Goldmine. Die plaza de toros, die Person des Toreros, seine Kunst, das Publikum liefern dem täglichen Leben Hunderte von Bilder sowie gewisse Vorbilder. Man kann im Leben correr la mano, „die Hand laufen lassen“ (etwas bis zum Ende durchführen), sich die coleta abschneiden (seine Aktivität aufgeben), zum quite gehen oder nicht (jemandem in Schwierigkeiten helfen oder nicht), cambiar el oro por la plata (Gold gegen Silber tauschen), was bedeutet, an Ansehen zu verlieren wie die Toreros, die zu Untergebenen werden und ihr mit Goldfäden besticktes „Lichtgewand“ gegen das silberdurchwirkte Kleid der peónes eintauschen. Das Paradox mancher Ausdrücke der Welt der Stiere, wie cargar la suerte oder parar el toro sind gleichzeitig von solch „wunderbarer Ungenauigkeit“, dass sie ein Feuerwerk von Hintergedanken auslösen, und wiederum Beschreibungen einer sehr präzisen Sache. Parar el toro zum Beispiel bedeutet, den Galopp oder Trab des Stieres anzuhalten. Es bedeutet ebenfalls,

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Der Stier im Mund

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dass man langsam Herr über ihn wird, und lässt anklingen, dass man selbst genötigt ist, still zu stehen, da man zum Anhalten eines Stieres zuerst selbst von heroischer Statik sein muss, also mental stärker als er. Die Stierkampfsprache, schließt Andrés Amorós, geht weit über ein einfaches Reservoir an Metaphern hinaus. Die Stärke ihrer Querverweise und ihre Beständigkeit, die sie seit Jahrhunderten in der Sprache und Gesellschaft Spaniens zeigt, werden vom Autor analysiert als „überaus klare Symptome der spanischen Attitüde gegenüber der Welt, die man in aller Einfachheit und ohne Rhetorik die volkstümliche spanische Philosophie nennen kann“. Kurz gesagt, sieht der „spanische Mensch“ die Realität und nimmt es mit Leben, Tod und dem Reellen auf mithilfe der vom Andalusischen und Zigeunerischen geprägten Sprache der Welt der Stiere. Der Philosoph Miguel de Unamuno, der sagte, das Schlimme wäre nicht die Corrida an sich, sondern die Zeit, die die Spanier vergeuden, darüber zu reden, kann ihnen diesen Vorwurf nicht mehr machen. Es scheint nach der Lektüre von Amorós jetzt ausreichend klar, dass von Stieren reden heißt, von Spanien zu reden, von den Spaniern und von vielem mehr. Libération vom 5. 8. 1990

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Ferien in Spanien, Mitte der Achtzigerjahre. Franco ist seit zehn Jahren tot, nachdem er nebst anderen Schandtaten die Costa Brava für die Touristen hat zubetonieren lassen. Hautkrebs ist noch keine Sommermode und Rauchen nur leicht ungesund. Während das zivilisierte Italien nach Museumsparkett, Weihrauch und Pizza duftet, riecht das exotische Spanien nach Windmühlenflügeln, junger Demokratie und niemand weiß genau, was man dort vorgesetzt bekommt. Fett soll es sein. Und dann machen sie noch diese Geschichte mit den Stieren. Angenehm barbarisch. Typisch spanisch. Gar nicht europäisch. Vielleicht kann man bei Gelegenheit mal einen Blick drauf werfen ... Dass dabei einige Missverständnisse herausgekommen sind, ist eigentlich kein Wunder.

Stiere am Strand Costa Brava, Zeltplätze, Buden mit recuerdos, Diskotheken, Flamenco. San Feliu de Guíxols, ein Babel in Strandlatschen am Rand des touristischen Schmortopfs der katalanischen Küste, bäckt ganz Europa an seinen Stränden braun. An diesem Samstag, dem 1. August, nach der Hölle der Anfahrt mit dem Auto, riecht San Feliu nach Ferienende, nach Ferienanfang, nach Sonnencreme, nach horchata de chufa. Aber nicht nach Stierkampf, trotz der großen Plakate, die ihn in sommerlichem Volapük ankündigt: dissabte, sabado, sabato, samedi, saturday, samstag. Tickets: in Hotels und auf Campingplätzen. Reine Routine. San Feliu bräunt sich am Strand und wird sich nicht übermäßig aufregen, wenn zwei Unbekannte und ein Reiter nachher mehr oder weniger schlecht fünf Jungstiere töten. Immer dasselbe, jeden Samstag, ab Monat Juli. Den Duft der Corrida in dieser Stadt in kurzen Hosen steigt einem vage in dem Zigarrenrauch in die Nase, der durch das Hotel Noray zieht. Ein kleines, sehr einfaches Hotel. Dort wohnt eine Mannschaft, eine cuadrilla, mit ihrem Chef, dem Torerolehrling Macareno de Colombia sowie zwei gelangweilte Fotografen der Agentur Efe und die unvermeidlichen Typen mit dicken Siegelringen, die um den Tod der Stiere kreisen wie Schmeißfliegen. Einer hat seine

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Stiere am Strand

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Frau mitgebracht, der andere seine Tochter und seinen Schwiegersohn. Zum Sonnen. Die novillada ist bescheiden. Das Menü ebenso: Salat, Hühnchen und Pommes frites für 650 Peseten, der Preis einer Portion Muscheln in einem der schicken Restaurants am Meeresstrand. Die Kellnerinnen schwitzen. Ein verirrter Surfer nagt an seinem Hühnerbein. Die Stiertypen reden gewichtig von furchterregenden Hörnern, von zukünftigen Millionenverträgen. Der Fahrer der cuadrilla und der Degenknappe des Jungtoreros spielen Karten unter dem Fernsehapparat, der die Weihe von Fernando Lozano zum Matador in der Arena von Valencia überträgt. Die Lanzenreiter, die picadores, kommen die Treppe herunter, die Eisenrüstung an ihren Beinen klappert. Pling, plonk. Sie warten geduldig draußen in der Gasse, bis der Fahrer seine Asse ausgespielt hat. Dann steigen alle in eine Ente Richtung Arena. Eine magere Schwadron von rot gebrannten Touristen kauft Eintrittskarten. Sonne- oder Schattenseite, die Preise sind mehr oder weniger dieselben, mit einem Unterschied von 200 Peseten. Der Mann hinter dem Schalter schafft es trotzdem, eine deutsche Familie in Esperanto-Englisch zu überzeugen, dass auf den Rängen die Sonne – trotz des trüben Himmels – „very peligroso“ sei. Die Deutschen, die mindestens zehn Stunden am Tag gewissenhaft am Strand braten, stimmen zu. Sie nehmen Sitze in der ersten Reihe, zu 3500 Peseten. Die 5000 Plätze der hübschen kleinen Arena sind zu vier Fünftel leer. Die novillada ist miserabel, hohl, ohne Bedeutung. Die Jungstiere sind mickerig, ohne Klasse. Der Torero zu Pferd Cesar de la Fuente, ein charmanter Muttersohn aus Segovia, langweilt alle durch sein ungeschicktes Insistieren. Macareno de Colombia, vulgär und hektisch, zwinkert ohne Unterlass den faden rosafarbenen Blondinen auf den Rängen zu. Der junge César Pérez aus Barcelona skizziert vergeblich einige abgebrochene Gesten. Bei jeder Gelegenheit krachen aus den Lautsprechern zur Unhörbarkeit verzerrte Paso doble. Der Vorsitzende belohnt jeden Torero mit einem Ohr des Stieres. Die Touristen in Badehose schlucken alles, ohne mit der Wimper zu zucken. Alles wird beklatscht, auch das, was schiefgeht: wenn der Stier vor Pferd und picador flieht, wenn der alte banderillero in verblichener Tracht ins Leere zielt. Mario Ge­ lart, der Verantwortliche der Arena, wie auch derer von Figueras, Port Bacarès und Argelès-sur-Mer, kann nichts mehr erschüttern. Letzten Sonntag sind die Touristen von Figueras begeistert zurück zu ihrem Zeltplatz gegangen, weil ein

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Die Welt der Stiere

Stier lebendig aus der Arena gelockt wurde. Der Torero hatte es nicht geschafft, ihn zu töten, die größtmögliche Schande für einen Matador. Mario Gelart, dessen Großvater die Arena von Figueras errichtet und dessen Vater bereits Stierkämpfe am Strand organisiert hat, weiß genau, dass das Publikum von San Feliu gekommen ist, weil der Stierkampf zum Pflichtteil der Ferien in Spanien gehört wie eine Runde durch Pigalle bei den Stadtführungen in Paris. Er weiß ebenfalls, dass es unwahrscheinlicher ist, eine Gruppe echter aficionados in San Feliu zu treffen, als ein Edelweiß auf der Hafenpromenade zu pflücken. Der Tourist geht nicht zum Stierkampf, er geht zu einer Show. Und weil er die Show mag, setzt ihm Gelart unweigerlich heute in San Feliu, morgen in Figueras denselben Torero zu Pferd vor, weil ein Torero zu Pferd eher gefällt, und nur fünf statt der üblichen sechs Stiere einer Corrida, weil’s dann für ihn billiger wird. Ansonsten sind es echte Stierkämpfe, mit einem echten Reglement. Samstag wurden die beiden Lanzenreiter von César Pérez vom Vorsitzenden der Corrida mit einer Geldstrafe belegt, weil sie den Stier nach dem Trompetenstoß, der ihr Tun beendet, noch weiter mit ihren Lanzen traktierten. Draußen hat sich ein italienisches Pärchen für ein gemeinsames Foto auf sie gestürzt. Das Foto wird mies sein: Die picadores schmollten. Libération vom 6. 8. 1987

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Man braucht die Dichter und Philosophen Spaniens und Frankreichs nicht zum Thema Stierkampf „bemühen“. Er ist dort viel zu sehr Teil des Lebens, als dass man ihn links liegen lassen könnte. Welcher Intellektuelle möchte sich auf Dauer einer Sache entziehen, die Mythos, Ritual, Mathematik, Vergänglichkeit, Dauer, Handwerk, Kunst, Geld, Angst, Tier, Mensch, Leben und Tod so auf einen Punkt bringt und wie in einem Brennglas konzentriert? Sicher nicht Federico García Lorca.

Das brennende Blut des García Lorca Wie auch Lou Reed kam Patti Smith nach Huerta de San Vincente in Granada, um Federico García Lorca anlässlich seines hundertsten Geburtstags zu würdigen. Das geschah am 7. Juni. Patti Smith hat erklärt, sie wäre auf den „schönen, mutigen und frechen“ Lorca abgefahren, seit Freunde ihn ihr als Sechzehnjähriger nahegebracht hatten – gleichzeitig mit der Musik von John Coltrane. Damals gestand auch der Beat-Dichter Allen Ginsberg seine Bewunderung für den Dichter aus Granada. In Granada gab Patti Smith ein eher improvisiertes Recital, inspiriert von den Werken Federicos, die sie am meisten aufgewühlt hatten: Ein Dichter in New York und Theorie und Spiele des Duende, Letzteres eine Konferenz vom 20. Oktober 1933 in Buenos Aires, welche die Zuhörer jener Epoche dermaßen erregte, dass die Frauen ins Hotel kamen, um sich dem homosexuellen Lorca hinzugeben wie einem Matador. Patti Smith sagt, sie wäre vom duende fasziniert, sie spricht das Wort mit spanischem Akzent aus, übersetzt es mit „brennendem Blut“ oder „Blut, das singt“ und sieht darin ein „leidenschaftlicheres“ Konzept als die Soulmusik der alten Blues-Interpreten. Alle, die Rockstars eingeschlossen, haben Federicos Erinnerung gehuldigt; alle, nur nicht die Welt des Stierkampfs, mit Ausnahme einiger Randartikel in den einschlägigen Fachzeitungen. In diesem Jahr stand die Feria von Granada im Zeichen des hundertsten Todestages von Frascuelo. Es blieb nichts oder nur wenig für Lorca übrig, dem der Stierkampf einige schillernde Texte verdankt, einige prachtvolle dichterische

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Intuitionen und viel von seiner intellektuellen Weihe. Gemeinsam mit anderen seiner Generation erklärte Lorca den Stierkampf ab 1927 zum Höchsten des kulturellen Wirkens: „Der Stierkampf ist möglicherweise der poetische und vitale Reichtum Spaniens, auf unglaubliche Weise vergeudet durch Dichter und Künstler, aufgrund unserer falschen pädagogischen Erziehung. Ich glaube, dass der Stierkampf das kultivierteste Fest auf der ganzen Welt ist.“ Er sagt außerdem, dass im Ritual des Stierkampfs auf „öffentliche und feierliche“ Weise „der Sieg der höchsten menschlichen Werte über die niedrigen Instinkte, die Überlegenheit des Geistes über die Materie, der Intelligenz über den Instinkt, des lächelnden Helden über das schäumende Monstrum“ demonstriert wird. Später wird er ein Freund des Toreros Ignacio Sánchez-Mejías, dieses großen Zigarrenrauchers vor dem Herrn, ferner von Mataquintos und von José Amoros, einem Matador, der am Tag seiner alternativa, der Matadorenweihe, einen Stier aus Coquilla mit dem lorcaschen Beiklang Cara de Rosa, „Rosengesicht“, bekämpfte. Lorca liebte den Stierkampf mit der capa, in der er ein „Element des spanischen Barock“ sah, und bewunderte Belmonte „aus Neigung und aus Zuneigung“ heraus. „Es war notwendig, dass ein Belmonte erschien, gewandet in Grün, ekstatisch, voll der runden Emotion eines gespannten Bogens, um theoretisch das harte Licht von Sonne und Schatten verschwinden zu lassen ... Belmonte, erleuchteter Zeichner, Bändiger des kopflosen Rhythmus, gelingt es, bei Mondlicht zu kämpfen. Wenn er in die Arena tritt, bekommt die Corrida eine perfekte matte Farbe, die die Systole und Diastole der Fächer auslöscht ... Manche Zuschauer tragen Anzüge aus Sandpapier und die Ovationen, die aufsteigen, wenn der Sohn Trianas, das Kinn gegen die linke Brust gedrückt, sein Basrelief im Kreis dreht, rauschen mit der rasenden Melancholie von mächtigen Wasserstrahlen.“ Zwar schätzte Lorca den Stierkampf, war aber trotzdem weder ein wirklich treuer noch ein wirklich wissender Zuschauer, wie es scheint. Laut seiner Freundin, der Schriftstellerin Marcelle Auclair, war er sogar „ziemlich profan in Sachen Stierkampf “, ganz im Gegensatz zu Bergamín oder einem Rafael Alberti, der so weit ging, im Juni 1927 in Pontevedra als banderillero in der Truppe von Ignacio Sánchez-Mejías zu defilieren. Alberti hatte das orangeschwarze Kostüm der Trauer an, das Ignacio in der Arena seit dem Tod seines Schwagers Joselito zu tragen pflegte. Nach der Parade verzog sich Alberti

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hinter die Barriere. Er schrieb danach in La Futaie Perdu: „Ich begriff, welch astronomische Entfernungen einen Menschen, der vor einem Sonett brütet, von einem Menschen trennen, der aufrecht und verletzlich unter der Sonne auf das Erscheinen dieses Ozeans, dieses blinden und rastlosen Blitzes wartet: auf den aus dem Dunkeln tretenden Stier.“ Federico García Lorca hat den Stierkampf in seinen Konferenzen Theorie und Spiele des Duende und Licht und Schatten behandelt, in seinem Gedicht Sterbegesang für Ignacio Sánchez-Mejías und in seinen Dramen. In Mariana Pineda, uraufgeführt am 27. Juli 1927, beschreibt ein Protagonist einen Stierkampf in Ronda: „Er tötete fünf Stiere / Schwarze und grüne Bänder tragend. / An der Spitze seines Schwertes / Ließ er fünf geöffnete Blumen stehen / Und immer streifte er / Leicht, das Maul der Tiere / Wie ein großer Schmetterling aus Gold / Mit purpurroten Flügeln.“ Sein bekanntestes Werk zum Thema bleibt immer noch der Sterbegesang für Ignacio Sánchez-Mejías, anlässlich des Todes seines Torerofreundes, der am 11. August 1934 in Manzanares von einem Horn aufgespießt wurde. Federico kannte Sánchez-Mejías von den zwei Festabenden im Dezember 1927 im Ateneo von Sevilla, zu Ehren von Gongora veranstaltet und von dem Matador aus Sevilla bezahlt. Durch Lorca lernte Ignacio, verheiratet mit Lola, der Schwester von Joselito, Encarnatíon López „la Argentinita“ kennen. Sie war eine gute Sängerin und bessere Tänzerin, vormals Geliebte von Joselito. Lorca holte für sie alte Volkslieder wie El romance de los Mozos de Monléon oder El café de Chinitas aus der Versenkung und begleitete sie dazu am Klavier. Es ist ebenfalls der Vermittlung Lorcas zu verdanken, dass Ignacio Marcelle Auclair trifft und sich in sie verliebt, als diese 1934 Andalusien bereist. Federico hatte ihr eine Liste der wichtigen zu treffenden Persönlichkeiten zusammengestellt. Ganz oben stand der Torero Ignacio Sánchez-Mejías, vom Dichter als „der ultimative Andalusier“ qualifiziert. Es ist Federico, der später versucht, Ignacio von Marcelle fernzuhalten. Er fürchtet, das „la Argentinita“ beide umbringen wird. Am 11. August in Manzanares erledigt ein Ayala-Stier, in dessen Namen Granadino so etwas wie ein Lorca-Echo mitklingt, schon mal eine Hälfte dieses Programms. Lorca ist in Madrid. Bergamín in Manzanares informiert ihn von dem Unfall. Ignacio ist nicht sofort tot. Radionachrichten und Telefonanrufe halten Federico „Minute für Minute“ auf dem Laufenden

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über die Verwundung und die lange und schreckliche Agonie seines Freundes, der am 12. in aller Frühe in eine Klinik in Madrid überführt wird. Die Freunde besuchen ihn. Nicht so Federico. Der Tod macht ihm panische Angst. Ignacio stirbt am 13. morgens. Um 10 Uhr verkündet Lorca die Neuigkeit Jorge Guillén, der sich in Santander aufhält: „Es ist zu Ende, Ignacio ist um 9 Uhr 45 gestorben. Ich komme nach Santander, ich will ihn nicht sehen.“ Im September, in der madrilenischen Wohnung von Pablo Neruda, beginnt er mit dem Schreiben des Sterbegesangs, in den er echte Elemente des Dramas einbaut, die Bergamín ihm erzählt hat: die offenen Augen von Ignacio während des Hornstoßes, „Er schloss seine Augen nicht / Als er die Hörner fühlte“, und seine Krisen während der Agonie in Madrid, bei denen er an den Gittern seines Bettes rüttelte, bis es umstürzte: „Ein Sarg auf Rädern dient als Bett / Um fünf Uhr nachmittags“. Er gesteht im Gedicht auch seine Weigerung, den Sterbenden zu besuchen: „Zwingt mich nicht, ihn zu sehen. / Ich will den Strahl nicht fühlen, erhellend / Die unteren Ränge und zusammenfallend / Auf den Samt und das Leder / einer verdurstenden Menge. / Ihr schreit, ich soll mich da­ rüber neigen! / Zwingt mich nicht, ihn zu sehen!“ Federico hat den Tod Ignacios vorausgeahnt, weil sein eigener sich darin spiegelte. Er vertraut sich Marcelle Auclair an: „Alles war Schicksal, unausweichlich und ohne Widerruf. Ich habe das alles geahnt in dem Augenblick, wo Ignacio mir seine Entscheidung angekündigt hat, den Stierkampf wieder aufzunehmen ... Der Tod Ignacios ist mein Tod. Das Lehrstück meines eigenen Todes. Ich fühle einen erstaunlichen Frieden. Vielleicht, weil ich gefühlsmäßig vorgewarnt worden bin.“ Lorca wird fast auf den Tag genau zwei Jahre später, am 18. August, im Morgengrauen, am Fuß der Sierra d’Alfacar in der Nähe von Granada von Frankisten ermordet, in Begleitung eines Lehrers und zwei anarchistischer banderilleros aus Albaicín, Joaquim Cabeezas und Francisco Galadi. Genau ein Jahr später, am 18. August 1937, stirbt sein Liebhaber Rafael Rodriguez Rapun an den Folgen eines Bombenangriffes. Er hatte sich nach einem Lehrgang als Kanonier in Lorca bei Murcia bei den Republikanern engagiert. „Alle Künste und wahrscheinlich alle Länder sind für den ‚duende‘ empfänglich, aber Spanien ist ohne Unterlass vom duende bewegt, als das Land der Musik und der tausendjährigen Tänze, wo der duende die Zitronen im Morgengrauen presst, und als das Land des Todes, das ihn mit offenen Armen empfängt.“ Libération vom 31. 10. 1998

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Stieren begegnet man in Spanien häufiger. Nicht nur auf der Weide. Sie verzieren Teller, Aschenbecher, T-Shirts, sie schauen von vergilbten Fotos an den Kneipenwänden, sie kämpfen auf billigen Drucken im Wartesaal des Zahnarztes und auf den Stichen von Goya im Museum, sie tummeln sich in den einschlägigen Revuen und auf den Gesellschaftsseiten der Tageszeitungen. Egal, ob aus Papier, Holz, Bronze, als Sticker an der Jacke oder als Luftballon im Park: Dem aficionado schlägt bei ihrem Anblick das Herz schneller. So sehr liebt er die Stiere. Er liebt sie ohne Vorbehalt. Er liebt die Idee des Stieres an sich.

Der Osborne-Stier, nationales Totem Für die Matadore ist er el toro de la carretera. Der Stier der Landstraße. Bei den Auslosungen der Stiere vor der Corrida haben sie Angst, an ihn zu geraten, an den Riesenstier, den Stier von Osborne, dessen eiserner Scherenschnitt die spanische Landschaft prägt. Die 50 Tonnen, 12,5 Meter Höhe, Tausende von Schrauben und 70 Platten der Osborne-Stiere stehen seit diesem Frühling dank eines Dekrets der andalusischen Regierung unter Denkmalsschutz und sind in den Generalkatalog des andalusischen Geschichtserbes aufgenommen worden. Die Kulturberaterin der Junta de Andalucia, Carmen Calvo, sieht in diesem Stier „eine zufällige und geniale Erfindung, vermittels derer sich unsere Identität in der alles einebnenden Katastrophe der Massenkultur unserer Zeit einen Weg ans Licht bahnt“. Der Dichter José Bergamín hatte nicht auf Erlässe und offizielle Stempel gewartet, um in rollenden Alliterationen das schwarze Fragezeichen des „tenebroso toro Osborne“ zu feiern, das uns „überfällt wie ein Vorwurf “. Laut Bergamín „denkt der Stier nicht, er gibt zu denken“. Seine unerwarteten Erscheinungen in den katalanischen Weinbergen von El Bruch, auf der kleinen Insel San Luis vor Cádiz, über den kargen Dünen von Alfajarín in der Nähe von Saragossa, in Torrelondones bei Madrid, auf den galizischen Granitbändern von Betanzos, inmitten der morgenländischen Kakteen von Monforte del

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Cid oder in den Rübenfeldern von Cuesta del Espino bei Córdoba lassen vor allem denken, dass dieser Stier negro, zaino, abrochado, enmorillado (schwarz, einfarbig, mit eng stehenden Hörnern, mit muskulösem Nacken) über die Wüste, die Steine, die Pflanzen, die Erde, das Meer, das Fruchtbare und das Brachliegende, die Sonne, den Nieselregen, den Tag und die Nacht eines ewigen Spanien regiert. Dieser freie Stier, einsam und tapfer und melancholisch, der 1972 die Titelseite des New York Times Magazine schmückte, ist ein Kind des Windes. Das Stammhaus Osborne (Weine, Schnaps, Liköre und Kampfstiere) in Puerto de Santa María warb für seinen Brandy Veterano auf langen Holztafeln, die der Levante, der durch die Bucht von Cádiz bis Alicante fegt, regelmäßig zerlegte, um mit den Buchstaben Scrabbel zu spielen. Don Antonio Osborne y Vásquez, Don Enrique und Don Rafael Osborne McPherson beauftragten daraufhin die madrilenische Agentur Azor, eine solidere Reklame zu entwerfen, die den Fortbestand ihrer Produkte besser verkörpern könne. Manuel Prieto, Zeichner der Agentur und in Puerto de Santa María geboren, kritzelte auf Kästchenpapier den Osborne-Stier, im bergamínschen Sinne „negro y enorme“. 1957 wird der erste toro de carreterra in Cabanillas de la Sierra bei Kilometer 55 zwischen Madrid und Burgos aufgebaut. Die sechzehn folgenden Eisenstiere werden von den Brüdern Tejeda aus Andalusien geschmiedet. Mehr als fünfhundert Stiere werden zwischen 1962 und 1964 auf der Trommelhaut Spaniens errichtet. Vincente Alberti, der Bruder des Dichters, aber vor allem José Antonio Osborne, der Werbeleiter José Luis Gomez und Felix Tejeda begutachten und vermessen das gesamte nationale Gebiet, um die strategischen Standorte zu bestimmen. José Luis Gomez reist, begleitet von seiner Schreibmaschine, um die Pachtverträge mit den Bürgermeistern und Landbesitzern aufzusetzen, nachdem ein hochheiliger Platz gefunden wurde. Francisco Cano Lasso, Landbesitzer in Honrubia bei Cuenca, ist bereit, sein Gelände umsonst zur Verfügung zu stellen, dermaßen verschönere die Silhouette des Stieres die Landschaft. An anderem Ort verlangt die Ordensmutter einer Religionsschule für junge Mädchen als Einziges, dass die zwei riesigen Hoden der Bestie abmontiert werden. Ganz im Gegensatz zu den Einwohnern von Llanes, die sich bei der Firma Osborne beklagen, das die eisernen huevos „ihres“ Stieres gestohlen worden sind, und dringend Ersatz fordern. Osborne schickt ihnen ein

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Dutzend Klöten und als Zugabe einige Flaschen Wein. In Riera in der Nähe von Tarragone versöhnt die Errichtung des Stieres zwei Anrainer, die seit einem Vierteljahrhundert in einem Grenzstreit wegen eines Feldes voller Nussbäume liegen. Der Stier von El Cuadrejon zwischen Sevilla und Cádiz dient den Piloten, die in Jerez landen wollen, als Landmarke: „Wenn du den Osborne-Stier siehst, geh auf 400 Fuß und beginne mit der Landung.“ Die manische Wiederholung des Veterano Osborne in der spanischen Landschaft hat einige erstaunte Touristen fragen lassen, wer dieser „Veterinär“ Osborne sei, der seine Dienste von Navarra bis Andalusien, von den Orangenhainen von Valencia bis zu den Steppen der Extremadura anbietet. Im Jahr 1977 nimmt der spanische Staat, bewaffnet mit der muleta der Straßenplanung und dem Degen der Verkehrssicherheit, den Stier bei den Hörnern und verbietet jegliche Werbung am Straßenrand. Im Jahr darauf muss Osborne seinen Namen und jede Anspielung auf seine Produkte von den 97 Stieren entfernen, die das Massaker überlebt haben. Und auch diese versucht ein neues Gesetz von José Borrell im September 1994 unter dem Vorwand einer einheitlichen europäischen Regelung zum Schlachthof zu schicken. Die darauf folgende Polemik und die Kampagne für ein indulto (die Begnadigung des Stieres in der Arena), angeführt von dem Verein Espagña Abierta mit der Unterstützung einer Vielzahl von Intellektuellen, rettet die eiserne Zucht. In einem politischen Wunder verbündet sich die spanische sozialistische Partei mit ihrem Feind von rechts, der Partido Popular, um den Stier zu bewahren, der über die Jahre Denkmal, Identität, Mythologie und noch ein Haufen anderer Sachen geworden ist und den Paula Antonelli, Leiterin der Sammlung für Design des Museum of Modern Art New York, als ein gelungenes Beispiel naiver Werbekunst vorführt. Der Kultursprecher der Partido Socialista Obrero Espagñol preist die „eindeutigen kulturellen Werte, die das Bild dieses Stieres prägen“, diesen blinden Zeugen der Straßenränder, diese stumme Wache über die spanischen „Horizonte der Köter“, wie García Lorca zu sagen pflegte. 1972, zum zweihundertsten Geburtstag der Firma, beginnt Graf Osborne seine Rede mit einer Huldigung an den Stierkampf als ein „Zeugnis der tragischen Seele des spanischen Volkes“ und endet mit einem Eigenlob seiner eisernen Stiere als Repräsentanten „des Lebens, der Unabhängigkeit, der Tapferkeit, der Sonne im Zenit, der Felder, nur vom Horizont begrenzt“.

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Ohne je seinen Betonsockel zu verlassen, wandert der starre, unbedarfte, gleichzeitig friedliche und bedrohliche Stier von Osborne auch durch die Fantasie eines Künstlers wie Keith Haring, der ihn mit Graffitis ausgefüllt hat, oder durch die Libido der spanischen Gesellschaft. Der Regisseur Bigas Luna macht daraus 1992 den für alles verantwortlichen Gott seines Filmes Jamón, jamón. 1973 wird ein Werbespot im Radio verboten, dessen Text als zu erotisch empfunden wird: „Anda ya, toro arrogante / A donde espera tu hembra / Tienes los ojos brillantes / En esta noche de siembra / Veterano: el toro.“ „Geh jetzt, arroganter Stier / Dorthin, wo das Weibchen wartet / Deine Augen glänzen / in dieser Nacht des Samens / Veterano: der Stier.“ Der Stier (niemand sagt mehr Osborne-Stier: ein Pleonasmus), jetzt jeder grafischen Reklame ledig, ist eine schwarze leere Seite, auf der sich Liebe, Begierde und Wut ausdrücken, in persönlichen Mitteilungen, Erklärungen, Protesten und Bekenntnissen. Er wird beschriftet; auf seinen Vorderbeinen steht, dass José Soledad liebt, auf seinen Hinterbeinen, dass Manuel gerne Dolorès sodomisieren möchte. Auf die hartnäckige Schwärze des Toro Bravo plakatiert, konnte man lesen: „Die Feigheit Europas ist schuld am Tod der Bosnier.“ Diese Anschuldigung klang wie ein Echo auf die poetische bergamínsche Beschreibung des Stieres „mit kristallener Seele“, diesen Träger dunkler Vorwürfe, der den Reisenden befragt, ohne je ein Wort zu sagen: „Ese toro que se queda / Parado en medio del ruedo / Me esta diciendio que yo / Deberia seguir su ejemplo.“ „Dieser Stier, trotzig verharrend inmitten des Rundes, sagt mir, ich soll seinem Beispiel folgen.“ Libération vom 21. 6. 1997

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Der Stierkampf hat nicht nur seinen eigenen Jargon, er hat eine eigene Sprache und in dieser Sprache Worte, die schwierig zu verstehen sind, weil sie komplizierte und philosophische Sachverhalte wiedergeben. Die Unterhaltungen der aficionados sind nicht deshalb so hermetisch, weil da eigenbrötlerische Sektierer reden, sondern weil sie eine ganze Welt beschreiben, die Welt der Stiere, die wie jede Welt alles sagt.

Die Wächter des temple Der temple (mit Betonung auf dem letzten „e“), dieser Stein der Weisen des Stierkampfs, wurde vor neunzig Jahren entdeckt. Laut dem Journalisten Santi Ortiz von 6 toros 6 ist er am 25. August 1912 in Sevilla geboren worden, in der Maestranza, als der allseitig verblüffende Matador Belmonte in nie gesehener Weise den novillo Guitarrito des Marquis de Tovar bekämpfte. Die novillada war von der Religionsbrüderschaft der O organisiert worden und es ist sicher nicht unbedeutend, dass die hehre Erscheinung des temple unter dem doppelten Zeichen der Religion und der im Namen des Stieres mitklingenden Musik stattfand. Der sibyllinische Begriff des temple würde eine lange phänomenologische Studie rechtfertigen, da das Wort und die Sache, die es bezeichnet, sowohl im Stierkampf wie anderswo bei allen möglichen Gelegenheiten angewandt wird. Historisch gesehen existiert das Wort in keinem Wörterbuch des Stierkampfes vor Belmonte, auch wenn der Vater von Martial Lalanda behauptet, er hätte Ende des 19. Jahrhunderts den Matador Guerra aus Córdoba Stiere „templieren“ gesehen. Kurz gesagt heißt templar, seine capa und seine muleta der Geschwindigkeit eines jeden Stieres – und „jeder Stier ist eine Welt“, wie Ordóñez sagte – anzupassen, was bedeutet, nach und nach durch das Wunder des temple seine Wildheit zu besänftigen und in eine Art Einverständnis zu verwandeln; auf gemeinsamen Wunsch hin auch in mehr. Um im Register der Musik zu bleiben, könnte man sagen, dass jeder im temple sein Tempo auf das

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des anderen einstimmt, bis hin zur Verlangsamung des pase oder der bloßen Illusion davon: ein bis heute ungelöstes Problem. Das Vermögen des temple, die Kanten zu glätten: Vielleicht sind die Kellnerburschen den Realitäten des Stierkampfes näher, wenn sie einen café templaíto servieren, keinen Milchkaffee, sondern einen, dessen Bitterkeit subtil gebrochen worden ist durch einen feinen Schuss Milch. Der Vergleich mit Milch ist nicht schlecht. Das Heraufbeschwören einer „templierten“ faena hat merkwürdigerweise etwas mit Milch zu tun. Es sind faenas, die den Eindruck vermitteln, etwas Flüssiges würde laufen, etwas Glattes und Dichtes, das jeder Matador seiner Persönlichkeit entsprechend ausgießt – falls er Persönlichkeit besitzt. Der temple von Antoñete, dem Matador mit den Glasknochen, hatte etwas von zerbrechlichem Kristall. Im temple von El Cordobés konnte man eine wütende Dominanz entdecken, als gälte es, eine Revanche zu bekommen. Der temple von Ordóñez war sinnlich, voller Kraft und wirklich milchig. Der von Ponce ist computerisiert. Der von Tomás blass wie H-Milch. Und der temple von Curro Romero? Eine Wolkenarchitektur. Der von Paula: eine weiche Wunde. Der temple ist keine Technik, sondern ein Verschmelzen, eine Gegenseitigkeit, eine Beugung des Unbeugbaren, die es ermöglicht, einen Elefanten an einem einzigen Haar zu führen. Die Magie dieser merkwürdigen Gabe, die dem pase Gefühl gibt und der konfliktuellen Beziehung zum Stier ein Klangmuster, hat Belmonte eines Tages in der Schweiz erlebt. Er ist in Davos. Er geht spazieren, seine Tochter Blanca an der Hand. Plötzlich sieht er in der Ferne einen seiner Freunde, den Peruaner Rabino, der vor einem Bus Schlange steht. Blanca drängt zur Eile, um Rabino einzuholen. Die Straße ist voller Menschen. Belmonte stoppt ab und rezitiert im Stillen: „Rabino, bleib stehen, bleib stehen.“ Rabino ist an der Tür, überlegt es sich anders, lässt den Bus abfahren. Belmonte und Blanca holen ihn ein. Später sagt er: „Es war, als zöge mich eine unwiderstehliche Kraft nach hinten, die mich hinderte einzusteigen.“ Belmonte verriet eines Tages, dass ihn diese „hypnotische Kraft“ durchaus ängstigte. Sie hatte ihren Ursprung in dem temple, den er in den Nächten in der Nähe von Sevilla entdeckt hatte, als er heimlich Stiere auf der Weide bekämpfte und mit ihnen kostbare Momente der Harmonie erlebte, gewachsen aus der Kälte, der Angst, dem Schlamm. Belmonte weigerte sich, die Essenz des temple

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durch eine Technik zu erklären. Dem peruanischen Stierkampfexperten Abraham Valdelomar sagte er: „Ich habe keine Meinung zu den technischen Problemen des Stierkampfes, über die Sie schreiben, weil ich, wie Sie wissen, keine Ahnung davon habe.“ Belmonte glaubte nicht, dass der temple eine Anpassung an die Geschwindigkeit des Stieres sei. Er fand, dass im temple der Mann sich gegen den Stier durchsetzt und nicht umgekehrt, und behauptete, in inspirierten Augenblicken schnelle Stiere langsam „getempelt“ zu haben. Aber da es ihm nicht auf einen Widerspruch mehr oder weniger ankam, sagte er auch, dass er mit dem „Templieren“ angefangen habe in dem Jahr, als die Stiere Maul- und Klauenseuche hatten. Ein Fieber, das ihre Hufen angreift und ihren Galopp verlangsamt. Jemand wie Paco Camino stellt den Stier an den Anfang des Austausches. Er meint, dass der Stier den temple vorschreibt: „Wenn der Stier langsam angreift, musst du ihn langsam leiten. Wenn er sprunghaft angreift, wird dein toreo sprunghaft sein. Ich habe noch keinen gesehen, der vor einem wild mit dem Kopf stoßenden Stier die capa ausbreitet und ihn langsam vorbeiziehen lässt.“ Rafael de Paula hingegen hat. Er hat Antonio Ordóñez mit der capa die wildesten Stiere „templieren“ gesehen. Aber er führt aus, dass man langsam kämpfen kann und trotzdem kein temple haben muss. Für Paula ist der temple ein „Geheimnis“, das als Erstes der Stier besitzt. „Das Geheimnis, das wir temple nennen, ermöglicht, sich dem Rhythmus anzugleichen, den der Stier vorgibt.“ Die Matadore sind generell einverstanden. Der temple ist keine Wissenschaft und der Stierkampf „keine Sache der Geometrie“, wie der so sehr „wissenschaftliche“ Matador Luis Miguel Dominguín erklärte. Er selbst definierte den temple als eine „Qualität“, ein eher vager Begriff, der aber gut die Unschärfe eines sich jeder Analyse widersetzenden Phänomens ausdrückt. Damázo Gonzáles war in den Siebzigerjahren der Papst des temple. Und er fand – wie schon der Prinz de Ligne und viele andere auch –, dass „die Arbeit die Selbstverständlichkeit tötet und die Freiheit beleidigt“. Der solide temple dieses Schnitters unbarmherziger Stiere kommt nicht aus der Erfahrung von Hunderten von Stierkämpfen oder aus den tausendfach wiederholten Gesten des Übens vor dem Spiegel. Er war noch Anfänger, als er sich seiner Gabe, Stiere ohne ruckartige Bewegungen zu leiten und ihre Brutalität zu glätten, bewusst wurde. Nach mehr als zwanzig Jahren Karriere blieb der längste und

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langsamste pase, den er je gegeben hatte, in seiner Erinnerung derjenige in einem kleinen Dorf, ganz am Anfang. „Ich hatte keinerlei Erfahrung. Daraus habe ich geschlossen, dass der temple etwas war, das ich in mir hatte, in meinen Handgelenken, in meinen Händen. Etwas, mit dem ich geboren worden bin.“ Nichts anderes schreibt der Dichter José Bergamín in La música callada del toreo („Die schweigsame Musik des Stierkampfes“): „Ich glaube, dass die Kunst des Stierkampfes wie jede Kunst (wenn sie lebendig, schöpferisch oder, wie man einst sagte, frei ist) keine Technik kennt.“ Laut Curro Romero ist der temple „ein Ruhepunkt“, „ein innerer Ruhezustand“. „An Tagen, wo ich kämpfe, versuche ich, meinen eigenen temple zu finden, sobald ich aufwache.“ Es ist seine Art, den Stier seiner Ängste zu bekämpfen, und er behauptet, dass ihn jedenfalls niemand dabei ertappt hat, hundertmal seinen Kammerdiener nach der Größe der Stiere zu fragen oder wie ein Löwe im Käfig Runden durch sein Zimmer zu drehen. Er „templiert“ sich selbst dermaßen, dass er manchmal selig in seinem Hotel einschläft, bis ihn sein Kammerdiener Gonzalito durch leises Pochen an der Tür aufweckt: „Maestro, es ist so weit.“ Er bestellt daraufhin „einen Kaffee, oder besser noch, einen Cognac“, als ginge er bloß zu einem Kartenspiel. Er versucht, diesen Zustand der geistigen Schwerelosigkeit so lange wie möglich aufrechtzuerhalten, weil „lo que queda es terrible“: Was es noch zu tun gilt, ist schrecklich. Libération vom 19. 9. 2002

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Die Tradition des Stierkampfes ist älter als die Erfindung des Computers, des Fernsehens, der Atombombe, des Autos, der Eisenbahn, der Elektrizität, des Penicillins, der industriellen und der Französischen Revolution. Sie begann zu einer Zeit, als Newton starb, der Marquis de Sade geboren wurde, Bach seine letzten Fugen komponierte, Goya Windeln trug, Voltaire die Aufklärung und Rousseau die Romantik einleiteten, Friedrich der Große auf den Thron stieg, Diderot seine Encyclopédie schrieb und New York 7000 Einwohner hatte.

Pedro Romero und die Tafeln des Gesetzes Toreros in Kostümen von Goya waren eine Idee von Antoinio Ordóñez. Am Samstag in Ronda wurde mit der fünfzigsten Corrida Goyesca der 250. Geburtstag des legendären Pedro Romero gefeiert. Der Sohn von Manzanares bekam als Belohnung für einen besonders beeindruckenden Kampf zwei Ohren seiner Stiere, El Fandi und Rivera-Ordóñez, letzterer heute verantwortlich für die Familientradition, je eins. Keiner der drei hat seinen Stier a recibir (der Torero steht mit gehobenem Degen still und lässt den Stier auf sich zukommen) getötet, wie es der „Koloss des Stierkampfes“ gefordert hat. Die Corrida Goyesca von Ronda ist ein glanzvolles und sympathisches Ereignis. Die Stiere sind bequem, die Ohren schneiden sich vom Sofa aus und die Toreros werden angehalten, ihr übliches Gehalt zu senken, um sich im Haus der Dynastie Ordóñez profilieren zu dürfen. Denn die Arena von Ronda, die älteste Rundarena Spaniens, hat nur 6000 Plätze. Der Jetset aus Marbella und die aficionados treffen sich dort im Duft von Kölnischwasser, in den verschiedensten Stadien der Bräune und in ihrer Schöntuerei, unter dem Vorwand, Pedro Romero, den „Vater des Stierkampfes“ zu ehren. Die Frage stellt sich: der Vater wovon? Pedro Romero hat die muleta nicht erfunden, diese wurde zum ersten Mal von seinem Großvater Francisco benutzt, der als erster Torero zu Fuß und nicht zu Pferde gilt. Er hat den pase der veronica nicht eingeführt, der eher eine Kreation seines Rivalen Joaquín Rodríguez „Costillares“ ist. Und die

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moderne Form des Stierkampfes geht auf das Konto von Paquiro, dem „Napoleon der Toreros“. Trotzdem: Pedro Romero, der Archetyp des Toreros als Held der Kompromisslosigkeit, ist der Vater des Stierkampfes als eine streng geregelte Übung. Solchermaßen hat er sie als Protokollführer seiner eigenen Praxis in seinen Briefen festgelegt. Briefe, die mehr von einem Kassenbuch haben als von einem Abenteuerroman. Man erfährt zum Beispiel aus seinen Zeilen, dass er in der Saison 1776 258 Stiere getötet, 92.705 Real kassiert und 514 Meilen, ungefähr 2800 Kilometer, zurückgelegt hat. 1799, 45 Jahre alt und nach 28 Jahren genau zusammengerechneten Heroismus, setzt er sich zur Ruhe, auf Anraten seines Freundes, dem Mönch Fray Diego José de Cádiz. Er hat bis dahin, a recibir, 5400 Stiere getötet. All das ohne eine Hornwunde, ganz im Gegensatz zu seinem Rivalen und Freund Pepe Hillo, sein exakter Zeitgenosse, ebenfalls 1754 geboren. Letzterer bekam 25 schwere Hornstöße, den letzten, tödlich, vom Stier Barbudo in Madrid am 11. Mai 1801. Der Torero José Romero, Bruder von Pedro, hat die Beerdigung bezahlt. Die Rivalität zwischen Pedro Romero und Pepe Hillo entstand 1778 während eines Stierkampfes in Cádiz. Pedro Romero notiert, dass Pepe Hillo Messen hat beten lassen, damit an jenem Tag der Regen aufhöre und die Sonne scheine. Pepe Hillo beginnt mit dem ersten Stier, und um „la gente guapa“, den feinen Leuten (dixit Romero), zu gefallen, wirft er die muleta hin und tötet den Stier, indem er dessen Hörner mit seinem Hut aus Biberfell zur Seite leitet. Pedro Romero lässt sich nicht lumpen. Er schmeißt ebenfalls seine muleta in den Sand, reißt sein Haarnetz ab, nimmt den Kamm, „zwei Finger breit“, der seine Frisur hält, lockt den Stier damit und tötet ihn mit dem ersten Degenstich. Seitdem teilt sich das Publikum in Anhänger des einen oder des anderen, wie es noch heute beim modernen Stierkampf üblich ist. Aufseiten von Pepe Hillo der Großteil des Publikums, aufseiten von Pedro Romero eine Minderheit von anspruchsvolleren aficionados. Ihr gegensätzlicher Stil und ihre unterschiedlichen Charaktere machen deutlich, was seit jeher die Kunst des Stierkampfes auf höchstem Niveau ausmacht: die Emanation einer Persönlichkeit und manchmal der „geologische“ Einfluss einer Landschaft. Pedro Romero, geboren am Rand der schwindelerregenden Schlucht von Ronda, vollführt ein toreo der Felswände. Es ist abrupt, hart wie Stein, präzise und ohne Verzierungen. Pepe Hillo, Sohn Sevillas und

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des tiefen Andalusiens, hat laut Néstor Luján einen „vielfarbigen, fließenden, spontanen, gleichzeitig beeindruckenden und blendenden“ Stil. Pedro kämpft wie ein Kiesel, Pepe wie Wasser. Pedro ist ein steifer und strenger Mann, überschattet vom Tod seiner beiden Torerobrüder. Er heiratet in Ronda Maria Pinzón, zeugt Kinder, ruht sich von den Kämpfen im Kreis der Familie aus, ist mit Goya befreundet. Die Herzogin von Alba macht ihm schöne Augen. Moratín feiert ihn mit einer gelehrten Ode. Pepe ist eitel, schwatzhaft, ausschweifend. Er sucht den Beifall und das Volk liebt ihn wie einen ihrer Helden. Er wird zu Hochzeiten und Taufen eingeladen. Er schläft mit allen Frauen, ob Herzoginnen oder Wäscherinnen. Goya mag ihn nicht. Sein Tod 1801 ist Anlass zum Komponieren volkstümlicher Liebeslieder. Ihre Dualität trägt den Keim einer Rivalität in sich, die noch heute bei den Toreros gang und gäbe ist. Bei den Gehältern will keiner hinten anstehen. Im Mai 1785, bei der Einweihung der Arena von Ronda, bekommt Pedro Romero 3000, Pepe Hillo 3244 Real. Die 244 sind für seine Reiseunkosten. Es wird gestichelt. In Madrid, 1789, fordern Pepe Hillo und Costillares vom Stadtverwalter das Verbot von Corridas mit Stieren aus Kastilien, die aggressiver seien als die Stiere Andalusiens. Pedro Romero verachtet die Bittsteller: „Solange es Stiere sind, die auf einer Weide gegrast haben, habe ich die Pflicht, sie zu töten.“ Schon als junger Mann stellt Pedro Romero seine Qualitäten nicht unter den Scheffel. Mit 22, frisch zum Matador geweiht, verlangt er, dass sein Name auf den Plakaten ebenso groß gedruckt werde wie der von Costillares, seit vierzehn Jahren im Geschäft. Er ist Torero und alles muss sich ihm beugen. 1780 lässt er sich vom Präsidenten des Rats von Kastilien einen Passierschein für sich, seine Frau und seine cuadrilla ausstellen, der von den Behörden fordert, „seinen Reisen kein wie auch immer geartetes Hindernis entgegenzustellen, ihn im Notfall zu helfen, ihn mit Lebensmitteln zu versorgen und ihn regelmäßig zu bezahlen“. Man kennt nur eine Kleingeisterei: Mit 76 Jahren schreibt er einen Brief an Fernando VII., um zum Direktor der Stierkampfschule von Sevilla ernannt zu werden. Darin lässt er den König glauben, er nage am Hungertuch und lebe von einer mageren Rente von neun Real pro Tag. In Wahrheit ist er Besitzer von zwei Höfen, zwei Olivenhainen, einem Weinberg und elf Häusern, die er in Ronda vermietet. Er bekommt die Stelle und lehrt nach seinen strengen und berühmten Gesetzen, die Orson Welles auswendig aufsagen konnte:

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„Erstens, ein Feigling ist kein Mann und für den Stierkampf braucht es ganze Männer. Zweitens, die Angst verwundet mehr als die Stiere. Drittens, der Matador muss vollkommen ruhig vor den Stier treten und seine Ehre besteht darin, niemals vor ihm zu flüchten, solange er muleta und Degen in der Hand hält. Viertens, der Matador darf niemals nach dem Treffen mit dem Stier über die Brüstung springen, weil dies eine schändliche Sache ist. Fünftens, er darf nicht auf seine Füße zählen, sondern auf seine Hände, und in der Arena, angesichts des Stieres, muss er töten oder sterben, statt wegzulaufen oder Angst zu zeigen.“ Am 21. Mai 1820 stirbt der Sevillaner Curro Guillén wegen dieser eisernen Prinzipien. Er kämpft in Ronda, wo man seit Pedro Romero die Stiere nur a recibir tötet. Ein Zuschauer hält ihn dazu an: „Señor Curro, sind Sie nicht der König der Toreros? Also würde ich Sie höflich bitten, diesen kleinen Stier a recibir zu töten.“ Es kostet den Torero das Leben. Er wird mit einem Kruzifix auf der Brust unter dem Pistensand beerdigt. Von Pedro Romero geheiligt, hat die Arena von Ronda ein anderes Opfer auf dem Gewissen: Madonna. 1994 will sie dort einen Clip drehen. Empörte Weigerung der Besitzerfamilien. Mit 77 Jahren feiert Pedro Romero ein Comeback in Madrid, um zwei Stiere vor dem König und der Königin zu bekämpfen, „nach eben den Prinzipien, die er selbst empfohlen hat“, wie García de Bedoya schreibt. Die Königin, der er einen Stier widmet, fragt ihn, was er als Geschenk möchte. Antwort: „Ein seidenes Kleid, um es meiner Königin zu überreichen, der Heiligen Jungfrau des Friedens von Ronda, der ich treu bin und zu dessen Bruderschaft ich gehöre.“ Pedro Romero stirbt im Februar 1839, mit 85 Jahren, an Typhusfieber. Libération vom 9. 9. 2004

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Der Stierkampf, eine Sache für nostalgische alte Herren, die an ihren fetten Zigarren saugen, ihre Frauen prügeln und ein Porträt des Caudillo im Schlafzimmer hängen haben ... ein eingängiges Klischee. Auf den Bänken der Arenen sitzt seit jeher ein kompletter Querschnitt durch die Bevölkerung, Jung und Alt, Männer und Frauen, Linke und Rechte, Böse und Gute. Das ist beim Fußball oder Tennis nicht anders, und dem Stier ist es eh egal. Der dümmste Vorwurf, der dem Stierkampf gemacht wird: Er sei politisch rechts, weil dort gequält wird. Diese billige Formel müsste zumindest der konservativen Hälfte aller Nationen spanisch vorkommen.

Unter rotem Tuch Seit sein Vater, Republikaner, im Mai 1940 von den Frankisten hingerichtet wurde, hat der Torero Antoñete nie eine marineblaue Tracht in der Arena tragen wollen: Es war die Farbe der Falangisten, der faschistischen Truppe Francos. Antoñete war Francogegner, wie Gregorio Sánchez oder Manolo Gonzáles, der sich regelmäßig geweigert hat, vor dem Generalissimus zu kämpfen. Soll man es der schieren Unwissenheit oder einer grotesken Verleumdung zuschreiben, wenn der Präsident des „Komitees entschlossener Stierkampfgegner“ („Comité résolument Anticorrida“) in der Corrida „einen Faschismus in Reinform“ sieht und behauptet, sie sei „vom republikanischen Spanien verboten, von Franco wieder eingeführt worden“? Spanien, April 1931. Die Frente Popular gewinnt die Wahlen. Die Republik wird ausgerufen. Um das Ereignis zu feiern, organisiert der sozialistische Bürgermeister Madrids am 17. Juni eine Corrida. Ihr Vorsitzer ist Alcalá Zamora, der zukünftige Präsident der Republik. Adrian Shubert, Professor der Universität von York (Kanada), verweist auf die Kundgebungen zum ersten Geburtstag der Republik im April 1932 in Valencia: Verteilung von Exemplaren der Konstitution, Schönheitswettbewerb und ... Stierkämpfe. In der Republik wird der Stierkampf zu einer sozialen Angelegenheit. Die Innung der Schuhmacher,

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der Hutmacher und der Taxifahrer organisieren novilladas ohne picador, der Erlös vieler Veranstaltungen wird gemeinnützigen Zwecken gespendet. 1934 in Madrid schneidet Belmonte den Schwanz eines Stieres von Carmen de Frederico während einer Corrida zugunsten der Arbeitslosen. 1935 ist ein wichtiges Jahr in der Geschichte des Stierkampfes, dank Lalanda, La Cerna, Manolo Bienvenida, Cagancho ... 18. Juli 1936. Staatsstreich Francos. Die Toreros spalten sich auf, den geografischen Gegebenheiten folgend. Die Torero-Gewerkschaft mit Sitz in Madrid bleibt der rechtlich gewählten Republik treu. Die Toreros Andalusiens, das von den Frankisten kontrolliert wird, schließen sich Letzteren an, nachdem diese ein erstes Verbot der Stierkämpfe am 11. Oktober wieder aufheben. Laut dem Historiker Bartolomé Bennassar werden von Juli 1936 bis Saisonende 20 Corridas und 17 Stierfestivals auf der Seite der Republikaner organisiert, gegen 11 im nationalistischen Lager. Da die Truppen Francos von Anfang an die wichtigen Züchtungsgebiete besetzt halten (Andalusien, Salamanca), kehrt sich die Tendenz schließlich um: Im Juli 1937 suspendiert die angeschlagene Republik, deren Regierung sich nach Valencia geflüchtet hat, den Stierkampf. Es gibt keine Stiere mehr, die regierungstreuen Toreros sind im Exil in Mexiko oder Frankreich und die Arenen dienen als Gemüsegärten oder Munitionsdepots. Ihre hölzernen Barrieren werden als Heizmaterial verbrannt. Silvino Zafon „Niño de la Estrella“ („Sternenkind“) ist der letzte Torero, der am 16. Mai in Barcelona eine republikanische Weihe empfängt. Er wandert später nach Frankreich aus und stirbt im März 1963 in Orange bei einem Unfall mit seinem Moped. Während des Bürgerkrieges, je nach Ort, paradieren die Toreros entweder mit ausgestrecktem Arm, die Franco-Hymne Cara al Sol singend, oder mit gereckter Faust und die Internationale oder die Marseillaise auf den Lippen. Am 13. August 1939 in Madrid widmen Mariano García, Paco Gondin und Antonio de la Torre ihre Jungstiere der „Pasionara“ Dolorès Ibárruri. Am 6. September in Valencia kämpft Barrera in der Uniform der republikanischen Miliz. In Murcia, Albacete, Madrid, Alicante werden Corridas zugunsten der Kampfverbände organisiert, die gegen die Faschisten antreten. Am 11. September in Albacete schneidet der novillero Jaime Noain vier Ohren, zwei Schwänze, kassiert einen Hornstoß und zieht mit seinen Helfern an die Front von Aragón, um die

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Republik zu verteidigen. Am „Dia le la Raza“, dem 16. Oktober 1936, veranstaltet jedes Lager seinen Stierkampf: die einen in Sevilla, die anderen in Valencia, organisiert von den Gewerkschaften CGT und UGT. Die Barriere wird dort rot, gelb und violett in den Farben der Republik gestrichen. Die Stiere sind von der Republik auf dem Feld beschlagnahmt worden und laufen unter der Bezeichnung „Züchtung der Frente Popular“. Am 29. August 1936 steht Domingo Ortega in Valencia für die Volksmiliz in der Arena. Er widmet einen Stier dem Exekutivkomitee. Er triumphiert, bekommt die zwei Ohren, den Schwanz, den Huf. Die Milizionäre, mit gereckter Faust wie der Torero, tragen ihn auf den Schultern raus. Ein Mitglied des Komitees beglückwünscht ihn: „Auf dass das Volk so gewaltig triumphiere wie du heute.“ Ohne Komplexe nimmt Ortega zusammen mit Barrera am 24. Mai in Madrid an der Corrida des Sieges der Frankisten teil. Er defiliert mit ausgestrecktem Arm und singt Cara al Sol. Die Toreros gehen dahin, wo die Stiere sind. Eine Minderheit engagiert sich aus ideologischen Gründen, sowohl auf der einen wie der anderen Seite. Für die Frankisten: Lalanda, El Algabeño, La Serna, Domingo Dominguín, der Vater von Luis Miguel, Algabeño Chico, an der Front getötet wie der banderillero Fernando Gracia. Der banderillero aus Triana, Joaquín Miranda, wird nach dem Krieg zum Generalsekretär des Movimiento, der „Partei“ Francos, ernannt. Und für die Republikaner? Enrique Torrès, Manolo Martínez, Félix Almagro, Félix Colomo, Saturio Torón, der an der roten Front stirbt, wie die novilleros Ramón de la Cruz und Cayetano de la Torre. Auf beiden Seiten wird hingerichtet und gestorben. Die „Roten“ erschießen El Algabeño, die Neffen von Lalanda, die Züchter Tomas Murube, Argimirio Pérez Tabernero, den Grafen von Veragua. Der Torero Valencia II. wird von seiner Geliebten denunziert, die es auf seine Wertsachen abgesehen hat. Kurz vorher bekämpft er Stiere zusammen mit El Gallo in der Nähe von Madrid. Man fordert das Singen der Internationale. Er hebt den Arm und singt Cara al Sol. El Gallo, das Herz in der Hose, beschwört ihn: „Mach das nicht, Valencia, die werden uns massakrieren.“ Antwort Valencias: „Nicht vor Ende der Corrida.“ Auf der Gegenseite dasselbe Knallen der Gewehre. Zwei banderilleros, Joaquim Cabezas und Francisco Galadí, werden zusammen mit dem Dichter García Lorca bei Granada ermordet.

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Den Stierkampf, geboren im 18. Jahrhundert, als „Faschismus“ zu qualifizieren, genau wie die schändliche Unterstellung, Manolete hätte zur Übung republikanische Gefangene nach Matadorart mit dem Schwert getötet, sind Teil der finsteren Spinnereien, die die Gegner der Corrida ungeniert verbreiten und dabei jegliche historische Wahrheit verachten. Nach Francos Tod und im Spanien des demokratischen Neuanfangs wurden Ende der Siebzigerjahre die Stierkampfschulen gegründet, unter anderem die vom Bürgermeisteramt finanzierte Schule Madrids. Ein Amt, geleitet von dem Professor Tierno Galván, bekannter Antifrankist und Autor des Essays Die Stiere, nationales Ereignis. Auszug: „Die Stiere sind das Ereignis, das sozial und sogar politisch das spanische Volk am meisten erzogen hat.“ Eine letzte Anmerkung. In den Sechzigerjahren fanden maximal 400 „faschistische“ Stierkämpfe pro Saison statt. 2003, achtundzwanzig Jahre nach dem Tod des Diktators, wurden 989 (mit den novilladas 1640) „demokratische“ Stierkämpfe in Spanien veranstaltet. Libération vom 10. 6. 2004

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Der Stierkampf, in der ihm eigenen Monotonie, entfaltet im Detail seine Pracht oder seine Misere. Je genauer man hinsieht, desto weiter öffnet sich der Fächer. Die Werkzeuge des Toreros, ohne die er den Stier nicht beherrschen könnte, machen da keine Ausnahme. Die muleta ist nicht einfach ein rotes Tuch, die capa kein bunter Lumpen, sondern unerwartet komplexer Teil eines Ganzen. Man kann sie, auch in Spanien, nicht im Supermarkt kaufen. Stierkampf ist keine Stangenware.

Winterschlussverkauf Februar. Der Moment des Jahres, an dem die zerstreuten Toreros plötzlich merken, dass die Saison wieder anfängt, und in die Läden der Fachschneider stürzen, um sich capas und muletas nähen zu lassen. Die Sprache des Stierkampfes, die sich gern in spanischen Barock kleidet, bezeichnet diese Handwerkszeuge ihrer Wirkung entsprechend. Es sind engaños, Köder. So gegen Februar geben die Toreros also ihre Bestellungen für Nylon, Acryl oder Polyester (für die capa oder capote) oder für Tergal oder englische Serge (für die muleta) auf. Für Berge von capas und muletas, in Größe, Gewicht und Textur verschieden. Jeder nach seinem Geschmack und seinen Vorlieben. Mal plissiert, mal glatt, hier weich fließend, dort steif gestärkt. Capas und muletas sind, auch wenn es Standardgrößen gibt, für jeden eine sehr persönliche Sache. Jedem seine eigene Garderobe. Zum Beispiel hat Jesulín de Ubrique in seinem absoluten Rekordjahr bei 161 Stierkämpfen nur zehn capotes und vierzehn muletas benutzt. Angesichts solcher Sparsamkeit ist die Verschwendungsorgie von einem Manzanares umso erstaunlicher: Für sechzig Kämpfe einer Saison verbrauchte dieser dreißig capas. Hat er sie als Handtücher benutzt? Nein. Die akribische Qualität des toreo von Manzanares, seine manische Gewissenhaftigkeit verlangten nach jeweils zwei Vorstellungen neues Material. Für den Torero aus Alicante verlor eine capa schon nach zwei Stierkämpfen ihre Frische und diese quasi unsichtbare Abnutzung verdarb

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dann den Höhenflug seines präzisen Stils, der ihm bei seiner Handhabung der capa wichtig war. Manzanares schrieb einem neuen Werkzeug mehr „Haltung“ zu. Die capa ist noch voller Wäschestärke, die muleta noch von unverbügelter Glätte und nur diese Straffheit des Stoffes erlaubt es seiner Meinung nach, den temple, die Vereinigung und die Harmonie hervorzubringen. Ein Gegenbeispiel dazu? Victor Mendes. Seine capas waren Lumpen. Normal. Er prügelte sich mit den wilden Stieren, die man ihm zudachte, wie ein Lumpenhändler. Eine mehr oder weniger straffe Stofflichkeit oder stattdessen eine Vorliebe fürs Faltenspiel sind nicht die einzigen Kriterien bei der Wahl der engañas. Die Spannbreite ist ebenfalls ausschlaggebend. Entgegen allen Erwartungen steht die „künstlerische“ Ausrichtung eines Stils in keinem Verhältnis zur Größe des Stoffstücks, das man dem Stier entgegenhält, auch wenn ein kleines Tuch größeren Respekt zu verdienen scheint und wenn laut Manzanares eine capote von mittleren Ausmaßen ihm eher erlaubt, den Blick des Stieres zu fixieren, wohingegen eine große und somit weniger präzise capa dessen Konzentration beeinträchtigen würde. Tomás Campuzano, wahrlich kein Torero der plastischen Quintessenz, kämpfte mit winzigen capas, genau wie sein Gegenstück Curro Romero, der nun wahrhaftig ein Feinschmied des filigranen Stierkampfes war. Curro Vásquez, der delikate Torero und Künstler, wenn es denn einen gab, benutzte große capas, mit denen er bei Gelegenheit Meisterwerke vorführte: einige halbe veronicas, mit kleinsten Stichen gestickt. Es gibt unter den Toreros Anhänger der laufenden Meter, der großen Segel: Jesulín, Finito de Córdoba, Paco Ojeda, und wiederum andere, die sich mit streng beschnittenem Tuch wohler fühlen: Joselito, El Juli, Rivera-Ordóñez. Dabei haben die drei Letzteren sehr unterschiedliche Auffassungen vom Stierkampf. Die extrem weichen capas von Joselito ähneln denen von Mendés, nicht aber seine Art, zu kämpfen. Sie ist kriegerisch und barsch bei Mendés, langsam und hingebungsvoll bei Joselito. Rivera-Ordóñez nimmt kleine engaños, aber hat deshalb nicht den Ruf eines kunstvollen Toreros. Seine Art ist tapfer und trocken und die kleine muleta eher eine Angewohnheit aus seiner Kinderzeit. Als er klein war, schenkte ihm sein Onkel Curro Vásquez eines Tages eine Spielzeugmuleta. Er begann, ernsthaft damit zu kämpfen, und gewöhnte sich an ihre Dimension. Als sie abgenutzt war, schenkte ihm sein Großvater,

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Antonio Ordóñez, eine seiner muletas von normaler Größe. Der Enkelsohn fühlte sich nicht wohl damit und ließ sie zurückschneidern. Es sei denn, diese Vorliebe war genetisch verankert: Man machte ihn später darauf aufmerksam, dass schon sein Vater Paquirri eine kleine muleta benutzte. Ein Torero wie Morenito de Maracay kappt systematisch die „Flügel“ seiner capas. Manche ziehen spitz zugeschnittene capas vor, andere den Rundschnitt. Morante de la Puebla lässt sich seine engaños vom Schneider Fermín auf den Millimeter genau nähen. Er weiht sie nicht während einer Corrida ein. Er bricht ihre Steife beim Üben ohne Stier. Seine capas und muletas sind weder unendlich weit wie die von Finito noch winzig wie die von Curro Romero. Er wählt eine Durchschnittsgröße, schwer, aber nicht gewichtig, im Gegensatz zu anderen, die den Stoff verstärken und beschweren. Morante lässt sie nur einfach füttern, wo andere sie doppelt bewehren. Seine Werkzeuge sind weder zu groß noch zu klein. Mit zu kleinen engaños scheint ihm der pase „an Tiefe zu verlieren“. Sie müssen etwas wiegen, „sonst hat man den Eindruck, es fehlt ihnen an Körper“. Seine capas sind leicht gestärkt, „damit die Falten gehorchen“, aber nicht zu sehr, damit sie die Geschmeidigkeit bewahren, auf die ein Torero wie Ojeda mit seinen hart betonierten capas keinen Wert legte. Die Werkzeuge von Morante sind genauestens seinem maßvollen, glatten, charmanten und ein klein bisschen verdrehten toreo angepasst. Verdreht? Nein. Eher aus der Hüfte geschwungen. Auch er hat manische Angewohnheiten: Er benetzt jedes Mal mit einigen Wassertropfen seine capas und muletas, weil es ihm gefällt, wenn am Saum ein bisschen Sand hängen bleibt. Seine Ästhetik verlangt nach solchen Details. Sein mentales Wohlbefinden ebenfalls. Er ist Perfektionist und zerbrechlich. Er behauptet, eine kleine, ungewollte Falte in seiner capa könne seine Art zu kämpfen ruinieren und ihn aus der Bahn werfen. Ob die Toreros ihre engaños mit Futter und Stärke verbleien oder nicht, ist keine Sache des Aberglaubens oder der Laune einer Diva. Es sind verschiedene Arten der Annäherung, ihrer Form des Kampfes mit dem Stier angepasst. Trotzdem beherrscht man besser kleine capas und muletas. Manchmal dominieren die großen Tücher ihre Benutzer. Leichte engaños müssen mit den Fingerspitzen gehalten werden. Daraus resultiert eine feinere und expressivere Art zu kämpfen. Schwere engaños, mit ganzer Hand gehalten, zwingen zu einer athletischen Arbeit. Leichte, lebendige capas fördern sensiblere Ar-

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ten zu kämpfen, aus dem Handgelenk, wie die von Manzanares und Joselito. Schwere, steife capas müssen fest gepackt werden, die Handflächen nach außen gekehrt. Sie initiieren ein toreo der Arme, der Beine, der Verteidigung: das toreo der peónes, der Helfer. Generell schwingen die peónes keine capas, sondern tragen eine Art steifes, totes Brett vor sich her. Sie errichten eine Wand aus Stoff zwischen ihnen und dem Stier. Man verlangt von ihnen ja auch nicht, die Stiere mit feinem Handgelenk um den Körper zu wickeln, sondern sie in gerader Linie zu führen. Manche unter ihnen, wie Luciano Núñez, der péon von José Tomás, oder Mariano de la Viña, peón von Ponce, geben ihre Vorliebe für geschmeidigere capas zu. Laut Luciano Núñez „kann man dann das toreo bis in die Fingerspitzen fühlen“ und laut Mariano de la Viña „beherrscht man die Stiere mit den Handgelenken“. Manzanares sagt: „Die engaños sind Teil des Toreros, wie eine Prothese. Ihre Aufgabe: durch Verschmelzung und Takt sein Gefühl und seine Auffassung der Kunst auszudrücken.“ Eine Idee XXL des Stierkampfes. Libération vom 30. 1. 2002

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Darf der Übersetzer zugeben, wenn er Schwierigkeiten beim Übersetzen hat? Darf der Schreiber zugeben, wenn er Probleme hat, etwas zu beschreiben? Nein. Aber die Tatsache, dass der pase der halben veronica alles in allem in der Arena eine Sekunde lang dauert und sich doch in einem Artikel von 1200 Worten nicht erschöpft, spricht Bände. Der Stierkampf ist ebenso beschaffen: Wenn man bereit ist, durch das Hauptportal einzutreten, öffnen sich überall im Labyrinth der Gänge, im Labyrinth der Wörter, Türen auf andere Türen, Sätze auf andere Sätze, hinter denen sich Treppen und Sinn im Schatten verlieren. Und wie in den großen Arenen von Madrid oder Nîmes findet man plötzlich ins Helle, steht auf den Rängen und sieht ganz unten auf dem Sand einen bunten Torero mit einem schwarzen Stier. Ende des Monologs. Erstes Verstehen.

Bei einer halben veronica macht man keine halben Sachen Man sollte den Bezeichnungen misstrauen. Die halbe veronica ist im Bezug auf die veronica in keinster Weise das, was die Halbpension, bei der man zur Hälfte verhungert, in Bezug auf die Vollpension ist. Die halbe veronica, in ihrer Gänze vorgeführt wie damals von Cagancho, von Gitanillo de Triana, von Ordóñez, von Camino, von Antoñete und heute zum Beispiel von Curro Romero, von Rafael de Paula, von Sepeda, von Robles oder von Mora, ist keine halbe Maßnahme, keine auf halbem Weg abgewürgte veronica. Sie ist eher, wie der Theoretiker Luís Bollaín schreibt, „eine veronica und eine halbe“. Wobei man präzisieren muss: Das Wichtige bei der halben veronica, bei der der Torero eine veronica skizziert und mittendrin die capa in einer runden Bewegung auf seiner Hüfte einfaltet, ist ihr unsichtbarer Teil, in dem der Stier schwungvoll die Leere verfolgt. Um die „moderne“ Gewichtigkeit zu verstehen, die diese Geste im Lauf der stierkämpferischen Evolution gewonnen hat, muss man dort anfangen, wo die veronica aus der Taufe gehoben wurde. Die prähistorische veronica (bevor Juan

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Belmonte im ersten Drittel des Jahrhunderts den zeitgenössischen Stierkampf einläutete) ist ein fundamentaler pase des Stierkampfes, der allerdings wenig gemein hat mit ihrer gegenwärtigen Form. Die Theoretiker des 18. und 19. Jahrhunderts beschreiben sie als einen pase, während dem der Torero seine capa mit beiden Händen vor den Stier hält, wobei die Bildsymbolik in diesen Moment des Abwartens die Geste der heiligen Veronika hineinliest, die das Gesicht Christi abwischt. Der grundlegende Unterschied zu der von Belmonte geprägten veronica, von Guerrita schon 1896 in seiner Tauromaquia vorwegnehmend beschrieben, ist die Beweglichkeit. In der vorsintflutlichen veronica tänzelt der Torero herum und lässt den Stier hoch vorbeiziehen. Damals ist die halbe veronica nur ein „Wedeln“ mit der capa von einem Torero, der mit seinem Körper ausweicht. Seine Absicht ist es, den Stier woandershin zu locken. Die veronica hat zu jener Zeit eine emotionelle Tiefe, die halbe veronica riecht nach Weihrauch. Belmonte stoppt das Tänzeln des Toreros, führt den pase auf Zehenspitzen vor, unbeweglich, und führt Serien von veronicas aus, die er mit einer halben beendet: Er empapa, er fängt den Stier mit der capa auf und lässt ihn hineinlaufen, führt ihn bis zur Hüfte, faltet seine capa ein. Der Stier beendet daraufhin seinen Weg, der anderen, unsichtbaren Hälfte der halben veronica folgend. Von Belmonte bis heute gilt die Sorge der Toreros, die jetzt mit der ganzen Sohle solide am Boden verhaftet sind, der völligen Unbewegtheit ihres Körpers und einer „Statuisierung“ der ganzen und halben veronica. Demnach hat man die veronica, wie sie der Torero Gitanillo de Triana in den Vierzigerjahren ausführte, eine „Minute des Schweigens“ genannt. Der berühmte Kritiker Corrochano schrieb, dass das Herz von Gitanillo bei jeder ganzen oder halben veronica aussetzte, seine capa dabei quasi „einschlief“. Als man Belmonte eines Tages fragte, wie er zu seiner halben veronica gekommen war, antwortet er mit einem Scherz: „Nun, ich weiß es nicht. Vielleicht, um mir die andere Hälfte zu ersparen.“ Wie entstehen die neuen Figuren, wieso tauchen sie im Meer der Stierwelt auf? Weniger durch eine logische und rationale Kette von Überlegungen als durch Intuition, Fantasie, die Lust an der Vervollkommnung, um sich abzuheben, um zu sehen, wie weit man mit einem Stier gehen kann. Die chicuelina, ein pase mit der capa, bei der der Torero sich mit einer Drehung seines Körpers darin einrollt, wurde das erste Mal beinahe zufällig von

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Chicuelo 1922 in Valencia ausgeführt. Er hatte die Idee vom Torero Pacorro übernommen, der beim gemeinsamen Training eines Tages sagte: „Wenn ich mal auf einen wirklich willigen Stier treffe, versuche ich das.“ Sprachs und rollte sich in seine capa, wie es der Torerokomiker Rafael Dutrus in seinen „Spaßcorridas“ tat. Die chicuelina wanderte also vom Repertoire „buffo“ zum „serio“ und wurde im Folgenden von den besten Toreros jeweils unterschiedlich interpretiert. Manolo Bienvenida hielt dabei die capa sehr tief, wie später Manolo Gonzáles und heute Manzanares; die chicuelina von Pepe Luis Vásquez war von sanfter Art und von der Caganchos schrieb Néstor Luján in seiner Geschichte des Toreo, dass seine capa dabei „dämmrigen Blütenblättern“ ähnelte. Manche chicuelinas sind athletisch, grobschlächtig und voluntaristisch. Andere, wie die von Roberto Domínguez zum Beispiel, sind voller Harmonie. Wieder andere, wie die von Robles, sind streng oder wie die, die Paco Camino seinem Sohn Rafi vererbt hat: sehr eng gespannt, sozusagen „mit einer dünnen Haut“. Zurück zur veronica: Antoñete hat während einer Corrida des San Isidro 1983 seine eigene halbe veronica kreiert, indem er sich dabei tief über den Stier beugte und den bunten Flug der capa in seinem Rücken akzentuierte, mit einer Art „Zähflüssigkeit“, die er von Stier zu Stier zu perfektionieren versuchte. Die halbe veronica ist ganz klar keine rein ästhetische Sache, kein allein dekoratives Element oder eine reine Fingerübung der stierkämpferischen Partitur. Sie führt ein Manöver aus. Die Halbe, wie ein musikalischer Seufzer, bricht mit einer Reihe von veronicas und definiert einen Übergang im Kampfgeschehen. Manche raubeinigeren Toreros verdeutlichen diesen Bruch, sei es durch ein Entziehen, sei es durch eine Biegung des Körpers. Sie erledigen die Halbe sozusagen, so schnell es geht. Diese Abruptheit ähnelt beinahe der historischen halben veronica, als diese nur ein listiges Aus-dem-Weg-Gehen und ein Mittel war, sich zu schützen. Andere Toreros dagegen schieben die Hüfte vor, die der Stier dann bei seinem Angriff streift, und markieren durch eine Pause von herablassender Herausforderung die Herrschaft, der sie das Tier unterwerfen wollen. Eine Herrschaft, die die extreme Höflichkeit besitzt, sich nur in feinster Eleganz auszudrücken, und die sich den Luxus der Gelassenheit erlaubt. Was in der Halben als Krönung und Abschluss einer Sequenz anklingt, ist die Idee des Bruchs, des Aufspaltens der Gruppe, bestehend aus Torero und

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Stier, bestimmt durch die zwanghafte Frage, wie man „am besten kunstvoll auseinandergeht“. Das ist der Grund, warum die sinnlicheren Toreros sie läutern, sie modulieren wie die Note eines Saxofons und ein desplante, eine Art Innehalten, einfließen lassen, einem Filmstill gleichend, so wie man eine Sekunde bei einem Abschied zögert. Die halben veronicas sind Abschiede oder auch ein „Auf Wiedersehen!“. Es gibt schäbige, nervöse, unschlüssige, überstürzte. Es gibt feierliche, leicht theatralische, wie die von Rafael de Paula. Es gibt sanfte, melancholische und diskrete wie die Halben von Cepeda oder Robles. Es gibt spektakuläre, prahlerische, wie die Halbe auf Knien von José Antonio Campuzano. Als rhetorische Figur entspräche die halbe veronica, dies Zeichen, dass beim Stierkämpfen alles ein Ende hat, in etwa den drei Punkten am Ende eines Satzes, durch die der Sinn seinen Abschluss ohne die Hilfe von Worten zu finden scheint, so wie der Stier seinen Ansturm ohne Hilfe der capa beendet, die ihm unter der Nase weggezogen wird. Aber wie die Auslassungspunkte zeigt die halbe veronica auch an, dass nicht alles gesagt worden ist und dass der Sinn, das stierkämpferische Zeremoniell und der Kampf in anderer Form zurückkommen werden. Die ganzen und halben veronicas stehen ganz am Anfang des Kampfes, wenn der Stier noch frisch ist und die Lanzenreiter noch nicht eingegriffen haben. Die Lanzenreiter und damit das erste Blutvergießen. Die Halbe schreibt das Ende eines unschuldigen Vorwortes, sie schließt sich, wie man einen Fächer einfaltet oder die gespielten Karten einsammelt, um sie neu zu verteilen. Ende des Spaßes. Erstes Blut. Libération vom 21. 7. 1990

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Während des Angriffs des Stieres auf das Pferd fließt das erste Blut. Das ist auch der Augenblick, an dem manche Neulinge unter den Zuschauern den Saal verlassen. Der dicke picador stochert im schwarzen Rücken herum wie in einem kaputten Wecker, setzt zu hoch oder zu tief an und der Stier scheint oft aus dieser Prüfung hervorzugehen wie ein angeschlagener Boxer, dem das Blut aus der zerprügelten Braue tropft. Aber wenn der Lanzenreiter seine Sache gut macht, ohne zu drehen und zu zappeln auf der richtig gesetzten Lanze lehnt, solange der Stier schiebt, ist es der einzige Moment, in dem dieser nicht ins Leere läuft, nicht heiße Luft verfolgt und von Finten genarrt wird. Es ist sein Moment der Wahrheit und für den echten aficionado der Entscheidende. Während des tercio de piques steht der Stier ganz im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Normal. Weil er der Mittelpunkt ist.

Das kleinteilige Puzzle der Tapferkeit Man sollte sich hüten, Stiere negativ zu beurteilen, die gelassenen Schrittes ins Rund kommen oder beinahe zaghaft, abanto, wie der Stierkampfjargon es nennt. Erstens, weil diese „Schüchternheit“ eine Charakteristik derjenigen Stiere ist, in deren Adern das Blut von Conde de la Corte fließt, wie die von Sepúlveda, von Atanasio Fernández oder die Stiere von El Sierro, zweitens, weil diese anfängliche Zurückhaltung sich schnell in explosive Tapferkeit verwandeln kann. Unter der Lanze zum Beispiel. Die Stierkampfkritiker, die ebenfalls tapfer das schwierige Pferd der Metaphern und der Synekdochen vor sich herschieben, schreiben dann, dass sich „der Stier unter dem Eisen entflammt hat“. Kleiner metallurgischer Irrtum: Die Spitze der Lanze ist aus Stahl. Falls der Stier stattdessen in voller Wucht aus dem Stall in die Arena schießt, wie ein Irrer, und mit löblicher vitaler Großzügigkeit entlang der Barriere galoppiert, kann es sein, dass es nur die letzte Luft aus einem durchgeknallten Luftballon ist, der bald platt im Sand liegt. Die Stierkampfliteratur, die ihrerseits keine Angst hat, mit befremdlicher Alchemie zu jonglieren, sagt in diesem Fall, dass

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der Stier „Gas“ besaß, aber erloschen ist, um schließlich aplomado zu enden: wörtlich „aus Blei“. Selbstverständlich darf man im Stierkampf nichts systematisieren und die Anzeichen, die erlauben, den Grad der Tapferkeit oder ihre Abwesenheit (mansedumbre) bei einem Stier einzuschätzen, sind ebenso verschieden wie fließend. Bis zu seinem Tod gibt der Stier Zeichen für das eine oder das andere, die sich durchaus widersprechen. Die Miura-Stiere haben zum Beispiel eine sehr undurchschaubare Astrologie: Sie können während der Viertelstunde ihres Kampfes mehrere Male gleichzeitig bravo und manso sein. Bravo mit Aszendent manso oder manso mit Aszendent bravo, auf dieser paradoxen Mischung beruht ihr giftiger „Charme“. Wie schafft es der Züchter, über Jahrzehnte diese Ambivalenz aufrechtzuerhalten? Mysterium, Haferrationen und Blutsverwandtschaft. Die Bewährungsprobe der pique, vorausgesetzt, sie wird nach den Regeln der Kunst ausgeführt und lässt dem Stier die Möglichkeit zur Flucht, erlaubt, sich ein etwas genaueres Bild von seinen Qualitäten zu machen. Der wirkliche toro bravo geht „bewusst“ zur pique. Er steht, greift plötzlich an, weder im Schritt noch im Trott, sondern im Galopp. Er schiebt das gepanzerte Pferd mit seinem ganzen Körper, einschließlich der Kruppe. Er darf nicht überraschend unter die Lanze geschickt werden, nach einer Wendung mit der capa, und er darf nur dann vom Pferd ablassen, wenn der Torero oder ein Helfer ihn nachhaltig nötigen. Der picador darf ihm nicht den Rückzug versperren. Der natürliche Drang des Stieres lässt ihn instinktiv dahin zurückkehren, von wo er gekommen ist, dem Stall der Arenen, dem toril. Darum wird die pique auf der anderen Seite des Runds ausgeführt, seinen Reflexen gegenläufig, weil Mut die Sublimierung des Verteidigungsinstinktes bedeutet. Der gute Stier, die Lanze im Nacken, versucht nicht, den picador zu entwaffnen, indem er wild mit dem Kopf um sich schlägt. Im Gegenteil, er schiebt mit einer konstanten Entschlossenheit, konzentriert und unwiderruflich. Sein Zorn produziert Mut wie ein Gewitter Blitze und jüngste Studien der Tierärzte zeigen, dass er gleichzeitig als Betäubungsmittel fungiert. Je mehr der Stier seine Aggressivität in offensiven Mut verwandelt, desto weniger soll er leiden, und schweigend dazu. Der große, gute Stier sagt nichts. Er greift an, basta. Mit geschlossenem Maul, boca callada, ohne zu muhen. Die Herrlichkeit seiner

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Wut ist stillschweigend und es ist dieser pure, fröhliche, mörderische, in der Rasse verankerte Mut, den die guten Züchter suchen, indem sie mehr oder weniger intuitiv oder wissenschaftlich im tierischen Genstock herumpanschen. Nach diesen Kriterien ist die erste pique weniger aussagekräftig als die zweite. Der Stier, wirklich bravo, vordergründig bravo, vordergründig manso oder irgendwo dazwischen, nimmt generell die erste pique ohne viel Widerstreben. Aus Neugier, Naivität, Unwissenheit. Ein zweites oder gar drittes Mal zur Sache zu kommen, wissend, was ihn erwartet, sozusagen in voller „Eigenverantwortung“, steht auf einem anderen Blatt. Diese wiederkehrende Tugend und diese heroische Wildheit, die Álvaro Domecq auf 480 dem toro bravo gewidmeten Seiten mit Naturkräften wie Flüssen, Winden oder Blitzen vergleicht, erlaubt es, die subtilen Stadien der Tapferkeit eines Kampfstieres zu nuancieren. Vermittels zahlreicher Diminutive oder Augmentative versucht die sehr präzise Terminologie des Stierkampfes die Variationen dieses Pulverfasses der Tapferkeit zu beschreiben, dieses Pulverfasses, das explodieren kann oder auch nicht, das lange brennt oder schnell verpufft. Von weniger zu mehr kann der Stier sein: manso perdido (endgültig manso, feige), mansurron (ziemlich feige), mansote (etwas feige), bravucon (fälschlich tapfer oder etwas tapfer), bravito (ziemlich tapfer), bravo (tapfer), bravo de bandera (wörtlich: ein Mut mit fliegenden Fahnen). Ein Anwachsen des Mutes, ir a mas, eine stetig wachsende Entschlossenheit zum Kampf zeugt von der casta, der echten Rassigkeit des Stieres, erprobt im immer verzehrenderen Feuer der verschiedenen Stadien des Kampfes. Ir a mas bringt die authentische Tapferkeit zum Vorschein, die nicht mit physischer Kraft verwechselt werden darf. Die Tapferkeit ist in der Tat oft Augenwischerei. Es gibt diese falschen Mutigen, die die Illusion von Tapferkeit erzeugen, zum Pferd preschen, sich zurückziehen, wieder angreifen, muhen, unter der Lanze bleiben, aber ohne zu schieben, mogeln, indem sie sich parallel zum Pferd stellen, im Grunde angreifen, um zu entkommen, oder, wenn sie nicht fliehen, sich einfach mit der pique abfinden. 1988 hat ein Miura-Stier, von Ojeda bekämpft, eine typische Polemik entfacht. Einige aficionados hatten ihn als manso eingeschätzt, aber manso eben auf Miura-Art, mit viel Charakter. Andere hatten ihn bravo gesehen, weil er wild auf Pferd und picador losging. Der Streit ist noch nicht beigelegt und

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hat zur Folge, dass alte Freunde sich nicht mehr grüßen, die vorher zusammen Pferde gestohlen hatten. Die Tapferkeit des Stieres bleibt ein Mysterium, so wie die Emotion mysteriös ist, die sie beim Zuschauer erzeugt. Der Stier ist ein geheimnisvoller schwarzer Block, den wir mythisieren, und für den vielleicht – wer kann es wissen? – die Toreros nur ein paar aufblitzende Fragezeichen sind, die das Schicksal ihm entgegenstellt und die ihn töten. Ein Geheimnis zu mythisieren, heißt noch lange nicht, es zu enträtseln. Es bedeutet nur, sein Ausmaß abzutasten. Eine schwierige Aufgabe. In der Arena von Madrid entlarven sich die mansos und die falschen Mutigen in aller Öffentlichkeit, indem sie unweigerlich auf der Grenze unter den Zuschauerrängen 6 und 7 Stellung beziehen. Aus ganz klar mysteriösen Gründen. Libération vom 6. 5. 1990

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Das Treffen von Stier und Lanzenreiter ist das Salz, der Pfeffer und die Kartoffel im Eintopf der Corrida. Aber da Salz den Blutdruck steigen lässt, vom Pfeffer die Augen tränen und Kartoffeln möglicherweise dick machen, gibt es eine postmoderne Tendenz, Artischockenböden zu pürieren, Tofu unterzumischen und nur mild und wenig zu würzen. Manche „moderne“ Liebediener einer Zirkuscorrida verlangen kleinere Lanzen, kürzere Angriffe und dass man die pique für die sowieso schwachen Stiere am besten ganz abschaffe. Aber ein schwacher Stier ist kein Stier, sondern ein Rind, die Corrida ist kein Zirkus und „modern“ ist in diesem Fall eine konsumistische Lebenslüge. Es ist, als würde man eine scharfe Suppe zuckern und sich nachher wundern, dass sie ungenießbar geworden ist.

Der Mann mit der Lanze Die erste Tugend des picador: Philosoph zu sein. Sein Beruf gibt Anlass zum Nachdenken über das Absurde seiner Rolle. Der Großteil des Publikums applaudiert ihm, wenn er die Lanze nicht oder nur ein bisschen setzt, und pfeift, wenn es findet, er habe eine zu schwere Hand. Man versteht nur Bahnhof. Außer ihm. Er weiß Bescheid: Er ist seit Langem der Bösewicht des Films und all das gleitet ab an dem Dom seines Hutes aus falschem Biberfell, den die Fotografen ohne Inspiration schamlos ablichten, wenn er ihn an die Barriere hängt. Dieser sich laufend wiederholende Mangel an Verständnis, zusammen mit seiner herausragenden Situation des Berittenen in einem Universum der Fußgänger und einigen historischen Fakten, schweißt die Zunft zusammen. Während der Corrida steht die Gruppe der Lanzenreiter weit ab von den Fußgängern im callejon. Man könnte denken, sie reden von Pferden und Stieren. Man kann sich auch vorstellen, dass sie über Mädel reden, darüber, was sie vorhin gegessen haben, über ihr Gehalt und die Geizigkeit oder Großzügigkeit ihrer maestros und über die Dekadenz ihrer Funktion. Im 18. Jahrhundert waren sie Könige. Sie wurden per notariellen Vertrag verpflichtet, ihr Name auf den

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Plakaten war fetter gedruckt als der der Matadore, sie wurden besser bezahlt als diese. In Sevilla zum Beispiel verlangte ein berühmter picador wie José Daza 1200 Reals, zuzüglich der Unkosten für Kleidung und Zaumzeug, während die Matadore gerade mal 850 kassierten. Ein Gerücht im Volk schrieb ihm blaues Blut zu. Er ist der Autor eines wichtigen Traktates über die Kunst, den Stieren richtig die Lanze zu setzen. Ein knappes Jahrhundert später hatten die Männer zu Fuß die Macht übernommen. Am Ende des 19. Jahrhunderts zwang Mazzantini seine picadores, sich zu Hause die Zähne mit Zahnpasta zu putzen, statt im Zug, der die cuadrilla von einer Arena zur anderen brachte, mit dem Fingernagel vor feinen Damen darin zu bohren. Der picador, der Einzige, der wie sein maestro ein Anrecht auf ein golddurchwirktes Kostüm hat, hat sich noch lange seiner ehemaligen Aura erinnert, illustriert von dem Ausruf des Philosophen Miguel de Unamuno: „Wir haben die Ehre, mit einen Lanzenreiter am Tisch zu sitzen!“ Krümel von Macht sind ihm geblieben. Anfang des 20. Jahrhunderts weigerte sich der Lanzenreiter Calderón, seinem Matador, dem großen Lagartijo, seinen Kampfhahn zu verkaufen. Dieser verpasste dem Federvieh des maestro schreckliche Niederlagen, bis zu dem Tag, als Calderón während einer Corrida von Pferd stürzte, direkt vor die Hörner des Stieres. Lagartijo kam zu Hilfe, aber mit erpresserischen Absichten: Lass mir deinen Hahn, sonst kann der Stier mit dir machen, was er will. Antwort Calderóns: „Lock den Stier weg, nimm den Hahn und auf dass dich der Teufel hole.“ Eine andere Äußerung ihres Korpsgeistes war der spontane Streik am 1. Mai 1992 in Sevilla, wo sie das Rund besetzten, um gegen eine neue Regel zu protestieren. Diese verbot ihnen ab sofort, Pferde mit einem Gewicht von mehr als 650 Kilo zu reiten, gerade an dem Tag, an dem sie gegen die von ihnen meistgefürchteten Stiere antreten sollten: diejenigen, unter der Lanze fürchterlich wild, von Atanasio Fernández. Lange Zeit bekamen sie auch die offizielle Weihe in der Arena. Das letzte Mal in Valencia am 25. Juli 1963, als der berühmte altgediente picador Pablo Suárez „Aldeano“ seinem Kollegen Agustín Pérez „Mejorcito“ während der Corrida zeremoniell seine Lanze übergab. Er hatte Mejorcito gewählt, weil er einen jungen picador inthronisieren wollte, der seinen Job liebte. Wie die meisten, wie zum Beispiel Luis und Antonio Saavedra, Söhne des verstorbenen

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Zuchtaufsehers von Guardiola, oder die Quinta, Söhne dessen von Albaserrada, oder die Muñoz, deren Bruder José am 22. Mai 1999 in Vic-Fezensac von seinem Pferd zerquetscht wurde, oder auch die Atienza, stammt Mojercito aus einer Dynastie der Männer zu Pferde. Sein Großvater dressierte sie, er ist der Neffe von Santiago Pérez „Mojercito“, dem picador von Cagancho. Sein Sohn wollte in seine Fußstapfen treten. Unmöglich, als Linkshänder. Im Alltag der cuadrilla genießt der Lanzenreiter eine gewisse Autonomie. Man sieht ihn nie bei der morgendlichen Auslosung der Stiere, er muss sein Zimmer nicht mit dem zweiten picador teilen, er kommt als Erster in die Arena, um die Lanzen vorzubereiten und die Pferde auszusuchen. Er hat nur eine lose berufliche Verbindung zu den banderilleros: Sie haben nicht denselben Job. In der traditionellen Vorstellung ist er mehr bruto, grobschlächtiger als die Fußgänger. Man sieht es auf den alten Stichen: Er ist es, der die schlechte Zigarre raucht. Er hat auch keine Lust (mit Ausnahme von Luis Saavedra), Matador zu werden, hegt also keinen Groll. Er kommt direkt vom Land. Epifanio Bubito „Mozo“, Sohn eines Hirten und einer früh verstorbenen Mutter, Analphabet, beginnt seine Karriere im Alter von 25, dank der Familie Dominguín, die ihn aus seinem dörflichen Elend holt und ihn zuerst als Knecht in einem Stall von Lanzenreiterpferden einstellt. Pepe, der zweite der Brüder Dominguín, lehrt ihn nachts lesen und schreiben. Er wird unter Luis Miguel Dominguín ein verdammt guter picador, der 5000 Peseten für die Arbeit an einem Stier verdient, während ihm ein Tag Schweinehüten nur dreieinhalb einbrachte. Einige picadores verbindet eine treue Komplizenschaft mit ihren maestros. Antonio Saavedra, ein gewissenhafter picador, spektakulärer als sein nüchterner und diskreter Bruder, wirkt seit siebzehn Jahren für Enrique Ponce. Der picador Joaquín Martínez „Estasioneta“ hat seine Karriere unter Tränen an dem Tag im Jahr 1929 beendet, an dem sein Torero, der novillero Angel Celdrán Carratalá, in Inca vom Stier Saltador getötet wurde. Der berühmte Alfonso Barroso, Sohn des Stallburschen der Züchtung Bohórquez, stieg 1996 vom Pferd, als sein maestro Manzanares, für den er zwanzig Jahre die Lanze gesetzt hatte, in Rente ging. Manzanares kam zurück in die Arena. Er nicht. Weil die Männer zu Pferd nicht die Prinzipien mit Stiefeln treten, auf denen sie reiten. Die Treue vererbt sich. Sein Sohn José Antonio, 2006 von der Zeitschrift

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6 toros 6 zum besten picador gekürt, arbeitet für den Sohn von Manzanares. Alfonso hat an 2700 Corridas teilgenommen, 63-mal den Atlantik überquert, ist 19-mal verletzt worden und feierte einen gewaltigen Triumph am 16. August 1960 in San Sebastián, als er, auf der Stute Duquesa der Gräfin von Albe reitend, dreimal nach den Regeln der Kunst einem Stier von Conde de la Corte die Lanze setzte. Er hatte seine Lanze weit nach vorn gestreckt, um den Angriff abzufangen, sie in die richtigen Stelle gebohrt, noch bevor der Stier das Pferd erreichte, somit seine Wucht gemildert, mit temple, und sich ihm „gestellt“, indem er sich tief über ihn gebeugt hat. Er wusste: Bei einem guten picador sieht man die Hosenträger während der pique. Alfonso Barroso arbeitete ebenfalls für Antonio Ordóñez, seinen zweiten wichtigen maestro. In dessen cuadrilla und Wertschätzung war er durch die Hintertür gekommen. Eines Tages im August 1956 ist er der Ersatz-picador. Zur damaligen Zeit steht in der Arena ein Reservereiter bereit, um gegebenenfalls einen offiziellen picador zu ersetzen. Der picador von Ordóñez will ihm eine Chance geben und nötigt ihn, seine Stelle einzunehmen. Der protokolltreue Ordóñez bemerkt den Wechsel und versucht, einzuschreiten. Zu spät. Der Stier greift an und der junge Barroso setzt die Lanze dermaßen gut, dass Ordóñez ihn sofort einstellt. Barroso begleitet ihn zehn Jahre lang ins Rund. Vor einigen Jahren erklärte Barroso, dass die Kunst, die Lanze zu setzen, in den Sechzigern und Siebzigern verschwunden sei mit dem Auftauchen der dicken Ackergäule, die keiner reiterischen Fähigkeiten mehr bedürften. Die Sachlage hat sich etwas geändert. Dank neuer Regelungen und ebenfalls unter dem Einfluss eines Stallbesitzers wie Alain Bonijol gibt es eine Rückkehr zu beweglicheren und leichteren Pferden. Diese Tendenz hilft dem tercio de piques wieder etwas in den Sattel, bleibt allerdings ein Randphänomen. Mit der Verbreitung des „halben“ Stieres, fett, weich und zu schwach, um mehr als eine pique auszuhalten, setzt der picador seine Lanze immer seltener richtig. Er ist ein reiner Befehlsempfänger in einer puren Formalität geworden, die vom Aussterben bedroht ist, während sie doch anfangs ein Ziel und ein Spektakel an sich war. Absurd: Von den 27 dieses Jahr für ihre „Tapferkeit“ begnadigten Stieren haben nur drei wenigstens zweimal die Lanze zu spüren bekommen. Libération vom 30. 11. 2006

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Neben dem Stier und dem Menschen gibt es noch einen Dritten im Bunde: das Pferd. Anfang des Jahrhunderts, mehr oder weniger ungeschützt, von einem mehr oder weniger fähigen picador geritten, hatte es keine schöne Rolle. Manchmal lagen bis zu einem halben Dutzend vom Stier getötete Gäule im Rund. Aber ohne so weit zu gehen wie Bergamín, der in einem seine Eingeweide hinter sich herschleifenden Pferd den Kasper des Stierkampfes sah, oder ihm wie Picasso (der seine erste Corrida mit acht Jahren gesehen hat) die mythologische Rolle des universellen Opfers zuzuschanzen, kann man sagen, dass die Einführung der gefütterten Schutzmatte, des peto, Anfang der Dreißigerjahre ein Segen für feinfühlige Gemüter war und ein Fluch für die Kompetenz der picadores, die seitdem von ihren gepanzerten Pferdetürmen herab die Stiere in Ruhe bearbeiten können. Einem war es allerdings auf jeden Fall recht: dem Pferd.

Einem solchen Pferd gibt man keinen Gnadenschuss Nicht alle Pferde sind Toreros. Aber Relampago (Blitz), den alle Welt nur Pompon (Bommel) nennt, ist unter den Pferden ein Star des Stierkampfes. In der Welt der Corrida hat quasi jeder eisenbeinige Träger von runden Biberfellhüten – sprich die picadores – irgendwo in Nîmes, Arles, Béziers, Palavas oder in einer anderen Arena im Südosten Frankreichs auf dem breiten Rücken dieses Halbblüters gesessen. Relampago, zwanzig Jahre alt, ehemals ein Pferd für die Parforcejagd, heute in Nîmes zum Stall von Loulou Heyral gehörig, hat in zehn Jahren Karriere mehr als 600 Stiere bekämpft, ein Rekord, den sogar Naranjito, ein anderes berühmtes Pferd der picadores in Barcelona, nicht überboten hat. Auch wenn er es selbst nicht weiß, ist Relampago bis ins tiefste Andalusien hinein bekannt, wo die picadores, die nach Frankreich reisen, um dort Löcher in die Stiere zu bohren und sich ausbuhen zu lassen, es untereinander weitersagen: „Versuch, für die pique Relampago zu bekommen.“ Sie müssen sich beeilen: Das Diva-

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Pferd von Loulou Heyral geht dieses Jahr in Rente. Es wird noch einmal in Arles oder Nîmes antreten und dann ist Schluss. Relampago, ein rotbraunes Pferd mit weißem Kopf, das sich nicht unter den anderen zwanzig hervorhob, als Loulou Heyral es auf dem Bahnhofsmarkt von Nîmes gekauft hat, ist kurzatmig geworden. Es hustet. Es hat wie Ceretano, ein weiteres bekanntes Torero-Pferd aus Loulous Stall, ein Anrecht auf eine Pension aus grünem Gras und dem Heu der Crau und auf einen natürlichen Tod. Nur wenn es schlecht altert, wird Loulou Heyral es notschlachten lassen. Loulou Heyral, dessen Vater ebenfalls Züchter und Anlieferer von Pferden für den Stierkampf war und der seine Kavallerie (Pferde für picadores, Pferde für die alguaziles, die Ordnungsbeamten der Arena, und die Gäule, die den toten Stier aus dem Sand schleifen) für 14.500 Francs pro Nachmittag vermietet, bekräftigt: „Nicht alle Pferde sind Toreros. Nicht alle Pferde sind fähig, vor den Stier zu treten.“ Er hat auf den ersten Blick gewusst, rein nach Gefühl, dass Relampago zwischen den zwanzig durchaus kräftigeren Pferden das Zeug zum Torero-Pferd hatte. Ein Torero-Pferd, ein Pferd der picadores, mit verbundenen Augen, verstopften Ohren und manchmal einer Dosis Vetranquill oder einem anderen Beruhigungsmittel im Blut, weiß, was es tut und worauf es sich einlässt, dreht willig nach rechts und nach links und hat nach einem Dutzend Corridas begriffen, dass es einen gewaltigen Stoß bekommen wird, sobald der Typ auf seinem Rücken seine Position ändert und seinen Sitz verlagert. Es bietet folgerichtig seine rechte Flanke an, versteift sich, lehnt sich vor, leistet Widerstand und rollt sich quasi um den Stier herum, wie es Ceretano tat, oder macht sich weich und gummiartig, wie „Kautschuk“. Der arme Kautschuk! Seine Biegsamkeit erschöpfte die Stiere dermaßen, dass die außerkommunale Stierkampfkommission Loulou gezwungen hat, ihn zu schlachten. Das Los von Kautschuk steckt Loulou noch immer quer im Hals. Jedes Mal wenn er – beinahe täglich – den Expräsidenten besagter Kommission auf den Straßen von Nîmes trifft, rächt er Kautschuk ein bisschen: „Alles klar, du Arschloch?“ Was kann einem Pferd der picadores passieren? Der Überdruss. Dass eine idiotische Entscheidung oder ein Hornstoß es töten, ist extrem selten. Die acht Pferde Loulous, als da sind Uranium, Suave, Pagés, Relampago, Que Tal, Oregon, Ivoire und die Stute Tafalla, einzige Torero-Stute ihrer Zunft, haben alle,

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vor allem in die Fesseln, Hornstöße abbekommen. Sie haben es sich laut Loulou „nie verekeln lassen. Es gibt Pferde, denen es eines Tages reicht, zum Beispiel wegen des Aufpralls, und anderen nie. Man kann ein Pferd nicht zwingen, einem Stier die Stirn zu bieten.“ Man kann es nicht zwingen, aber man kann es ihm beibringen, es daran gewöhnen und es je nach seinen Fähigkeiten benutzen. Uranium, ein junger und vielversprechender Bretone, hat seine Kollegen zuerst dreißigmal begleitet, ohne je in Kontakt mit dem Stier zu kommen. Dreißigmal hat man ihn in den mit Baumwolle gefütterten Schutzmantel gesteckt, um ihn daran zu gewöhnen. Letztes Jahr in Beaucaire, mit Einverständnis der picadores, hat Loulou ihn ins kalte Wasser geworfen. Uranium hat dieses Jahr fünfzehn Stierkämpfe bestritten. Er hat kapiert. Que Tal, ein Alezaner, „hütet die Tür“. Seit 250 Corridas spielt er in der Nähe der Tür, durch die der Stier ins Rund kommt, das Ersatzpferd. Ab und an, von weit her, knallt ein Stier in seine Schutzmatte und in seine bewundernswerte Gelassenheit. Pagés, ein etwas leichterer Halbblüter, wird ausschließlich für die Kämpfe mit Jungstieren, die novilladas, benutzt. Suave, ein Rotbrauner, nimmt es mit den dicken Biestern auf, genau wie Relampago, der dieses Jahr gegen Stiere von Miura, Palha, Pablo Romero, Victorino Martín angetreten ist. Suave, „lieblich“, aber noch nie gestürzt. Zum großen Unwillen der aficionados, die mehr als alles andere fürchten, dass der Stier während einer zu langen pique seinen Enthusiasmus und seine Kampfmoral an den 1650 Noppen der Schutzmatte und den 600 Kilo eines teuflisch gerissenen Pferdes aufreibt. Ein Pferd wie Relampago, zum Beispiel. Libération vom 9. 10. 1987

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Die folgende kurze Spalte findet sich ebenfalls auf der Seite „Tauromachie“ in Libération vom 9. Oktober 1987, ohne Ein- oder Überleitung. Diejenigen, die Jacques Durand Drohbriefe geschickt haben, ihn den „blutrünstigen Journalisten“ oder den „Schlächter von Libération“ genannt haben, haben ihn nie gelesen. Sie haben keine Ahnung, wie tief er das empfindet, was er so sehr liebt.

Bilder vom Augenblick des Todes Der Moment einer Wahrheit. Der brutalste Sinn des Stierkampfes drängt sich genau dann auf, wenn alle anderen sich verflüchtigen, als scheuten sie das grelle Licht einer klaren, einfachen Wirklichkeit ohne Hintertreppchen. Das Mythologische, das Religiöse, das Symbolische, das Vermenschlichende, der ganze Kramladen, der vermittels intellektueller Spekulation mehr oder weniger geschickt den Stierkampf verkauft, all das steht und fällt mit dem Sterben des Stieres, mit seinem Tod, wie vom Blitz getroffen oder vom Gewicht und der Schärfe der Realität zu Boden gezwungen. Der Todesstoß ist kein leerer Begriff, das Blut, das sein Maul füllt, ertränkt jedwedes Konzept in einem Würgen, aber dieser Weg vom Spekulativen zum Fleisch wird nur geflüstert. Der Kampf und die Tugend des Heroismus, die man ihm zuschreibt, die Ästhetik der tierischen Tapferkeit erheben selbst den sterbenden Stier und seine Schatten noch zu Ikonen eines konfusen und alles verschmelzenden Kults, der fast alles absorbiert und absolviert; als Erstes seine eigene Gewalttätigkeit und das vergossene Blut. Die mehr oder weniger legitimen Diskurse, die der Corrida die Schleife binden, haben in erster Linie diese Funktion eines Löschpapiers. Sie absorbieren alles bis zum bitteren Ende. Sogar diejenigen, die wirklich im Stehen am Blut ersticken, die sich schwankend immer tiefer dem Nichts entgegenlehnen, dem Sand, einer Zukunft der Kühlräume und der Beefsteaks, nehmen noch ein klein wenig teil an dieser vagen „Idealisierung“, die manchmal den hellsichtigsten der aficionados die erschütternde Wahrheit des Stieres vergessen lässt:

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Wenn er angreift, dann um zu fliehen; weil er flieht, kämpft er, und es ist sein „ontologisches“ Verhängnis, nach vorn entkommen zu wollen. Die Grundlage seiner Tapferkeit ist eine Alchemie der Angst. Mit ihrer Verkleidung aus Pailletten und ihrem strategischem Tanz stellt sich die Corrida zur Schau, manchmal bis zum Obszönen, bis zu dem präzisen Augenblick, in dem der Stier zusammenbricht wie eine von den Fakten zerschlissene Utopie. Eine eventuelle Ehrenrunde seiner „sterblichen Hülle“ zögert einen kurzen Moment lang die nackte Realität seines Seins und den rohen Ausgang des Stierkampfes hinaus. Der tote Stier schrumpft auf einmal im Glöckchenklang der Pferde des arrastre (des „Hinausschleifens“, das im Spanischen ebenfalls „überzeugen“ bedeutet) und dem Knallen einer Peitsche zu einem der Verdammnis anheimgefallenen Biest und bald darauf zu einer im Hinterhof der Arena in fünf Minuten zerlegten Leiche, im Rücken des Publikums, als wüsste dies nichts davon. Der Stier wird dort endgültig seiner Hüllen entledigt und was die Schlachtergehilfen mit Kneifzangen abreißen, als würden sie ihn seiner Verkleidung berauben, sind natürlich die Bänder der Zuchtdevise und die Spitzen der banderillas, aber auch alle metaphorischen Reden, die ihm unter den schwarzen Balg geschoben worden sind, um das Blut der Corrida aufzusaugen und die Stunde seiner endgültigen Nacktheit hinauszuzögern.

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Der Ablauf eines Stierkampfes ist nicht besonders kompliziert. Drei Toreros, auch Matadore genannt, und ihre Helfer, die peónes, teilen sich sechs Stiere und bekämpfen jeweils den ersten und den vierten, den zweiten und den fünften, den dritten und den sechsten. Drei Phasen pro Stier: Empfang mit der capa durch die peónes und gleich darauf durch den Matador und Arbeit der Lanzenreiter, auf Spanisch picadores, danach die banderillas, meist von den peónes gesetzt, und schließlich die Arbeit des Toreros mit der muleta, faena genannt. Eine faena setzt sich zusammen aus pases, „Passagen“, den einzelnen Durchläufen des Stieres vor dem Torero. Am Ende steht der tödliche Degenstoß, die estocada. Eine Corrida dauert rund zweieinhalb Stunden. Der Neuling im Publikum ist entweder abgestoßen oder spürt, dass etwas Wichtiges passiert und die Liebe zum Stier schmerzhaft absolut sein kann, wie jede wahre Liebe. Ab da schaut er genauer hin und entdeckt, dass all das ungeheuer komplex ist.

Der natural verlangt sein Recht vergeblich Der natural, dieser grundlegende pase des Stierkampfes mit der muleta, ist wie der Konjunktiv I Perfekt: schwierig zu meistern und vom Aussterben bedroht. Er macht sich rar und fällt in manchen faenas komplett aus, wie der Buchstabe „e“ in Anton Voyls Fortgang von Georges Perec. Seine Vernachlässigung und sein Ersatz durch das derechazo ist Gegenstand des gerechten und vehementen Zorns des bekannten Stierkampfkritikers Jean-Pierre Darracq, genannt „El Tio Pepe“, in seinem letzten Buch. Kleine erklärende Einführung. Während des natural, dem wahren, der sich von dem mehr oder weniger Hingemogelten absetzt, hat der Torero seinen Degen in der rechten und die muleta in der linken Hand und „sein Herz in der Mitte“, wie Felipe Fassonne zu sagen pflegte. In der Mitte heißt: vor den Hörnern. Beim derechazo wird der pase mit muleta und Degen in der rechten Hand ausgeführt, wobei die Spannbreite der muleta wesentlich von dem dahinterliegenden Degen verbreitert wird. Schwierigkeit und Risiko sind kleiner.

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Der Begriff natural, den die Gründerväter der Corrida im 18. und 19. Jahrhundert, Pepe Hillo und Paquiro, auch den „regulären pase“ oder den „normalen pase“ nannten, zeugt von der Haarspalterei im semantischen Feld des Stierkampfes. Keinem Normalsterblichen würde es natürlicher erscheinen, die muleta in der linken Hand zu halten; sein natürlicher Hang wäre es eher, jedwedem Stier aus dem Weg zu gehen. Tatsächlich durchleuchtet das Wort natural in perfekter Weise das Vorhaben, mit Stieren zu kämpfen, und erhellt den Stierkampf aus archäologischer Sicht. Gemeint ist die Unterwerfung eines wilden Tieres während eines beidseitigen Gefechts, der Aufteilung des Raumes in Sonne und Schatten entsprechend, wie der Aufteilung des Terrains in das des Menschen und in das des Tieres. Ein Gefecht mit doppelter Strategie. Die muleta, stoffliche Verkörperung des Schildes, und die linke Seite sind natürlicherweise der verteidigenden Finte vorbehalten, die rechte Hand und der Degen haben natürlicherweise die Aufgabe, anzugreifen und zu töten. Diese primitive Arbeitsteilung und diese einleuchtende gegenteilige Ergänzung finden ihre Krönung und den Grund ihres Seins im Augenblick der estocade, des tödlichen Degenstoßes. Dieser ist eine Art Theorem, das ohne Netz und doppelten Boden über den Hörnern vorgeführt wird, mittels eines Kreuzens der Hände und eines Treffens der Prinzipien. Um gut zu töten, muss man vor allem mit der linken Hand kämpfen können. Leider sind im Stierkampf Dogmen und Definitionen ebenso schwierig zu fixieren wie zerstreute Stiere. Manche Autoren, und nicht die unwichtigsten, wie Sánchez de Neira oder Corrochano Cossío, haben dem Wort natural einen weniger kryptisch-ritterlichen Sinn angehängt. Bei ihnen bedeutet dieses Wort, dass der Stier in dem pase auf derselben Achse bleibt, dass der Weg seines Angriffs nicht geändert wird. Vom Torero mit links angelockt, beendet er seinen Durchlauf natürlicherweise auf derselben Seite, im Gegenteil zum pase de pecho, dem „Durchlauf vor der Brust“, bei dem der Torero ihn von links nach rechts oder von rechts nach links drehen lässt. Demzufolge gibt es eine neue Aufteilung zwischen pases naturales und pases cambiados, Letztere also „wechselnde Durchläufe“. Ab da gibt es kein Hindernis mehr, einen pase mit der rechten Hand, der diesem Prinzip entspricht, ebenfalls natural zu taufen. Zum Beispiel spricht der Bericht über eine faena von Pablo Herraiz in der Zeit-

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schrift El Enano 1856 von „fünf naturales, davon zwei mit rechts ausgeführt“. 1933 veröffentlicht die Zeitschrift Clarin, aus der Tio Pepe zitiert, eine große Untersuchung, das Problem der Ortung der natural betreffend. Ergebnis: geteilte Meinungen. Die Toreros El Gallo, Maera, Guerrita, Lalanda und Manolo Bienvenida Vater sehen keinen Grund, einen pase mit der rechten Hand nicht auch einen natural zu nennen, auch wenn Manolo Bienvenida ausführt, dass er mit rechts „sehr viel weniger verdienstvoll sei“. Für den natural ausschließlich links stimmen Manolo Bienvenida Sohn, Manolo Martínez und ein gewisser Blas Kito, die 1933 vielleicht etwas voreilig prahlen, dass „der natural, wie die echte Republik, zwangsläufig links sein muss“. Für Tio Pepe gibt es keinen Zweifel: Man kann unmöglich einen Durchlauf natural nennen, in dem die muleta vom helfenden Schwert künstlich vergrößert wird. Luis Bollain, Theoretiker der Fünfzigerjahre, unterscheidet in seinem Traktat El Toreo in jesuitischer Weise ein pase natural, von dem natürlichen Entlassen des Stieres auf derselben Achse: Der pase natural mit der linken Hand gegeben, bleibt der unangefochtene Herrscher des Stierkampfes mit der muleta, weil er der schönste ist; er ist der schönste, weil er der riskanteste ist; er ist der riskanteste, weil er den Stier am besten lenkt. Er lehrt den Stier, sich des linken Horns zu bedienen und bereitet ihn so höchst wirkungsvoll auf den Degenstoß vor, dem bedeutsamsten Moment des stierkämpferischen Aktes. Allderdings ist dieser es heute nicht mehr oder immer weniger. Daher die Machtergreifung von rechts. Die „Ideologie“ des Todesstoßes als großer Herrscher und stierische Entelechie ist im Begriff, sich zu wandeln. Eine andere Idee des „Schönen im Stierkampf “ macht sich breit. Die loyale und vollkommene Geste der estocade und ihr Verbündeter, der natural mit links, sind nicht mehr der absolute Maßstab. Die Gunst des Publikums gilt eher der Plastizität der pases, der Harmonie der Gesten, dem Rhythmus und der Feinheit der faena, dem Schönen, das der Effizienz untergeordnet ist. Daher wuchert auf dem Feld des Stierkampfes die Dornenranke des derechazo, von Tio Pepe als eine „Verarmung“ geschmäht. Weil er leichter auszuführen ist, wenn der Stier rechts besser angreift, ist der derechazo für eher ästhetische Effekte geeignet. Dieses toreo der rechten Hand, das bei durchaus kreativen Toreros wie Paco Ojeda triumphiert, ist deshalb noch lange keine Erfindung des letzten Jahrzehnts. Ihr Großvater ist Cúchares, ein Torero Anfang des Jahrhunderts, der

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als Erster die pases mit rechts generalisiert hat. Cúchares, Archetyp des Toreros aus Sevilla, galt als ein erfinderischer und kongenialer Stierkämpfer, der sich schnell jedem Typ Stier anpassen konnte und dem es ungeheuer wichtig war, mit seinem verschnörkelten toreo dem Publikum zu gefallen. Sein Rivale war El Chiclanero, der im Ruf stand, kalt, ernst und streng zu sein. Sevilla, vor allem das Publikum auf der Sonnenseite der Arena, war in Cúchares vernarrt und verabscheute Chiclanero, der wiederum die Salbung Madrids besaß. Zwei Toreros der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts erweitern danach das Repertoire der rechten Hand, auch wenn die Corrida vorerst beidhändig bleibt. Der Erste, Nicanor Villalta, eine linkische Bohnenstange, kreiert den langen, trockenen, schnellen derechazo, „ohne viel Wert, aber beeindruckend“, wie Cossio schreibt. Der zweite, Manuel Granero, Geigenspieler in seinen Anfängen, entwickelt gegen 1920 den kurzen derechazo, „einen natural mit rechts“, der pase de la firma genannt wird, wörtlich „pase der Unterschrift“, wegen der Bewegung der muleta mit dem Handgelenk, die den pase abbricht wie einen Paragrafen auf der Mitte der Seite. Kleine Paradoxe: Das toreo von Villalta hinderte diesen nicht, ein berühmter Töter der Stiere zu sein, und Granero wird am 7. Mai 1922 von dem Stier Pocapena getötet, nach einem pase mit rechts, aber hoch ausgeführt. Der Hornstoß geht ins Auge, aus dem im Nachhinein jede Menge Tinte, Sperma und Literatur geflossen sind. Sein Tod inspiriert George Bataille zu Histoire de l’oeil, Die Geschichte des Auges. Dem Stierkampf, dem es offensichtlich daran liegt, sich nicht von mit groben Verallgemeinerungen bewaffneten Systematikern in die Enge treiben zu lassen, geht einen anderen Umweg mit Manolete. Trotz Manoletes relativer Treue zum natural mit links wird dieser im August 1947 während der estocada getötet. Zu jener Zeit hatte der derechazo in der faena de muleta noch nicht überhandgenommen, wie es heute der Fall ist. Heute, wo die Degenstöße mangels linker Propädeutik sehr oft auf ethischer und topografischer Ebene zu wünschen übrig lassen. Außer bei den wenigen Toreros, die noch nicht einarmig sind: Rincón, Joselito, José Antonio Campuzano, Pipín Jiménez, Curro Vásquez. Für Tio Pepe ist der Hauptverantwortliche der unilateralen Art zu kämpfen und des industriellen derechazos der Torero Dámazo Gonzáles, dessen

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Leistung er trotzdem, wenn auch leicht irritiert, würdigt. Allerdings reibt sich sein gerechtfertigter Feldzug gegen das Übermaß der derechazos in tückischer Weise an der weitverbreiteten und nicht völlig falschen Meinung, dass man heute besser kämpft als je zuvor. Besser oder mehr? Die faenas sind in der Tat sehr viel länger und folgerichtig ästhetischer, dichter, eleganter, aber quasi halbseitig gelähmt. Hilfe, die Rechten sind an der Macht! Libération vom 9. 8. 1992

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Der Stierkampf scheint ungerecht. Der Stier verliert immer, der Mann gewinnt jedes Mal. Der Stier verliert auch, wenn er den Mann auf die Hörner nimmt. Er wird deswegen nicht begnadigt. Ein anderer Mann kommt, um ihm den Garaus zu machen. Wenn man aber die hehre Idee eines gerechten Kampfes beiseitelegt, sieht man, dass es eher darum geht, in der Arena der Natur des wilden Stieres gerecht zu werden. Es liegt unter anderem in seiner Natur, Hornstöße auszuteilen. Es liegt nicht in der Natur des Toreros, solche zu bekommen. In dieser Diskrepanz keimt eine neue Akzeptanz. Das Horn des Stieres, diese hellen Messer, die er auf der Stirn trägt, sind zentraler Teil eines Ganzen und die Verletzung des Toreros ist keine Niederlage, so wie der Tod des Stieres keinen Sieg bedeutet. Beide sind nicht gerecht, sondern werden einer Sache gerecht. Sicherer Tod und mögliche Verletzung sind rechtschaffen, nicht Recht schaffend. Rechtschaffen, im Sinne von ehrlich.

Auf der Spitze des Horns Es ist ein blitzartiger Augenblick der Verirrung. Die Tragödie kommt später. In einer Sekunde. Für den Moment ist alles in der Schwebe begriffen, kippt alles. Die Steifheit des Toreros zerbricht, die Figur, die er beschrieb, zerfällt, der Stier spielt endlich mit diesem Ding, diesem fliegenden Menschen, diesem Hampelmann, diesem Ikarus voller Pailletten, der ihm nicht mehr seine erniedrigende Geometrie und die Ironie seines Ausweichens aufzwingt. Dem Steifen, dem Erzwungenen, der Nötigung zum Kampf, der Anstrengung des Toreros zu einer rationalen Ästhetisierung, seinem Versuch, die chaotische Anarchie des anstürmenden Stieres zu harmonisieren, folgt plötzlich, fast ohne Vorwarnung, dieser alles zerreißende, luftgeborene, geschmeidige Moment der cogida, des Hornstoßes, den das Blut bald verdunkeln wird. Dann kommt auch schon der Aufprall, der Sand, der gefallene Körper, die schwarze Schnauze, die Brutalität, die Schreie des Publikums und die hektische Runde der capas, der Ballettschuhe, der rosa Strümpfe der peónes. Und noch ein bisschen später der

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Geruch nach Äther, das Knirschen des Lichtgewandes, dass von einem Skalpell aufgetrennt wird, die weißen Kacheln der Krankenstation und etwas Warmes auf Bauch und Schenkeln: Blut. Pepe Luis Vásquez, Espartaco, Galindo, Finito de Córdoba, Palomar, Fer­ nando Lozano, Posada, zweimal Parada, zweimal ebenfalls Joselito und noch viele andere haben in diesem besonders gefährlichen Jahr den Moment des Hornstoßes erlebt, der wie ein Hieb mit dem Rasiermesser die Leinwand der überlegten Gesten des Toreros spaltet. Die Saison 89 hat als eine der blutigsten für die Toreros bereits jetzt die schreckliche Saison 88 überholt. Sie wird zweifellos das Rekordjahr 1987 in den Schatten stellen, das laut der gängigen Terminologie des Stierkampfes dreißig „schwere oder sehr schwere cornadas“ gesehen hat; dreimal mehr als im Jahr 1986, in dem dreimal weniger gezählt wurden: nur zehn. Angesichts des Hornstoßes zeugen die Toreros von einem allseits erprobten Professionalismus. Sie überlassen die „blutigen Sommer“ der Literatur und die „Tragödien im Lichtgewand“ den Journalisten. Selbst sprechen sie nüchtern von Arbeitsunfällen. Der ehemalige mexikanische Torero Juan Silveti beschreibt es geradezu wie eine metaphysische und unverrückbare Arbeitsteilung der Fatalität im Stierkampf: „Man darf sich keine Angst machen lassen. Die Rolle des Toreros ist es, Degenstöße, die des Stieres, Hornstöße auszuteilen.“ Die cornada scheint aus dem Himmel der Selbstverständlichkeiten zu regnen wie eine undurchschaubare Regel und der stierkämpferische Empirismus versucht, ihr Fließen nachzuvollziehen, ohne darüber hinaus nach präzisen Gründen zu suchen. War es der Torero, der sich vertan hat? War es der Stier? Was war es? Man weiß es nicht, und alles andere bleibt Statistik. Der gefährlichste Monat ist der August, mit mehr als 27 % der Verletzungen (laut den Zahlen von Michel Bertrand, der sie berechnet hat, um ein Versicherungssystem aus der Taufe zu heben), einfach, weil im August 29 % der Corridas eines Jahres stattfinden. Madrid gebührt die dunkle Krone, weil dort mehr Stierkämpfe als anderswo organisiert werden, mit ernst zu nehmenden Stieren. Die Häufung der Gefahr in den letzten drei Jahren kann man durch eine weniger arithmetische und eher historische Analyse ansatzweise erklären. Das gefährlichste Jahrzehnt in der Geschichte des Stierkampfes waren die

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Dreißigerjahre. Die Gründe? Die Toreros setzten die von Belmonte eingeleitete Revolution des Kämpfens um, aber mit Stieren aus dem 19. Jahrhundert. Sie versuchten, mehr und mehr vor die Hörner zu treten und den Angriff des Stieres abzulenken, statischer, unbeweglicher als vorher, wo man ihn einfach an sich vorbeilaufen ließ. Vorher bekämpfte der Torero Stiere, die die Züchter in erster Linie dazu bestimmt hatten, das Pferd des picadors anzugreifen, um sie dann schnell und ohne „Kunst“, diesem neuen Konzept Belmontes, von sehr beweglichen Toreros töten zu lassen. Die steigende Zahl der schweren Hornverletzungen der letzten drei Jahre, die in früheren Zeiten ohne Penicillin und Notfallchirurgie sicher Todesfälle produziert hätten, könnte auf derselben Unvereinbarkeit zwischen dem aktuellen Stier und den zeitgenössischen Moden des Kämpfens beruhen, wie der Stierkampfkritiker Francisco Aguado ausführt. Der heutige Stier ähnelt dem der Dreißigerjahre. Er ist auf halbem Weg zwischen einem tapferen und einem feigen Stier, einem toro bravo und einem toro manso. Weil sie die in der Vergangenheit schwer angeschlagene Kampfmoral des Tierbestands der Rasse brava wieder aufrichten wollen, produzieren die Züchter momentan notwendigerweise einen Typ Stier bronco, das heißt hart, brutal, gleichzeitig defensiv und offensiv, manchmal gleichzeitig klar und kompliziert in seinen Absichten, der etwas vom manso und etwas vom bravo hat. Diese zootechnische Konjunktur trifft unvermeidlich auf die aktuelle Vorliebe des Publikums für ein kunstvolles toreo, eher schön und verführerisch als technisch, von einer stetig anwachsenden Generation von Toreros vorgeführt. Sie wissen, wie man mit eleganten Figuren posiert, sie haben einen Haufen pases ausgefeilt, aber es mangelt ihnen in erster Linie an Technik, um es mit problematischen Stieren aufzunehmen. Daher das Paradox: Man „toreriert“ immer besser, immer länger, mit immer mehr Kunstfertigkeit, aber man kämpft (lidiar) technisch gesehen immer weniger. Und daher der Hagel von cornadas und ebenfalls ihre Verteilung am Körper. Viele der Hornwunden dieses Jahres befanden sich über der Gürtellinie, was (ohne davon eine allgemeine Regel zu machen) auf Schwächen des Toreros in der Beherrschung des Stieres und der Kontrolle seiner mit gesenktem Kopf ausgeführten Angriffe hinweist. Hornwunden im Oberschenkel (Joselito, Finito, Parada), im Beckenbereich, im Unterleib, im Bereich des Schambeins schaffen eine Hierarchie in der

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Schwere der Verwundung und der Ehrlichkeit des Toreros, der sie erlitten hat. Sehr schwere Verletzungen in diesen Zonen zeugen von stierkämpferischer Offenherzigkeit. Sie zeichnen in der Gegend des Unterleibs und der Oberschenkelschlagader die Höhenlinien der Authentizität. Sie beweisen, dass der Torero sich zentral im Terrain des Stieres befunden hat. Er hat sein Bein in den Weg der Hörner gestellt, die Unterwerfung des Stieres gefordert und sich im pase ganz hingegeben. Er hat entspannt gekämpft. Diese Wundmale sind vor allem Zeichen des Vertrauens. Roberto Domín­ guez, die innere Saphene allein durch einen harten äußeren Schlag des Horns auf den Schenkel zerrissen, forderte dies Mitte Juli von seinem Bett im Krankenhaus in Malaga ein: „Die Stiere erwischen die Toreros in dem Terrain, wo diese alles aufs Spiel setzen.“ Und er fügte hinzu: „Wir, die Toreros, wir gehen voller Stolz zu Boden.“ Er formulierte nur anders, was schon der FlamencoReim sagt: „Der Torero, der auch nur ein bisschen Stolz besitzt, besucht öfter die Krankenstation als ein Richter das Gefängnis.“ Um alles aufs Spiel zu setzen, braucht es beide, Mann und Stier. Die schlimmsten Hornverletzungen erhalten die Toreros von Stieren, die sich ganz hingeben. Die Kenner wissen: Die harte, trockene cornada, den Megahornstoß, verpassen die Stiere aus dem Kreuz heraus. Er läuft vom Schwanz bis in die Hornspitze. Der Stier versetzt den Stoß nicht, sondern wird vom Stoß getragen, der seinen Körper durchläuft. Als würde er ihn erbrechen, als würde in dieser plötzlichen Rohheit, die die skandalöse Evidenz der strategischen Ratlosigkeit des Toreros markiert, ein alter und vorsintflutlicher Groll, ein tellurischer Zorn hervorschießen wie eine Flintenkugel. Die Chirurgen der Arenen vergleichen übrigens die Hornverletzung mit Verwundungen durch Explosivgeschosse oder fragmentierende Kugeln. Die äußeren Wundränder sind wie verbrannt. Das Innere der Wunde, ohne Verhältnis zu ihrer oft unbedeutenden Öffnung, ist zerfleischt. Dies ist eines der Paradoxe des Hornstoßes. Seine Schwere entspricht nicht unbedingt dem mehr oder weniger spektakulären Aspekt des Zusammenpralls. Alles geht sehr schnell, passiert beinahe nebenbei. Die Tragödie in der Arena kommt auf leisen Füßen. Manchmal unbemerkt. Das Horn gleitet hinein, kommt wieder hervor, der Torero hat ein bisschen auf der Spitze geschwankt. Von außen gesehen ist es nur ein roter Punkt, aber innen hat das Horn Verwüstungen

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angerichtet. Im Mai 1988 in Madrid wird José Luis Ramos vom Stier zu Boden geworfen. Er erhebt sich, offensichtlich unverletzt. Man setzt ihn auf den Laufrand der Barriere und kippt ihm als einzige Medizin etwas Wasser auf den Nacken. Er will wieder vor den Stier. Er fühlt nichts. Plötzlich bricht er zusammen. Man trägt ihn in die Krankenstation. Das Horn hat die Lunge durchbohrt, das Herz um zwei Zentimeter verfehlt. Er wird gerade noch gerettet. Zwei Wochen später entlässt man ihn aus dem Krankenhaus. Ein weiteres Paradox: Die Toreros erholen sich physisch sehr schnell von extrem schweren Verwundungen. Die Chirurgen suchen für diese Wunder magisch-psychosomatische Erklärungen: Die Toreros sind jung, gesund, ihre Mentalität ist eisern, ihre Berufung unwiderstehlich, ihr Wunsch, wieder zu kämpfen, unbezwinglich. Dies alles beschleunige die Wundheilung. Was die Moral angeht, steht auf einem anderen Blatt. Wenn manche Toreros nach schweren cornadas laut eigenen Worten „wiedergeboren“ werden, genesen andere nur schlecht vom Wundbrand, den das Horn in ihren Köpfen verursacht hat. Und dafür gibt es keine Antibiotika. Pepe Luis Vargas ist seit seiner schrecklichen Verletzung in Sevilla 1987 trotz seines nicht zu leugnenden Mutes nicht mehr im Rennen. Manili oder auch Juli, letztes Jahres in Almeríla aufgespießt, fällt es schwer, sich dieses Jahr zu behaupten. Es sind Oger ohne Hunger. Man kann durchaus den Hornstößen unterliegen, die die Ratlosigkeit versetzt. Libération vom 26. 8. 1989

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Die Angst ist der kleinste gemeinsame Nenner der Menschheit. Angst vor Verlust. Des guten Mutes, des guten Rufes, des Geldes, der Liebe, der Gesundheit und letztendlich des Lebens. Wer groß behauptet, er kenne keine Angst, hat trotzdem Angst, welche zu bekommen. Die Frage ist, wie man damit umgeht. Wen man sich zum Vorbild nimmt. Von wem man etwas lernen kann, heutzutage. Die Antwort liegt auf der Hand und kostet nur das Geld für einen Platz auf den hohen Steinstufen der Arena von Nîmes oder auf einer schmalen Bank unter den Bögen von Las Ventas: von den Toreros.

Toreros: Stoiker in der Arena 11. Juli: Sebastian Castella in Pamplona. Am Ende eines pase in Brusthöhe versetzt ihm Rosario, Stier der Osborne-Zucht, einen Hornstoß in den rechten Oberschenkel. Man sieht ein Loch. Blut fließt. Ohne die steinerne Miene zu verziehen, bleibt Castella in der Arena, stellt sich noch dichter vor Rosario, kämpft lange mit ihm und tötet ihn schließlich. Der Präsident der Corrida gewährt ihm ein Ohr, das zwei wert war. Castella salutiert ihm ordnungsgemäß, reicht das Ohr seinen Helfern für eine Ehrenrunde und geht langsam zur Unfallstation, begleitet von den Rufen des Publikums: „Torero! Torero!“ Die beiden Wundkanäle des Hornstichs sind dreißig Zentimeter tief. Er braucht zwei Wochen, um wieder auf die Beine zu kommen. Drei Tage später ist Ferrera an der Reihe. Sein erster Stier von Victorino Martín bohrt ihm ein Horn in den rechten Oberschenkel. Er macht weiter. Sein zweiter Stier bohrt ihm ein Horn in den linken Oberschenkel. Er macht weiter. Am Ende bekommt er zwei Ohren und den Schwanz. Sonnen- und Schattenseite der Arena rufen: „Torero! Torero!“ Kommentar Ferreras: „Als der der Ordnungshüter mir den Schwanz überreichte, spürte ich etwas sehr Intimes, fast eine Einsamkeit. Ich stand unten im Rund und fühlte mich gänzlich als Torero.“ Als was fühlen sich vergleichsweise Fußballer, wenn sie sich beim kleinsten Wehwehchen auf dem Rasen winden? Als Regenwürmer? Der Torero ist

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kein Regenwurm. Während des Kolloquiums Ethik und Ästhetik der Corrida, das im Dezember in Paris in der École normale supérieure stattfand, sprach der Philosoph und Direktor der philosophischen Abteilung der Schule, Francis Wolff, über die Ethik des Toreros. Eine Ethik des Seins, des Ausnahmeindividuums, das sich ganz mit seinem Tun identifiziert und seine ihm eigene Gelassenheit zur Schau stellt. Diese Ethik gehorcht laut Francis Wolff den klassischen Kriterien des Stoizismus und Castella, Ferrera, aber auch viele andere Toreros übernehmen es seit eh und je, sie weit entfernt von der Rue d’Ulm und ihrer École normale zu veranschaulichen. José Tomás zum Beispiel. Am 9. April 2000 in Saragossa versetzt ihm ein Stier einen gewaltigen Hornstoß oben in den rechten Oberschenkel. Durchmesser der Wunde: 5 Zentimeter. Gesamtlänge der drei Kanäle: 47 Zentimeter, mit Freilegung des Ischiasnervs. Tomás macht weiter, als wäre da nichts. Weil da nichts ist. Er wirft keinen Blick auf seine Verletzung, verbietet, sie zu untersuchen, tritt ohne jedes Hinken wieder vor den Stier, verzichtet auf jedes Zurschaustellen von Schmerz, ähnlich dem Spartaner, dem ein unter der Tunika versteckter Fuchs die Brust zerfleischte, tötet seinen Stier, geht zur Brüstung, wäscht sich lange die Hände, bekommt ein Ohr, salutiert in der Mitte der Piste und geht zur Unfallstation, wo er nur sagt: „Der Moment war gekommen, verletzt zu werden.“ Im Krankenhaus kommentiert er eisern: „Die Idee, dich nicht von den Geschehnissen überwältigen zu lassen, erlaubt es dir, dein Ziel zu erreichen.“ Ein anderes Mal in Badajoz bleibt er trotz einer Hornwunde am Anfang der Corrida dabei, sieht seinen Kollegen beim Kämpfen zu, trotzt seinem zweiten Stier und verlässt das Rund, um sich 20 Zentimeter Schenkelwunde operieren zu lassen. Die Chirurgen der Arena staunen: „Sind Sie eigentlich schmerzunempfindlich?“ Während des Kolloquiums erklärte Francis Wolff, dass das ethische Gebot des Toreros von diesem verlangt, „sein Selbstbild über seinen Wunsch nach Selbsterhaltung zu stellen“. Er verglich diese trotzig eingeforderte Haltung mit dem stoischen Prinzip des Sklavenphilosophen Epiktetos: „Frage dich zuerst, was du sein willst.“ In unserem Fall: Torero. Das heißt: ein junger, bebender Mann, der vor seinem Spiegel kühl eine eiskalte Maske aufsetzt. Der katalanische Torero Serafín Marín hat gesagt, „wenn du in einem Stierkampf angesagt bist, ist das, was am wenigsten zählt, dein Leben“. Torero zu sein, stellt Wolff klar, „ist ein Wert an sich“ und der Inbegriff einer Ethik, die „den univer-

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sellen Moralvorstellungen widerspricht“. Die größte Ehre des Toreros sind nicht die Belohnungen in Form von Ohren und Schwänzen, sondern, „Torero“ genannt zu werden. Torero zu sein ist ein vom Erfolg unabhängiger Wert. Man kann Torero bleiben, während das Publikum buht, während man versagt, wenn man würdig dazu steht. Deshalb ist der Torero „ein einzigartiges Wesen in der modernen Welt“. Wolff gibt zu bedenken, dass wir einem großen Sänger nicht „Sänger! Sänger!“ zurufen, ebenso wenig wie „Koch! Koch!“ einem Chefkoch, dem ein grandioses Rindsgulasch gelungen ist. Ein Torero, seiner Aufgabe schuldig, ordnet seinen Schmerz dem Willen unter, das zu sein, was er ist: Torero. Talavante: „Ein Torero muss wie ein Samurai sein: Er muss den Schmerz überwinden und eine hohe Meinung von sich selbst haben.“ Die Legende von Manuel Domínguez, genannt „Desperdicios“ („Abfälle“), dem Schöpfer des toreo auf Knien, trommelt zu diesem Ideal den Wirbel. 1857 in Puerta de Santa María bohrt ihm ein Stier das Horn ins Auge. Domínguez soll den auf seiner Wange hängenden Augapfel mit den Worten abgerissen haben: „Das, das ist nur Abfall.“ Die Geschichte ist beispielhaft, aber apokryph. Manuel Domínguez bekam seinen Spitznamen von seinem Professor Pedro Romero in Sevilla, der angesichts seiner Fähigkeiten ausrief: „Bei diesem Muchacho gibt es einfach nichts Überflüssiges!“ Es sind die acht Gebote von Pedro Romero, die die Ethik des Stierkampfes begründen. Das erste besagt: „Der Feigling ist kein Mann und für den Stier braucht es ganze Männer.“ Das zweite versichert, dass die Angst mehr Wunden verursacht als die Hörner. Deshalb muss die Ethik des Toreros die Angst zubetonieren. Die Ängste. Der Mexikaner Procuna unterscheidet drei: die Angst vor dem Stier, die Angst vor dem Publikum und die wichtigste, die Angst vor der Angst. Juni 2001, Madrid. Die Stars haben beschlossen, gegen Stiere aus wilderen Züchtungen anzutreten, und El Juli nimmt es mit den Guardiolas auf. Sein zweiter Guardiola ist stark und aufmerksam. Sobald er sich unterlegen fühlt, begehrt er auf. El Juli hat verstanden. Er schert sich nicht darum und bekommt einen großen Hornstoß quer durch den Schenkel. El Juli: „Ich weiß noch die Angst, die ich vor dem Guardiola in Madrid verspürte. Ich wusste, er würde mich verletzen, und ich wusste, ich würde trotzdem bis dahin weiterkämpfen. Und ich hatte Angst. So sehr, dass ich mich wie befreit fühlte, als er mich schließlich erwischt hat.“ Der Torero als stoischer Held versteckt seine Angst und vergisst

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darüber nicht sein Latein. El Califa: „Mut heißt, keine Angst vor der Angst zu haben.“ Die Angst des Toreros ist knapp, treffend und der Sache eigen. Eines Tages im August kämpft Pepe Luiz Vázquez in der Nähe von Córdoba in Lucena zusammen mit Cagancho. Vor der Corrida geht er in Caganchos Zimmer, um dort eine Zigarette zu rauchen. Dieser liegt im Halbdunkel auf dem Bett, unter einer Decke, trotz der sommerlichen Backofenhitze. Vázquez hält ihn für krank. Falsch. Cagancho hat kalte Füße. Die Angst. Vicente Barrera, Großvater des zeitgenössischen Toreros selben Namens, kotzte stressbedingt vor dem Aufmarsch in der Arena. José Antonio Campuzano: „Ein Torero, der jedes Jahr acht oder zehn Stierkämpfe mit den Miura-Stieren akzeptiert, hat in fünf oder sechs Jahren weiße Haare und ein Magengeschwür.“ 1971 bekämpft Luis Parra „Jerezano“ einen Stier von Victorino Martín in Madrid. Seinen Kollegen Maraceno hat bereits das Horn erwischt. Er wird verletzt, aber er muss noch den letzten Stier töten. Er flieht aus der Krankenstation und kniet sich vor die Tür in der Barriere, durch die der Stier ins Rund kommt. Der Türsteher weigert sich, sie zu öffnen. Zu viele Hornverletzungen. Jerezano brüllt ihn an: „Mach die Tür auf, weil ich sonst vor Angst vergehe!“ Wie hält man das aus, wie erträgt man so etwas? Paco Camino: „Wir alle kennen die Angst. Man muss sie überwinden und verbergen. Wie? Mit dem Herzen, mit dem Verstand, mit seiner ganzen Seele, mit seinem Ehrgeiz, mit seiner schlechten Laune.“ Mit der Ethik. Wolff: „Torero zu sein heißt, all dem mit Verachtung zu begegnen, was dem Rest der Welt zu schaffen macht.“ Libération vom 3. 8. 2006

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Ein Artikel über Hornmanipulation ist sicher trockener und weniger spannend als ein unmöglicher Triumph von Curro Romero oder eine Analyse der Erotik im Stierkampf. Er hat trotzdem hier seinen Platz gefunden, um zu zeigen, dass der gewissenhafte Stierkampfjournalist kein naiver Lobhudler sein darf. Gerade weil er die Stiere liebt, weil er einer Ethik unterliegt, muss er jeden Betrug anzeigen. Das ist er nicht nur seinen Lesern, sondern dem Stierkampf und sich selbst schuldig. Nichts schadet dem Stierkampf mehr als Blauäugigkeit. Jacques Durand, unabhängige Stimme in einer französischen Tageszeitung, kann sie durchaus heben, wenn er es für nötig hält.

Der Betrug am Ende der Hörner Siebenundvierzig, laut den Tierärzten des Polizeilaboratoriums von Canillas in Madrid, spezialisiert auf die Untersuchung verdächtiger Hörner. Diese Zahl der Stiere mit manipulierten Hörnern in der Saison 96 scheint geringfügig, wenn man bedenkt, dass rund 4800 Stiere bekämpft worden sind, die Jungstiere nicht mitgerechnet. Die Realität ist weniger schön. Die Tierärzte haben nur 69 verdächtige Hornpaare von suspekt aussehenden Stieren untersuchen können. Diese Zahl von 47 ist also nur ein Indiz für den Fortbestand des Betrugs und die oberste Spitze eines gewaltigen Eisbergs, dessen Größe und Tiefgang niemand genau kennt. Es sei angemerkt, dass auch Arenen erster Kategorie wie Sevilla und Valencia von diesem Krebsgeschwür befallen sind, was nur die Gimpel erstaunen wird. Fälschlicherweise wird behauptet, das Abfeilen der Hornspitzen hätte in den Vierzigerjahren angefangen, unter dem Einfluss von José Flores „Cámara“, dem Manager von Manolete. Die Stierkampfregelung von 1930 spricht in der Tat nicht vom „Rasieren“, dem afeitado, bei ihrer Aufzählung der diversen Straftaten, die die Integrität des Stieres infrage stellen. Damals wie heute konnte man allerdings unter Aufsicht eines Tierarztes und mit dem Einverständnis des dazu abgestellten Polizeidelegierten die auf der Weide beschädigten Hör-

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ner „verbessern“, indem man die Splitter weghobelte, oder durfte einen unregelmäßigen Hornstand harmonisieren. Obwohl missgestaltete Hörner zu korrigieren nicht bedeutet, ihre Spitze zu brechen, ihnen „das Gift zu nehmen“, wie man vormals sagte, bleibt die Versuchung zum Betrug ein enger Nachbar des legalen Säuberns. Die Stiere wären also vor Manolete nicht „zum Barbier“ geschickt worden? Schwer zu glauben. In der Zeitschrift 6 toros 6 vom März 1994 zitiert der englische Stierkampfjournalist Michael Wigram einen Text des Schriftstellers und Züchters Antonio Fernández de Heredia von 1904, in dem dieser den Tierärzten rät, „sorgfältig die Hörner der Stiere zu untersuchen, weil viele von Menschenhand manipuliert worden sind“. Historisch gesehen wird der erste offizielle Fall eines afeitado am 31. Juli 1942 genannt. Manolete hat die Hand nicht im Spiel. Er wird Marcial Lalanda zur Last gelegt, der an jenem Tag in Valencia seinen Abschied vor Stieren von Conde de la Corte gibt, mit Hörnern, zu abgerundet, um ehrlich zu sein. Der Vertrauensmann der Züchtung, der Manager von Lalanda, Lalanda selbst und der Veranstalter der Corrida werden mit einer Geldstrafe belegt. Ein Einzelfall? Im selben Jahr schickt der Conde de la Corte, der strikt gegen diese Machenschaften ist, dem Zivilgouverneur von Barcelona ein Telegramm, um ihn zu warnen. Man hat ihn von dem Plan berichtet, seine Stiere für eine Corrida in der katalanischen Hauptstadt zu „rasieren“. Aber weil entweder die Stierkampfmafia einen langen Arm oder die spanische Post einen lahmen Versand hat, kann der Sekretär des Gouverneurs seinem Vorgesetzten die telegrafische Warnung erst nach Ende des Kampfes zustellen. 1974 gestand der ehemalige Verwalter der Züchtung Sánchez-Cobaleda der Gaceta Regional von Salamanca, dass er zu Lalandas Zeiten mit eigener Hand einen Haufen Hörner abgefeilt hatte. Der Frevel blüht allerdings unter dem Duo Manolete/Camara erst richtig auf. Bis zu dem Punkt, an dem fast sicher ist, dass Islero, der Stier, der Manolete im August 1947 in Linares tötete, abgestumpfte Hörner hatte. Was die Familie des Züchters Miura immer bestritten hat, aber Luis Miguel Dominguín, der an jenem Tag in der Arena stand, ohne jeden Komplex zugab. Angefeilt, und möglicherweise richtig kurz gefeilt, eine Manipulation mit schweren Folgen. Vielleicht hätte die intakte Hornspitze, die bellota, von Islero die rechte Leistenbeuge und die Saphene nicht dermaßen zerrissen. Am 2. Oktober 1952 wurde der peón Ma-

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riano Alarcón auf dieselbe Art und Weise von einem laut seinem Matador Luis Briones „skandalös verbesserten“ Stier getötet. Der Kopf von Islero verschwand nach der Corrida, laut Gerücht von einem „Mann für alle Fälle“ des Stierkampfmilieus irgendwo vergraben, der daraufhin in Camaras Dienste trat und sich um die Hörner der Gegner der hauseigenen Toreros kümmerte: Litri, Aparicio, Ped­ rés, Chamaco, Ordóñez. „El pecado de Camara“, die „Sünde Camaras“, nannte man im Stierkampfmilieu zu jener Zeit die Hornmanipulationen, einer Zeit, in der laut César del Arco, dem Autor von La lidia sin cuernos (Der Kampf ohne Hörner), die Identität der Barbiere jedem bekannt war. Juan Martínez zum Beispiel feilte für Dominguín, Ordóñez und Rafael Ortega. Und der Totengräber von Islero ist immer noch in Aktivität und dient als Handlanger in wichtigen spanischen und französischen Arenen. 1952 denunziert der Matador Domingo Ortega, mittlerweile selbst Züchter, den Betrug während einer Stellungnahme in der offiziellen Schule für Journalismus. Seinem Beispiel folgen im selben Herbst der Torero Antonio Bienvenida, Präsident der Sozialkasse der Toreros, und der Züchter Antonio Peréz Tabernero, trotz seines Rufes eines Produzenten von Kommerzstieren für die Stars. Die Kampagne gegen das afeitado, in der Zeitschrift ABC lanciert, sorgt für Aufruhr. Life, die Times, Le Monde, France-Soir und sogar Le Journal de Genève berichten davon. Auf dem absteigenden Ast, aber bestärkt durch einen großen Erfolg im Oktober 1952 in der Arena von Madrid, denunziert Bienvenida die Erpressung, der die zum Opfer fallen, die das afeitado zurückweisen und daraufhin keine Verträge mehr bekommen. Sie müssen sich fügen oder können zu Hause bleiben. Bienvenida zieht sich den Zorn seiner Kollegen zu, den von Aparicio in erster Linie. Die Sicherheitsgeneraldirektion verpflichtet sich, entschiedener vorzugehen und unternimmt Maßnahmen gegen den Betrug. Konsequenz: Vor Anfang der Saison 53 verabschieden sich Litri, Arruza, Dominguín, PepeLuis Vázquez, Manolo Gonzáles, Pepin Martin Vázquez und Parrita aus der Arena. Nach diesem Warnschuss gedeiht die afeitage wieder zu alter Stärke und einige kehren vor die Stiere zurück. Bienvenida und Aparicio vertragen sich. Am 1. Juli 1954 kämpfen sie gemeinsam in einem mano a mano. Jeder widmet dem anderen einen Stier. Im Sommer 1970 spuckt ein anderer Torero in die Suppe, von der er im Übrigen selbst reichlich gekostet hat: Paco Camino. Er verpetzt El Cordobés

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an die Presse. Er beschuldigt ihn, die Auslosung der Stiere seiner Corridas zu verfälschen und das afeitado durchzusetzen, inklusive bei seiner, Caminos eigener Zucht. Ein Geheimnis, das jeder kennt. Er klagt ihn außerdem an, die Toreros, die ihn in den Schatten stellen könnten, aufs Abstellgleis zu schieben: die Neuankömmlinge Dámazo Gonzales und Paquirri, aber auch El Viti und Miguel Márquez. Paco Camino, der sich während einer Corrida in Aranjuez am 1. Mai 1964 mit El Cordobés reichlich geprügelt hatte, hatte ohne Zweifel recht, aber keine falschen Skrupel: Ende der Sechzigerjahre ließ er sich in vielen bequemen Corridas von der Lokomotive El Cordobés mitziehen. Sie teilten sogar eine Zeit lang denselben Manager. In Abwesenheit von unzweifelhaften und kompletten Angaben sind die Zahl und die Entwicklungen dieses jämmerlichen Schwindels nur schwer zu durchschauen. Ein Schwindel, der nur schwer nachweisbar ist, wenn er richtig ausgeführt wird. Sein Ausmaß kann sich zum Beispiel durch den Aufstieg eines Startoreros vergrößern, der sein Gesetz einem System diktiert, dass er gleichzeitig finanziell durch eine große Anzahl Kämpfe vor naivem, schlecht informiertem oder gleichgültigem Publikum unterhält. Die strengen Schranken der spanischen Gesetzgebung helfen da wenig oder gar nicht. Zudem sind die wissenschaftlichen Kriterien der Hornanalysen seit jeher beliebter Gegenstand der Kontroverse. Die neu geschaffene Konföderation der professionellen Stierkampfverbände, die in Spanien außer den aficionados alle betroffenen Parteien vereinigt, hat für die Reform der fiesta national den Exminister Javier Gómez Navarro, Erneuerer des spanischen Sports, herangezogen. Sie will eine aus Experten und Tierärzten zusammengesetzte Kommission ins Leben rufen, die die Aufgabe hat, ein definitives und unbestreitbares System der Analyse verdächtiger Hörner aus der Taufe zu heben. Wait and see. Wie steht es heute um den Betrug? 1987 behauptete der Stierkampfkritiker Vincente Zabala im ABC vom 7. Dezember, das afeitado „sei wieder auf dem Niveau seiner schlimmsten Zeiten“. Der Tod von Paquirri und Yijo 1984 und 1985 hat vielleicht im Aufleben des Schwindels eine Rolle gespielt, die tödlich für die Ethik der Corrida ist und gegen die sowohl Stierkampfgegner wie auch aficionados, Journalisten und wirtschaftlich unter Druck gesetzte Züchter protestieren. Unter anderem José Luis Albasserade und Luis Guillermo López Olea, die heutigen Verantwortlichen der anfangs zitierten Züchtung Conde de

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la Corte, oder auch Fernando Cuadri. Letzterer erklärte 1993 in El País, dass „ein Züchter, der das afeitado ablehnt, große Schwierigkeiten hat, seine Stiere zu verkaufen“ und dass sein inzwischen verstorbener Vater Celestino „es vorzog, seine Stiere zu schlachten, als ihre Hörner zu manipulieren“. Libération vom 25. 1. 1997

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Der Übersetzer hat ein Problem. Es gibt den tiefen Süden, das tiefe Meer, die tiefe Stille, die tiefe Seele, den tiefen Bach, aber gibt es den tiefen Stier? Macht das einen tiefen Sinn? Ein „abgründiger“ Stier hat etwas Dämonisches, ein „bodenloser“ Stier etwas architektonisch Fehlerhaftes und ein „grundloser“ Stier ist ein Widerspruch an sich. Mehr gibt der Duden der sinn- und sachverwandten Wörter nicht her. Ein tiefer Stier ... Vielleicht liegt es an den vielen I, dass er an einen Spatzen auf dem Dach denken lässt. In „taureau profond“ rollen und grollen die O so schön orakelhaft. Man hat alle Vokale außer dem I. Das hat der tierisch vor sich hin stierende tiefe Stier stibitzt. Es ist schwierig, in einer Sprache über etwas zu reden, in der es einfach nicht die richtigen Worte gibt.

Der Mann, der in den „tiefen“ Stieren liest Jean-Jacques Baylac liebt den „tiefen“ Stier. Den Stier con cuajo y hechuras, den „gereiften“, ausgewachsenen Stier, körperlich beinahe perfekt im Hinblick auf die Kriterien seiner Rasse, den kompakten, aber nicht fetten Stier, den „durchwachsenen“, „vollen“ Stier, der „vorne was hat“, mit einem Hals, einem muskulösen Nacken, großen Hörnern, massiver Brustpartie. Der „tiefe“ Stier eben, der schon eine dunkle Emotion „ausströmt“, wenn man ihn auf der Weide sieht: ruhig umhergehend, selbstbewusst und wie befriedet durch seine eigene Stärke zwischen den alten Steinwällen, Eichen und Olivenbäumen des Campo Charro um Salamanca oder seine Wildheit direkt unter der Haut tragend, im tiefen Andalusien. Seine Majestät, der Stier. An der Hinterwand seines Schuhgeschäfts in Vic-Fezensac hat Jean-Jacques Baylac den großen ausgestopften Kopf einer dieser tiefen Stiere aufgehängt, die er zusammen mit anderen Mitgliedern des Stierkampfvereins für die Pfingstferia der Stadt bei den Züchtern aufspürt. Es ist ein typischer Cobaleda: Hörner wie eine Heugabel, weiße Flecken im Fell. Ein Ohr fehlt. Das hat ihm Richard Milian abgeschnitten, vor einigen Jahren. Jedes Mal, wenn Milian nach Vic kommt, sucht er den Schuhladen auf, um den Kopf „seines“ Cobaleda wieder-

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zusehen und sich nachträglich noch ein bisschen Angst zu machen. Es ist ein echter Cobaleda gewesen, ein Luciano Cobaleda, einer dieser sehr stolzen und wilden Stiere, deren Gestalt und Kampfmoral 1904 genetisch festgelegt wurde und der „blutsverwandt“ ist mit den schwarz-weißen Stieren von Don Justo Nieto mit ihren Hörnern wie ein umgedrehter Fahrradlenker. Er hat nichts gemein mit den oberflächlichen Cobaleda von heute, die von ihren Vorfahren nur den Namen haben. Ihr Blut ist ein anderes. Jean-Jacques Baylac redet von dieser alten Abstammung und dieser früheren Wildheit in Begriffen von genetischem Erbe, aber auch von einer Kultur. Ein gefährdetes Erbe, im Aussterben begriffen, welches die Kreuzungen eintrüben und verlieren, weil der Stierkampf sich wandelt. Ein Beispiel sind die legendären Stiere von Concha y Sierra, bekannt für ihre Wildheit. Um ihr Temperament zu „mildern“, haben der ehemalige Matador Miguel Litri und der Züchter Gabriel Rojas, die jetzigen Verwalter dieser Rasse, ihr Blut durch Kreuzung „geläutert“, wie ein Winzer, der seinen zu herben Wein verwässert. Rojas hat folgerichtig alle seine Kühe von Concha y Sierra durch Kühe von Carlos Núñez ersetzt. Letztere sind Teil des Supermarktes der batteriebetriebenen Tapferkeit: eine Tapferkeit, die in der Tat lange anhält, aber keinen Biss hat, keine Härte, und die dabei ist, eine große Zahl der Züchtungen zu infizieren, einschließlich der des Conde de la Maza. Dieser war noch vor zwei oder drei Jahren bekannt für seine zänkischen Stiere. Und heute? „Er ist immer noch der Conde de la Maza, aber seine Stiere sind Carlos Núñez.“ Und die Wildheit der Concha y Sierra geistert nur noch durch einige alte Zeilen des Flamencos: „Die Stiere von Don Ramon Sierra sind so sehr Stiere, dass niemand sie bekämpfen mag.“ Jean-Jacques Baylac ist ziemlich pessimistisch, was die allgemeine Evolution des Tierbestands der Rasse brava angeht. Weil der zeitgenössische Stierkampf und die Vorliebe des Publikums für einen ästhetisierenden Stierkampf zu einer Produktion von Stieren verleitet, die eher Mitarbeiter als Gegner sind, „radieren“ die Züchter die Kaste ihrer Produkte aus, unter dem Vorwand, ihre Qualität zu verbessern, und behauptend, der Stier müsse dem Torero dienen. „Klar, diese neue Bravour der Stiere erlaubt lange faenas, aber sie bleibt weich und passiv. Mich persönlich stört es überhaupt nicht, wenn ein Stier von Pablo Romero nicht genügend das Tuch verfolgt.“ Baylac hat nichts gegen Ästhetik,

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aber er führt aus, dass die Ästhetik der Corrida aus der Emotion entsteht, und die Emotion „kommt vom Stier.“ Der tiefe Stier ist genau das: ein Stier, der sich einbringt, indem er jeden seiner Angriffe abwägt, „mit dem Wunsch, zu zerreißen, zu zerstören“. Der tiefe Stier besitzt Offenheit und Rhythmus, aber auch gefährliche Hintergedanken. „Er riecht nach Schwefel. Nicht nach Chloroform.“ Jean-Jacques Baylac begründet seine Vorliebe mit der Moral, der Ethik: „Man geht nicht in die Arena, um eine Vorführung mit Rindern zu sehen, sondern man prüft den Kampf eines einzigartigen Wesens, des Stieres, der eine Frucht einer menschlichen Arbeit der Auslese über Generationen hinweg ist. Der Torero ist anekdotisch. Man kann ihn wieder sehen. Der Stier dagegen hat nur eine Viertelstunde, um seine Wahrheit zu verkünden und muss alle Trümpfe bekommen. Ein Stier darf nicht umsonst sterben. Der Akt, einen Stier zu töten, wiegt schwer, und man kann ihn nicht ohne Konsequenzen zulassen: Wenn man den Stier tötet, muss man akzeptieren, von ihm getötet zu werden.“ Jean-Jacques Baylac, der weder die Jagd noch das Fischen mag, ist als Amateur vor sehr respektable Stiere getreten. Er hat sich immer geweigert, ihnen den Degenstoß zu versetzen, „weil Amateurhaftigkeit auf diesem Gebiet unentschuldbar ist“. Er, der aficionado bis in die Haarspitzen, weigert sich ebenso, Stierkämpfen beizuwohnen, deren Programm von „oberflächlichen Stieren verseucht ist“. Er empfindet nicht mehr diese unerträgliche Frustration des aficionado: einen Stierkampf zu verpassen. Außerdem gibt er zu, dass er keinerlei ästhetische Befriedigung von einer Corrida erwartet. In Vic-Fezensac sagt man, seine Kenntnis der Stiere sei dermaßen genau, dass Manolo Chopera ihn anstellen wollte, um ihn für seine Corridas die Stiere vor Ort aussuchen zu lassen. Baylac leugnet es nicht. Aber er zieht es vor, seine Sachkenntnis und sein „Auge“ seinem Verein in Vic zur Verfügung zu stellen, für den er zusammen mit vier oder fünf anderen Liebhabern des tiefen Stieres die Züchtungen durchkämmt. Er ist 42 Jahre alt und seit 1970 marschiert er zwei- bis dreimal pro Jahr bei den Züchtern querfeldein, um die Stiere für die Feria der Stadt auszusuchen. Eine komplexe Aufgabe. Er informiert sich über die Abstammungen, bittet die Hirten zur Beichte, beobachtet, wägt ab, vergleicht die Informationen, die man ihm zögernd gibt, mit denen, die er schon besitzt. In mehr als vierzig Züchtungen folgt er dem Rhythmus der Geburten, dem Wechsel der Beschäler und der Kühe. Er verfolgt das Wachstum der Kälber

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von einem Jahr zum anderen. Alles wird für den Verein analysiert und aufgeschrieben, dem er Bericht erstattet über die ausgewachsenen Stiere, die die Züchter ihm am Beginn des Winters anbieten. Er begutachtet ihr Format, ihren Hals, ihr Fell, die Ausrichtung ihrer Hörner, ihre Augen. Er findet verdächtige Höcker, bemerkt das leichteste Hinken. Er hat in seinem Kopf den Familienstand und die Beschreibung von Hunderten von Stieren gespeichert. Er weiß, dass bei dem Züchter Sowieso jener Stier der Bruder jener Kuh ist, Tochter von jener anderen. Er weiß, dass jener Miura-Stier mit dem kastanienbraunen, ins Rote spielenden Fell und einem hellen Kreis um die Augen, den „Rebhuhnaugen“, ein ferner Abkömmling des Zuchtbullen ist, den am Ende des 19. Jahrhunderts der Torero Lagartijo dem Vorfahren des jetzigen Eduardo Miura geschenkt hat. Er weiß, dass der Erzeuger der Stiere von Martínez Elizondo, die letztes und nur letztes Jahr in der Arena standen, ein Zuchtstier von Fraile war, und dass die diesjährigen Stiere von Martínez Elizondo einen anderen Vaterstier haben werden, da der Züchter den regelmäßigen Wechsel der Beschäler praktiziert. Um sich eine Meinung zu bilden, vertraut er seiner Erfahrung, aber auch seinem Gefühl und schließlich schwer entzifferbaren Kriterien wie la cara, dem Gesicht des Stieres, und seinem Ausdruck: „Ein Stier auf der Weide, unter der Bedingung, dass man ihn dir richtig und von Nahem zeigt, weckt Vertrauen oder nicht. Er vermittelt etwas oder nicht. Er wird dich ansehen, du wirst ihn ansehen und manchmal genügt das. Das ist subjektiv, aber sehr oft bewahrheiten sich die beobachteten Qualitäten nachher in der Arena.“ Zu diesem faszinierten Interesse für den tiefen Stier und sein Geheimnis kommt der Respekt, den er ihm aus Neigung und Verpflichtung zu seiner aficion torista entgegenbringt. Er weigert sich, zu vergessen. Angesichts eines Fotos eines Stieres, den er hat kämpfen sehen, erinnert er sich an seine Eigenschaften, seinen Namen, seine Nummer, sein Verhalten während der Corrida und besonders an seinen Tod, „dem Moment, wo er seine Botschaft mitteilt“. Seine stärkste Erinnerung: der Tod eines Stieres in Sevilla. Es war 1974. Es war ein Stier von Álvaro Domecq. Er hieß Abrileno. Noch auf Knien fuhr er fort, die muleta von Diego Puerta anzugreifen. Tiefer Stier. Libération vom 30. 12. 1989

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Den Kampfstier ein Rind nennen, hieße, den Minotaurus einen Menschen schimpfen. Aber er besteht prosaisch gesehen wie seine entfernten Verwandten aus Lende, Filet, Nackenstück, Bries etc. Seine Verwandten, die zwischen gekachelten Wänden den Bolzenschuss in die Stirn bekommen, um später als Gulasch, Steak oder Ochsenschwanzsuppe serviert zu werden. Nach dem Kampf kommt der Stier ebenfalls in die Fleischerei. Könnte es uns ein Trost sein zu wissen, dass das Fleisch auf unserem Teller nicht von einem anonymen Sklaventier stammt, sondern von einem Wildtier, das unter den strengen Blicken von Tausenden Zuschauern seiner kämpferischen Natur entsprechend würdig getötet wurde? Ansonsten kann man sich natürlich auch mit einem Hühnchen begnügen oder mit einer einfachen Gemüsesuppe.

Der Kampfstier, ein zarter Leckerbissen Am Mittwoch, dem 7., verlieh Iñaki Edarra, der Präsident des Vereines Gazteluleku, dem Züchter Guillermo López Olea, Besitzer der ganadería Conde de la Corte, einen Preis für seinen Stier Villablanca, bekämpft am 8. Juli 1998 in Pamplona. Einen Preis für dessen Tapferkeit? Mitnichten. Einen Preis für die Zartheit und Saftigkeit seines Fleisches. Gazteluleku ist einer von vielen gas­ tronomischen Vereinen, die es in Pamplona und im Baskenland gibt. Die Idee zu dieser Preisverleihung, die die Vereine von Bilbao schon seit langer Zeit veranstalten, ist den Mitgliedern von Gazteluleku während der Feria von San Firmín 1989 gekommen. Der gastronomische Verein aus Pamplona kämpft dafür, dass das Fleisch des toro bravo ein Markenzeichen bekommt wie das der Camargue-Stiere. Ein ökologisches Markenzeichen. Die Union der Kampfstierzüchter versucht schon seit einiger Zeit, dies durchzusetzen. Der Verein Gazteluleku hat daraufhin eine Jury aus Stierkampfjournalisten und ZeitungsFeinschmeckern zusammengestellt, damit sie die estofada kosten, Schmortöpfe der jeweils acht ersten Stiere der acht Züchtungen, die im Juli 1998 bekämpft worden sind.

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Der Wettbewerb fand im September während der kurzen Herbstferia statt. Das Fleisch aller acht Stiere wurde aus der Haxe geschnitten, weil es dort am meisten Gelatine gibt. Der Gewinner Villablanca wurde von Moisés Leranoz, dem Besitzer des Restaurants El Toro, nach einem Rezept seiner Mutter zubereitet. Villablanca wurde einstimmig gewählt. Villablanca, 620 Kilo schwer, war von Ortega Cano anlässlich seines Abschieds vom Stierkampf in Pamplona sehr schlecht bekämpft worden. Er hatte lange Hörner und verhielt sich sehr tapfer unter der Lanze des picadors José Muñoz, verstorben im Mai in Vic-Fezensac. Cano und seine ganze cuadrilla waren nicht auf der Höhe der caste dieses Stieres, der vor allem auf der rechten Seite den Kopf tief in die muleta senkte, aber – ein kleiner Makel – lospreschte mit Sprüngen wie ein Hase. Cano, mit wenig Hunger zum Triumph, wurde ordentlich ausgebuht. Die Zeitung Noticias gab dem Stier die hohe Note 8. Er trug das Brandzeichen von Maria Oléa, der Mutter Guillermos. Guillermo Oléa erklärte während der Preisverleihung, dass seine Stiere in der Estremadura eine natürliche Ernährung bekommen, basierend auf Hafer, Saubohnen und Graupen aus Eigenanbau. Er selbst äße nur das Fleisch von Kampfstieren. Er fügte hinzu, dass man sie „gut behandeln und mit Zärtlichkeit und Liebe ernähren müsse“, damit sie lecker schmecken. José Tomás, der im übertragenen Sinn Kampfstiere frisst, sagte dasselbe in der Zeitschrift 6 toros 6 vom 19. Juni. „Der Stierkampf ist eine Verbindung zwischen Mensch und Tier. Wenn man den Stier sanft behandelt, greift er sanft an. Wenn man ihn roh bekämpft, wird er wild.“ Der Züchter der Conde de la Corte führte in seiner Danksagung aus, dass die Tapferkeit des Stieres in keinem Zusammenhang mit dem Geschmack seines Fleisches stehe. „Die Tapferkeit ist eine psychologische Frage, der Geschmack eine morphologische.“ Darüber lässt sich streiten. Antonio Purroy, Professor der Tierhaltung der freien Universität von Navarra, behauptet zum Beispiel, dass „die Tapferkeit des Stieres verhindert, dass sein Fleisch schwarz, hart und trocken wird“. Demzufolge könne eine winzige Dosis des Stresses, den der Stier während seines Kampfes empfindet, das Fleisch eines Kälbchens zum Verzehr völlig ungeeignet machen. Die Tapferkeit jedoch verhindere die giftigen Auswirkungen des Stresses. Demnach wäre das Fleisch eines Kampfstieres um so weniger vom Stress verdorben, um so tapferer und rassiger dieser sei. Schlussfolgerung Purroys: „Um die Qualität des

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Kampfstierfleisches zu retten, muss seine Tapferkeit und ,casta‘ wiedergefunden, bewahrt und entwickelt werden.“ So gesehen, gehen gute Küche und guter Stierkampf Hand in Hand. Außerdem ist Kampfstierfleisch meist im Sonderangebot. Bis zum 18. Jahrhundert wurde das Fleisch der Kampfstiere als unappetitlich und der Gesundheit abträglich angesehen und somit den Armen geschenkt. Doppelter Gewinn: Man blieb gesund und tat ein gutes Werk. Im 19. Jahrhundert gab es immer noch starke Vorurteile. Während einer seiner Ferias sah sich das Bürgermeisteramt von Pamplona gezwungen, das Fleisch von sechsundzwanzig Stieren, das keinen Abnehmer fand, an die Hungerleider auszuteilen. Trotzdem entsteht während dieses Jahrhunderts eine Gastronomie des toro bravo. Alexandre Dumas erwähnt in seinem Grand Dictionnaire de la Cuisine das Rezept für Stierrippchen in Malagawein und eines für „Gaumengeschnetzeltes“. Bis heute wird Stierfleisch in der Fleischerei unterbewertet. Zu 200 Peseten das Kilo ist es so billig, dass manche Züchter vorziehen, es Wohltätigkeitsvereinen zu stiften, statt es zum Kauf anzubieten. Anders als in Frankreich, wo die Ausnahmesituation des Stierkampfes ihm einen exotischen Wert gibt, ist Stierfleisch in Spanien immer noch ein Fleisch „für Arme“. José Díaz, der seit vierzig Jahren die Leiber der in Madrid bekämpften Stiere zerlegt, bestätigte das letztes Jahr in einem Artikel in El País. Die Stammkundschaft seiner Auslage auf dem Mark von Torrijos in Madrid kauft Rippenstücke, Rücken, Lende, Nacken, Schwanz vom Stier, weil es ihre dünnen Portemonnaies schont. Mit Ausnahme der Hoden, der Eier, die das Schamgefühl und eine schicke Gastronomie euphemistisch „weiße Nierchen“ getauft haben und die Simone, die Heldin der Histoire de l’oeil von Georges Bataille, öffentlich und in übertriebener Weise als Gei­ shakugeln benutzt, während der Matador Granero vom Stier Pocapena am 7. Juli 1922 einen tödlichen Hornstoß ins Auge bekommt: Die criadillas oder los huevos sind seltene und gesuchte Ware und die Schlachter der Arenen schneiden sie noch vor der Enthauptung und Ausweidung ab, um sie den wartenden Feinschmeckern zu verkaufen. Alles in allem bleibt das Stierfleisch trotz aller Vorurteile und Fantastereien, die damit verbunden sind, ein famoses, feines Fleisch. Laut Philippe Garnier, dem Chef des Restaurants Los Toros in Nîmes, ist es „gutem Rindfleisch gleichwertig, fast von der Qualität eines Charolais. Außerdem schmeckt es nicht streng

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wie Wildschwein, obwohl man das erwarten könnte.“ Einziger Nachteil: Man kann es nicht konservieren, auch nicht durch Tiefkühlen, da der Kampfstier im Gegensatz zu den Tieren aus dem Schlachthof nicht auf einmal und schnell ausgeblutet wird. Auch wenn die Rezepte mit Kampfstierfleisch eher rustikal als ausgefeilt sind und sich vor allem in Ragouts, Schmortöpfen, gesottenem Schwanz und langen Garzeiten verwirklichen, entwickeln kochbegeisterte aficionados eine gewisse Finesse. Serge Navel, ein aficionado aus Montpellier, rät zum Beispiel, zu einen Stier „à la Gardianne“ im Sommer einen Saint-Emilion zu trinken, weich und gehaltvoll, mit Aromen von Leder und Wild, wie der „Chateau Cheval Blanc“. Im Winter dagegen könne die Gardianne von einem Médoc begleitet werden, einem „Chateau Chasse Spleen“, um die trübe Melancholie der Monate ohne Stierkampf zu vertreiben. Und den Scheibchen von gebratenen weißen Nierchen könne man mit einem weißen trockenen Meursault voller Nussaroma den Kampf ansagen. Warum das Raffinement nicht weitertreiben und Beziehungen herstellen zwischen einem bestimmten Typ von Stieren und einem bestimmten Typ von Wein? Um von einem Miura zu speisen, Stier einer festgelegten und theoretisch unvermischten Rasse, könnte man zum Beispiel wegen der Schönheit der Analogie einen unverschnittenen Wein einer einzigen Rebensorte wählen: die Syrah-Traube. Nehmen wir einen Côte du Rhone „Tain-l’Hermitage“: ein Roter, dunkel, stark, rau, alkoholisch. Genau wie die Miuras, welche die Matadore nur dann bezwingen können, wenn sie das Bein vorstellen und den Arm mit der muleta senken, verlangt auch dieser nach Trinkern, die ohne Zögern den Becher heben. Das Rezept der Mama So bereitet die Mutter von Moisés Leranoz den Stier zu: Die Stierhaxe in drei bis vier Quadratzentimeter große Stücke schneiden. Salzen, pfeffern. Mit etwas Mehl bestreuen und in Öl scharf anbraten. Zwiebeln, Knoblauch, Möhren hinzufügen. Mit einem guten Rotwein aus Navarra ablöschen. Nelken und ein Lorbeerblatt zugeben. Zwei Stunden schmoren lassen, die Soße muss eine gewisse Konsistenz bekommen. Zusammenstellung Libération vom 29. 8. 1998 und 21. 7. 1999

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Bei der ersten Corrida kann Folgendes passieren: Man setzt sich ganz oben in die letzte Reihe, weil man Angst hat vor Blutspritzern und dem Geruch der Eingeweide. Weil man einfach Angst hat vor sich selbst. Das Publikum murmelt. Die Kapelle spielt. Bunte Männer und dicke Rösser stapfen durchs Rund. Ein Trompetenstoß. Eine Tür in der Barriere öffnet sich und der Stier kommt heraus. Man sieht nichts anderes mehr. Er ist kleiner, als man dachte, und so viel schöner. Dann geht alles sehr schnell, die Männer und Pferde machen ihr Ding, er liegt im Sand. Ackergäule schleifen ihn hinaus. Erneuter Trompetenstoß. Die Tür öffnet sich wieder, UND DERSELBE STIER KOMMT WIEDER, auferstanden, frisch und munter. Unmöglich. Man hat doch den Degen in seinem Rücken gesehen, das Blut. Auf dem Programmzettel steht es auch: Der erste hieß „Gänseblümchen“, der zweite „Satansbraten“. Derselbe Stier kommt noch viermal wieder. Es ist immer ein anderer: „Erdbeben“, „Schwarzer“, „Traumtänzer“, „Pures Wunder“. Namen lügen nicht.

Im Namen des Stieres Am 12. Januar 2003 in Mexiko gibt der mexikanische Torero David Silveti sein Comeback, nach 43 Hornverletzungen und einem Schädelbruch. Die kleinste Erschütterung kann eine völlige Lähmung nach sich ziehen. Es kümmert ihn nicht. In einer zu drei Vierteln leeren Arena, in Wind und kaltem Regen, bekämpft er seinen zweiten Stier wie in einem Traum. Es gelingt ihm eine faena, die die Kommentatoren als ein Wunder qualifizieren. Selveti leidet an nervöser Depression, aber an jenem Tag schwebt er wie auf Wolken. Der Name seines Stieres? Mar de Nubes, „Wolkenmeer“. 1989, ebenfalls in Mexiko, hatte der „König David“ eine andere fulminante faena mit dem Stier Ojos Alegres, „Fröhliche Augen“, gegeben. Elf Monate nach Mar de Nubes schießt sich David Silveti eine Kugel in den Kopf. Die Wolken waren zu schwarz geworden und seine Augen zu traurig.

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Der Name der Stiere trifft manchmal in beunruhigenden semantischen Schocks auf ihre Existenzberechtigung. Am 30. Mai 1943, wieder in Mexiko, macht der Jungstier Reventon, „Zersplitterer“, seinem explosiven Namen Ehre und zerlegt den Großneffen des Philosophen Schopenhauer, den novillero Félix Guzmán, in seine Einzelteile. Bei der Jagd nach Verbindungen findet man in der Geschichte der Corrida das, was man sucht: eine Lücke zwischen Anekdote und Tragik, gefüllt von reinen Zufällen und einer Mischung aus Vorsehung und Schicksal. Am 21. Juni 1917 in Madrid ist Belmonte von einem Härchen besessen, das seine Torerostrumpfhose durchbohrt hat. Er kann sich auf nichts anderes konzen­ trieren, bis der Stier Barbero, „Barbier“, ins Rund kommt, mit dem er in einem traumwandlerischen Zustand eine der größten faenas seines Lebens realisiert. Am 24. März 1907 schickt der Stier Greffier, „Gerichtsschreiber“, zweifellos wütend, weil er keine Aussage aufzunehmen hatte, den Torero Antonio Vila, genannt „Habla Poco“, „den Schweigsamen“, in die Krankenstation. Der Stier Niño, „Bengel“, war ein Schelm. Klar. Am 3. Juni 1971 in Madrid springt er über die Barriere und verletzt einige Zuschauer. Er treibt den Spaß weniger weit als Jaranero, „Klamauk“, ein novillo von Concha y Sierra, der im August 1946 in San Roque den Torero Eduardo Liceaga tötet. Kein schöner Spaß. Der Stier Optimista brauchte sich keine Sorgen zu machen. Er wird am 20. Januar 1992 in der mexikanischen Stadt León von Eloy Cavazos begnadigt, genau wie Vida, „Leben“, der das seine 2001 dank Antonio Barrera rettete. Bonito, „Der Hübsche“, ein Stier von Arribas, teilte mit dem Verwalter der Zucht Miguel Bello, „dem Schönen“, eine Art Zuneigung und eine nette Namensverwandtschaft. Am 16. Februar 1908 in Mexiko springt Bello nach den banderillas ins Rund. Der „Hübsche“ erkennt den „Schönen“ wieder, nähert sich, lässt sich streicheln. Das gerührte Publikum fordert und bekommt seine Begnadigung. Man sollte allerdings nicht die stierische Onomastik hypothekarisch belasten, um die Zukunft zu lesen. Peluquero, Enamorado, Fandaguero, Cascabel, Farolero, Solitario, Estudiante, Desertor, Bailador ... Die Namen dieser Stiere, die in die Geschichte des Stierkampfes eingegangen sind, weil sie einen Torero getötet haben, legen eine Art Unschuld nahe, das Gegenteil ihrer Missetaten.

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Sie hießen „Friseur“, „Verliebt“, „Fandango-Sänger“, nannten sich „Schelle“, „Maulheld“, „Eigenbrötler“ oder auch „Student“, „Deserteur“ oder „Tänzer“. Oder zum Beispiel Perlita, „Kleine Perle“, der den banderillero Francisco Azucena massakrierte. Im Gegenzug versteckte der Miura, der in der Arena von Arles das Leben von Nimeño II. zerstörte, das Unglück in den Falten seines Namens: Pañolero, „Taschentuchverkäufer“. Am 10. September 1989 wusste man dann, dass es Taschentücher zum Weinen waren. Vorsicht mit den Stieren. Man nimmt einen Miura-Stier, tauft ihn „Luzifer“ und glaubt, das Anrecht auf einen legitimen Teufel zu haben. Nichts da. Am 27. Juli 1922 in Valencia erlaubten die engelsgleiche Art und die Noblesse von Lucifer dem Torero Ignacio Sánchez Mejías einen seiner größten Erfolge. Er kniete sich mit dem Rücken zu den Hörnern hin, schleuderte Degen und muleta weg und bekam die zwei Ohren und den Schwanz dieses umgänglichen Dämons. Die Stiere sind Träger aller möglichen Qualitäten. Sie beschreiben eine Kosmologie, die alles vermischt. Das Wasser, die Luft, die Erde, die Welt des Sozialen, das Gras, den Tag, die Nacht, die Sünden und die Tugenden, die Charaktereigenschaften. Sie nennen sich „Schwimmer“, „Fledermaus“, „Polterabend“, „Kleines Geschenk“, „Wölfchen“, „Italiener“, „Pharao“, „Madrilene“, „Abtrünniger“, „Intrigant“, „Jähzornig“, „Mondzerstörer“, „Traurige Nacht“, „Notar“, „Muskelprotz“ oder auch „Kleines Messer“, „Bäcker“, „Klavier“ und „Bonbon“. Dahinter versteckt sich manchmal ein biografischer Zug. Man kann annehmen, das Matajaca, in einer denkwürdigen faena in Nîmes 1960 von Ordóñez bekämpft, auf der Weide eine Stute (jaca) getötet hatte. Die Mexikaner geben ihren Stieren wunderliche Namen: „Blauer Prinz“, „Blaubart“, „Indische Blume“, „Honigtropfen“, „Meine Liebe“, „Zimtblüte“, „Ich bin aus Seide“ oder „Sabor a Mi“, „Geschmack nach mir“, aus einem bekannten Lied. Letzten Sonntag hat Matías Tejela in Mexiko triumphiert und dem Stier „Verrückter Chinese“ zwei Ohren abgeschnitten. Die mexikanischen Züchter taufen ihre Stiere oft in letzter Minute und lassen sich vom aktuellen Geschehen inspirieren. Die Bestätigung der Weihe von Nimeño II. zum Matador 1987 fiel mit dem Besuch des Papstes zusammen. Die Stiere der Corrida sprachen von dem Ereignis: Nimeño trat gegen den „Besucher“ und den „Guten Hirten“ an. Die Zucht von Fernando Pérez hatte als Huldigung für seine Frau Pilar einen Stier

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Pilarico getauft. Der Mexikaner Mariano Ramos erwirkte seine Gnade 1992. Der Züchter Alberto Bailleres nannte die Stiere der Corrida vom 4. Mai 1986 in Mexiko zu Ehren des achtzigsten Geburtstages seines Freundes, dem Tenor Pedro Vargas, „Tenor“, „Großer Künstler“, „Unvergleichlich“ und „Bester Freund“. Im Allgemeinen tragen die Stiere den Namen ihrer Mutter oder ihres Vaters und bilden so leicht zu identifizierende Ahnenreihen. Bei dem Züchter Cuadri ist ein Curioso Sohn der Kuh Curiosa und geht auf den berühmten Besamer Curioso zurück, dessen Großzügigkeit in Sachen Sperma zu einem Teil Ursprung der aktuellen Cuadris ist. Laborioso, der Jungstier des Marquis von Albasserade, der 1965 in Sevilla begnadigt wurde (der Stier, nicht der Marquis), ist der Vater einer berühmten Reihe von unverwüstlichen Stieren, darunter Hatero, der 1982 in Pamplona tapfer unter der Lanze geschoben hat. Wenn ein Miura Renco, „Hinkefuß“, heißt, sind die Chancen groß, dass er ein Nachkomme der Miura-Kuh ist, die El Cordobés während einer privaten tienta erprobt hat und die anfangs den Spitznamen „El Renco“ trug. Bei Fuente Ymbro heißt eine Kuh, der Jesulín de Ubrique die muleta zum Test hingehalten hat, Jesulín. Bei Gabriel Rojas stammen die Kühe Zorra, Zorrera und Zorilla vom Stier Zorrito, „kleiner Fuchs“, ab. Und was die Kuh Anónimia, „Anonymität“, von Conche de la Sierra angeht, trägt sie ihren Namen nur, um ihn Lügen zu strafen: Sie ist berühmt, weil sie 2004 Drillinge geworfen hat. Mittels des Namens kennen die klugen Toreros also den Familienstand ihres Gegners und seine durch Abstammung initiierten Qualitäten. Eines Tages in Lima freute sich Ponce, als der Stier Halcón, „Falke“, aus der Tür preschte. Die „Falken“ sind eine nette Familie des Züchters Juan Pedro Domecq. Ponce wusste dies. Er hatte seinen Papa in Murcia begnadigen dürfen. Libération vom 27. 1. 2005

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Am Ende wird der Stier nicht einfach getötet. Er wird nicht geschlachtet, nicht hingemetzelt, nicht zerstückelt, nicht erschossen, nicht in die Luft gesprengt, nicht vergiftet, nicht erwürgt, nicht überfahren, nicht erhängt, nicht ertränkt, nicht gesteinigt, nicht ins Tal gestürzt, nicht erschlagen, nicht geköpft. Er wird vom Torero mit dem Degen erstochen. Die Frage nach dem Warum sollte nicht die Frage nach dem Wie überflüssig machen.

Der Adelsbrief der volapie Luis Mazzantini, ehemaliger Stationsvorsteher, geboren 1856, tötete die Stiere mit einer estocada a volapie, wörtlich „einem Degenstoß mit fliegenden Füßen“, indem er sich auf sie stürzte. Auf Befehl seines hierarchischen Vorgesetzten, des zukünftigen Nobelpreisträgers für Literatur José Echegaray, hatte er eine Karriere auf ruhigen Gleisen aufgegeben, um das „Lichtgewand“ anzulegen. Seiner etwas besorgten Gattin erklärte er: „Mädchen, hier in Spanien, in diesem Land der Kichererbsen, kann man nur zwei Sachen werden: ein Tenor im königlichen Theater oder ein Stierkämpfer. Ein C, aus der Brust heraus, oder ein Degenstoß ‚por todo lo alto‘ am richtigen Ort. Es ist das Einzige, was Ruhm und Reichtum beschert. Ich kann das C nicht aus der Brust heraus singen, aber ich bin in der Lage, Degenstöße ‚por todo lo alto‘ auszuteilen.“ Luis Mazzantini hat 2901 Stiere por todo lo alto getötet. Man nannte ihm „Don“, Don Luis, im Gegensatz zu seinen Kollegen und niemand wagte es, ihn zu duzen. Er wurde am Ende Abgeordneter und Provinzgouverneur. Man taufte ihn „den König der volapie“, aber er besaß die Eleganz, diese Würdigung El Tato abzutreten, einem Torero Mitte des 19. Jahrhunderts, der sich im Moment des Tötens mit solcher Ehrlichkeit auf die Stiere warf, dass seine Brust übersäht war mit Narben von Hornstichen. Die Figur, die suerte des Degenstoßes a volapie, gab es bereits 100 Jahre, bevor El Tato seine hochachtbare Akupunktur vollführte. Manche Historiker legen sie in der Tat dem Sohn eines Kuttelhändlers, 1746 oder 1748 in Sevilla geboren, in die Wiege. Genauer gesagt: „Costillares“. Aber „Rippen-

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stückchen“ sei auch nicht gänzlich der Gutenberg dieser Art, Stiere zu töten. Antonio de Los Santos habe sie bereits etwas vor ihm ausgeführt, genau wie El Romanero, der der Geschichte des Stierkampfes folgende lakonische und trotzdem beredte Sentenz hinterlassen hat: „Wenn der Stier nicht zu dir kommt, geh zum Stier.“ Costillares ist derjenige, der die volapie populär gemacht hat, genau wie den pase der veronica. Er hat es übrigens zugegeben: „Ich habe nichts kreiert. Die ,volapie‘ ist von den Stieren erfunden worden. Sie brauchten diese Art zu töten, ich habe sie ihnen verabreicht.“ Wie tötete man die Stiere bis dahin? A recibir, indem man stehend, mit dem Degen in der Hand, ihren Angriff abfing, den man im letzten Augenblick mit einem pase der muleta ablenkte. Weil manche Stiere, mansos oder ohne Vorwärtsdrang, unbeweglich oder an die Barriere gedrückt, das Töten a recibir nicht erlaubten, nimmt die volapie in der Mitte des 18. Jahrhunderts nach und nach ihren Platz ein und verdrängt die ursprüngliche Technik, die heute höchst selten geworden ist. Mit einem heroischem Anspruch archäologischer und konservatorischer Art führt sie der Torero Francisco Esplá von Zeit zu Zeit vor, wie ein kostbares Museumsstück, und nur wenn sich der Stier dazu eignet. Der Siegeszug der volapie hat noch andere Gründe. Um mit den Stieren fertig zu werden, die nur schwierig a recibir zu töten waren, nahm man einst die Hilfe von „Sehnenschneidern“ und Hundemeuten in Anspruch, was schließlich die Eigenliebe der Toreros und die Sensibilität des Publikums verletzte. Trotzdem hatte die volapie mehr Mühe, in das Haus der stierkämpferischen Respektabilität einzudringen als in die Haut der Stiere. 1888 präsentiert sie der Historiker Neira noch als einen rein technischen Ausweg, einen Reservereifen. Er preist dagegen das recibir, nobler und achtbarer für den Torero und den Stier. Noch heute wird es von manchen alten aficionados die estocada de ley genannt, der Degenstoß nach den Regeln der Kunst. Dieser Argwohn, die volapie betreffend, ist übertrieben. Sie hat sich mittlerweile allgemein verbreitet und ihre Sporen verdient, dank einiger Matadore, Spezialisten und sogar Stylisten dieser sehr verdienstvollen Figur, wenn sie nur ehrlich ausgeführt wird. Ihre besten Repräsentanten waren und sind: Tato, Mazantini, Frascuelo, Regaterin, Machaquito, Fortuna, später Manolete, Rafael Ortega, Ostos, Paco Camino, Nimeño II. und heute Joselito und El Fundi. Manolete starb wegen seiner Treue zu dieser Figur. Er setzte seine ganze Ehre daran, sie mit einem Maximum an Authentizität bei jedem Stier auszu-

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führen, egal wie groß oder klein die Arena war. Vielleicht starb er auch, weil er vom Tod umgeben war. Seine Mutter, „Doña Angustias“ („Dona der Angstzustände“), Witwe des an Tuberkulose verstorbenen Toreros Rafaelito Lagartijo, bekam ein erstes Kind, das mit zwei Jahren verschied, nachdem es Natronlauge getrunken hatte. Sie hat sich mit einem Torero wiederverheiratet, Manuel Rodríguez, „Manolete I.“, der bei der volapie mogelte. Sein Spitzname war „Manolo Travesio“, „Manolo von der Seite“. Die Tuberkulose wollte von seinen Ausweichmanövern nichts wissen und raffte auch ihn 1923 dahin, nachdem er der Doña der Angstzustände einen Sohn gemacht hatte, den zukünftigen Manolete, der selbst auf weniger verschlungenen Pfaden wandelte. Er tötete Stiere, wie es im Buch der volapie stand: kurz und gerade. Zu Hause, in seinem Haus in Córdoba zeigte Manolete anderen Toreros seine „Kunst“ des guten Tötens. Er stürzte sich auf eine über einen Stuhl gerollte und mit zwei Stricknadeln gespickte Matratze. Der Stier Islero, den Degen todo lo alto schon im Leib, nach einer für beide verderblichen volapie, warf ihn schließlich auf ein echtes Totenbett. Manolete hatte wie immer seine Geste eigensinnig in lesbare Abschnitte unterteilt und seinen Elan verzögert, um auch seinen 1161. Stier ehrlich zu töten. Seit Costillares hat sich die volapie verfeinert. Die Geste von Costillares stellt man sich im Nachhinein schneller und ruppiger vor. Der Matador lief zum Stier und warf sich auf ihn. Heute ist die suerte sehr viel konstruierter. Der Torero muss sich in einer Entfernung von unter zwei Metern vor dem Stier aufbauen, die muleta in der linken Hand und das linke Bein vorgestellt, dessen Aufmerksamkeit auf sich ziehen, dann loslaufen, mit einer Art halbem pase vor der Brust sein rechtes Horn ablenken, welches dabei seine Schenkelschlagader streift, den Degenstoß mit gekreuzten Armen über den Hörnern und nicht neben den Hörner verpassen und aus der „Figur“ entlang der Flanke des Stieres knapp herauskommen. Der Degen muss dabei in das „Kreuz“ eindringen, eine Stelle im Widerrist zwischen drittem und viertem Rippenansatz von etwa vier bis acht Zentimeter Durchmesser. Der gute Matador tritt „in den Stier“, das heißt, in die Wiege der Hörner, „um zu töten oder zu sterben“. Er vergisst die Hörner, weil er seiner Geste mit der muleta vertraut, und sein ganzer Körper folgt ohne Zögern dem Degen, der nicht mehr ein Werkzeug ist, sonderns ein Teil seines Selbst, ein Glied, das tötet und aus dem Herzen schnellt. Ideale volapie.

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Nicht alle Degenstöße haben diese tödliche Klarheit eines Uhrwerks, nicht alle Toreros haben in diesem entscheidenden Moment die engelsgleiche Aufrichtigkeit, wie sie die theoretischen Abhandlungen fordern. Sich weit entfernt vom Stier aufstellen, um besser ausweichen zu können, nicht wirklich ehrlich das rechte Horn vorbeiziehen lassen (man sagt pasar el fielato, ohne Zoll zu bezahlen), den Stier mit der muleta blind machen, ihn entlassen, ohne die Arme gekreuzt zu haben: Diese mehr oder weniger hinterhältigen Verstöße gegen die Regel, zusätzlich zum unfreiwilligen Ungeschick, machen den größten Anteil der Tötungen aus. Degenstöße zu weit unten, sehr weit unten, zu weit hinten, schief, seitlich, zu flach, etwas flach, zu steil und so weiter: Die Sprache des Stierkampfes mit ihrer unermüdlichen semantischen Genauigkeit und ihrem Sinn für Nuancen hat für alles einen Ausdruck. Zum Beispiel ist eine estocada pasada zu weit hinten, aber weniger weit hinten als eine estocada trasera. Diese fehlerhaften Degenstöße verbreiten sich heutzutage auch deshalb, weil das Publikum seine Anforderungen geändert hat. Die Schönheit der Sorgfalt entzieht sich ihm. Als wünschte es, sich des Todes schnell zu entledigen, zieht es den schnellen Tod des Stieres dem richtigen Töten vor, das Abstechen dem schönen Degenstoß mit perfektem Timing, loyal, präzise, von dem Gleichmaß einer empfindlichen Uhr. Man versteht besser, warum Mazantini, der König der volapie, Stationsvorsteher war. Libération vom 15. 6. 1991

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Manche Stiere hinterlassen einen solchen Eindruck, dass man sie nie wieder vergisst. Sie tauchen immer wieder auf in dem unendlichen Kaleidoskop der Bilder, das jeder aficionado unablässig in seinem Kopf dreht. Sie jagen durch das graue Rauschen seines Bewusstseins, bevor er einschläft, schweben plötzlich über einer Landschaft von Wäldern und Weiden, aus dem Fenster eines Schnellzuges gesehen, kommen um die Ecke eines Gedankengebäudes, das ausnahmsweise mal nichts mit Stierkampf zu tun hatte. Und kein Esser eines noch so leckeren Filetsteaks hat je eine solche Nostalgie und Dankbarkeit für das Tier empfunden, das da für ihn gestorben ist.

Und die Nummer 52 kam in die Arena Als sie erfuhren, dass Jabali, der Stier von Gilbert Mroz, den sie für ihre Wettbewerbs-Corrida am 10. Mai kaufen wollten, von seinem Vater aus der Jandilla-Zucht Domecq-Blut bekommen hatte, hoben die verantwortlichen Organisatoren der Feria der Monsterstiere des Vereins Alès y toros die Arme zum Himmel und kletterten zurück in ihre Cevennen-Berge. Die Mitglieder des Stierkampfvereins Alès y toros erfasst ein heiliges Grausen bei allem, was von Weitem oder Nahem mit dem „kunstvollen Stierkampf “ zu tun hat. Sie ersticken vor Entrüstung bei der bloßen Erwähnung des Namens Manzanares, lachen voller Hohn über Domecq, und sprechen von der Feria von Nîmes wie von Sodom und Gomorrha. In Sachen Stier soll ihre Feria die kompromissloseste, die härteste, die für die Toreros gnadenloseste sein. Außer bei dem Treffen von Stier und Reiter verabscheuen sie jegliches Spektakel in der Arena. Der Kampf soll wirklich wild sein. Daraus haben sie geradewegs ihr Markenzeichen gemacht. Dieses Wochenende sind sie auf ihre Kosten gekommen, auch wenn manche Stiere von Justo Nieto, am Samstag solo von El Fundi bekämpft, durchaus kulant und manövrierbar waren. Beim vierten Stier hat El Fundi ein Horn quer durch den Oberschenkel bekommen und sich das rechte Schlüsselbein gebrochen. Er ist

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für einen Monat aus dem Rennen. Seinen Ersatzmann José Lara hatte er aus Madrid mitgebracht. Der alte Torero, im Zivilleben Maurer, hatte seit mehreren Jahren keine Corrida bestritten. Die zweieinhalb Stiere, mit denen er es aufnehmen musste, schlugen ihn in die Flucht, trotz der heroischen und brüderlichen Arbeit der peónes, allen voran Frédéric Pascal. Am nächsten Morgen wurde Pepín Liria nur durch ein Wunder verschont, nach einem fürchterlichen Zusammenstoß mit einem sehr gemeinen Jungstier von Tardieu. Am Nachmittag, während der Wettbewerbs-Corrida, die den besten von sechs Stieren aus verschiedenen Zuchten krönt, scheiterte José Luis Galloso trotz aller List vor einem alten und furchterregenden Stier des Curé de Valverde. Angriffslustig vorm Pferd, noch gerissener als Galloso mit der muleta, ließ er die andalusischen peónes fluchen: „Mata lo, no sirve pa na ...“, „Stich ihn ab, der ist zu nichts zu gebrauchen ...“ Hinter der Barriere flüsterte Galloso dem jungen Matador aus Vic-Fezensac, Michel Lagravère, zu: „Heute werden uns die Stiere Beine machen.“ Lagravère bestätigte die Schinderei nach der Corrida: „Keine kleine Sache, das heute überlebt zu haben. Das war ein Stierkampf wie in den Zwanzigerjahren.“ Die Nummer 52, Jabali, der schließlich nach langem Palaver doch genommen worden war, schoss als Letzter aus dem Stall. Er war sehr schön, voller Arroganz, trug den Kopf sehr hoch. Er besaß eine unverschämte Selbstgewissheit, die das vom undankbaren Schauspiel leicht irritierte Publikum applaudieren ließ. Im Staub der Kohle von Alès zeigte Jabali dieselbe Ausstrahlung, die seine Besucher auf den salzigen Weiden des Paty de la Trinité in der Camargue beeindruckt hatte. Dort hatte er sie von Weitem beobachtet, etwas verächtlich, ohne besondere Neugier, ihr Interesse wie eine Würdigung seines stattlichen Auftretens hinnehmend. Diese natürliche Autorität spürten auch seine Artgenossen. Jabali, im März 1988 geboren und lange Zeit inmitten der Kühe aufgezogen, war überall zu Hause, einschließlich – ein seltener Fall – im Trog der anderen Stiere, wo er je nach Lust und Laune deren Mais und Hafer fraß. Er schritt langsam aus, den Kopf schwenkend. Die anderen wichen zur Seite. Bei seiner bloßen Anwesenheit ließen sie ab, untereinander zu rangeln. Für Gilbert Mroz war die Nummer 52 lange Zeit ein Jungstier wie jeder andere. Er kratzte ihn am Kopf und berührte seine Hörner. Eines Tages im letzten

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Herbst war das vorbei. Jabali griff ihn plötzlich an. Sein Züchter, seine Pantoffeln zurücklassend, konnte gerade noch ins Auto springen. Jabali, Sohn der Kuh Jabala und des Stieres Vacareno, hatte die Brücke der Kindereien überschritten. Er war erwachsen geworden und somit dunklen Mutes. Seitdem hütete sich Gilbert Mroz vor dem Stier Nummer 52, der ihn jedes Mal leicht drohend am Kuhpfad von Sigoulette erwartete und ihn grüßte oder warnte, indem er laut schnaubte. In Alès kam diese angeberische Überlegenheit während der piques ans Licht. Jabali warf sich von Mal zu Mal wilder auf das Pferd des Lanzenreiters Jacques Monnier, mit mehr Promptheit, aber auch mit mehr Überlegung als die anderen Stiere, allerdings ohne mächtig zu schieben, wie es der Stier des Curé de Valverde bei seinen vier piques getan hatte. Es war, als hätte er eine Strategie entwickelt, die wiederholte Gewaltstreiche einer Taktik des Sieges durch stetiges Schieben vorzog. Jabali griff in Salven an statt mit Dauerfeuer, aber nahm ohne Zögern, ohne das Maul zu öffnen, ohne schwach zu werden, schwarz und wunderbar dickköpfig, fünf piques – fünf piques! – mit einer sich stetig steigernden finsteren Gier hin. Wildheit oder wahre Tapferkeit? Die Rechtsgelehrten der raza brava haben nach der Corrida in dem Dilemma geschwelgt. Sicherlich hat Jabali sich nicht total unter der Lanze hingegeben, aber wenn Tapferkeit unter anderem die Fähigkeit bedeutet, über sich hinauszuwachsen, war er tapfer vor allem im Trotz. Bei der fünften pique warf er sowohl das Pferd wie Jacques Monnier über den Haufen, der mit zerknautschtem Kostüm Gilbert Mroz im callejon beglückwünschte: „Der Hundesohn, der hatte echte Eier!“ Jacques Monnier erzählt: „Je mehr Lanzen er gesetzt bekam, desto höher trug er den Kopf beim Angriff, umso mehr versuchte er, unter dem Kopf des Pferdes durchzuschlüpfen und mich zu umrunden. Es war ein spektakulärer Stier, gut am Pferd, aber nicht von extremer Tapferkeit, das heißt, nicht auf der moralischen Höhe seiner Stärke. Er knallte sehr, sehr stark in die Matte, aber gab nach dem Zusammenstoß nicht alles, was er hatte. Dafür war es zusammen mit einem Palha in Vic-Fezensac der wildeste und schnellste Stier, mit dem ich es zu tun hatte. Er hätte ohne Probleme ein oder zwei piques mehr vertragen, wenn mein Pferd und ich nicht am Ende gewesen wären.“

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Während der banderillas wartete Jabali, noch immer mit geschlossenem Maul, so hart wie der Granit des Mont Lozère und so trocken wie Calvin, bis Michel Lagravère ihn im Zentrum des Rundes herausforderte, um dann auf ihn loszugehen und über zwanzig Meter bis zur Barriere zu verfolgen, ihm seinen Atem ins Kreuz blasend. Pure Angst. Michel Lagravère: „Der Stier überlegte und überlegte. Er ging dann los, als er fühlte, er könnte mich erwischen.“ Der Stier Nummer 52 erlaubte Eindringlinge genauso wenig am Tor des Kuhpfads von Sigoulette wie in der Mitte der Arena von Alès, wo er nach der fünften pique Stellung bezog, als wäre alles gesagt und bewiesen. Die vorsichtig lockende muleta von Michel Lagravère interessierte ihn nur noch mäßig, er fuchtelte mit den Hornspitzen, die er immer noch hoch trug. Nach und nach erstarrte er immer mehr, „verinnerlichte“, kristallisierte sich und der junge Torero aus Vic hat es nicht gewusst oder nicht geschafft, ihn zu entfesseln, ihn aufzulockern. Wer wäre dazu überhaupt in der Lage gewesen? César Rincón möglicherweise. Vielleicht auch nicht. Jedenfalls hat Ja­ bali, gefangen in einer Art Autismus oder zu sehr erschöpft von den piques, es nicht mehr für nötig gehalten, auf das Stammeln der muleta zu antworten. Er machte dem Namen seines Züchters Ehre, der auf polnisch „Eis“ bedeutet: ein einsamer Eisberg inmitten von Kohlehalden. Die Leidenschaft von Gilbert Mroz für die Stiere und für die Camargue, die er bei einer Reise mit dem Moped entdeckte und daraufhin dort als Kuhtreiber anfing, ist wie die kalte Entschlossenheit von Jabali: eine stumme, mürrische, introvertierte Leidenschaft. Im Alter von fünfzig kümmert sich dieser reservierte und kurz angebundene Mann, der keine Verbindung mit den familiären Dynastien der Camargue hat, zusammen mit seinem Sohn um seine Zucht, seinen Zuchtbullen, die sechzig auszuwählenden Kühe. Er liefert alljährlich Stiere für zwei novilladas und eine Corrida. Nächstes Jahr hofft er, zwei Posten erwachsene Stiere zu produzieren. Stiere wie Jabali? Nicht ganz. Jabali ist nicht der eigentliche Urtyp seiner Recherchen. Mroz zieht physisch weniger imposante Tiere vor, weniger vom Typ Conde de la Corte, eine der Blutlinien von Jabali. Stiere, die etwas niedriger sind, etwas bequemer für den Torero, ohne deshalb entgegenkommend zu sein. In seinem ehemaligen Schafstall in Alivon sucht der scheue, aber nicht wirklich asoziale Gilbert Mroz eine passable Wildheit, von der der Torero pro-

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fitieren könnte. Diejenige des Stieres Nummer 52 war bewegend, aber gleichzeitig zu hermetisch. Nach einem guten Degenstoß von Lagravère starb Jabali, wie er gelebt hatte: mit einer Art hochmütiger Gelassenheit. Er war hart auf die Härte der Welt geprallt und die Welt hatte ihn nicht wirklich zerstört. Er hat sich langsam niedergekniet, ohne Hast, den Kopf erhoben, die Zähne zusammengebissen, das Maul geschlossen, als wäre er leicht hintergangen, aber nicht besiegt worden. Mit 14 von 17 Stimmen wählte ihn die Jury zum besten Stier. Der Ansager hat daraufhin den Namen von Gilbert Mroz verstümmelt. Dieser drehte eine Ehrenrunde gegen den Uhrzeigersinn. Es war sein einziger emotioneller Lapsus. Libération vom 16. 5. 1992

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Die Schaschlikspieße, die der Kellner dem Touristenpaar im Saal eines mit Plüsch ausgeschlagenen Restaurants irgendwo in Kiew mit großer Geste flambiert und sich dabei die Augenbrauen versengt, sind nicht immer die leckersten. Man kann sogar davon ausgehen, dass solche Sperenzchen über eher hartes als zartes Fleisch hinwegtrösten sollen. Das Pärchen ist zufrieden und lässt ein großes Trinkgeld. Es gab nicht viel Auswahl auf der Karte und sie sind ohnehin keine besonderen Feinschmecker.

Vom tremendismo und seinen Exzessen Sebastian Castella, Matías Tejela, César Jiménez, Miguel Ángel Perera: Die jungen Toreros der Nouvelle Vague haben die „Standuhr“ neu eingestellt und salonfähig gemacht. Man führt diesen pase ganz zu Anfang der faena vor. Der Torero steht im Zentrum des Rundes. Er hält seine muleta mit der rechten Hand vor sich. Er ruft den zwanzig, dreißig Meter entfernten Stier. Der Stier geht los. Im letzten Augenblick schwenkt der Torero die muleta in seinen Rücken und lenkt den Stier in extremis an sich vorbei. Die Genauigkeit des Pendels ist die Grundlage der Standuhr. Dieser gefährliche pase, sicher mexikanischen Ursprungs, wurde in den Vierzigerjahren von Arruza, später von Lomelín und kürzlich von Alejandro Silveti vorgeführt. Er ist noch halsbrecherischer vor den mexikanischen Stieren, die bedächtiger angreifen. Silveti führte aus, dass die Standuhr schwieriger, aber spektakulärer sei, wenn der Stier auf kürzere Distanz angreife. Tremendismo. Eine Zitterpartie. Aber der systematische Gebrauch der Standuhr hat sie ihrer emotionellen Kraft beraubt. Das Publikum reagiert immer weniger während diesem Moment theatralischer Gefahr, mit der die jungen postmodernen Toreros ihre Arbeit einleiten. Wer zu oft die Standuhr macht, verliert seine Zeit und der tremendismo nutzt sich bei Gebrauch schnell ab. Der tremendismo, eine ästhetische Richtung des spanischen zwanzigsten Jahrhunderts, ist laut dem Diccionario enciclopédico eine „künstlerische Ten-

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denz, charakterisiert durch eine prahlerische Zurschaustellung von formell ästhetischen, aber auch moralischen Werten, die die größte allgemeine Gültigkeit besitzen“. Der Stierkampf hat das Wort Zurschaustellung zurückbehalten. Der Torero tremendista prahlt mit seinem Mut mittels mehr spektakulärer als tief gehender Handstreiche. Er gewinnt das Publikum durch Furcht und Schrecken. Seine Gegner beschuldigen den tremendista, sich weniger dem Stier als dem Pathos eines unbedarften Publikums zu stellen. Berühmte Anfechter: José Bergamín, der Kritiker Díaz-Cañabate und sogar Michel Leiris. Bergamín schreibt in Die Kunst des Birlibirlock: „Das Schlimmste an einem Torero ist die Tollkühnheit. Der urwüchsige und angeberische Torero ist ein Hochstapler ... Das Übermaß seines Mutes ist der eklatante Beweis seiner Angst.“ Díaz-Cañabate bemerkt seinerseits, dass im tremendismo in den seltensten Fällen der Stier selbst tremendo, schrecklich und stark, ist. Leiris prangerte den Betrug des tremendismo in seinem Gedicht Falsche Tapferkeit an: „Matadorlehrling ohne Ausweg / Der die grob kolorierte Karte des Selbstmords ausspielt / Und mit beiden Knien im Sand den Stier lockt ...“ Belmonte formulierte es anders: „Man kniet sich immer dann hin, wenn einem seine Gitarre im Stich lässt.“ Er wusste, wovon er redete. Eines Tages in Sevilla, von seinem Stier in Bedrängnis gebracht, warf er sich vor ihm auf die Knie und fluchte: „Töte mich, Schweinehund, töte mich!“ Seine metaphorischen Eier vor dem Stier zur Schau zu stellen ist illusorisch. Belmonte signalisierte diese Vergeblichkeit dem novillero Espartaco, dem Vater des aktuellen Toreros. Er hatte ihn El Remendao, „den Gestopften“, getauft, weil ihm am Ende der Corridas generell das Kostüm in Fetzen am Leib hing. „- Remendao! - Ja, Maestro. - Geh hinter das Burladero, hock dich hin und betrachte den Stier. - Warum in der Hocke, Maestro? - Um endlich einzusehen, dass seine Eier größer sind als deine.“ Der tremendismo im Stierkampf ist wesentlich älter als die ästhetische Strömung des 20. Jahrhunderts. Die Historiker der Corrida verweisen auf Paquiro als den ersten Torero, der sich vor einem Stier hingekniet hat, in Cádiz am 12. Juni 1846. Andere behaupten, der tremendismo wäre 1868 in Granada geboren worden, als Frascuelo sich während einer Corrida, in der sein großer Rivale Lagartijo mitkämpfte, vor einem Stier von Saltillo auf den Boden legte.

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Er wurde daraufhin vom Präsidenten angeschnauzt. Die Sache breitet sich aus wie ein Ölfleck. Eines Tages in Valencia, am Ende des 19. Jahrhunderts, kniet sich der Torero Algabeño mit dem Rücken zum Stier, um seinen Kollegen Villita zu beschämen. Villita lässt sich nicht lumpen und kniet sich direkt vor die Schnauze. Algabeño lobt lautstark: „Du hast mehr Traute als Fabrilo.“ Fabrilo, der Dritte im Bunde, breitet seine capa vor dem Stier auf der Erde aus und legt sich auf sie hin. Bis wohin kann der tremendismo gehen? Bis zum freiwilligen Hornstoß. Galán praktizierte solchen Selbstmord in den Siebzigern. Er warf die muleta weg und sich selbst auf die Hörner der Miuras in Sevilla und Pamplona. Er bekam Ohren, die er mit Hornwunden oder Gehirnerschütterungen bezahlte. 1936 in Madrid ließ sich La Serna mit dem Schrei „Viva Espagna!“ freiwillig von seinem Stier packen, weil das Publikum dem mexikanischen Torero Armillita, in Zivilkleidung auf den Rängen sitzend, Beifall spendete. Aus Wut über die schönen Augen, die das mexikanische Publikum dem Torero Balderas machte, ließ sich Lorenzo García von seinem Stier massakrieren. Noch während man ihn zur Krankenstation trug, beschimpfte er seinen Rivalen. Der tremendismo bringt die anspruchsvollen aficionados, die sich vor seinem pathetischen Brimborium hüten, zur Verzweiflung. Allerdings mischt die Corrida, dieses ambivalente Spektakel, eine Minderheit von aficionados mit kritischem Blick und ein breites Publikum von Amateuren der eher starken als subtilen Emotionen. Das Enorme trägt den Sieg über die Norm hinweg. In den Zwanzigerjahren kündigten Plakate an, dass der Torero aus Bilbao, Alejandro Sàez, genannt Ale, („Uff “) „am Sonntag in Madrid sein berühmtes molinete auf Knien vorführen wird“. Ale ließ sich regelmäßig von den Stieren auseinandernehmen. So sehr, dass 1929 eine amerikanische Agentur seinen Tod in Ocotlán, Mexiko, verkündete. Man feierte sogar seine Beerdigung in Bilbao, wo er frisch wie ein Hering im nächsten Jahr wieder auftauchte. Weil das Spanien Francos sich langweilte, erlebte der tremendismo ein Goldenes Zeitalter in den Fünfzigern und Sechzigern, mit Litri und Chamaco. Litri lockte Stiere auf vierzig Meter Entfernung und entfaltete seine muleta im letzten Augenblick, während er mit trauriger Aschermittwochsmiene die Zuschauerränge fixierte. Chamaco brachte Barcelona zum Kochen mit extravaganten pases, Rücken zum Stier, mit gehobenem Arm, auf Knien. Angesichts der Überhandnahme

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eines toreo Rücken zum Stier, von pases mit Blick aufs Publikum, pases voller Hochmut, im Kreis, im Profil, legte 1964 der delikate Manolo Gonzáles, eigentlich Rentner, noch einmal Hand an den Degen: „Den Stieren wird das Profil gezeigt, ich bin gekommen, ihnen wieder die Stirn zu bieten.“ Er bot ihnen die Stirn in naturales, wie sein Freund Antonio Ordóñez, den man nie mit dem Rücken zum Stier hat kämpfen sehen. Der tremendismo ist eine Form des Ausdrucks. Er kann Resultat der Verzweiflung sein, einen Mangel an Technik kaschieren, er kann ein Temperament oder eine Demagogie widerspiegeln. Er ist eine Mode. Er hat seine Nuancen: Der tremendismo von El Cordobés war spaßhaft und voller Licht. Der von Miguelín am Rand des Nervenzusammenbruchs. Der von Chicuelo II. wie ein Erdbeben und der von Pedrés düster. Aber Pedrés gab ihn auf, um ein großer, klassischer Torero zu werden. Der tremendismo des Mexikaners El Pana, geboren 1952, ist aberwitzig. Er sagt: „Ich will ein Torero der alten Schule sein, aber modern.“ Seine Devise: „Überall auffallen.“ Sogar seine Herkunft ist tremenda: ein Vater bei der Polizei, erschossen, eine Mutter, Witwe mit acht Kindern, und er selbst, der tausend Jobs gehabt hat, vom Totengräber bis zum Bäcker, bevor er vor den Stieren landete, wo er den pase genannt „Der Unmögliche“ wieder herauskramte, von seinem Landsmann Antonio Campos erfunden und unmöglich zu beschreiben. Mexiko ist von Natur aus ein immenser Herd des tremendismo. Valente Arellano, alias „der Expresszug aus Torreon“, Idol des Landes um 1980, ein Fan von Uhren und Motorrädern, ging von dem Prinzip aus, dass alles, „was man mit der muleta machen kann, auch mit der capa möglich ist und umgekehrt“. Er ist der Erfinder des pase des „ojala“, „auf dass es Gott gefällt“, wobei gemeint ist: „Auf dass es Gott gefällt, dass alles gutgeht.“ Valente Arellano, den es Horn auf Horn erwischte, bekam die Toreroweihe am 4. Juni 1984. Er tötete sich zwei Monate später mit seiner Harley Davidson. Tremendo. Libération vom 1. 9. 2005

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Das Publikum setzt die Kriterien beim Stierkampf. Es hat eine hohe Verantwortung. Es gibt keinen Schiedsrichter, keine Noten, keine Punkte. Es sind die Äußerungen des Publikums, die über die Qualität der Akteure einer Corrida urteilen. Für den Stier, je nach seinem Aspekt: Klatschen, Schweigen oder Pfiffe, wenn er ins Rund kommt. Grüne Taschentücher (die meist niemand dabeihat), wenn er wegen eines physischen Defekts ausgetauscht werden soll. Klatschen, wenn er unter der Lanze des picadors ordentlich schiebt. Klatschen, Schweigen oder Pfiffe, wenn er aus dem Rund geschleift wird. Eine Ehrenrunde für den toten Stier, der Besonderes geleistet hat, kann gefordert werden. Diese Meinungsäußerungen gelten weniger dem Individuum Tier als dem Züchter, der es großgezogen hat. In ganz seltenen Fällen, bei einem wirklich herausragenden Stier, kann das Publikum mittels blauer Tücher (die meist niemand dabeihat) seine „Begnadigung“ fordern. Für den Matador: Klatschen oder Pfiffe bei guten oder schlechten Aktionen. Das berühmte „Olé!“, wenn er den richtigen Rhythmus findet. Am Ende, nach dem Degenstoß: Pfiffe, Schweigen, Klatschen oder das Schwenken weißer Tücher (ersetzbar durch alles, was weiß ist, von der Eintrittskarte bis zum Pullover), um ein Ohr, zwei Ohren oder gar den seltenen Schwanz des Stieres für den Torero zu fordern, der darauf mit seinen blutigen Trophäen in der Hand eine Ehrenrunde dreht. Die Rufe „Torero! Torero!“ sind dem besonders tapferen Kämpfer vorbehalten. Oder aber, nach seinem kompletten Versagen, die bronca.

Rhetorik der bronca Am 3. Oktober dieses Jahres in Madrid hat Rafael de Paula, unfähig, seinen Stier zu töten, unter der bronca und einigen Kissenwürfen die Arena verlassen. Eine pure Formalität, dem Protokoll entsprechend. Das Publikum hatte nichts Besonderes von der dramatischen Schwäche Paulas erwartet, aber man musste sich trotzdem irgendwie kundtun, wo kämen wir sonst hin? Es war eine bronca ohne Bitterkeit, eher symbolisch und beinahe barmherzig. Schweigen

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wäre verachtend gewesen. In El País schrieb Joaquín Vidal am nächsten Tag: „Als er ging, würdigte man ihn mit einem bezeugenden Kissenwurf.“ Am Vortag verließ Julito Aparicio ebenfalls La Ventas unter den Buhrufen und den roten Lederkissen einer bronca – diesmal hart, erbarmungslos, wütend, gut genährt. Vom rituellen Protest bis zum Volkszorn entfaltet die bronca einen kompletten Fächer von Nuancen, symptomatisch für das, was der Schriftsteller Bergamín „den spanischen Zorn“ nennt. Er zitiert einen Autor aus Valencia und bezieht sich auf Lope de Vega, Goya und Picasso, um eine althergebrachte Ungeduld zu beschreiben, die „das Denken auf das Niveau des Zornes hebt“. Daher auch die Lesbarkeit manchen Aufruhrs in der Arena. Der grandiose Rafael Guerra, quasi Analphabet und während der Messe Zigarren rauchend, entzifferte am Ende seiner Karriere ganz richtig die bronca, die ihm Saragossa am 15. Oktober 1899 bescherte. Sie besagte, dass er für immer aus der Arena verschwinden solle. Was er am selben Abend tat, seine cuadrilla unter Tränen verabschiedend. Am 2. April 1884 kämpfte der Torero aus Córdoba, Lagartijo, in Sevilla, begleitet von dem Krach der campanilleros, den Partisanen seines Rivalen Frascuelo, die eine Glocke beim geringsten seiner Irrtümer anschlugen. Nach einem schlechten Degenstoß veranstalteten die campanilleros ein solches Konzert, dass Lagartijo Sevilla weinend verließ. Er hat nie wieder einen Fuß in die Stadt gesetzt. Am 12. August 1970 in San Sebastián sagte Antonio Ordóñez seinem Manager während der Corrida, dass er den Stierkampf an den Nagel hänge. Zum allgemeinen Staunen. Sicher wegen seiner Gelenkschmerzen, aber mit Sicherheit auch als Spätfolge der wütenden „historischen“ bronca von Pamplona einen Monat vorher. In Sachen petardo, Windei, hatte es sein Vater Niño de la Palma noch besser gemacht. Er erleidet am 9. Juli 1926 in Pamplona kompletten Schiffbruch. Nach der Corrida verfolgen ihn die Anhänger der Stierkampfvereine bis in sein Hotel Quintana, wo er sich noch im Torerokostüm im Zimmer des Toreros Marcial Lalanda verstecken muss. Die berittene Guardia Civil versucht die wütende Menge zu zerstreuen, die das Hotel belagert, während Niño de la Palma, unter einem Regenmantel verborgen, sich durch die Hintertür aus dem Staub macht. Er entkommt in einem Taxi zum Bahnhof von Alsasua, wo er endlich die Kleidung wechseln kann, bevor er in den Zug nach Madrid springt.

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Dreißig Jahre später passiert das gleiche Missgeschick El Cordobéz. Am 13. Juli 1965, und wiederum in Pamplona, ist er bestialisch schlecht und das Publikum überhäuft ihn mit Pfiffen. Beim Verlassen des Rundes hält El Cordobés inne und macht sich daran, „in einem unbewussten Anfall von Eitelkeit“, wie die Presse schreibt, die Kissen zu torerieren, die auf ihn zufliegen. Am Ausgang der Arena prügelt er sich mit den Zuschauern. Die Guardia Civil muss einschreiten. El Cordobés ist genötigt, aus dem Hotel Yoldi zu fliehen, das von den peñas belagert wird. Man wird ihn nie wieder in Pamplona sehen, wo die broncas ihr eigenes Mikroklima besitzen: Ebenso wie bei den großen Triumphen wird auf der Straße weitergemacht. Sie sind ein Wildwasser, subversiv und karnevalesk. In Andalusien, und besonders in Sevilla, sind sie eher flüchtig, wie die kurzen, schnellen Gewitterregen der Gegend. Sie dauern nicht an und relativieren. Die broncas, die die Sevillaner Curro Romero bescheren, sind völlig durchstrukturiert und entbehren jeder Spontaneität. Die Sevillaner, vor allem die der Sonnenseite der Arena, werfen ebenfalls einige Kissen in Curros Richtung, aber achten sorgfältig darauf, ihn nicht zu treffen. Die anderen, die der Schattenseite, seufzen. Die broncas in Madrid sind rachsüchtig, selbstgerecht und belehrend, weil das Publikum von Madrid es „ für seine heilige Mission hält, den Stierkampf zu retten“, wie es kürzlich der Marqués de Salvatierra schrieb. Weil die Corrida ebenfalls ein soziales Paukenfell ist, kann die bronca auch andere Gegebenheiten widerspiegeln. Zum Beispiel politische Konflikte. 1824 in Sevilla kleidet sich der absolut königstreue Torero Antonio Ruiz, El Sombrerero, in ein weiß-goldenes Kostüm, den Farben der Royalisten. Sein liberaler Rivale Juan León, dem dies gesteckt wird, zieht ein schwarzes Kostüm an, der Farbe der Liberalen. Während er zu Fuß zur Arena geht, bereiten ihm die Ro­ yalisten eine politische bronca und spucken ihn an. Am 25. Juli 1883 in Barcelona strömt das Publikum, wütend über die Schwäche der Stiere von Zalduendo, durch die Gassen, um die Klöster anzuzünden. In Palma de Mallorca setzen die Zuschauer am 22. Juni 1913 die Barriere in Brand. Am 6. Oktober 1938 in Talavera de la Reina sind es weder die Beschimpfungen noch die Streichhölzer, die die von den Frankisten organisierte Corrida unterbrechen. Nein, die kriegerische bronca wird inszeniert von den Truppen der Republik, die die Arena von einem Hügel aus bombar-

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dieren, gerade als Curro Caro die capa vor dem dritten Stier des Nachmittags ausbreitet. Wer bekommt eine bronca? Im Allgemeinen die Toreros. Leiden sie darunter? „Si, Señor, sie tun weh“, sagte kürzlich Rafael de Paula. Und César Rincón gestand nach seiner schlechten Corrida vom letzten 2. Mai in Madrid, dass er sehr erstaunt und „schmerzlich betroffen“ war von den madrilenischen Pfiffen. Andere wie Ordóñez, der eine Orange mit der Spitze seines Degens aufspießte und wie eine Trophäe inmitten der Beleidigungen trug, tun so, als würde das kalte Wasser des Volkszorns an ihnen abrinnen. Rafael el Gallo, der behauptete, man könne ihm den Buckel runterrutschen, gab schließlich zu, vor dem wütenden Publikum aus Angst „wie ein Neugeborenes“ zu zittern. Belmonte weinte manchmal vor Schmerz aufgrund der Grausamkeit des Publikums. In Wirklichkeit kommt die bronca vielleicht tiefgründiger aus dem „hart­ näckigen Wunsch nach dem Unmöglichen“, wie es George Bataille, von der spanischen Volksmenge sprechend, schrieb. Dieser Wunsch stehe am Ursprung des Stierkampfes und sei der kostspielige Ausdruck seiner Anarchie. Der frühere Bürgermeister von Madrid und Ökonomieprofessor Enrique Tierno Galván weist in seinem Essay Die Stiere, ein nationales Ereignis auf „die ganz spezielle Rüstigkeit“ und den sarkastischen Ton hin, die die Beleidigungen in der Arena kennzeichnen. Er beschreibt sie als eine Enttäuschung, die den Verlust eines Glaubens und einer Hoffnung an den Tag bringt: typisch spanischer Glaube an und Hoffnung auf die hombria, die „Qualität des ganzen Mannes“. Laut Galván ist die bronca in der Runde keine kollektive Beleidigung, sondern eine Beleidigung von „Mann zu Mann“, weil der Torero, dieser „Fahnenträger der hombria“, sich in eine „vielfältige Entität“ verwandelt, die mit jedem der Zuschauer auf andere, eigene Weise verbunden ist. Sein Versagen würde dementsprechend vom aficionado wie ein Scheitern dieses Glaubens an die hombria erlebt, der das Publikum einer Corrida zusammenschweißt. Es ist ein Glaube, dem bestimmt ist, enttäuscht zu werden, aber dessen Hoffnung ohne Unterlass wiederaufersteht. Das ist der Grund, warum der aficionado immer wieder voller Utopien in die Arena zurückkehrt: „um sich seinen Glauben neu bestätigen zu lassen“. Und weil er ihn nie ganz bestätigt bekommt, verlässt er die Arena – auch wenn die Corrida gut war – mit einer Art Nostalgie, diesem süß-saurem Gefühl, welches seine metaphysische Frustration auskleidet.

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In dem Vorwort zu dem Text von Galván bedauert der Herzog von Alba, dass der Autor anlässlich der bronca und der stierkämpferischen Beleidigung nicht den richtigen theologischen Ausdruck gebraucht hat: den der Schmähung. Eine verbale Schmähung, dem Schmähenden ins Gesicht geworfen. Eine Schmähung, die laut Bergamín im Gegenzug auf die Wahrheit dessen verweist, der sie anwendet: „Wenn der Torero durch seine eigene Angst (die er oder die ihn überwunden hat) die menschliche Würde veranschaulicht, veranschaulicht das Publikum das genaue Gegenteil, indem es ihn beleidigt oder tödlich zu verletzen sucht; schlimmer noch als eine Veranschaulichung ist es die Verkörperung der menschlichen Unwürde in ihrer schlimmsten Form der Erniedrigung, weil es so blöde wie unverantwortlich seine Feigheit zur Schau stellt.“ Am 12. Oktober wandte sich ein Zuschauer im tendido 10 an diejenigen, die sich über das Debakel von Aparicio lustig machten: „Lacht nicht, lacht nicht. Er muss sich saumäßig fühlen.“ Libération vom 29. 11. 1997

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Leben und Werk eines Künstlers zu trennen, scheint manchen unmöglich, anderen eine Notwendigkeit. Die Wahrheit liegt möglicherweise irgendwo dazwischen und hängt von der Vogel- oder Froschperspektive des Rezipienten ab. Für den Künstler selbst stellt sich die Frage nicht, er werkt, um zu leben, lebt, um zu werken, und manchmal trinkt er einfach ein Glas zu viel. Er ist immer Künstler und ein Torero ist immer Torero, sogar in der Badewanne. Er bleibt Torero, lange nachdem sein letzter Stier aus dem Rund geschleift wurde. Vielleicht ist es möglich, einfach Künstler zu sein, ohne Buch, ohne Bühne, ohne Bild. Vielleicht ist es sogar möglich, Torero zu sein, ohne je einen Stier von Nahem gesehen zu haben.

El Gallo, der erste panische Torero Eines Tages traf Rafael el Gallo, aus Barcelona wiedergekommen, wo er eine ganz besonders erbärmliche Vorstellung gegeben hatte, einen Freund. „Erzähl, Rafael, wie ist der Kampf in Barcelona gelaufen?“ „Och, wie immer. Im Publikum waren die Meinungen geteilt.“ „Was heißt geteilt?“ „Nun, die eine Hälfte der Arena verfluchte meinen Vater, die andere meine Mutter.“ Ein anderes Mal tritt Rafael el Gallo in Madrid an. Er ist jämmerlich. Die aficionados buhen ihn aus, bis sie heiser sind. Sein Mitkämpfer Vicente Pastor versucht ihn zu trösten: „Was für ein verabscheuungswürdiges Publikum, was, Rafael?“ El Gallo: „Für Sie wird es großartig sein. Ich habe es für den Rest des Abends stimmlos gemacht.“ Rafael el Gallo könnte der Kasper der Corrida sein. Er liefert die Witze für die Geschichten vom Stierkampf und für das Buch, das Jacques Francès ihm gewidmet hat. Aber ein Kasper ist ein flacher, fiktiver Hampelmann, während Rafael el Gallo, der Sohn des Toreros Fernandez Gómez „El Gallo“ und der Tänzerin Gabriela Ortega, der ältere Bruder von Joselito, gelebt hat wie verrückt und immer auf dem falschen Fuß. Der Beweis? Am 17. Juli 1882 um Mitternacht, bei seiner Geburt in Madrid, wäre er beinahe vor Durst gestorben: an Austrocknung. Versucht man allerdings, sein extravagantes, paradoxes und

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poetisches Leben ausschließlich in die Schublade des Pittoresken zu zwängen, würde man seine wahre Größe verkennen. Rafael el Gallo, mit seinen Zigarren, Zusammenbrüchen, Wundern, mit seiner Boheme, mit seiner keatonschen Ungerührtheit im Auge des Sturms verkörpert sowohl die dem praktischen toreo zugrunde liegende notwendige Unwägbarkeit als auch den Zustand der sozialen Schwerelosigkeit des Stierkämpfers als eine launische Person. Was er gänzlich war: Stierkämpfer. Der alte Guerra behauptete, falls Rafael aus dem fünften Stock fallen würde, fiele er „wie ein Torero“. Seine Mutter stammte aus Cádiz, sein Vater aus Sevilla, er war der Mann im Mond. Sein gleichzeitig barocker und klassischer Stil hat sich zeitlebens jeder Katalogisierung entzogen und ist am ehesten dem Register des unfreiwilligen Erblühens zuzuordnen. Der Geschichtsforscher Nestor Lujan spricht diesbezüglich von einer „Logik des Schaums“ und „erleuchteten Händen“. Es heißt, das El Gallo in seiner vierzigjährigen Karriere nicht einmal auf dieselbe Art und Weise die larga Cordobésa vorgeführt hat, ein pase mit der capa, die er bei jedem Stierkampf machte. Das flüchtige Schillern El Gallos ist der endgültige Spiegel des Stierkampfes als eine Kunst des Spontanen. Seine Laufbahn und sein Ruf sind gegründet auf nie endende Überraschungseffekte oder anders gesagt, letztendlich auf das Recht auf eine ungebändigte Freiheit, eine Freiheit, die ihn ganz offensichtlich überstieg. Die Freiheit, sich über den Haufen werfen zu lassen. Die Freiheit, Großes zu vollbringen. Die baudelairsche Freiheit, sich zu widersprechen und auch die, den Saal zu verlassen. Am 12. Mai 1912 steht er bemitleidenswert vor einem unentschlossenen Stier von Luis Baeza, den er nicht zu töten vermag. Geschrei, Kissenwürfe. Die aficionados brüllen: „Werft ihn ins Gefängnis!“, und er seufzt: „Im Moment wäre ich nirgendwo lieber.“ Drei Tage später ist er eingeplant gegen die schrecklichen Stiere von Aleas. Madrid wittert einen neuen Skandal. Mit Jerezano, den er a recibir tötet, realisiert El Gallo eine magische faena, voller Feinheiten und freudigem Wagnis, seelenruhig im Sand stehend. Ein sonst eher feindlich gesinnter Kritiker schreibt: „Spanien hat vier große Momente in seiner Geschichte gekannt. Cervantes, der den Don Quijote schreibt; Alfonso El Sabio, der den Kodex der Siete Partidas verfasst; Velazquez, der die Meninas malt; und der Kampf von El Gallo mit dem Stier von Aleas am 15. Mai 1912.“ Jacques Francès erinnert in seinem Buch daran: Schon als Kind,

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als Gallo die banderillas an Sesseln ausprobierte und Kälbern das rote Tuch hinhielt, mimte sein Vater Fernando das Publikum und demonstrierte die Windigkeit der Menge, indem er fluchte oder klatschte. Da hieß es entweder „Raus, Waschlappen!“ oder „Olé viva tu madre!“ In der Geschichte des Stierkampfes bleibt Rafael el Gallo, „der göttliche Glatzkopf “, als Erfinder einer suerte, deren bester Interpret er geblieben ist, die espanta (espantà in andalusischem Argot): die panische Flucht vor manchen besonders schwierigen Stieren. In solch einem Fall sprintete Rafael los, ließ Degen und muleta fallen, hechtete kopfüber in den callejon und weigerte sich standhaft, wieder in das Rund zurückzukommen. Er gab vor, der Stier hätte einen bösen Blick oder dass dieser ihm etwas zugeflüstert hätte oder auch, dass er „von grünlicher Farbe sei“ (!). Er hatte keine Angst, Angst zu zeigen, und sein Bruder Joselito schämte sich, mit ihm zusammen in der Arena aufzutreten. Rafael forderte das Desaster als normale Zutat des Stierkampfalltags ein: „Die banderillas sind die banderillas, der natural ist der natural, die volapie ist die volapie, und die espantà ist die espantà.“ Und in seinem Leben? Dieselbe Sicherheit des Schlafwandlers ... Er erscheint, er verschwindet, niemand weiß genau, wohin. Daher auch die Schwierigkeit des Biografen, ihm in seinen befremdlichen „Luftauflösungen“ zu folgen. 1906 nimmt er an wenigen Stierkämpfen teil, ist pleite, zieht sich zurück. Man findet seine Spur in Teneriffa wieder, wo er Singvögel kauft, Zigarren raucht, von Kaffeehaus zu Kaffeehaus irrt und alle Zigeuner der Insel einlädt, mit ihm nach Madrid zu kommen. Ein anderes Mal wird seine Anwesenheit in einem Altersheim in New York signalisiert. In den Dreißigerjahren, mit über fünfzig, verschimmelt er in Argentinien, wo er von der Hand in den Mund lebt, als ihn ein Telegramm des Stierkampfmanagers Pagès aufspürt. Dieser bietet ihm goldene Berge für eine Rückkehr in die Arena: dreißig Stierkämpfe pro 18.000 Peseten, Zigarren nach Belieben. Gallo willigt ein. Während des spanischen Bürgerkriegs, in einer kleinen Pension in Madrid festsitzend, versteht er nichts „von diesem ganzen Tohuwabohu“ und versteckt sich in seinem Bett, wenn jemand ihn zum Stierkampf holen will. Dasselbe Herumirren regiert sein Liebesleben. Er heiratet 1911 die Tänzerin Pastora Imperio, die er ihrer Familie „entführt“, indem er ihr ein Treffen im Bahnhof von Sevilla vorschlägt. Fünfzehn Tage später verlässt er sie in Madrid,

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mit den Worten: „Ich geh mal eben Zigarren kaufen.“ Pastora tröstet sich später mit einem Tabakfabrikanten: „Ich ziehe die Verkäufer von Zigarren denen vor, die sie rauchen.“ El Gallo, den seine Bekannten als einen ruhigen, sehr naiven, schüchternen, lakonischen („nie mehr als fünfzig Worte hintereinander“), schalkhaften Mann beschrieben, ohne Laster, außer man betrachtet Zigarren und Kaffee als solche, hing trotz allem an Pastora. Er war einfach unstet, ohne es zu wollen. Er hielt sich in Form „durch das Rauchen von Zigarren“. Eines Tages schenkte ihm sein Freund, der Torero Minuto, ein Jahresabonnement in einem Fitnessstudio. Rafael ging regelmäßig hin, aber blieb draußen vor der Tür und schlürfte Zitronensaft. Leibesübungen? „Y pà que?“ („Und weshalb?“) Dieselben Fantasien, das Geld betreffend. Er ist der bestbezahlte Torero seiner Zeit, aber gleitet auf Vogelschwingen vom Reichtum ins Elend und wieder zurück. Er lässt sich von seinen Managern ausnehmen. Die Bettler Sevillas hauen ihn an: „Mein Leben ist ein Guadalquivir der Tränen!“ Und Gallo langt in die Tasche ... Weil das Reisen von Corrida zu Corrida lang und langweilig ist, stellt er einen Typen ein, der ihm Witze erzählt, und einen anderen, der Flamenco singt. Francès erzählt, wie El Gallo sein Konto in einer Bank auflöst und erstaunt 600 Peseten kassiert. Er findet das zu viel, will die Hälfte dem Kassierer geben oder die Scheine auf dem Tresen liegen lassen, für jemanden, der sie wirklich nötig habe. Der Schriftsteller Cossio wird später sagen, dass Rafael etwas einfältig war. Hemingway kommt näher an die Wahrheit, wenn er ihn im Alter mit einem „betagten Schmetterling“ vergleicht. Vielleicht war er ein Engel. Unter anderem ist es nicht unmöglich, dass er bei seiner Geburt wirklich verdurstet ist, weil nur ein Engel mit einer Zigarre im Maul vor einen Stier treten würde, wie er es einmal in Nîmes gemacht hat. Er ist vielleicht auch am 14. Juni 1914 in Algeciras gestorben, als ein Stier von Moreno Santamaria ihm einen gewaltigen Hornstoß in die Brust versetzt und dabei die Medaille der Heiligen Jungfrau verbiegt, die er um den Hals trägt. Das Gerücht von seinem Tod macht die Runde in Sevilla. Die Zeitungen drucken Sonderausgaben. El Gallo gesundet, langsam. Zwölf seiner Anhänger begeben sich laut Luis de la Cruz auf eine Wallfahrt nach Montserrat in Katalonien, um der schwarzen Madonna eine zwanzig Kilo schwere Zigarre zu stiften.

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Rafael stirbt kahl, still, ruiniert, am 20. Mai 1960 in Sevilla, wo er von den diskreten Spenden seiner Freunde lebte, unter anderem Belmonte, und wo sein Leben geregelt war wie die Erscheinungen der Madonna während der Festwoche. Er stand auf, machte einige pases für einen imaginären Stier mit seinem Bademantel, frühstückte, zog sich fein an: Hut, Seidentuch, Anzug. Dann ging er die Füße des Jesús del Gran Poder küssen. So etwas tut man. Danach zog er los, um seine täglichen fünfzehn Kaffees im Kreis der Freunde zu trinken, die ihn wie eine vertrauensselige, kurz angebundene und listige Sphinx befragten. Er tat seine Meinung erst nach einem genau festgelegten Raucherritual kund. Er steckte eine selbst gedrehte Zigarette an, legte sie nach links, entzündete eine Zigarre, legte sie nach rechts, nahm seinen Hut ab und trank ein Schlückchen Kaffee, bevor er antwortete. Er redete von den Stieren, von seinen Liebesabenteuern mit Pastora, von der großen weiten Welt, die ihn so wenig angegangen war und die seine friedliche Boheme mit schlafwandlerischer Sicherheit durchquert hatte; diese Welt, die er überflogen hatte wie ein Rauchring. Öfter hielt er inne und schwieg einen langen Moment. Pure Abwesenheit. Ein Engel schwebt vorüber. Er raucht eine riesige Flor de Habana. Es ist Rafael el Gallo. Libération vom 5. 10. 1996

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Ein Universum, in dem sich kleine bunte Blechschachteln wie von selbst bewegen (es sei denn, jemand kann aus dem Stand die Funktion eines DieselEinspritzmotors erklären), in dem das warme Wasser aus der Wand fließt, in dem vierzig verschiedene Sorten Hundefutter verkauft werden, in dem ein Flaschentrockner im Museum landet, in dem Männer mit rosa Strümpfen und goldenen Westen schwarze Tiere mit roten Tüchern bekämpfen, ist zwangsläufig ein magisches. Wer hat es auf dem Schulweg nicht vermieden, auf die Fugen der Steinplatten zu treten, um die Matheprüfung zu bestehen, vor einem Vertragsabschluss nicht auf Holz geklopft oder jenen Spatzen im Park beschworen, nicht wegzufliegen, bevor der erste Kuss getauscht ist?

Blut, Sand, Sonne und Aberglauben Warnung an etwaige Anwärter: Um sich zum Matador weihen zu lassen, sollte man besser den 28. September vermeiden. Ein schlechtes Datum. Dieser Tag bringt Unglück. Pepete III., Isidoro Martín Flores, Joselito, Granero, Manuel Baez Litri, José Luis de la Rosa, die an diesem Tag Matador wurden, sind alle eines unnatürlichen Todes gestorben. Die ersten fünf wurden von einem Stier getötet, der sechste in Barcelona während des Bürgerkrieges ermordet. Victoriano Roger Valencia, der Anwalts-Torero der Sechzigerjahre, hat sich seinerseits immer geweigert, in einem flaschengrünen Kostüm zu kämpfen. Nicht ohne Grund. Sein Onkel Pepe Valencia I., sein Großvater Valencia II. und sein Vetter Valencia III. sind alle in mit Gold besetzten flaschengrünen Kostümen schwer verletzt worden. Für Victoriano Roger Valencia sah das böse Auge eher alles in Schwarz-Weiß. Er kriegte ein ordentliches Horn ab, als er ein silber-schwarzes Kostüm einweihte, und noch drei bei den drei folgenden Corridas, in denen er diese verflixte traje de luces, dies „Lichtgewand“ trug, ohne zu glänzen. Er hat es schließlich einem vielversprechenden jungen Stierkampflehrling aus Jerez, Juan Antonio Romero, vermacht, der darin ohne Problem gekämpft hat. Aber das Unglück, das nie am Fliegenfänger der Vor-

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zeichen hängen bleibt und zynisch seinen Mantel nach dem Wind dreht, erwartete diesen gleich nach der Kurve. Einer Straßenkurve, in der Juan Antonio Romero, der „Zyklon von Jerez“, der ehemalige Aushilfelehrer, der Rafael de Paula das Lesen und das Schreiben beigebracht hat, im Dezember 1974 den Tod fand. Unter dem stets drohenden Gewitterhimmel der Hornstöße, angesichts der mala pata, die über den Arenen die schwarzen Wolken böser Anzeichen türmt, öffnen die Toreros im Nieselregen der Beklommenheit den Regenschirm der Beschwörungen und schützen sich, so gut es geht. Vorahnungen, Wunderglauben, Aberglauben, Medaillons, Manien, Macken ... Ihre diskreten Gesten der Phobie ähneln den neurotischen Zwangshandlungen, die Sigmund Freud in Zwangshandlungen und Religionsübungen dem heiligen Akt religiöser Riten zur Seite stellt. Für Ruiz Miguel ist das Aufstehen mit dem linken Fuß ein besonderer Verdruss am Tag einer Corrida. Ortega Cano befolgt ein genaues Ritual: Er steht auf, isst, kleidet sich immer zur selben Stunde und Minute als Torero ein und hängt seine Zivilkleidung immer auf dieselbe Seite in allen Kleiderschränken aller seiner Hotels. Emilio Muñoz gleitet immer mit dem rechten Arm zuerst in seine chaquetilla, seine Toreroweste. José Antonio Campuzano trägt immer ein knappes halbes Kilo religiöser Medaillons um den Hals. Vor einer Corrida schaut Paco Ojeda immer Fernsehen, zappt aber wild durch die Programme. Er fährt zur Arena immer auf dem Vordersitz des Autos. Genau wie Espartaco. Cepeda sitzt immer hinten, zwischen denselben peónes: David Domínguez und Silverio Sierra. Paquirri ließ immer eine Lampe in seinem Hotelzimmer brennen. Während des Aufmarsches in der Arena, in dem Moment, in dem er den rechten Fuß vorsetzt, beugt Manzanares leicht die Knie und berührt diskret seine Genitalien. Muñoz rückt mechanisch seine Weste zurecht. Wenn ein Stier ins Rund schnellt wie aus einem Blasrohr geschossen, versteckt Roberto Domínguez kurz sein Gesicht hinter der hölzernen Barriere. Mora schlägt das Kreuzzeichen hinter seiner capa. Der banderillero El Ecijano befeuchtet verstohlen seine Bauchschärpe mit einem Finger, bevor er die banderillas setzt. Rafael de Paula fürchtet vergossenes Öl, offene Hosenträger und dass man ihm ein Päckchen Taschentücher schenkt. Wenn ihm sein mozo de espadas, sein Degendiener, den Degen reicht, versucht er jedes Mal automatisch und unnüt-

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zerweise, die Klinge aus gehärtetem Stahl mit der Spitze auf der Barriere ein bisschen zu beugen. Seit ein Schauspieler im 19. Jahrhundert auf der Bühne in gelben Kleidern gestorben ist, ist die Farbe Gelb aus der traje de luces, dem „Lichtgewand“, mehr oder weniger verbannt worden, obwohl sie paradoxerweise auf der Rückseite der capas auftaucht. Ein paar Sturköpfe wie Espla oder Cepeda setzten sich über das Tabu hinweg. Andere schlagen Haken: Der junge Niño de la Taurina behauptet, in Gelb zu kämpfen wäre ihm egal, allerdings habe er keine gelb-goldene Tracht in seiner Garderobe und werde auch nie eine besitzen. Espla, der in Gelb kämpfen kann, würde sich nie in Grün kleiden. In allen Hotels, in denen der Torero Gallito, Neffe des berühmten Zigeunertoreros Rafael el Gallo, sich umkleidete, riss er die grünen und rubinroten Klingelschnüre von der Wand, um sich ein Armband daraus zu flechten. Er konnte keinem Stier ohne dieses Amulett gegenübertreten und trug immer einen Vorrat Klingelschnüre mit sich herum, um nicht in Verlegenheit zu geraten. Keine Frage, von wem er’s hatte. Sein Onkel behauptet, manche Stiere würden zu ihm sprechen, und machte durchaus stehenden Fußes kehrt, wenn er eine schwarze Katze traf. 1934, im Alter von 44, nach zwei Sabbatjahren in Argentinien, kam er per Schiff für 40 Stierkämpfe nach Spanien zurück, weigerte sich aber, in Cádiz von Bord zu gehen, bis man ihm einen cordobésischen Hut mit breiter Krempe gefunden hatte. Jede Störung der sorgfältigen Ordnung der Bräuche in der Welt des Stierkampfes, deren anachronistische Sklerose Teil ihres Charmes ausmacht, ist Vorwand zur Besorgnis. Der Stress sickert wie Sand in die feinste Lücke, die kleinste Fantasie. Eines Tages bei einem Stierkampf in Mexiko weigerten sich die Toreros, den Aufmarsch an der Seite des aztekischen Toreros Juan Silveti zu machen, weil seine Schmuckschärpe eine einzigartige Stickerei trug: einen Adler, der eine Schlange niederzwingt, das Wappen der Stadt. Diese Phobien sind allgemein verbreitet. Sie infizieren das „Gefängnisuniversum“ des Stierkampfes mit mannigfachen Obsessionen, vom aficionado, der krankhaft gründlich seine Schuhe putzt, bevor er zur Arena geht, bis zum Züchter Miura, der nie ein neugeborenes Kalb mit der Nummer 13 zeichnen würde. Aus „Traditionsgründen“ springt er direkt von 12 zu 14. Auf diesem neurotischen Dünger hat jeder Blödsinn Gelegenheit, zu sprießen. Es geht zum Beispiel die Sage, dass alle Stiere die Augen schließen, wenn

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sie den Kopf in der muleta haben. Alle, bis auf die Miuras. Im Band 7 der Enzyklopädie El Cossio erklärt der Psychiater und Historiker des Stierkampfes, Fernando Claramunt, dass „aus der Sicht einer Psychopathologie der Angstzustände abergläubische Verhaltensweisen in Wirklichkeit magische Riten sind, um die Angst zu beschwören“. Er fügt hinzu, dass dieses „phobische Verhalten eine Regression zu sehr primitiven Formen des magischen Denkens“ darstellt, „ähnlich wie das von Kindern“. Ähnlich, aber nicht gleich. Dieses Verhalten steht letztlich „im Dienst eines Traumes von Allmächtigkeit oder dem Besitz von übernatürlichen Kräften“. Hat die neue Generation von Toreros, in einem modernen und europäischen Spanien geboren, dieses pittoreske Wiedererstehen des magischen Denkens zu den Akten gelegt? Offensichtlich nicht, auch wenn der Kult der Schutz spendenden Heiligen Jungfrau bei einigen leicht rückläufig ist. Joselito ist nicht gläubig, aber beichtet den Besitz eines Glück bringenden Hemdes. Cepeda betet nicht vor einem tragbaren Altar, aber pilgert jedes Jahr mit seiner ganzen quadrilla zur Ermita del Rocio. Ansonsten läuft alles wie gehabt. Der junge Zorita verweigert himmelblaue Trachten, weil Paquirri in einer solchen gestorben ist. Mike Litri zieht statt der modernen Strumpfhosen die antiken langen Unterhosen an, weil die großen Toreros der Vergangenheit solche trugen, und Jesulín de Ubrique zeichnet geschwind vor dem paseo mit dem Fuß ein Kreuz in den Sand und so weiter und so fort. Man entkommt dem obsessiven Stierkampfmilieu nicht wie einem etwas verdrehten Roman, den man zur Seite legt. So oder so warnt die Geschichte des Stierkampfes seit ihren Anfängen vor der Gefahr, die Mauer der Vorahnungen und der fixen Ideen einzureißen, die sie selbst errichtet hat. Weil er einmal eine Ausnahme von der Regel gemacht hat, niemals Stiere aus Kastilien zu bekämpfen, stirbt Pepe Hillo, Töter von unzähligen andalusischen und navarrischen Stieren, und laut seinen Zeitgenossen mindestens dreizehnmal nach dreizehn schrecklichen Hornverletzungen gestorben, endgültig aber nach der vierzehnten. Am 11. Mai 1801 in Madrid durchbohrt ihm Barbudo, ein kastilianischer Stier von Peñaranda de Bracamonte den Brustkorb, bricht ihm sechs Rippen, zerreißt seinen Magen und schickt ihn in eine möglicherweise bessere Welt, in der die Vorahnungen endlich ohne Folgen bleiben und die Exorzismen gegenstandslos sind. Libération vom 20. 1. 1990

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Journalisten vermeiden in ihren Artikeln die erste Person Singular, als wäre das „ich“ zu starker Tobak, das „mein“ zu gierig und ausschließlich. Jacques Durand macht da keine Ausnahme. Er ist durch und durch professionell. In seinem persönlichen Archiv, unter Tausenden von Seiten „Tauromachie“, aus Libération herausgerissen und in einem Piratenkoffer in seiner Räuberhöhle von Büro aufbewahrt, gibt es nur einen Artikel, in dem er eine Ausnahme gemacht hat. Er handelt von Curro Romero, einem Torero, bei dem die Ausnahme die Regel war. Und als zweiter Satz steht einer, den jeder Journalist einmal schreiben sollte, wenn er sein Metier ernst nimmt.

Die Wunderheilung eines alten Toreros Man könnte es für eine Fata Morgana halten, aber es ist keine Zeitungsente. Ich habe es gesehen, ich war dabei. Zusammen mit der Mutter des Königs, ­ihrem steifen Hals und 23.000 Zuschauern. Der Himmel war grau, es war der 2. Oktober in Madrid. Der Stier trug den Namen Soneto. Er war edel, mit großen Hörnern, colorado, die Farbe des Feuers, er wog 520 Kilo und kam aus der portugiesischen Zucht von João Moura. Der Torero Curro Romero, der am 1. Dezember sechzig wird, ersetzte stehenden Fußes den an Hepatitis C erkrankten César Rincón. Er wurde am Ende mit einem Ohr des Stieres belohnt, nachdem ihn dieser beim zweiten, wahnsinnigen Degenstoß gefährlich hoch durch die Luft geschleudert hatte. Das Foto stand am nächsten Tag auf allen Titelseiten der großen Tageszeitungen, direkt unter der Schlagzeile, die Spaniens Verweigerung einer Einschränkung der Befugnisse der europäischen Kommission während des europäischen Gipfels in Birmingham verkündete. Man sah darauf Curro auf der Erde liegend, „meinen“ Curro, den mythischen „Pharao“ von Sevilla, entwaffnet, ohne Schuhe. Er fixiert mit weit geöffneten Augen Soteno, der ihn beschnüffelt. Die furchterregenden Hörner sind zehn Zentimeter vom Hals des Toreros entfernt. Den Sevillanern muss beim café con leche das Brot mit Olivenöl im Hals stecken geblieben sein.

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Die Heldentat Curros, des einzigen Toreros, der während der Herbstferia mit einem Ohr ausgezeichnet wurde, hat die Statistiker an ihre Karteikästen katapultiert und auf der Stelle die Erinnerung an die „Plexiglasjahre“ ausgelöscht, während derer der „Pharao“ die Arena von Las Ventas generell unter der bronca des Publikums und einem Hagel von Sitzkissen verließ, geschützt von den Plastikschilden der Polizei. Curro Romero, der seit seiner ersten Corrida in Madrid 1959 die Arena von Las Ventas siebenmal auf den Schultern der Menge verlassen hat, hatte dort seit sieben Jahren, genau seit dem 7. Juni 1985, kein Ohr geschnitten. Seine Vorstellung der muleta, angekündigt von zwei veronicas und einer halben veronica mit der capa, war kurz: genau fünfzehn Passagen des Stieres, alle ehrlich, tief, abwechslungsreich und nicht ganz regelmäßig. Manchmal blieb das Tuch am Ende des Durchlaufs am Horn hängen, andere pases, vor allem drei naturales mit der linken Hand, waren sauber, genau, langsam, beherrschend, endlos, inspiriert: arte puro. Im Grunde lag der überraschende Charme seiner faena eher in ihrer Unvorhersehbarkeit als in ­einer formellen Perfektion. Ihre Schönheit und ihr emotionelles Gewicht schienen direkt aus der elliptischen Natur mancher pases zu kommen, die naturales und remates ausgenommen. Diese waren ziseliert wie reiche Endreime. Curro lieferte in Wirklichkeit einen Kampf auf verschiedenen Ebenen. Er kämpfte mit den Grenzen der Belastbarkeit seines Körpers, gegen sein Alter und gegen das lebhafte, ausufernde Vordringen des Stieres. Trotzdem trat Curro, der nahe der Barriere mit hochgehaltener muleta begonnen hatte, bei jeder Passage Soteno in den Weg, um die Oberhand zu gewinnen. Bei jedem Versuch Sotenos, ihn zu überlaufen und seine Erschöpfung auszunutzen, gelang es Curro, eine technisch und künstlerisch entsprechende Erwiderung zu finden: trinchera, kikiriki, pase ein Knie am Boden. Er schien sie an Ort und Stelle zu erfinden, so wie man die knifflige Definition eines Kreuzworträtsels gleichzeitig intuitiv und durch scharfes Überlegen löst. Daraus entstand ein Eindruck der Frische und der Spritzigkeit, der plötzlich das konventionelle, ferngesteuerte, schwatzhafte, gefällige und gefriergetrocknete toreo, zusammengekocht von Toreros, die seine Söhne sein könnten, altbacken erscheinen ließ. In den unter Hochspannung stehenden Arenen von Madrid erschien Curro Romero wie ein alter Künstler, verloren in seiner Kreativität, der wieder jung wird und sich neu von ihr überraschen lässt, von seiner eigenen Begeiste-

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rung verblüfft. Während er Soteno mit frühlingsgrüner Kühnheit entgegentrat, zerstörte er gleichzeitig das Bild des satten, zynischen und elenden Toreros, das seit langer Zeit mehr oder weniger berechtigt seinen Mythos verdunkelt. All das dank einer paradoxen Art zu kämpfen. Sie war wie von hinten durchleuchtet. Sie zeigte deutlich die körperliche und moralische Arbeit, die zu ihrer Erschaffung nötig war, aber ihr natürlicher Fluss, ihr temple, ihr Duft und ihre Spontaneität machten jeden Eindruck von Anstrengung oder Berechnung zunichte. Die faena hätte so bleiben können, ein kurzes und eher fröhliches Hin und Her. Ihr Ende, am Rand des Tragischen, wird diesem magischen Zauberstückchen eine dramatische Wendung geben. Curro stellt sich auf, um Soteno zu töten und verpatzt den ersten Degenstoß. Er bezieht erneut Position, und wirft sich – eher selten bei ihm – direkt auf den Stier, trotz des drohenden rechten Horns. Er wird brutal zu Fall gebracht. Er stürzt hart auf den Nacken, ähnlich wie Nimeño II. und Julio Robles, beide danach querschnittsgelähmt. Curro ist allerdings beinahe sechzig. Er bleibt steif liegen, während der Stier seinen bewegungslosen Körper überschreitet. Man trägt ihn hastig in die Unfallstation. Er verzieht das Gesicht. Er klagt über Schmerzen im Hals. Er sagt: „Me ha matado el toro.“ „Der Stier hat mich getötet.“, was beweist, dass Tote erstens schwatzhaft sind und es zweitens an Klarsicht mangeln lassen. In der Tat, Curro Romero, der „Pharao“, ist nicht tot. Es hat ihm nur den Kragen etwas zerknittert. Er macht sich in der Unfallstation frisch, sucht vergeblich nach seinen Toreroschuhen, möchte nach draußen, um seinen Stier zu töten, der längst seinem extravaganten Degenstoß erlegen ist. Unterdessen drehen seine Helfer, seine peónes, mit düsteren Gesichtern eine besorgte Ehrenrunde in der Arena. Sein banderillero Guillermo de Alba trägt das Ohr von Soteno in der Hand, das das aufgewühlte Publikum gefordert hat. Auf halber Strecke das Wunder: Aufruhr an der Tür zur Unfallstation. Sie öffnet sich, und „mein“ Curro kommt heraus, ohne Schuhe, bleich, ebenfalls tief bewegt, aber zwischen Ätherflaschen wiederauferstanden. Es ist ihm nichts passiert. Soneto war kein Bilderstürmer. Der Beifall wird um 40 Grad wärmer. Rafael Torres, ein anderer péon Curros, der Paquirri in Pozoblanco hat sterben sehen, umarmt seinen maestro wie warmes Brot. Curro beendet langsam die Runde, ohne zu lächeln, das Ohr von Sotano haltend. Das Publikum wirft ihm Blumen

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zu, Rosmarin, Hüte, Krücken, sein Herz und sein nichtiges Zögern. Sogar der schreckliche tendido 7 klatscht stehend. Man fordert eine zweite Ehrenrunde. Curro weigert sich. Er stellt sich hinter die Barriere. Das Publikum lässt nicht locker. Er tritt wieder ins Rund, grüßt unter Beifallsstürmen, kehrt in den callejon zurück, kommt wieder hervor. Er hat vergessen, seinen Torerohut zu holen, den er vorhin der Mutter des Königs oben in ihrer Ehrenloge zugeworfen hat. Am nächsten Tag steht als Überschrift in El Mundo: „Ein Engel flog vorbei“, während Jorge Laverón in seiner Rubrik in Diario 16 schreibt: „Wer Curro nicht liebt, liebt seine eigene Mutter nicht. Curro ist Teil des Welterbes der Menschheit.“ Drei Stunden nachdem dieser solche Leidenschaften entfacht und so viele Drüsen auf Hochtouren gebracht hat, verzehrt der beleibte Engel, Ausmerzer Sotenos und großer Fabrikant starker Gefühle und matriarchalischer Lehrstücke, einen einfachen Teller grüne Bohnen. Ein reservierter Mann, im Kreis enger Freunde in einem anonymen Restaurant Madrids. Am 12. kämpft er zu Hause in der Maestranza von Sevilla. Seine Anhänger haben mit einem Rosmarinzweig im Knopfloch auf ihn gewartet. Ergebnis: Pfiffe bei seinen zwei Stieren. Sie waren schlecht und er nicht besser. In Sevilla herrschen weiterhin die „Plexiglasjahre“. Sei’s drum! Diodoro Canonera, der Verwalter der Maestranza, zählt auf ihn für die nächste Aprilferia. Fazit: Curro ist unzerstörbar. Libération vom 21. 10. 1992

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Bleiben wir noch einen Moment bei Curro Romero, heute ein würdiger, etwas beleibter Rentner, dessen Name von den älteren aficionados wie ein Mantra geflüstert wird, als verkörpere er auf magische Weise die ganze Quintessenz, die erfrischende Komplexität, die herzzerreißenden Paradoxe des Stierkampfes. Auf jeden Fall führt Curro direkt ins Herz der Sache (deren Magen dann in Madrid läge), nämlich nach Sevilla, dieser Stadt, die jeder kennt und keiner je gesehen hat, als gäbe es weder Billigflüge noch Touristenbüros. Sevilla ist wie eine russische Puppe, die man zitternd vor Freude und Furcht in eine unendliche Reihe kleinerer Puppen zerlegt, bis man am Ende gar nichts mehr in den Händen hält. Diese Struktur einer Zwiebel hat Sevilla auch dem Stierkampf aufgeprägt und niemand hat wie ihr schüchterner Sohn, der „Pharao“ Curro Romero, die Tränen – der Wut, des Glücks – der aficionados so schön fließen lassen.

Curro, die Essenz Sevillas Letzten Freitag in einem Salon des Alcázar hat Soledad Becerill, Bürgermeister der Stadt, Curro Romero „zum Adoptivsohn Sevillas“ erklärt. Der Redner José-María Javierre hat gesagt, Curros toreo produziere „eine unendliche Glücksblase“, bevor er sich fragte: „Wer kann Sevilla oder Curro erklären?“, und die Antwort schuldig blieb. Immer noch in Bezug auf Curro Romero zitierte er einen Gedanken von Antonio Machado: „Etwas gut zu machen, ist wichtiger, als es zu machen.“ Ein Gedanke, der ohne Weiteres die Ideologie des Raren, des „Pharao“ beschreiben könnte, nämlich selten oder fast nie zu kämpfen, aber wenn möglich gut, statt 300.000 Mal mit der muleta zu wedeln. Daher seine Reputation als ein hinterhältiger Saboteur der Stiere und ein Überflieger der faenas, wenn die Bedingungen – der Stier, der Wind, die knitterige muleta, die Wolke am Himmel, der blendende Sand, die hässlichen Arenen, ein irritierendes Publikum, eine Fliege auf der Barriere – ihm mit dem plötzlichen Aufbrausen seiner Musik unvereinbar erscheinen.

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Gut oder gar nicht machen, diese Alternative ist einer der Katechismen Sevillas. Die Zeremonie wurde vom Quintett Poema Harmonica mit drei Cantigas de Santa Maria begleitet, im 18. Jahrhundert komponiert von dem Sohn des Königs Alfonso des Weisen. Curro Romero, der offizielles Blabla mehr fürchtet als Stiere aus der Zucht von Gabriel Rojas, schien wie immer bei solchen Veranstaltungen, denen er sich nach Möglichkeit entzog: eingeschüchtert und unter den Lobeshymnen errötend. Als kommentiere er eine seiner faenas, gab er nachher zu: „Das Einzige, was ich machen konnte: würdig Haltung zu bewahren, während ich innerlich sehr unruhig war.“ Genau das, was man von einem Torero erwartet. Luis García Caviedes schreibt es in seinem schon zweimal neu aufgelegten Buch Curro Romero, Mythos Sevillas: Curro ist keine Legende, sondern ein Mythos. Der Mythos Sevillas. Etymologisch gesehen ist eine Legende etwas, das laut gesagt werden muss und ein moralisierendes Ende besitzt. Ein Tadel, von dem Curro glücklicherweise frei ist, wobei er seinerseits völlig „unlesbar“ bleibt. Diejenigen, die ihn an einem großen Tag erlebt haben, geben sich damit zufrieden und versuchen nicht, eine unmögliche Emotion mitzuteilen. Und die Analphabeten, die ihn nicht beim Schreiben seines Gesamtwerkes gesehen haben, sind selbst schuld: Man musste halt anwesend sein. Diese Zauberbuch-Hermetik entspricht der versponnenen Komplexität Sevillas, oberflächlich und tief, lustig und tragisch, windig und treu, exhibitionistisch und verborgen und ganz offensichtlich kein Sklave der nackten Tatsachen. Wenn die orale Tradition Sevillas rückhaltlos verkündet, die sterblichen Reste von Christoph Columbus lägen in seinem Grab in der Kathedrale, dann liegen sie auch da. Diese sevillanische Rätselhaftigkeit findet sich sogar in der Devise, in Form eines Wortspiels: NO, dann ein Fadenknäuel (auf Spanisch madeja), gefolgt von den Buchstaben DO. Lösung: „No me has dejado.“ „Du hast mich nicht im Stich gelassen.“ Eine Anspielung auf die Treue der Stadt zu König Alfonso VIII., dem Edlen. Sevilla hält Curro Romero dieselbe Treue, trotz allem Gezanke, und das seit dem 26. Mai 1957, als er sich als Stierkampflehrling, als novillero, in der Maestranza zeigte. Es war „transzendentale“ Liebe auf den ersten Blick, schreibt Caviedes. Es regnete. Curro sprang als Ersatz für Mondeño ein, und die augenblickliche Symbiose mit Sevilla etablierte sich via den Stier Radiador, des-

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sen beide Ohren er nach einer faena „aus purem Gold“ bekam, eine faena, von Anfang bis Ende vom Orchester begleitet. Rafael el Gallo, der amtierende Gott des Stierkampfes Sevillas, der die Corrida nicht gesehen hatte, fragte Juan Belmonte, ein anderes Totem des Stierkampfes, ob es wahr sei, was ihm die Leute erzählten. Dass dieser Grünschnabel nämlich etwas von ihm, El Gallo, und etwas von Belmonte habe. Antwort: „Er hat weder etwas von dir noch etwas von mir. Er hat viel von sich selbst.“ Im Folgenden entzückte und enttäuschte Curro Romero gleichermaßen heftig, in ewigem Auf und Ab. Statt seine Position zu schwächen, verstärkte diese Diskontinuität seine Verbindung mit einer Stadt, die gierig nach Überraschungen ist und die in der Gabe der Improvisation ein Geschenk des Himmels sieht. Was sich gut trifft, da Curro in der „Straße des Engels“ im Vorort Camas geboren wurde. Ein anderer Charakterzug Sevillas, der sich im Fall Curro wiederfindet: der Hang zur ritualisierten Geselligkeit. In diesem Sinne ist der pünktliche Umzug der Statuen der Heiligen Jungfrau während der semana santa zu bestimmten Tagen, zur bestimmten Stunde, das religiöse Pendant zur unumgänglichen Teilnahme des „Pharao“ an der Corrida des Auferstehungssonntages, die die örtliche Stierkampfsaison einläutet. Ein anderes verbindendes Element: der Charme der geteilten Meinungen. Sevilla schwelgt in Dualitäten. Sein soziales Leben, seine Bars und seine Friseursessel sind Treffpunkte von harten Gegensätzen: für den Sevilla Fútbol Club oder für den Real Bétis Ballompié, für die Heilige Mutter der Hoffnung oder für die Macarena, für Joselito oder für Belmonte, für Manolo Caracol oder für Antonio Mairena, für casetas mit roten oder casetas mit grünen Streifen. Und Curro in alledem? Sein widersprüchlicher Doppelgänger ist Teil seiner Person, die in sich die ganze fröhliche Streiterei Sevillas vereinigt. Dasselbe Individuum kann ihn von einer Minute auf die andere und für die Dauer einer halben veronica anhimmeln oder verabscheuen. Die aficionados, die ihm kurz vor der Corrida in der calle Iris zuflüstern: „Curro, ich hasse dich!“, machen ihm in Wirklichkeit eine Liebeserklärung. Nach einer tristen faena am Ostersonntag 1991 hörte Caviedes einen Zuschauer rufen: „Curro, nächstes Jahr werden nur deine Hurenmutter und ich kommen, um dich kämpfen zu sehen.“ Reine Liebe. Ein canto flamenco sagt es:

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„Ich liebe es, mit dir zu streiten, um mich wieder zu versöhnen.“ Daher auch die speziellen Stürme der Entrüstung, die die Sevillaner Curro vorbehalten. Wie die Kissen, die ins Rund fliegen, nehmen die broncas ihn ins Visier, ohne wirklich treffen zu wollen. Dieses Paradox illustriert bestens die Dualität der Stadt. Während der Feria flaniert Sevilla mit Wonne unter den Augen derer, denen sie den Eintritt zu ihren privaten casetas verweigert. Die Sonne spielt ebenfalls eine Rolle in dieser gegenseitigen Durchdringung von Stadt und Torero. Die Kunst Curros ist ein Kind der Trägheit. Sie erklärt sich unter anderem durch die erstickende Hitze Sevillas, deren Typologie einer der sevillanischsten aller Schriftsteller, Antonio Burgos, erstellt hat. Der Sevillaner unterscheidet je nach Wärmegrad zwischen „el calor“, „la calor“, „los calores“ und „las calores“. Die despotische Herrschaft der Hitze, egal was das Thermometer genau anzeigt, ruft Verhaltensweisen auf den Plan, die ein anderer Schriftsteller, Martínez de Velasco, analysiert hat. Laut diesem zeigt der Sevillaner während der Hundstage eine Trägheit, die man nicht mit Faulheit verwechseln darf. Es handelt sich eher um eine Art Schwäche, die sehr langsames Handeln nach sich zieht. Der Sevillaner ist dann nicht untätig wie ein vulgärer Faulpelz, sondern „verwaltet seine Anstrengungen“. Die kleinen Schritte Curros in der Arena, die denen eines herzkranken Beamten ähneln, die Ökonomie seiner Gesten sind ihm deshalb ganz eigen und charakterisieren seine hingestrichelte Art, zu kämpfen. In einer Zurückhaltung, die als Klassizismus gelten kann, kreuzt der Weg des großen toreo das Gesetz der kleinsten Mühe. Stiere vorbeiziehen und drehen zu lassen, während man sich so wenig wie möglich bewegt, indem man nur das Handgelenk wegklappt, um wie mit dem Wedeln eines Fächers einen Augenblick die erstickende Affenhitze zu vertreiben, ist Ausdruck einer sublimen Trägheit, die sich gelassen, gelassen mit einer Lebensphilosophie deckt. Libération vom 8. 6. 1997

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Das geografische Gebäude des Stierkampfes steht auf drei Hauptpfeilern: Madrid, Sevilla, Pamplona. Jeder ist anders: die dicke Säule aus rotem Backstein Madrids, der zierliche Sandsteinpfeiler Sevillas und der aus grünem Holz zusammengezimmerte Balken Pamplonas. Städte wie Bilbao, Barcelona, Valencia stützen es von den Seiten ab. Das Gewirr der Bretter und Sparren der Kleinstädte, Dörfer und Gehöfte verbindet alles miteinander zu einem soliden, wenn auch bizarren Tempel. Über einem schönen großen Anbau steht „Nîmes“. Besitzer, Mieter und Besucher sind sich selten über Renovierungen, Kosten oder Küche einig, aber alle darüber: dass der Turm nicht einstürzen darf.

Die „kultivierten Arten des Schweigens“ der Maestranza Die Alteingesessenen nennen sie „den Tempel“, „el solar“, „das Mutterhaus“ oder auch „die Sixtinische Kapelle“ und seufzen – aber nur innerlich –, wenn die Aprilferia eine Handvoll Fremde in die Real Maestranza de Sevilla spült, die ihren heiligen Geist verwässern. Wenigstens sind die Corrida del Corpus im Juni oder die Feria von San Miguel im Oktober frei davon. Der Torero Curro Caro sagt es: „Wenn man in Sevilla auf den Rängen jemanden ‚Buh, buh!‘ schreien hört, ist das mit Sicherheit ein Franzose.“ Das sevillanische Publikum schreit nicht „Buh, buh!“. Das sevillanische Publikum sagt wenig, denkt sich seinen Teil und tut sich kund durch eine subtile Geheimsprache voller Sensibilität und präziser Codierung. Das Publikum von aficionados in Sevilla, nach außen hin versöhnlich, ist von heimlicher Strenge, aber seine Forderungen bleiben sozusagen unter der Oberfläche. Kein Vergleich mit der zerstrittenen, polemischen, dünnhäutigen, extrovertierten Zuschauermenge Madrids. Die Maestranza ist in erster Linie einig und mit sich einverstanden. Sonneund Schattenseite, die teuren und die billigen Plätze, Zuschauer in schicken blauen Anzügen oder in Hemdsärmeln, das Sevilla der alten Paläste oder der

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Arbeiterstraße Feria sind instinktiv auf derselben Wellenlänge. Instinktiv? Vielleicht nicht ganz das richtige Wort. Es handelt sich eher um eine traditionsgebundene Wissenschaft des Stierkampfes und um eine intuitive und blitzartige Voraussicht des künftigen Geschehens, im Bruchteil einer Sekunde, bevor es passiert. Curro Romero sagt, wenn er in der Maestranza kämpft, hat er den Eindruck, auf jedem Platz säße ein Torero. Er übertreibt nur minimal. Die kundige Zeremonie der Arena von Sevilla, deren relative Enge die Intimität fördert (12.300 Plätze gegen 23.700 in Madrid), ist in der Tat von einem großen Prozentsatz ehemaliger Praktikanten des Stierkampfes durchsetzt. Berühmt oder anonym: Sie wohnen dem ernsten Spektakel bei, wissend, dass es eigentlich keines ist, mit der Aufmerksamkeit derer, die sich auskennen und deshalb relativieren können. Daraus resultiert dieses unglaubliche und übersensible Gleichgewicht, das aus dem Publikum Sevillas das Gegenteil einer Menschenmenge macht, nämlich eine Art Altenrat ohne Verkalkungserscheinungen. Oder ein Familientreffen. Man tritt in die Maestranza wie in ein altertümliches Wohnzimmer mit gewachstem Parkett und mit dem Eindruck, jemand wird gleich flüstern: „Ziehen Sie die Pantoffeln an und berühren Sie bitte die Möbel nicht.“ Das kollektive Bewusstsein Sevillas ist deutlich spürbar, porzellanfeine Emanation des Ortsgeistes. Die Maestranza wurde 1761 erbaut, zwischen der grandiosen Müllhalde des Paratillo und einem Gefängnis. Sie ersetzte eine Arena aus Holz, in der konfuse und eher rohe „Stierspiele“ stattfanden. Ihr Besitzer ist ein alter Ritterorden, die Caballeros Maestrantes, gegründet nach der Rückeroberung der von den Mauren besetzten Stadt und 1670 neu durchorganisiert. Diese aristokratische Bruderschaft zur Aufrechterhaltung der Kriegskunst, der Reitkunst und des tapferen Geistes des Adels durch den Stierkampf zu Pferd ist der Ursprung des Stierkampfes „zu Fuß“ in Sevilla. Die „Fußgänger“, die den Adeligen halfen, die Stiere in der alten Holzarena zu bekämpfen, sind in Wirklichkeit die ersten Toreros und die Vorfahren dieses heute so zivilisierten Publikums. Was die Errichtung der Maestranza im 18. Jahrhundert mit seinen Bögen, seinem Rund, seiner baulichen Grazie verkörperte, war der Wunsch, angesichts der damals vorherrschenden französischen Mode den Stierkampf zu Pferd (und später zu Fuß) als einen Garant für andalusische Identität und schließlich nationale Ein-

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heit zu bewahren. Zusammen mit der Arena von Ronda, zur selben Zeit erbaut und ebenfalls einer Bruderschaft gehörend, erscheint die Maestranza laut dem Historiker Pedro Romero de Solis „wie die erste spezialisierte Architektur, in der Lage, eine völlig neue und absolut moderne soziale Gruppe zu empfangen: das Publikum“. Somit wird sie zur Wiege einer „freien kollektiven Meinung“, eines „modernen Bewusstseins“ und Prägestock eines kritischen Volksgeistes, der sein Urteil und seine Macht mehr und mehr über ein „Spektakel“ regieren lässt: die Corrida, die das ganze 19. Jahrhundert hindurch geläutert und reglementiert wird. Diese Komplizenschaft eines Serails ist geblieben. Die Maestranza ist immer noch Eigentum der 230 caballeros maestrantes. Sie haben seit einigen Jahren die Geschäftsleitung der Firma Pagès überlassen, die Veranstaltungen organisiert und 20,38 Prozent des Gewinns an die Eigentümer auszahlt. Diesen bleibt als Auflage, der alten Satzung gemäß den Stierkampf zu fördern und regelmäßig das Gebäude zu renovieren. Dieses Jahr haben sie dort ein Stierkampfmuseum eröffnet. Die Tradition wird auf sämtlichen Ebenen fortgeführt, nicht nur auf der der Verwaltung. Der größte Teil der rund hundert für die Ferias und Corridas angestellten Musiker, Pistenangestellten, Maultiertreiber, Einweiser, Verantwortlichen für die banderillas oder für die Ochsen, die untaugliche Stiere aus dem Rund locken, haben diese Aufgabe von ihren Vätern und Großvätern geerbt. Der Ordnungsbeamte der Arena, José Trigo, ein ehemaliger und unbegabter Torero, war zuerst zwanzig Jahre lang Pistenharker. Dieses Klima und dieser Clangeist, der die Stierkämpfe in Sevilla bestimmt, treiben das Gespür für Schicklichkeit und professionelles Können bis zu einer Art höflicher Wut. Das Publikum von Sevilla weiß, dass es sich im Stierkampf auskennt. Es ist im Herzen chauvinistisch und weiß dies ebenfalls. Es flüstert mit einer gespielt mörderischen Unschuld die Definition des Unterschieds zwischen den Toreros aus Sevilla und denen aus dem Norden: Erstere „torerieren“, Letztere, jenseits des Despeñaperros, arbeiten. Die Richtlinie wird bis zum Ende befolgt. Während der letzten Feria haben die Sevillaner zwar das gute toreo des Salamankers Julio Robles vor seinen Stieren mit jeweils einem Ohr belohnt, ihn aber gleichzeitig per Pressespalte darauf hingewiesen, dass er seine Ehrenrunde zu schnell gedreht habe. Das Schreiten auf dem ockerfarbenen Sand der Maestranza, aus

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dem Guadalquivir-Fluß in den Sandgruben von Alcalá de Guadaíra geschürft, ist eine Kunst. Sowieso, in der Maestranza geht es nur um Kunst. Wie es noch einmal Curro Romero sagt: „Sevilla ist ins Detail verliebt. Es nimmt die Kostüme der Toreros unter die Lupe, beobachtet ihren Gang, befindet über die Haltung eines peóns, wenn dieser sich bückt, um eine capa oder eine banderilla aufzuheben.“ Sogar die broncas sind dort maßvoll und „ziseliert“. Sie sind eher kürzer und milder, mit Ausnahme derer, die Curro Romero zugedacht werden. Letztere sind ausschweifender und ebenfalls besser abgesprochen. Im Grunde zieht es Sevilla vor, seinen Tadel durch Schweigen zu äußern. Seine berühmte eisige Stille lassen einen Torero mehr zittern als flammende Schimpftiraden. Sevilla kennt zwei Arten von Stille. Eine besteht aus Aufmerksamkeit. Sie tritt dann ein, wenn der gemeinschaftliche Geist der Maestranza denkt, es könnte etwas zwischen einem Stier und einem Mann passieren. Sie gesteht dem Torero drei oder vier pases zu, zum Sehen, wie beim Pokern. Es ist eine pure, geladene, allgegenwärtige, scharfe Stille und Paquirri sagte, dass er in solchen Momenten dort unten vor seinem Stier buchstäblich die Fliegen hat summen hören. Die andere Stille, die des Desinteresses, ist Resultat einer raffinierten Verachtung. Sevilla zeigt die kalte Schulter. Es fühlt sich nicht mehr beteiligt. Es wird so oder so nichts Besonderes geschehen. Sevilla bellt nicht. Was es nicht hindert, zu beißen. Aber boca callada, mit geschlossenem Mund. Libération vom 24. 6. 1989

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Auf dem Platz Santa Anna in Madrid sitzen Männer um einen Restauranttisch unter der Markise. Roberto Piles, der kleine Manager von Toreros der zweiten Liga, Francis Marmande, rundlich und mild, der manchmal für Le Monde über den Stierkampf schreibt, Jacques Durand mit seiner weißen Mähne, Chinito, ehemaliger französischer Torero der ersten Stunde. Sie lauschen einem untersetzten Faktotum mit alten, aber geputzten Schuhen, das die Hände auf dem Bauch verschränkt hat. Es erzählt die Geschichte von dem Papagei, der immer „Currrrro, Curo, Curo, Curo!“ rief. Die Runde hört mit einer Mischung aus Respekt, Mitleid und Neugier zu. Man lacht lauter als nötig, wenn der ehemalige Degenknappe von Curro Romero, der Mann, der Gott die Krawatte gebunden hat, eine Anekdote aus seinem Leben erzählt.

Degenknappe, Herr der Realitäten Guillermo ist nicht tot, aber im Grunde kommt es auf dasselbe hinaus. Seit jenem schrecklichen 28. August in Linares, an dem der Miura-Stier Islero seinen Herrn und Meister niedergemacht hat, lebt der ehemalige Degenknappe von Manolete wie lebendig begraben im Viertel Canero im Norden von Córdoba, mit Blick auf den neuen Friedhof San Rafael. Nicht der von Manolete. Manolete, der „in der linken Hand das selbstverständliche Geheimnis der Anmut hatte, ruht unter dem Himmel seines maurischen Córdoba“, wie es seine Grabinschrift auf dem alten Friedhof de la Salud verkündet. Wir suchen nach Guillermo in jenem neuen und populären Viertel aus bescheidenen Reihenhäusern, in dem die Straßen im rechten Winkel Don-Quichotte-Weg und Sancho-Pansa-Gasse heißen. Der Wirt der Kneipe „Der Hunderücken“ rückt mit der Adresse heraus, während er mit einem Lappen die mit Kreide auf die Theke geschriebene Rechnung wegwischt. Guillermo? Das letzte Haus. Jeder im Viertel kennt ihn. Aber niemand ist in der Lage, uns seinen Familiennamen mitzuteilen, auch nicht seine Tür, an der nichts angeschrieben steht. Guillermo geht fast nie mehr aus dem Haus, außer einmal in Jahr am

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26. August, um der Gedächtnismesse für Manolete beizuwohnen. Guillermo hat nie wieder eine Corrida gesehen, will nichts mehr von Stieren hören, gibt keine Interviews. Nada. Islero hat Guillermo versteinern lassen. Die Trauer. Wir klopfen trotzdem. Ein alter Mann öffnet. Er trägt ein verschlissenes Unterhemd. Seine schwarzen Haare sind nach hinten geglättet, wie auf den Fotos des Spanien von 1947. Hinter seiner Silhouette erspäht man ein dunkles Zimmer. Wir erklären behutsam, dass wir „darüber“ reden wollen. Er antwortet einfach, ohne Feindschaft, nein, das sei nicht möglich, „dass es vierzig Jahre her sei“, aber „lo siento siempre, mucho“. „Ich fühle es noch immer, genauso.“ Tränen steigen ihm in die Augen. Er schließt langsam seine Tür, sich entschuldigend: „Es tut mir leid“. Guillermo war zusammen mit Chimo einer der beiden Degenknappen von Manolete. Chimo war gehorsamer als Guillermo, der ein Jugendfreund des Toreros gewesen ist und der ihm manchmal widersprach, indem er ihn zum Beispiel zwang, sich in ein grün-goldenes statt in ein weiß-goldenes Kostüm zu kleiden. Der mozo de espada, der Degenknappe, selbst wenn die Bezeichnung in erster Linie an einen Diener denken lässt, ist kein Haussklave des Toreros, auch wenn eine seiner Funktionen darin besteht, ihn anzukleiden. Er kniet ihm zu Füßen, um ihm in die Schuhe zu helfen oder seine Bundhose zu schließen. Er trägt die Degen in ihren Scheiden, die montera, die Kappe des Matadors, in ihrem kleinen Koffer aus graviertem Leder, er hat Nadel und Faden dabei, um das „Lichtgewand“ zu reparieren. Diese Obliegenheiten einer Kammerfrau sind nichts Entwürdigendes, sondern erscheinen eher wie ein Privileg. Nur der Degenknappe hat das Recht, das maco anzufassen, das karierte Tuch, in dem das „Lichtgewand“ eingefaltet ist, nur er darf die tödlichen Degen tragen, die montera bürsten und die coleta am Hinterkopf seines Meisters befestigen, diese falsche Haarlocke und äußeres Zeichen des Toreroseins. Dagegen überlässt er es einem Helfer, also einem Diener des Dieners, die zapatillas, die Ballettschuhe des maestro, zu putzen und die capas und muletas zu säubern. Er selbst ist der Zeremonienmeister in unmittelbarer Nähe des Toreros. Er ist noch sehr viel mehr. In der subtilen Hierarchie der cuadrilla kommt er gleich hinter dem Matador und noch vor den peónes, obwohl diese den Stier „anfassen“. Wegen seiner intimen Beziehung mit dem maestro und auch weil er

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der Intendant der Mannschaft ist. Er ist es, der das Geld verwaltet, die p­ eónes bezahlt und seinem maestro, wenn dieser es verlangt, ein „Taschengeld“ gibt. Von Ausnahmen abgesehen, hat ein Matador niemals Geld dabei. Wenn er eine Runde austun will, schnippt er mit den Fingern und der mozo holt die Scheine heraus, wobei er seinem Meister diskret zuflüstert – sofern er es wagt –, nicht zu viel zum Fenster der Luxushotels hinauszuwerfen, wie vormals Ordóñez, Cordobés oder Dominguín und die anderen Stars der Siebzigerjahre. Dem Torero ist es egal und oft weiß er nicht, wie viel er genau vorhin unter Einsatz seines Lebens verdient hat. Erst am Saisonende, in einer Sitzung mit seinem apoderado, seinem Manager, und seinem mozo de espada als Verwalter macht er seine Buchführung. Während der Saison verwaltet der Knappe das Reale: alles, was nicht mit dem Stier zu tun hat. Es geht darum, seinen maestro Auge in Auge mit dem wirklich Wichtigen zu lassen: den Hörnern. Der Knappe verbirgt die Realitäten nicht, sondern beschützt seinen Torero davor. Er ist Organisator, Vertrauter, Sekretär, Schatten, Messdiener, Mann für alles, den nichts erstaunen kann, wie der Degenknappe von dem Zigeuner-Torero Cagancho in den Dreißigern. Dieser bat seinen Valet eines Tages, zur Apotheke zu flitzen, um „ein Kilo Morphin“ zu kaufen. Oder wie Paquito Guerra, der Anfang des Jahrhunderts seinem des Lesens nicht mächtigen Torero im callejon die Liebesbriefe schöner Damen mit viel Gefühl vortrug. Der Torero wies seine peónes an, sich mit den banderillas Zeit zu lassen, um das Ende zu hören. Dann ging er seinen Stier töten. Ein guter Degenknappe wacht über seinen Torero, filtert das Überflüssige, damit dieser sich auf das Wesentliche konzentrieren kann: auf den Kampf. Er ist ein bisschen Vater, ein bisschen Mutter, eine Art Mischung aus beiden. Er ist es auch, der als Bindeglied zwischen ihm und der Mutter oder der Ehefrau des Toreros dient, wenn es sich darum handelt, schonend eine Verletzung anzukündigen, ohne sich über deren nur angedeutete Schwere auszulassen, wie es Guillermo an jenem verfluchten 28. August 1947 tat. Er rief Dona Augustias Rodríguez, die Mutter Manoletes, in ihrem Ferienort San Sebastián an: „Er hat ein puntazo abgekriegt.“ Eher einen Stoß von einem kleinen Horn als einen kleinen Hornstoß. Der gute Degenknappe muss beurteilen können, wer in dem Hofstaat von aficionados, die den Torero belagern, wichtig ist oder nicht, und er muss es

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ohne böses Blut schaffen, die Journalisten oder aficionados zu besänftigen, die von seinem Meister enttäuscht worden sind: „Haben Sie denn auch richtig gesehen, was er mit seinem zweiten Stier gemacht hat?“ Die Familiarität zwischen ihm und dem Matador kann sehr unterschiedliche Formen annehmen. Gonzalito, der schwatzhafte und geleckte Scapin des Portugiesen Victor Mendes, zögert nicht, ihn aus dem callejon heraus prosaisch anzufeuern: „Leg los, Portugiese!“ Wenn er dagegen für Curro Romero arbeitet, ist er stumm wie ein Karpfen, diskret wie ein Maikäfer und nennt ihn ausschließlich „maestro“. Vielleicht färbt der expansive Kampfstil von Mendes auf ihn ab. Manche Degenknappen machen den Mund nicht auf. Andere, wie Diego Robles, der mozo von Ojeda und später von Parada, selbst ehemaliger novillero, helfen dem Torero über die Barriere hinweg, den Stier zu analysieren und seinen Kampf „per Fernbedienung“ zu leiten. In respektvollen Grenzen. 1981 in Madrid haben einige Zeugen den Degenknappen des alten und vorsichtigen Toreros Manolo Vásquez mit süßer, aber entschlossener Stimme raunen hören: „Maestro, un esfuerzito.“ „Maestro, noch eine winzige Anstrengung ...“ Guillermo seinerseits hat Manolete kurz vor dem tödlichen Hornstoß auf die Gefahr aufmerksam gemacht, Islero im „entgegengesetzten Terrain“ töten zu wollen. Ein Verhältnis von Höhergestelltem und Untergebenem? Das soziale Schema des Stierkampfes ist manchmal verwirrend. Antonio Conde, ein fliegender Händler, bemerkte Anfang des Jahrhunderts in Triana einen vielversprechenden jungen Mann. Er verkaufte seine Geschäftsgrundlage, nämlich seinen Esel, um dem jungen Stierkampflehrling finanziell unter die Arme zu greifen, und trat halb als Knappe, halb als Teilhaber und wohl auch aus Freundschaft in seine Dienste. Eine gute Investition: Der novillero hieß Belmonte. Angelito Caro, ehemaliger Degenknappe Antoñetes, ist mozo de espada von Fernando Cepeda, den er „entdeckt“ und auf die Umlaufbahn gebracht hat, indem er ihm aus eigener Tasche bezahlte novilladas ohne picador organisierte. Er dient heute Cepeda, aber fügt seinem Gehalt von drei- bis viertausend Francs in einer Arena der ersten Kategorie einen kleinen Prozentsatz von jedem Vertrag des Toreros hinzu. Alles ist subtil und komplex in der Welt der Stiere. Sogar die Dialektik von Meister und Diener. Libération vom 7. 7. 1990

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Wenn man in Madrid im Mai in die Linie 2 der Metro steigt, um zum Stierkampf zu fahren, füllen sich die Wagen von Station zu Station, bis man ab „Goya“ in einer kompakten Menschenmasse steht. Aber statt nach Fett, Schweiß, Füßen und schlechtem Atem zu riechen, riecht es nach Haarwasser, Deodorant, Zahnpasta und Schuhcreme. Das Durchschnittsalter der Herren, denen sich das gestärkte Hemd über die Bäuche spannt, und der Damen mit Dauerwelle liegt bei etwa fünfzig. Dazwischen gibt es einige Gesichter, die zerfurcht und gebräunt sind, wie von Bauern im Sonntagsstaat. Auch die Jüngeren haben ihre Jeans gebügelt. Man hat den Eindruck, es ginge zur Oper in einer Kleinstadt. In „Ventas“ steigt man langsam ans Tageslicht, eingekeilt in eine Menge, die ganz offenbar weiß, was sie dort zu suchen hat, und steht plötzlich vor einem riesigen Backsteinrund in pseudomaurischem Stil: der Arena von Las Ventas.

Die Schöffen der Siebenerreihen Zu sagen, dass die 7 neben der 8 steht, scheint selbstverständlicher Teil der Ordnung der Dinge und der arithmetischen Gewissheiten. In Madrid, in der Arena von Las Ventas, trennt den tendido 7 vom tendido 8 allerdings mehr als ein Zahlenschritt und das Gitter, das die Sonnen- von den Schattenplätzen teilt. Da ist ein eiserner Vorhang. Die vom Siebenerblock sind die Fundamentalisten der Corrida. Sie kommen mit einem grünen Taschentuch und die Härtesten unter ihnen manchmal mit einer Trillerpfeife. Das grüne Taschentuch, das sie um ihre Köpfe kreisen lassen, bedeutet, dass der hereinstürmende Stier hinkt, lahmt oder wenigstens so tut und man ihn also auswechseln muss. Sie sind manchmal die Einzigen, die dieses winzige oder hypothetische Stolpern der großen, herrlichen Stiere von Madrid sehen. Da der Präsident der Corrida, meist ein höherer Polizeifunktionär, für die öffentliche Ordnung verantwortlich ist und die Unordnung wie die Pest fürchtet, lässt er den Stier auswechseln. Ihm ist es wurst, er muss

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ihn nicht bezahlen, sondern Manolo Chopera, der aktuelle Verwalter von Las Ventas, denn der „untaugliche“ Stier wird gesetzestreu in den Kulissen geschlachtet. Die Trillerpfeife dient dazu, den schamlosen Torero anzuprangern, wenn er versucht, den Stier mit dem pico zu leiten, das heißt, mit dem äußeren Ende der muleta und nicht mit dem Bauch des Stoffes. Der pico hat eine hinterhältige Qualität: Er entfernt den Stier im pase vom Körper des Toreros. Und ruft Wutanfälle bei den Puristen des tendido 7 hervor. Die aufrührerische Unnachgiebigkeit der Siebener, manchmal legitim und manchmal reine Schau, stört oft den Ablauf des Stierkampfes, geht dem Rest des Publikums auf die Nerven und demoralisiert gewisse Toreros. Zum Beispiel Manzanares, lange Zeit ein Opfer der Siebener, wie fast alle Stars des toreo. Vor zwei Jahren lasen die Dickschädel bei einer Corrida demonstrativ ihre Zeitung, während er kämpfte. Kleine Gnade der Siebener: Letzten Samstag haben sie ihn nicht übermäßig ans Kreuz geschlagen, obwohl der Torero aus Alicante nicht besonders geglänzt hat. Der tendido 7 hat noch extremistischere Verbündete, nämlich die jungen aficionados der überdachten Ränge des 7 und des 8, die nachts die Wände der Arena taggen: „Stiere, ja, Ziegen, nein“. Die Siebener haben ihre Sündenböcke: die „Simpel“ des tendido 8 und 9 in den unteren Reihen. Es seien alternativ angehauchte Wohlstandsbürger, triumphsüchtige Schwachköpfe, die „keinen Blick für den Stier haben“, alles beklatschen, sich von Blufftoreros hereinlegen lassen, die im Profil kämpfen und das Bein nach hinten stellen. Es seien diese „laschen Dummköpfe“, klagen die Siebener an, die sich durch ihre Toleranz „zu Komplizen der Entwürdigung der Corrida“ machen. Man beschimpft sich übers Gitter hinweg, wechselt Beleidigungen und manchmal Hiebe mit dem Regenschirm und verspricht dem anderen ein definitives Herausreißen seiner Eingeweide, gleich nach dem Tod des sechsten Stieres. All das schafft natürlich Bande, man bietet sich treu die Stirn, wie Porzellanelefanten auf der Anrichte, und begründet Rituale von altem und immer neu aufgekochtem Hass, der auf gegenseitigem Einverständnis beruht. Denn in Madrid ist die Stierkampfsaison lang, es gibt jeden Sonntag von März bis Oktober eine Corrida und allein für die Feria von San Isidro im Mai sieht man sich zwanzig Tage hintereinander.

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Der anarchistische Protest des tendido 7 ist ein altes Problem. Er existierte schon während der Franco-Zeit. Wenn Franco einer Corrida vorsaß, versuchte der Veranstalter verzweifelt, das „aufständische Lager“ zu unterwandern, indem er uniformierte Realschülerinnen aus Privatschulen, von Nonnen begleitet, in hoher Dosis untermischte oder behäbige Rentner einlud. Vergebliche Liebesmüh. Noch heute sieht man auf den Rängen des tendido 7, mitten unter den Fanatikern der fünfjährigen Monsterstiere und der drei vorgeschriebenen piques einige perplexe Japaner auftauchen oder robuste Angelsachsen, die ihren nackten Oberkörper bräunen, ihre Kaugummis auf die Steine kleben und völlig blödsinnig reagieren. Aber der tendido 7, von den Medien ins Rampenlicht gerückt, leidet unter seinem Ruf. Sein Widerstand ist manchmal mehr prahlerisch als begründet. Einige Stimmungsmacher, und nicht unbedingt die klügsten aficionados, sind mit ihren wie banderillas gespitzten Anzüglichkeiten zu Stars gemacht worden. El Ronquillo zum Beispiel. El Ronquillo („der Heisere“), ehemaliger, heute verstorbener Taxifahrer, hat in den Siebzigerjahren mit seiner lauten, gebrochenen Stimme die Präsidenten der Corrida terrorisiert, indem er ihnen Obszönitäten zurief, bei denen sich ganz Las Ventas vor Lachen bog. El Ronquillo verlor jede Autorität an dem Tag, als ein Präsident, schlauer als ein Stier aus Santa Coloma, ihn diskret von zwei Wachmännern abholen ließ und ihn neben sich auf den palco, dem Präsidentenbalkon, platzierte, was ihn bei seinen Kumpeln in Misskredit brachte. In den Achtzigerjahren trat El Lupas die Nachfolge von El Ronquillo in der Rolle des Ayatollahs an. Dieser bebrillte Flucher, an Wochentagen medizinischer Vertreter und an Sonntagen in Las Ventas ein rachsüchtiger, aber unbestechlicher Robespierre, gab einige Jahre lang den Ton auf den Rängen an, wobei er seine harten Kommentare über die Toreros, über die „bestochenen“ Präsidenten, über Manuel Chopera und über die Würstchen vom tendido 8 schon zu Hause vorbereitete. Er hatte seine Anhänger. Er ist vor drei Jahren wegen eines schäbigen Betrugs aufgeflogen, der nichts mit den Stieren zu tun hatte. Beim genaueren Betrachten des Siebenerblocks stellt man fest, dass seine berüchtigten Ränge, von einigen Hundert Personen besetzt, nicht einheitlich sind. Es sind eher kleine Gruppen, die sich um Persönlichkeiten mit starkem

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Charakter, starker Stimme und definitiven Meinungen scharen. Leute wie El Ensabanao und El Chato, auch Novillo genannt, zwei Greise der ersten Stunde, oder wie Pedro El Avion („das Flugzeug“), wie Felix Martín, der über die ersten Ränge herrscht, oder wie die Señora Juanita, passionara der Gruppe, oder auch wie Adrian Punto Ruiz, der allgemein empörte Schweigsamkeit wahrt, sich aber am Freitag dem 19. herabließ, den Mund zu öffnen, um die Stiere von Los Guateles genau wie die heutigen Lachse als ein Resultat der „Fischzucht“ zu beschimpfen. Kurz und gut, die Siebener sind keine Mitglieder einer organisierten Gesellschaft von professionell Unzufriedenen mit dem Ziel der Empörung in Sachen Stier. Sie haben nichts gemein mit der Peña 7, einem Stierkampfverein von Superaficionados, die sich nach der Corrida treffen, um sie auseinanderzunehmen, und deren Leiter „Thomas“, letztes Jahr verstorben, eine Tafel mit seinem Namen im Flur zu den Rängen bekommen hat, die seinen Einsatz würdigt. Die Siebener treffen sich nur in ihrem tendido und für die Dauer eines Stierkampfes, den sie in ein polemisches Ereignis verwandeln. Aber sie sind durchaus in der Lage, Beifall zu spenden. Sie haben Parada am 17. und am 18. Mai beklatscht, am 21. ausgepfiffen. Diese mutmaßlichen toristas (Liebhaber der Stiere) haben De Paula während seiner denkwürdigen faena vom 29. September 1987 zugejubelt. Ihre Linie kann sich aufspalten, ihre Meinungen auseinandergehen, sie können völlig zusammenhanglos erscheinen. Am 15. haben manche die grünen Taschentücher gezückt, um den Austausch des dritten Stieres von Martínez Benavides zu fordern, zum großen Erstaunen ihrer Nachbarn, die nicht begriffen, warum. Dasselbe zersplitterte Durcheinander herrschte während des Abmarsches von Curro Vázquez am 17. Curro Vázquez, von Pfiffen begleitet, hat höflich gewartet, bis die ihrerseits beklatschten Parada und Domínguez das Rund verlassen hatten, um die ganze Verantwortung für die bronca auf sich zu nehmen. Wegen dieser schönen Torerogeste hörten einige Siebener auf zu pfeifen und begannen zu applaudieren. Eine leidenschaftliche Reaktion. Im Grunde ist der tendido 7, bis zur Rechthaberei von der Ahndung des Mogelns und dem Konzept eines orthodoxen Stierkampfes besessen, in seinen schlechten Tagen wie eine hysterische Projektion des wogenden Publikums in Madrid. Ein Publikum, das im Gegensatz zum einstimmigen und harmoni-

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schen Sevillas von gegensätzlichen Wellen durchzogen wird, wie es kürzlich die Soziologen Andrés de Miguel und Julian Lozano im Diario 16 schrieben: „Das Publikum von Madrid ist grausam, unbestechlich, hart, protestreich, festlich, parteiisch, Liebhaber der Stiere, empfindlich, oberflächlich, streng, wankelmütig, vergesslich, treu.“ Eine ganze Gesellschaft. Libération vom 27. 5. 1989

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Der Stierkampf ist auch ein Geschäft. Der Stierkampf hat seine Stars und diese sind echte Großverdiener. José Tomás verlangt für die Beteiligung an einer Corrida – zweimal zwanzig Minuten Arbeit – 300.000 Euro. Bilbao hat kürzlich 280.000 geboten und musste ohne den Superstar auskommen. Ein edler Stier aus der Züchtung Miura kostet um die 6000 Euro. Ein Platz im Schatten ganz unten kostet den Snob rund 300 Euro. Das Fernsehen ist dabei, die Fotografen schrauben an armlangen Objektiven, die Kritiker kritzeln in ihre ­Notizbücher. Aber es gibt auch Stierkämpfe, bei denen die meisten Zuschauer 10 Euro für den Olymp bezahlt haben, die Stiere im Sechserpack zu 5000 Euros verramscht werden und die Toreros nebenbei als Maurer oder Paketausträger arbeiten müssen. Bei denen niemand filmt und niemand schreibt. Außer vielleicht Jacques Durand.

Die Corridas der letzten Chance An den heißen Augustwochenenden schließen sich die Madrilenen, die nicht in die Sierra geflohen sind, für einen langen Zweikampf mit ihrem Ventilator zu Hause ein. Am späten Nachmittag sehen sie hinter ihren Lattenjalousien auf der völlig verlassenen Calle de Alcalá Autos über den schmelzenden Asphalt gleiten, Autos von Toreros ohne Ruhm, auf dem Weg zu dem dreiviertel leeren Backofen der Arena von Las Ventas. Sie rollen mit zischenden Reifen vorbei am verrammelten Kino San Remo, an der leeren Bierkneipe Santa Barbara und darin sitzen verzweifelte Toreros, die das System am Rand liegen gelassen hat und an die sich niemand erinnert. Sie haben ein Stelldichein mit wüsten, vorgewarnten, gefährlichen oder völlig passiven Stieren, um ihre letzte Karte vor einem Geisterpublikum von gnadenlosen aficionados und verdatterten Touristen auszuspielen. Die Stierkämpfe im August sind eine Sache für sich in der madrilenischen Saison. Sie finden statt aufgrund einer Verpflichtung, die die Verwalter der Arena von der Communidad de Madrid bekommen haben, nämlich von März

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bis Oktober eine durchgehende Saison zu organisieren. Um weniger Geld in defizitären Corridas zu verlieren, werfen die Organisatoren also schiffbrüchige Toreros aus der letzten Liga ohne finanzielle Ansprüche Züchtungen zum Fraß vor, die in Auflösung begriffen sind und keine Garantie für Tapferkeit oder Noblesse ihrer Stiere geben. Nieder mit den Besiegten ... Aber sogar im Sommer ist man in Madrid in der catedra, dem Lehrstuhl, der Toreros erhebt und niedermacht. Diese müssen sich also reinhängen. Ganz wenige, das Wasser schon bis zum Hals, sind dort in der müden Hitze auferstanden. Am 25. Juli 1982, nach einer wilden faena, hat einer dieser gebeutelten Toreros eine Ehrenrunde vor kaum 3000 Zuschauern gemacht. Er hieß Paco Ojeda und begann damals eine Karriere, die ihn nach ganz oben brachte. Ein mittelmäßiger Stier von Cortijoliva hatte das Pendel wieder in Schwung gebracht. Ein ähnlicher Treffer gelang Antoñete. Am 8. August 1965, als er schon daran dachte, eine Laufbahn als banderillero einzuschlagen, schneidet er die zwei Ohren eines Stieres von Felix Cameno und kommt wieder auf die Umlaufbahn. Auf der Gegenseite bohrt ein Stier von Cortijoliva am 5. August 1990 zwanzig Zentimeter Horn in den Bauch des jungen Carretero und beendet seine Karriere. An diesem Sonntag, dem 10. August, während das Viertel Lavapiés den populären Heiligen San Lorenzo feiert, diesen auf einem Grill hingerichteten Fürsprecher der Armen, haben die Hundstage den Biss etwas gelockert und lassen drei ortsansässige Toreros in die Arena, die die professionelle Notlage und den Hunger nach Stieren bestens kennen. Juan Cuellar, 30 Jahre alt, Romerito, 26, und Carlos Neila, 27, treten gegen Stiere von Alonso Moreno an. Letztere sind ein Seitenzweig der Züchtung Urcola, die seit einem Jahrzehnt am Krückstock geht und deren Stiere, ein Dutzend pro Saison, niemand haben will. Niemand, außer Madrid im August und diese Ausgehungerten, die sich auf den kleinsten Brocken stürzen. Juan Cuellar, ein Bein kürzer als das andere, ist dabei wirklich kein Unbekannter. Am 31. März 1991 hat er jeweils ein Ohr von seinen beiden Stieren von Dolores Aguirre geschnitten und wurde im Triumph aus Las Ventas getragen. In jener Saison bestreitet er dreißig Corridas, zweiundzwanzig in der folgenden, bis ein Hornstoß in Bajadoz ihm den Schneid raubt. Er schafft es nicht mehr, die Stiere zu töten. Er versinkt. 1995 kämpft er viermal, 1996 zwei-

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mal. Der 10. August ist sein erster Vertrag in diesem Jahr. Romerito, Torero aus Parla und seit drei Jahren Matador, ist letztes Jahr gar nicht angetreten, dieses Jahr erst zweimal. Und was Carlos Neira angeht, hat dieser seit seiner alternativa, der Matadorweihe am 16. August 1994, im Ganzen nur drei Corridas bestritten. Auch für ihn ist es der Saisonanfang. Im Zimmer 206 des Hotels Victoria hat er ebendieses weiße Kostüm der alternativa angezogen. Ein anderes besitzt er nicht. Im Victoria war nirgends ein aficionado zu sehen. Neira, der keinen Manager besitzt, war ausschließlich von Familie umgeben: seinem Vater Fidel, ein Schlachter in Rente, und seinen drei Brüdern, darunter Fidel junior, der Älteste, der ihm als Degenknappe dient und ihm die Toreromütze aufgesetzt hat, die montera, in die Carlos ein Bild der Virgen de la Soledad eingeklebt hat. Carlos verdient sein Brot, indem er an den Wochenenden in einem Käseladen arbeitet. Unter der Woche gibt er Kurse in der Stierkampfschule. Er hat gerade dem Schauspieler Olivier Martinez die Handhabung von capa und muleta gezeigt, weil dieser in dem nächsten Film von Eric Barbier einen Torero spielen soll. Carlos’ Familie hat zusammengelegt, um ihm vor dieser Corrida acht Jungstiere zu besorgen, mit denen er üben konnte. Carlos Neira weiß genau, dass die Stiere von Alonzo Moreno „keine einmalige Gelegenheit“ sind. Aber er tut so, als ob. Und überredet sich selbst, dass die Jandilla, die Torrestrella und andere Luxusstiere „nicht immer richtig angreifen“. Sonntag, vor zu einem Viertel gefüllten Rängen und der Mutter des Königs, hätte die Corrida beinahe mit einer Tragödie begonnen. Der Stier Bolilloso, der in der Nähe der Eingangstür blieb und zuerst den Kampf verweigerte, griff urplötzlich Juan Cuellar an, ohne sich um seine capa zu scheren. Cuellar, etwas von den Spätfolgen einer Kinderlähmung behindert, warf alles hin und sprang nach einem schrecklichen Wettlauf in letzter Sekunde über die Barriere, über die Bolilloso beinahe wie ein Camargue-Stier nachgesetzt hätte. Im Folgenden attackierte Bolilloso hinterhältig mit dem linken Horn. Er wartete ab und griff plötzlich aus einem Meter Entfernung an, mit gehobenem Kopf. Romerito ließ eine gute Gelegenheit vor Africano, 543 Kilo, aus. Der Stier griff korrekt und stetig an. Romerito ließ sich von ihm vom tendido 9 bis zum tendido 4 treiben, während einer eher gekünstelten als tiefen faena, der es an richtiger „Durchdringung“ mangelte. Bis auf den Degenstoß. Er war defini-

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tiv, mit vollem Einsatz ausgeführt, wie eine letzte verzweifelte Attacke in der letzten Runde. Carlos Neira hatte vor diesem Stier seines Kollegen ein quite por navarras mit der capa ausgeführt, das Erwartungen geweckt hatte. Als der dritte Stier namens Tramposo aus der Tür stürmte, hätte man an das Wunder glauben können. Tramposo war ein schöner rotbrauner Stier mit aggressivem Galopp, den Neira in eine Serie von eher dominierenden und langsamen veronicas ausnutzte. Dann begann Tramposo zu hinken. Man wechselte ihn gegen Veterano aus, einen Stier mit gewaltigen Hörnern. Dieser griff in Wellen an, unvermittelt, unvorhersehbar, mit wilden Kopfstößen. Er zerschlug dem peruanischen banderillero Torres Palacios die Schulter, nachdem er ihm beinahe die Kehle aufgeschlitzt hätte. Mit ermutigender Selbstverständlichkeit, wenn man an seine fehlende Übung dachte, versuchte Neira vergebens, etwas Ordnung in diesen den Kampf scheuenden und chaotischen Stier zu bringen. Nach einem pase de pecho verletzte sich das Tier am Rückgrat und brach zusammen. Alles vergebens. Frolillo, 528 Kilo schwer, vierter Stier und zweiter Gegner von Juan Cuellar, war manso vorm Pferd und schnitt den banderilleros den Weg ab. Die muleta interessierte ihn schon eher und vor seinem linken Horn hätte man etwas machen können. Cuellar zögerte lange, es zu glauben und sich zu engagieren. Erst am Ende seiner faena hörte er auf, herumzutrippeln, sich neu aufzustellen und nach jedem verdrehten pase an Boden zu verlieren. Es war, als würde das drohende Ende der ihm zugeteilten Zeit ihn endlich beflügeln, richtig zu kämpfen. Er führte zwei gute Serien mit links aus und schließlich eine mit rechts. Der Krampf in seinem Gesicht, so faltig und trocken wie Kastilien, wandelte sich zu etwas, das wie ein Lächeln aussehen sollte und doch eine Grimasse blieb. Er salutierte vor dem mageren Publikum. Für Rafael Redondo, seinen Freund und Manager, „hat Juan zu lange gebraucht, um seinen Stier zu verstehen“. Ein Mangel an Übung. Der sechste und zweite Stier von Carlos Neira, Pavito, 560 Kilo schwer, ein Ersatzstier aus der Zucht Peralta, war fast sechs Jahre alt. Er floh vor dem Kampf, hielt sich zurück und knickte mit dem Hinterteil ein, wenn Neira die Hand mit der muleta tief hielt, um ihn mit gesenktem Kopf vorbeilaufen zu lassen. Der Torero musste seine faena abkürzen. Am nächsten Tag urteilten die Stierkampfkritiker einstimmig, dass er mit

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den beiden schwierigsten Stieren der Corrida „würdig“ gewesen sei. Nach dem Kampf, in seinem Zimmer 206 mit gedämpftem Licht wie für eine Trauerfeier, verfluchte Carlos ohne Aufbegehren ein Pech, dass ihn laut seines Bruders Fidel seit klein an verfolgt. Er dachte an seine Zukunft: „Es wäre mir lieber gewesen, einen guten Stier schlecht bekämpft zu haben. Dann hätte ich einen Grund gehabt, aufzuhören.“ Einige Bekannte waren gekommen, um ihn zu trösten. Er fragte sie: „Soll ich das Handtuch werfen oder weitermachen?“ Seine Brüder füllten Briefumschläge, um die cuadrilla zu bezahlen. Was blieb Carlos am Ende übrig? Höchstens 10.000 Francs. Und ein leerer Terminkalender. Er kann jetzt realistisch gesehen nur auf eine mögliche Corrida hoffen: nächstes Jahr im August in Madrid, wenn der Asphalt in der Hitze schmilzt und sein Auto vorbeischleicht an dem verrammelten Kino San Remo und der leeren cervecería Santa Barbara. Libération vom 17. 8. 1997

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Es gibt zwei Namen, ohne die der moderne Stierkampf nicht denkbar ist: Juan Belmonte und Joselito. Was der Kubismus für die Malerei war, das Pissbecken für die Kunst, Beethoven für die Schwerhörigen, Ulysses für den Roman, Georges Perec für den Roman ohne den Buchstaben E, die Oktoberrevolution für die Königskinder, die Dampfmaschine für die Pferde, die Fotografie für die Realität, Gott und sein Tod für die Welt, waren diese beiden für die Stiere.

Juan Belmonte, die Schmiede der Nacht Was muss man tun, um der genialste Torero des Jahrhunderts zu werden, um den Kanon des Stierkampfes zu revolutionieren und seine Skulptur mit geborstenem Herzen vor dem Restaurant El Faro in der calle Betis gegenüber der Maestranza von Sevilla zu bekommen? Kurz, was muss man tun, um Juan Belmonte zu sein? Man muss wachsen wie Unkraut im Sevilla der Armen, dieser chaotischen und verschlossenen Stadt der Belle Époque, und sich an den Kanten einer Realität reiben, die so dunkel und beunruhigend ist wie ein Stier, der nachts auf den Weiden der Tablada schnaubt. Will man in Juan Belmontes Fußstapfen treten, dessen beeindruckende Biografie der Torero selbst 1935 Manuel Chaves Nogales diktiert hat, muss man über die Stränge schlagen und sich zwingen, als kleiner, vor Angst gelähmter Junge eine unbeleuchtete Straße zu überqueren, wo sich gerade ein armer Kerl erhängt hat. Man muss an dem Tag des Begräbnisses seiner Mutter mit dem Murmelspiel fortfahren und in Abwesenheit von Löwen in Triana nach Afrika abhauen wollen, wobei man dann in Cádiz hängen bleibt, weil die Welt zu heiß ist, zu hart, und gar nicht wie in den Groschenromanen für eine peseta, die man mit den Freunden des Altonazo verschlungen hat. Aber man bleibt vielleicht auch in Cádiz, weil man unterwegs zwischen Lebruja und Jerez mitten in der Nacht das Abenteuer getroffen hat, in Form eines jungen Stieres, der seine Hörner dem Mond zeigte, und weil

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man ganz einfach begonnen hat, „den Hausecken, dem Priester und dem Morgenstern halbe veronicas zu verpassen.“ Die Kindheit Belmontes ähnelt abzüglich Katechismus und Ardennen der bitteren, scheuen und abtrünnigen Kindheit Rimbauds. Um Torero zu werden, muss man sich erst vorstellen, einer zu sein, sich von schrecklichem Eigennutz zeigen und sich allen Regeln entziehen. Der halbwüchsige Belmonte macht keinen kleinen Finger krumm, als der traurige kleine Eisenwarenladen seines Vaters Pleite macht und seine Brüder eine Zeit lang der öffentlichen Wohlfahrt übergeben werden. Er lümmelt währenddessen egoistisch mit seiner „richtigen“ Familie herum: den kleinen, verzweifelten Gaunern des Ausschanks San Jacinto. Verzweifelte Gauner? Vielleicht, aber in erster Linie Anarchisten des Stierkampfes. Sie zeigen stolz dem Milieu der sevillanischen Impresarios die kalte Schulter, die in den Sesseln der „Casinos“ der calle Sierpes ihren Anisschnaps Del Mono schlürfen und von oben herab über die Torerolehrlinge verfügen. Die Bande verachtet königlich die beiden Star-Toreros ihrer Zeit, Machaquito und Bombita. Nein, das Idol der „kleinen Strolche“ von San Jacinto ist ein beinahe tauber, fast stummer, pathetischer und krampfhafter Torero: Antonio Montes. Die Tragik Montes, der in seiner Eigenheit den Stierkampf „der Arme“ (und nicht mehr „der Beine“) des zukünftigen Belmonte ankündigt, wird von seinem apokalyptischen Ende überhöht. Am 13. Januar 1906 in Mexiko wird Montes, der die Ratschläge zur Vorsicht von Antonio Fuentes nicht mehr hören kann, vom Stier Matajacas auf die Hörner genommen. Nach einer viertägigen Agonie stirbt er am 17. Sein Leichnam wird in einer Kapelle bei Kerzenlicht aufgebahrt. Sie fängt Feuer. Montes geht in Rauch auf. Die Anarchisten des Stierkampfes lernen das toreo durch eine verbotene und abwegige Praxis, die sowohl eine Zeremonie der Verzweiflung ist wie eine jugendliche Revolte nach Art der Autorennen jener halbwüchsigen Rebellen in Denn sie wissen nicht, was sie tun. Sie überqueren den Guadalquivir-Fluss, um nächtlicherweise die Stiere auf den Weiden der Tablada zu bekämpfen. Bei diesem „Spiel“ der Initiation von wildernden Toreros und von Hornstößen im Mondlicht, zu einer Zeit, als die Guardia Civil solche flüchtigen Nachtschwärmer mit der Mauser abschoss, wird Juan Belmonte zum Star der Bande, weil er eines Nachts einen großen Stier mit seiner zerschlissenen Jacke bekämpft.

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Es ist keine reine Anekdote. Belmonte hebt solchermaßen Nacht für Nacht im Staub diesen revolutionären Stil aus der Taufe, der durch seine Körperstatik die bislang auf dem Ausweichen begründeten Formen des Stierkampfes ablösen wird. Ein Stil, der seine Wurzeln in quasi topologischen und strategischen Notwendigkeiten hat. Man darf den Stier im Dunkeln nicht aus den Augen verlieren, muss sich also dicht vor ihn stellen, sich so wenig wie möglich bewegen, ihn, solange es geht, dirigieren. Unter den Augen seiner ins Gras gekauerten Freunde, in der Kälte und der Angst vor der Guardia Civil, schmiedet Belmonte das moderne toreo, das sich von nun an mit dem Unterleib in den Angriffsweg des Stieres stellt. Die „Anarchisten“ bleiben ihrer Rebellion treu. Belmonte lebt die seine im Stierkampf aus. Steinreich, Idol der Massen, respektiert, vergöttert, schickt er seinen ehemaligen Komplizen, diesen heimlichen und unsichtbaren Toreros, die ihr Aufbegehren aus dem Gefängnis der Nacht hinter richtige Gitter gebracht hat, Tabak und Geld. Über die Genese seines Charakters und damit seines Kampfstils wimmelt die Biografie von Chaves Nogales von Details, die die sentimentalen Werte seines toreo erhellen. Ein melodramatisches toreo der Verblüffung, von Tod umgeben. Seine Zeitgenossen sagten, man müsse sich beeilen, Belmonte in der Arena zu sehen. Die Verblüffung und der Tod prägen auch seine erste Kindheitserinnerung, vielleicht im Dienste des Mythos leicht „geschönt“. Belmonte ist zwei Jahre alt. Es ist ein Sonntag im Mai 1894. Er fährt mit seinen Eltern in einer Kalesche spazieren. Plötzlich füllt sich die Straße mit Drama und Verzweiflung. Ein Mann nähert sich seinem Vater und sagt: „Ein Stier hat Espartero in Madrid getötet.“ Belmonte vertraut Chaves Nogales an, wie sehr die Unruhe und der Eindruck eines Desasters nach dieser Nachricht sich in seinen Geist gegraben haben. Belmonte ist noch ein winziges Kind, er kennt weder Stiere noch Espartero, aber er begreift, dass der Himmel auf die Köpfe der Sevillaner gefallen ist und er allein gelassen wurde: Seine Eltern sind nach Neuigkeiten ausgeschwärmt und haben ihn in der Kalesche vergessen. Am 16. Mai 1920 fällt ihm während eines Pokerspiels ein anderer Himmel auf den Kopf. Man benachrichtigt ihn, dass sein Freund und Rivale, sein zweites Ich, Joselito, von einem Stier in Talavera de la Reina getötet worden ist. Er will es nicht glauben, wütet, muss sich den Tatsachen beugen, ist wie vom Blitz getroffen. Er bricht unter Tränen zusammen, seine Nahestehenden schluchzen,

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die Angestellten schluchzen. Er hat den Eindruck, dass sie um ihn weinen. Er fühlt „seinen eigenen Tod vorüberziehen“. Über seine eigentliche Karriere als „Monster“ des Stierkampfes und seine fantastische und fruchtbare Rivalität mit Joselito, die ganz Spanien und seine Intellektuellen in zwei Lager spaltet, lässt er sich weniger aus als über seine Kindheit und Jugend, als habe er begriffen, dass das Wichtige bei einer Figur und einem Mythos der Sockel ist. Er liefert trotzdem einige sehr persönliche Enthüllungen über seinen Hang zur mexikanischen Verrücktheit, seinen Geschmack am Morbiden und seinen versuchten Selbstmord, inspiriert von einer Lektüre der Schriften D’Annunzios. Er zieht es vor, sein eigenes toreo und seine großen Triumphe vermittels der Anekdote und des Scherzes zu umschreiben. Wie zum Beispiel die heute historische Corrida vom Mai 1917 mit den fünf legendären veronicas, ohne einen Schritt nach hinten, ohne sich zu bewegen, die für den zeitgenössischen Stierkampf das sind, was die Demoiselles d’Avignon von Picasso für die moderne Kunst bedeuten. Belmonte: „Fünf veronicas, ohne sich zu rühren, o.k. Aber in erster Linie fünf Corridas, ohne zu schlafen.“ Der Schriftsteller Ramón del Valle-Inclán, „Belmontist“, hat ihm eines Tages gesagt: „Juanito, jetzt musst du nur noch in der Arena sterben“, versteht sich: um ein echter Gott zu sein. Woraufhin der kurz angebundene Belmonte antwortete: „Ich werde tun, was ich kann, Don Ramon.“ Nicht, dass er dem Tod nicht ins Auge geblickt, ihn nicht zwischen den Hörnern der Stiere eingeatmet hätte. Aber die Stiere verschonten ihn, unerklärlicherweise. Der „Post-Belmondismus“ dagegen war blutig. Weil sie wie er in dem von ihm gewählten Terrain kämpfen wollten, fanden viele seiner Imitatoren den Tod. Ohne ihn zu suchen. Belmonte, mit siebzig unglücklich verliebt, suchte ihn am 7. April 1962, ohne ihn zu finden. Er ging zu einem befreundeten Züchter und verlangte, mit dem größten Stier alleingelassen zu werden. Der Züchter weigerte sich. Belmonte erschoss sich am nächsten Tag, nachdem er seine Sporen angelegt hatte, auf seinem Besitz von Comez Cardeno in der Nähe von Utrera, der kleinen andalusischen Stadt der Provinz Sevilla, die in ihrem Wappen ein Pferd und einen Stier trägt. Libération vom 1. 9. 1990

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Auf einem Foto, ein Jahr vor seinem Tod aufgenommen, sitzt Joselito auf dem Trittbrett der Barriere auf seiner gefalteten capa, in schwarzem Torerokostüm, auf dem Kopf das Käppchen eines Bajazzos, in der Hand einen weißen, aufgeklappten Fächer. Und sein Blick, seine runden Augen, seine spitzen Brauen, seine Haarlocke auf der Stirn, sein Schmollmund sagen: „Hey, Mann, wenn du unbedingt willst, gehen wir nachher vielleicht ein Bier trinken. Aber erst habe ich was zu erledigen, was nur ich so machen kann und du nicht, auch wenn du tausend Jahre alt wirst.“

Joselito,Torero leichter als Luft José Gómez Ortega, genannt „Gallito“ oder „Joselito“, ist vor einem Jahrhundert, am 8. Mai 1895, in der „Quellen-Straße“ in Gelves bei Sevilla geboren worden. Man kann seinem Schicksal nicht vorwerfen, es hätte keine folgerichtigen Ideen gehabt oder keinen Sinn für Redundanz: Joselito, Sohn des Zigeunertoreros Fernando „El Gallo“ und der bailadora, der Zigeunertänzerin Gabriela Ortega, geboren unter dem Sternzeichen des Stieres, ist unter demselben Zeichen am 16. Mai 1920 gestorben, aufgespießt von einem Stier namens Bailador, der aus der Zucht der Witwe Ortega stammte. Es wäre allerdings unangebracht, sich im Falle Joselitos, dieser Verkörperung des Stierkampfes als ein elegantes, wildes Schachspiel, zu weit auf den Eiertanz des bedeutsamen, gewichtigen und möglicherweise die Tragödie erklärenden Zufalls einzulassen. Für seine Zeitgenossen war Joselito die luftige Präzision, die wissende Intuition, die lichte Perfektion und die technische Grazie. Er war gegen jede Logik und wie durch ein Wunder in der Lage, mit einem quiebro, einem Schritt zur Seite, fünfmal hintereinander einen Stier von Pérez de la Concha zu täuschen. Im selben Moment verlieh sein Freund und Rivale Belmonte, sein gegenteiliges, anderes Ich, der Corrida eine dramatische Ästhetik, indem er seine veronicas fünf Sekunden lang hinauszögerte oder sich während eines engen und emotionsgeladenen molinete das Tuch in der Brusttasche seiner Jacke vom Horn des Stieres aufspießen ließ.

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Wenn die Angst das Element von Belmonte war, war dasjenige von Joselito die Luft. Im Alter von acht Jahren kämpfte er mit seiner ersten vaca brava und wurde von der Kuh in die Luft geschleudert. Man könnte sagen, dass er nie wieder gelandet ist, bis zu jenem 16. Mai 1920, an dem der kleine, weitsichtige Stier Bailador ihn mit einem leichten Hornstoß in den linken Schenkel herumwirbelte, ihn auf dem anderen Horn auffing und dabei tödlich den Magen des sevillanischen Engels durchbohrte. Wenn man die Umstände dieses Todes entziffert, sieht man, mit welch logischem Schalk sich das Schicksal ankündigt. Am Vortag nimmt Joselito an einer Corrida in Madrid teil, wo eine anonyme Frauenstimme ihm von den Rängen herunter zuruft: „Auf dass dich morgen ein Stier in Talavera töte.“ Joselito hatte in der Tat einen zweiten Vertrag in Madrid annulliert, um in Talavera zu kämpfen. Es hätte genauso gut in Samarkand sein können. 24 Stunden später und 119 Kilometer weiter hat Bailador die Verwünschung gehört. Er greift Joselito unerwartet in dem Moment an, als der Torero sich von ihm entfernt, um seine muleta zu glätten, dieses Tuch, dass die Sprache des Stierkampfes auch engaño nennt, gleichzeitig „Köder“, „Mystifikation“ und „Irrtum“. Als er das Terrain des Stieres verließ, trat Joselito in dessen gestörtes Blickfeld und gleichzeitig in seine eigene Legende. Bailador sah den Mann, nicht das engaño, er griff blind an, als hätte von diesem Augenblick an die Klarsicht Joselitos keine Illusion mehr erzeugt. Sein banderillero El Almendro murmelte unter Tränen: „Wenn ein Stier diesen Mann töten kann, wird keiner von uns lebend die Arena verlassen.“ Es war tatsächlich undenkbar, dass ein Stier Joselito töten könne, dessen enzyklopädisches Wissen alle Figuren des Repertoires umfasste, von der capa bis zum Degenstoß, banderillas und faena de muleta eingeschlossen. Letztere war damals wesentlich kürzer als heute. Seine große faena des San Isidro von 1916 bestand aus nur sieben naturales und einem pase ayudado. Die „Leichtigkeit“, die in den alten Archivaufnahmen spürbar ist, transzendierte seine Gelehrsamkeit. Er war der Spiegel einer „unbesiegbaren Jugend“, besuchte die tientas bereits regelmäßig im Alter von zehn Jahren. Er kleidete sich in sein erstes „Lichtgewand“, grün und schwarz, im Alter von dreizehn in Jerez de la Frontera und widmete den Tod seines ersten Kalbes einem der Domecq-Züchter, der ihm 25 Peseten schenkte. Das Publikum, das die Tiere für diesen Bengel

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zu groß fand, untersagte ihm, das zweite zu töten. Joselito weinte vor Wut, als danach sein Freund Belmonte statt seiner triumphierte. Zu jener Zeit war die Avantgarde der spanischen Intellektuellen, die sogenannte „Generation 98“, der Corrida feindlich gesinnt. Antonio Machado, Rubén Darío, Eugenio Noel verurteilten sie. Sie wollten Spanien europäisieren, es modernisieren, „das Grab des Cid doppelt verschließen“. Es empörte sie, am Tag der Zerstörung des spanischen Geschwaders vor Kuba durch die Vereinigten Staaten das Volk massenweise in die Arenen strömen zu sehen. Die folgende Generation der „Dichter von 27“ hatte zum Stierkampf die genau entgegengesetzte Einstellung. Währenddessen führten Joselito und Belmonte etwas vor, was sehr viel mehr als zwei gegensätzliche Arten zu kämpfen war: Man sah darin zwei unterschiedliche Auffassungen der spanischen Kunst und sogar des Lebens. Die Jugend Joselitos setzte sich in den Arenen durch ihre Unverfrorenheit durch. Am 13. Juni 1912 präsentierte er sich als novillero in Madrid, aber weigerte sich, die Jungstiere von Tovar zu bekämpfen: zu winzig. Er forderte die erwachsenen Stiere von Olea. Es wurde ein Triumph. Der Stierkampfkorrespondent Perez-Lugin alias Don Pio war ausnahmsweise einer Meinung mit seinem Rivalen beim Liberal, Don Modesto, und schrieb: „Lagartijo ist auferstanden.“ 1913, mit achtzehn, bekommt Joselito die Weihe zum Matador und nimmt direkt die Nummer eins jener Zeit aufs Korn, den Torero Bombita. Dieser trug außerdem die Verantwortung, der überlegene Rivale von Joselitos Bruder Rafael „El Gallo“ gewesen zu sein. Er stellt ihm eine Herausforderung: gemeinsam in Madrid die Furcht einflößenden Stiere von Palha zu bekämpfen. Bombita weigert sich. Joselito, so sagt er, habe nicht die nötige Klasse, mit ihm an einer Corrida teilzunehmen. Joselito tötet die Palhas und wird zusammen mit Machaquito und seinem Bruder Rafael im Triumph aus der Arena getragen. Er triumphiert im selben Jahr erneut in Madrid sowie in Valencia, San Sebastián, Saragossa. Er ist erste Klasse. Am 15. Oktober bekämpft Joselito noch einmal die Palhas in San Sebastián. Der alternde Bombita steht mit auf dem Plakat. Es ist seine Abschiedscorrida. Er hat beschlossen, aufzuhören. Er tötet seinen letzten Stier, schüttelt den anderen Toreros die Hand und sagt zu Joselito: „Schlag mir ja nicht vor, banderillas während deines zweiten Stieres zu setzen.“ Joselito, mehr „Gallito“, mehr

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junger Hahn als je, setzt sich über die Mahnung hinweg. Beim sechsten Stier reicht er Bombita ein Paar banderillas, was dieser nicht abschlagen kann. Er ist mittelmäßig. Joselito folgt mit einem wunderbaren Paar. Er ist die Nummer eins, er hat gewonnen. Ein Jahr später beginnt seine Rivalität mit Belmonte. Am 16. Mai 1920 wird Letzterer während einer Pokerpartie von der verblüffenden Neuigkeit des Todes von Joselito unterrichtet. Belmonte bricht in Tränen aus. Der alte lispelnde Torero Guerra aus Córdoba murmelte damals lakonisch: „Die Stiere, das ist vorbei.“ Ja und nein. Indem er Joselito tötete, hat Bailador das 19. Jahrhundert zum Abschluss gebracht. Er hat gezeigt, dass die Jugend nicht unbesiegbar ist, und den Stierkampf auf das Gleis einer ästhetischen Dichte geschoben, mit der sich Stiere, Stierkämpfer und Publikum von nun an abgeben werden. Man kann sich einen anderen, ebenso plausiblen Ausgang vorstellen. Bailador greift nicht überraschend an. Joselito stirbt nicht in Talavera. Er assimiliert die Revolution Belmontes, reichert sie mit seinem Verständnis der Stiere und mit seiner Anmut an. Belmonte setzt seine Pokerpartie und sein pathetisches Spiel fort, bekommt als Trumpf die Leichtigkeit Joselitos. Full House mit Assen. Libération vom 30. 4. 1995

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Der Stierkampf scheint sich der modernen Welt in Form von mächtigen Rundbauten, Männern in Gold und rosa Strümpfen, einem Meer von Applaus und Geld und den Fernsehübertragungen von Via Digital zu präsentieren. Aber ihr Herzland sind eher die tientas, wo fernab vom Publikum die Kühe der Rasse brava getestet werden, und die anarchischen capeas der Dorffeste, bei denen Unbekannte wilden Stieren gegenübertreten, die nie einen picador gesehen haben, aber schon viele Möchtegern-Toreros. Es ist ein Vagabund wie Conrado Abad, der die Waage im Gleichgewicht hält.

Conrado Abad, der letzte maletilla Er ist immer gereist und streunt weiterhin zu Fuß, per Anhalter oder in Güterzügen durchs Land, nichts als ein Bündel auf dem Rücken, eine muleta unter dem Arm und ein Stöckchen in der Hand. Er hat immer unter freiem Himmel geschlafen, in verlassenen Häusern, in Scheunen oder in bescheidenen Hotelzimmern, wie es gerade kommt, und tut es noch, mit 66 Jahren. Seit er sechzehn ist, ist Conrado unterwegs, um in den tientas des Campo Charro rund um Salamanca Kühe, vacas bravas, zu bekämpfen oder um in den capeas zwischen Valladolid und den Grenzdörfern Portugals bei Serra da Estrela unverdrossen einige bescheidene pases zu geben. Conrado, in Bluejeans, mit nacktem Oberkörper und vorstehenden Rippen, hüpft wie ein Sperling vor vierjährigen Stieren von fünfhundert Kilo herum. Meistens sind sie schon einmal bekämpft worden und schnauben und scharren in den schäbigen Arenen aus Brettern, ohne Krankenstation, Notfallwagen, Journalisten, Zigarrenrauch oder parfümierten hübschen Damen auf den ersten Rängen. Da gibt’s nur Staub, im Kreis aufgestellte Karren, eine Trommel ersetzt das Orchester und Wahnsinnige rennen quer durchs Rund, um sich dem Stier zu nähern. Conrado ist maletilla, der letzte Torero-Vagabund des Spaniens der Hochgeschwindigkeitszüge. Er besteht auf dieser Qualität im vollen Bewusstsein sei-

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nes Ranges und seiner Einzigartigkeit: „Ich bin der einzige maletilla. Ich bin der König Spaniens. Ich verkörpere die fiesta national.“ Mit fünfunddreißig Kilometern pro Tag im Sommer, von einer capea zur anderen, und beinahe täglichen fünfundzwanzig Kilometern im Winter, um zu den tientas zu kommen, hat Conrado sicher mehrmals die Erde umkreist, nur indem er zwischen Peñaranda de Bracamonte, Sancti-Spiritus, El Bodon, Alba de Tormes und La Liriosa hin- und herpendelt. La Liriosa in Portugal, wo ein Stier ihn an der Wade erwischt hat. Ein kleines puntazo, mit der Spitze des Horns. Und schwere Hornwunden, hat er je welche bekommen? „Schwer noch nie. Ich bin klug genug, mich nicht packen zu lassen.“ Conrado Abad, geboren in Molezuelas bei Zamora, ist berühmt im Stierkampfmilieu und „in der ganzen Welt bekannt“, wie ein Kellner seines Hauptquartiers, der Bar El Cruze in Ciudad Rodrigo, versichert. Eines Tages, mit sechzehn und gegen den Willen seines Vaters, eines bäuerlichen Tagelöhners, ist Conrado aufgebrochen, um die Welt zu durchwandern. Die einzig reale Welt. Die der Stiere. „Me fui por el mundo a querer ser torero.“ Torero in Strohlatschen, außer ganz am Anfang, als der Stierkampflehrling vor Publikum in der alten Arena von Bilbao kämpfte. Das war vor achtundvierzig Jahren. Der Kauf des Jungstieres und die Miete für ein richtiges Kostüm haben ihn damals dreihundertfünfzig Peseten gekostet. Er hat in dieser Sparte des Stierkampfes, glitzernd und goldbestickt, nicht weitergemacht. Es war nicht sein Ding. Er ist stattdessen zu Fuß nach Andalusien gegangen, um an den tientas teilzunehmen. Es war keine gute Idee. In Andalusien liegen die Züchtungen zu weit auseinander und die Züchter sieben streng die Toreroanwärter aus, die bei der Auswahl der Kühe einige pases vorführen wollen und sich auf weißen Mauern den Hintern plattsitzen. Also ist er zurück in die Gegend von Salamanca, wo die Gehöfte dichter beieinanderliegen, wo die Züchter Bauern und keine Adeligen sind und wo die capeas in den Dörfern zum Alltag gehören. So kam es, dass er am Corpus-Tag während des Festes in Vitigudino einen jungen Torero aus der Gegend traf, der noch nicht Santiago Martín El Viti, „SM“, Seine Majestät El Viti war, wie man später sagte. An jenem Tag hat Conrado dem Anfänger seine muleta geliehen und ihm erlaubt, seinen ersten Triumph zu feiern.

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Ihre spätere Freundschaft, ihr gegenseitiger Respekt wurde aus diesem Wenigen geboren, das fast alles ist: einige Meter roter Serge an einem geschnitzten Stab, eine muleta. Seitdem sind sie Freunde. Keine Kumpel: Freunde. Und sie siezen sich. Conrado, der ein respektvoller und zurückhaltender Mensch ist, redet von „Santiago“, und El Viti hat ihm seinerseits regelmäßig seine eigenen muletas geschenkt. Sie sind schmal zugeschnitten, klein und eher geschmeidig. Conrado mag sie so. Er hat davon ein gutes Dutzend in seinem Leben verbraucht, von diesen „treuen“ muletas, von denen er sagt, sie seien seine einzige echte Liebe und dass ein echter Professioneller sie mehr lieben muss als eine Frau. Beim letzten Stierkarneval in Ciudad Rodrigo hat ihm ein Stier eine seiner muletas in kleine Stücke gerissen, die Conrado wie Reliquien an die französischen und japanischen Touristen verteilt hat. Er ist vor allem ein Torero der muleta. Die capa benutzt er eher, um im Publikum zu betteln, bevor der letzte Stier der capea herauskommt. Davon lebt er seit einem halben Jahrhundert. Von einigen pases, von der Großzügigkeit des Publikums, das ihn kennt wie den weißen Wolf und das ihn unterstützt. Vorher war es schwieriger, vor allem in Portugal. Es kam vor, dass Zuschauer auf den ihrer Meinung nach ängstlichen Torero einschlugen. Im Stierkampf definiert sich Conrado als ein Torero de valor, ein mutiger Torero der wilden Schlachten, während ihn sein Gefühl als aficionado eher zu den künstlerischen Toreros hinzieht. Er bewundert Curro Romero, natürlich! – der er nie sein wird. In seiner Stimme klingt Bedauern nach. Conrado weiß es nicht, aber er ist ein Dandy, ein anspruchsvoller, nicht komprimierbarer, gegen den Strom schwimmender Mann wie der Marquis de Custine oder einer der Indianer, die Chateaubriand in den amerikanischen Wäldern getroffen hat. Er schert sich nicht ums Geld, aber hat nichts gegen den Reichtum und hasst die Armut. Seine Lebensregel ist streng. Er trinkt nicht, raucht nicht, ernährt sich von fast nichts, etwas Wasser, Milch und Cacola, aber er legt Wert auf Qualität. Während er die Stiere zwischen den großen, runden Eichen des Campo Charro gesucht hat, die rote Erde seiner Provinz Kastilien oder die von León durchsiebend, hat er sich eine aristokratische, pedantische und individualistische Philosophie geschmiedet, die er mit delikater Höflichkeit und ohne Pau-

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sen vorträgt. Auch in einer längeren Unterhaltung bleibt er beim Sie, statt in das systematische, schnelle und vertraute Du zu fallen, das im Spanischen so sehr üblich ist. Er bleibt stets freundlich und bekräftigt mit milder Stimme, „dass der Feigling derjenige ist, der nichts tut, um sich der Banalität des täglichen Lebens zu entziehen, des Serienlebens“, das ihm „abscheulich“ erscheint. Er sagt ebenfalls, „das Schwierige in der Gesellschaft ist nicht, zu gewinnen, sondern verlieren zu können und vor allem anders als die anderen zu sein“. Mit den Stieren zu kämpfen, erlaubt ihm, „anders zu sein“, und „anders zu sein ist das Schönste auf der Welt“. Daher seine Wahl, „frei und allein zu leben“, und sein Stolz: „Ich bin einzigartig und ich habe es mir verdient. Ich lebe allein, wie ein Stier. Beide leben wir nur für eine einzige Sache. Es ist unser Schicksal.“ Conrado behauptet, „völlig glücklich zu sein. Ich hänge nur von dem ab, was ich empfinde.“ Woraufhin er Antonio Machado zitiert: „Suche nicht das Glück, suche Dein Glück.“ Er findet das seine in seinen Wanderungen und den fünf oder sechs muletazos, die er den Stieren während einsamer capeas in den Dörfern aus unbehauenem Stein entreißt. Wenn man ihn – vom Groll mal abgesehen – mit Kapitän Ahab vergleicht, der ohne Ablass den weißen Wal verfolgt, erwidert er, dass er nicht liest und diesen Kapitän nicht kennt. Dagegen schwört er den heiligen Augustin herbei, der sich sorgte, in dieser Welt das Glück nicht zu finden, bis ein kleines Mädchen ihm erklärte, dies sei nicht möglich, ebenso wenig wie das, was sie gerade täte, nämlich einen Fluss leer schöpfen. Jetzt möchte Conrado andere Länder mit anderen Sitten besuchen: Brasilien, Kolumbien. Er möchte auch während einer capea sterben und mit seiner muleta begraben werden: „Ich bin geboren, um mit den Stieren zu kämpfen. Ich würde gerne von einem Stier getötet werden, in einem der Dörfer, wo man mich aufgenommen und mir geholfen hat, um alles zurückzuzahlen und meinerseits zu helfen, mit meinem Blut.“ Libération vom 29. 8. 1992

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Eros und Tod, ein ungleiches Paar, das auf dem ausgeleierten Sofa sitzt und ein paar banale Höflichkeiten wechselt, während Freud in der Küche Kaffee kocht. Der Gevatter Tod, unter dem Arm einen abgewetzten Aktenkoffer mit vergilbten Anschreiben, ein großer aficionado, der jeden Tag in die Arena geht, trinkt ihn logischerweise schwarz. Der Eros, ein schöner Jüngling mit Peitsche, Netz und Sandale, entfernt mit der Geilheit und dem Telefonsex verwandt, raschelt mit seinen Flügeln, schaut aus dem Fenster und überlegt, was er in seinen Kaffee kippen könnte: Zucker, Milchschaum und vielleicht einen Schuss Cognac? Es schellt an der Tür. Es ist Michel Leiris, der die Plätzchen bringt.

Das „Schöne im Stierkampf“ im Spiegel von Leiris Michel Leiris ist am 30. September dieses Jahres verstorben. Er wäre entzückt gewesen (sofern er das überhaupt sein konnte) zu erfahren (sofern er das nicht schon wusste), dass im spanischen Argot das Wort corrida Ejakulation bedeutet und das Verb accoplarse (sich geschlechtlich vereinigen) bei den Toreros und Stierkampfkritikern durchaus gebräuchlich ist. Es bedeutet, dass der Torero ganz in seiner faena aufgeht und sich dem Stier perfekt anpasst. Dies sollte den Spiegel des Stierkampfs neu vergolden, den Michel Leiris ein Jahr nach seinem ersten Text zum Thema Stier mit dem Titel Tauromachien im Jahr 1938 veröffentlicht und von dem die Nachwelt der aficionados vor allem seinen skandalösesten Aspekt behalten hat: den erotischen Gehalt des Stierkampfes, interpretiert wie ein „kopulatives Drama“, und von André Masson, der schon die Zeichnungen für die Tauromachien geliefert hatte, unmissverständlich hard illustriert. Auch wenn Leiris nicht der Erste in Frankreich war, der einen Eros im Paar Stier/Torero sah, auch wenn Henry de Montherlant einen solchen schon zehn Jahre früher in der Arena entdeckt hat, bleibt Leiris derjenige, der die Analyse am weitesten vorangetrieben hat. Mit seiner Interpretation wird er heute in Spanien als ein wichtiger Interpret der fiesta brava anerkannt.

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Wenn man wie Leiris im Spiegel des Stierkampfs den Hochgeschwindigkeitszug der Analogien und Symbole nimmt, sieht man in der Tat verwirrende Landschaften vorbeiziehen. Das Hin und Her der pases (im Französischen bedeutet passe Verkehr einer Prostituierten mit einem Kunden) ist der Rhythmus des Koitus, die offensichtliche Ungeduld des aficionados vor einem Stierkampf gleicht der Nervosität des Liebhabers vor einem erotischen Stelldichein, der Degenstoß wird eine Penetration, der Beifall des Publikums am Ende ein „Orgasmus“ und die Bravos und die weißen Taschentücher auf den Rängen werden mit dem Auswurf von Sperma gleichgesetzt. Nach dieser spannenden Reise, gemeinsam organisiert von der Psychoanalyse, dem Surrealismus und Leiris’ Unruhe auf der Suche nach seiner eigenen Libido, haben einige traurige Epigonen den Stierkampf auf das Abstellgleis eines Konfetti-Erotismus gezogen, wo sie sich zum Beispiel fragen, ob der Torero während der faena abspritzt. Vor Kurzem begehrte der Torero Luis Francisco Esplá in einem Interview gegen solchen Quatsch auf: „Der Stierkampf besitzt eine ungeheure Dichte und Tiefe. Es gibt dort Erotismus, Religion und Mystizismus auf sehr hoher Ebene. Ich bin empört, wenn jemand vulgär und plump von der Erotik im Stierkampf spricht.“ Michel Leiris dachte dasselbe von der Corrida, die für ihn mehr als ein Sport war, mehr als ein Tanz, sei er auch gewagt, und mehr als eine Kunst, weil sie „von Elementen bestimmt wird, die keine Kunst je so brutal und schnell in Szene setzen kann“. Für ihn bezieht der Stierkampf seine besondere „Würde“ aus der Tragödie, die seine wichtigste Zutat ist. Die zerbrechliche und spezielle „stierkämpferische Schönheit“ ordnet der „Spiegel des Stierkampfes“ unter dem baudelaireschen Zeichen des Bruchs ein. Das „beau taurin“, das Schöne im Stierkampf, schiebt sich zwischen die Geometrie und ihre Zerstörung, die Harmonie und ihre Niederlage, die Vollkommenheit, die man ahnt und streift, aber die immer in Gefahr ist. Der Torero selbst schwankt in fragendem Gleichgewicht zwischen dem „versuchten Engel“ und dem „auf wunderbare Weise Überlebenden“ hin und her. Warum hat Michel Leiris, Sohn der Pariser Großbourgeoisie und anfangs am Hürdenreiten interessiert, bei dem Spiel mit dem Stier innegehalten? Weil es einen entscheidenden und didaktischen Ort und Moment bezeichnet, einzig in der westlichen Kultur, wo man fühlt, dass man die Welt und sich selbst

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wenigstens kurz streift. Spiegel, Entkleidung, Entleibung. Es ist dieses Verlangen, „nackt zu sein“ und „alles zu sagen“, das Leiris in Literatur als Stierkampf hervorhebt, ein Text, der wie ein paseo sein Buch Mannesalter einleitet. Ein Text, der die Verzagtheit des Schriftstellers angesichts des „scharfen Horns“ des Stieres aufzeichnet, dieses Stieres, der der Kunst des Toreros „eine menschliche Realität verleiht“. Auch wenn Leiris in Literatur als Stierkampf versucht, dem Akt des Schreibens eine Gefahr zuzuordnen, und „sei es nur der Schatten eines Horns in einem literarischen Werk“, setzt er nie Literatur und Stierkampf gleich, und noch weniger das Pseudorisiko der Ersteren mit der echten und immanenten Gefahr des Letzteren, wie einige Interpreten behauptet haben. Es ist das Beispiel des Toreros, die Anwesenheit des Stieres und sein eigener Anspruch, die ihn veranlassen, „sich unmutig als Literat zu bescheiden“. Später wird er sich „unmutig bescheiden“, nur ein aficionado unter vielen zu sein. Leiris ist durch Picasso zum Stierkampf gekommen, mit dem er im August 1926 zu seiner ersten Corrida in Fréjus geht. Eine schlechte Corrida, nebenbei gesagt. Bis zum Ende der Fünfzigerjahre trifft man ihn oft mit Picasso auf den Rängen von Arles, Nîmes, Fréjus und sogar ohne Picasso in Barcelona, wo er El Estudiante kämpfen sieht. Noch am 27. April 1957 teilt er Charles Juliet mit, dass er diesen Sommer nach Arles reisen wird, um Luis Miguel Dominguín zu erleben. Seine Philosophie des Stierkampfes veranlasst ihn, die Stars der Arena zu kritisieren, welche Attitüde und Kunst der „Tragödie“ überordnen. Den „eitlen“ Stilisten zieht er einen Torero wie Rafaelillo vor, den Großonkel des aktuellen Enrique Ponce, den er im Oktober 1939 in Nîmes sieht und dessen Authentizität er in seinem Text Brisées erwähnt. Später wird sich Michel Leiris, der mit seinen Gedichten in Abanico para los toros von 1943 einer der wichtigsten Poeten des Stierkampfes bleibt, „von der Corrida als Zuschauer verabschieden“. Weil sie ihn enttäuscht hat? Ganz im Gegenteil. Er schreibt in Krempel, dem zweiten Band der Spielregel, seine Autobiografie. Dort räumt er dem Stierkampf einen „exemplarischen Wert“ ein und präzisiert, dass die letztendliche Bedeutung des Stierkampfes „die Durchsetzung einer majestätischen Ordnung angesichts einer wilden Materie ist, wie man es erwarten darf, sobald es um authentische große Kunst geht“. Er verlässt einfach deswegen Ende der Fünfzigerjahre die Arenen, weil er enttäuscht ist „von seinem Bedürfnis, sich mit dem Torero zu identifizieren“, und wegen seines Widerwillens, „als Dilet-

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Das „Schöne im Stierkampf “ im Spiegel von Leiris

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tant ein Schauspiel zu genießen, das auf der Grundlage von Tod und Mut basiert, während ich selbst so sehr vom Tod beunruhigt bin, und so wenig mutig“. Der Stierkampf dient letztlich immer als Referenz und Prellbock in Werk und Anliegen dieses Schriftstellers, der in Wehlaut, dem letzten Band seiner Spielregel von 1976, auf einen Satz von Antonio Bienvenida zurückkommt, mit dem dieser das Ende seiner Karriere als Torero kommentiert: „Ich werde lernen, nichts mehr zu sein.“ Dem Sog, nichts mehr zu sein, erliegt Michel Leiris im Sommer 1957, als er einen Selbstmordversuch unternimmt. Er spricht davon in seinem Gedicht Fausse vaillance (Falsche Tapferkeit), in dem ihm der Stierkampf einmal mehr als Spiegel dient: „Matadorlehrling ohne Ausweg Der die grob kolorierte Karte des Selbstmords ausspielt Und mit beiden Knien im Sand den Stier lockt Statt stehend zu kämpfen Mit den Füßen in gelassener Ruhe ...“ Libération vom 27. 10. 1990

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„Alles auf eine Karte setzen“ bleibt hierzulande den Pokerspielern vorbehalten. Vielleicht weiß auch ein Börsenspekulant oder der schüchterne Schreiber einer glühenden Liebeserklärung, was damit gemeint ist. Generell ziehen wir es vor, nach dem Motto des Dichters zu leben: „Ein Kaufmann, der sein Gut nur einem Schiffe anvertraut, ist hoch gefährlich dran.“ Krämerseele oder gesunde Vorsicht ... es bleibt der geheime Wunsch, der Trapezkünstler möge aus dem Himmel stürzen, das Rennauto sich brennend überschlagen, der Damm brechen und die Stadt überschwemmen.

Das Schicksal des Jesús a porta gayola Dienstag, der 8. April 1997, in der Maestranza von Sevilla. Hocicon, 545 Kilo schwer, ein schwarzer Stier der Züchtung Prieto de la Cal, kommt im Zickzacklauf aus dem toril in die Arena und stößt dem altgedienten Matador Jesús Franco Cardeño, 44 Jahre alt, das Horn in den Mund. Cardeño erwartete ihn auf Knien, in der suerte der porta gayola. Weil Hocicon langsam ans Licht kam, ohne sich direkt auf ihn zu stürzen, erhob sich Jesús Franco Cardeño, ein bescheidener Matador aus einer Familie von Fischern und Stierkämpfern in Triana, um die Aufmerksamkeit des Stieres auf sich zu ziehen, und kniete sich wieder hin. Hocicon hat ihm daraufhin mit dem linken Horn das Gesicht in zwei Hälften gespalten. „Hautverletzung, die rechte Seite des Gesichts vom Kinn bis zum Augapfel zerreißend“, meldet der medizinische Bericht. Cardeño liegt regungslos am Boden. Man hält ihn für tot. Er wird gerettet. 4. Mai 2000. In seiner Kneipe in der calle Santander, in der Nähe des goldenen Turms von Sevilla, steigt der von der ästhetischen Chirurgie recht gut zusammengeflickte Jesús Franco Cardeño auf einen Tisch und küsst den ausgestopften Kopf Hocicons. Neben dem Stierkopf zeigen ihn Fotos leblos im Sand der Maestranza, im Krankenhaus mit einem Gesicht wie Frankensteins Monster und während des Besuchs der Tochter des Königs, der Infantin Elena, an seinem Bett. In einer Ecke, hinter Vitrinenglas, steht das blau-goldene Kos-

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tüm, das er an jenem Tag trug. Franco Cardeño: „Ich liebe diesen Stier. Er hätte mich beinahe getötet, aber in Wirklichkeit schulde ich ihm alles.“ Indem er Franco Cardeño die Fresse polierte, hat Hocicon eine Karriere angekurbelt, die (außer in Mexiko und Ecuador) dermaßen bescheiden verlaufen war, dass der Matador aus dem Viertel Triana 1996 einen achttägigen Hungerstreik vor der Maestranza abhalten musste, um das Versprechen der Teilnahme an einem Stierkampf in Sevilla zu bekommen. Niemand hatte ihn dort seit seiner Corrida mit den Stieren von Yonnet 1992 gesehen. Aufgrund dieses Streiks war er für jenen 8. April 1997 engagiert worden, um sich mit einem Stier in einem Stierkampf nach dem Motto „alles oder nichts“ zu messen, bei dem sechs Bestien sechs Hungerleidern zugeteilt wurden. Hocicon trabte um 18 Uhr 35 im Nieselregen in eine halb volle Arena, und das Leben des Sohnes von Maruja, einer Chorsängerin der Brüderschaft des Rocío de Triana, und von José Franco aus Sanlúcar, dessen Taubheit ihn vom Stierkampf ausschloss, änderte sich schlagartig. Drei Tage nach seinem Unfall beendete die Tageszeitung Correo de Andalucía die Karriere von Jesús Franco mit der Überschrift „Für Franco Cardeño ist alles zu spät“. Fazit des Artikels: „Ein trauriges Ende für eine Laufbahn von jemandem, für den immer alles zu spät gekommen ist. Er hat seine alternativa im Alter von dreißig in Mexiko zelebriert, zu alt, um sich noch durchzusetzen ... Die ihn gut kannten, wussten von seiner enormen afición, von seiner Standfestigkeit, aber auch von seinen Grenzen.“ Ein falsch angewandtes Imperfekt. Die Stierkampfkarriere von Cardeño, der vorher nebenbei auf dem Bau arbeiten musste, ist neu belebt worden dank dieser suerte der porta gayola, eine Art russisches Roulette, in dem anklingt, was André Breton in Der weißhaarige Revolver schreibt: „Ein Wort und alles ist gerettet, ein Wort und alles ist verloren.“ Die porta gayola oder auch gaiola, ein portugiesischer Ausdruck, der Käfigoder Gefängnistür bedeutet, ähnelt dem Ausrufungszeichen im literarischen Diskurs. In den Gesängen des Maldoror, ruft Lautréamont den Kraken an: „O Krake mit dem Seidenblick! Du, dessen Seele von meiner nicht trennbar ist ...“; ähnlich wie Franco Cardeño den Stier vor der Tür des torils der Maestranza von Sevilla anruft und ihn damit untrennbar mit seinem Leben verbindet, besiegelt durch eine große rote Narbe auf der rechten Wange. Jedem Genre seine Rhetorik. Jedenfalls wurde die Figur der porta gayola dieses Jahr in Se-

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villa reichlich gegeben. Pedrito de Portugal, Rivera-Ordóñez, Miguel Abellán, El Juli, Juan José Padilla, (der sie in sein ständiges Repertoire aufgenommen hat) sind mit gemessenen Schritten und sich in der gespannten Stille der Arena bekreuzigend vor den toril getreten, um den Stier dort auf Knien zu erwarten, in einer suerte, welche in diesem Fall ein Licht auf die Etymologie und die Polysemie des Wortes wirft. Suerte, vom lateinischen serere, „kombinieren, verflechten“, bedeutet im Spanischen „das Schicksal“ und in der Sprache des Stierkampfes alles, was ein Torero mit einem Stier macht. Die aficionados sind geteilter Meinung, was die porta gayola betrifft. Viele, auch wenn sie den Mut des ausführenden Matadors anerkennen, verurteilen sie. Sie ist zu nichts gut oder nur dazu: brutal Mut zu zeigen und den Wunsch eines Matadors, sich einen Platz zu erkämpfen durch diesen emotionellen Schock, der einer ganzen Arena Schweigen gebietet, sogar in Pamplona. Aber in der porta gayola wird der Stier nicht oder kaum geleitet. Er zieht vorbei, er zieht durch, aber wird nicht gelenkt und noch weniger kontrolliert. Er lernt nichts dabei. Trotzdem hat diese suerte eine technische Grundlage. Sie ist nicht nur eine pure Geste der Angeberei, dem Zufall unterworfen und gefährlich gemacht durch die Tatsache, dass der Stier nach mehreren Stunden im Dunkel ans Licht kommt, geblendet, und die capa, die ihm winkt, nur undeutlich wahrnimmt; diese Geste, die noch gefährlicher wird, wenn der Stier im Schritt oder Trab mit Vorsatz angreift, wo doch der Erfolg der Figur von seinem arglosen blinden Galopp abhängt. Der Ex-Torero Santiago Lopéz führte während seiner ersten Vorstellung als novillero in Sevilla eine porta gayola aus, gefolgt von fünf largas auf Knien, die ihn vom toril bis ins Zentrum der Piste brachten. Ihm zufolge braucht es schon etwas Technik, um diese suerte richtig auszuführen, wie es Abellán und El Juli am Freitag, dem 5. Mai, getan haben. Man muss wissen, wie man sich dem Stier zeigt, und sich mit ihm auf einer Achse ausrichten, vermittels der capa, gehalten von beiden Händen und nicht nur von einer. Letzteres ist wichtig, da man nie weiß, ob der Stier mit seinem linken oder rechten Horn angreifen wird. Es ist notwendig, sich auf alles gefasst zu machen und den Angriff vorauszusehen, weil es hier im Gegensatz zum eigentlichen toreo der Stier ist, der die Initiative ergreift. Sobald der Matador in einem Bruchteil einer Sekunde begriffen hat, auf welcher Seite der Stier angreifen wird, lässt er die capa mit einer Hand los und wirft sie mit der anderen

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so elegant wie möglich über seinen Kopf und hinter sich, während der Stier ihr folgt. Dies ist eine beinahe antike Kunst. Jesús Franco Cardeño behauptet geradewegs, sie käme aus dem alten Rom, wo die zum Tode verurteilten Christen sich vor die Käfige der Löwen knien mussten. Die schrecklichen Bilder von seinem Unfall sind um die Welt gegangen und haben ihm einen gewissen Ruhm beschert, sodass diese suerte ihm letztlich mehr Verträge eingebracht hat als zuvor. Seit diesem verdammten und gesegneten Tag im April 1997 hat er in den kleineren Arenen und in Südamerika mehr als fünfzig Stierkämpfe bestritten und bis heute 57 portas gayola hingelegt. Und das ist erst der Anfang. Dank Hocicon hat er sich eine Kneipe gekauft und ein Haus gebaut. Er ist bereit, sich vor alle torils dieser Welt hinzuknien, um die Bauarbeiten zu bezahlen. Eine porta gayola für das Badezimmer, eine andere für die Terrasse. Er würde gern in Frankreich kämpfen, falls ein Veranstalter einen Typ sucht, der cojones hat und „falls es kein Stier von Yonnet“ ist: Cardeño ist bereit. Es genügt, ihn in seiner Kneipe, calle Santander Nr. 6, abzuholen. Der Name der Kneipe? Bodeguita Porta Gayola. Libération vom 17. 5. 2000

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Im callejon, dem engen Gang zwischen Rund und erstem Zuschauerrang, warten die Matadore auf ihren Stier, hasten peónes, Degen- und Wasserträger hin und her, hängen die banderillas und die Lanzen, werden die capas gefaltet und die muletas gestapelt, stehen die Manager, Pistendiener, Arenenbetreiber, Züchter, Kritiker und Journalisten. Von dort unten sieht man den Kampf auf Augenhöhe. Die Fotografen haben im callejon ein eigenes burladero, einen Schutzwall, falls mal ein Stier über die Barriere hechtet. Obwohl dicht dran, sind ihre Objektive so lang wie ein Arm, aber oft nicht lang genug, um gute Fotos von einem der Statik so wenig hörigen Vorgang zu machen. Was sehen sie durch ihren Sucher, während ihre Zeigefinder den Auslöseknopf traktieren? Was verpassen sie? Die Fotos von Francisco Cano könnten es uns möglicherweise erzählen.

Francisco Cano, das Auge des Stierkampfes In einer Stierkampfarena ist er ebenso unabdingbar wie die große Uhr. Er allerdings ist klein, und die Zeit scheint bei ihm stehen geblieben zu sein. Seit wann sieht man Francisco Cano, genannt „Canito“, unter seiner weißen Kappe her die Corrida fotografieren? Seit undenklichen Zeiten und bereits davor. Er war lange vor uns da. Er hat beinahe auf den Tag genau vor 59 Jahren den Tod Manoletes in Linares fotografiert. Man sah ihn hinter seinem Schutzwall im callejon weinen, als am 1. Mai 1992 in Sevilla der Stier Cubatisto den banderillero Manolo Montoliú tödlich verletzte. Wir gehen davon aus, dass er uns alle überleben wird. Mit 94 Jahren eilt Cano noch immer von Feria zu Feria, sieht um die 115 Corridas jede Saison, in Spanien, Frankreich, Südamerika. Er verbraucht vier oder fünf Filmrollen pro Stierkampf und hat aus seinen Bädern mit Entwickler rund eine Million Fotos gefischt, die in Dígame, ABC, El Ruedo, Aplausos oder der Nîmer Stierkampfzeitung Toros veröffentlicht worden sind. Seine Unterschrift mit dem Federhalter schmückt Bilder von Hunderten von Toreros,

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Tausenden von Stieren und pases und von mehr oder weniger notorischen Berühmtheiten auf den ersten Rängen: von Rita Hayworth bis zu Herrn Sowieso und seiner Frau, Tochter eines Zahnarztes, aficionada aus Pamplona. Sein Porträt von Cano geschossen zu bekommen verleiht Ansehen. Er ist das Maskottchen des mundillo, der kleinen Welt des Stierkampfes. Im Juli 2000 in Pamplona hat ihm ein Schlitzohr die Tasche mit seinen Fotoapparaten geklaut. Cano war am Boden zerstört, aber die taurinos haben zusammengelegt: die Casa de Misericordia, die die Corridas in Pamplona organisiert, der Züchter Domecq, das Stierkampfmuseum des verstorbenen Marcelino Jiménez, der Torero zu Pferd Pablo Hermoso de Mendoza, nebst einigen anonymen Spendern haben für eine Million Peseten ins Portemonnaie gelangt. Sein Auge konnte sich wieder durch seine Pentax, Nikons oder Leicas weiden. Gerettet! Cano: „Wenn ich keine Fotos machen kann, ist es mit mir vorbei.“ Francisco Cano wird 1912 in Albacete geboren, in einer relativ gut situierten Familie: Seine Eltern machen sich die Strände zu eigen, in einer Zeit, als die Mediziner Meerbäder verschreiben und der berühmte Zug Botijo für zwei Peseten in neun Stunden die Madrilener herankarrt, die gegen die Hitze Tonkrüge mit Wasser in die Fenster der Abteils hängen. Am Strand von Postiguet verwalten die Canos 30 Umkleidekabinen, 200 Strandstühle und einen Imbiss. Der kleine Cano ist Bademeister. Aber er will Torero werden, wie ehemals sein Vater, der novillero Vincente Cano „Rejillas“. Am Strand gibt er auch einem aus dem Schlachthof ausgebrochenen Kalb seinen ersten pase. Mit 14 Jahren springt er dann als espontaneo, als ein nicht geladener Kämpfer, in der Arena von Alicante ins Rund. Später wird er Ersatzmann für zwei Toreras, die Schwestern Palmeno. Gleichzeitig boxt er in der Fliegengewichtsklasse. Sein Vater erhebt ein Veto gegen eine Karriere im Ring. Während des Bürgerkrieges muss der Vater fliehen: Die „Roten“ halten ihn für einen Großeigentümer und wollen ihn an die Wand stellen. Sein Sohn wird von den kommunistischen Milizen und der FAI, der Anarchistischen Föderation Iberiens, eingespannt, um unter ihren Fahnen und für ihre Kasse mit Stieren zu kämpfen. Eines Tages in Alicante reißt ihm ein Jungstier die Hoden ab. Cano sammelt sie im Sand auf, stopft sie zurück in die Hose und geht in die Krankenstation, um sich nähen zu lassen. Was ihn nicht gehindert hat, zwei Familien zu gründen. Danach begibt er sich nach Madrid und flüchtet sich zu

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seinem Paten Gonzales Guerra, einem Verkäufer von Kosmetika, der ihn in die Fotografie einführt. Cano behauptet, sie hätten noch vor den Japanern das Teleobjektiv erfunden, mittels zweier ineinandergesteckter Eisenröhren. Nach Kriegsende kämpft er in zwei Dutzend novilladas, manchmal mit der Zwergentruppe der Bomberos Toreros, und gibt schließlich die Stiere zugunsten der Stierkampffotografie auf. Seine erste Reportage gilt dem Matador Alejandro Montani, der „Sonne Perus“. Sie bringt ihm 40 Peseten ein, mit denen er sich einen Brownie leistet, den er später gegen eine Leica eintauscht. Zu jener Zeit mieten die Toreros einen Fotografen für zehn oder fünfzehn Tage. Solchermaßen begleitet er Cagancho, Pepe Luis Vázquez, Parrita, nachher Luis Miguel Dominguín, Aparicio, Litri, Arruza ... Er ist noch ein Fotograf des Stierkampfes wie viele andere, aber sein Schnappschuss von dem Hornstoß, den Manolete in Alicante 1945 von einem Stier der Zucht La Chica erhält, macht ihn bekannt. Der Maler Arias macht den Abzug zur Vorlage seines Bildes Torero muerto. Eine Vorahnung. In Bilbao springt Cano eines Tages über die Barriere, um dem Torero Jumillano aus der Patsche zu helfen. In Madrid schwärzen ihn seine Kollegen bei den Falangisten an, weil er zu viel im callejon hin und her läuft. Er streitet sich mit einem Parteiverantwortlichen: dem Schriftsteller und späteren Nobelpreisträger Camillo José Cela. Seine eigentliche Legende als Fotograf wird am 28. August 1947 in Linares geboren, als der Miura Islero Manolete ins Jenseits und die Kamera befördert. Cano hält den Tod seines Freundes und Idols durch die 135 Millimeter des Contax-Teleobjektivs seiner Leica fest. Er ist an jenem Tag der einzige anwesende Fotograf. Auf den Rängen sitzt zwar noch ein heimischer Reporter, aber dieser hat seine Verlobte mitgebracht und seine Apparate zu Hause gelassen. Cano ist mit Luis Miguel Dominguín nach Linares gekommen, der ihn trotz eines schwelenden Streites angestellt hat. Dominguín hat die schlechte Angewohnheit, seine Schulden nicht zu begleichen. Er schuldet Cano Geld. Dieser will nichts mehr von ihm wissen. Aber im August 1947 wickelt ihn Dominguín ein wie Don Juan den Monsieur Dimanche im Stück von Molière und ver­sichert sich seiner Dienste für eine zehntägige Tournee. Danach bezahle er alles ... Die erste Corrida ist in Linares. Am Morgen des Kampfes geht Cano ins Hotel Cervantes, um Manolete zu besuchen, den er bewundert, siezt und im

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Freundeskreis für einen jovialen und sogar witzigen Typen hält. Vor der Zimmertür des Toreros gerät er in einen Familienstreit. Manolete und sein Schwager brüllen sich an. Manolete, total nervös, verlangt lauthals vom Mann seiner Schwester, ihn in Ruhe zu lassen. Cano zieht sich auf Zehenspitzen zurück und kommt etwas später wieder. Manolete begrüßt ihn freundschaftlich, trotz der Anwesenheit seines Degenknappen Chimo. Dieser beschuldigt den Fotografen, ein Bild von seinem maestro zusammen mit einem Hund gemacht zu haben, und einer Schlägerei mit seinem Vater. Manolete ist entsetzt. Cano erklärt ihm, dass es nur ein Boxtraining gewesen sei. Manolete befragt ihn über seine Karriere als novillero und seine Art zu kämpfen. Cano erzählt, dass die Stiere ihn regelmäßig erwischten. Manolete erklärt ihm, dass er zu statisch gewesen ist, dass man mit den Stieren regatear, lavieren muss. Eine Bedienstete bringt das Essen des Toreros, zwei Spiegeleier. Cano geht. Kurze Zeit später fotografiert er den Hornstoß Isleros und erinnert sich sehr gut an das Geräusch: „wie ein Brett, das zerbricht“. Nach der Corrida begibt er sich in die Krankenstation. Er sieht den picador Pimpi die Hand seines maestros halten. Manolete öffnet den Mund, dreht den Kopf hin und her, aber kein Laut kommt über seine Lippen. Später fotografiert er den Toten auf seinem Bett. Eine Serviette bindet seinen Kiefer fest, er hat ein Kruzifix in den Händen, erschütterte Leute stehen um den Leichnam, darunter Lupe Sino, die Verlobte des Toreros. Eine Reportage, bestehend aus 200 Fotos, die Cano zu 1000 oder 3000 Peseten (er weiß es selbst nicht mehr genau) versteigert, aber sich weigert, Lupe Sino welche zu verkaufen. Damals verdiente ein Textilarbeiter 65 Peseten die Woche. Cano wird der „Fotograf des Todes von Manolete“, die Stars des Technicolor wollen an seiner Seite gesehen werden: Rita Hayworth, Ava Gardner, Gary Cooper, Orson Welles, Bing Crosby und Hemingway, der ihm von Ordóñez vorgestellt wird und der ihm das Flugzeug zu seiner Geburtstagsparty zahlt. Die beiden saufen sich in Pamplona dämlich. Heute ist Francisco Cano eine Art lebendiges Fossil, der sich gerade mit dem Digitalapparat vertraut macht. Er hat gestern in Bilbao fotografiert, morgen ist er in Valladolid. Libération vom 31. 8. 2006

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Das Foto des verletzten Manolete von Francisco Cano ist schwarz-weiß. Als hätte man erst für die Beatles die Farbfotografie erfunden. Dabei gibt es Agfacolor und Kodachrom für Dias seit 1935, Kodacolor für den Papierabzug seit 1942. Aber 1947 war eben noch ein Jahr der harten Kontraste, der bequemen Hosen, des Todes von Al Capone und der Geburt von Arnold Schwarzenegger. Auf Canos Foto ist die Gruppe in der Mitte eine klassische Kreuzabnahme. Manoletes Degenknappe und ein peón tragen die große zerbrochene Puppe. Das Gesicht des Verletzten ist das eines endlich Eingeschlafenen an einem heißen Nachmittag. Sein Kollege Dominguín schaut zu, die capa über dem Arm, wie jemand, der auf einer Bergwanderung von einem Blitz verschont worden ist und sich fragt, ob sein Auto noch auf dem Parkplatz steht. Links gestikuliert wild ein Bäuerchen mit Schiebermütze: schneller, vor, zurück ... Rechts steht ein Mann mit weißer Bluse. Er sieht aus wie ein Kellner. Sein hageres Profil schaut missbilligend geradeaus: Seht ihr, das kommt davon ...

Manoletes rote Nacht der Agonie Um sechs Uhr und vierzig Minuten am 28. August 1947 hat ganz Linares und sein Publikum von Minenarbeitern mit zerfetzter Lunge das Blut gesehen. Eine enorme Menge. Als wäre es zu viel Blut für einen einzigen Menschen. Ein halbes Jahrhundert später sprechen die Zeugen des Todes von Manuel Rodríguez Manolete noch immer mit Staunen von der Höhe dieses chorro de sangre, dieses Blutstrahls, der über die Hose des Toreros von Córdoba spritzte, während diejenigen, die ihn schnell, zu schnell in die Krankenstation trugen, sich in der Richtung irrten und eine dramatische Blutung noch verschlimmerten. Der Miura-Stier Islero, ein manso, ein „perfecto marrajo“, ein „perfekter Verräter“ laut des Artikels in der Tageszeitung Jaén am nächsten Tag, hatte ihn im Augenblick des Degenstoßes das Horn in die rechte Leistenbeuge gebohrt, an derselben Stelle, wo ihn 17 Jahre früher ein Kalb leicht verletzt hatte. Seine

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erste cornada. Manolo war damals 13 Jahre alt, er nahm an einer tienta bei Florentino Sotomayor in der Nähe von Córdoba teil. Trotz einer kleinen Blutung hatte er weitergemacht. Der berühmte Torero Marcial Lalanda brachte ihn danach mit dem Auto zurück in die Stadt. Der damals anwesende Stierkampfkritiker Corrochano widmete sogar eine seiner viel gelesenen Chroniken diesem Bengel, der stolz erklärte: „Diese kleine Verletzung ist nicht der Rede wert.“ Nicht der Rede wert? Manolete gab später zu, an jenem Tag in den Augen seiner Freunde gesehen zu haben, dass sie ihn ab jetzt als Torero betrachteten. In der blutigen Spur, die seine Verletzung auf dem Sand von Linares hinterließ, kann man einen roten Faden der Geschichte finden, die Manolete wie eine Transfusion mit Spanien verbindet. In den Jahren 1943, 1944, 1945, als er auf dem Höhepunkt seiner Karriere ist und einen heiligen Respekt einflößt, geht das Gerücht um, er wäre tuberkulös. Es würden ihm rote Blutkörperchen fehlen. Er bekommt daraufhin Hunderte von Briefen, die ihm Blut anbieten. Eine Frau schreibt ihm, sie wäre bereit, das ihre gegen eine Summe zu tauschen, die es ihr ermöglichen würde, ins Kloster einzutreten. Andere wollen Blut gegen Liebe abgeben. Um ein Geschäft zu machen, bieten auch Männer ihr Blut zum Kauf an. Ein Zimmermann aus Tarragone, zum Beispiel. Er schreibt in seinem Brief, dass er in seinem ganzen Leben nie krank gewesen ist, „außer einer kleinen Erkältung ohne Folgen“. Er führt weiterhin aus, dass er eine Frau und drei Kinder habe, selber einmal Torero werden wollte und zur Modernisierung seiner Werkstatt für 200.000 Peseten sein Blut spenden würde. In einem anderen Brief schreibt eine Frau aus Huesca in der Annahme, er würde zwei Liter benötigen, sie gäbe gerne so viel von ihrem ab, wenn er, der so reich sei, ihr zwei Millionen Peseten bezahle. Manolete kommentiert scherzhaft unter Freunden, dass er für diesen Preis bereit sei, sein gesamtes eigenes Blut nebst dem seiner Familie zu verkaufen. Dieses käufliche oder geschenkte Blut, das zu ihm hochsteigt, zu dem Helden der Nation, dem kranken Helden, gleichzeitig heroisch und schwach wie das Bild Spaniens am Tropf nach dem Bürgerkrieg, lässt ihn als eine Art Vampir dastehen. Ein Vampir, der schließlich zur Ader gelassen wird von der Gesellschaft und von den Fantastereien, die sich um seine Legende ranken. Blut, Liebe, Geld, religiöser Glaube (man bekreuzigt sich, wenn man ihn trifft) um-

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geben die hohe, zu einem Totem stilisierte Silhouette dieses mageren Mannes, der in der Tat ausgeblutet scheint. 1943 vergleicht ihn der Stierkampfkritiker K-Hito nach einer Corrida in Córdoba mit „einer Figur aus Stein, und wie der Stein selbst kalt, schwermütig, hochherzig“. Bevor sie ihn trifft, sieht ihn seine spätere Mätresse Lupe Sino in der Arena. Sie findet, er ähnelt „einem Stück trockenen Holz“. Manolete ist derjenige, der nie vor einem Stier nach hinten tritt, der ruhig kämpft, ungerührt, als würde er zwischen den pases nicht atmen. Er ist „der andere“. K-Hito nennt ihn bewundernd ein „Monstrum“. Im Dezember 1944 feiern ihn die Intellektuellen im Restaurant Lhardy in Madrid. Der Dichter Alfredo Marquerie sagt, seine faenas wären wie ein „Aschermittwoch“ und dass bei ihm „der Tod neben dem Horn eingeschlafen sei“. Adriano del Valle besingt seine „Postur eines Obelisken“. Der Film, den Abel Gance Ende 1944 mit ihm zu drehen anfängt, sollte heißen: Der Mann, der dem Tod am nächsten stand. Im Grunde bietet man ihm auch deshalb so viel Blut an, um ihn zu humanisieren. Der Austausch kehrt sich ins Gegenteil im Jahr 1947, während seiner letzten Saison. Die Anhänger von Luis Miguel Dominguín verhöhnen ihn. Man wirft ihm seine übermäßigen Gehaltsforderungen vor, die hohen Eintrittspreise. Trillerpfeifen werden in den Arenen verteilt. Man kreidet ihm an, nicht in Sevilla oder Bilbao gekämpft zu haben, mehr einem Bankier als einem Torero zu gleichen, wie Corrochano ungerechterweise schreibt. Er ist zu hoch aufgestiegen, ist zu reich, zu berühmt. Von einem der Ränge in Linares ruft ihm jemand zu „Theater!“ und meint: „Was für ein Zirkus!“ An jenem 28. August, trotz der guten Ratschläge, obwohl er wusste, dass es sich um einen Miura-Stier handelte und dass dieser zur Stalltür hin ausgerichtet umso gefährlicher war, tötete Manolete Islero in suerte contrario, sehr langsam und seine Gesten voneinander absetzend. Alle Zeugen der Corrida berichten von der verblüffenden Langsamkeit seines Degenstoßes, laut einigen geradezu selbstmörderisch. Sie kommen nicht darüber hinweg, wie viel Blut dieser Mann verlieren konnte. Die pathetische Nacht vom 28. auf den 29. August ist eine rote Nacht. Das Blut Manoletes überflutet Spanien und die Nachrichten im Radio. Zwischen der Krankenstation der Arena und dem Krankenhaus von Linares bekommt er fünf Infusionen. Luis Miguel Dominguín sieht in der Krankenstation, wo

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das Licht zu schwach zum Operieren ist, wie eine Putzfrau mit einem Scheuerlappen das Blut des Verletzten aufsaugt. Álvaro Domecq hört die Tropfen in das Becken unter der Bahre fallen, auf der man sich um ihn kümmert. Seit den ersten Hilfemaßnahmen hat sich das große blaue Buick-Kabriolett des Toreros, von Álvaro Domecq gelenkt, wie ein treuer Luxushund auf die Jagd begeben, um seinen Herren zu retten. Es fährt zwischen Olivenbäumen über die nächtlichen Straßen, um Blut zu holen, Mediziner für die Transfusionen und einen elektrischen Tropf aus dem Sanatorium von Jaén, wo das Kino Lalisko „Ein Herz in Gefahr“ mit Cary Grant spielt. Später fährt es mit Gitanillo de Triana am Steuer dem Arzt des Toreros, Jiménez Guinea, entgegen, den es mit seinem Plasma kurz vor fünf Uhr morgens zurückbringt. Von den Radiobulletins aufgeschreckt, begeben sich die aficionados in die Krankenhäuser von Jaén und Córdoba, wo sie Manolete zu finden glauben, um ihre Venen anzubieten. Der Priester von Córdoba, Angel Onieva, rennt mit den letzten Sakramenten in das Krankenhaus seiner Stadt. Am frühen Morgen ist er wieder zu Hause und erliegt einem Herzschlag, als er aus dem Radio den Tod von Manuel Rodríguez Manolete in Linares erfährt. Man misst den Blutfleck auf dem kriminellen Horn von Islero: 22 Zentimeter. Kürzlich wurde bekannt gegeben, dass Manolete möglicherweise wegen einer allergischen Reaktion auf die von seinem Arzt Guinea mitgebrachte Trockenplasmatransfusion gestorben ist. Es war norwegisches und schwedisches Plasma aus den amerikanischen Reserven des Zweiten Weltkrieges und mit tragischem Ergebnis zehn Tage vorher bei den Verletzten der Explosion eines Minendepots in Cádiz verwendet worden, die 200 Opfer forderte. Gegen vier Uhr morgens geht es Manolete etwas besser, er hat dreimal an einer Zigarette gezogen, mit den Betschwestern geredet und mit Erleichterung die Ankunft des Doktors Guinea zur Kenntnis genommen, der gegen den Rat der Mediziner von Linares die letzte Transfusion vornimmt. Laut einigen Stimmen fatal. Manolete stößt sie ab und verstirbt nach einer zehnminütigen Agonie. Man kann das Plasma beschuldigen, das möglicherweise stumpfgefeilte Horn von Islero, man kann den pundonor herausstellen, die „Ehrensache“, mit der Manolete auf die feindliche Stimmung an jenem Tag reagiert hat, indem er sich übermäßig dem Stier auslieferte. Man kann auch, wie zwei Tage später der

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Arzt Ferran Peréz, das Ausmaß des traumatischen Schocks geltend machen, der auf einen „von unangebrachtem Protest deprimierten Geist“ traf. Ein Protest, dessen Opfer der Torero in jenem Sommer und an jenem Tag gewesen ist. Zwei Tage vor Linares hatte der Doktor Marañón bei Manolete „eine tiefe physische und moralische Schwäche“ und „einen vegetativen Zustand, der Neurose nahe, und einen Verlust der Reflexe“ diagnostiziert. Marañón hatte dem Torero stark dazu geraten, das Handtuch zu werfen. Seine Mutter Angustias hatte es ihm 48 Stunden vorher zugeflüstert: „Geh nicht nach Linares, hijo.“ Woran ist Manolete gestorben? Weil er mit Leib und Seele Torero war, nebst anderen Dingen. Wie ist er gestorben? Desangrado. Ausgeblutet. Als hätte er all das Blut zurückgeben müssen, das Spanien ihm hatte zukommen lassen. Der Sprecher von Radio Córdoba schrie es in sein Mikrofon am Morgen des 29.: „Ihr, das blinde Publikum, das blutgierig den besten Torero der Welt beleidigt hat, da habt ihr ihn, kalt, regungslos, auf seinem starren Gesicht den bitteren Zug eines ewigen Lächelns. Da habt ihr ihn, tot. Es ist euer Werk.“ Libération vom 30. 8. 1997

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Stier, Konsumgesellschaft und Rechtsstaat. Eine interessante Kombination. Welches von den dreien ist überflüssig? Eine blöde Frage oder eine tiefgründige. Es kommt drauf an. Der Rechtsstaat setzt sich zusammen aus klagenden Bürgern, die ihre Strafmandate fürs Falschparken nicht bezahlen wollen. Die Konsumgesellschaft aus müden Betrachtern ihrer eigenen Parodie des Reichtums. Und der Stier darin? Man kann ihn nicht konsumieren wie einen Dokumentarfilm über das Waldsterben. Man kann kein Recht über ihn sprechen, da er die Natur ganz auf seiner Seite hat. Vielleicht liebt man ihn gerade deshalb. Er ist Eindringling, Störenfried, Fragezeichen und Ansatz einer Antwort zugleich.

Die Camargue-Stiere werden vor Gericht losgelassen 3. April 1994 vor der Arena in Saintes-Maries-de-la-Mer. Diabolo, ein Camargue-Stier der manade (der Zucht) López rutscht aus, ändert die Richtung, entkommt seinen berittenen Bewachern, läuft zwischen dem Feuerwehrauto und einem Podium durch und prescht in eine Gruppe Zuschauer, darunter eine italienische Touristin von 64 Jahren, die zwei Tage später ihren Verletzungen erliegt. Das so nicht geplante und tragische Rennen von Diabolo hat am 12. Dezember im Gerichtssaal von Tarascon ein Ende gefunden. Diabolo ist nicht der einzige biou, der einzige Camargue-Stier „qui a mit le pati“, der im Strafrecht und in der Welt der Stiere Verwirrung gestiftet hat. Im September und Oktober desselben ungewöhnlich dramatischen Jahres, in Saint-Rémi-de-Provence und in Aigues-Mortes, haben Stiere während des abrivado den Tod zweier weiterer Personen verursacht: einer holländischen Touristin von 78 Jahren und eines Gendarmen im Urlaub. Rechtliche Folgen: Entsprechend der Artikel 221-6 und 223-1 des neuen Strafgesetzbuches, am 1. März 1994 in Kraft getreten, wurden die Bürgermeister von Saintes-Maries, Saint-Rémi und Aigues-Mortes zusammen mit den entsprechenden manadiers wegen unfreiwilliger Tötung angeklagt. Damit, und zum ersten Mal in ihrer

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langen Geschichte, saß die alte Tradition – das Loslassen von Stieren in den Straßen, begleitet von den gardians zu Pferd – auf der Anklagebank des Strafgerichtshofes. Ohne Präzedenz. Eine solche schwarze Serie ist mehr als selten und um ihre grausame Prozentzahl zu relativieren, muss man sie in Perspektive zu den vielen Hunderten von abrivados und bandidos setzten, die jedes Jahr stattfinden. Trotzdem bleibt die Tatsache, dass das Loslassen des biou, quasi zahm geworden durch die ständige Wiederholung der Übung, schon immer von kleinen oder schweren Unfällen begleitet wurde. Bis vor Kurzem wurden diese durch Angeberei verklärt: „Kerl, der biou von Sowieso hat mir im August vor dem Haus von Dingsbums zwei Rippen geknackt.“ Man legte es dem Besitzer des Tieres zur Last, seltener dem Organisator, und wenn ein Opfer klagte, wurde das vor dem Zivilgericht von den Versicherungen ausgehandelt. Das Dekor hat sich gewandelt, seit die neue Rechtsprechung den Bürgermeistern die Verantwortung für Unfälle in ihrer Gemeinde zuspricht. Eine neue Rechtsprechung, die der Senat gerade mithilfe von Ausklammerungen abändert, um den Volksvertretern diese Last teilweise wieder abzunehmen. Also saßen am 12. Dezember am Gerichtshof in Tarascon die damals in Saintes-Marie und Saint-Rémi amtierenden Bürgermeister zusammen mit den Eigentümern der mörderischen biou vor dem Richter und erwarten jetzt das bis zum 2. Januar ausgesetzte Urteil, mit dem Risiko einer eventuellen Verurteilung und dem drohenden Verbot einer Tradition. Deren Verteidiger haben am 11. März 1995 mehr als 13.000 Personen für einen Protestmarsch mobilisiert, Abgeordnete und gardians an der Spitze, auf der Rhônebrücke zwischen Beaucaire und Tarascon. Das heißt zwischen dem Languedoc und der Provence. Historisch gesehen liegen sich die in der Camargue und der Crau entstandenen Stierspiele schon seit Langem mit den religiösen, politischen und neuerdings rechtlichen Institutionen in den Haaren. 1655 wollte Louis XIV. sie nach einer Klage der Geistlichkeit von Beaucaire, deren Messen von dem lautstarken Krawall der afeciouna gestört wurden, verbieten. Eine kleine Geschichte, um die Ökumene nicht zu vergessen: Vor einigen Jahren hat der Pastor von Marsillargues die berühmte, heute verstorbene protestantische Züchterin Fonfonne Guillierme gebeten, nicht mehr zur Sonntagspredigt zu kommen, weil

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die Gespenster ihrer Stiere sie in die Kirche begleiteten und den Geist der Gemeinde mehr in Anspruch nahmen als die Heiligen Schriften. Anfang des 18. Jahrhunderts ist es das Parlament der Provence, das den Durchzug der dem Schlachthof bestimmten Camargue-Stiere durch die Stadt Arles verhindern will. Zu viel Durcheinander. Das Directoire, dann das Consulat verbieten im Departement Gard das Loslassen von Stieren. Die Juli-Mo­ narchie schickt sogar ihre Gendarmen los, um sie zu erschießen. Während der Zweiten Republik werden die Stiere beschuldigt, „der Vorwand von Versammlungen zu sein, die als erstes Ziel die Entwicklung demagogischer Doktrinen haben“. Sozialistischer, versteht sich. Für die Bevölkerung und die örtlichen Autoritäten, die sich über das Verbot der Zentralregierung hinwegsetzten, beschreibt das Loslassen der biou in den Dörfern so etwas wie den Umriss einer Nation, nährt eine vage meridionale Dissidenz und prägt im Schlagen der Hufe ein Zeichen eigener Identität. Eine Kampagne zum Verbot des Stierkampfes, 1921 vom Tierschutzverband angezettelt, führte am 17. November in Nîmes unter der Leitung des Marquis von Baroncelli zu der großen, von provenzalischen Unabhängigkeitsakzenten durchzogenen Manifestation, genannt levée des tridents, „die Erhebung der Dreizacken“. Sie bezog in ihren lyrischen Protest die Verteidigung der spanischen und provenzalischen Stiertraditionen mit ein. Die letzte juristische Offensive von Tarascon, im Namen einer modernen Besessenheit vom Sicherheitsdenken des Risikos ohne Gefahr, ist bei Weitem nicht harmlos. Auch wenn der Staatsanwalt, der sich in einem Vorwort dagegen verteidigte, die alte Tradition abschaffen zu wollen, nachsichtig plädierte und relativ bescheidene Geldstrafen forderte. Trotzdem: Im Gerichtssaal von Tarascon war viel die Rede von Schutzbarrieren, mangelnder Aufmerksamkeit, Kontrollverlust, schlechter Vorbereitung, Versagen der gardians, Defizit an Informationen und unvollständiger Ausschilderung, als handele es sich um einen Verkehrsunfall und nicht um das Aufeinanderprallen von zwei Kulturen. Der Kultur des Tourismus, die eine Tendenz hat, alles nach der DisneylandIdeologie zu recyclen und eine Parade mit passiven Zuschauern wünscht, und der traditionellen Kultur der Welt der Stiere, die notgedrungen versucht, sich der modernen Gesellschaft anzupassen, ohne dabei einen Meineid zu schwören und ihre kulturelle Grundlage zu verlieren.

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In der ersten Hälfte des Jahrhunderts werden die Stiere für die Stierspiele noch zu Fuß von den berittenen gardians an ihren Bestimmungsort gebracht. Diese ländliche Arbeit wurde von einem spielerischen und sozialen Ritus begleitet. Die Passanten, und besonders die Jugend der Dörfer, die der Viehtrieb durchquerte, versuchten, sich zwischen die Gruppe der Reiter zu drängen und einen oder besser noch alle Stiere abzudrängen und freizusetzen. Da zu jener Zeit der Besitz eines Pferdes mit sozialem Rang einherging, kann man in diesem manchmal brutalen Streit eine Form der Revanche sehen, allerdings nach Art eines von allen gebilligten Spiels. Auf der anderen Seite hob dieses Spiel die Beweglichkeit der Rasse der Camargue-Pferde hervor, die Geschicklichkeit der gardians, die Verwegenheit und Frechheit der jungen atrapaïres vor Ort. Das abrivado ist demnach die Verherrlichung und das In-Szene-Setzen von den Tugenden einer Gemeinschaft, die für sich selbst manche Schreckmomente unablässig wiederholt, kommentiert und ausweitet. Die Geschichte der schwangeren oder stillenden Frau, in der Küche von einem entflohenen Stier überrascht, der sie natürlich verschont, gibt es in ähnlichen Versionen in vielen Dörfern zwischen Lansargues und Mouriès. Der Ausbau des Straßensystems, die Entwicklung des Tourismus, die auch demografische Wandlung der Dörfer durch neue Wohnsiedlungen und den Zustrom von exogener Bevölkerung hat seit den Sechzigerjahren die Richtung und die Modalitäten des Loslassens von Stieren beeinflusst. Es findet generell während der Votivfeste statt, vom Viehtransporter zur Arena (abrivado) oder von der Arena zum Viehtransporter (bandido), aber noch inmitten einer Bevölkerung, die versucht, nach den Regeln der Kunst zu stören. Daher vielleicht die letzte Wandlung des Genres: Seit dem ersten 1986 organisierten Wettbewerb in Vauvert ist das abrivado eine Art sportlicher Wettstreit zwischen da­rauf spezialisierten Züchtungen geworden. Letztes Jahr zählte man 32 manades, in einer 1993 gegründeten Gruppe von Spezialisten zusammengeschlossen und tierärztlich registriert. Ziel des Vereins: die Bastler und Amateure auszusieben, das Phänomen zu professionalisieren, eine Meisterschaft zu veranstalten. Aufnahmebedingungen: Besitz von mindestens 50 Hektar Land, von mindestens acht Stieren für ein abrivado, acht Stieren für ein encierro, sechs Jungstieren und 30 Kühen. Einschließlich der abrivados der Votivfeste, der Wettbewerbs-abrivados und der Fast-Food-abrivados, zu simplen Vorzei-

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gekavalkaden verkommen und außerhalb der traditionellen Gebiete unter jedem Vorwand organisiert – Einweihung eines Kreisverkehrs oder Taufe einer Wohnsiedlung – hat man 1994 rund 2500 abrivados und bandidos gezählt, eine Steigerung von 150 % gegenüber den Sechzigerjahren. Seit der Anklageerhebung fürchten zahlreiche Verteidiger der Sache der Stiere, dass eine Jurisprudenz wie in die Deiche der Rhône eine Bresche schlagen könnte, fatal für das, was sie als ein Gewohnheitsrecht betrachten. Sie denken ebenfalls, und sicher zu Recht, dass eine starre Sicherheitsreglementierung der abrivados und bandidos ihren Sinn und ihre Anziehungskraft zerstören würde. Dazu kommt die schwierige Umsetzung. Ein biou ist durchaus in der Lage, über eine Metallbarriere gegen Terroranschläge zu setzen. In Erwartung des Urteils am 2. Januar, bis zum Ende des Jahres, bis Silvester, und dem Klingen der Gläser mit dem Likörwein „Cartagène“, kann die afeciouna sich noch in die Beschwörung vor den Hausaltären flüchten und auf Provenzalisch das hochtrabende alte Gedicht des Marquis von Baroncelli mit dem Titel Lou biou deklamieren: „Sieu Apis sieu lou Minoutaure / Sieu l’alen que res pou enclore / Leu dins vosti chivau qu’ame d’estre embarra ...“ Übersetzung: „Ich bin Apis, ich bin der Minotaurus / Ich bin der Atem, den niemand einzudämmen vermag / Ich, der es liebt, inmitten der Runde eurer Pferde eingeschlossen zu sein ...“ Wie lange noch? Libération vom 30. 12. 1995

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Madrid, Sevilla und Pamplona. Alltag, Sonntag und Weihnachten und Ostern an einem Tag. Manche hassen die Folklore, die oft den eigentlichen Stierkampf einrahmt, und glauben, alles zu verstehen. Sie gehen nach Las Ventas in Madrid, wo das Orchester nie während der faena spielt. Manche ziehen einen Anzug an, nur um ein Brot zu kaufen, und wollen nicht, dass man sie versteht. Sie gehen nach Sevilla, wo die Musik der Maestranza nach geheimnisvollen Gesetzen ertönt. Und manche lieben die Folklore und brauchen nicht alles zu verstehen. Sie gehen zum San Fermín nach Pamplona, wo das Getöse nie aufhört. Aber auch dort steht im wirren Mittelpunkt die schwarze, stille, treue Silhouette des Stieres.

825 Meter Wahnsinn in Pamplona Man sollte in Roncevaux bleiben. Es gibt dort schöne Bäume, Schweigen, Chlorophyll und die Spaziergänger sind so selten wie nachdenklich. Sogar die Holzfäller bleiben diskret. Man hört sie nicht. Man sollte in Roncevaux bleiben, aber voilà, zwischen dem 7. und dem 14. Juli jeden Jahres ist Roncevaux nur dies: ein zu überschreitender Bergpass und ein rotes Kreuz auf dem Kalender. Auf der anderen Seite, unten im Tal, liegen Pamplona und seine Feria von San Fermín, 80 Kilometer hinter den Bergen, den Flüssen voller Forellen, den Weizenfeldern, den 365 Tagen des Wartens, minus sieben. Dann lassen auch die Holzfäller von Burguete ihre Kettensägen im Stich und werfen sich in den Hexenkessel der Feria, um dort, begleitet von baskischen und navarrischen Liedern, ganze Wälder von vino tinto abzuholzen, die in den Bars der calle San Nicolas wachsen. Morgens um halb neun riecht Pamplona in der Tat nach den Pyrenäen, nach Harz und dem Sägemehl, das bei Marceliano aus Eimern auf den Holzfußboden gekippt wird. Kurz vorher herrschte noch die Angst des encierro, die Angst vor den Stieren, die durch die Straßen gerast sind. Man setzt sich in einem merkwürdigen Schwebezustand zwischen die Amerikaner und die Hirten der Sierra von Urbasa, um pochas zu essen, Schwein mit dicken

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Bohnen, oder menudo con sangrecilla, Lammkaldaunen in ihrem Blut frittiert. Der calimoxto, eine Mischung von Rotwein und Cola, spült alles runter, auch die durchzechte Nacht und den Schiss ebenso. Zur selben Stunde tanzen die ortsansässigen Töchter aus besserem Hause mit ihren Verlobten einen Walzer unter den Kronleuchtern ihres Clubs über dem berühmten Cafe Iruna. Die Toreros ruhen sich im schicken Hotel Yoldi aus, in Erwartung des irren Durcheinanders der Stierkämpfe am Nachmittag. Den Stieren von 600 Kilo, die gerade die Stadt durchquert haben, bleiben noch zehn Stunden zu leben. Sie haben einige Verrückte, die sich schubsten, um direkt vor ihrer Nase laufen zu können, aufs Horn genommen. Die Nachtschwärmer gehen nach Hause, zertreten auf dem Platz Santa Cecilia die leeren Spritzen der bis in die Haarspitzen zugedröhnten Junkies. Eine komische Mischung. Man nehme Bankangestellte aus Pamplona, Metallarbeiter aus Landaben, Weinbauern aus Rioja, Kuhhirten aus Lecumberri, australische Surfer, die die baskische Küste verlassen haben, von Hemingway besessene Amerikaner, backsteinrote Deutsche, Franzosen aus dem Südwesten, eine Handvoll englischer aficionados, das endlich vereinte Europa der Volkstänzer und andere undefinierbare Gattungen und lasse jeden Morgen auf 825 Metern Stiere dazwischen los, vorneweg ein paar Typen, los divinos, die ihr Leben freiwillig aufs Spiel setzen, aus Spaß, aus Sport, weil es im Fernsehen übertragen wird oder weil es absurd ist, wie der berühmte Läufer des encierro, Ruiz Taberna, behauptet. Dann hat man fast ganz Pamplona, wenn man noch hinzufügt: die örtlichen Dudelsäcke, genannt Gaïta, ein paar Rockgruppen, die Tänzer des jota, die Giganten aus Pappmaschee und allenthalben Kinder und rote Halstücher. Alle die, die endgültig von diesem Fest besessen sind, von diesem Rendezvous im Juli, das sie um nichts auf der Welt verpassen würden, das sie seufzend das Jahr hindurch erwarten, während sie die Tage im Kalender durchstreichen. Typen wie Jerónimo Echagüe zum Beispiel. Mit 86 Jahren zählt er bereitwillig seine Knochenbrüche, Verstauchungen, Hornwunden auf, wie andere die Abfolge ihrer Diplome. Jerónimo hat es das Handgelenk, das Schlüsselbein, die Nase, die Zähne, den Ellenbogen zerschlagen in dem Stier-Gewitter, das jeden Morgen während des San Fermín die 825 Meter Straße in Pamplona durchspült. Wegen der Stiere sind seine Finger verbogen, hat er seit dreißig Jahren

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ein riesige Beule auf der Stirn und die Narben von vier cornadas überziehen seine Beine wie rosa Rinnsale. Wenn er seine Brieftasche aufmacht, fallen keine Familienfotos heraus, sondern er, mit Anzug und Krawatte vor einem Stier rennend, oder immer noch er, auf allen Vieren unter einem Miura-Stier kriechend. Wenn er seinen Erinnerungen, heute ein wenig durcheinander, nachhängt, ergießt sich eine Flut von Wunden, Beulen, Krankenhäusern, Blut und Hörnern. Er hat sechs Läufer des encierro neben sich sterben sehen und weint ohne Hemmungen, während Gruppen von Akkordeonisten aus den baskischen Dörfern den Platz Castille und die Umgebung des Hotels Perla überfluten. Jerónimo Echagüe, ehemaliger Arbeiter in der Autofabrik, hat sich zum ersten Mal 1914 in den Weg der Stiere des encierro gestellt. Er war elf Jahre alt, trug kurze Hosen und musste sich hinter den Beinen der Großen verstecken, damit die Polizei ihn nicht verscheuchen konnte. Typen wie Javier Estenaga, der sich jedes Jahr einmal auf die Hörner nehmen lässt und den man jedes Jahr vergnügt in seinem Bett sitzen sieht, auf der letzten Seite des Diario de Navarra. Oder Typen wie Pedro, der Dominikaner, der in einem Film von Arrabal ganze Kücken gegessen hat und der nachts das Paris der Bars der Rue Saint-Jacques unsicher macht. Außer in der Woche vom 7. bis zum 14. Juli natürlich. Da ist er mit seinen Kumpeln der peña La Unica in Pamplona und stellt seine 100 Kilo in schwarzer Bluse vor die Hörner der Kampfstiere. Als ginge es darum, blind die Gründe für diese augenscheinlich vernunftwidrige Erschütterung zu erraten, wird sie oft der kühlen Auswertung der Zahlen unterworfen, den Statistiken, den Vergleichen, auch sportlicher Natur. Beispiel: Am 7. Juli 1991 haben die Stiere von Conde de la Corte und die Teilnehmer den encierro in 2 Minuten und 34 Sekunden gelaufen, 1 Minute 11 Sekunden schneller als im Durchschnitt, mit einer Geschwindigkeit von 21,02 Stundenkilometern, nicht schlecht, wenn man bedenkt, dass der Weltrekord von Sebastion Coe über 800 Meter in jener Zeit bei 28,51 Stundenkilometern lag. Dieser „wissenschaftliche Blick“, offensichtlich von dem Wunsch besessen, die chronische Raserei in mathematische Kurven zu fassen, hat sich natürlich auch für die Läufer und ihren Herzschlag der Angst interessiert. 1984 wurden 14 Läufer mit einem Durchschnittsalter von 27 Jahren mit Elektroden ausgestattet. Ergebnis der kardiologischen Studie: Die 42 normalen Herzschläge pro

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Minute steigern sich zu 148 kurz vor dem Böller, der das Freilassen der Stiere ankündigt, und bis zu 180 während des Rennens, „genauso viel wie bei den Rennfahrern der 24 Stunden von Le Mans“. Die statistische Forschung versucht ebenfalls, diesen Ausbruch zu durchleuchten. Die Archive des San Fermín verzeichnen seit 1877 21 montones, kollektive Stürze der Läufer. Der vom 7. Juli 1922 ergab 100 Verletzte, darunter Juan Pedro Zarranz, Seminarist und späterer Bischof von Plasencia. Nichts entgeht der hervorragenden Erinnerung des encierro von Pamplona, weder der Name der ersten mitlaufenden Frau, der Amerikanerin Christine Hoene 1965, noch der Name des ersten Stieres, Barrilero, der eine weibliche Läuferin verletzt hat: Stéphanie Kern, Bruch des Hinterkopfes am 14. Juli 1990. Stéphanie Kern ist nicht die erste Frau, die von einem Stier in Pamplona erwischt wurde. Am 8. Juli 1939 wird Doña Clara Herera von Liebrero, einem Stier von Cobaleda, aufs Horn genommen. Allerdings ist sie unbeteiligte Zuschauerin. An jenem Morgen hat Liebrero die Barrikaden eingerannt und spazierte durch die terrorisierte Menschenmenge. Er begann, ein kleines Mädchen zu verfolgen – die heute alte Dame erzählte kürzlich, dass dieser Stier noch immer regelmäßig durch ihre Alpträume geistert –, bevor er sich an Doña Clara vergriff, die niemand anderes war als die Gattin des Corpschefs der städtischen Schiedsmänner. Der Held des Tages wurde ein Zivilgardist. Er steht nur wenige Meter von Liebrero entfernt. Er zielt mit seinem Gewehr. Das Magazin fällt auf die Erde. Er bückt sich langsam, um einen Angriff des Stieres zu vermeiden, hebt sein Magazin auf, setzt es sanft wieder ein, schießt und tötet Liebrero. Die Schreiber des encierro haben seinen Namen notiert: Cipriano Huarte. Er wird später Oberst. Der wunde Punkt der heutigen encierros: zu viele Leute, zu viel Unverantwortlichkeit, zu viel Unwissen und Unkenntnis der Regeln und dessen, was es bedeutet, einem echten Kampfstier zu begegnen. Acht Hirten mit langen Stöcken aus Esche laufen abwechselnd hinter den Stieren her, um nach Möglichkeit zu vermeiden, dass die Herde zu sehr auseinandergerät. Um die völlig Ahnungslosen oder die Bekloppten auf den rechten Pfad der richtigen Gebräuche zu bringen, schlagen sie genauso gut nach den Stieren und den Leitochsen wie nach denen, die einer vernünftigen Praktik des encierro zuwiderhandeln. Sie sagen, er sei von seinem Erfolg und dem Massenandrang pervertiert worden.

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Das Fernsehen, das ihn seit den Sechzigerjahren überträgt, ist sicher sehr viel mehr als Hemingway verantwortlich für diese Abdrift, die einen archaischen Ritus ländlichen Ursprungs, früher entrada de toros, „Eintritt der Stiere“, genannt, in ein weltweites, von Millionen Fernsehzuschauern gesehenes Ereignis verwandelt hat. Das ist der Grund für einen gewissen vom Bildschirm bestimmten Narzissmus, der heutzutage an die 5000 Teilnehmer in den Straßen von Pamplona versammelt, mit größter Konzentration unter den zahlreichen Kameras des Fernsehens. Auf der anderen Seite hat sich die Art, vor den Stieren zu laufen, radikal geändert. Die Fotos vom Anfang des Jahrhunderts zeigen fast leere Straßen und kleine Gruppen, weit vorn vor den Stieren rennend. Heute lassen sich die besten corredores, einige Zentimeter von den Hörnern entfernt, ihre brandneuen Adidas für ein paar Sekunden vom Schnauben der Stiere entstauben. Aus Spaß, aus belebender Freude am Spiel, wie Txema Esparaza behauptet, einer der divinos von acht Uhr morgens, wie Pamplona sie nennt. Er führt aus, dass diese Art zu laufen „eine Form der spielerischen Aktivität bleibt, der natürlichen Trägheit entgegengesetzt“. Jokin Zuasti, ein anderer moderner Läufer, erzählt von der Intimität mit dem Stier und der unbeschreiblichen Emotion, die ihn überkommt, wenn er „seinen“ Stier nach ihm „ausholen“ fühlt, in einem kurzen, geschmeidigen und stimmigen Galopp. Das ist vielleicht der tiefere Sinn jener „Göttlichkeit“, mit der Pamplona die divinos ausstattet: Auf diesem Spiegel der Selbstbetrachtung von 825 Metern und im Staub von Sekunden muss sie ihr heller, beherrschter, sauberer, klarsichtiger, freudiger, vergänglicher, kurz „göttlicher“ Lauf herausreißen aus dem Massenansturm, grobschlächtig, hirnlos, gefährlich, roh, nichtig, unwissend, kindisch und profan. Den Erfolg des encierro von Pamplona jedoch nur auf eine mediale Eitelkeit zu gründen, ist eine zu flüchtige Analyse. Der encierro scheint heutzutage für manche in das Register der Extremsportarten zu fallen und hat somit Teil an einer gewissen Modernität. Letztlich bleibt seine Anziehungskraft jedoch so geheimnisvoll wie ansteckend. Der Doktor Domingo Melón, nach fünf Hornstößen des Stieres Farran von Félix Hernández, flüsterte auf seinem Krankenbett im Juli 1985: „Ich würde nicht ausschließen, eines Tages wieder einen encierro zu laufen.“

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Für die, die ihn nicht oder nur von Weitem kennen, ist der encierro nach wie vor ein Rätsel. Wie für diese Japaner, die ihm 1939 beiwohnten und ihn nachher als eine vom Bürgermeister organisierte Prozession darstellten, während derer junge Leute vor heiligen Tieren laufen. Letztlich gar keine so schlechte Interpretation. Zusammenstellung Libération vom 8. 6. 1987 – 22. 6. 1989 – 9. 6. 1995

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Das Wetter spielt eine wichtige Rolle beim Stierkampf. Die Idee der überdachten Arena hat sich nie richtig durchgesetzt. Es ist wie bei Hallen- und Rasenfußball. Die Verkäufer von Strohhüten und Regenhäuten auf den Rängen wissen Bescheid. Wie kann man in der Frühjahrssonne schwitzen! Wie kann man es bereuen, an den Eisheiligen keinen Schal mitgenommen zu haben ... „Agua!“, schreien die Zuschauer unter den Balkonen von Las Ventas, wenn die ersten Tropfen auf die bloßen Glatzen in den teuren Rängen fallen. Die Dinge werfen ihre Schatten auf den Sand, jede Arena ist auch eine Sonnenuhr, die die aficionados ablesen, ohne nachzudenken. Die Toreros ertragen stoisch Hitze, Staub, Wind, Regen, Kälte, in dafür völlig ungeeigneten Kostümen, die weder schützen noch lüften. Die einzigen, denen das Wetter egal zu sein scheint, sind die Stiere.

Die Sonne geht nie unter Die „Sonne“ in Pamplona ist paradox und entzieht sich jedem Verständnis. Der „Schatten“ beobachtet sie voller Ratlosigkeit, Herablassung, Zorn, Verachtung, Amüsement. Es kommt ganz drauf an. Das gemäß allen Vorhersagen nach konfuse Verhalten der Sonne hängt ab von der Tagesstunde, den Vorfällen während der Corrida, den Jahren, den Epochen, dem Zeitgeist, dem politischen Klima Pamplonas, dem Zufall und der Chronologie der Stiere. Beim vierten Stier, gegen 19 Uhr 45, senkt sich die Sonne in ihre Futternäpfe: Thunfisch in Tomatensoße, Eier-Pommes-Wurststückchen, Stierragout, Stockfisch al ajoarriero. Sie taucht ungefähr bei der zweiten pique des fünften Stieres wieder auf. Sie verdaut bis zum Degenstoß, sie rülpst. Sie gewinnt neue Lebensgeister während des letzten Stieres zu den Klängen von Paquito Chocolatero. Die Sonne ist ein wilder Haufen, ein „Stammesverband“, wie Iñraki Desormais in einem kleinen Gemeinschaftsessay schreibt, der diesem einzigartigen und verwirrenden Phänomen gewidmet ist: dem tendido sol der Arena von Pamplona während des San Fermín.

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Die Schattenseite gegenüber ist ein echtes Publikum. Der Schatten nimmt an einer Corrida teil, die Sonne an einem sozialen Akt, bei dem sie sich in erster Linie selbst zur Schau stellt. Grundlegender Unterschied, von José Antonio Iturri hervorgehoben: Der Schatten ist individualistisch, die Sonne kollektiv, hat etwas von einem Swingerclub, nur sind es nicht die Körper, die man austauscht, sondern Essen – man bombardiert sich damit. Im Gegensatz zu den unglücklichen Touristen, die auf dem Schwarzmarkt der Eintrittskarten zur Ader gelassen werden, haben die aficionados der Schattenseite ein Abonnement. Auf immer demselben Platz und oft seit ihrer Geburt. Im Schatten lebt und altert man während San Fermín neben einem anderen Ich, ebenfalls abonniert, das man im Laufe der Jahre nach Neuigkeiten von seiner jungen Frau, dann den Kindern und schließlich den Enkelkindern fragt. An dem Tag zwischen dem 7. und dem 14. Juli, an welchem das andere Ich, seit siebzig Jahren Freund einer Woche, nicht auftaucht, heißt das, er hat seinen Löffel in der casa de misericordia abgegeben und dass man ihm bald folgen wird in eine möglicherweise weniger dichotomische Welt. „Eine Generation geht, eine Generation kommt und die Sonne geht weiterhin auf.“ Salomo predigte es lange vor Hemingway. Genau, die Sonne. Sie steht, sie tanzt, sie singt, sie wirft sich die Ware von drei Supermärkten an die Köpfe und gehorcht nur ihren eigenen Schrullen. Das heißt, den Schrullen von 6000 Seelen, davon viele dick mit Mehl bestäubt. Auf der Sonnenseite sind die Plätze nummeriert, aber das ist allen völlig wurst. Man setzt sich hin, wo man Lust hat, man wandert während des Kampfs umher. Der Schatten ist ortsansässig, die Sonne nomadisch, wobei eine genaue Topologie, in Jahrzehnten von San-Fermínes bitter erkämpft, ihr Chaos absteckt. Die rund fünfzehn peñas, die Stierkampfvereine mit ihren Blaskapellen, haben alle ihr bestimmtes Lager, vor allem die alteingesessenen wie El Bullico, 1932 gegründet. Die klügeren ihrer Mitglieder nehmen auf den oberen Rängen Platz, wo sie dem Nahrungsmittelgewitter von Mehl, Sangria, Wein, Brotkrusten und Kichererbsen weniger stark ausgesetzt sind. Der Schatten ist ein Ort der Macht, der Institutionen, des Offiziellen, des „ewigen Pamplonas“. Die Sonne wäre demnach eine „anarchistische Republik“. Sie hat ihre Radikalen und ihre Gemäßigten. Geografisch betrachtet, ziehen die Gemäßigten die Ränder vor, weit entfernt von dem vulkanischen „Magma“

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des schrecklichen tendido 6. Auf der anderen Seite, bei den im Schatten bestens installierten Bürgern, ist die Sonne das Babel des Prekären, des Vergänglichen, der Respektlosigkeit, des Protests. Die Sonne, die auch einen Bürgermeister besitzt, allerdings in Frack und kurzen Hosen, „beschießt“ den Präsidenten der Corrida oder die Gemeinderäte mit Reflexen aus kleinen Spiegeln. Symbolisiert die Sonne möglicherweise die Jugend? In der Tat, aber nicht immer. Als El Cordobés mit etwas längeren Haaren als Emblem des Sittenwandels 1965 in Pamplona kämpfte, rief ihm die in diesem Fall erstaunlich prüde Sonne zu: „Lass dir die Haare schneiden, Manuel.“ Natürlich war die Sonne in den Sechzigern Castroanhänger und in den Siebzigern gegen Atomkraftwerke. Man hat sie lange Zeit johlen hören: „Wir werden das Opus Dei verbrennen“ oder auch „Im Baskenland, bim, bam, bum, machen wir die Revolution“. Die seit letztem Jahr verübten Morde der ETA an Ratsmitgliedern hat letzteren Slogan verschwinden lassen. Dieses Jahr gibt es nur wenige politische Anspielungen; im tendido 9 prangert allerdings ein Transparent den Finanzskandal um den Señor Aragon an, den Verantwortlichen der Stadt für Tiefbau: „Aragon, wir stehen hinter dir, bring dich um.“ Das Lied Indurain, Indurain, Indurain, an erster Stelle der Hitparade während der „Gelben-Trikot-Jahre“, hat 1989 deutlich an Punkten verloren, außer am 14., als der Radler in der Arena saß und José Tomás ihm einen Stier gewidmet hat. Die echten Ohrwürmer sind dagegen geblieben. Nummer eins: La chica yéyé, gefolgt von Mama Iné und Cielito Lindo. Demagogische Toreros nutzen gern die nicht immer ganz helle Spontaneität der Sonne aus. Am 8. hat Victor Puerto ihr seine zwei Ohren zu verdanken, nach einer oberflächlichen faena. Seine marktschreierische Art zu kämpfen war wie eine Allegorie der Sonnenseite. Jesulín de Ubrique, der gestern noch der Held ebenjener tendidos war, vor denen er an den Hörnern seiner Stiere leckte, hat dieses Jahr den anderen Weg eingeschlagen. Er ist von der Sonne in den Schatten übergewechselt, ohne dass dieser hemisphärische Wandel seinen Niedergang beschreibt, ganz im Gegenteil. Der Schatten ist nicht Obskurität. Am 10. vor dem mutigen und noblen Stier namens Manzanilla der Zucht Cebeda Gago zeichnete er im Schatten eine ausgeglichene, „templierte“, lichte faena, leider beim Todesstoß verpatzt. Am selben Tag vereinte Perín Liria beide Hälften der plaza durch zwei entschlossene, ehrliche und heroische Kämpfe

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mit dem tapferen Cariñoso („Der Zärtliche“), der es überhaupt nicht war, und mit dem gewalttätigen Estupido. Er schnitt jeweils ein Ohr. Die Sonne warf ihm während seiner letzten Ehrenrunde eine aufblasbare Puppe und einen riesigen Wal aus Plastik zu, denn die Sonne kommt mit allem möglichen Kram in die Arena. Am 7. sah man auf den Rängen einen nicht sehr einsamen Einhandsegler in einem großen Schlauchboot schlafen. Frage: Wenn die Sonne beim Stierkampf in der Tat anwesend ist, schaut sie auch hin? Laut José Antonio Iturri sieht sie, was ihr gefällt: den Mut eines Toreros, die Gefährlichkeit eines Stieres, so mächtig wie ihre Chöre. Auf der anderen Seite sanktioniert sie die Angst eines Toreros oder schwache Stiere. 1959 hat ihre Musik gestreikt und sie hätte beinahe die Arena abgebrannt, weil ein torito von nur 427 Kilo ins Rund gelassen wurde. Ihre stierkämpferischen Helden gleichen ihr. Sie sind übermäßig, wie die Wampe des wunderbaren banderilleros El Formidable, heute in Rente, dessen Namen die Sonne als Referenz brüllt, wenn ein anderer banderillero Mist baut. Die Sonne hat den Kopf in den Wolken, aber ein gutes Gedächtnis. Trotzdem kann man seit einigen Jahren ihre Rolle als verrückter „Kommentator“ der Corrida anzweifeln. Vor zehn Jahren hatte sie sogar mit vollem Mund ein Auge auf das Geschehen, selbst wenn sie oft die feineren, tieferen, diskreteren Sachen verpasste, die den Kampf zwischen einem Mann und einem Stier ausmachen. Seit Mitte der Achtzigerjahre hat sich das Klima auf der Sonnenseite verschlechtert, vielleicht, weil ihre finanziell erschwinglichen Plätze mehr und mehr von ignoranten Zuschauern besetzt werden, die glauben, ein Stierkampf sei eine riesige Kirmes. Esplá, der ehemalige Toreroheld von Pamplona, kommt seit 1987 nicht mehr. Damals war sein von einem verrückten mansoStier aus der Zucht Pedro Romero verletzter picador mit einem Hagel von Brotstücken beworfen worden, während man ihn zur Krankenstation trug, und Esplá selbst musste zwischen den Flaschen Slalom laufen. Die Sonne erlebt den Stierkampf gemäß der Dialektik Verbindung–Trennung. Dieses Jahr scheint die Trennung gewonnen zu haben. Am 11., während die bescheidenen Toreros Oscar Higares, Ignacio Ramos und Juan Carlos García es in einer zwangsläufig langweiligen Corrida mit den gefährlichen und feigen Mastodonten von Peñajara aufnahmen, war die Sonne desolat: ihre Dummheit, ihr Firlefanz, ihre Kindereien. Zum Spaß warfen Dummköpfe Kis-

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sen ins Rund, während die Toreros kämpften. Die Fanfaren haben die offizielle Musik niedergespielt, die mit einem sehr schönen Paso Doble die bewegenden banderillas poder a poder von Ignacio Ramos begleitete. Die Sonne ignorierte den Mut von Juan Carlos García, der sein Leben vor den 679 Kilo des mansos Farolero riskierte, der ihm die Kehle aufschlitzen wollte. García, möglicherweise mit den Nerven am Ende wegen des Radaus, warf sich bei einem selbstmörderischen Degenstoß zwischen die Hörner. Farolero erwischte ihn und verletzte ihn mit dem Horn leicht im Mund. Das stoppte augenblicklich den Hexensabbat der Sonnenseite. Zu spät. Sie hatte wegen ihres Narzissmus nichts gesehen. An jenem Tag war die Sonne blind, und ihr eigener Höllenlärm hatte sie taub und blöd gemacht. Libération vom 18. 7. 1998

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In Madrid, nahe der Plaza Royal, gibt es ein Restaurant, das mit einem merkwürdigen Schild im Fenster wirbt: „Hier hat Hemingway nie gegessen“. Kein moderner Schriftsteller wird so sehr mit dem Stierkampf identifiziert, keiner ist bei den aficionados so umstritten. Auf Ersteres hat Hemingway selbst großen Wert gelegt, Letzteres ist seine eigene Schuld. Der kurzatmige Duktus des Cholerikers, der überhebliche Ton des im Grunde schüchternen amerikanischen Haudegens und die von Alkohol und Verfolgungswahn geschürte Hysterie vertrugen sich nicht mit dem Stierkampf, den er mit Sicherheit liebte, aber der eine gewisse innere Ruhe voraussetzt, wenn man sich ernsthaft mit ihm beschäftigen will.

Der San Fermín des Papa Hemingway 1966 schuf das Bürgermeisteramt von Pamplona eine Auszeichnung: „El p­ añuelo de honor“, „das (rote) Ehrentuch“. Der Grund: diejenigen auszuzeichnen, die sich um die feria San Fermín verdient gemacht haben. Unter den ersten Laureaten befand sich Hemingway, dessen hundertster Geburtstag dieses Jahr gefeiert wird, mit seinen Roman The sun Also rises (auf deutsch Fiesta), weil dieser den Ruhm der Feria von San Fermín weit über den Rio Irati hinaus verbreitet hatte. Diese Entscheidung wurde nicht einstimmig gefällt. Der Beisitzer Andina stimmte dagegen. Er fand, Fiesta wäre eine Beleidigung Pamplonas; ihm missfiel „als Spanier“ noch mehr Wem die Stunde schlägt desselben Ernest, und er fand es ungehörig, einen Mann zu würdigen, der laut Gerücht Selbstmord verübt hat. Stimmt. Am 2. Juli 1961 hatte Hemingway mit einem Gewehrschuss sein Gehirn über eine Wand in Ketchum, Idaho, verteilt. Seinem letzten Willen entsprechend wurde Mister Way, wie ihn die Gören des Marshallplan-Spaniens riefen, am 7. Juli begraben, an dem Tag des Jahres, an dem ein Böller um sieben Uhr morgens (heute acht) die ersten Stiere des ersten encierros von Pamplona in die Straßen jagt.

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Hemingway kommt zum ersten Mal am 6. Juli 1923 in der Hauptstadt Navarras an, begleitet von seiner schwangeren Frau Hadley. Er ist 25 Jahre alt und Berichterstatter für den Toronto Star in Paris. Die Preise des berühmten Hotels La Perla, wo er es zuerst versucht, sind unerschwinglich. Er zieht es vor, sich bei Einwohnern einzumieten, calle Esclava Nr° 5. Später, reicher und berühmter und unter der Bedingung, das Zimmer 217 zu bekommen, schläft er schließlich im La Perla, ein Hotel der Toreros, in dem Orson Welles eines Tages die Zeche geprellt hat. Hemingway und seine Freunde kommen bis 1931 jährlich wieder, mit Ausnahme des Jahres 1929, wegen der Geburt des Sohnes, den ihm Pauline gebiert, die ehemals beste Freundin Hadleys. Er nimmt an der San Fermín 1953 teil, und noch einmal 1959 mit seiner Frau Mary und einem italienischen Chauffeur, der davon träumt, ein Bestattungsunternehmen zu leiten. In Fiesta, 1926 veröffentlicht, ahnt man hinter den Protagonisten einige seiner damaligen Freunde. Bill Gordon wäre demnach entweder der Journalist Donald Ogden oder der Romanschriftsteller John Don Passos, der 1925 mit Hemingway die San Fermín erlebte. Hinter Robert Cohn versteckt sich – sehr offensichtlich – der Boxer und Herausgeber Harold Loeb. Pedro Romero ist der Matador Cayetano Ordóñez „Niño de la Palma“. Lady Brett, die rührende und verrückte Liebende des Romans, wurde vielleicht von Lady Duff Twysden inspiriert, einer ausgeflippten blonden Alkoholikerin, die 1925 zu Ernestos Bande in Pamplona gehörte. Lady Duff fand einen sehr hemingwayschen (oder fitzgeraldischen) Tod, ganz in der crazy Logik der Person, für die sie wahrscheinlich das Vorbild abgegeben hat. Sie stirbt 1940 in Mexiko, verheiratet mit einem Amerikaner. Am Tag ihres Begräbnisses sind ihre Freunde dermaßen besoffen, dass sie den Totengräber anrempeln. Der Sarg stürzt um, öffnet sich, und heraus stürzt der Leichnam der Lady Brett aus Fiesta, für einen letzten Gruß an eine in jeder Hinsicht aus den Fugen geratene Welt. Eine Welt, die sich entschlossen hatte, das Schicksal der Personen zu besiegeln, die Hemingway am Ende von Fiesta in Paris in einem jazzy Schwebezustand im Stich ließ. In den komprimierten 60.000 Worten des Romans ist von San Fermín in fünf von neunzehn Kapiteln die Rede, reduziert auf ein paar allgemein bekannte Orte: das Hotel Montoya, vormals Hotel Quintana und später abgeris-

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sen, die Bar Txoko, das Kaffee Iruña, die Plaza del Castillo. Der encierro von Pamplona erfährt eine Minimalbehandlung, in einer trockenen Schreibweise gemäß jener stilistischen Kriterien, die damals bei den amerikanischen Journalisten in Mode waren. Der Erzähler, Jack Barnes, sieht zwei encierros zu. Der erste wird in zehn Zeilen abgehandelt, der zweite in wenig mehr als einer Seite. Diese Zurückhaltung ist erstaunlich angesichts der dramatischen Stärke der Sache und der Heldentaten, deren Hemingway sich vor allem in einem Brief von 1924 an Ezra Pound rühmt. Er erzählt, eine Kuh mit geschützten Hörnern hätte ihn dreimal erwischt (was nichts Besonderes ist); dass er ihr vier schöne veronicas und einen natural gegeben hätte (eine Absurdität); dass er leicht an der Brust verletzt worden ist (o.k., und was weiter?). Dass man ihm eine Arbeit als picador in der Truppe von El Algabeño angeboten hätte, nachdem er sechs Minuten auf den Hörnern eines toro bravo getanzt habe: eine groteske Münchhausengeschichte. Er gab auch damit an, das Leben des halbblinden John Don Passos gerettet zu haben, als dieser vor die Hufe eines Stieres zu stürzen drohte. Schwer zu glauben. Lucinda Poole, Spezialistin für Hemingway, hat keine Spur dieser Großtaten gefunden, weder in den Listen der Verwundeten der Krankenstation, noch in den Strafregistern der Bürgermeisterei, da Stiere während des encierro zu bekämpfen erstens unmöglich, zweitens idiotisch und drittens strafbar ist. Im zweiten encierro, beschrieben in Fiesta, ist Jack Barnes Augenzeuge vom Tod des Stierläufers Vicente Girones, vom Stier Bocanegra de Sánchez aufgespießt. Er beschreibt das Drama, den pittoresken Leichenzug und das Begräbnis am nächsten Tag. Der Sarg wird von Mitgliedern des Vereins der Tänzer und Trinker von Tafalla, wo der Verstorbene lebte, zwischen Trommlern und Pfeifern bis zum Bahnhof von Pamplona getragen, gefolgt von der Witwe und den zwei Kindern. 1924 hätte Hemingway in der Tat Zeuge des ersten tödlichen Unfalls der encierros von Pamplona sein können, die bis heute dreizehn Todesfälle verzeichnen. Der Stierläufer, der am Sonntag, den 13. Juli 1924 am Eingang der Arena von einem Stier der Zucht Santa Coloma aufgespießt wurde, hieß Esteban Domeño Laborra. Er war 22 Jahre alt, Junggeselle, Maurer und wohnte in Pamelona calle San Gregorio. Der Hornstoß, den Laborra abbekommen hat, war kurz und schmerzlos. Er ist verwundet, aber man sieht kein Blut auf seinem Hemd, er sagt nichts.

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Man glaubte zuerst, der Stier hätte ihn nur getreten. In der Krankenstation der Arena entdeckt man den Einstichkanal. Er wird auf einem Karren ins Krankenhaus gebracht, die Wunde wird sondiert. Das Horn ist zwanzig Zentimeter eingedrungen, von unten nach oben. Es hat den Magen durchquert und die Lunge verletzt. Laborra ist bei Bewusstsein, aber beklagt sich nicht. Ihm wird Koffein injiziert, sein Zustand scheint hoffnungslos, der Totenschein wird im Voraus ausgestellt, die Eltern benachrichtigt. Am Nachmittag geht es dem Verwundeten besser. Er erhält Besuch. Ein Fotograf schießt ein Bild, auf dem Laborra auf seinem Bett sitzt und mit großen Augen ins Objektiv schaut. Man würde schwören, es ginge ihm bestens. Montag um ein Uhr nachmittags stirbt er. Gehirnschlag. Er wird noch am Nachmittag in la Taconera begraben. Im Trauerzug keine Musik, sondern seine Familie, viele Pamploner, Kinder in Blusen. Hemingway hat aus Romangründen auf diesen eigenartigen Tod verzichtet. In Fiesta stirbt Girones auf der Stelle, und sein Mörder Bocanegra wird von Pedro Romero alias Niño de la Palma bekämpft. Ein Triumph. Der Matador bekommt ein Ohr, schenkt es Lady Brett, in die er sich verliebt hat. Tod, Erotik, und so weiter. Die stierkämpferische Ehrlichkeit verlangt allerdings nach Präzision: Am 13. Juli 1924 stand nicht Niño de la Palma auf dem Programm, sondern Chicuelo II. und Algabeño. In der kleinen, konfliktgeladenen Gesellschaft von Alkoholikern und aus dem Gleichgewicht geratenen Menschen um Jack Barnes bildet Pedro Romero einen Kontrast. Er bewegt sich mit der Grazie eines Helden von Stendhal und bewirkt eine Veränderung in Brett, die sich nach eigener Aussage „so richtig verlottert fühlt“. Man weiß heute, dass sich in der dem Roman zugrunde liegenden wahren Geschichte die Ehefrau Hemingways, Hadley, in Niño de la Palma verliebt hatte. Die beiden folgten dem Matador während der Saison des Sommers 1925. Es ist Hadley, der Niño de la Palma in Madrid einen Stier widmet und ein Ohr schenkt. Und weil das Leben die Literatur bis in die kleinsten Details nachahmt, kauft Niño de la Palma 1926, dem Jahr, in dem Fiesta erscheint, in Ronda das Haus des wirklichen Pedro Romero, eines Matadors des 18. Jahrhunderts. Im selben Jahr gleitet er ins Mittelmaß ab, von einer merkwürdigen Gleichgültigkeit befallen. Ebenfalls 1926 lassen sich Ernest und Hadley scheiden. Ab-

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schiedsgeschenk für Hadley: das Manuskript von Fiesta, das der Schriftsteller erst Niño de la Palma schenken wollte. In der Mitte des Romans essen die Protagonisten zusammen. Sie sind in Pamplona. San Fermin beginnt am nächsten Tag. Jack Barnes sagt: „Das erinnerte mich an manche Essen während des Krieges. Wein in Strömen, eine unterschwellige Spannung und das Gefühl, dass viele unvermeidbare Dinge geschehen würden.“„Fiesta“ ist nicht der Roman Pamplonas, sondern eher ein Roman der Vorahnungen. Libération vom 11. 7. 1998

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Die Liebe zur Welt der Stiere bedeutet nicht, seine eigene Kultur aufgeben zu müssen. Man kann weiterhin Weißwurst oder Knäckebrot essen, sich für Fußball oder Rasenhockey begeistern, gegen das Aussterben der Wale oder den Ausbau der Landebahn protestieren. Man ist nicht verpflichtet, Zigarren zu rauchen, sich Gel ins Haar zu schmieren oder die Blockflöte gegen ein Paar Kastagnetten einzutauschen. Man bekommt etwas hinzu. Der Stierkampf ist ein Mehrwert. Wobei allerdings das Risiko besteht, dass seine vitale Kraft manches andere in den Hintergrund drängt, wenn man sich einmal darauf eingelassen hat.

Engländer und aficionado, keine Häresie Es hat keinen Zweck, Lenny mit seinem Kräuselhaar und seinen Ohrringen in London zu suchen. Er ist irgendwo zwischen Valencia und Bilbao. Von März bis Ende August, von den Fallas in Valencia bis zur Semana Grande in Bilbao, klappert er die Ferias Spaniens ab. Lenny hat vergeblich nach einem winzigen Atom spanischen Blutes in seiner Abstammung gesucht, das seine Leidenschaft erklären könnte. In Abwesenheit einer genetischen Ursache, auf die er eine glaubwürdige Theorie gründen könnte, beruft er die Metempsychose und behauptet, dass er in einem anderen Leben Spanier gewesen sein muss. Lenny hat seine erste Corrida 1956 mit sechzehn Jahren in Barcelona gesehen. Seitdem weiht er seinen Kult Antonio Bienvenida, dem Torero der eleganten Meisterschaft, den eine Kuh 1975 beim Training tötete. Lennys Beharrlichkeit rechtfertigt gänzlich die Methode des wait and see. Er hat gewartet und gesehen. Er hat 23 Jahre gewartet, bis er einen guten Rafael de Paula in Malaga gesehen hat, und mit derselben Ausdauer ausgeharrt, um endlich zwei halbe überwältigende veronicas von Curro Romero zu erleben. Lenny behauptet, in hundert Jahren würde er sich noch daran erinnern, was der beste Weg ist, solche stoische Geduld zu rentabilisieren. Wenn er in London ist, streitet sich Lenny manchmal mit Josephine, der

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Frau von Maurice, die jedes Mal vor Wut und Bedauern weint, wenn sie in Sevilla Curro Romero regelmäßig schöne und tapfere Stiere abstechen sieht. Josephine und Maurice, trotz ihrer Vornamen Engländer, lieben die Stiere. Deshalb reisen sie jedes Jahr nach Pamplona, wo sie seit 1964 zwei feste Abonnements für die Arena haben. Pures Gold. Dass er Paula und Romero begnadet gesehen hat, wenn auch nur für Sekunden, beschert Lenny ein zusätzliches Prestige bei seinen Kumpels der Stierkampfvereinigung Londons, die ihn bereits für die heroische und torerohafte Organisation seines Berufslebens hoch achten. Lenny, der als Auslieferer arbeitet, steht sechs Monate im Stau, um sich die anderen sechs Monate den Besuch der spanischen Stierkampfsaison zu ermöglichen. Dass er Junggeselle geblieben ist, geht wahrscheinlich auf das Konto der Stiere. Das Beispiel von Ron bestärkt ihn in seiner Entscheidung. Ron ist Wirtschaftsprüfer. Er hat den Stierkampf anlässlich eines Aufenthalts in Gibraltar entdeckt, wo er Anfang der Sechzigerjahre arbeitete. Er ging zu den Stierkämpfen in La Linea de la Conception und kann dreißig Jahre danach noch die Corrida von 1962 mit den Stieren von Pablo Romero und den Toreos Mondeno, Puerta und Camino in allen Details erzählen. 1966 hat Ron seinen letzten Stierkampf gesehen, mit dem Jungmatador„El Satélite“, dessen Karriere wie ein Meteor verglüht ist. Danach kehrte Ron nach England zurück und hat seitdem nie wieder einen Fuß in eine Arena gesetzt. Wegen seiner Heirat. Seine Frau droht mit Scheidung, sobald er von Reisen nach Spanien oder vom Stierkampf spricht. Also muss sein Großvater, noch immer in Gibraltar, ihm jede Woche frische Neuigkeiten aus der Welt der Stiere schicken, nebst einigen Videos. Unter der Schirmherrschaft des Züchters Miura und des Toreros zu Pferd Angel Peralta zählt der Stierkampfverein von London, der jeden zweiten Donnerstag im Monat Ron, Lenny, Maurice, Josephine und einen Haufen andere Liebhaber zusammenbringt, eine ungewöhnliche hohe Zahl von Junggesellen und Geschiedenen in seinen Rängen. Der Grund? Die Stiere. Ein empfindliches Thema. Ivan und Mary haben dieses Problem nicht. Sie sind beide aficionados und streiten sich nur für den guten Zweck: die Verteidigung ihres Lieblingstoreros. Ivan, Präsident des Clubs und Neurochirurg, hält es mit Diego Puerta, während Mary eine Schwäche für Ruiz Miguel hat. Vor zwei Monaten ist Ivan ins tiefste Andalusien gereist, um Puerta bei seiner letzten Galavorfüh-

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rung zu erleben. Mark, ein Londoner Geschäftsmann, durch Blutsverwandtschaft in Form einer Großmutter aus Nîmes mit den Stieren verlinkt, spielt mit offenen Karten. Vor drei Jahren hat er seine junge und damals schwangere Frau Fiona nach Nîmes mitgenommen, wo Mitglieder des Clubs außerdem eine englische Bodega eröffneten. Fiona hatte noch nie eine Corrida gesehen. Sie kam, sah, war überzeugt, kriegte kurz darauf ihr Baby. Es war ein Junge. Die beiden haben ihn Jocelyn genannt, wegen Joselito. Später bekamen sie ein Mädchen. Es wurde Celine getauft, wegen Jesulin. Sogar die Katzen des Hauses sind dieser andalusischen Lautmalerei zum Opfer gefallen. Eine heißt Manzi, Verkleinerung von manzanilla, und die andere Monti, because amontillado, ebenfalls ein andalusischer Wein. Magareh und Andrew haben verhandelt. Andrews Wunschreise zur Feria von Sevilla letztes Jahr drohte das Budget für die Verlobung ihrer Tochter zu sprengen. Krisengespräch. Andrew hat Sevilla aufgegeben, sich aber Jerez erobert, dessen Feria kürzer und somit erschwinglicher ist. Die Andachtsübungen sind vielfältig. Chris, in Nottingham ansässiges Mitglied des Vereins, trägt in seiner Brieftasche immer die vergilbte Eintrittskarte einer Corrida mit sich herum. Noël Chandler braucht keine Reliquie, um seine aficion zu beweisen. Sein Körper, bestickt mit den Narben der Hornwunden seiner encierros von Pamelona, genügt. Der Stierkampfverein von London, der die Zeitschrift La Divisa herausgibt und einen kleinen Bruder in Manchester hat, zählt mehr als 150 Mitglieder verschiedenster sozialer Herkunft, ganz im Gegensatz zur englischen Philosophie des Clubs mit ihrem selektiven Geist. Der Stierkampf hat die Riegel der Klassenzugehörigkeit gesprengt. Lenny, von eher anarchistischem Aussehen und Lebenswandel, verkehrt dort ohne Probleme mit einem großen Bankier der City wie Michael, ein echter Pico della Mirandola, Version steifer Tweed und abgespreizter Finger. Michael ist eine Enzyklopädie der Züchtung des Kampfstieres. Er jongliert mit Kasten, genetischen Abstammungen, Rassen, Kreuzungen, Herkunft. Er klettert munter in grauenhaft buschige Stammbäume, hat Fell, Gestalt und Kämpfe von Hunderten von toros bravo im Gedächtnis, und kann ohne Zögern das genaue Gewicht des Stieres Garzon, 1981 in Sevilla von Curro Romero bekämpft, nennen: 643 Kilo. Michael, absoluter Fan von Antoñete und seit 1960 vom Virus befallen, sieht jedes Jahr rund fünf-

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zig Corridas. In wichtigen Arenen, aber auch in weniger besuchten wie Lo­ groño, Santander, Vitoria, Calatayud. Die Londoner aficionados unterhalten sich auf Spanisch, sind echte Kenner und leben halb im Untergrund. Seit sechs, sieben Jahren, seit dem Aufkommen der „Grünen“, ist das Bekenntnis zum Stierkampf ein provokativer Akt geworden. Der Polizist Francis ist überzeugt, dass ihm seine Beförderung verweigert wird, weil jemand in der höheren Verwaltung von seiner Leidenschaft erfahren hat. Vor einigen Jahren wurde eine Vereinssitzung von den Tierschützern unterbrochen, bewaffnet mit gewaltigen Mehlbomben. Sogar das spanische Konsulat hat seine muleta eingemottet. Es schickt keinen Vertreter mehr zu den Versammlungen des Clubs. Es herrscht Krieg. Aber der Widerstand organisiert sich, und unsere Londoner umgeben sich mit Schutzwällen, wie die ersten Christen in ihren Katakomben, allerdings mit weniger Bekehrungseifer. Keine Werbung. Die Adresse des Vereinssitzes wird nur mit Vorsicht ausgegeben, während man auf bessere Zeiten wartet. Auf das unverhoffte Großwerden eines englischen Toreros, zum Beispiel. Es könnte Frank Evans sein, Torerolehrling aus Manchester und Schützling von El Soro ... Dabei ist die Tatsache, gleichzeitig Engländer und aficionado zu sein, keine Häresie und die Leidenschaft für den Stierkampf verlangt mitnichten die Aufgabe nationaler Bräuche und Institutionen. Ivan hat dies am 24. November bewiesen, anlässlich des 31. Jahrestages des Clubs, zu dem der junge Torero Chamaco gekommen war. Ivan hat einen wunderbaren Vergleich zwischen Kricket und Stierkampf angestellt, ohne auf Widerspruch zu stoßen. Er belegte bündig, dass das Kricketspiel ebenso subtil und kompliziert ist wie der Stierkampf, dass es einen Manzanares des Krickets geben könnte und dass manche Corridas manchen Partien ähneln: schlecht, aber nicht uninteressant. Daraufhin beschwor er mit einem Glas Sherry (letztlich nichts anderes als ein Fino) in der Hand die Erinnerung an George Eric, den letztes Jahr verstorbenen Gründer des Vereins. Ein Original, Bühnenbildner, ein Freund von Antonio Bienvenida, der eines Tages die Idee hatte, einen Stierkampf im Olympia von London zu organisieren. Die Toreros waren einverstanden. Nicht so die Veterinärbehörden. Sie verlangten eine sechsmonatige Quarantäne für die Stiere. Um zwei Uhr morgens, vor einer Kneipe, erzählen die aufgekratzten Mitglieder des Stierkampfvereines von London letzte Geschichten von George.

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Nach dem Ende des Festbanketts zum 30. Jahrestages im Tapas-Restaurant Don Pepe, auf dem Bürgersteig der Frampton Street, hat George mit seinem Trenchcoat eine wunderbare veronica vorgeführt, bevor er ins Taxi stieg. George Eric, berühmt im spanischen Stierkampfmilieu, ist eingeäschert worden. Seinem Wusch entsprechend, wurde seine Asche in Granada, Andalusien, verstreut. Olé your mother! Libération vom 29. 11. 1990

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Der Stierkampf scheint eine zutiefst spanische Angelegenheit, auch wenn mancher Südfranzose, Mexikaner oder Portugiese dies nicht so einfach zugeben würde. Und im Grunde haben die Ausländer recht: Der Stierkampf, die Liebe zum Stier gehört niemandem oder besser allen, die sich darauf einlassen. Es gibt aficionados aus Amerika, aus Schweden, aus Japan, aus Düsseldorf, Manchester und Adelaide. Wegen der großen Entfernungen, der Widerstände im eigenen Haus, der zu erbringenden Opfer, die ihre Leidenschaft ihnen abverlangt, träumen sie oft mehr und bunter vom Stier als ein Madrilene, der nach der Arbeit mit der U-Bahn in seine Arena fahren kann.

Die sonderbare Leidenschaft der Eva Florencia Man könnte sagen, dass das Leben von Eva Bianchini 1992 aufgehört hat, an dem Tag, als das Leben von Eva Florencia begann; Eva Florencia, die letzten Dienstag zum ersten Mal in Frankreich, in Hagetmau, vor dem Stier stand. Es hörte mit einem Schlag auf, beim Öffnen einer Modezeitschrift. Darin war ein Foto von einer Corrida. Es zeigte den Matador Manzanares in Nîmes während eines pase de pecho. Eva Bianchini hat keine Ahnung, was ein pase de pecho ist oder ein Matador oder was sie da überhaupt anschaut, in ihrem Elternhaus in Florenz, Italien. Eva Bianchini, 14 Jahre alt, hat die Zeitschrift geöffnet, Eva Florencia schließt sie. Mit einem Knistern von Papier, und trotz des Ekels angesichts des Blutes auf dem Stierrücken, ist sie in das Foto gestürzt wie Alice in den Bau des weißen Kaninchens. Das Wunderland ist für Eva ab jetzt Spanien, die Stiere, die Stierkämpfer. Sie verschlingt Fiesta von Hemingway, kauft sich ein Taschenwörterbuch Italienisch–Spanisch, registriert alles, was irgendwie mit Spanien zu tun hat und entziffert die Stierkampfberichte in ABC und El País. Ihr Vater, ein Handelsvertreter, und ihre Mutter, eine Sprachlehrerin, sind beide Tierfreunde und über die sonderbare Leidenschaft ihrer Tochter nicht gerade glücklich. 1994 lassen sich die beiden zu einem Spanienurlaub breitschlagen. Eva entdeckt Sevilla, in das sie schon „verliebt“ war, ohne es je gese-

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hen zu haben: „Ich wollte wissen, ob das, wovon ich träumte, wirklich existierte. Dort habe ich Leute gesehen, die daran glaubten, woran ich glaubte: die Stiere.“ Auf dem Rückweg sieht sie in Arles ihren ersten Stierkampf. Sie bastelt sich eine muleta, ahmt Ortega Cano nach. Eines Tages reißt sie von zu Hause aus. Eva ist minderjährig. Sie verschwindet mit ihrem abgelaufenen Pass. Sie nimmt den Zug, den Bus, trampt und schlüpft unter der Nase der Guardia Civil am Grenzposten von Port Bou durch. Zwei Wochen später wird sie von Interpol aufgespürt. Ihr Vater und der italienische Konsul holen sie in Sevilla ab. Rückkehr nach Italien. Eva bricht ihre Schule ab, arbeitet als Kellnerin, wartet auf ihre Volljährigkeit und zieht dann endlich nach Sevilla, in das Viertel der Jungfrau der Macarena, die sie besonders verehrt. Sie schreibt sich in der Stierkampfschule ein, ohne je ein Rind von Nahem gesehen zu haben. Sie bekniet den Züchter Buendía, sie zu einer tienta einzuladen: „Einverstanden, morgen um vier.“ Sie fährt mit dem Fahrrad hin, die muleta unterm Arm. Die erste Kuh, der sie das Tuch hinhält, rennt sie über den Haufen, achtmal hintereinander. Der Matador José Luis Parada, der der tienta beiwohnt, bemerkt ihre Hartnäckigkeit und gibt ihr Ratschläge – bis heute. Ein anderes Mal wird sie von einer Kuh umgeworfen und durchgewalkt. Ein Teilnehmer der tienta nimmt sie in die Arme, hebt sie hoch. Sie ist dort oben geblieben. Es sind die Arme von Antonio Vázquez, genannt El Vinagre (Der Essig). Seitdem leben sie zusammen in Higuera de la Sierra. Der „Essig“ ist ein ehemaliger novillero, der nach seiner alternativa das Handtuch geworfen hat. Er ist jetzt ihr Pygmalion. Eva wird schließlich für novilladas ohne picador zugelassen, wie in El Alamillo, wo sie einen Schwanz als Trophäe bekommt. Sie kämpft in der Nähe von Sevilla und hat Achtungserfolge in Carmona, in Los Palacios und in der Gegend von Aracena, im Andalusien der Korkeichen, wie in Santa Ollala del Cala, wo die Stiere sich hinter Büschen von wildem Lorbeer verstecken. Oder wie in Santa Ana la Real, das eine einzige novillada im Jahr organisiert, mit einem einzigen Stier, für dessen Kauf die Einwohner spenden. Seit zwei Jahren wird er jetzt für sie reserviert. Letztes Jahr wäre der Kampf beinahe ins Wasser gefallen: Die Tür des Stalles war verklemmt. Man musste die Guardia Civil rufen, um sie aufzubrechen. 1999, in ihrem Dorf Higuera, während zweier

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novilladas (eine davon nur mit weiblichen Toreros), hat Eva sechs Ohren und zwei Schwänze bekommen und am 21. Juli 2001 ist sie in der Arena von Sevilla aufgetreten, in einer novillada zur Förderung des Nachwuchses. Das Publikum hat ein Ohr für sie verlangt, das der Präsident verweigert hat. Sie trug zur Parade eine capa, auf die sie eigenhändig das Wappen von Florenz gestickt hatte. Bei dieser Gelegenheit machte die Geschichte der Eva Florencia, der ersten ausländischen Stierkämpferin in der Maestranza, viel Wirbel in der italienischen Presse sowie in den Medien in Andalusien. Diese Berühmtheit hat einige Vorteile: Die Fahrschule von Higuera, damit Eigenwerbung machend, hat ihr den Preis der Fahrstunden erlassen. Manche Züchter wie Guardiola, Gabriel Rojas, Manolo González oder Manuel Prado laden sie öfter zu ihren tientas ein und Manuel Diaz, El Cordobés, hat ihr das Kostüm in Rosa und Gold geschenkt, mit dem sie letzten Dienstag in Hagetmau auftrat. Auf der anderen Seite hat ihr Rivera-Ordóñez die Teilnahme an einem Festival in Aracena mit ihm zusammen verweigert. Eva verdient kein Geld mit den Stieren. Zusammen mit dem „ Essig“, der sich als Maurer durchschlägt, sammelt sie Kork in der Sierra von Aracena und arbeitet an den Wochenenden als Kellnerin. Eva Bianchini hätte in Florenz ein bequemes Leben gehabt. Eva Florencia lebt nach vierzig novilladas mit dem düsteren Vinagre in einem sehr bescheidenen Haus in Higuera und lernt auf die harte Art. Ohne Reue. Der Stierkampf ist ihr Leben: „Wenn ich vor dem Stier stehe, fühle ich mich lebendig und voller widersprüchlicher Emotionen. Ich fühle die Angst und gleichzeitig den Mut. Nähme man mir die Stiere, verschwände eine Hälfte von mir.“ In Hagetmau hat Eva Florencia die Kenner mit ihrer Klugheit angesichts der Stiere erstaunt, mit ihrem kühlen Mut und ihrem technischen Geschick, vor den durchaus ernst zu nehmenden novillos von Gallon. Sie hat ein Ohr geschnitten, die drei anderen novilleros übertrumpft und sich das Recht auf einen zweiten Stier erkämpft. Am 30. August, wieder in Andalusien, in Zufre, wird sie in die nächste Kategorie aufsteigen, die der novilladas mit picador. Sie will wissen, bis wohin sie gehen kann. Auf den Plakaten, die für sie werben, hat Gregorio Conejo, ihr Manager, einen Slogan drucken lassen, der ihr wie ein Handschuh passt: „Nada es impossible“: Nichts ist unmöglich ... Libération vom 9. 8. 2002

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Mit etwas Glück hätte Eva Florencia nicht ins spanische Exil ziehen müssen, sondern in Italien eine Karriere als Stierkämpferin machen können. Der Stierkampf ist kein Produkt der spanischen Volksseele, sondern der historischen Umstände. Im ganzen Mittelmeerraum, von den kretischen Stierfesten bis zum Kult des Midras, vom Minotaurus bis zu Gilgamesch, von den Taurarii des antiken Roms bis zu den Jagden der maurischen Reiter stand der Stier an zentraler Stelle der Auseinandersetzung zwischen Mensch und Tier. Der heiligen Wildheit des Stieres antwortete der wilde Überschwang der Menschen. Nur Spanien ist es gelungen, diese Beziehung zu kanalisieren, zu sublimieren und in die Moderne zu retten. Aber es hätte sein können, dass im Kolosseum die italienische Entsprechung des Olé – Ola, Olissimo? – aufbraust und Eva Florencia im Triumphzug auf Schultern bis zum Forum getragen wird.

Italien hat seine Liebe zum Stier vergessen Bei der Lektüre der Studie von Giorgio Ponticelli bahnen sich eine Feststellung und ein Bedauern den Weg: Italien hatte alles, um ein Land der aficion wie Spanien zu werden. Die Ferias von Venedig, Rom oder Neapel hätten mit denen von Sevilla, Madrid oder Pamplona konkurrieren können. Zu einer Zeit, als der Stierkampf vorerst nur ein grausamer und festlicher Ersatz für die Jagd war, war Italien von Norden bis Süden vom Stier eingenommen. Während seines Aufenthalts in Rom hat Joachim du Bellay davon in Les Regrets, 1558 veröffentlicht, ein Loblied gesungen: „Seht den stolzen Stier umgeben von Waffen / und seht die italienische Geschicklichkeit im Kampf.“ In einem in Venedig herausgegebenen Werk von 1844 schrieb Michele Battaglia: „Von allen unseren Aufführungen und volkstümlichen Belustigungen ist der Stierkampf ohne Zweifel die meistbesuchte und beliebteste.“ Am „Fetten Donnerstag“ vor der Fastenzeit ließ man in Venedig einen Stier inmitten der Menge los, auf dem Markusplatz. Er wurde von bewaffneten Zuschauern und Doggen angegriffen, bevor der Chef der Schmiedegilde ihn mit

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dem Hieb eines Breitschwertes vor den schweigenden Gaffern enthauptete. Wenn er seinen Hieb verfehlte, wurde die Gilde für ein Jahr zum Gespött der Leute. Der Verfall der Serenissime und eine misslungene Corrida „nach spanischem Brauch“ 1783 lassen „die Begeisterung für die Stierkämpfe, einst so groß in manchen Stadtvierteln“ abflauen, wie der Abt Jean-Baptiste Roberti schreibt. 1802 brechen die Ränge einer Arena zusammen, was mehrere Opfer fordert und dem Stierkampf in Venedig den Gnadenstoß versetzt. Das Stier-Spektakel findet eine Zeit lang Zuflucht auf der Insel Murano. Im Süden lässt das Königtum Neapel, vom 15. bis zum 18. Jahrhundert der spanischen Krone zugehörig, Feste mit Stieren stattfinden. Der Herzog von Nocera, Großneffe des Papstes, bekämpft dort im Januar 1658 einen Stier zu Pferd, anlässlich der Geburt des spanischen Infanten. Während der Corrida wird ein Pferd aufgeschlitzt. Carafa macht zu Fuß weiter, weicht dem Stier mit Finten seines Körpers aus, zieht sein Schwert und „tötet ihn, als er wieder angreift, mit einem präzisen Hieb auf den Kopf “. Er tötet ihn sozusagen mit einer estocada a recibir, ein Jahrhundert bevor Francisco Romero in der andalusischen Stadt Ronda laut manchen Historikern diese Figur zum ersten Mal ausführt. Dieselbe italienische Frühreife gilt für den offensiven und defensiven Gebrauch einer muleta, die allgemein dem sevillanischen Torero Costillares gegen Ende des 18. Jahrhunderts zugeschrieben wird. Der Bericht eines „Stierfestes“ in Siena 1546 widerspricht dieser offiziellen spanischen Version: „Und da kommt auch schon der Stier hervor und greift entschlossen die Tischgäste an, aber da er von Jägern und Hunden verfolgt wird, verweilt er nicht. Er prescht wie verrückt auf den Platz und findet auf seinem Weg einen Schwertmann, der mit einem roten Tuch wedelt, um ihn wild zu machen und ihn zu täuschen. Der zornige Stier geht mit gesenktem Haupt auf ihn los, nimmt ihn auf die Hörner und wirft ihn weit durch die Luft.“ Giorgio Ponticelli bestätigt: Die Stierfeste von Siena sind der Ursprung des berühmten palio. Am 15. August 1499 organisieren die unabhängigen Stadtviertel, die contraden des Adlers, der Raupe, des Käuzchens und des Turms, bereits cacciates mit Stierrennen, lange bevor sie Pferde laufen lassen. Die cacciates von Siena bestehen darin, Hirsche, Rehe, Wildschweine, Füchse, Stachelschweine und Dachse auf einem umzäunten Platz abzuschlachten, vor Ort ein Gelage zu veranstalten und dann Stiere darin loszulassen. Warum hat sich dieser Stierkampf nicht humanisiert und in die organisierte Cor-

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rida verwandelt, wie ab dem 18. Jahrhundert in Spanien? Weil der spanische Zentralstaat, im Gegensatz zu einem politisch zerfallenen Italien, die Begeisterung des Volks für das Stierfest „beschwichtigen und kontrollieren“ konnte. Spätere und halbherzige Versuche, den Stierkampf in Italien wieder einzuführen, werden zu einer Posse. Die Corrida in Rom im Frühling 1890 mit den Torerolehrlingen Perico Campos und José Hernández „Americano“ enttäuscht das Publikum. Am 10. Mai 1892 in Palermo bekämpfen Juan Borrel „El Murullu“ und José Cazanave „El Morenito“ vor 6000 Zuschauern Stiere aus Navarra, deren Hornspitzen mit Kautschuk geschützt sind und die nicht getötet werden dürfen. Die Frustration des Publikums, die Stiere nicht sterben zu sehen, begleitet ebenfalls die römische Corrida von 6. Mai 1923, mit Parejito und Corchaíto. Mussolini wohnte ihr bei. Ein Kritiker des Corriere della Sera schrieb, „man hatte den Eindruck, bei einer Komödie im Theater zu sitzen“. Ein zweiter Versuch mit Tod des Stieres wird gleich im Nachzug veranstaltet. Corchaito wird auf die Hörner genommen und Parejito lässt sich von Mussolini reinlegen, dem er seine goldbestickte Paradeschärpe und eine mit Gold eingelegte Damaszenerpistole überreicht hatte. Im Gegenzug wird er in den Chigi-Palast gebeten, wo ihm ein kleiner Angestellter ein Zigarettenetui aushändigt. Eine andere Tournee findet 1924 statt, mit den Toreros Pedrucho und Rodalito und Corridas in Rom und Cagliari. Rodalito profitiert von der Gelegenheit, um sich in die Gräfin von Volpiani zu verlieben, die er schließlich heiratet. Später exportiert er die Corrida, indem er Vorstellungen in Ungarn, Marokko und Panama gibt, und arbeitet bis zu seiner Rente in der spanischen Botschaft im Vatikan. Luis Miguel Dominguín, der zuerst anlässlich des Filmfestivals in Venedig 1956 kämpfen wollte, versucht vergeblich, 1972 eine Corrida in Verona zu veranstalten. Ein neuer Versuch 1983 in Neapel bleibt in der Schublade, genau wie ein letzter in Venedig 1985. Der Tierschutzverein hatte verlangt, dass nicht ein Tropfen Blut fließen dürfe. Das Blut der Tierfreunde kocht seit 1994. Ein Dekret von 13. Juli hat in der Tat das gesetzliche Verbot des Stierkampfes vom 6. Mai 1940 außer Kraft gesetzt. Seitdem können theoretisch in ganz Italien wieder ungestraft Corridas veranstaltet werden. Libération vom 14. 6. 1997

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In den Neunzigerjahren planten die Stadtväter Marseilles, die sehr nordafrikanische Marktgasse Rue des Capucins, wo Gemüse, Fleisch, Fisch, Gewürze, Pizza, Geschirr und hier und dort auch mal ein nicht ganz astreines Mobiltelefon verkauft werden, zu entkernen und durch einen „typisch“ provenzalischen Markt zu ersetzen: Sonnenbrillen, Lavendelsäckchen, Krippenfiguren, Zikaden aus glasiertem Ton, Schneekugeln mit der goldenen Wallfahrtskirche und Originalpastis in Schmuckflaschen. Die Verantwortlichen ließen verlauten, es wäre eine Frage der Identität und keinesfalls ein Schachzug, um die Araber aus der Innenstadt zu vertreiben. Die Anwohner haben ihre Gasse aus Protest bis zum zweiten Stock hoch zugemauert, bis die Öffentlichkeit aufmerksam wurde und das wirre Identitätsprojekt vom Tisch fegte.

Stiere und Toreros sprechen durchaus Katalanisch In den Sechziger- und Siebzigerjahren hielt Mario Cabré die capa schön niedrig vor die Stiere und schlief mit Ava Gardner und auch mit Yvonne de Carlo. Er war in Barcelona geboren, und aus seiner capa „halb Zucker, halb Wasser“, wie er in einem Gedicht für Ava schrieb, flossen veronicas, die zu den sensibelsten und langsamsten seiner Epoche gehörten. Er stieg auch auf die Theaterbühne und spielte in Filmen mit, zum Beispiel 1951 in Pandora von Albert Lewin. Später ist er Moderator der Fernsehshow Königin für einen Tag so wie Entertainer und Mannequin. Er pflegte zu sagen: „Ich bin Torero und Katalane, das bedeutet, doppelt Torero zu sein.“ Er war Katalane und Katalanist: Cabré hat mehr als zwanzig Bühnenstücke von katalonischen Autoren finanziert und aufgeführt und seine Gedichte auf Katalanisch füllen rund fünfzehn Bände. Er stand mit Manolete, Lalanda, Domingo Ortega in der Arena und erlebte seinen größten Triumph am 25. Juli 1944 in der Monumental von Barcelona, zusammen mit dem Mexikaner Arruza. Die beiden triumphierten und Cabré wurde von seinen Anhängern auf Schultern von der Gran Via bis auf die Ramblas getragen. Er starb am 30. Juni 1990. Für die

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Beerdigung dekorierten seine Freunde den Sarg mit seiner rosa und gelben capa. Auch wenn Mario Cabré kein Star der Arena geworden ist, gehört er trotzdem zu den zahlreichen katalanischen Toreros, die ihren Namen in der Geschichte hinterlassen haben, genau wie Enrique Patón, Eugenio Ventoldra, Ramón Arasa, Manolo Martín, José María Clavel, Paco Corpas, der merkwürdigerweise 1948 in Saint-Chamas in Südfrankreich seine Karriere begann, oder auch Javier Batalla, Sohn eines bekannten Urologen Barcelonas. Der erste Torero Kataloniens ist Aixelá Peroy, 1824 geboren, und der bislang letzte der junge und vielversprechende Serafín Marín. Der bekannteste ist Joaquín Bernadó, Sohn eines Schreiners des Paralelo-Viertels von Barcelona, der in den Sechziger- und Siebzigerjahren eine große Karriere hätte machen können, wenn er beim Töten der Stiere nicht so ungeschickt gewesen wäre. Am 5. September 1988 erhielt Bernadó, der 243-mal in Barcelona gekämpft hatte, vom damaligen Bürgermeister und heutigen Präsidenten der Regionalregierung, Pasqual Maragall, eine Goldmedaille für künstlerische Verdienste. Die Verleihung wurde initiiert von Maria Aurèlia Capmany, Schriftstellerin und Kulturbeauftragte. In seiner Ansprache pries Maragall den Torero, heute Professor an der Stierkampfschule von Madrid, mit folgenden Worten: „Durch Sie sind wir bestens vertreten, weil Sie die Tradition der Kultur der Stiere in Barcelona repräsentieren.“ Eine der am tiefsten verwurzelten von ganz Spanien, egal was die Katalanisten, die kürzlich per Abstimmung im Stadtrat Barcelona zur stierfreien Stadt erklärt haben, davon halten. Die These der militanten Katalanen, der Stierkampf sei der Region von der spanischen Zentralregierung aufgezwungen worden und sei ein Überbleibsel der Einwanderungswellen aus Andalusien, der Extremadura oder Murcien, wird von den Archiven widerlegt. Die corre bous, volkstümliche Feste mit dem Stier im Mittelpunkt, werden in Katalonien seit dem 15. Jahrhundert erwähnt, unter anderem in dem Ritterroman Tirant lo blanc von Joanot Martorell. Auf dem Platz Del Born in Barcelona wurde 1554 ein Kampf mit Stieren organisiert und seit mehr als fünfhundert Jahren veranstaltet die Stadt Carbonne jeden zweiten Septembersonntag Stierkämpfe. Über ein Verbot, 1989 von der Regionalregierung erlassen, setzten sich die Einwohner hinweg, feierten den corre bou und veranstalteten ihre novillada, nach der ihr Bürgermeister Ger-

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basi Arnaste auf Schultern getragen wurde. Gerbasi Arnaste proklamiert: „Der corre bou ist ein Volksfest, das demnach nicht den Regierenden gehört, sondern dem Volk. Es wird stattfinden, solange das Volk es will.“ Auch wenn sich bei einer Meinungsumfrage von 1989 bei 800 befragten Personen eine Mehrheit von 53 % zugunsten der Abschaffung der Stierkämpfe aussprach, bleibt Katalonien ein Gebiet der Stiere, mit eigenen Toreros, Arenen und sogar Züchtungen. 1988 wurde in der Monumental von Barcelona eine hundertprozentig katalanische Corrida organisiert, mit Manolo Porcel, Ángel Leria und David Valenzuela, drei bescheidenen, aber eingeborenen Matadoren, und mit den einheimischen Stieren von Rogelio Martí Albalat. Auf der anderen Seite der Grenze integrieren die Katalanen von Céret ihre Identität in den Stierkampf, wenn sie beim Tod des fünften Stieres die Sardane La Santa Espina spielen lassen. Die Monumental, die Arena von Barcelona, hatte am Anfang einen schlechten Ruf. Joselito sagte: „Wenn es schlimm ist, keine Ohren zu schneiden, ist es schlimmer, in Barcelona welche zu bekommen.“ Das ändert sich 1927, als die Stadt mit ihren drei Arenen unter dem Einfluss von Pedro Balaña zu einer der wichtigsten Hochburgen der Corrida in Spanien wird. Bis in die Sechzigerjahre hinein ist Barcelona aktiver als Madrid, was die Zahl der Stierkämpfe betrifft, und zahlreiche Toreros, von Domingo Ortega bis Paquirri, dazwischen Leute wie Dominguín, Ordóñez, Aparicio, Manolo González (der dort 24-mal in einer Saison aufgetreten ist), César Giron, Puerta oder El Viti, haben ihre Karriere nach einem Triumph in der Monumental begonnen. Mit Cagancho, Manolete, Arruza, Chamaco und neuerdings José Tomás hat Barcelona den Stierkampf heiß geliebt, manchmal bis zum Fanatismus. Luis Miguel Dominguín kämpft dort sechs Wochen nach dem Tod von Manolete, für den man ihn verantwortlich macht. Man protestiert vor den Fenstern seines Hotels Oriente und verteilt Handzettel mit Morddrohungen in den Straßen. Der Gouverneur rät ihm, die Corrida absagen zu lassen. Dominguín weigert sich, geht zu Fuß zur Arena, durchquert die Menschenmenge, die ihn beschimpft. Er schneidet Ohren und einen Schwanz. Barcelona trägt ihn auf Schultern nach draußen. In den Sechzigern war das Idol der Stadt der Torero Chamaco. Die moderne Bourgeoisie sah in dessen ketzerischer und „existenzialistischer“ Art zu kämpfen einen Spiegel ihrer Abneigung gegen die erdrückende Moraldiktatur des Franco-Regimes. Wenn Chamaco im Hotel Comercio Plaza Real auftauchte,

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wo er ein Messbuch auf dem Nachttisch liegen hatte, provozierte er Massenaufruhr. Sein Name allein füllte die Monumental und Las Arenas zweimal wöchentlich. Zwischendurch tanzte er in besserer Gesellschaft Rumba in den schicken Tanzkellern im Viertel Pedralbes und vertraute den Journalisten seinen geheimen Wunsch an, von einem Stier getötet zu werden. Später verlor Barcelona seinen guten Namen als Stierkampfstadt, wegen einer sehr durchschnittlichen Programmgestaltung, der Abwesenheit bekannter Toreros und – dank des Erfolgs des kleinen Seat 500 – der allwochenendlichen Flucht seiner Einwohner in die Seebäder der Costa Brava. Erst Anfang der Neunziger findet ihn die Stadt teilweise wieder. Die feindselige Einstellung mancher Katalanen, den Stierkampf betreffend, ist dagegen nie verschwunden. Maria Aurèlia Capmany hat erzählt, dass ihr Vater seiner zukünftigen Frau seine aficion verschwieg, „weil sie ihn sonst vielleicht nicht geheiratet hätte“. Die Abstimmung des Stadtrates ist kein Gesetz. Dazu ist eine Entscheidung der Regionalregierung nötig. Vorerst stellt Joan Clos, der Bürgermeister, klar, dass auch „Minderheiten respektiert werden“, und sein Kulturberater erklärte: „Es wäre nicht richtig, den Stierkampf gänzlich zu verbieten und die zu brandmarken, die diese Veranstaltung verteidigen.“ Denen, die die Corrida im Namen einer „katalanischen Reinheit“ abschaffen wollen, könnte man gallig entgegenhalten, dass der Fußballverein Barca, dieses sportliche Symbol katalanischer Identität, mit einer Mehrheit von Ausländern in der Mannschaft ein Spiel englischer Herkunft spielt. Am Sonntag war Stierkampf in Barcelona. 10.000 Zuschauer kamen. El Juli mit drei Ohren und Finito mit zwei wurden im Triumphzug getragen. Serafín Marín, der obligate hauseigene Torero, trug beim Eintritt in die Arena die barretina, die traditionelle katalanische Mütze, um gegen die Abstimmung des Stadtrates zu protestieren. Es hat ihm kein Glück gebracht. Er traf auf die zwei schlechtesten Stiere des Nachmittags. Libération vom 22. 4. 2004

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Auf den Rängen der Arenen sitzen sehr grob geschätzt ein Drittel Frauen. Eine Selbstverständlichkeit. Nur ein paar alte Holzköpfe würden noch behaupten, dass die Liebe zum Stier und der Sachverstand nicht allen und jedem in den Schoß fallen kann. Unten im Rund sieht die Sache anders aus. Den weiblichen Stierkämpfern einen Artikel zu widmen, zeigt bereits, dass diese keine Selbstverständlichkeit sind. Den Machismo von einem Teil des Milieus zu leugnen, wäre Schönfärberei. Zu sagen, es gäbe mehr Toreras als Formel-1-Rennfahrerinnen, bringt niemanden weiter. Eine Torera hat es schwer, sich durchzusetzen, aber im Prinzip steht einer Frau nichts mehr im Weg, um die muleta zu schwingen. Nichts außer dem Stier.

Die Toreras stellen sich den Stieren und den Männern In Cercedilla bei Madrid hat die sociedad de Mozas, der Stierkampfverein junger Frauen, beschlossen, mit der muleta in der Hand die sociedad de Mozos und die sociedad de Casados (der „Verheirateten“) herauszufordern. Das wird nächsten Dienstag in der Arena anlässlich einer bercerrada passieren, die ihnen für das Kirchweihfest zugesagt worden ist. Die Torera Esperanza hat ihre cuadrilla ausgesucht, um zweijährige Stiere zu bekämpfen, als da sind: Ana, Belinda, Begonia als peónes, Gena, Isabel, Suzana und María als picadores. Nur Mädchen, si, señor! Lasst sie kommen, die toreritos machotes, die kleinen Torero-Machos! Am Morgen des 21. September wird in Nîmes die Torera zu Pferd (rejoneadora) Marie-Sara die Weihe in Beisein von Conchita Cintrón erhalten, über die die Pflicht zur Information trotz aller Galanterie enthüllen darf, dass sie mehr als 68 und weniger als 70 Jahre alt ist. Diese beiden sehr verschiedenen Ereignisse sind Teil einer Geschichte, die vom Randbereich des Stierkampfes der Frauen erzählt, auch wenn die Motivationen der einen und der anderen nichts gemein haben. Die mozas von Cercedilla kämpfen umsonst, aus Liebe zur Sache und aus Trotz. Marie-Sara ist ein

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„Profi“ mit ehrgeiziger Berufung und Conchita Cintrón eine mythische Figur der Nachkriegsjahre. Das Foto, auf dem man sie mit offenen Haaren auf einem Gebetsstuhl kniend vor Beginn einer Corrida sieht, hat über das strikt stierkämpferische Interesse hinaus einen Haufen heute sechzigjähriger aficionados tagträumen lassen. Aficionados, aber auch einige primärtaurine Zausköpfe, die zum Beispiel geschrieben haben, dass die „blonde Göttin“ eine Fee gewesen sei, die „im Äther ein Traumpferd reitet“. Wir hüten uns vor solchem Schwulst und noch mehr vor dem Äther, um fern von jedem Betäubungsmittelrausch beim Stierkampf auf Frauenseite durchzuatmen. In das aktuelle Gebiet des Stierkampfes Version Mann bringen diese drei Repräsentationen, die entschlossenen Mädchen, die Vollprofi-Frau und das erträumte Bild, etwas frischen Wind. Schon im Juni 1654 diskutiert der Rat von Kastilien über das zu zahlende Gehalt einer Torera zu Pferd und 1778 spricht der Stierkampftheoretiker José Daza von der „glühenden“ Neigung vieler Frauen des Adels, aber auch des Volkes, für die Spiele mit Stieren. Er nennt bewundernd die Torera zu Pferd Antonia Bredentona. Er wusste, wovon er redete: José Daza war der zweifellos bekannteste Lanzenreiter des ausgehenden 18. Jahrhunderts, in dem sich noch andere rejoneadoras auszeichneten. Zum Beispiel die Töchter des Grafen von Ribadavia in Kastilien oder eine gewisse María de Gaucín, die den Nonnenschleier gegen das kurze Schwert des rejoneadors eingetauscht haben soll, oder auch Francisca García, die versuchte, sich 1774 gegen Lohn von der Stadt Pamplona anheuern zu lassen. Und für den Stierkampf zu Fuß? Dieselbe Leidenschaft. Wie ihre männlichen Kollegen stiegen die Frauen schon bald vom Pferd, um vor allem Kälber zu bekämpfen, meist in den mojigangas, den burlesken Corridas, in die sie das 19. Jahrhundert ganz abschieben wird. Sie sind trotz allem Toreras. Sie setzten die Lanze und die banderillas, sie töten. Goya widmet Nicolasa Escamilla, „La Pajuelera“, eine Radierung. Sie war eine Torera aus Valdemoro, die 1776 in Madrid kämpfte und die ein Kirchenmann, der Pater Sarmiento, im Namen der seriösen aficion als „Monstrosität“ einstufte. Viele Frauen, matadoras, picadoras, banderilleras, tauchen in den Chroniken des 19. Jahrhunderts auf. Zum Beispiel Martina García, deren lange Karriere, beendet mit sechzig Jahren, „aus kontinuierlichem Scheitern“ bestanden habe; die „Belgicana“, in Brüssel geboren; die „Guerrita“, „sehr tapfer, aber ohne

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jede Kunst“; die „Garbancera“, die „Kichererbsenesserin“, „so eitel wie unwissend, was die Regeln des Stierkämpfens angeht“, oder auch die „Fregosa“, die „Zerschlägerin“, vom Historiker Sanchez de Neira, dem Frauen in der Arena gänzlich abhold waren, als verwegen, aber dumm beschrieben. Nach zahlreichen Hornverletzungen warf die zerschlagene „Zerschlägerin“ schließlich das Handtuch, aber blieb im Milieu: Sie heiratete einen novillero. 1886 war sie die erste Frau, die im „Lichtgewand“ kämpfte, während Manuela Capilla in der Tracht der galizischen Bäuerin vor die Stiere trat und Gustave Doré uns die Radierung der Andalusierin Teresa Bolsi im dekolletierten Rüschenkleid hinterlassen hat. Andere zeigten sich als Türken oder Chinesen verkleidet. Nur wenige Toreras fanden Gnade in den Augen der damaligen Berichterstatter, mit Ausnahme der „schönen“ Francisca Gisbert, die vor allem in der Gegend von Nîmes, Arles und Avignon Lanzen und banderillas setzte und Degenstöße austeilte, oder die Katalanin Angelita Pagés, mehrfach schwer verletzt, die mit „Stil“ kämpfte. Was den Rest angeht, und mit Ausnahme der picadora Mariana Curo, die zwölf douros pro Corrida bekam, was von ihrem Wert zeugt, sind die Toreras meist wegen einer Anekdote oder einem Skandal in den Chroniken verblieben. Petra Kobloski provoziert am 5. Oktober 1884 einen Aufruhr in Tarragone, als der erste Jungstier sie beim Hereinstürmen verletzt und alle Toreras ihrer Truppe außer Gefecht setzt. Die Corrida wird abgebrochen. Die Zuschauer werfen alles, was ihnen in die Hände fällt, ins Rund. Die Truppe interveniert. Der Organisator, der die Rückerstattung des Eintrittspreises verweigert, und die Toreras enden auf der Wache. Die bekannteste Torera war Maríe Salomé „La Reverte“, die in Wirklichkeit ein Mann war. Augustín Rodríguez, ein mittelmäßiger Torero ohne Verträge, verkleidete sich als Frau, um Verträge zu bekommen. Er kämpfte mit Erfolg bis zum 2. Juni 1908, dem Tag, an dem die spanische Regierung den Frauen verbot, Stiere zu Fuß zu bekämpfen, unter dem Vorwand der „Störung öffentlicher Ordnung“ und weil Corridas mit Frauen „ein unsauberes, der Kultur und jedem feineren Sinn schadendes Spektakel“ seien. Ausnahmeregelungen und eine gewisse Nachlässigkeit bei der Anwendung dieses Gesetzes erlaubten den Frauen – besonders nach 1931 und der Zweiten spanischen Republik –, trotzdem vor die Stiere zu treten. Juanita Cruz ist die interessanteste Figur. Sie kämpft ab

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1934 in mehreren Dutzend novilladas pro Jahr in den wichtigsten Arenen: Bilbao, Sevilla, Córdoba, Oran, Las Ventas in Madrid. Auf republikanischer Seite engagiert, flieht sie 1936 aus Spanien und setzt ihre Karriere in Südamerika fort. In Mexiko schneidet sie eines Tages zwei Ohren und den Schwanz eines laut Gerücht fünfjährigen Stieres. Sie bekommt ihre alternativa 1940, aber bekämpft weiterhin Jungstiere. Einer davon verletzt sie schwer in Bogotá. Sie beendet ihre Karriere 1946 in Frankreich und stirbt schließlich 1981 an Herzversagen in Madrid. Sie hatte schon immer ein schwaches Herz, wusste das und nahm es trotzdem mit den Stieren auf. Eine echte Torero-Geste. Andere umgingen das Verbot und versuchten das Abenteuer, wie die Schwestern Palmeno. Mit unterschiedlichem Ausgang. Zwischen den Stühlen von heroischer Berufung und unbedeutenden, marginalen Veranstaltungen eingeklemmt, hat sich der Stierkampf der Frauen zu Fuß nie richtig durchsetzen können. Außer Conchita Cintrón, allerdings zu Pferd. Die Gewerkschaft der Toreros verbot ihr trotz der Unterstützung der Frankisten, vom Pferd zu steigen und zu Fuß zu kämpfen, was sie mit Talent tat. Am 3. August 1947 in Bayonne schickte der Veranstalter der Corrida, Marcel Dangou, den Toreros die Polizei vorbei, um sie mit Gefängnis zu bedrohen, falls sie die „blonde Venus des Stierkampfes“ am Kämpfen mit der muleta hindern würden. 1973, dank des unermüdlichen Einsatzes der Torera Angela Hernández, wird das Verbot aufgehoben. Seitdem akzeptiert die „Nationale Kommission der Frauenarbeit“ den Beruf der Stierkämpferin. Maribel Atienza aus Albacete nimmt die Gelegenheit wahr, um eine ehrenvolle Karriere als novillera zu machen, gefolgt von einer „symbolischen“ Toreroweihe in Mexiko. Der weibliche Stierkampf zu Fuß, anerkannt von den Institutionen, mit einigen Vertreterinnen in Frankreich, wird angesichts seiner ehrlich gesagt etwas dünnen Resultate von den aficionados mit skeptischer und amüsierter Neugier beobachtet. Männliche Überheblichkeit? Seien wir zynisch. Es fehlt ihm, um wichtig und glaubwürdig zu sein, nur das Treffen mit erwachsenen Stieren und eine echte Tragödie. Nur. Libération vom 7. 9. 1991

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Pier Paolo Pasolini, dem es auf einen Stein im linken Glashaus nicht ankam, schrieb in den Freibeuterschriften, dass der Faschismus Mussolinis Italien kulturell weniger geschadet habe als die Konsumgesellschaft. Vielleicht kann man ähnlich komplex argumentieren, dass die Dummheiten und die Possen, die Froschhüpfer und die große Klappe von El Cordobés dem Stierkampf sehr viel weniger geschadet haben als das Fernsehen, das ihn überträgt wie ein Tennismatch, von Werbung unterbrochen, mit Zeitlupe, Nahaufnahme und Zusammenschnitt. Paradoxerweise gehen mehr anti-stierkämpferische Gefühle aufs Konto des glatten Bildschirms als auf alles reale Stierblut im Sand.

Der Häresie-Prozess von El Cordobés Sonntag in Palavas während des von Simon Casas organisierten Festivals zugunsten der SOS-Drogenstiftung, vor einem genau so wie die Jungstiere sehr wohlmeinenden Publikum, hat Manuel Benítez Pérez „El Cordobés“ mit 57 Jahren gezeigt, dass er immer noch frisch ist. „Manolo“ hat zwar ein paar Haare verloren, aber ist im Kopf nicht kahl, auch wenn er sein haarsträubendes toreo vor zwei Steigbügelhalterrindern praktizierte, die gerade von einem Lehrgang bei den Jivaro-Indianern zurückgekommen waren. Seinen beiden novillos, vor allem der erste, ein wahrer Bonsai, waren klein, sehr diskret bewaffnet und mehr als schwach. Aber El Cordobés, der immer noch dasselbe Charisma besitzt und sich durch zwei Stunden Bodybuilding am Tag fit hält, war schlau genug, seine erstaunlichen stierkämpferischen Possen, die man niemandem außer ihm abgenommen hätte, mit einer Art doppeltem Boden vorzuführen. Damit signalisierte er, dass sein fröhliches, mit sichtlichem Vergnügen gegebenes Spektakel zur Corrida stand wie eine Reality-Show zur Realität oder Popstars zur Anhörung von Tenören an der Marseiller Oper.

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Auch wenn das Bekämpfen von erwachsenen und integren Stieren in einer richtigen Corrida ein anderes Paar Hörner ist, hat es El Cordobés durch die magnetische Anziehungskraft seiner durchaus liebenswerten Persönlichkeit trotzdem geschafft, das Publikum von Palavas in the pocket zu stecken, wie zur Zeit seines einzigartigen Höhenfluges, den die Stierkampfkritiker auch heute nur unter großen Mühen in die Geschichte des Stierkampfes integrieren können. Nur mit zögernden Sätzen und langen Umschreibungen räumen ihm die Historiker des Stierkampfes in ihren Werken einen Platz ein und geben nach vielem Hin und Her zu, dass Manuel Benítez in der Tat fähig war, in seriösen Arenen seriöse Stiere seriös zu bekämpfen. Es ist das Mindeste an Gerechtigkeit, was man diesem formidablen Torero zukommen lassen muss. So schreibt zum Beispiel Nestor Luján in seiner Historia del toreo: „Man kann ihm weder Mut absprechen noch die richtige Art und Weise, noch ein persönliches und attraktives Verhalten in der Arena. Aber er ist kein Torero, der den aficionados und den Kritikern gefallen kann.“ Schnell hingesagt. Louis Bollain in El toreo von 1968 würde ihn am liebsten nicht einmal beim Namen nennen und fertigt die „Revolution“, die dieser „muchacho“ eingeleitet hat, in zwei Zeilen als einen zerstörerischen, hohlen, falschen und verqueren Anti-Stierkampf ab. Jean-Marie Magnan in Frankreich, den seine seltene Treue und Scharfsichtigkeit mehr als ehrt, ist einer der wenigen, die den stierkämpferischen Qualitäten von El Cordobés huldigen, seiner aguante, dieser Fähigkeit, auch im Moment der Gefahr die Stellung zu behaupten, sowie seiner geschmeidigen Hüfte, seinem toreo des Handgelenks und seiner Seelengröße eines „spanischen Lausbuben“, den er „lachend“ gesehen hat, „während ihn die Hörner am Boden suchten“. Das fantastische stierkämpferische Inseldasein des El Cordobés, welcher sicher Schändlichkeiten und fragwürdige Hanswurstereien vor angefeilten Stieren in den demontablen Arenen der Strandbäder auf dem Kerbholz hat, ist die heiße Kartoffel in der Geschichte des Stierkampfes. Ein schlaues Genie oder ein Genie der Schlauheit? Die Vorsichtigeren geben den Ball an die Soziologen ab, weil El Cordobés Ende der Sechzigerjahre den Wunsch verkörperte und entfachte, die drückende Last des Franco-Regimes abzuwerfen, trotz seiner uneingeschränkten Unterstützung durch die Zeitung der Franco-Gewerkschaft

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El Pueblo. Einige unterscheiden zwischen dem Torero, „so ernst wie alle anderen zu nehmen“, und dem sozialen Phänomen El Cordobés, „hinterhältig, zynisch der Gesellschaft gegenüber und dem Stierkampf schadend“. Ein Beispiel seines pikaresken Merchandisings: sein Debüt am 5. März 1961 in Barcelona. Sein unglaublicher Manager El Pipo bezahlte einige Träger, die ihn vor der Arena, wo er keinerlei Erfolg gehabt hatte, auf die Schultern nahmen, um die Gaffer des Paseo de Gracia zu verblüffen. Danach ließ er den Torero vom Balkon seines Hotels Oriente Hunderter- und Tausenderscheine auf die Ramblas werfen, die unten von bezahlten Strohmännern wieder eingesammelt wurden. Echt Manolo. Der Stierkampfkritiker César Jalón sieht ihn während seiner Anfänge als novillero in Vitoria groteske banderillas setzen, bevor er mit Klasse einen großen, fintenden Jungstier um den Finger wickelt. Nicht einzuordnen. Aber die ihn verabscheuen und die verrückt nach ihm sind füllen die Arenen bis zum Rand, mit ihm in der Mitte, Marionnettenspieler seiner eigenen Figur, von den Narben seiner Hornwunden übersäht. Das Stierkampfmilieu leckt ihm die Stiefel. 1966, als das System der Corridas, der öffentliche Erfolg der Ferias, der Reichtum der Impresarios von seiner Anwesenheit abhängen, erwacht er eines Tages zu Saisonanfang in seiner Villa Lobillos und verkündet, ihm sei die Heilige Jungfrau erschienen, um ihm mehr oder weniger Folgendes zu sagen: „Manolo, hör auf, den Hanswurst zu spielen, und lass den Stierkampf sein.“ Allgemeine Verblüffung. Die Finanzmänner der Milieus pilgern zur Villa Lobillos, um Manolo zu beschwören. Dieser wartet ab, dass die Angebote steigen, lässt sie stundenlang schmoren, reicht Butterbrote und sagt, er würde sein Kopfkissen konsultieren. Welches grünes Licht gibt. Zurück in die Arena. Mit dem verdammten Kopfkissen in der Hand zwingt er die Impresarios zu Verträgen für die Saison nach seinen Preisvorstellungen; das Geld zahlbar Punkt zwölf am Tag der Corridas. José Bergamín, der sich mit Teufeln auskennt, stellt diesem Teufel milagrero, dem suspekten Mann aller Wunder, das toreo milagroso, das von Wundern gesäumte toreo eines Antonio Ordóñez entgegen. Wenn er El Cordobés eine Stelle einräumt, dann die des archaischen Toreros, der vom Dämon besessen gegen den Stier kämpft. Ein Teufelskerl. Kein Cherub, der das Paradies hütet, und mit Sicherheit kein Chorknabe.

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Der Schriftsteller Pepe Alameda, ebenfalls von diesem spannenden Häretiker fasziniert, schreibt in dem von Bergamín eingeläuteten heidnischen Tenor von einem Stierkämpfer, der Natur sehr nahe, dem es genauso gut gelang, seine Fehler in Reinform zu bewahren, wie seine Qualitäten bloßzulegen. Um die außergewöhnliche Dimension dieses umstrittenen Toreros hervorzuheben, fügt er hinzu: „Die Stierkampfkritiker holten ihre Notizbücher raus, die deutschen Touristen ihre Wörterbücher, um ein paar Richtlinien zu finden, aber es war ein anderes Buch, das sie um Rat hätten fragen sollen. Zum Beispiel den ‚Ratgeber für Ratlose‘ von Averroës, Philosoph aus – woher denn sonst – Córdoba.“ Libération vom 10. 7. 1993

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Die Idee, dass zwei streng getrennte Dinge für einen kurzen Moment eins werden, scheint eher in den Bereich der Liebesgeschichten, Kernfusionen und Zauberkunststücke zu gehören als zum Stierkampf. Sicher auch deshalb, weil die deutsche Übersetzung des Wortes Corrida irreführend ist. Der Stier ist nicht der Feind, nicht einmal in erster Linie der Gegner. Vielleicht ist es eher wie ein Tango, von dem eine Sage behauptet, seine Schritte hätten ihren Ursprung im kreisenden Zweikampf zweier messerschwingender Männer. Zwei Menschen, eins auf dem Parkett. Ein Mensch und ein Stier, eins im Tanz.

Antoñete und der Traum vom weißen Stier Da man bei Toreros gerne den Jahrestag ihres Todes feiert, scheint es noch angemessener, den Jahrestag ihrer Auferstehung zu feiern. Vor dreißig Jahren, am 15. Mai 1966 in Madrid, um 19 Uhr und 11 Minuten, ist Antonio Chenel Antoñete auferstanden dank Atrevidos, eines weißen Osborne-Stieres von 486 Kilo während einer faena, die auch die strengsten Kritiker ganz einfach als historisch qualifizieren. Worauf sie an den Fingern einer Hand abzählen: Zusammen mit der faena von Chicuelo mit dem Stier Corchaíto 1928, der von Antonio Bienvenida mit Naranjito am 18. September 1941, genannt die faena der tres pases cambiadas, der von Manolete mit Ratón am 6. Juli 1944 und der von Paco Camino mit Despacioso aus der Züchtung Jaral de la Mira 1975 gehört Antoñetes faena zu den fünf herausragendsten, die Madrid je gesehen hat. Der opulente Kritiker José Luis Suáres-Guanes, nebenbei Graf del Valle de Pendueles, bemühte letztes Jahr vor den Kameras der Fernsehsendung Face au Toril sogar seinen dicken Daumen, um klarzustellen, welchen Rang er ihr einräume: den der besten. Eine historische faena ist Zusammenstoß und daraus resultierende Abfolge einer Anhäufung von Symptomen, die einen Gewittersturm ansagen. Die vom 15. Mai 1966 ist zuerst ein Treffen der Sternkreise, ein astrologischer Zusammenstoß von einem Torero der Sonnenfinsternisse und einem Mondstier. Ein

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Antistier? Weil „Stier“ und „schwarz“ beinahe synonym sind, hat die Volksmeinung lange Zeit in weißen Stieren eine Art „Entehrung der Tapferkeit“ gesehen, ihre ins Gegenteil verkehrte Trauer. Dem ist nicht so bei dem Züchter Osborne, der eine Ahnenreihe von weißen Stieren besitzt, ganz das Gegenteil der gigantischen Metallsilhouetten nachtschwarzer Stiere, die unbewegt am Straßenrand für seinen Brandy werben. 1966 jedoch möchte der alte José Luis Osborne diese Familie der toros ensabanados ausmerzen. Atrevido wird ihn umstimmen. Und Antoñete, der Torero mit der weißen Haarsträhne? Der sieht alles schwarz. 1965, ein Jahr vor Atrevido, hat er mit 33 Jahren nur eine ehrenhafte Karriere als etwas zerbrechlicher Torero aufzuweisen, die er im Begriff ist aufzugeben. Er hat sich von seiner Frau Pilar getrennt und hängt am Ende der Fahnenstange. Anlässlich der Trennung hat er seinen sechs Söhnen seine vier Millionen Peseten Erspartes gelassen. Er hat keine Frau mehr, kein Geld, kein Haus und keine Verträge. Es bleiben ihm nur noch seine Augen, um dem Rauch von drei Schachteln Zigaretten täglich nachzutrauern. Er, der die banderillas hasst, der sie nur einmal eher schlecht als recht selbst gesetzt hat, erwägt ernstlich, sich als banderillero zu verdingen. Sein Schwager ist Paco Parejo, der Verantwortliche der Ställe von Las Ventas, wo dieser auch wohnt und wo Anton seine Kindheit verbracht hat, weil sein Vater als Republikaner im Gefängnis saß. Im August 1965 teilt ihm Paco mit, dass am 8. noch ein Platz frei sei, um gegen die Stiere von Félix Cameno anzutreten. Antoñete ergreift die Gelegenheit. Er schneidet die beiden Ohren von Flor de Malva, seinem zweiten Gegner. Ein reiner Murube-Stier, ein großartiger Stier, ein Stier, der neue Reserven freisetzt. Die ganze Kunst Antoñetes entfaltet sich wie durch ein Wunder, vor fast leeren Rängen. Don Livinio Stuyk, der Verwalter von Las Ventas, bietet ihm zwei Verträge für die Feria von San Isidro im nächsten Jahr. Einen guten und einen schlechten. Der gute mit garantiert hervorragenden Stieren von Felipe Bartolomé, der schlechte mit den Stieren von Osborne. Der schlechte ist der richtige, Schwarz wird Weiß, und im Mai 1966 macht das Gerücht von der seltsamen Schönheit des Fells von Atrevido, der zusammen mit den anderen Stieren der Feria in den Pferchen von Venta del Batán zu besichtigen ist, die Runde im Madrid der taurinos, bis in die Bar Los Borrachos de Vélazquez, wo Antoñete Poker drischt.

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Atrevido ist nicht wirklich weiß. Er ist kein Stier aus Schnee. Er ist ensabanado, alunarado, mit dunklen runden Flecken wie schwarze Monde. Sein Kopf ist bleigrau, die Enden seiner Läufe sind schwarz und sein weißes Fell ist mit dunkleren Haaren durchsetzt. Aber für das Gerücht ist er einfach weiß und in diese Farbe wird ihn die Legende für immer einbalsamieren. Antoñete hütet sich vor zu schönen Stieren. Die aficionados überschätzen sie und verlangen mehr vom Torero. Es wäre ihm lieber, ihn nicht zu bekommen, aber am frühen Nachmittag des 15. in einer Wohnung in der Calle de Alcantara teilt ihm seine Schwester telefonisch die Neuigkeit mit, die ihr ihr Ehemann Paco Parejo aus dem Fenster zugerufen hat: Anton ist bei der Verlosung der Stiere an Atrevido geraten. Punkt 19 Uhr kommt Atrevido ins Rund. Antoñete, in Lachsrosa und Gold gekleidet, knirscht durch die Zähne: „Aha! Da ist sie, die Milchkuh!“ Es ist ein mittelmäßiger Auftritt. Atrevido scharrt im Sand, flieht die capas. Er bekommt einen Lanzenstoß, und alles wird anders. Nach zwei und einer halben veronicas verflüchtigt sich sein Zögern, seine Rassigkeit kommt zum Vorschein. Dreißig Jahre später hat Antoñete noch immer alles im Kopf: die drei doblones vor den Rängen 8 und 9 zu Anfang der faena, das Anlocken von weit her mit der linken Hand, Atrevido, der von Schritt zu Galopp übergeht, die großartigen Serien mit links vor allem unter dem tendido 8, die zwei molinetes auf Knien, den endgültigen pase de pecho, die Blicke, die die beiden austauschten und die Anfeuerungen, die er ihm zurief: „Los, mein Hübscher, greif an.“ Antoñete erinnert sich an die Partition dieser rhythmischen faena, an ihr Tempo, an das Aufbrausen der Brandung in Las Ventas und an das Gefühl, das sich verstärkte, als Atrevido ihn zwischendurch ansah: Der Stier kann ihn erwischen. Und dass es ihm egal war. Dies alles nennt man acoplamiento und darin steckt die Idee einer Paarbeziehung und das Echo von copla, von der Strophe eines Liedes oder eines Gedichts. In der Kraft des außergewöhnlichen Stierkampfes wirkt eine Tugend, die das Gegenteil eines Schlafmittels ist: Sie weckt auf und gräbt sich ins Gedächtnis. Dreißig Jahre später erinnert sich Marina Bollain noch genau an die kristallene Qualität dieser faena, und an diesen erstaunlichen natural, von Weitem begonnen, mit einer muleta, die sich erst im letzten Augenblick öffnete wie ein Buch, und an das Restaurant Los Cristales, wo sie an jenem Tag mit ihren

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Eltern eingekehrt war. José Luis Suáres-Guanes, in dessen Kopf sich Hunderte von faenas katapultieren, hat die „ungeheure Eleganz“ dieses Kampfes nicht vergessen, ein Erlebnis, das er mit einem Fremden neben sich teilte, der seitdem ein Freund ist. Antoñete tötet Atrevido nicht mit dem ersten Degenstoß. Es bedarf mehrerer Nackenstiche, der descabellos. Er drückt dem toten Atrevido einen Kuss mit den Fingerspitzen auf. Er wird ein Ohr bekommen, aber der Präsident der Corrida gesteht ihm später, dass er die drei Taschentücher in der Hand hielt und dass er ihm bei korrektem Töten des weißen Stieres ohne zu zögern die beiden Ohren und den Schwanz zugestanden hätte. Am Ende der Corrida muss Antoñete, der sich als Roter, Linker und Republikaner bezeichnet, trotz seines Abscheus Franco salutieren. Atrevido ist glücklicherweise der vierte Stier der Corrida, der Torero ist nicht verpflichtet gewesen, ihn wie seinen ersten Stier protokollgemäß dem Caudillo zu widmen. Dem hatte er sich widerwillig unterworfen. Minimalservice: „Schönen Nachmittag“ und einen absichtlich unverständlichen Satz, in dem die Rede von cojones war. Von Klöten. Wie üblich bekam er im Gegenzug ein Zigarettenetui, das die Einbrecher, die eines Tages sein Haus ausräumen, nicht mitgehen lassen. Pech. Die „unsterbliche“ faena mit Atrevido, dieses erfrischende Zeugnis des ureigentlichen Stierkampfes, von erlesenem und zeitlosem Geschmack in einer Zeit der Cordobésischen Erbsensuppe, verschafft ihm eine fantastische Schönwetterperiode. Gleich danach unterschreibt er hundert Verträge, schneidet noch vier Ohren in Madrid, springt für den verletzten El Cordobés für gleiche Bezahlung ein: eine Million Peseten. Aber Anfang Juli in Fréjus bricht er sich ein Handgelenk. Er kehrt am 2. August in Calahorro in die Arena zurück und ein Stier reißt ihm den Bauch auf. Statt der hundert vorgesehenen Corridas beendet er die Saison mit sechsundzwanzig. Und verschwindet wieder in der Versenkung. Und ersteht wieder auf, noch geläuterter ... Das Treffen mit Atrevido, aber auch mit Flor de Malva, Cantinero, Danzarín, Casablanca, Caracol, Siestecita und mit anderen großartigen Stieren hat ihm erlaubt, wie ein Kiesel über eine Karriere zu hüpfen, die dem Rio Guadiana ähnelt: unregelmäßig, trocken oder reichlich, sichtbar und unsichtbar. In der Geschichte des Stierkampfes steht die Legende des chaotischen Antoñete

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an der Kreuzung, an der sich der echte, tiefe und strenge Stierkampf mit der Corrida als zigeunerische Lebenskunst schneidet. Eine schöne Stelle. Antoñete hat immer ein Gefühl für den richtigen Platz gehabt. In dem Buch, das ihm Manolo Montes gewidmet hat, sagt er: „Sogar an der Kneipentheke ist es wichtig, den idealen Platz zu finden, um sein Bier zu trinken.“ Er sagt auch, dass „die großartigen Stiere, die den Erfolg auf jeder Hornspitze tragen, das Recht haben müssten, sich ihren Torero auszusuchen“. Bei Atrevido war das der Fall. Nach der Rückkehr in sein Anwesen in Navalagamella, ehemaliger Besitz eines Arztes, der Francos Todesanzeige unterschrieben hat, entschloss sich Antoñete, den ausgestopften Kopf Atrevidos an die Wand zu hängen, dieses geliebten weißen Stieres, dessen gläsernes Gespenst noch heute durch seine nikotinrauhe Stimme geistert. Libération vom 17. 8. 1996

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Ein echter aficionado ist ein Masochist. Er leert seinen Sparstrumpf bis zum letzten Pfennig, reist Hunderte von Kilometern auf überfüllten Straßen oder wartet endlos, bis die Eisenbahner an der spanischen Grenze den Zug auf die richtige Achsenbreite eingestellt haben, er schläft in durchgelegenen Hotelbetten oder auf dem abgelegenen Campingplatz, er verbringt Tage im Internet, um auf überlasteten Webseiten einen Platz zu ergattern oder feilscht mit Schwarzmarkthändlern in schummrigen Bars um überteuerte Eintrittskarten, er harrt in glühender Sonne oder strömendem Regen auf den Rängen aus, um schließlich sechs lahme Stiere und drei lustlose Matadore zu sehen, die das alles überhaupt nicht wert waren. Und geht wieder hin. Weil er von einer durch nichts zu mindernden Hoffnung erfüllt ist: endlich den Stierkampf zu sehen, der durch seine Träume geistert. Träume sind Schäume, aber die Hoffnung hält jung.

Gott behüte die alten Toreros! „Gott bewahre Antoñete!“ Unter diesem Titel kündigte El Mundo am letzten 4. Juli an, dass Antonio Chenel Antoñete mit 67 Jahren für eine Handvoll Stierkämpfe in die Arena zurückkehre. Einen in Segovia, einen in Pontevedra, wo er am 8. August ein Ohr bekam, einen in Leganés am 18. mit einem weiteren Ohr und dann diesen Kampf in Antequera. Das war am Freitag. Gott bewahre Antoñete und seine Glasknochen, die ihm seine Kindheit als unterernährter Republikanersohn bescherte, aber auch die Arthritis des 63 Jahre alten Curro Romero und die fast abgestorbenen Beine Rafaels de Paula, 59 Jahre auf dem Buckel. In diesem Stierkampf der Spinner in Antequera standen Curro und Rafael auf demselben Plakat wie Antonio, dem ältesten noch aktiven Matador, dessen Lungen vom Tabak zerfressen sind und der sagt, er wolle weiterhin stierkämpfen, aber auch rauchen, „um lebendig zu sein“. Ein Stierkampf der Spinner, zu dem einige aficionados geeilt kamen, die ebenfalls nicht ganz richtig im Kopf waren. Leichtfertig musste man schon

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sein, um in vollem Bewusstsein der Sache Tausende von Kilometern zurückzulegen, seine Ferien in Asturien zu unterbrechen wie Paco oder Tausende von Peseten auszugeben mit dem einzigen und vagen Ziel, im andalusischen Glutofen ein paar Tropfen toreo aus dem Eichenfass zu kosten, sparsam in ein paar Sekunden ausgetropft von drei Ikonen, gekleidet in Lila, Flaschengrün und Granatrot; drei Ikonen ohne sichere Zukunft, von einem ebenfalls etwas bekloppten Veranstalter zusammengeholt. Paco Dorado, ehemals Lieferbursche von Käse und verwässerter Milch, neuerdings ein wichtiger Geschäftsmann im Stierkampfgeschäft, hatte bereits letztes Jahr unter dem Titel „Gesegnetes Brot“ Curro und Antonio in einem mano a mano in goyascher Manier vereinigt, das nur in einer Katastrophe enden konnte. Die Katastrophe hatte sich in ein Wunder verwandelt. Curro hatte zwei Ohren und den Schwanz geschnitten, Antonio drei Ohren. Paco Dorado „El Commandante“, ein Glas Whisky in die Hand geschraubt, geht unglaubliche Risiken ein und zitiert Ramón del Valle-Inclán: „Der Stierkampf ist ein strenges Theater, nach Tabak, Sägemehl und Kerzen riechend, von Ausmaßen einer Oper, mit den Emotionen des Zirkus, von der philosophischen Tiefe und Volkstümlichkeit der griechischen Tragödie.“ Amen. Am Freitag knüppelte die Sonne sogar noch um sieben Uhr abends, während Gott Antoñete bewahrte, genau wie Curro und vor allem Rafael, dem wunderbarerweise ein burladero als Zuflucht erschien, als er von einem bösen Stier verfolgt wurde, dem er den Degen in miesester Art in die Flanke gebohrt hatte. Antequera hat 24 Kirchen. Am Freitag zählte es eine mehr in Form der wunderhübschen Arena, um dort die Kunst des Stierkampfes mit einer altmodischen Messe in Latein zu feiern. Die Toreros trugen Kostüme aus Goyas Zeiten, die Kapelle spielte zum Aufmarsch Carmen und das alte Vehikel DionBouton der Feuerwehr zum Anfeuchten des Sandes hatte vielleicht schon Pros­ per Mérimée bewundert. Auch die Pferde der alguazils unterwarfen sich dem Charme der Nostalgie und trabten rückwärts. Aber mehr als in seinem Dekorum bestand die Qualität dieses Stierkampfes in der Abwesenheit einer Kluft zwischen der Realität auf der Piste und den magisch-phantasmagorischen Erwartungen, die die aficionados auf ihre Pilgerfahrt mitgenommen hatten, nebst einigen Flaschen Fino.

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Gleich bei dem ersten noblen und charaktervollen Stier aus der Zucht El Pilar reißt Antoñete die Leute von den Sitzen, mit einer eindringlichen faena voller temple und Autorität, vor allem in den bündigen Serien der rechten Hand, die in drei arroganten und eleganten pases in Kreisform ihren Höhepunkt erreichen. Eine Andacht. Man setzt sich, man steht schon wieder. Der Himmel verlässt Antoñete leider für den Todesstoß, den er zweimal verpatzt. Trotz der Petition des Publikums bekommt er kein Ohr. Kaum wieder sitzend und aus der Verzückung erwacht, erhebt sich das elektrisierte Publikum, die Arme zum Himmel gestreckt nach einem atemberaubenden quite, bestehend aus drei veronicas und einer halben veronica in Zeitlupe, die Curro Romero, ein Knie gebeugt und jünger denn je, vorführt. Er darf sich verbeugen, während Tränen in den Augen der aficionados stehen. Die anschließende faena ist konstruierter und schmachtender als die historische „faena der zwei Ohren“ in Sevilla im April. Sie ist etwas unregelmäßig im temple, aber erreicht ungeahnte Höhepunkte in rhythmischen naturales, so voller temple, dass sie den Angriff des Stieres „einzuschläfern“ scheinen. Auch den Pharaon de Seville verlässt Gott an diesem Punkt. Curro verdirbt sein Meisterwerk, das ohne Weiteres zwei Ohren und den Schwanz wert gewesen wäre, indem er estocadas und descabellos verpatzt. Gott hatte sich diskret zurückgezogen. Die Corrida verfällt zusehends. Rafael de Paula, sehr vorsichtig, umkreist seinen Stier furchtsam aus großer Entfernung, ohne ein pase zu versuchen. Man pfeift ein bisschen, aus purer Höflichkeit. Das Gegenteil wäre verächtlich gewesen und Verachtung, Gemeinheit und Bosheit waren vor den Türen der kleinen Arena von Antequera zurückgeblieben. Der zweite Stier von Antoñete, schwächlich, unkonzentriert, auf der Stelle hüpfend, hätte ausgetauscht werden müssen. Der zweite Gegner Curros ist zu unsicher in seinen Angriffen und zu wild in seinem Gebaren, als dass der Matador sich ihm vertrauensvoll hätte hingeben können, mit über sechzig Jahren und einer antitayloristischen Vorstellung vom Stierkampf. Endlich, fast bei Nacht, unter einer sehr altmodischen Mondsichel, beseelt der Gott der aficionados und der Gänsehäute die muleta von Paula. Sein guter Kollege Antoñete hat ihm vorher mit zwei veronicas bewiesen, dass der Stier auf dem rechten Horn keine bösen Absichten trägt. Paula überwindet seine physische Schwäche und seine moralische Mutlosigkeit, indem er dicht am Stier einige

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derechazos dreht, ganz in seinem Stil, ganz nach seinem Sinn. Sie waren bei Weitem nicht vollkommen. Sie waren beinahe engelsgleich. Sie waren eigenbrötlerisch und packend. Sie waren Rafael de Paula. Am Ende dieses Stierkampfes ohne Trophäen umarmten sich die drei Matadore brüderlich unter einem Beifall warm wie die Nacht. Sie hatten keine Ohren geschnitten. Pech für die Statistik. Gott hatte es anders geplant. Er war im Detail geblieben. Bei diesen dreien war das eine alte Angewohnheit. Libération vom 25. 8. 1999

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Der Stierkampf ist eine ernste Sache. Der öffentliche Tod eines Stieres verdient Aufmerksamkeit, Achtung und Respekt. Die Hingabe des Matadors und aller Beteiligten ebenso. Es wird nicht viel gelacht während einer Corrida. Aber wie jede wirklich ernste Sache trägt sie den Keim einer Slapstick-Komik in sich. Männer in rosa Strumpfhosen, die mit Degen fuchteln. Ein peón, der über die Barriere hechtet und auf dem Hintern landet. Ein Stier, der die Bretter der Barriere in Kleinholz verwandelt, während die Männer dahinter fluchen und flüchten. Ein dicker picador, der vom Pferd fällt wie ein nasser Sack. Es ist eine ernste Sache, in der der Tod nicht fern ist, aber es ist ja schließlich keine Beerdigung.

Burleske Zwerge und echte Toreros Der Bombero-Torero (der Feuerwehrmann-Torero) versucht eine chicuelina, aber seine capa teilt sich in drei Stücke; Groucho Marx liest seine Zeitung, die Zigarre im Mundwinkel, auf einer jungen, erschöpften Kuh reitend; der Fledermausmann hat die Schnur seines Telefons an den Schwanz des Kälbchens gehängt; der Baseballspieler gibt seinen Hintern den Hörnern preis. Diskrete Lacher. Das komisch-stierische Genre, nicht immer sehr komisch, aber in der Tat immer mit Stieren, verspottet spielerisch den Stierkampf, indem es mit der Bazooka schießt: Affen im „Lichtgewand“, Toreros als chinesische Mandarine, surreale Anzüglichkeiten, alles wird verbraten bei dem guten Dutzend komischer Stierkampftruppen, die durch Spanien, Frankreich und Südamerika ziehen. Die Szenografie und die Zutaten sind immer dieselben: ein erster burlesker Teil mit jungen Kühen oder Kälbern, in der Mitte des Sandwichs ein Stierkampflehrling in Gold mit einem Jungstier und zuletzt der Clou des Spektakels, eine Corrida buffa. Eine Spaß-Corrida. Die Truppe Toronto verkleidet Affen als Matadore. Die superberühmte des Bombero-Torero, die 26 Personen umfasst, lässt Zwerge kämpfen, acht Stück im Ganzen, die vom madrilenischen Zirkus Price kommen. Manuel Celis, ihr Di-

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rektor, legt mit Hand an, er spielt die Rolle des Feuerwehrmann-Toreros, bevor er zur Kasse bittet. Er kassiert rund 40.000 Franc pro Abend und umschreibt die knirschende Zweideutigkeit des Genres mit einer so einfachen wie endgültigen Formel: „Was lustig ist, ist ein ernsthaft kämpfender Zwerg.“ Und da Manuel Celis einen Sinn für Werbung und grandiose Pleonasmen hat, kündigt er „seine“ Zwerge als „enanitos“, „kleine Zwerge“ an. Er nennt sie „los pequenos“, die Kleinen, und sagt zu ihnen: „Kinder, Zeit zum Auftritt. Heute Abend machen wir keine Pause.“ Die „Kinder“, zum Teil älter als er, schlüpfen in ihre Kostüme, zwei von ihnen klettern in das kleine Pferd aus Pappe, auf dem der picador reitet, der picador nimmt einen Besen als Lanze, die beiden Matadore Pepito und Carlos bekreuzigen sich, ihre peónes folgen ihnen. Ein Kalb wird losgelassen: die mit Leder geschützten Hörner reichen ihnen über die Köpfe ... Für Manuel Celis sind die enanitos eine Familienangelegenheit. Sein Vater Eugenio leitete bereits die Truppe und die Figur des Feuerwehrmann-Toreros wurde aus der Taufe gehoben vom Großvater Pablo Celis. Dieser war Verwalter des Teatro de Valencia, dessen zuständiger und oft betrunkener Feuerwehrmann als Modell für den Bombero-Torero gedient hat. Diese Figur war der neumodische Erbe der chaplins, bis zur Umstellung des Repertoires unabdingbare Protagonisten der charlotades. Erinnerung, Würdigung, Geologie des Komischen ... Der Bombero-Torero trägt immer noch den kleinen, falschen Schnurrbart à la Chaplin und folgt den guten Ratschlägen von Großvater Pablo: Die charlotada ist eine ernste Sache. Der Stierkampf der Zwerge ist keine Anti-Corrida, nicht ihr Gegenteil, sondern ein spezieller Stierkampf mit spezifischen Regeln, beim richtigen abgeguckt. Die Zwerge sind und definieren sich als Toreros, allerdings in einer komischen Vorstellung. Wie die cuadrillas des seriösen Stierkampfes werden sie je nach Dienstalter bezahlt und jeder hat seine Spezialität: Der picador ist der picador, die peónes sind die peónes. Pepito und Carlito, die Dienstältesten, sind die maestros, die Matadore. José Burgos „Pepito“ hat mehr als 2000 Kälber bekämpft und einigen Dutzend den Degenstoß versetzt. In Spanien töten die enanitos manchmal das Kalb am Ende der Corrida. Wenn es nicht zu groß ist. In dem Fall ist Pepito gezwungen, den Degen in den rincon de Ordóñez zu stechen, das heißt seitlich und ohne die Arme über den Hörnern zu kreuzen.

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Weil er zu klein ist. Aber, wie Pepito ausführt: „Ein Degenstoß in den rincon de Ordóñez ist eine blutige Sache und die Kinder finden das nicht immer gut.“ Deshalb, und weil es mehr Sympathien einbringt, begnadigen der Feuerwehrmann und die Zwerge das Kalb, nachdem sie ihm einen Haufen pases verpasst haben. Es wird in den Kulissen geschlachtet. Weil ein toro bravo nicht vergisst, auch nicht drei Jahre später, dass sich ein Typ hinter der muleta versteckt. Pepito, 55 Jahre alt, hat vor drei Monaten eine „normale“ Frau geheiratet, die er während der Feria von Manizales in Peru kennengelernt hat. In fünf Jahren geht er in Rente. Er ist mit dem Bombero-Torero seit 1964 unterwegs, hat am Jahresende eine Million Peseten verdient und sich durch das Bekämpfen jeder Art von Stieren eine meisterhafte Technik angeeignet, die die „seriösen“ Toreros bewundern und die sie stutzig macht: Wie schaffen es diese Zwerge, mit so kurzen Armen zu kämpfen, ohne sich den Stier auf den Hals zu laden? Vielleicht, weil die komische Corrida auch ein Laboratorium des Stierkampfes ist, eine Art von Schule im Herzen des Spotts. Antoñete, der bei der Truppe von Eugenio Celis gearbeitet hat, Dámaso Gonzáles, Espartaco, Manzanares und sogar Manolete haben die Grundlagen ihres Berufs inmitten der charlotadas gelernt, manchmal als Frauen verkleidet, inmitten von Zwergen. Dieses Jahr, und seit zwölf Monaten, ist es Luis Antonio Vallejo, 17 Jahre alt, Sohn des Lanzenreiters „Pimpi“ von Curro Vázquez, der in der Truppe des bombero den ersten Schliff bekommt. Jeden Abend, oft draußen hinter einem simplen Vorhang, kleidet er sich unter den Augen der Zwerge als Torero und konzentriert sich hinter der Barriere, während er zum x-ten Mal den Gags von Groucho Marx beiwohnt. Dann kommt sein Jungstier heraus. Und er stellt sich davor. Um Geld zu verdienen? Nein: um „coger el sitio, poner delante la cara del toro“. Um Erfahrung zu sammeln und den richtigen Platz vor dem Kopf des Stieres zu finden. Auch um durch Beobachtung der enanitos etwas zu lernen. Von Zeit zu Zeit bekommt er einen guten Stier, der plötzlich alle Fehler, alle die schlechten defensiven Gesten vergessen lässt, an die ihn die gemeinen Biester ohne Klasse Abend für Abend gewöhnt haben. Es dauert zehn Minuten, selten länger. Danach kleidet sich Antonio wieder in Zivil und wartet auf das Ende des Spektakels.

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Er denkt vielleicht an Espartaco. Wie jeden Sommerabend erwartet ihn, die Zwerge, die ganze Truppe eine endlose Nacht im Autobus. Morgen Abend wird er in Albacete vor einen Stier treten, übermorgen in der Nähe von Montpellier und am Abend danach wird er am anderen Ende von Spanien sein. In einem Jahr schneidet Antonio möglicherweise ein Ohr in Sevilla. Libération vom 26. 8. 1987

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Es gehört zur Pflichtübung des Stierkampfjournalisten, die Zusammenfassung der mehrtägigen Ferias zu schreiben: derjenige mit diesem Stier, jener mit jenem, drei pases hier und eine banderilla dort, so viele Ohren und so viele Pfiffe. Der aficionado studiert sie wie ein Koch ein Rezept: Er hat nichts davon gekostet, aber trotzdem den Geschmack auf der Zunge. Wie ein Musiker, der eine Partitur an der Bushaltestelle liest. Er entschlüsselt sie wie einen Rebus im Feuilleton der Tageszeitung. Der Leser dieses Buches kennt jetzt einige der Chiffren, manche Ausdrücke sind ihm nicht mehr ganz fremd. Und er kann vielleicht mittlerweile mit diesem nicht ganz typischen Abriss der Feria von Nîmes aus Durands blumiger Feder etwas anfangen.

Resiston, blaues Blut Mittwoch. Jonathan, der Kneipensohn der Rue Fresque, wird Matador. Die Würfelspieler und Trinker von Pastis mit Minzsirup, die seine Berufung zwischen zwei Assen, drei Lokalrunden und einer Untertasse mit Erdnüssen haben wachsen sehen, gehen mit ihren Taschentüchern zur Arena. Sein Papa im callejon hat einen bitteren Zug um den Mund, der nicht von seinem Bier kommt. Enamorado, der Stier der Toreroweihe, ist ein Leichtgewicht und außerordentlich entgegenkommend. Jonathan schneidet ein Ohr nach einer etwas blassen Vorstellung, in der korrekte Passagen mit eher konfusen abwechseln. Die Stiere von Victoriano del Río sind einer schaler als der andere. Sie verbleien die Corrida. Die melancholische Klasse von Fernando Cepeda reicht gerade aus, um dem unbeständigen Jarretero etwas Relief zu verleihen. Und trotz seiner Anstrengungen schafft er es nicht, den Ersatzstier von Salvador Domecq namens Bullicioso zu entkrampfen. Sein Kollege Uceda Leal reißt sich in Stücke. Er vergisst sein Phlegma, setzt Unverfängliches in Perspektive, hebt die muleta am Ende seiner pases und kämpft durchaus klug mit zwei schlappen Stieren. Ein Ohr. Die bislang abwesende Emotion, die jeder Kampfstier eigent-

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lich mitbringen sollte, kommt in letzter Minute durch Duende zurück, ein großer Hornträger von 620 Kilo. Leider verliert er viel an Dampf nach seiner stürmischen Begegnung mit dem picador. Jonathan Veyrunes behält einen kühlen Kopf, aber profitiert nicht genügend von seinem guten linken Horn und dem Adrenalinstoß, der das Publikum aufgeweckt hat. Dem Sohn der Taverne fehlt es an Reife wie einem jungen Wein. Normal für einen Anfänger. Donnerstag. Alain Montcouquiol hat von Denis Loré gesagt: „Man könnte meinen, er wäre in einem Stahlbad gehärtet worden.“ Die Eisenindustrie von Loré walzt die Stiere von Baltasar Ibán dermaßen platt, dass man sich nach dem mächtigen Aufprall der 577 Kilo Tomilleros auf die capa des Toreros dabei ertappt, den Stier zu studieren, um zu sehen, ob er nichts abbekommen hat. Denis Loré steht seelenruhig auf, offensichtlich ohne Blechschaden. Er beendet seine veronica auf Knien, führt Tomillero mit chicuelinas zum Pferd, holt ihn mit navarras und taffaleras davon weg, beginnt die faena de muleta mit dem Rücken zum Stier: Denis Loré macht ihm von Anfang an Dampf, genau wie dem Publikum. Danach lässt er seine Autorität bis zum Ende dieses mano a mano über die Baltasar Ibán walten, die etwas zerbrechlich sind, manchmal zurückhaltend, teilweise nobel und zwei davon „suave“, „lieblich“, wie die aficionados sagen. Loré durchbricht ihre Verteidigungslinien, indem er ihnen seine Energie und sein Kämpfen zwischen den Hörnern aufzwingt, und macht sie nach einer finalen Zitterpartie mit wuchtigen Degenstößen fertig. Er bekommt je ein verdientes Ohr von Barberito und von Agradecido. Um seine physische Kraft und seinen eisernen Willen richtig zu demonstrieren, schickt das Los ihm am Ende Pajarito, das völlige Gegenteil seiner Zuchtgenossen: ein böser Stier, der versucht, ihm den Hals aufzuschlitzen oder ihm ein paar Löcher in den Bauch zu stanzen. Vergebliche Liebesmüh. Diesen Donnerstag bleibt Loré der Herr der Schmiede. Sein Kollege El Fundi hat die am wenigsten praktikablen Baltasar Ibán abbekommen und zieht bitter enttäuscht mit leeren Händen ab. Freitag. Die Stiere von Gutiérrez Lorenzo sind Schnecken. Sie schleppen ihre Misere durch den Sand, ohne Tapferkeit, ohne Charakter, ohne Kraft. Wie soll man damit etwas vorführen? Wie kämpft man mit Schnecken? Die europäische Konstitution schweigt sich aus. Da außerdem El Cid, Castella und Perera keine Typen sind, die Räder schlagen, um sich interessant zu machen, ist die

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Corrida eine Anhäufung von sterbenslangweiligen Momenten, die es totzuschlagen gilt. Cid, Castella und Perera kämpfen, wie es in der Gebrauchsanweisung für Schnecken-Stiere steht. Klein a: sie nicht brüskieren. Klein b: sich Zeit nehmen. Klein c: Herumfuchteln vermeiden. Cid, Castella und Perera haben den Autopiloten eingeschaltet. Sie machen sich nicht die Hände schmutzig. Ihre Mamas werden zufrieden sein: Ihre schönen Kostüme bleiben sauber. Von Zeit zu Zeit erwacht ein Zuschauer: „Ach, ach, uns ist scheißlangweilig!“ Das ist als Zusammenfassung etwas kurz, aber völlig richtig. Samstagmorgen. Erste Vorstellung des novilleros Julio Benítez, der wirklich echte Sohn von El Cordobés. Ganz der Vater. Kopiert und eingeklebt. Julio kann sich vor die Stiere stellen, ohne mit der Wimper zu zucken, und hat ein feines Handgelenk und biegsame Hüften wie sein Papa. Aber mit der muleta sind seine Manieren noch ungehobelt und verdreht und jeder Gegner bekommt dasselbe Menü serviert. Und mit der capa? Ungeschickt. Trotzdem hat sich das Publikum von Nîmes in ihn verknallt und bereitet ihm einen unmäßigen Triumph: drei Ohren. Am Nachmittag. Niemand erwartet Wunder von den Stieren von El Pilar und wie immer liegt man völlig daneben. Die El Pilar sind nobel, spielen mit und geben Gas, und die Stärke von Resiston, dem sechsten, geht in die Geschichte der hyperbolischen Stiere ein. Er hält drei phänomenale piques aus. Die Musik ertönt, Hüte fliegen ins Rund. Das erschütterte Publikum klatscht stehend und zeugt seine Gunst ebenfalls dem picador Tapia und dem Pferd Pascha. Eduardo Gallo, der bei seinem ersten Stier eine präzise, gute Arbeit geleistet und ein Ohr geschnitten hat, verliert das Vertrauen. Resiston, der gefährlich mit den Hörnern um sich boxt, hat ihm den Verstand gelähmt. Gallo liquidiert ihn unter einer bronca. Eine große Ehrenrunde für Resiston, den sein Besitzer Moisés Faile nicht als besonders begnadet eingeschätzt hatte. Juan Bautista ist der andere Held des Tages. Er erwacht angesichts des sehr exzellenten Mironcillo. Er lässt ihn von weit her angreifen, verwickelt ihn in lange, zusammenhängende Serien von pases, tötet ihn a recibir. Zwei Ohren und erneut eine Ehrenrunde für den toten Stier. Matías Tejela bekommt ein Ohr, aber hätte mehr leisten können, wenn er kühner vor seine beiden guten Stiere getreten wäre. Eine letzte Ehrenrunde für den Verwalter der Zucht.

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Sonntag. Seit gestern ist das Publikum auf die pique gekommen. Die PalhaStiere, vor allem die ersten drei, geben ihm etwas für sein Geld, ohne Augenauswischerei. Sie werfen sich wie verrückt auf die Pferde der picadores, schieben mit gesenktem Kopf und werfen dabei einige um, sie sind bereit, unter der Lanze zu sterben, und ziehen sich mit geschlossenem Maul zurück. Ihre brutale, trockene und vibrierende Präsenz erlaubt keine Filigranarbeit. Das trifft sich gut: Meca, Litri und Padilla sind eher Toreros der Wagenheber als des manierierten Schnickschnacks. Padilla gibt sein Bestes: porta gayola, banderillas ins Schwarze, Beginn der faena auf Knien. Aber abgesehen von dem fröhlichen Lärm seiner Demonstration bekämpft er Bastonito, seinen ersten Palha, mit sehr viel temple. Ein Ohr. Er schneidet ein anderes bei Saltillo. Meca bekommt für seinen eher rechts- als linkslastigen, soliden Kampf das Anhängsel von dem bewundernswerten Peletero, der eine posthume Ehrenrunde dreht. Montagmorgen. Niemand erwartet, dass Morante seine übernatürliche faena vom Samstag, dem 7. in Jerez wiederholt. Obwohl alle es sich heimlich wünschen. Quasi niemand hat sie gesehen, aber jeder erzählt davon. Die wenigen Missionare, die dabei gewesen sind, werden mit Fragen überhäuft. Sie stottern ihre Verblüffung, skizzieren einen emotionalen Erdrutsch, ohne sich genauer auszulassen. Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen. Sowieso alles für die Katz. Es hat in der Sonntagnacht geregnet. Die Piste wird für unbenutzbar erklärt. Die Corrida wird unter Bitterkeit, Zorn und Fragen annulliert. Nîmes, das sich zu den vier oder fünf größten Stierkampfarenen zählt, hat nicht einmal eine kleine Plane, um seinen Sand im Fall eines vom Wetterbericht vorhergesagten Gewitters abzudecken? Dieser Pfingstmontag, als stierkämpferisches Manifest gedacht, um gegen seine Abschaffung als Feiertag zu protestieren, verwandelt sich in eine feuchte Pfütze. Die endgültige Bestätigung kommt am Nachmittag. Die Stiere von Daniel Ruiz und Lozano sind wie die Meinungsumfragen für den Premierminister Rafarin: ganz unten. Keine Spannkraft, keine Rasse. El Juli schneidet ein Ohr, indem er schonungslos einen Stier bekämpft, der ohne Zweifel mehr Rücksicht verdient hätte. Dasselbe Spielergebnis für Rincón, dem es schließlich gelingt, den feigen und weichlichen Tirachinas in einigen pases zum Mitmachen zu zwingen. Libération vom 19. 5. 2005

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Es gibt Momente im Stierkampf, die man nicht vergisst, egal, wie lange sie zurückliegen. Es gibt Stiere, die man nie wieder vergisst, egal, wie lange sie schon tot sind. Wenn man Jacques Durand nach einem Stier fragt, der ihn besonders beeindruckt hat, sagt er ohne zu zögern: „Bastoncito“. Dieser Mann, der die Zurückhaltung selbst ist, sagt auch, dass er ihn hätte küssen mögen. Er sagt es sehr ernsthaft, mit einem kleinen Lachen, wie zur Entschuldigung für solche sentimentalen Albernheiten. Frisch aus seiner Feder sieht das jedenfalls folgendermaßen aus.

Bastoncito lässt Rincón Staub schlucken Bastoncito, 501 Kilo schwer, ein schwarzer Stier mit weißen Flecken am Leib aus der Zucht von Baltazar Ibán, konnte töten. Er hatte die Hörner dazu: spitz zulaufend und nach oben gebogen. Cesar Rincón war sich darüber klar, am Dienstag in Madrid. Das Publikum, die bucklige Mutter des Königs in ihrer Loge, die Whiskyverkäufer in weißer Bluse auf den Rängen waren sich darüber klar. Bastoncito, der „kleine Knüppel“, war sich möglicherweise auch darüber klar. Aber es reicht nicht, spitze und hohe Hörner zu besitzen, um zu töten. Um zu töten, muss man wissen, dass man solche Hörner hat, und wissen, wie man sie benutzt. Und das jedenfalls wusste Bastoncito. Die auf den abgewetzten Lederkissen von Las Ventas hingefläzten aficionados sagen es, während sie das Eis in ihren Drinks kreisen lassen: Wenn dich ein solcher „Rassestier“ erwischt, bleibt er dran und lässt erst los, wenn er dich in Stücke gerissen und in tausend Teile zerlegt hat, dich reif gemacht hat für die Krankenstation, die erste Seite der Zeitungen am nächsten Tag oder noch Schlimmeres. Bastoncito beweist von Anfang an seine Rasse, indem er furchtlos das Rund in Beschlag nimmt und die peónes hinter die burladeros scheucht, die den Lücken in der Barriere vorgestellt sind. Während der ersten Lanze zeigt er zwei Minuten lang dem picador Antonio Pinilla und seinem Pferd die Landschaft. Er schiebt sie von den Zuschauerrängen des tendido 8, wo die Reiter Stellung

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beziehen, fast bis zum tendido 1 und zwingt die Mutter des Königs, ihren steifen Hals zu drehen. Das Publikum beklatscht Bastoncito, dankt ihm für seine Tapferkeit und seinen Schwung, für diese Wiedergutmachung nach den bedeutungslosen Stieren und den fahrigen Lanzenreitern der Vortage. Die zweite pique will Antonio Pinilla da setzen, wo ihn Bastoncito endlich in Ruhe lässt, wo dieser ihn abgestellt hat wie eine leere Flasche: zwischen dem tendido 10 und 1. Das Publikum protestiert. Es hat endlich einmal einen toro bravo unter der Hand und will davon profitieren. Cesar Rincón sieht das ein. Er schickt Antonio, sein Pferd und seinen Hut in Form des Petersdoms zurück vor den tendido 8, wo die Orthodoxie und die Logik den picador ansiedeln, nämlich genau gegenüber vom toril, aus dem der Stier in die Arena kommt. Rincón führt ihn vor das Pferd. Die Arena schweigt erwartungsvoll. Bastoncito denkt etwas nach, so lange, bis ihm Antonio und sein Pferd wieder quer im Hals stecken. Dann greift er ohne zu zögern erneut an, unter Beifallsrufen. Las Ventas rumort. Endlich ein echter Stier. Ein aficionado ruft Rincón zu: „¡Ya tienes un toro, Cesar! ¡Venga, coño, tu que sabes!“ „Du hast einen STIER, Cesar. Los, verdammt, du weißt Bescheid!“ Rincón weiß Bescheid. Er weiß, dass er hier zwei Ohren schneiden kann, um ein fünftes Mal im Triumph zur puerta grande, der „großen Tür“, hinausgetragen zu werden. Das würde seinem Manager Luis Álvarez erlauben, einen fünften Smaragd, diesen Edelstein Kolumbiens, den vier anderen auf seiner Krawattennadel hinzuzufügen. Jeder steht für einen Triumph Cesars, des Kolumbianers, in Madrid vor drei Jahren, 1991. Aber diesmal wird es nicht einfach werden. Auch wenn Bastoncito töten kann, ist er trotzdem kein mörderischer Stier, weder dubios noch hinterhältig. Er ist sogar nobel, auf seine Art. Seine Noblesse ist nicht die eines guten Kerls, ohne Relief und sozusagen etwas blöd, die bei manchen großzügigen und zuvorkommenden Stieren einen Eindruck der Frechheit vorgaukelt. Bastoncito ist nicht frech. Er ist anspruchsvoll und entschlossen. Seine Noblesse ist messerscharf und gefährlich. Er spielt ohne Heuchelei ein doppeltes Spiel. Seine Angriffe sind ehrlich und gradlinig, aber er präsentiert die Rechnung am Ausgang. Dann – das Wortspiel sei erlaubt – knüppelt er los. Zum Beispiel läuft er ohne abzukürzen rechts oder links vorbei, wenn ihn der lange Lulatsch in Fuchsia und Silber, Vicente Yesteras, oder der Kleine in Bordeauxrot und Schwarz, Manuel Gil, für die banderillas

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anlocken. Aber wenn die beiden señores – vor allem Yesteras – ihre Zahnstocher nach den Regeln der Kunst gesteckt haben, stoppt Bastoncito nicht wie viele seiner Artgenossen ab, um in einer Ecke zu schmollen. Im Gegenteil, er verfolgt sie wie besessen bis zur Barriere, trotz der Ablenkungsmanöver der anderen peónes. Vicente Yesteras, dessen ganze Ehre in der steifen Eleganz der Haltung liegt, muss – natürlich würdevoll – über die Barriere hechten. Rincón widmet Bastoncito dem Publikum. Er beginnt den Kampf im Terrain vor dem tendido 10 mit tief gehaltenen pases, die klarmachen sollen, wer hier der Chef ist. Dann lockt er ihn ins Zentrum. Augenscheinlich ohne Probleme. Alles ganz einfach? Nein. In der Mitte angekommen, kompliziert sich die Sache. Bastoncito greift ohne Entgegenkommen und ohne jede „Güte“ an. Er dreht schnell und heftig in den kurzen pases. Am Ende einer Serie, wenn er vor der Brust des Toreros entlangstreift, setzt er Rincón die Hörner an den Hals. Der unbändige Rhythmus seiner Kampfeslust nötig den Torero zum Rückschritt, zum erneuten Positionieren. Rincón steht dicht am Abgrund, aber er behauptet letztendlich seine Stellung, ohne sich dabei ganz durchzusetzen. Er ist der einzige Torero, der einem solchen Stier die Stirn bieten kann. Vielleicht hätte ihn Espartaco vor ein paar Jahren an einem guten Tag so ehrlich bekämpft. Oder, wenn man weiter zurückgeht, El Viti mit seinem borealen toreo. Große Vorbilder. Die ausufernde Bereitschaft von Bastoncito spiegelt sich in der Erklärung des Unterschieds zwischen soléa und seguiriya, geliefert vom Flamencosänger Pepe de la Matrona: „Die seguiriya würde ich mit einem toro pastueno vergleichen, einem offenherzigen Stier, der dem Torero die Wahl des Ortes gestattet, weil sein Rhythmus mehr Platz und Atemfreiheit lässt. Die soléa wäre demnach ein toro bravo, sehr schwierig in den Griff zu kriegen, weil sein Rhythmus präziser ist, drängender. Die soléa lässt dem, der sie singt, weniger Spielraum.“ Bastoncito, Stier der soléa, wirft schließlich den einsamen Rincón in der Mitte der Arena zu Boden. Ay! Seine Hörner bohren sich nur Zentimeter vor dem hingestreckten Körper in den Sand. Wie der Stierkampfjargon sagt: Er „schenkt ihm das Leben“, obwohl er ihn in seiner Gewalt hatte. Am Ende seiner faena führt Rincón ihn an die Barriere vor den tendido 10 zurück, um ihn in einer Reihe von naturales unstreitig zu dominieren. Er verpatzt danach den ersten Todesstoß, aber wirft sich mit derselben Loyalität ein zweites Mal zwischen die Hörner. Der Degen steckt, aber Bastoncito erwischt

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ihn erneut und schenkt ihm noch einmal das Leben. Rincón, der sich eine Handsehne am Haken einer banderilla durchtrennt hat, erhebt sich mühsam, von seinen peónes gestützt. Sein weißes Kostüm ist voller Blut. Sein eigenes? Das des Stieres? Er hält sich den Bauch. Man setzt ihn auf das Laufbrett der Barriere. Er beobachtet Bastoncito, der plötzlich zusammenbricht, als wäre er verblüfft, sterben zu müssen. Er fühlte sich unbesiegbar. Sein ganzer Kampf, seine ganze Unerschrockenheit sprachen von dieser Gewissheit, die sein Tod nicht zunichtemacht. Er stirbt, aber er ist nicht besiegt, nicht bezähmt. Er hat wie ein Berserker mit Rincón gekämpft, der ihm in aller Ehre entgegengetreten ist. Die Kompromisslosigkeit des einen hat ihr Echo in der des anderen gefunden. Cesar Rincón bekommt ein Ohr, bevor man ihn in die Krankenstation führt. Dem Leichnam von Bastoncito wird unter Beifall eine Ehrenrunde gewährt, bevor ihn der Schlachter in Empfang nimmt. Seit fünf Jahren ist keinem toten Stier in Madrid diese Ehre zuteilgeworden. Der Rest der Corrida war unerheblich. Juan Mora, geschickt mit der capa, bekämpfte mit oberflächlicher Eleganz Sartenero, einen weiteren „Rassestier“ von Baltasar Ibán. Guason, seinem zweiten Stier, aus der Zucht von Victoriano del Río, mangelte es an Kampfbereitschaft. Emilio Muñoz trat auf der Stelle. Er war schlechter Laune und ohne gute Ideen. Ganz im Gegenteil zu den internationalen Brigaden während des Bürgerkrieges weigerte er sich, es mit seinen Gegnern aufzunehmen. Er jedenfalls war nicht gekommen, um in Madrid zu sterben. Libération vom 11. 6. 1994

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Jacques Durand ist ein Fachjournalist. Manche schreiben über Segelboote, andere über teure Restaurants, wieder andere über Gartenpflege. Er schreibt über den Stierkampf. Sein Thema interessiert a priori nur eine Handvoll Leser, verglichen mit Fußball oder Fotografie. Aber welcher Fachjournalist kann sich brüsten, in einer fünfhundert Jahre alten Tradition zu stehen? Und bei welchem Fachjournalisten stürzen die Leser am fraglichen Tag zum Stand, kaufen die Tageszeitung, blättern hastig zur seiner Chronik durch und lesen die ersten Zeilen noch im Stehen? Inmitten von Passanten, Abgasen und Straßenfegern lesen sie dankbar von Stieren und Männern in rosa Strümpfen.

Als Revistero sich auf Dinero reimte Während der Feria von San Sebastián blies die Gräfin von Albe und Schwiegermutter von Rivera Ordóñez, Cayetana Fitz-James Stuart, dem Stierkampfkritiker der Zeitung ABC, Vincente Zabala de la Serna, den Marsch: „Mein Schwiegersohn ist ein sehr guter Torero, sehr mutig, und du machst ihn jedes Mal fertig!“ Sich von der Schwiegermama eines Toreros am Ärmel ziehen zu lassen, ist sicher ungemütlich, aber weniger gefährlich, als sich mit dem Vater eines Toreros anzulegen. Vor einigen Jahren brach Leonardo Muñoz mit der Eisenstange die Beine eines revisteros aus Sevilla, der seinen Sohn Emilio abgekanzelt hatte. Im Ganzen ist die Stellung des Stierkampfberichterstatters wesentlich weniger bequem als die sogenannte des Missionars, vor allem, wenn man an Alfonso Navalón denkt, der sich eines Tages in einer Hoteltoilette in Bilbao mit dem Kopf im Klobecken wiederfand, während ein banderillero von El Cor­ dobés die Spülung zog. Alfonso Navalón, berüchtigter und gefürchteter Stierkampfkritiker, begabter und gnadenloser Polemiker, nahm mit Vorliebe die zu Erfolg gekommenen figuras unter Beschuss: El Viti, Ordóñez, Dominguín, Paquirri, Ojeda, Muñoz, Manzanares, den Züchter Miura. Er ahndete jeglichen Schwindel. Er hat Ojeda einen „Kartoffelsack“ genannt und Manzanares einen

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„schlecht erzogenen und feigen Bengel“. Eines Tages hat ihm die cuadrilla von Antonio Ordóñez mit handfesten Argumenten die Leviten gelesen. Ordóñez, der im Übrigen gemeinsam mit Julio Aparicio den revistero der Zeitschrift Pueblo, Domínguez Olana, „durchgeschüttelt“ hat. Derselbe Navalón wurde im Februar 1981 beim Verlassen des Park-Hotels von Mérida in Venezuela von Manzanares und seinem Bruder verprügelt. Ursprung dieses tiefen und immer noch aktuellen Hasses ist eine undurchsichtige Geschichte, in deren Mittelpunkt der Mercedes steht, den Manzanares seinem damaligen Freund für seine journalistischen Dienste verweigert hat. Es geht die Sage, dass Navalón, Stierkampfberichterstatter für Informaciones, Pueblo und schließlich für Diario 16, ein Gauner war, korrupt bis ins Mark, der seine beste Feder dem Meistbietenden verkaufte und die anderen durch den Schlamm zog. Luis Miguel Dominguín und Paco Ojeda haben ihn denunziert. Sie schworen, Navalón hätte ihnen seine Dienste angeboten und sie hätten ihn rausgeworfen. Mit Ausnahme einiger großer Namen wie Corrochano, wie Díaz-Cabañate, wie Felipe, dessen Entlassung bei ABC die Stierkampfmafia durchsetzt, oder wie Vater Zabala, den der Stierkampftrust versucht, aus den einschlägigen Programmen des spanischen Fernsehens zu verdrängen, existiert die Stierkampfkritik Anfang der Siebzigerjahre im Spanien Francos meist in einem Rahmen generalisierter und quasi offizieller Korruption. Die Toreros spielen mit. Bei seinem Comeback 1971 hält sich Luis Miguel Dominguín zwei Schreiberlinge namens Tico Medina und Rafael Muñoz, um sein Loblied zu singen. Als die versprochene reiche Bezahlung ausbleibt, werfen die beiden im August das Handtuch. Emilio Romero, der Direktor der Franco-Gewerkschaftszeitung Pueblo, lässt seine Journalisten für El Cordobés arbeiten. Manolete hat seinen Weihrauchschwinger in der Person von Ricardo García „K-Hito“, wie viele andere auch. Die Käuflichkeit eines großen Teils der Kritik jener Zeit ist institutionalisiert und strukturbedingt. Nach Ende des Bürgerkrieges sind die Zeitungen pleite. Niemand macht Werbung, es gibt fast kein Papier. Die Idee, freie Spalten dem Stierkampf zu verkaufen, liegt nahe. Die revisteros zahlen die Zeitungen für deren Redaktion, ohne Gehalt zu beziehen, und bitten die Toreros zur Kasse, die solchermaßen die sie betreffende Berichterstattung in Werbung verwandeln. Es ist nicht sicher, ob heutzutage dieser Zusammenprall von Kritik und Ver-

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kaufsförderung völlig aus der Welt geschafft ist, vor allem in der Fachpresse. Will zum Beispiel ein Torero sein Foto auf der ersten Seite von der StierkampfWochenzeitschrift Aplausos sehen, muss er blechen. Preis: 200.000 Peseten, rund 80.000 Franc. Diese Käuflichkeit, damals allgemein verbreitet und systematisch praktiziert, vermutet der Enzyklopädist Cossío bereits in der Kriegserklärung der Zeitung El Mengue an den sevillanischen Torero Gordito in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Gordito war der Rivale von El Tato und dieser der Liebling von El Mengue. Der Feldzug gegen Gordito, der seine banderillas dem anstürmenden Stier al quiebro, stehend, mit gefesselten Händen und Füßen, versetzte, schürte die Abneigung des madrilenischen Publikums gegen den Torero. Dieser beendete seine Karriere 1880, nachdem er 2830 Stiere ohne eine Hornverletzung getötet hatte, was ihm die Verachtung von Pepete einbrachte, der später einem Stier zum Opfer fiel und der gesagt hat: „Gordito kämpft nicht, er macht den Kasper vor den Stieren.“ Es wird Santiago López Pelegrín „Abenamar“ nachgesagt, der erste „moderne“ Kritiker des Stierkampfes gewesen zu sein. Bis 1836 schrieb er in der Zeitung El Mundo. Er ist Koautor der Abhandlung Tauromaquia, herausgegeben 1836 und geschrieben von dem Torero Francisco Montes „Paquiro“. Man sieht allerdings den Ursprung der Stierkampfchronik in den Beschreibungen der offiziellen Feiern des Königshauses aus dem 17. Jahrhundert, während derer Stiere bekämpft wurden. Demnach stammt die erste Beschreibung einer Corrida vom 19. April 1556 anlässlich der Ernennung Philipps II. zum König in Alcalá de Henares. Und demnach war Cervantes revistero in Valladolid 1605, anlässlich der Geburt Philipps IV. Im 18. Jahrhundert werden die Stierkampfchroniken dann ausführlicher, informativer und literarischer. Antonio Peña y Goñi, „Sobaquillo“, Don Modesto, „Sentimientos“, und Don Pio sind Beispiele für Erschaffer eines Genres, das in La Lidia ab 1888 sein fachspezifisches Sprachrohr bekommt. Im 20. Jahrhundert ist der große Meister der Kunst, über den Stierkampf zu schreiben, Gregorio Corrochano. Er deckt in ABC die spannende Epoche ab, die vom Tod Joselitos 1920 bis ins Jahr 1936 reicht. Corrochano gibt seine Chronik auf, als sein Sohn Alfredo den Beruf des Matadors ergreift. Er ist bekannt für seine technischen Kenntnisse, sein literarisches Talent, seinen Sinn für Pädagogik und seine intellektuelle Redlichkeit. Er schreibt nach dem Tod

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von Joselito: „Was heißt es, Stiere zu bekämpfen? Ich weiß es nicht. Ich dachte, Joselito wüsste es, und musste mit ansehen, wie er von einem Stier getötet wurde.“ In einer seiner letzten reseñas vom 12. Mai 1936 beschreibt er eine Corrida in Madrid, während der Domingo Ortega zuerst von dem „schwarzen Vogel“ des Publikums ausgebuht wird. Der Torero besänftigt die Menge, indem er ihr seinen Stier widmet und seinen Kampf auf Knien beginnt, begleitet von Pfiffen, um schließlich ein Ohr zu schneiden. Corrochano schließt seinen Bericht, betitelt Die Pfiffe des schwarzen Vogels, mit den Worten: „Domingo Ortega verließ die Arena, in der Hand den toten schwarzen Vogel tragend, der ihn ausgepfiffen hatte.“ Und heutzutage? Die zeitgenössische Stierkampfchronik der großen nationalen spanischen Tageszeitungen, Joaquín Vidal für El País, Zabala für ABC, Javier Villán für El Mundo und Barquerito für Diario 16, wurden unter dem Gesichtspunkt des literarischen Genres von María Celia Forneas Fernández, Professorin für Journalismus an der Fakultät der Informationswissenschaften der Universität von Madrid, analysiert. Die Autorin, von der täglichen Berichterstattung der vier revisteros während der Feria von Madrid 1994 ausgehend, untersucht deren Ansatz vermittels linguistischer Erforschung der Themen und Techniken eines jeden. Ihre Schlussfolgerung: Auch wenn die zeitgenössische Stierkampfchronik, Produkt der Entwicklung des Genres seit 200 Jahren, den normalen Einflüssen der kulturellen Entwicklung Spaniens unterliegt, bleibt sie dennoch den drei großen Prinzipien der lateinischen Rhetorik, von Cicero bis zum heiligen Augustin, verhaftet: Sie informiert, sie schafft Literatur, sie bildet sich ein Urteil. Ein Urteil, oft vom Lyrismus überspült, sogar bei dem gestrengen Joaquín Vidal, der nach dem großen Kampf von Julio Aparicio am 18. Mai 1994 in Madrid schrieb: „Es war der Stierkampf eines Traums. Es war das toreo, dem die echten Matadore im Halbschlaf der Corridas nachhängen, wenn sich in den Mäandern der Gedanken die Träume des Ruhmes und die Vorahnungen der Tragödie mischen.“ ¡Si señor! Libération vom 29. 9. 1999

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Die meisten Artikel in diesem Buch sind vor dem Jahr 2000 entstanden. Bis dahin schrieb Jacques Durand auf einer Schreibmaschine, diktierte sie einer Sekretärin von Libération in Paris durchs Telefon und warf seine erschienenen Zeitungsseiten mit dem Titel Tauromachie zwecks Archivierung in einen Piratenkoffer. Seitdem hat auch er sich mit Laptop und Internet vertraut gemacht, seine Artikel werden auf der Festplatte gespeichert und sind wenigstens den Französischkundigen in Buchform zugänglich. Dass dieser Medien- und Jahrhundertwechsel nichts an seiner Ironie, seinem Stil und seiner jugendlichen Begeisterung geändert hat (Jacques Durand ist heute im Rentenalter), mag folgender Artikel über das letzte unglaubliche Phänomen des Stierkampfes, den Torero José Tomás, zeigen.

Der unsagbare Tomás Noch zwei Tage bis zur Springflut. Die diesjährige Jubiläums-Feria in Madrid hat mit einer delikaten Vorspeise begonnen: einer Handvoll naturales von Julio Aparicio. Die muleta entspannt und tief, das Kinn auf der Hemdbrust und die Natur bekommt ihr Recht. Danach verschwindet Julito vom Radarschirm. El Juli, ehemals Mozart des Stierkampfes, hat einen Doppelgänger geschickt: einen Roboter, der einen kraftlosen Stier von Garcigrande und einen kopfschüttelnden Stier von Peñajara durchlaufen lässt. Castella, der französische Nationalheld, hätte vielleicht ein Ohr seines Peñajara schneiden können, aber er bleibt hinter dessen wahrlich zahmen Gebaren zurück und setzt zudem die estocada in den Sand. Noch ein Tag bis zum großen Erdbeben. Mittwoch ist die Corrida de la Beneficencia, deren Erlös wohltätigen Zwecken zugeschustert wird. Mit seinem Stier Tabaquillo von Núñez del Cuvillo kassiert Morante de la Puebla, depressiv und zerbrechlich wie Glas, erst einmal einen Sturm der Entrüstung. Er legt die bronca zu seinen mit Lavendeltinte geschriebenen Akten und gibt eine Lokalrunde aus: eine wundersame Tauromachie mit der capa vor seinem zweiten

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Stier namens Panadero. Tiefe veronicas, endgültig schöne halbe veronicas, die die Zuschauer auf den Rängen nachzuahmen versuchen, chicuelinas im Gehen: Die Kunst Morantes, „poetischer Torero“ laut der Definition Arrabals, blendet Las Ventas. Seiner Arbeit mit der muleta, vor allem mit der linken Hand, mangelt es an Kraft, aber ein Ohr fällt trotzdem ab. Ein junger Intellektueller aus gutem Hause namens Cayetano macht seinen Einstand in Madrid. Einige Tage zuvor hat er in der Arena sechs Stiere vor einer Handvoll geladener Gäste getötet, zur Übung. Auch er erhält ein Ohr von Celoso, einem kleinen, gradlinigen Stier von Victoriano del Río. Seine Stärke: die flüssigen Serien von pases mit der rechten Hand, ein verblüffender Handwechsel der muleta, ein ehrlicher Degenstoß und die Frechheit, mit etwas ungeschickten gaoneras auf ein galaktisches quite par chicuelinas von Morante reagiert zu haben. Cayetano spendet die 30.000 Euro seines Vertrages dem nichtstaatlichen Verein Save the children. Seine Schwäche: traurige muleta in der linken Hand, ausgeleierte veronicas und, angesichts des hervorragenden Stieres Pesadilla, der seine Ohren geradezu anbot, eine Oberflächlichkeit, bei der man den Eindruck hatte, er würde „seine Reime an den Fingern abzählen“, wie Edgar Allan Poe es von manchen Routinedichtern sagte. Der Tag des kosmischen Sturms. Am Donnerstagabend kommen viele der alten aficionados der obersten Ränge mit Tränen in den Augen aus dem Aufzug der Arena. Im selben Moment unterbricht der Sprecher von TVE seine Nachrichten und meldet, das José Tomás vier Ohren in Las Ventas geschnitten hat, nach sechs Jahren Pause, nach dem Streit über die Höhe seiner Gage und nach seiner Weigerung, die Corrida vom Fernsehen übertragen zu lassen. Sein Comeback verdankt er einer politischen Entscheidung. Seine Anwesenheit wurde von der Regierung der Communidad de Madrid eingefordert. Für die Zeitungen war José Tomás der Apfel und das Ei der Feria del Aniversario. Zwei Tage zuvor beteten ABC und La Razón dieselbe Litanei herunter: Für Tomás sei es die Stunde der Wahrheit. Am Donnerstag war die Wahrheit pünktlich zur Stelle. Genau wie die Schwarzmarkthändler: 2000 Euro für einen guten Platz im Schatten. Mit der capa, auch wenn sie sich manchmal an den Hörnern des Stieres Dakar festhakte, und mit der muleta, vor allem vor dem Rassestier Comunero, zeichnete die Spannbreite seiner pases, ihre magnetische Kraft, ihre Feier-

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lichkeit ohne Schnörkel, die Radikalität seiner Ortswahl vor dem Tier, seine Ehrlichkeit ohne Verzierungen – keine einzige manoletina! – eine Art stierkämpferische Totale. Sagen zu wollen, was in Las Ventas während der geteilten Ekstase, dem stehenden Beifall, den Rufen „Torero! Torero!“ vorging, wäre vergebliche Eitelkeit. Das Wort, welches sich dem Schock am besten nähert, wäre „Trauma“. Ein Trauma, das sich genauso gut zerstörerisch auswirken kann, wenn jemand mit den Erinnerungen „daran“ wieder in die Arena geht. Es war, als hätte Tomás die Feria des San Isidro zerstört, die anderen Toreros, die Saison, die Kämpfe der kommenden Jahre und die Vermessenheit, es in Sprache ausdrücken zu wollen. Genau wie er den wirklich tapferen Stier Comunero zerstörte, der am Ende von ihm abließ und rückwärts ging. Angesichts dieses Kerls bekam das Tier es mit der Angst zu tun. Im Gegensatz zu Tomás’ letzten Kämpfen störte keine Vorahnung eines unerträglichen Dramas diese Momente, für die „Gnade“ vielleicht das richtige Wort ist. Am Horizont der zwei Apotheosen winkte keine Tragödie. Außer beim dem Degenstoß vom Stier Dakar. Eine seltene estocada. Selten, weil es keine estocada war, sondern russisches Roulette vermittels eines Revolvers mit zwei Kammern und einer Kugel. Ohne den Kopfstoß des Stieres abzulenken, hat sich Tomás zwischen die Hörner geworfen. Man hörte ihn denken: „Du oder ich.“ Nach jedem seiner Kämpfe flatterten 24.000 weiße Taschentücher wie irrsinnig gewordene Tauben und El Rosco, der miesepetrige Integrist des tendido 7 klatschte stehend, als wolle er sich die Pranken brechen. Am nächsten Tag in der Bar Miau gestand Robert Piles, der ehemalige Matador, dass er in Madrid Camino und El Viti auf ihrem Höhepunkt und sogar einmal einen großartigen Ordóñez gesehen hat, aber so etwas noch nie. Im Restaurant Casa Alberto mimte ein Kunde den Todesstoß mit einer Spargelstange voller Mayonnaise. Der verantwortliche Präsident der Corrida erklärte seinen Bediensteten, dass er für den ersten Kampf nur ein Ohr gegeben hätte, wäre der Druck nicht so stark gewesen und ein Aufruhr zu befürchten. Er fügte hinzu, dass es einer der wichtigsten Momente seiner Laufbahn gewesen sei. Manche Kenner hätten den zweiten Kampf ohne Weiteres mit dem Schwanz des Stieres belohnt. Alle Zeitungen des nächsten Tages, bis hin nach Mexiko, brachten José Tomás auf der ersten Seite. El País titelte „Ya es leyenda“, „Jetzt ist er Legende“. In El Mundo überschrieb Javier Villain, der oft zu Recht den Wurm im Apfel sucht:

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Der unsagbare Tomás

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„Ich ergebe mich: José Tomás ist gekommen.“ ABC hämmerte: „José Tomás ist DER Torero.“ Und Tomás selbst? Sich selbst treu: ernst, ohne anzugeben, ohne zu übertreiben. Ganz Torero. Nach der Corrida, im Hotel Palace, schwatzte er mit ein paar aficionados und ging danach mit seinen peónes und seinen Kumpels etwas essen. Vor der Corrida, in seinem Zimmer, hatte er Weinkunde für Anfänger von Sánchez Magro gelesen, wo Fragen gestellt werden wie: Darf man im Restaurant am Korken schnüffeln? Musste man aficionado sein, um von José Tomás erschüttert zu werden? Nein. Er war allgemeingültig. Man befürchtete Katerstimmung für den Stierkampf am nächsten Tag. Überhaupt nicht, dank dem Torero Perera, einem relativ unbeschriebenen Blatt. Miguel Ángel Perera wird ebenfalls auf den Schultern der Menge durch die puerta grande hinausgetragen. Er hat die zwei Ohren von Berlanguillo, einem Stier der Züchtung Núñez del Cuvillo, geschnitten. Dieser schiebt lau unter der Lanze des picadors, aber seine Rauflust erwacht im Laufe des Kampfes. So sehr, dass einige zu Unrecht eine posthume Ehrenrunde fordern. Perera hat ihm mit der Langsamkeit seines temple, seiner fordernden muleta und einer durchstrukturierten Idee der Tauromachie von Anfang an gezeigt, wer der Stärkere ist. Ein großer Torero, dem ein Zuschauer während der Ehrenrunde einen Hahn zuwirft. Die große Hoffnung Alejandro Talavante, derzeit im Tief, hätte ihm durch die puerta grande folgen können, wäre der sechste Stier Luminito nicht so lahm gewesen wie Talavantes Versuche letztlich formlos. José Tomás kommt am Sonntag wieder nach Madrid. 24.000 Taschentücher liegen auf dem Bügelbrett. Libération vom 13. 6. 2008

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Versuch eines Nachwortes Im Zentrum des Stierkampfes steht der Tod. Nicht der Tod des Matadors, sondern der Tod des Stieres. Das zu leugnen, wäre feige. Die Zahlen sprechen für sich: Seit Beginn der offiziellen Buchführung vor 250 Jahren sind 55 Matadore in der Arena gestorben, gegen viele Hunderttausend Stiere. Vielleicht sollten wir endgültig das missverständliche deutsche Wort aufgeben. Der „Stierkampf “ ist kein Kampf, da sein Ausgang feststeht: Der Stier verblutet im Sand, der Mann geht zurück ins Hotel, um zu duschen. Das spanische Wort „Corrida“ trifft es besser. Ein Lauf. Der Lauf der Dinge. Der öffentliche Tod des Stieres ist die Achse des Rades. Der Tod, vorerst nicht rückgängig zu machen, ist eine ernste Sache. Ohne ihn hätte die Corrida keinen Sinn. Den Tod des Stieres abschaffen, heißt, die Corrida abschaffen. Der Ernst macht die Sache wichtig. Kein aficionado sieht im Tod des Stieres einen Zeitvertreib und niemand amüsiert sich dabei. Es wird nicht viel gelacht in einer Arena. Der Stier ist ein eigenwilliger Halbgott, gezüchtet von Menschen, von goldenen Zwergen genasführt, von ohnmächtigen Zeugen bewundert. Wie jeder gute Halbgott ist er nicht listig, sondern zornig und ohne Falsch, mit wulstiger Stirn und langen Wimpern. Er stirbt nicht schmerzfrei im Bett, nicht an Altersschwäche, nicht winselnd, aber auch nicht als Held. Er stirbt, ohne zu reden, ohne nachzugeben, ohne zu fragen. Dumm, trotzig, tapfer. Man lässt ihm keine Wahl. Keinem unserer Zuchttiere, keiner Katze und keinem Schaf, wird vom Menschen irgendeine Wahl gelassen. Ebenso wenig den Wildtieren. Kein Salamander, kein Braunbär wählt den Ausbau einer Flug-

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bahn oder das Aussterben seiner Beute. Der Kampfstier, dieses Paradox einer wilden Zuchtrasse, macht da keine Ausnahme. Nach fünf Jahren Freigelände, wo er mit seinen Artgenossen kämpft, wird er in die Arena geschafft, und in dieser Situation lässt ihm sein Charakter keine Wahl: Er muss den Menschen bekämpfen, der ihm den Platz streitig macht. Er würde auch auf einen Tiger oder ein Fahrrad losgehen. Es ist seine Natur, auf deren Erhaltung der gute Züchter alles ausrichtet. Die der Zuschauer über alles respektiert. Mancher denkt, man könnte doch diese Stiere einfach auf der Weide lassen, wo sie mit hübschen Kühen glücklich alt würden. Aber das Züchten dieser unnahbaren Rasse rentiert sich weder für das Fleisch noch für den Zirkus. Ohne Corrida könnte niemand diese Stiere töten, da es sie ganz einfach nicht mehr geben würde. Eine ökonomische Tatsache: Abschaffung des Stierkampfes heißt Abschaffung der Stiere. Niemand braucht sie außer dem Betrachter einer Corrida. Es ist eine von vielen existenziellen Fragen in der Welt der Stiere: Ist es besser, nicht zu existieren und nicht zu leiden, als im Licht zu stehen und einen hohen Preis dafür zu bezahlen? Der aficionado geht in die Arena und sieht dort Stiere sterben, weil er sie über alles liebt. Mehr als sein Auto, mehr als seinen Hund, mehr als seine Familie, mehr als sein Lieblingsessen. Ohne Stiere mag er nicht mehr leben. Der Stier, der ernsthafte, der sich treue, kann nichts anderes, er kann nicht durch Reifen springen oder Bälle balancieren oder auf den Hinterbeinen laufen, er kann nur sterben. Ein starker Stier kann so sterben, dass es bis zum bitteren Ende wie Leben aussieht. Noch mit dem Schwert im Leib ist er nicht besiegt. Erst wenn die Pferde ihn rausschleifen, beginnt er, Rindfleisch zu ähneln. Der aficionado geht in die Arena und sieht dort Matadore vor fünfhundert Kilo Muskeln und dreißig Zentimetern Hörnern stehen, die nicht mit sich reden lassen. Im Augenblick der höchsten Gefahr, wenn die Hornspitze schon die Oberschenkelschlagader anvisiert, entspannt sich plötzlich der Körper, wird beinahe weich, und die Hand mit dem roten Tuch lenkt langsam die Bedrohung ins Leere, um sie nach einer Wendung sofort wieder zu spüren, in einem Kreis von Systole und Diastole. Diese ideale Entspannung im Auge des Sturms ist die atemraubende Akzeptanz einer unberechenbaren Wildheit. Nicht Athletik, sondern kalkulierte Hingabe. Der Stier ist nicht der Gegner, sondern die Angst. Der Stier ist und erlaubt dem Menschen zu sein.

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Versuch eines Nachwortes

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Man kann der Corrida und den Stieren vorwerfen, dass sie in unserer Gesellschaft, die das Virtuelle immer besser meistert, überflüssig sind. Mann kann dem Stierkampf vorwerfen, dass er die reale Grausamkeit stilisiert, als bräuchte die Filmindustrie nach jedem Die Hard einen neuen Bruce Willis. Man kann ihm vorwerfen, blutig zu sein, und kann sich sein Steak gut durchbraten lassen. Man kann der Corrida viel vorwerfen, aber nicht, dass sie frivol sei. Die absolute Unmäßigkeit, einen Stier unter vierzigtausend Augen zu töten, bedingt absoluten Respekt. Es gibt nichts Schlimmeres für die Anwesenden als schwache, übergewichtige, kraftlose, lahme oder gar zögernde oder ängstliche Stiere. Ein schwacher Stier ist ein Widerspruch in sich. Ein schwacher Stier ist kein Stier, sondern ein Rind. Wer will schon sehen, wie ein Rind gemordet wird? Der Kampfstier ist stark und unbesiegbar, wenn er in die Arena kommt, und was dann folgt, soll es dem Matador ermöglichen, ihm am Ende über die Spitzen der Hörner das Schwert in den Buckel zu treiben. Dazu muss der Mann den Kopf des Tieres nach unten und zur Seite lenken und sich einem möglichen Hornstoß aussetzen. Ist der Stier zu schwach und reagiert nicht mehr oder noch zu stark und beugt das Haupt nicht, ist das Töten nach den Regeln der Kunst eine heikle Angelegenheit und das Abstechen von der Seite die Regel. Es ist wichtig, zu verstehen: Zu stark oder zu schwach läuft auf dasselbe hinaus, nämlich auf die Unmöglichkeit, einen würdigen Abschluss zu finden. Die komplizierten, unverrückbaren Regeln der Corrida sind nicht dazu da, um es dem Matador leichter und dem Stier schwerer zu machen. Sie sind so gemacht, dass sie dem wilden, starken Stier ganz gerecht werden. Sie dienen dazu, seinen Tod in den Augen der Zuschauer einzigartig zu machen. Einen Tod, der nur so möglich ist. Diesen Tod, der im Zentrum steht. Das Publikum einer Corrida ist ernst und aufmerksam. Es zürnt dem feigen Matador, dem Präsidenten auf seinem Balkon, dem Wind, der die muleta flattern lässt, dem Züchter, der seine Tiere verwässert hat, dem Impresario, der bessere Kälber in die Arena lässt, dem picador, der seine Lanze zu weit hinten, vorn, links oder rechts in den schwarzen Nacken bohrt, aber es zürnt nie, nie dem Stier. Es ist ihm viel zu sehr verpflichtet. Es weiß, was es ihm schuldet. Das Publikum der Corrida ist sein eigener größter Feind. Wenn es in der Wachsamkeit nachlässt, wenn es nicht mehr verlangt, dass der Stier stark genug zum Sterben ist, wenn es ihn nur noch benötigt, um den Stars in Gold die

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Ohren zu liefern, wenn der Tod nicht mehr im Zentrum steht, sondern das Ich, wird der Stierkampf verkommen und von allein aufhören. Die Stiere werden in der Legende verschwinden. Wir um etwas ärmer sein. Dann haben wir nicht nur die Stiere verachtet, sondern auch uns selbst.

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