Die Welt der Galgenlieder Christian Morgensterns und der viktorianische Nonsense [Reprint 2019 ed.] 9783110859492, 9783110095067


231 63 21MB

German Pages 349 [352] Year 1983

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD PDF FILE

Table of contents :
Vorbemerkung
Inhalt
Einleitung
Erster Teil. Die Welt des Kaiserreichs
I. Das Bürgerliche
II. Die "Soziale Frage"
III. Staat und Volk
IV. Antisemitismus
V. Der Kaiser
VI. Die Wissenschaft
VII. Literarisches Schaffen
Zweiter Teil. Die Welt der Galgenlieder
Vorwort
I. Die unwirkliche Welt
II. Die Welt des Humors
III. Die Spielwelt
IV. Die Traumwelt
Dritter Teil. Die Welt der Galgenlieder und die Welt des Nonsense
Vorwort
I. Vorversuch: Zwei Motivvergleiche
II. Ein Sprachvergleich
III. Ein Spielvergleich
IV. Ein Sinnvergleich
V. Ein Naturvergleich
Schlußbemerkung
Literaturverzeichnis
Register
Recommend Papers

Die Welt der Galgenlieder Christian Morgensterns und der viktorianische Nonsense [Reprint 2019 ed.]
 9783110859492, 9783110095067

  • 0 0 0
  • Like this paper and download? You can publish your own PDF file online for free in a few minutes! Sign Up
File loading please wait...
Citation preview

Ernst Kretschmer Die Welt der Galgenlieder Christian Morgensterns u n d der viktorianische N o n s e n s e

Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker Begründet von

Bernhard Ten Brink und Wilhelm Scherer N e u e Folge Herausgegeben von

Stefan Sonderegger

79 (203)

w DE

G Walter de Gruyter • Berlin • N e w York 1983

Die Welt der Galgenlieder Christian Morgensterns und der viktorianische Nonsense

von Ernst Kretschmer

w DE

G Walter de Gruyter • Berlin • N e w Y o r k 1983

D i e W i e d e r g a b e der A b b i l d u n g e n auf den Seiten 7 1 , 7 2 und 166 erfolgt mit freundlic h e r G e n e h m i g u n g des U r a c h h a u s e s in S t u t t g a r t , d i e W i e d e r g a b e d e r A b b i l d u n g a u f S e i t e 2 5 2 m i t f r e u n d l i c h e r G e n e h m i g u n g des P i p e r V e r l a g e s , M ü n c h e n .

ClP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Kretschmer, Ernst: Die Welt der Galgenlieder Christian Morgensterns und der viktorianische Nonsense / von Ernst Kretschmer. — Berlin ; N e w Y o r k : de G r u y t e r , 1983. (Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen V ö l k e r ; N . F . , 79 = 203) I S B N 3-11-009506-8 NE: G T

© Copyright 1983 by W a l t e r de G r u y t e r & C o . , vormals G . J . Göschen'sche Verlagsbuchhandlung — J . Guttentag, Verlagsbuchhandlung — G e o r g R e i m e r — Karl J . T r ü b n e r — Veit & C o m p . — Printed in G e r m a n y — Alle R e c h t e des Nachdrucks, einschließlich des Rechts der Herstellung von P h o t o k o p i e n und M i k r o f i l m e n , vorbehalten. D r u c k : W . Hildebrand, Berlin Bindearbeiten: Lüderitz & Bauer, Berlin

In memoriam Jeremias Mueller

Ich danke herzlich der Studienstiftung des Deutschen Volkes, die diese Arbeit finanziell förderte, und Frau Körte, die sie geduldig setzte. Vor allem aber danke ich Herrn Professor Koppen, meinem Lehrer.

VORBEMERKUNG

Germanen sieht man wenig an, der Germanist ist heut der Mann; wir andern können nur radebrechen, er weiß alleinzig "deutsch" zu sprechen. Und ob er auch nicht fähig ist ein armes Wörtlein selbst zu zeugen — (der Germanist, mein Germanist) er weiß, daß nichts so wonnig ist als — Schaffende zu beugen.

Christian Morgenstern

INHALT

Seite Einleitung

l

ERSTER T E I L Die Welt des Kaiserreichs

7

I. II. III. IV. V. VI. VII.

Das Bürgerliche Die "Soziale F r a g e " Staat und Volk Antisemitismus Der Kaiser Die Wissenschaft Literarisches Schaffen

ZWEITER TEIL Die Welt der Galgenlieder I.

II.

Die unwirkliche Welt 1. Freiheit. Die Möglichkeiten der unwirklichen Welt 2. Phantasie. Die Arbeit an der unwirklichen Welt 3. Phantasie und Praxis Die Welt des H u m o r s 1. Souveränität 2. Liebe 3. Grundzüge einer Galgenliederkomik a. Satire b. Ironie c. Parodie d. Ulk e. Witz f. Groteske

9 12 17 22 25 28 31

41 46 46 56 64 77 81 89 100 108 114 127 141 144 146

XII

Inhalt

III. Die Spielwelt 1. Das Modell des Spiels 2. Von der Kindlichkeit zu dem Hauch über den Dingen a. Die Kindlichkeit b. Das kindliche Bilderspiel c. Das sprachliche Bilderspiel d. Pointierung. Der Hauch über den Dingen

154 154 160 160 164 167 169

IV. Die Traumwelt 1. Sprachzerfall und-neuaufbau Der Zugang durch das Reich der Anten 2. Verschiebung Unter Wenwölfen 3. Verdichtung Die Fingur und ihr Volk 4. Bildlichkeit Das Tellerhafte naht heran

171

203

DRITTER TEIL Die Welt der Galgenlieder und die Welt des Nonsense

215

171 180 197

I.

Vorversuch: Zwei Motivvergleiche 1. Unter Zeiten 2. Unter Spiegelbildern II. Ein Sprachvergleich III. EinSpielvergleich IV. Ein Sinnvergleich V. Ein Naturvergleich 1. Fauna 2. Flora 3. Dinge

222 222 225 230 252 272 287 287 297 301

Schlußbemerkung

315

Literaturverzeichnis

317

Register

334

EINLEITUNG

Blickt man zurück auf die Tradition literaturwissenschaftlicher Beschäftigung mit Christian Morgenstern, fällt vor allem eines auf: Galt auch die erste größere, 1918 erschienene Untersuchung — Leo Spitzers "Die groteske Gestaltungs- und Sprachkunst Christian Morgensterns" — den Galgenliedern, so blieb sie doch über Jahrzehnte hinweg einmalig. Das Interesse verschob sich in der Folge und wandte sich dem "seriösen" Literaten Morgenstern zu. Gesamtwerk und Biographie eines Lyrikers, der Humorist und Christ, Satiriker, Melancholiker und Mystiker zu sein schien, waren zusammenhängend aufzuarbeiten. Man unternahm Versuche, Kontinuität und Einheit eines literarischen Schaffens herauszuarbeiten, das in der Hinwendung zur Anthroposophie einen folgerichtigen Abschluß und Höhepunkt zugleich fand. Der Titel der Dissertation Paula Dieterichs — "Weltanschauungsentwicklung in der Lyrik Christian Morgensterns", 1926 erschienen — darf auch als programmatisch für Geraths "Christian Morgensterns Leben und Werk" — erschienen im gleichen Jahr — und Macks 1930 veröffentlichte Arbeit "Christian Morgensterns Welt und Werk" gelten und gilt letztlich auch noch für Beheim-Schwarzbachs Rowohlt-Monographie von 1964, die nicht mit Morgensterns, sondern dem Tode Rudolf Steiners endet. Schon 1932 konnte Maria Achatzi den Vorgängern "Einseitigkeiten" vorwerfen 1 und versuchen, den "Künstler und Dichter" Morgenstern2 deutlicher vom "Denker und Philosophen" 3 zu unterscheiden. Das Ziel der Vorgänger blieb indes: des Dichters "ganzes Wesen zu erfassen". 4 Erst der kleinen Morgenstern-Biographie Gumtaus — ein Bändlein der Colloquium-Reihe "Köpfe des XX. Jahrhunderts" — blieb es 1971 vorbehalten, Ganzheit und Harmonie zu durchbrechen und — bei aller Sympathie — "Widerspruch und Rätsel" 5 in des Dichters Leben und Wesen und Welt und Werk zu entdecken. Eine Entdeckung, die aus der anthroposophischen Interpretationssicht Bauers — "Christian Morgen1 2 3 4 5

Achatzi, II. A.a.O., 15 ff. A.a.O., 64 ff. A.a.O., II. Gumtau, 5.

Einleitung

2

stern. Leben und Werk", 1933 — und Hiebels "Christian Morgenstern. Wende und Aufbruch unseres Jahrhunderts", 1957 — gewiß nur schwer möglich war. Hofackers 1978 erschienene Monographie "Christian Morgenstern" — "this is the first monograph in English on Christian Morgenstern, his life and his w o r k " 8 — stützt sich im wesentlichen erneut auf die Arbeiten Bauers und Beheim-Schwarzbachs. Besondere Schwerpunkte innerhalb der Forschung: "Christian Morgenstern als Mystiker" widmet sich 1931 Giffei, "Christian Morgensterns Dichtungen nach ihren mystischen Elementen" Martin im gleichen Jahr und Geiger schließlich 1941 der "Mystik und Reinkamation bei Christian Morgenstern". Einzig in der Beschränkung auf einen einzelnen Gedichtband Morgensterns, erscheint 1933 Klemms Abhandlung über "Ich und D u " , den "Angel- und Wendepunkt des Werkes und Lebens dieses Dichters". 7 Vergangenes wie vergessenes Zentrum der Morgenstern-Forschung: die Universität Wien. Hier verfolgte Charlotte Friedrich erneut "Christian Morgensterns Weg ins Kosmische" (1934) und Otto Glatz erneut dessen "Werdegang (...) als Dichter und Denker" 8 ("Weltanschauung und Dichtung Christian Morgensterns", 1936), und versuchte Josef Lovecek, "des Dichters Leben, Ideen und Streben von einer neuen Seite her zu zeigen" 9 : "Morgenstern als Aphoristiker" (1950). Den drei Autoren gelang es indes nicht, den von Spitzer, Dieterich, Geraths... geprägten Standard der Morgenstern-Forschung zu halten. Läßt Friedrich bereits Morgensterns Erstling " I n Phanta's Schloß" "unbewußt (...) tief in die Gedankengänge der Anthroposophie" hineinreichen, 10 so bekennt Glatz sich korrekt zu "wortfroher Weitschweifigkeit und Langatmigkeit" 1 1 und bleibt Loveceks Eingangsfeststellung "Von dem Begriffe Aphorismus hat man ziemlich unklare Vorstellungen" 12 schließlich auch im Hinblick auf Morgenstern gültig. Ein wesentlicher Wiener Beitrag aber, auf den zurückgegriffen wird, ist Rudolf Lissaus Dissertation über "Christian Morgensterns Form- und Sprachkunst" (1936). Ausführlich belegt dieser seine These, daß "die gleichen Grundzüge sowohl Morgensterns ernste wie seine grotesken Gedichte durchformen und gestalten". 1 3 6 7 8 9 10 11 12 13

Hofacker, Vorwort. Klemm, 8. Glatz, Vorwort. Lovecek, 2. Friedrich, 11. Glatz, Vorwort. Lovecek, 2. Lissau, 260.

Einleitung

3

Bis auf die noch zu nennenden Ausnahmen des Gesamtbildes sind damit alle wichtigen, mir bekannten selbständigen Veröffentlichungen über Christian Morgenstern angegeben. Bemerkenswert ist — neben der Publikationsballung in der Zeit des Vorfaschismus — das wissenschaftliche Desinteresse an einer ausführlichen Behandlung der Galgenlieder um eben jener Galgenlieder selbst willen, deren Publikumserfolg den aller anderen Veröffentlichungen des Dichters weit in den Schatten stellte. Vielleicht ein Ergebnis der Einschätzung, die Morgenstern selbst vornahm: Für ihn seien sie " j a doch bloß Beiwerkchen, Nebensachen" gewesen. 14 Es bleibt Alfred Liedes "Dichtung als Spiel" von 1963, dessen Thema nun allgemein die Poesie des Unsinns ist, das aber innerhalb dieses Rahmens ein ausführliches und relativ eigenständiges Kapitel über Christian Morgenstern und seine Galgenlieder enthält. Und es bleibt natürlich Jürgen Walters "Sprache und Spiel in Christian Morgensterns Galgenliedern", erschienen 1966 — meines Wissens bis heute die einzige umfangreichere, selbständige Veröffentlichung, deren eigentliches Thema die "Galgenlieder" waren. 15 Das Werk Christian Morgensterns ist durch und durch nachlaßverwaltet und führte jahrzehntelang eine unsichere Auswahl- und Sammelexistenz. Als typisch kann das Schicksal der "Schallmühle" gelten, einer Sammlung von "Grotesken und Parodien", die Margareta Morgenstern 1928 herausgab. 1938 folgte eine veränderte Neuausgabe unter dem Titel "Böhmischer Jahrmarkt", 1950 unter dem Titel "Egon und Emilie", 1965 "Der Sündfloh" 1969 "Die Versammlung der Nägel". Proskauers Edition der "Sämtlichen Dichtungen" gelangte 1980 zu einem Abschluß ihrer ersten beiden Abteilungen. " I . Nach den vom Dichter herausgegebenen Gedichtsammlungen" in elf Bänden, "II. Nach dem Tode des Dichters erschienene Dichtungen" in sechs Bänden. Eine dritte, noch nicht näher bestimmte Abteilung der Übersetzungen Morgensterns fehlt. Die bei Zbinden erschienenen "Sämtlichen Dichtungen" besitzen den schätzenswerten Vorteil, das bislang Veröffentliche endlich zusammengestellt zu haben. Im übrigen aber übernehmen sie weitgehend unkritisch das Erbe Margareta Morgensterns, ihre Auswahl, Datierung, Einteilung, Textgestaltung und beschränken sich auf Ergänzungen. Wenigstens das geht aus den knappen Nachworten des Herausgebers hervor. Die Publikationsgeschichte der "Galgenlieder" kann gerafft so beschrieben werden: Die ursprünglichen und eigentlichen "Galgenlieder" 14 Briefe, 404, 1910. 15 Auf verschiedene Aufsätze sowie auf Kritik und W ü r d i g u n g der oben a u f g e f ü h r t e n Untersuchungen wird im L a u f e dieser Arbeit einzugehen sein.

4

Einleitung

erschienen 1905 bei Cassirer in Berlin und eben dort auch 1908 in einer dritten veränderten, um den "Gingganz" und "Verwandtes" erweiterten Auflage. " P a l m s t r ö m " folgte 1910, ebenfalls bei Cassirer. Eine sechste Auflage wurde 1912 erweitert. "Palma Kunkel" erschien 1916, zwei Jahre nach des Dichters Tod, "Gingganz" 1919. 1932 gab Margareta Morgenstern — noch immer bei Cassirer — die Sammlung "Alle Galgenlieder" heraus, bestehend aus den vier genannten Einzelbänden, erweitert durch 14 Nachlaß-Gedichte, und ließ diese Sammlung 1938 abermals erweitern, nun beim Insel-Verlag. 1964 erschienen "Alle Galgenlieder" in einer Insel-Sonderausgabe. Noch immer aber waren "Alle Galgenlieder" nicht alle Galgenlieder. Die "Gesammelten Werke" in einem Band, welche Margareta bereits im folgenden Jahr herausgab, nun im Piper Verlag, enthielten wieder einmal eine andere — zum Teil erweiterte — Galgenlieder-Auswahl. Alle Galgenlieder — oder doch nahezu alle — stellt erst Proskauer 1972 und 1973 mit dem sechsten und achten Band der "Sämtlichen Dichtungen" vor: "Galgenlieder, Gingganz und Horatius Travestitus" 1 8 und "Palmström, Korf und Palma Kunkel" 1 7 . Beide Bände fassen im wesentlichen — der Anlage der Gesamtausgabe folgend — die frühen Publikationen zusammen, fügen "Verwandtes" und "Einschlägiges" hinzu 1 ' und verzichten auf eigene Gliederungsversuche. 19 1975 erscheinen in Leipzig die "Ausgewählten Werke" und darin fast alle "Galgenlieder", 1976 erscheint in München "Das große Christian Morgenstern Buch" mit ausgewählten "Galgenliedern". Alle "Galgenlieder" neu zu gliedern versucht 1979 Clemens Heselhaus. Anläßlich des 65. Todestages Morgensterns besorgt er für den Piper Verlag eine vierbändige "Jubiläumsausgabe". 2 0 Das Ziel: "ein erneuerter, gereinigter, sozusagen 'restaurierter' Morgenstern". 2 1 Aufgelöst wird die "Palma Kunkel "-Ausgabe von 1916 und auf einen erneuerten "Gingganz" und einen erneuerten " P a l m s t r ö m " verteilt. Aufgelöst wird der "Gingganz" von 1919, verteilt auf die erneuerten "Galgenlieder" und den erneuerten " P a l m s t r ö m " . Nicht erneuert, sondern neu und sozusagen konstruiert ist die Gruppe "Gigaster". 2 2 Sie setzt sich aus fünf Gedichten zusammen, die Proskauer im "Gingganz" veröffentlichte, aus vier Gedichten, die er in " P a l m a Kunkel", aus dreien, 16 17 18 19

Im folgenden zitiert als VI. Im folgenden zitiert als VIII. Vgl. VI, 253 und VIII, 170. Die 1897 zuerst erschienenen Horaz-Travestien des sechsten Bandes gehören nicht zu den "Galgenliedern". 20 Im folgenden zitiert als J A . 21 JA I, 7. 22 JA I, 205 ff.

Einleitung

J

die er nicht veröffentlichte. Daß "Gigaster" sich durchsetzen wird, ist zu bezweifeln, daß er sinnvoll ist, ebenfalls. Weder sind diese Gedichte in Proskauers "Gingganz" oder "Palma Kunkel" Fremdkörper, noch wären sie es im "Gingganz" oder "Palmström" Heselhaus'. Als "Gigaster" aber sind sie gegenüber den anderen 250 Gedichten — Appendix. Im übrigen warnt das Schicksal der "Schallmühle" vor der Einführung abermals neuer Herausgeber-Titel. Der Vorteil der Heselhaus- gegenüber der Proskauer-Ausgabe: Entstehungs- und Publikationsgeschichte "aller Galgenlieder" werden genauer nachvollziehbar. Neben der für jede Lyrik-Sammlung schlimmen Methode, Gedichte aus Gründen der Platzersparnis zu zerschneiden, besitzt sie jedoch einen wesentlichen Nachteil: Mehr als 25 Lieder, die Proskauer vorstellt, fehlen. Darüber, ob davon einige den "Groteskten und Parodien" der "Schallmühle" zuzurechnen sind, läßt sich streiten. Proskauer selbst scheint sich nicht sicher. "L'art pas pour boeufs", "Aus dem Nachlasse eines teutschen Tichters", sowie der auch von Heselhaus aufgenommene "Igel" finden sich in "Palma Kunkel" 23 und der "Schallmühle" 24 . Lieder aber, deren Helden Korf und Palmström sind, gehören gewiß dazu: Heilung 25 , Palmström der Patriot 26 , Die Schreibmaschine27, Fest der Multimillionäre28, Vom Steuerzahlen29, Zuletzt (Fragment) 30 , Der Neffe (Fragment) 31 . Der übersichtlichen und, wenn auch nicht restaurierten, so doch komplettierten ProskauerAusgabe wird der Vorzug gegeben: Nach der eigentlichen JubiläumsAusgabe, deren erste vier Bände 1971, zum hundertsten Geburtstag Christian Morgensterns erschienen, wird damit auch zitiert. Skeptisch ist der Auswahl von Briefen zu begegnen, die Margareta Morgenstern herausgab. Gerade der Zeitraum, um die Jahrhundertwende, in dem die ersten Galgenlieder entstanden, weist erhebliche Lücken auf. Erfolgreich weigerte sich Friedrich Kayssler, Morgensterns bester Freund, Briefe dieser Epoche zur Veröffentlichung freizugeben. 32 Und auch Morgensterns Frau hielt ihrerseits Briefe zurück, mit denen zu arbeiten dem Morgenstern- Biographen Michael Bauer vergönnt war. Skeptisch zu begegnen ist schließlich den aus dem Nachlaß zusammengestellten, mehr oder weniger knappen Reflexionen Morgensterns. 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32

VIII, 125, 158, 103. Die Schallmühle, 59, 72, 78. VIII, 35. VIII, 37. VIII, 45. VIII, 69. VIII, 74. VIII, 80. VIII, 93. Briefe, 499.

6

Einleitung

In die " S t u f e n " , "eine Entwickelung in Aphorismen und TagebuchNotizen" — 1918 zum ersten Mal erschienen und von Proskauer im wesentlichen übernommen — fanden die Tagebücher der Jahre 1898 — 1904 so gut wie keinen Eingang. Die Untersuchung der "Galgenlieder" wird durch den Versuch vorbereitet, anhand der Quellen das wilhelminische Kaiserreich aus der Sicht ihres Dichters zu rekonstruieren. Denn das ist die Ausgangssituation: Am 18. Januar 1871 proklamierte man im Spiegelsaal des Schlosses von Versailles den kleindeutschen Kaiser Wilhelm I.; am 6. Mai 1871 wird Christian Otto Johann Wolfgang Morgenstern in München geboren. Vier Monate vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges, dem Anfang vom Ende des Wilhelminismus, am 31. März 1914 stirbt er, Bürger dieser Welt und Schöpfer einer anderen, eigenen: der Welt der Galgenlieder.

ERSTER TEIL

DIE WELT DES KAISERREICHS

I. DAS BÜRGERLICHE O Scham oft, tiefste Schande Mensch zu sein, Mitmensch von Geier, Büffel, Fuchs und Schwein. 1 Oder: Das Mittelmäßige reißt uns herab. 2 Die Auseinandersetzung Christian Morgensterns mit seiner Zeit fand einen ihrer wesentlichen Reibungspunkte im Begriff des "Bürgerlichen". "Bürgerlich" bezeichnet keine gesellschaftliche Gruppe des Kaiserreiches, Morgenstern definiert 1906 vielmehr so: Als das Bürgerliche bezeichne ich das Absehenkönnen des Menschen davon, daß er das Geheimnis der Geheimnisse ist, das Sichhinstellenund Verharrenkönnen des Menschen als eines Zweiten. Bürger heißt: der sich in einer Burg Bergende. Bürger heißt mir der Mensch, insofern er sich in der Burg des Gedankens birgt, etwas anderes als Gott selbst zu sein. 3 Das "Bürgerliche" ist eine Geisteshaltung, die sich in einem Mangel religiösen Erlebens ausdrückt: Ihr fehlt das Bewußtsein der Einheit der Schöpfung. Die von Morgenstern eingesetzte Definitionsterminologie ist mystisch gewichtig, das zu bestimmende "weltliche" Nomen droht in das Transzendentale zu entgleiten, und es verwundert nicht, eben dieses "Bürgerliche" in der gleichen Notiz auf einem definitorisch zweifelhaften Allgemeinplatz wiederzufinden: "Das Menschliche ist schlechtweg das Bürgerliche". 4 Ist es also unmöglich, den "Bürger" der wilhelminischen Gesellschaft zu identifizieren? Verstreute Äußerungen Morgensterns lassen sich sammeln und zu einem Steckbrief zusammenstellen. Der wilhelmische "Bürger" ist zu erkennen als Staatsbürger, Gemeindemitglied, Protestant, Hausbesitzer, Ehemann, Familienvater, Vereins vorstand, Reserveleutnant, Agrarier, Christlicher Germane, Antisemit, Deutschbündler, Sozialmonarchist, Bimetallist, Wagnerianer, Antinaturalist, Spiritist, Kneippianer, Temperenzler.® 1 2 3 4 5

Epigramme und Sprüche, 74, 1905. Ebda. Stufen, 244, 1906. Ebda. Der Nachtwandler, In Phanta's Schloß, 66.

10

Die Welt des Kaiserreichs

Er schart sich mit anderen Bürgern zusammen. Sie bilden eine gemeinsame Gruppe. Sie — — — — — — — —

leben "in träger Ruhe oder dumpfer Gleichgültigkeit" dahin; 6 kauen "stumpf ihr kaltes Ich behaglich" wieder; 7 sind durch "Reich, Wohlstand, Macht (...) verflacht";' haben den "Grundhang, das Leben zu einer Biedermeierei zu erniedrigen"; 9 sind verheiratet als "Nippes-Ehepaar X " ; 1 0 sind eine Herde von "schwarz und weiß gefleckten (...) kategorisch pflichtgetreuen Büffeln" mit "uniformen Seelen" 11 leben, "wie's (...) der Kodex vorschreibt"; 1 2 und "damit (...) überhaupt nicht". 1 3

Der "Bürger" ist also nicht nur ein Burgherr seiner eigenen Gottlosigkeit. Er zeichnet sich durch genaue Adjektive aus: träg, dumpf, stumpf, kalt, verflacht, uniform. Sein Leben ist ein Befolgen gesellschaftlicher Regeln und eine Mißachtung der Individualität. Der "Bürger" als Persönlichkeit ist nichts als eine "Litfaß-Säule". 1 4 An einer Veränderung dieser Situation ist er nicht interessiert. Wie sieht Christian Morgenstern sein eigenes Verhältnis zu einem solchen "Bürger"? Sich von ihm abzusetzen, fällt ihm bemerkenswert schwer. Seine Suche nach Abstand bleibt ein mühsames Ringen, denn das Bürgertum lockt mit dem Versprechen der Geborgenheit, Sicherheit und Ruhe — auch ihn. Morgensterns "Erden-Wünsche" aus dem Jahre 1898 — gewünscht von einem 27jährigen Poeten — sind nicht ironisch gemeint: Ein Weib, ein Hund, ein Segelboot, mein Freund, sein Weib und sonst nichts mehr; ein freies Schaffen, ein edler Tod, das wär so mein Begehr. 15 Diese Erden-Wünsche Morgensterns blieben, obwohl — oder weil — sie sich niemals realisierten. Seit 1893 trieb den Dichter eine Lungenkrankheit in Europa umher, Flucht vor dem Klima, Zuflucht in Kurorten und 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15

Tagebuch, 1892, nach Bauer 1933, 50. An Friedrich Nietzsche, Ich und die Welt, 65. Melencolia, 81. Stufen, 243, 1906. Briefe, 72, 1895. Epigramme und Sprüche, 38, 1899. Den Gesellschaftsnarren, E p i g r a m m e und Sprüche, 38, 1899. Ebda. In P h a n t a ' s Schloß, 66. Ich und die Welt, 123.

Das Bürgerliche

11

Sanatorien. Morgenstern wohnte selten und reiste viel. Kein elterliches Zuhause bot ihm "Heimat". 1881 bereits war die Mutter an Tuberkulose gestorben — der Sohn verehrte sie sein Leben lang und vermißte das, was er in ihr verehrte, bei beiden Stiefmüttern, die noch folgten. 1895 brach der Kontakt zwischen Vater und Sohn ab. Und erst 1910 gründete der Neununddreißigjährige eine eigene Familie. Kurzum: Seßhaftigkeit und familiäre Geborgenheit blieben dem Dichter der Galgenlieder lange versagt. Der Reisende durfte nur Besucher sein. Der "Erden-Wunsch" von 1898 wandelt sich sieben Jahre später zu der Feststellung: Wie bin ich, Bürger, oft so gern dein Gast; wie dient mir deine Welt gar oft zur — Rast! 16 Unter seinem Wunsch- oder Gastverhältnis dem "Bürgerlichen" gegenüber leidet Morgenstern. Selbstkritik setzt ein. "Das 'Bürgerliche' (...) ist für mich eine Luft, in der ich eigentlich nicht mehr sollte atmen können." 17 Oder: Mich ekelt all dies Bürgerliche rund, worin ich immer wieder mich verstricke.18 Morgenstern sucht Auswege aus diesem Dilemma. Er versucht zu differenzieren, indem er 1905 "An den Bürger" die Zeilen richtet: Ich liebe dich, wie jede Lebensform, doch ist mir " N o r m " nicht mehr als "Widernorm". 1 9 Er versucht 1897 in einem Brief an seine Jugendfreundin Marie Goettling zu differenzieren: "Wenn ich vielleicht äußerlich einige 'Bürgertugenden' zu besitzen scheine, so habe ich sie innerlich um so weniger." 20 Und er versichert, er habe kein "Talent (...) zum Normalen und Allgemeinüblichen." 21 Und er bekräftigt unwiderruflich und leidenschaftlich, daß die Trennung von der Bürgerwelt vollzogen sei: Deutsche Bürgerwelt, du bist verlogen.22 Und er wird doch — trotz aller Ehrlichkeit — die Bürgerwelt niemals ganz abschütteln können. "Das ist es: Das 'Bürgerliche' — in meiner Sprache gesprochen — liegt auf mir." 2 3 16 17 18 19 20 21 22 23

Epigramme und Sprüche, 70, 1905. Briefe, 237, 1907. Mensch Wanderer, 193, 1908. Epigramme und Sprüche, 70. Briefe, 93. A.a.O., 276, 1908. Epigramme und Sprüche, 85, 1906. Briefe, 237, 1907.

II. DIE "SOZIALE FRAGE"

For the happy fews — sollte das doch aller Weisheit Schlußwort und Öffentlichkeit sein? 1 Die wirtschaftliche Entwicklung des Kaiserreiches bis zur Jahrhundertwende läßt sich mit einem statistischen Raster kurz so beschreiben: 1870 flössen 22 Milliarden Mark an Nettoinvestitionen in die Landwirtschaft und nur 14 Milliarden in die Industrie. Mitte der siebziger Jahre kehrte sich das Verhältnis mit 10:30 zugunsten der Industrie um. Der Abstand vergrößerte sich 1885 auf 11,5:37,5 und 1890 auf 13,8 zu 45,3. Zu Beginn des neuen Jahrhunderts wurden schließlich nur noch 9 Milliarden Mark in die Landwirtschaft, 54,4 Milliarden dagegen in die Industrie investiert. 2 Fazit: Innerhalb von drei Jahrzehnten schlägt das Deutsche Reich eine rasante Entwicklung zum Industriestaat ein. Diesen Industriestaat lernt Morgenstern im Sommer 1892 kennen. Ein Steinkohlebergwerk beschreibt er so: Nach einem kleinen Abstecher nach der alten Burg Fürstentein, einem der schönsten Punkte Schlesiens, kamen wir nach Bad Salzbrunn, wo wir die sechzig Stück zählende Eselsherde und die Molkerei sowie das Kurhaus besichtigten. Eine halbe Stunde später fuhren wir in das mitten in den Vorbergen reizend gelegene Städtchen Waldenburg ein, den Hauptgewinnungsplatz der niederschlesischen Steinkohle. Ohne Aufenthalt begaben wir uns nun nach der "Tiefbau-Grube", wo uns der Bergwerksinspektor in liebenswürdiger Weise zunächst alle Einrichtungen "ober Tage" erklärte, worauf wir uns alle in eine plump-malerische Bergmannstracht warfen und Öllämpchen in die Hand nehmen mußten, um in den 126 m tiefen Schacht einzufahren und auch das Bergwerk "unter Tage" kennen zu lernen. 3

1 2 3

Stufen (1918), 107, 1907. Wehler, 48. Briefe, 25, 1892.

Die "Soziale F r a g e "

13

Eine mechanische Weberei: Am nächsten Morgen führte uns Dr. K., ein Großindustrieller ersten Ranges, — sein Bezirk umfaßt ca. 2000 Arbeiter 4 — durch die weit ausgedehnten Gebäude seiner "mechanischen Weberei". Da kann man denn nur staunen und sich im Tiefsten erfüllen lassen von dem gewaltigen Gefühl stolzen Menschenbwußtseins. (...) Ja, wir leben in einer Zeit, größer und gewaltiger als je eine gewesen, mit Stolz und Freude kann man das Wort des alten Hutten wieder rufen: " E s ist eine Freude zu leben, denn die Geister sind wach!" 5 Eine Arbeitersiedlung: Die speziellen Arbeitshäuser, deren Dr. K., ein durch und durch edler nobler Charakter, viele gebaut hat, besichtigten wir auch. Jedes Haus ist zweistöckig und enthält zwölf Wohnungen zu zwei bis drei Stuben. Die Leute sind zufrieden und glücklich darin, halten sich Blumen vor dem Fenster und haben zudem noch ein kleines Stück Land zum Bebauen. Wir traten in verschiedene Wohnungen — überall ein netter, freundlicher Eindruck. 6 Die drei vorgestellten Auszüge sprechen für sich: Man wird die begeisterten Eindrücke des jungen Christian Morgenstern von wilhelminischer Industrie und sozialer Ausgeglichenheit, von Stolz und Glück ... als " n a i v " bezeichnen dürfen. Aber man lasse sich nicht zu voreiligen Schlüssen verführen. Bereits in diesen frühen Jahren ist der Bewunderer wirtschaftlichen Fortschritts ein Gegner des unumschränkten Kapitalismus und Wirtschaftsliberalismus. Morgenstern erkennt, daß eine "soziale Frage" sich stellt 7 und fordert: "Unsere 'Gebildeten' müssen den Dünkel aufgeben, der sie glauben macht, sie seien mehr und höhere Wesen als der gemeine Mann. Sie müssen den sittlichen Kern der Sozialdemokratie anerkennen, der in dem Erwachen des Menschenbewußtseins liegt."» Der Zwanzigjährige will sich dem "Studium der Nationalökonomie (d. i. 'Volkswirtschaftslehre')" 9 zuwenden und von jenen Lehrern lernen, die man spöttisch "Kathedersozialisten" nannte. 1892 immatrikuliert sich Morgenstern in Breslau als Student der Rechte und hört dort Sombart. Der 29jährige Professor Sombart ist es auch, der mit neun 4

5 6 7 8 9

Arbeiteten 1871 noch 8,5 Millionen M ä n n e r und F r a u e n in der Landwirtschaft und n u r 5,3 Millionen im industriellen Bereich, kehrte sich 1890 das Verhältnis mit 9,6:10 u m . Vgl. Wehler, 48. Briefe, 26, 1892. A . a . O . , 27, 1892. A . a . O . , 19, 1891. Ebda. Briefe, 19, 1891.

14

Die Well des Kaiserreichs

Jura-Studenten jene Exkursion unternimmt, von der man Morgenstern schwärmen hören konnte. 10 Begeistert sich der Student auch für die Projekte des Großindustriellen K. und freut sich an plump-malerischen Bergmannstrachten — das soziale Elend der Städte bedrückt und verärgert ihn. Der hohe Zuwachs der Bevölkerung — zwischen 1890 und 1913 stieg sie um 36% 1 1 — , der "nachgerade als 'Bevölkerungsexplosion' bezeichnet werden" kann, 12 schlug sich vor allem in den Städten nieder. Die Zahl der Stadtbewohner begann — dem Wandel der Beschäftigungslage folgend — die der Landbevölkerung zu übersteigen: In den engen Urbanen Sammelbecken wuchsen die Probleme zur Unerträglichkeit an. Morgenstern 1891 an seinen Freund Kayssler: Es ist mir ein Verständnis gekommen von dem unsagbaren, himmelschreienden Elend, das uns — und zumal in der Großstadt — in jeder Stunde umgibt, und ich habe gefühlt, wie nichtswürdig unser aller Verhalten ist, das sich zwischen Verachtung des Volkes, träger Genußsucht und lauem Wohltun bewegt — ohne auch nur eine Spur wahrhaftiger, kraftvoller Liebe aufzuweisen, wie es Bruder zu Bruder haben soll. 13 1894 siedelt Morgenstern nach Berlin über, in eine Großstadt Berlin, deren soziale Wirklichkeit in Zilles Zeichnungen und Photographien gegenwärtig blieb. In dieser Zeit entstanden sie. 14 Dieses Berlin spiegelt auch Morgensterns "Großstadt-Wanderung", die 1897 in der Sammlung " A u f vielen W e g e n " erschien, 15 ein Berlin der Dirnen und Diebe, Mörder und Polizisten, Trinker, Siechen, Krüppel, Giftigen, Zersetzten 16

Särge, drängten sich die Häuser; Grüfte hallten, w o ich schritt; von Moder, Fäulnis schnob die L u f t ; Gewölke Bluts und Tränen dampften, dunsteten, mich dumpf erstickend ... Weiß nicht mehr, wie ich den W e g vollendet. 17 10 Sombart, der erst 1917 seinen Lehrstuhl in Berlin bezieht, wird vier Jahre später sein grundlegendes Werk "Sozialismus und soziale Bewegung im 19. Jahrhundert" veröffentlichen. Morgenstern 1894 über Sombart: " I c h glaube, daß selten jemand in solcher Kürze und Klarheit ein Bild von der sozialen Frage entworfen hat wie e r . " (Briefe, 52) Und, noch in Breslau: " E r ist meine letzte Hoffnung. Ich vergöttere ihn geradez u ! " (Nach Bauer, 1933, 48). 11 Vondung, 20. 12 Ebda. 13 Briefe, 19. 14 Eine eindrucksvolle Ausgabe der Photographien besorgte Winfried Ranke. 15 A u f vielen Wegen, 47-55. 16 A . a . O . , 52. 17 A . a . O . , 55.

Die "Soziale Frage"

15

Von "wahrhaftiger, kraftvoller Liebe (...), wie es Bruder zu Bruder haben soll", 18 um dem Elend der Großstadt abzuhelfen, war im kleinen provinziellen Sorau 1891 noch die Rede gewesen. Nach den Jahren in Berlin vermittelt die "Großstadt-Wanderung" nur noch Furcht, Verzweiflung und Unbehagen. 1895 an den Galgenbruder Georg Hirschfeld: "Ich kann mich immer noch nicht fassen und stehe wieder einmal vor einem Ekel vor dieser Welt, dieser Großstadtwelt, die mir den Atem benimmt." 19 1902 scheinen die Zeiten, in denen sich ein Großindustrieller "ersten Ranges", ein Dr. K., noch bewundern ließ, für Morgenstern endgültig vorbei zu sein: Man muß "aus dieser scheußlichen Fabrikanten- und Spekulantenwirtschaft herauskommen, die unser ganzes heutiges Leben (immer noch viel zu viel) barbarisiert." 20 Herauskommen. Aber wie? Morgenstern wird, wie wir wissen, diese Frage in den folgenden Jahren brüderlich-christlich zu beantworten suchen und nach 1909 seine Hoffnungen auf eine anthroposophische Gesellschaft setzen. Den Sozialismus lehnt er als Ausweg — bereits vor der Jahrhundertwende — ab. Wollte der angehende Nationalökonom 1891 noch den "sittlichen Kern der Sozialdemokratie anerkennen", 21 so spöttelt er zwei Jahre später — gerade 22jährig: Auch ich war ein Jüngling mit lockigem Haar und schwärmte für Marx und Lassalle. Ein Priester im roten Rebellen-Talar, so eiferte ich am Musenaltar und schwärmte für Marx und Lassalle.22 Der ehemalige Idealist und Optimist geht dazu über, den Sozialismus zu fürchten: 1905: Im Staat der Sozialisten wird einer auf den anderen aufpassen. Und Faulenzer werden nicht geduldet, dulden sich selber nicht. Wer aber will vorher wissen, wer ein Faulenzer und wer ein — Schwangerer ist? 23

18 Briefe, 19. 19 Ein zum ersten Mal von Proskauer veröffentlichter Brief in " A u f vielen Wegen", 147 f. 20 Briefe, 134. 21 A.a.O., 19, 1891. 22 Mensch Wanderer, 19, 1893. 23 Stufen, 127.

16

Die Welt des Kaiserreichs

1906: Ich habe eine furchtbare Vision: Wenn die Sozialisten zur Herrschaft gekommen sein werden, dann fängt das Blut erst an, zu fließen. 24 Die Frage, die diesem Kapitel als Motto verangestellt war, bleibt bestehen: "For the happy few — sollte das doch aller Weisheit Schlußwort und Öffentlichkeit sein?" 25 Daß in Berlin und Potsdam von 1900 bis 1914 1651 Millionäre leben, 28 kommentiert Morgenstern im "Horatius Travestitus". Daraus sollen vier Strophen abschließend vorgestellt werden: Du bist gesund, bist Kapitalist, bist jung, du hast die schönste Villa am Strand der Spree, in deinem Park verliebt sich jeder — hörst du die Quellen nicht lieblich flüstern? Und zieht's dich nicht zur marmornen Ruhbank dort, darauf der Ahorn schützende Schatten wirft? Ein kühles Weinchen dort zu trinken, denk ich mir, müßte ein Hochgenuß sein. Doch freilich, spar dir jegliche Illusion betreffs der Dauer! — Scheiden mußt einst auch du, und zungenschnalzend wird dein Erbe deine vorzüglichen Marken schlürfen. Das Sterben hast gemein du mit Hinz und Kunz —: Es ist das Gras das einzige Kraut, darein so reich wie arm gemeinsam beißen und sich den Magen daran vertun muß, 27

24 A . a . O . , 128. — Eine wahrscheinlich zufällige, aber bemerkenswerte Parallele: Morgensterns ehemaliger Breslauer Lehrer S o m b a r t vollzog eine ähnliche U m k e h r des Denkens. A n f a n g s noch ein A n h ä n g e r , wandelte er sich zum entschiedenen Gegner des Marxismus. 25 P r o s k a u e r stellt in seiner A u s g a b e diese Frage nicht mehr. Er läßt sie kommentarlos aus. In der " S t u f e n " - A u s g a b e von 1918 findet sie sich auf S. 107. 26 E n g e l m a n n , 27. 27 Horatius Travestitus, VI, 214 f f .

III. STAAT UND VOLK

O Staat! Wie tief dir alle Besten fluchen! Du bist kein Ziel. Der Mensch muß weiter suchen. 1 Zwei wichtige Orientierungspunkte in Morgensterns Bild vom Deutschen Kaiserreich finden wir in den Begriffen " S t a a t " und " V o l k " . Er unterscheidet deutlich: 1897: So wie es heute steht, ist gerade der beste edelste Sohn des Volkes der schlechteste des Staates. 2 1902: Fange der Deutsche denn an, wo Deutschland aufhört. 3 Warum diese Trennung vorgenommen werden muß? Der Dichter der Galgenlieder entwirft das folgende Panorama des deutschen Staates der Jahrhundertwende. Des Staates " C h a r a k t e r " ist "in zwei Worten, die — und wenn es noch so tiefschmerzlich ist — gesagt werden müssen: Servilismus und Grobheit". 4 Der deutsche Kaiserstaat ist "hölzern, philiströs-pedantisch", 9 vom "Polizeihaften" und "Kategorischen" durchdrungen, 8 so tief davon durchdrungen, daß man annehmen muß, es sei ein unabänderliches Ergebnis der göttlichen Schöpfung selbst: Als Gott den preußischen Mann erschuf, da sprach er: Es werde der Ordnungsruf! 7 Der Fleisch gewordene Ordnungsruf ist der kaiserliche "Schutzmann", der Allgegenwärtige, der in Berlin zur Ordnung rief, wenn mehr als drei Personen in einer Reihe auf dem "Bürger"-steig entlangschlenderten, wenn man Stock oder Schirm im Handgelenk schwingen, wenn man Kleider Uber den Boden schleifen ließ und bei all dem noch pfiff oder sang. So eine Verordnung des Jahres 1913.* 1 2 3 4 5 6 7 8

Epigramme und Sprüche, 49, 1902/03. Briefe, 91. A.a.O., 139. A.a.O., 193, 1905. A.a.O., 413 f., undatiert. A.a.O., 414, undatiert. Epigramme und Sprüche, 48, 1902/03. Co wies, 43.

18

Die Welt des Kaiserreichs

"Schutzmann" In seinen Kopf geht nur hinein: "Imgrunde darf so viel nicht sein!"* "Hölzern, philiströs-pedantisch" schlechthin. 10

ist

der

wilhelminische

Beamte

Beamte Wie man's schon am Körper merkt, ob Beamte oder nicht, Hemd und Seele gleich "gestärkt", jeder Schritt ein Schritt der — Pflicht. 11 Gefährlich ist der deutsche Kaiserstaat. Der starre Rahmen der Ordnung fordert, um bestehen zu können, Engstirnigkeit und Borniertheit und wird mit Arroganz erfüllt. Er suggeriert Geborgenheit und Sicherheit: Die Macht des Staates zieht ihre Gläubigen heran, sie wird zum lähmenden Narkotikum, das die Wirklichkeit verkennen läßt. Morgenstern warnt: " H ü t e dich, Deutschland, vor dem schleichenden Gift der Selbstgefälligkeit". 12 Er warnt vor dem selbstgefälligen Schwatzen, 13 warnt davor, in einen bornierten Optimismus hinabzusinken, 14 und er erkennt, daß ein solcher Staat sich "im europäischen Konzert" isoliert, 15 unbeliebt bei seinen Nachbarn bleiben muß. 1 8 Als Deutscher sich mit diesem Staat zu identifizieren, ist Morgenstern unmöglich. Das "Vaterland" kann sich nicht mit den Grenzen des 1871 neugeschaffenen kleindeutschen Reiches decken. Ein Ausweg wird 1899 vorgeschlagen: "Das 'große Vaterland' (...) verstehe ich in einem anderen Sinne: als einen großen Kreis verwandter Seelen, die sich untereinander erkennen, verstehen und lieben". 17 Der Begriff des "Staates" wird ersetzt. An seine Stelle tritt das " V o l k " . Mit diesem Austausch aber begibt sich Morgenstern — um das Ergebnis des nun folgenden Abschnittes vorwegzunehmen — auf ausgesprochen sumpfiges Gelände, oder anders: in die zweideutige Gesellschaft einiger "Netzig"-Bewohner, die ihr Unwesen in Heinrich Manns "Untertan" treiben dürfen. 9 E p i g r a m m e und Sprüche, 48, 1902/03. 10 Seine Rolle im Kaiserreich wird, meine ich, gut von Hans-Ulrich Wehler beschrieben, 72 f f . 11 E p i g r a m m e und Sprüche, 87, 1906. 12 A . a . O . , 47, 1902/03. 13 E b d a . 14 E b d a . 15 Briefe, 413, undatiert. 16 Stufen, 127, 1905. 17 Briefe, 111.

Staat und Volk

19

Der gleiche Christian Morgenstern, der den Staat Wilhelms II. ablehnt — des Untertanen Diederichs Neuteutonen würden ihn zum Duell gefordert haben —, ist ein Jünger Paul de Lagardes und dessen Visionen von der Zukunft des deutschen Volkes. Lagarde, ein Lehrer voller "Größe, Leidenschaft, Tiefe." 1 8 Lagarde, "das Marmorbild, auf dessen Sockel ewige Gebote eingegraben sind" 1 9 , "das stolzeste aber auch schroffeste Gebirge, das ich kenne". 2 0 Lagarde Sie wollen dich nicht kennen, doch ich wills mit dem Schwert ihnen ins Antlitz brennen, daß sie: deiner nicht wert! 21 Für welches Marmorbild und Gebirge Morgenstern hier das Schwert ergreifen will und in welchen ideologischen Umkreis er damit gerät, verdeutlicht ein Auszug des Artikels "Lagarde" im "Neuen Brockhaus" von 1939: Lagarde, Paul Anton de (eigentlich Bötticher) (...) In seinen kulturphilosophischen Schriften, durch die er zum Wegbereiter eines neuen Deutschlands wurde, geißelte er die Schwächen seiner Zeit, bekämpfte die Juden und deren Einfluß, bes. in der Wirtschaft, und trat für eine nationale Religion und die politisch-sittlich-soziale Sendung des deutschen Volkes ein. L. gehört nach Rosenberg zu den Persönlichkeiten, an die der Nationalsozialist "lebensvoll und unmittelbar anknüpfen kann". 2 2 Nicht nur an Lagarde, den Einzelnen werden Nationalsozialisten lebensvoll anknüpfen können; 2 3 Chauvinismus und Imperialismus bestimmen weite Kreise des Kaiserreiches, nicht zuletzt seine "Gebildeten", die Professoren und Lehrer. 1888 gründet man die "Deutsche Kolonialgesellschaft", 1891 den "Alldeutschen Verband". 1898, drei Jahre bevor Morgenstern Lagarde kennenlernt, im Gründungsjahr des "Flottenvereins", erscheint seine Sammlung "Ich und die Welt" und darin "Auf der Piazza Benacenese (Riva am Gardasee)", ein Gedicht, das die herrschende Atmosphäre spüren läßt: 18 19 20 21 22 23

A.a.O., 248, 1907. Stufen, 90, 1907. Ebda. Epigramme und Sprüche, 111, 1908. Brockhaus, Bd. 3, 5. So gehörte " L a g a r d e " neben Butterbrot und kaltem Tee in alle Rucksäcke der 1901 gegründeten Wandervogelbewegung, deren Weltanschauung im übrigen Tendenzen enthielt, die auch dem Denken Morgensterns nicht fremd gewesen sein dürften.

20

Die Welt des Kaiserreichs

Den Nacken hoch, Germane! Diese Gassen trat deines Ahns geschienter Herrenfuß. Hier eben, wo ich schreite, schritt auch er, geehrt vom Italer, und seiner Weiber Gebet und Furcht. Ich blonder Enkel bin kein Fremder hier ,.. 24 Ob Heinrich Manns Diederich den Poeten der Piazza Benacenese als Begleiter mit nach Rom hätte nehmen wollen? "Germanische Reckenhaftigkeit sollten sie kennenlernen", 25 die Italer und ihre Weiber. Diederich hielt den Nacken hoch, "und sein Blick war hell und wild, wie der eines germanischen Kriegers der Vorzeit auf einem Eroberungszuge durch Welschland." 28 Die "politisch-sittlich-soziale Sendung des deutschen Volkes" meint auch Morgenstern entdecken zu können. Der Dreiundzwanzigjährige schreibt öffentlich im "Zuschauer": Ein durch und durch produktives Volk will herrschen und seinen Geist der übrigen Menschheit aufprägen. Es will nicht jene weichliche und unmögliche Versöhnung aller Gegensätze u. Gegnerschaften, welche immer aufdringlicher heute hervortritt, ohne doch in der Praxis viel zu erreichen. Es will Kampf und Spannung haben, nach außen und nach innen ... 27 Christian Morgenstern wird später, wie wir wissen, Pazifist und wäre froh zu wissen, seinen "Zuschauer"-Aufsatz nur in einer und keiner anderen Werkausgabe abgedruckt zu finden. Doch der Siebenunddreißigjährige dichtet: Mit diesem "Wahn der Größe"; ja, mein Volk möcht ich dich impfen, diesem: daß du dich ein Volk von Göttern fühlst ... 28

24 25 26 27 28

Ich und die Welt, 68. Mann, 379. A.a.O., 383. Ausgewählte Werke, 532. Epigramme und Sprüche 111, 1908.

Die Welt des Kaiserreichs

21

"Allem germanischen Wesen" wird dieses gewidmet: Im Eignen bleib mir stark und klar und schaff, daß Wodans Esche sprießt, die ihre Kraft um Christum schließt, — und laß dem Fremden, was dem Fremden war.2* Und schreibt der Schüler Morgenstern in das Commersbuch seines Musik- und Turnlehrers Franke: "Deutsch sein, heißt Charakter haben", 3 0 so dichtet er später: Wir wollen nicht antik und nicht modern sein. Wir wollen deutsch in unserm tiefsten Kern sein. Nichts als Gedankenflachheit soll uns fern sein. und Volks- und Menschheitsglück uns Ziel und Stern sein.31 Zusammenfassung: Die Unterscheidung von "Staat" und "Volk" führt Morgenstern mit seinem Bild des "Deutschen" in einen realistisch-idealistischen Dualismus hinein. Der Kritiker eines beschränkten, enttäuschenden Kaiserreiches wird ein völkischer Schwärmer. Der philiströs-polizeilichen Wirklichkeit wird eine germanische Zukunftsvision gegenübergestellt. Das Deutsche Reich — und hier endet die "Parallele" zu Diederich auch schon und bleibt das, was sie sein sollte: ein kurzes Bruchstück — ist von dieser Vision weit entfernt. Es hat zuviel "römischen Geist im Leibe". 32 Daß Morgenstern geahnt haben mag, welch andere "germanischen" Geister den Lehren Lagardes nur zwei Jahrzehnte später folgten, das "Römische" aus ihren Seelen, das Jüdische aber in die Vernichtungslager verbannten, ist in einer der "Stufen" versteckt: "Wer Lagarde erträgt, ist entweder ein Hundsfott, ein Kind oder ein Riese". 33 Bei geänderter Attribut-Reihenfolge hätte der Satz prophetisch sein können.

29 30 31 32

A.a.O., 153, undatiert. Nach Bauer, 1937, 42. Epigramme und Sprüche, 156, undatiert. Stufen, 127, 1905. — Morgensterns "Horatius Travestitus" ist — der Name sagt es — eine humoristische Travestie. In einem Anhang " A u s dem Nachlaß des H o r a z " erscheint 1911 die Ode an Cyrill. Sie endet humorvoll, aber nicht spöttisch-lächerlich: "Also sei unter Römern — deutsch." (Horatius Travestitus, VI, 240.) 33 Stufen, 90, 1907.

IV. ANTISEMITISMUS

Ich glaube nicht, daß ein anderer Mensch meiner Zeit so am Juden gelitten hat wie ich, und zugleich so viel von ihm hält. Dies mag mir ein Recht geben, an sein Problem zu rühren. 1 Der Faden kann aus dem vorausgegangenen Kapitel übernommen werden. Lagarde hinterließ auch hier seine Spuren. Der Bürger und Deutsche Morgenstern hatte sich mit einer Erscheinung seiner Epoche auseinanderzusetzen: dem Antisemitismus. 2 Ein Versuch, seine Haltung in dieser Frage zu beschreiben, stößt auf Schwierigkeiten. Denn es fällt schwer, die Widersprüchlichkeit Morgensternscher Äußerungen zu diesem Thema zu erklären oder gar aufzulösen: Verteidigung einerseits, Angriff andererseits — eine Mischung, die Liede zu der Bezeichnung "latenter Antisemitismus" führt. 3 Der Versuch soll dennoch unternommen werden. Das Quellenmaterial läßt sich zu drei Gruppen strukturieren. Morgenstern kann ein strenger und scharfsichtiger Kritiker des Antisemitismus sein. Antisemiten Werft doch die Maske von euch. Es ist ja nicht Sem, den ihr meint. Hinter dem Rassen- verbirgt schlecht sich der Klassen-Haß nur. 4 1905 prangert er in den "Moskauer Versen" Judenverfolgungen in Rußland an. 5 1906 — drei Jahre vor jener Klage, die diesem Kapitel als Motto dient — antwortet er einem antisemitsch gefärbten Brief seines Freundes Kayssler: "Ich sehe mich um, wer mir — außer Dir — das ein1 2 3 4 5

Stufen, 135, 1909. Für die Darstellung des Zusammenhanges kann auf den umfangreichen, von Werner Mosse herausgegebenen Sammelband "Juden im Wilhelminischen Deutschland 18901914" verwiesen werden. Liede, I, 340. Epigramme und Sprüche, 28, 1899. Mensch Wanderer, 124.

Antisemitismus

23

fache nackte Leben bis heute erhalten hat: es sind fast ohne Ausnahmen deutsche Juden." 6 Morgenstern schwankt zwischen einer- und andererseits: Der Jude ist einerseits freisinnig, andererseits aber gruppenegoistisch.7 Der Jude besitzt einerseits einen scharfen Intellekt, ist andererseits aber ein Haarspalter. 8 Morgenstern beharrt gegenüber Kayssler: "Zum Antisemiten (...) soll mich nichts machen", 9 lehnt es ab, sich gegenüber Juden zu empören, und schränkt dann doch ein: "wenn diese Empörung nicht Geist zeitigt, fähig, die Übergriffe oder die Ungemäßheiten des Geistes jener zu überwinden." 10 Christian Morgenstern ist zu antisemitischen Rundumurteilen fähig, die sich kaum von "Untertanen"-Allgemeinplätzen gleicher Tendenz unterscheiden. Wenn er etwa ausholt: "Alles Jüdische ist vorwiegend destruktiv", 11 so deklamiert Herr von Barnim in seiner Berliner Junggesellenwohnung fast noch differenzierter: Das Jüdische ist "das Prinzip der Unordnung und Auflösung, des Durcheinanderwerfens, der Respektlosigkeit." 12 Morgensterns Urteil: "Der moderne Jude — als Denker — wird selten glauben, das heißt ahnend ergreifen können," 13 wird von Diederich ergänzt. Denn dieser meint, eine "alles zerfressende Überzeugungslosigkeit" feststellen zu können. 14 "Daß der Jude sich immer geistig überlegen dünkt", 1 5 wird schließlich auch in Netzig geglaubt. Zusammenfassung: Morgenstern als einen "latenten Antisemiten" zu bezeichnen, ist — soviel wurde wohl deutlich — falsch. Es wird kein Antisemitismus verborgen, sondern unmißverständlich in einer Gruppe negativer Pauschalurteile mitgeteilt. Daß Morgenstern völkischstereotypischen Denkmustern zugänglich ist, zeigte sich bereits: Das Germanische ist ... Das Römische ist ... warum nicht auch das "Jüdische"? Nicht Reinhard oder Kerr erscheinen manchmal überheblich, sondern der Jude dünkt sich immer überlegen. Unterscheiden sich Morgensterns Pauschalisierungen kaum von denen des wilhelmischen Massenantisemitismus,19 so unterscheiden sie sich klar in den aus ihnen abgeleiteten Schlußfolgerungen. "Ich wün6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16

Briefe, 235. E p i g r a m m e und Sprüche, 45, 1902/03. A . a . O . , 63, 1902/03. Briefe, 234, 1906. Ebda. S t u f e n , 129, 1907. M a n n , 57. S t u f e n , 135, 1908. M a n n , 217. S t u f e n , 135, 1908. Den "wilhelminischen A n t i s e m i t e n " analysiert Werner J o c h m a n n in dem bereits erwähnten S a m m e l b a n d : " S t r u k t u r und F u n k t i o n des deutschen A n t i s e m i t i s m u s " .

24

Die Welt des Kaiserreichs

sehe die Überwindung des jüdisch-deutschen Geistes (...) durch deutschen Geist, aber nicht durch deutsche W u t " , 1 7 erteilt Morgenstern jeglicher Gewalt eine Absage. Auch in der Sprache wird keine Wut sich niederschlagen, Die Derbheit, Plumpheit und Brutalität der antisemitischen Massenpolemik bleiben ausgeschlossen. Jener laut-erregte Bürger ist es gerade, den Morgenstern auffordert, seine Maske von sich zu werfen. 1 8 Gegen ihn ist er bereit, Juden in Schutz zu nehmen, auch wenn er sie selbst stigmatisiert. Die landläufige antisemitische Hätz stößt ihn ab, ihre Gewalttätigkeit verurteilt er scharf, ihre Widerwärtigkeiten sind auch ihm widerwärtig, sie sind ihm auch — ganz schlicht — zu unästhetisch. Antisemit? Philosemit? Faßt es euer Horizont nicht, daß ich Anti- nicht noch Philo — Meinen Hausaltar besonnt nicht Michel, sondern Venus Milo. 19 Und diese Venus Milo-Sonne schien wirklich. Der Neujahrsbrief Morgensterns an Alfred Kerr endet: Sie haben sich mir langsam ins Herz geschrieben, und ich glaube, ich werde Sie nie mehr ganz verkennen können. Also wenn Sie wollen, auf guten Sinn gegeneinander im neuen Jahr! 2 0 Morgensterns bester Freund neben Kayssler wurde Efraim Frisch.

17 18 19 20

Briefe, 234, Epigramme A.a.O., 22, Briefe, 150,

1906. und Sprüche, 28, 1899. 1898. 1903.

V. DER KAISER

An Napoleon muß man im Gebirge denken. 1 1888 wird Wilhelm II. deutscher Kaiser. Lauffgraf (in die Mitte der Szene tretend, mit hoheitsvoller Bedeutsamkeit): Die Stunde kommt — die Zeit, sie kommt und naht (mit majestätischer Ruhe): doch was da einstens kommt — (zeigt nach oben — groß) — das kommt von Dem! Doch jetzt, jetzt kommts Uns zu, das was Wir müssen in Schutz und Trutz und Lob und Preis zu enden (Bewegung. Pause. Dann): Und also schwör ich hier vom Fels zum Meer, zu Lehr und Wehr und Sehr mit gewalt'ger Hand Mein Reichsschiff zu regieren, daß, wenn dereinst der Herr (deutet nach oben) die Schafe sondert von den Böcken zu ihm er sprechen kann: Tritt mir zur Rechten! Du warst gehorsam deinem Meistersmann, der dich durch Nacht zum Licht emporgeführt! Hier setz ich dir die Krön aufs lock'ge Haupt — du hast gekämpft und saft'ge Frucht getragen, hast mir und meinen Dienern stets geglaubt — nun wandle sanft in Edens Rosenhagen! (Jubel, Hochrufe. — Der Vorhang fällt.) 2 Das "Historische Schauspiel" "Der Lauffgraf", das seinen Titel dem Hohenzollern-Dichter Josef Lauff, dem Autor des "Burggrafen", verdankt und das mit Jubel und Hochrufen endet, wurde von der Zensur verboten, denn es spielte nicht wirklich im 14. Jahrhundert, sondern um die Wende des 19. zum 20. Jahrhundert, und der Lauffgraf war nicht 1 2

S t u f e n , 136, 1909. Die Schallmühle, 121 f.

26

Die Welt des Kaiserreichs

wirklich " K u r t von Posen, mit dem vorgestellten Bein", sondern Wilhelm II., deutscher Kaiser. Wilhelm den Zweiten kritisiert und verachtet Morgenstern. " D e r L a u f f g r a f " richtet sich gegen sein " G o t t e s g n a d e n t u m " , gegen das Zeigen und Deuten nach oben, gegen "diese beständige Berufung auf ' G o t t ' als (...) D u z b r u d e r ! " 3 Morgenstern in Briefen über ihn: Der Kaiser ist an guten Einfällen "nicht eben allzureich". 4 Ihm bleibt der " S i n n seiner Z e i t " f r e m d . 5 Durch seine "Schlag auf Schlag folgenden öffentlichen R e d e n " isoliert er sich selbst "inmitten des von ihm beständig angerufenen Volkes". 6 Längst steht bereits ein "erheblicher Bruchteil der Deutschen" nicht mehr hinter seiner Politik. 7 Der Hohenzoller ist ein schlechter Kaiser, aber — so folgert Morgenstern — das ist kein Grund, die E i n f ü h r u n g der Demokratie zu fordern. Wilhelm dem Zweiten zum Trotz bliebt er Monarchist: Ich bin kein Anarchist, weiß Gott, weit eher Reaktionär; ein großer König ist mein Gott. Wenn nur einer zu finden wär. 8 Wenn nur ein Napoleon zu finden wär! Ein Napoleon hätte Morgensterns " G o t t " werden können, dieses mit " E r d b e b e n " und " G e w i t t e r " vergleichbare "Naturereignis".* Morgenstern wird zum Schwärmer und wählt ein Vokabular von geradezu religiöser Weihe bei der Vorstellung, "wie dieser kleine Korporal (...) gleich dem Monde das Meer, all dies schwerfällige, schwerflüssige Leben übermächtig zu sich emporzwang, so daß es auf eine Weile in ihm seinen natürlichen Mittel- und übernatürlichen H ö h e p u n k t f a n d . " 1 0 In seiner Verehrung Napoleons klingt deutlich an, daß Morgenstern kein Monarchist realpolitischer Provenienz ist. Nicht die Überzeugung, daß die Monarchie aufgrund dieses und jenes präzise bestimmbaren Organisationselements die effektivste aller Regierungsformen und der bürgerlichen Demokratie überlegen sei, läßt ihn zum Monarchisten werden. Morgenstern ist vielmehr ein politischer Romantiker. Ein halbes Jahrhundert nach Erscheinen des ersten 3 4 5 6

Briefe, 106, 1898. A . a . O . , 222, 1906. A . a . O . , 187, 1905. A . a . O . , 193, 1905. — Die von Ernst J o h a n n herausgegebenen " R e d e n des Kaisers" dokumentieren die G r ü n d e d a f ü r eindrucksvoll. 7 Briefe, 193, 1905. 8 E p i g r a m m e u n d Sprüche, 63, 1902/03. 9 Stufen, 136, 1909. 10 E b d a .

Der Kaiser

27

Bandes des "Kapitals" preist er es als höheres Glück, "mit einem 'vive Pempereur' auf den Lippen zu sterben, als mit einem 'ni Dieu ni Maitre' zu leben", 11 ist er mit mittelalterlicher Terminologie noch immer auf der Suche nach einem "Herr(n) und Herrscher". 12 Und falls er ihn findet: "Nicht nur einmal — zehnmal Absolutismus — und nicht Parlamentarismus." 13 Romantisiert, von Friedrich Nietzsche inspiriert, ist Morgensterns Begriff des "Adels". Verwendet er ihn, dann nicht im Sinn der einflußreichen wilhelminischen Aristokratie. 14 Der Morgensternsche Adelige ist zunächst einmal ein Edler, der sich vom "Menschen en masse" unterscheidet.15 Stolz, Würde, Aufrichtigkeit werden ihn wahrscheinlich auszeichnen. Unbeugsamkeit im Kampf gegen die Sozialdemokratie? Adel, das läßt sich spüren, wie man das Vollblutpferd spürt. 16 Und "die schönsten Dinge auf Erden sind nur durch Adel möglich". 17 Und "noch mehr: Der wahre Adel ist selbst das schönste Ding der Erde". 1 8 Auch hier läßt sich noch einmal Herr von Barnim in seiner Berliner Junggesellenwohnung einblenden: "Sein politisches Ziel war eine ständische Volksvertretung, wie im glücklichen Mittelalter: Ritter, Geistliche, Gewerbetreibende, Handwerker. Das Handwerk mußte, der Kaiser hatte es mit Recht gefordert, wieder auf die Höhe kommen wie vor dem Dreißigjährigen Krieg. Die Innungen hatten Gottesfurcht und Sittlichkeit zu pflegen." 19 Daß auch Morgenstern auf seinem Königs- und Adelsrekurs über die Romantik zum Mittelalter Visionen solcher Art nicht fremd gewesen sein mögen, ist wahrscheinlich. Bot sich hier nicht eine unsozialistische Möglichkeit, " a u s dieser scheußlichen Fabrikanten- und Spekulantenwirtschaft heraus(zu)kommen"? 20

11 A . a . O . , 133, 1907. 12 A . a . O . , 137, 1909. 13 E b d a . — D i e Begründung Diederichs: " D e r Korruption des d e m o k r a t i s c h e n Klüngels ist alles z u z u t r a u e n . " ( M a n n , 420). 14 " U m 1910 waren v o n elf Mitgliedern des preußischen Staatsministeriums neun, v o n 65 Wirklichen Geheimräten 38, von 12 Oberpräsidenten 11, v o n 36 Regierungspräsidenten 25, v o n 467 Landräten 271 a d e l i g . " (Wehler, 76). 15 S t u f e n , 126, 1905. 16 A . a . O . , 131, 1907. 17 A . a . O . , 126, 1905. 18 E b d a . 19 M a n n , 57. 2 0 Briefe, 134, 1902.

VI. WISSENSCHAFT

Die Wissenschaft — die Wissenschaft — die Wissenschaft — die Wissenschaft. 1 "Die Epoche von 1871 bis 1914 kann trotz mancher unausbleiblicher Schattenseiten eine Blütezeit der deutschen Wissenschaft genannt werden. In einzelnen Sparten stand Deutschland an der Spitze, in vielen anderen Disziplinen nahm es mindestens den gleichen Rang wie die bedeutendsten Kulturnationen Europas ein. Deutschland stellte von 1901 bis 1908 allein 18 Nobelpreisträger in den Gebieten Physik, Chemie und Medizin." 2 Das Jahrhundert der Dampfmaschine war vorüber, das neue Jahrhundert begann als Epoche der Physik, Chemie und Elektronik. 1895, als Sigmund Freud mit seinen Studien Uber Hysterie die Grundlagen der Psychoanalyse legt, werden die Röntgenstrahlen entdeckt. 1898, als Leo Loeb zum ersten Mal ein Gewebe in einem Reagenzglas zu züchten versucht, entdecken Marie und Pierre Curie das Radium und Polonium. 1900 begründet Planck die Quantentheorie, fliegt der erste Zeppelin. 1901 überbrückt Marconi den Atlantik mit drahtloser Telegraphie. 1906 beginnt Einstein, die Relativitätstheorie zu entwickeln ... Morgenstern ist Zeuge dieser vehementen Entwicklung, die innerhalb weniger Jahre das Weltbild großer Kreise des wilhelmischen Bürgertums entscheidend prägt: Fortschrittszuversicht und Wissenschaftsgläubigkeit breiten sich aus, man glaubt an die sichere Beweiskraft "exakter" wissenschaftlicher Methoden und glaubt an den unbestechlichvorwärtsstrebenden wissenschaftlichen Forschergeist. Auch davon ist Morgenstern Zeuge, und er schlägt sich auf die Seite der Skeptiker. Den Wissenschaftlern, "zu denen (...) die Menge heute so gläubig aufblickt, wie das Volk des Mittelalters zu seinen P f a f f e n " , 3 begegnet er mißtrauisch. Ihren "religiösen" Anspruch greift er an. "Mußte der wahrhaft innerliche Mensch früher mit der Kirche ringen, so muß er es heute mit der Wissenschaft." 4 Warum? 1 2 3 4

Wissenschaft, E p i g r a m m e und Sprüche, 10, 1893. Kramer, 281. Briefe, 468, 1913. Stufen, 275, 1908.

Die Wissenschaft

29

Morgenstern erkennt die grundsätzliche Berechtigung und Notwendigkeit von Wissenschaft an — "ich liebe die Wissenschaft von Grund aus und hasse alle Schwarmgeisterei"5 —, "einmal ihren Wert als Wissenschaft, den man allgemein für ihren eigentlichen, für ihren Hauptwert hält und der doch nur ein Hilfswert ist; und ihren Wert als eine Art moralischer und intellektueller Gymnastik (...)• Und das ist ihr Hauptwert." 6 Ferner: "Die wissenschaftliche Methode wird man nicht anfechten." 7 Aber diese Wissenschaft vergißt — und nun verleiht Morgenstern selbst ihr die religiöse Weihe —, "daß sie eine seltene, wunderbare Blume auf dem Boden des Mysteriums ist, (...) daß sie selbst Mysterium ist."' "Was ist denn eigentlich diese 'Wissenschaft' von heute, mit welchem Rechte nennen sich hunderttausend fleißige Arbeiter auf ihrem Felde 'die Wissenschaft'?" 9 "Diese Gelehrten! Sie fingern kalt am Unerhörten." 10 Morgenstern wendet sich gegen einen zum Selbstzweck degenerierten Wissenschaftsbetrieb, der den Boden des Mysteriums längst verlassen hat. Der Wissenschaftler treibt Forschung nur noch um des Treibens willen, die Wissenschaft wird eine "Zählmaschine". "Und fürwahr, mit dieser Zählmaschine in der Hand wird der Mensch ein beschäftigtes und beruhigtes Schulkind." 11 Oder:

Ein Kälblein Wissenschaft genügt, damit wird lebenslang gepflügt. 12 Und siehe da, auf deinem Körnchen Sand erhebt sich Wissenschaft, ein Elefant. 13

Ob Kälblein oder Elefant, die Bauern und Tierzüchter zeigen selbstbewußt ihre Ware her und verkünden ihre Qualitäten im barschen Ton "von Polizisten, von Wachtmeistern, die vorgestern ihre Bestalltung bekommen haben." 1 4 Die wissenschaftliche Auseinandersetzung verläuft dementsprechend:

5 6 7 8 9 10 11 12 13 14

A . a . O . , 218, 1906. A . a . O . , 226, 1908. Briefe, 469, 1913. Stufen, 218, 1906. Briefe. 468. 1913. Gelehrtenart, Epigramme und Sprüche, 87, 1906. Stufen, 248, 1906. Wissenschaft, E p i g r a m m e und Sprüche, 10, 1893. Mensch W a n d e r e r , 169, 1907. Briefe, 414, 1911.

30

Die Welt des Kaiserreichs

Gelehrte. Müßt ihr euch immer prügeln, wenn ihr aufs Forum wandelt, könnt ihr euch nicht beflügeln, wenn ihr von Großem handelt? 15 Morgensterns Vorliebe in der Kritik scheint den Geisteswissenschaftlern gegolten zu haben. Seine Beschreibung des "Germanisten" ist ebenso bissig wie seine Definition des "Philosophen" erschöpfend. Germanen sieht man wenig an, der Germanist ist heut der Mann; wir andern können nur radebrechen, er weiß alleinzig "deutsch" zu sprechen. Und ob er auch nicht fähig ist ein armes Wörtlein selbst zu zeugen — (der Germanist, mein Germanist) er weiß, daß nichts so wonnig ist als — Schaffende zu beugen.19 Und:

Er war ein Pantoffel und stank am Ofen, sie nannten ihn einen Philosophen.17

Resümee:

Man muß die Gegenwart von ihrer Wissenschaft reden hören, um zu wissen, was ein Parvenü ist.18

Oder:

"Was studieren Sie denn, junger Mann?" fragte sie. — "Chemie." — "Ach so, Physik?" — "Nein, Chemie." — "Ach so." 1 9

15 16 17 18 19

Melencolia, 83. Magisterfreuden, E p i g r a m m e u n d Sprüche, 34, 1899. E p i g r a m m e und Sprüche, 56, 1902. Stufen, 149, 1911. M a n n , 21 f.

VII. LITERARISCHES SCHAFFEN

Oder:

Ich scheine nämlich wirklich ein Dichter zu sein.1 Ich bin Gelegenheitsdichter und nichts weiter.2

Christian Morgenstern war einer der Unzufriedenen des deutschen Kaiserreiches und doch in manchen Denkgewohnheiten und Idealen seiner Zeit befangen. Der Sohn eines gefragten Landschaftsmalers, eines Professors an der Königlichen Kunstschule in Breslau, verabscheut das satte und selbstgefällige Bürgertum und kann sich dennoch aus seiner Verstrickung mit ihm nicht lösen. Die "soziale Frage" wird von Morgenstern erkannt und beklagt, eine Änderung der Grundsätze von Wirtschaft und Industrialisierung aber fordert er nicht. Ratlosigkeit bleibt und ein sozialistisches Schreckgespenst. Der Staatsbürger Morgenstern kann sich mit seinem Staat nicht identifizieren und findet dennoch über den Umweg eines völkischen Ideals zum Nationalismus. Den kleindeutschen Schnurrbartkaiser lehnt er ab, doch nur weil dieser kein kleiner Korse ist: In einer Zeit, in welcher die Monarchie sich von einer gefährlich bornierten Seite zeigt und grotesken Stolz zur Schau trägt, bleibt Morgenstern romantischer Monarchist. Den Antisemiten bekämpft er, ohne antisemitischen Pauschalisierungen selbst entgehen zu können. Entschieden lehnt er Wissenschaftsbetrieb und Wissenschaftsgläubigkeit ab. "Was kommen wird? Eine neue Epoche der Kraft, der heute hier und dort präludiert wird? Vielleicht! Kaum mehr in Deutschland. Da müßte erst grenzenlos viel zerstört und ausgerodet werden." 3 Morgensterns Fazit seiner Zeit, "einer gott- und geistlos gewordenen Epoche", 4 ist bitter, vor allem in den letzten Lebensjahren. "Eine 'Zeit der Sackgassen' könnte man unsere Zeit nennen." 5 Und "die Zeit ist so dunkel und die Not ist so groß." 6 Am 27. Februar 1914 konstatiert er "den schauerlichen Zusammenbruch, in dem die Welt heute steht oder vielmehr fällt, 1 2 3 4 5 6

Briefe, 39, 1893. Stufen, 36, 1906. Briefe, 90, 1897. A . a . O . , 405, 1910. A . a . O . , 414, undatiert. A . a . O . , 455, 1913.

32

Die Welt des Kaiserreichs

in unaufhörlichem Bröckeln und Stürzen", 7 und ahnt die "schweren, schweren Zeiten die hereinbrechen". 8 Was aber plant drei Jahrzehnte früher der junge Christian Morgenstern in wilhelminischer Zeit? Der Achtzehnjährige will Offizier werden, nach einigen Ausbildungsmonaten aber nicht mehr: "Ich muß gestehen, meine Neigung zum Soldatenstande oder besser zum Soldatenberufe war nie eine echte, tiefe." 9 Der Einundzwanzigjährige studiert Nationalökonomie, mit Begeisterung, wie man sehen konnte. Der Dreiundzwanzigjährige arbeitet in der Nationalgalerie Berlin. Soll er Kunsthistoriker werden? Er entscheidet sich schließlich dafür, ein Schriftsteller zu sein. Welche Aufgaben übernimmt er damit? — Christian Morgenstern formuliert 1906 — ein Jahrzehnt nach Veröffentlichung seines ersten dünnen Gedichtbandes "In Phanta's Schloß" — folgende Aufforderung: An unsere jungen Dichter: Geht ins Volk, mischt euch unter die gewöhnlichen Leute, sucht ihre Freundschaft zu gewinnen, sucht so reden zu lernen, daß sie euch verstehen, wie ihresgleichen. Geht zu den verschiedensten Handwerkern, auf die Werften, in die Fabriken, in die Bergwerke; lernt vom Volk und für das Volk; seht zu, daß was und wie ihr dann schreibt, jedem verständlich sein könne, der den guten Willen für euer Verständnis mitbringt. (...) Denkt an Luther, wie er herumging in allen Werkstätten, um sich die Sprache für seine Bibelübersetzung zu bilden. 10 Diesen Vorstellungen kam der junge Dichter selbst nicht nach. Ihn werden Handwerker, Kumpel, Werft- und Fabrikarbeiter kaum wie ihresgleichen verstanden haben. Und ihr Unverständnis wird den Poeten des "Ich und die Welt" nicht verunsichert haben. Zwei Zeilen aus dem Gedicht "Übermut" lauten: Ihr Toren, die ihr kriecht und schleicht, mein Gang ist eitel Tanz. 11 Nicht der Wunsch nach Verständigung, selbstgefälliges Pathos herrscht auch hier vor: Ihr wißt gar nichts. Und ob ich mich verlöre in einem Strom von Worten! Werft euch lüstern in diesen Strom! Da fließt er. Er gehört euch. — Ich werde an mir selbst zu Grunde gehen. 12

7 8 9 10 11 12

A . a . O . , 491. A . a . O . , 492. A . a . O . , 11, 1889. Stufen, 74. Ü b e r m u t , Ich und die Welt, 71. Entwickelungs-Schmerzen, Ich und die Welt, 27.

Literarisches S c h a f f e n

33

Der Dichter Morgenstern des Jahres 1896 zieht den Blick "ins leere Auge der Sphinx" 13 dem lutherischen Blick auf das Maul des Volkes vor. Der Dichter des Jahres 1906 aber ist vor allem zu krank, um sich in Bergwerken, Werften oder Fabriken herumzutreiben, sich dort "unter gewöhnliche Leute" zu mischen, zu beobachten, eine neue Sprache zu lernen. Sein Leben ist zum Sanatoriumsleben zusammengeschnürt, Mittagsschlaf und Kurkonzerte. Läßt es die Gesundheit zu, darf er bisweilen vom Zauberberg herabsteigen, um zu reisen, dorthin, wo die Luft frisch und leicht ist. Eine stickige Fabrikhalle könnte ihn geradezu töten. Nicht die Nähe der "gewöhnlichen Leute" findet diese Dichtung, sie sucht vielmehr das Vorbild ihrer "Führer". 1 4 Als Christian Morgenstern 1895 seinen Erstling "In Phanta's Schloß" veröffentlicht, sendet er das frische Buch einer alten Dame zu: Hochverehrte gnädige Frau! Der Augenblick, da ich diese Zeilen schreibe, ist einer der feierlichsten und bewegtesten meines Lebens. Ich, ein junger Mensch von vierundzwanzig Jahren, wage es, meine erste Dichtung in die Händer der Mutter zu legen, der ehrwürdigen Mutter, die der Welt einen so großen Sohn geschenkt hat und mir im besonderen einen Befreier, ein Vorbild, einen Auferwecker zu den höchsten Kämpfen des Lebens. Jener Geist sieghafter, stolzer Lebensverklärung, jenes KönigsgefUhl Uber allen Dingen, von denen der geliebte Einsame so oft gesprochen hat, weht, glaube ich, auch durch die vor Ihnen liegenden Gedichte, welche ich deshalb humoristisch im verfeinerten Sinne ihrer Mehrzahl nach mir zu nennen erlaubte. Mein Buch ist dem Geiste Ihres edlen unglücklichen Sohnes in tiefer Dankbarkeit und Liebe gewidmet. Ich küsse, tiefergriffen, ehrwürdige Frau, Ihre Hände und bin in Verehrung und Dankbarkeit Ihr Christian Morgenstern. 15 Es ist die Mutter Friedrich Nietzsches. Nietzsche. "Man sieht Nietzsche ins Auge und weiß, wo das Ziel der Menschheit liegt." 19 "Nietzsche, die große Antithese seiner Zeit." 17 13 Der Wissende, Ich u n d die Welt, 40. 14 Im Rückblick auf Morgensterns Stellung zur "sozialen F r a g e " k a n n , als er in Nietzsche sein erstes Vorbild f a n d , analog festgestellt werden: " F ü r ihn steht f o r t a n nicht mehr das Schicksal der Massen und die soziale Frage zur Diskussion, sondern allein die 'Selbstbefreiung des einzelnen I n d i v i d u u m s ' , der große E i n z e l n e . " ( S c h u h m a n n , 14). 15 Briefe, 65, 1895. 16 Stufen, 99, 1897. 17 A . a . O . , 102, 1907.

34

D i e W e l t des K a i s e r r e i c h s

"Nietzsche, der Pole, der als Deutscher tief w a r d " . " 1 8 " E r ist meine ewige Rettung . . . " 1 9 "Denke Dir einen Sehenden, einen Wissenden unter fünfzig Millionen Blinden." 2 0 1896 erscheint in der "Deutschen Rundschau" ein Artikel unter der Überschrift "Nietzsche als Erzieher". 2 1 Autor ist Christian Morgenstern. Nietzsche ist der erste " g r o ß e " Erzieher und Führer in Morgensterns Leben. Lagarde und Rudolf Steiner werden folgen. Morgenstern wird der Gewohnheit erliegen, Jünger zu sein. Als Literat des Epigonale zu überschreiten, wird ihm immer schwer fallen. "Morgenstern was prome to hero-worship; at different stages of his development he had bowed down, all too objectly on some occasions, before a succession of idols." 2 2 " D a ß der Dichter zeitlebens in ausgesprochener Gefolgschaft eines anderen Menschen stand", 2 3 gesteht dieser Dichter sich ein: "Manchmal meine ich, mich definieren zu sollen als einen wehr- und hilflos dem Großen preisgegebenen Menschen." 2 4 Eine Seite Lagardes oder ein Wort Nietzsches wirken auf ihn — so Morgenstern selbst — " wie eine Säure (...), die mich für einen Augenblick völlig zersetzt." 2 5 Nietzsche, Lagarde, Steiner — von verehrten Führern läßt Christian Morgenstern sich entführen, herausführen aus der "gewöhnlichen" unbefriedigenden Wirklichkeit des Kaiserreiches, hin zu einem Ideal. Mit Friedrich Nietzsche erklärt er die wilhelminische Gesellschaft, in welcher er zu leben gezwungen ist, für krank, verlogen und lebensfeindlich und nimmt Zuflucht bei der einsamen Idealgestalt des Übermenschen. Von Paul de Lagarde läßt Morgenstern sich aus dem Gefängnis eines hohlen und steifen deutschen Bürgertums befreien und dem Ideal eines stolzen, aus seinem " W e s e n " lebenden Germanen zuführen. In seinen letzten Lebensjahren aber erschließt ihm Rudolf Steiner — " e r ist wirklich ein großer Führer, und es ist keine Schande, sich ihm anzuschließen"2® — das Ideal einer harmonischen, natürlichen Weltordnung und die Gestalt Jesus. Hier endlich, an einem Punkt persönlicher Erlösung, kann Morgenstern die Suche nach dem Ausweg beenden. Der Rückzug aus der Gesellschaft zu den Idealen vereinsamt. 1898 vollzieht der 27jährige Nietzsche-Verehrer mit Pathos die Polarisierung von " I c h und die Welt": 18 19 20 21 22 23 24 25 26

A.a.O., 103, 1910. Briefe, 69, 1895. A.a.O., 90, 1897. A.a.O., 81, 1896. Witte, 1947/48, 129. Martin, 21. Stufen, 44, 1908. A.a.O., 45, 1908. Briefe, 368, 1909.

Literarisches Schaffen

35

Aus der Gesellschaft Lärm und Lachen hebt schwermütigen Flügelschlags meine einsame Seele sich fernen schwingenden Höhen zu, (...) was hab ich mit euch — was hab ich mit euch zu schaffen! 27 1906 reflektiert der 35jährige: "Wenn ich etwas an Christus verstehe, so ist es das: 'Und er entwich vor ihnen in die Wüste'". 2 8 1908 schreibt Morgenstern an Margareta: "Mit meinem Ernst auf Ewigkeit allein", die Zeile aus einem Epigramm von mir fiel mir wieder einmal ein ... Nur Du sollst an meinem Halse hängen und mit mir fliegen — nur um Dich kann ich, darf ich den Arm legen in dieser grenzenlosen Einsamkeit. 29 Der Einsame wird ein Einsiedler: 1895: Hoch in einsam-heitren Stillen gründ ich mir ein eignes Heim. 3 0 1905: Ich möchte am liebsten auf einem Turm wohnen. Täglich im Leben drunten ein Bad nehmen, untertauchen, und dann wieder hinaufsteigen in sein Luginsland, sein au dessus de la vie. 31 1907: Einsiederwunsch Eine Hütte und ein Stück Wald ganz für mich allein ,.. 3 2 "Ein Geist, dem alle Wohnstätten unwohnlich geworden sind, kann sich im Dichten die einzige Wohn- und Werkstätte seiner selbst schaffen. Vielleicht dichtet er d a r u m . " 3 3 Zwischenergebnis: Hugo Friedrichs Vermutung läßt sich auch in Hinblick auf Christian Morgenstern anstellen: Auch er, dem viele Wohnstätten unwohnlich waren, dichtete wahrscheinlich — auch — darum.

27 28 29 30 31 32 33

Gesellschaft, Ich und die Welt, 109. Stufen, 32. Briefe, 355. Prolog, In Phanta's Schloß, 11. Stufen, 24, 1905. Mensch Wanderer, 183. H. Friedrich, 90.

36

Die Welt des Kaiserreichs

Welche Ziele setzte dieser Dichter sich? In einem Brief an Maximilian Harden bezeichnet Morgenstern sich selbst als "unpolitischen Schriftsteller". 34 Für einen solchen sei es "immer mißlich, sich in öffentliche Angelegenheiten zu mischen". 3 5 Aber es folgt dem Satz ein "Gleichwohl": "Gleichwohl, meine ich, stellt auch der keiner Partei angehörige Privatmann einen Teil des Volkes d a r . " 3 8 Auch wenn er ein unpolitischer Schrifteller sei, wolle Morgenstern versuchen, in der Gesellschaft seine "geistige Position zu bezeichnen und bis zum Äußersten zu halten". 3 7 Gelang Morgenstern die Durchführung dieses Vorsatzes? Sein großer Plan, "Der Dunkelmännerbriefe zweiter Teil" herauszugeben, wurde von Frisch und Kayssler 1902 nicht aufgegriffen. In diesen Briefen hoffte er, "könnten wir uns vieles vom Herzen und dem andern zum Frommen schreiben". 3 8 Vielleicht wäre Morgenstern in der Nachfolge Reuchlins zu aggressiver Satire und Zeitkritik gelangt. Die wilhelminische Neuauflage der "epistulae obscurum virorum" aber fand nicht statt. Welche sind die anderen literarischen Pläne? — Ehrgeizige Vorhaben zum Teil. 1895 entstehen die Entwürfe für einen "Weltkobold", "eine phantastische Geschichte auf alles mögliche", 3 9 und "Menschen", einen "groß e n " humoristischen Roman. 4 0 Vor allem aber faßt Morgenstern in diesem Jahr den Entschluß, eine "Symphonie" zu schreiben, und eröffnet das Taschenbuch, in dem der Entwurf entwickelt werden soll, mit dem Motto: "Dies Buch sei meiner größten Aufgabe geweiht." 4 1 Der Plan ist der folgende: "Die Symphonie enthalte alles, was ich empfinde, das Ewige, Überzeitliche, wie das Zeitliche, im Augenblick Bedingte: die Sorgen unserer Tage um unser Haupt wie schwarze Dohlen." 4 2 Die Struktur die folgende: "Grundprinzip: Das augenblicklich-Persönliche zum zeitlich-Volklichen, das zeitlich-Volkliche zum ewig-Menschlichen erhoben. — Die Persönlichkeit wiedergefunden in der Zeit, die Zeit in der großen Menscheitsentwicklung. — Großer Hintergrund. Menschheit. Davor: Volk. Endlich ich in meinen Erregungen." 4 3 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43

Briefe, 192, 1905. Ebda. Ebda. A.a.O., 193, 1905. A.a.O., 140. Nach Bauer, 1933, 104. Ebda. Ebda. Ebda. Ebda.

Literarisches Schaffen

37

Morgenstern von der Insel Sylt über den Stand der Arbeit: "Meine 'Symphonie* liegt schwer auf mir — ich kann zur Zeit nichts Dichterisches produzieren; — sie wird entweder groß oder gar nicht. Über hundert Stoffe liegen dazu vor." 4 4 "Gar nicht" wird die "Symphonie" und auch nicht eine TragödienTrilogie der Renaissance, die Morgenstern 1902 plant: "Savonarola, die Tragödie der religiösen Leidenschaft"; "Caesare Borgia, die Tragödie des Weltmenschen"; "Julius II., die Tragödie der heroischen Ungeduld". 4 5 1902 an Efraim Frisch: "Wäre ich ein reicher Mann, so würde ich sagen: In drei Jahren sind sie fertig. (...) Nun ich zum Feuilletonschreiber descendieren muß, kann ich nur von 'Hoffnung' reden, diesem erbärmlichen Surrogat." 48 "Gar nicht" wird "Wilhelm Friedemann", des Galgenliederdichters eine "große" Roman. 1906 an Fega Frisch: "An den 'Roman' denke ich jeden zweiten Tag, bin aber ebenso überzeugt, daß ich zu ihm zehn Jahre älter werden muß." 4 7 1908 an Margareta: "Dann denke ich jetzt wieder mit einigem Selbstvertrauen an meinen großen einzigen — Roman, den ich schon so lange im Sinn habe; nichts als Seelenentwicklung: einen Menschen, der sich als die Ewigkeit, die er ist, nach und nach aus der Zeit (die er auch ist) herausgräbt. Am Ende kommt hier der Titel Phönix (...) zu seinem Recht." 4 » "Gar nicht" werden schließlich jene "Römischen Dithyramben", die Morgenstern als "Höhepunkt" erhoffte, 4 » — "darunter träume ich, sozusagen, welthistorische Gesänge ganz großen Stiles, gewaltige Erdenund Sonnenlieder." 50 — sondern bleiben ein Traum. Schon 1906 zieht Morgenstern resignierend ein Resümee: Am meisten schmerzt mich, was ich von dichterischen Möglichkeiten alles fallen lassen muß. Zum Drama werde ich nie gelangen, ich habe von Natur nicht das Zeug dazu und mich aufs Drama hinzudisziplinieren, dazu fehlt, wie gesagt, Zeit und auch Energie. Mein Widerwille nämlich gegen richtiges, zusammenhängendes 'Schreiben' ist allzu groß. Daran wird auch mein Roman scheitern. Ich bin Gelegenheitsdichter und nichts weiter.51 44 45 46 47 48 49 50 51

Briefe, 69. Nach Bauer, 1933, 158 Briefe, 143. A . a . O . , 228 A . a . O . , 337. Ebda. Ebda. Stufen, 36, 1906.

38

Die Welt des Kaiserreichs

1912 schreibt er aus dem Lungensanatorium in Davos an seine Frau Margareta: "Ich bin so wenig Literat, daß ich nicht kann, was viele können: 'schreiben'. Ich kann nur die spontanen und kurzen Fixierungen meiner inneren Lebenswegerlebnisse hinterher sammeln und aufreihen." 52 Der Schriftsteller Morgenstern fixierte manches Kurze und Spontane als Journalist: Theater-, Konzert- oder Buchrezensionen dienten dem Broterwerb. Lyrische Versuche, seine Essays, Glossen, Aphorismen waren über die Feuilletonseiten mehrerer Zeitungen und Zeitschriften verstreut: Freie Bühne, Der Zuschauer, Magazin für Litteratur, Penaten, Deutsche Dichtung, Bremer litterarische Blätter, Frankfurter Zeitung, Romanzeitung, Fliegende Blätter, Der Kunstwart, Pan, Jugend, Vossische Zeitung, Hannoverscher Kurier, Monatsschrift für neue Litteratur und Kunst, Die Schaubühne, Wegwarten, Wiener Rundschau, Peutsches Dichterheim, Die Gesellschaft. 53 Der Schriftsteller Morgenstern, dessen großer Traum es war, einmal einen "großen" Roman und eine "große" Dramentrilogie zu schreiben, lieferte Beiträge für wenigstens zwanzig Zeitungen und Zeitschriften und veröffentliche in fünfzehn dünnen Sammelbänden bis zu seinem Tod annähernd 1000 Gedichte. Allein der Nachlaßband "Mensch Wanderer", der die Jahre von 1887 bis 1914 umfaßt, enthält weitere 400. In den "Stufen" und "Epigrammen und Sprüchen" schließlich sind über 1700 literarische "Bruchstücke" gesammelt. Christian Morgenstern, der seine ersten Schriften selbstbewußt "dem Geiste Friedrich Nietzsches" widmet, 54 gesteht sich zwei Jahre vor seinem Tode ein, daß er es nicht kann — "schreiben". "Der große Atem", faßt Martin für viele Interpreten zusammen, "fehlt Morgenstern." 55 Er selbst fragt sich nach den Ursachen. Sein "Dilettantismus" sei kein Spaß, keine Koketterie, sondern ein Schicksal.56 Und wenn ich, ein Mensch von ursprünglich glänzender Begabung, alles in allem ein Dilettant geblieben bin, so hat die Hälfte der Schuld daran gewiß die Unsumme von Dilettantismus, von Halbheit und Kulturlosigkeit, die ich überall gefunden habe, wohin mich meine bewegte Jugend geführt hat. 57

52 Briefe, 441. 53 Die journalistischen Arbeiten Morgensterns oder seine Arbeiten für J o u r n a l e überhaupt — Lyrik, A p h o r i s m e n etc. — sorgfältig zusammenzutragen, hat die Literaturwissenschaft bislang unterlassen. Die Rechtfertigung bietet Morgenstern selbst an: "Alle Zeitungsschreiberei (...) ist Sünde wider den heiligen G e i s t . " (Briefe, 56, 1894). Vgl. auch G u m t a u , 33. 54 " I n P h a n t a ' s Schloß' ist diese W i d m u n g vorangestellt. 55 Martin, 83. 56 Stufen, 40, 1907. 57 A . a . O . , 33, 1906.

Literarisches S c h a f f e n

39

Die andere Hälfte der Schuld, so kann man aus verschiedenen verstreuten Äußerungen schließen, wird Morgenstern zum Teil seiner Krankheit angelastet haben. "Dieses Leben von Vierteljahr zu Vierteljahr wo anders, dazu dieses fortwährende gesundheitliche Auf und Ab läßt einen zu keinen künstlerischen Großtaten kommen." 5 8 " W a r mein Geist auch allezeit willig, meiner Physis fehlte es allezeit an jener letzten besten Energie, die sekundieren muß, wo irgend etwas Großes auf Erden werden s o l l . " " Bisweilen gelingt es Morgenstern, seinen "Dilettantismus" zu ästhetisieren. Dann kann aus der " N o t " eine " T u g e n d " werden, aus Klage Heiterkeit. Die kleinen Bruchstücke und Einzelteile — in Hunderten von Epigrammen und Sprüchen und Zeilen aufgefangen — verwandeln sich dann in Blumen und Liederveilchen, und mit ihnen wandelt sich der künstlerische Anspruch des Literaten an sich selbst. Das Ergebnis seines Schaffens muß nicht notwendig "Symphonie" sein, nicht notwendig Renaissance-Trilogie: Leichter Vorsatz So jedem Tag, der leichten Schritts enteilt, ein Liederveilchen in die Locken werfen, d a ß , wenn ihn abends Dämmerung umfängt, ihre Hand liebkosend ihm die kleine Blume aus den Haaren wirrt und sie ihm zeigt — und er — staunend lächelnd nicht sagen kann, woher sie dahin kam — und beide so mit Lächeln auf sie schaun —! 60 1894 — das erste Buch ist noch nicht erschienen — gewinnt der junge Schriftsteller eine Erkenntnis, die bis zu seinem Tod nicht ihre Gültigkeit verliert: Meine poetische Begabung ist nicht derart, daß ich sie wie einen Ochsen einspannen kann. Sie wirft mir hie und da wie ein schönes Kind Blumen und Früchte zu, deshalb kann ich sie aber noch lange nicht zwingen, sich als Blumen- oder Obstverkäufer an die Straßenecken zu setzen und mich durch ihr Geschäft zu ernähren. Dazu ist sie zu schwach und zart und — vornehm. Sie läßt sich nicht peitschen. 61 58 Briefe, 228 f., 1906. 59 Stufen, 40, 1907. — Vgl. dazu auch F. N e u m a n n , 333. Im übrigen thematisierte Morgenstern seine Krankheit auch in einigen Gedichten, etwa in den Sammlungen " A u f vielen W e g e n " (130), " E i n S o m m e r " (47) oder in den Gedichten " G e n e s u n g " (Mensch W a n d e r e r , 75) und " I n der K l i n i k " (Mensch W a n d e r e r , 134). 60 Ein Sommer, 25. 61 Briefe, 48 f.

40

Die Welt des Kaiserreichs

Im gleichen Jahr aber trifft er auch eine Prognose, und auch sie wird sich als richtig erweisen. "Ich werde doch nicht alt, aber bis gut in die dreißiger Jahre hinein will ich mich denn doch frisch und gesund erhalten und darauf losschaffen, daß man mich nicht vergessen soll." 8 2

62 A.a.O., 54.

ZWEITER TEIL DIE WELT DER GALGENLIEDER

Gegenstand der folgenden Kapitel sind die "Galgenlieder". Nach " P a l ma K u n k e l " (1916), " D e r Gingganz" (1919), "Galgenlieder, Gingganz und Horatius Travestitus" (1972), " P a l m s t r ö m , Korf und Palma Kunk e l " (1973) und Clemens Heselhaus' Versuch, den gesamten Gedichtcorpus zu restaurieren und einen " G i g a s t e r " zu etablieren (1979), sind hinsichtlich der Bestimmung und Bezeichnung des Gegenstandes einige textkritische Vorbereitungen notwendig. Einzige in ihrer Gestaltung, Gliederung, Anordnung ... wirklich gesicherte Textgrundlage sind die "Galgenlieder" nach ihrer ersten und dritten Auflage und " P a l m s t r ö m " nach seiner ersten und sechsten. — Die "Galgenlieder" von 1905 enthalten 42 Gedichte. — Die "Galgenlieder" von 1908 verzichten auf 11 dieser Gedichte, präsentieren drei in abgewandelter Version (Bundeslied der Galgenbrüder, Das Lied vom blonden Korken, Die Lampe), fügen drei neue hinzu (Kronprätendenten, Philanthropisch, Igel und Agel) und schließen unter dem Titel " D e r Gingganz und Verwandtes" eine aus 25 neuen Gedichten bestehende Abteilung an. — Der "Palmström" von 1910 enthält in der Gliederung " P a l m s t r ö m " , " D e r Wasseresel", "Zeitgedichte" 25 Gedichte. Morgenstern kommentiert "Galgenlieder" und " P a l m s t r ö m " 1910 einer Freundin seiner Frau: Im übrigen würdest Du bei näherem Zusehen leicht die Entwickelungslinie entdecken, die durch die drei Bücher geht (denn es sind eigentlich drei). Erstens: Die Galgenlieder. Zweitens: Der Gingganz nebst dem darauf Folgenden. Drittens: Palmström. — Die eigentlich "Galgenlieder" waren (...) für einen kleinen Kreis jugendlich ausgelassener Freunde bestimmt, wo sie gemeinsam gesungen und mit einer Art von heiter—gruseligen Zeremonien mehr oder weniger dargestellt wurden. Der zweite Teil: Der Gingganz breitet sich denn schon viel freier und unabhängiger von dem ursprünglich angeschlagenen Thema aus. Und im " P a l m s t r ö m " ist jene Anfangsstimmung ganz verschwunden und die Bahn frei für jederlei Stoff und Absicht. 1

1

B r i e f e , 407.

44

Die unwirkliche Welt

Morgenstern plant die weitere "Entwickelungslinie". Wahrscheinlich noch im gleichen Jahr schlägt er Bruno Cassirer vor: Wie wäre es, wenn wir den jetzigen "Palmström" zu zwei Büchern erweiterten und sie 1) Palmström und 2) Die Oste titulierten. Beide würden dann, jedes für sich, ungefähr den Umfang des jetzigen Palmström haben, denn es liegt für beide genügend Zuwachsmaterial vor. Die "Oste" käme damit einem besonderen Bedürfnis entgegen, da ich für einen derartigen gemischten Band gar vieles liegen habe, was ich nicht länger liegen lassen will.2 Und noch im Herbst des folgenden Jahres drängt und begründet er: Was nun die zwei Bücher anbetrifft, so lassen Sie sich nur ganz bezwingen. Die Qualität wird ja eben dadurch erhöht, daß jedes einheitlicher wird. Jedes wird in seiner Art gewinnen. (...) Ich will Palmström und seine Leute nach und nach mehr und mehr herausmodellieren, und das geht, wenn wirs beim Alten lassen, schon aus Raumgründen nicht. Für die "Oste" aber werden immer wiederum lustige Einfälle zuwachsen.3 Es gelingt Morgenstern nicht, sich gegenüber Cassirer durchzusetzen: — Der "Palmström" von 1912 bleibt ungeteilt. "Der Wasseresel" und die "Zeitgedichte" — unter ihnen "Die Oste" — bleiben darin enthalten. Verzichtet wird auf eines der 1910 erschienenen Gedichte (Der Saal), hinzugefügt werden 23 neue. Der gesamte "authentische" Text, dessen verbürgte Geschichte damit abgeschlossen ist, umfaßt also 121 Gedichte. Der große Rest — Proskauer sammelt an die 290, Heselhaus an die 270 Gedichte — wurde "Nachlaß". Dessen mögliche Ordnung zu rekonstruieren oder zu "restaurieren", kann immer nur ein Versuch und mögliche Titel werden letztlich immer Willkür bleiben. Allein von einer durch die oben zitierten Briefstellen abgesicherten Tatsache kann ausgegangen werden: Auch im Nachlaß finden sich gruselig-heitere Galgen-Gedichte, mehr oder weniger von dieser Atmosphäre befreite Gedichte, Gedichte von Palmström und seinen Leuten und schließlich gemischte Ergebnisse lustiger Einfälle, jederlei Absicht und jederlei Stoffs. Auf den gesamten Corpus der 290 Gedichte soll sich im folgenden nach ihrem Ursprung und aus praktischen Gründen mit "Galgenlieder" bezogen werden, ohne dabei ihre von Morgenstern selbst aufgezeigte "Entwickelungslinie" aus den Augen zu verlieren. Im übrigen wird der

2 3

J A IV, 191. J A IV, 191 f.

Die unwirkliche Welt

45

Blick — soweit es bei einer Textgrundlage von 290 Gedichte möglich ist — vor allem auf ihre Gemeinsamkeiten gerichtet sein. Der Blickwinkel aber soll wiederholt verändert werden, nicht nur weil es bei 290 Gedichten nötig ist, sondern auch weil nicht eines der "Galgenlieder" eindeutig interpretierbar wäre. Von der "Vieldimensionalität" der Dichtung legen gerade die "Galgenlieder" Zeugnis ab, und es ist überflüssig zu betonen, daß auch diese Untersuchung die Dimensionen ihrer Welt nicht annähernd vollständig erfassen wird. Hinüber also in diese neue Welt, dem Kaiserreich vorerst den Rücken gekehrt. Nur mit einem Sprung gelangt man auf die andere Seite.

I. DIE UNWIRKLICHE WELT

1. FREIHEIT. DIE MÖGLICHKEITEN DER UNWIRKLICHEN WELT

Freiheit! Freiheit! Nur keine Vogelschlingen. 4 Oder genauer: Meine innerste Leidenschaft ist darauf gerichtet, Menschen aus dem Gewohnten heraus das Ungewohnte, Unerwartete entwickeln zu sehen, den saltus, von dem der Satz gesagt ist, der zehnmal richtig und zehnmal falsch ist: natura non facit saltum. 5 Aus einem "Staunen" 6 darüber, daß in der Welt der Galgenlieder vieles ungewöhnlich ist, anscheinend Unmögliches möglich und bisher Unbekanntes wirklich wird, ergab sich die Überschrift dieses Kapitels; denn eine Welt, die neben allen denkbaren auch jene sogenannten undenkbaren Möglichkeiten anbietet und, über schwer umstößliche Normen und unumstößliche Naturgesetze erhaben, " a l l e " Wege geöffnet hält, kann man wohl " f r e i " nennen. Ist im allgemeinen "Freiheit" "die Möglichkeit, so zu handeln, wie man will", 7 dann ist sie in der Welt der Galgenlieder - die eine literarische und keine physikalische Welt ist — die Möglichkeit, so zu denken, wie man will. 8 Wie wird diese Freiheit genutzt? Auf der Suche nach einer Antwort wird die Hilfe eines prominenten Bewohners der Galgenliederwelt in Anspruch genommen: des Tieres. Mit ihm wird die Entwicklung der "Freiheit" verfolgbar. Sie vollzieht sich in vier Schritten. 9 4 5 6 7 8 9

Nach Bauer, 1937, 76. Briefe, 484, 1914. Vgl. Walter, 17 f. Schischkoff, 175. Vgl. Lissau, 215. Die Begriffe, deren ich mich im folgenden bediene, sind r u n d u m unphilosophisch zu verstehen. " W i r k l i c h k e i t " soll nicht unbedingt " d a s Sein desjenigen Seienden, das das Prädikat 'wirklich' trägt, also das Wirklichsein eines Seienden" sein (Schischkoff, 648), sondern n u r das, was es — wie ich a u f g r u n d der W a h r n e h m u n g a n n e h m e — gibt. " M ö g l i c h k e i t " und " U n m ö g l i c h k e i t " ergeben sich dann aus dem Bezug auf das, was es gibt.

Freiheit

47

a) Das Huhn, die wirkliche Welt und das Ungewöhnliche. Das Huhn In der Bahnhofhalle, nicht für es gebaut, geht ein Huhn hin und her ... Wo, wo ist der Herr Stationsvorsteh'r? Wird dem Huhn man nichts tun? Hoffen wir es! Sagen wir es laut: daß ihm unsre Sympathie gehört, selbst an dieser Stätte, wo es — " s t ö r t " ! 1 0 Ein verlorenes Huhn führt auf die erste und "unterste" Stufe der Galgenlieder-Freiheit. Auf einem Schauplatz, welcher der wirklichen Welt entnommen ist, in einer vollkommen normalen Bahnhofhalle, welche leicht denk- und vorstellbar ist Uberall dort, wo eine Bahnstrecke einen Ort durchläuft, geht ein Lebewesen, das für niemanden etwas Ungewöhnliches oder gar Unbekanntes ist, ein Huhn also ... hin und her. Ein Vorgang, der sich so ereignen mag, möglich ist, aber aller Erfahrung nach ungewöhnlich und darum schließlich den Stationsvorsteher auf den Plan rufen wird, der das gewohnte Bild einer Bahnhofhalle wiederherstellen soll. Was das Ungewöhnliche eines Huhnes ist, das in einer Bahnhofhalle auf- und abspaziert, braucht hier eigentlich nicht erklärt zu werden. Der Gründlichkeit halber und weil Wissenschaft und Hühnerleben sich hier begegnen, sei dennoch die erschöpfende Erklärung Jürgen Walters wiedergegeben: Das Huhn stört, weil es sich in einer ihm nicht zugehörigen Beziehungsganzheit bewegt. Es hat seinen angestammten Bereich, der sich aus Hühnerstall, Hühnerhof usw. zusammensetzt, verlassen und erregt in dem Bereich des Bahnhofs und der Eisenbahn, die ausdrücklich "nicht für es gebaut sind", Aufsehen und Befremden. 11 Fazit des ersten Arbeitsschrittes: Im Entstehungsprozeß der Galgenliederwelt wird innerhalb des vorgegebenen Rahmens der wirklichen Welt ein möglicher Ausschnitt präsentiert. Auf einem möglichen Schauplatz findet ein mögliches Ereignis statt. Es ist auf diesem Schauplatz ungewöhnlich.

10 vi, 73. 11 Walter, 22.

48

Die unwirkliche Welt

b) Der Gaul, die wirkliche Welt und das Unmögliche. Der Gaul Es läutet beim Professor Stein, Die Köchin rupft die Hühner. Die Minna geht: Wer kann das sein? — Ein Gaul steht vor der Türe. Die Minna wirft die Türe zu. Die Köchin kommt: Was gibts denn? Das Fräulein kommt im Morgenschuh. Es kommt die ganze Familie. "Ich bin, verzeihn Sie", spricht der Gaul, "der Gaul vom Tischler Bartels. Ich brachte Ihnen dazumaul die Tür- und Fensterrahmen!" Die vierzehn Leute samt dem Mops, sie stehn, als ob sie träumten. Das kleinste Kind tut einen Hops, die andern steht wie Bäume. Der Gaul, da keiner ihn versteht, schnalzt bloß mal mit der Zunge, dann kehrt er still sich ab und geht die Treppe wieder hinunter. Die dreizehn schaun auf ihren Herrn, ob er nicht sprechen möchte. "Das w a r " , spricht der Professor Stein, "ein unerhörtes Erlebnis!"... 1 2 Kein "störendes" mehr, sondern ein "unerhörtes" Erlebnis wird damit vorgestellt. Im Ausbauprozeß der Galgenlieder-Freiheit ist der zweite Schritt vollzogen, über den Bereich des in der wirklichen Welt Möglichen hinaus. Der Vierzehnpersonenhaushalt eines Professors Stein, zuzüglich eines Mopses, bildet den realen Hintergrund, auf dem etwas Unmöglich-Unerhörtes geschieht: ein Auftritt für das Pferd des Tischlers Bartels. Es betätigt die Hausklingel. Es spricht — mit einem kleinen Zugeständnis an den Reimzwang — drei offenbar einwandfrei artikulierte Sätze des Neuhochdeutschen. Es ist höflich. Es bittet um Verzeihung für die morgendliche Störung. Es läßt die Walt ersehe Beziehungsganzheit gänzlich platzen. Denn für einen höflichen, sprechenden Gaul

12 V I , 71.

Freiheit

49

läßt sie sich nicht mehr rekonstruieren. Den Bereichen von Koppel und Pferdestall ist dieser längst entwachsen. Morgenstern gelingt mit diesem Schritt eine entscheidende Erweiterung des Galgenlieder-Terrains: Das Unmögliche findet einen literatischen Eingang in einen möglichen Ausschitt — einen vormittäglich geschäftigen Professorenhaushalt — der wirklichen Welt. Und diese Welt ihrerseits bleibt nun nicht mehr die alte, gewohnte. Denn sie selbst unterliegt nun dem Zwang der Dialektik: Eine Welt, in der Unmögliches geschehen darf, ist eben nicht mehr wirklich. Sie ist eine unwirkliche Welt geworden. Sie hat sich in eine Welt der Galgenlieder verwandelt. Fazit des zweiten Arbeitsschrittes: Im Entstehungsprozeß der Galgenliederwelt wird ein möglicher Ausschnitt der wirklichen Welt mit dem Unmöglichen konfrontiert. Durch Aufnahme und Eingliederung dieses Unmöglichen verwandelt die wirkliche Welt sich in eine unwirkliche Welt. 13 c) Das Nasobem, die unwirkliche Welt und das Mögliche.

Unmöglich-

Das Nasobem Auf seinen Nasen schreitet einher das Nasobem, von seinem Kind begleitet, Es steht noch nicht im Brehm. Es steht noch nicht im Meyer, Und auch im Brockhaus nicht. Es trat aus meiner Leyer zum ersten Mal ans Licht. Auf seinen Nasen schreitet (wie schon gesagt) seitdem, von seinem Kind begleitet, einher das Nasobem. 14 Auf der Pioniertat des Gauls vom Tischler Bartels — er verwandelte die wirkliche in eine unwirkliche Welt — können die Nachfolger und Nachkommen aufbauen. Morgenstern ist nun in der Lage, die Geburt eines Galgenkindes mitzuteilen, das weder Huhn noch Gaul ist: ein Nasobem. Der Schritt, Ereignisse — ungewöhnliche oder unmögliche — aus einem Ausschnitt der Wirklichkeit heraus, aus dem ungewöhnlichen oder un-

13 Eine ausführlichere Interpretation des " G a u l e s " ist bei Albrecht Goes nachzulesen. Sein Ergebnis: "Höherer Blödsinn", doch es "liegt der Ton auf höherer." (Goes 40). 14 VI, 64.

50

Die unwirkliche Welt

möglichen Verhalten wirklicher Akteure heraus zu entwickeln, wird hier übersprungen. Die Geburt des Nasobems findet in keiner Bahnhofhalle und an keiner Haustüre statt. Es trat aus einer Leyer in das Licht einer unwirklichen Welt. Es wird keinen Stationsvorsteher auf den Plan rufen, keine Minna schlägt ihm die Tür ins Gesicht. Es schreitet einher. Die Kontrastfolie der Wirklichkeit, auf der das unwirkliche Nasobem sich bewegt, bilden nur noch Brockhaus, Brehm und Meyer. Die Auguren dessen, was es in der wirklichen Welt gibt und nicht gibt, registrieren, alphabetisieren es nicht, verweigern ihm die Existenz.15 Im Licht der unwirklichen Welt aber ist ein Nasobem lebensfähig, in bezug auf diese "wirklich" und sein Handeln möglich. Also: Nasobem™, das — Lebewesen mit mehreren Nasen, die ihm auch zur Fortbewegung dienen (gemessener Gang), fortpflanzungsfähig. 17 Verbreitung: unwirkliche Welt der Galgenlieder. Geschichte: lebt seit der dritten Stufe der Galgenliederentwicklung. Fazit des dritten Arbeitsschrittes: Die Galgenliederwelt konsolidiert sich als unwirkliche Welt durch die Hineinnahme genuin unwirklicher Lebewesen. Gegenseitig sichern sich Welt und Weltbewohner, das Ganze und das Einzelne, nun in ihrer Existenz. Das Gegensatzpaar von Möglichkeit und Unmöglichkeit ist endgültig aufgehoben in der Grenzenlosigkeit der UnWirklichkeit. d) Das große Lalulä, des Fisches Nachtgesang und die unwirkliche Sprache der unwirklichen Welt. Das große Lalulä Kroklokwafzi? Semememi! Seiokronto — prafriplo: Bifzi, bafzi; hulalemi; quasti basti bo... Lalu lalu lalu lalu la!

15 Ein Mangel, der schließlich von Brockhaus und Meyer behoben wurde. 16 "Also lt. nas, Nase' und griech. ß f i n o t , 'schreiten' (Subst. ßodvco 'Schritt') Spitr 1 zer, 1918, 63). 17 " N a s o b ä n a wirft jährlich einmal ein Junges, das zunächst in dem caudad offenen Kehlsack umhergetragen wird und sich aus den achselständigen Zitzen der Muttir ernährt. Der Kehlsack findet sich nur bei den Weibchen und wird durch Knorpel die sich von Kehlkopfknorpeln ableiten, gestützt. Die Tiere leben in Dauerehe, unl die Geschlechter sind äußerst zärtlich zueinander. Das Weibchen, das frisch geworferhat, wird vom Männchen mit Nahrung versorgt." (Stümpke, 58). Alles andere übe' alle Nasobeme ist ebenfalls bei Stümpke nachzulesen.

Freiheit

51

Hontraruru miromente zasku zes rü rü? Entepente, leiolente klekwapufzi lü? Lalu lalu lalu lalu la! Simarar kos malzipempu silzuzankunkrei (;)! Marjormar dos: Quempu Lempu Siri Suri Sei()! Lalu lalu lalu lalu la! 18 Ist das "große Lalulä" Sprache? Das große Lalulä ist aus sprachlichen Elementen zusammengesetzt. Sein Zeichensystem greift offenbar auf das lateinische Alphabet und dessen Nachfolger zurück. Von den urpsrünglich 23 und dann hinzugefügten drei Buchstaben sind nur c, g, v, x und y nicht wiederzufinden. Üblich sind die verwendeten Satzzeichen. Die Bildung von Silben und Worten erfolgt in technisch gewohnter Weise — das große Lalulä ist sprechbar —, wenn auch mit ungewohnten Ergebnissen: das große Lalulä ist nicht verstehbar. Es repräsentiert in seiner Form einen kleinen Sonderbereich der Sprache: die lyrische Kunstsprache. Das große Lalulä ist ein Gedicht. Es besteht aus drei fünfzeiligen Stropfen, die kreuzweise abab gereimt sind und mit dem jeweiligen fünften Vers in c, einem Kehrreim enden. Rhythmisch bewegt es sich kontinuierlich mit einem Trochäus fort. Es ist in dieser Hinsicht "sprachlich". Geht man von der Überlegung aus, daß die Sprache ein auf Vereinbarung beruhendes Zeichensystem ist, mit dessen Hilfe Menschen einander Mitteilungen zukommen lassen, so muß das große Lalulä in diesem Sinne als "unsprachlich" bezeichnet werden. Ihm fehlen wesentliche Bestimmungen von "Sprache". Es hält sich an keine Vereinbarung. Es vermag darum auch keine manifeste inhaltliche Aussage zu übermitteln. Der Funktion einer Sprache, als Mittel menschlicher Kommunikation zu dienen, wird es damit nicht gerecht. Versuch der Beseitigung eines möglichen Einwandes: Die Frage nach der Aussage des Nichtssagenden, dem Sinn des Unsinns, drängt sich dazwischen. Walter Blumenfeld pointiert: Nicht alles Unverständliche ist unsinnig, nicht alles Verständliche sinnvoll. Nicht jeder Sinn ist gescheit, nicht jeder Unsinn töricht; umgekehrt kann manches Kluge sinnlos und manches Dumme sinn18 vi, 20.

52

Die unwirkliche Welt

voll sein. (...) Nichts leichter als mit diesen Begriffen "geistvoll" zu spielen. 19 Der Einwand wird formuliert: Das große Lalulä vermittelt seinem Leser eine Aussage. Es erfüllt eine sprachliche Funktion. Erörterung: Legt man die Funktionstrias zugrunde, die Bühler der Sprache zuschreibt — Ausdrucksfunktion, Darstellungsfunktion und Appellfunktion —, so wird vor allem eine Appellfunktion dem großen Lalulä wirklich zukommen. Durch seine bereits beschriebene Form sowie durch seine Einordnung in eine Lyrik-Sammlung ist das große Lalulä eindeutig als Gedicht gekennzeichnet. Qua Gedicht fordert es den Leser zur Interpretation auf, zur Aufdeckung einer Aussage. Seine Funktion ist damit gleichsam kurzgeschlossen: Die Aussage des großen Lalulä ist die Aufforderung zur Aufdeckung einer Aussage. Oder, differenzierter ausgedrückt: Die durch seine Form und seine Stellung im Zusammenhang vermittelte Aussage des großen Lalula ist die Aufforderung zur Aufdeckung einer sprachlich-inhaltlichen Aussage. Diese Aussage aber ist nicht gegeben. Die sprachlichen Zeichen, die ihr Ausdruck verleihen könnten, sind im großen Lalulä ja austauschbar, ohne daß sich die "formale" Aussage dabei änderte. Sie sind Zeichen, aber sie zeigen auf nichts,.es sei denn auf sich selbst. 20 Ihre beliebige Austauschbarkeit schließt ein Sprachsystem aus, denn ohne feste Orientierungspunkte, an welchen Relationen sich anschließen können, ist ein solches nicht möglich. Was die durch Form und Zusammenhang vermittelte Aussage selbst anbelangt, so kann ihre Unabhängigkeit von den Sprachzeichen so weit führen, daß sie gänzlich auf diese verzichtet, wenn sie nur das Signal "Gedicht" bewahrt. 2 1 Zusammenfassung: Das große Lalulä übermittelt keine sprachliche Aussage. Es wird den Funktionen von Sprache nicht gerecht. Es ist in dieser Hinsicht "unsprachlich". 19 Blumenfeld, 10. 20 Den Versuch, den einzelnen Zeichen ein entsprechendes Bezeichnetes zuzuordnen unternimmt der Privatgelehrte Dr. Jeremias Mueller, indem er das große Lalulä als Schachspiel deutet. Dann ist "Entepente = Te3 = (weißer) Turm e3". (VI, 21). Oder "Leiolente = Le2 = (schwarzer) Läufer e 2 " . (Ebda.). " U n d so ist denn alles zur Zufriedenheit erledigt." (Ebda.). Ernsthafte Versuche dieser Art sind seit dieser Analyse nun wohl auszuschließen, denn Jeremias Mueller ist Christian Morgenstern. Im übrigen aber lebt aus dieser Selbstbezeichnung der Zeichen gerade der Vortrag des großen LalulS, den etwa der Schauspieler Gert Fröbe meisterhaft beherrscht. Eine losgelöste, verselbständigte Phonetik braucht zum einen auf keinen Inhalt mehr Rücksicht zu nehmen und zum anderen die Aufmerksamkeit der Zuhöhrer nicht mehr mit ihm zu teilen. 21 Wie das geschieht, wird "Fisches Nachtgesang" verdeutlichen.

Freiheit

53

Nach dieser absichernden Maßnahme kann der Widerspruch des großen Lalulä formuliert werden: Das große Lalulä ist einerseits eine technisch-formale Sprache, also "sprachlich", andererseits aber ohne kommunkative Funktion und damit "unsprachlich". Aus diesem Widerspruch ergibt sich folgende Ableitung: Der Wirklichkeitsbezug einer Sprache konstituiert sich in einem von Sprecher, Hörer und Umweltreferenten gebildeten Zusammenhang. Oder anders: Der Wirklichkeitsbezug einer Sprache konstituiert sich im Zusammenhang von Ausdrucksfunktion, Darstellungsfunktion und Appellfunktion. Eine funktionslose Sprache besitzt keinen Wirklichkeitsbezug. Das große Lalulä ist eine unwirkliche Sprache. Es ist keine Sprache über die Galgenliederwelt, wie nahezu alle anderen Galgenlieder es sind. E s j s t die Sprache der Galgenliederwelt selbst und damit einer ihrer wichtigsten Repräsentanten. Das große Lalulä ist ein phonetisches Nasöbem. Über des Fisches Nachtgesang: Fisches Nachtgesang 22

Wagte sich ein Fisch noch tiefer hinein in das Gebiet der unwirklichen Sprache, noch einen Schritt weiter als das große Lalulä? Übertrifft er es noch an sprachlichem Extremismus? 23 Kommt also der Bezeichnung "das tiefste deutsche Gedicht", wie Morgenstern den Nachtgesang selbst nennt, 2 4 damit noch eine dritte Bedeutung zu? Tief in der Aussage, tief im Meer, tief im Bereich der unwirklichen Sprache? So einsam und auf vorgeschobener Position singt der Fisch sein Galgenlied gar nicht. Das große Lalulä und er stehen nicht hintereinander, sondern — Seite an Seite — nebeneinander. "Fisches Nachgesang" wird 22 VI, 29. 23 Vgl. Walter, 81. 24 VI, 29.

54

Die unwirkliche Welt

in unserer Stufenfolge nicht als fünfter Schritt interpretiert, sondern im Abschnitt d) behandelt. Beiden gemeinsam ist das widersprüchliche Auseinanderklaffen von Sprache als technisch-formalem Zeichensystem und ihrer kommunikativen Funktion. Ihr Unterschied beruht auf den verschiedenen Lösungen dieses Widerspruchs. Während sich das große Lalulä mit 21 Buchstaben des Alphabets, Satzzeichen, Silben, Wort- und Satzbildungen sprachlicher Zeichen bedient, ohne ihnen jedoch eine kommunikative Funktion beizulegen, verzichtet "Fisches Nachtgesang" auf jene Entlehnungen des Deutschen. Seine Überschrift ausgenommen, verwendet es keine Sprachzeichen mehr, sondern rein optische Signale: einen kurzen waagerechten Strich und einen nach oben geöffneten Bogen. Aus der Anordnung der beiden Elemente schafft es eine bildliche Formation, die an den Umriß eines Fisches erinnert. "Wäre die Bezeichnung Bildgedicht nicht schon anderweitig vergeben, dürfte man 'Fisches Nachtgesang' wohl ein Bildgedicht nennen." 2 5 Im Gegensatz zum großen Lalulä aber erfüllt "Fisches Nachtgesang" — trotz seines Verzichts auf sprachliche Zeichen 26 — eine kommunikative Funktion, die sich aus ihm selbst und nicht allein aus seiner Stellung im Zusammenhang einer Gedichtsammlung ergibt. "Fisches Nachtgesang" hat etwas mitzuteilen, auch wenn — das muß natürlich zugegeben werden — diese Mitteilung nicht eindeutig identifizierbar ist. In einer glänzenden semiotischen Aanlyse stellt Aart van Zoest mehrere Möglichkeiten vor, von denen hier wiederum die ersten fünf vorgestellt werden sollen: — Die Bögen ähneln der traditionellen Wiedergabe der Schuppen eines Fisches. — Der Wechsel von Bögen und Strichen ähnelt der traditionellen Wiedergabe von leicht gekräuseltem Wasser, und Wasser ist das Lebenselement eines Fisches. — Das allgemeine Vorhandensein von Strichen und Bögen, also das Fehlen von Symbolen, die Klänge repräsentieren, suggeriert Stille und läßt sich auf die Schweigsamkeit eines Fisches beziehen. — Der Wechsel von Bögen und Strichen erinnert an das Öffnen und Schließen eines Fischmauls, und man könnte darin das Mienenspiel eines Fisches sehen, der versucht zu singen. — Die Bögen und Striche lassen an die hergebrachte Notation des Versmaßes klassicher Poesie denken. 27 25 P . H . Neumann, 61. 26 " S p r a c h l i c h " ist hier immer in seiner engeren Bedeutung verstanden, also rein linguistisch und nicht allgemein kommunikationstheoretisch in einem Sinne, der etwa auch " B i l d e r s p r a c h e " , " Z e i c h e n s p r a c h e " , " T i e r s p r a c h e " o . a . einschlösse. 27 van Zoest, 56 f.

Freiheit

55

Drei Beobachtungen möchte ich hinzufügen: — Die in der Senkrechten übereinandergelagerten Reihen von Bögen und Strichen suggerieren Schichtung und Tiefe des Wassers. — Die Bögen ähneln der Wiedergabe im Wasser mehrmals gebrochener Halbmondsicheln. — Die Bögen ähneln der Wiedergabe von Booten und Kähnen. Diese acht "Einzelinformationen" lassen sich zu einer möglichen "Gesamtmitteilung" zusammenfassen: Akustisch nicht wahrnehmbar, vermutbar aber aufgrund seiner besonderen Maulbewegungen, besingt ein Fisch in seiner nächtlichen Umwelt mit einem stillen metrisch gegliederten Nachtgesang wahrscheinlich sein Leben. Er singt von Wellen und Booten, vom Mond und der Tiefe des Meeres. Daß ein Fisch singen kann, braucht nicht im besonderen gerechtfertigt zu werden. Es ist ein Fisch der Galgenliederwelt. Daß bei der Formulierung dieser "Mitteilung" nicht den Spuren des Dr. Mueller gefolgt wurde, muß vielleicht doch noch einmal betont werden. Die "nahezu vollkommene semantische Offenheit" 2 8 des "Nachgesanges" steht außer Frage. Durch diese Offenheit aber — und das sollte gezeigt werden — wird eine Fülle von Bedeutungen sichtbar. Man blickt nicht in eine große Laluläleere. Fazit des vierten Arbeitsschrittes: Mit dem Verzicht auf sprachliche Zeichen und kommunikative Funktionen wird der unwirklichen Welt eine ihr eigene unwirkliche Sprache geschaffen. Die Entwicklungsreihe ist damit abgeschlossen. Rückblickend läßt sich zusammenfassen: Ausgehend von der wirklichen Welt und dem in ihr Möglichen erschließt sich Christian Morgenstern über die Stufen des Ungewöhnlichen und Unmöglichen eine immer größer werdende Gestaltungsfreiheit, die schließlich in eine unwirkliche Welt ohne Grenzen führt, in eine Welt, die so grenzenlos ist, daß Lyrik auf sprachliche Funktionen und Zeichen zu verzichten vermag. "Freiheit" entwickelt sich damit aus einer Distanzierung zur Wirklichkeit, so daß sich zuspitzen läßt: unfreie Wirklichkeit — freie Unwirklichkeit. Zu gewinnen ist "Freiheit" nicht als Freiheit in der Wirklichkeit, sondern Befreiung von der Wirklichkeit. Oder: "Als ob nicht Dichtung Erlösung wäre — von der 'Materie'." 2 9 Wie der Dichter der Galgenlieder auf dem Weg der schrittweisen Ablösung zu einer "Erlösung" gelangen konnte, wie er den "Sieg des 28 A . a . O . , 65. 29 Briefe, 288, 1908. Kursivdruck von mir.

56

Die unwirkliche Welt

menschlichen Geistes über die Außenwelt" 3 0 ermöglichte, schließlich "mit einer grenzenlosen Freiheit in der Brust 3 1 ", demonstrierten vier Tiere und ein großes Lalula. Sie demonstrieren auch dieses mögliche Fazit: Wenn die Befreiung von der Wirklichkeit über eine Aufhebung der Bestimmungen von "gewöhnlich und ungewöhnlich" und "möglich und unmöglich" stattfindet, wenn also Dinge und Sprache der Wirklichkeit aus diesem Bestimmungssystem herausgelöst werden, dann sind sie verfügbar für eine neue eigene Unwirklichkeit. Darin enthalten ist schließlich auch eine der Galgenlieder-Grundthesen Jürgen Walters: "Durch die Deformation der Beziehungsganzheiten der Dinge wird die gewohnte Welt destruiert, und es entfaltet sich eine ungewöhnliche andere Welt." 3 2 "Sehen Sie, das ist das ganze Geheimnis: Die Wirklichkeit dann und wann wie in einem (unwirklichen) Traum sehen zu können. Menschen und Dinge, und sei's nur auf Minuten, Sekunden — gleichsam auflösen zu können." 3 3 Wie nutzt der Galgenliederdichter die gewonnene Freiheit? wie verwendet er das aufgelöste Material, oder wie arbeitet seine "Phantasie"?

2. PHANTASIE. DIE ARBEIT AN DER UNWIRKLICHEN WELT Betrachten wir den "Galgenberg" als ein Lugaus der Phantasie ins Rings. 34 Korfs Verzauberung Korf erfährt von einer fernen Base, einer Zauberin, die aus Kräuterschaum Planeten blase, und er eilt dahin, eilt dahin gen Odelidelase, zu der Zauberin...

30 31 32 33

Stufen, 68, 1895. Briefe, 91, 1897. Walter, 21. Briefe, 318, 1908. Zusatz von mir. — Den Beziehungen der Galgenliederwelt zum T r a u m ist ein eigenes Kapital eingerichtet. 34 VI, 13.

Phantasie

57

Findet wandelnd sie auf ihrer Wiese, fragt sie, ob sie sei, die aus Kräuterschaum Planeten bliese, ob sie sei die Fei, sei die Fei von Odeladelise. Ja, sie sei die Fei! Und sie reicht ihm willig Krug und Ähre, und er bläst den Schaum, und sieh da, die wunderschönste Sphäre wölbt sich in den Raum, wölbt sich auf, als obs ein Weltball wäre, nicht nur Schaum und Traum. Und die Kugel löst sich los vom Halme, schwebt gelind empor, dreht sich um und mischt dem Sphärenpsalme, mischt dem Sphärenchor Töne, wie aus ferner Hirtenschalme, dringen sanft hervor. In dem Spiegel aber ihrer Runde schaut v. Korf beglückt, was ihm je in jeder guten Stunde durch den Sinn gerückt: Seine Welt erblickt mit offnem Munde Korf entzückt. Und er nennt die Base seine Muse und sieh da! sieh dort! Es erfaßt ihn was an seiner Bluse und enführt ihn fort, führt ihn fort aus Odeladeluse nach dem neuen Ort .... 3 S Dajs "Personal" der Korfschen Verzauberung: 1) Herr von Korf, ein bekannter Galgenlieder-Heros, der im engeren Sinne kein eigentlicher " H e r r " ist. Denn, wie sich dem Gedicht "KorfMünchhausen", welches auf die "Verzauberung" folgt, entnehmen läßt, ist v. Korf kein Mensch wie wir, ist ein Mensch pro forma n u r . " 35 VIII, 38. 36 V I » , 40.

58

Die unwirkliche Well

Eine weitere für das Verständnis seiner Verzauberung wichtige Information wird anläßlich eines Besuchs v. Korfs in Berlin mitgeteilt, Dort heißt es, daß er weder mann- noch weiblich, sondern schlechterdings ein Geist, dessen Nichtsehn unausbleiblich 37 sei. Herr Korf, so läßt sich folgern, ist keine Person, sondern ein personifizierter Geist. Aus seinen zahlreichen Galgenlieder-Erlebnissen ergibt sich ferner, daß er keinesfalls ein Gespenst ist, sondern "Geist" im Sinne eines — von Verstand, Gefühl o.ä. bestimmten — menschlichen Geistes. 2) Eine Zauberin oder auch " F e i " , eine Dame also, die Wunder vollbringen, das Unmögliche verwirklichen kann. Sie ist eine entfernte Verwandte des menschlichen Geistes, mit Wohnsitz in einem nicht näher bestimmten Ort, in Odelidelase oder auch Odeladelise oder vielleicht auch Odeladeluse. Es spricht sehr vieles dafür, daß diese Dame eine " M u s e " ist oder doch wenigstens die Aufgabe einer Muse wahrnimmt. Der Ausruf "Sieh da! sieh dort!" verlangt, meine ich, ein abschließendes "es stimmt!". Das Verhalten der Dame im Gedicht erfüllt die Anforderungen einer Muse, sei es vielleicht auch nur für Korf, einen bestimmten menschlichen Geist, zu einer bestimmten Zeit. Wie ihre neun griechischen Vorfahren in Hainen und an Flüssen wandelten, so wandelt sie auf einer Wiese, Blies Euterpe, die Muse der Lyrik, auf einem Aulos — die odelische Fei bläst durch Ähre und Schaum. Doch vor allem: Als Muse beflügelt, begeistert, inspiriert sie den menschlichen Geist. Als Muse aber und als Verwandte Korfs ist auch sie eine Personifizierung. (Denn wie sollten eine Person und eine Personifizierung der gleichen Familie angehören?) Sie ist die Personifizierung der "Inspiration". Der menschliche Geist und die ihr verwandte Inspiration — woher sie auch immer stammt, aus Odelidelase oder etwa Odeladelise oder vielleicht Odeladeluse — gestalten die Handlung für "Korfs Verzauberung". Wie man mit dem, was man die Morgensternsche "Phantasie" nennen könnte, auf die Komposition eines Galgenlieds hinarbeitet: Erste Strophe: "Was wäre Phantasie ohne Mut?" 3 8 Zunächst ist der Entschluß zu fassen, Inspiration zu suchen, sich für Gedanken, Anregungen, Einfälle zu öffnen, die den "status q u o " des Geistes verändern, weiterentwickeln, erneuern oder einen gänzlich anderen

3 7 K o r f in B e r l i n , V I I I , 4 6 . 38 S t u f e n , 161, 1908.

Phantasie

59

an seine Stelle setzen. Das gewisse "Quantum von Feigheit und Trägh e i t " , 3 ' das Neues schon im Ansatz verhindert, muß überwunden werden. Es gilt, der Zauberin entgegenzueilen. Zweite Strophe: a) Die Schöpfung des seelischen Reiches der Phantasie findet ein volles Gegenstück in der Einrichtung von "Schonungen", "Naturschutzparks", dort wo die Anforderungen des Ackerbaus, des Verkehrs und der Industrie das ursprüngliche Gesicht der Erde rasch bis zur Unkenntlichkeit zu verändern drohen. (...) Alles darf darin wuchern und wachsen, wie es will, auch das Nutzlose, selbst das Schädliche. Eine solche dem Realitätsprinzip entzogene Schonung ist auch das seelische Reich der Phantasie. 40 Der Mut wird belohnt. Man trifft die Zauberin — keiner Polizei, keinem Kommerz, keiner Literaturwissenschaft ist man dort vorerst mit ihr ausgesetzt — auf einer Wiese, auf " i h r e r " Wiese. In aller Ruhe und Freiheit wird das Reich der Phantasie entstehen können. Auf ihrer Wiese wandelt diese Fei, auf keinem Vorstadtrasen. b) "Findung und Arrangement des Stoffes resultieren nicht zuletzt aus sprachlichen Bedingungen, die — neben anderen — als prima causa der poetischen Erzeugung angesehen werden müssen". 4 1 Korfs Base, Muse, Inspiration lebt in enger Verbindung mit der Sprache. Zunächst ist ihre Umgebung, die Gegend, in der sie wohnt und zaubert, das Unmögliche verwirklicht, nicht eindeutig identifizierbar. Der Name des Ortes wandelt sich mit der Veränderung des sprachlichen Kontextes, genauer, mit den wechselnden Anforderungen eines klingenden Kreuzreimes. Die erste Strophe nannte ihn Base — blase — "Odelidelase". Nun heißt er Wiese — bliese — "Odeladelise". In der sechsten Strophe schließlich wird aus Muse - -Bluse — "Odeladeluse" folgen. Sei es, daß sich nur der Name änderte oder daß Korf wirklich drei verschiedene Schauplätze besuchte (mit einer verwandten Zauberin ist auch das möglich) — die Heimat der Inspiration, ihre Wandel- und Planetenwiese ergibt sich aus sprachlichen Bedingungen. Auf diesem Hintergrund gewinnt das unsichere, mehrmals auf Bestätigung drängende Fragen Korfs eine neue Dimension: " o b sie sei, ... ob sie sei die Fei ... Ja, sie sei die Fei!" In einem starren, durch mehrfache Wiederholung verstärkten sprachlichen Kontext läßt sich die Zauberin ein paar Zeilen lang festhalten und doch wiederum nicht als " F e e " , welches ihre eigentliche Bezeichnung wäre, sondern als " F e i " , wie es viermal von "sei" gefordert wird. 39 E b d a . 40 Freud, Allgemeine Neurosenlehre, Werke XI, 387. 41 Heintz, 363.

60

Die unwirkliche Welt

Die aus der Sprache hervorgehende Inspiration ist ein wesentliches Moment der Morgensternschen Galgenlieder-Phantasie.42 Dritte Strophe: "Das Wesen des Geistes ist Phantasie, der die Macht innewohnt, über der Tatsachenwelt eine neue zu errichten." 43 Der Wunsch des Herrn Korf wird also erfüllt. Als menschlicher Geist erhält er von seiner Verwandten, der Muse, das Material, aus dem sich ein Planet schaffen läßt, einen Krug, in dem sich Kräuterschaum befindet, eine Ähre als Pusterohr. Die Phantasie — sie wurde den Menschen bereits von den Göttern verliehen, denn "Phantasie ist ein Göttergeschenk" 44 — kann nun tätig werden, Korf beginnen, den Schaum zu blasen. Und sieh da, "über der Tatsachenwelt" des Gedichtes, über der Wiese von Odeladelise entsteht eine "neue Welt", angefüllt mit dem Atem Korfs, welcher dem ungebenden Luftdruck einen Gegendruck bietet und damit die Kräuterschaumplanetenschale im Gleichgewicht hält. 45 Korfs Atem verleiht der neuen Welt Existenz, und es scheint, als ob sie nicht "unwirklich" wäre — nicht Schaum und Traum, sondern eine "wirkliche" neue Welt. Eine Welt der Phantasie. Vierte Strophe: "Es gibt keine 'toten' Gegenstände". 4 * Die neue Phantasie-Welt wird nun selbständig. Ihr Schöpfer hält und trägt sie nicht mehr. Sie löst sich von ihm und schwebt, seinen Atem in sich eingeschlossen, empor. Nach der Abtrennung geschieht das Erstaunliche: Das Produkt der Phantasie beginnt aus sich selbst zu "leben". Es sendet Töne aus. Mit der Abtrennung aber verschiebt sich auch die Rolle Korfs: Der Schöpfer wird zum Zuhörer und Zuschauer. Nun erst kann er die Eigenart seines Phantasie-Produktes kennenlernen. Und diese Eigenarten sind neu; nichts ahnte Korf von ihnen, als er den Planeten schuf. Sie 42 " D i e Rede von der Inspiration linguistisch zu b e g r ü n d e n " (338), u n t e r n i m m t in einer ausführlichen Analyse Günter Heintz. Ein Versuch, den Ort "dichterischer Kreativit ä t " " i n der Sprache als geschichtlich gewordenem System n a c h z u w e i s e n " (338). Für seine Einteilung der phonologisch, lexikalisch oder etymologisch motivierten Inspiration (362 ff.) ließen sich auch Belege aus der Galgenliederwelt heranziehen. Im " T r a u m " - K a p i t e l werden davon einige vorgestellt werden. 43 Thiess, 113. 44 Stufen, 208, 1907. 45 Morgenstern gelingt es, wie ich meine, sehr schön, den Entstehungsprozeß einer Kräuterschaumblase zu beschreiben. Für mich verbinden sich mit einigen W o r t k l ä n g e n etwa folgende Vorstellungen: " D i e wunderschönste S p h ä r e " beginnt sich zu d e h n e n , flächig noch, ein wenig wässrig, schließt sich d a n n dichter zusammen zu einem runden " w ö l b t " , wölbt sich ... wölbt sich um ihr " 1 " , während " R a u m " zu " a u f " sich weitet, und erhält endlich in " W e l t b a l l " eine r u n d u m abgeschlossene, dreifach das " 1 " einschließende F o r m . 46 Stufen, 175, 1908.

Phantasie

61

sind schwer festzuhalten und schwer zu beschreiben, denn sie "schweb e n " mit ihrer Welt, "drehen sich u m " . Nur ungenau und verschwommen lassen sich die neuen Sphärentöne kennzeichnen. " W i e aus ferner Hirtenschalme" klingen sie etwa. "Die Nichtfeststellbarkeit der Phantasiebilder, die aus ihrer Weite und Offenheit hervorgeht", 4 7 muß auch Korf erfahren. 4 8 Geheimnisvoll ist diese neue Welt; ihren Betrachter, der sie vordem schuf, zieht sie nun in ihren Bann. Fünfte Strophe: " I c h habe noch nie eine Phantasie gehabt, die nicht eine — wenn auch noch so verborgene Nabelschnur zur Wirklichkeit gehabt h ä t t e " . 4 9 Habe Lust an der Wirklichkeit! Sie ist der Urquell aller Phantasie". 5 0 Korf betrachtet die schwebende, sich drehende Welt. Wie sieht sie aus? Eine detaillierte Beschreibung wird uns vorenthalten, aber ich glaube, sie hätte ähnlich vag — "wie aus ferner Hirtenschalme" — ausfallen müssen. " W e i t " und " o f f e n " ist das Phantasiebild und hier sogar ein eigener Planet. Drei wichtige Informationen werden dennoch mitgeteilt: a) Die Welt, die Korft dort betrachtet, ist " s e i n e " Welt. Das Possessivpronomen gibt zu folgenden Überlegungen Anlaß: Eine Welt kann ich aus drei Gründen die " m e i n e " nennen, zum einen, weil ich sie schuf, zum andern, weil sie mir gehört, zum dritten, weil ich in ihr wohne. Daß Korf, ein menschlicher Geist, ihr Schöpfer war, wurde berichtet. Zugleich ist er auch ihr Besitzer, sie ist sein "geistiges Eigentum". Schließlich aber wird die sechste und letzte Strophe zeigen, daß er ebenfalls Weltbewohner ist, wenn auch vielleicht nur für eine begrenzte Zeit. Die neue Welt ist rundum " s e i n e " Welt. b) Beim Anblick seiner neuen Welt ist Korf "beglückt und " e n t z ü c k t " . Sicherlich nicht allein, weil es " s e i n e " Welt ist, aus Schöpfer-, Besitzer- oder Bewohnerstolz. In der Welt selbst muß etwas Beglückendes und Entzückendes sein. Vielleicht ihre Geschlossenheit und Harmonie, die Vereinigung vieler Elemente in einem vollständigen Ganzen. Aus dieser Vermutung leitet Jean Paul den "poetischen Optimismus" und die " S c h ö n h e i t " der Phantasiewelt ab. Die Phantasie macht alle Teile zu Ganzen — statt daß die übrigen Kräfte und die Erfahrung aus dem Naturbuche nur Blätter reißen — und alle Weltteile zu Welten, sie totalisiert alles, auch das unendliche All; daher tritt in ihr Reich der poetische Optimismus, die Schönheit 47 48 49 50

L e h m a n n , 1976, 158. Dazu auch Freud, Der Dichter und das Phantasieren, Werke VII, 217. S t u f e n , 39, 1906. Ich und die Welt, 103.

62

Die u n w i r k l i c h e W e l t

der Gestalten, die es bewohnen, und die Freiheit, womit in ihrem Äther die Wesen wie Sonne gehen. 5 1 Auch Morgensterns "phantastischer Ü b e r m u t " knüpft an dieses Glück und Entzücken an. 5 2 c) Korf erblickt seine neue beglückende Welt im Spiegel. Ein " A b bild" also der "wirklichen" Welt von Odelidelase — Odeladelise — Odeladeluse, seitenverkehrt, verkleinert zwar, ansonsten aber getreu? Der Spiegel muß näher betrachtet werden: Er befindet sich auf der Oberfläche des Schaumplaneten, ist ein Kugelspiegel und verzerrt damit die von ihm abgebildeten Gegenstände. Zwar hat das Aussehen der neuen Welt die " w i r k l i c h e " Odelidelase — Odeladelise — Odeladeluse — Welt zur Voraussetzung — diese ist es schließlich, die das Sonnenlicht absorbiert, bricht, reflektiert und damit einige ihrer Elemente auf dem Spiegel der Kugel zur Projektion bringt —, doch unterscheidet sich das Abbild wesentlich von seinem Urbild. Die neue Welt ist eine kleine Konvexwelt. Selbständig schwebt sie über jener Wiese, die sie auf eine ihr besondere Art und Weise reflektiert. Eine zweite Eigenschaft des Spiegels, die den Unterschied zwischen Abbild und Urbild ebenso verdeutlicht: " N o c h viel wunderbarer als der einfache Spiegel ist der durchsichtige Spiegel, z.B. ein Fenster, das auf eine Landschaft hinausgeht und in dem sich zugleich Gegenstände unseres Zimmers spiegeln." 5 3 Ein solcher durchsichtiger Spiegel ist auch die Oberfläche der Schaumkugel. Und weitaus "vielschichtiger" noch ist ihre optische Tiefenstruktur als die eines Fensters. Man blickt nicht allein auf " i h r e Rund e " , man blickt auch durch sie hindurch, in das Innere der Kugel hinein, auf die sich gegenüber wölbende W a n d , durch diese hindurch, auf den dahinter liegenden Ausschnitt der "wirklichen" Welt. Baudelaire beschreibt die Arbeit der Phantasie — " l ' i m a g i n a t i o n " — 1859 so: "Elle décompose toute la création, et, avec les matériaux amassés et disposés suivant des règles dont on ne peut trouver l'origine que dans le plus p r o f o n d de l'âme, elle crée un monde nouveau, elle produit la sensation du n e u f . " 5 4 Korfs neuer Kräuterschaumplanet "veranschaulicht" diese Phantasie mit Hilfe der Optik. Die ganze Schöpfung, die ganze "wirkliche" Welt mit all ihren Wesen und Gegenständen ist der Phantasie als Spiegelmaterial verfügbar. Das Material wird optisch gebrochen, "zerlegt", nach

51 52 53 54

Jean Paul, B r i e f e , 85, S t u f e n , 55, Baudelaire,

V o r s c h u l e d e r Ä s t h e t i k , V, 47 f. 1896. 1905. 1037 f., S a l o n de 1859: L a Reine de F a c u l t é s .

Phantasie

63

den Gesetzen eines komplexen konvex-durchsichtig-vielschichtigen Spiegelsystems und zu einer neuen Welt angeordnet. Morgenstern ergänzt: " W e n n ich die Welt durch das Prisma meines Witzes fallen lasse, wievielmal ihr Bild gebrochen wird — oft weiß ich selbst es k a u m . " 5 5 Eine Vielfalt von verschieden gebrochenen Bildern wird sich in der Schichtung der Ebenen fangen, Bilder, die Korf auf der Wiese von Odeladelise vergeblich suchen würde. Staunend und mit " o f f e n e m M u n d e " erblickt er sie in seiner beweglichen Spiegel weit.

Sechste und letzte Strophe:

" Z u h a u s ist meiner Träume Welt , . . " 5 6 Korf zieht einen Schluß aus seinem Erlebnis. Erst die Base Zauberin ermöglichte es seiner Phantasie, eine neue, sich über die Wirklichkeit erhebende Welt zu schaffen. Sie m u ß also seine Muse gewesen sein, eine Inspiration. Und daß er damit recht hat, weiß Korf im nächsten Augenblick. An seiner Bluse packt es ihn. Was ihn dort packte? Z u m zweiten Mal griff die Zauberin Muse in das Geschehen ein. Korf wird hinübergeführt in " s e i n e " neue Phantasiewelt, hinüber zu den durchsichtig-konvexen Spiegelbildern, zu sanften Hirtenschalmtönen. All das kann er nun erforschen, die phantastischen Möglichkeiten dieser Phantasiewelt kennenlernen, nach all diesen Vorbereitungen nun ein Galgenlied niederschreiben. Die Interpretation der Verzauberung Korfs ist damit abgeschlossen. Was dabei über die Morgensternsche Galgenlieder-Phantasie kennengelernt werden konnte, sei zusammengefaßt: Aus gewohnten Denkbahnen, die den Ansprüchen der wirklichen Welt folgen, wird ein Ausweg gesucht. Gefunden wird er in einem von diesen Ansprüchen verschonten und in dieser Hinsicht aus der Wirklichkeit herausgehobenen Freiraum, der andererseits in hohem Maße sprachlichen Bedingungen unterliegt. In diesem derart gekennzeichneten Raum findet Morgenstern "Inspirat i o n " . An diese anknüpfend wird über der wirklichen Tatsachenwelt eine neue Welt erschaffen, eine Welt der Phantasie. Beschreiben läßt sie sich in einigen Einzelheiten etwa so: Sie löst sich von ihrem Schöpfer, verselbständigt sich, entwickelt ein Eigenleben, ist aber dennoch abhängig von Bildern, Eindrücken der wirklichen Welt. Sie ist zunächst schwer feststellbar und beschreibbar, aber sie ruft im Schöpfer, der nun ihr Betrachter ist, Freude hervor, denn sie ist ein neu geschaffenes Ganzes, " s e i n " Ganzes. In die Welt seiner Phantasie wird der SchöpferBetrachter schließlich hinübergezogen. Dem Kennenlernen und Weiterbilden der neuen Welt wird ihre Fixierung auf dem Papier folgen können. 55 E p i g r a m m e und Sprüche, 37, 1899. 56 A . a . O . , 46, 1902/03.

3. P H A N T A S I E U N D P R A X I S

Wollen wir gründen? 5 7

nicht

endlich

eine

Kunstgärtnerei

zusammen

Erfaßt an seiner Bluse, ist er also hinübergeführt auf seinen Planeten der Phantasie und dort — wie sich zeigen wird — wißbegierig, fleißig und mit großer Begeisterung auf der Suche nach neuen Dingen: ideale Voraussetzungen, ein Entdecker und Erfinder zu sein, denn daß Korf auf diesem Felde auch begabt ist, bewies schon die gelungene Planetenschöpfung selbst. Erfolgreich wird er der Galgenliederöffentlichkeit wichtige Forschungsergebnisse präsentieren können, auch wenn er diese Erfolge des öfteren mit seinem Partner Palmström wird teilen müssen. Denn auch " P a l m s t r ö m , dem schon frühe solches kund, (...) macht dort begeistert Fund auf F u n d " 5 8 . Ihr Dichter selbst ist schließlich der Dritte im Bund, nicht minder vom Entdecken und Erfinden fasziniert als seine beiden Geschöpfe. Von ihm berichtet Bauer: " V o n Jugend an zeichnete Morgenstern sich kleinere und größere 'Erfindungen' auf. Solche Notizen finden sich in seinen Taschenbüchern in großer Zahl, mitten unter dichterischen Entwürfen. Teilweise handelt es sich dabei um Dinge, die heute längst verwirklicht sind, die er schon viele Jahre früher a u s s a n n . " 5 9 Welche Neuerungen waren es, mit denen die Entdecker-Erfinder Korf, Palmström und Morgenstern ihre Welt, die neue Welt der Galgenlieder, aber auch die alte " w i r k l i c h e " Welt, bereicherten oder bereichern wollten? An " e p o c h e m a c h e n d e n " Erfindungen und Entdeckungen war die wirkliche Welt des auslaufenden 19. und anlaufenden 20. Jahrhunderts reich. Das sechste Kapitel des ersten Teils wies bereits daraufhin. Als Korf den Kräuterschaum in Odeladeliese blies, begann das Zeitalter der Elektrizität, Chemie und Physik. Einige historische Mosaiksteine. 1879: Edisons Glühbirne. 1881: das erste öffentliche Fernsprechnetz in Berlin. 1882: das erste Elektrizitätswerk in New York. 1884: die Entdeckungen der Chromosomen als Vererbungsträger und der Typhus-, Cholera- und Diphterie-Erreger. 1887: 57 B r i e f e , 163, 1903, a n d e n I n d u s t r i e l l e n J u l i u s M o o s . 58 Bilder, V I I I , 56. 59 B a u e r , 1933, 218.

Phantasie und Praxis

65

der Nachweis elektrischer Wellen durch Hertz. 1890: synthetischer Zucker und Kunstdünger. 1891: deutsche Schwefelsäureproduktion von 500.000 t. 1894: Stromerzeugung durch die Niagara-Fälle. 1895: Entdeckung der Röntgenstrahlen. 1898: Entdeckung des Radiums. 1900: Quantentheorie Plancks. 1901: Marconis drahtlose Funkverbindung über den Atlantik. 1904: Zusammenschluß der chemischen Werke Bayer, Agfa, Badische Anilin zum I.G. Farben-Konzern. 1905: Einsteins Relativitästheorie. 1907: Fernleitungen für Ströme von 60.000 Volt. In den drei Jahrzehnten, die zwischen Glühbirne und Hochspannungsleitungen liegen, steuerte der Mensch zum ersten Mal ein Automobil und flog zum ersten Mal ein Flugzeug. Als in Brüssel eine Weltausstellung stattfand, als der Neonröhre ein Patent erteilt und die Gleichstromdampfmaschine erfunden wurde, wurde auch Korfs Kräumterschaumplanet der Öffentlichkeit vorgestellt: 1910. Nun zu den Forschungsbeiträgen Morgensterns, Palmströms und Korfs. Ich werde sie in der Ordnung einzelner Arbeitsfelder vorstellen und auf dem Hintergrund "wirklichen" historischen Materials. Keine Vorbild-Abbild- oder gar Ursache-Folge-Verbindungen sollen daraus rekonstruiert werden, vielmehr soll das Prinzip der Korfschen Brille hier Anwendung finden, eine Erfindung, die ebenfalls 1910 veröffentlicht wurde und in diesem Abschnitt noch dargestellt werden wird: Brillen, deren Ernergien ihm den Text — zusammenziehen Zusammengezogen werden in unserem Fall die Forschungen Morgensterns, Palmströms und Korfs mit verstreuten Informationen, die sich bei der Durchsicht der technischen Entwicklungen jener Zeit sammeln ließen. Ein Blick durch die Korfsche Brille wird zeigen, daß Vorarbeit und Mitarbeit "wirklicher" Kollegen die Arbeit der drei Galgenliederwelt-Erfinder — wenigstens — erleicherte. Gearbeitet wurde auf folgenden Feldern: LUFT a) Die Möglichkeiten von Windkraft, Staumauern und Turbinen. 1891: 1892: 1894: 1894-1896:

Otto Intze baut die erste große Talsperre in Remscheid. Swante Arrhenius errechnet die Minutenleistung der gesamten Windkraft mit 4,4 Billion Kilowatt. Intze beginnt den Bau der Urft-Talsperre. Karl de Pretis und Caesar Scofoni erbauen die Madruzza-Talsperre, die erste dieser Größe (Höhe der Staumauern: 40 m).

60 Die Brille, VIII, 48.

66

Die u n w i r k l i c h e W e l t

1894: 1902: 1905:

Pelton konstruiert eine Freistrahl-Wasser-Turbine, Parsons eine schnellaufende Überdruckdampfturbine. Bei einem Wassergefälle von 472 Metern leistet die Pelton-Turbine 7.500 PS. Das erste deutsche Turbinenschiff wird in Betrieb genommen.

1905, Christian Morgenstern: " S c h a f f u n g windfreier Gebiete durch L u f t m a u e r n . Der heranströmende Wind selbst in Gegendruckluft umgesetzt. Gegenwindmaschine. Oder senkrechte Wände aus aufsteigendem Wind, durch die der horizontale Wind nicht durchzubrechen vermag. Schutzwindmauer.' 1 6 1 Palmström: Gründung eines windfreien Weltkurortes im Gebirge mit Hilfe einer Zentrifugen-Konstruktion. Nämlich eine Riesenzentrifuge, innerhalb von welcher das Hotel, schlägt den stärksten Sturmwind ab im Fluge und zurück zu seinem Ursprungsquell. 6 2 Ergänzung: Einer der Gebirgskurorte, die Morgenstern — neben Meran und Arosa — in regelmäßigen Abständen besuchte, um dort eine Linderung seiner Lungenkrankheit zu finden, war Davos, seit 1907 Sitz des neugegründeten Instituts für Bioklimatologie. Dort forschte Carl Dorno, der schließlich 1911 seine "Studien über Licht und Luft des Hochgebirges" veröffentlichte. Morgenstern, der sich 1912 ein letztes Mal zur Kur in Davos aufhielt, beschließt den zentrifugen-geschützten "Weltk u r o r t " mit der Strophe: Unerreicht vom bitterbösen Nord, unerreicht vom bitterbösen Föhne, blüht der neue Platz in stiller Schöne, und zumal im Winter ist man dort. 6 3 b) Die Möglichkeiten der Luftverdichtung. 1876: Linde verflüssigt Luft mit einer Kompressions-Kältemaschine. 1877: Auch Cailletet und Picter gelingt unabhängig voneinander die Verflüssigung von Luft und anderen Gasen. 1883: Olzewsky verflüssigt Wasserstoff. 1895: Linde entwickelt das erste technisch brauchbare Verfahren der Gasverflüssigung. 61 N a c h B a u e r , 1937, 184. 62 D e r W e l t k u r o r t , V I I I , 31. 63 E b d a .

Phantasie und Praxis

67

1901: Mit Hilfe der Kompressions-Kältetechnik gelingt Linde die Aufspaltung der Luft in Sauerstoff und Stickstoff. 1908: Kamerligh Onnes verflüssigt zum ersten Mal Helium. Vor 1911: Korf erfindet eine Zimmerluft, die so korpulent, daß jeder Gegenstand drin stecken bleibt... 6 4 Das Verfahren, dicke L u f t zu verdünnen, war bereits — vor 1906 — erfunden: die Tonmassage. Der Erfinder war, laut Galgenlied " D i e L u f t " , Gott selbst. Die Luft war einst dem Sterben nah. "Hilf mir, mein himmlischer P a p a " , so rief sie mit sehr trübem Blick, "ich werde d u m m , ich werde d i c k " ; (...) Der Herr, sich scheuend vor Blamage, erfand für sie die — Tonmassage... 8 5 ZEITMESSUNG Die Mögichkeiten von Uhren. Die Korfsche Uhr Korf erfindet eine Uhr, die mit zwei Paar Zeigern kreist und damit nach vorn nicht nur, sondern auch nach rückwärts weist... 6 9 Ergebnis der Erfindung: Die Zeit wird festgehalten und hebt sich selber auf. 6 7 Palmströms Uhr ist anderer Art, reagiert mimosisch zart... 6 6 und paßt sich in ihrer Geschwindigkeit den Wünschen des Besitzers an. 64 Die Z i m m e r l u f t , VIII, 55. Hier stand natürlich auch die sprichwörtlich " d i c k e L u f t ' ' Pate. Doch hätte Korf diese nicht erst " e r f i n d e n " müssen. Das Galgenlied beginnt nicht: Korf benutzt die Z i m m e r l u f t , die so k o r p u l e n t . . . Nicht ein Nutznießer, ein Linde ist Korf. 65 Die L u f t , VI, 96. Die Deutchen Reichspatente 4316 und 122163 sehen 1878 und 1900 zur B e k ä m p f u n g dicker L u f t Ventilatoren in H ü t e n und Schirmen vor (Koch, 29). 66 Die Korfsche U h r , VIII, 26. 67 Das Deutsche Reichspatent 26171 stellt 1883 eine Uhr mit zwei Zifferblättern und jeweils einem Zeiger vor (Koch, 38). U m G e d a n k e n festzuhalten, wird eine Schreibvorrichtung an Taschenuhren 1898 als Reichspatent 105239 angemeldet (Koch, 31). 68 Palmströms U h r , VIII, 27.

68

Die unwirkliche Welt

Eine besondere Technik, ihre Zeitmessung zu verzögern oder zu beschleunigen, entwickelt Palmström, indem er die Uhr des Nachts in Opium oder Äther legt und sie des Morgens mit schwarzem Mokka wäscht.' 9 BELEUCHTUNG Die Möglichkeiten von Lampen. Nachdem Edison 1879 zum zweiten Mal — unabhängig von Goebel — die Glühbirne erfindet, 1887 die ersten Gaslaternen Londoner Straßen erleuchten und in Berlin die AEG entsteht, nachdem 1895 an die "Berliner Elektrizitätswerke" 200.000 Lampen angeschlossen sind, Auer von Welsbach 1900 die Osmium-Glühbirne erfindet und Mac Farlan Moore die Neonröhre 1902, nachdem Morgenstern noch 1903 "Entwürfe zur Neugeburt der Nachtlichtbeleuchtungskörperindustrie" zu Papier bringt, 70 ... wird die Entwicklung durch Korf revolutioniert: Korf erfindet eine Tagnachtlampe, die, sobald sie angedreht, selbst den hellsten Tag in Nacht verwandelt ... 7 1 MEDIEN Die Möglichkeiten der Nachrichtenübermittlung — werden durch technische Neuerungen um ein Vielfaches erweitert. Nicht allein die Zeilensetzmachine wurde 1884 erfunden, die Offsetrotationsmaschine 1904, sondern vor allem in der Entwicklung des Funks begann eine neue Ära. Marconi gelang 1901 eine erste drahtlose Verbindung zwischen Europa und Neufundland über den Atlantik hinweg. Die Geschwindigkeit der Nachrichtenübermittlung wird sich bald so sehr steigern, daß Korf vorschlägt: "Lesen Sie doch die Zeitung von übermorgen." 7 2 Der Umfang der übermittelten Nachrichten erhöht sich bald so sehr, daß Korf ihren Konsum für eine besondere Erfindung zu nutzen weiß: Korf erfindet eine Mittagszeitung, welche, wenn man sie gelesen hat, ist man satt ... 7 3 69 P a l m s t r ö m legt des Nachts sein C h r o n o m e t e r , V l l l , 65. — Im Deutschen Reichspatent 62193 wird 1891 das Problem des W a n d u h r - A u f z i e h e n s durch das Ö f f n e n und Schließen der Z i m m e r t ü r gelöst (Koch, 33). 70 Briefe, 162. 71 Die T a g n a c h t l a m p e , VIII, 25. 72 Vom Zeitungslesen, VIII, 54. 73 Die Mittagszeitung, VIII, 28. — In seinem Buch " A u t o m a t und Mensch. Kybernetische Tatsachen und H y p o t h e s e n " stellt Karl Steinbuch die " M i t t a g s z e i t u n g " dem 4. Kapitel als Modell f ü r Informationsvermittlungen voran. (Steinbuch, 34). Die Kapitel

Phantasie und Praxis

69

Der Umfang erhöht sich weiter mit der Einrichtung von Presseagenturen. 1907 wird "United Press" gegründet, 74 und Korf sieht sich zu einer weiteren Erfindung genötigt, denn Korf liest gerne schnell und viel; daraum widert ihn das Spiel all des zwölfmal unerbetnen Ausgewalzten, Breitgetretnen. (...) Es erfindet drum sein Geist etwas, was ihn dem entreißt: Brillen, deren Energieen ihm den Text — zusammenziehen! 75 1897: Braun konstruiert seine später als Fernsehröhre verwandte "Braunsche Röhre". 1898: Edison baut einen Kinematographen. 1904: Korn gelingt eine Bildtelegraphie von München nach Nürnberg. 1906: Dieckmann zeigt mit einer Braunschen Röhre zwanzigzeilige Schattenbilder. 1913: Bredow unternimmt erste Rundfunkversuche. Bevor schließlich 1935 der öffentliche "Fernsehrundfunk" in Deutschland aufgenommen werden kann, hat Morgenstern ihn bereits realisiert. Für die Bildübertragung bietet er zwei Möglichkeiten an: Zum einen die Projektion auf einen Drachen. Der von sechs Fesselballons festgehaltene Projektionsdrache mißt 800 m im Quadrat und wird oberhalb des Kreuzberges allabend9, 15 und 3 werden mit folgenden Motti eingeleitet: " K o r f erfindet eine Art von Witz e n " (VIII, 58, Modell f ü r kybernetische Nachrichtenspeicherung; Steinbuch, 117), " D i e Brille" (VIII, 48, Modell f ü r Nachrichtenverarbeitung; Steinbuch, 242) und der " M e i l e n s t e i n " (VIII, 147, Modell für den Z u s a m m e n h a n g von Signal und Nachricht; Steinbuch, 24). Ergänzen ließe sich Morgensterns " D a s P o l i z e i p f e r d " (VIII, 64), ein Modell f ü r die A n w e n d u n g der Computertechnik in der modernen Kriminalistik: A u f grund eingegebener Daten werden Verbrechen und Verbrecher " e r r e c h e n b a r " . Nachdem die Daktyloskopie 1903 in die englische und deutsche Kriminalistik eingeführt ist, antizipiert Morgenstern: " P a l m s t r ö m führt ein Polizeipferd vor. / Dieses wackelt mehrmals mit dem Ohr / und berechnet den ertappten Tropf / logarhythmisch und auf Spitz und K n o p f . . . " 74 Das System, verschiedene I n f o r m a t i n e n aus allen Bereichen mit einer Agentur zu sammeln, u m sie en gros an Interessenten zu verkaufen, wird in schönster Galgenliedermanier vom " W a r e n h a u s für Kleines G l ü c k " , dem " W . K . G . " — A P , U P oder D P A — ü b e r n o m m e n . Nicht spezifisch will m a n informiert werden, sondern ü b e r h a u p t , " u n d bestellt d o r t , frisch vom Rost / (quasi): / ein Quartal — 'Gemischte Post*! (...) / P a l m s t r ö m sieht sich in die Welt / plötzlich / überall hineingestellt..." (Das Warenhaus, VIII, 16). 75 Die Brille, VIII, 48.

70

Die u n w i r k l i c h e Welt

lieh nach Einbruch der Dunkelheit die neuesten Berichte in weithin sichtbaren Buchstaben zeigen. Eigens konstruierte Abonnements-Ferngläser sowie Dachstuhl- und Kaminsitzkarten in der Redaktion und allen Filialen. Es wird darauf aufmerksam gemacht, daß nur feste Abonneten an den großen Veranstaltungen teilhaben, welche die Luftzeitung plant und deren erste sein wird: die Projektion jedes an einem Sonntag geborenen Abonnenten in voller Bildgröße (800 qm). 7 e Zum anderen die Projektion auf Wolken mit Hilfe einer neuen Schreibmaschine, welche nicht mehr durch ein Farbband Buchstaben auf eine Unterlage druckt, sondern mit Energie " s c h r e i b t " , indem sie diese in den Himmel schickt: Korf erfindet eine Schreibmaschine, die, daß sie gewählten Zwecken diene, nicht mit Farben schreibt, vielmehr mit Feuer und auf Wolkenfetzen ungeheuer. Sitzt er mitternächtlich an den Tasten, glaubt m a n an ein meteorisch Glasten. Doch es ist ein neu Poem von Korfen in den Raum zu kurzer Schau geworfen. Massenweise strömt man zur Lektüre, späht aus Speicherguck und Dachfalltüre, und in blitzesschnellen Arabesken liest man Korfs gigantische Grotesken . . . " Die "gewählten Zwecke"? — Morgenstern notiert: "Gedichte nicht drucken lassen, sondern werfen an Himmelswand oder auf Granitplatt e n " , 7 8 und arbeitet seit 1896 an einer Projektionsreklame. 7 4 Das Problem der Tonübertragung wird mit Hilfe eines Fernklaviers gelöst: Das Fernklavier Castor sitzt in Leipzig hier, und in Pest steht ein Klavier. Castor spielt... Und seine Weise rührt die Tasten, laut (auch leise) dort in Pest — Pest strömt zum Fest. 8 0 76 77 78 79 80

A u s d e m A n z e i g e n t e i l einer T a g e s z e i t u n g d e s J a h r s 2407, VI, 180. Die S c h r e i b m a s c h i n e , V I I I , 45. N a c h B a u e r , 1933, 184. A . a . O . , 218. V I I I , 151.

Phantasie und Praxis

71

PHOTOGRAPHIE Die Entwicklung der Photographie, die ab 1839 mit Daguerre, Ni£pce, Talbot, Steinheil und Kobell begonnen hatte, 1871 über Maddox's Trockenplatte zum Papierfilm Eastmans (1884) und 1887 zum Zelluloidfilm Goodwins führte, war um die Jahrhundertwende durch eine große Popularität dieses nun schon alten Mediums gekennzeichnet. 1893 eröffnete man die erste internationale Photoausstellung in Hamburg. Lichtwerk veröffentliche im Jahre darauf "Die Bedeutung der Amateurphotographie". Nacheinander erschienen in den Jahren 1902, 1903 und 1904 die Zeitschriften "Photographische Industrie", "Zeitschrift für wissenschaftliche Photographie, Photophysik und Photochemie" und schließlich "Photographie für Alle". 1906 experimentiert auch der Erfinder Christian Morgenstern mit der allen gehörenden Photographie und entwicklet dabei ein eigenes Photokopier-Verfahren: Ich schreibe einfach einen Text auf dünnes Papier und lege dies auf ein Blatt lichtempfindliches Papier, beides wird in das Kopierrähmchen getan, wobei ich, damit das Briefpapier glatt angepreßt wird, noch eine Fensterglasplatte vorlege: und die gute Sonne, die nun vierzehn Tage nicht geschienen hat, brennt alles schwarz außer den Buchstaben; denn durch die Tinte kann sie so schnell nicht hindurch. Will ich nun die Buchstaben schwarz haben, so kopiere ich einfach dies eben gewonnene Blatt durch. 81 Die Weiterentwicklung dieses Verfahrens gelangte schließlich zu folgenden Ergebnissen: 82

k 81 Briefe, 231. 82 D a s Große Christian Morgenstern Buch, 168 f.

72

Die unwirkliche Welt

" I c h begann iebendige Blätter durchzukopieren und ähnliches geeignete Pflanzliche. Da kamen nun all die feinen Gerüste und Äderchen prächtig aufs P a p i e r . " 8 3 Weitere Pläne Morgensterns: Photokopien von Papierschnitzeln, Manschetten, Haarnadeln, Holzklammern, Zollstöcken, Spitzen und die Photographie der "unwirklichen Plastiken" eines Kopfkissens. 8 4 VERKEHR Die Notwendigkeit von Regelungen. Besorgt zeigen sich Korf, Palmström und Morgenstern über die stürmische Entwicklung der Kraft- und L u f t f a h r t . 1897 bauen Parseval und Siegsfeld einen Fesselballon, später dann den Luft-Freiballon; 1900 fliegt Zeppelins Luftschiff LZ 1, 1903 findet der erste Motorflug der Gebrüder Wright statt, und 1909 schon überfliegt Bl£riot den Ärmelkanal. Morgensterns Vision: Luftpiraten 8 5 und Luftbataillone 8 8 . Die Vision Korfs: Dämmrig, dünkt ihn, wird die Luft und die Landschaft G r a b und G r u f t ... 8 7 Die Dichte des Luftverkehrs wird einst die Sonne verdunkeln. 8 8 Korf, der zunächst Statuten eines "Klubs zur resoluten Wahrung des Himmels vor der Willkür der Ballone" entwirft, ändert nach der Konsultation 83 84 85 86

Briefe, 231, 1906. A . a . O . , 232, 1906. A u s d e m Anzeigenteil einer Tageszeitung des Jahres 2407; VI, 180. N a c h Bauer, 1937, 26. Beides für Morgenstern natürlich vor " B a l l o n p i r a t e n " und " L u f t b a l l o n - B a t a i l l o n e " vorstellbar. 87 Z u k u n f t s s o r g e n , VIII, 11. 88 E b d a .

allem

als

Phantasie und Praxis

73

Palmströms seine Pläne. Ein " K l u b zum Schutz des Sonnenscheins" soll nun gegründet werden. 8 * Für die Sicherheit der Straßen fordert Morgenstern 1905: "Erziehung des Verkehrs (Wagenverkehrs)." 9 0 Vier Jahre später wird in Deutschland ein Gesetz über den " K r a f t f a h r z e u g v e r k e h r " erlassen. Nicht durchsetzen dagegen konnte sich seine Erfindung der "Wasserschiene". 9 1 UNTERHALTUNG a) Die Möglichkeiten des Geruchs und des Geschmacks. Die Zeit um die Jahrhundertwende ist eine große Zeit des literarischen Orgelbaus. 1884: Joris-Karl Huysmans stellt die Öffentlichkeit diese Orgel vor: une série de petites tonnes, rangées côte à côte, sur de minuscules chantiers de bois de santal, percées de robinets d'argent au bas du ventre. Il appelait cette réunion de barils à liqueurs, son orgue à bouche. 9 2 Die Kontruktion der "Geschmacks-Orgel". Une tige pouvait rejoindre tous les robinets, les asservir à un mouvement unique, de sorte q u ' u n e fois l'appareil en place, il suffisait de toucher un bouton dissimulé dans la boiserie, pour que toutes les cannelles, tournées en même temps, remplissent de liqueur les imperceptibles gobelets placés au-dessous d'elles. 9 4 Die Register der "Geschmacks-Orgel": Chaque liqueur correspondait, selon lui, comme goût, au son d ' u n instrument. Le curaçao sec, par exemple, à la clarinette dont le chant est aigrelet et velouté; le kummel au hautbois dont le timbre sonore nasille; le menthe et l'anisette, à la flûte ...«4 1912: " P a l m s t r ä m baut sich eine Geruchs-Orgel" 9 5 (ohne Konstruktionsangaben). Eine Komposition für die "Geruchs-Orgel": 89 E b d a . — Nicht n u r z u m S c h u t z des S o n n e n s c h e i n s soll ein Verein g e g r ü n d e t w e r d e n . " L a ß u n s einen Verein, einen n e u e n Verein als A n s c h l u ß v e r e i n a n d e n Verein z u r ' E i n f ü h r u n g v o n S t r o h h ü t e n bei d e r E l e k t r i s c h e n ' g r ü n d e n : d e n Verein z u m h e i ß e n Blechl ö f f e l m i t ö l . " ( B r i e f e , 2 1 2 , 1906). " Z u g l e i c h bin ich a b e r a u c h g e r n b e r e i t , einen ' V e r ein gegen E r s c h e i n u n g von S a n d a l e n im T r a u m ' mit Dir zu g r ü n d e n . Eintritt eine M a r k . " ( B r i e f e , 213, 1906). 9 0 N a c h B a u e r , 1937, 184. 91 A u s d e m A n z e i g e n t e i l e i n e r T a g e s z e i t u n g des J a h r e s 2407, VI, 180. 92 H u y s m a n s , 106. 93 E b d a . 9 4 A . a . O . , 107. 95 Die G e r u c h s - O r g e l , V I I I , 29.

74

Die unwirkliche Welt

Diese beginnt mit Alpenkräuter-Triolen und erfreut durch eine Akazien-Arie. Doch im Scherzo, plötzlich und unerwartet, zwischen Tuberosen und Eukalyptus, folgen die drei berühmten Nießwurz-Stellen, welche der Sonate den Namen geben. 9 8 Die Sonate heißt " N i e ß w u r z - S o n a t e " , und Korf komponierte sie. Christian Morgenstern erfand "Zerstreuungs-Orgeln, (...) enthaltend: Musikstücke, Bilder, Liköre, Broschüren, Lotterielose u s w . " 9 7 und ließ Pan eine " W i n d h o s e n - O r g e l " entwerfen. 9 8 Er entdeckte auch die "littérature à b o u c h e " : Man müßte einmal versuchen, sein Urteil über eine Reihe großer Schriftsteller in Form von kunstvoll gebrannten Likören niederzulegen. "Sie wollen mein Urteil über Maupassant? Bitte, genehmigen Sie diesen K o r n " , usw. 9 9 Angeregt durch Korfs Geruchs-Sonaten, gründen Freunde einen " A r o m a t e n " . Einen Raum, in welchem, kurz gesprochen, nicht geschluckt wird, sondern nur gerochen ... 1 0 ° Auch dieses geschieht 1912, und auch dieses nimmt Huysmans 1884 vorweg: Denn einen " A r o m a t e n " — allerdings ohne den obligaten Geldeinwurf des Galgenlieder-Aroma(Automa)ten — richtet auch Des Esseintes in Fontenay ein: Avec ces vaporisateurs, il injecta dans la pièce uns essence formée d'ambroisie, de lavande de Mitcham, de pois de senteur, de bouquet, une essence qui, lorsqu'elle est distillée par un artiste, mérite le nom q u ' o n lui décerne, "d'extrait de pré fleuri"; puis dans ce pré, il introduisit une précise fusion de tubéreuse, de fleur d'oranger et d ' a m a n d e , et aussitôt d'artificiels lilas naquirent, tandis que des tilleuls s'éventèrent, rabattant sur le sol leurs pâles émanations que simulait l'extrait du tilia de Londres. 1 0 1 96 E b d a . 97 Aus dem Anzeigenteil einer Tageszeitung des Jahres 2407, VI, 18I. 98 Die Versuchung, In P h a n t a ' s Schloß, 63. 99 Briefe, 217, 1906. lOODer A r o m a t , VIII, 30. 101 H u y s m a n s , 199. — Die P a r t n e r s c h a f t des Dichters der Galgenlieder und des Dichters von " A R e b o u r s " bleibt im Dunkel. D a ß Morgenstern H u y s m a n s kannte, ist nirgendwo belegt. U n d falls er ihn kannte, bliebe auch die Rezeption schwer nachvollziehbar. War diese P a r t n e r s c h a f t ironisch? Dagegen spräche jene Briefstelle über Maupassant und den Korn. Ihr schickt Morgenstern voraus: " M i r k o m m t soeben ein E i n f a l l " . (Briefe, 217). Wahrscheinlicher ist es, daß der Synästhesismus, der all diesen Erfindungen zugrunde liegt, auch u m 1912 noch in der Luft und auf der Zunge lag.

Phantasie und Praxis

75

In das Jahr 1884 reichen schließlich auch die " E r i n n e r u n g s a r o m e " zurück, die Morgenstern — nach Angaben des Kunden hergestellt — in das Repertoire eines Kaufhauses a u f n a h m . 1 0 2 1 884 ließ sich ein Brite unter der Registernummer 6001 die Herstellung eines weiblichen Aromas patentieren. 1 0 3 b) Möglichkeiten des Theaters. Der Weiterentwicklung der Bühnentechnik widmet sich Palmström. Die Drehbühne, die sich in einer Kugel befindet und einen konvexen Boden besitzt, der die " F o r m eines Rotationsparabolids hat und zu dem die Besucher in Folge der Fliehkraftwirkung überall senkrecht stehen", 1 0 4 ist nicht seine Erfindung, sondern ein Deutsches Reichspatent aus dem Jahre 1904. Aber: Palmström denkt sich Dieses aus Ein quadratisch Bühnenhaus, mit (v. Korf begreift es kaum) drehbarem Zuschauerraum. Viermal wechselt Dichters Welt, viermal wirst du umgestellt ... 1 0 S Morgenstern denkt sich den "größte(n) Gegensatz zum neuzeitlichen T h e a t e r " 1 0 6 aus: eine Skioptikon- oder Laterna-Magica-Bühne: Ein Druck auf einen Knopf und das Rückenbild steht da. Und nun die Schauspieler davor, selbst erfüllt, verwandelt und entgeschichtlicht von diesem selben Geiste: Alles nur ein Gleichnis. 1 0 7 Für Schwarz-Weiß-Projektionen denkt er sich Dieses aus: Eine weiße (senkrechte) W a n d ; ein auf diese gerichteter Reflektor; eine Klaviatur ähnlich der Schreibmaschine, die Figuren in Bewegung setzt, welche als Schatten auf die weiße Wand geworfen werden. Man spielt auf der Tastatur und die Wand bedeckt sich mit rätselhaftem Schattenleben. 1 0 8 Für Farb-Projektionen Solches: Man muß Apparate erfinden, mit deren Hilfe wir uns jederzeit in die Wunder der Farbe vertiefen können. Etwa, wie es das Kaleidoskop ist, nur mit viel reicheren Möglichkeiten. Ich denke mir Chemie und 102Aus dem Anzeigenteil einer Tageszeitung des Jahres 2407, VI, I8I. 103Koch, 75. 1 0 4 A . a . 0 . t 136. 105Theater, VIII, 20. 106Nach Bauer, 1933, 172. 107 E b d a . 1 0 8 A . a . O . , 218.

76

D i e u n w i r k l i c h e Welt

Mechanik im Bunde, etwas mit Lösungen, Mischungen, Gärungen, Klärungen, D ä m p f e n , Spiegeln, Linsen, Centrifugen, Flüssigkeitsornamentik durch Rotation oder Luftdruck, Beleuchtungskniffen aller Art.109 Die moderne "light s h o w " war damit erfunden. SCHLUSS Die Arbeiten der Erfindergruppe Palmström, Korf und Morgenstern wuchsen aus dem Zusammenhang damaliger Forschung und Wissenschaft und folgten dem Trend der sich ständig vermehrenden Erfindungen. Seit der Gründung des Reichspatentamtes in Berlin 1877 war die Zahl der jährlich angemeldeten Patente gestiegen. Das Jahr 1878 verzeichnete 5949 Anmeldungen, darunter ein Perpetuum mobile, 1 1 0 1909 waren es etwa 45.000. 1 1 1 Patentreif war manche Galgenlieder-Erfindung. Erteilte das Reichspatentamt 1881 ein Patent auf einen Kinderwagen mit eingebautem Musikwerk, 1 1 2 es hätte der Korfschen Personenwaage mit Glockenspielansage das gleiche Privileg nicht vorenthalten können. 1 1 3 Selbst Palmströms Erfindung eines Mantels f ü r Spatzen war so " a b s u r d " gar nicht. 1 1 4 1901 wurde patentiert: ein Kühlbeutel f ü r P f e r d e . 1 1 5 1902 wurde patentiert: eine Brille für Hühner. 1 1 » 1904 wurde patentiert: eine Luftbrause für Zugtiere. 1 1 7

109 E b d a . ] l O A n e i n e m P e r p e t u u m m o b i l e — liebevoll v o n i h m " P e r p e h " g e t a u f t — a r b e i t e t e u m die J a h r h u n d e r t w e n d e a u c h d e r g r o ß e D i c h t e r u n d T r i n k e r P a u l S c h e e r b a r t u n d h o f f t e — w i r k l i c h — eines T a g e s d a m i t M u l t i m i l l i o n ä r zu w e r d e n . E r i c h M ü h s a m b e r i c h t e t : " I c h b e k a m P o s t k a r t e n n a c h M ü n c h e n mit d e m P o s t s k r i p t u m : ' P e r p e h l ä ß t Dich g r ü ß e n ! ' E i n m a l teilte m i r S c h e e r b a r t m i t : ' P e r p e h ist f e r t i g ; es b e w e g t sich n u r n o c h n i c h t " ' ( M ü h s a m , II, 74). S c h e e r b a r t s E r f a h r u n g s - u n d F o r s c h u n g s b e r i c h t ist n a c h z u lesen in s e i n e m " P e r p e t u u m m o b i l e " (mit K o n s t r u k t i o n s z e i c h n u n g e n ! ) . 111 S t e i n , 9 3 7 . 112 K o c h , 32. 113 D i e W a a g e , V I I I , 57. 1141m W i n t e r k u r o r t , V I I I , 34. 115 K o c h , 71. 1 1 6 A . a . O . , 57. 1 1 7 A . a . O . , 68.

II. DIE WELT DES HUMORS

Die vulgäre Auffassung, daß etwas Humoristisches allzeit identisch mit etwas Lachenerregendem sein müsse, ist nicht die meine und auch, wie ich glaube, nicht die richtige.1 Mit einer Freiheit, die ihm unbegrenzte Möglichkeiten eröffnet, und einer Phantasie, die neue Welten schaffen kann, begibt sich Morgenstern an die Arbeit des Dichtens. Einer der Bereiche, in denen er arbeitet und aus welchem heraus er schließlich den Weg in die Welt der Galgenlieder findet, ist schon früh vorgezeichnet. Die Korrespondenz des jungen Morgenstern belegt ausführlich Art und Stand dieser Arbeit. 1893, noch ist er Student der Nationalökonomie in Berlin, schreibt Morgenstern an Kayssler: "Es ist merkwürdig, daß ich in diesen traurigen Zeiten gerade auf dem humoristischen Gebiet mich tummle. 2 Ergebnisse des Tummeins? "Ich schreibe eine Anzahl humoristisch-satirischer Aufsätze, die ich, wenn sie die Zahl dreizehn erreicht haben, unter dem Titel 'Pillen' in Verlag zu bringen versuchen will." 3 "Ein humoristisches Werkchen habe ich für den Winter vor." 4 Außerdem "beschäftigt mich zurzeit ein großer Entwurf, der sich in einem humoristischen Roman auswachsen soll. Das Grundthema ist wiederum die Zeichnung eines originellen Kopfes, aber nicht wie in der Studie5 eines umhertappenden, sondern eines in sich werdenden, selbständig über dem Treiben der Menge stehenden Charakters." 8 1894, nun aus Berlin als Angestellter der Nationalgalerie: "In eigener Angelegenheit arbeite ich neben beständiger lyrischer Nebentätigkeit (meist humoristischer Art) an meiner großen Dichtung weiter." 7 Diese erste "große" Dichtung Morgensterns 1 2 3

4 5 6 7

Tagebuchnotiz Morgensterns, nach Bauer, 1937, 50. Briefe, 43; Kursivdruck von mir. A . a . O . , 39, 1893; Kursivdruck von mir. — Zu einer Veröffentlichung der " P i l l e n " ist es nicht g e k o m m e n . Erhalten sind von den Aufsätzen lediglich zwei: " F e i g e n b l ä t t e r " und " V e r i s m u s " (Briefe, 502). Die " F e i g e n b l ä t t e r " sind n u n im vierten Band der Jubiläumsausgabe veröffentlicht (199 ff.). " V e r i s u m s " ist meines Wissens ungedruckt geblieben. A . a . O . , 43, 1893; Kursivdruck von mir — " S a n s a r a " , d a s eine humoristische Studie blieb. "Sansara". Briefe, 47, 1893; — Kursivdruck von mir —Unvollendet auch dieses P r o j e k t . A . a . O . , 57; Kursivdruck von mir.

78

Die Welt des H u m o r s

wird 1895 erscheinen: " I n Phanta's Schloß. Ein Zyklus humoristischphantasitischer Dichtungen". Noch im gleichen Jahr sammelt er bereits wieder humoristische Themata auf Sylt, für einen Meer-Zyklus nun. 8 Und aus Berlin schließlich berichtet er 1896 von Versuchen mit humoristischer Prosa. 9 Auch diese aber führt Morgenstern nicht zu Ende, hält nicht durch und muß sich zehn Jahre später in einer Mischung aus Stolz und Resignation mit der Feststellung begnügen: "Wenn mir einmal die Stimmung andauerte, vier Wochen lang Prosa schreiben zu können, hätten die Deutschen einen humoristischen Schriftsteller mehr." 1 0 Sie haben einen solchen mehr, denn Morgenstern dauerte zwei Jahrzehnte lang die Stimmung an, Lyrik zu schreiben, Galgenlieder-Lyrik, ein "Humoristikum", 1 1 Gedichte, aneinandergeknüft an "das 'geistige Band' des Humors". 1 2 Doch das ist keine neue Erkenntis; man weiß das bereits, durchfliegt man die Galgenlieder nur einmal. Wie aber kann dieser Humor beschrieben werden? Einen Beschreibungsversuch mit einer Definition dessen, was " H u m o r " wohl ist, zu beginnen, um von dort aus dann auf deduktivem Wege zu seinen einzelnen Qualitäten zu gelangen, scheint wenig sinnvoll, obwohl viele — und weil zu viele — Anknüpfungsmöglichkeiten sich anbieten. Vielleicht bei Jean Paul, dem großen Theoretiker und Praktiker des Humors, der seine Definition 1804 idealisierend aus dem Kontrast von menschlicher Endlichkeit und einer Unendlichkeit herleitet. Humor als "ein auf das Unendliche angewandte Endliche", 1 3 im Unterschied zum "Erhabenen", dem auf das Endliche angewandten Unendlichen, 14 und dem "Komischen", das bloß im "Kontrastieren des Endlichen mit dem Endlichen besteht, und keine Unendlichkeit zulassen kann." 1 5 Dieser Terminologie bedient sich schließlich auch Morgenstern selbst. Ein Jahrhundert später nennt er " H u m o r " "die Betrachtungsweise des Endlichen vom Standpunkte des Unendlichen", 1 8 ohne dabei in der Art Jean Pauls zu differenzieren. Der Kommentar Schopenhauers 1844: "Erklärungen wie 'der Humor ist die Wechseldurchdringung des Endlichen und Unendlichen' drücken nichts weiter aus als die gänzliche Unfähigkeit zum Denken derer, die an solchen hohlen Floskeln ihr Genügen haben." 1 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17

A . a . O . , 70. A . a . O . , 78. Stufen, 38, 1906. Briefe, 89, 1897. A . a . O . , 401, 1910. Jean Paul, Vorschule der Ästhetik, § 31, V, 125. Ebda. Ebda. Stufen, 37, 1906. Schopenhauer, II, 133.

Die Welt des H u m o r s

79

Weder Morgenstern und schon gar nicht Jean Paul kann dieser Vorwurf aus "Die Welt als Wille und Vorstellung" treffen; doch auch wenn sie hier keine hohlen Floskeln bilden, die Begriffe "Endlichkeit" und "Unendlichkeit" sind zu sperrig und unhandlich und schließlich nun doch für unverbindliche Floskeln mißbraucht in zu vielen Fällen, um mit ihnen als Handwerkszeug den Morgensternschen Humor untersuchen zu können. Ebenso unzweckmäßig aber wird es sein, Schopenhauers eigene Definition zum Ausgangspunkt zu nehmen, " H u m o r " , "der hinter dem Scherz versteckte Ernst." 1 8 Als eine Gattung des "Komischen" bestimmt Vischer 1837 den Hum o r " : "Der Humor unterscheidet sich nämlich von den früher betrachteten Gattungen des Komischen 19 gerade dadurch, daß er dem Komischen auf den Grund geht, während diese auf der Oberfläche verweilen (...) Der Humor hat dieselben Ingredienzen, aber sie treten bei ihm in absoluter Bedeutung auf, während dort nur in accidentieller und relativer." 2 0 Vischer nennt den " H u m o r " darum "das Komische der Vernunft".21 Lipps 1903 über den " H u m o r " : "Das Wort besagt, daß ein Erhabenes oder irgendein menschlich Bedeutsames komisch vernichtet wird, oder im Prozeß der Komik untergeht oder zergeht, aber nur um durch die Vernichtung oder durch dasjenige, wodurch es vernichtet wird, in seinem Eindruck gesteigert zu werden." 2 2 Die Beschäftigung Freuds mit dem Humor führte 1905 zu der These, daß Humor ein Mittel sei, peinliche Affekte, die einer komischen Wirkung entgegenstehen, auszuschalten: " E r tritt für diese Affektentwicklung ein, setzt sich an die Stelle derselben." 2 3 "Die Lust des Humors entsteht dann, wir können nicht anders sagen, auf Kosten dieser unterbliebenen Affektentbindung, sie geht aus erspartem Affektaufwand hervor." 2 4 Für Freund ist " H u m o r " die höchststehende der psychischen Abwehrleistungen. 25 Soweit diese wenigen Stationen aus der Tradition, über den " H u m o r " nachzudenken. In der neuen Literaturwissenschaft ist natürlich vor allem Wolfgang Preisedanz zu nennen. Seine Habilitationsschrift von 1965 galt der "konstitutiven Bedeutung des Humors", 2 8 galt 18 E b d a . 19 I. Das naiv Komische, die Posse (das Burleske); 2. das Komische des Verstandes oder der Reflexion, der Witz. 20 Vischer, 207 f. 21 E b d a . 22 Lipps, 1903, 587. 23 Freud, Der Witz, Werke VI, 260. 24 A . a . O . , 261. 25 A . a . O . , 266. 26 Preisedanz, 1963, 7.

80

Die Welt des H u m o r s

dem Humor als "plastischem Gesetz" 27 für die erzählende Dichtung des Realismus und stellt als "Grundzug des humoristischen Erzählens (...) die Polarität von Erzählgegenstand und Erzählweise" fest. 28 Diese Kennzeichnung realistischen " H u m o r s " wird das Kapitel über die Ironie der Galgenliederwelt auf seine Weise widerspiegeln: in der Polarität von lyrisch-seriöser Form und "unseriösem" Inhalt. Die zahlreichen Versuche, " H u m o r " zu definieren — allein die terminologischen Uneinigkeiten — lassen es nicht ratsam erscheinen, sich in dem einen oder anderen Lager einen Platz zu suchen, 29 so daß es wohl richtig ist, sich wenigstens in diesem Punkt S. J. Schmidt anzuschließen: "Angesichts der Fülle von Beiträgen zum Komischen ist nicht beabsichtigt, den dort gegebenen Definitionen des Komischen (...) eine weitere hinzuzufügen, weil ich sicher bin, daß es aus angebbaren Gründen keine solche Definition in irgendeinem wissenschaftstheoretisch strengeren Sinne von Definition geben kann." 3 0 Das gilt auch für den " H u m o r " . Vielleicht darf auf die Forschungen eines neuen Wissenschaftszweiges gehofft werden, der jenes Phänomen thematisiert, das letztlich allen Begriffen wie " H u m o r " , " K o m i k " , "Ironie", " W i t z " etc. gemein ist: das Lachen, die " n e u e " Disziplin: "Gelotologie". Edith Trager schuf 1964 diesen Neologismus. 31 Die alte Tradition der neuen Disziplin: Bergson, Spencer, Gregory, Piddington, Ritter, Plessner, Monro — Baudelaire. 32 Eine Unterscheidung soll dennoch — eingedenk aller Vorbehalte — vorausgeschickt werden, um damit wenigstens eine minimale terminologische Klarheit zu gewährleisten. Es ist die Unterscheidung von "Hum o r " und " K o m i k " . Anknüpfen läßt sich etwas an R. Hildebrandt, der Humor bestimmt als "gemütsmäßig bedingte Seinshaltung{...), in der das Komische vor dem Hintergrund des Ernstes seine höchste und allseitige Verkörperung findet." 3 3 Und von Oertzen sieht in der " Wachheit (...) für Proportion und Disproportion im Daseinsgefüge (...) das entscheidende Wesenselement des Humors." 3 4

27 A . a . O . , 8. 28 A . a . O . , 11. 29 Die lange Geschichte des Wortes " H u m o r " wird f ü r den englischen, deutschen und spanischen Bereich ausführlich von Schmidt-Hidding, Schütz und Hempel nachgezeichnet. 30 S . J . Schmidt, 166. 31 Vgl. Miliner, 3. 32 De l'essence du rire et généralement du comique dans les arts plastiques, Oeuvres Complètes, 975-993. Für die übrigen siehe Literaturverzeichnis. 33 Hildebrandt, 66; Kursivdruck von mir. 34 v. Oertzen, 860; Kursivdruck von mir.

Souveränität

81

Mit Albert Wellek läßt sich das Gemeinsame dieser beiden Aussagen zusammenfassen. Demnach "meint Humor zunächst unmittelbar immer eine Struktur, und zwar eine psychische oder 'subjektiv-geistige' Struktur, d.h. eine Anlage, Fähigkeit oder Bereitschaft." 3 5 Mit Helmers läßt sich ergänzen: " . . . um komische Faktoren zu produzieren bzw. zu rezipieren." 36 " H u m o r " ist eine Haltung, " K o m i k " ein Produkt. Der erste Teil dieses Kapitels wird versuchen, den " H u m o r " des Galgenlieder-Dichters mit Hilfe der zwei großen Orientierungspunkte "Souveränität" und "Liebe" zu erschließen. Eine Untersuchung verschiedener "Komik"formen schließt sich mit sechs grundsätzlichen Fragen an. Daß beide Bereiche des Humors und der Komik nicht immer zu trennen sind, daß ihre Unterscheidung vor allem ein methodisches Ziel verfolgt, ist dabei selbstverständlich.

1. SOUVERÄNITÄT

Wahrer Humor ist immer souverän. 37 Wie erlangt man die Souveränität der Galgenlieder, 3 * und was beinhaltet sie? Korf und Palmström teilen folgendes mit: Auf dem Wege zur Souveränität gewinne man zunächst Abstand und damit Unabhängigkeit. Man lasse sich nicht von der Umwelt binden und trage Sorge, in keiner Masse zu verschwinden. Zwei Begegnungen aus ihrem Galgenlieder-Leben: Korf erhält vom Polizeibüro ein geharnischt Formular wer er sei und wie und wo ... 39 und über drei Strophen hinweg schließen sich polizeiliche Fragen und Androhungen an. Korf aber weiß sich den Nachforschungen zu entziehen, vor behördlicher Verfolgung zu schützen. Er erklärt sich für 35 36 37 38

A . Wellek, 13 f. Helmers, 11. Stufen, 38, 1906. Kommentiert wird die Souveränität des Morgensternschen H u m o r s unter anderem bei Bauer (1937, 152 ff.) und Sichelschmidt (22). 39 Die Behörde, VIII, 61.

82

Die Welt des H u m o r s

"nichtexistent im Eigen-Sinn bürgerlicher Konvention" 4 0 und entzieht sich mit diesem Abstand schaffenden Schritt den registrierenden und sanktionierenden Zugriffen der Bürger-Institution. Seine Unabhängigkeit bleibt gewahrt. Eine Sicherungsmaßnahme besonderer Art entwickelt Palmström, der Erfinder. Er läßt sich von unerwünschten Eingriffen seiner Umwelt, von " f r e m d e m L ä r m " und "drittem O h r " , durch eine Lärmschutzanlage trennen, läßt um seine Zimmer Wasserröhren legen, welche brausen. Und ergeht sich, so behütet, oft in stundenlangen Monologen ... 4 1 Ungehört und damit unabhängig von einem Publikum und dessen Reaktionen, "gleich Demosthenes am Strand des Meeres". 4 2 Korf oder Palmström, ob sie ihre Unabhängigkeit gegenüber der Wissenschaft behaupten — Komm, spricht Palmström, Kamerad, alles Feinste bleibt — p r i v a t " . 4 3 — oder " u n s t e t , launisch und cholerisch" machende Studien abbrechen, um die eigene Identität zu erhalten, 4 4 stets wahren sie Abstand, einen Abstand, den Tannenwurzeln von Natur aus zu den Wipfeln besitzen. Während es oben mächtig rauscht, bleiben Wurzeln unbeeindruckt souverän. Die eine sagt: knig. Die andere sagt: knag. Das ist genug für einen Tag. 4 5 Mit dem Wind, dem "großen P h i l o s o p h e n " , 4 6 können die beiden Helden aus großer Entfernung pfeifen — " a u f diese ganze W e l t " . 4 7 Freie Vögel der L ü f t e " 4 8 sind auch sie, Möwen 4 9 und Elstern, 5 0 und fliegen ihre "Kreise um die Dinge, sie nur streifend und von ferne betrachtend". 5 1 40 41 42 43 44 45 46 47 48 49 50 51

Ebda. Lärmschutz, VIII, 15. Ebda. Die Wissenschaft, VIII, 23. Sprachstudien, VIII, 19. Die zwei Wurzeln, VI, 82. Es pfeift der Wind, VI, 112. Ebda. Lützeler über die Menschen mit H u m o r , 1966, 33. Möwenlied, VI, 74. Die Elster, VIII, 109 und der Entwurf zu einem Trauerspiele, VIII, 112. Lützeler, 1966, 33.

Souveränität

83

Morgenstern pointiert diese Eigenschaft der Souveränität des Humors so: Sieh, das ist Lebenskunst: Vom schweren Wahn des Lebens sich befrein, fein hinzulächeln übers große M u ß . 5 2 Aus dem Gewinn von Abstand und Unabhängigkeit ergibt sich ein zweiter Aspekt der Souveränität: das Gefühl der Sicherheit. Souveräner H u m o r glaubt sich der Welt gewachsen, wenn nicht überlegen. In seinem Brief an die Mutter Nietzsches beschreibt Morgenstern 1895 Humor " i m verfeinertsten Sinne" als jenen "Geist sieghafter, stolzer Lebensverklärung, jenes Königsgefühl über allen Dingen, von denen der geliebte Einsame so oft gesprochen h a t " . 5 3 Und er fordert im gleichen Jahr aus einer Kritik heraus: " W i r haben die Menschen, die Könige in uns verloren. Lernen wir wieder das große Auslachen des Augenblicks , . . " 5 4 H u m o r : ein " W e l t v e r ä c h t e r " . 5 5 Das Lachen aus heitrer H ö h ' ist zunächst ein überlegenes Königslachen über das " U n t e n " . Königlich porträtieren läßt sich "Zäzilie", die Magd der Galgenliederwelt. Zäzilie ist komisch. Träumt Zäzilie und berichtet am Morgen "ganz wild": " I c h hab heut nacht ein Kind gestillt — ein Kind mit einem Käs als Kopf — und einem Horn am Hinterschopf!", 5 9 so dürfen sie und ihr T r a u m souverän belächelt werden. "Halt'shalt's M a u l " , so spricht die Frau, " u n d geh an deinen Dienst, Zä-zi-li-e!" 5 7 Räumt Zäzilie auf — sie nimmt von Tisch und Stuhl die Bücher und legt sie Stück auf Stück, wie Taschentücher, jeweils nach bestem Wissen und Gewissen ... 5 * 52 53 54 55 56 57 58

Epigramme Briefe, 65. A . a . O . , 63, Epigramme Der T r a u m Ebda. Zäzilie, VI,

und Sprüche, 25, 1898. 1895. und Sprüche, 159, undatiert. der M a g d , VI, 61. 62.

Die Welt des H u m o r s

84

— so ist auch dieses, immer wieder, jedesmal — komisch, denn Sauberkeit ist nicht zwar ihre Stärke, doch Ordnung, Ordnung ist ihr eingeboren. 5 * "Ce n'est plus de la vie, c'est de l'automatisme installé dans la vie et imitant la vie. C'est du comique."* 0 Putzt Zäzilie Fenster — "Durch meine Fenster muß m a n " , spricht die Frau, "so durchsehn können, daß man nicht genau erkennen kann, ob dieser Fenster Glas Glas oder bloße Luft ist. Merk dir das." 6 1 — löst Zäzilie die gestellte Aufgabe auf nun schon fast vorhersehbare Art und schlägt die Fenster allesamt entzwei!*2 Der König lächelt und wird ihr souverän verzeihen. Zusammengefaßt wird Zäziliens "Unten"-Rolle in der Galgenliederwelt durch ihren Gegensatz zu " L o r e " , Palma Runkels Papagei. "Das klügste Tier, das man je zum Kauf empfahl", ist Palma sehr ähnlich: Es "spekuliert nicht auf Applaus", 8 3 behält seine zahllosen Worte für sich, doch urteilt es streng: Zäzilie wird von " L o r e " nicht geliebt, was manchen ernsten Zwischenfall ergibt. Denn diese spürt in Gegenwart der Dirne zu stark den krassen Gegensatz der Hirne. Man trifft vielleicht das Rechte, wenn man sagt: Das ganze Leben dieser guten Magd mag kaum so viel in puncto Scharfsinn taugen als Ein Kalkül aus " L o r e s " grauen Augen. 64 Überlegen mag der Humor sich dieser " D i r n e " widmen: Sie ist nicht scharfsinning, zertrümmert sinnlos Fensterglas, ist nicht verschwiegen, sie schwätzt von ihren Träumen. Ihr ganzes Leben schließlich taugt nicht viel; automatisch, mechanisch ist ihr Verhalten. Der Eindruck aber, der Humor Morgensterns mache es sich leicht, indem er sich eines billigen Überlegenheitsgefühls gegenüber einer Magd 59 60 61 62 63 64

Ebda. Bergson, 402. Zäzilie, VI, 63. Ebda. Der Papagei, VIII, 88. Gegensätze, VIII, 90.

Souveränität

85

bediene, soll sogleich verhindert werden. Seine "Souveränität" dokumentiert sich in den Galgenliedern auch gegenüber einem Personentypus, der eher am entgegengesetzten Ende des sozialen RespektabilitätsSpektrums zu finden ist, dem "Professor". Warum ist der Professor komisch? Er ist eitel. Und souveräner Humor fühlt sich dieser Eitelkeit überlegen. Wichtig ist dem Professor der Ruhm der Wissenschaft, wichtiger als die neue Erkenntnis selbst. Seine Arbeit darf unsinnig-unwichtig sein, macht sie ihn nur bekannt. Der Professor erfindet einen neuen Vokal und verleiht ihm den eigenen Namen: "August-Ulich-Vokal". 6 5 Sein Ziel ist erreicht: "Unsterblich werden Sie leben, solang es Menschenmund und Menschenwitz wird geben auf diesem Erdenrund." 6 6 Der Professor besitzt nur ein kleines beschränktes Gesichtsfeld. Über den niedrigen Horizont seines Spezialistentums blickt er nicht mehr hinaus. Dem Wortspiel mit "Elster", dem Fluß, und "Elster", dem Vogel — mit souveräner Leichtigkeit kann sich ein Fluß in einen Vogel verwandeln —, weiß der zuständige Spezialist, der Ichthyologe Berthold Schrauben, nur mit einer schwerfälligen Frage zu begegnen: " W o nämlich", fragt er, "bleibt die Stelle der Fischwelt obbenannter Quelle?" 6 7 Der Professor arbeitet in einer großen UnVerhältnismäßigkeit von Mittel und Zweck. Seine groß angelegten Forschungsprojekte produzieren geringen Effekt. In einer von zwölf Experten überwachten Versuchsanordnung sollen Erkenntnisse über den "Schlaf vor Mitternacht" gewonnen werden. Ergebnis: Die Versuchsperson — Palmström — wacht munter auf, ein Dutzend Experten ist müde. 6 8 Der Professor ist weltfremd. Über einer Phantasmagorie, die allen die Sprache verschlägt, verliert der Professor nicht die gewohnte akademische Eloquenz. Nicht "Unglaublich!" ruft er fassungslos aus oder flüstert es, die Augen vor Entsetzen starr, er resümiert korrekt: "Das w a r " , spricht der Professor Stein, "ein unerhörtes Erlebnis!" 65 66 67 68 69

Der neue Vokal, VI, 152. Ebda. Anfrage, VIII, 110. Der vorgeschlafene Heilschlaf, VIII, 10. Der Gaul, VI, 72.

86

Die Welt des H u m o r s

Überlegen wendet sich der Galgenlieder-Humor schließlich auch noch dem Titel " P r o f e s s o r " zu. Geschenkt kann man ihn bekommen, und will man, dann auch mit einem " K r e u z für K u n s t " . Und man nehme ihn an, es ist praktisch, (...) denn man versteht: als Professor gilt erst ein Prophet. 7 0 Fazit: An den Beispielen der " M a g d " und des " P r o f e s s o r s " konnte gezeigt werden, daß auch für den Morgensternschen GalgenliederH u m o r das Souveränitätsmoment der Überlegenheit eine Rolle spielt. Ein dritter Aspekt der Souveränität: Nachdem aus dem Gewinn von Abstand und Unabhängigkeit mit dem Gefühl der Überlegenheit eine eher " s u b j e k t i v e " Folgerung gezogen wurde, sollen nun die damit verbundenen " o b j e k t i v e n " Veränderungen betrachtet werden. Wie verändert sich das Bild der Welt, betrachtet man sie einmal aus einer größeren Entfernung, aus der Vogel-, Wind- und Wurzelperspektive? Der Humorist, der solches tut, sieht mehr mit einem Blick. Im gleichen Maße, wie die Dinge für ihn schrumpfen, rücken sie auch zusammen. Der Humorist sieht in der Vielfalt die Einheit. " E r kennt aus dem G a n z e n . " 7 1 H u m o r ist ein " W e l t u m f a s s e r " . 7 2 Der Gedanke Morgensterns, H u m o r sei "die Betrachtungsweise des Endlichen vom Standpunkte des Unendlichen", 7 3 führt dieses Moment der Souveränität folgerichtig zu seinem idealisierten Ende. Ein zweiter Schritt schließt sich an. Im gleichen Maße, wie die Dinge zusammenrücken, zu einer Einheit sich integrieren, wird nicht mehr nach Wert und Wichtigkeit der einzelnen Teile differenziert. Die Hierarchie der Dinge wird hinfällig. Denn " i m Ganzen hat auch das Kleine seinen Ort und seine Notwendigkeit". 7 4 Vom souveränen Standpunkt des H u m o r s aus betrachtet sind Groß und Klein, Wichtiges und Unwichtiges, Wertvolles und Wertloses nun gleichberechtigte Partner, denn fehlt das Geringste, bleibt auch das Ganze unvollständig. Morgensterns Galgenlieder bauen auf diesem Weltbild auf. In ihrer Welt der Freiheit — selbst das Unmögliche wird wirklich — wahrt der Humor die Gleichberechtigung der Dinge.

70 71 72 73 74

Professor P a l m s t r ö m , VIII, 63. Lützeler, 1966, 34. Epigramme und Sprüche, 159, undatiert. Stufen, 37, 1906. Lützeler, 1966, 34.

Souveränität

87

Die Unterhose Heilig ist die Unterhose, wenn sie sich in Sonn' und Wind, frei von ihrem Alltagslose, auf ihr wahres Selbst besinnt. Fröhlich ledig der Blamage steter Souterränität, wirkt am Seil sie als Staffage, wie ein Segel leicht gebläht. Keinen Tropus ihr zum Ruhme spart des Malers Kompetenz, preist sie seine treuste Blume Sommer, Winter, Herbst und Lenz. 7 5 Untersuchen wir also die neue Betrachtungsweise der Dinge, die sich aus dem Abstand der Souveränität ergibt, an einer Unterhose. Die Leitfrage soll lauten: Wie unterscheidet sich eine weiße Männer-Unterhose, auf die der Humor seinen Blick richtet — eine Galgenliederunterhose also —, von ihrem Pendant, das der Humorlosigkeit ausgeliefert bleibt, der Alltagsunterhose? Die Alltagsunterhose ist p r o f a n , ruft eher Peinlichkeit als Stolz hervor. Sie existiert in der Verborgenheit, und verborgen möchte ihr Besitzer sie auch halten, denn sie gehört in den Bereich, den dieser als " i n t i m " bezeichnet. Ihr Dasein ist ausschließlich funktional bestimmt, Ästhetik wird ihr vorenthalten (es handelt sich um eine weiße Männerunterhose). Die Alltagsunterhose ist eine Mauerblume. Sie findet nur dann Beachtung, wenn sie schmutzig genug ist, um ausgetauscht zu werden, oder kratzt oder kneift. Austauschbar ist sie jederzeit, als "Individ u u m " wertlos. Anders die Galgenliederunterhose. Befreit von ihrem funktionalen Alltagsleben, emanzipiert von allen Überhosen, tritt sie aus der Dunkelheit in das Licht der Öffentlichkeit. In Sonn' und Wind o f f e n b a r t sich ihre Individualität, erscheint ihr "wahres Selbst". Wichtig und wertvoll ist das wahre Selbst der Galgenliederunterhose, so wichtig und wertvoll, daß man durch ein Gedicht es adelt, daß m a n die Unterhose in den Stand der Pöesie-Motive erhebt, gemeinsam mit dem Butterbrotpapier, weil auch das "unersetzlich" ist, 7 9 gemeinsam mit dem Buch in "seiner M a j e s t ä t " . 7 7 Die Galgenliederunterhose ist ästhetisch. Metaphern und Vergleiche fordert sie heraus. Sie ist die "treuste B l u m e " , ist "wie ein 75 V I I I . 134. 7 6 D a s B u t t e r b r o t p a p i e r , V I I I , 119. 77 D a s B u c h , V I I I , 144.

88

Die Welt des Humors

Segel leicht gebläht", so wie ein Hemd wie ein weinendes Kind, 7 8 ein Butterbrotpapier wie ein Schmetterling i s t . 7 ' An literatischen Mitteln, ihre Wichtigkeit und ihren Wert zu rühmen, wird es nicht fehlen. Schließlich ein besonders auffälliges Merkmal, in dem sich Alltagsunterhose und Galgenliederunterhose unterscheiden: Die Galgenliederunterhose besitzt als gleichberechtigter Bestandteil des Weltganzen einen eigenen Wert, eine eigene Wichtigkeit. Von den anderen Bestandteilen des Weltganzen unterscheidet sie sich durch ihre neugewonnene eigene Individualität, ihr eigenes "wahres S e l b s t " . Warum, so läßt sich im sicheren Abstand des souveränen Humors spekulieren, soll sie nicht auch eine eigene " S e e l e " besitzen? Und verallgemeinert: Warum sollen Gegenstände, wenn ihnen eine solche Bedeutung, ein solches Gewicht verliehen wird, wenn sie selbst gegenüber Mensch und Tier eine gleichberechtigte Stellung gewinnen, nicht auch wie diese " l e b e n " ? Der menschliche Geist, der das "wahre Selbst" der Dinge niemals erkennen wird, kann darüber spekulieren. Der souveräne Humor Christian Morgensterns gelangt in den Galgenliedern zu dem Schluß, daß Dinge — tatsächlich — in ihrem wahren Selbst " l e b e n " . Was die Alltagsunterhose nicht kann, die Galgenliederunterhose denkt nach, " b e s i n n t " sich, kennt Emotionen, Fröhlichkeit und Niedergeschlagenheit und Treue. " H e i l i g " ist die Unterhose und beseelt und damit in der Galgenliederwelt kein Sonderfall. Die Animation der Dinge ist hier Selbstverständlichkeit. Schaukelstuhle fühlen sich einsam 8 0 und Würfel unzufrieden, 81 Tapetenblumen rezitieren, 8 2 Korbstühle flüstern, 8 3 Läufer, Kissen und Plumeaus j a m m e r n , 8 4 und Hemden weinen, 8 5 Westen leben in Süditalien, 8 9 bescheiden und fleißig bleiben die Schuhe, 8 7 Flaschen wollen heiraten 8 8 und Korken sich spiegeln, 8 9 und während Fräcke, Hosen, Kleider wan-

78 Das Hemmed, V I , 31. Kleidungsstücke profitieren in besonderem Maße von der neuen Gleichberechtigung. Auch von Westen ( V I , 53 und 166), Röcken ( V I , 166 und V I I I , 43), Schuhen ( V I I I , 130), F r ä c k e n , Hosen, Kleidern ( V I , 165) und Spitzenblusen ( V I , 167) singen die Galgenlieder. 7 9 Das Brutterbrotpapier, V I I I , 118. 8 0 Der Schaukelstuhl, V I , 4 2 . 81 Der Würfel, V I , 51. 82 Tapetenblume, V I , 9 5 . 83 Der Korbstuhl, V I I I , 133. 84 Mägde am S o n n a b e n d , V I , 158. 85 Das Hemmed, V I , 31. 86 Die Weste, V I , 53. 87 Die Schuhe, V I I I , 130. 88 Die beiden Flaschen, V I , 4 9 . 89 Das Lied vom blonden Korken, V I , 50.

Liebe 90

89 1

dein, schreiten, sitzen, ruhen und das Butterbrotpapier friert,' ruht der Rock sich schweigend aus. 9 2 Am Beispiel des frierenden Butterbrotpapiers gelingen Morgenstern Nachweis und Begründung des dinglichen Denkens. Also: Die Bestandteile der Hirnsubstanz eines Butterbrotpapiers sind Holz, Eiweiß, Mehl und Schmer. Der Schock, den Schnee und Kälte ihm versetzen, lassen das Butterbrotpapier einige Sprossen der Evolutionsleiter Uberspringen, die "sonst üblichen Weltalter", so daß die Denkfunktionen unmittelbar einsetzen. 93 Wie und warum die Galgenliederunterhose zu denken begann, wird nicht mitgeteilt. Maria Achatzi faßt 1932 zusammen: Einem Dichter solcher Gedichte " m u ß eine gewisse Gelassenheit eigen sein, er muß von einer höheren Warte aus das Treiben der Welt überblicken, erkennen, daß die Erde nur ein Sandkorn in der Unendlichkeit des Alls ist." 9 4 Und sie fügt hinzu: Er " m u ß seine Liebe und sein Helfen ausgießen können, wie die Sonne ihr Licht, über Gut und Böse." 9 S

2. LIEBE Wie hab ich die Welt so lieb. 96 Als zweite Bestimmung des Morgenstemschen Humors soll also die "Liebe" betrachtet werden. 97 Mit der "Souveränität" steht sie in einem merkwürdigen Zusammenhang. Einerseits widerspricht ihr ein mit Überlegenheit verbundener Abstand, andererseits aber ermöglicht dieser Abstand erst jene besondere Art der Liebe, die den Humor des Galgenliederdichters auszeichnet. Man wird sehen können, daß Souveränität und Liebe sich in ihm ergänzen. Christian Morgenstern über die "Liebe", eine Chronologie: 1895: Ich möchte allen Pferden Zucker geben, allen Kindern die Hand aufs Haupt legen, allen Menschen eine Freude machen dürfen. Wie hab ich die Welt so lieb. 98 90 91 92 93 94 95 96 97

Ein modernes Märchen, VI, 165. Das Butterbrotpapier, VIII, 117. Der Rock, VIII, 43. Das Butterbrotpapier, VIII, 117. Achatzi, 45. Ebda. Vgl. auch Glatz, 46. Stufen, 13, 1895. Von " L i e b e " wird hier gesprochen — nicht von "Zuneigung", " W ä r m e " , "Humanit ä t " oder ähnichem Nachbarbegriffen — weil Morgenstern selbst ihr den terminologischen Vorzug gibt. 98 Stufen, 13.

90

Die Welt des H u m o r s

1896: Was ist ein Leben? daß es die Tiefen erschöpfen könnte. Als Knabe glaubte ich: Leben könne nicht weniger sein, als alles erleben, also ewig lieben 1906: Ihr macht mir aus meiner gleichmäßigen Höflichkeit gegen alle einen Vorwurf. Aber was wollt ihr! Es gibt gewiß gar nicht so viele, denen es leicht fällt, die Menschen zu lieben. Nun, mir fällt es zuweilen leicht: Warum sollte ich da gewaltsam unfreundlich zu ihnen sein? Ich finde an jedem etwas, was mir Sympathie oder doch Interesse abnötigt; und würde nicht mein Gefühl vom Einssein mit allem eine Lüge sein, wenn ich irgendeinem Mitmenschen gegenüber völlig kalt bleiben könnte? 1 0 0 1907: Wenn ich das Gegenwärtige nicht so liebte, wenn ich diese Liebe nicht hätte wie einen großen und sicheren Fallschirm, ich wäre längst ins Bodenlose gefallen. 101 1908: Ihr meßt jedem sein Maß Liebe zu: dem drei Viertel, dem zwei Viertel, dem ein Viertel, dem nichts. Davon verstehe ich nichts . 1 0 2 1908: Das sind die zwei Blumen des Lebens: Das Schaffen und die Liebe. Und nie wird wohl jemand ergründen, ob Gott sich als Welt schafft um der Liebe willen, oder ob er liebt um des Schaffens willen. 103 1908: Nur wer den Menschen liebt, wird ihn verstehn, wer ihn verachtet, ihn nicht einmal — sehn. 1 0 4 1914: Ich habe den MENSCHEN gesehn in seiner tiefsten Gestalt, ich kenne die Welt bis auf den Grundgehalt. Ich weiß, daß Liebe, Liebe ihr tiefster Sinn, und daß ich da, um immer mehr zu lieben, bin. 1 0 5 Morgensterns " L i e b e " — das verdeutlicht die Chronologie — war kein temporärer, kein an- und abgelegter Habitus, sondern eine Grundhaltung dem Leben gegenüber, die sich wenigstens zwei Jahrzehnte lang und über die gesamte Periode seines literarischen Schaffens hinweg erhielt. Welcher Art diese " L i e b e " war und blieb, wird ebenfalls deutlich: Ihre Quelle ist das Gefühl vom "Einssein" mit allem. "Alles" und 99 A . a . O . , 16. lOOA.a.O., 33 f. 101 A . a . O . , 40. 1 0 2 A . a , 0 . , 44. 103 A . a . O . , 175. 104Epigramme und Sprüche, 116. 105 Wir fanden einen P f a d , 47.

Liebe

91

"Lieben " gehören nicht nur 1896 im Kursivdruck zusammen. 106 Und alle Verhaltensweisen Morgensterns — sei es das persönliche Erleben, die Höflichkeit oder die Freude, die man den anderen bereitet, Kindern oder Pferden — folgen aus diesem Zusammenhang. Auch " s c h a f f e n " heißt "lieben", und "verstehen" heißt "lieben", denn Liebe, Liebe ist der tiefste Sinn der Welt. Die Sicht des Ganzen, die der Abstand der Souveränität ermöglicht, erfüllt Morgenstern mit allumfassender Liebe, mit jener "herzlichen, ja kindlichen Liebe", ohne die auch Humor nicht denkbar für ihn ist. 107 Und so ist sie auch gegenwärtig in der Welt der Galgenlieder, der Welt seines Humors. Aus diesem Grunde trifft auch eine Komik-Bestimmung Bergsons auf diese Welt nicht zu: " L e comique exige donc enfin, pour produire tout son effet, quelque chose comme une anestésie momentanée du coeur. Il s'adresse à l'intelligence pure." 1 0 8 Die zwei Zeilen Palmström sagt sich: Überall ist Liebe! Und er ist von Herzen froh... 1 0 9 entstammen keinem Gedicht der bekannten Galgenlieder weit. Derart pointierte Verse über die Liebe finden sich dort nicht. Es ist ein Fragment aus den Taschenbüchern, das Bauer zuerst veröffentlichte. In der Galgenliederwelt selbst muß man sich auf die Suche nach einer unausgesprochenen Liebe begeben. Da sie "alles", die ganze Welt umfaßt, alle Menschen, alle Tiere und — ihnen gleichberechtigt — alle Dinge, wähle ich für eine kleine Untersuchung der Galgenliederliebe, stellvertretend für dieses "alles", eine der Gruppen aus: die Tiere. EINE TIEFE GALGENLIEDERLIEBE "Ganze Weltalter voll Liebe werden notwendig sein, um den Tieren ihre Dienste und Verdienste an uns zu vergellen." 110 Versuch einer Interpretation von " I m Tierkostüm": Im Tierkostüm Palmström liebt es, Tiere nachzuahmen, und erzieht zwei junge Schneider lediglich auf Tierkostüme. 1 0 6 " D e r große Humorist liebt die Welt trotz a l l e m " , (Lützeler, 1966, 34) hätte Morgenstern wahrscheinlich nicht formuliert, sondern eher: er liebt sie gerade wegen allen,. 107 S t u f e n , 39, 1906. 108 Bergson, 389. 109Zuletzt (Fragment), VIII, 80 und Bauer, 1933, 231. 1 lOStufen, 166, 1911.

Die Welt des Humors

92

So z.B. hockt er gern als Rabe auf dem obersten Aste einer Eiche und beobachtet den Himmel. Häufig auch als Bernhardiner legt er zottigen Kopf auf tapfere P f o t e n , bellt im Schlaf und träumt gerettete Wanderer. Oder spinnt ein Netz in seinem Garten aus Spagat und sitzt als eine Spinne tagelang in dessen Mitte. Oder schwimmt, ein glotzgeäugter Karpfen, rund um die Fontäne seines Teiches und erlaubt den Kindern ihn zu füttern. Oder hängt sich im Kostüm des Storches unter eines Luftschiffs Gondel und verreist so nach Ägypten. 1 1 1 Nur wieder einmal eine Marotte Palmströms, hinzunehmen, und nicht weiter bedenkenswert? Palmström ein einfacher Tierimitator? Offensichtlich spekuliert er auf keine Öffentlichkeit. Niemand schaut zu. Nur Kindern erlaubt er einmal, ihn als Karpfen zu füttern, und auch für diese wird er eben nur Fisch sein, kein Fischimitator. Auch dieses "Feinste bleibt — p r i v a t " . 1 1 2 Und so privat wie ernsthaft werden auch die Gründe sein, aus denen Palmström es liebt, verschiedene Tiere nachzuahmen. Plamström liebt Tiere wie Morgenstern. Er fängt eine Maus etwa so: setzt sich in einen Käfig und musiziert des Nachts auf einer Geige, bis die Maus zu ihm hereinspaziert. Hinter ihr, geheimer Weise, fällt die P f o r t e leicht und leise. 113 Tags darauf transportiert Korf den Käfig samt Palmström und Maus mit einem Möbelwagen in den Wald. Dort spaziert die Maus heraus und dann Palmström, nach der Maus. 1 1 4 Und "glückverklärt" kehrt Palmström nach Hause zurück. Um das Frösteln der Spatzen abzuschaffen, gründet Palmström eine Mäntelfabrik. 1 1 5 i n VIII, 24. 112Die Wissenschaft, VIII, 23. 113Die Mausefalle, VIII, 32. 114Ebda. 1151m Winterkurort, VIII, 34.

Liebe

93

Die eben Spatzenmäntel produziert. Palmström liebt Tiere wie Morgenstern, weil auch er an die Zusammengehörigkeit von Mensch und Tier in einem Ganzen glaubt. Das Tier ist ein "Halbbruder Tier", 1 1 8 ist "mein Bruder, mein Geschwister Tier". 1 1 7 Das Tier ist Vorfahre, Vorläufer in der Evolution der Natur und damit vom Ursprung her eins mit dem Menschen. 118 Der letzte Vers des Gedichtes "Mensch und Tier" lautet: Und meine Seele wurde eins mit ihnen. 119 Der Tierfreund Morgenstern bekämpft die Vivisektoren, 120 trauert über den Tod eines Seehundes, 121 bedauert den vom Herrn verlassenen Hund 1 2 2 und gesteht reuig: "Ich habe diesen Herbst mit Übeltäten angefangen. Ich habe an zwei heißen Septembertagen fünf oder sechs Wespen getötet (...). Das war ganz gegen meine Gewohnheit." 1 2 3 Die Tierfreunde Palmström und Morgenstern können Tieren nicht böse sein. Stören sie, wird der Ärger aufgefangen in Nachdenklichkeit oder Humor, Morgenstern dichtet: An eine Fliege " D u bist zu oft der wundersame Trost von Eingekerkerten gewesen", so denk ich, wenn dein Treiben mich erbost. 124 Palmström an eine Nachtigall, die ihn nicht schlafen ließ: "Möchtest du dich nicht in einen Fisch verwandeln und gesanglich dementsprechend handeln"? 1 2 5 Um Bruder und Geschwister Tier näherzukommen, um erleben, verstehen, nachvollziehen zu können, um zu bewundern und zu verzeihen, möchte Palmström in die Rolle verschiedener Tiere schlüpfen und engagiert darum zwei Tierkostümschneider. Palmström liebt es, Tiere nachzuahmen, und offenbar geht er dieser Liebe oft und vielseitigabwechslungsreich nach. Das Galgenlied kann davon nur auszugsweise berichten: " S o z.B. ... häufig auch ... oder ... o d e r . . . "Rabe, Bernhardiner, Spinne, Karpfen und Storch sind nur fünf Fälle aus Palmströms ll6Epigramme und Sprüche, 165, undatiert. 117An die Tiere, Ich und Du, 72. 118 Wir fanden einen Pfad, 53. 119Mensch Wanderer, 110, 1903. 120Epigramme und Sprüche, 84, 1906 und 135, 1911. 121 Stufen, 54, 1905. 122Nachtbild, VI, 86. 123 Stufen, 42, 1907. 124 Epigramme und Sprüche, 134, 1911. 125 VIII, 34.

94

Die Welt des H u m o r s

u m f a n g r e i c h e r Verkleidungstätigkeit. Der Leser, der die Galgenliederwelt betritt, hat a u f der H u t zu sein, wenn er dort Tieren begegnet. D r o s c h k e n g a u l m a g D r o s c h k e n g a u l sein, 1 2 6 Polizeipferd Polizeip f e r d . 1 2 7 Vielleicht aber hatte a u c h P a l m s t r ö m zwei P f e r d e k o s t ü m e in A u f t r a g gegeben. Der Leser k a n n dieser Ungewißheit nicht entgehen, er m u ß sich mit ihr a b f i n d e n u n d mit den Kindern den K a r p f e n f ü t t e r n . H a r m l o s sitzt P a l m s t r ö m jetzt als R a b e in einer Eiche u n d beobachtet den H i m m e l . W a r a b e r j e n e r R a b e , den sie " R a l f " n a n n t e n , vielleicht nicht a u c h schon ein kostümierter P a l m s t r ö m ? Rief P a l m s t r ö m " K r a ! D a s E n d ist d a ! Das E n d ist d a ! " 1 2 8 Half er sich allein a m R a b e n s t e i n , 1 2 9 o d e r saß er auf einem Meilenstein " u n d rief Ka-em-zwei-ein, K a - e m - z w e i - e i n " ? 1 3 0 O h n e die Frage zu entscheiden — die schaurig-gruselige A t m o s p h ä r e des G a l g e n b e r g s widerspricht natürlich d e m heiteren Naturell P a l m s t r ö m s —, k a n n d o c h eines festgestellt w e r d e n : Die in " a l l e n " Galgenliedern, von den " e i g e n t l i c h e n " bis zu " P a l m s t r ö m " , mitgeteilten Berichte über die Tierwelt zeugen von einer " i n t i m e n " Kenntnis der Materie, wie sie nur ein Insider erlangen k a n n , jem a n d , der sich u n e r k a n n t und u n b e m e r k t unter die Tiere mischt, perfekt getarnt — in einem T i e r k o s t ü m . " I m T i e r k o s t ü m " ist ein Schlüsselgedicht f ü r das Verständnis der Inf o r m a t i o n e n aus der Galgenliederwelt. Im T i e r k o s t ü m läßt sich sogar etwas lernen, das dem gewöhnlichen, u n k o s t ü m i e r t e n Menschen ein Rätsel bleibt: die Sprache der Tiere. Als B e r n h a r d i n e r verkleidet lernt m a n bald die H u n d e s p r a c h e . Morgensterns eigener E r k e n n t n i s s t a n d 1906: Gebell eines " A c h t u n g " - H u n d e s : Nervosität d u r c h Geschrei von Kindern A r g w o h n , es k ö n n e auf ihn gemünzt sein ( m o n o m a n ) Gefahr! (Furcht, Wut, Anspannung) B e s c h i m p f u n g (da nichts erfolgt) Selbstgerechter Ärger (mehr m o n o l o g i s c h ) Mitteilungsgefühl ( K l a t s c h b e d ü r f n i s ) (er teilt die Sache der Außenwelt mit) Q u i t t u n g e n über vieles

126Der 127Das 128Der 129Der 130KM

Droschkengaul, VIII, 102. Polizeipferd, VIII, 64. Zwölf-Elf, VI, 23. Rabe Ralf, VI, 28. 21, VI, 79.

Liebe

Rivalität -i mjt Solidarität J G r u n d l o s e r Unwille

a n d e r e n

95

Hunden

K a t z e n j a m m e r , der sich zu b e t ä u b e n s u c h t . 1 3 1 Das Galgenlied " D e r K a t e r " liefert die Ü b e r s e t z u n g eines Satzes der H u n d e s p r a c h e in eine M i s c h u n g aus Latein u n d N e u h o c h d e u t s c h ; " P a x v o b i s c u m , f r e u n d l i c h e r G e f ä h r t e . " 1 3 2 Neben Ü b e r s e t z u n g e n kürzerer F r a g m e n t e aus der W a l f i s c h s p r a c h e 1 3 3 u n d der Eselsprache — " I c h bin so d u m m , d u bist so d u m m , wir wollen sterben gehen, k u m m ! " 1 3 4 — widmet sich M o r g e n s t e r n vor allem der P f e r d e s p r a c h e . Nicht nur der G a u l des Tischlers Bartels stellt sich mit zwei Sätzen v o r , 1 3 5 vollständig erhalten sind überdies zwei P f e r d e g e s ä n g e : " D e r D r o s c h k e n g a u l " — Ich bin zwar n u r ein D r o s c h k e n g a u l , — d o c h philosophisch r e g s a m . . . 1 3 6 — und "Droschkengauls Jännermeditation" — " I c h stoße D a m p f a u s H a u t u n d Nase — der Frost entwickelt meine G a s e . . . " 1 3 7 Überliefert sind ferner ein Bericht von der Beichte eines W u r m s — Es lebt in einer Muschel ein W u r m gar seltner A r t ; der hat mir mit Getuschel sein Herze o f f e n b a r t . . . 1 3 8 — , die A u t o b i o g r a p h i e einer Schildkröte: " I c h bin n u n t a u s e n d J a h r e alt ich werde täglich älter; der G o t e n k ö n i g T h e o b a l d erzog mich im B e h ä l t e r . . . 1 3 9

131 S t u f e n , 56 f., 1906. 132Der Kater, VIII, 89. 133Die Westküsten, VI, 57. 134Die beiden Esel, VI, 93. 135Der Gaul, VI, 71. 136 VIII, 102. 137 VIII, 104. 138Die Beichte des W u r m s , VI, 43. 139Die Schildkrökröte, VI, 89.

96

Die Welt des Humors

sowie das dialektale Selbstgespräch einer Schnecke: Soll i aus meim Hause raus? Soll i aus meim Haus nit raus?... 140 Nicht zu vergessen die unübersetzte Version eines FischNachtgesanges,141 die auch Palmström im Karpfenkostüm kennengelernt haben wird. 142 Zwischenbilanz: Der Dichter der Galgenlieder ist ein großer Freund und Kenner def Tierwelt. Nicht nur, daß er genau zu beobachten und zu analysieren weiß: "Es ist ergötzlich zu beobachten, wie Wespen und Ameisen von der Zudringlichkeit und Dickfelligkeit der Fliegen genau so wie wir Menschen gestört und irritiert werden." 143 "Die Fliegen, diese Spatzen unter den Insekten." 144 Über seinen Horchposten Palmström, der mit der Hilfe zweier Schneider eine Methode erfand, sich unerkannt unter alle Tierarten zu mischen, erreichen ihn überdies FaunaInformationen, die dem "normalen" Menschen in der Regel vorenthalten bleiben. Eine letzte Frage soll sich endlich daran anschließen. Zu welchen Bewertungen "des Tieres" gelangt Morstenstern aufgrund all dieser Beobachtungen und Informationen? Die besondere Art der humoristischen Behandlung des Tieres durch den Galgenliederdichter wird hier noch einmal deutlich werden können. Morgenstern schätzt, bewundert, ja verehrt das Tier. Eine Henne mit ihren Küken rückt für ihn "unter — Sternbilder". 149 "Eine schöne stattliche weiße Kuh mit geschwungenen Hörnern und einer großen sonoren Glocke — das ist schon ein Symbol für den Gottesdienst eines Volkes." 14 * Symbole auch Katze und Hund: In der Katze hast du Mißtrauen, Wollust und Egoismus, die drei Tugenden des Renaissance-Menschen nach Stendhal und anderen. Damit ist sie, ich möchte sagen, das konzentrierteste Tier. Der Hund dagegen ist gläubig, selbstlos und erotisch kulturlos. Unsere heutige Zivilisation nähert sich mehr der Stufe des Hundes. Das Christentum ist vornehmlich gegen die Katze gerichtet. 147

140Gespräch einer Hausschnecke mit sich selbst, VIII, 128. 141 Fisches Nachtgesang, VI, 29. 142Weitere Berichte aus dem Fischleben liefern im übrigen "Der Hecht" (VI, 91), "Der Salm" (VIII, 108) und "Zivilisatorisches" (VI, 147). 143 Stufen, 62, 1909. 144A.a.O., 58, 1907. 145A.a.O., 61, 1908. 146A.a.O., 62, 1908. 147A.a.O., 59, 1907.

Liebe

97

Kein dem Menschen unterlegenes Wesen ist das Tier. Seine Qualitäten sind groß. — "Die Selbstachtung einer Katze ist außerordentlich." 1 4 8 Es läßt sich sogar spekulieren: " M a n glaubt heut, der Mensch stamme vom Tiere ab. Wie aber, wenn umgekehrt die Tiere Ableger der Menschheit wären, zurückgebliebene Menschheit, voreilige, vorwitzige, und deshalb in einem zu frühen Zustand festgehaltene Menschheit?" 1 4 9 Kurzum, das Tier ist auch in der Welt der Galgenlieder keine Witzfigur, die leichter Komik dienen könnte. Es bleibt achtbar wie Palmström, Korf und Palma Kunkel selbst, bleibt ähnlich souverän, auch und gerade gegenüber Galgenliedermenschen. Starr vor Entsetzen reagiert die Steinsche Professorenfamilie auf den sprechenden Tischlergaul. Doch dieser bleibt gelassen. Der Gaul, da keiner ihn versteht, schnalzt bloß mal mit der Zunge, dann kehrt er still sich ab und geht die Treppe wieder hinunter. 1 5 0 Von Tieren läßt sich lernen. 1909 notiert sich Morgenstern eine Tierlektion in Ökologie: "Bemerke, wie die Tiere das Gras abrupfen. So groß ihre Mäuler auch sein mögen, sie tun der Pflanze selbst nie etwas zuleide, entwurzeln sie niemals. So handle auch der starke Mensch gegen alles, was Natur heißt..." 1 5 1 Auch Galgenliedertiere können Vorbilder sein. Galgenliedertiere gibt es viele. Abschließend hier das Register des Morgensternschen Galgenliedertierlebens (beschränkt auf bereits bekannte Tiere): Adler (VI, 17), Affe (VIII, 69), Ameise (VI, 54, 70), Ameisenbär (VI, 70), Auerochs (VI, 102), Bär (VI, 102), Bernhardiner (VIII, 24), Bock (VIII, 124, 134), Butt (VI, 128), Dachs (VI, 79), Dommel (VI, 22), Dromedar (VI, 68), Eichhörnchen (VI, 82), Elefant (VI, 65), Elster (VIII 109, 110, 112), Ente (VI, 85), Esel (VI, 93, 150), Eule (VI, 16, 18, 85, 87, 99; VIII, 131), Fisch (VI, 29, 91, 147, 168; VIII, 110, 112, 127, 158, 163), Fledermaus (VIII, 126), Fliege (VIII, 116), Floh (VIII, 135), Frosch (VI, 22, 176; VIII, 103), Fuchs (VIII, 124) Gans (VI, 78), Geierlamm (VIII, 101), Geiß (VI, 80), Gemse (VI, 70), Gürteltier (VI, 92), Hahn (VI, 136), Hai (VI, 147), Hammel (VIII, 113, 153), Hase (VI, 79, 174; VIII, 87, 97, 131), Hecht (VI, 91), Hering (VI, 147), Heuschrecke (VI, 54), Hirsch (VIII, 87, 124), Huhn (VI, 71, 73, 78; VIII, 98, 100, 122), Hummel (VI, 54), Hund (VI, 22, 46, 86, 92; VIII, 88, 90, 91, 104, 121, 148), Hyäne (VI, 47), Igel (VI, 75, 85; VIII, 103), Jaguar (VI, 102), Kalb (VI, 47; VIII, 148 Ebda. 149A.a.O., 295, 1911. 150 Der Gaul, VI, 72. 151 Stufen, 164.

98

Die Welt des H u m o r s

94), Känguruh (VIII, 120), Karpfen (VIII, 24), Kater (VIII, 89), Kauz (VI, 16, 92; VIII, 87), Krähe (VIII, 109), Kröte (VI, 84), Lämmergeier (VIII, 101), Locktauber (VI, 102), Löwe (VI, 85; VIII 97, 125, 139), Maikäufer (VI, 102), M a m m u t (VIII, 50), Mandrill (VI, 102), Maulwurf (VI, 22), Maus (VI, 22, 45, 92; VIII, 32, 43, 94, 105, 124), Molch (VI, 128, 147), Mops (VI, 85; VIII 101), Mücke (VI, 54; VIII, 50), Muli (VI, 102), Muschel (VI, 43), Nachtigall (VIII, 34), Nerz (VI, 102), Nilpferd (VIII, 119), Ohrenbläser (VI, 54), Ochse (VIII, 125, 153), Papagei (VI, 129; VIII, 69, 88, 89, 90), Pferd (VI, 16, 18, 45, 71, 84, 99; VIII 33, 64, 102, 104, 136), Pintscher (VI, 85), Polarfuchs (VIII, 9), Polyp (VI, 147), Pony (VI, 85, 102), Pudel (VI, 73; VIII, 89), Rabe (VI, 23, 28, 79; VIII, 24), Reh (VI, 19, 92, 125; VIII, 97, 124), Robbenbär (VI, 102), Salm (VIII, 108), Schaf (VI, 22, 24, 26, 27, 101; VIII, 146), Schildkröte (VI, 89), Schnecke (VI, 22, 92; VIII, 128), Schwan (VI, 85), Schwein (VI, 79, 92; VIII, 98), Seekuh (VIII, 129), Spatz (VI, 85; VIII, 34, 58, 120), Specht (VIII, 118), Spinne (VI, 16; VIII, 24), Stachelschwein (VI, 67), Stier (VI, 85), Storch (VIII, 24, 103), Taube (VI, 143), Tausendfüßler (VI, 54), Tintenfisch (VI, 56), Uhu (VI, 78, 90), Unke (VI, 16, 84, 85), Vogel (VI, 85; VIII, 158, 163), Walfisch (VI, 57, 87, 147), Wespenbär (VI, 102), Wiesel (VI, 41), Wildschwein (VIII, 123, 124), W u r m (VI, 18. 43, 54, 85, 100, 177), Zebra (VI, 102), Zehenbär (VI, 102). EIN N A C H T R A G Z U M T H E M A " L I E B E " Nicht unerwähnt bleiben darf die Rolle, welche die Liebe zwischen Mann und Frau in der Welt der Galgenlieder spielt: keine. Ein Grund d a f ü r ist sicherlich darin zu suchen, daß eine männlichweibliche Liebesbeziehung nur schwer mit jener Souveränität, Überlegenheit und Distanz vereinbar ist, die den H u m o r auszeichnen (im Unterschied zu einer " L i e b e " als Weltsicht, die einem Gefühl der Ganzheit und Einheit entsprang). Es sei denn, der H u m o r nimmt sich des Themas in ironischer (souveräner, überlegener, distanzierter) Weise an, ein einziges Mal so geschehen im Galgenlied " L i e b ohne W o r t e " , einer Parodie überschwenglich-schwülstiger Liebeslyrik: Mich erfüllt Liebestoben zu dir! ich bin deinst, als ob einst wir vereinigst... 1 5 2 Oder er behandelt es in einer naiv-harmlosen Sphäre. Aber auch dort entstehen lediglich drei Galgenlieder: " D e r S e u f z e r " 1 5 3 , der auf Schlitt152 VI, 110. 153 VI, 38.

Liebe

99

schuhen glühend an sein Maidelein dachte und dabei ertrank. "Bim, Bam, Bum" 1 5 4 , eine Glockentonliebesaffäre, in der Bim Barn mit Bum betrügt, und schließlich "Die beiden Flaschen" 155 , die sich liebten und doch nicht heiraten konnten. Weder Korf noch Palmström noch Palma Kunkel verlieben sich. Die Galgenliederwelt bleibt bestimmt von der Männerfreundschaft der beiden Helden, von Frauen ungestört und ungefährdet. Parallelen im Leben Morgensterns brauchen nicht lange gesucht zu werden. Seit 1889 verband ihn eine ununterbrochene und tiefe Freundschaft mit Friedrich Kayssler. Liebe zu einer Frau fand erst der Siebenunddreißigjährige. "Der alte oft erprobte Fluch: Mein Typus Weib bleibt mir ewig verborgen", 1 5 6 verliert erst 1908 seine Wirkung, als Morgenstern Margareta Gosebruch von Liechtenstern kennenlernt. Im Jahr nach der Hochzeit schreibt er: "Ich darf wohl sagen: Die Entdeckung meines Mannesalters ist die Frau."™7 Wer die Liebesgedichte der 1898 erschienenen, im übrigen Fritz und Liese Kayssler gewidmeten Sammlung "Ich und die Welt" einmal liest, wird wahrscheinlich die Vermutung unterstützen, daß dem 27jährigen Morgenstern diese Entdeckung noch nicht gelungen war. Sie sind meiner Ansicht nach überwiegend von epigonaler selbstgefälligpathetischer Leere. 158 Morgenstern war ein Streiter gegen eine — in seinem Sinne — übersteigerte Sexualität. " Und immer wieder komme ich darauf zurück, daß die Bewertung der geschlechtlichen Liebe unter uns Heutigen eine krankhafte Höhe erreicht hat, von der wir durchaus wieder heruntersteigen müssen." 1 5 9 Denn — so zwei Jahre später — "man kann wohl sagen, daß das Geschlecht zwei Drittel aller möglichen Geistigkeit auffrißt". 1 6 0 So ist denn auch die gesamte Lyrik Morgensterns — gerade die Galgenlieder nicht ausgenommen — frei von jeglicher Erotik, für deren Fehlen in "Phanta's Schloß" er sich 1896 noch gegenüber dem Primaner Gauss meint entschuldigen zu müssen. 161 Eine "Casta Regina" besingt Morgenstern in einem der besagten "Ich und die Welt"-Gedichte": Wie oft zerriß ich der Leidenschaft schwüles Rosengerank 154VI, 39. 155 VI, 49. 156Stufen, 31, 1906. 1 5 7 A . a . O . , 51, 1911. 158Wie etwa " N u n hast auch d u . . . " (22), " E i n W u n s c h " (24), "Schicksal der L i e b e " (51). 159Stufen, 152, 1903; Kursivdruck von mir. 1 6 0 A . a . 0 . t 173, 1905. 161 Briefe, 88.

100

Die Welt des Humors

um Deinetwillen,

reines Weib,

und sang Dir, zartesten Glückes voll, Anbetung und Liebe! Dich, die, keusch in innerster Brust, ihrem Herzen sich wahrt, grüßt, Ehre bietend, mein Herz und fleht aus der Sonne der Z u k u n f t den goldenen Strahl Deiner Stirn... 1 6 2 Der Kommentar Gretchens auf den Annäherungsversuch des jungen Goethe: ' " N i c h t küssen!' sagte sie : das ist so was Gemeines; aber lieben wenn's möglich i s t " , 1 6 3 könnte von der Galgenlieder-Dame Palma Kunkel stammen.

3. G R U N D Z Ü G E E I N E R G A L G E N L I E D E R K O M I K

"Intelligent" und " h e i t e r " sind die Worte, die geben mir den frohsten Klang und Sinn. 1 6 4 Eine These über die Galgenlieder, von Albrecht Goes so formuliert: " O b diese Morgensterniaden etwas wollen? Nein, sie wollen gar nichts." 1 6 5 Von Schoenfeld so formuliert: " A u f nichts geht Morgenstern weniger aus als auf Beifall. Er will überhaupt n i c h t s . " 1 6 6 In eigener Formulierung, angewandt auf den H u m o r : Der sich in den Galgenliedern äußernde H u m o r Morgensterns ist ohne Ziel. Die Komik der Galgenlieder ist zweckfrei. Die Ü b e r p r ü f u n g dieser These soll den nun folgenden Abschnitt einleiten. Bevor die Welt der Galgenlieder mit einzelnen " A r t e n " von Komik konfrontiert wird, soll allgemein nach möglichen Zielen und Zwecken dieser Welt gefragt werden. Hilfsmittel ist " D e r B a r t " . 162Casta Regina!, Ich und die Welt, 53. 163 Dichtung und Wahrheit, Goethe X, 189. 164Melencolia, 85. 165 Goes, 44. 166Schoenfeld, 226.

Engagement

101

Lorus, anerkannt als P h ä n o m e n , soll durchaus als Polizeihund gehn. Lange überlegt er hin und her, denn der Fall ist ungewöhnlich schwer. Gerne will sein Herz den Menschen dienen, doch der Böse zählt wohl auch zu ihnen. Und er ist, obschon ein Hund mit Bart, doch kein Richter über Menschenart. Schließlich, sich mit keinem zu verqueren, läßt er sich den Bart von Palmström scheren — und erlaubt sich, ihn zu gleichen Enden diesen sowie jenen zuzuwenden. Bartlos geht er so, doch kaum als Tor aus dem schwierigen Konflikt hervor. 1 6 7 Dem " B a r t " des Lorus läßt sich ein aufschlußreiches Modell des Morgensternschen Galgenliederhumors entnehmen. Dieser H u m o r ist sich seiner Möglichkeiten bewußt. Eine Welt der Freiheit und der Phantasie bieten sie an. An die " W i r k l i c h k e i t " ist er nicht gebunden, ihre Grenzen überschreitet er. W a r u m soll dieser H u m o r sich nicht auch f ü r die Sache seiner vollkommenen Freiheit engagieren, in der Auseinandersetzung mit den Unfreiheiten, Beschränktheiten, Engstirnigkeiten der wirklichen Welt, mit ihren Ungerechtigkeiten und Gemeinheiten? W a r u m soll dieser H u m o r nicht auch Entlarver sein, Kritiker aus der souveränüberlegenen Höhe, die ihm eigen ist? Die A u f f o r d e r u n g an Lorus, dessen Möglichkeiten und Qualitäten man kennt, kann mit Recht erfolgen. Doch für diesen ist der Fall "ungewöhnlich schwer", verwickelt ihn in einen "schwierigen K o n f l i k t " . Der Humorist, welcher kritische Stellung zu den ihn bewegenden Fragen der Wirklichkeit bezieht, Schwächen von Konventionen, Institutionen oder Charakteren entlarven will, muß — im weitesten Sinne — auch Moralist sein, selbstironisch formuliert: ein " a u f m e r k s a m e r Polizeih u n d " , der im Dienst der eigenen Ideale von dieser Welt den Schwächen und Ungerechtigkeiten in ihr nachspürt. Doch " G u t " und " B ö s e " , so meint Lorus, sind nicht leicht zu trennen. Auch der Böse ist schließlich Mensch und damit — dem charakteristischen Moment der " L i e b e " in Morgensterns H u m o r folgend — auch ein Bestandteil der von Gott geschaffenen universellen Ganzheit. 1 6 8 Wer will über den Menschen richten? 167Der Bart, VIII, 91. 168 Das Verhältnis des "sogenannten Verbrechers" zur Gesellschaft beschäftigte Morgenstern sehr. 1911: " D e r Verbrecher und ich sind nichts wesentlich Getrenntes, wir ste-

102

Die Welt des H u m o r s

Der Dichter der Galgenlieder lehnt es a b , die Rolle eines Moralisten zu ü b e r n e h m e n . Der Bart, hier ein Insignium f ü r d a s V e r m ö g e n , über a n d e r e zu urteilen u n d a n d e r e zu verurteilen, wird geschoren. U n d es ist bezeichnenderweise P a l m s t r ö m , der ihn schert, der E r f i n d e r , Beobachter u n d Z u h ö r e r im T i e r k o s t ü m . Er ist kein Kritiker mit " d i d a k t i s c h e n " A m b i t i o n e n , sucht nicht nach M ä n g e l n dieser Welt. Er gehört zu jenen K ä u z e n , die o f t unvermittelt — nackt E h r f u r c h t vor dem S c h ö n e n p a c k t . 1 6 9 Der K o n f l i k t ist gelöst. W ä h r e n d der engagierte Moralist sich i m m e r Gegner s c h a f f e n wird, b r a u c h t sich der Dichter der Galgenlieder " m i t keinem zu v e r q u e r e n " . O h n e die Bindungen des E n g a g e m e n t s ist es ihm möglich, sich " d i e s e n sowie j e n e n z u z u w e n d e n " . U n d nun wird deutlich, w a r u m M o r g e n s t e r n in seinem Sinne klug d a r a n handelte. Die unu m s c h r ä n k t e Freiheit, die in der Welt der Galgenlieder herrscht, wird nicht d u r c h die A u f n a h m e b e s t i m m t e r Angriffsziele eingegrenzt. Der alleinige P r i m a t der P h a n t a s i e bleibt u n a n g e t a s t e t . Bartlos geht er so, d o c h k a u m als T o r aus dem schwierigen Konflikt hervor. L o r u s k a n n seinem M o t t o " P a x vobiscum, freundlicher G e f ä h r t e " 1 7 0 weiterhin treu bleiben. A u c h in Z u k u n f t wird er stolze Papageien besänftigen k ö n n e n 1 7 1 und d u m m e M ä g d e t r ö s t e n . 1 7 2 " D e r B a r t " hilft auch die N ö t e der Literaturkritik und -Wissenschaft erklären, die Galgenlieder zu klassifizieren: Eines Tages pocht ein ernster H e r r an die T ü r u n d stellt sich vor u n d spricht: " S i e sind d o c h Herr P a l m u s P a l m s t r ö m , nicht? Ich bin sozusagen hergeschneit von den ernsten M ä n n e r n unsrer Zeit, i n s b e s o n d e r e von der Schreibrichkeit.

hen im engsten menschlichen Z u s a m m e n h a n g ; er kann uns nichts tun, was er nicht auch sich selber täte, und wir können ihm nichts tun, was wir nicht auch uns selber tät e n . " (Stufen, 167). (Siehe auch: Auf vielen Wegen, 51). Die Todesstrafe lehnte Morgenstern entschieden ab (Stufen, 168, 1911 und: Ein Interview, VIII, 75). 169Palmström, VIII, 7. 170Der Kater, VIII, 89. 171 Lorus, ebda. 172Gegensätze, VIII, 90.

Engagement

103

Ich bin selber Schreibrich, wie bekannt. Kurz und gut, wir würdigen Ihr Wesen. Prächtig ist dies Nichtvielfederlesen. Mutig gehn Sie stets auf alles los, Scherz und Ernst: Sie sind in beidem groß. Und Ihr Freund ist schlechterdings famos. Doch just eben dies, verstehn Sie recht... Dieser Zwiespalt! halb sind Sie — Hanswurst — halb von Don Quichotischem Geschlecht... Seien Sie doch eins von beiden ganz! Oder teilen Sie sich, wenn Sie wollen mit Herrn Korf in jene beiden Rollen! Sehn Sie, wir sind da um kunstzurichten. Ein Charakter sei so oder so. Ihren Ernst verkennen wir mitnichten, doch Sie nehmen hier zu viel auf sich! Etwas bleibt an Ihnen — lächerlich! Sehn Sie zu, wie Sie den Zwiespalt schlichten." 1 7 3 Lorus weigert sich, ein Polizeihund zu werden, weigert sich, einer Gruppe beizutreten, die ihre Gemeinsamkeit auch nach außen hin zur Schau trägt, und weigert sich, eine festgelegte Rolle zu übernehmen. Palmström und Korf teilen seine Weigerung, auch sie lassen sich nicht mit einer Rolle identifizieren. " A n e r k a n n t als P h ä n o m e n " , bewegen sie sich zwischen Scherz und Ernst, zwischen Hanswurst und Quichote und bereiten einer nach Eindeutigkeit verlangenden Schreibrichkeit Unbehagen. Lorus weist die Polizeiuniform zurück, Palmström schlüpft in Tierkostüme, Korf ist unsichtbar. Mit Hilfe des " B a r t s " lassen sich die Galgenlieder nun von neuem betrachten. Sind alle diese Lieder, die in einem Zeitraum von mehr als einem Jahrzehnt entstanden und sich vom " G a l g e n b e r g " zu " P a l m s t r ö m " entwickelten, unengagiert " b a r t l o s " ? Palmström hat sehr viele Menschen gern. Doch die von ihm sehr geehrten H e r r ' n sind nicht immer gern zu haben, sondern oft vertrackte Knaben... 1 7 4 Christian Morgenstern engagiert sich mit Palmström und Korf im Kampf gegen die A r m u t . 173 Der ernste Herr, VIII, 77. 174Ein bei Bauer 1937 veröffentlichtes Fragment, 191.

104

Die Welt des H u m o r s

In Berlin und Potsdam wohnen in den Jahren 1900 bis 1914 mehr als 1.600 Millionäre. 1 7 5 In Rom findet ein "Fest der Multimillionäre" aus New York statt: 1 7 6 " M a n speißt zunächst das obligate Fleisch." Dann schaffen dressierte A f f e n aus den Bäumen Früchte herbei, und diese sind gefüllt mit "goldnen Zigarettendosen, Manschettenknöpfen, kurz, den schönsten C h o s e n . " In Nordschweden herrscht 1906 eine Hungersnot. 1 7 7 Morgenstern: Es gibt heute keine Ausflüchte mehr, es gibt nur noch die Frage: Wollen wir Mitmenschen, die unverschuldet vor den Hungertod gestellt sind, als Mitmenschen anerkennen d.h. ihnen helfen, oder wollen wir sie mit einem "ich kenne den Menschen nicht" verleugnen und ihnen nicht helfen. 1 7 8 Er schlägt den Satten vor, einen Tag jeden Jahres sich auf Wasser und Brot zu beschränken (...), um mit dem Ersparnis dieses Tages die große Hilfskasse zu speisen, welche die Menschheit der ganzen Erde vor dem Umkommen durch Hunger schützt. Wir spähen nach neuen Festen aus, weil die alten schal geworden sind und zur Entdeckung von neuen noch die rechte innere Freudigkeit fehlt. Wohlan, hier ist ein Fest (...). Hier ist ein Fest für alle zivilisierten Völker der Erde, für jeden Menschen, hoch und gering, ein Fest, brüderlicher und allumfassender als alle vorangegangenen. 1 7 9 Korf und Palmström geben je ein Fest. Dieser lädt die ganze Welt zu Gaste: doch allein zum Zwecke, daß sie — faste! einen Tag lang sich mit nichts belaste! Und ein — Anthihungersnotfonds ist der Rest. Korf hingegen wandert zu den Armen, zu den Krüppeln und den leider Schlimmen und versucht sie alle so zu stimmen, daß sie einen Tag lang nicht ergrimmen, daß in ihnen anhebt aufzuglimmen ein jedweden " F e i n d " umfassendes — Erbarmen. Beide lassen so die Menschen schenken, statt genießen, und sie meinen: freuen

175 Engelmann, 27. 176VIII, 69. 177Briefe, 206, undatiert. 1 7 8 A . a . O . , 207, undatiert. 1 7 9 A . a . O . , 208, undatiert.

Engagement

105

könnten Wesen (die nun einmal — denken) sich allein an solchen gänzlich neuen Festen. 180 Christian Morgenstern wünscht "aus dieser scheußlichen Fabrikantenund Spekulantenwirtschaft heraus(zu)kommen, die unser heutiges Leben (immer noch viel zu viel) barbarisiert", 181 und er dichtet: Palmström hört von reichen Leuten, die das Geld, das sie erbeuten, teils in kalten fremden Schergen, teils in eignen Schränken bergen. Er ist fern von solchem Sinn: Was er hat, das gibt er hin... 182 Christian Morgenstern engagiert sich mit Palmström, Korf und Palma Kunkel gegen den Krieg. Denn: "Des Krieges Eltern heißen Schwachsinn und Trägheit. Sie finden es weit einfacher und bequemer, ein Kind: den Krieg in die Welt zu setzen, als in sich zu gehen und in Selbsterkenntnis und Selbstzucht Geist und schöpferische Kraft zu werden." 1 8 3 Er dichtet "Palmström wird Staatsbürger" 184 , "Vom Steuerzahlen" 185 , "Die Schwestern" 186 und "Zu guter Letzt". 1 8 7 Palmström weigert sich (ganz selbstverständlich) irgendwelchen Heeresdienst zu tun. Doch die Mehrzahl schilt dies feig und schändlich. 188 Von dieser Mehrzahl sind 1910 in den 16.500 preußischen Kriegervereinen 1,5 Millionen Bürger organisiert. 189 1,7 Millionen Bürger dieser Mehrzahl gehören dem Deutschen Kriegerbund an, 2,5 Millionen dem Kyffhäuserbund, 1 » 0 180 VIII, 70. — Die Interpretation Leo Spitzers, " d i e verschiedenen Klubs 'zum Schutz der wilden Tiere', 'zum Schutz des Sonnenscheins', 'zur resoluten W a h r u n g der gedachten Z o n e vor der Willkür der Ballone', der ' A n t i h u n g e r s n o t f o n d s ' , ' L ä r m s c h u t z ' verspotten die Liga-freundlichen ' S o r g e n ' der europäischen H u m a n i t ä t " (Spitzer, 1918, 90), ist falsch. Der Brief aus dem J a h r 1906, den Spitzer 1918 noch nicht kennen k o n n t e , zeigt, wie ernst es — wenigstens mit d e m " A n t i h u n g e r s n o t f o n d s " dem Galgenliederdichter war. 181 Briefe, 134, 1902. 182Zuletzt (Fragment), VIII, 80. 183 Vom Kriegführen, J A , IV, 228. 184VIII, 71. 185 VIII, 74. 186VIII, 96. 187VIII, 95. 188 VIII, 71. 189 Wehler, 164. 190 E b d a .

106

Die Welt des H u m o r s

u n d d a gilt es noch als diabolisch einen C h r i s t e n m e n s c h e n nicht zu m o r d e n . 1 9 1 Die gar nicht heitere Geschichte von P a l m s t r ö m , der Staatsbürger wird, m u ß kurz z u s a m m e n g e f a ß t werden: Der Held wird a u f g r u n d seiner Heeresdienstverweigerung v e r h a f t e t u n d ins G e f ä n g n i s gesteckt. Er wehrt sich nicht, d e n n ... ins G e f ä n g n i s sollte j e d e r , der kein S k l a v e . . . 1 9 2 Den freiwilligen G a n g in die G e f ä n g n i s s e schlägt P a l m s t r ö m als Mittel der politischen D e m o n s t r a t i o n vor, u m die Bevölkerung zum " S t a u n e n " erst u n d d a n n z u m " D e n k e n " zu veranlassen. Der H ä f t l i n g P a l m s t r ö m wird von Korf besucht: Im d r a m a t i s c h e n zweistrophigen Mittelteil des fünfteiligen Liedes gehen die G e f ä n g n i s w a c h e n auf diesen los, u n d sie stoßen die G e w e h r e hin u n d her d u r c h i h n . . . 1 9 3 Korf a b e r ist j a " G e i s t " , unverletzlich u n d nicht e i n z u k e r k e r n . Seine Anwesenheit aber im G e f ä n g n i s ist der O r d n u n g s m a c h t gefährlich. D a m a n Korf nicht fassen k a n n , versucht m a n , ihn von seinem F r e u n d d u r c h eine Verlegung P a l m s t r ö m s in ein a n d e r e s G e f ä n g n i s zu t r e n n e n . In zwölf G e f ä n g n i s s e n ist P a l m gewesen... Doch h a b e n überall so Direktoren wie U n t e r g e b n e den Verstand v e r l o r e n . 1 9 4 M a n m u ß P a l m s t r ö m schließlich entlassen u n d ihm e r l a u b e n , " n i e m a n den t o t z u s c h i e ß e n . " 1 9 5 Z u m ersten u n d einzigen Mal setzt Morgenstern mit diesem Gedicht seine Figuren P a l m s t r ö m und Korf als — gewaltlose — K ä m p f e r gegen die u n t e r d r ü c k e n d e S t a a t s m a c h t ein, gegen " d e r Gewalt J o c h " 1 9 6 , f ü r die Freiheit. P a l m s t r ö m wird hier " w i r k l i c h " existent " i m Eigen-Sinn bürgerlicher K o n v e n t i o n " 1 9 7 . Die Rückzugsmöglichkeit des K o m m (...) K a m e r a d , — alles Feinste bleibt — p r i v a t ! 1 9 8

191 VIII, 71. 192Ebda. 193 VIII, 72. 194VIII, 74. 195 E b d a . 196VIII, 72. 197Die Behörde, VIII, 61. 198Die Wissenschaft, VIII, 23.

Engagement

107

enthält ihm diesmal sein Schöpfer vor. Kein Lärmschutz umgibt ihn mehr, in keinem Storchkostüm verreist er nach Ägypten: Palmström wird Staatsbürger. Die Figur Korfs hat eine Feuerprobe zu bestehen. Korf, der " G e i s t " , "dessen Nichtsehn unausbleiblich", 1 9 9 kann nur mit Hilfe eben dieser Unsichtbarkeit dem Freunde helfen. Bislang galt sie als kaum erwähnenswert. Der E m p f a n g Korfs in Berlin bringt sie amüsiert zur Sprache. 2 0 0 Daß ein Geist auch schwerelos ist, berichtet verspielt " D i e W a a g e " . 2 0 1 Nun aber müssen sich die Eigenschaften eines Geistes unter schwierigen Bedingungen bewähren: Man will Korf an den Kragen. Er besteht die Probe. Er wird zum Sinnbild der Unangreifbarkeit, Unverletzbarkeit und Freiheit des Geistes. Der freie Geist triumphiert über das Joch der Gewalt. Weil Palmström ein gefangener Staatsbürger wird, erhält die Figur Korfs symbolische Schwere: Und sperrt man mich ein im finsteren Kerker, das alles sind rein vergebliche Werke; denn meine Gedanken zerreißen die Schranken und Mauern entzwei: die Gedanken sind frei. 2 0 2 Vom Steuerzahlen handelt das zweite Gedicht dieser Gruppe. Morgenstern läßt Korf einen neuen Vorschlag unterbreiten, mit dem sich der Militarismus des Staates bekämpfen läßt: die Verweigerung der Steuern. Denn er mag den Staat nicht fördern, der sich auf Gewalt der W a f f e n gründet... 2 0 3 , einen Staat, in dessen Etat die Militärausgaben vor dem Ersten Weltkrieg 75% der Gesamtsumme beanspruchten. 2 0 4 Korf entzieht sich der Verhaftung auch diesmal mit Hilfe seiner "Geistes-Qualitäten". Palma Kunkel naht die Frage, was zum Kriegsproblem sie sage. 2 0 5 Ihre H o f f n u n g richtet sich auf ferne Zukunftszeiten, auf ein " W e r d e n " und " R e i f e n " der Menschheit, auf einen Lernprozeß. Die Zeit von 1897 bis 1913 — Griechen kämpfen gegen Türken, Amerikaner kämpfen gegen Spanier, Engländer gegen Buren, Russen gegen Japaner, Italiener gegen Türken, Serben, Bulgaren und Griechen gegen Türken, kaiserliche Truppen kämpfen gegen die Boxer in China und 199Korf in Berlin, VIII, 46. 200 E b d a . 201VIII, 57. 202Die Lieder des Zupfgeigenhansl, 96. 203 VIII, 74. 204 Wehler, 151. 2 0 5 Z u guter Letzt, VIII, 95.

108

Die Well des H u m o r s

k ä m p f e n gegen die H e r e r o s in A f r i k a , u n d m a n rüstet z u m ersten g r o ßen Weltkrieg a u f — k o m m e n t i e r t P a l m a so: Ringsum ungeheure Horden wollen n o c h das g r o ß e M o r d e n . . . 2 0 6 Die " S c h w e s t e r n " schließlich sind eine K a n o n e u n d eine G l o c k e . Die K a n o n e zur G l o c k e : " H e u t e sind sie dein u n d beten, m o r g e n sind sie mein u n d — t ö t e n . " 2 0 7 Die G l o c k e zur K a n o n e : " A u s g e b u r t der Teufelsseele, wird mich erst der Rechte läuten, wird es deinen T o d b e d e u t e n . " 2 0 8 Fazit: In " A l l e G a l g e n l i e d e r " werden 1939 diese Galgenlieder nicht a u f genommen.

a. S A T I R E

Mit dem literarischen E n g a g e m e n t gegen A r m u t u n d Krieg k o n n t e exemplarisch nachgewiesen werden, d a ß nicht alle Galgenlieder " n i c h t s w o l l e n " u n d nicht i m m e r ihr Dichter sich weigert, auch " M o r a l i s t " zu sein. Dem M o r a l i s t e n , den eine " d i d a k t i s c h e Neigung zur R i c h t i g s t e l l u n g " a u s z e i c h n e t , 2 0 9 ist der Satiriker eng v e r b u n d e n . Beide weisen auf Mißstände hin u n d d r ä n g e n auf deren Beseitigung. 2 1 0 A u c h M o r g e n s t e r n war Satiriker. Er schrieb die Kaiser-Satire " D e r L a u f f g r a f " 2 1 1 , schrieb " I m L i t e r a t u r - K a f f e e " , eine L i t e r a t u r - S a t i r e 2 1 2 , u n d schrieb mit der " B i e r k i r c h e " 2 1 3 und dem " H e r r s c h a f t l i c h e n 206 E b d a . 207VIII, 96. 2 0 8 E b d a . — Leo Spitzers Interpretation der "Vereinigten Westküsten der E r d e " , die ihren N a m e n verlieren wollen (Die Westküsten, VI, 56) — " d a s ist wohl gegen pazifistische Weltorganisation g e m ü n z t " (Spitzer, 1918, 90) —, m u ß falsch sein. Es ist vielmehr so: " P a l m s t r ö m , um dem Friedenswerk zu dienen, / lehrt verkehrte G e o g r a p h i e . . . " (Zuletzt, Fragment, VIII, 80). 209Friedrich/Killy, III, 509. 210Vgl. Witte, 1970, 15. 211 Die Schallmühle, 114-122. 2 1 2 A . a . O . , 110-113. 213 A . a . O . , 101-105.

Satire

109

214

Haus" zwei Satiren über die Prunkbau-Lust der Berliner. In der Nachfolge Montesquieus entstanden die Berliner "Briefe an einen B o t o k u d e n " 2 1 5 ; in der Nachfolge Reuchlins wurden neue "Dunkelmännerbriefe" 2 1 6 geplant. Schrieb Morgenstern auch satirische Galgenlieder? Um kritisches literarisches Engagement als "Satire" identifizieren zu können, werden zunächst Kriterien benötigt. 2 1 7 Eine Art Merkmal-Liste in acht Punkten — " h o w to determine whether a work is satire or n o t " 2 1 8 — schlägt Gilbert Highet vor. Die ersten vier dieser Kennzeichen helfen wenig weiter. 2 1 9 Das fünfte Kennzeichen lautet: "The theme is concrete, personal, topical." 2 2 0 Das sechste: "The vocabulary is forcible and the texture varied." 2 2 1 Das siebte: "Typical satiric devices are u s e d . " 2 2 2 Das achte: "The satiric emotion is present." 2 2 3 So unbrauchbar die ersten vier Bestimmungen Highets waren, mit den übrigen vier ist, meine ich, wesentliches über die Satire ausgesagt. 2 2 4 2 1 4 A . a . O . , 97-100. 215Nach Bauer, 1933, 71. 216 Briefe, 140, 1902. 217"Bekanntlich ist die Definition der Satire außerordentlich s c h w a n k e n d . " (Tschizewskij, 270). Wie und warum sie schwankt, ist detailliert bei Brummack nachzulesen. Der Begriff "bezeichneet eine historische Gattung, aber auch ein Ethos, einen T o n , eine Absicht, sowie die in vielerlei Hinsicht höchst verschiedenen Werke, die davon geprägt sind. Mehr noch als andere Gattungsbegriffe ist er im Laufe seiner Geschichte so komplex geworden, d a ß er sich nicht mehr definieren läßt — es sei denn — normativ oder nichtssagend allgemein." (Brummack, 275). 218 Highet, IX. 219Erstens: " T h e author names his g e n u s . " (15) — Teilt ein Autor dem Leser mit: dies ist eine Satire, erübrigt sich eine weitere Überprüfung. Erübrigt sie sich aber nicht, weil man etwa solchen Aussagen nicht unbedingt trauen kann, ist dieses erste Kennzeichen allgemein unbrauchbar. Zweitens: " T h e author quotes a satiric pedigree." (16) Und viertens: The author quotes an earlier satirist." (16) — Der Einwand gegen das erste Kennzeichen gilt auch für den Fall, daß ein Autor sich ausdrücklich in die satirische Tradition stellt. Das dritte Kennzeichen — " T h e author chooses a traditionally satiric s u b j e c t . " (16) — widerlegt Highet selbst: "Subject-matter in general is no guide. Men have written satire on the gravest of themes and the most trivial, the most austere and the most licentious, the most sacred and the most profane, the most delicate and the most disgusting. There are very few topics which satirists cannot h a n d l e . " (16). 220Highet, 16. " I t deals with actual cases, mentions real people by name or describes them unmistakably (and often unflatteringly), talks of this moment and this city, and this special very recent, very fresh deposit of corruption whose stench is still in the satirist's curling nostrils." (16). 211 A . a . O . , 18. 222Ebda. " I r o n y , paradox, antithesis, parody, colloquialism, anticlimax, topicality, obscenity, violence, vividness, exaggeration." (18). 2 2 3 A . a . O . , 21. 224Für die Entscheidung, ob man ein Stück Literatur a u f g r u n d dieser (oder anderer) Kriterien " S a t i r e " nennen kann oder nicht gilt nach wie vor Elliotts These: " T h e point is: this is not a factual question to be settled by examining the work for the necessary and sufficient properties which would automatically entitle it to the name satire-, it is a decision question: are the resemblances of this work to various kinds of satire sufficient so that we are warranted in including it in the category? — or extending the category to take it i n ? " (Elliott, 23). Es gilt aber auch: Für die Feststellung von Ähnlichkeiten werden nun einmal Vergleichspunkte benötigt.

110

Die Welt d e s H u m o r s

Von den " b ä r t i g e n " Galgenliedern beschäftigen sich einige offensichtlich — " u n m i s t a k a b l y " — mit konkreten Anlässen der Wirklichkeit. " P a l m s t r ö m wird Staatsbürger" 2 2 5 , " V o m Steuerzahlen" 2 2 6 und " Z u guter Letzt" 2 2 7 thematisieren den wilhelminischen Militarismus. Der Anlaß der "beiden Feste" 2 2 8 ist eine Hungersnot in Schweden. Das " I n terview" behandelt die aktuelle juristische Frage der Todesstrafe: Bester Herr, was wollen Sie dem Armen mit Gewehr und Beil? Ist der Mensch so bar noch an Erbarmen? 2 2 9 Und Palma Kunkel ist eine " H e l d i n " , weil sie für den Vegetarismus kämpft: Muhme Kunkel geht voraus wo's ein Tier zu schützen gilt. Tapfer hält sie ihren Schild vor die kleinste Ackermaus... 2 3 0 Keines der " b ä r t i g e n " Galgenlieder trifft der Punkt sechs: "Most satiric writing contains cruel and dirty words, all satiric writing contains trivial and comic words; nearly all satiric writing contains colloquial antiliterary w o r d s " , 2 3 1 aber nicht diese Galgenlieder. Spuren einer Anwendung satirischer Techniken können wahrgenommen werden, im "Neuen Vokal" etwa die ironische Übertreibung. "Sie gaben uns mehr, Herr Ulich, als irgend ein Mensch bislang; wir trollten fromm und betulich den alten Schlendriangang. Da kamen Sie, Geist der Geister, in unser Jammertal und gaben uns, teurer Meister, den Augusl-UlichVokal]'1232 Oder in " P a l m s t r ö m wird Staatsbürger" eine sarkastische Paradoxie: Man beschimpft den Kriegsgegner Palmström, denn man ist noch rings um ihn katholisch oder protestantisch usw. 225 V I I I , 71. 2 2 6 V I I I , 74. 227 V I I I , 95. 228 V I I I , 70. 2 2 9 V I I I , 75. 2 3 0 V I I I , 94. 231 H i g h e t , 18. 2 3 2 D e r n e u e V o k a l , V I , 152.

Satire

111

und da gilt es noch als diabolisch einen Christenmenschen nicht zu morden... 2 3 3 Vom achten und letzten Punkt aus aber soll nun der endgültige Beweis d a f ü r angetreten werden, daß selbst die wenigen engagierten Galgenlieder nicht " s a t i r i s c h " genannt werden können. Das satirische " G e f ü h l " , die satirische Stimmung oder Atmosphäre, die Highet als "blend of amusement and c o n t e m p t " kennzeichnet, 2 3 4 faßt gleichsam die erkannten Details der Satire zu einem Fazit zusammen. Denn diese Stimmung ist ja nicht " v o n selbst" in einem Stück Satire vorhanden, sondern ein Ergebnis seiner besonderen Merkmale: seiner konkreten Aktualität, seines grob-aggressiven Vokabulars, seiner typischen — ironischen, paradoxen, parodistischen etc. — Stilmittel. Die Atmosphäre in der Welt der Satire ist eine besondere: It is a world where man is at war with mankind, where the gods or natural powers are brutal and distant; a world of cannibalism, torture, mutilation; a world where love corrupts to lust and sexual deviation. Its presiding animals are the wolf, the tiger, and the dragon; its landscape is the jungle and the wasteland; its buildings are labyrinths, dungeons and Towers of Babel. 2 3 5 In diese Welt gehören Palmström, Korf und Palma Kunkel — auch wenn sie sich kritisch engagieren — niemals hinein. Niemals sind sie militante Krieger, weit eher Heilsarmisten. Sie prangern keinen unverdienten Reichtum an, sondern gründen einen " A t i h u n g e r s n o t f o n d s " und wandern zu " d e n Armen, zu den K r ü p p e l n " , gewiß in Gottvertrauen, fern jeglicher Fleischeslust und Menschenfresserei. Auch in den engagierten Galgenliedern führt immer noch der Gaul des Tischlers Bartels den Vorsitz, und immer noch heißt ihre Landschaft Odelidelase oder Odeladelise oder Odeladeluse. Werden Palmström und Korf mit Gewalt verfolgt, so leisten sie passiven Widerstand. Aggressive Satire hätte der Besuch des unsichtbaren Korf im Gefängnis werden können, eine derbe und grobe Auseinandersetzung mit den wütenden, um sich stechenden Schergen. Korf läßt sie nur ins Leere zielen. Über das " M o p s e n l e b e n " : Es sitzen Möpse gern auf Mauerecken, die sich ins Straßenbild hinaus erstrecken, um von sotanen vorteilhaften Posten die bunte Welt gemächlich auszukosten. 233 VIII, 71. 234 Highet, 21. 2 3 5 K e r n a n , 22.

112

Die Welt des Humors

O Mensch, lieg vor dir selber auf der Lauer, sonst bist du auch ein Mops nur auf der Mauer. 2 3 6 Die trägen Möpse im " M o p s e n l e b e n " , dem engagierten Anti-BürgerGalgenlied, sitzen auf keiner Mauer einer " A n i m a l F a r m " und legen nicht dar: "All animals are equal, but some animals are more equal than o t h e r s . " 2 3 7 Ihr gleichnishaftes Mauerecken-Mopsenleben entlarvt nicht, sticht nicht satirisch zu. Kurt Tucholsky: " I c h hebe den Vorhang auf, der schonend über der Fäulnis gebreitet war und sage: ' S e h t ! ' " 2 3 8 Das " M o p s e n l e b e n " endet nicht: Bürger, du bist ein Mops nur auf der Mauer! Es ist unpolemisch. 2 3 9 Es warnt mit einem O-Menschmoralischen Zeigefinger und bleibt damit schließlich unverbindlich. Wer sich angesprochen fühlt, der ziehe sich den Mopsen-Schuh über. Wer nicht, der darf sich amüsieren. Das " M o p s e n l e b e n " ist gerecht. Es läßt Differenzierungen zu und übertreibt darum auch nicht; es läßt jedem die Möglichkeit, sich der Betroffenheit zu entziehen, und verletzt und beleidigt darum auch nicht. Kurt Tucholsky: "Übertreibt die Satire? Die Satire m u ß übertreiben und ist ihrem tiefsten Wesen nach ungerecht. Sie bläst die Wahrheit auf, damit sie deutlicher wird, und sie kann gar nicht anders arbeiten als nach dem Bibelwort: Es leiden die Gerechten mit den Ungerechten." 2 4 0 Das " M o p s e n l e b e n " wird nie die Möpse treffen und sie darum auch nie beeinflussen können, interessieren oder aktivieren: Mops bleibt Mops. 2 4 1 " D i e P r o b e " 2 4 2 , in der Morgenstern die Konkretisierung eines biblischen Sprichwortes durchführt — " E s ist leichter, daß ein Kamel durch ein Nadelöhr gehe denn daß ein Reicher ins Reich Gottes k o m m e " 2 4 3 —, ist ebensowenig bissig wie der Mops auf der Mauer. Mit einem "Zuckerhörnchen als D o u c e u r " wird das Kamel durchs Öhr gelockt, und der Reiche sagt: " W e h e m i r ! " Daß die Probe auf das Sprichwort gelingt, erlaubt den Rückschluß auf Morgensterns Kritik: Ein Reicher, der angesichts von Armut bis in seinen Tod hinein Reichtümer hortet, handelt verwerflich. Zum anderen bestätigt der Erfolg der Probe volkstümliche Sprichwörter ähnlicher Richtung, wie: Das letzte Hemd hat keine Taschen o.ä. Angesichts des Todes werden "zween Säcke Gold in 236 VIII, 101. 237 0rwell, 1977, 99. 238Was darf die Satire?, Tucholsky, I, 363; Kursivdruck von mir. 239"Daß eine jede Satire ein offen oder versteckt polemisches Werk ist, kann man nicht leugnen." (Tschizewskij, 269). 240Tucholsky, I, 363. 24lKurt Tucholsky: "Die echte Satire ist blutreinigend: und wer gesundes Blut hat, der hat auch einen reinen Teint." (I, 364). 242VI, 68. 243Math. 19, 24.

Satire

113

jeder H a n d " wertlos. Wie harmlos Morgenstern diesen Themenbereich behandelt, zeigt ein Vergleich mit einer Szene aus Thackerays "Vanity F a i r " , einem wahrhaft klassischen Stückchen Satire: Everybody knows the melancholy end of that nobleman, which befell at Naples two months after the French Revolution of 1830: when the Most Honourable George Gustavus, Marquis of Steyne, Earl of Gaunt and Gaunt Castle, in the Peerage of Ireland, Viscount Hellborough, Baron Pitchley and Grillsby, a Knight of the Most Noble Order of the Garter, of the Golden Fleece of Spain, of the Russian Order of St. Nicholas of the First Class, of the Turkish Order to the Crescent, First Lord of the Powder Closet and Groom of the Back Stairs, Colonel of the Gaunt or Regent's Own Regiment of Militia, a trustee of the British Museum, and Elder Brother of the Trinity House, a Governor of the White Friars, and D . C . L . — died, after a series of fits. 2 4 4 Ein Galgenlied ist natürlich während der gesamten Besprechung des satirischen Aspekts verheimlicht worden, der beißende, verletzende, blasphemisch stinkende " H e c h t " : einzige Satire im großen Galgenliederteich. Einmal wird der typische Charakter eines Galgenliedes — " d i e poetische Blüte seiner Nesseln sticht nicht, und von seiner blühenden Rute voll Blätter fühlt man kaum den Schlag" 2 4 5 — abgelegt. Einmal ist "eine absichtliche feindliche Tendenz s p ü r b a r " 2 4 6 und ein " G i f t in der Seele des G e t r o f f e n e n " 2 4 7 zu vermuten, das dort wirkt. Ein Hecht, vom heiligen Anton bekehrt, beschloß, samt Frau und Sohn, am vegetarischen Gedanken moralisch sich emporzuranken. Er aß seit jenem nur noch dies: Seegras, Seerose und Seegrieß. Doch Grieß, Gras, Rose floß, o Graus, entsetzlich hinten wieder aus. Der ganze Teich ward angesteckt. F ü n f h u n d e r t Fische sind verreckt. Doch Sankt A n t o n , gerufen eilig, sprach nichts als "Heilig! heilig! heilig!" 2 4 8 244 Thackeray, 659. 245 Jean Paul, Vorschule der Ästhetik, § 29, "Unterschied der Satire und des Komischen", V, 116. 246 Wolfgang Kayser Uber die Satire, 1954, 381. 247Achatzi, 62. 248Der Hecht, VI, 91.

114

Die Welt des Humors

Daß diese Satire verletzen konnte, spürte Morgenstern selbst: Selbstironie ließ ihre Spitze nicht mehr zu. Morgenstern 1909, an Cassirer: " D e r Hecht fällt weg infolge Selbstwendung des Verfassers zum 'vegetarischen Gedanken' und damit naturgemäßer Disqualifizierung besagter Aufstellung." 2 4 9 Die Welt der Galgenlieder ist keine Welt der Satire. Welche Rolle spielen " I r o n i e " , " P a r o d i e " , " U l k " " W i t z " oder das " G r o t e s k e " in ihr?

b. I R O N I E

Ist die Welt der Galgenlieder eine Welt der " I r o n i e " ? Bevor eine Erörterung dieser Frage beginnt, soll die Warnung Morgensterns aufgegriffen werden: " M a n lasse sich durch meine Ironie nicht i r r e f ü h r e n . " 2 5 0 Und um nicht in die Irre geführt zu werden, schließe ich mich zunächst einmal den drei Bestimmungen an, die Beda Allemann für die Ironie vornimmt: " R e i n formalistisch ließe die literatirsche Ironie sich als eine Redeweise definieren, in der eine Differenz zwischen dem wörtlich Gesagten und dem eigentlich Gemeinten besteht. (...) Die Ironie (...) gewinnt ihre spezifische Qualität daraus, daß die Differenz für die Eingeweihten (und eingeweiht ist jeder, der das Ironische einer Ironie überhaupt begreift) transparent w i r d . " 2 5 1 " D a s Ironische eines Textes ergibt sich stets nur aus dem Kontext im allerweitesten Sinne dieses noch wenig geklärten T e r m i n u s . " 2 5 2 Ironie ist ein "Übergangs- und Grenzwertphänomen" zwischen "ernsthafter Eindeutigkeit des wörtlich Gesagten" ( " p l a n e Aussagef u n k t i o n " ) und " o f f e n e m Spott und H o h n " ("krasse Entlarvungsfunktion").253 Eine kurze Studie der Galgenliederironie kann am Beispiel "Lebensweisheit" vorgenommen werden. Über den gesamten Zeitraum seines literarischen Schaffens hinweg und in großer Anzahl münzte Christian Morgenstern "Lebensweisheit" zu Epigrammen, Sprüchen, zu Aphorismen, zu literarischem Kleingeld, wie etwa: 249 Briefe, 389. 250Stufen, 18, 1896. 251 Allemann, 1970, 16. 252A.a.O., 20. 253A.a.O., 21.

Ironie

115

Alles Festlegen verarmt. 254 Alles heilt der Entschluß, 255 Alles Große macht sterben und auferstehn. 256 Alles, im Kleinen und Großen, beruht auf Weitersagen. 257 Alles Denken ist Zurechtmachen. 258 Alles ist Ausdruck eines Wesens,259 Alles muß allem dienen. 260 Alles ist hier ernstzunehmen, denn wörtlich Gesagtes und eigentlich Gemeintes sind hier eins, erfüllen eine plane Aussagefunktion, sind wirkliche, mehr oder minder weise Lebensweisheiten. Weniger eindeutig bietet die Welt der Galgenlieder ihre Lebensweisheit an. In ihr schafft Morgenstern Distanz zu seinen Aphorismen. Auch in ihr läßt sich sinnieren: Alles Feinste bleibt — privat. 261 Alle Dinge sind voll Graus. 262 Zwischen dem wörtlich Gesagten aber und dem eigentlich Gemeinten weht nun der frische Wind der Ironie hindurch. Das anspruchsvolle, gewichtige "Alles", das der Entschluß heilt, das auf Weitersagen beruht, Ausdruck eines Wesens ist und schließlich allem so sehr dienen muß, daß ihm bald ein philosophisch grauer Aphoristikerbart nachweht, wird in der Galgenliederwelt erlöst: Alles ist vielleicht nicht klar, nichts vielleicht erklärlich, und somit, was ist, wird, war, schlimmstenfalls entbehrlich. 263 Ein Aphorismus von solch bulliger Statur: Die Mutter der Tiefe heißt: Schuld. 264 lernt in der Galgenliederwelt flink zu sein.

254Epigramme und Sprüche, 150, undatiert. 2 5 5 A . a . O . , 159, undatiert. 2 5 6 A . a . O . , 168, undatiert. 2 5 7 S t u f e n , 174, 1906. 2 5 8 A . a . O „ 220, 1906. 2 5 9 A . a . O „ 280, 1907. 2 6 0 A . a . 0 . t 153, 1905. 261 Die Wissenschaft, VIII, 23. 2 6 2 D a s Auge der Maus, VIII, 105. 2 6 3 T ä u s c h u n g , VIII, 128. 264 Stufen, 156, 1906.

116

Die Welt des Humors

Die Welt ist rund, der Mensch ist schwach. 2 8 5 Lebensweisheiten werden nun angeboten, die keine mehr sind, sondern nur noch als solche verkleidet. Frei nach "Toilettenkünste": 2 6 6 Ein Aphorismus, an sich nicht eben viel, rüstete sich zum Fastnachtsspiel. Er setzte sich, das gute Wurm, Perücken auf als wie ein T u r m . . . Perücke ist nur das "wörtlich Gesagte", "Lebensweisheit" nur seine Maske. Im "eigentlich Gemeinten" wird das Nichts dahinter entdeckt. Der Einsatz der Ironie entlarvt — auch den vorgeblichen Entlarver: O Mensch, das Geld ist nur Schimäre. 2 6 7 Die Botschaft, welche Morgenstern wohl eigentlich meint und hinter dem "wörtlich Gesagten" versteckt, den Zusammenhang, welchen seine Ironie an der "Lebensweisheit" entlarvt, formuliert — in einem Aphorismus — Friedrich Nietzsche so: " D a s Publikum verwechselt leicht den, welcher im Trüben fischt, mit dem, welcher aus der Tiefe s c h ö p f t . " 2 6 8 Vielleicht war der Mystiker und Galgenliederdichter Morgenstern dort, wo er die tieftrüben Weisheiten des Lebens ironisch behandelt, auch selbstironisch, gemäß der alten Lebensregel: O Mensch, lieg vor dir selber auf der Lauer. 2 8 9 Eine Behandlung der Ironie der Galgenlieder kann mit diesem kurzen Einzelbeispiel — auch wenn es als stellvertretend für andere anzusehen ist 270 — nicht abgeschlossen sein. Das Blickfeld muß noch einmal erweitert werden auf den von Allemann angesprochenen "Kontext im allerweitesten S i n n e " . W u r d e ein Vorkommen der Ironie in der Welt der Galgenlieder am Beispiel der "Lebensweisheit" nachgewiesen, so soll nun gefragt werden, inwieweit die Welt der Galgenlieder in ihrer Gesamtheit als " i r o n i s c h " zu bezeichnen ist. Die Beantwortung dieser Frage stößt zunächst auf methodische Schwierigkeiten. Wie läßt sich überhaupt die ironische Grundtendenz eines literarischen Werkes, also seine Tendenz zur Differenzierung von 265Der heilige Pardauz, VI, 113. 266 VI, 149. 267Lebens-Lauf, VI, 119. 268Nietzsche, IV3, 128. Menschliches-Allzumenschliches II. 269Mopsenleben, VIII, 101. 270Für die "Erfindungen" und "Entdeckungen" Palmströms und Korfs beispielsweise. Es sind natürlich keine Erfindungen und Entdeckungen im eigentlich-wirklichen Sinne, da ihnen Sinn fehlt. Eine als Erfindung verkleidete Sinnlosigkeit aber entlarvt: sie entlarvt einen Schein-Utilitarismus.

Ironie

117

" G e s a g t e m " und " G e m e i n t e m " aufgrund des Kontextes erkennen? Und überdies: Wie läßt sich die ironische Grundtendenz eines Werkes erkennen, das sich aus verschiedenen Gedichtsammlungen und innerhalb dieser aus zum Teil sehr disparaten Einzelgedichten zusammensetzt! Einen Leitfaden zur Strukturierung des Werkkontextes und zur Detektion und Identifikation der Ironie in ihm schlägt Wayne Booth vor. Fünf Kriterien deuten demnach darauf hin, daß ein Werk als " i r o n i s c h " anzusehen ist. — "Straightforward warnings in the author's own voice." 2 7 1 — " K n o w n error p r o c l a i m e d . " 2 7 2 — "Conflicts of facts within the w o r k . " 2 7 3 — "Clastus of style." 2 7 4 — "Conflicts of belief." 2 7 5 Der Versuch, diesen Raster auf die Welt der Galgenlieder anzulegen, ist schnell beendet. Mit dem " G a l g e n b e r g " , kündigt Morgenstern offenen Spott und unverhohlene " K i n d e r - R a c h e " a n , " 2 7 6 kein Übergangs- oder Grenzwertphänomen also zwischen Ernst und Spott. Andere direkte Warnungen aber läßt der Galgenlieder-Autor seinem Publikum nicht zukommen. Die Begriffe der "Unrichtigkeit" und es " I r r t u m s " sind aus der Welt der Galgenlieder ausgeschlossen, denn eine unbegrenzte Freiheit läßt alle Möglichkeiten zu, so daß Widersprüchlichkeiten verschiedener Tatsachen nicht a u f k o m m e n können, ebensowenig wie Glaubenskonflikte irgendeiner Art. Die Entwicklung eines Galgenlieder-Stils schließlich, die sich innerhalb eines Jahrzehnts vollzog, ist nicht als " S t i l b r u c h " zu bezeichnen, auch wenn Palma Kunkel längst keine Henkersmaid mehr ist. O f f e n b a r greifen diese Kategorien nicht. 2 7 7 Versuchen wir, das Problem von ganz anderer Seite anzugehen, nicht mit einem theoretischen Katalog möglicher ironischer Techniken, sondern mit Hilfe des Ehepaars Mueller, des Privatgelehrten Dr. phil. Jeremias Mueller und seiner

271 B o o t h , 53 f f . 2 7 2 A . a . O . , 57 f f . 2 7 3 A . a . O . , 61 f f . 2 7 4 A . a . O . , 67 f f . 275 A . a . O . , 73 f f . 276VI, 83. 277 Booth hält den Weg mit einer Unterscheidung von " s t a b l e " und " u n s t a b l e i r o n y " noch o f f e n : " T h e f u n d a m e n t a l distinction between stable ironies and ironies in which the t r u t h asserted or implied is that n o stable reconstruction can be m a d e out of the ruins revealed through the i r o n y . " (Booth, 240). Wenn Ironie in der Welt der Galgenlieder zu finden ist, d a n n gewiß nur " i n s t a b i l " .

118

Die Welt des H u m o r s

Frau Gundula, den Begleitern — angeblichen Herausgebern und Kommentatoren — der Galgenlieder-Ausgaben. Sinn und Qualität des gelehrten Paares waren zwischen Morgenstern und seinem Verleger Cassirer nicht unumstritten. Gundula hatte 1908 für die dritte Auflage 2 7 8 die ursprüngliche Einleitung ihres Mannes durch eine neue ersetzt, Cassirer lehnte ihren Abdruck für die folgenden Auflagen ab. 1909 möchte auch Morgenstern auf dieses " H e x l e i n " , " d a s mit leichtgeraffter wehender Schleppe die Regionen der Kunst, W i s s e n s c h a f t und ihrer Deutung einhergeistert", 2 7 9 verzichten. Sein Vorschlag: " W i e steht es denn mit der vierten Auflage der Galgenlieder? Ich möchte die Vorrede herausnehmen (...) und am Schluß ein paar Seiten Anmerkungen hinzufügen, die in ihrer geplanten Trockenheit dem Buch einen neuen Reiz geben d ü r f t e n . " 2 * 0 Cassirer lehnt zunächst ein neues Nachwort ab 2 * 1 und ändert seine Meinung für die f ü n f t e Auflage. Man einigt sich schließlich — Morgenstern will dem Zeitdruck entgehen — auf den Abdruck des " f i delen K o m m e n t a r s " in der sechsten Auflage. 2 8 2 Soviel zur Vorgeschichte der Mueller-Erläuterungen, nun zu ihrer Charakterisierung. Die Ausführungen der Frau Gundula Mueller, 120 Zeilen und — Sätze wie: " S o auch h i e r . " mitgerechnet — 17 Sätze lang, lassen sich angemessen nur mit der Wiedergabe eines Zitats beschreiben. Sie würdigt den literarischen Wert der Galgenlieder so: Und in der Tat, wenn irgendwo, wenn irgendwann, mußte gerade damals und gerade bei denjenigen Kräften der Volksseele, in denen das Herz der vom Geist der neuen Zeit am wunderlichsten beeindruckten Unvoreingenommenheit des Natürlichen am zukunftswetterschwangervollsten pochte, ein besonders abwelthafter Rückschlag wider das Gesetz in der Vernunft von seiten mehr exzös gerichteter Seelen erfolgen und damit ein Beweisschatten mehr geworfen werden, daß keine Zeit, so dunkel sie auch sich und in sich selber sei, indem sie " i h r Herz o f f e n b a r t " , mit all den Widersprüchen, Knäueln, Gräueln, Grund- und Kraftsuppen ihres Wesens, als Schwan zuletzt mit Rosenfingern über den Horizont ihres eigenen Chaos — und sei es auch nur als ein Wesenstel ihrer selbst, und sei es auch nur mit der lächelndsten Träne im Wappen — emporzusteigen sich zu entbrechen den Mut, was sage ich, die Verruchtheit hat. 2 8 3 Einen Kommentar kann man sich ersparen. 278Der Erstauflage von 1905 war bereits 1906 die zweite gefolgt. 279 Briefe, 300. 2 8 0 A . a , 0 . , 386. 281 A . a . O . , 388. 2 8 2 A . a . O . , 389. 283 VI, 11 f.

Ironie

119

Die Anmerkungen des Jeremias Mueller, des "unvergeßlichen Mitarbeiters"am Reiche deutscher Wissenschaft und Kunst und ihrer Deutung" 2 8 4 , sind von nicht minderer Qualität. Mueller ist Literaturwissenschaftler par excellence, geistreich und aufmerksam, sorgfältig bis zur Akribie, hartnäckig im Erstellen von Bezügen und konsequent in seinen Schlußfolgerungen, pathetisch zuweilen, aber ehrlich. Er beherrscht das wissenschaftliche Instrumentarium und die wissenschaftliche Terminologie. Er weiß, daß ein Literaturwissenschaftler sich zu Beginn seines Beitrags dafür entschuldigt, daß dieser nicht länger geworden ist: Über die Dichtung "Das Mondschaf" allein könnte man ein dickes Buch, ja was sage ich, mehr als ein dickes Buch schreiben. Da wären in einem Abschnitt die Beziehungen jeder einzelnen Zeile zur Kantischen Philosophie im besonderen nebst der darin enthaltenen Kritik derselben aufzuzeigen... 285 Mueller weist nach, daß das Mondschaf das Ding an sich ist, vermutet, daß das Gedicht von der Idylle des Malers Müller "Die Schaf-Schur" beeinflußt oder doch angeregt sein möchte, wohin ferner der Gleichklang des Wortes Schur mit dem französischen jour (de la gloire) zu führen vermag. 286 Wenigstens zwei Beispiele Muellerscher Interpretationskunst müssen vorgestellt werden, denn auf ihrer Ausdruckskraft wird die weitere Argumentation aufbauen. Zunächst sein Versuch über die erste Strophe von "Galgenbruders Lied an Sophie, die Henkersmaid". Sophie, mein Henkersmädel, komm, küsse mir den Schädel! Zwar ist mein Mund ein schwarzer Schlund — doch du bist gut und edel! 287 Jeremias Mueller: Sophie ist des Henkers Töchterlein. Außerdem aber hieß Sophia stets Weisheit. Der zweite Sinn ist demnach folgender: Gib mir deinen Gnadenkuß, o Weisheit! Zwar wird mein Mund immer nur Worte der Finsternis stammeln — "doch du bist gut und edel!" 2 8 8 Ein zweiter Versuch über die erste Strophe des "Zwölf-Elf". 284 VI, 10. 285 VI, 27. 2 8 6 E b d a . Ausgehend von: " D a s Mondschaf steht auf weiter Flur. / Es harrt und harrt der großen S c h u r . " (VI, 24). 287 VI, 17. 288 E b d a .

120

Die Welt des H u m o r s

Der Zwölf-Elf hebt die linke Hand: Da schlägt es Mitternacht im Land. 2 ' 9 Jeremias Mueller: (Endekus dodekus), ein sogenannter Schwarzelf oder -elb. Die linke: Ein Mensch, z.B. Professor Nikisch, Dirigent der GwandhausKonzerte, würde die rechte oder aber beide Hände erhoben haben. da schlägt es: Infolgedessen oder: den Augenblick darauf. Beides läßt sich verfechten. Im ersten Fall ist der Zwölf-Elf so etwas wie ein mächtiger Dämon. Im zweiten nur ein Gelehrter, der weiß: jetzt schlägt es gleich zwölf, daher will ich schnell vorher die Hand erheben. 290 Kurzum: Der Dichter der Galgenlieder ist ein Ironiker par excellence. Das unentschlossene Hin und Her zwischen Morgenstern und seinem Verleger Cassirer, ob und wie man die Mueller-Arbeiten in eine Galgenlieder-Ausgabe aufnehmen könne, gibt zu einigen Überlegungen Anlaß. Was spricht gegen eine — gelungene — ironische Erläuterung der Galgenlieder? Morgensterns Mueller-Ironie lebt von dem Anspruch "ernster" Lyrik und den Ansprüchen des ernstnehmenden Lesers und Interpreten. Dr. Jeremias Mueller, ein "Mitarbeiter am Reiche deutscher Wissenschaft und Kunst & ihrer Deutung", darf als Kenner traditionneller Lyrik gelten. Er wird u.a. federführend an der Übersetzung Horazscher Oden beteiligt gewesen sein. 291 Aber auch Richard Dehmel, Stefan George, Rainer Maria Rilke wird Mueller gelesen, interpretiert und kritisiert haben, wird versucht haben, Dehmels gedankenschweren "Erlösungen", diese "SeelenWanderung in Gedichten", nachzuwandern, Georges symbolistischen Teppich aufzuknüpfen, mit Rilke Gott in allen Dingen zu entdecken. Und er wird nicht zuletzt, um seine Kenntnisse der zeitgenössischen Lyrik zu vervollständigen, versucht haben, sich in die bereits umfangreichen "ernsten" Gedichtveröffentlichungen Christian Morgensterns hineinzudenken — "Auf vielen Wegen", "Ich und die Welt", "Ein Sommer", "Und aber ründet sich ein Kranz" waren bis 1905 erschienen —, tiefe Naturerlebnisse nachzuempfinden, Beziehungen zu Nietzsche nachzuforschen, christliche und mystische Elemente zu deuten... Und nun die Galgenlieder. Eine Gedichtsammlung, eingeleitet von einem Motto Friedrich Nietzsches. Eine Gedichtsammlung, die aus dem Vollen der technischen Möglichkeiten traditioneller Lyrik schöpft. 289V1, 22. 290VI, 23. 2 9 1 H o r a t i u s travestitus erschien 1897.

Ironie

121

Mit Jambus, Trochäus, Spondeus und Daktylus und Anapäst wird dort gedichtet. Der "Galgenberg" 2 9 2 , stellt stumpfe und klingende Reime vor, "Das Geburtslied oder: Die Zeichen oder: Sophie und kein End e " 2 9 3 — Mädelein-Hedelein- Wädelein-Lädelein — den gleitenden Reim. Ein Strandwart sowie die Herren Wasmann und Kriegar-Ohs dienen einem reichen Reim. Auf der Spree, da lag ein Kahn, drein der Saal zunächst verbannt ward. Freundlich lächelte der Strand wart... 2 9 4 Eines Mittags las man: (...) Victor Emanuel Wasmann! 2 9 5 ... und überreicht dem Kustos, Herrn Kriegar-Ohs, höflichst ein Partiturexemplar, von "Figaros Hochzeit" — ... 2 9 e "Der Gaul" des Tischlers Bartels führt die Assonanz vor. Die Köchin rupft die Hühner. (...) Ein Gaul steht vor der Türe. Sie stehn, als ob sie träumten. Die andern stehn wie Bäume. schnalzt bloß man mit der Zunge, (...) die Treppe wieder hinunter. 297 Gereimt wird — aabb — im Paarreim 2 9 8 und — abab — im Kreuzreim 299 , mit dem umarmenden Reim 300 — abba — und mit dem Schweifreim 301 — aabccb.

292VI, 83. 293 VI, 99. 294Der Saal, VI, I59. 2 9 5 U n t e r Schwarzkünstlern, VI, 59. 2 % F e u e r p r o b e , VIII, 59. 297 VI, 71. 298Der M o n d b e r g - U h u (VI, 90), Die Mitternachtsmaus (VI, 45) etc. 299Philanthropisch (VI, 54), Die Beichte des W u r m s (VI, 43) etc. 300Zäzilie, VI, 62. 301 Das M o n d s c h a f (VI, 24), Der T a n z (VI, 35) etc.

122

Die Well d e s H u m o r s

Im "Bundeslied der Galgenbrüder" — " e s schreit der Kauz: pardauz! p a r d a u z ! " 3 0 2 — läßt sich der Binnenreim finden. Einer Vielzahl von Anaphern begegnet man. Allein " D a s B u c h " benutzt sie dreimal: des Mondes bleiches Licht, des Mondes blasse L u f t . . . der zwei Paginen Geist, der zwei Paginen Sinn... Ein Sturmstoß kam es blättern... Ein Sturmstoß schloß die M ä r . . . 3 0 3 Und Goethes Fischer-Anapher " D a s Wasser rauscht', das Wasser schwoll" 3 0 4 läßt sich auch " D e r Walafisch oder Das Oberwasser" nicht entgehen: " D a s Wasser.rinnt, das Wasser spinnt . . . " beginnt das Galgenlied. 3 0 5 Den Kehrreim verwenden unter anderen " D a s M o n d s c h a f " 3 0 6 und " D e r Rabe R a l f " 3 0 7 . Gedichtet wird im Knittelvers 30 * und in Terzinen 3 0 9 , und schließlich fehlt auch das Sonett 3 1 0 nicht. Die Tradition der Bildgedichte setzen " D i e Trichter" 3 1 1 und des "Fisches Nachtgesang" 3 1 2 fort. Der Dichter der Galgenlieder ist ein Meister der Lautmalerei. Im "Bundeslied der G a l g e n b r ü d e r " 3 1 3 oder im " G r u s e l e t t " 3 1 4 bezeugt er die grauenerregende phonetische Macht der Silben und Buchstaben: " D a tauts, da grauts, da brauts, da b l a u t s " 3 1 5 , " u n d grausig gutzt der Golz". 3 1 » Der Dichter der Galgenlieder ist ein Meister rhythmischer Sprache. Er läßt das Ächzen des Galgenstrickes hören, 3 1 7 im Winde den Schaukelstuhl wackeln sehen, 3 1 8 das Wasser immerfort rinnen, 3 1 9 gemächlich das Nasobem schreiten. 3 2 0 302 VI, 16. 303 V I I I , 143. 3 0 4 G o e t h e , I, 116. 305 VI, 87. 306 VI, 24. 3 0 7 V I , 28. 3 0 8 D e r Z w ö l f - E l f (VI, 22), H i m m e l u n d E r d e ( V I , 46) etc. 3 0 9 K o r f - M ü n c h h a u s e n , VIII, 40. 3 1 0 D i e P r i e s t e r i n , V I I I , 42. 311 V I , 34. 3 1 2 V I , 29. 313 VI, 16. 314 VI, 132. 3 1 5 B u n d e s l i e d d e r G a l g e n b r ü d e r , VI, 16. 3 1 6 G r u s e l e t t , VI, 132. 3 1 7 N e i n ! , V I , 18. 3 1 8 D e r S c h a u k e l s t u h l a u f d e r v e r l a s s e n e n T e r r a s s e , VI, 42. 3 1 9 D a s W a s s e r , V I , 95. 3 2 0 D a s N a s o b e m , V I , 64.

Ironie

123

Morgenstern — so läßt sich diese Aufzählung wohl resümieren — arbeitet an der Welt der Galgenlieder mit einem erheblichen formaltechnischen A u f w a n d : er ist anspruchsvoll. Und Doktor Mueller hätte recht, ihn darum ausführlich und anspruchsvoll zu kommentieren. Er unterläßt es aber. Kein Wort — natürlich — darüber, denn es besteht für Morgenstern kein Anlaß, hier ironisch zu werden. Doktor Mueller wendet sich vielmehr unter den gleichen anspruchsvollen Voraussetzungen, mit denen er Form und Technik der Galgenlieder hätte betrachten können, ihren inhaltlichen Aussagen zu. Nun allerdings besteht Anlaß zur Ironie. " D a s M o n d s c h a f " ist das Ding an sich. 3 2 1 " D a s Knie" "bedeutet gewissermaßen das rastlose Schreiten des guten Prinzips nach sich selbst." 3 2 2 " D i e Mitternachtsmaus ist die sittliche W e l t o r d n u n g . " 3 2 3 " D e r Schaukelstuhl auf der verlassenen Terrasse" "versinnbildlicht die christliche Theologie seit Immanuel Kant (1724-1804)." 3 2 4 Im Galgenlied " D e r Rabe R a l f " schließlich "wird die Sozialdemokratie charakterisiert bzw. ihr Übergang von Lassalleschen zu Marxistischen I d e e n . " 3 2 5 Dies aber ist der ironische Grundzug der Galgenlieder: die Differenz zwischen den eingesetzten anspruchsvollen lyrischen Mitteln und der von ihnen vermittelten anspruchsfreien — nicht notwendig anspruchslosen — inhaltlichen Aussage, die Diskrepanz zwischen "lyrischem Sagen" und "lyrischem M e i n e n " , die in einem Gedicht wie dem " G r o ßen L a l u l a " dann kulminiert. Eingesetzt werden traditionelle Formen und Techniken, die dem Lyrik-Leser gewohnte Fragen signalisieren: Was " b e d e u t e t " das " K n i e " ? Was " i s t " die " M i t t e r n a c h t s m a u s " ? Was "versinnbildlicht" der " S c h a u k e l s t u h l " ? Was "charakterisiert" der " R a b e R a l f " ? Oder: Pfeift der Sturm? Keift ein W u r m ? Heulen Eulen hoch vom Turm? Nein! 3 2 6

321 VI, 27. 3 2 2 V I , 36. 323 VI, 45. 324 VI, 42. 325 VI, 28. 3 2 6 N e i n ! , V I , 18.

124

Die Welt des H u m o r s

Nur der Galgenstrick ächzte. Nur Reime und Rhythmen, nur Verse und Strophen kann man dort hören. 3 2 7 Und Korf begleitet Plamström nur, weil auf " D o r f " er sich reimt. Das " N a s o b e m " ist ein Nasobem, nur weil es nicht im " B r e h m " steht. " E i n Wiesel saß auf einem Kiesel inmitten Bachgeriesel" 3 2 * nur um des Reimes willen, und Herr Kriegar-Ohs ist nichts als ein Reim auf " F i g a r o s " . Kurzum: " E s ist ein Knie, sonst nichts." 3 2 9 W a r u m die A u f n a h m e der Mueller-Anmerkungen in eine Galgenlieder-Ausgabe umstritten war, läßt sich nun vermuten. Die soeben beschriebene Ironie der Galgenlieder ist leicht, im Sinne von Booth sicherlich " u n s t a b l e " . Sie greift nicht kräftig zu, sondern schwingt mit. Ihre besondere Qualität besteht gerade darin, jene "schwebende Zwischenlage auf geradezu seiltänzerische Manier einzuhalten". 3 3 0 Sie ist in besonderem Maße ein " G r e n z w e r t p h ä n o m e n " 3 3 1 und darum auch nur schwer am Einzelbeispiel zu fixieren. Anders die Ironie der Muellers. Mit ihr geht Morgenstern ohne Umschweife zu Werk, direkt, präzis, handgreiflich. Weit eher als ein Seiltänzer ist er hier Bodenakrobat. Diese Ironie verschleiert sich öffentlich. Die Gefahr, Vorwort, Nachwort oder Anmerkungen gemeinsam mit den Galgenliedern abdrucken zu lassen, liegt auf der Hand: Ihre Ironie,, die in einer sensiblen Schwebelage sich hält, droht abzukippen. Im Feuerwerk der Mueller-Ironie wird sie wahrscheinlich untergehen. Die ironische Differenz von anspruchsvoller Form und anspruchsfreiem Inhalt, die alle Galgenlieder unterschwellig begleitet, wird entlarvt und damit auch ihrer feinen Spitzen beraubt. Und wirklich: Daß des "Fisches Nachtgesang" " d a s tiefste deutsche G e d i c h t " ist, 3 3 2 ist unbestritten. Nur es direkt darunterzuschreiben, ist unklug. Angemerkt werden muß schließlich noch die Vermutung, daß die Ironie der Galgenlieder auch eine selbstironische Komponente enthält. Damit erfüllte sich im Gesamtzusammenhang des Humors zum einen jene Bestimmung, die Lützeler für ihn vornimmt: Humor sei eine Mischung aus Ironie, Selbstironie und Liebe. 3 3 3 Zum anderen entspricht sie dem bereits beschriebenen Element der " S o u v e r ä n i t ä t " , das diesem Humor eigen ist, denn eine Souveränität, die das eigene Ich ausschließt, bliebe unvollkommen. Morgensterns Galgenlieder-Ironie, die über der traditionellen Verknüpfung von anspruchsvoller lyrischer Form und an327 Vgl. auch Lissau, 205 f f . 328Das ästhetische Wiesel, VI, 41. 329Das Knie, VI, 36. 330Allemann, 1970, 21. 331 E b d a . 332 VI, 29. 333 Lützeler, 1966, 16.

Ironie

125

spruchsvollem lyrischen Inhalt auf dem Seile tanzt, wird sich auch der eigenen ernsthaften Lyrik-Produktion bewußt gewesen sein. 1890 formuliert er: Ein armer Mann — . der nicht sein selber lachen kann. 3 3 4 Daß Morgenstern an dieser Armut nicht zu leiden hatte, ließe sich vor allem in seinen Briefen vielfach belegen. Daß er nicht auch die eigene literarische Produktion aus dem Abstand eines souveränen Humors betrachten konnte, ist unwahrscheinlich. Nach den Überlegungen, die sich an den Kommentar der Muellers anschlössen, folge ich der vorsichtigen These P . H . Neumanns: " O h n e ihr ironisches Moment gegenüber anderen überzubetonen, darf man das Verhältnis der Galgenlieder zur gleichzeitigen Lyrik des Jahrhundertbeginns als eine ironische Zeitgenossenschaft bezeichnen." 3 3 5 Mit gleicher Vorsicht, aber konsequent schließt sich daran an: Zur gleichzeitigen Lyrik des Jahrhundertbeginns zählen auch die Nicht-GalgenliederSammlungen Christian Morgensterns. Greift man noch einmal zurück auf das Einzelbeispiel der "Lebensweisheit", so wird hier bereits die selbstironische Tendenz der Galgenliederironie deutlich. Die Ironie der "Lebensweisheit" lebt aus ihrer Zeitgenossenschaft zu Morgensterns seriös "anspruchsvollen" Aphorismen. Da dichtet Morgenstern: Ein Wunsch Weißt, was ich möchte, Mädchen? Ich wollt, ich war ein Maurer und stürzte vom Gerüst, und kurze Frist nur gäbe man meinem Leben noch... Sie trügen in dein H a u s mich, du pflegtest mich voll Mitleid, voll frauenhafter Güte, voll leiser Traurigkeit... Und deine Hände lägen auf meiner Fieberstirn, und unter deinen Händen schliefe mein Herzblut ein. 3 3 6 Und die Replik liefert der Dichter der Galgenlieder:

334 Epigramme und Sprüche, 9. 335P.H. Neumann, 54. 336Ich und die Welt, 24.

Die Welt des Humors

126

Die beiden Esel Ein finstrer Esel sprach einmal zu seinem ehlichen Gemahl: "Ich bin so dumm, du bist so dumm, wir wollen sterben gehen, k u m m ! " Doch wie es kommt so öfter eben: Die beiden blieben fröhlich leben. 337 Diese Zeitgenossenschaft kann nicht ohne Selbstironie gewesen sein. Nimmt man schließlich noch einmal kurz den Zusammenhang von Selbstironie und Humor auf, öffnet sich eine historische Perspektive zur Romantik. Schon Morgensterns Bestimmung des Humors als Betrachtung der Endlichkeit vom Standpunkt der Unendlichkeit 338 erinnerte an die grundlegenden Polarisierungen, die Friedrich Schlegel für die Ironie vorgenommen hatte, wonach sie "alles übersieht, und sich über alles Bedingte unendlich erhebt, auch über eigene Kunst, Tugend oder Genialität,339 Oder: Ironie als "Gefühl von dem unauflöslichen Widerstreit des Unbedingten und des Bedingten, der Unmöglichkeit und Notwendigkeit einer vollständigen Mitteilung." 3 4 0 Im Sinne des Morgensternschen Humor-Begriffs kommentiert bereits Novalis: "Schlegels Ironie scheint mir ächter Humor zu sein." 3 4 1 Und ausdrücklich nimmt E.T.A. Hoffmann in seiner "Prinzessin Brambilla" die Gleichsetzung von Selbstironie und Humor vor. Für ihn ist Humor "die wunderbare, aus der tiefsten Anschauung der Natur geborene Kraft des Gedankens, seinen eigenen ironischen Doppeltgänger zu machen, an dessen seltsamlichen Faxen er die seinigen und — ich will das freche Wort beibehalten — die Faxen des ganzen Seins hienieden erkennt und sich daran ergötzt." 3 4 2 Den Galgenlieder-Humor Morgensterns im Sinne der Romantiker als Ironie/Selbstironie erklären zu wollen, wäre sicherlich falsch. Daß sie aber einen nicht unwesentlichen Bestandteil dieses Humors ausmacht, scheint mir ebenso sicher. Palmström ist kein ironischer Doppelgänger Morgensterns: er ist sein ironischer Zeitgenosse. 343 337 VI, 93. 338Stufen, 37, 1906. 339F. Schlegel, Lyceums-Fragment 42, II, 152; Kursivdruck von mir. 340A.a,0., Lyceums-Fragment 108, II, 160. 341 Novalis, II, 428. 342E.T.A. Hoffmann, X, 63 f. 3431m übrigen muß Garniers Beschreibung der Morgensternschen Selbstironie — "Cette cruelle Selbstironie n'est possible que parce que le poète se prend comme object, se dissèque, s'ausculte, a la rage de se detruire; (...) il desire détruire l'esprit, le démonter parce qu'il est absurde et parce que croire en lui n'est qu'optimisme hypocrite." (711) — rundum abgelehnt werden. Nicht düster grausame Selbstzerstörung, sondern leichte

Parodie

127

c. PARODIE

Ist die Welt der Galgenlieder eine Welt der Parodie? Den Anschluß an den vorangegangenen Abschnitt stellt wiederum Allemann her: Parodie läßt sich als Stilform bestimmen, "welche Ironie sozusagen auf den sprachlichen Bereich als solchen reduziert zur Geltung b r i n g t . " 3 4 4 Parodie ist " d i e Sprechweise des Ironikers par excellenc e " . 3 4 S Bediente sich auch der Ironiker Morgenstern dieser Sprechweise? Ein Blick über die Welt der Galgenlieder hinaus bestätigt, daß auch er häufiger " a u s einem anderen Werk beliebiger Gattung formalstilistische Elemente, vielfach auch den Gegenstand übernimmt, das Entlehnte aber teilweise so verändert, daß eine deutliche, o f t komisch wirkende Diskrepanz zwischen den einzelnen Strukturschichten entsteht."348 Der Verfasser einer Horaz-Travestie parodiert mit Vorliebe Zeitgenossen: Gabriele d ' A n n u n z i o mit der dramatischen Szene " D a s Mittagsmahl (II p r a n z o ) " 3 4 7 : " W i e wird es schön sein, wenn wir jetzt wieder zusammensitzen werden, du, mein edler Oheim, Rosetta, meine Mutter, deine Schwester, Cousine Melissa, Eures Bruders Tochter — ihr kleiner Halbbruder Ghiotto und i c h . " 3 4 S Walt Whitman mit zwei Gesängen: " I c h singe den Gesang meines Zimmers. Ich singe den Gesang meiner Tapete, meines Plafonds, meines Fußbodens, meiner Türen, meiner Fenster, meiner Umzimmer, Unter- und Ü b e r z i m m e r . " 3 4 9 Stefan George mit einem Gedicht: Aus Lametta vom Christbaum der drittletzten Erleuchtung Ich wünschte daß ihr jene p f a d e trätet Auf denen unsre antilopen-süchte Den myrrhenduft berauschenderer früchte Genossen als um die ihr glücklich bätet... 3 5 0 Heiterkeit ist ihr Merkmal. (Der Heiterkeit wird noch ein eigener Abschnitt gewidmet werden.) Daß Garniers Übersetzungsversuche der Galgenlieder "Der Seufzer", "Bim, Bam, Bum" und "Der Hecht" so mißlungen humorlos ausfallen mußten, verwundert nicht. 344Allemann, 1956, 24. Abgedruckt auch bei Hass/Mohrlüder, 44. 345 Ebda. 346Rotermund, 1963, 9. 347 Die Schallmühle, 131 ff. 3 4 8 A . a . O „ 133. 3 4 9 A . a . O . , 76. 3 5 0 A . a . O . , 62.

128

Die Welt des Humors

Parodiert werden Paul Scheerbart 351 und die "Berliner Schule" 3 5 2 Peter Altenberg 353 und die "Wiener Schule" 3 5 4 und Alfred Kerr 355 . Parodiert wird der Heimatdichter 356 , der naturalistische Dramatiker 357 und der Literaturwissenschaftler 358 . "Der Igel" und "Die eiserne G a n s " leiten uns schließlich zu den Galgenliedern zurück. Auf den ersten Blick zwei Selbstparodien Morgensterns: Der Igel Galgenschule. Verfasser unbekannt. Schema: Das ästhetische Wiesel. Ein Igel saß pyramidalisch auf einem Hügel.

Er fühlte sich — wie sag ich's ungeziert — normalvokalisch untergrundfundiert. + (Lies: Strich, Punkt, Strich) 3 " Die eiserne Gans Galgenschule. Verfasser unbekannt. Schema: Das Nasobem. Ist eine Gans aus Eisen, die niemand noch kennt im Land. Ihr mögt bis nach Böhmen reisen, Ihr findet nit ihren Stand. Sie schenkt Euch täglich Federn, so viel Ihr wollt und kauft. Ihr werdet sie nit zerfledern. wie sehr Ihr sie auch zerrauft. 35lDer Apfelschimmel, a.a.O., 72. 352Der Mord, a.a.O., 69. 353Der grüne Leuchter, a.a.O., 56 und Die Torte, a.a.O., 58. 354A.a.O„ 59. 355Der Hundeschwanz, a.a.O., I6l. 356Der Lyriker von Buxtehude, a.a.O., 67. 357Knochenfraß, a.a.O., 84. 358Aus einer Literaturgeschichte neuer deutscher Lyrik, a.a.O., 54. 359A.a.O., 78 und VIII, 103.

Parodie

129

Ist eine Gans aus Eisen (an die noch niemand glaubt), doch sprang sie gleich Athenen, oh Mensch, aus diesem Haupt. 3 6 0 Um den Bezug zu den nachgeahmten Vorbildern herzustellen, versah Morgenstern beide Gedichte mit Untertiteln, deren verkleidender Bestandteil "Verfasser unbekannt" auf eine Parodie hinzuweisen scheint. Dennoch lassen "Igel" und " G a n s " ein wesentliches parodistisches Element vermissen, das Element der "komisch wirkenden Diskrepanz". Igel und Gans täuschen nicht vor, aus der Galgenliederschule zu stammen, sie stammen aus ihr. Der bekannte Verfasser wird ihre Qualität abgewogen und sie — mit Recht — nicht in die Sammlung der Galgenlieder aufgenommen haben. Die Frage, ob Morgensterns Galgenlieder Uberhaupt grundsätzlich parodierbar seien, führte zu der bekannten Auseinandersetzung zwischen Neumann und Torberg. Neumanns These — "Allgemein läßt sich sagen: parodierbar ist nur einer, der sich ernst nimmt. Morgenstern zu parodieren, wird keinem gelingen." 361 — scheint der Galgenliederdichter zu bestätigen: Ihm gelang die Selbstparodie nicht! Torberg versucht es dennoch: "Der Sinn", eine Galgenlieder"parodie". Ein Auszug: Der Sinn hielt trüb auf einem Ast am Baume der Erkenntnis Rast und sprach zu sich an sich: "Ich bin als Sinn für mich ganz ohne Sinn. Ja mehr, noch mehr. Mein Ich verwest, wenn man es nicht von mir erlöst und mich zum DOPPELSINN gesteigert, sich mich zu kommentieren weigert!" So sprach der SINN und ließ sich schlapp auf einen tiefern Ast hinab, wo er (wer staunt da?) (qu.e.d.) mit rauher Hand das Negligé des NEBENSINNS vom Nebenast an sich reißt, packt, ergreift, erfaßt und jenen, welcher, jäh entkleidet, an Schüttelfrost und Fieber leidet, nun hämisch einen SCHWACHSINN heißt... 3 6 2 360A.a.O., 79. 361R. Neumann, 441. 362Nach Pablé, 177.

130

Die Welt des Humors

O b T o r b e r g oder N e u m a n n Recht behalten soll, ist auch in der j ü n g s t e n P a r o d i e - F o r s c h u n g noch immer u m s t r i t t e n . Karrer schlägt sich auf T o r bergs Seite, 3 6 3 Verweyen und Witting ergreifen f ü r N e u m a n n P a r t e i . Seiner Bilanz " A b e r T o r b e r g hat u n r e c h t ! Ich h a b e r e c h t ! " stimmen sie z u . 3 6 4 U n d a u c h ich halte T o r b e r g s P a r o d i e f ü r nicht gelungen, d e n n auch in ihr k a n n ich keine " k o m i s c h w i r k e n d e D i s k r e p a n z " e n t d e c k e n . Die These " M o r g e n s t e r n zu p a r o d i e r e n wird keinem g e l i n g e n " , v o n N e u m a n n 1928 aufgestellt; von Achatzi 1932 bekräftigt — " b i s jetzt ist es noch keinem g e l u n g e n " 3 6 5 — d a r f bis jetzt ihre Gültigkeit b e h a l t e n . Von den Galgenlieder-Parodien n u n zu den Galgenliedern als P a r o dien. M o r g e n s t e r n s S t e l l u n g n a h m e in dieser Frage ist u n m i ß v e r s t ä n d lich: " G e w i ß , ich habe in den neunziger J a h r e n eine S a m m l u n g P a r o dien geschrieben. (...) Aber d a s waren a u c h mit derselben Stilsicherheit P a r o d i e n , wie die 'Galgenlieder' — wenn ich vielleicht das eine Gedicht ' D e r herorische P u d e l ' a u s n e h m e — keine P a r o d i e n s i n d . " 3 6 6 " O Ihr tiefsinnigen A u s l e g e r . " 3 6 7 U n b e e i n d r u c k t aber b e h a r r e n Ausleger nach wie vor auf einer p a r o d i stischen Dimension der Galgenlieder u n d begeben sich auf die Suche nach " V o r b i l d e r n " . R o t e r m u n d , der in seiner U n t e r s u c h u n g " D i e P a r o d i e in der m o d e r nen L y r i k " Morgenstern ein eigenes Kapital w i d m e t , 3 6 8 nimmt aus der S a m m l u n g der Galgenlieder " D a s G e b u r t s l i e d " a u f , " G a l g e n k i n d e s W i e g e n l i e d " , das " B u n d e s l i e d der G a l g e n b r ü d e r " , " D e r S e u f z e r " , " D a s g r o ß e L a l u l ä " und " L i e b o h n e W o r t e " . 3 6 9 Die sechs Gedichte aber belegen wohl eher die P a r o d i e p r o b l e m a t i k als den P a r o d i e c h a r a k ter der Galgenlieder weit. Die Bezeichnung " P a r o d i e " f ü r das " G e b u r t s l i e d " und " G a l g e n k i n des W i e g e n l i e d " zu rechtfertigen, fällt dabei zunächst nicht schwer. " P a r o d i e r t " werden Kinderlieder. Das Verhältnis von Vorbild und N a c h b i l d u n g ist deutlich: Galgenkindes Wiegenlied Schlaf, Kindlein, schlaf am H i m m e l steht ein Schaf; das S c h a f , d a s ist aus W a s s e r d a m p f u n d k ä m p f t wie du den L e b e n s k a m p f . Schlaf, Kindlein, s c h l a f . . . 3 7 0 363 Karrer, 36. 364 Verweyen/Witting, 128. 365 Achatzi, 52. 366 Briefe, 400. 367A.a.O., 400 f. 368Rotermund, 1963, 57-75. 369A.a.O., 60 ff. 370 VI, 101.

Parodie

131

Das Vorbild: Schlaf, Kindlein, schlaf, A m H i m m e l ziehn die S c h a f , Die Sternlein sind die L ä m m e r l e i n , Der M o n d , der ist das Schäferlein, Schlaf, Kindlein, schlaf! 3 7 1 D e n n o c h — o b w o h l die f o r m a l e n Kriterien einer P a r o d i e erfüllt zu sein scheinen, bleibt ein Rest Unsicherheit. W a s unterscheidet diese " P a r o d i e " von a n d e r e n eindeutigeren P a r o d i e n ? Eine b e s o n d e r e Art der " D i s k r e p a n z " zu ihrem Original ist ihr eigen, d o c h wohl k a u m eine " k o m i s c h w i r k e n d e " . Von den traditionellen Zielsetzungen der P a r o d i e , die Karrer mit " L a c h e n , Kritik, Verlachen, Satire oder T ä u s c h u n g " z u s a m m e n f a ß t , 3 7 2 läßt sich keine d e m Wiegenlied des G a l g e n k i n d e s überzeugend z u o r d n e n . Es scheint weder kritisieren, spotten oder täuschen zu wollen, u n d o b es " L a c h e n " p r o d u z i e r t , bleibt z w e i f e l h a f t . Zu gering ist der A b s t a n d zu M o r g e n s t e r n s wirklichen Kinderliedern: Schlaf, Kindlein, schlaf! Es war einmal ein S c h a f . Das S c h a f , das ward geschoren, f ü r wen? f ü r einen M o h r e n . . . 3 7 3 Schlaf, Kindlein, schlaf! Es war einmal ein S c h a f . Das S c h a f , d a s ward geschoren, da hat das Schaf g e f r o r e n . . . 3 7 4 T r ä u m , Kindlein, t r ä u m , im G a r t e n stehn zwei B ä u m ' . Der eine, der trägt Rosen, der a n d r e A p r i k o s e n ! . . . 3 7 5 Ein A u s w e g aus der Schwierigkeit, d e m G a l g e n k i n d e r - " W i e g e n l i e d " keine klaren parodistischen Ziele z u o r d n e n zu k ö n n e n , läßt sich vielleicht mit R o t e r m u n d in die Kategorie der " g r o t e s k - p h a n t a s t i s c h e n P a r o d i e n " 3 7 6 f i n d e n , der d a n n in gleicher Weise " D a s G e b u r t s l i e d " zugeo r d n e t werden m ü ß t e . 371 Aus: Des Knaben Wunderhorn, 828; nach Rotermund, 61. 372 Karrer, 50. 373Der Mohr, Klein Irmchen, 35. 374Schlummerliedchen, a.a.O., 38. 375Traumliedchen, a.a.O., 31. 376Rotermund, 1963, 62 und 1964, 34 f.

132

Die Welt des Humors

Fazit: Zwei Galgenlieder k ö n n e n parodistisch genannt werden im besonderen Sinn der " g r o t e s k - p h a n t a s t i s c h e n " P a r o d i e , die innerhalb der landläufigen Zielvorstellungen von P a r o d i e nicht eindeutig b e s t i m m b a r ist. Lieb o h n e W o r t e Mich erfüllt Liebestoben zu dir! Ich bin deinst, als o b einst wir vereinigst. Sei du meinst! K o m m Liebchenstche zu mir — ich vergehste sonst sehnsuchtstgepeinigst. Achst, achst, schwächst schwächst a r m s Wortleinstche, was? G e n u g d e n n , a u c h d u , a u c h du liebsest. Fühls, f ü h l s ganzst o h n e W o r t e : sei Meinstlein! Ich sehne dich sprachlosestest. 3 7 7 Ein drittes Galgenlied, das p a r o d i e r t , n u n mit eindeutig humoristischkritischer T e n d e n z . Z u m einen wendet es sich — wie auch R o t e r m u n d interpretiert — gegen den allgemeinen ü b e r m ä ß i g e n Gebrauch des Superlativs. Dazu M o r g e n s t e r n 1907 über d a s Briefschreiben: " G e w ö h n e n wir uns den Superlativismus a b . Schreiben wir nicht mehr geehrtest, ergebenst, achtungsvollst, herzlichst u n d s c h ö n s t . " 3 7 8 " L i e b o h n e W o r t e " aber bildet a u c h literarische Vorbilder nach. Parodistich greift es verschiedene lyrische Stilelemente a u f . Es parodiert den steigernden Lyriker: In den d u n k e l s t e n N ä c h t e n , wo nur die Eule noch j a g t , zieht d u r c h des einsamsten W a l d e s finstersten Teil ein gespenstischer S t i e r . . . 3 7 9 Es parodiert den reimenden Reimer: W a s rufst d u , traurig H e r z ! sei still! Es k a n n nicht sein — ergieb dich drein. 377VI, HO. 378 Stufen, 114. 3 7 9 " U r - U r " . Auf vielen Wegen, 122.

133

Parodie

Es kann nicht alles also sein, wie deine Sehnsucht will... 3 8 0 Es parodiert den Pathetiker des G e f ü h l s : H a , fühls! du m u ß t ! Ein Neues gärt e m p o r . . . Mit tausend A r m e n k r a m p f t und reckt sichs a u f . . . Ein dunkler, graunvoll süßer Lärm schwillt a n . . . So rollt das Meer in Vorsturm-Melodien... Oh K r a f t ! oh Leben! K o m m herauf! herauf! Natur gebier! Ein neues Erdenfest entfrühlinge der Völker trägem Schoß! J a ! ja! du willst! Ich fühl es j a ! Ich fühls! 3 8 1 Mit der Interpretation des " S e u f z e r s " wird der Boden nun schwankender, obwohl R o t e r m u n d mit Sicherheit behauptet: " D a s Vorbild dieser Parodie ist zweifellos Heinrich H e i n e . " 3 8 2 Ein Seufzer lief Schlittschuh auf nächtlichem Eis und träumte von Liebe und Freude. Es war an dem Stadtwall, und schneeweiß glänzten die Stadtwallgebäude. Der Seufzer dacht an sein Maidelein und blieb erglühend stehen. Da schmolz die Eisbahn unter ihm ein — und er sank — und ward nimmer gesehen. 3 8 3 F. N e u m a n n erinnert. 3 8 4

fühlt

sich

eher

an

Goethe

und

dessen

"Fischer"

380 " W a s rufst d u . . . " , Ich und die Welt, 20. 381 " G e f ü h l " , a.a.O., 98. 382Rotermund, 1963, 64. 383 VI, 38. 384F. Neumann, 344 f. — Dazu Morgenstern 1891 an Kayssler: "Lies übrigens einmal laut den 'Fischer' von Goethe. Er soll nach dem Urteil eines berühmten Literaturkenners seinesgleichen kaum haben, was die Melodie der Sprache anbetrifft." (Briefe, 16). Und 1896 an Hirschfeld: " D a n n habe ich mir jetzt einen Goethe gekauft, zwölf Bände, mit denen man sich getrost Gott übergeben kann, ohne sich in seinem Himmel zu langweilen. Zum Überfluß habe ich noch einen Heine dazu erworben (...). Es ist freilich schwer, unter solchen Sternen selbst zu schaffen, aber wozu hat man den Leichtsinn seiner Jugend?" (Briefe, 80).

134

Die Welt des Humors

Sie sprach zu ihm, sie sang zu ihm; Da wars um ihn geschehn: Halb zog sie ihn, halb sank er hin, Und ward nicht mehr gesehn. 385 Parodie? Hier muß nun unterschieden werden zwischen parodistischer Nachahmung und Nachahmung überhaupt. Heine war Morgensterns Vorbild nicht nur für den "Seufzer", stand nicht nur für "Die Weste" 3 8 6 Pate 3 8 7 oder für die "Tapetenblume" 3 8 8 . Sein Einfluß ist in der gesamten Welt der Galgenlieder spürbar. Daß die Lektüre Heines "zu den lebhaftesten Eindrücken, die ich in jüngeren Jahren hatte", 3 8 9 gehörte, teilt Morgenstern 1895 dem Berliner Kritiker Osborn mit. Morgenstern ahmt Heinrich Heine nach, doch er parodiert ihn nicht. "Der Seufzer", "Die Weste" und die "Tapetenblume" nehmen Stilelemente der Lyrik Heines auf, ohne sie in parodistischer Diskrepanz bloßstellen zu wollen. Sie sind keine verkleideten Heine-Gedichte, sie sind Galgenlieder, die unter dem Einfluß Heines entstanden. Rotermunds These müßte wohl abgewandelt werden: "Der Seufzer" ist sehr wahrscheinlich eine Nachahmung Heinrich Heines. Nachahmung scheint mir auch das "Bundeslied der Galgenbrüder" zu sein, 390 das Rotermund als Parodie so vorstellt: "Hier ist kein bestimmtes Bundeslied parodiert, sondern seine Gattung." 3 9 1 Nicht parodiert wird diese Gattung, sondern ihre Tradition fortgesetzt. Wie das folgende Kapitel noch zeigen wird, war das "Bundeslied der Galgenbrüder" ein Bundeslied der Galgenbrüder. Nicht mit parodistischen Zielen sangen sie es, sondern in der ausgelassenen Laune eines Studentenulks. Bleibt noch "Das große Lalulä", dem Rotermund vorsichtig begegnet: " O b man ein solches Geb-H-de als Parodie im integralen Sinne deuten kann, ist fraglich." 3 9 2 Ob es vielleicht "die Vokallust des Symbolism u s " parodiert? 3 9 3 Morgenstern ahmt nach: Als eigentlicher Erfinder des " L a l u l ä " muß der schon fast vergessene Paul Scheerbart gelten, dessen verwegen-urwüchsige Dichtungen Morgenstern in Berlin kennenlernte. 394 Scheebart dichtete das große "Kikakokü": 385Goethe, I, 117. 386VI, 53. 3 8 7 " I n der Pointe der 'Weste' imitiert Morgenstern sogar Heines Denken." (Liede, I, 297). 388 VI, 95. — Ein Gedicht wie die "Tapetenblume" will Morgenstern 1909 aus den Galgenliedern streichen lassen, da es "versehentlich aus Heines Nachlaß dorthin geraten ist." (Briefe, 389). 389 Briefe, 67. 390 VI, 16. 391 Rotermund, 1963, 62. 392A.a.O„ 65. 393 J. Klein, 1957, 795. 394Vgl. Bauer, 1933, 70; vgl. Gumtau, 52.

Parodie

135

Kikakokü! Ekoraläps! Wiso kollipanda opoläsa. Ipasätta Th füo Kikakokü proklinthe peteh. Nikifili mopalexio intipäschi benakäffro-pröpsa Pi pröpsa pi. 395 Scheerbarts Einfluß auf den Dichter der Galgenlieder muß als erheblich angenommen werden. 396 1907 kündigt Morgenstern in einem Brief an Max Reinhardt an: "Wenn mich nicht alles trügt, werde ich Dir für die nächste Saison der Kammerspiele ca. zehn phantastisch-satirische Szenen einreichen mit dem Gesamttitel 'Zehnminutenbrenner'. Die frohe Aufnahme der Scheerbartiaden hat alten Ideen in mir neuen Mut gemacht." 3 9 7 Dazu merkt Margareta an: "Scheerbartiaden: ScheerbartParioden, nicht erhalten. Der Dichter Paul Scheerbart lebte von 18631915 398 y n c i Liede kommentiert: "Es ist eine bewußte oder unbewußte Irreführung der Herausgeberin der Briefe (...), die Galgenlieder sind damit gemeint", 3 9 9 ohne diese Behauptung mit Belegen stützen zu können. Für Liede spricht: Nirgendwo sonst werden die von Margareta angenommenen Scheerbart-Parodien erwähnt, auch nicht als Morgenstern sie hätte erwähnen "müssen". Anlaß genug wäre die Auseinandersetzung mit der Parodie-Interpretation der Galgenlieder gewesen. Um die Eigenständigkeit der Galgenlieder hervorzuheben, teilt er dort — drei Jahre nach der Scheerbartiaden-Aussage — im Gegenzug mit, wo er tatsächlich Parodist gewesen sei: mit einigen, später in der "Schallmühle" veröffentlichten Stücken. Von Scheerbart-Parodien ist nicht die Rede. Letztlich aber ist es im Zusammenhang einer Lalula-Interpretation nicht sehr wichtig, ob Morgensterns Frau hier Wahrheit oder Unwahrheit anmerkt. Beide Möglichkeiten — "Scheerbartiaden" = Scheerbart-Parioden oder "Scheerbartiaden" = Galgenlieder — leisten den gleichen Beitrag zum Verständnis des " L a l u l a " . 1) Bezeichnet Morgenstern selbst die Galgenlieder als "Scheerbartiaden", ist auch die Herkunft des "großen Lalula" geklärt. 2) Stimmt die Angabe Margaretas, so setzen Scheerbart-Parodien, die " f r o h " aufgenommen wurden, also wahrscheinlich gelungen waren, eine genaue Kenntnis des Vorbildes voraus. Kennt Morgenstern aber Paul Scheerbart so genau, ist nur der Schluß möglich, daß die offensichtliche Ähnlichkeit zwischen "Kikako395Ich liebe Dich, 249. Das große Lalula, s.o., S. 49 f. 396Vgl. Liede, I. 307. 397 Briefe, 244; Kursivdruck von mir. 298A.a.O., 511. 399Liede, I, 307.

136

Die Welt des H u m o r s

k ü " u n d L a l u l ä " auf einen E i n f l u ß des V o r l ä u f e r s a u f den N a c h f o l g e r z u r ü c k z u f ü h r e n ist. Fazit in A b ä n d e r u n g R o t e r m u n d s : D a ß m a n ein solches Gebilde als N a c h a h m u n g P a u l S c h e e r b a r t s d e u t e n k a n n , ist f r a g los. Von Scheerbart zu Nietzsche. V o m " g r o ß e n L a l u l ä " z u m " G e b e t " der Rehlein. In welch g r o ß e m M a ß e a u c h Nietzsche ein sprachliches Vorbild f ü r M o r g e n s t e r n w a r , weist w i e d e r u m Liede detailliert n a c h : M a n c h e r G r u n d g e d a n k e f ü r m a n c h e s Galgenlied ist offensichtlich Zar a t h u s t r a zu v e r d a n k e n . 4 0 0 U n t e r den Galgenliedern befindet sich n u n "Das Gebet": Die Rehlein beten zur N a c h t hab acht! Halb neun! Halb zehn! H a l b elf! H a l b zwölf! Zwölf! Die Rehlein beten zur N a c h t , hab acht! Sie falten die kleinen Zehlein, die R e h l e i n . 4 0 1 1913 v e r ö f f e n t l i c h t R i c h a r d M . Meyer seine " D e u t s c h e n P a r o d i e n " u n d darin M o r g e n s t e r n s " G e b e t " , d e n n es zähle zu den "witzigen Nachbild u n g e n individueller Eigenheiten, die m e h r den ganzen literarischen H a bitus zu t r e f f e n suchen als einzelne T e n d e n z e n " , 4 0 2 im Falle des " G e b e t s " : " N i e t z s c h e s tiefsinniges D u n k e l . " 4 0 3 W a r u m ? Eins! O Mensch! Gib Acht! Zwei! W a s spricht die tiefe M i t t e r n a c h t ? Drei! " I c h schlief, ich schlief — , Vier! A u s tiefem T r a u m bin ich e r w a c h t : — Fünf! Die Welt ist tief, Sechs! 4(X)A.a.O., 307 f f . 401 VI, 19. 4 0 2 R . M . Meyer, X V I I I . 403A.a.O., XIX.

Parodie

137

Und tiefer als der Tag gedacht. Sieben! Tief ist ihr Weh — Acht! Lust — tiefer noch als Herzeleid: Neun! Weh spricht: Vergeh! Zehn! Doch alle Lust will Ewigkeit —, Elf! — will tiefe, tiefe Ewigkeit!" Zwölf! 4 0 4 Morgenstern aber wehrt sich verärgert gegen eine Interpretation des " G e b e t s " als Parodie und verteidigt — wie bereits erwähnt — auch die übrigen Galgenlieder gegen solcherart "Unterstellungen". Man verdirbt sich wirklich das Beste an den Sachen, wenn man in solcher Weise literarische Beziehungen herstellen zu müssen trachtet. Sie sind ganz abseits von allem literarischen Geist entstanden und haben nie auch nur im Traum eine Verspottung oder dergleichen zeitgenössischer Lyrik sein sollen. Ich darf mich endlich einmal dagegen verwahren, daß diese Dinge ein " L i t e r a t " in die Welt gesetzt habe. 4 0 5 Zu den Rehlein (...) standen Sinn für Phonetik, Phantasie und simple Naturanschauung Pate — und nicht irgendein Tiefsinn irgendeines Nietzsche. 406 Hatte Meyer also unrecht? Es muß geklärt werden, welche Vorstellungen von " P a r o d i e " Morgenstern dazu bewegten, diese Bezeichnung für "Das G e b e t " als Unterstellung abzulehnen. Was bedeutet für ihn " P a rodie"? Offenbar sah er sie eng mit der Zielsetzung des "Verlachens" verbunden, "eine Verspottung oder dergleichen". Parodie also eher im Sinne Robert Neumanns: " P a r o d i e ist Nachahmung mit Polemik gegen den Nachgeahmten." 4 0 7 Dann ist " D a s G e b e t " gewiß keine Parodie, denn nichts lag dem Nietzsche-Verehrer Morgenstern ferner als eine Polemik gegen sein Vorbild, als eine Spitze gegen dessen "tiefsinniges Dunkel". Noch einmal, als Mann vom Fach, Robert Neumann: "Grundsätzlich ausgedrückt: Formnachahmung mit der Spitze gegen einen anderen als den legitimen Inhaber der entfremdeten Form (...) ist 404"Das andere Tanzlied", VI], 281 f. 405Briefe, 400, undatiert. 406 Ebda. 407 R. Neumann, 439.

138

Die Welt des H u m o r s

ebensowenig parodisch wie eine unkritisch getreue F o r m n a c h a h m u n g ü b e r h a u p t . " 4 0 8 M o r g e n s t e r n s " G e b e t " ist gänzlich o h n e Spitze, keine getreue, aber eine unkritische N a c h a h m u n g , k u r z u m — also ebensowenig p a r o d i s c h . Parodistisch aber m u ß es g e n a n n t w e r d e n , geht m a n d a v o n aus, d a ß das " G e b e t " die b e w u ß t e N a c h b i l d u n g eines Vorbildes ist, die zu diesem Vorbild in komischer D i s k r e p a n z steht, u n d sieht diese Eigenschaften als ausreichend f ü r die Bezeichnung " P a r o d i e " a n . Dabei bleibt allerdings noch i m m e r das W o r t " b e w u ß t " umstritten und wird wohl auch nie, M o r g e n s t e r n s anscheinend eindeutiger A b s a g e zum T r o t z und wegen der v e r b l ü f f e n d e n Ähnlichkeiten zu Nietzsches Tanzlied, dem Bereich der S p e k u l a t i o n e n t h o b e n werden k ö n n e n . Die Möglichkeit, d a ß sich die L e k t ü r e des Nietzsche-Verehrers M o r g e n s t e r n u n b e m e r k t in die Welt der Galgenlieder hineingeschlichen h a b e , ist endgültig — es sei d e n n , es finden sich neue entscheidende Quellen — nicht zu widerlegen. U n t e r den m e h r als 275 Galgenliedern b e f i n d e n sich drei, die mehr oder weniger eindeutig als " P a r o d i e n " identifiziert werden k o n n t e n : " D a s Geburtslied", "Galgenkindes Wiegenlied" und "Lieb ohne Wort e " . Unter ihnen befindet sich ein S o n e t t , das nicht R o t e r m u n d und nicht Meyer vorstellt u n d doch die Bezeichnung " P a r o d i e " — nicht mehr oder weniger, sondern diesmal gewiß — eindeutig verdient: Die Priesterin Nachdenklich nickt im D ä m m e r die P a g o d e . . . D a n e b e n tritt aus ihres H a u s e s P f o r t e T'ang-ku-ei-i, die Hüterin der O r t e vom krausen Leben und v o m grausen T o d e . A u s ihrem M u n d e hängt die M o n d s c h e i n - O d e T a n g - W a n g s , des Kaisers, mit g e b l ü m t e r Borte, in ihren H ä n d e n trägt sie eine T o r t e , g e k r ö n t von einer winzigen K o m m o d e . So wandelt sie die sieben ängstlich s c h m a l e n , aus Flötenholz geschwungnen T e m p e l b r ü c k e n zum G r a b e des vom M o n d erschlagnen H u n d e s — und brockt den Kuchen in die O p f e r s c h a l e n — und lockt den M o n d , sich auf den Schrein zu bücken, und reicht ihm ihr Gedicht gespitzten M u n d e s . . . 4 0 9

408 E b d a . 409VII1, 42.

Parodie

139

Hier ist Morgenstern ein Robert Neumann, dieses Galgenlied muß symbolistische Lyrik parodieren. 410 Das Thema China ist dem Sybolisten lieb — man denke an Claudel —, Pretiosität und geheimnisvolle Mythologie gehen darin besonders gut zusammen. Morgenstern schlägt es an und drängt es ins unweigerlich Lächerliche hinüber, er bedient sich Punkt um Punkt symbolistischer Stilmittel und Verskünste, er schwelgt in ästhetenhaften Bildern und kontrastiert all das pretiöse Ästhetentum mit realeren Dingen und unfeierlichen Worten wie Torte, Kommode und toter Hund, er spitzt die Verlachung des pretiösen Ästhetentums in dem Schlußbild des "gespitzten Mundes" epigrammatisch zu. 411 " O Ihr tiefsinnigen Ausleger", verzweifelt Morgenstern, 412 seine Ironie ist begründet. Unsere Suche nach nachgeahmten, nachgebildeten, nachempfundenen Vorbildern ist unermüdlich. Da entdeckt Liede noch Galgenliederähnlichkeiten zu Bormann (280), Busch (277 und 299), Dehmel (292 und 298), Eichendorff (282), Geibel (280), Gumppenberg (305), Holz (296 und 300), Mörike (344), Scheffel (300), Schwab (304), Smollett (296), Wagner (292). Anklänge an Goethe hört F. Neumann: Die fünfte Strophe der "Braut von Korinth" sei dem " T a n z " 4 1 3 des Galgenliederdichters ähnlich. 414 Und F. Neumann ist es auch, der eine Verwandtschaft zwischen Morgensterns "Knie" — "Es ist kein Baum, es ist kein Zelt. Es ist ein Knie, sonst nichts." 4 1 5 — und Hebbels "letztem Baum" entlarvt: Es ist ein Baum und weiter nichts. Doch denkt man in der Nacht Des letzten wunderbaren Lichts, So wird auch sein gedacht. 416 Sorgfältig und schön ist schließlich eine These Max Forchheimers, die den Rahmen rein literarischer Vorbilder erweiterte. Forchheimer interpretiert Morgensterns "Der Steinochs" 417 und vermutet, "daß er (Mor410Den Spekulationen C. Friedrichs, Morgenstern parodiere — u.a. — mit den "Trichtern" jene Symbolisten, "die ihren Gedichten auf optische Art Effekt verleihen wollen", (47) mit dem "großen Lalulä" ihr "Verlangen nach Wortmusik", (ebda.) mit der "Korfschen U h r " und "Palmströms U h r " und dem "Lattenzaun" "Probleme der Symbolisten, das der Zeit und das des Raumes", (48) wird nicht gefolgt. 411 Klemperer, 100. 412Briefe, 400 f., undatiert. 413 VI, 35. 414F. Neumann, 345. 415 VI, 36. 416Nach F. Neumann, 343. 417 VI, 94.

140

Die Welt des Humors

genstern) an einen g a n z bestimmten Steinochs d a c h t e , nämlich an d e n , der über d e m E i n g a n g zu den Fleischhallen in N ü r n b e r g a n g e b r a c h t ist. Diese Figur, deren H ö r n e r u n v e r h ä l t n i s m ä ß i g g r o ß u n d d r o h e n d sind, ist in der ersten S t r o p h e ausgezeichnet b e s c h r i e b e n . " 4 1 8 Der Steinochs schüttelt s t u m m sein H a u p t , d a ß j e d e r seine K r a f t ihm g l a u b t . Er spießt dich plötzlich auf sein H o r n u n d b o h r t von hinten dich bis v o r n . Weh! ' " V o n Berg zu Berg' wird d a n n eine h a r m l o s e Anspielung auf N ü r n berg."419 Der Steinochs lebt von Berg zu Berg, vor ihm wird, was d a wandelt, Zwerg. Er n ä h r t sich meist — u n d d a s ist neu — von menschlicher Gehirne H e u . Weh! " F ü r die weitere E r k l ä r u n g müssen wir die beiden H e x a m e t e r b e t r a c h ten, die u n t e r der Figur stehen: O m n i a h a b e n t o r t u s s u a q u e in c r e m e n t a sed ecce q u e m cernis n u m q u a m bos fuit hic vitulus. Ich m ö c h t e sie f o l g e n d e r m a ß e n übersetzen: Alle tragen in sich U r s p r u n g u n d W a c h s t u m , ich aber den du als O c h s e n hier siehst, niemals war ich ein Kalb. Damit ist die letzte S t r o p h e o h n e weiteres g e k l ä r t . " 4 2 0 Der Steinochs ist kein Tier, das stirbt, dieweil sein Fleisch niemals verdirbt. Denn wir sind S t a u b , doch er ist Stein! Du m ö c h t e s t wohl auch Steinochs sein? He? F o r c h h e i m e r s abschließende V e r m u t u n g : "Vielleicht gibt diese zwanglose E r k l ä r u n g a u c h f ü r andere, ähnliche G e d i c h t e M o r g e n s t e r n s einen S c h l ü s s e l " , 4 2 1 k a n n a u f der Suche nach Vorbildern und N a c h b i l d u n g e n eine W a r n u n g sein. 418Forchheimer, 198 f. 419 Ebda. 4 2 0 A . a , 0 . , 199. 421 Ebda.

Ulk

141

Das Kapitel über die Parodie wird mit dem Eingeständnis abgeschlossen, daß für den "Heroischen P u d e l " — das einzige Galgenlied, das Morgenstern als Parodie bezeichnet 4 2 2 — das parodierte Vorbild nicht gefunden werden konnte.

d. ULK

Ist die Welt der Galgenlieder eine Welt des Ulks? Um die Antwort diesmal vorwegzunehmen: Anfangs und ursprünglich war sie es. Der Ulk stellt die erste Stufe in der Evolution dieser Welt dar. " E s waren einmal acht lustige K ö n i g e . . . " 4 2 3 , Schuhu, Rabenaas, Verreckerle, Veitstanz (genannt der Glöckner). Gurgeljochem, Spinna, Stummer Hannes (genannt der Büchner) und Faherügghh (genannt der Unselm). 4 2 4 Die gehörten dem Verein des " G a l g e n b e r g s " an. Welch ein Verein war das? Er wurde 1895 auf einem Ausflug nach Werder (bei Potsdam) gegründet, 4 2 5 und er " s t a n d unter dem Zeichen des Spiritus asper. Sein Wahlspruch lautete: 'Per aspera ad astra'. Auf deutsch soll das heißen: 'Der Hauch über den Dingen ist das B e s t e ' . " 4 2 6 "Morgenstern leitete die Versammlungen der Galgenbrüder mit einer uralten Schwertklinge, die Blutrost von zweifelhafter Echtheit trug. Die Satzungen waren auf Pergament mit Blutspritzern aus roter Tinte verzeichnet." 4 2 7 "Inmitten des Raumes, der durch das schwarzverschleierte Lampenlicht einen gespenstischen Anblick bot, stand der Tisch, mit einem schwarzen Tuch bedeckt. Darauf die Henkersmahlzeit, ein Brot und ein Becher mit Wasser; eine Wachskerze dahinter, daneben der Lebensfaden aus roter Wolle, die Bibel und auf ihr das von Rost zerfressene Schwert. Eine Sanduhr und das Armesünderglöcklein durften nicht f e h l e n . " 4 2 8 So wenig wie ein " A b d e c k e r " und " S o p h i e die Henkersmaicf" und das K o m m a n d o : " G e h ä n g t " . 4 2 9 Der Galgenberg aber war ruhe- und rastlos, war heute hier und morgen dort.

422Briefe, 400, undatiert. 423 VI, 13. 424 JAI, 11 f. 425 Briefe, 401, 1910. 426 Ebda. 427Georg Hirschfeld. "Galgenberg". Voss. Zeitung, 4.5.1928; nach Bauer, 1933, 181. 428 Bauer, 1933, 183. 429Nach Liede, I, 276.

142

Die Welt des H u m o r s

D a s geheimnisvolle M ä r c h e n von den acht Königen liest sich in W i r k lichkeit so: Es wäre einmal acht S t u d e n t e n " a u s künstlerischen, a k a d e mischen u n d k a u f m ä n n i s c h e n B e r u f e n " , 4 3 0 — ein " l u s t i g e r K r e i s " , 4 3 1 bestehend aus " e i n i g e n j u n g e n T o r e n " , 4 3 2 die genossen ihr Studentenleben auf B u r s c h e n s c h a f t s a r t , g a b e n sich ä u ß e r e Zeichen ihrer G r u p p e n zugehörigkeit u n d kultivierten mit allerlei Einfällen ihr G r u p p e n l e b e n . M o r g e n s t e r n 1891 als z w a n z i g j ä h r i g e r S t u d e n t : Wir suchen jetzt in hiesiger U m g e b u n g sämtliche D ö r f e r a b , ziehen s o n n a b e n d s in d a s erwählte " B i e r d o r f " u n d freuen uns dort unsres Lebens u n t e r Becher- u n d Liederklang u n d fidelem U l k . Die betreff e n d e n B i e r d ö r f e r erhalten s o d a n n die N a m e n der u m Leipzig h e r u m liegenden b e r ü h m t e n S t u d e n t e n a u s f l u g s p u n k t e . So h a b e n wir schon ein G o h l i s u n d ein P r o b s t h e i d a . W a c h a u , M ö c k e r n u n d Kannewitz sind n o c h zu vergeben. — Wie Zitel h a b e ich mir jetzt a u c h einen L . F . (d.i. L e i b f u c h s ) angelegt. E r ist ein lieber h ü b s c h e r Kerl, so ziemlich in allem n a c h m e i n e m G e s c h m a c k , nur eine gewisse Langweiligkeit m u ß ich ihm n o c h a u s t r e i b e n . Ich h a b e ihn U f f o g e t a u f t u n d ihm als T a u f s p r u c h in d a s dezidierte K o m m e r s b u c h den a c h t e n Vers (acht Zeilen mit kleiner A b ä n d e r u n g ) von " F r e u d e schöner G ö t t e r f u n k e n " geschrieben und ihm eine gewaltige Rede gehalten.433 T a u f e n ließen sich vier J a h r e später auch M o r g e n s t e r n , Kayssler, H i r s c h f e l d , K ö r n e r u n d die a n d e r e n K o m m i l i t o n e n u n d b a n d e n das Ges a n g b u c h der Galgenlieder in ein H u f e i s e n ein 4 3 4 u n d sangen d a r a u s mit so gewaltigem A u f w a n d , d a ß sie den G a l g e n b e r g i m m e r wieder verlegen m u ß t e n , 4 3 5 d e n n der " G a l g e n b e r g " war ein S t a m m t i s c h , der — bei den W i r t e n unbeliebt — die W i r t s c h a f t ständig wechselte. Neu waren d a n n der " A b d e c k e r " — ein Kellner w a r ' s , sonst nichts —, die " H e n k e r s m a i d " — die Kellnerin —, die mit der Klingel, d e m " A r m e s ü n d e r g l ö c k l e i n " , h e r b e i g e r u f e n w u r d e n , um Bestellungen a u f z u n e h m e n . Der G a l g e n b e r g u n d seine G a l g e n b r ü d e r sind ein S t u d e n t e n u l k . W e n n M o r g e n s t e r n den G a l g e n b r u d e r als " b e n e i d e n s w e r t e Z w i s c h e n s t u f e zwischen Mensch u n d U n i v e r s u m " 4 3 6 beschreibt und dabei gleichzeitig den Vergleich zu einem M u l u s b e m ü h t , >der " b e n e i d e n s w e r t e ( n ) Zwischens t u f e zwischen S c h u l b a n k u n d U n i v e r s i t ä t " , 4 3 7 so ist vor allem der M u 4 3 0 H e r b e r t G ü n t h e r : Friedrich Kayssler erinnert sich an Morgenstern. Das G r o ß e Christian Morgenstern Buch, 227. 431 Briefe, 401, 1910. 4 3 2 A . a . O . , 402 und 404, 1910. 4 3 3 Ä . a . O . , 17 f. 4 3 4 N a c h Bauer, 1933, 180 f. 435 A . a . O . , 182. 4 3 6 V I , 13. 437 E b d a .

Ulk

143

lus für die ersten Galgenlieder verantwortlich und kein Mittler zwischen Mensch und Universum. Die Mulus-Vorgeschichte des "großen Lalula" erläutert Morgenstern selbst: "Ich habe noch als Gymnasiast 'Sprache erfunden', war seinerzeit einer der eifrigsten Volapükisten — nun, was weiter, wenn ich da (als Student) einem für solches besonders begabten Bundesbruder ein Vortragsstück in einem eigenen Volapük schrieb?" 438 Morgensterns Horaz-Übersetzung "Horatius Travestitus", die 1897, zwei Jahre nach Gründung des Galgenbergs, erschien, führte als Untertitel den Zusatz "Ein Studentenulk". Latein und Griechisch in ihre Lieder einzuflechten, darauf wollte auch die studierende Jugend des Galgenbergs nicht verzichten 439 und steht damit durchaus in der Tradition der Kommersbücher. 440 Auch wenn sich die Einstellung Morgensterns zu seinen Galgenliedern in dem Jahrzehnt von 1895, dem Gründungsjahr des Galgenbergs, bis 1905, ihrem Erscheinungsjahr, wesentlich änderte und "Derbheit, Täppischkeit — glauben Sie mir, das ist urdeutsch" 4 4 1 — als Komponenten seines Humors nun mehr in den Hintergrund rücken; auch wenn einzelne Galgenlieder abgewandelt und einige dieser Derbheiten und Täppischkeiten herausgeschnitten wurden — der Ulk der GalgenbergStudenten lebt in ihnen weiter. Ihm hat die junge Galgenliederwelt die ihr eigene besondere Atmosphäre zu verdanken, die im Verlauf ihrer weiteren Entwicklung sich immer mehr verflüchtigt. Schuhu, Rabenaas, Verreckerle, Veitstanz und die anderen Galgenbrüder entwarfen dieses kompakte Tableau: 442 Nacht ist es und grauenhaft 4 4 3 (16, 19, 22, 24, 27, 29, 34, 38, 39, 44, 45, 46, 47...), von einem Galgen hängt ein Körper (17, 18). Ausgefressen sind die Augen, beleuchtet von des Mondes "barbarischem Gefunkel" (44). Blasser Mond (16, 34, 45, 47, 55, 101), mit deinen weißen toten, heulenden, gejagten Mondenwesen (22, 24, 27, 41, 46, 47, 90). Verrucht (84), verflucht (16), verdämmet (31). Da unkt die Unke (16), da ächzt der Galgenstrick (18), der Höllengaul brüllt (45), der Nachtwindhund weint (46), der Schluchtenhund heult (22), schauerlich und wüst (16). Am Galgenhügel liegt ein Teich, dunkel (22), aus dem die Fingur und ihr 438 Briefe, 402, 1910; Zusatz von mir. 439Neben der lateinischen Version des " M o n d s c h a f s " belegen dies vor allem die OriginalManuskripte der Galgenlieder, die sich zum Teil im Großen Christian Morgenstern Buch abgedruckt finden. (56 ff.). 440 Die Verbindungslinien zwischen der jungen Galgenliederwelt und der Welt der Burschenschaften und Kommersbücher werden hervorragend von Alfred Liede nachgewiesen. (I, 280 ff.). 441 Briefe, 77, 1896. 442Eine detailliertere und andere Bildbeschreibung ist bei Walter, 99 ff., nachzulesen. 4431m folgenden wird in den Klammern Band VI der Sämtlichen Werke zitiert.

144

Die Welt des H u m o r s

Volk zum Galgen glotzen (78). Dort singt der Fisch seinen N a c h t g e s a n g (29), ertrinkt ein Seufzer in der Dunkelheit (38). Kind und Eule frißt der Walfisch (87). Durch das Röhricht bricht der Silbertraber (84). O Q u a l lenwanze, E u l e n w u r m (85), " L a l u lalu lalu lalu l a ! " (20). E i n s a m horcht der H o f h u n d (86), einsam wackelt u n d nackelt der Schaukelstuhl (42), ein Knie geht einsam u m die Welt (36). U n d der Wüstling feiert wüst (98) u n d läßt Vierviertelschwein und A u f t a k t e u l e tanzen (35). Doch — " U u , U u , U u " (84) — Werwolf u n d W e r f u c h s sind e n t w i c h e n (76 u n d 85). Der R a b e Ralf ist tot (28). Es beten die Rehe (19), es läuft schon die M i t t e r n a c h t s m a u s (45), den T o d wünschen Esel u n d Eselin (93). W o sind die dreizehn Kinder des Nachtschelms u n d des Siebenschweins? (92). G l o c k e n t ö n e fliegen voll Schmerzen d u r c h die Nacht (39). " G o t t hilf, Gott h i l f ! " (84). Da schlägt es Mitternacht im L a n d (22). " D a s E n d ist d a ! Das E n d ist d a ! " (23)

e. W I T Z

Ist die Welt der Galgenlieder eine Welt des Witzes? Geht m a n von der Einteilung der W i t z a r t e n aus, wie Freud sie, ihren verschiedenen T e c h n i k e n f o l g e n d , v o r n i m m t , verlockt es z u n ä c h s t , sein dreiteiliges S c h e m a — I. Die Verdichtung, II. Die V e r w e n d u n g des n ä m lichen Materials, III. Doppelsinn — , das im ganzen elf einzelne T e c h n i ken u m f a ß t , 4 4 4 mit in die Galgenliederwelt h i n ü b e r z u n e h m e n u n d dort zu e r p r o b e n . U n d es ist zu e r w a r t e n , d a ß sich die A n w e n d u n g der Witztechniken d u r c h M o r g e n s t e r n a u s f ü h r l i c h belegen l ä ß t . 4 4 5 Eines aber spricht von Beginn an gegen diesen Vorsatz: Über die Galgenlieder m a g m a n lächeln u n d s c h m u n z e l n , doch k a u m j e m a l s lachen in der A r t , wie m a n über gute, gelungene Witze lacht. A u f der Suche nach möglichen Ursachen d a f ü r bietet sich dieser g r u n d l e g e n d e Hinweis a n : " D a s Witzige am Witz ist auf jeden Fall das Resultat einer charakteristischen Sprachverwendung.'1446 Welche charakteristische S p r a c h v e r w e n d u n g des Witzes fehlt in der Regel den Galgenliedern? — Es fehlt ihnen gerade " d a s einzig U n a b d i n g b a r e , in j e d e m wirklichen Witz f o r m a l W i e d e r k e h r e n d e " 4 4 7 - - die Pointe. 4 4 4 F r e u d , Der Witz, W e r k e VI, 42. 445 In einem späteren Kapitel, das die Galgenlieder mit den Techniken des T r a u m e s konfrontieren wird, wird sich diese A n n a h m e bestätigen, denn Witztechnik und T r a u m technik weisen ein hohes M a ß an Gemeinsamkeit a u f . (Freud, VI, 95 f. und 181 ff.). 446Preisedanz, 1970, 18. 447 E b d a .

Witz

145

Morgenstern, der in den Galgenliedern stellenweise ein vorzügliches Witz-Material 448 verwendet, verzichtet nicht nur gänzlich auf sie, sondern erweist sich als Meister darin, mögliche, sich geradezu aufdrängende Pointen von vornherein zu verderben. Beispiel: Ich hörte heute morgen von dem Arzt jener stadtbekannten Dame, daß sie nach einer schweren Nacht, in der sie schlaflos mit dem Fieber kämpfte, und der daraus resultierenden Schwäche zum Trotz nun doch wiederhergestellt sei. Die Ruhe. Auf dem Diwan liegt sie nun, von ihren geliebten Blumen umgeben. Eine Pointe, wenn auch eine harmlos gemütliche Sofa-Pointe. Dieser Vorgang aber, den schon Kant mit dem Begriffspaar "Erwart u n g " und "Verwandlung" charakterisiert — die "plötzliche Verwandlung einer gespannten Erwartung in nichts" 4 4 9 — und Freud als "Verschiebung des psychischen Akzents auf ein anderes als das angefangene T h e m a " 4 5 0 , wird von Morgenstern verhindert. Er überschreibt das Gedicht: "Die wiederhergestellte Ruhe". 4 5 1 Gespannte Erwartungen werden sich nicht plötzlich und überraschend auflösen müssen, sie werden erfüllt werden; der psychische Akzent sitzt gleich auf dem richtigen Thema. Überschrift und letzter Vers des Gedichts sind identisch. Ähnlich Pointen-präventiv geht das Galgenlied " L ä r m s c h u t z " vor. 4 5 2 Die Chance einer Pointe, die sich aus der Doppelbödigkeit des Nomens " L ä r m s c h u t z " ergibt — es braucht nicht "Schutz vor L ä r m " , sondern könnte auch "Schutz durch L ä r m " bedeuten —, wird bereits mit der ersten Zeile vertan: Lärmschutz Palmström liebt sich in Geräusch zu wickeln... Der Erwartung des Lesers wird unverzüglich die richtige Richtung gewiesen. Nicht auf jenen Punkt, wo "Unsinn in Sinn überspringt, (...) das Aufleuchten des Sinnes wie in einem F u n k e n " , 4 5 3 darf er gespannt sein, sondern allenfalls auf die Durchführung der Gleichung " L ä r m schutz = Schutz durch L ä r m " . "Sie werden zugeben müssen", schreibt Morgenstern 1910 an einen Redakteur über die Galgenlieder, " d a ß überall lebendige Anschauung dahintersteht, daß nirgend ein Witz gemacht, sondern eine Situation 448 " W i t z " wird also hier in einer exakt begrenzten Bedeutung verstanden, einer Bedeutung, die etwa Schweizer nur als Teilaspekt eines umfassenderen Witz-Begrifes sieht, der sich dem " H u m o r " annähert (16 ff.). Daß er auch Morgensterns "Großes Lalula" (100 und 148) und "Fisches Nachtgesang" (148) in sein Buch "Der Witz" aufnimmt, verwundert darum nicht. "Humoristisch" sind sie zweifellos. 449Kant, Kritik der Urteilskraft, V, 437. 450Freud, Der Witz, Werke VI, 53. 451VIII, 115. 452 VIII, 15. 453 Lützeler, 1954, 15.

146

Die Welt des Humors

vorgestellt oder ein Vorgang entwickelt wird, daß, selbst wo ein sogenannter Wortwitz zugrunde liegt, er sich im lebendigen Leben inkarniert." 4 5 4 Situationen werden "vorgestellt", nicht vorgetäuscht, um falsche Erwartungen zu erwecken. Vorgänge werden "entwickelt" — Schritt für Schritt darf man folgen — und nicht erst am Schluß und rückwirkend durch eine Pointe verständlich gemacht. Sogar Wortwitze werden in Situationen und Vorgänge verwandelt und damit ihrer sparsam-knappen Pointen beraubt: "Nähe — Näher — Näherin" wird eine 16 Verse dauernde Heilung der ausgezehrten " N ä h e " durch den wundertätigen "kategorischen Komparativ". 4 5 5 "Werwolf, Weswolfs etc." wird eine 24 Verse dauernde nächtliche Begegnung des Menschwolfs mit einem Dorfschullehrer. 456 Auch hier zwei Galgenlieder, "in denen nur die Grundidee mehr oder minder grotesk ist, die Aus- und Durchführung aber durchaus organisch und konsequent". 4 5 7 Stimmt die 300 Jahre alte These des Thomas Hobbes — "Sudden Glory, is the passion which maketh those Grimaces called Laughter"458 —, so wäre damit erklärt, warum der Leser der Galgenlieder " n u r " lächelt und nicht lacht. "Sudden glory" wird ihm nicht gegönnt. Morgenstern dagegen sichert sich damit einen erstrebenswerten Vorteil; vor einer Gefahr kann er die Welt der Galgenlieder schützen: "Die Welt ward zu Tode gewitzelt und trister denn je zuvor." 4 5 9

f. G R O T E S K E

Ist die Welt der Galgenlieder eine Welt der Groteske? Die Gewohnheit, Morgensterns Galgenlieder als "grotesk" zu bezeichnen, ist so alt wie die Galgenlieder-Interpretation überhaupt. Vier Jahre nach Morgensterns Tod veröffentliche der Wiener Philologe Leo Spitzer "Die groteske Gestaltungs- und Sprachkunst Christian Morgensterns", eine grundlegende und richtungsweisende Arbeit, die zum ersten Mal eingehend und originell die besondere Rolle der Sprache in der 454 Briefe, 402. 455 Die Nähe, VIII, 114. 456Der Werwolf, VI, 76. 457 Briefe, 406, 1910. 458Hobbes, Leviathan, 27. 459 Epigramme und Sprüche, 60, 1902/1903.

Groteske

147

Galgenliederwelt u n t e r s u c h t : " M o r g e n s t e r n geht stets von der Sprache a u s . " 4 6 0 Er " d i c h t e t gedankliches u n d d e n k t s p r a c h l i c h . " 4 6 1 1929 promoviert Mally U n t e r m a n n über " D a s G r o t e s k e bei Wedek i n d , T h o m a s M a n n , Heinrich M a n n , M o r g e n s t e r n u n d Wilhelm Busch. 1931 erscheint Ludger Vieths d ü n n e Dissertation " B e o b a c h t u n gen zur W o r t g r o t e s k e " . 4 6 2 1 93 2 handelt H e r b e r t S c h ö n f e l d in einem A u f s a t z " Ü b e r Christian M o r g e n s t e r n s G r o t e s k e n " . U n d 1960 n i m m t schließlich W o l f g a n g Kayser in sein Buch über " D a s G r o t e s k e in Malerei u n d D i c h t u n g " a u c h M o r g e n s t e r n s Galgenlieder a u f . Erst d u r c h diese Arbeit aber e r f u h r der Begriff des " G r o t e s k e n " eine g e n a u e Bestimmung. U n t e r m a n n hatte sich noch a u f Lipps Definitionsversuch von 1898 gestützt, der das G r o t e s k e den A r t e n " k o m i s c h e r D a r s t e l l u n g " z u o r d n e t e , als komische Darstellung, " f ü r welche die K a r i k a t u r , die Ü b e r t r e i b u n g , die Verzerrung, d a s Ungeheuerliche, das P h a n t a s t i s c h e d a s Mittel zur E r z e u g u n g der komischen W i r k u n g i s t . " 4 6 3 Kayser bestimmt n u n : " D a s G r o t e s k e ist die e n t f r e m d e t e W e l t " , 4 6 4 " e i n Spiel mit dem A b s u r d e n " , 4 6 5 in d e m " d i e Kategorien unserer W e l t o r i e n t i e r u n g versag e n " , 4 6 6 ein " V e r s u c h , das D ä m o n i s c h e in der Welt zu b a n n e n u n d zu beschwören".467 Carl Pietzcker greift den A n s a t z Kaysers a u f , f ü h r t ihn weiter u n d verengt ihn zugleich: Das G r o t e s k e sei — in A b g r e n z u n g z u m A b s u r d e n , welches ein Bewußtseinsinhalt ist — ein B e w u ß t s e i n s v o r g a n g , 4 6 8 in d e m "xJie E r w a r t u n g , ein Sachverhalt werde in einer bereits b e k a n n t e n Weise gedeutet, enttäuscht wird, o h n e d a ß eine weitere, angemessene Deutungsweise b e r e i t s t e h t . " 4 6 9 U n d : " Z u m G r o t e s k e n g e h ö r e n Lachen u n d Grauen zugleich."470 Finden die Galgenlieder im U m k r e i s der Versuche, das " G r o t e s k e " zu b e s t i m m e n , einen Platz? Welche A u s k u n f t gibt M o r g e n s t e r n selbst? Kayser stützt seine These, die Welt der Galgenlieder stehe in der T r a d i t i o n der S p r a c h g r o t e s k e n 460Spitzer, 1918, 62. 461 A.a.O., 93. — Kritik folgte umgehend. In einigen "losen Betrachtungen" widerspricht Hugo Schuchardt: Spitzer messe der Sprachkunst Morgensterns eine übermäßige Bedeutung zu (654). 462"Die Beseelung der Glockentöne Bim, Bam, Bum ist ganz aus dem innersten Wesen der Sprache" etc. (Vieth, 24). 463 Lipps, 1898, 170. 464Kayser, 1960, 198. 465A.a.O., 202. 466A.a.O., 199. 467A.a.O., 202. 468 Pietzcker, 92. 469A.a.O., 87. 470A.a.O., 96.

148

Die Welt des Humors

u.a. auf die Äußerung Morgensterns: 4 7 1 " J e älter ich werde, desto mehr wird ein Wort mein Wort vor allen: G r o t e s k . " 4 7 2 Der Einordnung, die Kayser vornimmt, widerspricht bereits Walter mit der Interpretation einer Briefstelle, in der Morgenstern kurz feststellt, daß in den Galgenliedern " n u r die Grundidee mehr oder minder grotesk ist, die Aus- und Durchführung aber durchaus organisch und k o n s e q u e n t " . 4 7 3 Walter folgerichtig: " D e r Gegensatz zu grotesk ist hier organisch und konseq u e n t . " 4 7 4 Und: " D a s Unvertraute, Staunenerregende, das Seltsame, Gegensätzliche, auch das scheinbar Widersinnige, das Paradoxe — das liegt in dem Wort grotesk, wie Morgenstern es verwendet. (...) Mit anderen Worten: Morgenstern gebraucht dieses Wort in einem gleichsam harmloseren Sinne, es enthält nicht die Tiefendimension wie der von Kayser verwendete B e g r i f f . " 4 7 5 Walter ist hier zuzustimmen. Seltsamerweise aber erwähnen weder Kayser noch Walter einen weitaus wichtigeren Brief aus dem Jahr 1913. Morgenstern schreibt dort über den Begriff des Grotesken: Er ist, wenn ich so sagen soll, ein Mondbegriff. Das Liebeslicht der Sonne lebt nicht in ihm. Er ist ein Begriff ohne Wärme, ohne Gerechtigkeit. 4 7 6 Ohne Liebe und Wärme, ohne Gerechtigkeit ist die Welt der Galgenlieder — das wurde, glaube ich, gezeigt — nicht. Es ist anzunehmen, daß Morgenstern sich gegen die GalgenliederBezeichnung " G r o t e s k e " gewehrt hätte, ebenso, wie er sich gegen die Bezeichnung " P a r o d i e " wehrte. Zwischen der hier zitierten Briefstelle und jenem " J e älter ich werde, desto mehr wird ein Wort mein Wort: G r o t e s k " , liegen sechs Jahre. Daß Morgenstern mit diesem Wort bereits 1907 das Fehlen von Liebe, Wärme und Gerechtigkeit assoziiert, ist unwahrscheinlich. Näher liegt die Vermutung eines uneinheitlichen oder gewandelten Sprachverständnisses. Folgerung: Der Beantwortung der Frage "Groteske oder n i c h t ? " können die Äußerungen des Galgenliederdichters selbst nicht als Grundlage dienen. Für die Annahme, die Galgenlieder im Hinblick auf das Groteske zu interpretieren, sprechen vor allem bestimmte Stilmittel, deren sich die Literatur des Grotesken bedient und deren sich auch Morgenstern in den 471 Kayser, 1960, 166. 472Stufen, 43, 1907. 473 Briefe, 406, 1910. 474Walter, 116. 475 Ebda. Ähnlich harmlos wie hier Morgenstern versteht auch Lissau den Begriff — "ein befrackter Kellner ist nicht an und für sich grotesk, wohl aber, wenn wir uns ihn auf einer SUdseeinsel Eingeborenen Tee servierend denken" (97) — und kann so grundsätzlich die Galgenlieder als " g r o t e s k " bezeichnen. 476Briefe, 467.

Groteske

149

Galgenliedern bediente: Wortspiele, - h ä u f u n g e n , -Wiederholungen, das W ö r t l i c h n e h m e n von M e t a p h e r n , die falsche W o r t g e s c h i c h t e etc. Unterm a n n wies diese G e m e i n s a m k e i t e n n a c h . Doch greifen wir a u f die drei grundsätzlichen Positionen Lipps, Kaysers u n d Pietzckers z u r ü c k . Z u n ä c h s t Lipps: K a r i k a t u r , Ü b e r t r e i b u n g , V e r z e r r u n g , d a s U n g e h e u erliche, d a s P h a n t a s t i s c h e sollen die Mittel der G r o t e s k e sein. 4 7 7 D a ß die Galgenlieder p h a n t a s t i s c h sind, ist nicht zu bestreiten. — K a r i k a t u r , Ü b e r t r e i b u n g u n d Verzerrung setzen ein Original v o r a u s , das sie — ü b e r t r i e b e n , verzerrt: karikiert — entstellen. 4 7 8 O h n e R ü c k g r i f f auf d a s Original sind sie als solche nicht zu e r k e n n e n u n d d a m i t a u c h — als Ü b e r t r e i b u n g , Verzerrung u n d K a r i k a t u r — wirkungslos. M o r g e n s t e r n setzt a n d e r e A k z e n t e : nicht um die Entstellung eines Originals geht es in den G a l g e n l i e d e r n , nicht um die D e f o r m i e r u n g der Wirklichkeit, sondern um die B e f r e i u n g v o m Original, die Loslösung von der Wirklichkeit. Die Welt der Galgenlieder ist keine entstellte alte Welt, s o n d e r n eine a n d e r e neue W e l t . 4 7 9 Bleibt noch d a s " U n g e h e u e r l i c h e " , d a s Lipps als M e r k m a l d a s G r o t e s k e n a n f ü h r t . A u c h hier bleibt der B e f u n d negativ. Die schaurig-gruselige A t m o s p h ä r e des ursprünglichen G a l g e n b e r ges ist n u r Ulk u n d Spiel. Z u r Unheimlichkeit wird stets eine ironische Distanz g e w a h r t . Der Flügelflagel gaustert durchs Wiruwaruwolz, die rote Fingur plaustert, u n d grausig gutzt der G o l z . 4 8 0 — ist gar nicht gruselig, es ist ein " G r u s e l e t t " . Der s p r e c h e n d e G a u l des Tischlers Bartels m a g f ü r den P r o f e s s o r u n d seine Familie — " s i e stehn, als o b sie t r ä u m t e n (...) stehn wie B ä u m e " 4 8 1 — wirklich ein u n e r h ö r t e s Erlebnis gewesen sein, den Leser aber packt kein Entsetzen dabei. A u c h nicht bei der L e k t ü r e des einsamen " K n i e s " , 4 8 2 der k r a n k e n " N ä h e " 4 8 3 oder der " w e g g e w o r f e n e n F l i n t e " 4 8 4 . U n d schon gar nicht bei der Lektüre der A b e n t e u e r P a l m s t r ö m s u n d K o r f s . 477 Es ist im übrigen zu fragen, ob sich dieser Mittel nicht gerade auch die Satire bedient. Bildet diese dann einen Teil- oder Unterbereich des Grotesken? Ihre Verbindung hatte bereits Schneegans erkannt und vier Jahre vor Lipps' "Komik und H u m o r " - 1894 seine "Geschichte der grotesken Satire" veröffentlicht. 478 In der "Entstellung" sieht auch Heidsiek das Hauptkennzeichen des Grotesken: der Entstellung des Menschlichen durch den Menschen (Heidsiek, 13, 17 etc.). 479 Daß auch diese neue Welt natürlich auf Elemente der alten angewiesen ist, stellte das Kapitel über die Phantasie fest, aber — entscheidend — im Rahmen eines Neuaufbaus. 480Gruselett, VI, 132. 481 Der Gaul, VI, 71. 482 Das Knie, VI, 36. 483Die Nähe, VIII, 114. 484 Die weggeworfene Flinte, VIII, 36.

150

Die Welt des Humors

Warum sind die Galgenlieder nicht ungeheuerlich? — Weil sie — und das spricht gegen den Versuch Kaysers, diese Gedichte von seiner Bestimmung des Grotesken her zu interpretieren —, weil sie eben nicht beabsichtigen, " d a s Dämonische in der Welt zu bannen und zu beschwör e n " . 4 4 5 Kaysers Sicht der Galgenlieder: "Bei allem Lächerlichen angesichts der Verzerrung und Absurdität liegt im Grotesken ein Erschrecken vor der Haltlosigkeit, der Bodenlosigkeit, die plötzlich empfunden wird", 4 8 6 kann ich nicht nachvollziehen. Die Welt der Galgenlieder steht auf dem festen Boden des Humors, auf dem auch der Leser Halt findet. Um von den Ereignissen dieser Welt erschreckt zu werden, muß man schon sehr schreckhaft sein. Pietzckers Weiterbildung von Kaysers "Erschrecken" zum " G r a u e n " kann der Leser der Galgenlieder schon gar nicht nachempfinden. Fazit: Da der Welt der Galgenlieder ein wesentliches Konstituens des Grotesken — das "Ungeheuerliche", "Erschrecken", " G r a u e n " — fehlt, kann man sie im Sinn der zugrunde gelegten Bestimmungen nicht als " g r o t e s k " bezeichnen. Nun zur positiven Seite dieses Negativ-Ergebnisses: Die Welt der Galgenlieder ist eine Welt der "Heiterkeit". War das Groteske für Morgenstern ein " M o n d b e g r i f f " , die Heiterkeit ist der "Sonnenbegriff". Er soll die Literatur bestimmen: " Ü b e r jedem guten Buche muß das Gesicht des Lesers von Zeit zu Zeit hell werden. Die Sonne innerer Heiterkeit muß sich zuweilen von Seele zu Seele grüßen, dann ist auch im schwierigsten Falle vieles in O r d n u n g . " 4 8 7 Er soll die Kunst überhaupt bestimmen, "Heiterkeit, die jedes wahre Kunstwerk dem gemeinen Leben gegenüber hat, nein, die es ist."*** Morgenstern kommt diesem Anspruch nach. Heiter sind auch die Galgenlieder. Wie er dabei "Heiterkeit" verstand, läßt sich annähernd im Feld der Nachbarbegriffe bestimmen. Morgenstern in der 1906 erschienenen "Melencolia": Harmlosigkeit — wie atm' ich gern darin! "Intelligent" und " h e i t e r " sind die Worte die geben mir den frohsten Klang und Sinn. Beglückt das Haus, hoch über dessen Pforte sie glänzen! 4 8 9

485Kayser, 1960, 202. 486A.a.O., 166. 487Stufen, 98, 1912. 488 Briefe, 288, 1908. 489Zum täglichen Leben, Melencolia, 85.

Groteske

151

Und im gleichen Jahr an die Freundin Dernburg: Ich möchte Ihnen etwas von dem Frohsinn meines Temperaments abgeben können, von der dauernden heiteren Skepsis, die allein Lebenslust verbürgt. Sie möchten gern lachen — aber so tun Sie es doch. 4 9 0 1910 kennzeichnet Morgenstern den Humor der Galgenlieder mit "einer gewissen Art von Geistigkeit, von Helligkeit und Schnelligkeit" 4 9 1 und im gleichen Jahr mit "geistige(r) Leichtigkeit, Heiterkeit, Freiheit". 4 9 2 In der Nachbarschaft der "Heiterkeit" finden sich: Harmlosigkeit, Intelligenz, Frohsinn, Skepsis, Geistigkeit, Helligkeit, Schnelligkeit, Leichtigkeit, Freiheit. Oder — zum einen: Harmlosigkeit und Frohsinn. Zum anderen: Helligkeit, Schnelligkeit, Leichtigkeit, Freiheit. Zum dritten: Intelligenz, Skepsis, Geistigkeit. Die Heiterkeit des Galgenlieder-Dichters hat Wurzeln in allen drei Bereichen. 493 "Sie möchten gern lachen — aber so tun Sie es d o c h . " Seien Sie einfach heiter, denn Heiterkeit ist nichts anderes als ein "Glücksgefühl aus bekannten oder unbekannten Quellen (...), das alles und jedes fröhlich erscheinen läßt und auch zum grundlosen Lachen f ü h r t " . 4 9 4 Seien Sie harmlos, Heiterkeit ist Humor im Sinne von Heiselers: "ein Kind des Friedens". 4 9 5 Morgensterns Galgenlieder-Heiterkeit ist Humor, so wie ihn Herder im 18. Jahrhundert noch bestimmt: "in die Schriftstellern verpflanzt, eine freie Art, allem, was uns in Herz und Sinn kommt, Lauf zu lassen; alles mit der ungezwungenen Leichtigkeit wegzusagen, mit der es uns einfiel." 4 9 6 Skepsis und Intelligenz schließlich wahren der Heiterkeit den Abstand zu und die Souveränität über den Dingen, die jeder Art von Humor notwendig sind. Gleichzeitig aber bergen sie auch eine Gefahr. Durch sie drohen Leichtigkeit und Helligkeit zerstört zu werden, dann, wenn intelligente Heiterkeit dem Autor zur Verpflichtung wird, dann, wenn er sich veranlaßt sieht, dem " M o n d s c h a f " eine lateinische Übersetzung hinterherzuschicken: " L u n o v i s " . 4 9 7 Dann wird diese Heiterkeit eine Heiterkeit des Bildungsbürgertums. Morgenstern scheint diese Gefahr gespürt zu haben: "Ich leide oft sehr an der Art meines Humors. Meine ewige 490Briefe, 209, 1906. 491 A.a.O., 402. 492A.a.O., 404. 493 Achatzi, 120 f. 494A. Wellek, 25. 495 v. Heiseler, 250. 496Herder, IV, 184. 497 VI, 26.

152

Die Welt des H u m o r s

Fragestellung, o b nicht jeder H u m o r ein Q u a n t u m Philistrosität eins c h l i e ß t . " 4 9 8 Seine Heiterkeit schloß dieses gewisse Q u a n t u m ein. Leo Spitzer 1921 in seiner E r w i d e r u n g auf S c h u c h a r d t : " J e d e n f a l l s aber sei diese typische Philologenpoesie der weiteren E r k u n d u n g d u r c h die Philologen w ä r m s t e n s a n e m p f o h l e n . " 4 9 9 M o r g e n s t e r n s " H e i t e r k e i t " besitzt einen interessanten rezeptionsästhetischen A s p e k t , den diese Arbeit allein H a r a l d Weinrich u n d seinen " D r e i Thesen von der Heiterkeit der K u n s t " v e r d a n k t . Sie lauten: " I . Die Literatur steht allgemein der Negativität n ä h e r als d e m Positiven. II. Die Heiterkeit der Kunst ist eine irreduktible Rollenqualität des P u b l i k u m s . III. Die Negativität der Literatur k a n n a u f g e f a ß t werden als ein Gegensteuern der A u t o r e n gegen die Heiterkeit der K u n s t . " 5 0 0 Die Rolle des P u b l i k u m s beschreibt Weinrich so: " Z u dieser Rolle gehört Distanz u n d Freiheit, u n d d a r a u s erwächst d a n n j e n e Heiterkeit, die völlig u n a b h ä n g i g ist von dem f r o h e n oder t r a u r i g e n , w e l t b e j a h e n d e n oder weltverneinenden C h a r a k t e r des K u n s t w e r k s . " 5 0 1 Wie verhält sich der A u t o r M o r g e n s t e r n gegenüber dieser Rollenqualität seines P u b l i k u m s ? — Der bei weitem überwiegende Teil der Galgenlieder ist — wie bereits gezeigt w u r d e — nichtengagierte Lyrik, und selbst d o r t , w o A n s ä t z e von E n g a g e m e n t u n d Kritik u n t e r n o m m e n werd e n , bleiben diese o h n e S c h ä r f e , unverbindlich, o h n e Aggression. In der Welt der Galgenlieder herrscht Heiterkeit v o r . Gedichtet wird hier in Freiheit u n d in Distanz zur wirklichen Welt. Bezügen der Realität, ihren P r o b l e m e n u n d Fragen ist diese Lyrik nie verpflichtet und teilt das dem P u b l i k u m von Beginn an mit, weist sich von Beginn an als das a u s , was sie ist: reine literarisch-phantastische F i k t i o n , die kein a n d e r e s Ziel verfolgt, als mit " L e i c h t i g k e i t , Schnelligkeit, Helligkeit" Frohsinn zu wecken, F r e u d e an sich selbst, " r e i n e " zweckfreie Kunst zu sein. Die H a l t u n g des A u t o r s zu seiner Literatur entspricht im Falle der Galgenlieder genau der " i r r e d u k t i b l e n R o l l e n q u a l i t ä t " seines Publik u m s : Heiterkeit. Morgenstern steuert ihr nicht e n t g e g e n , 5 0 2 er akzeptiert sie nicht nur als Qualität des P u b l i k u m s , er akzeptiert sie auch als eigene S c h a f f e n s s i t u a t i o n . Der U m g a n g mit der Heiterkeit M o r g e n s t e r n s fällt dem P u b l i k u m leicht, nicht zuletzt a u f g r u n d ihrer Bestimmungen durch die o b e n vorgestellten F a k t o r e n . M o r g e n s t e r n s Lachen n i m m t nie die Z ü g e des " h ö h -

498 Stufen, 30, 1905. 499 Spitzer, 1921, 99. 500 Weinrich, 121. 501 A . a . O . , 127. 5 0 2 " S e i n e Leser erhielten alles, was sie begehrten, von ihm, o h n e d a ß sie die geringste Gegenverbindlichkeit hätten einzugehen b r a u c h e n . " (Bry, 544).

153

Groteske 503

nischen, zynischen, schließlich des satanischen Gelächters" an, Züge, die das Lachen eines Dichters der Groteske auszeichnen. Sein Lachen ist nicht boshaft, erweckt nicht Befremden und Betroffenheit. Es entspringt " a c h t e m H u m o r " , und mit muntern, aufgeweckten Leuten, die von achtem H u m o r beseelt werden, ist leicht und angenehm umzugehen. Ich sage, sie müssen von achtem Humor beseelt werden; die Fröhlichkeit m u ß aus dem Herzen kommen, m u ß nicht erzwungen, m u ß nicht eitle Spaßmacherey, nicht Haschen nach Witz sein. Wer noch aus ganzem Herzen lachen, sich den Aufwallungen einer lebhaften Freude überlassen kann; der ist kein ganz böser Mensch. 5 0 4 Die Trichter Zwei Trichter wandeln durch die Nacht. Durch ihres R u m p f s verengten Schacht fließt weißes Mondlicht still und heiter auf ihren Waldweg u.s.

5 0 3 C r a m e r , 46, über das groteske Lachen. 504Knigge, 1. Teil, 190; nach Schmidt-Hidding, 193. 505 VI, 34.

III. DIE SPIELWELT

Ja, Kinder-Spiel ist, was da ist, das sagt dir jede stille Nacht. 1

1. DAS MODELL DES SPIELS

Hier also das beinahe schon obligate Kapitel über "das Spiel". Seit Alfred Liede und Jürgen Walter, dem es im übrigen 1966 gelingt, Liedes grundlegende Arbeit von 1963 zu ignorieren, und und auch F. Neumanns Beitrag " C . Morgensterns Galgenlieder. Spiel mit der Sprache (1964) nicht zu erwähnen, kommt niemand mehr, der sich mit den Galgenliedern beschäftigt, an diesem Begriff vorbei. Liede und Walter machen Ernst mit dem Spiel — "Das Spiel ist ein Urgrund menschlichen Seins." 2 "Spiel bedeutet eine selbständige Seinsweise des Menschen." 3 — und bauen ihre Untersuchungen der Galgenlieder auf dieser anspruchsvollen Kategorie des Spiels auf. Pate steht Schiller 1793/94: "Denn um es endlich auf einmal herauszusagen, der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch wo er spielt."* Und Pate steht vor allem Huizinga, der mit seinem " H u m o Ludens" 1938 eine Vielzahl kultureller Felder — Religion, Recht, Krieg, Wissenschaft, Philosophie, Kunst — auf das Spiel zurückführt — auch die Literatur: "Poesis ist eine Spielfunktion. Sie geht in einem Spielraum des Geistes vor sich, in einer eigenen Welt, die der Geist sich schafft. Dort haben die Dinge ein anderes Gewicht als im gewöhnlichen Leben und sind durch andere Bande als logische aneinander gebunden." 5 "Alles, was Dichtung ist, erwächst im 1 2 3 4 5

Vogelschau, Ein S o m m e r , 10. Liede, I, 23. Walter, 53. Schiller, X X , 359. Huizinga, 118.

Das Modell des Spiels

155

Spiel: im heiligen Spiel der Gottesverehrung, im festlichen Spiel der Werbung, im streitbaren Spiel des Wetteifers mit Prahlen, Schimpf und Spott, im Spiel des Scharfsinns und der F e r t i g k e i t . " ' Auf diesem Hintergrund bestimmt Liede "Unsinnspoesie", "Dichtung als Spiel (...) an den Grenzen der S p r a c h e " . Der neue Gesichtspunkt, den er in Huizingas Rahmen hineinfügt, ist dabei die Möglichkeit, das Spiel als Destruktion zu spielen. Nicht ein heiliges Spiel, ein festliches oder streitbares Spiel ist Unsinnsdichtung, sondern ein zerstörendes Spiel: " G e r a d e im Spiel mit der Sprache wird der zerstörende Spieltrieb sichtbar." 7 Und es ist der Dichter des Unsinns, " d e r die Zerstörung um der rauschähnlichen Wirkung willen genießt". 8 Das Spiel des Unsinns läßt Differenzierungen zu: Mörike spielt mit den "Wispeliaden" ein dämonisches Spiel,® Scheerbart ein kosmisches, 1 0 Chesterton ein göttliches Spiel. 1 1 Friedrich Schlegel 12 und Karl Valentin 1 * träumen den " T r a u m von der Befreiung des Menschen im Spiel". Welches Spiel spielt der " U n s i n n s d i c h t e r " Christian Morgenstern? — Er zerstört das Weltganze, schafft Chaos, vereinzelt die Dinge, 1 4 erlöst sie von ihrem Zweck, 1 5 schafft mit den Galgenliedern "kleine flache M ü l l h a u f e n " . 1 6 Die Kraft, aus einzelnen Teilen ein neues Ganzes zu schaffen, besitzt er nicht. 1 7 Die Freude am eigenen vollständigen Schaffen bleibt ihm versagt. "Seine Schwäche ist nicht einfach künstlerische, sondern geistige Schwäche. Nur die rückhaltlose Hinnahme der Zerstörung, das Spiel mit allen Formen, Gegenständen und Gedanken, der Genuß der Zerstörung als absolute Freiheit gibt ihm Befriedigung." 1 8 Seine Sehnsucht ist das Lachen, das er nie erreicht. 1 9 Sein Zukunftsglaube ist besiegt. 2 0 Es bleiben die Galgenlieder als "eine Art H o f f m a n n s t r o p fen gegen alle E n t t ä u s c h u n g e n " . 2 1 — Morgensterns Spiel ist — so faßt Liede seine Thesen zusammen — das Spiel mit der Resignation. 2 2 " D e 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22

A.a.O., 126. Liede, I, 26. A.a.O., 25. A.a.O., 27 ff. A.a.O., 73 ff. A.a.O., 93 ff. A.a.O., 113 ff. A.a.O., 141 ff. A.a.O., 320. A.a.O., 321. A.a.O., 322 f. Ebda. Liede, I, 324. A.a.O., 318. A.a.O., 343. A.a.O., 346. A.a.O., 273-349.

Die Spielwelt

156

struktion der gewohnten W e l t " ist auch für Walter die Grundlage der Galgenlieder. 2 3 Den bereits von Liede beschriebenen Vorgang der Vereinzelung faßt Walter mit dem Begriff der "Beziehungsganzheiten", welche deformiert, ausgeschaltet oder entfremdet substituiert werden, 2 4 in jedem Falle aber neue Ganzheiten aus sich schaffen lassen. " D a s alles aber hat folgende Konsequenz: Die Destruktion der gewohnten Welt ist in den Galgenliedern weder Selbstzweck, noch Endzweck, noch letzte Absicht dieser D i c h t u n g e n . " 2 5 Denn die Sprache selbst entfaltet nun eine Eigenwelt, 2 8 aus einer "sprachimmanente(n) P h a n t a s i e " heraus. 2 7 Die Sprache selbst spricht als Phantasie, 2 8 und es ist sie selbst, die spielt. 2 9 Das Spiel der Galgenlieder ist kein Spiel mit der Sprache, sondern "ein Spiel der Sprache in sich und mit sich selbst". 3 0 Kern des Sprachspiels ist das Wortspiel, " d a s eigentliche Spielfeld der Sprache".31 Pointierte Zusammenfassung und Gegenüberstellung der Grundgedanken Liedes und Walters: Ist für Liede das Spiel der Galgenlieder ein zerstörerisches und resignatives Spiel mit den Dingen der Welt, das einen kraftlosen Autor und Spieler Lust in dieser Zerstörung finden läßt, so entfaltet sich für Walter im Spiel der Galgenlieder — ein Spiel der Sprache selbst — eine sprachliche Eigenwelt, sprachimmanente Phantasie, die nach ihren eigenen Gesetzen dingliche Zusammenhänge zerstört und sprachliche neu einsetzt. Entsprechend ist das Vorgehen Liedes: Er sucht nach Gründen der Morgensternschen Resignation und findet sie vor allem in dem vergeblichen Bemühen des Galgenlieder-Dichters, seine großen Vorbilder Nietzsche und Mauthner zu bewältigen, ihnen nachzuleben und nachzudichten oder sie zu widerlegen. Entsprechend ist das Vorgehen Walters: Sein eigentliches Thema kann nur das Sprachspiel sein. Untersucht werden " d a s Spiel der S p r a c h b e d e u t u n g e n " — die Entfaltung des bildlichen Ausdrucks, 3 2 das Spiel des H o m o n y m e , 3 3 Umdeutungen und Bedeutungswandel, 3 4 " E t y -

23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34

Walter, 21 ff. Ebda. A.a.O., 45. A.a.O., 48. A.a.O., 50. Ebda. A.a.O., 58. A.a.O., 59. Ebda. A.a.O., 63 ff. A.a.O., 69 ff. A.a.O., 72 ff.

Das Modell des Spiels

157

mologie" und falsch angesetzte Grammatik 3 5 , bedeutungslose Worte 3 6 — und " d a s Spiel der Sprachelemente": Reimspiel, 3 7 Klangspiel, 3 8 sprachrhythmische Spiele, 39 Wiederholung und Gleichklang, SprachOrnament und Arabeske. 4 0 Beide Arbeiten sind in ihrer Art grundlegend: Zum ersten Mal wurde umfassend den möglichen literarischen Einflüssen — nicht allein Nietzsches und Mauthners — auf Morgenstern nachgegangen; zum ersten Mal wurde ein Galgenlieder-Inventar des Wort- und Sprachspiels erstellt. In der einen Hinsicht kann r u n d u m auf Liede verwiesen werden, in der anderen wird das " T r a u m " - K a p i t e l weiterarbeiten. Welche anderen Ergebnisse verspricht das Modell des " S p i e l s " ? Zunächst Huizingas vollständige Definition des Spiels: Spiel ist eine freiwillige Handlung oder Beschäftigung, die innerhalb gewisser festgesetzter Grenzen von Zeit und Raum nach freiwillig angenommenen, aber unbedingt bindenden Regeln verrichtet wird, ihr Ziel in sich selber hat und begleitet wird von einem Gefühl der Spannung und Freude und einem Bewußtsein des " A n d e r s s e i n s " als das "gewöhnliche L e b e n " . 4 1 Und nun eine schlagwortartige Zusammenfassung der bisherigen Ergebnisse dieser Arbeit: Die Freiheit von der Wirklichkeit läßt die Kategorie der Möglichkeit und Unmöglichkeit für den Galgenlieder-Dichter hinfällig werden. " D a m i t hat man also ein erstes Hauptkennzeichen des Spiels: es ist frei, es ist Freiheit." 4 2 Seine Phantasie schafft eine neue, ungebundene, selbständige Welt. "Spiel ist nicht das 'gewöhnliche' oder das 'eigentliche' Leben. Es ist vielmehr das Heraustreten aus ihm in eine zeitweilige Sphäre von Aktivität mit einer eigenen T e n d e n z . " 4 3 Die Welt der Galgenlieder ist eine Welt des Humors, gekennzeichnet von Souveränität, Liebe, weitgehender Kritik-Abstinenz und Leichtigkeit. Phantasie und Humor aber werden begleitet von einem " G e f ü h l der Spannung und Freude und einem Bewußtsein des 'Andersseins' als das 'gewöhnliche L e b e n ' " . Liegen damit genügend Gründe vor, die Welt der Galgenlieder als eine Welt des Spiels zu bezeichnen? 35 36 37 38 39 40 41

A . a . O . , 76 ff. A . a . O . , 78 ff. A . a . O . , 82 f f . A . a . O . , 86 f f . A . a . O . . 90 f f . A . a . O . , 93 ff. Huizinga, 45 f. Ähnlich bestimmt Elizabeth Sewell das Spiel, spezifiziert dabei aber die " H a n d l u n g oder Beschäftigung" mit: " a c t i v e m a n i p u l a t i o n , serving no useful purpose, of a certain object or class of objects, concrete or m e n t a l " , sowie das "Ziel in sich selber" mit " t h e aim of producing a given result despite the Opposition of chance a n d / o r o p p o n e n t s . " (Sewell, 27). 42 A . a . O . , 13. 43 E b d a .

Die Spielwelt

158

Unerfüllt sind noch die Bedingungen festgesetzter Grenzen von Zeit und Raum und freiwilliger, "aber unbedingt bindender Regeln". Schließt man sich Liedes Interpretation des destruktiven Spiels an, so spielt der Galgenliederdichter, ohne diese Bedingungen zu beachten. Denn "es gibt in der Unsinnspoesie eine Freiheit des Spiels, die keine Regeln und Grenzen mehr anerkennt, die 'Spielverderberin' ist gegenüber dem Spiel der Dichtung und kaum mehr eine neue Spielwelt mit festen Regeln aufbaut oder höchstens insofern, als sie Regellosigkeit des Spiels fordert." 4 4 Weniger eindeutig setzt sich Walter mit den Grenzen und Regeln des Spiels auseinander. Um sie als Bestandteil einer Definition des Spiels zu halten, bestimmt er: "Die Spielregeln sind allein spracheigene Gesetze." 4 5 Was sind aber die eigenen Gesetze einer Sprache? Es ist jenes Regelsystem, das über Jahrhunderte hinweg sich in einem Prozeß entwickelte, der — stark vereinfacht — einerseits dadurch bestimmt ist, daß die Gemeinschaft der Sprecher ihrer Sprache Regeln gab und gibt, mit dem Ziel, sich aufgrund dieser Übereinkunft verständigen zu können, andererseits aber die Sprachgesetze vom einzelnen Sprecher fordern, befolgt zu werden: Er muß die Steigerung des Adjektivs " n a h " nach spracheigenen Gesetzen mit "nah — näher — am nächsten" durchführen. Das Substantiv " N ä h e " mit "Nähe — Näher — Näherin" "steigern" zu wollen, bedeutet den Bruch eines spracheigenen Gesetzes: Komparativ und Superlativ kommen einem Substantiv nicht zu. Erst diese Regelwidrigkeit öffnet der Reihe "Nähe — Näher — Näherin" den Weg. Erst als " o u t l a w " läßt sich die Nähe zur Näherin steigern. Gerade aufgrund der Mißachtung spracheigener Gesetze ergeben sich für den Dichter der Galgenlieder neue Möglichkeiten der Sprachbehandlung. Noch einmal Walter: Die Spielregel bestehe darin, daß "in diesen Gedichten sprachliche Gesetzmäßigkeiten und Möglichkeiten bindend sind". 4 6 Ist die Reihe "Nähe — Näher — Näherin" — im übrigen das Beispiel, an dem Walter die Grundlagen des Sprachspiels demonstriert — eine "bindende sprachliche Gesetzmäßigkeit"? Zwar fügt Walter den "Gesetzmäßigkeiten" die "Möglichkeiten" hinzu, aber eben solche Möglichkeiten nur, welche von spracheigenen Gesetzen zugelassen werden, keine frei verfügbaren, sondern "bindende" Möglichkeiten. Das kann nicht die Spielregel der Galgenlieder sein. Auch daß die Spielregeln der Galgenlieder "allein sprachliche Gesetzmäßigkeiten und Möglichkeiten zulassen und ausspielen", 4 7 ist nicht 44 45 46 47

Liede, I, 25 Walter, 58. Siehe auch 97 A . a . O . , 102. Walter, 100.

Das Modell des Spiels

159

einsichtig. Wie spielt eine Regel aus? Ausgespielt wird nach einer Regel. Der Galgenlieder-Dichter Christian Morgenstern schuf eine Welt, in der die Freiheit von der Wirklichkeit alle Möglichkeiten gewährleistete, und nahm dabei eine Regel freiwillig auf sich. Er entschloß sich, diese Welt als Lyrik zu präsentieren, und entschloß sich zudem, deren traditionellen Regeln zu folgen: den Anforderungen der Strophe, des Reims, des Versmaßes etc. Die Spielregel der Lyrik nimmt Einfluß auf die Welt der Galgenlieder: Die Form eines Gedichts als eines in sich abgeschlossenen Ganzen führt zu einem Aufbau aus verschiedenen, voneinander getrennten Elementen. Die neue Welt wird nicht als kontinuierlicher Film vorgeführt, sie ist ein Fotoalbum mit Bildern der gesamten Verwandtschaft. Sie präsentiert — nacheinander und nebeneinander — einzelne Momentaufnahmen: " I m Winterkurort" 4 8 " I m Tierkostüm" 4 9 " I m Reich der Interpunktionen" 5 0 . "Unter Schwarzkünstlern" 5 1 , "Unter Spiegelbildern" 52 , "Unter Zeiten" 5 3 , "Auf dem Fliegenplaneten" 54 und "Auf einer Bühne" 5 5 . Die Spielregel der Lyrik führt zu den Ansprüchen des Reims: Um seinetwillen gelangt auf der Reise in ein Böhmisches Dorf ein Herr Korf in die Welt der Galgenlieder. 56 Um seinetwillen saß ein Wiesel auf einem Kiesel, 57 floh ein Architekt nach Ameriko, 5 8 , ist das Hemmed verdämmet, 5 9 spricht der Gaul: "dazumaul", 6 0 steht im Brehm kein Nasobem. 6 1 Die Spielregel der Lyrik führt zu den Ansprüchen des Sprachrhythmus: Um seinetwillen — "ohne Wort, ohne W o r t " — rinnt das Wasser im Anapäst, 6 2 wackelt "im Winde, im Winde, im Winde" ein einsamer Schaukelstuhl, 63 "will will still still du d u " 6 4 : "Lalu lalu lalu lalu la!" 6 5 Die Spielregel der Lyrik läßt sprachlicher Gestaltung viele Möglichkeiten — einige wurden im Ironie-Kapitel aufgezählt 66 — und ermög48 49 50 51 52 53 54 55 56 57 58 59 60 61 62 63 64 65 66

VIII, 34. VIII, 24. VI, 120. VI, 59. VIII, 139. VI, 58. VIII, 116. VI, 145. Das Böhmische Dorf, VIII, 8. Das ästhetische Wiesel, VI, 41. Der Lattenzaun, VI, 48. Das Hemmed, VI, 31. Der Gaul, VI, 71. Das Nasobem, VI, 64. Das Wasser, VI, 95. Der Schaukelstuhl auf der verlassenen Terrasse, VI, 42. Der Rabe Ralf, VI, 28. Das große Lalula, VI, 20. S. o , S. 120 ff

160

D i e Spielwelt

licht es Morgenstern zudem — wie das Ironie-Kapitel zu zeigen versuchte —, einen ironischen Akzent in die Welt der Galgenlieder zu setzen. Mit dem A u f f i n d e n der lyrischen Spielregel ist die Bestimmung, die Huizinga f ü r das Spiel vornahm, nun erfüllt. In dieser Hinsicht läßt sich die Welt der Galgenlieder gewiß als "Spielwelt" kennzeichnen. Ob diese Kennzeichnung auch in anderer Hinsicht trifft, wird in den folgenden vier Abschnitten und wird im dritten Kapitel des dritten Teils untersucht werden, dann im Vergleich mit dem Nonsense Carrolls und Lears.

2. VON DER K I N D L I C H K E I T ZU DEM H A U C H ÜBER DEN D I N G E N

Das Modell des Spiels soll für die weiteren Erkundungen der Galgenliederwelt nutzbar gemacht werden: Es soll das berühmte Motto der Galgenbrüder klären helfen. " P e r aspera ad a s t r a . " Auf deutsch soll das heißen: " D e r Hauch über den Dingen ist das Beste". 6 7

a. DIE K I N D L I C H K E I T

Morgenstern liebte Kinder. Oh, euch süße Gesichter vergess ich nie mehr, euch glückliche Lichter durch Nacht zu mir her, euch Näschen, vom Fensterdruck schelmisch gestumpft, euch Wädchen und Kniechen, nur dürftig bestrumpft, euch rosige Händchen, ans Glas angestützt, euch kosige Mündchen, neugierig gespützt! 6 8 67 B r i e f e , 4 0 1 , 1910. 68 K i n d e r g l a u b e , A u f vielen W e g e n , 26.

161

Die Kindlichkeit 69

"Es gibt doch nichts Schöneres als Kinder und Kindheit." Morgenstern schrieb Kinderbücher. 1921 gab Margareta "Klein Irmchen" heraus, eine Sammlung von Kinderliedern, die gekürzt 1943 unter dem Titel "Liebe Sonne, liebe Erde" noch einmal erschien. 1906, bereits ein Jahr nach Veröffentlichung der Galgenlieder, faßte Morgenstern den Plan zu einem Galgenlieder-Kinderbuch. 1908 arbeitete er an "Klaus Burrmann, der Tierweltphotograph", der 1942 erschien, schrieb Verse zu Aquarellen Karl von Freyholds — "Das Hasenbuch" (1906) —, denen man 1945 ein Prosamärchen Morgensterns unterlegte. 1951 erschien "Sausebrand und Mausbarbier" 7 0 . Eine kurze Auswahl von Kinderliedern enthalten 1965 die "Gesammelten Werke", eine Zusammenfassung die "Sämtlichen Dichtungen" 1978: "Klein Irmchen" und "Klaus Burrmann". Morgenstern wollte "Kind" sein: "Ich möchte sagen, daß ich immer noch im und vom Sonnenschein meiner Kindheit lebe." 71 Er habe an der Welt gezweifelt — "so restlos zweifelte nicht leicht ein Mann" 7 2 — und blieb doch "Kind". 7 3 Er "habe die Welt zu Flugsand gedacht" und könnt* doch das "Kind" in sich nicht töten. 74 "Ich könnte heute noch im Walde wie ein Knabe spielen." 75 Vieles ist für Morgenstern "Kind", sei es seine poetische Begabung 7 ', sei es, das Lachen Hartlebens 77 . Kindlich ist seine Ironie, kindlich sein Pathos. 78 "Die Welt ist doch vor allem ein — Kind."79 Und "was da ist", ist "Kinder-Spiel".» 0 Mit dem "Kind" werden schließlich auch die Galgenlieder in Verbindung gebracht, deren Veröffentlichung Morgenstern bereits 1897 wünscht, "etwa des Mottos: Es gibt keine Kinder mehr?" 8 1 Als Motto wählte er 1905 für die Erstausgabe: "Dem Kinde im Manne", und modifiziert 1913 für die 15. Auflage: "Dem Kinde im Menschen". 82 Was ist "das Kind im Menschen"? Welche Vorstellungen Morgenstern mit "Kindlichkeit" verband, läßt sich erschließen. Ausgangspunkt ist das Vorwort zur 15. Auflage: "In jedem Menschen ist ein Kind verborgen, das heißt Bildnertrieb. (...) 69 70. 71 72 73 74 75 76 77 78 79 80 81 82

Briefe, 27, 1892. Zu den Angaben vgl. Bauer, 1933, 248 f f . u n d Beheim-Schwarzbach, 159 f. Stufen, 45, 1908. Mensch W a n d e r e r , 165, 1907. Ebda. E p i g r a m m e und Sprüche, 37, 1899. Stufen, 43, 1907. Briefe, 48, 1894. A . a . O . , 78, 1896. Stufen, 18, 1896. Briefe, 442, 1912. Vogelschau, Ein S o m m e r , 10. Briefe, 89. VI, 5.

162

Die Spielwelt

Dieses 'Kind im Menschen' ist der unendliche Schöpfertrieb in i h m " . 8 3 " K i n d " sein heißt kreativ sein. Morgenstern dichtet 1907: So restlos zweifelte nicht leicht ein Mann Und blieb doch — Bildner. Ja, blieb Kind sogar.* 4 Das Kind will bilden und bauen, es schafft seine eigene Welt, lehnt das von anderen Vorgefertigte ab. Es will nicht " d a s bis auf den letzten Rest nachgearbeitete Miniatür-Schiff", 8 5 es will selbständig aus Teilen ein eigenes, neues Ganzes schaffen, ein Schiff aus einer "Walnußschale mit der Volgelfeder als Segelmast und dem Kieselstein als K a p i t ä n " . 8 8 Diese Kreativität wird von ebenfalls aus der "Kindlichkeit" stammenden Faktoren bestimmt. Interpretiert werden soll ein Spruch des Galgenlieder-Dichters: Kinder, Tiere, Pflanzen, da liegt die Welt noch im Ganzen. 8 7 Im Zusammenhang mit dem " G a n z e n " kann der gemeinsame Nenner von Kind, Tier und Pflanze nur Natürlichkeit/Unschuld sein. In seiner Natürlichkeit und Unschuld gegenüber seiner Welt unterscheidet sich das " K i n d " vom " n o r m a l e n " Erwachsenen. Natürlichkeit/Unschuld schützen es vor dem sorgenbringenden Intellektualismus der Erwachsenen, die ihre Welt zu " F l u g s a n d " zerdenken, 8 8 bis schließlich nur noch Sand ihnen durch die Finger rinnt. 8 9 Natürlichkeit/Unschuld trennen es von dem rücksichtslosen Utilitarismus der Erwachsenen, die wirklich auf allen zehn Zehen im wirklichen Leben stehen, 9 0 die wirklichen Zielen und Zwecken ihr Leben unterstellen und diese Ziele und Zwecke die Mittel oft heiligen lassen und die Ehrlichkeit dabei vergessen. Kants Definition der " N a i v i t ä t " paßt zu diesem Moment: " d e r Ausbruch der der Menschheit ursprünglich natürlichen Aufrichtigkeit wider die zur andern Natur gewordenen Verstellungskunst." 9 1 Natürlichkeit/Unschuld befreien das Kind von der Verantwortung. Es zerdenkt nichts zu Sand, es arbeitet an der Zweck- und Ziel weit der Er83 84 85 86 87 88 89 90 91

Ebda. Mensch W a n d e r e r , 165. VI, 5. Ebda. Epigramme und Sprüche, 161, undatiert. A . a . O . , 37, 1899. Mensch W a n d e r e r , 165, 1907. Die wirlich praktischen Leute, VIII, 62. Kant, Kritik der Urteilskraft, V, 440.

Die Kindlichkeit

163

wachsenen nicht mit, es trägt darum auch keine Verantwortung in und an dieser Welt. Hier haften nur die Eltern. Daß deren Welt zerklüftet und zerrissen — nicht " g a n z " — ist, Kinder, Tiere, Pflanzen sind schuldlos daran. In ihnen ist das " G a n z e " noch erhalten. " H a b t auch Unschuld zum Genießen", fordert Morgenstern die Leser der Galgenlieder auf* 2 und spricht damit das Kind im Menschen an. Das Bild des " K i n d e s " wird mit einem Moment abgerundet, das aus den vorangegangenen Bestimmungen nun folgen m u ß . " K i n d " sein heißt: Sorglosen Lächelns die Lippen geschürzt, fröhlich die blühenden Wangen gerötet... 9 3 Der erwachsene Mensch aber merke sich: ...nur dein tiefes Kind-Sein macht, daß du noch weiter fröhlich bist. 9 4 Schöpferisch, problemlos, ziellos und frei von Verantwortung — S o r glosigkeit und Fröhlichkeit ist dieses Kinderleben und — soviel wird deutlich geworden sein — eine Idealisierung des Galgenlieder-Dichters. Das " K i n d " ist ein geistiges Geschöpf, geboren aus einem Bedürfnis nach eben jener " n a t ü r l i c h e n " Kreativität, jener " n a t ü r l i c h e n " Freiheit von Problemen, Zwecken, von Verantwortung, geboren aus der Sehnsucht nach " n a t ü r l i c h e r " Sorglosigkeit. Was der " M a n n " nicht erreicht, dem " K i n d " im Manne soll es möglich sein. Das " K i n d " Christian Morgenstern ist auch ein Geschöpf der Geschichte. Ellen Keys " D a s Jahrhundert des Kindes" erschien 1900. " ' D i e Emanzipation des Kindes' begann um 1900." 9 5 Und "die Jahrhundertwende ist auch in der Dichtung das Zeitalter des Kindes, sie übertrifft hierin die Romantik weit. Kaum ein Dichter möchte nicht Kind s e i n " . 9 8 " M a n kann sogar behaupten, der Dichter als Kind sei ein Topos der J a h r u n d e r t w e n d e . " 9 7 Die Idealisierung des "Kindes im M a n n e " bündelt und rekapituliert die wichtigen Grundzüge der Galgenliederwelt — ihre Freiheit, ihre Phantasie, ihren " F r o h s i n n " .

92 93 94 95 96 97

Briefe, 401, 1910. A . a . O . , 88, 1896. Vogelschau, Ein Sommer, 10. Stählin, 74. Liede, I, 325. A . a . O . , 326.

164

Die Spielwelt

b. DAS KINDLICHE BILDERSPIEL

Das Kind im Manne will spielen. Das " K i n d " will der Galgenliederdichter Christian Morgenstern in sich spielen lassen. Und dieses Spiel wird von der Spielhaltung des Kindes wesentlich bestimmt sein. Soll es ein gutes, das heißt ein befriedigendes Spiel sein, wird es den Erfordernissen der Unbefangenheit, Leichtigkeit, Problem- und Zweckfreiheit, der Ungebundenheit und vor allem des " B i l d n e r t r i e b e s " nachkommen müssen. Welche Spielarten bieten sich daraufhin an? Ein Spiel, das Morgenstern leidenschaftlich gern spielte und ihn so sehr faszinierte, daß er es mehrfach zum T h e m a seiner Lyrik machte, findet dennoch — zunächst überraschend — in der Welt der Galgenlieder nicht eine Erwähnung und seine Spielstruktur nirgendwo eine Anwendung: das Schach. Morgenstern schrieb ein " S c h a c h s o n e t t " , 9 8 schrieb " V o r dem S c h a c h b r e t t " ' ' 9 und beschrieb " S c h a c h , das königliche S p i e l " 1 0 0 , aber niemals schrieb er ein Schach-Galgenlied. Der kindlichen Spielhaltung ist das Schach fremd. Kompliziert und unbedingt einzuhalten sind seine Regeln, Konzentration und strategische Planung fordert der " K a m p f " mit dem Gegner: Du bist nicht nur ein Spiel, vom Leben schwer, du bist sein Kampf selbst, formuliert als Spiel. In dir erflog der Geist den großen Stil. Noch mehr: Du bist des Geistes großer S t i l . 1 0 1 Ein Sonett läßt sich vielleicht mit dem Schach vergleichen: Dem edlen Schach vergleich ich das Sonett. E r ö f f n u n g , Aufbau, Mittel-, Endspiel — t r a u n . 1 0 2 Es läßt sich vielleicht mit einem Kunstwerk vergleichen: Ein Kunstwerk sei wie ein Schachproblem. D a ist's auch nicht an dem oder dem; da ist ein jeder Zug b e s t i m m t . . . 1 0 3 98 Ich und Du, 70. 9 9 Einkehr, 4 1 . lOOMelencolia, 85. 101 E b d a . 102Schachsonett, Ich und Du, 70. 103 Vor dem Schachbrett, Einkehr, 41.

Das kindliche Bilderspiel

165

Es läßt sich nicht mit den Galgenliedern vergleichen, denn da ist manches an dem oder dem. 1 0 4 Es ist eine andere Spielart, welche die Bedingungen der kindlichen Spielhaltung in idealer Weise erfüllt. Kein Spiel erfüllt sie besser als das spielerische " B a u e n " , das Bauen einer eigenen kleinen Welt und das Bilden all der Dinge, die zu einer solchen Welt gehören. 1 0 5 Versuchte das Kapitel über die Phantasie, den Entstehungsprozeß der neuen Welt in seinen Grundzügen zu beschreiben, so öffnet nun dieses "kindliche Spiel" eine neue Perspektive: Wie behandelt und verwandelt das Kind im Manne die Dinge der Nicht-Spiel-Welt in seiner Spiel-Welt? Morgenstern gibt das Grundmuster dieses Vorgangs an: "Aus Steinen und Holzstücken Häuser bauen, mit dürren Zweiglein Straßen abstecken und Haine bilden, einen Felsblock zum Range eines Alpengipfels erheben und einem Hirschkäfer und seiner Frau die Herrschaft über das alles verleihen." 1 0 8 Oder aus Federbetten "Marmorimpressionen" hauen: Götter, Menschen, Bestien, Dämonen, Zeuße, Ritter und Mulatten, Tigerköpfe, Putten und Madonnen. 1 0 7 Feuchte Manschetten werden eigene Wesen, 1 0 8 Hände werden Figuren, 109 Kerzen, wenn sie schmelzen, Berge: Seltsam formt es ein Gebirge aus herausgefloßner Lava, bildet Zotteln, Zungen, Schnecken. Schwankend über dem Gerinne stehn die Dochte mit den Flammen gleichwie goldene Zypressen... 110 In einem Zollstock ist eine Welt zusammengeklappt. Korf erklärt Palmström: Siehst du diesen Zollstock, spricht er; — dieser Zollstock ist ein Dichter: brich mit Kunst ihn hin und wieder, 104Die "Schach-Interpretation" des "großen Lalula" durch Mueller (VI, 20 f.) widerspricht diesen Beobachtungen nicht. Zum einen steht sie außerhalb der eigentlichen Spielwelt. Zum anderen ist sie genuin ironisch. 105 F.G. Jünger teilt drei Spielklassen ein: Glücksspiele, Geschicklichkeitsspiele und vorahmend-nachahmende Spiele (15 f.). Folgt man dieser — durchlässigen — Kategorisierung, wird das kindlich welterschaffende Spiel der Galgenlieder der dritten Gruppe zuzuordnen sein. 106Stufen, 43, 1907. 107Bildhauerisches, VIII, 13. 108 Bauer, 1954, 131. 109Stufen, 29, 1905. llODer Träumer, VIII, 67.

166

Die Spielwelt

nütze seine vielen Glieder, und ein Baum erwächst daraus und ein Kirchturm und ein Haus und ein Fenster und ein Ofen und eine Sphinx für Philosophen! Wolken von besondrer Schwere, Schiffe hinten auf dem Meere, Sternenbilder, Alpenketten formst du draus gleich Silhouetten, kurz, in linearem Risse schaffst du jegliche Kulisse...111 Jean Paul verallgemeinert: "Jedes Stückchen Holz ist ein lackierter Blumenstab, an welchem die Phantasie hundertblättrige Rosen aufstängeln kann." 1 1 2 Zum "großen Lalula" merkt Morgenstern an: "Warum soll sich ein phantasiereicher Junge zum Beispiel nicht einen Indianerstamm erfinden samt allem Zubehör, also auch Sprache, Nationalhymne?" 1 1 3 Und Jean Paul: "Eine Puppe ist mit ihm ein Volk oder eine Schauspielergesellschaft, und er ist der Theaterdirektor und Regisseur." 114 Das kindliche Spiel des Weltbauens ist ein Spiel mit dem "Als-ob". Es werden nicht Häuser und Straßen gebaut und Wälder angelegt. Es 111 Theater, VIII, 21 f. — Was Korf hier vorschlägt, will Morgenstern realisieren. Er läßt den Galgenbruder, Architekten, Maler und O b e r b a u r a t Beblo nach seinen E n t w ü r f e n einen Plan zeichnen (Briefe, 510) und versucht im S o m m e r 1906, den K u n s t g e w e r b e Debschitz in München für die Verwirklichung eines "Zollstockspiels" zu gewinnen (Briefe, 221): Die Abbildung ist dem " G r o ß e n Christian M o r g e n s t e r n - B u c h " entnommen (311).

112 Jean P a u l , V, 604. Levana, § 51. 113 Briefe, 402, 1910. 114Jean P a u l , V, 604. Levana, § 51.

D a s s p r a c h l i c h e Bilderspiel

167

gibt keinen Indianerstamm und keine Schauspielergesellschaft. Gespielt wird nicht mit einem Haus, sondern mit der Vorstellung eines Hauses, nicht mit einem Indianerstamm, sondern mit der Vorstellung eines Indianerstammes. 1910 nahm Dewey dieses als entscheidendes Theorem des kindlichen Spiels an: "Jede Arbeit", sagt er, "ist von dem Interesse gelenkt, irgendeine Bedeutung (die Vorstellung vom Zweck) in einer objektiven Form durch Ausnutzung der entsprechenden Materialien adäquat zu realisieren". Das Spiel dagegen begnügt sich mit der bloßen Bedeutung (meaning), mit dem einfachen Bilde und verzichtet auf die Verkörperung der Bedeutung in der Wirklichkeit. Um zum Beispiel ein Haus spielend aufzubauen, begnügt sich das Kind nur mit der Bedeutung, dem Bilde, welchem keinerlei Realität entspricht. 115 Buytendijk dazu: "Ich möchte es noch anders sagen: Tier und Mensch spielen nur mit Bildern. Ein Gegenstand ist nur insofern Spielobjekt, als er Bildhaftigkeit besitzt." 1 1 8

c. D A S S P R A C H L I C H E B I L D E R S P I E L

Die Welt der Galgenlieder ist zunächst und vor allem anderen eine Welt der Sprache. Wenn in ihr gespielt wird, so nicht mit Steinen und Ästen, sondern mit Worten, mit "Bildern", die etwas bedeuten, auf etwas verweisen, mit Zeichen, deren Struktur man mit einem semiotischen Dreieck zu beschreiben versucht. Die Eckpunkte lauten: "Bezeichnendes", "Bezeichnetes" und "Umweltreferent". Einfach, aber in diesem Zusammenhang wichtig, ist die Feststellung: In einer Gedichtsammlung finden sich keine Dinge, sondern nur Zeichen, Bilder, die Dinge bedeuten und darstellen. Morgenstern schuf sich mit der Welt der Galgenlieder im Sinne Deweys und Buytendijks ideale Spielbedingungen. Die Spielhaltung des "Kindes" tritt hinzu: Kindliche Freiheit von der Verantwortung meint auch die Freiheit, sich nicht vor sprachlichen Normen verantworten zu müssen. Normen etwa, nach denen das "Bezeichnende" normativ-korrekt "Bezeichnetem" und "Umweltreferenten" zugeordnet wird. Die kindliche Zweckfreiheit erlaubt den Verzicht auf 115 Zusammengefaßt von Hessen in: Scheuerl, 108. 116A.a.O., 128.

168

Die Spielwelt

"Aussage" und " S i n n " des Bilderspiels, läßt den Ohne-Sinn zu. Der Frage " w a r u m ? " ist sie nicht verpflichtet. Die kindliche Sorglosigkeit und Fröhlichkeit übergeht Problematisierungen des Bilderspiels. Leichtigkeit herrscht darum vor. 117 Die Welt der Galgenlieder braucht auf eine mögliche Verkörperung der Bedeutung in der Wirklichkeit keine Rücksicht zu nehmen. So wenig jemals ein Felsblock ein Alpengipfel und ein Hirschkäfer zum König gekrönt wird, braucht jemals ein Lattenzaun ohne Zwischenraum realisert zu werden. 11 * Ein Hecht wird niemals Vegetarier, 119 ein Trichter niemals wandern müssen. 120 Die Welt der Galgenlieder bleibt immer eine Welt der Bilder. Wie ein Junge hatte der 36jährige Morgenstern 1907 spielen wollen: "aus Steinen und Holzstücken Häuser bauen, mit dürren Zweiglein Straßen abstecken und Haine bilden, einen Felsblock zum Range eines Alpengipfels erheben". 1 2 1 Sein Wunsch realisierte sich mit den Galgenliedern, die eine eigene Welt zu formieren begannen, mit allem, was eine Spielwelt braucht, im Überfluß ausgestattet. Morgenstern " b a u t e " : 1 2 2 "Berge", " H ü g e l " , " A l m e n " und " T ä l e r " (VI: 24, 39, 70, 90, 94, 142, 163; VIII: 22, 31, 47, 50, 67, 103, 105, 135, 148, 150), " W ä l d e r " (VI: 22, 34, 39, 67, 80,81,82, 113, 116, 125, 145, 151; VIII: 33, 86, 117, 147) und "Wiesen" und "Felder" (VI: 24, 46, 54, 105, 161; VIII: 36, 37, 38, 68, 105, 112, 138), "Meere" (VI: 29, 56, 115, 128, 147; VIII: 22, 51, 52, 163) mit "Küsten" (VI: 56, 128), "Teiche" (VI: 22, 75, 78, 91, 97, 116, 151; VIII: 7, 24, 97) und "Flüsse" und "Bäche" (VI: 38, 41, 95, 116, 127, 159; VIII: 50, 108, 109, 110, 112, 139, 157), " S ü m p f e " (VI: 22, 84, 176; VIII: 40), " M o o r e " (VI: 22, 150, 176; VIII: 40), legte " S t ä d t e " und " D ö r f e r " an (VI: 22, 38, 44, 48, 87, 89, 118, 123, 127, 133, 136, 140, 141, 142, 143, 154, 155, 157, 159, 160, 174; VIII: 8, 18, 21, 31, 46, 49, 50, 59, 69, 129, 150, 151, 154, 156), mit " H ä u s e r n " (VI: 38, 44, 45, 48, 62, 63, 71, 86, 95, 99, 155, 157, 158, 159, 165; VIII: 14, 15, 20, 22, 25, 29, 30, 32, 42, 45, 47, 55, 56, 59, 71, 86, 90, 100, 103, 124, 128, 129, 143, 150, 153, 154), samt "Terrassen" (VI: 42, 117) und 117Es muß an dieser Stelle noch einmal darauf hingewiesen werden, daß Morgenstern "Kindlichkeit" problemfrei idealisiert und damit auch die Spielhaltung der Kindlichkeit. Idealisiert ist gewissermaßen auch der Versuch, vom Standpunkt der von Morgenstern derart bestimmten Kindlichkeit aus in die Welt der Galgenlieder hineinzugelangen. Daß einige dieser Gedichte gerade die Sprache bewußt problematisieren, bleibt unbestritten: die Welt der Galgenlieder ist schließlich nicht kindlich — es hätte sonst keiner Kinder-Version bedurft —, sondern als Spielwelt von einem Autor konzipiert, der die Spielhaltung des Kindes idealisierte (und damit auch reflektierte). Daß diese Spielhaltung andererseits aber weite Bereiche der Galgenliederwelt bestimmt, versucht dieser Abschnitt darzulegen. 118Der Lattenzaun, VI, 48. 119Der Hecht. VI, 91. 120Die Trichter, VI, 34. 121 Stufen, 43. 122Das folgende Inventar ist möglicherweise lückenhaft.

Der Hauch über den Dingen

169

" G ä r t e n " (VI: 121; VIII: 24, 49, 50, 125), mit " S t r a ß e n " und " P l ä t z e n " (VI: 34, 44, 79, 154, 157; VIII: 34, 36, 60, 68, 101, 147, 152, 157), " K i r c h e n " (VI: 39, 53, 123, 164, 169, 177; VIII: 22) und " B a h n h ö f e n " (VI: 73, 140, 141, 143). Und über allem scheinen " S o n n e " (VI: 24, 90, 101; VIII: 12, 49, 65, 134, 143), " M o n d " (VI: 16, 34, 44, 45, 47, 55, 101, 150, 157, 167; VIII: 36, 42, 97, 139, 143) und " S t e r n e " (VI: 16, 45, 86; VIII: 22, 32), und weht und stürmt der " W i n d " (VI: 16, 18, 22, 30, 31, 42, 99, 112, 156, 177; VIII: 31, 51, 52, 53, 66, 134, 144, 149, 150). Diese Welt ist bevölkert. In ihr leben " M e n s c h e n " und leben " T i e r e " , " P f l a n z e n " und " D i n g e " wie Menschen. Über ihre Straßen wandeln " P a r a l l e l e n " (VIII, 160), " T r i c h t e r " (VI, 34), " S t i e f e l " (VI), 105) und " K n i e " (VI, 36), und jagt das " T e l l e r h a f t e " entlang (VIII, 142), auf ihren Teichen laufen " S e u f z e r " Schlittschuh (VI, 38). Dort musizieren " I g e l " (VI, 75), singen " F i s c h e " (VI, 29, 168) und tanzen " W o r t e " dazu (VI, 149). Es beten die " R e h e " (VI, 19) und "Schleic h e n " (VI, 80), es tuscheln die " W ü r m e r " in " M u s c h e l n " (VI, 43). Während " F l a s c h e n " (VI, 49), " G l o c k e n t ö n e " (VI, 39) und " E s e l " (VI, 93) sich lieben, weinen " W a l f i s c h " (VI, 87) und " H e m d e n " (VI, 31) und jammert die " B l u s e " (VI, 167). Einsam sind die "Schaukelstühl e " (VI, 42), unzufrieden die " W ü r f e l " (VI, 51), " L u f t " (VI, 96), " R u h e " (VIII, 115) und " N ä h e " (VIII, 114) krank. " P f e r d e " und "Perlh ü h n e r " rechnen (VIII, 64, 100), " F i s c h e " schreiben (VI, 147) und " K ü s t e n " (VI, 56). Da denkt ein " P u r z e l b a u m " nach (VI, 81) und ein " P f e r d " (VIII, 104), denken " Z i r b e l k i e f e r " (VIII, 145) und "Butterb r o t p a p i e r " (VIII, 117). Ein " H e c h t " wird Vegetarier (VI, 91), ein " R o c k " ruht sich aus (VIII, 43). " P f i f f e " sind käuflich (VI, 59), "Satzzeichen" streitbar (VI, 120), und alle dürfen sie plaudern: " R a b e n " (VI, 23, 79) und " H ä u s e r " (VI, 155), " S t r a ß e n " (VI, 157), " P f e r d e " (VI, 71, VIII, 102, 104) und " W o l k e n " (VIII, 113), " S c h i l d k r ö t e n " (VI, 89), " K o r b s t ü h l e " (VIII, 133) und " H u n d e " (VIII, 89), und " W a l fische" (VI, 57) und " T a n n e n w u r z e l n " (VI, 82). Und zu alledem trinken die " T e m p o r a " Sekt (VI, 58). d. POINTIERUNG. DER HAUCH ÜBER DEN DINGEN

Eine Flasche ist eine Flasche, ist ein Ding. Es läßt sich funktional bestimmen, etwa als ein bauchiges Behältnis f ü r Flüssigkeit, das sich nach oben zu einem Hals verjüngt. Es ist ein Ding der Wirklichkeit, kann Wasser oder Wein oder Bier oder ... in sich a u f n e h m e n . Einer Flasche aber kann diese Bestimmung entzogen und eine neue Bestimmung ver-

Die Spielwelt

170

liehen werden. Sie kann etwas anderes bedeuten, und sie kann unbegrenzt viel bedeuten, "deutet" man sie nur. Eine Flasche besitzt alle Möglichkeiten, etwas anderes zu " s e i n " , als sie ursprünglich war. Kinder führen es im Sandkasten vor: Eine Flasche ist dort Turm, Baum, Mensch, Lampe, Rakete... Automobil. Oder genauer: Einer Flasche werden dort Bilder von Türmen, Bäumen, Menschen ... zugeordnet. Eine Flasche besitzt — wie jedes Ding — die Vielfalt der Möglichkeiten von Bildhaftigkeit. Das ist der " H a u c h " über ihr, und das ist der "Hauch über den Dingen". "Flasche" ist ein Wort, das aufgrund sprachlicher Vereinbarung die anfangs beschriebene Vorstellung eines Dinges beinhaltet. Diese Vorstellung ist ein Bild für das von dem Wort "Flasche" bezeichnete Ding, den "Umweltreferenten". Wie Kinder mit einer Flasche im Sandkasten spielen, so läßt sich auch mit einer "Flasche" spielen. Der Unterschied liegt darin: Einer Flasche werden als Gegenstand Bilder zugeordnet. Eine "Flasche" ist ein Bild. Im Spiel der Galgenliederwelt werden Worte als Bilder von den ihnen herkömmlich zugeordneten Dingen getrennt. Die "Flasche" entzieht sich der Flasche. Sie wird — wie jedes Wort — frei für alle Möglichkeiten ihrer eigenen Bildhaftigkeit. Was einer Flasche nicht möglich ist — ein Ding nur, ein bauchiges Behältnis für Flüssigkeit, das sich nach oben zu einem Hals verjüngt —, der "Flasche" ist es möglich: Sie verliebt sich und trifft den Geliebten auf einer Bank. Das ist der " H a u c h " über ihr, und das ist der "Hauch über den Worten". Werden Dinge offen für alle Möglichkeiten, ihnen Bilder zuzuordnen, und lösen sich Worte von Dingen, so fallen in jedem der Fälle die semiotischen Dreiecke zusammen und müssen sich neu konstituieren: Der "Hauch über Dingen und Worten" ist die Verschiebbarkeit der semiotischen Eckpunkte. Und — so läßt Christian Morgenstern sich ergänzen —: Der Hauch über den Dingen und Worten ist das Beste: Die beiden Flaschen Zwei Flaschen stehn auf einer Bank, die eine dick, die andre schlank. Sie möchten gerne heiraten. Doch wer soll ihnen beiraten? Mit ihrem Doppel-Auge leiden sie auf zum blauen Firmament... Doch niemand kommt herabgerennt und kopuliert die beiden. 123

123 V I ,

49.

IV. DIE TRAUMWELT Herrlich lebt es sich im Traum, Leicht Gepäck, wird Zeit und Raum. Aber sollst du dann erzählen, Wird dir oft das Beste fehlen. 1 Das folgende Kapitel handelt von der besonderen Sprache der Galgenlieder — es setzt das vorangegangene Kapitel damit unmittelbar fort — und nicht von geträumten Galgenliedern. Sein Ziel ist nicht die Rückführung "manifester Inhalte" auf "latente Gedanken", sondern die Interpretation literarischer Texte. Sein Verfahren ist nicht psychoanalytisch sondern bleibt hermeneutisch. Daß dieses Kapitel "Die Traumwelt" heißt, hat vor allem heuristische Gründe. Die Sprache des Traumes ist nicht alltäglich, oft "phantastisch" und "komisch" und "spielerisch", bisweilen außerordentlich "kunstvoll" und überdies in weiten Bereichen — wenn auch umstritten — erforscht. Die lyrische Kunstsprache der Galgenlieder durch einen Vergleich mit sprachlichen Mitteln des Traumes zu erhellen, das ist das Ziel dieses Kapitels. Mit den Begriffen des "Sprachzerfalls und -neuaufbaus", der "Verschiebung", "Verdichtung" und "Bildlichkeit" stellt die Traumforschung für eine Interpretation der Lieder interessante Orientierungspunkte bereit.

1. SPRACHZERFALL UND -NEUAUFBAU DER ZUGANG DURCH DAS REICH DER ANTEN In dream psychology today we need to grasp the inner structure, i.e., the grammar, of the peculiar foreign language of our own nighttime experience. The only classical dream theorist with any real understanding of this request was Freud, and in this respect, Freud's theory of dreaming is the most contemporary in orientation of all the many dream theories now extant. 2 First published at the turn of this century, Sigmund Freud's "The Interpretation of Dreams" (1900) remains dream psychology's single most important work. 3 1 2 3

Der Sämann, 27. Foulkes, 16 f. A.a.O., 27.

172

Die Traumwelt

a) Ein morphologischer Versuch Anto-Logie Im Anfang lebte, wie bekannt, als größter Säuger der Gig-ant. Wobei gig eine Zahl ist, die es nicht mehr gibt, — so groß war sie! Doch jene Größe schwand wie Rauch. Zeit gabs genug — und Zahlen auch. Bis eines Tags, ein winzig Ding, der Zwölef-ant das Reich empfing. Wo blieb sein Reich? Wo blieb er selb? — Sein Bein wird im Museum gelb. Zwar gab die gütige Natur den Elef-anten uns dafür... 4 Mit den ersten sechs ihrer zwölf Strophen ist die Naturgeschichte des Elefanten hier vorgeführt. Zwei Entwicklungsphasen lassen sich deutlich unterscheiden. Im Anfang fielen drei Worte, die der neuhochdeutschen Sprache entstammen, in einzelne verschiedene Bestandteile auseinander. Eines der drei erfuhr dabei ein besonderes Schicksal: Die literarische "Blumenlese" verlor ein " h " . Unter Mißachtung der Regeln der Silbentrennung ergab sich daraus das folgende Sprachmaterial: Ant-o-logie, Gig-ant und Elef-ant. Eine Phase des Neuaufbaus schließt sich an. Ihr Ausgangspunkt ist die in allen drei Fällen entstandene Isolation des Partikels " a n t " . Dieses " a n t " wird in einem Schöpfungsakt zum Lebewesen erhoben, per definitionem ist "der A n t " geboren. Mit der Suggestion einer Homonymiebildung wird " E l e f " dem Zahlwort " e l f " gleichgesetzt. Und indem nun einerseits mit dem Begriff "gigantisch" eine außergewöhnliche Größe oder auch eine außergewöhnlich große Zahl konnotiert wird, andererseits aber Giganten in längst vergangener, dunkler Vorzeit die mythischen riesenhaften Söhne der Erde " G ä a " waren, wird auch "gig" in den Rang einer — unermeßlich großen, alten mythischen — Zahl erhoben. " A n t " also ist ein Säugetier, und " g i g " und "elef" — zwei Zahlen — bestimmen zwei Arten dieser Gattung. Das Wissen aber von den "Anten" und den Verzweigungen ihrer Gattung läßt sich in einer AntenKunde, einer "Antologie", zusammenfassen, so wie sich mit den Tieren im allgemeinen die Tierkunde, die Zoologie, befaßt. 4 vi, 65.

Sprachzerfall und -neuaufbau

173

Aus den sprachlichen Bausteinen Ant-o-logie, Gig-ant und Elef-ant entsteht ein neues Fundament, auf dem unter Anleitung Darwins ein ebenso neues Gebäude errichtet werden kann. Durch einfache Analogiebildung werden Zwölef-ant und Zehen-ant geschaffen. Der " A n t " entwickelt sich in seiner Evolution, bis er dereinst im Nebel hinten als Nulel-ant wird stumm verschwinden. 5 b) Ein semantischer Versuch Der Lattenzaun Es war einmal ein Lattenzaun, mit Zwischenraum, hindurchzuschaun. Ein Architekt, der dieses sah, stand eines Abends plötzlich da — und nahm den Zwischenraum heraus und baute draus ein großes Haus. Der Zaun indessen stand ganz dumm, mit Latten ohne was herum. Ein Anblick gräßlich und gemein. Drum zog ihn der Senat auch ein. Der Architekt jedoch entfloh nach Afri-od-Ameriko." Der Täter: Es handelt sich um eine nicht näher bekannte Person, die gewerblich der Beschäftigung nachgeht, Bauwerke zu entwerfen, welche in der Regel aus Materialien wie Holz, Stein, Beton, Stahl... hergestellt werden. Die Person ist flüchtig. Die Opfer: Es handelt sich um eine nicht näher bestimmte Anzahl von Latten, die zu einem Zaun gezimmert waren, und zwar so, daß die einzelnen Latten nicht unmittelbar nebeneinander (oder übereinander) gezimmert wurden, sondern in einem Abstand zueinander. Dieser zwischen den Latten liegende Abstand wird als "Zwischenraum" identifiziert. Die Tat: Ein "Lattenzaun mit Zwischenraum" ist eine definierte begriffliche Einheit. Sie bezeichnet eine bestimmte Art Zaun. Löst man eines der Elemente aus dieser Einheit heraus, fallen auch die übrigen Elemente auseinander, und der Gesamtbegriff zerfällt. Wird einerseits einem "Lattenzaun mit Zwischenraum" ein wesentliches Konstituens seines Begriffes, der "Zwischenraum", gestohlen, verliert er seine Identi5 6

V I , 66. V I , 48.

174

Die Traumwelt

tat: Nicht einmal ein " L a t t e n z a u n ohne Zwischenräum" ist dieser " L a t tenzaun mit Zwischenraum" ohne Zwischenraum, sondern " N i c h t s " . " Z w i s c h e n r a u m " andererseits bezeichnet ein Abstraktum, das allgemein seine Existenz der Bezugs-Umgebung, im besonderen hier den diesen umgebenden Latten verdankt. Wird ein Zwischenraum aus dieser Umgebung herausgelöst, verliert auch er seine Identität. Auch er zerfällt zu " N i c h t s " . Der Galgenliederdichter nimmt sich beider zerfallenen Begriffe an. Ihre Auflösung in " N i c h t s " wendet er ab. Ein " L a t t e n z a u n mit Zwis c h e n r a u m " ohne Zwischenraum wird zu einem unästhetischen, " g r ä ß lichen und gemeinen" Gegenstand erklärt, den darum besser ein Senat einzieht. Für die zerfallenen Zwischenräume aber wird die Rolle des Diebes einem Architekten delegiert, da ein solcher sich auf den Entwurf verschiedener Gebäude, auf die Verwendung verschiedener Baumaterialien und darum auch von Zwischenräumen einiges versteht. Er " b a u t e draus ein großes H a u s " . Aus der semantischen Auflösung eines " L a t tenzauns mit Zwischenraum" heraus gelangt mit Hilfe eines Galgenlieder-Architekten der Neubau eines "Zwischenraumhauses". 7 c) Einordnung Im November 1899 erscheint Sigmund Freuds " T r a u m d e u t u n g " . Sie führt in vielerlei Hinsicht eine Umwälzung der wissenschaftlichen Traumforschung herbei. Zum ersten Mal wird die grundsätzliche Notwendigkeit erkannt, zwischen dem manifesten " T r a u m i n h a l t " und den latenten " T r a u m g e d a n k e n " zu unterscheiden. Diese Unterscheidung führt den Autor zu dem Begriff der " T r a u m a r b e i t " , mit dem er die Umsetzung der Gedanken in den Inhalt bezeichnet. Die Umsetzung erfolgt mit Hilfe verschiedener Techniken, die im einzelnen beschrieben werden können. All diesen Techniken aber liegt ein bestimmendes Moment zugrunde: Der Trauminhalt entsteht aus den Traumgedanken durch eine Rückwärtsentwicklung. Freud nennt sie "Regression", und er pointiert den komplexen Zusammenhang: " D a s Gefüge der Traumgedanken wird bei der Regression in sein Rohmaterial a u f g e l ö s t . " 8 Im zweiten Band seiner großangelegten "Psychologie der Sprache" richtet der Wiener Professor Friedrich Kainz auch ein Kapitel über die Sprache des Traumes ein. 9 Darin heißt es: 7

8 9

Der beschriebene Diebstahl ist nicht einzigartig in der Welt der Galgenlieder. Später wird der Juwelendieb Eugen aus der ersten Etage eines Hauses einen Saal stehlen und sich ebenfalls nach A m e r i k o einschiffen: nach Baltimur, die Beute diesmal an Bord. (VI, 159). Auch ein Saal aber ist nur von seinen W ä n d e n umgeben ein Saal und ohne sie " N i c h t s " . Die T r a u m d e u t u n g , Werke I I / I I I , 547. Kainz, 1969, 465-532.

Sprachzerfall und -neuaufbau

175

Für das Vorstellungsleben des Träumenden sind die (...) Vorgänge der Dissoziation und Amalgamierung besonders charakteristisch. Jene besteht darin, daß bestimmte Bewußtseinsinhalte losgelöst aus ihren normalen Verbindungen für sich allein ihren Weg gehen. Vorstellungen tauchen auf, ohne daß die ihnen sonst anhaftenden Gefühlstöne wach werden, Stimmungen sind da ohne einen ihnen angemessenen Inhalt usw. Die solcherart freigemachten Einzelbestandteile werden durch einen zweiten Vorgang in enge, aber paradoxe Verbindung gebracht. Dieses Geschehen, das sonst auch als "falsche Zuordnung" bezeichnet wird, nennt Hoche Amalgamierung, um die Innigkeit der Verschmelzung zweier ganz fremdartiger Dinge zu einer neuen Pseudoeinheit zum Ausdruck zu bringen. Es zeigt sich also, daß die normalerweise bestehenden Verbindungen zwischen Vorstellungen, Begriffen und Gefühlen sich lösen und in regelloser Weise Verschmelzungen nicht zusammengehöriger Bestandteile stattfinden. 10 Der Gewährsmann Kainz' ist nicht Sigmund Freud — seine Arbeit wird kaum berücksichtigt —, sondern Alfred Hoche, dessen Untersuchung "Das träumende Ich" 1927 erschien und dessen Kritik an Freud und der Psychoanalyse zu den streitbarsten zählt. Weder Hoche noch Kainz folgen der Unterscheidung des manifesten Trauminhalts von den latenten Traumgedanken. So wird nicht das Gefüge der Traumgedanken in sein Rohmaterial aufgelöst, sondern die "normalerweise bestehenden Verbindungen zwischen Vorstellungen, Begriffen und Gefühlen". Dennoch: Gemeinsam mit Freud entdecken auch sie im Traum den Vorgang der "Auflösung" oder "Dissoziation" von Sprache in "Rohmaterial" oder "Einzelbestandteile". Auch sie entdecken den " Z e r f a l l der Sprache". 11 Kainz fügt mit Hoche der Dissoziations-Phase mit der "Amalgamierung" eine Phase der Neubildung hinzu. Beide scheinen darin Freuds Regressions-Modell zu überschreiten. Denn "eine ausdrückliche Unterscheidung zwischen Zerfall und Neukomposition hat Freud im Zusammenhang mit der Traumdeutung nicht gemacht." 12 Aus diesem Zusammenhang aber geht — wie Gemma Jappe 1971 zeigt13 — der Begriff der "Restitution" notwendig hervor. Davon, daß die Sprache des Traumes durch "Zerfall und Neuaufbau" bestimmt ist, wird — soweit beide Phasen sich überhaupt voneinander trennen lassen14 — ausgegangen. Der Fall des Lattenzauns kann aufgrund dieser Indizien eine mögliche Aufklärung erfahren. Der nach Afri-od-Ameriko enflohene Dieb erfüll10 11 12 13 14

A.a.O., 517. A.a.O., 520. Jappe, 27. A.a.O., 26 ff. Vgl. a.a.O., 30.

176

Die Traumwelt

te eine orphische Funktion, denn er war es, der — nach Hoche und Kainz — die Vorstellung des "Zwischenraumes" aus ihren "normalerweise bestehenden Verbindungen" löste. Oder nach Freud: Der nach Afri-od-Ameriko entflohene Architekt löste die begriffliche Einheit des Zwischenraums und seiner ihn begrenzenden Endpunkte in ihr Rohmaterial auf, in einerseits "Zwischenraum" und andererseits "Begrenzung", und begann mit diesem Rohmaterial einen Neuaufbau: Er "amalgamierte" das "Zwischenraumhaus". 1901 berichtet Freud in der "Psychopathologie des Alltagslebens", daß er im Verlauf einer Unterhaltung auf die Malereien von Orvieto zu sprechen gekommen sei.1* Während er die Bilder in der Erinnerung deutlich vor sich gesehen habe, sei ihm trotz angestrengten Nachdenkens der Name des Malers nicht eingefallen, hingegen aber die als falsch erkannten Ersatznamen Boticelli und Boltraffio. Warum Freud Signorelli vergaß, ist im einzelnen seiner Analyse zu entnehmen, 16 die ausführlich hier nicht vorgestellt werden kann. Folgendes aber muß um der Verständlichkeit willen mitgeteilt werden. In jener Unterhaltung war kurz zuvor von der Mentalität der in Herzegowina und Bosnien lebenden Türken die Rede gewesen, und Freud hatte als Beispiel ihrer Todesergebenheit und ihres Vertrauens zum Arzt den Satz zitiert: "Herr, was ist da zu sagen?" Als Beispiel ihrer Hochschätzung des Sexualgenusses hatte Freud ferner eine Anekdote erzählen wollen, deren Pointe mit den Worten begann: " D u weißt ja Herr, wenn das nicht mehr geht..." Den Vorgang, der zum Vergessen des Namens "Signorelli" führte, stellt Freud in einem Schema dar, von dem hier ein leicht modifizierter Ausschnitt wiedergegeben sei: Signor — elli Her — zegowina und Herr

Bo — ltraffio Bo — tticelli Bo — snien 17

Freuds These in äußerst verkürzter Form: mit dem Vergessen des Namens "Signorelli" habe er eigentlich die Themen des Todes — "Herr, was ist da zu sagen..." — und der Sexualität — "Herr, wenn das nicht 15 Im folgenden handelt es sich also nicht u m ein geträumtes Beispiel, sondern um eine Anleihe bei der Deutung des Vergessens. Dieser Weg ist methodisch g a n g b a r , denn die Gesetzmäßigkeiten des T r a u m e s lassen sich ebenso am P h ä n o m e n des " V e r g e s s e n s " nachweisen. Seine E r k l ä r u n g findet dieser Z u s a m m e n h a n g darin, daß sowohl der T r a u m als auch das Vergessen und der Witz in ihren Techniken auf dieselben psychischen Vorgänge, vornehmlich die der Verdrängung, zurückzuführen sind. Das vorgestellte Beispiel hätte also auch geträumt werden k ö n n e n . 16 Freud, W e r k e IV, 6 f f . 17 Nach F r e u d , Werke IV, 9.

Sprachzerfall und -neuaufbau

177

mehr geht..." — verdrängen wollen. Über die Weiche Herr/Signor seien diese Themen zu den Gemälden von Orvieto verschoben worden. Der Interpret der Galgenlieder aber interessiert sich weniger für diese psychische Tiefenstruktur als für die sprachliche Oberflächenstruktur und dort vor allem für die Vorgänge um das Wort "Signorelli" selbst. 18 Vier sprachliche Zusammenhänge zerfallen und isolieren ein ihnen gemeinsames — identisches, homophonisches, übersetztes — Element: Zwei Sätze — "Herr, was ist da zu sagen..." und "Herr, wenn das nicht mehr geht..." — spalten je ein Substantiv ab, zwei Eigennamen — "Herzegowina" und "Signorelli" — eine und zwei ihrer Silben. Drei der isolierten Elemente konstituieren einen gemeinsamen Zusammenhang: Sie spielen an auf "Tod und Sexualität". Das vierte Element, das dem Zusammenhang der " K u n s t " entstammt, wechselt in diesen hinüber, und dort spielt "Signor" — ursprünglich nur zwei Silben eines Malernamens — auf das gleiche Thema an: " T o d und Sexualität". Mit einem Versuch, die Galgenlieder-"Anto-Logie" zu interpretieren, wurde dieses Kapitel eingeleitet. Nun kann noch einmal zurückgeblickt werden. Drei sprachliche Einheiten sind an der Entwicklungsgeschichte beteiligt, drei voneinander unabhängige Substantive, die sich dadurch auszeichnen, daß sie ein gemeinsames Element enthalten. Die drei Einheiten spalten das ihnen gemeinsame Element ab und isolieren es. Während sich ihre ursprünglichen Bedeutungen auflösen, konstituieren die freigesetzten Elemente einen neuen Zusammenhang. (Elef)Ant — ursprünglich nur ein Teil einer Säugetierbezeichnung — wird ein Säugetier eigener Art. Auf (Gig)Ant und Ant(hologie) wird diese Bedeutung übertragen. Gig Elef

Ant ant ant

— ho — logie

Fazit: Daß Freud den Namen "Signorelli" vergessen und ein " A n t " entstehen konnte, ermöglichten sprachliche Prozesse, deren Ähnlichkeit sich groß nennen läßt. Freuds Erfahrung aus der Psychopathologie des Alltagslebens, das Vergessen, verarbeitet in gekonnter Galgenliedermanier der "Vergeß" und führt dabei abermals das Phänomen der Sprachauflösung vor: Der Vergeß Er war voll Bildungshung, indes, soviel er las 18 Denn für eine weitere Interpretation der Entwicklungsreihe Botticelli — Bosnien — Boltraffio fehlt hier der Gesamtzusammenhang der Analyse, in dem auch das Alpenstädtchen "Trafoi" (Boltraffio) eine wichtige Rollte spielt.

178

Die Traumwelt

und Wissen aß, er blieb zugleich ein Unverbeß, ein Unver, sag ich, als Vergeß; ein Sieb aus Glas, ein Netz aus Gras, ein Vielfreß — doch kein Haltefraß. 1 9 Kein weiteres neues Lebewesen, ein neues Substantiv erblickte hier das Licht der Galgenlieder-Traumwelt. Der Grund seines Entstehens liegt diesmal nicht in der auflösbaren Gemeinsamkeit mehrerer Substantive, sondern im Thema des Gedichtes selbst. Der Begriff "ein Vergeß" teilt seinen Inhalt auch formal mit: Der Vergeßliche vergaß seine letzten beiden Silben. Dem zunehmenden Grad der Vergeßlichkeit folgend, schreitet innerhalb des Liedes die Sprachauflösung fort. Bevor der neue Name zur Liedmitte eingeführt wird, sind bereits drei Phasen der Auflösung durchlaufen. Bildungshung — / e r Unverbess —/erlicher Unver —besserlicher Das Lied wird pointenähnlich mit zwei Neologismen abgeschlossen, die nicht allein durch verkürzende Vergeßlichkeit zustande kamen. Das Substantiv " V i e l f r a ß " behielt zunächst die erste Silbe bei und assimilierte in der zweiten das Liedthema zum " V i e l f r e ß " . Umgekehrt blieb anschließend die zweite Silbe erhalten und verband sich subtil mit der Verbgruppe Halten/Behalten, die einerseits das Gegenteil des Vergessens, andererseits aber auch eine Funktion aus dem Umfeld Hunger/Essen/Fressen beschreibt. Ein in seiner Wortmitte geteilter " V i e l f r a ß " lebt also mit jeder seiner Hälften in zwei neuen Substantiven fort. Viel — -freß

Halte fraß

Auf wen genau der Galgenliederdichter mit dem Attribut " V e r g e ß " anspielte, läßt sich vermuten. Ein bedeutender " V e r g e ß " wird sicherlich der unverbesserlich vielfressende, vergeßliche " P h i l i s t e r " sein. Viel ißt er. — Viel ist er. — Viel liest er — wie liest er. 2 0 19 VI, 108. 20 Nach Bauer, 1933, 195.

Sprachzerfall und -neuaufbau

179

Zur weiteren Verwandtschaft der "Vergesse" werden auch "Der kulturbefördernde Füll" 2 1 und der sich duzende " Z w i " 2 2 zählen. Der " F ü l l " scheint eine genuine Spracherfindung Morgensterns zu sein, die Abkürzung für eine soeben gelungene technische Erfindung, den Füllfederhalter, und damit ein ebenbürtiges, wenn auch ausgestorbenes Pendant des "Kulis". Sprachlich bleibt festzuhalten: Eine Silbe wird von einer fünfsilbigen Einheit abgespalten, um die gesamte Einheit zu repräsentieren. Warum seinerseits der Zwi " Z w i " heißt, ist gleich zu Beginn des Gedichtes erklärt: Er war ein wunderlicher Tropf. Er hatte außer seinem Kopf noch einen zweiten Kopf, am Knie, weshalb man ihn auch hieß: den Zwi. 2 3 Der sprachliche Befund des " Z w i " : Der Name ist ein urpsrünglich unselbständiges sprachliches Element, das in der Regel gedehnt als Präfix Verwendung findet — Zwiegespräch, Zwiespalt, Zwietracht, Zwienaht, Zwieback ... — und in diesem Zusammenhang die Verdoppelung des Einfachen bedeutet. Außerhalb dieses Zusammenhangs existiert es nicht — wenn nicht der Galgenliederdichter es herausgelöst und als Namen für ein "zwieköpfiges" Lebewesen neu eingesetzt hätte. Dem großen Mißtrauen gegenüber dem "großen Lalulä" zum Trotz, das sich immer wieder als gängiges Gelenk erweist, um das sich diese und jene und jene abermals andere Interpretationsmöglichkeit drehen und wenden läßt, wird dennoch behauptet: " D a s große Lalulä" ist u.a. auch ein "Traumgedicht". Es ist ein vorzügliches Demonstrationsobjekt für Spachauflösung und -neuaufbau. Auf eine erneute ausführliche Interpretation des Liedes soll verzichtet werden, 24 nur thesenartig läßt sich feststellen: " D a s große Lalulä" ist ein zu einem morphologisch-semantischen Trümmerhaufen aufgelöstes Sprachgefüge. Sein Rohmaterial aber findet zugleich in einem Gebilde eigener Art Verwendung, einem Gedicht, dessen Bauplan deutlich erkennbar ist. Es strukturiert sich in drei Strophen, deren Verse bis auf den jeweils vierten Vers aus vier Hebungen gebaut, deren Silben — Stein für Stein — zum Trochäus zusammengefügt sind... Bleibt das Lied auch inhaltlich zertrümmert, so dienen die durch Sprachauflösung freigesetzten Bruchstücke dem stringenten Aufbau einer lyrischen Form. Durch diese besondere Art des einseitigen Aufbaus 21 22 23 24

VI, 146. VIII, 137. Ebda. Siehe S. 49 ff.

180

Die Traumwelt

verfestigt sich sein Traumcharakter. Träumte man einmal wirklich das große " L a l u l ä " und wachte vor dem letzten "lalu lalu lalu lalu l a " oder mitten darin auf, " s o wird m a n " , folgt man noch den Formulierungen der ersten Auflage der "Psychologie der Sprache", " n u r selten in der Lage sein, rein sprachlich den begonnenen Satz zu vollenden, obwohl man ein dunkles Wissen um die weitere Satzmelodie in sich trägt und daher den Satz rein melodisch zu Ende führen könnte, ohne dazu die Worte vorgebildet zu haben." 2 5 Man "empfindet (...) ganz deutlich, daß die entsprechende Satzmelodie im Keim fortbesteht, ohne daß dieser im Entstehen begriffenen Rede ein klarer Text zugrunde läge." 2 6 Man "wird (...) beim Erwachen erstaunt dessen inne, daß die noch vorgebildeten Worte sinnlos waren(...), daß somit die formale Gestaltung der Rede ein höheres Niveau erreicht, als ihrer inhaltlichen Grundlage entspricht." 2 7 Man wird also nach dem Erwachen aus dem "großen Lalul a " von Eindrücken berichten können, die sich, folgt man Kainz, nach Traumreden und -Unterhaltungen als sehr häufig erweisen. Mit dem "großen Lalulä" kann dieser Abschnitt, der mit dem Zusammenspiel von Auflösung und Neuaufbau in eine wichtige Grundstruktur der Traum- und Galgenliedersprache einführen wollte, abgeschlossen werden. Im folgenden wird diese Struktur zu erweitern und zu differenzieren versucht. 2. VERSCHIEBUNG UNTER WENWÖLFEN Im sechsten Kapitel der Traumdeutung — es nimmt sich die Untersuchung der "Traumarbeit", ihrer Mittel und Techniken vor — gelangt Freud zu den Begriffen der "Verdichtungsarbeit" und "Verschiebungsarbeit" und urteilt: "Traumverschiebung und Traumverdichtung sind die beiden Werkmeister, deren Tätigkeit wir die Gestaltung des Traumes hauptsächlich zuschreiben d ü r f e n . " 2 8 Als ein Ergebnis dieser Galgenlieder-Untersuchung wird man feststellen können, daß am Bau ihrer Welt eine Vielzahl verschiedener Werkmeister beteiligt war, einen nach Afri-od-Ameriko entflohenen Architekten eingeschlossen. Zählen auch Verschiebung und Verdichtung dazu? Der Versuch, diese Frage zu beantworten, beginnt mit einer Einführung in die komplexere der beiden Techniken. Denn, ist die Verdichtung schon merkwüridg genug, "noch merkwürdiger ist der andere Vorgang der Verschiebung." 2 9 25 26 27 28 29

kainz, 1943, 414 f. Vgl. Kainz, 1969, 525. A.a.O., 1943, 415. Ebda. Die Traumdeutung, Werke II/III, 313. Freud, Studienausgabe I, 29. Vorlesung, Neue Folge, 463.

Verschiebung

181

Grüner Fensterladen-Traum: In ein und demselben Traum schneidet ein Vater völlig unberührt sein Kind in Scheiben (so wie am Abend zuvor eine Ananas), ist dann aber beim Anblick der grünen Farbe des Fensterladens eines ihm unbekannten Hauses zu Tränen gerührt. Das erscheint wirklich absurd! Und erst wenn wir bei der Analyse des Traumes erfahren, daß das Grün des Fensterladens genau dem Lichtgrün eines Kleides der verstorbenen Lieblingsschwester des Träumers entsprach, die nach dem Tod der Mutter bei ihm die Mutterstelle vertrat, horchen wir auf. Wir hören dann weiter, daß die frühe Jugend unseres Träumers durch den ewigen Zank zwischen den Eltern schwer überschattet war und daß eine immer wiederkehrende Äußerung der Mutter bei solchen Streitereien mit dem Vater sich tief beim Träumer eingegraben hatte: ihr halb verzweifelter, halb drohender Ausruf: "Du wirst mich noch so weit bringen, daß ich aus dem Fenster springe!" Jetzt verstehen wir mit einem Male: hier ist die Traumarbeit mit dem grünen Fensterladen, der uns (und auch dem Träumer selbst!) so nichtssagend erschien, nach dem Prinzip des pars pro toto verfahren, indem von der Lieblingsschwester die Farbe des Kleides und von der Mutter die Drohung, aus dem Fenster zu springen, herausgegriffen und in eins verdichtet wurde — so wie ja auch im Leben unseres Träumers die Schwester nach dem Tode der Mutter an deren Stelle getreten war, bis auch sie starb. Seine Trauer über den Verlust von Mutter und Schwester und die Äußerung seines Schmerzes sind im manifesten Traum auf den grünen Fensterladen verschoben und infolge dieser für den Nichteingeweihten undurchschaubaren Verschiebung nun nicht mehr einfühlbar. Sie wirken inadäquat, grotesk, "ver-rückt". 30 Mit der Traumanalyse belegt und erläutert Kemper die Leistung der Verschiebungsarbeit, die auf dem Weg der Traumgedanken zum Trauminhalt vollbracht wird. Es war wiederum Freud, der sie als erster entdeckte und theoretisch in Angriff nahm: Ihre beiden Äußerungen sind erstens, daß ein latentes Element nicht durch einen eigenen Bestandteil, sondern durch etwas Entfernteres, also durch eine Anspielung ersetzt wird, und zweitens, daß der psychische Akzent von einem wichtigen Element auf ein anderes, unwichtiges übergeht, so daß der Traum anders zentriert und fremdartig erscheint. 31 Beide Äußerungen konnten am Verschiebungszusammenhang Mutter/Schwester — grüner Fensterladen nachgewiesen werden. 30 Kemper, 85 f. 31 Freud, Studienausgabe I, 11. Vorlesung, 181.

182

Die Traumwelt

Stellt diese grundsätzlicche E i n f ü h r u n g in die Verschiebungsarbeit des Traumes genügend Hinweise bereit, um nun die Suche nach verschobenen Elementen der Galgenliederwelt aufzunehmen? — Das Ziel der Suche m u ß präzisiert werden. Die entscheidende Frage, welche die Möglichkeit eines Vergleichs von Traum- und Galgenliederwelt erst ö f f n e t , ist noch nicht gestellt: Wie manifestiert sich "Verschiebung" sprachlich? Ist sie auch nachweisbar, wenn nur die Mittel der Textanalyse zur Verfügung stehen? In der elften seiner gesammelten Vorlesugen versucht Freud, seinen Studenten die Verschiebungsarbeit des Traumes mit einer Anekdote zu erläutern: Er erzählt, " d a ß es in einem Dorf einen Schmied gab, der sich eines todeswürdigen Verbrechens schuldig gemacht hatte. Der Gerichtshof beschloß, d a ß die Schuld gesühnt werde, aber da der Schmied allein im D o r f e und unentbehrlich war, dagegen drei Schneider im D o r f e wohnten, wurde einer dieser drei an seiner Statt g e h ä n g t . " 3 2 Dem Text selbst ist hier der Verschiebungsvorgang zu entnehmen: Die Begründung des Todesurteils wird aus einem ethisch-juristischen in einen ökonomischen Kausalzusammenhang, die Bestrafung des Schuldigen auf den Entbehrlichen verschoben. Nicht j e m a n d , der bestraft werden muß, wird gehängt, sondern j e m a n d , der bestraft werden kann. Die Anekdote ist auf eine " v e r s c h o b e n e " Schlußpointe angelegt. Sie erinnert an eine besondere Komik-Form: den Witz. Diese Erinnerung trügt nicht; Traum und Witz weisen in ihrer Struktur bemerkenswerte Gemeinsamkeiten a u f . 3 3 Beide " Ä u ß e r u n g e n " , die Freud an der Verschiebungsarbeit des Traumes feststellte (s.o.), äußert auch der Witz. a) " A u c h der Witz bedient sich häufig der Anspielung." 3 4 b) Auch der Witz bedient sich häufig der "Akzentverschiebung", indem er " d i e Ablenkung des Gedankenganges, die Verschiebung des psychischen Akzents auf ein anderes als das angefangene T h e m a " vornimmt. 3 5 Trotz identischer Grundstruktur erscheint die Bestimmung der WitzVerschiebungsarbeit gegenüber jener des Traumes leicht modifiziert. Die Begriffe " G e d a n k e n g a n g " und " T h e m a " werden als Bestimmungsfaktoren neu aufgenommen. W a r u m ? — Weil der " W i t z " eine selbständige, in sich selbst abgeschlossene, aus sich selbst heraus deutbare Texteinheit ist. Weil der Trauminhalt es in der Regel nicht ist, sondern einer Rückübersetzung in die Traumgedanken bedarf. Die Verschiebung 32 A . a . O . , 182. 33 " F r e u d soll auf die Idee g e k o m m e n sein, über den Witz zu arbeiten, als er die Beoba c h t u n g m a c h t e , d a ß seine Studenten über analytische T r a u m d e u t u n g e n zu lachen p f l e g t e n . " (Eicke, II, 307). 34 Freud, Studienausgabe I, 181. 35 Der Witz, W e r k e VI, 53.

Verschiebung

183

des Witzes vollzieht sich innerhalb des Satzgefüges, die Verschiebung des Traumes zwischen latenten Traumgedanken und manifestem Trauminhalt. Galgenlieder sind keine Witze. Sie verzichten auf einen Effekt, um dessen willen der Witz sich gerade der Verschiebungstechnik bedient: die Pointe. Unternimmt man es aber, Verschiebungsvorgänge auch in der Welt der Galgenlieder aufzudecken, einer Welt selbständiger, in sich abgeschlossener, aus sich deutbarer Texteinheiten, dann wird das Ziel dieser Suche nach dem Vorbild des Witzes begrenzt werden müssen. Oder: Geht man davon aus, " d a ß die Traumarbeit mit denselben Mitteln arbeitet wie der Witz, aber in der Anwendung derselben die Grenzen überschreitet, welche der Witz einhält", 3 6 so halten auch die Galgenlieder diese Grenzen ein. Insistieren und präzisieren wir ein letztes Mal: Welcher sprachlichen Mittel bedienen sich "Anspielung" und "Gedankenabweichung"? Eine Anspielung "läßt die Bedingung der inhaltlichen Assoziation fallen und ersetzt diese durch ungewohnte äußerliche Assoziationen wie Gleichklang und Wortvieldeutigkeit u . a . " 3 7 Eine Gedankenablenkung bedient sich häufig "zweideutiger" Ausdrücke und nutzt deren "Doppelsinn als 'Weiche'", um von der ersten Bedeutung zur zweiten zu gleiten. 3 » Wo in der Welt der Galgenlieder finden sich Homophonie, Homonymie oder Polysemie " u . a . " als Mittel äußerer Assoziation und Mittel einer Gedankenablenkung? An der Anschaulichkeit einiger Traumbeispiele kann der Versuch, die Frage zu beantworten, sich orientieren. Freud berichtet: "Eine meiner Patientinnen hat während der Behandlung ihren Vater verloren. Sie bedient sich seitdem jedes Anlasses, um ihn im Traume wiederzubeleben. In einem ihrer Träume kommt der Vater in einem gewissen, weiter nicht verwertbaren Zusammenhange vor und sagt: Es ist ein Viertel zwölf, es ist halb zwölf, es ist drei Viertel zwölf." 3 9 Aus der Analyse geht hervor,daß — neben anderen Faktoren — den Trauminhalt auch ein Gespräch des Vortags formte, in welchem die Träumerin den Satz hörte: Der Urmensch lebt in uns allen fort. Die Traumarbeit wiederbelebt den Verstorbenen, indem sie den "Urmenschen" über die Weiche eines homophonen Wortbestandteils zum "Uhrmenschen" verschiebt.

36 37 38 39

A.a.O., 197 f. Freud, Studenausgabe I, 11. Vorlesung, 181. Die Traumdeutung, Werke II/III, 415; Der Witz, Werke VI, 52 ff. Freud, Studienausgae I, 15. Vorlesung, 237.

184

Die Traumwelt

Kemper berichtet von einem Traum, in welchem bei der Übertragung der Traumgedanken in den Trauminhalt "die Ruhr-Krankheit (Dysenterie) durch den gleichnamigen Ruhr-Fluß" ersetzt wurde. 40 "Ein Mann erzählt als seinen Traum, sein Onkel habe ihm, während sie in dessen Auto(mobil) saßen, einen Kuß gegeben. Er fügt selbst sehr rasch die Deutung hinzu: Es bedeutet: Autoerotismus (ein Terminus aus der Libidotheorie, der die Befriedigung ohne fremdes Objekt bezeichnet). Hat sich nun der Mann einen Scherz mit uns erlaubt und einen Witz, der ihm eingefallen ist, für einen Traum ausgegeben? Ich glaube es nicht; er hat wirklich so geträumt." 41 Sein Traum führte eine Verschiebung mit Hilfe des griechischen "autos" durch, das sich einerseits zum Kraftwagen verselbständigte, andererseits aber als Bestimmungssilbe in ein Kompositum eingebunden blieb. Sachs berichtet von einem Traum, in welchem der Satz "er geht nicht auf die Seite" eine wichtige Rolle spielt. Der Sinn der Traumgedanken lautet: er weicht nicht von der Stelle. Die Traumarbeit aber verschiebt: "Ich bemühe mich, einen Ausschnitt in das Buch zu kleben; er geht aber nicht auf die Seite." 42 Als Verschiebungsweiche diente eine Polysemie. "In einem weitläufigen von Rank mitgeteilten und sehr eingehend analysierten Traum eines jungen Mädchens wird erzählt, daß sie zwischen Feldern spazierengeht, wo sie schöne Gerste- und Kornähren abschneidet. Ein Jugendfreund kommt ihr entgegen, und sie will es vermeiden, ihn anzutreffen. Die Analyse zeigt, daß es sich um einen Kuß in Ehren handelt." 43 Verschoben wurde über die Anspielung einer Klangähnlichkeit. — Der Werwolf Ein Werwolf eines Nachts entwich von Weib und Kind und sich begab an eines Dorfschullehrers Grab und bat ihn: "Bitte, beuge mich!" Der Dorfschullehrer stieg hinauf auf seines Blechschilds Messingknauf und sprach zum Wolf, der seine Pfoten geduldig kreuzte vor dem Toten: "Der Werwolf" sprach der gute Mann, "des Werswolfs, Genitiv sodann, 40 41 42 43

Kemper, 104. Freud, Studienausgabe I, 15. Vorlesung, 237 f. Nach: Die T r a u m d e u t u n g , Werke I I / I I I , 415. A . a . O . , 411.

Verschiebung

185

dem Wemwolf, Dativ, wie mans nennt, den Wenwolf, — damit hats ein E n d . " Dem Werwolf schmeichelten die Fälle, er rollte seine Augenbälle. "Indessen", bat er, " f ü g e doch zur Einzahl auch die Mehrzahl noch!" Der Dorfschulmeister aber mußte gestehn, daß er von ihr nichts wußte. Zwar Wölfe gäbs in großer Schar, doch " W e r " gäbs nur im Singular. Der Wolf erhob sich tränenblind — er hatte ja doch Weib und Kind! Doch da er kein Gelehrter eben, so schied er dankend und ergeben. 44 Der Galgenliederdichter stellt einem toten Dorfschullehrer ein Problem. Er schickt ihm des Nachts ein nekromanes Fabelwesen, einen Wolf, der ein Mann ist, auf Besuch. 45 Der Werwolf schlägt aus seiner Art und erzählte darum seiner Familie auch nichts von dem nächtlichen Ausflug: er "entwich". 4 6 Ein Vertreter der ansonsten blutrünstigen und leichenschändenden Menschenwölfe will sich " b e u g e n " lassen. Daß er den Wunsch nach "Deklination" hegt, zeigt der weitere Liedverlauf: Der Vorführung des Dorfschulmeisters lauscht er geschmeichelt und mit rollenden Augenbällen. Zunächst — für die Dauer der ersten zwei Strophen — wird das Verbum zweideutig eingeführt und kann auch "unterwerfen" meinen. Und wenn es auch mit der dritten Strophe festgeschrieben wird, als der tote Dorfschullehrer zu deklinieren beginnt, so schwingt die Anspielung der Unterwerfung während des gesamten Liedes mit. Der Menschenwolf bittet, kreuzt geduldig die Pfoten, weint und dankt ergeben. Der tote Dorfschullehrer zeigt sich der Galgenlieder-Aufgabe einer Werwolf-Beugung gewachsen. Drei Lösungsmöglichkeiten stehen bereit:

44 VI, 76. 45 " D i e Verwandlung ermöglicht ein Ring aus Menschenhaut (Vorzugsweise die Haut eines Selbstmörders oder Ermordeten),durch den man dreimal kriechen m u ß , meistens jedocb ein Gürtel, den man anlegen oder ein Tierfell, das m a n sich überwerfen m u ß . Bei der Rückverwandlung m u ß man wiederum dreimal durch den Ring kriechen beziehungsweise den Gürtel oder das Tierfell ablegen." (Völker, 332 f.). 46 Der Werwolf ist in der Welt der Galgenlieder nicht der einzige Aberglauben- und Fabelwesen-Familienvater: " K l a b a u t e r m a n n , / Klabauterfrau, / Klabauterkind / woanders s i n d . " (Klabautermann, VI, 126.)

Die T r a u m w e l t

186

a) Er führt die landläufige Beugung vor: der Werwolf, des Werwolfs, dem Werwolf ... Diese Beugungsmöglichkeit wird verworfen, sie ist den Ansprüchen eines phantastischen, komischen, verspielten Galgenliedes unangemessen. b) Er .nutzt den Umstand, daß ein "Werwolf" ein aus zwei Elementen bestehendes Kompositum ist, dessen erster Bestandteil homonymisch belastet werden kann. " W e r " — gotisch " w a i r " , altenglisch, althochdeutsch " w e r " — bezeichnet einen Mann oder allgemein einen Menschen. Es bezeichnet auch ein Interrogativpronomen. Entschließt der tote Dorfschullehrer sich, die Beugung an beiden Bestandteilen des Kompositums vorzunehmen, bietet sich ein "etymologisches" Paradigma an: der Werwolf, des Werswolfs, dem Werwolf... Auch diese Beugungsmöglichkeit wird verworfen, sie ist harmlos, weicht kaum von der ersten, bereits verworfenen Möglichkeit ab und versperrt wie diese vor allem den Weg zu einem der Lied-Höhepunkte: der Unmöglichkeit, den Werwolf pluralisch zu beugen. Denn auch "were" gäbs in großer Schar. c) Der tote Dorfschullehrer verschiebt das Beugungsproblem über die Weiche des homonymischen " w e r " in den Bereich der PronomenFlexion und führt folgerichtig aus: der Werwolf, des Weswolfs, dem Wemwolf... 4 7 Folgerichtig bleiben die abwesenden Familienmitglieder ungebeugt. Singularisch gebeugt — ein gebrochener Menschenwolf — kehrt der Familienvater zu ihnen zurück. Zusammenfassung: Das Galgenlied "Der Werwolf" bedient sich einer Verschiebungstechnik, deren Grundlage die homonymische Auslegbarkeit eines Kompositum-Elements ist. Der Befund weist ebenfalls die Ausnutzung einer Polysemie auf, deren Zweck die Anspielung ist. In der Nachbarschaft des "Werwolfs" ereignen sich "Mondendinge" 4 8 und treiben Korf und Palmström ihre "Sprachstudien" 4 9 : Ein Backmittel und jedermann — tout le monde — werden aufgrund gleicher gemeinsamer Wortbestandteile in das Reich der Mondwesen verschoben, zu " M o n d a m i n " und "Toulemo/id". Die Studien Korfs und Palmströms wenden sich dem "Wendischen" zu, doch nicht dem "Niederwencfcc/ien" und nicht dem " Ober wendischen1', sondern, verschroben verschoben, dem "Wetterwenefac/ien". — Die Elster Ein Bach, mit Namen Elster, rinnt durch Nacht und Nebel und besinnt inmitten dieser stillen Handlung 47 " E i n e g r a m m a t i s c h e U n g e h e u e r l i c h k e i t , die n u r im T r a u m o d e r im Irrsinn a u s g e h e c k t w e r d e n k a n n . " (Spitzer, 1918, 65). 48 VI, 47. 4 9 V I I I , 19.

Verschiebung

187

sich seiner einstigen Verwandlung, die ihm vor mehr als tausend Jahren von einem Magier widerfahren. Und wie so Nacht und Nebel weben, erwacht ihn ihm das alte Leben. Er fährt in eine in der Nähe zufällig eingeschlafne Krähe und fliegt, dieweil sein Bett verdorrt, wie dermaleinst als Vogel fort. 5 0 An die Rückverwandlung eines Baches in einen Vogel schließt sich die 24 Verse lange " A n f r a g e " des Ichthyologen Berthold Schrauben an, die Antwort darauf folgt in 24 Versen, 51 stellt — 16 Verse lang — einen "Entwurf zu einem Trauerspiel" 5 2 vor, und alle vier Lieder profitieren von einem kleinen, leicht behebbaren sprachlichen Mangel: der Homonymie der Substantive "Elster" und Elster". Der Galgenliederdichter bemüht sich um ihre gründliche Problematisierung, und es gelingt ihm, die sprachliche Not in eine Tugend zu verwandeln. Es gelingt ihm, mit Hilfe der Homonymie die Frage, warum ein Bach "Elster" heißt, zu beantworten. Die Methode ist historisch; in ihrer Anwendung ist der Galgenliederdichter erfahren. Warum ein Elefant " E l e f a n t " heißt, ein Gigant " G i g a n t " , konnte bereits mit ihr nachgewiesen werden: "Zeit gabs genug — und Zahlen auch." 5 3 Die Entstehungsgeschichte des Elefanten beginnt am " A n f a n g " , die Geschichte des Baches Elster "vor mehr als tausend Jahren". Der Bach trägt den Namen "Elster", weil vor mehr als tausend Jahren ein Vogel sich in ihn verwandelte und dabei seinen Vogelnamen nicht verlor. Auch als Bach hieß er fortan "Elster". Während also der Name ein und derselbe blieb, verschob sich das von ihm Benannte. Ein Bedeutungswandel fand statt. Auch die Elster-Logie ist eine "Etymologie". Als das Lied einsetzt, ist die Verwandlung bereits vollzogen. Die Herkunft des Namens erklärt es rückblickend, um schließlich — in Umkehrung des Verschiebungsvorgangs — den Vogel mit Namen "Elster" zu erlösen. Der Aufbau des Liedes setzt die Verschiebung sorgfältig um. Zwischen dem Bild eines in Nacht und Nebel rinnenden Baches, das die beiden ersten Verse entwerfen, und der Schlußszene des davonfliegenden Vogels, der die beiden letzten Verse gehören, gliedert sich der verbindende Prozeß in drei Phasen, deren jede den Bach einen Schritt wei50 51 52 53

VIII, 109. VIII, 111. VIII, 112. VI, 65.

188

Die T r a u m w e l l

ter an die Vogelexistenz f ü h r t . Mit Hilfe der Verben kann der Verschiebungsverlauf beschrieben werden: rinnen — besinnen — erwachen — springen — fliegen. Einfacher, unter Verzicht auf Nacht und Nebel und Magier und Krähe und gerade d a r u m noch magischer rekapituliert der " E n t w u r f zu einem Trauerspiel" mit seiner ersten Strophe den Verschiebungsprozeß: Ein Fluß, namens Elster, besinnt sich auf seine wahre Gestalt und fliegt eines Abends einfach weg. 5 4 Die Folgen der Verschiebung werden thematisch von der " A n f r a g e " , d e r " A n t w o r t ( i . A . ) " und dem " E n t w u r f zu einem Trauerspiel" ausgenutzt. Einen möglichen Aspekt behandelt der Fischkundler Schrauben: " W o n ä m l i c h " , fragt er, "bleibt die Stelle der Fischwelt obbenannter Quelle? Verkörpert sie sich mit zum Raben — oder verbleibt sie tot im G r a b e n ? " 5 5 Der Galgenliederdichter vermeidet nun sorgfältig den Gebrauch des Namens " E l s t e r " , denn über ihn als homonymische Weiche kann die Bedeutung noch nach wie vor hin und her verschoben werden. Den Wissenschaftler Schrauben läßt er die Bezeichnung " P i c a " , die Dame, die diesem i.A. antwortet, das volkstümliche "Schalalster" verwenden. Erst der " E n t w u r f zu einem Trauerspiel" führt den Verschiebungsvorgang erneut sprachlich vor und thematisiert einen weiteren FolgeAspekt: Was geschieht, wenn ein Mann, namens Anton, das Tier, namens Elster, erschießt? Antwort: Wassernot tritt einfach ein, und

der M a n n , namens Anton, (und das versöhnt in einigem Maß) verdurstet gleichwohl einfach auch. 5 6

Zusammenfassung: Das Galgenlied " D i e Elster" und seine drei Nachfolger bedienen sich einer Verschiebungstechnik über die Weiche einer Homonymie und unter Ausnutzung einer GalgenliederEtymologie. 54 V I I I , 112. 55 V I I I , 110. 56 V I I I , 113

Verschiebung

189

— Die Oste Er ersann zur Weste eines Nachts die Oste! Sprach: "Was es auch koste! — " sprach (mit großer Geste): "Laßt uns auch von hinten seidne Hyazinthen samt Karfunkelknöpfen unsern Rumpf umkröpfen! Nicht nur auf dem Magen laßt uns Uhren tragen, nicht nur überm Herzen unsre Sparsesterzen! Fort mit dem betreßten Privileg der Westen! Gleichheit allerstücken! Osten für den Rücken!" Und sieh da, kein Schneider sagte hierzu: Leider —! Hunderttausend Scheren sah man Stoffe queren... Ungezählte Posten wurden schönster Osten noch vor seinem Tode "letzter Schrei" der Mode. 5 7 Wie er die Oste ersann, teilt das Galgenlied nicht mit. Sehr wahrscheinlich aber wird es so geschehen sein: Als außerhalb des Gedichtes liegender Ausgangspunkt muß eine Homonymie angenommen werden. Homonymisch sind (der) "Westen" und (die) "Westen", die Bezeichnung einer Himmelsrichtung — Nominativ Singular eines maskulinen Substantivs — und die Bezeichnung eines Kleidungsstücks — Nominativ Plural eines femininen Substantivs. Als er die " O s t e " ersann, ersann er sie über diese homonymische Weiche und mit Hilfe einer — verfeinerten — Verschiebungstechnik, deren Möglichkeiten er durch Einführung des Analogieprinzips erweiterte. Die Grundlage dafür stellt das korrekte Oppositionspaar (der) " W e s t e n " — (der) " O s t e n " .

57

VI,

109.

190

Die Traumwelt

Die Möglichkeit dieser Oppositionsbildung wird aus dem Bereich der Himmelsrichtungen in den Bereich der Kleidungsstücke verschoben: (die) " W e s t e n " — (die) " O s t e n " . " D i e O s t e n " werden, ihrer Opposition darin folgend, in ein Deklinationsparadigma eingeordnet: Nominativ Plural eines femininen Substantivs. Das Paradigma wird als ganzes vorausgesetzt: die Oste der Oste der Oste Eine " O s t e " wird durch den Zusammenhang eindeutig als Kleidungsstück bestimmt, und auch welche Art Kleidungsstück, ist bestimmt. Daß " O s t e n " auf dem Rücken zu tragen seien, ist analogisch folgerichtig. Wendet sich ein Westenträger dem Westen zu, liegt ihm der Osten im Rücken. Wenn gen Westen die Westen, dann gen Osten die " O s t e n " ! Also: "Osten für den R ü c k e n ! " Zusammenfassung: Das Galgenlied " D i e O s t e " erschließt der Technik der Verschiebung durch Analogie-Bildung einen breiteren Anwendungsbereich. In der Nachbarschaft der " O s t e " wurde eines Nachts auch die " N ä h e " zur " N ä h e r i n " verschoben. 5 8 Diesen Verschiebungsvorgang zeichnen zwei Momente aus: a) Die Möglichkeit, Adjektive zu steigern, wird auf ein Substantiv übertragen und führt zu der Komparation " N ä h e — N ä h e r " ; b) über die homonymische Weiche " N ä h e r " , die sowohl den Komparativ eines Adjektivs als auch ein maskulines Substantiv bezeichnet, wird die Komparation zu einer Motion verschoben, so daß die Reihe in der movierten Form " N ä h e r i n " endet. In der Nachbarschaft der " O s t e " wurde auch das " S t u r m s p i e l " geschaffen. 5 9 Der Galgenliederdichter verschob das " W i n d s p i e l " , wie man einen " W i n d h u n d " auch nennt, mit Hilfe von Homonymie und Schein-Etymologie — denn ein " W i n d p s i e l " ist kein windiges, sondern ein "wendisches" Spiel — in den Bereich der Wetterkunde. Dort wird ein Wind bei Stärke 8 zum " S t u r m " . Ein starkes Windspiel aber ist dann analog ein Sturmspiel. Weht ein Wind des Nachts, nennt man ihn " N a c h t w i n d " . Schwärmt ein W i n d h u n d des Nachts herum, dann heißt er " N a c h t w i n d h u n d " . 6 0 58 Die Nähe, VIII, 114. 59 Neue Bildungen, der Natur vorgeschlagen, VI, 85. 60 Himmel u n d Erde, VI, 46.

Verschiebung

191

Mit Hilfe der Analogiebildung entstehen auch: aus dem Werwolf der " W e r f u c h s " 8 1 und der "Werhund, 8 2 aus der Nachtigall die "Tagtigall", 8 3 aus dem Mondkalb schließlich, einer Mißgeburt, die man dem schädigenden Einfluß des Mondes zuschreibt, das "Mondschaf": Das Mondschaf steht auf weiter Flur. Es harrt und harrt der großen Schur... 64 — Problem Es flog ein Stein so weit, so weit — und hatte doch keine Federkleid! Es war ihm ja zu gönnen. Indessen rechte Seltsamkeit, daß Steine fliegen können! 85 Zu einem Problem geworden ist das Verbum "fliegen". Seit altgermanischen Zeiten vergrößerte sich der von ihm bezeichnete Kreis der Tätigkeiten mehr und mehr. Das "Fliegen" erfuhr eine Bedeutungserweiterung, es wurde polysemantisch, so daß der Große Duden unter seinem Stichwort heute sieben Bedeutungen notiert. Davon werden die beiden letzten — "sich flatternd hin und her bewegen; wehen" und "hinausgewiesen, entlassen werden" 8 8 — in der vorliegenden Problemstellung durch den Zusatz " s o weit, so weit" ausgeschlossen. Im übrigen aber ließen sich bei unveränderter Übernahme der letzten drei Galgenliederverse folgende Versionen durch"spielen". Es flog ein Stein so weit, so weit — und hatte doch keinen Flug gebucht... Oder: Es flog ein Stein so weit, so weit — und hatte doch keinen Pilotenschein ... Oder: Es flog ein Stein so weit, so weit — und hatte doch keinen Treibstoff im Tank... Oder eben — und das wäre dann wirklich "problematisch":

61 62 63 64 65 66

Neue Bildungen, der Natur vorgeschlagen, VI, 85. KM 21, VI, 79. Neue Bildungen, der Natur vorgeschlagen, VI, 85. Das Mondschaf, VI, 24. VI, 132. Duden, Bedeutungswörterbuch, 250.

Die Traumwelt

192

Es flog ein Stein so weit, so weit — doch den hatte keiner geworfen... Der Dichter der Galgenlieder traf eine andere und die bessere Wahl. Er entschied sich d a f ü r , das Verbum " f l i e g e n " zu benutzen, um der Bewegung eines Steins — "sich (durch einen Anstoß) in der Luft fortbeweg e n " 6 7 — die Technik des Vogelflugs — "sich (mit Flügeln) in der Luft fortbewegen" 6 8 — unterzuschieben. Oder, unter dem Gesichtspunkt der Kausalität betrachtet: Daß ein Vogel fliegt, ist eine mögliche korrekte Aussage. Daß ein Stein fliegt, ist eine mögliche korrekte Aussage. Beide bewegen sich in der Luft fort. Insofern " t u n " sie das gleiche und insofern bedeuten " f l i e g e n " und " f l i e g e n " das gleiche. Der Verschiebungsvorgang setzt erst im Moment der Begründung ein. Die erste Aussage — "ein Vogel fliegt" — wird korrekt mit der Ursache begründet: "weil er ein Federkleid h a t " . Das " P r o b l e m " entstand, weil bei dem Versuch, die zweite Aussage — "ein Stein fliegt" — zu begründen, die Ursache des ersten Kausalzusammenhangs in den zweiten Zusammenhang verschoben wurde: Ein Vogel fliegt, weil er ein Federkleid hat. i Ein Stein fliegt, Worin liegt der Galgenlied-Effekt dieses einfachen Vorgangs, worin der Reiz des Problems? — In der vorgestellten harmlosen Verwunderung darüber, daß diese Lösung — "rechte Seltsamkeit" — nicht zutrifft. Zusammenfassung: Die rechte Seltsamkeit des " P r o b l e m s " konnte durch die Rekonstruktion eines Verschiebungsvorgangs aufgeklärt werden. Sein Ausgangspunkt ist eine Polysemie. In der Nachbarschaft des fliegenden Steines wird auch das Pfeifen des Windes polysemantisch problematisiert. 6 9 Die Aussage " E s pfeift der W i n d . . . " wird zweimal in verschiedene Richtungen verschoben. Aufgeworfen wird das Problem des Windes durch eine Frage. Sie ist es, die den Verschiebungsvorgang initiiert: " W a s pfeift er w o h l ? " 1. Verschiebung:

Eine tolle, närrische Weise. Er pfeift auf einem Schlüssel hohl, bald gellend und bald leise.

67 E b d a . 68 A . a . O . , 560. 69 Es pfeift der W i n d , VI, 112.

Verschiebung

2. Verschiebung:

193

Er pfeift auf diese ganze Welt, der große Philosophe.

— Wie sich das Galgenkind die Monatsnamen merkt Jaguar Zebra Nerz Mandrill Maikäfer Pony Muli Auerochs Wespenbär Locktauber Robbenbär Zehenbär 70 Das Galgenkind möchte oder muß wie alle Kinder die Monatsnamen lernen, und es fällt ihm wie ihnen allen schwer. Schwierig ist es, sich die Namen als solche einzuprägen. Das, was sie bezeichnen, kann man nicht sehen, hören, riechen oder anfassen. Noch schwieriger aber ist das Erlernen ihrer Reihenfolge, da keine greifbare Logik darin zu entdecken ist. Wie merkt sich das Galgenkind dennoch die Monatsnamen? Es weiß: will man sich zwölf Worte merken, dann kann es sehr hilfreich sein, diese Worte wiederholt laut auszusprechen, um sich ihr Klangbild einzuprägen. Denn es weiß: das Klangbild ist in der Regel einprägsamer als das Schriftbild. Das Galgenkind berücksichtigt auch eine zweite Erfahrung: Das Erlernen neuer Worte wird erleichtert, wenn sie bereits bekannten Worten ähnlich sind, so daß jene an diese erinnern. Bezeichnen die bereits bekannten Worte etwas, das sich sehen oder hören oder riechen oder anfassen läßt, dann bieten sie dem Lernvorgang eine zusätzliche Hilfestellung. Das Galgenkind wendet sein Wissen an. Der neuen Wortreihe stellt es eine Reihe bekannter, klangähnlicher konkreter Worte gegenüber. Es entnimmt diese Worte einem Bereich, der einem Galgenkind besonders vertraut ist, dem Tierreich. So etwa läßt sich in ihren Grundrissen die Lernmethode des Galgenkindes beschreiben. Zu genaueren Ergebnissen kann die Analyse jener zwölf Worte führen, deren sich das Galgenkind bedient. Der Reihe der

70 VI, 102.

194

Die Traumwelt

zu merkenden Monatsnamen wird eine aus Tiernamen gebildete Parallelreihe zugeordnet. Beide Reihen weisen in den analogen Gliedern Klangähnlichkeiten auf: A 'janua:r 'fe:brua:r merts a'pril mai 'ju:ni 'ju:li au'gust zep'tembar 3k'to:bar no'vember de'tsembar

B 'ja:gua:r 'tse:bra nerts man'drill 'maikeifar 'poni 'mu:li 'auaroks 'vespanbfitr 'I o k t a u b a r 'robanbeir 'tse:3nbe:r

Der A u f b a u der Reihe B erfolgt mit Hilfe einer Assoziationstechnik. Im Unterschied zur " i n n e r e n " Assoziation — diese vollzieht sich aufgrund inhaltlicher Verbindungen — kann sie als " ä u ß e r e Assoziation" gekennzeichnet werden. 7 1 Ihre Grundlage ist der Wortklang. Inhaltlich wird Reihe B allein durch den Entschluß des Autors bestimmt, die an Reihe A anknüpfenden äußeren Assoziationen auf das Gebiet des Tierreichs einzugrenzen. Sind die Glieder der Reihe B geschaffen, / j a : g u a : r / aufgrund von / j a n u a r r / assoziiert, / t s e : b r a / aufgrund von / f e : b r u a : r / ..., dann lassen sie sich von der Ausgangsreihe A trennen und ihrerseits in einem umgekehrten Vorgang als " A n s p i e l u n g e n " verwenden. Oder: Nachdem die zwölf Monatsnamen mit Hilfe äußerer Assoziation in das Reich der Tiere verschoben wurden, kann diese Verbindung auch zurückverfolgt werden. U m die Möglichkeit einer Umkehrung zu sichern, traf der Dichter der Galgenlieder eine Vorsichtsmaßnahme, indem er den zwölf Tiernamen mit der Überschrift eine Orientierungshilfe voranstellte. Möglich aber ist diese Umkehrung auch ohne Überschrift, allein unter Vorgabe der Reihe B. Denn " W i e sich das Galgenkind die Monatsnamen m e r k t " beweist, wie genau sein Schöpfer die Kunst der Allusion beherrscht. Die Verschiebungen des Januars zum Jaguar, des Februars zum Zebra... ereignen sich, weil Konsonanten und Vokale sich verschieben. Oder: Vokale und Konsonanten sind die Beförderungsmittel, auf denen 71 Vgl. Der Witz, W e r k e VI, 196 und Studienausgabe I, 11. Vorlesung, 181.

Verschiebung

195

Monatsnamen in das Tierreich gelangen. Folgende Phonemverschiebungen finden statt: 'j-ua:r '-e:br— -erts a'-ril mai '--ni '-u:li au'--s-ep'—b-r

lal zu la:l, Inl zu Igl IV zu IXsl, lul zu O, /a:/ zu lal, Irl zu O Iml zu Inl /p/ zu /d/ /j/ zu Ipl, /u:/ zu hl /j/ zu Iml Igl zu Ikl, lul zu hl, Hl zu O IzJ zu NI, Hl zu O, lel zu hl, Iml zu Inl, hl zu IE\I

ok't-bar --'-b-r --'ts--b-r

lol zu /au/ Inl zu Irl, lol zu hl, Iwl zu Ibl, lel zu hl, Iml zu Inl, hl zu le:l Idl zu O, lel zu O, lel zu le:l, Iml zu Inl, hl zu le:l

Reihe B legt die Grundlage ihres Anspielungscharakters, indem sie etwa die Hälfte der A-Phoneme (58%) unverändert in ihren Wortstellen übernimmt. Die andere Hälfte wird verschoben, entweder von Phonem zu Phonem oder — das Phonem fällt aus — auf "Null". Phonemausfall findet statt: in unbetonten Silben — /fe:brua:r/ und detsembar/ — und bei Endkonsonanten — /fe:brua:r/ und /august/, dort, wo eine Anspielung verzichten kann. Eine Ausnahme ist der Ausfall von / t / in /zeptembar/. Um die Verbindung zwischen B und A subtil zu erhalten, wird die eigentliche Phonemverschiebung äußerst behutsam durchgeführt. Werden von /janua:r/ bis /august/ Vokale entweder nur in horizontaler oder nur in vertikaler Richtung des Vokalvierecks verschoben — / a / und / a : / wechseln zwischen "hell" und "dunkel", / u / und / u : / öffnen sich zu /o/ —, so stehen die Verschiebungen von /zeptembar/ bis detsf mbar/ im Zeichen der hellen /e:/e/£:/-Gruppe und ihrer Verbindung zum "Auslaut-e" / a / . Vor allem aber: Niemals wird ein gerundeter Vokal, wie etwa / o / , /o/, / u / , zu einem ungerundeten, wie / i / , / e / , / £ / , / a / , verschoben. Eine genauere Betrachtung der Konsonantenverschiebungen kann davon ausgehen, daß ein Konsonant sich durch die Bestimmung von Artikulationsstelle, Artikulationsart und Sonorität charakterisieren läßt. Sie kann auch davon ausgehen, daß das deutsche Phoneminvenar etwa 21 Konsonanten-Phoneme umfaßt. Jedes der acht Konsonantenphoneme der Reihe A, die in B verschoben werden, weist durchschnittlich mit et-

196

Die Traumwell

wa 2/3 dieses Phoneminventars wenigstens ein gemeinsames Merkmal auf — Artikulationsart oder -stelle oder Sonorität —, mit einem Drittel aber nicht. Das Galgenkind wählt zum Zweck der Anspielung aus: Unter den dreizehn Verschiebungen, die insgesamt mit den acht Konsonanten vorgenommen werden, befindet sich nur eine einzige, der eine Gemeinsamkeit zwischen Ausgangs- und Endkonsonant der Verschiebung fehlt, / ] / zu / p / , also Spirant/Palatal/stimmhaft zu Explosiv/Labial/stimmlos. Die zwölf übrigen Verschiebungen weisen viermal ein gemeinsames Merkmal auf und achtmal zwei. Das Ziel der Analyse war dieses: Dem auf Klangverschiebung beruhenden Anspielungscharakter des Galgenliedes über die Feststellung hinaus, daß man ihn eben wahrnehmen könne, einmal wirklich bis in die Klänge hinein zu folgen. Steht nun am Ende nur die Feststellung, daß der Galgenliederdichter Christian Morgenstern Sprachgefühl besaß, daß er die geheimnisvollen Beziehungen der Phoneme untereinander spürte und subtil mit ihnen an-spielte, so ist das sicherlich keine neue Erkenntnis und doch eine neue Bestätigung dieser Erkenntnis. Zusammenfassung: Das Galgenkind merkt sich die Monatsnamen, indem es diese in das Reich der Tiere verschiebt. Der Bezug beider Namensreihen zueinander wird durch eine Anspielung hergestellt, die auf der "äußeren Assoziation" einer Klangähnlichkeit beruht. "Wie sich das Galgenkind die Monatsnamen merkt" ist ein fünftes Beispiel für die Verschiebungstechnik in der Welt der Galgenlieder. Mit seiner Ausnutzung der "Klangähnlichkeit" vervollständigt es die Reihe der "Verschiebungsweichen" Homonymie, Polysemie, Etymologie und Analogie. — Schluß Wenn ein Urmensch die Zeit ansagt und ein Werwolf zum Wenwolf sich beugen läßt, wenn der Fluß Ruhr sich in eine Krankheit verwandelt und der Bach Elster in einen Vogel, wenn Autoerotismus Erotik im Auto und eine Näherin eine gesteigerte Nähe ist, wenn ein Bild auf eine Seite nicht geht, weil jemand nicht weicht, und der Wind auf einem Schlüssel und auf die ganze Welt pfeift, wenn "in Ähren" "in Ehren" meint und "Jaguar" "Januar" — dann darf geschlossen werden, daß die Welt des Traumes und die Welt der Galgenlieder eine zweite große Ähnlichkeit aufweisen: Beide arbeiten sie mit der Technik der Verschiebung, und beide arbeiten sie differenziert damit. Die fünf Interpretationen zeigen, daß auch der Dichter der Galgenlieder die Möglichtkeiten der Verschiebung, welche die Traumarbeit unendlich oft vorführt, vielfältig — phantasievoll, humorvoll und spielerisch — kombinierend und variierend nutzte.

Verdichtung

197

3. VERDICHTUNG DIE FINGUR UND IHR VOLK

Bei seinem Versuch, die Mechanismen der Traumarbeit aufzudecken, erkannte Freud, daß im Umsetzungsprozeß der Traumgedanken in den Trauminhalt jene Gedanken in äußerster Weise komprimiert werden. "Der Traum ist knapp, armselig, lakonisch im Vergleich zu dem Umfang und zur Reichhaltigkeit der Traumgedanken. Der Traum füllt niedergeschrieben eine halbe Seite; die Analyse, in der die Traumgedanken enthalten sind, bedarf das Sechs-, Acht-, Zwölffache an Schriftraum." 72 Besonders deutlich wird diese Leistung von Wörtern demonstriert, in denen zwei oder mehrere einander ursprünglich fremde Elemente aneinandergerückt und verschmolzen werden. Das Ergebnis: ein neues, an den Sprachkonventionen gemessen oft unsinniges oder gar unverständliches Wortgebilde. Diesen Vorgang nannte Freud "Verdichtung". 7 3 Vorstellung einiger Beispiele: Freud hatte das Adjektiv "norekdal" geträumt und hatte geträumt, daß es einen Schreibstil bezeichnen sollte.74 Die folgende Analyse diagnostizierte das fremde Wort als Verdichtungsergebnis. Das Verdichtungsmaterial hatten — so Freud — zwei Schauspiele Ibsens bereitgestellt, zum einen " N o r a " oder "Ein Puppenheim", zum anderen "Die Wildente", beide mit ihren Hauptpersonen: Nora und Hjalmar Ekdal. Auch das Substantiv "Autodidasker" war in einem Traum Freuds entstanden, 79 und auch dieses konnte in der Analyse als Ergebnis eines Verdichtungsvorgangs identifiziert werden. Als konstituierende Bestandteile stellte Freud fest: Autor, Autodidakt, Laske, Lassalle und Alexander. Freuds und der Psychoanalyse Antipode Hoche nannte diese Wortneubildungen seinersseits "Kreuzungen" 76 und stellte den "Tempel von Cyranak" 77 und das Substantiv "Paradophie" 7 8 vor. Die erste 72 Die Traumdeutung, Werke II/III, 284. 73 " D i e Analyse unsinniger Wortbildungen im Traume ist besonders dazu geeignet, die Verdichtungsleistung der Traumarbeit aufzuzeigen. M a n m ö g e aus der hier (in der " T r a u m d e u t u n g " ) verwendeten geringen Auswahl v o n Beispielen nicht den Schluß ziehen, daß solches Material selten oder gar nur ausnahmsweise zur Beobachtung k o m m t , es ist vielmehr sehr h ä u f i g . " ( A . a . O . , 309). 74 Die Traumdeutung, Werke II/III, 302. 75 A . a . O . 304. 76 Nach Kainz, 1969, 493. 77 Ebda. 78 Nach Kainz, 1943, 432.

Die Traumwelt

198

Kreuzung/Verdichtung entstand aus den Elementen "Cyrano von Bergerac" und dem "Tempel von Karnak", die zweite wurde aus "Paradoxie" und "Paraphasie" geschaffen. Kainz berichtet: "Einmal träumte ich das Wort 'Stußgebet', dessen blasphemischer Beziehung ich in keiner Weise innewurde; dabei war mir die Jean Paulsche Zwillingsformel 'Stoß- und Schußgebet', aus der mein Traumwort kontaminiert sein könnte, noch nicht bekannt." 7 9 Der Dichter der Galgenlieder faßt grundsätzlich poetologisch und mathematisch verifizierbar die Fragestellung zusammen: Das Problem Der Zwölf-Elf kam auf sein Problem und sprach: "Ich heiße unbequem. Als hieß ich etwa Drei-Vier statt Sieben — Gott verzeih mir!" Und siehe da, der Zwölf-Elf nannt sich von jenem Tag ab Dreiundzwanzig. ,0 Mit einem Handicap, das es seinem Schöpfer zu verdanken hat, muß dieses Galgenliederwesen leben; sein Name ist wirklich lästig. Ein männliches Exemplar der Elfen-Familie, fällt ihm die Aufgabe zu, gegen 24 Uhr die linke Hand zu heben — " d a schlägt es Mitternacht im L a n d " —, um sie nur kurz darauf wieder sinken zu lassen, "und wieder schläft das ganze L a n d " , aus welchem Grunde er funktional "Zwölf-Elf" genannt wird. 81 Unbequemlichkeit verursacht vor allem der zweite Teil des Namens, das homonymisch belastete " E l f " , "der E l f " oder "die E l f " . Der Zwölf-Elf führt eine nominal zweideutige Galgenlieder-Existenz. Sein " P r o b l e m " ist ein Benennungsproblem. Die Schrittfolge aber, die zu einer Lösung des Problems führt, darf innerhalb der Galgenliederwelt als "klassich" bezeichnet werden. Erstens: Der unbequeme Name wird aus der Sphäre der nächtlichen Elfen/Elbenfamilie kurzum in die Sphäre der Zahlen verschoben. Dort könnte das Wesen, das "Zwölf-Elf" heißt, weil es der Elf der Mitternacht ist, grundsätzlich auch den Namen "Drei-Vier" tragen, da die Namenselemente " Z w ö l f " und " E l f " nun ohne ihre ursprüngliche funktionale Bedeutung, sondern nur noch Kardinalia sind, wie etwa " D r e i " oder "Vier". Zweitens: Kardinalia wie " D r e i " und "Vier" sind — "Gott verzeih mir" — addierbar und so auch " Z w ö l f " und " E l f " . Zwei Mengen las79 Kainz, 1969, II, 504. 80 VI, 33. 81 Der Z w ö l f - E l f , VI, 22.

Verdichtung

199

sen sich zusammenziehen — oder " v e r d i c h t e n " — und von nun an mit einem Wort bezeichnen: " S i e b e n " oder " D r e i u n d z w a n z i g " . Das geschieht. Drittens: Das Ergebnis der Addition wird in den Kreis der Elfenfamilie zurücktransportiert. Der " Z w ö l f (Uhr)-Elf", dessen dämonische Vorfahren schon in der Snorra-Edda des 12. Jahrhunderts ihr literarisches Unwesen trieben, verdichtet analog seinen unbequemen zweiteiligen Namen, ohne der Etymologie zu gedenken, zu einem homogenen ' ' Dreiundzwanzig". Fazit: Dem " Z w ö l f - E l f " gelang es nicht nur, seinen homonymisch lästigen Namen abzuschütteln, es gelang ihm auch die Verschleierung der eigenen Identität. Denn hinter dem Namen " D r e i u n d z w a n z i g " sind sein Wesen und seine Funktion nahezu u n a u f f i n d b a r versteckt (und nur durch eine Analyse wieder aufzufinden). Nur daß der Zwölf-Elf sich erst nach seinem zweiten Auftritt — und nicht schon früher — "Dreiundzwanzig" nannte, läßt ein Verständnis seines ersten Auftritts zu. Die Zeilen Der Dreiundzwanzig hebt die linke H a n d : Da schlägt es Mitternacht im Land wären kaum verständlich. Nach seinem zweiten Auftritt aber verschwindet der " D r e i u n d z w a n z i g " endgültig in der Dunkelheit, ohne seinen Namen jemals wieder hören zu lassen. Indem er " Z w ö l f " f ü r A und " E l f " für B setzte und A + B = C, ließ er eine banale, aber treffende Formel, eine knappe algebraische Pointierung der Verdichtungstechnik zurück. Mit Hilfe ihres Musters entsteht das Volk der Fingur. Die Fingur Es lacht die Nachtalp-Henne, es weint die Windhorn-Gans, es bläst der schwarze Senne zum Tanz. Ein Uhu-Tauber turtelt nach seiner Uhuin. Ein kleiner Sechs-Elf hurtelt von Busch zu Busch dahin... Und Wiedergänger gehen und Raben rufen kolk, und aus den Teichen sehen die Fingur und ihr Volk... 8 2 82 V I , 78.

200

Die Traumwelt

Der Dichter der Galgenlieder war — das kann nicht mehr bezweifelt werden — phantasievoll, humorvoll und verspielt und darum auch zu undogmatisch und beweglich, um jemals nach A + B = C streng musterhaft zu (ver)dichten. S o lassen sich auch die Galgenliederwesen, bei deren Geburt die Technik der Verdichtung eine mehr oder weniger intensive Hilfestellung leistete, niemals eindeutig und schon gar nicht algebraisch festhalten, denn ihr Dichter schuf sie eminent lebendig. Der Versuch des Interpreten aber, ihre Identität zu beschreiben, darf darum nicht unterbleiben, auch wenn er subjektiv und spekulativ ausfallen sollte. Objektiv fixieren lassen sich diese Wesen ohnehin nicht. Ihr " F e i n stes", das ein phantasievoller, humorvoller und verspielter Dichter schuf, wird wahrscheinlich schon " p r i v a t " bleiben müssen: Die " N a c h t a l p - H e n n e " konstituiert sich aus drei Morphemen, Nacht — alp — henne, deren Zusammenfügung in dieser Form unüblich ist. Eine Überprpüfung an der Wirklichkeit erweist sie als unsinnig: Ein solches Tier gibt es dort nicht. Mehrere Vorstellungsbereiche aber werden in dieser Zusammenfügung sinnvoll verdichtet. Das neue Wesen ist ein Nachtvogel, warum es auch gemeinsam mit einem " U h u - T a u b e r " die Galgenliederwelt betritt. Es ist ein bedrückendbedrohlicher Nachtmahr-Vogel, ein Alp-Vogel, ein dämonischer ElfenVogel und darum ein Gefährte des "schwarzen S e n n e n " . Der Alp-Vogel aber ist ein Bergvogel und auch darum ein Gefährte des Sennen. Der Nachtalp-Vogel ist eine Henne, die dämonische Dame des Hahns, des " S ä n g e r s " (denn das bedeutete ursprünglich " H a h n " ) . Die Dame des Sängers lacht, wenn der Senne zum Tanz spielt. Ihr Lachen ist beherrschend und hämisch zugleich. Es lacht in " N a c h t " und lacht in " A l p " und klingt banal in " H e n n e " aus ... Wenigstens all das könnte die Nachtalp-Henne mit ihrem Namen verdichtet haben. Auch der " W i n d h o r n - G a n s " verhalfen drei Morpheme zu einer Existenz: " W i n d " , " H o r n " und " G a n s " . Die Windgans ist eine Wildgans und als Horngans auch eine Höckergans. Der Wind bläst wie ein schwarzer Senn. Beide blasen auf einem Horn. Das Horn heißt "Gänseflügelhorn". Die Horngans aber, die Windgans — Wildgans — Höckergans heißt auch " T r o m p e t e n g a n s " . Im Sturm heult das Sirenenhorn, es weint die Windhorn-Gans; es ist ihr Windjammer, den sie beweint. Zwei Vogelarten in seinem Wesen vereinigt der " U h u - T a u b e r " . Der König der Eulen, der lautlose Jäger der Nacht, und eine Turteltaube, das Vorbild verspielter Zärtlichkeit, wurden verdichtet, und es gelang damit, zwei fremde Vorstellungen unter einem Namen zu vereinigen. Der turtelnde Uhu-Tauber wird, dem Beispiel der " T ä u b e r i n " folgend, mit einer Uhuin gepaart. Der kleine " S e c h s - E l f " stammt aus der Sippe des Zwölf-Elf. Er ist eine halbe Portion.

Verdichtung

201

Aus einem der Teiche schließlich blickt die Herrscherin, eine Dame von schlanker Gestalt. Ihre Geburt fand statt, als zwei Substantive sich verdichteten: "Finger" und Figur". Ihr Volk? Ein Vierviertelschwein und eine Auftakteule trafen sich im Schatten einer Säule, die im Geiste ihres Schöpfers stand. Und zum Spiel der Fiedelbogenpflanze reichten sich die zwei zum Tanze Fuß und H a n d . . . " Welcher Art ist dieser Tanz, den ein Vierviertelschwein und eine Auftakteule zum Spiel der Fiedelbogenpflanze tanzen? Der Galgenliederdichter versah den " T a n z " , dessen erste Strophe vorgestellt wurde, mit dem Untertitel "Drei Achtel Leporidell" 84 und wies das Vergnügen der drei Herrschaften damit eindeutig als Verdichtungstanz aus. Zwei "Leporide" tanzen einen Leporidentanz, ein "Leporid" spielt auf. Im Schatten einer Säule trifft sich die Kreuzung eines Viervierteltaktes und eines Schweins mit der Kreuzung eines Auftaktes und einer Eule, und sie nutzen die Anwesenheit der Kreuzung eines Fiedelbogens und einer Pflanze zu einem Tanz, der benannt wird nach der Kreuzung eines weiblichen Kaninchens und eines Hasen: einem Leporiden. Der Nutzen der tanzenden Galgenliederkreuzungen ist evident. Den neuen Wesen liegt — in der Metapher wörtlicher Bedeutung — Musik im Blut, und darum tanzen sie auch besonders gut. Im übrigen unterläßt es der Galgenliederdichter nicht, uns auch mit dem Vorbild des Tanzes bekanntzumachen. Er selbst entdeckte es in Langes "Geschichte des Materialismus", "im ersten Kapitel des dritten Abschnitts des zweiten Buches, nahe am Schlüsse",* 5 den Urvater der "Leporiden": den "Dreiachtelhasen". Kennst du den Dreiachtelhasen des Herrn Roux in Angouleme? — Dieses neue Tier, mit dem (wie wir jüngst bei Lange lasen) sein Erfinder Tag und Nacht treffliche Geschäfte macht?... 8 6 Die "Leporiden" gehören der Gruppe der "Mischtiere" an und führen uns damit zur Terminologie Freuds zurück, welcher die durch Verdich83 84 85 86

Der T a n z , VI, 35. Vgl. J A . I, 84. Briefe, 266, 1907. In der 7. A u f l a g e von 1902 auf Seite 329 des zweiten Bandes. Der Dreiachtelhase, VI, 174.

202

Die Traumwelt

tung entstandenen Traummenschen "Mischpersonen" nannte. 8 7 Im "Leporiden"-Volk der Fingur bilden die Mischtiere die tragende Schicht. Es zählen dazu: "Ochsenspatz", "Kamelente", "Walfischvogel", "Quallenwanze", "Pfauenochs", "Eulenwurm", "Giraffenigel", "Rhinozepony". 8 8 Ferner entstanden: aus Regenwurm und Löwe ein "Regenlöwe", aus Turteltaube und Unke die "Turtelunke", aus Schoßhund und Eule die "Schoßeule", aus Stier und Gürteltier der "Gürtelstier", aus Sägefisch und Schwan der "Sägeschwan", aus Mops und Süßwasserfisch der "Süßwassermops", aus Pinscher und Weinpantscher der "Weinpintscher". 8 9 Aus Meerkatze, Schoßhund und Dachs und tief im Schoß des Meeres entstand vielleicht der "Meerschoßdachs". 9 0 Die Galgenlieder-Mitteilungen über die "Fingur" selbst sind karg. Sie blickt nur einmal aus einem Teich und plaustert später einmal durch das "Wiruwaruwolz". 9 1 Sie wird weder entsetzlich noch lieb, sondern höchstens "entsetzlieb" sein. 92 Sie ist eine undurchsichtige, einflußreiche Galgenliederdame und als solche auch verschwiegen. Sollte sie dennoch einmal gesprochen haben, dann sicherlich wie Palma Kunkel: Nicht vom Wetter spricht sie, nicht vom Schneider, höchstens von den Grundproblemen beider. 92 Was Palmström sich nur wünschen konnte, — Palmström wünscht sich manchmal aufzulösen, wie ein Salz in einem Glase Wasser, so nach Sonnenuntergang besonders. Möchte ruhen so bis Sonnenaufgang und dann wieder aus dem Wasser steigen — Venus — Palmström — Anadyomene... 9 4 das war der Fingur gegönnt: Des Nachts hatten sich "Figur" und "Finger" aufgelöst, und als die Wiedergänger gingen und " k o l k " die Raben 87 Die T r a u m d e u t u n g , W e r k e I I / I I I , 326. — " E i n e solche Mischperson sieht etwa aus wie A , ist aber gekleidet wie B, tut eine Verrichtung wie man sie von C erinnert, und dabei ist doch ein Wissen, d a ß es die Person D ist. (Freud, Studienausgabe I, 11. Vorlesung, 179). 88 Neue Bildungen, der Natur vorgeschlagen, VI, 85. 89 E b d a . 90 K l a b a u t e r m a n n , VI, 126. 91 Gruselett, VI, 132. 92 Brief einer K l a b a u t e r f r a u , VI, 127. — A u ß e r h a l b der Galgenliederwelt entstanden andere "entsetzlieb"-Verdichtungen wie " G y m n a s e w e i s " , " D i l e t a l e n t " , " S y m b i l d " , " C h a r l e y t a n t i s m u s " , " w e s e n t i e l l " , " s o z u m a ß e n " oder "ein Wesenstel". (Nach Bauer, 1933, 195). 93 Wort-Kunst, VIII, 85. 94 V e n u s - P a l m s t r ö m - A n a d y o m e n e , VIII, 65.

Bildlichkeit

203

riefen, da blickte aus ihrem eigenen Wasser die neue Figur — Finger — Anadyomene: "Fingur", die "Leporiden"-Herrscherin.

4. BILDLICHKEIT DAS TELLERHAFTE NAHT HERAN

Lebens-Lauf Ein Mann verfolgte einen andern (aus Deutz). (Es selber war aus Flandern.) Der Deutzer, just kein großer Held, gibt unverzüglich Fersengeld. Der Fläme sagt sich: "Ei, nun gut! und sammelt es in seinen Hut. Und sammelt bis zur finstern Nacht, und morgens, als der Hahn erwacht und jener weiter flieht, voll Reue, da füllt er seinen Hut aufs neue. Durch ganz Europa geht es so. Sie sind bereits am Flusse Po. Sie sind in Algier ungefähr, da ist der eine Millionär. Wie — Millionär? O Allahs Güte! Sein Schatz mißt hunderttausend Hüte. Nein, Legionär — dies ist das Wort! Und jener sagts ihm auch sofort. Und beide teilen sich das Geld und kaufen sich dafür die Welt. Tief in Marokko steht ein Kreuz, da ruhn die aus Brabant und Deutz, die beiden fremden Legionäre. O Mensch, das Geld ist nur Schimäre! 95 Von zwei Metaphern singt dieses Galgenlied, von zwei zusammengesetzten Substantiven, deren beide Wortbestandteile jeweils aus zwei verschiedenen Bedeutungsbereichen stammen. Es ist ein historisches Lied. Es thematisiert einen Vorgang, der sich im 17. Jahrhundert ereignete, als aus dem Abstraktum " L e b e n " und einer Fortbewegungsart auf Beinen, die man von alters her " l a u f e n " nannte, eine Lehnübersetzung des 95 V I , 118.

204

Die Traumwelt

"curriculum v i t a e " , der " L e b e n s l a u f " also entstand. Es greift zurück auf das 13. Jahrhundert, als zwei Konkreta aus dem ökonomischen und dem anatomischen Bereich sich zusammenschlössen, sich durch das Verbum " g e b e n " ergänzen ließen und damit nun " f l i e h e n " bedeuteten. Aus dieser sprachgeschichtlichen Entwicklung folgte, daß in der Verbindung mit " L e b e n " einerseits und " F e r s e " andererseits " L a u f " und " G e l d " ihre ursprüngliche, "eigentliche" Bedeutung verloren und durch die Verbindung eine neue, "uneigentliche" Bedeutung erhielten: Mit " L e b e n s l a u f " und "Fersengeld" waren zwei Metaphern entstanden, die bald verblaßt und als Metaphern kaum noch auffällig der Allgemeinsprache angehörten, warum man sie auch " E x m e t a p h e r n " nennen kann. Das Lied nimmt sich der A u f g a b e an, die eigentliche Bedeutung der Exmetapher-Konstituenten zu restaurieren und — in anschaulichen Bildern — sichtbar werden zu lassen. Der " L e b e n s l a u f " wird wieder eine Fortbewegung auf Beinen, das "Fersengeld" wirtschaftlich wieder verwertbar. Die Restauration des " L e b e n s l a u f s " wird mit der Liederüberschrift eingeleitet. Durch Trennungsstrich und Majuskel von " L e b e n s " abgesetzt, gewinnt " L a u f " bereits einen Teil seiner ursprünglichen Eigenständigkeit zurück. Die Exmetapher selbst verliert dabei ihre Eindeutigkeit, denn was ist nun ein " L e b e n s - L a u f " ? Das Lied antwortet nuanciert: — Läuft ein Mann durch ganz Europa nach Afrika, weil ein zweiter Mann ihn verfolgt, so wird er um sein Leben laufen, und das Lied wird darum " L e b e n s - L a u f " heißen. — Laufen zwei Männer durch ganz Europa nach A f r i k a , kaufen dort — ein Lohn des Laufs — die Welt und sterben dort, so muß das der Lauf ihres Lebens, ein Lauf, der ihr Lebensschicksal war, gewesen sein. Auch darum ist der Titel sinnvoll. — Schließlich geht auch die "uneigentliche" Bedeutung des " L a u f s " nicht verloren, sondern bleibt im Hintergrund der Bildlichkeit gegenwärtig. Ein " L e b e n s l a u f " , eine Darstellung des eigenen Lebensweges, ist das Lied nicht, aber: Beginnt die Geschichte zweier Männer mit der Nennung ihrer Geburtsorte und endet sie mit der Angabe ihrer Grabstelle, und beschreibt diese Geschichte, welch rastloses Leben die beiden führten, wie sie zu Reichtum gelangten und zur Ruhe sich endlich setzen konnten, so stellt sie damit Entwicklung und Verlauf, den " L a u f " zweier Leben vor. Der " L e b e n s - L a u f " nutzt seine Bildlichkeit, um eine bekannte Traum-und Galgenliedertechnik anzuwenden: die Verschiebung durch Assoziation. Nicht allein auf einer geographischen oder chronologischen Ebene bewegt sich der " L a u f " , auch in einer sprachlichgedanklichen Entwicklungsreihe schreitet das Lied vorwärts.

Bildlichkeit

205

Ausgangspunkt ist die Vorstellung des " L a u f s " als Bewegung und, an sie geknüpft, des "Fersengeldes". Über die Weiche der eigentlichen Bedeutung von " G e l d " wird sie in einen finanziellen Bereich abgelenkt und der Weg zum "Millionär" damit geöffnet. Über die Weiche einer Scheinetymologie und Analogie verschiebt sich die Richtung des " L a u f s " vom Reichtum zum Heerestum: Ein Mann, der ein MillionenVermögen besitzt, heißt "Millionär"; ein Mann, dessen Vermögen Legion zählt, heißt "Legionär". Die Auflösung des "Fremdenlegionärs" in seine "eigentlichen" Bestandteile schließt den Verschiebungsvorgang ab, an dessen Beginn die "eigentliche" Bedeutung einer Exmetapher stand. Zweideutig werden zwei "fremde Legionäre" als ausländische Kapitalisten und Söldner begraben. Der Galgenliederdichter bedient im "Lebens-Lauf" sich einer Technik, die auch der Traum verwendet. Denn auch in diesem — so Kainz — " kommt es oft zu einem auflösenden Zurückführen der erstarrten Exmetaphern der Alltagssprache auf ihren ursprünglichen sinnlichen Gehalt, womit ein sehr urtümliches Verhältnis zur Sprache regressiv wiedererreicht ist." 9 6 Auch der Traum — so Freud — arbeitet mit Begriffen, "die ursprünglich bildlich und konkret gemeint waren und gegenwärtig im abgeblaßten, abstrakten Sinne gebraucht werden. Der Traum braucht diesen Worten nur ihre frühere Bedeutung wiederzugeben oder in den Bedeutungswandel des Wortes ein Stück weit herabzusteigen", 9 7 so wie es vom "Lebens-Lauf" vorgeführt wird. Oder, mit Kemper: Ist es ein Verdienst dieses Galgenliedes, die Ursprünge der Exmetapher "Lebenslauf" aufgedeckt und plastisch vermittelt zu haben, " s o erweist sich der Traum als ein geradezu genialer Sprachspürer, der uns den ursprünglichen Bedeutungsgehalt vieler Sprachschöpfungen, den wir im täglichen Gebrauch längst vergessen haben, 'in des Wortes wahrer Bedeutung' wieder 'sichtbar' vor Augen f ü h r t . " 9 8 In ihrem Bedeutungswandel ein Stück zurückverfolgt und sichtbar vor Augen geführt werden in der Welt der Galgenlieder folgende Worte: Stiefelknecht:

Windhose:

Ein Diener, der einen Herrn begleitet, welcher ein Stiefel ist, und dessen Befehlen — obwohl plötzlich und barsch gestellt — ergeben Folge leistet. 99 Ein "Beinkleid", das ein Windhosenschneider schneidert und das sich tragen läßt. Der verarbeitete Stoff ist Wind. Trägt man diese Hose, kann man wirbeln. 100

96 Kainz II, 1969, 508. 97 Die T r a u m d e u t u n g , W e r k e I I / I I I , 412. 98 Kemper, 91. 99 Der Gingganz, VI, 105. lOODie W i n d h o s e n , VIII, 51.

206

Die T r a u m w e l t

Käseglocke:

Eine Glocke aus Käse, die in einem Käsedom läutet. Das Material ihres Klöppels ist Ziegenkäse, das ihres Läutseils Parmesan. 1 0 1 Winkeladvokat: Einer der drei Winkel eines Dreiecks, die sich gemeinsam von einer Fee in einem Teich zu Menschen verzaubern lassen. Den zweifelhaften Charakter eines Winkeladvokaten bestimmt die Summe der Dreieckswinkel: ... zählst du die drei zusammen, so sind es zwei rechte bloß. 1 0 2 Perlhuhn: Ein blindes H u h n , das zufällig einst Perlen pickte wie Korn und nach dem Entschluß Gottes, es solle diese Perlen außen tragen, zum selbigen wurde. Bisweilen zählt es unter Erlen seine Perlen. 1 0 3 Diesen fünf Worten und mit ihnen auch dem " L e b e n s l a u f " und dem " F e r s e n g e l d " ist ein Charakteristikum gemeinsam. Sie alle sind Komposita, Substantive, die sich aus einem Grundwort und einem Bestimmungswort zusammensetzen. Als solche sind sie nicht außergewöhnlich. Das Bestimmungswort steht — wie meist — vor dem Grundwort und trägt — wie meist — den Hauptakzent. " L e b e n s l a u f " und " F e r s e n g e l d " verwenden die Fugenzeichen " s " und " n " und weisen sich damit als " K a s u s k o m p o s i t a " aus, die übrigen fünf sind durch das Fehlen eines Fugenzeichens als " S t a m m k o m p o s i t a " gekennzeichnet. Was geschah in der Welt der Galgenlieder mit diesen sieben gewöhnlichen und gebräuchlichen Zusammensetzungen? Wendet man das Verfahren des " L e b e n s - L a u f s " , die Kompositionsfuge durch einen Trennungsstrich und das Grundwort durch Großschreibung hervorzuheben, auch auf die übrigen Beispiele an — Morgenstern selbst führt es mit dem " P e r l - H u h n " noch einmal vor —, 1 0 4 dann ergibt sich folgendes Bild: Lebens Fersen Stiefel Wind Käse Winkel Perl

— — — — — — —

Lauf Geld Knecht Hose Glocke Advokat Huhn

101 D i e G l o c k e , V I , 123. 1 0 2 D i e drei W i n k e l , V I , 116. I 0 3 T e r t i u s G a u d e n s , V I I I , 98 u n d D a s P e r l h u h n , V I I I , 100. 104 E b d a .

Bildlichkeit

207

Die besondere Galgenliedertechnik der Begriffserklärung läßt sich dann so beschreiben: Bestimmungswort und Grundwort einer Zusammensetzung werden auseinandergerückt und isoliert und können nun voneinander unabhängig — das Grundwort bei Verdeckung des Bestimmungswortes, das Bestimmungswort bei Verdeckung des Grundwortes — gedeutet werden. Beide Möglichkeiten werden ausgeführt, a) Das Grundwort einer Metapher, das in ihr eine "uneigentliche" Anwendung erfährt, erhält seine "eigentliche" Bedeutung zurück. Lauf, Geld, Knecht, Hose, Glocke sind Beinbewegung, Zahlungsmittel, Angestellter, Kleidungsstück, Klanginstrument, b) Das Bestimmungswort, welches das Grundwort in einer Hinsicht determiniert, wird in einer anderen Hinsicht als Determination gedeutet. "Winkel" ist dann keine bestimmende Raumangabe des Grundwortes mehr — ein Advokat heißt "Winkeladvokat", weil er unbefugt und heimlich "im K i n k e l " arbeitet —, sondern bestimmt seine Herkunft: Er war einst ein Winkel. Das Bestimmungswort " P e r l e " , dessen Endungs-"e" wie oft bei Feminina in der Zusammensetzung ausgefallen ist, charakterisiert ein Huhn nicht mehr in Hinblick auf eine optische Ähnlichkeit — helle perlenförmige Flecken auf dunklem Gefieder —, sondern in Hinblick auf eine historische Begebenheit. Es heißt so, weil es wirklich Perlen fraß. Der Richtung einer Verbildlichung folgen beide Möglichkeiten, nicht nur die "eigentliche" Deutung des Grundwortes, sondern auch die Neudeutung des Bestimmungswortes. Auch Winkel und Perlen werden deutlich vorgestellt; die einen wandern, die anderen werden gezählt. Die Fragestellung konzentriert sich nun auf einen wichtigen Ausschnitt der beschriebenen Technik der Bildlichkeit. Welche besondere Behandlung erfahren in der Traum- und Galgenliederwelt abstrakte Begriffe? Im Traum: " W o der abstrakte Ausdruck der Traumdarstellung ähnliche Schwierigkeiten bereiten würde, wie etwa ein politischer Leitartikel einer Zeitung der Illustration", greift sie auf das "Darstellungfähige" zurück. 105 So wird sein "Vorstellungsinhalt nicht gedacht, sondern in sinnliche Bilder verwandelt." 10 * Allgemein: "Es ist ein Charakteristikum der Traumsprache, daß sie ständig aus dem Begrifflichen ins Bildliche ausgleitet." 1 0 7

105 D i e T r a u m d e u t u n g , W e r k e I I / I I I , 345. l O ö A . a . O . , 540. ! 0 7 K a i n z II, 1969, 508.

208

Die T r a u m w e l t

Das Tellerhafte Das Tellerhafte naht heran auf sieben Gänsefüßen. Das Tellerhafte naht heran, mein Dasein zu entsüßen. Es naht sich im gestreckten Lauf als wie der Gaul dem Futter; bald liegt's als wie ein Fisch ihm auf und bald wie Brot und Butter. Ich fühle mich so recht verhext als wie in alten Mären: — Ich werde, werde wohl demnext ein Galgenkind gebären. 1 0 8 Das " T e l l e r h a f t e " : ein verständliches, verwendbares Abstraktum, ein legitimer N a c h k o m m e des französischen Lehnwortes " T e l l e r " und des Suffixes " - h a f t " und doch — eine ungelenke Mißgeburt. Das "Tellerh a f t e " bedrängt den Dichter der Galgenlieder und droht sein Dasein zu " e n t s ü ß e n " . Das " T e l l e r h a f t e " muß bewältigt werden, und es kann bewältigt werden, indem man es bildlich konkretisiert. Das " T e l l e r h a f t e " besitzt zu seiner Fortbewegung sieben Gänsefüße (wenn überhaupt, ist es als Begriff nur in Anführungszeichen zu ertragen). Verglichen mit anderen " g e h e n d e n " Wesen, die sich zu dem gleichen Zwecke zweier, vierer oder eines Vielfachen zweier Beine bedienen, m u ß das " T e l l e r h a f t e " a u f g r u n d seiner ungeraden Fußzahl als "mißgebildet" bezeichnet werden. Nicht gemächlich-gemütlich, wie etwa auf seinen Nasen das Nasobem "einherschreitet", bewegt sich das "Tellerh a f t e " , wie ein hungriger Gaul jagt es vielmehr daher, gierig den Kopf nach vorn gestreckt, aufdringlich, unsympathisch. Kein duftender Schweinebraten mit Semmelknödeln und Rotkohl jagt mit dem "Tellerh a f t e n " einher, sondern eine reizlose, ja unappetitliche Zusammenstellung aus Fisch und Butterbrot. Kurzum, Morgenstern ist es trefflich gelungen, seiner Antipathie gegenüber dem Abstraktum "das Tellerhafte" einen bildlich-konkreten Ausdruck zu geben. Die Galgenlieder teilen die Krankheitsgeschichte zweier Damen mit. Bleich war die eine. T o d m ü d in grauen Höhlen liegt der Bick, den Fieber fast besiegt. Ihr ganzer Leib ist wie verzehrt, als hätt in ihm gewühlt ein Schwert ,.. 1 0 9 108 V I I I , 142. 1 0 9 D i e w i e d e r h e r g e s t e l l t e R u h e , V I I I , 115.

Bildlichkeit

209

Bleich war auch die andere: Ihr Antlitz wurde gelb und gelber, und ihren Leib ergriff die Zehr ... 1 1 ° Die eine war " d i e R u h e " , die andere war " d i e N ä h e " , zwei anfällige, labile Begriffe. Läßt sich die " R u h e " immer wieder stören und aus dem Gleichgewicht bringen, die " N ä h e " leidet an der eigenen Persönlichkeit: Sie ist nur " n a h " , aber niemals zusammen mit dem, dessen Nähe sie ist. Das Leiden beider ist chronisch: Nervosität und Schwermut. Kann die " R u h e " von einem "weltlichen" Arzt — wenigstens zeitweilig, bis zur nächsten Störung — wiederhergestellt werden, so kann der Nähe nur durch ein Wunder geholfen werden. Das geschieht: Der unglücklich konkretisierten " N ä h e " zur Hilfe eilt eines Nachts und ebenfalls konkretisiert der Namensvetter eines ehrwürdigen Königsberger Abstraktums und spricht: ... "Steh a u f , mein Kind, ich bin der kategorische Komparativ! Ich werde dich zum Näher steigern, ja, wenn du willst, zur N ä h e r i n ! " — Die Nähe, ohne sich zu weigern, sie nahm auch dies als Schicksal hin. Als Näherin jedoch vergaß sie leider völlig, was sie wollte, und nähte Putz und hieß Frau Nolte und hielt all Obiges für Spaß. 1 1 1 Die "Weltgeschichte" tritt voll Pein vom einen Bein aufs andre Bein . . . m Das Perfekt und das Imperfekt tranken Sekt... 1 1 3 Auch in der Welt der Galgenlieder werden Abstrakta nicht gedacht, sondern in sinnliche Bilder verwandelt. Ein Charakteristikum ihrer Sprache ist es, daß auch sie ständig aus dem Begrifflichen ins Bildliche gleitet. Diese Eigenschaft kann schließlich auch an einigen Beispielen im sprachlichen Bereich der Idiomatik nachgewiesen werden: an Redensarten und Sprichwörtern.

110Die Nähe, VIII, 114. 111 E b d a . 112Historische Bildung oder Die verfolgte Weltgeschichte, VIII, 162. 113Unter Zeiten, VI, 58.

210

Die Traumwelt

Palmström findet eines Abends, als er zwischen hohem Korn singend schweift, eine Flinte... 114 Die Flinte, die Palmström findet und Morgenstern damit sichtbar vor Augen führt, ist die berühmte Flinte, die ins Korn geworfen wird. Mit einem anderen Galgenlied betritt er ein Tal durch ein Feldportal, biegt dann nach links ab und geht solange geradeaus, bis er auf den Grabstein eines Hundes trifft, dort wo der Hund begraben liegt. 115 In ein böhmisches Dorf reist Palmström mit Korf, in eines der böhmischen Dörfer, und führt mit der Reise die Bedeutung der Redensart vor: Unverständlich bleibt ihm alles dort, von dem ersten bis zum letzten Wort. 1 1 6 Und werden einmal in der Welt der Galgenlieder Perlen vor die Säue geworfen und damit Matthäus 7,6 angewandt, dann in einer bildhaften Szenenfolge. Die Säue waren schlechtweg Säue von völliger Naturgetreue. 117 Überhaupt finden biblische, durch Sprichwörter weitergetragene Weisheiten in der Galgenliederwelt Bestätigung. "Die Probe" wurde dort auf Matthäus 19,24 gemacht: "Es ist leichter, daß ein Kamel durch ein Nadelöhr gehe, als daß ein Reicher ins Reich Gottes komme." Morgenstern entwirft diese Szene: Ich, glaubend fest an Gottes Wort, ermunterte das Tier sofort, ihm zeigend hinterm Nadelöhr ein Zuckerhörnchen als Douceur. Und in der Tat! Das Vieh ging durch, obzwar sich quetschend wie ein Lurch! 1 1 8 Der erste Korintherbrief 13,2 wird "eines Tags bei Kohlhasficht" durch den Bauern Anton Metzer als stichhaltig erwiesen. Sein Glaube versetzt Berge, wenigstens die Berge Kohlhasfichts. 119

114Die weggeworfene Flinte, VIII, 36. Vgl. auch: P a l m s t r ö m der Patriot, VIII, 37. 115Das G r a b des H u n d e s , VIII, 148. 116Das Böhmische D o r f , VIII, 8. 117Tertius G a u d e n s , VIII, 98. 118Die P r o b e , VI, 68 f. 119Der G l a u b e , VI, 142.

Bildlichkeit

211

Fazit: Indem sie in lebendige Bilder, Situationen und Szenen umgewandelt und damit wieder greifbar werden, erfahren oft genutzte und ,oft abgenutzte Redensarten und Sprichwörter in der Welt der Galgenlieder eine Renaissance. Der Traum kennt all dieses. Es bereitet ihm ebenso geringe Schwierigkeiten, das "Brett vor dem K o p f " beim Wort zu nehmen und bildlich darzustellen 120 oder die Sache, die einem "nicht im Traum einfällt." 1 2 1 Ob "wie ein Ochs vor dem Berge stehen" 1 2 2 oder "einen Korb bekommen" 1 2 3 — "man könnte leicht einige Dutzend solcher durch eine kleine Handlung illustrierter Redensarten aufführen". 1 2 4 Sprachzerfall, Verschiebung, Verdichtung, Bildlichkeit... Traumund Galgenliedersprache weisen Gemeinsamkeiten und Ähnlichkeiten auf. Begriffe, die der Beschreibung der einen dienen, können Phänomene der anderen beschreiben helfen. Man wird fragen, ob die gewonnenen Analogien auch auf einen kausalen Zusammenhäng hinweisen. Blieben vielleicht die verschiedenen Techniken der "unwillkürlichen Dichtung" des Traumes 1 2 5 nicht ohne Einfluß auf die Dichtung der Galgenlieder? Christian Morgenstern träumte viel — oder genauer: er konnte sich häufig und bisweilen mit großer Klarheit an seine Träume erinnern. Rückblickend berichtet er 1898: "Mein Traumleben hat sich (...) in den letzten Jahren sehr gesteigert, so daß ich wohl selten traumlos schlafe." 1 2 8 Christian Morgenstern schrieb einige seiner Träume nieder 127 und er dachte auch — oft mit geradezu "wissenschaftlicher" Genauigkeit — über sie nach und gelangte etwa zu einer eigenen Hypothese über das Entstehen des Traumes im Traume. 1 2 8 Er leitete die Sammlung "Auf vielen Wegen" mit zwölf in Gedichte gefaßten Träumen ein, 128 — drei weitere Traumgedichte ergänzten diese 120 Kemper, 90. 121 Die Traumdeutung, Werke II/III, 412. l22Aeppli, 46. 123A.a.O., 47. l24Ebda. 125 Kant IV, Anthropologie, 495. 126 Stufen, 22. 127 Vgl. die Träume der Nächte vom 29. zum 30. März 1898 (Stufen 21 f.), vom 24. zum 25. Februar 1905 (Stufen, 26), vom 28. zum 29. Juli des selben Jahres (Stufen, 26 ff.) und vom 26. zum 27. November 1908 (Stufen, 45). 128 "Die Vorbedingung scheint zu sein, daß mein Gehirn noch nicht erschöpft genug sein darf, um sogleich völlig einzuschlafen..." (Stufen, 21). — Im übrigen muß Morgensterns Verständnis der Traumvorgänge stellenweise erstaunlich genannt werden. Noch ehe Freud die Traumdeutung 1900 revolutionierte, indem er den Gedanken der Wunscherfüllung in den Mittelpunkt der Analyse stellte, schreibt Morgenstern 1898: " E s scheint, als wollte sich hier die Natur für etwas entschädigen, was ihr im Wachen versagt bleibt." (Stufen, 22). 129Auf vielen Wegen, 9 ff.

212

Die Traumwelt

ursprünglich 1 3 0 — er notierte Sprüche unter der Überschrift " T r a u m " 1 3 1 oder " T r ä u m e " 1 3 2 , dichtete für " I c h und die W e l t " einen " T r a u m " 1 3 3 und in den folgenden Jahren " D e r T r a u m " 1 3 4 oder " T r ä u m e " 1 3 5 oder " E i n T r a u m " 1 3 6 . . . , er dichtete nach Träumen und über Träume. 1 3 7 1897 veröffentlichte Christian Morgenstern in der Sammlung " A u f vielen W e g e n " das Gedicht " M a l e r e r b e " , dessen Eingangszeilen lauten: Die Spanne, die nicht Träumen ist noch Wachen, beschenkt mich o f t mit seltsamen Gedichten. 1 3 8 Waren T r ä u m e oder Zustände zwischen Träumen und Wachen 1 3 9 auch am Entstehen der seltsamen Galgenliederwelt beteiligt? Morgenstern selbst ist es, der 1898 kommentiert: Was ich in dem Gedicht " M a l e r e r b e " sage, möchte ich insofern berichtigen, als der dort erwähnte Zustand " d e r nicht Träumen ist noch W a c h e n " doch immerhin noch viel mehr Wachen als Träumen ist, indem ich bei guter Disposition jene blitzschnell wechselnden Landschaften willkürlich hervorrufen kann. Ich schließe einfach die Augen und überlasse mich der Jagd solcher Vorstellungen; wodurch ich mich ja allerdings ein wenig dem T r a u m h a f t e n nähere. 1 4 0 Es kann zusammengefaßt werden: Obwohl Christian Morgenstern häufig träumte, Träume niederschrieb, über Träume nachdachte und dichtete, stellt er nirgendwo eine Verbindung zu den Galgenliedern her. Daß sich einige seiner Gedichte im Hinblick auf blitzschnell wechselnde Bilder ein wenig dem T r a u m h a f t e n nähern, wird für eine philologische Argumentation keine tragfähige Grundlage sein. " W e i ß t , was mir träumt e . . . " 1 4 1 beginnt 1894 ein Gedicht der Sammlung " A u f vielen W e g e n " . 130Vgl. Der Sämann, 105. 131 Stufen, 18, 1896. I32A.a.O., 20, 1897. 133 Ich und die Welt, 59. 134Ein Sommer, 61. 135Mensch Wanderer, 107, 1903. 136A.a.O„ 176, 1907. 137Vgl. auch den " C h o r " , den Morgenstern dem Traum des Julis 1905 folgen läßt (Stufen, 28) und das Gedicht "Theomachie" (Der Sämann, 21), das auf einem von Bauer mitgeteilten Traum gründen muß. (Bauer, 1937, 104). 138 Auf vielen Wegen, 22. 139Von Zuständen dieser Art berichtet Morgenstern 1898: "Etwas eigentümliches ist es auch, wenn ich mich nach Tisch auf das Sofa lege, um etwa eine halbe Stunde zu schlafen, mein Gehirn willenlos in der Art der Lektüre weiter arbeitet, die ich etwa vorher noch in die Hand nehme. Lese ich Aphorismen, so ist jene halbe Stunde von Aphorismen erfüllt, lese ich eine Novelle, so geht es in einem fort weiter..." (Stufen, 23). 140 Ebda. 141 Mensch Wanderer, 28, 1894.

Bildlichkeit

213

Im Hinblick auf Träume, die den Dichter der Galgenlieder zu den sprachlichen Mitteln des Sprachzerfalls und -neuaufbaus, der Verschiebung, Verdichtung und Bildlichkeit angeregt haben mögen, kann diese Frage von der Literaturwissenschaft nur mit " N e i n " beantwortet werden.... Sie es nun genug der Träume, Denen wir die Netze stellten. Sonne scheint in alle Räume Laßt den Tag nun wieder gelten! 1 4 2

142Der S ä m a n n , 33.

DRITTER TEIL

DIE WELT DER GALGENLIEDER UND DIE WELT DES NONSENSE

I can explain all the poems that ever were invented — and a good many that haven't been invented just yet. 1 Ist die Welt der Galgenlieder eine Welt des "Nonsense"? In Untersuchungen, die sich allgemeiner mit dem Phänomen der "Unsinns-Dichtung" befassen, taucht immer wieder der Name Christian Morgenstern auf. "Zum literarischen Nonsense" rechnet Tabbert die Galgenlieder." 2 "Unsinnsdichtung" sind sie für Petzold, 3 "eine würdige Parallele" zu den Nonsense-Versen Lears für Homeyer, 4 "echter Unsinn" für Kusenberg. 5 Forster behandelt sie unter dem Titel "Poetry of significant nonsense", Morgan unter dem Titel "The superior Nonsense of Christian Morgenstern". Klein entdeckt den "Unsinn" nebst "Wider-" und "Tiefsinn" in ihnen, 6 und Alfred Liede schließlich faßt mit dem ersten Satz seines Morgenstern-Kapitels zusammen: "Jeder Gebildete deutscher Zunge erwartet von Studien zur Unsinnspoesie eine Würdigung Christian Morgensterns." 7 Und Morgenstern selbst? — In jenem Brief aus dem Jahre 1910, "Antwort an einen Redakteur", aus dem nun schon des öfteren zitiert wurde, weil er die Quelle für die Beurteilung der Galgenlieder durch ihren Dichter selbst ist, wehrt sich Morgenstern gegen die Etiketten "Blödsinn", auch "höherer Blödsinn", und "Stumpfsinn" 8 und setzt sich dabei auch mit dem Begriff des "Unsinns" auseinander. Im besonderen sei etwa das "große Lalula" nicht als "Ausdruck irgend eines UnSinns, Ohne-Sinns" zu interpretieren. 9 Im allgemeinen gelte: "Es kann von Unsinn nirgends die Rede sein, dazu war ich immerhin vor fünfzehn Jahren nicht mehr unreif genug." 1 0 Deutlich wird dabei, was Morgenstern unter "Unsinn" verstand: Unsinn liegt auf dem Niveau des Blöd- oder Stumpfsinns und ist ein Produkt der Unreife, ist "Quatsch". Verständlich, daß der Dichter der Galgenlieder als Dichter diese Etikettierung seines Werkes von sich weisen muß. 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10

Humpty Dumpty, Through the Lookmg-Glass, Carroll, 175 Tabbert, 5 Petzold, 232. Homeyer, 54. Kusenberg, 957 Klein, 1954, 224 Liede, I, 273. Briefe, 402 A . a . O , 401 A a.O , 403

218

Die Welt des Nonsense

1895 schreibt Morgenstern für die "Neue Deutsche Rundschau" den Artikel "Ecce poeta", stellt darin das Gedicht eines Herrn Boukmann vor und bezeichnet es als "Beutestück": Nun haltet treu, was Ihr gelobt Am Tag der hohen Feier, Mit Wort und Handschlag habt gelobt, Das sei Euch heilig, teuer. Der Genius hat den Weg gezeigt, Auf den zu Deutschlands Glücke Und Heil sich in die Waage neigt, Mit hellem Adlerblicke. 11 Für den Autor des Artikels ist das Gedicht ein Beutestück des "Nonsens". Und es ist "Nonsens", weil es ein mit großen Vokabeln und kleiner Kunst gefertigtes Stück Jubelpoesie ist, das zum achtzigsten Geburtstag Bismarcks entstand. Es ist ein Beutestück des Dilettantismus. Morgenstern bezeichnet hier mit "Nonsens" ein Stück niederer Poesie, ein Ergebnis des Unvermögens, das — eine Art Friederike KempnerEffekt — belustigt. "Unsinn", "Nonsens(e)" als literaturwissenschaftliche Kategorie aber bezeichnet — soviel steht wohl fest — etwas ganz anderes. Was er bezeichnet — soviel steht ebenfalls fest —, ist umstritten. Meint "Unsinn" eine literarische Gattung oder eine Stilqualität oder eine literaturgeschichtliche Eingrenzung? Ist "Unsinn" "Nonsense"? Oder bleibt "Nonsense" beschränkt auf den englischen Bereich und dort vielleicht nur auf den viktorianischen Höhepunkt allen Unsinns: Edward Lear und Lewis Carroll? Reichert etwa sieht die "Historizität" des Unsinns und der Unsinnsliteratur so: Die englische Unsinnliteratur ist eine Erscheinung, die sich annähernd mit der viktorianischen Ära deckt. Sie beginnt mit Edward Lears Book of Nonsense (1846), sie endet mit Lewis Carrolls Tod am 14. Januar 1898. Vorher gibt es sie nicht, nachher braucht es sie nicht mehr zu geben. 12 Holbrook Jackson, ein Brite, widerspricht. "At all times there has existed a literature of nonsense (...) No era is exempt from nonsense songs and stories." 13 Dieser Ansicht war bereits 1888 Sir Edmund Strachey. Für ihn war einer der bedeutendsten Nonsense-Autoren — Shakespeare. 14 11 12 13 14

Ausgewählte Werke, 542. Reichert, 7. Jackson, 1946, 112. Strachey, 346.

Nonsense und Unsinn

219

Läßt man epochale Grenzen des Nonsense nicht zu, dann vielleicht geographische: "Nonsense ist der Terminus für eine besondere literarische Gattung der komischen Dichtung in England." 15 Was Nonsense ist? "Der Engländer weiß es tatsächlich. Wir Deutsche wissen es nicht. 16 Wir glauben, Nonsense sei Unsinn, Albernheit, Spiel mit Absurditäten. Nonsense ist ebensowenig 'Unsinn' wie Nirvana das 'Nichts' ist." 1 7 Vielleicht aus diesem Grunde übernimmt Tabbert den Terminus "Nonsense" bedenkenlos in den Bereich deutscher Literatur. Nicht allein in viktorianischer Zeit und nicht allein in England sei "literarischer Nonsense" zu finden, sondern konstituiere eine eigene Tradition in Deutschland mit "volkstümlichem Nonsense" (Gassenlieder, Abzählreime), über den "höheren Blödsinn" des 19. Jahrhunderts (Eichrodt, Scheffel) zu Morgenstern und Ringelnatz am Beginn des 20. Jahrhunderts. 18 Petzold wiederum legt auf eine Trennung von "Nonsense" und "Unsinn" Wert. Nonsense sei "diejenige Art von Unsinnsdichtung, die zugleich komisch ist." 1 9 Und Alfred Liede schließlich behält in seiner groß angelegten Untersuchung den Terminus "Nonsense" dem englischen Bereich der Unsinnspoesie vor, 20 führt dann aber aus, "daß die Nonsensedichtung nicht typisch englisch ist". 21 "Nach unserer Meinung ist keine einzige ihrer Formen nur in England oder im englischen Sprachgebiet verbreitet. Was der Engländer Nonsensedichtung nennt, gibt es auf der ganzen Erde." 2 2 So spannt Liede den Bogen der Unsinnspoesie über Mörike, Scheerbart und Valentin, über Futurismus und Aktivismus, über Dadaismus und Surrealismus, über Eichrodt und Scheffel und andere und — Morgenstern: "Prolegomena einer Geschichte der Unsinnspoesie." 21 Der Begriff "literarischer Unsinn/Nonsense" ist — soviel geht aus dieser kurzen Zusammenstellung wohl hervor — nahezu beliebig einschränk-und austauschbar. Die Versuche, ihn zu definieren, sind dementsprechend zahlreich. Das Kapitel über den "Unsinn" der Galgenlieder wird ihnen keinen weiteren hinzufügen, und es wird auch vermeiden, sich aus dem reichen Angebot der Definitionen das für den Zweck Passende zu wählen. Auf das "Wesen" des Unsinns/Nonsense soll als Arbeitsgrundlage verzichil i Schöne, 1954, 102. 16 Homeyer hält allein schon die englische Sprache für die Produktion von "Nonsense" geeigneter als Deutsch. (Homeyer, 52). 17 v. Oertzen, 861. 18 Tabbert, 6. 19 Petzold, 24. 20 Liede, I, 157 ff. 21 A . a . O . , 159. 22 Ebda. 23 A . a . O . , 4.

220

D i e W e l t des N o n s e n s e

tet werden. Geplant ist vielmehr folgendes: Ausgerüstet mit einigen Kenntnissen der Galgenliederwelt wird ein Streifzug durch die Nonsense-Welten Lewis Carrolls und Edward Lears unternommen und versucht, einige der sich dabei bietenden Vergleichsmöglichkeiten zu nutzen. Die Eingangsfrage " I s t die Welt der Galgenlieder eine Welt des N o n s e n s e " ? lautet also in bescheidenerer Abwandlung dann: W e l c h e Ähnlichkeiten und Unterschiede weisen die Welt der Galgenlieder und die Welt des viktorianischen Nonsense in mancher Hinsicht a u f , und in welchen Zusammenhängen sind sie zu deuten? Bevor 1895 ein "lustiger K r e i s " einen Ausflug nach Werder bei Potsdam unternahm und die Studenten Kayssler, B e b l o , S c h ä f e r , G e o r g und Julius Hirschfeld, K ö r n e r , W e r n i c k e und Morgenstern sich fortan als Galgenbrüder G u r g e l j o c h e m , S t u m m e r Hannes, Veitstanz, Verreckerle, Schuhu, Spinna, Unselm und R a b e n a a s nannten, um aus handgeschriebenen und handgebundenen Heften obskure " G a l g e n l i e d e r " sich vorzut r a g e n , 2 4 ruderte an einem 4 . Juli 1862 eine Ausflugsgesellschaft nach G o d s t o w bei O x f o r d : L o r i n a C h a r l o t t e , Edith und Alice Liddell, R o b i n son Duckworth und der Reverend Charles Lutwidge Dodgson, und der Reverend erzählte im B o o t phantastischen Unsinn. Bevor acht ausgelassene und darum oft hinausgeworfene Studenten ihren Kneipenausflügen mit Schwert und Blut, mit Henkersmahlzeit und Lebensfaden und Armesünderglöcklein die dichte A t m o s p h ä r e eines " G a l g e n b e r g s " verliehen, hüllte Reverend Charles Lutwidge Dodgson den kühlen J u l i n a c h m i t t a g — innerhalb von 24 Stunden waren 0 , 4 Zentimeter Regen g e f a l l e n 2 5 — in einen sonnigen " W o n d e r l a n d M y t h o s " : " A l l in the golden a f t e r n o o n ( . . . ) Beneath such dreamy weather ( . . . ) Beneath the setting s u n . " 2 6 Die Schwestern aber erhielten in der Nonsense-Erzählung nicht nur die Namen " E l s i e " , " T i l l i e " und " L a d e " und lebten a u f dem G r u n d e eines S i r u p - B r u n n e n s , 2 7 L o r i n a verwandelte sich auch in " L o r y " , einen australischen Papagei, Edith in " E a g l e t " , ein Adlerjunges, und Duckworth wurde zur E n t e " D u c k " und der in Gesellschaft Erwachsener stotternde D o - D o - D o d g s o n ein " D o d o " . A u f Bitten der Bootsgesellschaft schrieb D o d o Dodgson die Geschichte a u f und schenkte das kleine, in gestochener Schönschrift 24 25 26

V g l . B a u e r , 1 9 3 3 , 181 f . Vgl. Pudney, 7. A l i c e ' s A d v e n t u r e s in W o n d e r l a n d , T h e W o r k s o f L e w i s C a r r o l l , 2 1 . I m f o l g e n d e n zitiert als A 1 W , C a r r o l l . — D e n v o n R o g e r L a n c e l y n G r e e n h e r a u s g e g e b e n e n " W o r k s o f L e w i s C a r r o l l " wird der V o r z u g g e g e b e n , weil in den " C o m p l e t e W o r k s o f L e w i s C a r r o l l " (eingeleitet v o n A l e x a n d e r W o o l l c o t t ) , die — k e i n e s w e g s v o l l s t ä n d i g — 1 9 3 9 z u m ersten M a l e r s c h i e n e n , die H e r z o g i n 1 9 7 3 A l i c e n o c h i m m e r d a r a u f h i n w e i s t : " T h e r e ' s a large m u s t a r d - m a c h i n e n e a r h e r e " ( C o m p l e t e W o r k s , 8 9 ) , seit 1865 a b e r d o r t stets " a large m u s t a r d - m i n e " liegt. D r u c k f e h l e r h a f t sind beide A u s g a b e n .

27

A I W , C a r r o l l , 7 2 ; vgl. G r e e n , 6 0 .

Nonsense und Unsinn

221

verfaßte und mit ungelenken, aber peniblen Zeichnungen versehene Buch der zehnjährigen Tochter seines Vorgesetzten, des Mannes, der gemeinsam mit Scott das griechisch-englische Wörterbuch schuf: seiner geliebten Freundin Alice Liddell. Titel: "Alice's Adventures Underground". Es dauerte ein Jahrzehnt, bis jene "privaten", "ohne jeden Gedanken an jemalige Öffentlichkeit" 2 8 entstandenen Lieder 1905 — wesentlich vermehrt — bei Cassirer im Druck erschienen; es dauerte kein Jahr, bis Macmillan die private Ausflugs-Erzählung Dodgsons — wesentlich vermehrt — verlegte: "Alice's Adventures in Wonderland", 1865 erschienen unter dem Pseudonym "Lewis Carroll". Wie die Galgenlieder Morgensterns, wie die Alice-Geschichte Carrolls und lange vor beiden war schließlich auch das Feinste Edward Lears zunächst privat geblieben. Denn neben einem Pferderennen, das sie im 18. Jahrhundert begründeten und mit ihrem Namen verbanden, ist den Earls of Derby die Anstellung Edward Lears als Tierzeichner für den Zoo Schloß Knowsleys bei Liverpool zu verdanken (1832): Im Kreis der Kinder Lord Edward Stanleys, des dreizehnten Earl, und nur für diesen Kreis trug Lear dort seinen Unsinn vor. 14 Jahre waren nötig und die Überredungskünste von Freunden, bis " A Book of Nonsense" 1846 bei McLean in zwei Bänden erschien. 29 Christian Morgenstern, Lewis Carroll und Edward Lear, ein ambitionierter "seriöser" Dichter, ein geistlicher Mathematik-Professor und ein Landschafts- und Tierzeichner und -maier schufen eine private, gesellige "Unterhaltungs"-Literatur, bestimmt für einen kleinen Freundeskreis und dort auch vorgetragen, ursprünglich und zunächst ohne das Ziel, auch ein öffentliches Publikum damit zu unterhalten. Als sie sich an dieses wandten, war — kurios — Carroll 33 Jahre alt, waren Lear und Morgenstern 34 Jahre alt, und alle waren sie Junggesellen, schuf der Mathematiker ein Stück Weltliteratur, führte ein Maler den Limerick und das Wort "Nonsense" in sie ein, und ein Poet sicherte sich mit der Veröffentlichung seiner "Beiwerkchen, Nebensachen" 3 0 etwas, das ihm wahrscheinlich ohne diese verwehrt geblieben wäre: einen dauerhaften Platz in der deutschen Literaturgeschichte.

28 Nach Bauer, 1933, 180. 29 Vgl. B y r o m , 9. 30 Briefe, 404, 1910.

I. VORVERSUCH: ZWEI MOTIVVERGLEICHE

1. Unter Zeiten

Die Korfsche Uhr Korf erfindet eine Uhr, die mit zwei Paar Zeigern kreist und damit nach vorn nicht nur, sondern auch nach rückwärts weist. Zeigt sie zwei, — somit auch zehn; zeigt sie drei, — somit auch neun; und man braucht nur hinzusehn, und die Zeit nicht mehr zu scheun. Denn auf dieser Uhr von Korfen mit dem janushaften Lauf (dazu wird sie so entworfen): hebt die Zeit sich selber auf. 1 Palmströms Uhr Palmströms Uhr ist andrer Art, reagiert mimosisch zart. Wer sie bittet, wird empfangen. O f t schon ist sie so gegangen, wie man herzlich sie gebeten, ist zurück- und vorgetreten, eine Stunde, zwei, drei Stunden, je nachdem sie m i t e m p f u n d e n . Selbst als Uhr, mit ihren Zeiten, will sie nicht Prinzipien reiten: Zwar ein Werk, wie allerwärts, doch zugleich ein Werk — mit Herz. 2 1 VIII, 26. 2 VIII, 27.

Zwei Motivvergleiche

223

D e n U h r e n K o r f s u n d P a l m s t r ö m s liegen zwei verschiedene K o n s t r u k tionsprinzipien z u g r u n d e : a) D e m U h r w e r k wird ein zweites Z e i g e r p a a r angeschlossen, das r ü c k w ä r t s l ä u f t , b) D a s U h r w e r k wird beseelt, es läßt sich b i t t e n , v o r w ä r t s u n d r ü c k w ä r t s zu l a u f e n , u n d läßt sich — so erläutert ein drittes Galgenlied — des N a c h t s in ein G l a s O p i u m o d e r Ä t h e r s c h l a f e n legen u n d des M o r g e n s mit M o k k a m u n t e r w a s c h e n . 3 Beiden U h r e n liegt der Zweck z u g r u n d e , die Zeit zu m a n i p u l i e r e n . Besitzt m a n sei beide, ist die M a n i p u l a t i o n s m ö g l i c h k e i t u m f a s s e n d : Z u k u n f t u n d Vergangenheit k ö n n e n gegenwärtig w e r d e n , G e g e n w a r t k a n n g e g e n w ä r t i g bleiben. Mit ihrer H i l f e läßt sich K o r f s R a t a n seine Bek a n n t e n , " l e s e n Sie d o c h die Zeitung von ü b e r m o r g e n " , 4 b e f o l g e n . In der Welt der Galgenlieder erhalten Z e i t u n g s r e d a k t e u r e N a c h r i c h t e n von ü b e r m o r g e n , wenn sie ihre U h r e n bitten, u m 48 S t u n d e n vorauszueilen, u n d sie mit b e s o n d e r s s t a r k e m M o k k a d a z u e r m u n t e r n . " D e f a c t o sind das nur Usus-Sachen".5 Die Galgenlieder-Zeit ist die Zeit der Nonsense-Welt Lewis C a r r o l l s . N e h m e n wir einen A u g e n b l i c k lang an der " M a d T e a - P a r t y " teil. Der H u t m a c h e r stellt Alice ein Rätsel: " W h y is a raven like a writingdesk?"6 " H a v e y o u guessed t h e riddle y e t ? " the H a t t e r said, t u r n i n g t o Alice a g a i n . " N o , I give it u p " , Alice replied. " W h a t ' s t h e a n s w e r ? " " I h a v e n ' t the slightest i d e a " , said t h e H a t t e r . " N o r I " , said t h e M a r c h H a r e . Alice sighed wearily. " I t h i n k you might d o s o m e t h i n g better with t h e t i m e " , she said, " t h a n wasting it in asking riddles t h a t have no answers." " I f y o u knew T i m e as well as I d o " , said t h e H a t t e r , " y o u w o u l d n ' t talk a b o u t wasting it. I t ' s him." (...) " N o w , if you only kept on g o o d t e r m s with h i m , h e ' d d o a l m o s t a n y t h i n g you liked with the clock. F o r instance, s u p p o s e it were nine o ' c l o c k in the m o r n i n g , j u s t time t o begin lessons: y o u ' d only have to whisper a hint t o T i m e , a n d r o u n d goes the clock in a twinkling! H a l f - p a s t o n e , time f o r dinner!"7 L ä ß t in der Galgenliederwelt eine beseelte U h r mit sich reden, so k a n n m a n im " W o n d e r l a n d " sich o h n e U m w e g e a n die beseelte " Z e i t " selbst w e n d e n u n d in einem A u g e n b l i c k dreieinhalb S t u n d e n ü b e r s p r i n g e n . Der H u t m a c h e r besitzt eine U h r , die nicht S t u n d e n , s o n d e r n T a g e anzeigt, augenblicklich aber d e f e k t ist: Sie geht zwei T a g e n a c h . Der Schaden wird d u r c h d e n M ä r z - H a s e n zu b e h e b e n versucht. 3 4 5 6 7

P a l m s t r ö m legt des Nachts sein C h r o n o m e t e r , VIII, 65. Vom Zeitunglesen, VIII, 54. Ebda. A I W , Carroll, 68. A . a . O . , 69 f.

224

Die Welt des Nonsense

The March Hare took the watch, and looked at it gloomily: then he dipped it into his cup of tea, and looked at it again. 8 Palmströms Methode: Ihren Geist von neuem zu beschwören, wäscht er sie mit schwarzem Mokka munter." Warum die "Tea-Party" so verrückt ist? Weil sie niemals zu Ende gehen wird, denn die " Z e i t " kümmert sich nicht mehr um den Hatter und seine Gesellschaft,. " H e won't do a thing I ask! It's always six o'clock now." 1 0 Die Zeit steht still — wie sie für den Besitzer einer Korfschen Uhr stillsteht. Eine Korfsche Uhr, deren eines Zeigerpaar vorwärts, deren anderes rückwärts läuft, müßte die weiße Königin des Landes hinter den Spiegeln tragen: Ihr Gedächtnis arbeitet in beiden Richtungen. " I t ' s a poor sort of memory that only works backwards", the Queen remarked. " W h a t sort of things do you remember best?" Alice ventured to ask. " O h , things that happened the week after next", the Queen replied in a careless tone." 1 1 In der Welt von "Sylvie and Bruno" stellt ein deutscher Professor eine Uhr vor: Silently the Professor drew from his pocket a square gold watch, with six or eight hands, and held it out for my inspection. " T h i s " , he began, "is an Outlandish Watch — (...) — which has the peculiar property that, instead of its going with the time, the time goes with it. (...) So long as it is let alone, it takes its own course. Time has no effect upon it. (...) It goes, of course, at the usual rate. Only the time has to go with it. Hence, if I move the hands, I change the time. To move them forwards, in advance of the true time, is impossible: but I can move them as much as a month backwards — that is the limit. And then you have the events all over again — with any alterations experience may suggest. 12 Palmströms Uhr ist anderer Art (...) ist zurück- und vorgetreten. 13 Ebda. P a l m s t r ö m legt des Nachts sein C h r o n o m e t e r , VIII, 65. A I W , Carroll, 71. T h r o u g h the Looking-Glass, The W o r k s of Lewis Carroll, 161. Im folgenden zitiert als: T L G , Carroll. 12 Sylvie and Bruno, T h e W o r k s of Lewis Carroll, 503. Im folgenden zitiert als: SB, Carroll. 13 P a l m s t r ö m s U h r , VIII, 27; Kursivdruck von mir.

8 9 10 11

Zwei Motivvergleiche

225

Welche Möglichkeiten sich mit einer solchen Uhr ergeben, wird in der Welt der Galgenlieder, sieht man von ihrer Errungenschaft einer "Übermorgen"-Zeitung ab, nicht ausgeführt. Lewis Carroll widmet den Möglichkeiten seiner Uhr das gesamte 23. Kapitel des "Sylvie and Bruno"Romans: "An Outlandish Watch". 1 4 Christian Morgenstern und Lewis Carroll, so läßt sich zusammenfassen, weisen in ihrer literarischen Behandlung der " Z e i t " ein hohes Maß an Gemeinsamkeit auf. Nur einen Einfall hatte Morgenstern nicht: Zeit zu lagern, wenn man sie nicht braucht (anstatt sie zu verschwenden), um sie dann, wenn man sie braucht, benutzen zu können. 1 5 Unter Zeiten Das Perfekt und das Imperfekt tranken Sekt. Sie stießen aufs Futurum an (was man wohl gelten lassen kann). Plusquamper und Exaktfutur blinzten nur. 1 6

2. UNTER SPIEGELBILDERN

Unter lauter Spiegelbildern war ich diese Nacht im Traum. (Laß die Phantasie nicht wildern, halte sie vielmehr im Zaum!) Alles war daselbst vorhanden, was Natur und Mensch gemacht, selbst ein Löwe, der (in Banden) einst vor ein Trumeau gebracht. Doch nicht einmal nur war Tier und Mensch ein andres hier, o Graun! Eine Frau war hundertvierundfünfzigtausendmal zu schaun.

15 S y W i e a n d B r u n o Concluded, The Works of Lewis Carroll, 584. Im folgenden zitiert als: SBC, Carroll. 16 VI, 58.

226

Die Welt des Nonsense

Auch ein Fräulein war zur Stelle, ganz gehüllt in blondes H a a r , die in eines Waldborns Welle, einst im Mond gestiegen war. 1 7 Spiegelbilder trennen sich von ihren Originalen. Sie verfallen nicht, wenn diese den widerspiegelten Raum verlassen, sondern bleiben bestehen. Spiegelbilder werden selbständig, sie konstituieren eine eigene Welt, in der " a l l e s " vorhanden ist. In diese Welt, " u n t e r lauter Spiegelbilder", kann m a n sich begeben, wenn man träumt, und sie dort alle kennenlernen. Einen Löwen wird man treffen können: Er k ä m p f t mit einem Einhorn. 1 8 Ein Fräulein wird zu Stelle sein, ganz gehüllt in blondes H a a r , das eines Nachmittags im T r a u m durch einen Wohnzimmerspiegel stieg, um auch unter Spiegelbildern zu sein: Alice. " T r o u g h the Looking-Glass" könnte auch " U n t e r Spiegelbildern" heißen, denn dort läßt Lewis Carroll seine zweite Alice-Erzählung spielen. Dort leben " T w e e d l e d u m " und " T w e e d l e d e e " , zwei SpiegelbildZwillinge. 19 Dort m u ß Alice rückwärts gehen, um sich vorwärts zu bewegen, 2 0 dort findet sie " J a b b e r w o c k y " , ein Gedicht in Spiegelschrift. 2 1 Wird der Mathematiker und Logiker Lewis Carroll nicht müde, das Motiv der spiegelbildlichen Umkehrung zu variieren, so läßt der Poet Christian Morgenstern den Galgenliederhelden Korf mit Hilfe einer Zauberin einen Kräuterschaumplaneten, eine durchsichtige Spiegelkugel, blasen. 2 2 In dem Spiegel aber ihrer Runde schaut v. Korf beglückt, was ihm je in jeder guten Stunde durch den Sinn gerückt: Seine Welt erblickt mit o f f n e m Munde Korf entzückt. 2 3 17 18 19 20 21

Unter Spiegelbildern, VIII, 139. T L G , Carroll, 185 f f . A . a . O . , 147 f f . Vgl. G a r d n e r , 1970, 181 und 231. A . a . O . , 132. A . a . O . , 126. — Carroll greift diesen " J a b b e r w o c k y " - E i n f a l l wiederholt a u f , um an seine kleinen Freundinnen " L o o k i n g - G l a s s " - B r i e f e , Briefe in Spiegelschrift, zu schreiben. (Vgl. Fisher, 72 f., mit einem Brief an Edith Hall). Morgenstern, der das Motiv des Spiegels auch a u ß e r h a l b der Galgenliederwelt nicht selten verwandte (Kosmogonie, In P h a n t a ' s Schloß, 43; Der z e r t r ü m m e r t e Spiegel, In P h a n t a ' s Schloß 57. An einen ernsten Gelehrten, E p i g r a m m e u n d Sprüche, 112, 1902; Inmitten der großen Stadt, Ich und die Welt, 32; S t u f e n , 217, 1896; Mensch W a n d e r e r , 24, 1893), unterbreitet im Jan u a r 1910 seinem Berliner Verleger Cassirer den Vorschlag, " d i e Gedichte in SpiegelDruck drucken zu lassen. Mit einem beigegebenen Spiegel (oder o h n e d a s ) . " (Briefe, 392). Gemeint sind die Galgenlieder. 22 Vgl. S. 56 f f . 23 Korfs Verzauberung, VIII, 39.

Zwei Motivvergleiche

227

Die " W e l t " , welche Korf dort erblickt, ist eine Spiegel-Welt, aber nicht jene Carrolls. "Through the Looking-Glass" mag befremden und unheimlich sein, Korfs Spiegelkugel ist wahrhaft magisch. "Töne, wie aus ferner Hirtenschalme, dringen sanft hervor". 2 4 Konnte die kleine träumende Alice über einen Kamin durch einen Wohnzimmerspiegel steigen, Korf ergeht es anders: Es erfaßt ihn was an seiner Bluse und entführt ihn fort, führt ihn fort aus Odeladeluse nach dem neuen Ort... 2 5 Palmström sieht die Dinge gern im Spiegel, und zumal ergötzt ihn das Gewölke leichten Dampfs in dem kristallnen Grunde. Und ihm schwant davor von Majas flügel — hafter Art, und vor dem Schalk der Schälke löst sich die Welt zum — Atem eines - Mundes —. 2B Auch Alice sieht die Dinge gern im Spiegel, und sie spekuliert: Brennt das Kaminfeuer auch jenseits des Spiegels, wird "Kitty", die Katze, dort Milch bekommen? 2 7 Wie "wirklich" also sind Spiegelbilder? Auch ihr schwant etwas von " M a j a " , dem Trugbild der Erscheinungswelt, doch nur unschuldig geradeheraus, weder heiter reflektiert noch nachdenklich artikuliert. Alice ist ein Kind, Palmström aber der Schalk der Schälke. Christian Morgenstern und Lewis Carroll thematisieren beide Majas flügelhafte Art, sehr ähnlich und doch — anders: Menschen stehn vor einem Haus, ~ nein, nicht Menschen, — Bäume. Menschen, folgert Otto draus, sind drum nichts als — Träume. Alles ist vielleicht nicht klar, nichts vielleicht erklärlich, und somit, was ist, wird, war, schlimmstenfalls entbehrlich. 28

24 25 26 27 28

Ebda. Ebda. Spekulativ, VIII, 66. TLG, Carroll, 120. Täuschung, VIII, 128.

Die Welt des Nonsense

228

He thought he saw an Elephant, That practised on a fife: He looked again, and found it was A letter from his wife. " A t length I realise" he said, "The bitterness of Life!" 2 9 Wie erklärlich sind dieses Galgenlied und " T h e Mad Gardener's Song", dessen erste Strophe hier wiedergegeben ist? Die Lieder berichten von Illusionen. Bäume werden für Menschen gehalten, ein Brief für einen Elefanten. Die Dinge sind nicht so, wie sie scheinen. Beiden Liedern ist eine besondere Komik eigen. " T h e Mad Gardener's Song" ist komisch, weil die Bilder eines Flöte spielenden Elefanten und eines Briefes zu diskrepant sind, um verwechselt werden zu können, und weil aus dieser Verwechselung unangemessen und ohne erkennbare Ableitung gefolgert wird, daß das Leben bitter sei. Daß "nichts vielleicht erklärlich" ist, ist wegen Otto komisch. Bäume in einiger Entfernung mit Menschen zu verwechseln, ist nicht unwahrscheinlich, und wenn es geschieht, dann läßt sich auch metaphorisch sinnieren: Menschen sind nichts als — Träume. Mit dem altdeutschen, handfesten, gar nicht traumhaften Namen des Sinnierenden aber, dessen Auftreten isoliert und einmalig bleibt, wird diese Weisheit in der ersten Strophe ironisiert. Kein Korf, den es an seiner Bluse faßt, kein Palmström, Schalk und Schälke, und kein Poet als " I c h " , nein — Otto folgert daraus. Ironisiert wird sie auch mit der zweiten Strophe, einer ebenso nichtssagenden, aber dennoch ebenso begründbaren, einer knapp am Unsinn vorbeigedichteten Sentenz. Ohne zu spotten, belächelt der Galgenliederdichter einen oberflächlichen Tiefsinn, der zur Floskel wird. Novalis konnte noch den unverbrauchten Vergleich notieren: "Das Leben ein T r a u m " . 3 0 Otto kann dieses zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht mehr, denn der Vergleich ist längst verbraucht. Weil aber "Otto"-sein menschlich ist, spottet Morgenstern nicht: Mit der Zeile "Life, what is it but a dream?" schließt Carroll "Through the Looking-Glass". 3 1 Beruht die Komik des " M a d Gardener's Song" auf einer Unsinn stiftenden Diskrepanz innerhalb des "wörtlich Gesagten", so entwickelt sich die Komik des Galgenliedes als "sinnvolle" Ironie zwischen dem "wörtlich Gesagten" und dem "eigentlich Gemeinten". 3 2 Diese Ironie 29 30 31 32

SB, Carroll, 408. Novalis, II, 403. TLG, Carroll, 219. Vgl. S. 114 ff.

Zwei Motivvergleiche

229

setzt voraus, daß Ottos Täuschung durch Majas flügelhafte Art, sein Schluß daraus und die Sentenz darauf sinnvoll aus- und aufeinander folgen. Die Erlebnisse des Gärtners, der nicht nur einen Brief für einen Elefanten, sondern auch ein Mädchen für einen Büffel hält, 33 einen Mittwoch für eine Klapperschlange,34 ein Nilpferd für einen Bankangestellten, 35 ein Pille für ein Känguruh 38 ... bleiben ohne Sinn. Auch die Erklärung, der Gärtner sei verrückt, hilft wenig weiter, denn, so die CheshireKatze im "Wonderland" zu Alice: "We're all mad here. I'm mad. You're mad." 3 7 Mit den Motivvergleichen "Unter Zeiten" und "Unter Spiegelbildern" kann in die Fragestellung der Untersuchung eingeführt werden: Die Zeit wird personifiziert und manipuliert, wird vorwärts und rückwärts gestellt und in einzelnen Zeitpunkten festgehalten, betäubt, belebt und gelagert. Mit der "Zeit" wird "gespielt". Wie unterscheiden sich das "Spiel" der Galgenlieder und das "Spiel" des viktorianischen Nonsense? Mit dem "Spiegel" wird gespielt, Spiegelbilder werden von ihren Objekten getrennt und verselbständigt, Spiegelvorgänge vielfältig gestaltet. Mit dem "Spiegel" aber werden auch Fragen gestellt. Wie wirklich sind seine Bilder, wie wirklich Erscheinungen überhaupt? Wie "sinnvoll" wird gefragt, wie "sinnvoll" geantwortet? Wie unterscheiden sich der "Sinn" der Galgenlieder und der "Sinn" des viktorianischen Nonsense? Wenn Spiegelbilder leben, wenn Uhren und Zeiten denken und fühlen und sprechen, grinsen und Sekt miteinander trinken, dann entsteht eine neue "Wirklichkeit". Neue Lebewesen eigener Art bilden eine eigene "Natur", in welcher eigene Gesetze gelten. Wie unterscheiden sich die "Natur" der Galgenlieder und die "Natur" des viktorianischen Nonsense? Der erste Vergleich beider Welten aber wählt zum Tertium comparationis die Grundlage, auf der allein mit Zeiten und Spiegelbildern gespielt, gefragt, gefolgert und geschaffen wird: die Sprache.

33 34 35 36 37

SB, Carroll, 413. A.a.O., 415. A.a.O., 418. A.a.O., 423. AIW, Carroll, 65.

II. EIN SPRACHVERGLEICH l. Just then a Fawn came wandering by: it looked at Alice with its large gentle eyes, but didn't seem at all frightened. "Here then! Here then!" Alice said, as she held out her hand and tried to stroke it; but it only started back a little, and then stood looking at her again. "What do you call yourself?" the Fawn said at last. Such a sweet voice it had! "I wish I knew!" thought poor Alice. She answered, rather sadly, "Nothing just now." "Think again", it said: "that wo'n't do." Alice thought, but nothing came of it. "Please, would you tell me what you call yourself?" she said timidly. "I think that might help a little." "I'll tell you, if you'll come a little further on", the Fawn said. "I ca'n't remember here." So they walked on together through the wood, Alice with her arms clasped lovingly round the soft neck of the Fawn, till they came out into another open field, and here the Fawn gave a sudden bound into the air, and shook itself free from Alice's arm. "I'm a Fawn!" it cried out in a voice of delight. "And, dear me! you're a human child!" A sudden look of alarm came into its beautiful brown eyes, and in another moment it had darted away at full speed.1 Das Reh und Alice begegnen sich in einem Wald, wo Dinge namenlos sind, "where things have no names", 2 und veranschaulichen mit ihrer Begegnung eine sprachtheoretische Überlegung: Verlieren Dinge ihre Namen — ein Reh den Gattungsnamen "fawn", Alice neben "human child" auch ihren Eigennamen —, so bleiben sie — dasselbe Tier, dieselbe Person — doch dieselben. Ein Name ist nicht ein Bestandteil des Dinges selbst, sondern ein ihm zugeordnetes Zeichen. Und die Zuordnung der Zeichen zu den Dingen, deren Bezeichnung oder Benennung ist es, die im Wald hinter den Spiegeln unterbleibt. Das Reh und Alice sind dort wie alle Dinge zeichenlos, weil beide die Fähigkeit des Bezeichnens verloren. 1 2

TLG, Carroll, 145 f. A.a.O., 144.

Ein Sprachvergleich

231

Die Folge: Alice und das denkende, sprechende Reh verlieren zum einen auch ihre persönliche Identität, zum anderen geht damit eine Auflösung der Beziehung beider zueinander einher. Der Mensch ist kein möglicher Jäger mehr, das Reh kein mögliches Wildbret, und darum braucht dieses sich nicht zu fürchten. Erst außerhalb des Waldes — die Zeichen kehren zurück und werden zugeordnet — restituieren sich Identitäten und Beziehungen. Umgehend reagiert das Reh: " A sudden look of alarm (...), and (...) away at füll speed." 3 Die Westküsten Die Westküsten traten eines Tages zusammen und erklärten, sie seien keine Westküsten, weder Ostküsten noch Westküsten — " d a ß sie nicht wüßten!" Sie wollten wieder ihre Freiheit haben und für immer das Joch des Namens abschütteln, womit eine Horde von Menschenbütteln sich angemaßt habe, sie zu begaben. Doch wie sich befreien, wie sich erretten aus diesen widerwärtigen Ketten? "Ihr Westküsten", fing eine an zu spotten, "gedenkt ihr den Menschen etwa auszurotten?" " U n d wenn schon!" rief eine andre schrill. "Wenn ich seine Magd nicht mehr heißen will?" — " D a n n blieben aber immer noch die Atlanten", — meinte eine von den asiatischen Tanten. Schließlich, wie immer in solchen Fällen, tat man eine Resolution aufstellen. Fünfhundert Tintenfische wurden aufgetrieben, und mit ihnen wurde folgendes geschrieben: Wir Westküsten erklären hiermit einstimmig, daß es uns nicht gibt, und zeichnen hochachtungsvoll: Die vereinigten Westküsten der Erde. — Und nun wollte man, daß dies verbreitet werde. Sie riefen den Walfisch, doch der tats nicht achten; Sie riefen die Möwen, doch die Möwen lachten; sie riefen die Wolke, doch die vernahm nicht; sie riefen ich weiß nicht was, doch ich weiß nicht was kam nicht.

3

Gründlicher analysiert wird diese E p i s o d e v o n S u t h e r l a n d , 132 f f .

232

Die Welt des Nonsense

" J a , wieso denn, wieso?" schrie die Küste von Ekuador: "Wärst du etwa kein Walfisch, du grober T o r ? " "Sehr richtig", sagte der Walfisch mit vollkommener Ruh: "Dein Denken, liebe Küste, dein Denken macht mich erst dazu." Da wars den Küsten, als sähn sie sich im Spiegel: ganz seltsam erschien ihnen plötzlich ihr Gewiegel. Still schwammen sie heim, eine jede nach ihrem Land. Und die Resolution, die blieb unversandt. 4 Die vereinigten Westküsten der Erde beziehen ihren Standpunkt: Weil der Name "Westküste" kein Bestandteil ihrer selbst ist, sondern nur ein sie bezeichnendes Zeichen, und weil nicht sie selbst, die Westküsten, es waren, die in einer freien Entscheidung sich als "Westküsten" bezeichneten, sondern vielmehr die menschliche Gesellschaft ihnen dieses Zeichen willkürlich zuordnete, beschließen sie, die vereinigten Westküsten der Erde, die Trennung von ihrem Namen. Ihr Dichter erläutert ihren Standpunkt: " O f t überfällt dich plötzlich eine heftige Verwunderung über ein Wort: Blitzartig erhellt sich dir die völlige Willkür der Sprache, in welcher unsere Welt begriffen liegt, und somit die Willkür dieses unseres Weltbegriffes überhaupt." 9 Warum scheitert die legitim scheinende Emanzipationsbewegung der vereinigten Westküsten? — Weil die willkürliche Bestimmung und Zuordnung sprachlicher Zeichen kein Mangel ist, der behoben werden könnte, sondern zu deren Wesen zählt. Zürnt die Küste von Ekuador, weil man ihren Entschluß, sich der "Westküste" zu entziehen, nicht beachtet, dann antwortet — spiegelbildlich und stellvertretend — der Walfisch korrekt: mein Denken, liebe Küste, mein Denken macht dich erst dazu. Nur sein Denken kann ihr den Namen auch wieder entziehen. Nur der menschliche Geist schafft Namen, und nur der menschliche Geist schafft sie auch ab. Morgenstern 1907: Geist ist nur heißen; Heißt, so schrieb sich besser Geist, Der Heißt heißt alle Dinge ...6

4 5 6

VI, 56 f. Stufen, 112, 1896. Der Sprachkritiker, Mensch W a n d e r e r , 164, 1907. Christian Morgenstern lernte seinen Nominalismus bei d e m Sprachphilosophen Fritz M a u t h n e r . Breits 1918 gelang es Leo Spitzer eindrucksvoll, diesen E i n f l u ß allein mit Methoden der Philologie zu erschließen (108 f f . ) . Die Veröffentlichung der " S t u f e n " bestätigte ihn d a r i n : Morgenstern hatte M a u t h n e r genau gelesen und sich angeeignet. M a u t h n e r s Rolle innerhalb der Tradition des " S p r a c h s p i e l s " stellt Liede dar (254 ff.), seinen E i n f l u ß auf Morgenstern ebenfalls (328 f f . ) .

Ein Sprachvergleich

233

Die Westküsten sind Toren. Nicht nur, daß sie menschlichen Zeichen und Bezeichnungen immer ausgeliefert bleiben und dieses nicht wissen. Sie erkennen auch nicht die Folgen, zu denen ein Aufenthalt im Wald hinter den Spiegeln, das Vergessen der "Westküsten" durch den Menschen, führen müßte. Sie übersehen, daß eine Befreiung vom Joch ihres Zeichens zugleich auch den Verlust ihrer eigenen Identität bedeuten muß. Eine Resolution, in welcher die beschlossene Abschaffung eines Zeichens mitgeteilt wird, mit eben diesem Zeichen zu unterzeichnen, ist ein Widerspruch. Die Unterzeichner sind nicht mehr "die vereinigten Westküsten der Erde". Sie mißachten das System der Beziehungen, das sie als "Westküsten" mittragen. Verlieren Küsten ihren Namen und ihre Identität, laufen auch die Meere Gefahr, vergessen zu werden und mit ihnen Walfisch, Möwen, Wolke und "ich weiß nicht was". Deren gemeinsames Verhalten, die Westküsten zu ignorieren, ist darum folgerichtig. Die Resolution muß unversandt bleiben. Lewis Carroll faßte 1871 diese Gründe zusammen und pointierte sie in der Begegnung Alices mit einem Reh im Wald. 1876, noch immer drei Jahrzehnte vor Erscheinen der dritten Galgenlieder-Auflage, dichtet er den Wunsch der Westküsten, ihren Namen zu verlieren, zu einem anderen Ende: Eine kleine Jagdgesellschaft sticht in See. Ihr Kapitän ist der "Bellman", ihr Vorhaben: "the Hunting of the Snark". Von der Methode, den Kurs des Schiffes zu bestimmten, besitzt der "Bellmann" eigene Vorstellungen: "What's the good of Mercator's North Poles and Equators. Tropics, Zones and Meridian Lines?" So the Bellman would cry: and the crew would reply "They are merely conventional signs!" 7 "Bellman" und Mannschaft erkennen die Konventionalität von Zeichen und fordern die Möglichkeit, sich dieser Konvention verweigern zu können. Denn ein Zeichensystem, das im 16. Jahrhundert ein Gerhardus Mercator entwarf, um damit die Erdkugel darzustellen, braucht, auch wenn andere sich danach richten, nicht bindend zu sein. Die Seekarte, nach welcher der "Bellman" das Schiff — erfolgreich — steuerte, zeigt nicht einen Kontinent, nicht ein Land, zeigt keine Meere, Seen, und Flüsse, zeigt keine Küsten. Sie verzichtet auf Zeichen. Des "Bellman" Seekarte erlöst die vereinigten Westküsten der Erde von ihrem Schicksal, durch Zeichen bezeichnet, durch Namen benannt zu sein: 7

Snark, Carroll, 738.

234

Die Welt des Nonsense

"Other maps are such shapes with their islands and capes! But we've got our brave Captain to t h a n k " (So the crew would protest) "that he's bought us the best — A perfect and absolute blank!" 8 Zusammenfassung: Christian Morgenstern und Lewis Carroll thematisieren beide das Verhältnis der Dinge zu den sie bezeichnenden Zeichen. Beiden ist die Überzeugung gemeinsam, daß Namen nicht Bestandteil der Dinge selbst, sondern Ergebnisse von Zuordnungen sind. Beide erwägen die Möglichkeit, daß Dinge und die sie bezeichnenden Zeichen sich voneinander trennen. Die Möglichkeit, einem Ding kein Zeichen zuzuordnen, führten beide vor. Wenn aber Dinge und Zeichen grundsätzlich trennbar sind, wird mit zwei weiteren Möglichkeiten zu rechnen sein: 2) Ein Zeichen kann keinem Ding zugeordnet werden; es bleibt ohne Bedeutung. 3) Einem Ding wird ein anderes Zeichen oder einem Zeichen ein anderes Ding zugeordnet; die Zeichen erhalten neue Bedeutungen. 2.

Jabberwocky 'Twas brillig, and the slithy toves Did gyre and gimble in the wabe: All mimsy were the borogoves. And the mome raths outgrabe. "Beware the Jabberwock, my son! The jaws that bite, the claws that catch! Beware the Jubjub bird, and shun The frumious Bandersnatch!" He took his vorpal sword in hand: Long time the manxome foe he sought — So rested he by the Tumtum tree, And stood awhile in thought. And, as in uffish thought he stood, The Jabberwock, with eyes of flame, Came whiffling through the tulgey wood, And burbled as it came! One, two! One, two! And through and through The vorpal blade went snicker-snack! He left it dead, and with its head He went galumphing back. " A n d hast thou slain the Jabberwock? Come to my arms, my beamish boy! 8

Ebda.

Ein Sprachvergleich

235

O frabjous day! Callooh! Callay!" He chortled in his joy. 'Twas brillig, and the slithy toves Did gyre and gimble in the wabe: All mismy were the borogoves, And the mome raths outgrabe. 9 Fest steht folgendes: Ein Vater warnt seinen Sohn vor Jabberwock, Bandersnatch und einem Jubjub-Vogel. Der Sohn ergreift ein Schwert und begibt sich auf eine lange Suche, und als er gedankenversunken an einem Baume rastet, erscheint der Jabberwock, und der Sohn tötet diesen mit dem Schwert, und mit dem abgetrennten Jabberwock-Kopf kehrt er zum Vater zurück. Darüber freut sich dieser. Der Jabberwock aber war ein beißendes, krallendes, feurig blickendes Ungeheuer, das Carrolls Illustrator John Tenniel kongenial zeichnete und dessen Aussehen darum kein Geheimnis ist. 10 "Jabberwocky" erzählt eine jener traditionellen Lindwurm-, Drachen- und Helden-, Ritter-Begebenheiten. "Jabberwocky" ist ein nicht geheuerliches Gedicht, denn hinter dem Skelett der Handlung bleibt alles andere dunkel, "— for it's all in some language I don't know". 1 1 Die erste — und letzte — Strophe ist soweit "verständlich": "Twas ... and the ... did ... and ... in the ... all... were the ... and the ..." Die Lücken des Nichtssagenden füllen Worte unbekannter Bedeutung. Zweimal unternahm Carroll den Versuch, diese erste und letzte Strophe zu erklären: "Jabberwocky", das gleich zu Beginn im ersten der zwölf "Through the Looking-Glass"-Kapitel vorgestellt und dann zunächst vergessen wird, erfährt in der Mitte der Erzählung, im sechsten Kapitel, eine Interpretation durch Humpty Dumpty. 1855, siebzehn Jahre zuvor, veröffentlichte der spätere Alice-Autor diese Strophe in seiner kleinen Privat-Zeitschrift "Misch-Masch" und interpretierte sie dort selbst. Beide, Humpty Dumpty und Carroll, suchen den Ausweg in der Definition der Unbekannten. • "brillig":

"slithy":

9 10 11 12 13

TLG, Carroll, 126 ff. A.a.O., 127. A.a.O., 126. A.a.O., 175. Ebda.

four o'clock in the afternoon — the time when you begin broiling things for dinner. 12 lithe and slimy. 13

236

Die Welt des Nonsense

"toves":

"gimble"

something like badgers — they're something like lizards — and they're something like corkscrews. (...) Also they make their nests under sun-dials — also they live on cheese. 15 " t o make holes like a gimlet. 14

Diese vier Definitionen Humpty Dumptys traf Carroll — nur leicht modifiziert — bereits 1855. Ähnlich definieren sie: "outgrabe" Humpty Dumpty: "outgribing" is something between bellowing and whistling, with a kind of sneeze in the middle. 16 Carroll: past tense of the verb to outgribe (it is connected with the old verb to grike or shrike, from which are derived "shriek" and "creak") "squeaked". 1 7 "borogove" nach Humpty Dumpty: a thin shabby-looking bird with its feathers sticking out all round — something like a live mop. 1 8 Carroll: an extinct kind of Parrot. They had no wings, beaks turned up, and made their nests under sundials; lived on veal. 19 " m i m s y " nach Humpty Dumpty: flimsy and miserable. 20 Carroll: (whence mimserable and miserable) "unhappy".21 Sie divergieren erheblich mit "gyre". Humpty Dumpty: to go round and round like a gyroscope. 22 Carroll: verb (derived from gyaour or giaour, " a dog") " t o scratch like a dog". 2 3 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23

Ebda. Ebda. A.a.O., 176. Stanza of Anglo-Saxon Poetry, Carroll 240. TLG, Carroll, 175. Stanza of Anglo- Saxon Poetry, Carroll, 239. TLG, Carroll, 175. Stanza of Anglo-Saxon Poetry, Carroll, 239. TLG, Carroll, 175. Stanza of Anglo-Saxon Poetry, Carroll, 239.

Ein Sprachvergleich

237

"wabe" nach Humpty Dumpty: the grass-plot round a sun-dial. (...) It's called "wabe" (...) because it goes a long way before it and a long way behind it. 24 Carroll: (derived from the verb to swab or soak) "the side of the hill" (from its being soaked by the rain). 25 "mome" nach Humpty Dumpty: short for "from home" — meaning that they'd lost their way. 2 ' Carroll: (hence solemome, solemone, and solemn) "grave". 27 "rath" nach Humpty Dumpty: a sort of green pig.28 Carroll: A species of land turtle. Head erect, mouth like a shark, the front fore legs curved out so that the animal walked on his knees; smooth green body; lived on swallows and oysters.29 Das Wortmaterial läßt zwei Versionen der Strophen zu: It was evening, and the smooth active badgers Were going round and round boring holes in the grass-plot: All flimsy and miserable were the thin shabby-looking birds with their feathers sticking out all round, And the green pigs that were away from home having lost their way made noises which sounded like something between bellowing and whistling. Oder, von Carroll selbst rekonstruiert: It was evening, and the smooth active badgers were scratching and boring holes in the hill-side, all unhappy were the parrots, and the grave turtles squeaked out. 30 Welche Version ist richtig oder die richtigere?

24 25 26 27 28 29 30

TLG, Carroll, 175. Stanza of Anglo-Saxon Poetry, Carroll, 239. TLG, Carroll, 176. Stanza of Anglo-Saxon Poetry, Carroll, 239. TLG, Carroll, 176. Stanza of Anglo-Saxon Poetry, Carroll, 240. Ebda.

238

Die Welt des Nonsense

Im Sommer 1874 erschien in Bombay in der " T i m e s of I n d i a " das Gedicht " T h e C u m m e r b u n d " . Autor: Edward Lear. Die erste und die vierte der fünf Strophen lauten: I. She sate upon her Dobie To watch the Evening Star. And all the P u n k a h s as they passed, Cried, " M y ! how fair you a r e ! " Around her bower, with quivering leaves, The tall Kamsamahs grew, And Kitmutgars in wild festoons Hung down f r o m Tchokis blue.

IV. She sate upon her Dobie. — She heard the Nimmak hum, — When all at once a cry arose, — " T h e C u m m e r b u n d is c o m e ! " In vain she fled: — with open jaws The angry monster followed, And so, (before assistance came,) That Lady Fair was swollowed. 3 1 Dobie, P u n k a h s , Kamsamahs, Kitmutgars, Tchokis, N i m m a k . . . bedeuten etwas. Ein " D o b i e " ist ein Wäschemann, ein " P u n k a h " ein Fächer, ein " K a m s a m a h " ein Butler, ein " K i t m u t g a r " ein Diener, ein " T c h o k i " eine Zollstation, und " N u m a c k " ( " N i m m a k " ) ist Salz. Sie bedeuten all dieses in der kolonialen indisch-englischen Mischsprache. 3 2 Edward Lear aber führt keinen Humpty Dumpty als Übersetzer und Interpreten ein, und kaum ein Herausgeber seines Nonsense merkt die Bedeutung des " D o b i e " , " P u n k a h s " etc. an. Daß die C u m m e r b u n d - D a m e auf ihrem Wäschemann saß, als die Fächer an ihr vorüberzogen und die langen Butler immer noch wuchsen, genoß sehr wahrscheinlich nur ein begrenztes Publikum: der kolonial gebildete Le31 The Complete Nonsense of Edward Lear, 255 f.; im folgenden zitiert als: Lear. 32 Nach Lear/Fischer, 50. Vgl. Petzold, 46. — Das von dem Colonel Yule und dem Akademiker Burnell 1886 herausgegebene "Hobson-Jobson" ("A Glossary of Colloquial Anglo-Indian Words and Phrases, and of Kindred Terms, Etymological, Historical, Geographical and Discursive") bestätigt leicht abgewandelt die Reihe als: Dhobie, Punkahs, Khansamas, Kitmutgars, Chokis. Nimmak/Numack enthält es nicht.

Ein Sprachvergleich

239

serkreis oder potentielle Leserkreis der "Times of India". 3 3 Den meisten Lesern werden diese Worte bedeutungslos geblieben sein und auch bleiben. Ist "The Cummerbund" eine mißverstandene Ballade? Gruselett Der Flügelflagel gaustert durchs Wiruwaruwolz, die rote Fingur plaustert, und grausig gutzt der Golz. 34 These: Lewis Carrolls "Jabberwocky" und Edward Lears "The Cummerbund" sind "Gruselette". Die Übersetzungsversion der ersten und letzten JabberwockyStrophe, die Humpty Dumpty und Carroll behaupten, sind gleichermaßen ebensowenig "richtig" wie "falsch". Sie sind austauschbar, nicht nur untereinander, sondern auch mit möglichen anderen Deutungen. "Brillig, slithy, toves, gyre, gimble, wabe, mimsy, borogoves, mome, raths und outgrabe" bedeuten alles — oder doch alles, was sich auf irgendeine Weise ableitend begründen läßt —, und sie bedeuten damit nichts. Der Grundriß der "Jabberwocky"-Handlung ist gesichert. Alice rekapituliert: "Somebody killed something: that's clear, at any rate." 3 5 Im übrigen aber gilt: "Somehow it seems to fill my head with ideas — only I don't exactly know what they are." 3 6 Nicht durch Humpty Dumpty und nicht mit seiner Misch-Masch-Philologie, sondern mit Hilfe der verwirrten Alice klärt Carroll hier den Leser über den wahren Sinn der Neologismen auf. Sie bedeuten nichts, sie füllen den Kopf mit Vorstellungen, sie sind auf Assoziationen aus. " R a t h " mag ein grünes Schwein und mag ebensogut eine würdige Schildkröte sein, es ist vor allem und zuerst ein vielfältig schillerndes sprachliches Stück Schmuck und leistet als solches seinen Beitrag zur Entstehung der "Jabberwocky"-Atmosphäre. Sollten einem des Indischen unkundigen "Cummerbund"-Leser Wäschemann und Fächer, Butler, Diener, Zollstation und Salz entgehen, und sollte sich für ihn der gesicherte Inhalt der Ballade auf "Something 33 Petzold, welchem der Hinweis auf Grete Fischers Lear-Übersetzung zu verdanken ist, folgert: " D i e T a t s a c h e , d a ß in den englischen A u s g a b e n , die dem Verfasser zugänglich w a r e n , auf die Bedeutung dieser W ö r t e r nicht hingewiesen wird, k a n n bedeuten, d a ß ihre Kenntnis als bekannt vorausgesetzt wird, oder a u c h , d a ß m a n diesen Nebensinn ü b e r h a u p t nicht bemerkt h a t . " (Petzold, 46). Weniger vorsichtig, halte ich die zweite Möglichkeit f ü r die wahrscheinlichere. 34 VI, 132. 35 T L G , Carroll, 128. 36 E b d a .

240

Die Welt des Nonsense

killed somebody" reduzieren, so wird er sie dennoch "richtig" verstehen können. Dobie, Punkahs, Kamsamahs, Kitmutgars, Tchokis, Nimmak dürfen unergründlich bleiben, ja sie müssen es sein, um jene exotisch verwunschene Atmosphäre zu schaffen, die den Titel des Gedichts — " A n Indian P o e m " — rechtfertigt und für den Auftritt eines Ungeheuers, das eine edle Dame verschlucken wird, den geeigneten Rahmen stellt. Auch "The Cummerbund" zielt auf ein "assoziatives" Verständnis. Daß der Name des Titelhelden Cummerbund "Schärpe" bedeutet, ist dafür ohne Belang. Niemand tötet irgendjemanden im "Gruselett". 3 7 Doch auch der "Flügelflagel", die " F i n g u r " und der " G o l z " sind nicht geheuer und darin artverwandt den "Jubjub bird", "Bandersnatch", "Jabberwock" und " C u m m e r b u n d " . 3 8 Unbekannt sind das "Wiruwaruwolz" und das Verbum "gutzen". Nach ihren Bedeutungen zu fragen, ist nicht mehr notwendig. Der Galgenliederdichter nimmt die Antwort mit der Überschrift des Vierzeilers vorweg: Das "Gruseln" ist sein Ziel. Und um dieses Ziel zu erreichen, greift er auf jenes wirkungsvolle Gruselinstrument der Poesie zurück, dessen sich auch Carroll und Lear bedienten: den Klang der Worte. Ihrer Bedeutung bedarf es nicht. Im Gegenteil: Ein unbekanntes Wort ist ein Geheimnis, und ein unbekanntes Wort, mit welchem der Höhrer Unheilvolles assoziiert, ist ein unheimliches Geheimnis und kann zum "Gruseln" sich besser eignen als ein Wort, dessen Bedeutung man kennt. In "Jabberwocky", im " C u m m e r b u n d " und "Gruselett" dichten Carroll, Lear und Morgenstern mit Worten, nicht mit deren Bedeutung. Anders: Die Gedichte verdanken ihre Eigenart dem Primat der Worte über die Bedeutungen. Führten der Wald hinter den Spiegeln und die vereinigten Westküsten der Erde grundsätzlich in den Gedanken ein, daß Dinge und die sie bezeichnenden Zeichen sich trennen können, und legten darin auch die Möglichkeit an, daß Zeichen nicht mehr zugeordnet werden und ohne feste Bedeutung bleiben, so verwirklichen die drei interpretierten Gedichte diese Möglichkeit. Warum sind "Jabberwocky" und "The Cummerbund" "Gruselette"? Weil sie ebensowenig wie dieses gruselig, sondern komisch sind. Sie sind nicht das Ergebnis harter literarischer Gruselarbeit,

37 Vgl. auch Lissau, 210 f f . 38 Diese A r t v e r w a n d t s c h a f t wird den Carroll-Übersetzer Christian Enzensberger veranlaßt h a b e n , " J u b j u b b i r d " mit H i l f e eines leicht abgewandelten Morgensternschen "Fliegelflagel" wiederzugeben. (Alice hinter den Spiegeln, 27). Im übirgen schuf der Galgenliederdichter mit der " T a g t i g a l l " einen eigenen Jubjub-Vogel, denn der Ruf der Nachtigall wird englisch mit " j u g j u g " wiedergegeben.

Ein Sprachvergleich

241

wie sie Schauerromantik und " G o t h i c Novel" zu leisten hatten. Sie sind " T ä n z e " zur traditionellen Grusel-Musik der Sprache: " G r u s e l e t t e " eben. Humorvoll teilen sie mit: "Fürchtet euch n i c h t " . 3. Der Gingganz Ein Stiefel wandern und sein Knecht von Knickebühl gen Entenbrecht. Urplötzlich auf dem Felde drauß begehrt der Stiefel: " Z i e h mich a u s ! " Der Knecht drauf: " E s ist nicht an dem; doch sagt mir, lieber Herre, — ! : w e m ? " Dem Stiefel gibt es einen Ruck: "Fürwahr, beim heiligen Nepomuk, ich G I N G G A N Z in Gedanken hin... Du weißt, daß ich ein andrer bin, seitdem ich meinen Herrn v e r l o r . . . " Der Knecht wirft beide Arm empor, als wollt er sagen: " L a ß doch, l a ß ! " Und weiter zieht das Paar fürbaß. 3 9 Jeremias Mueller: Verfasser hat sich erlaubt, aus dem Worte des Stiefels: " I c h ging ganz in Gedanken h i n " die Wörter "ging g a n z " herauszugreifen und, zu einem Ganzen vereinigt, zum Range eines neuen Substantivs masc. gen. (in allen Casibus unveränderlich, ohne Pluralis) zu erheben. Ein Gingganz bedeutet für ihn damit fortan ein in Gedanken Vertiefter, Verlorener, ein Zerstreuter, ein Grübler, Träumer, Sinnierer. 4 0 Christian Morgenstern: Gingganz ist einfach ein deutsches Wort für Ideologe. 4 1 Humpty Dumpty: " T h e r e ' s glory for you! " I don't know what you mean by ' g l o r y ' " , Alice said. Humpty Dumpty smiled contemptuously. " O f course you don't — tili I teil

39 V I , 105. 4 0 V I , 105 f. 41 Stufen, 118, 1908.

Die Welt des Nonsense

242

you. I meant 'there's a nice knock-down argument for y o u ! " ' "But 'glory' doesn't mean 'a nice knock-down argument'", Alice objected. "When / use a word", Humpty Dumpty said, in a rather scornful tone, "it means just what I choose it to mean — neither more nor less." "The question is", said Alice, "whether you can make words mean so many different things." " T h e question is", said Humpty Dumpty, "which is to be master — that's all." 4 2 Lewis Carroll: I maintain that any writer of a book is fully authorised in attaching any meaning he likes to any word or phrase he intends to use. If I find an author saying, at the beginning of his book, let it be understood that by the word " b l a c k " I shall mean "white", and by the word "white" I shall always mean " b l a c k " , I meekly accept his ruling, however injudicious I may think it. 43 Die dritte im Wald hinter den Spiegeln und in den GalgenliederWestküsten angelegte Möglichkeit, aus der Trennung der Dinge und der sie bezeichnenden Zeichen einen Wechsel der Zuordnungen , einen Bedeutungswandel der Zeichen abzuleiten, wird mit dem "Gingganz" durchgeführt. Ein Verb und ein Adverb verwandeln sich durch Kontraktion in ein Substantiv und erhalten eine neue Bedeutung. Morgensterns/Muellers Erklärung des Vorgangs ist ebenso präzis wie ihre Definition des neuen Nomens. Die Neubestimmung sprachlicher Zeichen erklären der Dichter der Galgenlieder und der Dichter der Alice-Erzählungen zu einem literarischen Grundrecht, und sie nehmen es ausdrücklich in Anspruch. In Ausübung dieses Rechts bestimmten sie "Gingganz" als Ideologen, " b l a c k " als weiß und "glory" als schlagendes Argument. Das literarische Grundrecht der Neubestimmung sprachlicher Zeichen ist eine Grundlage der Galgenlieder- und der Alice-Welten. Die Genese dieses Rechts: 1888 — No word has a meaning inseparably attached to it; a word means what the speaker intends by it, and what the hearer understands by it, and that is all. 44 1891 — My dear Mrs. Hargreaves, I should be so glad if you could, quite conveniently to yourself, look in for tea any day. You should probably prefer to bring a companion; but I must leave the choice to 42 TLG, Carroll, 174. 43 "Appendix, Addressed to Teachers", zu der "Symbolic Logic", nach Sutherland, 97. 44 The Stage and the Spirit of Reverence, Carroll, 1105.

Ein Sprachvergleich

243

you, only remarking that if your husband is here, he would be (most) very welcome. (I crossed out most because it's ambiguous; most words are, I fear.) 45 1907 — Die schlimmste Folge demokratischer Anschauungsweise ist, daß nun auch die Worte alle "gleich" gewertet werden. Und doch ist jedes Wort in dem Augenblick, wo es gedacht, gesprochen, geschrieben wird, ein Individuum für sich, und nicht einmal demselben — vor oder nachher geborenen — Wort desselben Mundes, desselben Gehirns je irgendwie gleich.48 1908 — Die gleichen Worte sind einander nicht gleich. Es gibt keine Tautologie. Sondern alles ist pro-cessus.47 1908 — Nicht einmal dasselbe Wort in deinem Munde (ist) je dasselbe.4» Ein sprachliches Zeichen ist nicht eindeutig. Die Bedeutung eines Zeichens gibt es gar nicht. Genauer ist von den Bedeutungen zu sprechen, die sich allererst im Kontext konstituieren, "in dem Augenblick, wo es gedacht, gesprochen, geschrieben wird". Mit der Veränderung des Kontextes verändert sich immer auch die Bedeutung des sprachlichen Zeichens. Da aber die Anzahl der Kontext-Variablen unendlich groß ist, wird ein Wort niemals in gleicher Bedeutung, sondern immer als "Individuum" verwandt. Als Carroll 1891 seine — seit 1880 verheiratete — Alice brieflich zum Tee bittet, wird die Individualität des Zeichens "most" zu einem Problem. Die Bedeutung dieses Adverbs ist abhängig von der Interpretation des Kontextes, in welchem der Autor des Briefes Mr. Hargreaves "most welcome" nennt. Welche Intention Carrolls läßt der Zusammenhang erkennen? Liegt eine Differenz von "Gesagtem" und "Gemeintem" vor, so daß "most" ironisch zu "deuten" ist? Die Bedeutung eines sprachlichen Zeichens wird durch Sprecher und Hörer festgelegt. Die Intention des einen und das Verständnis des anderen entscheiden darüber. Decken sich beide — bedienen sich Sprecher und Hörer identischer "Codes" —, dann gelingt mit Hilfe des Zeichens die Kommunikation seiner Bedeutung, dann "decodiert" Alice Hargreaves "most welcome", als herzliche Einladung ihres Gatten durch Caroll. Die Kommunikation gelingt nicht, wenn Sprecher-Intention und Hörer-Verständnis nicht identisch sind.

45 46 47 48

Nach Lennon, 195. Stufen, 117, Ebda. A.a.O., 282.

244

Die Welt des Nonsense

Wenn einer sagt: ich glaube dies und das, und sein Nachbar hört das, so kann das sein, als ob der eine sagte: Himalaja, und der andere hörte: Schneehaufen. 49 Und es kann sein, daß ein freundlicher Gruß mit Ekel und Abscheu empfangen wird. I meet a friend and say "Good morning!" Harmless words enough, one wouldthink. Yet possibly, in some language he and I have never heard, these words may convey utterly horrid and loathsome ideas. 50 Denn ein und demselben sprachlichen Zeichen können innerhalb verschiedener Sprachsysteme — seien es zwei verschiedene Muttersprachen oder nur verschiedene Ideolekte derselben Muttersprache — verschiedene Bedeutungen zugeordnet werden. 1907 — Worte! Worte! Wird man nie begreifen, daß Worte nur Entscheidungen sind, nicht Erkenntnisse? 51 1908 — Es gibt gar keine Worte, die bloß Worte wären. Sondern jedes Wort ist von vornherein ein — höchst individuelles — Urteil Worte sind Zeichen, die sich auf eine außersprachliche "Wirklichkeit" beziehen. Sie sind Ergebnisse eines Versuchs, diese Wirklichkeit zu beschreiben, sie sind nicht diese Wirklichkeit selbst. Sich eines sprachlichen Zeichens bedienen heißt immer auch: den Beschreibungsversuch eines Elements außersprachlicher Wirklichkeit wagen. Zeichen sind Hilfsmittel. Sie dienen neben der Repräsentation auch der Kommunikation. Referiert in einem Kommunikationsvorgang ein Sprecher auf ein Element außersprachlicher Wirklichkeit, steht er in der Notwendigkeit, ein angemessenes Zeichen zu wählen, ein Zeichen, das ihm einerseits einen hohen Grad an Wirklichkeits-Repräsentation und ihm andererseits ein hohes Maß an Verständlichkeit zu leisten verspricht. Sich eines Zeichens bedienen heißt: Entscheiden oder urteilen, daß es dieses leistet. Zusammenfassung: Wenn sprachliche Zeichen vieldeutig sind, wenn ihre Bedeutungen mit stets wechselnden Kontexten, deren Variablen unendlich viele sind, sich stets wandeln, wenn diese Bedeutungen nur durch die Intention des einzelnen Sprechers und die Rezeption des einzelnen Hörers bestimmbar, nur Individualitäten sind, wenn ein Sprecher 49 A.a.O., 117, 1907. 50 The Stage and the Spirit of Reverence, Carroll, 1105. — Daß Carroll sein Beispiel nicht allein auf das Verhältnis von Fremdsprachen zueinander bezieht — sondern etwa auch auf "Soziolekte" —, geht aus dem Zusammenhang hervor: "This thought may serve to lessen the horror of some of the language used by the lower classes." (Ebda.). 51 Stufen, 221. 52 A.a.O., 117.

Ein Sprachvergleich

245

mit der Verwendung eines sprachlichen Zeichens stets eine individuelle Entscheidung über dessen repräsentative und kommunikative Eignung trifft, eine Entscheidung, die immer wieder neu getroffen werden muß und immer wieder anders getroffen werden kann — wenn man diese Annahme zugrunde legt, dann muß daraus das Recht des Literaten abgeleitet werden können, die Bedeutung seiner Worte neu und frei zu bestimmen. Das literarische Grundrecht der Neubestimmung sprachlicher Zeichen wird mit einer Tendenz ausgeübt. In der zu Beginn dieses Abschnitts vorgestellten "Through the Looking-Glass"-Passage bestimmt Humpty Dumpty das Substantiv "glory" und verweigert ihm dabei den traditionellen Ruhm. Wofür man arbeitet, schreibt, streitet..., stirbt, wird — "that's all" — " a nice knock-down argument". 53 Der Galgenliederdichter ordnet den Schritt Humpty Dumptys ein: Unter bürgerlich verstehe ich das, worin sich der Mensch bisher geborgen gefühlt hat. Bürgerlich ist vor allem unsere Sprache: Sie zu entbürgerlichen die vornehmste Aufgabe der Zukunft. 54 Definiert ein viktorianischer Poet "glory" = " a nice knock-down argument", und nennt ein wilhelminischer Poet einen Ideologen einen "Gingganz", dann entbürgerlichen sie Worte ihrer Zeit. Oder: Lewis Carroll und Christian Morgenstern treffen in "glory" und "Ideologe" auf zwei "große" Worte ihrer Zeit, zwei in eine Hülle von Assoziationen gekleidete und mit einer Fülle von Affekten ausstaffierte Worte, beide immer wieder beschworen, bestaunt, beschimpft... Das Wort, an sich nicht eben viel, rüstete sich zum Fastnachtsspiel. Er setzte sich, das gute Wurm, Perücken auf als wie ein Turm. Sie barg die äußerst magern Hüften in märchenhaften Röckegrüften. Der Ball war voll Bewundrung toll. Der König selbst sprach: "Wundervoll!" Doch morgens krochen — flüchtig Glück! — zwei Nichtse in ihr Bett zurück. 55 53 TLG, Carroll, 174. 54 Stufen, 113, 1906. 55 Toilettenkünste, VI, 149. — "Fritz Mauthnern" widmet Morgenstern die "Toilettenkünste" zu Recht. Den Einfall des Galgenliedes verdankt er ihm. Mauthner schreibt 1906: "Der Denker unserer Zeit (...) kann kein Urteil mehr fällen, (...) ohne daß die Worte wie ein gespenstischer Verwandlungskünstler auf dem Drahtseil ein Maskenkostüm nach dem anderen abstreifen und ihn auslachen und unter den Kleidern durch das Rasseln ihrer Knochen verraten, daß sie halbverweste Gerippe sind." (Mauthner, I, 229 f.).

246

Die Welt des Nonsense

Lewis Carroll und Christian Morgenstern gelingt es, die Substantive "glory" und "Ideologe" ihrer verstaubten und doch immer aufs neue gepuderten Bedeutungs-Kostüme zu entkleiden, und sie weisen beide damit grundsätzlich auf den Umstand hin, daß Zeichen ihre Bedeutungen auch als — täuschende — Röcke und Perücken tragen können. Prägnante Beispiele einer herausgeputzten, ihr "Nichts" im oberflächlichen Schein versteckenden Sprache sind die immer wieder wiederholten Schlagworte, Redensarten, Gemeinplätze, Zitate... — Morgensterns bündiges Urteil darüber: "Zitate sind Eis für jede Stimmung." 5 6 Und "es gibt nichts Hemmenderes als Gemeinplätze und Redensarten." 5 7 Und "nichts ist so verbreitet wie das Schlagwort." 5 8 Anwendung: Entbürgerlicht werden muß das nachfragende Höflichkeitsidiom " I beg you pardon?". In "Through the Looking-Glass" geschieht das zweimal auf zweierlei Weise: " I beg you p a r d o n ? " Alice said with a puzzled air. " I ' m not offended", said Humpty Dumpty. 5 9 " I beg you pardon?" said Alice. "It isn't respectable to beg", said the King. 80 Die Technik ist bekannt, die Traumarbeit wendet sie an. Eine Redensart wird wörtlich, im "eigentlichen" Sinn genommen. Auch Carroll nutzt sie und beutet das Idiom damit aus. " P a r d o n " wird als Vergebung, " b e g " als betteln genommen, und die Gefragten reagieren aufgrund dieser Deutungen. Die "bürgerliche" Höflichkeitsformel aber, der auch Alice hier folgt, wird als vordergründig entlarvt. " I beg you p a r d o n " ist gar nicht wirklich so gemeint, sondern nur eine vorsichtig abgedämpfte Umschreibung für " w h a t ? " Ein weniger gut bekannter, aber einer der erfolgreichsten und gewiß der fleißigste Wort-Entbürgerlicher Lewis Carrolls heißt " B r u n o " . Bruno ist eine der Hauptpersonen der 1889 und 1893 erschienenen und mit Recht viel geschmähten Erzählungen "Sylvie and Bruno" und "Sylvie and Bruno Concluded". 8 1 Seine Hauptaufgabe ist es, Sprache gegen den Strich zu verstehen. Auch er bedient sich dabei mit Vorliebe der Technik des "Wörtlichnehmens". 56 57 58 59 60 61

Stufen, 118, 1908. A.a.O., 119, 1909. A.a.O., 121, 1912. TLG, Carroll, 173. A.a.O., 182. Auch wenn beide Werke, die Carroll für seine besten und wichtigsten hielt, in ihrer süßlichen "Kindlichkeit" und ambitionierten Moral wahrscheinlich nur noch von literaturwissenschaftlich motivierten Lesern durchgestanden werden, so enthalten sie doch auch einige Passagen, die Carroll " a t his best" zeigen. Nicht selten ist Bruno an diesen beteiligt.

Ein Sprachvergleich

247

Bruno unterläuft mit ihrer Hilfe das "bürgerliche" Ritual, als Besucher "angemeldet" werden zu müssen: "Give me your names." " W e ' d rather n o t ! " Bruno exclaimed (...) " W e want them ourselves." 6 2 Mit ihrer Hilfe entzieht er sich der "bürgerlichen" Respekt-Pädagogik: "When His Majesty speaks to you (...) you should prick up your ears!" Bruno looked doubtfully at Sylvie. " I ' d rather not, please", he said. " I t would h u r t . " 6 3 Und entzieht sich der "bürgerlichen" Leistungs-Moral: "You shouldn't be lazy in the morning, Bruno", said Sylvie. "Remember, it's the early bird that picks up the worm!" "It may, if it likes!" Bruno said with a slight yawn. " I don't like eating worms, one bit. I always stop in bed till the early bird has picked them u p ! " 6 4 Bruno nimmt ein Idiom, eine Redensart und ein Sprichwort bei ihren Worten und läßt sie, deren Gebrauch nur zu gewohnt und selbstverständlich war, plötzlich fragwürdig werden. Versteht man unter "Entbürgerlichung" einer Sprache die Infragestellung einer erstarrten und abgenutzten Sprache, in deren Schranken man sich zufrieden und ausgestattet mit einem robusten Bildungsbewußtsein bewegt, dann entbürgerlicht Bruno Sprache. 65 Dann entbürgerlicht auch Humpty Dumpty Sprache, wenn er das hergebrachte "birthday present" durch Schaffung eines "un-birthday present" erschüttert: " a present given when it isn't your birthday of course." 6 6

62 63 64 65

SB, Carroll, 450. Ebda. A . a . O . , 409. Eigentlicher deutscher Nachfolger Brunos ist darin natürlich Karl Valentin. Wenn Sisselberger vor Gericht erscheint, wird Sprache ebenso "entbürgerlicht": "Richter: Also, Herr Sisselberger, Sie geben zu, daß Sie Ihrem Chef, Herrn Niedermeier, 1.50 M aus der Ladenkasse entwendet haben. — Warum haben Sie ihm diesen kleinen Betrag gestohlen? Angeklagter: Weil das Sprichtwort heißt: 'Mit Kleinem fängt man an, mit Großem hört man a u f , ' " (Werke I, 104). — Und wenn Valentin einen Umzug damit beginnt, ein Nudelholz auf den Umzugswagen zu legen, dann heißt es noch einmal: "Liesl Karlstadt: Mit so einem Glump fangt auch kein Mensch zum Aufladen an, mit so kleinen Dingen schon gar nicht. Karl Valentin: Es heißt aber: 'Mit Kleinem fängt man an — . ' " (Werke 1 , 8 1 ) . — Auf die Verbindungslinien zwischen Carroll und Valentin wies 1968 Michael Schulte hin (106 f.). 66 TLG, Carroll, 173.

248

Die Welt des Nonsense

Schuf Humpty Dumpty das unbürgerliche "Un-Geburtstagsgeschenk", Christian Morgenstern gibt durch einen Ukas, eine Verordnung, die Entbürgerlichung des Fest- und Feiertages bekannt: Ukas Durch Anschlag mach ich euch bekannt: Heut ist kein Fest im deutschen Land. Drum sei der Tag für alle Zeit Zum Nichtfest-Feiertag geweiht. 67 Auch der Dichter der Galgenlieder widmet sich also — natürlich — der von ihm selbst formulierten "vornehmsten Aufgabe der Z u k u n f t " , die Möglichkeiten der Neubestimmung sprachlicher Zeichen für eine "Entbürgerlichung" der Sprache zu nutzen. Wie vielseitig seine Techniken, Sprache zu entbürgerlichen, sind, ist nun bekannt. Das Kapitel, das sie mit den Techniken der Traumsprache verglich, stellte sie vor. "Verschiebung", "Verdichtung" und "Bildlichkeit" halten ein reiches Inventar an Mitteln bereit, der Erstarrung, Abnutzung und Beschränktheit bürgerlicher Sprache entgegenzuarbeiten. "Nichtfeste" werden gefeiert. Die Nähe wird zur "Näherein".•• Das Windspiel wird zum " S t u r m s p i e l " . " "Ant(h)ologie" ist die Geschichte der " A n t e n " . 7 0 "Lärmschutz" ist ein Schutz durch Lärm. 7 1 "Lebenslauf" ist ein Lauf um das Leben 72 etc. Und "Gingganz" ist einfach ein deutsches Wort für Ideologe. 73 Zu einer letzten Folgerung führt dieser dritte Abschnitt des ersten Vergleichsversuches: Kürzlich kam ein Wort zu mir, staubig wie ein Wedel, wirr das Haar, das Auge stier, doch von Bildung edel. Als ich, wie es hieße, frug, sprach es leise: "Herzlich". Und aus seinem Munde schlug eine Lache schmerzlich.

67 68 69 70 71 72 73

VI, 145. Die Nähe, VIII, 114. Neue Bildungen, der Natur vorgeschlagen, VI, 85. Anto-Logie, VI, 65. Lärmschutz, VIII, 15. Lebens-Lauf, VI, 118. Stufen, 118, 1908.

Ein Sprachvergleich

249

Wertlos ward ich ganz und gar, riefs, ein Spiel der Spiele, Modewort mit Haut und Haar, Kaviar für zu viele. Doch ich wusch's und bot ihm Wein, gab ihm wieder Würde, und belud ein Brieflein fein mit der leichten Bürde. Schlafend hats die ganze Nacht weit weg reisen müssen. Als es morgens aufgewacht, kam ein Mund — es — küssen. 74

Einen sprachlichen Entbürgerlichungsvorgang beschreibt "Das Wörtlein". Das modische, staubige, zu oft mißbrauchte Adjektiv/Adverb "herzlich" erhält — gewaschen und mit Wein versorgt — die verlorene " W ü r d e " zurück. Christian Morgensterns und Lewis Carrolls Verhältnis zu ihren Worten ist direkt und persönlich. Es ist durch keine Konvention getrübt. Es wird von Autor zu Wort "gepflegt". Worte sind Individuen, "Person e n " mit eigenen Charakteren. "They've a temper, some of them — particularly verbs: they're the proundest — adjectives you can do anything with, but not verbs". 7 5 Worte leben. '"When I make a word do a lot of work like that', said Humpty Dumpty, 'I always pay it extra. (...) Ah, you should see 'em come round me of a Saturday night', Humpty Dumpty went on, wagging his head gravely from side to side, 'for to get their wages you know.'" 7 * Worte, edle Adjektive wie stolze Verben wie alle übrigen, haben zu tun. Sie müssen "bedeuten". Sie erhalten Lohn und bedürfen der Fürsorge. Sie haben ein Wochenende, und dann treffen sie sich zum Tanz. 7 7 Wenn Lewis Carroll und Christian Morgenstern das literarische Grundrecht ableiten, Wort-Bedeutungen neu und frei zu bestimmen, wenn beide in Ausübung dieses Rechts Worte ihrer Zeit "entbürgerlichen" und dieser Worte "persönlich" sich annehmen, dann öffnen sie damit auch literaturgeschichtlich eine Blickrichtung: Nachdem 1865 die ersten Abenteuer Alices und bevor 1905 die ersten Galgenlieder erschienen, wurde unter diesen Prämissen auch symbolistisch gedichtet. 74 75 76 77

Das Wörtlein, Mensch Wanderer, 131, 1905. TLG, Carroll, 174. A.a.O., 174 f. Toilettenkünste, VI, 149.

D i e Welt des N o n s e n s e

250

" D o n n e r un sens plus pur aux mots de la t r i b u " , 7 8 das wollte auch Mallarmé. Sprache, die " n o c h von keinem Mitteilungszweck verbraucht und noch nicht zu Klischees erstarrt ist, die dem Dichten und Denken verwehren würden, sich als etwas vollkommen Neues auszusagen", 7 * auch das wollte Mallarmé — " p e r s ö n l i c h " bis zur Hermetik. Carroll, Morgenstern und er stimmen darin überein. Nur: Avec comme pour langage Rien q u ' u n battement aux cieux Le futur vers se dégage Du logis très précieux... 8 0 dichtete 1887 sublim suggestiv und überaus anspruchsvoll ein Poet. I can explain all the poems that ever were invented — and a good many that haven't been invented just yet, 8 1 thematisierte 1871 der Mathematik-Lehrer Charles Lutwidge Dodgson die zukünftigen Verse. Und erwog Mallarmé, weil Worte ungenau, unstet und vieldeutig sind, den poetischen Verzicht auf sie: Tout devient suspens, disposition fragmentaire avec alternance et vis-à-vis, concourant au rythme total, lequel serait le poeme tu, aux blancs, 8 2 so dichtete Morgenstern des Fisches stummen " N a c h t g e s a n g " . Daß Klemperer die Welt der Galgenlieder als Parodie auf den Symbolismus interpretiert, 8 3 verwundert nicht und ist doch auf dem Hintergrund der S p r a c h - " T h e o r i e " des Galgenliederdichters wenig wahrscheinlich. Die gemeinsame "linguistische" Grundlage Mallarmés und Morgensterns ist nicht einseitig ironisch-parodistisch gebrochen: Auf ihr wird nur — seriös und komisch — unterschiedlich gedichtet. Ist Mallarmé in poetischer Seriosität "allein mit seiner S p r a c h e " 8 4 und verkörpern seine Verse "völlige E i n s a m k e i t " , 8 5 so bleibt Morgenstern selbst mit dem ebenso großen wie unverständlichen " L a l u l a " immer in humorvoller Gesellschaft. Das gilt ebenso für den zwei Jahrzehnte vor Mallarmé und vier Jahrzehnte vor Morgenstern schreibenden Nonsense-Autor Lewis Carroll. 78 79 80 81 82 83 84 85

Le t o m b e a u d ' E d g a r P o e , M a l l a r m é , 189. H . Friedrich, 116. Eventail (de M m e . Mallarmé), M a l l a r m é , 57. T L G , Carroll, 175. Mallarmé, 367. Vgl. auch S. 139 dieser Arbeit. H . Friedrich, 139. Ebda.

Ein Sprachvergleich

251

Edward Lear? Warum fehlt sein Name auch in diesem Zusammenhang? Warum wurde nur sein "Cummerbund" vorgestellt und das Feld der Sprach-'Theorie" ansonsten Carroll und Morgenstern überlassen? Im Juli 1859 — Lear ist einmal nicht "unterwegs", sondern hält sich in England auf — schreibt er an seinen Freund Fortescue: This is what I do here: — rise at 5 1/2, & after 6 or so am at work till 8, breakfast then work till 5 — occasionally obliged to leave off on account of sight, or from utter weariness, when I do a line or two of Sophocles, or compose some new song music, & at 5 dinner — to 5 3/4 at most. Then to 7 1/2 paint again, and by the time the brushes are washed it is nearly dark, & I potter out to the post with some notes I may have written, or puddle along the shingly beach till 9 1 / 2 — Then, half an hour Sophocles, & bed. This is unvaried, barring the Sundays, when I go to Hastings to dine with somebody or other. 86 Lear war Maler und ein fanatisch und oft verzweifelt arbeitender Maler. 87 Seine Briefe an Chichester Fortescue berichten immer wieder detailliert davon. Die literarische "Arbeit" — als solche verstand er sie nie — wird kaum erwähnt. Lear gestaltete Sprache, ohne die Gestaltung selbst jemals zu thematisieren oder gar zu problematisieren. Die Zusammenhänge sprachlicher Zeichen und ihrer Bedeutungen scheinen ihn nicht beschäftigt zu haben — jedenfalls ist nichts dergleichen überliefert —, ihn beschäftigten die Probleme seiner Kunst: Der hervorragende Tierzeichner Lear scheiterte immer wieder an Menschendarstellungen, 88 scheiterte immer wieder an der Übertragung seiner Landschaftsskizzen in Ölbilder, und beides wußte er. 89 Der ehemalige Zeichenlehrer der Königin Victoria besuchte als 38jähriger, vier Jahre nach Erscheinen seines "Book of Nonsense", die "Royal Academy", um an den Fehlern zu arbeiten. War Christian Morgenstern Berufsschriftsteller und konnte sich der langweilige Mathematikprofessor 90 Charles Lutwidge Dodgson nur als Alice-Autor Lewis Carroll verwirklichen — Lears Schreiben blieb immer nur Nebensache.

86 87 88 89

Letters. 146. " Y e s I certainly do hate the act of p a i n t i n g . " (Nach Davidson, 181). Vgl. Byrom, 8. Vgl. a . a . O . , 2. — " I t is true I d o n ' t expect to improve, because I am aware of my peculiar incapacities for art, mental a n d physical (...). The great secret of my constant hard work is, to prevent my going back, or at best standing quite still." (Nach Davidson, 181). 90 Vgl. P u d n e y , 51.

III. EIN SPIEL VERGLEICH

t

b

a

b

e

c

d

e

d

e

î

l

g

b

g

h

Der Galgenliederdichter Christian Morgenstern entwarf diese Schachkonstellation, und, ob er selbst oder sein Biograph Bauer sie so nannte, sie ist unterschrieben "Ein Endspielscherz". Darin angelegt sind zwei ritterlich-höfische Geschichten, in deren Mittelpunkt zwei bedrohte Könige stehen. Ihr Thema: die Courtoisie. Ihr Titel: "Ein galanter Springer. Ein edler Läufer". Die Ausführung überläßt Morgenstern Lesern und Spielern, denn er stellt die Geschichten als Rätsel. Gesucht werden " 2 Hauptlösungen im Sinne dieser Titel". 2 1 2

Abbildung nach Bauer, 1933, 212/213. Ebda.

Ein Spielvergleich

253

Christian Morgenstern erklärt als Dr. Jeremias Mueller " D a s große L a l u l a " : " M a n hat diesem Gesang bisher viel zu viel unterlegt. Er verbirgt einfach ein — Endspiel. Keiner, der Schachspieler ist, wird ihn je anders verstanden h a b e n . " 3 . Durch eine Textanalyse gewinnt Mueller die Stellung der Figuren. Hier die ersten f ü n f : Kroklokwafzi = K a 5 = (weißer) König a 5. Das Fragezeichen bedeutet: Ob die Stellung des Königs nicht auf einem andern Felde vielleicht noch stärker sein könnte? Aber sehen wir weiter. Semememi! = S e 1 = (schwarzer) Springer e 1. Das Ausrufungszeichen bedeutet: Starke Position! Bifzi, bafzi — b f 2 und b a 2 (weiß). Versteht sich von selbst. Entepente = T e 3 = (weißer) T u r m e 2. Leiolente = L e 2 = (schwarzer) Läufer e 2 . " 4 Der Alice-Dichter Lewis Caroll entwarf den folgenden Spielplan f ü r seine Erzählung " T h r o u g h the Looking-Glass" und verwandte ihn als Inhaltsverzeichnis. " T h r o u g h the Looking-Glass" ist ein episches " g r o ßes L a l u l a " : Literatur als Schachspiel entworfen. Es handelt von träumenden Königen, herrischen Königinnen, von streitbaren T ü r m e n , ... von edlen und galanten Springern. 5

RED

WHITE

White Paten (Alice) to play, and xoin in eleven moves. 3 4 5

VI, 20 VI, 21 TLG, Carroll, 114

254

Die Welt des Nonsense

1. Alice meets R. Q. 2. Alice through Q's 3d (by railway) . . . to Q's 4th (Tweedledum and Tweedledee) . . . 3. Alice meets W . Q. (ivith shawl) . . . 4. Alice to Q's 5th (shop, river, shop) 5. Alice to Q's 6th (Humpty Dumpty) 6. Alice to Q's 7th (forest) 7. W . Kt. takes R. Kt. 8. Alice to Q's 8th (coronation) . . . 9. Alice becomes Queen 10. Alice castlcs (feast) .

132 .

139

.

141

.

160 164 168 180 191

.

201 201 210

11. Alice takes R. Q. 4c wins

215

.

1. R. Q. to K. R's 4th . 2. W . Q. to Q. B's 4th (after shawl) . . .

3. W . Q. to Q. B's 5th (becomes sheep) . . 4. W. Q. to K. B's 8th (leaves egg on shelf). 5. W. Q. to Q. B's 8th (flying from R. Kt.) 6. R. Kt. to K's 2nd ( the Kangaroo... 1 1 3 Das Känguruh willigt ein — Bevor beide Reisen beginnen, werden Vorbereitungen getroffen, d:nn: "This requires some litte reflection". 1 1 4 "Les oiseaux forgent unt machine pour transporter le pèlerine", 1 1 5 einen Stab, dessen Enden sie halten und in dessen Mitte die Schildkröte sich festbeißen soll. Und weil die nassen und kalten Füße der Ente dem Känguruh Rheumatismus bereiten könnten, streift diese Strümpfe und einen Mantel über. Die Ausgangslagen sind ähnlich. Eine Schildkröte und eine Ente langweilen sich und sehnen sich in die Ferne. Fabelmäßig und in der Überschrift fabelmäßig angekündigt, werden beide Tiere mit einem zweiten Tier kontrastiert, dessen Mobilität die Erfüllung ihrer Sehnsucht verspricht. Fabelmäßig schließt sich ein Tier dem anderen an: Eine Schildkröte "fliegt", und eine Ente "springt". Die Handlungen aber entwickeln sich unterschiedlich. Das Ziel der Schildkröten-Reise ist die Moral: Impudence, babil et sotte vanité, Et vaine curiosité, Ont emsemble étroit parentage Ce sont enfants d'un lignage. 116 Das Los der Schildkröte ist damit vorbestimmt. Weil sie töricht, geschwätzig, albern, eitel und neugierig sein muß, ist auch ihr Absturz notwendig. Ziel der Enten- und Känguruh-Reise aber sind wirklich "the Dee, and the Jelly Bo Lee": So away they went with a hop and a bound And they hopped the whole world three times round; And who so happy, — O who, As the Duck and the Kangaroo? 117 La Fontaines " L a Mouche et la Fourmie" 1 1 8 ist die Fabel einer eingebildeten, nutznießerischen Fliege, die sich einer redlichen und fleißigen Ameise gegenüber brüstet, sie sei es — und nicht die Ameise —, die am Hofe verkehre und auf Kaiser- und Königsköpfen sitze. Die Moral der Fabel: Arbeit ist besser als Müßiggang. 113 Lear, 64. 114A.a.O., 65. 115 La Fontaine, 278. 116 Ebda. 117 Lear, 66. 118La Fontaine, 108.

310

Die Welt des Nonsense

"The Daddy Long-Legs and the Fly" ist eine Ballade Lears. Mr. Floppy Fly wagt sich nicht mehr an den Königshof, denn seine Beine scheinen ihm zu kurz. And I'm afraid the King and Queen (One in red, and one in green) Would say aloud, "You are not fit, You Fly, to come to court a bit." m Mr. Daddy Long-Legs, die Mücke, summt nicht mehr, denn seine Beine wachsen zu sehr. Die Moral? And off they sailed among the waves, Far, and far away. They sailed across the silent main, And reached the great Gromboolian plain; And there they play for evermore At battlecock and shuttledoor. 120 Auch Edward Lear bedient sich mit seinen "Nonsense Songs" bestimmter Elemente der Fabel, aber auch er ist wie Christian Morgenstern kein Moral-Lehrer. Das Motiv einer Ente, die auf dem Schwanz eines Känguruhs Uber die Lande reisen möchte, und das Motiv der Fliege und der Mücke, die ihre Kurz- und Langbeinigkeit beklagen, werden nicht in den Dienst gestellt, sondern um ihrer selbst willen entwickelt: Die Ente fällt nicht herunter, sie darf eine Zigarre rauchen, 121 der Rheumatismus bleibt dem Känguruh erspart, Fliege und Mücke verzweifeln nicht, sie erreichen die große Gromboolische Ebene und spielen dort Nonsense-Federball.122 Denn wie es kommt so öfter eben, die viere blieben fröhlich leben. Zu berichten bleibt von Lewis Carrolls Walroß und dem Zimmermann. Sie wandern einen Strand entlang, und als sie dort auf Austern treffen, versucht das Walroß, diese zu überreden: " O Oysters, come and walk with us!" The Walrus did beseech. "A pleasant walk, a pleasant talk, Along the briny beach... 123

119Lear, 68. 120A.a.O„ 70. 121 A.a.O., 66. 122"Battledore" ist der Federballschläger, "shuttlecock" der Federball. 123TLG, Carroll, 151.

Ein Naturvergleich

311

Eine alte Auster widersteht, jüngere aber folgen, und der Spaziergang endet mit einem großen Austernessen des Walrosses und des Zimmermanns. Carrolls Nonsense-Ballade ist natürlich keine Fabel, denn natürlich endet auch sie mit keinem " d o c e t " , und doch hätte sie eine solche werden können: eine Tierfabel wie La Fontaines "Les Poisons et le Cormor a n " 1 2 4 oder " L e Chat et la Vieux Rat" 1 2 5 . Gemeinsam ist ihnen das Motiv der verführten Dummheit. Denn auch einem Cormoran gelingt es, Fische von der Notwendigkeit zu überzeugen, ihren Teich zu verlassen und mit ihm zu kommen, um sie dann bequem zu verspeisen. Und nur eine alte erfahrende Ratte durchschaut die Listen des Katers, der die törichten frißt. Wenn Le^r, Carroll und Morgenstern Motive und Strukturen der Fabel aufgreifen, dann befreien sie diese aus ihren didaktischen Bindungen. " T h e Complete Nonsense of Edward Lear", die Alice-Erzählung Carrolls und sein "Hunting of the Snark" — nicht aber die "Sylvie and Bruno"-Bücher — verweigern sich in einer Zeit, da Kinderbücher überzeugt und selbstverständlich moralisieren, jeglicher Moral 1 2 6 und damit auch jeder Fabel-Moral. Das immer wiederkehrende Resümee der Herzogin auf dem Croquet-Feld — " a n d the moral of that is . . . " — entfällt. Daß auch Morgenstern darauf achtete, keinen Zeigefinger zu erheben, konnte in den "Grundzügen einer Galgenliederkomik" dargestellt werden. Aber er geht über Lear und Carroll hinaus. Er spielt nicht nur wie diese mit Elementen der Fabel, sondern er ironisiert sie auch. Auch "The Duck and the Kangaroo", "The Walrus and the Carpenter" und "Die beiden Esel" dokumentieren, daß Lear und Carroll Nonsense für Kinder schrieben, Morgenstern aber die Galgenlieder für jene erwachsenen "Kinder", die wissen, wer Aesop und auch was Ironie ist... Bei diesen vier Vergleichsversuchen soll es bleiben. Die Frage, ob die Welt der Galgenlieder eine Welt des "Nonsense" sei, wurde mit dem Verzicht auf einen definierten "Nonsense" zu Beginn fallengelassen. Die Frage nach den Ähnlichkeiten beider Welten kann — so läßt sich wohl zusammenfassen — positiv beantwortet werden. Sie weisen in weiten Bereichen erstaunliche gemeinsame Merkmale auf. Als Lear starb, war Morgenstern 17 Jahre alt; als Carroll starb, 27 Jahre alt. Kannte der Dichter der Galgenlieder die beiden Viktorianer? Vor allem: Kannte der Erfinder einer Gegenwindmaschine, einer Glockenspiel-Waage und der Wasserschiene, der auch mit der Photo124La Fontaine, 278. 1 2 5 A . a . O . , 99. 126Vgl. Petzold, 190 f.

312

Die Welt des Nonsense

graphie experimentierte und Kinder auch mit einem Zollstock-Spiel erfreuen wollte, der begeisterte Schachspieler, der — wie Edward Lear 127 — eifrig Briefe schrieb und lange Zeit Junggeselle — wie Edward Lear — blieb, kannte Christian Morgenstern den Junggesellen, dessen "Brief-Register" vom 1. Januar 1861 bis zu seinem Tode 98.404 Einträge aufweist, 12 * kannte er den begeisterten Schachspieler, der für seine Mädchen ein umfangreiches Spiele-Magazin anlegte, den Erfinder eines Reise-Steckschachspiels129, einer nur durch Schwerkraft getriebenen Eisenbahn 130 ... und des doppelseitigen Klebebandes 131 , kannte er einen der ersten bedeutenden Amateurphotographen Englands, der einen Selbstauslöser erfand 132 und den Prince of Wales und auch die Königin Victoria photographieren wollte133? Kannte Christian Morgenstern Lewis Carroll? Kannte der Schöpfer der "Tagnachtlampe", die, sobald sie angedreht, selbst den hellsten Tag in Nacht verwandelt. 135 —, Carrolls "Black light" und hatte gelesen: The way I made it was this — I took a lighted candle into a dark cupboard and shut the door. Of course the cupboard was then full of Yellow Light. Then I took a bottle of Black ink, and poured it over the candle: and, to my delight, every atom of the Yellow Light turned Blackl That was indeed the proudest moment of my life! Then I filled a box with it. And now — would anyone like to get under the blankets and see it?" 1 5 8 Nicht ein Beleg deutet darauf hin. Nicht einmal, daß Lear und Carroll voneinander wußten, der eine ein Freund, der andere ein Bekannter des "poet laureate" Tennyson, ist verbürgt. Als Morgenstern 1893 aus Reinerz seiner Cousine Clara schreibt:

127 "Every human being capable of writing ever since the invention of letters must have written to me, with few exceptions perhaps, such as the prophet Ezekiel, Mary Queen of Scots, and the Venerable Bede." (Nach Richardson, 24). 128Mit Daten und Inhaltsangaben. Vgl. Green, 134. 129Vgl. Lennon, 208. 130SBC, Carroll, 585. 131 Diaries, II, 526. 132Vgl. Fisher, 13. 133 Vgl. Pudney, 60. 134Die Tagnachtlampe, VIII, 25. 135SBC, Carroll, 673.

Ein Naturvergleich

313

Zum Lesen bin ich noch wenig gekommen, doch habe ich einen berühmten Roman von einem der besten englischen Humoristen begonnen — und bin ganz außer mir über das überaus herrliche, großartige Buch. Echt englisch breit, aber neben den barocksten, geistreichsten Einfällen ein Humor und eine feine, feine Ironie, die mir köstlicher duftet wie die Blume feinsten Rheinweins,138 dann ist es kein Viktorianer, der ihn begeistert, sondern Lawrence Sterne. Genauer an Kayssler: Was ich Dir zu lesen anempfehle und was mich unglaublich angeregt hat, ist Lawrence Sternes 'Tristram Shandys Leben und Meinungen'. 137 Wenn ein humoristisches englisches Werk die Welt der Galgenlieder beeinflußt haben sollte, dann stammt es wahrscheinlich nicht aus dem 19. sondern dem 18. Jahrhundert. Anregend — möglicherweise "unglaublich" anregend — für die Schöpfung eines Korf und eines Palmström könnten die Brüder Shandy gewesen sein, Toby, hingegebener Sammler und Student militärhistorischer und -theoretischer Werke, zurückgezogener Rekonstrukteur des spanischen Erbfolgekrieges im Garten, und Walter, Vater Tristrams: Mein Vater wollte nichts in demjenigen Lichte sehen, in welches es von anderen Leuten gestellt ward; sondern er stellte die Dinge in ein ihm beliebiges Licht — er wollte nichts auf der Gemeindewaage wägen; nein, nein! er war ein zu verfeinerter Forscher, um sich so plumper Ueberschnellung auszusetzen. 138 Es steckte in ihm eine solche Unzahl von Wunderlichkeiten und Zufälligkeiten, daß dadurch aller Vorausbestimmung ein Schnippchen geschlagen ward. 139 Aller Vorausbestimmung ein Schnippchen schlagen, alles in ein anderes Licht stellen, nichts auf der Gemeindewaage wägen, das sind Qualitäten unserer Galgenliederhelden, und nicht zuletzt sind beide "Gentlemen". Die Frage, welche Anregungen Sternes der Galgenliederdichter im einzelnen aufgegriffen haben mag, kann beweiskräftig nicht beantwortet werden. Sein "Kontakt" mit dem Altmeister aber ist philologisch nachweisbar, sein Kontakt mit dem viktorianischen Nonsense ist weder nachweisbar noch wahrscheinlich: irgendwo hätte in den Briefen oder Tagebuchnotizen ein Hinweis sich finden müssen. 136 Briefe, 38, 1893. 1 3 7 A . a . O . , 39. 1893. 138Sterne, I, 153. Zitiert wird hier die Übersetzung G . R . B ä r m a n n s , die 1856 erschien und sehr wahrscheinlich auch Christian Morgenstern gelesen haben wird: " T r i s t r a m Shand y ' s Leben und M e i n u n g e n " . 139 Sterne, III, 46.

314

Die Welt des Nonsense

Dennoch ist eines gesichert: Christian Morgenstern, Lewis Carroll und Edward Lear sind Nachbarn oder gar Verwandte in "typologischer" Hinsicht. Ob der Dichter der Galgenlieder darum auch der Kleinfamilie "Nonsense" angehört, bleibt eine Schubladenfrage.

SCHLUSSBEMERKUNG

Ihren Ausgang nahm diese Untersuchung in der Welt des deutschen Kaiserreiches. Den " B ü r g e r " Morgenstern lernte man kennen, der das "Bürgerliche" verabscheute und sich ihm doch nicht entziehen konnte. Den Studenten der Nationalökonomie lernte man kennen, seine Begeisterung für die Möglichkeiten, die Wirtschaft zu fördern und auszubauen, seine Hoffnung auf eine "soziale" Wirtschaft. Morgenstern sah das Elend der Großstädte, erkannte, daß nicht alle vom Profit der Aufschwungsjahre profitierten, und fürchtete die Schrecken des Sozialismus. Er verachtete Wilhelm II. und war aus tiefster Überzeugung Monarchist, kritisierte Antisemiten und war doch von antisemitischen P a u s c h a l i e r u n gen nicht frei. Der Literat Morgenstern hatte große Pläne: Nicht einen davon gelang es zu verwirklichen. Zeit seines Lebens suchte er Vorbilder, Ideale, Führer, verehrte Nietzsche, verehrte Lagarde, verehrte Steiner und schuf sich nicht zuletzt mit deren Hilfe einen geistigen Habitus der Zurückgezogenheit und Einsamkeit. Dieser Christian Morgenstern schrieb "alle Galgenlieder". Eine neue, andere Welt entstand. Freiheit herrschte in ihr. Die Trennung von Möglichkeit und Unmöglichkeit war in ihr aufgehoben. Nur die Phantasie selbst gab sich hier Grenzen. Eine Welt des Humors, souverän, unabhängig, in "heiterer H ö h " , unbelastet von der Verpflichtung zum Engagement. Eine traumhafte Welt, eine Spielwelt, geprägt von der problemfreien Idealhaltung der "Kindlichkeit". Die beinahe verhinderte Eigenständigkeit und Originalität des Schriftstellers Morgenstern hatte hier verwirklicht werden können. Das große Drama und den großen Roman schrieb er nie, mit der Welt der Galgenlieder konnte dennoch ein " G a n z e s " geschaffen werden, das nicht lyrisches Stückwerk blieb. In dieser Welt brauchte Morgenstern keinen Vorbildern nachzueilen, bedurfte es keiner Führung durch "große Geister". Die Welt der Galgenlieder wurde zu einem Reich über dem Kaiserreich. In ihrer phantastisch-verspielten Komik schwingen dessen Proble-

316

Schlußbemerkung

me mit, ohne dabei selbst problematisch zu werden. Nur sehr wenige Gedichte üben o f f e n e Kritik und weisen o f f e n auf Mißstände hin. Sie bleiben die Ausnahme. Die Antimilitaristen Palmström und Korf — nur ein einziges Mal in dieser Weise wirklich engagiert — enthält Morgenstern bis zu seinem Tode dem Lesepublikum vor. Die Antibürger Palmström und Korf können — wie ihr Schöpfer — der eigenen Bürgerlichkeit nicht entkommen. Von einem Wissenschaftsbetrieb, der ihre " T h e o r i e n " nicht zu schätzen weiß, wenden sie sich ab. Alles Feinste bleibt privat. Und Privatiers bleiben sie immer, zurückgezogen in "bürgerlic h e r " Verschrobenheit, verrückte Erfinder, Studenten des WetterWendischen, Zoologen im Tierkostüm, Wanderer in Böhmische Dörfer. Ein letztes Mal läßt sich die Parallele zum Nonsense ziehen. Eine seiner wesentlichen Funktionen versuchte man immer wieder zu beschreiben als "holidays of the intellect" 1 , als " E r h o l u n g — vielleicht die größte, die man erfahren k a n n " 2 , oder als Suche " n a c h einer Zufluchtsstätte, einem 'ivory t o w e r ' " 3 , nach " w a y s of escaping" 4 . All diesen Beschreibungen ist ein Grundnenner gemeinsam: Der Versuch, sich Zwängen zu entziehen — zeitweilig als Entspannung oder grundsätzlich als Abwendung — und einen zwanglosen persönlichen Freiraum zu finden, ohne dabei die Zwänge selbst anzugreifen. Im wesentlichen und unter Beachtung der Ausnahmen trifft das auch auf die Welt der Galgenlieder zu. " Z u den öffentlichen W o h l t ä t e r n " 5 wird man Christian Morgenstern mit Alewyn sicherlich zählen müssen, " z u den großen Befreiern" 6 nicht. Das letzte Wort aber soll der Dichter der Galgenlieder selbst haben: Wenn diese zwei, drei Büchlein, die für mich ja doch bloß Beiwerkchen, Nebensachen bedeuten, nur ein bißchen geistige Leichtigkeit, Heiterkeit, Freiheit verbreiten, die Phantasie beleben, nur ein bißchen von der im Posthorn gefrorenen Musik der Seele wieder a u f t a u en, so ist es genug. 7

1 2 3 4 5 6 7

Chesterton, 1930, 137. Kusenberg, 956. Schöne, 1954, 103. — Vgl. auch Petzold, 193. C a m m a e r t s , 28. Alewyn, 401. Ebda. Briefe, 404, 1910.

LITERATURVERZEICHNIS Christian Morgenstern: Für ausführliche historische Bibliographien verweise ich auf Bauer 1954, 242 ff.; Beheim-Schwarzbach, 158 ff.; Gumtau, 90 f.; Ausgewählte Werke, 645 ff.; Hofacker, 135 ff.und 141 ff. Sämtliche Dichtungen, Herausgegeben von Heinrich O. Proskauer. Basel 1971 ff. I. II. III. IV. V. VI. VII. VIII. IX. X. XI. XII. XIII. XIV. XV. XVI. XVII.

In Phanta's Schloß. 1971. Auf vielen Wegen. 1971. Ich und die Welt. 1971. Ein Sommer. 1972. Und aber rundet sich ein Kranz. 1972. Galgenlieder, Gingganz und Horatius Travestitus. 1972. Melencolia. 1972. Palmström, Korf und Palma Kunkel. 1973. Einkehr. 1973. Ich und Du. 1973. Wir fanden einen Pfad. 31980. Mensch Wanderer. 1976. Die Schallmühle. 1976. Epigramme und Sprüche. 1977. Stufen. 1977. Klein Irmchen. 1978. Der Sämann. 1979.

Gesammelte Werke. In einem Band. Herausgegeben von Margareta Morgenstern. München 1965, 141981. Ausgewählte Werke. Eingeleitet von Klaus Schuhmann. Leipzig 1975. Das Große Christian Morgenstern Buch. Herausgegeben von Michael Schulte. München, Zürich 1976. Jubiläumsausgabe in vier Bänden. Herausgegeben von Clemens Heselhaus. München, Zürich 1977. Alle Galgenlieder. Frankfurt 1964. Ein Leben in Briefen. Herausgegeben von Margareta Morgenstern. Wiesbaden 1952.

318

Literaturverzeichnis

Andere: Achatzi, M.:

Christian Morgenstern in seiner Dichtung, Philosophie und humoristischphantastischer Gedankenlyrik. Diss. Prag 1932.

Aeppli, E.:

Der Traum und seine Deutung. Zürich 21943.

Alewyn, R.:

Probleme und Gestalten. Frankfurt 1974.

Allemann, B.:

Ironie und Dichtung. Pfullingen 1956.

Allemann, B.:

Ironie als literarisches Prinzip. In: Ironie und Dichtung, Hrsg. A. Schaefer, München 1970, 11-37.

Baring-Gould, W.:

The Lure of the Limerick, 1968.

Baudelaire, C.:

Oeuvres Complètes. Ed. J.-G. Le Dantec. Edition révisée, complétée et présentée par C. Pichois. Paris 1961.

Bauer, M.:

Christian Morgensterns Leben und Werk. Vollendet von Margareta Morgenstern. München 1933, 21937, 51954.

Beheim-Schwarzbach, M.:

Christian Morgenstern. Hamburg 1964.

Bergson, H.:

Oeuvres, Textes annotés par A. Robinet. Paris 1963.

Best, O.F. (Hrsg.):

Das Groteske in der Dichtung. Darmstadt 1980.

Blumenfeld, W.:

Sinn und Unsinn. Eine Studie. München 1933.

Bökenkamp, W.:

C. Morgenstern, poète d ' h u m o u r surréaliste. In: La Revue les lettres modernes 1/1954, 1-18.

Booth, W.:

A Rhetoric of Irony. Chicago, London 1975.

London

319

Literaturverzeichnis

Brummack, J.:

Zu Begriff und Theorie der Satire. In: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 45/1971, Sonderheft, 275-377.

Bry, C.C.:

Christian Morgenstern und seine Leser. In: Hochland 2/1925, 531-545.

Buytendijk, F.J.J.:

Wesen und Sinn des Spiels. Das Spielen des Menschen und der Tiere als Erscheinungsform der Lebenstriebe. Berlin 1933.

Byrom, Th.:

Nonsense and Wonder. The Poems and Cartoons of Edward Lear. New York 1977.

Cammaerts, E.:

The Poetry of Nonsense. London 1925.

Carroll, L.:

The Complete Works of Lewis Carroll. With an Introduction by A. Woollcott. London, New York 1939.

Carroll, L.:

The Works of Lewis Carroll. Edited and introduced by R.L. Green. London 1965.

Carroll, L.:

Alice hinter den Spiegeln. Übersetzt von Christian Enzensberger. Frankfurt 1974.

Carroll, L.:

Alice's Adventures in Wonderland and Through the Looking-Glass. London, New York 1970.

Chesterton, G.K.:

Gilbert and Sullivan. In: The EigthteenEighties. Ed. W. de la Mare. Cambridge 1930, 136-158.

Chesterton, G.K.:

Lunacy and Letters. Edited by D. Collins. London, New York 1958.

Cowles, V.:

1913. Abschied Frankfurt 1969.

Cramer, Th.:

Das Groteske bei E.T.A. Hoffmann. München 1966.

von

einer

Epoche.

320

Literaturverzeichnis

Das große Buch der Technik. Hrsg. Lexikon-Institut Bertelsmann in Zusammenarbeit mit A. Scherl. Gütersloh, Wien 1970. Davidson, A.:

Edward Lear: Landscape Painter and Nonsense Poet. London 1938.

De la Mare, W.:

Lewis Carroll. London 1932.

Der Neue Brockhaus. Leipzig 1938/39. Die Lieder des Zupfgeigenhansel. Mainz o.J. Dieterich, P.: Weltanschauungsentwicklung in der Lyrik Christian Morgensterns. Diss. Köln 1925. Dithmar, R.:

Die Fabel. Paderborn 1974.

Doderer, K.:

Fabeln. Formen, Figuren, Lehren. Zürich 1970.

Duden 7. Etymologie. Mannheim 1963. Dugen 10. Bedeutungswörterbuch. Mannheim 1970. Eicke, D. (Hrsg.):

Die Psychologie des 20. Jahrhunderts. Bd. II, 1. Zürich 1976.

Elliott, R.C.:

The Definition of Satire: A Note on Method. In: Yearbook of Comparative and General Literature 11/1962, 19-23.

Engelmann, B.:

Die goldenen Jahre. Die Sage von Deutschlands glücklicher Kaiserzeit. Hamburg 1968.

Fiechtner, H.A.:

Palmströms Kehrseite. In: Wort und Wahrheit 8/1953, 699-701.

Fisher, J.:

The Magic of Lewis Carroll. London 1973.

Forchheimer, P.:

Zu Morgensterns "Steinochs". In: Modern Language Notes 54/1939, 198 f.

Forster, L.:

Poetry of significant nonsense. Cambridge 1962.

Literaturverzeichnis

321

Foulkes, D.:

A Grammar of Dreams. New York 1978.

Freud, S.:

Gesammelte Werke, Chronologisch geordnet. Hrsg. A. Freud, E. Bibring u.a. London 1946-52.

Freud, S.:

Studienausgabe. Hrsg. A. Mitscherlich, A. Richards, J. Strachey. Frankfurt 1969 ff.

Friedrich, C.:

Christian Morgensterns Weg ins Kosmische. Diss. Wien 1934.

Friedrich, H.:

Die Struktur der modernen Lyrik. Hamburg 1967.

Friedrich, W.H. u. W. Killy (Hrsg.):

Das Fischer Lexikon Literatur. 3 Bde. Frankfurt 1964.

Gaebert, H.W.:

Der große Augenblick in der Technik. Erfindungen machen Geschichte. Bayreuth 1974.

Gardner, M. (Hrsg.):

The Annotated Alice. Penguin Books 1970.

Gardner, M. (Hrsg.):

The Annotated Snark. Penguin Books 1974.

Garnier, P.:

Poésie satirique allemande du demisiècle. In: Revue générale des publications françaises et étrangères 159/1960, 705722.

Geiger, P.:

Mystik und Reinkarnation bei Christian Morgenstern. Diss. Heidelberg 1941.

Geraths, F.:

Christian Morgenstern, sein Leben und sein Werk. Diss. München 1926.

Giffei, H.:

Christian Morgenstern als Bern 1931.

Glatz, O.:

Weltanschauung und Dichtung Christian Morgensterns. Diss. Wien 1936.

Goes, A.:

Der Gaul. Eine Interpretation. In: Freude am Gedicht. Frankfurt 1952, 39-45.

Mystiker.

322

Literaturverzeichnis

Goethe, J . W . :

Sämtliche Werke. (ArtemisGedenkausgabe). Zürich 1961-66.

Green, R.L.:

The Story of Lewis Carroll. London 1962.

Green, R.L. (Hrsg.):

The Diaries of Lewis Carroll. London 1953.

Gregory, J . C . :

The Nature of Laughter. London 1924.

G u m t a u , H.:

Christian Morgenstern. Berlin 1971.

Hansen, K.:

Wortverschmelzungen. für Anglistik und 11/1963, 117-144.

Hass, H . - E . und G . A . Mohrlüder (Hrsg.):

Ironie als literarisches P h ä n o m e n . Köln 1973.

Hausmann, F.J.:

Studien zu einer Linguistik des Wortspiels. Das Wortspiel im " C a n a r d enchaîné". Tübingen 1974.

Heidsiek, A.:

Das Groteske und das Absurde im modernen Drama. Stuttgart 1969.

Heintz, G.:

Sprachliche Struktur und dichterische Einbildungskraft. Beitrag zur linguistischen Poetik. München 1978.

Heiseler, B.v.:

Was ist H u m o r ? Betrachtung über einen unerschöpflichen Gegenstand. In: Gesammelte Essays. Bd. II. Stuttgart 1967, 248-251.

Helmers, H . :

Lyrischer H u m o r . Strukturanalyse und Didaktik der komischen Versliteratur. Stuttgart 1971.

Hempel, W . :

Zur Geschichte von spanisch " H u m o r " . In: H u m o r und Witz. Europäische Schlüsselwörter. Bd. I. Hrsg. W . Schmidt-Hidding. München 1963, 245-281.

Herder, J . G . :

Herders sämtliche Werke, Hrsg. B. Suphan, Berlin 1877-1913.

In: Zeitschrift Amerikanistik

Literaturverzeichnis

323

Hiebel, F.:

C. Morgenstern. Wende und Aufbruch unseres Jahrhunderts. Bern 1957.

Highet, G.:

The Anatomy of Satire. Princeton 1962.

Hildebrandt, R.:

Nonsense-Aspekte der englischen Kinderliteratur. Diss. Hamburg 1962.

Hobbes, T.:

Leviathan (or the matter, forme and power of a Commonwealth, ecclesticall and civili). Introd. by A.D. Lindsay. London 1965.

Hoche, A.:

Das Träumende Ich. Jena 1927.

Hofacker, E.P.:

Christian Morgenstern. Boston 1978.

Hoffmann, E.T.A.:

Poetische Werke. Berlin 1961.

Homeyer, H.:

Philosophie des Unsinns: eine sprachliche Betrachtung zum englischen Humor. In: Deutsche Rundschau 7/1947, 52-55.

Huizinga, J.:

Homo Ludens. Hamburg 1956.

Huysmanns, J.-K.:

A Rebours. Le drageoir aux épices. Préface de H. Juin. Paris 1975.

Humor in der Kinder und

Bericht über die XVI. Internationale Jugendbuchtagung vom 1.-8. April 1970 in Urach. Insel Mainau 1970.

Jugendliteratur. Jackson, H.: Jackson, H.:

The Reading of Books. London 1946. Edward Lear: Laureate of Nonsense. In: The Complete Nonsense of Edward Lear. London 1969, IX-XXVIII.

Jappe, G.:

Über Wort und Sprache in der Psychoanalyse. Frankfurt 1971.

Jean Paul:

Werke. Hrsg. N. Miller. München 1973.

Jochmann, W.:

Struktur und Funktion des deutschen Antisemitismus. In: Juden im Wilhelminischen Deutschland 1890-1914. Hrsg. W.E. Mosse. Tübingen 1976, 389-477.

324

Literaturverzeichnis

Johann, E. (Hrsg.):

Reden des Kaisers. Ansprachen, Predigten und Trinksprüche Wilhelms II. München 1966.

Jünger, F.G.:

Die Spiele. Ein Schlüssel zu ihrer Bedeutung. Frankfurt 1953.

Kainz, F.:

Psychologie der Sprache. Bd. II: Vergleichend-genetische Sprachpsychologie. Stuttgart 1943, 31969.

Kant, I.:

Werke in sechs Bänden. Hrsg. W. Weischedel. Wiesbaden 1956 ff.

Karrer, W.:

Parodie, Travestie, Pastische. München 1977.

Kayser, W.:

Das sprachliche Kunstwerk. Bern, München 1954.

Kayser, W.:

Das Groteske. Seine Gestaltung in Malerei und Dichtung. Hamburg 1960.

Kemper, W.W.:

Der Traum und München 1977.

Kernan, A.B.:

The Plot of Satire. New Häven, London 1965.

Klein, J.:

Humoristische Lyrik. In: Welt Wort 9/1954, 221-225.

Klein, J.:

Geschichte der deutschen Lyrik. Wiesbaden 1957.

Klemm, G.:

Christian Morgensterns Dichtungen von "Ich und D u " . Diss. Bonn 1933.

Klemperer, V.:

C. Morgenstern und der Symbolismus. In: Vor 1933... nach 1945. Berlin 1956.

Klinckowstroem, C.v

Knaurs Geschichte der Technik. München, Zürich 1959.

Koch, W.:

Erfindergeist auf Abwegen. Über Patentschriften merkwürdigen Inhalts. Düsseldorf, Wien 1964.

seine

Be-Deutung.

und

Literaturverzeichnis

325

Kramer, H.:

Deutsche Kultur zwischen 1871 und 1918. (Handbuch der Kulturgeschichte, Abt. 1,10). Frankfurt 1971.

Kusenberg, K.:

Über den Unsinn. In: Merkur 1/1947, 956-957.

La Fontaine, J.:

Fables choisies mise en vers. Hrsg. G. Couton. Paris 1962.

Lange, F.A.:

Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart. Leipzig 71902.

Lear, E.:

The Complete Nonsense of Edward Lear. Edited and introduced by H. Jackson. London 1947.

Lear, E.:

Teapots and Quails. And Other New Nonsenses. Edited and introduced by Angus Davidson and Philip Hofer. London 1953.

Lear, E.:

Letters of Edward Lear. Edited by Lady Strachey of Sutton Court. London 1907.

Lear, E.:

Late Letters of Edward Lear. Edited by Lady Strachey of Sutton Court. London 1911.

Lear, E.:

Wie nett, Herrn Lear zu kennen. Reime und Geschichten von Edward Lear. Ins Deutsche übertragen von Grete Fischer, o.O. 1965.

Legmann, G. (Hrsg.):

The Limerick. 1700 Examples, with Notes, Variants and Index. London 1974.

Lehmann, G.K.:

Phantasie und künstlerische Arbeit. Betrachtungen zur poetischen Phantasie. Berlin, Weimar 1976.

Lennon, F.B.:

Lewis Carroll. London 1947.

Lessing, G.E.:

Werke in acht Bänden. Hrsg. Herbert G. Göpfert. Darmstadt 1970-1979.

Literaturverzeichnis

Dichtung als Spiel. Studien zur Unsinnspoesie an den Grenzen der Sprache. 2 Bde. Berlin 1963. Komik und Humor. Eine psychologisch-ästhetische Untersuchung. Hamburg, Leipzig 1898. Ästhetik. Psychologie des Schönen und der Kunst. Teil I: Grundlegung der Ästhetik. Hamburg, Leipzig 1903. Christian Morgensterns FormSprachkunst. Diss. Wien 1936. Morgenstern Wien 1950.

als Aphoristiker.

und Diss.

Philosophie des Kölner Humors. Honnef 1954. Über den Humor. Zürich 1966. Christian Morgensterns Werk. Diss. Zürich 1930.

Welt

und

Oeuvres Complètes. Texte établi et annoté par H. Mondor et G. Jean-Aubry. Paris 1945. Der Untertan. (Classen-Ausgabe). Düsseldorf 1976. Christian Morgensterns Dichtungen nach ihren mystischen Elementen. Weimar 1931. Beiträge zu einer Kritik der Sprache. 3 Bde. Stuttgart, Berlin 1906-1913. Deutsche Parodien. München 1913. Homo Ridens: Towards a Sémiotic Theory of Humor and Laughter. In: Semiotica 5/1972, 1-30: Argument 1951.

of

Laughter.

Melbourne

Literaturverzeichnis

327

Morgan, B.Q.:

The superior Nonsense of Christian Morgenstern. In: Books Abroad 1938, 288 ff.

Mosse, W.E. (Hrsg.)

Juden im Wilhelminischen Deutschland 1890-1914. Tübingen 1976.

Mühsam, E . :

Gesamtausgabe. Hrsg. Günther Emig. Berlin 1977 f.

Neumann, F.:

C. Morgensterns Galgenlieder. Spiel mit der Sprache. In: Wirkendes Wort 14/1964, 332-350.

Neumann, P.H.:

Morgensterns Galgenlieder als poetologische Modelle betrachtet. In: Sprachkunst 4/1973, 53-64.

Neumann, R.:

Zur Ästhetik der Parodie. In: Die Literatur 30/1927/28, 439-441.

Nietzsche, F.:

Kritische Gesamtausgabe. Hrsg. G. Colli und M. Montinari. Berlin 1968 ff.

Novalis:

Schriften. Hrsg. P. Kluckhorn und R. Samuel. Stuttgart 1966 ff.

Oertzen, E.V.:

Humor und Nonsense. 2/1946, 860-864.

Orwell, G.:

Nonsense Poetry. In: Shooting an Elephant and Other Essays. London 1950, 179-184.

Orwell, G.:

Animal Farm. A Fairy Story. London 1970.

Pablé, E . :

Ad Absurdum. Parodien dieses Jahrhunderts. München 1965.

Partridge, E.:

Here, There and Everywhere. Essays upon Language. London 1950.

Petzold, D.:

Formen und Funktionen der englischen Nonsense-Dichtung im 19. Jahrhundert. Nürnberg 1972.

Piddington, R.:

The Psychology of Laughter. A Study in Social Adaption. London 1933.

In:

Aufbau

328

Literaturverzeichnis

Pietzcker, C.:

Das Groteske. In: Das Groteske in der Dichtung. Hrsg. O.F. Best. Darmstadt 1980, 85-102.

Plessner, H.:

Lachen und Weinen. Bern, München 1961.

Preisedanz, W.:

Humor als dichterische Einbildungskraft. Studien zur Erzählkunst des poetischen Realismus. München 1963.

Preisedanz, W., R. Warning (Hrsg.):

Das Komische. München 1976.

Pudney, J.:

Lewis Carroll and his world. London 1976.

Ranke, W.:

Heinrich Zille. Photographien Berlin 1890-1910. Ausstellungskatalog des Rheinischen Landesmuseums Bonn und des Berlin-Museums, Berlin. München 1975.

Reichert, K.:

Lewis Carroll. Studien zum literarischen Unsinn. München 1974.

Reut-Nicolussi, I.:

Der Humor in Lewis Carrolls "Alice's Adventures in Wonderland" und "Through the Looking-Glass". Diss. Innsbruck 1948.

Richardson, J.:

Edward Lear: Man of letters. In: Ariel 1/1970, 4, 18-28.

Ritter, J.:

Über das Lachen. In: Subjektivität. Frankfurt 1974, 62-92.

Rotermund, E.:

Die Parodie in der modernen deutschen Lyrik. München 1963.

Rotermund, E.:

Gegengesänge. Lyrische Parodien vom Mittelalter bis zur Gegenwart. München 1964.

Samhaber, E.:

Erfindungen. Meilensteine in die Zukunft. Wien 1971.

Schäfer, A. (Hrsg.):

Ironie und Dichtung. München 1970.

Literaturverzeichnis

329

Scheerbart, P.:

Ich liebe Dich. Berlin 1897.

Scheerbart, P.:

Das Perpetuum mobile. Die Geschichte einer Erfindung. Leipzig 1910.

Scheuerl, H.:

Beiträge zur Theorie des Spiels. Weinheim 1955.

Schiller, F.:

Werke. Nationalausgabe. Hrsg. J. Petersen und G. Fricke. Weimar 1943 ff.

Schischkoff, G. (Hrsg.):

Philosophisches Wörterbuch. Stuttgart 171965.

Schlegel, f . :

Kritische Ausgabe seiner Werke. Hrsg. E. Behler. München, Paderborn, Wien 1958 ff.

Schmidt, S.J.:

Komik im Beschreibungsmodell kommunikativer Handlungsspiele. In: Das Komische. Hrsg. W. Preisedanz und R. Warning. München 1976, 165-189.

Schmidt-Hidding, W.:

Humor und Witz. Europäische Schlüsselwörter. Bd. I. München 1963.

Schneegans, H.:

Geschichte der grotesken Satire. Straßburg 1894.

Scherb, R.:

Das bürgerliche Zeitalter. Europa als Weltmacht 1815-1914. München 1971.

Schöne, A.:

Untersuchungen zur englischen Nonsense Literatur unter besonderer Berücksichtigung des Limericks und seines Schöpfers Edward Lear. Diss. Bonn 1951.

Schöne, A.:

Humor und Komik in Lewis Carrolls Nonsense-Traummärchen "Alice's Adventures in Wonderland" und "Through the Looking-Glass". In: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 28/1954. 102-114.

330

Literaturverzeichnis

Schöne, A.:

Englische Nonsenseund GruselBalladen. Intellektuelle Versspiele in Beispielen und Interpretationen und mit Übertragungen im Anhang. Göttingen 1970.

Schönfeld, H . :

Über Christian Morgensterns Grotesken. In: Zeitschrift für deutsche Bildung 8/1932, 225-237.

Schopenhauer, A.:

Sämtliche Werke in fünf Bänden. Hrsg. Arbeitsgemeinschaft Cotta-Insel. Stuttgart, F r a n k f u r t 1960.

Schuchardt, H . :

Christian Morgensterns groteske Gedichte und ihre Würdigung durch L. Spitzer. In: Euphorion 22/1920, 639655.

Schuhmann, K.:

Leben und Werk Christian Morgensterns. In: Christian Morgenstern. Ausgewählte Werke. Leipzig 1975, 5-62.

Schulte, M.:

Karl Valentin. H a m b u r g 1968.

Schütz, K.O.:

Witz und H u m o r . In: H u m o r und Witz. Hrsg. W. Schmidt-Hidding. Europäische Schlüsselwörter. Bd. I. München 1963, 161-224.

Schweizer, W . R . :

Der Witz. Bern, München 1964.

Sewell, E.:

The Field of Nonsense. London 1952.

Sichelschmidt, G.:

Christian Morgenstern. In: Grenzgänger. Regensburg 1976, 21-32.

Spencer, H.:

Spitzer, L.:

On the Physiology of Laughter. In: Essays on Education and Kindred Subjects. London 1911. Die groteske Gestaltungs- und Sprachkunst Chr. Morgensterns. In: H. Sperber und L. Spitzer: Motiv und Wort. Studien zur Literatur- und Sprachpsychologie. Leipzig 1918.

Literaturverzeichnis

331

Spitzer, L.:

Zur Interpretation Christian Morgensternscher Gedichte. In: Euphorion 23/1921, 95-99.

Stählin, F.:

Sprache, Spiel und Dichterspaß. Kindergedichte und Kinderreime. Morgensterns Galgenlieder. Utting/Ammersee 1978.

Stein, W.:

Kulturfahrplan. Die wichtigsten Daten der Kulturgeschichte von Anbeginn bis 1975. München, Berlin, Wien 1976.

Steinbuch, K.:

Automat und Mensch. Kybernetische Tatsachen und Hypothesen. Berlin, Göttingen, Heidelberg 1963.

Sterne, L.:

Tristram Shandy's Leben und Meinungen. Übersetzt von G.R. Bärmann. 4 Bde. Berlin 1856.

Strachey, E.:

Nonsense as a fine art. In: The Quarterly Review 167/1888, 335-365.

Stümpke, H.:

Bau und Leben der Rhinogradentia. Stuttgart 1979.

Sutherland, R.D.:

Language und Carroll. The Hague, Paris 1970.

Tabbert, R.:

Zum literarischen Nonsense: Versuch einer Orientierung. In: Der Deutschunterricht 27/1975, 5-22.

Thackeray, W.M.:

Vanity Fair. Introduced by M.R. Ridley. London 1965.

Thiess, F.:

Die Wirklichkeit des Unwirklichen. Untersuchung Uber die Realität der Dichtung. Hamburg 1954.

Tismar, J.:

Kunstmärchen. Stuttgart 1977.

Tschizewskij, D.:

Satire oder Groteske. In: Das Komische. Hrsg. W. Preisedanz und R. Warning. München 1976, 269-278.

332

Literaturverzeichnis

Tucholsky, K.:

Gesammelte Werke, Hrsg. M. GeroldTucholsky und F . J . Raddatz, H a m b u r g 1972.

Untermann, M.:

Das Groteske bei Wedekind, Thomas M a n n , Heinrich M a n n , Morgenstern und Wilhelm Busch. Diss. Königsberg 1929. (Auszug).

Valentin, K.:

Gesammelte Werke. 2 Bde. Hrsg. M. Schulte. München 1961 und 1969.

Verweyen, T. und G. Witting:

Die Parodie in der neueren deutschen Literatur. Eine systematische Einführung. Darmstadt 1979.

Vieth, L.:

Betrachtungen zur Wortgroteske. Diss. Bonn 1931.

Vischer, F.T.:

Über das Erhabene und Komische. Ein Beitrag zu der Philosophie des Schönen. Stuttgart 1837.

Vondung, K. (Hrsg.):

Das Wilhelminische Bürgertum. Zur Sozialgeschichte seiner Ideen. Göttingen 1976.

Völker, K. (Hrsg.):

Von Werwölfen und anderen Tiermenschen. München 1977.

Wagenknecht, C . J . :

Das Wortspiel bei Karl Kraus. Palaestra Bd. 242. Göttingen 1965.

Walter, J.:

Sprache und Spiel in Christian Morgensterns Galgenliedern. Freiburg, München 1966.

Webster's New Twientieth Century Dictionary of the English Language. Cleaveland and New York 1971. Wehler, H . U . :

Das Deutsche Kaiserreich 1871-1918. Deutsche Geschichte Bd. 8. Göttingen 1973.

Literaturverzeichnis

333

Weinrich, H.:

Drei Thesen von der Heiterkeit der Kunst. In: Arcadia. Zeitschrift für vergleichende Literaturwissenschaft 3/1968, 121-132.

Weizsäcker, C.F.v.:

Entepente und die abstrakte Kunst. Eine Trilogie. In: Merkur 6/1952, 397-399.

Wellek, A.:

Witz, Lyrik, Sprache. Bern 1970.

Witte, W.:

Humor and mysticism in Christian Morgenstern's poetry. In: German Life and Letters. Neue Serie 1/47, 48, 124-130.

Witte, W.:

Humor in der erzählenden Literatur. In: Humor in der Kinder- und Jugendliteratur. Bericht über die XVI. Internationale Jugendbuchtagung vom 1.-8. April 1970 in Urach. Insel Mainau 1970.

Yule, H. und A.C. Burneil (Hrsg.): Hobson-Jobson. A Glossary of Colloquial Anglo-Indian Words and Phrases, and of Kindred Terms, Etymological, Historical, Geographical and Discursive. New Edition edited by W. Crooke. London 1968. Zoest, A.J.A. v.:

Eine semiotische Analyse von Morgensterns Gedicht "Fisches Nachtgesang". In: Lili. Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 4/1974, 49-67.

REGISTER GALGENLIEDER

Anfrage 85, 187f. Anto-Logie 172 f., 177, 187, 248, .265 Antwort (i.A.) 187 f. Auf dem Fliegenplaneten 159, 287 Auf einer Bühne 159 Aus dem Anzeigenteil einer Zeitung 70, 72 ff. Aus dem Nachlasse eines teutschen Tichters 5 Bilder 64 Bildhauerisches 165 Bim, Bam, Bum 99, 127, 147 Brief einer Klabauterfrau 202 Bundeslied der Galgenbrüder 43, 122, 130, 134 Das ästhetische Wiesel 124, 159 Das Auge der Maus 115 Das böhmische Dorf 124, 159, 210, 270 Das Buch 87, 122 Das Butterbrotpapier 87 ff. Das Fernklavier 70 Das Gebet 136 ff. Das Geburtslied — Oder: Die Zeichen — Oder: Sophie und kein Ende 121, 130 f., 138 Das Grab des Hundes 210 Das große Lalula 50 ff., 123, 130, 134 ff. 139, 143 f., 146, 159, 165, 166, 179 f., 253 Das Hemmed 88, 159 Das Huhn 47, 276 f. Das Knie 123 f., 139, 149

Das Lied vom blonden Korken 43, 88, 278 Das Mondschaf 119, 121 ff., 143, 151, 191 Das Nasobem 49 f., 122, 124, 128, 159 Das Perlhuhn 206 Das Polizeipferd 69, 94 Das Problem 198 f., 265, 278 Das Tellerhafte 208, 269 Das Warenhaus 69 Das Wasser 122, 159 Der Aromat 74 Der Bart 100 ff. Der Dreiachtelhase 201 Der Droschkengaul 94 f. Der ernste Herr 102 f. Der fromme Riese 305 Der Gaul 48 f., 85, 95, 97 121, 149, 159 Der Gingganz 205, 241, 304 Der Glaube 210 Der Hecht 96, 113 f., 127, 168, 308 Der heilige Pardauz 116 Der heroische Pudel 130, 141 Der Igel 128 Der Kater 95, 102, 307 Der Korbstuhl 88 Der kulturbefördernde Füll 178 f. Der Lattenzaun 139, 159, 168, 173 f. Der Meilenstein 69 Der Mondberg-Uhu 121

Register Der Neffe 5 Der neue Vokal 85, 110 Der Papagei 84 Der Rabe Ralf 94, 122 f., 159, 258 Der Rock 89, 259 f. Der Saal 44, 121, 174 Der Salm 96, 308 Der'Schaukelstuhl auf der verlassenen Terrasse 88, 122 f., 159, 258 Der Seufzer 98 f., 127, 130, 133 f. Der Sperling und das Känguruh 288, 308 Der Steinochs 139 f. Der Tanz 121, 139, 201, 299 Der Träumer 165 Der Traum der Magd 83 Der Vergeß 177 f. Der vorgeschlagene Heilschlaf 85, 272 Der Walafisch oder das Überwasser 122 Der Weltkurort 66 Der Werwolf 146, 184 ff., 265, 305 Der Würfel 88, 278 Der Zwi 178 f. Der Zwölf-Elf 94, 119 f. 122 Die Behörde 81, 106 Die Beichte des Wurms 95, 121 Die beiden Esel 95, 126, 278 f., 306 f. Die beiden Feste 104 f., 110 Die beiden Flaschen 88, 99, 169 f. Die Brille 65, 69 Die drei Winkel 206 Die Elster 82, 186 ff., 265 Die Fingur 199 f. Die Geruchs-Orgel 73 f. Die Glocke 206 Die Heldin 110 Die Korfsche Uhr 67, 139, 222 f. Die Lampe 43 Die Luft 67

335

Die Mausefalle 92, 289 Die Mittagszeitung 68 Die Mitternachtsmaus 121 ff. Die Nähe 146, 149, 190, 209, 248, 269, 278 Die Oste 44, 189 f., 265 Die Priesterin 122, 138 f. Die Probe 112 f., 210, 278 Die Schildkrökröte 95 Die Schreibmaschine 5, 70 Die Schuhe 88 Die Schwestern 105, 108 Die Tagnachtlampe 68, 312 Die Trichter 122, 139, 153, 168, 303 Die Unterhose 87 Die Waage 76, 107 Die weggeworfene Flinte 149, 210, 270 Die Weste 88, 134 Die Westküste 95, 108, 231 ff. Die wiederhergestellte Ruhe 145, 208 f., 269 Die Windhose 205 Die Wissenschaft 82, 92, 106, 115 Die Zimmerluft 67 Die zwei Parallelen 269 Die zwei Wurzeln 82, 297 Drei Achtel Leporidell 201 Droschkengauls Jännermeditation 95 Ein Interview 102, 110 Ein modernes Märchen 88 f., 303 Entwurf zu einem Trauerspiel 82, 187 f. Es pfeift der Wind... 82, 192 f., 265 Fest der Multimillionäre 104 Feuerprobe 121, 124 Fisches Nachtgesang 53 ff., 96, 122, 124, 145, 250, 288 Galgenberg 117, 121 Galgenbruders Lied an Sophie, die Henkersmaid 119 Galgenkindes Wiegenlied 130 f., 138 Gegensätze 84, 102

336 Geiß und Schleiche 308 Gespenst 305 Gespräch einer Hausschnecke mit sich selbst 96 Gruselett 122, 149, 202, 239 f., 268 f. Heilung 5 Himmel und Erde 122, 190 Historische Bildung 209 Igel und Agel 43 Im Reich der Interpunktionen 159 Im Tierkostüm 91 ff., 159, 290 Im Winterkurort 76, 92, 159, 288 Klabautermann 185, 202, 266, 305 KNf 21 94, 191 Korf erfindet eine Art von Witzen 69 Korf in Berlin 58, 107 Korf-Münchhausen 57, 122 Korfs Verzauberung 56 ff., 226 f. Kronprätendenten 43 Lärmschutz 82, 145, 248, 265 L'art pas pour boeufs 5 Lebens-Lauf 116, 203 ff., 248, 276 Lieb ohne Worte 98, 130, 132, 138 Lorus 102 Lunovis 143, 151 Mägde am Sonnabend 88 Möwenlied 82 Mondendinge 186, 165 Mopsenleben 111 f., 116, 308 Nachtbild 93 Nein! 122 f. Neue Bildungen, der Natur vorgeschlagen 190 f., 202, 248 300 f.

Register

Palmström 102 Palmström an einer Nachtigall, die ihn nicht schlafen ließ 93 Palmström der Patriot 5, 270 Palmström hat sehr viele Menschen gern 103 Palmström legt des Nachts sein Chronometer 68, 223 f. Palmström wird Staatsbürger 105 ff., 110 f. Palmströms Uhr 67, 139, 222 ff. Philantropisch 43, 121 Problem 191 f., 278 Professor Palmström 86 Spekulativ 227 Sprachstudien 82, 186 Tapetenblume 88, 134 Täuschung 115, 227 f. Tertius Gaudens 206, 210 Theater 75, 166 Toilettenkünste 116, 245, 249 Ukas 248 Unter Schwarzkünstlern 121, 159, 305 Unter Spiegelbildern 159, 225 f. Unter Zeiten 159, 209, 225 Venus-Palmström-Anadyomene 202 Vom Steuerzahlen 5, 105, 107, 110

Vom Zeitunglesen 68, 223 Wie sich das Galgenkind die Monatsnamen merkt 193 ff. Wort-Kunst 202 Zäzilie 83 f., 121 Zivilisatorisches 96, 289 Zu guter Letzt 105, 107 f., 110 Zukunftssorgen 72 Zuletzt 5, 91, 105, 108

Register

337

E D W A R D LEAR

LEWIS CARROLL

Limericks 221, 255 ff., 269, 273 f., 276 ff., 285, 291 ff., 301 Nonsense Alphabets 257 Nonsense Botanies 258, 297, 299 ff. Nonsense Rhymes 259, 269, 289 Calico Pie 259 Mr. and Mrs. Spikky Sparrow 269, 288 T h e Adventures of Mr. Lear, the Polly and the Pusseybite 295 f. T h e Broom, the Shovel, the P o k e r and the Tongs 303 f. The Courtship of the Yonghy Bonghy-Bo 259 T h e C u m m e r b u n d 238 ff. T h e Daddy Long-Legs and the Fly 310 The Duck and the Kangaroo 288, 308 f., 311 The History of the Seven Families of the Lake Pipple-Popple 258, 269 The Jumblies 259, 269 The Nutcrackers and the SugarTongs 303 f. The Pelican Chorus 259 The Scroobious Pip 293 f. The Story of the Four Little Children W h o Went A r o u n d the World 288, 298 The Table and the Chair 304 The Two Old Bachelors 262 f.

Alice's Adventures in Wonderland 220 f., 223 f., 229, 257, 260, 263 ff., 269 f., 275, 283, 285, 288 f., 294, 302, 305 Through the Looking-Glass 217, 224, 226 f f . , 230, 234 f f . , 241 f., 245 ff., 249, 253 f., 257, 260 f., 263 f f . , 270, 273 f., 295, 297, 299, 303, 305, 310 f. T h e Hunting of the Snark 233 f. 257, 260, 263, 284, 305, 311 Sylvie and Bruno 224 f., 228 f., 246 f., 263 f f . , 280, 287, 300, 311 Sylvie and B r u n o Concluded 225, 246, 263 f f . , 269, 311 f.

Quellen und Forschungen zur Sprachund Kulturgeschichte der germanischen Völker Klaus Kanzog

Edition und Engagement 150 Jahre Editionsgeschichte der Werke und Briefe Heinrich von Kleists Band 1: Darstellung G r o ß - O k t a v . VIII, 342 Selten, 1979. Ganzleinen D M 9 9 , ISBN 3 11 005978 9 ( N F Band 74) Band 2: Editorisches und dokumentatorisches Material G r o ß - O k t a v . VI, 388 Seiten. 1979. Ganzleinen D M 2 1 5 , ISBN 3 11 005979 7 ( N F Band 75)

Elke Emrich

Macht und Geist im Werk Heinrich Manns Eine Uberwindung Nietzsches aus dem Geiste Voltaires G r o ß - O k t a v . X, 393 Seiten. 1981. Ganzleinen D M 1 1 8 ISBN 3 11008601 8 ( N F Band 77)

G ö t z Braun

N o r m und Geschichtlichkeit der Dichtung Klassisch-romantische Ästhetik und moderne Literatur G r o ß - O k t a v . XII, 312 Seiten. 1983. Ganzleinen D M 1 0 8 , ISBN 3 11008238 1 ( N F Band 81)

Preisminderungen v o r b e h a l t e n

Walter de Gruyter

w DE

G

Berlin • N e w York

Quellen und Forschungen zur Sprachund Kulturgeschichte der germanischen Völker

Summarium Heinrici Band 1: Textkritische Ausgabe der ersten Fassung, Buch I-X Herausgegeben von Reiner Hildebrandt G r o ß - O k t a v . X L I V , 404 Seiten, 16 Kunstdrucktafeln. 1974. Ganzleinen D M 2 3 0 , — I S B N 3 1 1 0 0 3 7 5 0 5 ( N . F . Band 6 1 / 1 8 5 ) Band 1 beinhaltet die zehn B ü c h e r der Erstfassung, die in vielen sachlich geordneten Kapiteln das gesamte Schulwissen des 11. Jahrhunderts vermitteln will. Es handelt sich um das bedeutenste Kopendium des gesamten Wissens zu den sogenannten „freien und mechanischen K ü n s t e n " aus dem frühen 11. Jahrhundert. D e r Verfasser stützt sich vor allem auf die .Standartautoren' Priscian, Cassiodor, Beda und Isidor. V o n besonderer sprachhistorischer Bedeutung sind die vielen, jetzt erstmals im Textzusammenhang dargebotenen deutschen Glossen.

Band 2: Textkritische Ausgabe der zweiten Fassung, Buch I-VI sowie des alphabetischen Glossars (Buch XI) in einer Kurz- und einer Langfassung Herausgegeben von Reiner Hildebrandt G r o ß o k t a v . X L V I I I , 575 Seiten, 16 Tafeln. 1982. Ganzleinen D M 3 8 0 , I S B N 3 1 1 0 0 7 9 1 5 1 ( N . F. Band 7 8 / 2 0 2 ) Band 2 bringt eine verkürzte, nicht viel jüngere Neufassung in sechs Büchern sowie ein alphabetisches Glossar in zwei Fassungen, das viele wichtige hebräische, griechische und lateinische W ö r t e r erklärt und das Gesamtwerk damit wesentlich ergänzt.

Prmindcrun^cn vorbehalten

Walter de Gruyter

W DE

Berlin • New York